Die Kunst des Zusammenlebens: Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie [1 ed.] 9783666560507, 9783525560501


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Die Kunst des Zusammenlebens: Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie [1 ed.]
 9783666560507, 9783525560501

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Marco Hofheinz

Die Kunst des ­Zusammenlebens Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie

FRTh 13

Forschungen zur Reformierten Theologie

Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz, Michael Weinrich und Georg Plasger Band 13

Marco Hofheinz

Die Kunst des Zusammenlebens Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Lippischen Landeskirche und der Evangelisch-reformierten Landeskirche

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9287 ISBN 978-3-666-56050-7

Wolfgang Lienemann in Dankbarkeit gewidmet

Vorwort

Ich freue mich, mit diesem Buch einen zweiten Band der „Ethik – reformiert!“ vorlegen zu können.1 Es handelt sich erneut um theologiegeschichtliche Studien, diesmal mit einem bereichsethisch engeren Fokus, der auf der politischen Ethik liegt. Selbstverständlich habe ich damit keine umfassende politische Ethik vorgelegt. Viele Themenfelder werden nicht berührt. Bei Detailstudien wie den vorgelegten kann dies nicht ausbleiben. Zudem wird man sich vor Augen halten müssen, dass „grundsätzlich […] alle Teilbereiche des sozialen Lebens unterschiedlicher Gestaltung fähig und damit politisierbar“2 sind. Die Extention politischer Ethik erweist sich als entsprechend groß. Dennoch lege ich die getroffene Auswahl an politisch-ethischen Beiträgen hier als gesammelte Studien vor. Sie alle verbindet zuvorderst ein Fokus auf die theologiegeschichtliche Verortung, aus dem sich ein neuer Zugang zur politischen Ethik reformierter Prägung ergibt. Der Umstand, dass in neueren Entwürfen politischer Ethik trotz aller vordergründigen Disparatheit breite theologiegeschichtliche Darstellungen in systematischer Absicht vorgenommen werden,3 ermutigt mich zu diesem Schritt. Ich folge also einer Reihe prominenter Beispiele aus der gegenwärtigen Forschung, die den Ertrag dieses Vorgehens belegen. In 1

Vgl. M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Göttingen 2017. 2 A. von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 1. 3 Dies gilt etwa für den Entwurf von A. von Scheliha (a.a.O., 11–218). Vgl. dazu T. Meireis, Rezension Arnulf von Scheliha: Protestantische Ethik des Politischen, Ethik und Gesellschaft 2/2014, https://www.ethik-und-gesellschaft.de/ojs/index.php/ eug/article/view/2-2014-rez-4 (Zugriff: 4.8.2021). Meireis kennzeichnet diesen Entwurf als „eminente[n] Beitrag zum christentumstheoretisch-liberalen Programm lutherischer Provenienz“ (ebd.). Siehe fernerhin die rechtsethisch ausgerichteten Beiträge zur politischen Ethik von H.-R. Reuter, Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013; sowie R. Anselm, Politische Ethik, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 195–263; H. Kress, Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 10, Stuttgart 2018; L. Bretherton, Christ and the Common Life. Political Theology and the Case for Democracy, Grand Rapids / Cambridge 2019. Dazu: M. Hofheinz, Rezension zu Luke Bretherton, Christ and the Common Life: Political Theology and the Case for Democracy, Grand Rapids / Cambridge 2019, ThLZ 146 (2021), 1093–1095. In allen diesen Werken spielen geistes- und kulturgeschichtliche Rückblenden eine wichtige Rolle.

VIII

Vorwort

diesen Entwürfen verbinden sich systematisch-theologische Grundlegung und Konkretion mit breiter und intensiver historischer Arbeit. Ebenso wie mir die Zusammenstellung des ersten Bandes vor vier Jahren durch ein Forschungssemester ermöglicht wurde, so auch diesmal. Die Hälfte der in diesem Band publizierten Studien wurde noch nicht veröffentlicht. Diese unveröffentlichten Studien sind in meinem Forschungssemester entstanden. Für die Gewährung danke ich dem Präsidenten der Leibniz Universität Hannover. Meine Kolleginnen und Kollegen im Institut für Theologie haben meine Aufgaben im Sommersemester 2021 übernommen und mir so den Rücken freigehalten haben. Dafür sei Ihnen herzlich gedankt. Für zahlreiche inhaltliche Impulse und Anregungen zu den einzelnen Beiträgen dieses Bandes danke ich Prof. Dr. Peter D. Browning (Drury University, Missouri), Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Busch (Göttingen), Prof. Dr. Michael Coors (Zürich), Dr. Achim Detmers (Hannover), PD Dr. Margit Ernst-Habib (Saarbrücken/Hannover), Prof. Dr. Matthias Freudenberg (Saarbrücken), Prof. Dr. Stanley Hauerwas (Duke University, North Carolina), Pfr. Jens Heckmann (Dortmund), Prof. Dr. Stefan Heuser (Braunschweig), Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein (Bad Berleburg), Prof. Dr. Wolfgang Lienemann (Bern), Dr. Ulf Lückel (Kloster Amelungsborn), Prof. Dr. Johannes von Lüpke (Lüneburg/Wuppertal), Prof. Dr. Frank Mathwig (Bern), Prof. Dr. Georg Plasger (Siegen), Prof. Dr. Hans G. Ulrich (Erlangen), PD Dr. Hans-Georg Ulrichs (Karlsruhe/Osnabrück), Prof. Dr. Michael Weinrich (Bochum/Paderborn), Prof. Dr. Matthias Zeindler (Bern) und meinen Mitarbeitern Dr. Raphael Döhn, Dr. Kai-Ole Eberhardt, Dr. Hendrik Niether und Jan-Philip Tegtmeier (alle vier Hannover). Für Korrekturen und Hilfestellung bei der technischen Umsetzung sei herzlich meinen Hilfskräften Franziska Bruns und Lea Guthörl gedankt. Zusammen mit meinen Mitarbeitern haben sie die Register erstellt. Auch dafür sei ihnen herzlich gedankt. Die Erstellung des Satzes hat dankenswerter Weise Anna Lena Schwarz (Siegen) übernommen. Für die verlegerische Betreuung dieses Bandes danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und insbesondere Frau Miriam Espenhain, Frau Jehona Kicaj und Herrn PD Dr. Izaak J. de Hulster. Großzügige Druckkostenzuschüsse erhielt ich für diesen Band von meiner Landeskirche, der Evangelisch-reformierten Kirche mit Sitz in Leer, und der Lippischen Landeskirche, für die ich in den Theologischen Examina prüfe. Meiner Kirchenpräsidentin Dr. Susanne Bei der Wieden und Landessuperintendenten Dietmar Arends danke ich sehr für die persönliche Unterstützung.

Vorwort

IX

In Dankbarkeit gewidmet ist dieser Band meinem Lehrer Prof. Dr. Wolfgang Lienemann. Er hat mich nach meinem Vikariat in der Ev.-reformierten Kirchengemeinde Siegen-Eiserfeld nach Bern an seinen Lehrstuhl geholt, wo ich promovierte und habilitiert wurde. Wolfgang Lienemann lehrte mich, die Einsichten der Theologie- und Philosophie-, ja überhaupt der Geistes- und Kulturgeschichte für die gegenwärtigen Aufgaben ethischer Urteilsbildung fruchtbar zu machen. Ihm verdanke ich Rat und konstruktive Kritik und vor allem eine stets verlässliche väterlich-freundschaftliche Begleitung auf meinem theologischen Weg. Die Jahre am Ethik-Lehrstuhl im Institut für Systematische Theologie an der Universität Bern waren für mich persönlich sehr prägend. Ich erinnere mich dankbar und sehr gern daran zurück. Hagenburg am Steinhuder Meer, am Reformationstag 2021 Marco Hofheinz

Inhalt

Vorwort............................................................................................. VII Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens........................................1 1. Visionslose Menschen? Einführende Bemerkungen zu einem gängigen Vorurteil gegenüber Reformierten..............................................................1 2. Johannes Calvin und die Vision des gelingenden Zusammenlebens.........................................................................7 3. Die Kunst des Zusammenlebens: Johannes Althusius’ Vision des gelingenden Lebens...................9 4. Hermeneutische Zwischenbemerkung zu Althusius..................14 5. Politische Ethik und die Kunst des Zusammenlebens...............16 6. „Kunst“ bei Althusius im Rückgriff auf Petrus Ramus und Aristoteles...........................................................................18 7. Die Wurzeln der Politik im Verhältnis zu einer reformierten Ethik des Politischen.................................................................25 8. Vorbemerkung zum vorliegenden Band und zu seiner Disposition.................................................................................28 A. Mit Gott und Mensch im Bund. Der Bund als Ort des Zusammenlebens und die Vision der „Politica“ I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik.........................39 1. Annotation: Das ethische Bundesschweigen Eine Problemanzeige im Blick auf das Reformiertentum.........39 1.1 Die forcierte Bundesrede in der reformierten Frömmigkeits-, Kultur- und Geistesgeschichte...................39 1.2 Ein Blick in die Gegenwart: Die Omnipräsenz des Bundesbegriffs als Grundmetapher des Sozialen und Politischen und das Bundesschweigen in der theologischen Ethik...................................................42 2. Illustration: Vom Bund zum Vertrag. Eine Verlustanzeige........47

XII

Inhalt

2.1 Vertragstheorien. Der neuzeitliche Kontraktualismus von Althusius über Hobbes, Locke und Rousseau bis hin zu Rawls...................................................................................48 2.2 Der Bund Gottes mit den Menschen. Eine biblischtheologische Relektüre der Föderaltheologie......................51 2.3 Der kupierte Bund. Folgen der Transformation des Bundes zum Vertrag. Eine Verlustanzeige...........................58 3. Rekreation: Der Bund als Gnadenbund. Karl Barths bundestheologischer (Neu-)Ansatz........................65 4. Fazit: Bundestheologie – ethisch: „A lost tradition“?................70 II. Die „Politica“ des Johannes Althusius (1563–1638). Eine Vision des symbiotischen Zusammenlebens.........................75 1. Einleitung ..................................................................................75 2. Der biographische Rahmen der Vita Johannes Althusius’ und der „Sitz im Leben“ seiner Vision .....................................76 3. Die Grundlegung der althusianischen Vision............................81 4. Konturen der althusianischen Vision.........................................85 5. Stärken und Schwächen der althusianischen Vision..................89 6. Die Aktualität der althusianischen Vision..................................93 B. Umstrittenes Zusammenleben. Reformierte Kontroversen zu einem gelingenden Zusammenleben III. „Die Stadt auf dem Berge“. Oder: Der Beginn eines (Alb-)Traumes Zur calvinistisch-puritanischen Formation des Narrativs vom „American Dream“...............................................................98 1. Einleitung: „Traumforschung“ oder: Wofür steht der „American Dream“?........................................98 2. Vom initium zum principium: Zurück an den puritanischen Anfang – oder: Worin gründet der „American Dream“?.........103 2.1 Der Mayflower-Compact (1620).......................................104 2.2 „A Model of Christian Charity“ (1630).............................108 3. Religiöser Exklusivismus und/oder politischer Pluralismus? Zur zeitgenössischen Deutung des puritanischen Traums bei John Winthrop und Roger Williams ....................................... 117

Inhalt

XIII

4. John Cotton versus Roger Williams. Eine innerpuritanische Kontroverse um die Deutung eines Traums ....................................................................................122 5. Ein Kind der Reformation. Abschließende Bemerkungen zur Beurteilung von Williams’ Beitrag zur Religionsfreiheit und zum Toleranzgedanken ....................................................132 6. Fazit: Träum weiter, Amerika! Der (Völker-)Bund als Gegengift zum American Exceptionalism .......................................................................136 IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt. Ein Vergleich in Thesen..............................................................142 1. Einleitung: Zur Fragestellung und Methodik..........................142 2. Was verbirgt sich hinter einer Ethik rechtserhaltender Gewalt?....................................................................................143 3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage. Konfessionelle Profile im Vergleich........................................146 3.1 Lutherische Tradition.........................................................146 3.2 Reformierte Tradition .......................................................153 4. Barmen V als Zusammenführung der beiden Traditionen.......159 V. Mit vertauschten Rollen? Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain zur Schöpfungsordnung in den Raum- und Zeitdeutungskämpfen der Weimarer Republik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung.................................164 1. Einleitung: Die Lehre von den Schöpfungsordnungen – eine konfessionelle Eigentradition im Deutungszusammenhang der „konservativen Revolution“?...164 2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs.........................170 2.1 Die Herkunft der Lehre von den Schöpfungsordnungen in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter..............................................170 2.2 Die Performanz der Lehre von den Schöpfungsordnungen in der Lutherrenaissance...............173 3. Im Nessoshemd der Schöpfungsordnung? Die Kontroverse zwischen Otto A. Piper und Alfred de Quervain..................................................................178

XIV

Inhalt

3.1 Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Alfred de Quervains....................................178 3.2 Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Otto A. Pipers..............................................183 3.3 O.A. Pipers kritische Rezensionen zu A. de Quervains frühen Schriften zur politischen Ethik.............187 3.3.1 „Ideologie und Politik“. Pipers erste Rezension......187 3.3.2 „Der wirkliche Staat und die Ethik“. Pipers zweite Rezension...........................................192 3.4 Überzogene Kritik? Zur Beurteilung des Einspruchs Pipers gegen de Quervains frühe politische Ethik..................................................................198 3.4.1 Die mutmaßliche Reaktion de Quervains auf Pipers Einspruch.......................................................198 3.4.2 „Politische Theologie“ – zur Rolle einer (un-) aufgegriffenen Formel Carl Schmitts in der Kontroverse..............................................................201 3.4.3 Das gemeinsame theologische Anliegen: Der Konnex von Schöpfung und Erlösung..............208 3.5 Abschließende Beurteilung................................................212 4. Der Begriff der Schöpfungsordnung im Nationalsozialismus und heute. Ein Ausblick ........................214 5. Epilog.......................................................................................218 C. Gelungenes Zusammenleben? Reformierte Profile des Politischen VI. Was für ein Calvinist?! Einige Antwortversuche zu offenen Fragen der Althusius-Forschung.............................................................220 1. Einleitung.................................................................................220 2. Althusius – ein „Bundesjurist“? Oder: Baut die „Politica“ auf reformierter Föderaltheologie auf?.....222 3. Althusius – ein calvinistischer Monarchomache? Zur Ausprägung der Widerstandslehre beim Calvinisten Althusius...............................................................226 4. Althusius – ein calvinistischer Ramist? Zur Methode der „Politica“ des Johannes Althusius...............228 5. Althusius – ein Säkularisierer? Entsakralisierungs- und Verrechtlichungstendenzen in der politischen Theoriebildung des Althusius..........................231

Inhalt

XV

5.1 Frühcalvinistische Säkularisierungstendenzen bei Althusius ...........................................................................231 5.2 Die Dialektik konfessionalisierender und säkularisierender Tendenzen bei Althusius........................234 6. Althusius – ein Befürworter von Eigengesetzlichkeit? Der Versuch einer Klarstellung................................................236 7. Wirkungsgeschichtlicher Ausblick..........................................239 VII. „Just a minor thinker“? Zur Größenordnung in der Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Versuch einer dialektischen Würdigung....................................243 1. Vorbemerkung..........................................................................243 2. Anfälligkeiten oder: Die Schwächen im politischtheologischen Denken Abraham Kuypers...............................246 2.1 Heroistisch-hagiographische Anfälligkeiten: Kuypers homogenisierendes Calvinismus-Narrativ..........247 2.2 Triumphalismus-Anfälligkeit: Kuypers theozentrischer cantus firmus..............................252 2.3 Konstantinistisch-zivilreligiöse Anfälligkeit: Kuypers (Re-)Christianisierungsstrategie.........................254 2.4 Die „völkische“ Anfälligkeit und antirevolutionäre Ausrichtung Kuypers.........................................................258 3. Latenzen. Die leicht übersehbaren Stärken im politischtheologischen Denken Abraham Kuypers...............................263 3.1 Sphärensouveränität. Kommunitaristisch anmutende Impulse Kuypers................................................................263 3.2 Pluralismusfähigkeit. Der Konnex von Freiheit und Pluralismus nach Kuyper...................................................267 3.3 Die kleinen Leute. Kuypers sozialdiakonisches Engagement.......................................................................270 4. Fazit.........................................................................................272 VIII. „Die Sitzung geht weiter!“ Oder: Synode und Parlament. Die Rezeption der Emder Synode von 1571 durch den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann........................274 1. Eine einleitende biographische Einordnung............................274 2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt einer komparativen Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat...............................................................276

XVI

Inhalt

2.1 Der Hintergrund des Vergleichs: Heinemanns geschichtspolitisches Anliegen als Bundespräsident.........276 2.2 Der Anlass des Vergleichs: Das 400-jährige Jubiläum der Emder Synode...................278 2.3 Die presbyterial-synodale Kirchenverfassung als Demokratisierung der Kirche............................................282 2.4 Heinemanns Kirchenverständnis: Kirche als Gemeindekirche im Lichte von Barmen III.......................285 2.5 „Keine Macht der einen über die anderen“: Heinemanns Macht- und Staatsverständnis.......................288 2.6 Differenzen zwischen Synode und Parlament...................291 3. Fazit.........................................................................................293 D. In Gelassenheit. Gottesdienstlich geprägtes Zusammenleben IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst. Ethisch-liturgische Konturen......................................................297 1. Einleitung: Tradition, Ethos und die Aufgabe der Ethik (als Explikation und Exploration) nach Hans G. Ulrich..........297 2. Reformierte Liturgie 1: Ethisch-liturgische Konturen nach Huldrych Zwinglis Predigtgottesdienst...........................301 3. Reformierte Liturgie 2: Ethisch-liturgische Konturen nach Johannes Calvins Gottesdienstordnung..........................314 4. Fazit: Der reformierte Gottesdienst als formativer Kontext christlicher Ethik......................................................................324 X. „Gott, gib uns…“ – das Gelassenheitsgebets („Serenity Prayer“) Reinhold Niebuhrs. Ein tugendethischer Interpretationsversuch.................................327 1. Einleitung.................................................................................327 2. Zur Herkunftsfrage des Gebets und Autorschaft Reinhold Niebuhrs...................................................................329 3. Reinhold Niebuhrs Theologie in nuce.....................................331 4. „Gott, gib uns…“. Form und Inhalt des Gelassenheitsgebets als Bittgebet............................................336 4.1 Der gabetheologische Auftakt des Gelassenheitsgebets....336 4.2 Gelassenheit, Mut, Weisheit. Die drei Tugenden des Gelassenheitsgebets...........................................................339

Inhalt

XVII

4.3 Die Kohärenz der drei Tugenden des Gelassenheitsgebets im Spannungsfeld von Liebe und Gerechtigkeit..............................................................344 5. Fazit.........................................................................................347 Liste der Erstveröffentlichungen.......................................................349 Abkürzungsverzeichnis.....................................................................351 Personenregister................................................................................353 Bibelstellenregister...........................................................................363 Sachregister.......................................................................................365

Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie

1. Visionslose Menschen? Einführende Bemerkungen zu einem gängigen Vorurteil gegenüber Reformierten Wir Reformierten gelten nicht gerade als visionär. Uns haftet eher das Image des Drögen (Trockenen) und Sauertöpfischen an. Menschen aus reformierten Stammlanden gelten vor allem im Sinne des Unterkühlten und Verschlossenen als „cool“. Dies sagt man etwa Menschen aus meiner siegerländisch-wittgensteinschen Heimat nach; ähnliche Vorurteile begegnen Ostfries*innen, die vor allem als „maulfaul“ gelten. Sauertöpfisch, also griesgrämig, missmutig und mürrisch dreinzuschauen,1 dürfte das Gegenteil von „visionär“ sein. Das „Visionäre“ verweist einerseits auf eine inspirierte, kreative und produktive Einstellung und andererseits auf Visionen, die dazu drängen, an die Mitmenschen weitergegeben zu werden. Wer „visionär“ ist, hat also eine „Vision“, eine Schau. Dabei geht es nicht um optische Halluzinationen oder die religiöse Erfahrung von übernatürlichen Erscheinungen, wie sie einst wohl Helmut Schmidt im Blick hatte, als er den Spruch prägte: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“2 Es geht um eine Ausrichtung, eine Haltung: um die Ausrichtung auf das Kommende, genauer gesagt: auf den Kommenden, um eine Haltung zu ihm. Eine solche eschatologische Ausrichtung, mit der eine ethisch bedeutsame Haltung einhergeht, bezieht sich nach Paulus auf die in Christus „neue Schöpfung“ (kainē ktsis). Mit „Vision“ im pau1

K. Barth (KD II/1, 740) war überzeugt, „dass die Theologie unter allen Wissenschaften auch die schönste ist. Welche Urbarbarei wäre dazu nötig, daß einem die Theologie unlustig sein könnte! Man kann gerne, mit Freuden Theologe sein, oder man ist es im Grunde gar nicht. Grämliche Gesichter, verdrießliche Gedanken und langweilige Redensarten können gerade in dieser Wissenschaft unmöglich geduldet werden. Aber wir müssen wohl wissen, daß Gott allein uns davor bewahren kann.“ Vgl. ders., Einführung in die Theologie, Zürich 31985, 18: Theologie als „fröhliche Wissenschaft“; S. Hauerwas, The Work of Theology, Grand Rapids / Cambridge 2015, 229–249. 2 Vgl. M. Hofheinz, „Dreinreden“ – Explorationen zur ethischen Valenz prophetischer Rede, in: ders. u.a. (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Studien zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, 127–184.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

linischen Sinne ist die Schau der eschatologischen Wirklichkeit seiner Neuschöpfung gemeint. Im Blick auf diese Wirklichkeit dürfte der Begriff „Vision“3 zumindest im theologischen Sprachspiel, sofern es Paulus folgt, sein Konnotat des Phantastischen, Unrealistischen und Schwärmerischen verlieren. Der US-amerikanische Ethiker Stanley Hauerwas greift einen solchen Visionsbegriff auf und spricht von „vision“ als „a way of attending to the world. It is learning ‚to see‘ the world under the mode of the divine.“4 Hauerwas versteht dementsprechend unter „moral life“ „the progressive attempt to widen and clarify our vision of reality“.5 Bisweilen kann er auch von „moral vision“ als „perspective“6 der Weltwahrnehmung sprechen. In ähnlicher Weise bemerkt James Wm. McClendon: „[B]y a vision I mean the guiding pattern by which a people […] shape their thought and practice as that people“.7 Und weiter: „I mean by it the continually emerging theme and tonic structure of their common life. The vision we want must be already present, waiting to be recognized and employed“.8 Auf dem Hintergrund dieses Visions-Verständnisses gewinnt unsere Ausgangsfrage eine neue Ernsthaftigkeit und Schärfe: Haben wir Reformierten keine Visionen? Es wäre auf besagtem Hintergrund mehr als bedauerlich, wenn dieses gängige Vorurteil wahr sein sollte. Ein Blick in die Geschichte des Reformiertentums jedenfalls bestätigt dies nicht. Denn ausgerechnet vom Reformiertentum ausgehend, sind in der Neuzeit viele weitreichende Aufbrüche gewagt worden. Ob diese indes mit der paulinischen „Vision“ der „neuen Schöpfung“ durchgehend im Einklang standen, dürfte mehr als fraglich sein. Jedoch sollte man sie wirkungsgeschichtlich nicht kleinreden. Wie etwa Christian 3

Unter starkem Einfluss von Hauerwas hat sein neutestamentlicher Kollege an der Duke University, R.B. Hays, seinem Entwurf einer „Ethik des Neuen Testaments“ bezeichnender Weise den Titel „The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation“ (New York 1996) gegeben. Vgl. ders., New Testament Ethics. The Story Retold. The 1997 J.J. Thiessen Lectures, Eugene 1998. Vgl. auch den explizit visionsbezogenen, ebenfalls stark von Hauerwas beeinflussten HomiletikEnt­wurf von Ch.L. Campbell, The Word Before the Powers. An Ethic of Prea­ching, Louisville / London 2002, insbes. 89–104. Fernerhin: J.K.A. Smith, Desiring the Kingdom: Worship, Worldview, and Cultural Formation. Vol. 1 of Cultural Liturgies, Grand Rapids 2009. 4 S. Hauerwas, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 45f. 5 A.a.O., 44. 6 A.a.O., 34f. 7 J.Wm. McClendon, Jr., Ethics. Systematic Theology Vol. 1. Revised Edition, Nashville 2002, 27. 8 Ebd.

1. Visionslose Menschen?

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Link für den Calvinismus gezeigt hat, waren diese theologischen Aufbrüche auch politischer, ökonomischer und kultureller Natur:9 „Der Calvinismus ist nicht nur ein Typus eigenständiger Frömmigkeit neben dem Luthertum, sondern spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Leitbegriff der Kulturgeschichte und Soziologie geworden und zeigt, mit welcher Ausstrahlungskraft das Erbe des Genfer Reformators auf den europäischen und später den amerikanischen Kontinent gewirkt hat. Politisch ist das Genfer Kirchenmodell Vorbild für die Organisation des demokratischen Aufbaus in den calvinistisch geprägten Staaten geworden. Ökonomisch hat das ausgeprägte Arbeitsethos verbunden mit dem Grundsatz, Gewinne in neue Fabriken oder Schulen zu investieren, statt privaten Reichtum zu mehren, zu einer frühen wirtschaftlichen Blüte in Westeuropa geführt. Kulturell breitet sich der Geist kritischer Forschung von der Theologie auf alle Gebiete der Wissenschaft aus.“10

Man denke nur an die Reformation in der Schweiz und die als zeitgleich mit Luthers Erkenntnis („Turmerlebnis“) geltende reformatorische „Vision“ Huldrych Zwinglis (1484–1531)11 oder die ersten puritanischen Siedler Nordamerikas, die sog. „Pilgerväter“ auf der „Mayflower“ (1620), die als Visionäre einer „neuen Welt“ nach Nordamerika aufbrachen. Man muss sich nur die diversen Lebensbilder etwa einer Katharina Schütz (1497–1562), eines Johann Amos Comenius (1592– 1670), eines Jonathan Edwards (1703–1758), einer Marie Durand (1712–1776), eines Friedrich-Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) oder

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Ch. Link, Calvin und der Calvinismus. Eine Skizze, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 283–303; ders., Calvin. Reformator Westeuropas, Studienreihe Luther 6, Bielefeld 2016, 163–173; ders., Die Theologie Calvins im Rahmen der europäischen Reformation, Göttingen 2021, 379–394. Vgl. auch J. Moltmann, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. Welker / D. Willis (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben, Themen, Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 157–172, sowie den Band: E. Campi u.a. (Hg.), Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Reihe Zürcher Hochschulforum 46, Zürich 2012. 10 Link, Prädestination und Erwählung, 260. Dort kursiv. 11 Von einer „Vision“ Zwinglis spricht explizit auch M. Krieg, 1571 der Zeit voraus, 2021 der Zeit hinterher. Zur Jugendlichkeit einer steinalten Vision, in: Evangelisch-reformierte Kirche und Reformierter Bund in Deutschland (Hg.), Emder Synode. 450 Jahre, Emden 2020, 48f. Zu den politischen Implikationen und Explikationen dieser Vision vgl. einführend: P. Opitz, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015, 77–80.

4

Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

eines Willem A. Visser’t Hooft (1900–1985) anschauen,12 um sich in nahezu jeder Generation der Versuche zu vergewissern, den reformierten Glauben visionsgesteuert im Leben zu bewähren. Jedenfalls dürften sich angesichts dieser Lebensbilder erste Zweifel einschleichen, ob sich die „Visionslosigkeit“ tatsächlich zu den Elementen genuin reformierter Geistesprägung und Lebensart rechnen lässt. Freilich geht es nicht um irgendeine Vision, aus der allgemeinen Erkenntnis heraus, dass Visionen in ihrer orientierungsstiftenden Kraft nun einmal nötig sind, insbesondere für die Ethik. Visionen tragen eine reformierte Ethik nur, wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes evangelisch ausgerichtet sind. Ernst Troeltsch hebt das christliche Ethos hervor, wenn er am Ende seiner „Soziallehren christlicher Kirchen und Gruppen“ (1912) notiert: „Das christliche Ethos stellt allem sozialen Leben und Streben ein Ziel vor Augen, das über alle Relativitäten des irdischen Lebens hinausliegt und im Verhältnis zu dem alles nur Annäherungswerte darstellt. Der Gedanke des Gottesreiches der Zukunft, der nichts anderes ist als der Gedanke der endgültigen Verwirklichung des Absoluten, wie immer man sie denken mag, entwertet nicht, wie kurzsichtige Gegner meinen, Welt und Weltleben, sondern strafft die Kräfte und macht durch alle Durchgangsstufen hindurch die Seele stark in ihrer Gewißheit eines letzten, zukünftigen absoluten Sinnes und Zieles menschlicher Arbeit. Er erhebt über die Welt, ohne die Welt zu verneinen.“13

Das Telos des Gottesreiches hat Troeltsch zufolge mobilisierende Wirkung. Deshalb gelangt er zu dem Spitzensatz, den auch Karl Barth in seinem „Tambacher Vortrag“ (1919) affirmativ zitiert: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits.“14 12

Im Stil des Feuilletons aufbereitet, werden solche Lebensbilder etwa präsentiert in: M. Krieg / G. Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 22003, 152–211. Vgl. auch M. Hofheinz / M. Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013; P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson (Hg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, 117–196. 13 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912, Tübingen 1994, 979. 14 Ebd. Vgl. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft (1919), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, Karl Barth GA III/48, in Verbindung mit F.-W. Marquardt hg. von H.-A. Drewes, Zürich 2012, (546–598) 595: „‚Die Kraft des Jenseits ist die Kraft des Diesseits‘ hat Troeltsch in seinen ‚Soziallehren‘ merkwürdig treffend gesagt, und wir fügen hinzu: sie ist die Kraft der Bejahung und die größere Kraft der Verneinung.“

1. Visionslose Menschen?

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So wahr der weisheitliche Satz auch ist: „Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde“ (Spr 29,18),15 so falsch wäre es jedoch auch, sich ethisch unbesehen bzw. moralisch unreflektiert von irgendwelchen Utopien leiten zu lassen.16 Beliebigkeit wird hier keineswegs walten dürfen, da auch Utopien wie die von der ethnischen Reinheit für einen Rassisten Orientierungskraft in rebus politicis besitzen.17 So wenig es in diesem Buch um allgemeine Ethik, sondern christliche-theologische Ethik geht, so sehr wird eine solche Ethik auf die Vision achten müssen, von der sie sich leiten lässt. Jürgen Moltmann hat den Rahmen skizziert, in dem sich Visionen reformierter Ethik bewegen: „In Wahrheit ist reformierende Theologie eine eigene Funktion des Reiches Gottes, von dem nach reformierter Auffassung die Kirche ein geschichtliches Vorzeichen und einen Anfang darstellt. Gerade als kirchliche Theologie und als Theologie des Glaubens muß christliche Theologie Reich-Gottes-Theologie sein. Sie ist dann selbstverständlich auf die Kirche bezogen, aber sie ist ihr nicht untergeordnet. Sie öffnet der Kirche den weiten Raum des erwarteten Reiches Gottes. Sie ist dann selbstverständlich auf den Glauben bezogen, aber sie ist ihm nicht untergeordnet, sondern öffnet den Glauben zur Hoffnung auf die Zukunft Gottes. Diese universale und eschatologische Orientierung war der reformierten Theologie von Calvin an eigen“.18

Einer Vision zu folgen, bedeutet auch, Hoffnung zu haben. Thomas F. Torrance (1913–2007) hat Calvin zu Recht als den „Theologen der Hoffnung“ unter den Reformatoren identifiziert.19 Torrance spielt da-

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Vgl. O. Herlyn, „Wenn hinterm Mond ein Stern zerplatzt ist ...“ Einstige Visio­ nen und spätere Desillusionierungen eines gesellschaftlichen Aufbruchs, RKZ 139 (1998), 419–423. 16 Vgl. dazu M. Hofheinz, Visionär oder Relikt der Vergangenheit? Die unverzichtbare Rolle der UNO für die Sicherung und Erhaltung des Weltfriedens, in: ders.  / C.  Johnsdorf (Hg.), The Grand International Challenges in theologisch-ethischer Pers­pektive, Stuttgart 2021, (101–119) 112f. 17 Vgl. P. Opitz, Utopien der frühen Neuzeit. Mögliche Welten zwischen Stadtutopie und kosmologischer Vollendungspoesie, in: Outer Space. Reisen in Gegenwelten, hg. von Ch. Martig / D. Pezzoli-Olgiati, Marburg 2009, 62–72. 18 Moltmann, Theologia reformata et semper reformanda, 169f. 19 T.F. Torrance, The Eschatology of Hope: John Calvin, in: ders., Kingdom and Church: A Study in the Theology of the Reformation, Edinburgh 1956, 90–164. Vgl. auch ders., The Hermeneutics of John Calvin, Edinburgh 1988.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

mit nicht zuletzt auf das zentrale Motiv20 des „Trachtens nach dem zukünftigen Leben“ (meditatio futurae vitae) an,21 auf das Calvin bezeichnenderweise mitten in seinem Traktat „De vita hominis Christiani“22 zu sprechen kommt. Dort heißt es: „Wenn die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, […] wenn sie erkennen, dass dies Leben in sich selbst nichts anderes ist als ein Elend, dann sollen sie sich mit umso größerer Freude und Bereitschaft ganz der Betrachtung jenes kommenden ewigen Lebens widmen [...]. Denn wenn der Himmel unsere Heimat ist, was ist dann die Erde anderes als Verbannung? Wenn das Auswandern aus der Erde der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anderes als ein Grab?“23

Diese Worte mögen sich weltflüchtig anhören, sind es jedoch keineswegs. Die sich hier artikulierende Hoffnung lähmt das gegenwärtige Handeln nämlich in keinster Weise, sondern beflügelt es geradezu; wohlgemerkt nicht im Sinne eines prometheisch-theokratischen Überschwangs, der das Reich Gottes auf Erden herstellen statt empfangen möchte. Nein, es ist der Blick nach vorn, auf das kommende Reich, die Erwartung des vollendenden Handelns Gottes, der den Horizont öffnet. Mit dieser Finalität gerät das „gegenwärtige Leben und seine Mittel“24 von seinem Ziel her in den Fokus.25 Insofern bleibt Calvin durchaus der Erde treu.26 Der eschatologische Ausblick verschließt die Ethik nicht, sondern öffnet sie. Es ist nicht der Blick auf das Jenseits, der hemmt, sondern vielmehr der auf das Diesseits. Anlass zur Resignation bietet letzteres. In diesem Sinne hat etwa Gustav W. Heinemann (1899–1976), wie sein 20

Ch. Link (Johannes Calvin. Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche, Zürich 2009, 47) hat von „eine[m], wenn nicht de[m] Schlüssel der Theologie Calvins“ gesprochen. 21 Vgl. Calvin, Inst. (1559), III,9. Vgl. dazu M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Neukirchen-Vluyn 2017, 94; 105; 380f. 22 Vgl. Calvin, Inst. (1559), III,6–10. 23 Calvin, Inst. (1559), III,9,4. 24 Calvin, Inst. (1559), III,10: „Quomodo utendum praesenti vita, eiusque adiumentis.“ OS III,177,7f. 25 Vgl. Ch. Link, Die Finalität des Menschen. Zur Perspektive der Anthropologie Calvins, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 123–144. 26 Vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe 4, hg. von G. Colli / M. Montinari, München 1999, 15: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“

2. Johannes Calvin und die Vision des gelingenden Zusammenlebens

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Freund Helmut Gollwitzer in seiner Traueransprache (1976) berichtete, manches politische Gespräch mit dem Satz geschlossen: „Bring Du mal diese Welt in Ordnung!“27 Die politische Ethik in reformierter Tradition lässt sich als ein Versuch verstehen, diese Welt durch die Vision des gelingenden Zusammenlebens vor Gott zu entfalten. Dieser Rahmen wird im Folgenden von Johannes Calvin (Abschnitt 2) und Johannes Althusius (Abschnitte 3–7) aus entfaltet, um die Beiträge dieses Bandes darin zu verorten (Abschnitt 8). 2. Johannes Calvin und die Vision des gelingenden Zusammenlebens Johannes Calvin gehört zu den zentralsten Impulsgebern in der Geschichte reformierter Ethik. Seine prägende Rolle resultiert nicht nur aus seiner Bedeutung als Reformator, sondern auch daraus, dass er ein visionärer Denker und Ethiker war. Ein Visionär ist er, weil er eschatologisch denkt. Denn von der Eschatologie her öffnet sich bei Calvin die Theologie und mit ihr auch die Schöpfungslehre sowie die Anthropologie. Weder Schöpfungslehre noch Anthropologie sind schlicht als Protologie, also als Lehre vom Anfang, von den „ersten Dingen“, zu verstehen. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen etwa tritt erst mit ihrer Zielbestimmung in Erscheinung: „Dass das irdische Leben nur ein Anfang ist, begreifen wir überhaupt erst von seinem Ziel her, und dementsprechend lautet der bedeutsame Grundsatz theologischer Anthropologie: ‚Was in der Erneuerung des Ebenbildes … an erster Stelle steht, das muss auch in der Schöpfung selbst den höchsten Rang gehabt haben.‘ (Inst I,15,4) Die Erneuerung, auf die wir zugehen, erschließt uns den ersten Anfang. Wozu wir geschaffen sind, woher das Wort vom ‚Spiegel der Herrlichkeit Gottes‘ Sinn und Grund erhält, wird erst im Bild des zweiten Adams erkennbar, in das wir verwandelt werden sollen (2Kor 3,18).

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H. Gollwitzer, Ansprache bei der Beerdigung von Gustav W. Heinemann am 12. Juli 1976, abgedruckt in: Junge Kirche. Beiheft zu Heft 10/1976, (39–42) 41: „Er sah deutlich, wie das, was getan werden muss, nicht getan werden kann, weil allzu viele unter denen, die an den verschiedenen Schalthebeln der Macht sitzen, es nicht tun wollen oder nicht getan haben wollen […] So sprach er immer öfter von der Unregierbarkeit der Welt und schloss manches Gespräch mit dem Satz: ‚Bring du mal diese Welt in Ordnung!‘“ Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Dr. Achim Detmers.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Erst der Ausblick auf das letzte Ziel öffnet unser Dasein für seine kreatürliche Bestimmung.“28

Die Erschließungsfunktion der Eschatologie verschränkt sich, wenn man genauer hinsieht, mit der Christologie. Dies zeigt sich, wenn man Calvins Lehre von der Erschaffung des Menschen näher betrachtet.29 Für die Ethik und insbesondere die politische Ethik dürfte entscheidend sein, dass hier von der Eschatologie und der Christologie her jene zentrale Zielbestimmung in Erscheinung tritt,30 die sich als die große Vision gelingenden menschlichen Lebens zu erkennen gibt: Der Mensch ist zum Zusammenleben geboren. Auf diese keineswegs beiläufige Bemerkung hat jüngst Eberhard Busch in seiner Calvin-Auslegung hingewiesen: „Er [Calvin; M.H.] führt […] näher aus: Der Mensch sei von Gott auf Gemeinschaft hin angelegt. Menschlichkeit vollziehe sich daher in der Pflege gegenseitiger Verbundenheit. Wir finden ähnliche Aussagen auch in der 28

Link, Johannes Calvin, 50. Zur Gottebenbildlichkeit bei Calvin vgl. auch H.H. Esser, Zur Anthropologie Calvins. Menschenwürde – Imago Dei zwischen humanistischem und theologischem Ansatz, in: H.-G. Geyer u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1983, 269–281; E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen-Vluyn 1999, 106–117; A.I.C. Heron, Homo Peccator and the Imago Dei According to Calvin, in: C.D. Kettler / T.H. Speidell (Hg.), Incarnational Ministry. The Presence of Christ in Church, Society and Family. Essays in Honor of Ray S. Anderson, Colorado Springs 1990, 32–57; J. van Vliet, Children of God. The Imago Dei in John Calvin and His Context, RHT 11, Göttingen 2009. Zur Gottebenbildlichkeit siehe jetzt auch M. Welker, Zum Bild Gottes. Eine Anthropologie des Geistes. Gifford Lectures 2019/20, Leipzig 2021, 13–25. 29 Treffend E. Busch, Zum Zusammenleben geboren. Johannes Calvin – Studien zu seiner Theologie, Zürich 2016, 121f.: „Er [Calvin] sagt nun weiter: Weil die Gott­ ebenbildlichkeit in uns fast zerstört ist, erkennen wir sie erst da, wo sie erneuert worden ist – eben in dem, der das vollkommene Ebenbild Gottes ist. Darum vermag der Reformator einen radikalen Gedanken auszusprechen. Wir haben hier nicht auf einen uranfänglichen Zustand vor dem Sündenfall zu blicken, sondern genau umgekehrt: Wir haben hier zuerst auf Jesus Christus zu blicken, um nachträglich sozusagen nach rückwärts zu erkennen, was Gott von Anfang an wollte. Weil die Sünde uns den Blick zur Erkenntnis des Schöpfers versperrt, darum müssen wir dorthin blicken, wo Gott unseren Schaden wiedergutgemacht hat. Dort erkennen wir nicht nur unsere Sünde und die Vergebung. In unserem Versöhner erkennen wir auch unseren Schöpfer und nicht umgekehrt.“ 30 Vgl. D. Schellong, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, FGLP 38, München 1969, 317–329.

3. Die Kunst des Zusammenlebens

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Auslegung zu Epheser 6,23: ‚Die Liebe macht, dass die Menschen in Frieden zusammenleben.‘ Denn für Calvin ist die Liebe zu Gott untrennbar mit der Liebe untereinander verknüpft. Oder in seiner Predigt zu Deuteronomium 22 bemerkt er: ‚Unser Herr zeigt uns heute, dass wir Brüder sein werden, weil Christus der Friede der ganzen Welt und all ihrer Bewohner ist. Daher müssen wir zusammenleben in einer Familie von Brüdern und Schwestern.“31

Busch bemerkt dazu: „Das spricht uns auch heute an.“32 Die Aktualität der Theologie Calvins wird hier offenkundig. In der Tat ist die Frage, wie menschliches Zusammenleben gelingen kann, für jede Ethik, nicht nur eine christlich-theologische, zentral und insofern bleibend aktuell. Das Zentralmotiv des gelingenden Zusammenlebens, zu dem der Mensch geboren ist, umschreibt eine Vision, die sich – ausgehend von Calvin – im Calvinismus bzw. reformierten Protestantismus ausbreitete. Dies kann insofern nicht verwundern, als gilt: „Der Anspruch Calvins und des Calvinismus, die Reformation der Lehre, wie sie Luther geleistet hat, durch eine Reformation des Lebens zu vollenden, rückte von Anfang an Fragen der Heiligung, der Ethik und der Sozialethik ins Zentrum des Interesses.“33 Ohne Vision treten diese Fragen nicht ins Blickfeld. 3. Die Kunst des Zusammenlebens: Johannes Althusius’ Vision des gelingenden Lebens In der reformierten Orthodoxie sedimentierte sich diese von Calvin vermittelte Vision besonders bei dem Juristen Johannes Althusius (1563–1638).34 Er versuchte, eine politische Theorie im Geiste des Calvinismus zu entfalten.35 Er entwickelte sie vor allem in seiner „Poli-

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Busch, Zum Zusammenleben geboren, 7f. Zu Eph 6,23 vgl. CO 51,240 (dazu: Busch, Zum Zusammenleben geboren, 61f.;68); zu Calvins Predigtauslegung von Dtn 22,4 vgl. CStA 7, 140,38–142,13. 32 Busch, Zum Zusammenleben geboren, 8. 33 Ch. Strohm, Art. Calvinismus, in: EStL. Neuausgabe, Stuttgart 2006, (282–298) 296. 34 Vgl. einführend: M. Hofheinz, Johannes Althusius (1563–1638) – Sein Leben und Werk in Grundzügen, in: ders. / U. Lückel in Verbindung mit A. Detmers (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 131–147. 35 Vgl. Strohm, Art. Calvinismus, 294.

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tica methodice digesta“ (1603, 21610, 31614).36 Hierbei handelt es sich um die erste vollständig ausgearbeitet Politiktheorie, die „bis heute als Klassiker der politischen Theorie“37 gilt. Zutreffend hat Helmut Hollenstein die althusianische „Politica“ als eine „Vision“ bezeichnet.38 Auch Luke Bretherton identifiziert bei Althusius eine „‚consociational‘ vision of sovereignty“39, die sich auf „the art of living together“40 beziehe und von der gelte: „It draws on the rich scriptural and theological trope of covenant.“41 Bereits in Althusius’ Politikdefinition manifestiert sich der Grundzug seiner Vision vom gelingenden Leben: „Politik ist die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie Lehre vom symbiotischen Leben (symbiōtikē) genannt.“42 Die 36

In dem ausführlichen historischen Teil zu Entstehung und Gestalt der protestantischen Ethik des Politischen ist A. von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 55–68) in seinem politisch-ethischen Entwurf recht ausführlich auf Johannes Althusius, diesen lange Zeit übersehenen und in Vergessenheit geratenen Denker, eingegangen und zwar unter dem Stichwort „Subsidiarität“ (vgl. a.a.O., 55). Er sieht mit der „Politica“ des Althusius nach der Reformationszeit eine „Umformung“ (a.a.O., 51) bzw. „[n]eue Elemente der politischen Ethik in der Aufklärungszeit“ (ebd.) vertreten. Vgl. auch H. Kress, Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 10, Stuttgart 2018, 19; 30; 41; 52; 72; 144. In anderen Darstellungen politischer Ethik sucht man seinen Namen vergeblich. Vgl. R. Anselm, Politische Ethik, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 195–263; R. Leonhardt, Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden 2017. 37 von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 55. 38 H. Hollenstein, Die „Politica“ des Johannes Althusius: Eine Vision und ihre Voraussetzungen, in: ders., Des Keisers fürstliches Versteck und andere Beiträge, Bad Berleburg 2005, 26–42. Von „Visionen des Politischen“ hat im Blick vor allem auf den Renaissance-Republikanismus und den englischen Republikanismus auch der Ideen­ geschichtler Q. Skinner (Visionen des Politischen, hg. von M. Heinz / M. Ruehl, übers. von R. Celikates / E. Engels, Frankfurt a.M. 2009) gesprochen. 39 L. Bretherton, Christ and the Common Life. Political Theology and the Common Life, Grand Rapids / Cambridge 2019, 167. 40 A.a.O., 168. Vgl. a.a.O., 295: „Johannes Althusius’s conception of politics [is] inherently consociational: humans depend on determinate forms of life together with others if they are to survive, let alone thrive.“ 41 A.a.O., 168. 42 Althusius, Politica, I,1 (zit. nach ders., Politik, übers. von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2003, 24). Vgl. die Definition von V. Gerhardt (Politisches Handeln. Über einen Zugang zum Begriff der Politik, in: ders. [Hg.], Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, 291–309, 308), wonach „die Politik nicht mehr und nicht weniger als der Versuch [ist], die Erhaltung und Entfaltung eines gemeinschaftlich

3. Die Kunst des Zusammenlebens

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Nähe der althusianischen Politikdefinition zum kommunitaristischen Verständnis von Politik als Prozess der Vergemeinschaftung ist nicht zu leugnen.43 Nach der Vision des Althusius gehört der Zusammenschluss von Menschen zu einer Gemeinschaft zum gelingenden Leben. Mit dem Motiv des Zusammenschlusses ist das Motiv des Vertrages (pactum) bzw. Bundes (foedus) bereits angelegt. Eine dispositionale Anschlussfähigkeit zur sog. Vertragstheorie (Kontraktualismus) und zur reformierten Föderaltheologie wird hier erkennbar.44 Der Zusammenschluss der Menschen zu einer Lebensgemeinschaft (consociatio) erweist sich nach Althusius als erforderlich, da der Mensch als Mängelwesen auf Hilfe in der Gemeinschaft angewiesen ist, und zwar von Geburt an: „Denn wenn der Mensch geboren wird, ist er jeder Hilfe beraubt, nackt und wehrlos gleich einem Schiffbrüchigen, der seine ganze Habe verloren hat. Er wird in die Mühsale des Lebens hinausgestoßen, kann allein weder die Mutterbrust erreichen, noch die Unbilden der Zeit ertragen oder sich mit den Füßen von der Stelle, von der er geboren ist, fortbewegen, ist zu nichts anderem imstande, als ein überaus klägliches Leben unter Jammer und Tränen zu beginnen, hin zu dem sichersten Vorzeichen drohenden Unglücks. Bar jeden Rats und jeder Hilfe, die er gerade dann so nötig hat, ist er unfähig, sich

gewollten Lebens nach Vorstellungen einzurichten, die möglichst allen die Chance verschaffen, ihr eigenes Leben zu führen.“ Ähnlich im Anschluss an Gerhardt von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 7: „Politisches Handeln kann […] vorläufig als dasjenige Handeln beschrieben werden, das entweder direkt oder indirekt auf die Herstellung, Erhaltung und Gestaltung einer menschlichen Gemeinschaft bezogen ist.“ 43 Vgl. etwa M. Sandel, Democracy’s Discontent. America in Search of a Public Philosophy, Cambridge u.a. 1996, 5: „[D]eliberating with fellow citizens about the common good and helping to shape the destiny of the political community.“ C.J. Friedrich (Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, 113) sieht in der althusianischen consociatio sym­ biotica eine Entsprechung zum Gemeinschaftsverständnis von F. Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft. Neudruck der 8. Aufl. von 1936, Darmstadt 31979), wobei diese These aber einigermaßen konstruiert bzw. retrojektiv entwickelt sein dürfte. Vgl. Wyduckel, Einleitung, in: J. Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2003, (VII–XLVII) XX. Vgl. zu Tönnies H. Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, ÖTh 11, Gütersloh 1999, 49–74. 44 Vgl. M. Freudenberg, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 168.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

selbst zu helfen, es sei denn, dass ein anderer sich seiner annimmt und ihm beisteht.“45

Um sich wechselseitig zu helfen, schließen sich die Menschen nach Al­ thusius zu einer Symbiose zusammen, die gleichsam eine „win-win-Situation“ für alle Partizipierenden bildet: „Die Symbioten sind also einander Helfende, die durch das Band eines sie eng zusammenschließenden Vertrages (pactum) dasjenige in die Gemeinschaft einbringen, was einer für Leib und Seele förderlichen Lebensführung angemessen ist mit dem Ziel, daran Anteil zu nehmen und zu geben.“46 Anders als bei Thomas Hobbes heißt es hinsichtlich des Naturzustandes bei Althusius nicht: homo homini lupus, sondern: homo homini minister. Althusius denkt zweifellos ausgesprochen gemeinschaftsbezogen, hat aber durchaus auch das Individuum im Blick, das allzu leicht zum Opfer eines Kollektivismus zu werden droht. Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts haben dies mittels ihrer horriblen historischen „Beweisführung“ nur zu allzu evident werden lassen. Der aus der Symbiose resultierende Nutzen bezieht sich nach Althusius indes sowohl auf die Gemeinschaft als auch den Einzelnen:47 „Die Gemeinschaft der Güter besteht darin, dass die Symbioten das für ein gesellschaftliches Leben Nützliche und Notwendige zum gemeinsamen Vorteil sowohl der Einzelnen als auch aller zusammen beitragen.“48 Es ist hier nicht der Ort, die Vision des Althusius im Detail zu schildern. Dies wird an anderer Stelle in diesem Band geschehen. Allerdings muss noch die Zielprojektion benannt werden, die zum althusianischen Politikentwurf gehört, um ihre Stärken gewichten zu können. Ohne auf die in diesem Band noch folgende detaillierte Besprechung vorgreifen zu wollen, sei einleitend hervorgehoben, dass Althusius bereits ein feines Gespür für die verschiedenen Dimensionen des Politischen hatte, die in der heute gängigen (Politik-)Wissenschaft unterschieden werden: 45

Althusius, Politica I,4 (zit. nach Politik, 24). Kursivierung: M.H. A.a.O., I,6 (zit. nach Politik, 25). 47 Dies ist der entscheidende Einwand gegen den Verdacht, Althusius verwende einen Gemeinschaftsbegriff, der Assoziationen zur nationalsozialistischen Ideologie wachrufe. Außerdem gilt es zu bedenken: Abgesehen vom Anachronismus dieses Verdachts ist der Begriff der consociatio keineswegs völkisch konnotiert, wie dies etwa für den Gebrauch des Begriffs „Volksgemeinschaft“ im Nationalsozialismus gilt. Vgl. zur Übersetzung des Begriffs consociatio mit „Gemeinschaft“ auch Wyduckel, Einleitung, XX; XLV. 48 Althusius, Politica I,8 (zit. nach Politik, 25). 46

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„Ziel der Politik ist eine angemessene, nützliche und glückliche Lebensführung, […] auf dass wir ein ruhiges und friedliches Leben in Frömmigkeit und Ehrenhaftigkeit zubringen können, damit wahre Frömmigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit unter den Bürgern geübt, nach außen Sorge für die Verteidigung gegen Feinde getragen werde und immer und überall Eintracht und Friede herrsche […]. Ziel ist darüber hinaus die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft, deren Zweck wiederum darin besteht, ein Leben zu führen, in dem man ohne abzuirren Gott in Frieden dienen kann“.49

Hier zeigt sich anachronistischer Weise, dass Althusius durchaus die drei gegenwärtig prominenten Politikdimensionen im Blick hatte.50 Sie betreffen nicht nur die Dimension der „polity“, also des Ordnungszusammenhangs, der Althusius als eine von unten nach oben gegliederte Ordnung der consociatio symbiotica vor Augen steht, sondern auch die Dimension bzw. den Aspekt der „policy“, der sich auf die hier in den Blick genommene Frage nach materialen Politikzielen bezieht. Und 49

A.a.O., I,30 (zit. nach Politik, 29f.). Althusius sieht diese Bestimmung in den beiden Tafeln des Dekalogs grundgelegt. Für ihre Durchsetzung hat die Gemeinschaft zu sorgen und an ihr ihre Kontrolle bzw. Sozialdisziplinierung auszurichten. Diese Aufgabe (der custodia utriusque tabulae) befremdet uns heute, insbesondere was die Durchsetzung der sog. Gottesgebote der ersten Tafel des Dekalogs betrifft. Sie steht im Widerspruch zur weltanschaulichen Neutralität des Rechts- und Verfassungsstaates. Vgl. W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 304f. Ausführlich dazu: H.-R. Reuter, Neutralität – Religionsfreiheit – Parität. Prinzipien eines legitimen staatlichen Religionsverfassungsrechts im weltanschaulich-neutralen Staat, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, 279–298; S. Grotefeld, Religiöse Überzeugungen im liberalen Staat. Protestantische Ethik und die Anforderungen öffentlicher Vernunft, Forum Systematik 29, Stuttgart 2006; Ch. Polke, Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates, ÖTh 24, Leipzig 2009. 50 In der Politikwissenschaft wird Politik heute grundsätzlich mehrdimensional strukturiert verstanden. Dementsprechend wird zwischen institutionellen Formen als polity, der inhaltlichen Dimension als policy und dem prozessualen Verlauf als politics unterschieden. Danach hat Politik „erstens eine institutionelle Dimension, die durch Verfassung, Rechtsordnung und Tradition bestimmt wird (polity), zweitens eine prozessuale Dimension, wodurch die Formen der Willensbildung und Interessenvermittlung in einem Staat durch Parteien, Verbände, Medien konturiert wird (politics) und schließlich drittens eine inhaltliche Dimension, die auf Ziele, Aufgaben und Gegenstände von Politik verweist und die Aufgabenerfüllung von Politik bestimmt (policy). Alle drei – institutionelle Formen als polity, die inhaltliche Dimension als policy und der prozessuale Verlauf als politics – machen zusammen das aus, was man als Politik bezeichnen kann.“ U. von Alemann, Art. Politik, EStL Neuausgabe, Stuttgart 2006, (1803–1804) 1804. Kursivierung: M.H. Vgl. auch F. Grotz, Art. Politik, in: D. Nohlen / F. Grotz (Hg.), Kleines Lexikon der Politik, München 62015, (474–477) 476f.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

selbst der Aspekt der „politics“, mithin die prozessuale Dimension, die Formen der Willensbildung und Interessenvermittlung betrifft, wird insofern berührt, als dass Herrschaft und Macht bei Althusius als auf Vereinbarungen basierend, genauerhin: föderal verstanden werden. Nur so können nach Althusius Eintracht und Frieden herrschen.51 4. Hermeneutische Zwischenbemerkung zu Althusius Man wird gleichwohl hermeneutische Vorsicht beim Gebrauch der reformierten, insbes. bei Althusius vorzufindenden Vision walten lassen müssen. Sie bezieht sich auf Althusius’ einstiges, für uns heute aber historisches Vorausdenken und würdigt es. Die Geschichte, die Gesellschaft, die Verfassung usw. haben sich indes anders entwickelt, als Althusius es sich erträumen konnte. Die hermeneutische Prophylaxe betrifft also zum einen den „garstige[n], breite[n] Graben“52, den eine historisch informierte Kritik nicht einfach wird ignorieren dürfen. So gilt es etwa zu beachten, dass Althusius noch nicht den heutigen juridischen Staatsbegriff kannte, kein institutionelles Staatsverständnis entfaltete und auch nicht im heutigen Sinne zwischen Staat und (Zivil-)Gesellschaft unterschied:53 „Stattdessen deutet er den Staat – das Wort als solches verwendet er noch nicht – als ein Gefüge oder als eine Gemeinschaft, die andere Lebensgemeinschaften, etwa die Stadt- oder Landgemeinde, in sich schließt.“54 Und noch in einer weiteren Hinsicht erscheint Althusius’ Vision als vormodern: Er „dachte nicht von den einzelnen Menschen her und kannte keine individuellen Grund- und Menschenrechte.“55 Diese historischen Differenzen gilt es festzuhalten. Mit ihnen eng zusammenhängend, ist zum anderen Vorsicht hinsichtlich einiger Anachronismen geboten. So hat der Rechtsgeschichtler Michael Stolleis zutreffend darauf hingewiesen, dass das Werk Al­ thusius’ seit seiner Wiederentdeckung durch Otto Gierke56 „zum Teil 51

Vgl. dazu Wyduckel, Einleitung, XX–XXIV. G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: ders., Sämtliche Schriften Bd. X, hg. von K. Lachmann, Leipzig 1856, (36–41) 40. 53 So Kress, Staat und Person, 41. 54 Ebd. Vgl. a.a.O., 52. 55 A.a.O., 41. Bei Otto von Gierke sieht Kress (a.a.O., 72) in der Tradition des Althusius aber keine „Entwertung des einzelnen Menschen und seiner persönlichen Grundrechte“ gegeben. 56 Vgl. O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 3 1913. 52

4. Hermeneutische Zwischenbemerkung

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anachronistisch im Sinne moderner Volkssouveränität und Basisdemokratie“57 gedeutet wurde. Auch dies darf nicht einfach übergangen werden. Entsprechende Vorbehalte, die beide Bemerkungen berücksichtigen, ermöglichen gleichwohl eine auch in normativer Hinsicht konstruktive Althusius-Rezeption: „Ungeachtet aller aus heutiger Pers­pektive anachronistischen Elemente, die der frühneuzeitliche Calvinismus beinhaltet, ist […] zu konstatieren: Ideengeschichtlich lassen sich zwischen ihm und einem neuzeitlich-modernen Staatsdenken, das die Rechte der Bürger betont und von der Volkssouveränität ausgeht, gewisse Verbindungslinien aufzeigen.“58 Ja, ohne eine Zuwendung zur althusianischen Vision mit der Haltung einer „sekundären Naivität“59 werden sich die auch für heutige gesellschaftlichen Verhältnisse innovativen Impulse seiner Vision nicht bergen lassen. Mit „zweiter Naivität“ ist eine nachkritische Hinwendung zu dieser Vision, die Gewinnung einer nachkritischen hermeneutischen Perspektive gemeint. Sie findet nicht unter Absehung von einer historisch-kritischen Rezeption statt, sondern setzt deren Durchführung voraus, geht gleichsam durch sie hindurch, um in einem abermaligen Leseakt über das historisch zu Ermittelnde hinaus nach aktuellen Impulsen zu fragen. Diese zweimalige, nämlich kritische und nachkritische Hinwendung entspricht der Umgangsweise mit der Vision des Althusius, wie sie im Folgenden gepflegt wird. 57

M. Stolleis, Protestantismus und modernes Staatsdenken, in: E. Campi u.a. (Hg.), Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Reihe Zürcher Hochschulforum 46, Zürich 2012, (89–105) 98. Ch. Strohm (Recht, Macht und Gewissen im frühen Calvinismus, in: J. Mehlhausen [Hg.], Recht, Macht und Gerechtigkeit, VWGTh 14, Gütersloh 1998, 502–515, 511) mahnt: „Auch wenn in Al­ thusius’ Konzeption des pactum civile das Volk als Vertragspartner dominiert, darf er keinesfalls als Demokrat im modernen Sinne gesehen werden. Da die Gesamtheit des Volkes den eigenen Teil an Souveränität und Macht gegenüber dem summus magis­ tratus nicht funktionsfähig wahrnehmen kann, muß es durch Repräsentanten, die sog. Ephoren, vertreten werden.“ Kursivierung: M.H. 58 Kress, Staat und Person, 41. 59 Den Begriff hat P. Ricœur (vgl. u.a. ders., From Existentialism to Philosophy of Language. A Philosophical Journey, Philosophy Today 17 [1973], 88–96, 92) prominent gebraucht. Er geht jedoch ursprünglich zurück auf den Philosophen Peter Wust (1884–1940). So E. Simon, „Dann werde ich wieder einfach sein“, Neue Sammlung. Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung 4 (1964), (445–463) 445. Vgl. auch ders., Auf dem Weg zur zweiten Naivität – Schiller und Kleist, Neue Sammlung. Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung 4 (1964), 525–535. Der Begriff wurde oft zur Kennzeichnung von Karl Barths Schriftauslegung gebraucht. So schon R. Smend, Nachkritische Schriftauslegung, in: E. Busch u.a. (Hg.), Parrhesia. FS Karl Barth zum 80. Geburtstag, Zürich 1966, (215–237) 236. Vgl. dazu: M.I. Wallace, The Second Naiveté. Barth, Ricœur, and the New Yale Theology, Macon 1990.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

5. Politische Ethik und die Kunst des Zusammenlebens Der vorliegende Band sammelt politisch-ethische Studien, die in den letzten Jahren zu ganz unterschiedlichen Gelegenheiten entstanden sind. Mit dem, was dabei unter politischer Ethik verstanden wird, knüpfen sie an die Vision des Althusius und sein Politikverständnis an. Er hat, wie bereits ausgeführt, die Politik als ars consociandi bestimmt, als die Kunst, Menschen zu einem sozialen und gemeinschaftlichen Leben zusammenzuschließen.60 Bei diesem reformierten Staatstheoretiker ist eine gewisse Nähe zum Verständnis des Politischen gegeben, wie es im 20. Jahrhundert Hannah Arendt (1906–1975) entwickelt hat.61 Ihr zufolge ist das gemeinsame Handeln in Interaktion und Kooperation Kennzeichen des Politischen. Arendt versteht „unter Politik all das […], was für das Zusammenleben der Menschen schlechthin notwendig ist.“62 Auch Calvin kann, wie bereits angedeutet, festhalten: Menschen „sind geschaffen, um einer dem anderen zu helfen und einander zu unterstützen.“63 Ein solches Politikverständnis hebt sich ab von anderen Politikverständnissen und Politikmodellen. Signifikant dürfte im Blick auf diese sein, was jeweils als der Ursprung, als das initium des Politischen verstanden wird: so etwa die Abgrenzung und Selbstreproduktion des gesellschaftlichen Teilsystems „Politik“ mit Hilfe des zweiwertigen (binären) Codes „Macht / keine Macht“64 bei Niklas Luhmann (1927– 1998)65, die machtvolle Durchsetzung des eigenen Willens bei Max Weber (1864–1920)66 und schließlich die Unterscheidung von Freund 60

Althusius, Politica I,1: „Politica est ars homines ad vitam socialem […] consociandi. Unde symbiōtikē vocatur.“ 61 Kress (Staat und Person, 144) sieht eine Nähe zu Martin Bubers utopischem Denken und seinem Plädoyer für einen Gesellschaftsaufbau von unten gegeben. 62 H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von U. Ludz, München / Zürich 2003, 60. 63 CStA 7,44 (Predigt über Dtn 5,17 vom 1.7.1555). 64 Vgl. N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, 75: „Macht ist also nicht etwas, was in der Politik auch vorkommt, sie ist die Quintessenz von Politik schlechthin.“ 65 Die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns lässt sich als Versuche verstehen, aus dem „Krähennest“ heraus über die Beschreibung der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft Zugriff auf die operativ geschlossenen, selbstreferentiellen und autopoietischen Teilsysteme zu erlangen. Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 51994. 66 Politik ist nach M. Weber (Politik als Beruf [1919], in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 1959, 493–548, 494) als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung [zu verstehen; M.H.],

5. Politische Ethik und die Kunst des Zusammenlebens

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und Feind bei Carl Schmitt (1888–1985)67. Ganz anders zeigt sich der Anfangspunkt des Politischen bei Johannes Althusius und Hannah Arendt. Er liegt nach Arendt im gemeinsamen Handeln68 und nach Althusius im Zusammenschließen zu einer friedvollen, symbiotischen Gemeinschaft.69 In allen Fällen wird ein verbindlicher Wesensbegriff des Politischen vorausgesetzt.70 Nur bei Althusius ist er indes wirklich substantiell auf den Frieden bezogen, wohlgemerkt keinen kalten Friedhofsfrieden ohne gegenseitiges Verstehen und soziale Teilhabe, sondern auf einen warmen Frieden, der gleichsam prozesshaft das Zusammenleben prägt. Althusius hat deshalb von der „Kunst des Zusammenlebens“ gesprochen, weil es um eine sukzessive Gestaltung des Zusammenlebens hin zu einem symbiotischen geht.71

sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen Menschengruppen, die er umschließt.“ Macht wiederum definiert M. Weber (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 28) als „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Zu Weber vgl. W. Schoberth, Die bessere Gerechtigkeit und die realistischere Politik. Ein Versuch zur politischen Ethik, in: R. Feldmeier (Hg.), Salz der Erde. Zugänge zur Bergpredigt, Göttingen 1998, 108– 140; B. Wannenwetsch, The Liturgical Origin of the Christian Politeia. Overcoming the „Weberian“ Temptation; in: Ch. Stumpf / H. Zaborowski (Hg.), The Church as Polis. The Political Self Understanding of Christianity, AKG 87, Berlin / New York 2004, 323–340. 67 Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 82009, 25f. Zu Schmitt vgl. M. Hofheinz, Gottesfreund – Menschenfreund. Vom Richtungssinn theologischen Freundschaftsdenkens, in: ders. u.a. (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, (399–430) 408–418. 68 Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, München 142000, 81: „Was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln, sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun; gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteilgeworden: etwas Neues zu beginnen.“ 69 R. Bubner (Polis und Staat. Grundlinien der politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, 18) spricht in der Zusammenschau von einem „Vakuum eines substantiell gefaßten Politikbegriffs“. 70 Indes wurde in der jüngeren deutschen Politikwissenschaft – wie U. von Alemann (Art. Politik, 1804) hervorhebt – „die Suche nach dem verbindlichen Wesensbegriff des Politischen weitgehend aufgegeben“. 71 Vgl. D. Neri, Das Gemeinschaftsprinzip und das Friedensproblem in föderalistischer Sicht, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, 119–136.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Das symbiotische Zusammenleben bildet das Zentralmotiv seines Denkens. Dabei ist die Wendung „symbiotisches Zusammenleben“ im Grunde genommen als Pleonasmus zu verstehen: „Im Griechischen heißt symbioun zusammenleben, in Gemeinschaft leben, das Substantiv symbiosis entsprechend Lebensgemeinschaft. […] In einem Wortspiel, das nur im Griechischen möglich ist, setzt Althusius die symbiotici und symboetici in eins, d.h. die Zusammenlebenden sind die einander Helfenden.“72 Auf diesem semantischen Hintergrund spricht Althusius vom Menschen als dem symbioticus und seiner entsprechenden Lebensweise als symbiosis. In seiner „Dicaeologicae libri tres“ erläutert Althusius: „[E]in symbioticus (ist) der, welcher sich verpflichtet, mit anderen zusammen ein soziales Leben zu pflegen und für dieses Leben Nützliches und Nötiges zum Gemeinwohl beizubringen und entsprechend umgekehrt daran teilzuhaben“.73 Die Gemeinschaft verpflichtet zur Teilhabe und dazu, etwas von dem Empfangenen zurückzugeben. So generiert sich Frieden: „Im symbiotischen Austausch der ‚Konsoziationen‘, wie es bei Althusius heißt, entsteht ein Friede, der – anders als die Abwesenheit des Krieges – einen positiven, konstruktiven Sinn erhält, ein Friede im Sinne eines umfassenden ‚Modells der Zusammenarbeit und der Integration‘ (J. Galtung). Politik, Politikwissenschaft (ars politica) und Friedensarbeit werden nahezu identisch; es ist die Kunst, symbiotisch zu leben.“74

6. „Kunst“ bei Althusius im Rückgriff auf Petrus Ramus und Aristoteles Die Verwendung des Kunstbegriffs bei Althusius ist erläuterungsbedürftig. Und wer danach fragt und wissen möchte, wie eine heutige Ethik des Politischen anhand des Begriffs der Lebenskunst gegenwartsrelevante Orientierungskraft gewinnen kann, der/die muss 72

H. Hollenstein, Die Kunst symbiotisch zu leben. Friedensarbeit in Schule und Gemeinde, in: M. Hofheinz / G. Plasger (Hg.), Ernstfall Frieden. Biblisch-theologische Perspektiven, Wuppertal 2002, (197–215) 205. Es handelt sich bei symbiotici und symboetici natürlich um latinisierte griechische Begriffe. 73 J. Althusius, Dicaeologicae Libri Tres: Totum et universum Jus, quo utimur Methodicé complectentes, Frankfurt a.M. 1649 (ND Aalen 1967), IV,81 (De societate publica), 283: „Symbioticus est, qui se ad socialem vitam cum aliis colendam, et ad eam utilia et necessaria in commune conferendum, et vicissim participandum obligat“. 74 Hollenstein, Die Kunst symbiotisch zu leben, 205.

6. „Kunst“ bei Althusius

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sich zunächst über den veränderten Sprachgebrauch klarwerden und die bedeutungsverengende Verwendung des Kunstbegriffs seit dem 18. Jahrhundert realisieren.75 In der altprotestantischen Theologie wurde der Kunstbegriff noch zur Definition der Theologie gebraucht. Damals bildete es „ein zentrales Unterfangen“76, das genus theologiae zu bestimmen. Dabei bediente man sich des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses. Man vermied eine einfache Beschreibung der Theologie als scientia und versuchte, sie dem Verständnis nach als praktische Wissenschaft zu etablieren.77 Dabei kam es freilich nicht zu einer einheitlichen Lösung.78 Es konkurrierten vielmehr in den entsprechenden Klassifizierungsversuchen die genera der prudentia (bei cartesianischen Theologen wie Christoph Wittich und Frans Burman vorherrschend), sapientia (Franziskus Junius der Ältere und Amandus

75

J. Teuffel (Von der Theologie. Die Kunst der guten Gottesrede in Entsprechung zur gelesenen SCHRIFT, Beiträge zur Theologischen Urteilsbildung 8, Frankfurt a.M. 2000, 43f.) macht zutreffend geltend: „Der Kollektivsingular (singularis pro plurali) ‚die Kunst‘ wird ästhetisch bestimmt und damit auf die schönen Künste beschränkt (L’art pour l’art). Die je eigene Begabung (ingenium) des Künstlers dominiert, beherrscht die Regeln der Kunst und bedingt die Einzigartigkeit des Kunstwerkes. Die Verfeinerung der Nachahmung (imitatio) lässt das Kunstwerk als ungekünstelt und damit quasi als zweite Natur erscheinen. Diejenigen Kunstwerke, die der Genieästhetik und dem Natürlichkeitsideal zuwiderlaufen, werden dem eingedeutschten ‚Technik‘-Begriff angelastet.“ Kursivierung: M.H. Vgl. F.-H. Robling, Art. ars, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1, Tübingen 1992, (1009–1030) 1028f. R. Fischer (Die Kunst des Bibellesens. Theologische Ästhetik am Beispiel des Schriftverständnisses, Beiträge zur Theologischen Urteilsbildung 1, Frankfurt a.M. u.a. 1996, 15) notiert: „Im heutigen Sprachgebrauch wird der Begriff ‚Kunst‘ nämlich überwiegend mit Fähigkeiten im Bereich der bildenden Künste konnotiert und zudem eher mit dem Fühlen als mit dem Denken in Zusammenhang gebracht.“ 76 K.-O. Eberhardt, Vernunft und Offenbarung in der Theologie Christoph Wittichs (1625–1687). Prolegomena und Hermeneutik der reformierten Orthodoxie unter dem Einfluss des Cartesianismus, FSÖTh 164, Göttingen 2019, 119. 77 Vgl. ebd. 78 Bereits Calvin kann sich verschiedener Begriffe wie scientia, doctrina, sapientia und cognitio bedienen, um zu verdeutlich, dass „[t]heologische Erkenntnis […] immer Teil eines umfassenderen Lebensvollzuges“ ist. So Ch. Strohm, Das Theologieverständnis bei Calvin und in der frühen reformierten Orthodoxie, ZThK 98 (2001), (310–343) 321.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Polanus sind hier zu nennen), scientia und ars.79 Die Bestimmung als ars prävalierte besonders bei den englischen Ramisten.80 Es ist insofern keineswegs verwunderlich, dass Althusius diesen Begriff (ars) bevorzugte, da auch er sich dem Ramismus verpflichtet wusste. Mit der Intention des P. Ramus kann sich Althusius identifizieren: „Im Sinn der humanistischen Kritik an dem maroden Bildungswesen und einem abseitigen scholastischen Wissenschaftsbetrieb sollte eine Alternative aufgezeigt werden. Der spitzfindigen scholastischen Syllogistik sollte die wahre, aus den Traditionen der antiken Rhetorik gespeiste Dialektik entgegengestellt werden. Von einer solchermaßen erneuerten Dialektik ausgehend, versuchte Ramus den gesamten Stoff der artes liberales zu ordnen und mit Hilfe immer neuer, zumeist dichotomischer Einteilungen zu gliedern.“81

Althusius greift also mit dem Begriffsgebrauch ars nicht einfach nur in humanistischer Tradition auf die antiken sieben freien Künste (septem artes liberales) zurück, bestehend aus Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie), die der Vorbereitung auf die Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin galten. Nein, es ist der Ramismus, dem er sich in besonderer Weise verpflichtet weiß,82 wie bereits der Titel seines Frühwerkes „Jurisprudentiae Romanae libri duo. Ad leges methodi Rameae conformati et tabellis illustrati“ explizit zeigt und wie außerdem das „Schema politicae“ veranschaulicht, das den Aufbau der „Politica“ mit Hilfe ramistischer Unterscheidung graphisch präsentiert.83 Die Attraktivität ramistischer Logik bestand für Althusius wie für weite Teile des reformierten Protestantismus zum einen formal dar79

Ich folge hier durchgehend – im Anschluss an Eberhardt (Vernunft und Offenbarung, 119f.) – R.A. Muller, Post-Reformation Reformed Dogmatics. The Rise and Development of Reformed Orthodoxy, ca. 1520 to ca. 1725, Vol. 1: Prolegomena to Theology, Grand Rapids 22003, 328–340. Vgl. auch P. Althaus, Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik im Zeitalter Scholastik, Darmstadt 1967, 36–40. 80 So Eberhardt, Vernunft und Offenbarung, 120. Vgl. Muller, Post-Reformation Reformed Dogmatics I, 331f. 81 Ch. Strohm, Theologie und Zeitgeist. Beobachtungen zum Siegeszug der Methode des Petrus Ramus am Beginn der Moderne, ZKG 110 (1999), (352–371) 352f. Kursivierung: M.H. 82 So auch Strohm, a.a.O., 365: „Nicht mehr die mittelalterlichen Fürstenspiegel oder Aristoteles’ Politik bieten hier die entscheidenden Gesichtspunkte für Gliederung und Durchführung, sondern der an Ramus orientierte Anspruch einer methodisch stringenten Systematik.“ 83 Vgl. Althusius, Politik, 9–12.

6. „Kunst“ bei Althusius

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in, dass ihm die ramistische Methode des Definierens (definitio) und (meist dichotomischen) Einteilens (divisio) erlaubte, den Wissensstoff in klarer Ordnung zu präsentieren.84 Zum anderen beruhte die erstaunliche Wirkung des Ramismus darin, dass er inhaltlich ganz im Sinne des Humanismus eine Bestimmung der Theologie als doctrina bene vivendi85 lieferte, die etwa auch für den Juristen und Politikwissenschaftler Althusius hochgradig anschlussfähig war. Der Anspruch auf eine reformatio vitae meldete sich hier als Deutungs- und Gestaltungsanspruch zu Wort. Treffend hält Ch. Strohm fest: „Der Calvinismus verdankt seine enorme Ausbreitung in diesen Jahrzehnten nicht zuletzt dem Anspruch, über die Reformation der christlichen Lehre hinaus die des christlichen Lebens voranzutreiben. Der wahrgenommenen Krise der alten Ordnung begegnete man mit dem verschärften Interesse an der Moral als verinnerlichter Ordnung. Die besondere Attraktivität der ramistischen Philosophie resultierte ebenfalls aus der mit der allgemeinen Krisenwahrnehmung verbundenen Sehnsucht nach Ordnung. Ramus’ simplifizierende Logik mit ihren klaren Definitionen und Divisionen war in besonderer Weise in der Lage, die gefährdete Ordnung imaginär darzustellen und das heißt Ordnung durch Deutung zu konstituieren.“86

Der praktischen Ausrichtung der ramistischen Dialektik,87 die nahezu die gesamte Herborner „Hohe Schule“ (Johannea) in Bann schlug,88 konnte auch Althusius sich nicht entziehen. 84

Vgl. Strohm, Theologie und Zeitgeist, 359. P. Ramus, Commentatorium de religione Christiana, libri quatuor… Eivsdem vita a Theophilo Banosio descripta, Frankfurt a.M. 1576, 6. 86 Strohm, Theologie und Zeitgeist, 370. 87 Strohm, Art. Ramus, Petrus, TRE 28 (1997), (129–133) 132. 88 Wie L. Baschera (Ethics in Reformed Orthodoxy, in: H.J. Selderhuis [Hg.], Companion to Reformed Orthodoxy, Brill’s Companions to the Christian Tradition XL, Leiden / Boston 2013, 519–552) stichprobenartig anhand der Werke von Amanus Polanus (1561–1610), William Ames (1576–1633), Lambert Daneau (1530–1595), Antonius Walaeus (1573–1639) und Johann Heinrich Heidegger (1633–1698) gezeigt hat, kann wohl für die gesamte reformierte Orthodoxie gelten: „Reformed theologians brought […] to full expression a concern for ‚practice‘ which had been present within Reformed Protestantism from the very beginning“ (a.a.O., 552). Vgl. a.a.O., 519: „The knowledge of God’s truth obtained through sound theology did not to remain confined to the realm of theoria, but had practical consequences, directing the life of the church as well as of the individual believer. It is not a coincidence, then, that among Reformed orthodox divine theology was defined as either a mixed speculative and practical disciple or a purely practical one. […] Although these two views led to some shifts in the presentation of Christian doctrine, all Reformed orthodox theologians acknowledged 85

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Freilich dürfen die methodische Hinwendung zu P. Ramus und die Abwendung vom Aristotelismus nicht – wie D. Wyduckel zu Recht bemerkt – „im Sinne eines prinzipiellen Gegensatzes zur Politik des Aristoteles verstanden werden. Alle Politikwissenschaft ist insoweit aristotelisch, als sie vom Menschen als einem auf Gemeinschaft angelegten Wesen ausgeht. Die Wendung gegen den Neuaristotelismus ist vielmehr in erster Linie eine methodologische, die dem Formalismus der scholastischen Syllogistik mit einem neuen Wissenschaftsverständnis zu begegnen sucht.“89

Wenn man sich das Einleitungskapitel der „Politica“ anschaut, das die allgemeinen Grundlagen und das Wesen der Politik zu beschreiben versucht, so wird man auf wenigen Seiten breiter Referenzen auf Aristoteles gewahr.90 Trotz aller methodischen Vorbehalte bewegt sich Althusius in aristotelischer Tradition. Auch seine Politikdefinition und näherhin sein Verständnis von ars sind in diesem Zusammenhang wahrzunehmen. Hier wird Kunst (lat. ars, gr. technē) als Können teleologisch konzipiert, näherhin als ausgebildete Fähigkeit zur Realisierung eines Zwecks (telos). Bei Aristoteles begegnet eine Klassifikation der verschiedenen Arten des Könnens: „Die aristotelische Wissenschaftslehre unterscheidet das poietische (hervorbringende) Können an einem Stoff vom praktischen (handelnden) Können in einer Situation und vom theoretischen (betrachtenden) Können, das sich auf die Erkenntnis eines Gegenstandes bezieht.“91 Aristoteles kennt dementsprechend drei Lebensformen: den bios theōrētikos als die theoretische Lebensform, die auf Erkenntnis bzw. Betrachtung (theōria) des Göttlichen, Notwendigen bzw. Ewigen abzielt, und den bios praktikos, die praktische Lebensform, die auf das Mögliche, Vergängliche und Veränderliche ausgerichtet ist.92 Zur zweiten Lebensform rechnet Aristoteles auch den bios apolaustikos, das Genussleben, das nur im Verbrauch äußerlicher, materieller Güter besteht und nicht zum Erreichen der Glückseligkeit geeignet ist. Die eigentliche praktische Lebensform ist die politische (bios politikos). and defended the practical relevance of theology. For them, theory and practice stood in organic relationship to each other: neither can Christian practice but ground in sound doctrine, nor can any doctrine be sound unless it contributes to mold the character according to biblical standards.“ 89 Wyduckel, Einleitung, XV. 90 Vgl. Althusius, Politica I,5; I,22; I,24; I,33. 91 Robling, Art. ars, 1009. 92 Vgl. Aristoteles, EN 1139b 22f.; 1140a 1f.

6. „Kunst“ bei Althusius

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Zu ihm gehören die herstellende Tätigkeit (poiēsis), die ihr Ziel (te­ los) außerhalb des Aktes hat (Beispiel: Hausbau) und die handelnde Tätigkeit (praxis), die ihr telos in sich selbst hat (Beispiel: Spazierengehen).93 In der „Metaphysik“ des Aristoteles findet sich nun eine Unterscheidung zwischen Kunst (im Sinne von praktisch handelnder Kunst; praktikē technē) und Wissenschaft (als theoretischer, d.h. betrachtender Wissenschaft; epistēmē), die auch im Blick auf Althusius’ Politikdefinition aufschlussreich ist. Eine solche Kunst wisse nur, wie sich etwas verhält, eine Wissenschaft aber auch, warum es so sei.94 Sie fragt nach Ursachen und Gründen. Dementsprechend kann Aristoteles auch zwischen theoretischer und praktischer Philosophie unterscheiden. Erstere untersucht, was nicht anders sein kann. Ihr Ziel (telos) liegt also in der Erkenntnis um ihrer selbst willen,95 während die praktische Philosophie alles das untersucht, was anders sein könnte. Ihr Ziel (te­ los) liegt in der Erkenntnis um des Nutzens willen. Dieses Verständnis der praktischen Philosophie begegnet uns in gewisser Weise auch in Althusius’ Politikverständnis wieder. So konnte der Herborner Rechtsgelehrte bereits in der 1. Auflage seiner „Politica“ (1603) festhalten: „Wie weit man in unserem Fach der Politik gehen darf, das zeigt hinreichend ihr Ziel an. Dieses besteht darin, die Gemeinschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen durch die hierfür besonders geeigneten, notwendigen und nützlichen Mittel zu unserem Wohl einzurichten und zu erhalten.“96 Dieses Politikverständnis steht klar erkennbar in aristotelischer Tradition. Für Aristoteles gehört die Politikwissenschaft zur praktischen Philosophie. Der bios politikos ist – wie bereits erwähnt – im eigentlichen Sinne der bios praktikos. Sein Ziel bildet das Werk (er­ gon) und anders als im bios theōrētikos nicht die Wahrheit (alētheia). Die dritte Art des Könnens, die Aristoteles neben dem praktischen und theoretischen kennt, nämlich das poietische (hervorbringende) Können, die technē poiētikē, gehört auch zum bios praktikos, dessen eigentlicher Sinn der bios politikos ist. Es geht bei der technē poiētikē nicht nur um die Hervorbringung von sprachlichen Kunstwerken, wie 93

Vgl. a.a.O., 1140a 5f.;16f. Aristoteles, Metaphysik E 1. Vgl. Robling, Art. ars, 1012. 95 Vgl. Aristoteles, EN 1177b 2–4. 96 Althusius, Politik, 19. Nach Althusius dient die „Politik“ der Vermittlung der Regeln, „wie nämlich eine Gemeinschaft zu begründen, und wenn sie eingerichtet ist, zu erhalten sei, sowie darüber, welches Gemeinwesen glücklicher, welche seiner Formen beständiger und weniger Gefahren und schädlichen Veränderungen ausgesetzt ist u.a.m.“ A.a.O., 20. 94

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

in der „Poetik“, sondern auch um die materiell-physische Anwendung dieser Technik, die Aristoteles in der „Physik“ beschreibt. Dort spricht er davon, dass die Kunst die Natur nachahmt und sie vervollkommnet.97 Politik hat nach Aristoteles auch damit zu tun. Sie gehört zur ins Werk setzenden praktischen (und hervorbringenden: poietischen) technē (Kunst). Diese technē (Kunst) findet Verborgenes in der Natur vor, ist darum eine ars inveniendi und setzt eine ingeniöse Beteiligung des homo politicus voraus. Dieser Gedanke ist für das althusianische Denken wegweisend: Das Arbeitsfeld des Symbioten wird als veränderbar, als inszenierbar und inspirierbar gedacht und vorausgesetzt. Der Begriff ars ist, wie die verschiedenen aristotelischen Arten des Könnens zeigen, ein umfassenderer Begriff als der der Wissenschaft. „Kunst“ wird, um es auf den Punkt zu bringen, von Aristoteles als praktische und d.h. als handelnde und hervorbringende, auf Werke (ergon) zielende Fähigkeit des Verstandes verstanden, wohingegen er die „Wissenschaft“ als die Fähigkeit bezeichnet, ewige Wahrheiten zu betrachten.98 Wissenschaft ist für Aristoteles insofern „theoretische“ Wissenschaft, zu der die Politik eben nicht gehört. Es dürfte evident sein, welch hoch bedeutsame Einsicht sich hinter dem Gedanken der Politik als ars inveniendi verbirgt. Sie ist damals wie heute an Aktualität kaum zu überbieten: Denn es kommt auch heute entscheidend darauf an, neue Wege auf allen Ebenen des Zusammenlebens, in globalen wie lokalen Krisen zu finden. Die Herausforderungen sind Legion und die „grand challenges“ nicht nur multiple, sondern – wie der Name sagt – eben auch und vor allem „grand challenges“.99 Die ars politica hat – wie Althusius auf dem Hintergrund der aristotelischen Tradition erkannt hat – eine heuristische, inventive, gewiss auch visionäre Funktion, die nicht nur rational und analytisch arbeitet, sondern auch weltanschaulich auf geschichtliche Bilder zurück- und vorgreifen muss und dabei die Theologie mit ihren eschatologischen Bildern nicht aus dem Blick lassen darf. Althusius schließt das „Vorwort“ seiner im Jahr 1614 erscheinenden, dritten Auflage seiner „Politica“ mit den Worten ab: „Es gebe der Gute und Große Gott, das wir in diesem politischen und symbiotischen Leben etwas ihm Gefälliges

97

Aristoteles, Physik 199a 8–20. Aristoteles, EN 1139a 16–b 24. 99 Vgl. dazu den Band: M. Hofheinz / C. Johnsdorf (Hg.), The Grand International Challenges. Theologisch-ethische Perspektiven, Stuttgart 2021. 98

7. Die Wurzeln der Politik

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und den Menschen Nützliches und Gedeihliches tun und so das Ziel erreichen, das unserer Lehre gesetzt ist.“100 7. Die Wurzeln der Politik im Verhältnis zu einer reformierten Ethik des Politischen Auch in der christlich-theologischen Ethik geht es – wie Karl Barth hervorhebt – um „Kunst“,101 doch noch nicht die ars consociandi wie bei Althusius, sondern zunächst die ars interrogandi, als „Kunst des richtigen Fragens nach Gottes Willen und des offenen Hörens auf sein Gebot“.102 Entgegen gängigen Vorurteilen, eine direktive und rigide Gebotsethik zu befürworten, hebt der späte Barth auf die didaktisch-katechetische Funktion der Ethik ab, wenn er betont: „Ethik kann […] nicht selbst Weisung, sondern nur Unterweisung geben: Unterricht in der Kunst, jene Frage jeweils sachgemäß zu stellen und ihrer Beantwortung, die Gott allein geben kann und gibt, jeweils offen, aufmerksam, willig entgegenzusehen.“103 Ein solches Ethikverständnis ist auch politikwissenschaftlich anschlussfähig. Ohne Regeln, nach denen christlich-theologische Ethik aus ihrer Perspektive und d.h. im Blick auf den Willen Gottes (Röm 12,2) fragt, dürfte auch die „Kunst des Zusammenlebens“ nicht zur Entfaltung kommen können. Arendt und Althusius, die gemeinsam (auch, aber nicht nur) in der Tradition der antiken Polis und vor allem des Aristoteles stehen,104 gehen jedenfalls beide von dem menschlichen 100

Althusius, Politik, 16. Von der „Art of Happiness“ spricht E.T. Charry (God and the Art of Happiness, Grand Rapids / Cambridge 2003). Vgl. auch dies., By the Renewing of Your Minds. The Pastoral Function of Christian Doctrine, Oxford / New York 1997, 5–32 („The Art of Christian Excellence“). Zum „Kunst“-Begriff vgl. a.a.O., 11–24. 102 K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, Karl Barth GA II/7, hg. von H.-A. Drewes / E. Jüngel, Zürich 1976, 52. 103 A.a.O., 51. Dort z.T. kursiv. Vgl. dazu T. Vogel, „Unterweisung in der Kunst des richtigen Fragens nach Gottes Willen und des offenen Hörens auf sein Gebot“. Ansatz der Ethik und ethische Argumentation bei Karl Bart, in: H. Köckert / W. Krötke (Hg.), Theologie als Christologie. Zum Werk und Leben Karl Barths, Berlin (Ost) 1988, 121–135; M. Hofheinz, The Christian Life, in: G. Hunsinger / K.L. Johnson (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to Karl Barth. Vol. 1: Barth and Dogmatics, New York / Chichester 2020, 355–367. 104 Zur Polisvorstellung von Aristoteles vgl. insbes. die Büch VII–VIII seiner „Politik“: Aristoteles, Politik, VII,1–VIII,7, 1323a–1342b. Natürlich sind diese Entwürfe keineswegs deckungsgleich. So hebt L. Bretherton (Christ and the Common Life, 101

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Vermögen aus, sich gemeinsam und ohne Gewalt über die Grundlagen des geordneten Zusammenlebens zu verständigen, entsprechende Institutionen auszubilden und insgesamt zu versuchen, die Herrschaft von Menschen über Menschen in die Herrschaft von Regeln (Normen, Gesetzen, Rechten) zu überführen, die das Zusammenleben ermöglichen. Die Kunst des Zusammenlebens ist Gegenstand politischer Ethik.105 Nach ihr wird auch im Zusammenhang der hier vorgelegten theologischen Studien gefragt, die sich der reformierten Tradition widmen. Diese Frage geht an die Wurzeln des Politischen. Ihr haben wir uns über das althusianische Denken annähern können, das in reformiert-calvinistischer Tradition verankert ist. Folgt man dem Nestor der deutschen Politikwissenschaft nach 1945, Dolf Sternberger (1907– 1989), so lassen sich drei Wurzeln des Politischen unterscheiden: a) die Dämonologik Niccolò Machiavellis („Il Principe“), b) die Eschatologik Augustins („De civitate Dei“) und c) die Politologik des Aristoteles („Politik“).106 Von dieser Typologie geht in all ihrer Suggestivität zweifellos nach wie vor orientierende heuristische Kraft aus. Sie erlaubt es, ein komplexes Feld als ein geordnetes, gleichsam elementarisiertes zu überschauen und eine Einordnung in das angebotene Schema zu treffen. Um eine solche Einordnung geht es, wenn nun die Frage gestellt wird, welchem dieser drei Wurzeltypen die hier vorgelegten Studien folgen, in wessen Nähe oder Ferne sie also zu verorten sind.

397; Resurrecting Democracy: Faith, Citizenship, and the Politics of a Common Life, Cambridge 2015, 198) die Differenz zwischen Althusius und Aristoteles hervor: „Althusius rejected Aristotle’s distinction between a natural domestic rule and the political rule among free and equal citizens. For Althusius, all forms of social life, whether in the family, the guild, or the polis, may participate in the formation of political life. However, this does not mean that Althusius totalizes the political sphere so that it subsumes every aspect of life within it.“ Bretherton kann mit Th.O. Hueglin (Early Modern Concepts for a Late Modern World: Althusius on Community and Federalism, Waterloo 1999, 95f.) hervorheben: „For Althusius, each consociation or political community is determined by the same principles of communication of goods, services, and rights. The essence of politics is the organization of this process of communication. Therefore, families and professional colleges are as much political communities as cities, provinces, or realms insofar as they participate in this political process through their activities.“ 105 Von der „art of loving well“ spricht übrigens auch E.F. Davis (Getting Involved with God. Rediscovering the Old Testament, Lanham u.a. 2001, 89) bezüglich der weisheitlichen Traditionen des Alten Testaments. 106 Vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt a.M. 1984.

7. Die Wurzeln der Politik

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Gewiss folgen sie nicht der Dämonologik Machiavellis (a),107 zu deren Gefolgschaft letztlich auch Max Weber zählt,108 zumal es in der Politik – Weber zufolge – um einen Machtkampf geht und zwar im Zusammenspiel von Machterwerb und Machterhalt. Politik als Technik eines subjektiven Machtstrebens basiert freilich auf einer sittlich höchst fraglichen Basis, ist eben dämonologisch grundiert. Anders als bei diesem Machtmodell wird Politik nach der Eschatologik (b) als Weg zu einem vollkommenen Frieden verstanden. Dies könnte zunächst, wen mag es angesichts der Urheberschaft Augustinus’ verwundern, theologisch anschlussfähig erscheinen; freilich dürfte eine solche Anschlussfähigkeit nur unter größtem Vorbehalt konzediert werden, genauer gesagt: eingedenk des eschatologischen Vorbehalts, wonach es auf Erden nie um die Herstellung eines vollkommenen Friedens und einer vollkommenen Gerechtigkeit gehen kann. Genau darin erkennt aber Sternberger das Bestreben der augustinischem Eschatologik, d.h. im Betreiben der „Großen Veränderung“109, in der Einrichtung des „Gottesstaates“ und im Kampf zwischen Gut und Böse.110 Solche überspannten Erwartungen müssen indes geradezu zwangsläufig in Mord und Totschlag enden. Politik verstanden als eine jenseitig ausgerichtete Theologie repräsentiert eine keineswegs ungefährliche politische Theologie, die einem Heilsmodell folgt.111 So sehr Eschatologie und Ethik nicht voneinander zu separieren sind, so sehr wird man beide nicht einfach miteinander kurzschließen dürfen. Insofern besteht ein deutlicher, ja massiver Vorbehalt gegenüber einer Zuordnung zu Sternbergers zweitem Typus, der Eschatologik. Bleibt also nur noch der dritte Typus, die Politologik Aristoteles’ (c).112 Von einer entsprechenden Affinität war bereits die Rede. Hier meldet sich auch die Präferenz Sternbergers, der den Frieden als Gegenstand und Ziel der Politik versteht.113 Politik als Versuch, dass 107

Vgl. a.a.O., Teil III (159–265). Vgl. a.a.O., 250. 109 A.a.O., 342. 110 Sternbergers Sicht Augustins ist freilich sehr umstritten. Vgl. dazu W. Lienemann, „Eschatologik“ als Antipolitik? Politische Ethik zwischen weltlichem Staat und christlichem Friedenszeugnis; Überlegungen im Blick auf Augustins De civ. Dei XIV, in: R. Hess / M. Leiner (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. FS J. Christine Janowski, Neukirchen-Vluyn 2005, 409–425. 111 Vgl. W.T. Cavanaugh, Theopolitical Imagination. Discovering the Liturgy as a Political Act in an Age of Global Consumerism, London u.a. 2002; J. Staedtke, Möglichkeiten und Grenzen politischer Theologie, ThSt 112, Zürich 1973. 112 Vgl. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 87–156. 113 D. Sternberger, Über verschiedene Begriffe des Friedens, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frank108

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

freie, gleiche und vernünftige Bürger – die maskuline Form wird hier bewusst gewählt, da Frauen ebenso wie Sklaven in der antiken Polis ausgeschlossen waren114 – sich verständigen und ihre Streitigkeiten friedlich regeln, ein solches Verständigungsmodell scheint, sieht man einmal von besagten geschlechtlichen und sozialen Ungerechtigkeiten ab, ohne Zweifel attraktiv zu sein. Während jedoch Sternberger die drei Typen als einander ausschließende Politikmodelle betrachtet, wird dies mit den vorliegenden Studien vorsichtig infrage gestellt, zumindest was die Typen zwei und drei betrifft. Beide stehen sich gewiss nicht gleichgewichtig gegenüber. Zu groß muss hier der Vorbehalt gegenüber der Eschatologik mit ihrem theokratischen Gefahrenpotential ausfallen. Dennoch ist m.E. für eine Zuordnung der Eschatologik zur Politologik zu plädieren – nota bene mit dem benannten Vorbehalt und der daraus resultierenden Einschränkung. Theologisch wahrgenommen, bedarf die Politik eschatologischer Relativierung. Sie wird dadurch aber nicht unbedeutend gemacht, sondern vielmehr als eine um des Nächsten willen hochbedeutsame „Kunst“ redimensioniert. Eine par­ ticula veri manifestiert sich insofern in beiden Typen. Einen Frieden ohne Eschatologie115 wird eine christlich-theologische politische Ethik ebenso ablehnen wie einen Frieden, der nicht auf Verständigung zwischen gleichen und freien Menschen aus ist, sondern nur das Resultat der Durchsetzung des Stärkeren umschreibt.116 8. Vorbemerkung zum vorliegenden Band und zu seiner Disposition Mit diesem Band lege ich weitere Studien zur Ethik des reformierten Protestantismus vor. Sie rücken das politisch-ethische Motiv des gelingenden Zusammenlebens und seine bundestheologische Weitung furt a.M. XXI/1, Stuttgart 1984, 53. Sternberger zitiert dort den Satz seiner Heidelberger Antrittsvorlesung (1960): „Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede.“ 114 Vgl. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, 88–101. Siehe fernerhin zu den Unterschieden zwischen den gleichen Bürgern a.a.O., 111–140. 115 Das Paradigma „Peace without Eschatology“ hat berechtigter Weise J.H. Yoder (Peace without Eschatology?, in: ders., The Royal Priesthood. Essays Ecclesiological and Ecumenical, ed. by M.G. Cartwright, Grand Rapids / Cambridge 1994, 143– 167) infrage gestellt. 116 Vgl. ausführlicher dazu: M. Hofheinz, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014; ders., Gewalt und Gewalten im Kontext von Barmen V. Eine friedensethische Annäherung an das „Just Policing“, KZG 29 (1/2016), 149–170; ders., „Selig sind die Friedensstifter“. Der radikale Pazifismus der Täufer und Neutäufer in Geschichte und Gegenwart, KZG 31 (1/2018), 245–271.

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in den Fokus. Dabei bauen sie durchaus auf meinem Band „Ethik – reformiert. Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert“ auf, den ich 2017 publiziert habe. Zugleich wird eine eindeutige Schwerpunktverlagerung in den Bereich der politischen Ethik erkennbar. Gleichwohl gibt es natürlich auch mancherlei Kontinuitäten. So treten Protagonisten wie die Reformatoren aus dem 16. Jahrhundert, aber auch zentrale theologiegeschichtliche Figuren des 20. Jahrhunderts, wie Karl Barth (1886–1968)117 und Reinhold Niebuhr (1892–1971), wieder auf. Während ich mich jedoch im ersten Band vor allem der Reformationszeit (Huldrych Zwingli, Johannes Calvin und dem Heidelberger Katechismus) und der Dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert widmete,118 tritt nun verstärkt die „Zwischenzeit“ in den Blick. Das sog. konfessionelle Zeitalter gerät zunehmend mit einer zentralen Figur wie dem bereits ausführlich dargestellten calvinistischen Juristen und Staatsrechtler Johannes Althusius in den Fokus. Bei ihm handelt es sich ebenso wie dann im 20. Jahrhundert bei Gustav W. Heinemann um einen „Politiker“, der kein Theologe oder positiv ausgedrückt: ein durchaus versierter Laientheologe war. Auch räumlich weitet sich in diesem Band der Blickwinkel, insofern sich das Augenmerk u.a. auf die Gründung der „neuen Welt“, sprich: die Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents durch die Puritaner, richtet. Eine weitere calvinistische Strömung wird also über das schweizerische und deutsche Reformiertentum hinaus mit dem Puritanismus berücksichtigt.119 Daneben findet auch der Neocalvinismus120 niederländischer Provenienz in Gestalt von Abraham Kuyper (1837–1920) verstärkte Beachtung. Doch nicht nur zeitlich, räumlich und personell, sondern auch thematisch werden neue Zusammenhänge 117

Einen Band zur Ethik Karl Barths hoffe ich in Kürze separat vorlegen zu können. Zur Geschichte des deutschen Reformiertentums im 20. Jahrhundert vgl. H.-G. Ulrichs, Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert. Konfessionsgeschichtliche Studien, FRTH 9, Göttingen 2018. 119 Vgl. einführend S. Hardman Moore, Reformed Theology and Puritanism, in: P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson (Hg.), The Cambridge Companion to Reformed Theo­ logy, Cambridge 2016, 199–214. 120 Vgl. zum Neocalvinismus U.H.J. Körtner, Calvinismus und Moderne. Der Neocalvinismus und seine Vertreter auf dem Lehrstuhl für Reformierte Theologie in Wien, in: ders., Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart, Salzburger Theologische Studien 7, Innsbruck/Wien 1998, 36–60; M. Hofheinz, Calvin in Feudingen? Eine literaturgeschichtliche Suchbewegung auf den Spuren des Neocalvinisten Josef Bohatec, Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V. 109 (3/2021), 128–150; D. van Drunen, Presbyterians, Philosophy, Natural Theology, and Apologetics, in: G.S. Smith / P.C. Kemeny (Hg.), The Oxford Handbook of Presbyterianism, Oxford 2019, (457–473) 465–467. 118

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erschlossen. So tritt das Motiv des Bundes als Grundmetapher theologischer Ethik ins Zentrum, von der ausgehend sozialethische Zusammenhänge im Bereich der politischen Ethik erarbeitet werden. Das Zentralmotiv, das die verschiedenen Studien als ihr einigendes Band zusammenhält, ist das des gelingenden Zusammenlebens. Es ist auf das Engste mit dem des Bundes verknüpft. Anders gesagt: Es geht im vorliegenden Band um das gelingende Zusammenleben im Bund. Dieses föderaltheologische Motiv bildet in seiner politisch-ethischen Pointierung gewissermaßen den „roten Faden“ dieser nicht einfach nur lose zusammenhängenden, also keineswegs frei flottierenden Studien. Nicht zufällig beginnen sie mit der Bundesthematik. Damit sind wir beim ersten von vier Abschnitten (A–D) angelangt, die im Folgenden einführend kurz vorgestellt werden sollen: a) Abschnitt A: Mit Gott und Mensch im Bund. Der Bund als Ort des Zusammenlebens und die Vision der „Politica“ Beim Bund Gottes mit seinem Volk handelt es sich gewissermaßen um den Lokativ guten und gelingenden Lebens. Hinter dem Bund verbirgt sich demnach eine Ortsangabe. Freilich ist es um diese bundesethischen bzw. bundestheologischen Zusammenhänge im deutschsprachigen Raum, auch in den konfessionell von Reformierten geprägten Räumen, recht still geworden. Die Beobachtung eines „Bundesschweigens“121 bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die die Grundlegung einer theologischen Ethik und darüber hinaus die Sozialethik im Allgemeinen betrifft (Kap. 1). Das Bundesschweigen im hiesigen theologischen Ethikdiskurs steht einer forcierten Bundesrede etwa in der reformierten Frömmigkeits-, Kultur- und Geistesgeschichte sowie der öffentlichen Omnipräsenz des Bundesbegriffs als Grundmetapher des Sozialen und Politischen gegenüber. Das vorliegende Kap. 1 schaltet gleichsam eine Verlustanzeige, indem es einige neuzeitliche Entwicklungslinien nachzeichnet, wie eine biblisch grundierte Föderaltheologie zu einem horizontalen Kontraktualismus transformiert wurde. Die moderne Vertragstheorie lässt sich – so die These 121

Einst beobachtete L. Perlitt (Bundestheologie im Alten Testament, WMANT 36, Neukirchen-Vluyn 1969) dies im Blick auf die Propheten des 8. Jahrhunderts. Kritisch dazu: N. Lohfink, Bundestheologie im Alten Testament. Zum gleichnamigen Buch von Lothar Perlitt (1973), in: ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, SBAB 80, Stuttgart 1990, 325–361. Vgl. fernerhin: E. Aurelius, Bundestheologie im Alten Testament. Ein Buch von Lothar Perlitt und seine Folgen, ZThK 111 (2014), 357–373; J.Ch. Gertz, Art. Bund II. Altes Testament, RGG4 1 (1998), (1861–1865) 1863f.

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– durchaus als eine kupierte Bundestheologie verstehen, die den Bund Gottes zum (Gesellschafts-)Vertrag umgestaltete. Diese problemgeschichtliche Entwicklung wird von Karl Barths bundestheologischem Neuansatz und seiner freiheitstheoretischen Konzipierung des Bundes als Gnadenbund her hinterfragt: Was ging verloren, als der Bund zum Vertrag wurde? In Kap. 2 wird Johannes Althusius’ Vision des symbiotischen Zusammenlebens, wie er sie in seinem Hauptwerk, der „Politica“, entfaltet, vorgestellt. In seiner „Vision“ treten Bund bzw. Vertrag als „Ortsangaben“ erneut in Erscheinung. Seine Vision kann trotz aller nicht einfach zu überschlagenden historischen Abständigkeit wegweisendes Potential entfalten. Die althusianische Vision von einem humanen politisch-gesellschaftlichen Zusammenleben, das er als symbiotisch begreift, seine Vorstellung vom Für-einander-Sorge-Trage in einer menschlichen Gemeinschaft, seine Konzipierung von Gemeinschaftsbildung als consociatio bzw. sein Verständnis von Politik als konsozialer Gemeinschaftsbildung sowie schließlich seine alternative Wahrnehmung von Souveränität und Konstitutionalität im Interesse an der Begrenzung herrschaftlicher Gewalt (einschließlich eines Widerstandsrechts) – all dies sind zwar frühmoderne Impulse von gestern, aus der Zeit des Übergangs von der Renaissance zur Aufklärung. Sie verdienen es gleichwohl erinnert zu werden, da Zukunft Geschichte braucht. Nach einer „fast rätselhaften Vergessenheit“122 ist diesem Denker erst in den letzten Jahren hierzulande zu Recht vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Im US-amerikanischen Kontext gilt er lange schon als „Klassiker“ der politischen Theoriebildung.123 b) Abschnitt B: Umstrittenes Zusammenleben. Reformierte Kontroversen zu einem gelingenden Zusammenleben Das menschliche Zusammenleben ist nicht unumstritten. Oftmals resultiert aus ihm Streit und es ist begleitet von Kontroversen. Das muss keineswegs schlecht sein. Denn: „Kontroversen sind das Ferment jeder Erneuerung.“124 Sie begleiten auch die Entwicklung des Reformiertentums von der ersten Stunde an. Nicht selten sind sie von den Beteiligten 122

von Gierke, Johannes Althusius, VI. Als besonders wirkmächtig erwies sich der Band: Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the Third Edition of 1614. Augmented by the Preface of the First Edition of 1603 and by the hitherto Unpublished Letters of the Author. With an Introduction by C.J. Friedrich, Harvard Political Classics Vol. 2, Cambridge 1932. 124 Ch. Link, Vorwort, in: CStA 3, (V–VIII) V. 123

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als nichts anderes verstanden worden als „der unerlässliche Versuch [...], das Flussbett der Kirche zu entrümpeln“,125 um endlich in bessere Zeiten aufbrechen zu können. Einen der wohl interessantesten menschheitlichen Aufbrüche, allzumal in der Neuzeit, stellt der Versuch dar, auf dem nordamerikanischen Kontinent eine „neue Welt“ zu errichten. Die ersten puritanischen Siedler, die mit der „Mayflower“ im Jahr 1620 von Plymouth aus in See stachen und in Neuengland landeten, waren von der Vision beseelt, eine „Stadt auf dem Berge“ zu errichten. Diese Vision bildete gleichsam den Beginn des sog. „American Dream“. Was ist aus ihm geworden? Mutierte, ja degenerierte der amerikanische Traum, der bis auf den heutigen Tag beschworen wird, nicht zu einem gigantischen Albtraum, dem nicht zuletzt zahlreiche Minderheiten (Native Americans, Schwarze etc.) zum Opfer fielen? Besonders interessant ist auf dem Hintergrund seiner Wirkungsgeschichte die ideengeschichtliche Aufarbeitung der Genese dieses Traums, die im Kap. 3 dieses Bandes geleistet wird, zumal das Narrativ vom „American Dream“ eine calvinistisch-puritanischen Formation aufweist, die von Beginn an umstritten war. Die nicht zuletzt im Blick auf die Toleranzidee126 hoch bedeutsame Auseinandersetzung zwischen den beiden Puritanern John Cotton (1585–1652) und Roger Williams (1603–1683) kreiste um die entscheidende Frage, welche Gestalt die Vision des gelingenden Lebens annehmen sollte. Sie ist bis heute von bleibender politischer Aktualität. Hier wird nämlich einer Toleranzverständnis greifbar, dass nicht in der Relativierung der Wahrheitsansprüche aller

125

Ebd. Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2003. Fernerhin: ders. (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Frankfurt a.M. / New York 2000. Fernerhin: E. Wolf, Toleranz nach evangelischem Verständnis, in: H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Wege der Forschung 246, Darmstadt 1977, 135–154; Ch. Schwöbel, Pluralismus und Toleranz aus der Sicht des Christentums. Eine protestantische Perspektive, in: ders., Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 91–112; T. Jähnichen, Glaubensfreiheit und Toleranz. Die Anerkennung des Anderen als Kriterium für Ausnahmeregelungen im Geist der Toleranz, in: J. Hübner (Hg.), Theologische Sozialethik als Anleitung zur eigenständigen Urteilsbildung. FS Martin Honecker zum 80. Geburtstag, Stuttgart 2016, 121–138; A. von Scheliha, Toleranz als Botschaft des Christentums?, in: ders., Religionspolitik. Beiträge zur politischen Ethik und zur politischen Dimension des religiösen Pluralismus, Tübingen 2018, 136–154. 126

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Überzeugungen begründet ist,127 sondern in der eigenen Glaubensgewissheit.128 Der Umstand, dass das Zusammenleben von Menschen stark umstritten ist, spiegelt sich wohl nirgendwo stärker wider als in der Gewaltfrage. Die Vision des gelingenden Zusammenlebens ist mit kirchlichen Traditionen, die nicht zuletzt konfessioneller Natur sind, auf das Engste verknüpft. Visionen vom gelingenden Zusammenleben bilden sich dort aus. Das gilt für das Reformiertentum, wie der vorliegende Band zu zeigen beansprucht, und auf seine Weise auch für das Luthertum. Beide kirchlichen Traditionen werden in diesem Band in Kap. 4 im Blick auf die virulente Gewaltfrage einem Vergleich unterzogen. Den genau zu bestimmenden Vergleichspunkt (tertium comparationis) bildet, entsprechend der komparatistischen Anlage dieser Untersuchung, die in Thesenform dargeboten wird, eine Ethik der rechtserhaltenden Gewalt. Ihr liegt die neuralgische Frage nach dem Recht zur Gewaltausübung zugrunde: Ist diese mit der Vision vom gelingenden Zusammenleben kompatibel? Offenbar muss das Recht eine wesentliche Dimension eines solchen Miteinanders bilden. Es hat pazifizierende Funktion, dient also dem Zweck der Aufrechterhaltung eines bestimmten Friedens. Frieden durch Recht – so lautet die Kantsche Idee,129 die eine Ethik der rechtserhaltenden Gewalt aufnimmt, in die auch friedensethische Perspektiven lutherischer wie reformierter Provenienz münden. Die Barmer Theologische Erklärung (1934) hat in 127

Schwöbel (Pluralismus und Toleranz, 108) zufolge ist genau dieses Toleranzverständnis kennzeichnend für die Aufklärung und mit Schwierigkeiten behaftet: „Für religiöse Menschen, ob im Christentum oder in anderen Religionen, wird diese Begründung der Toleranz als schwer erträglich erfahren. Die Forderung der Toleranz impliziert die Forderung, die eigenen religiösen Gewißheiten zu verleugnen. Darum ist es nicht verwunderlich, daß die Forderung relativistischer Toleranz zu den Hauptfaktoren von Intoleranz gehört.“ 128 Hinsichtlich der Reformation hält Schwöbel (ebd.) fest: „Die reformatorische Einsicht in die Begründung der Toleranz in der eigenen Glaubensgewissheit eröffnet Wege zu einem anderen Verständnis der Toleranz, das die Toleranz nicht in der Relativierung des Glaubens begründet, sondern in der Vertiefung des Glaubens verankert sieht. Darum kommt es darauf an, in den religiösen Traditionen, die religiösen Wurzeln der Toleranz neu zu entdecken und sie als Ressourcen für die Bildung zur Toleranz fruchtbar zu machen.“ 129 Vgl. I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795) (Ed. Weischedel IX, 191–251). Einschlägig waren vor allem die drei Definitivartikel dieser Schrift. Vgl. dazu: M. Hofheinz, Im Lichte von Röm 13. Drei politisch-ethische Kapitel paulinischer Wirkungsgeschichte: Thetisches von Augustin über Luther zu Kant, in: I.-J. Werkner / T. Meireis (Hg.), Rechtserhaltende Gewalt – eine ethische Verortung. Fragen zur Gewalt Bd. 2, Reihe „Gerechter Frieden“, Wiesbaden 2018, 21–58.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

ihrer 5. These beide konfessionelle Traditionen wegweisend zusammengeführt. Der Beitrag in Kap. 5 greift die konfessionelle Konstellation des Gegenübers von Luther- und Reformiertentum auf.130 Er widmet sich als problemgeschichtliche Untersuchung der Kontroverse zwischen dem lutherischen Ethiker Otto Piper (1891–1982) und seinem reformierten Kollegen Alfred de Quervain (1896–1968) zum umstrittenen Theologumenon der Schöpfungsordnung. Es handelt sich hierbei genauerhin um einen der „Kampfbegriffe“, die die theologische Geistes-, Ideen- und Kulturwelt der Weimarer Republik prägten. Den Umstand, dass dieser Begriff agonalen Charakter hat und unmittelbar in die Raum- und Zeitdeutungskämpfe der ersten deutschen Demokratie hineingehört, bildet die Kontroverse ab. Sie erfolgte insofern mit vertauschten Rollen, als dass – anders als erwartbar – eben nicht der reformierte Theologe A. de Quervain, sondern der Lutheraner O. Piper zum entschiedenen Kritiker eines affirmativen Gebrauchs dieses Kampfbegriffs avancierte. Auch in dieser Auseinandersetzung ging es um die Vision eines gelingenden Zusammenlebens, zumal die Ordnungstheologie eine konservative Reaktion auf die als krisenhaft erlebten Neuerungen in Kirche, Staat und Gesellschaft der damaligen Zeit bildete, die abgelehnt wurden. Die Lehre von der Schöpfungsordnung repräsentiert, wenn man so will, eine konservative Vision, die aus der Sicht ihrer entschiedenen Kritiker (wie O. Piper) einer gänzlich reaktionären Gesinnung entspringt und in den Zusammenhang der „konservativen Revolution“ gehört. c) Abschnitt C: Gelungenes Zusammenleben? Reformierte Profile politischer Ethik Im folgenden Abschnitt werden nun einige reformierte Profile politischer Ethik aus unterschiedlichen Jahrhunderten dargestellt, angefangen bei dem bereits vielfach erwähnten Johannes Althusius (Kap. 6),131 über den niederländischen Theologen und späteren Ministerpräsidenten Abraham Kuyper (Kap. 7) bis hin zum Bundespräsidenten Gustav 130

Vgl. einführend zu den unterschiedlichen konfessionellen Traditionen: M. Hofheinz, Theologische Ethik, in: K. Lindner / M. Zimmermann (Hg.), Handbuch ethische Bildung. Religionspädagogische Fokussierungen, Tübingen 2021, (101–113) 105–108. 131 Vgl. zu Althusius auch M. Hofheinz, Denk-mal! Stellungnahme zur Idee einer „Doppel-Skulptur“ für Caspar Olevian und Johannes Althusius auf dem Bad Berleburger Olevianplatz, Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V. 109 (2/2021), 72–84.

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W. Heinemann (Kap. 8). Profile hinterlassen einen Abdruck und dies lässt sich im Hinblick auf alle drei der genannten reformierten Persönlichkeiten bestätigen. Sie verkörpern dabei je auf ihre Weise unterschiedliche Versionen der Vision eines gelungenen Zusammenlebens. Freilich treten auch Schnittmengen in Erscheinung. Die Vision des symbiotischen Zusammenlebens, für die Althusius mit seinem konfessionellen Hintergrund steht (Kap. 6),132 kehrt in Kuypers Konzept der Sphärensouveränität wieder. Gewiss verweist diese Übereinstimmung auf eine Stärke im politisch-theologischen Denken der schillernden und faszinierenden Persönlichkeit Kuypers.133 Doch dürfen auch die Schwächen von Kuypers Denken nicht verschwiegen werden. Sie werden als „Anfälligkeiten“ identifiziert und beziehen sich auf Kuypers homogenisierendes Calvinismus-Narrativ („heroistisch-hagiographische Anfälligkeiten“), seinen theozentrischen cantus firmus („Triumphalismus-Anfälligkeit“) und seine (Re-)Christianisierungsstrategie („konstantinistisch-zivilreligiöse Anfälligkeit“) sowie seine „völkische“ Anfälligkeit und antirevolutionäre Ausrichtung. Es lassen sich jedoch eben auch leicht übersehbare Stärken in Kuypers Denken ausmachen, als da wären: über das Konzept der Sphärensouveränität hinaus, das wie ein kommunitaristischer Impuls Kuypers anmutet,134 seine Pluralismusfähigkeit, die sich etwa in seiner Konnektierung von Freiheit und Pluralismus zeigt, und schließlich sein sozialdiakonisches Engagement im Einsatz für die „kleinen Leute“. Im vorgetragenen Versuch einer dialektischen Würdigung Kuypers werden beide, Stärken wie Schwächen, im Sinne einer differenzierten Urteilsbildung vorgetragen. Wie sich der Beitrag in Kap. 7 mit Abraham Kuyper einem einflussreichen Staatsmann und Politiker widmet, so auch der Beitrag in 132

Die konfessionelle Prägung des Denkens von Althusius war in den letzten Jahren verstärkt Gegenstand der Althusius-Forschung. Vgl. u.a. Ch. Strohm / H. de Wall (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Historische Forschungen 89, Berlin 2009. 133 Vgl. einführend: A. Kuyper, Calvinismus. Die Stone Lectures von 1898, hg. von H.-G. Ulrichs, Göttingen 2021; M. Laube / H.-G. Ulrichs (Hg.), Weltgestaltender Calvinismus. Studien zur Rezeption Abraham Kuypers, FRTH 12, Göttingen 2021; H.-G. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019. 134 Vgl. zum Kommunitarismus einführend: W. Reese-Schäfer, Art. Kommunitarismus (I. Philosophisch und II. Ethisch), RGG4 4 (2001), Sp. 1530–1532; W. Schoberth, Art. Kommunitarismus III. Religionsphilosophisch, fundamentaltheologisch, praktisch-theologisch, RGG4 4 (2001), Sp. 1532–1533. Fernerhin: W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, Frankfurt a.M. 1997.

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

Kap. 8, der die Rezeption der Emder Synode von 1571 durch den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann untersucht. Auch dieser Beitrag thematisiert das gelingende Zusammenleben und zwar unter dem Aspekt seiner Regelung im Raum von Kirche und Staat durch deren leitungsbefugte bzw. gesetzgebende Organe, nämlich Synode und Parlament. Beide wurden von Heinemann in seinem Festvortrag aus dem Jahr 1971 anlässlich des 400. Jubiläums der Emder Synode einem aufschlussreichen Vergleich unterzogen. Heinemann erarbeitete damals nichts weniger als eine komparative Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat und hob insbesondere das Demokratisierungspotential der presbyterial-synodalen Kirchenordnung hervor. Der Bundespräsident greift dabei auf das in Barmen III gebrauchte ekklesiologische Leitbild der Gemeindekirche zurück und profiliert ein Macht- und Staatsverständnis, das strukturell antiabsolutistisch, antihierarchisch und egalitär orientiert ist und mit dem jahrhundertealten protestantischen Obrigkeitsverständnis bricht, das mit der Etablierung des landesherrlichen Kirchenregiments einherging. Aus Anlass des 50. Jubiläums von Heinemanns wegweisender Emder Rede wird mit Kap. 8 an diese erinnert. d) Abschnitt D: In Gelassenheit. Gottesdienstlich geprägtes Zusammenleben Das gelingende Zusammenleben wird im christlichen Kontext seinen Ausgangspunkt beim Gottesdienst nehmen. Er lässt sich – so die These in Kap. 9 – als formativer Kontext christlicher Ethik verstehen. Hier wird das Ethos tradiert, auf das sich Ethik in der Reflexion bezieht. Entlang des reformierten Gottesdienstes erfolgt die Exemplifizierung dieses Zusammenhangs. Ausgehend vom reformierten Gottesdienst werden ethisch-liturgische Konturen beschrieben. Dabei ist zum einen Huldrych Zwinglis Zürcher Predigtgottesdienst im Blick und zum anderen Johannes Calvins Genfer Gottesdienstordnung (1542).135 In Zwinglis Zürcher Predigtgottesdienst werden drei Bezüge des Gottes­ dienstes hin zu einer gottesdienstlichen Ethik erkennbar: 1. der Wortbezug in Entsprechung zu einer Ethik des Wortes Gottes; 2. der Gemeindebezug in Entsprechung zu einer Gemeindeethik, wobei auch von einem Kirchenbezug und entsprechend einer kirchlichen Ethik gesprochen werden kann, zumal Kirche nicht anders als versammelte 135

Vgl. T. Wabel / T. Stamer / J. Weider, Zwischen Diskurs und Affekt. Zur Rolle von Gefühlen und deren theologischer Kultivierung in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in: dies. (Hg.), Zwischen Diskurs und Affekt. Politische Urteilsbildung in theologischer Perspektive, ÖTh 35, Leipzig 2018, (9–39) 38.

8. Vorbemerkung zum vorliegenden Band

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Gemeinde verstanden wird, die wiederum das Subjekt einer ebensolchen kirchlichen Ethik bildet; 3. der Bezug auf das Passah und die story Gottes in Entsprechung zu einer Ethik der Erinnerung. Die ethische Valenz des Zürcher Predigtgottesdienstes wird bereits deutlich, wenn man die Überwindung der Trennung von Klerikern und Laien, von Armen und Reichen sowie Mann und Frau in der Liturgie berücksichtigt. In Calvins Genfer Gottesdienstordnung zeigen sich drei weitere Konturen. Wiederum handelt es sich um drei Bezüge des Gottes­dienstes hin zu einer gottesdienstlichen Ethik, nämlich: 4. den Bezug auf das Almosen in Entsprechung zu einer Ethik der Gabe; 5. den Bezug auf das Schuldbekenntnis in Entsprechung zu einer Ethik der Buße und schließlich 6. den Bezug auf die Fürbitte für die Obrigkeit in Entsprechung zu einer theozentrischen Ethik des Politischen. Was hier recht schematisch klingen mag, umschreibt freilich die Kennzeichen eines lebendigen Ethos, das lebendig ist, weil es in einem lebendigen Gottesdienst verortet ist, in dem die viva vox evangelii erklingt. Dort wird Ethik, vermittelt über dieses lebendige Ethos, tradiert und so selbst zu einem lebendigen Geschehen,136 das ausstrahlt und das menschliche Zusammenleben insgesamt durchdringt. Mit dem Gottesdienst sind auf das Engste gottesdienstliche Praktiken verbunden. Zu ihnen gehört u.a. das Gebet, das seinen festen Ort im Gottesdienst hat. Der Gottesdienst ist der Raum, in dem Menschen das Handeln Gottes an sich gelten lassen. Im Gebet erbitten sie genau dies von Gott. Im Gottesdienst als formativem Kontext der Ethik prägen sich bestimmte Tugenden aus. Sie gehören zum gottesdienstlichen Ethos dazu. Vermittelt über Tugenden als Stetigkeiten im menschlichen Handeln prägt der Gottesdienst das menschliche Zusammenleben, das seinem Wesen nach politischer Natur ist. Exemplarisch deutlich wird dieser Zusammenhang an Reinhold Niebuhrs berühmtem Gelassenheitsgebet („Serenity Prayer“). In Kap. 10 wird ein tugendethischer Interpretationsversuch desselben vorgelegt, das der amerikanische Theologe im Jahr 1943 für einen Gottesdienst in einem Dorf in Neuengland schrieb. Das Gebet enthält in nuce Niebuhrs gesamte Theologie.137 Es ist tief verwurzelt in christlichen, aber auch profanen 136

Vgl. zum „Doing Ethics“ bzw. „Doing Theology“ B. Wannenwetsch, The Ethics of Doing Theology, in: S. Parson / L. Hemming (Hg.), Redeeming Truth: Considering Faith and Reason, Notre Dame 2007, 167–183. Fernerhin in ethikgeschichtlicher Perspektive: M. Douglas, Presbyterians and Ethics, in: G.S. Smith / P.C. Kemeny (Hg.), The Oxford Handbook of Presbyterianism, Oxford 2019, 527–537. 137 Dass Niebuhr durchaus als „reformierter Theologe“ gelten kann, führe ich aus in: Hofheinz, Ethik – reformiert!, 12f. Das schließt selbstverständlich keineswegs die Notwendigkeit einer kritischen Perspektiverung seiner Theologie aus. Siehe dazu jetzt:

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Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens

antiken Traditionen. Wie in betreffendem Kapitel gezeigt wird, formuliert das Gelassenheitsgebet nicht nur eine Bitte um Gnade, Mut und Weisheit, sondern es ist insgesamt als eine Anrufung Gottes konzipiert, die besagte Tugenden als Gaben Gottes versteht und damit das Primat der Gnade betont.

D. Gautier, Die Ambivalenz des Realismus. Reinhold Niebuhrs theologische Ethik in rassismuskritischer Perspektive, Christentum und Kultur 18, Zürich 2022.

I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik

1. Annotation: Das ethische Bundesschweigen. Eine Problemanzeige im Blick auf das Reformiertentum 1.1 Die forcierte Bundesrede in der reformierten Frömmigkeits-, Kultur- und Geistesgeschichte „Unser Anfang und unsere Hilfe stehen im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat, der Bund und Treue hält ewiglich“, so beginnen reformierte Gottesdienste im deutschsprachigen Raum in der Regel.1 Bereits in den Eingangsworten, im sog. Adjutorium, erfolgt damit die Berufung auf den Bund. Der Gottesdienst soll nicht eröffnet und der dreieine Gott soll offenkundig nicht angerufen werden, ohne dass er mit dem Begriff „Bund“ in Verbindung gebracht wird.2 Die Versammlung der Gemeinde im Gottesdienst hat offenbar, sofern es sich denn tatsächlich um einen Gottes-dienst handelt, mit dem Geschehen zu tun, das als Halten von „Bund und Treue“ identifiziert wird. Bund und Treue gehen dabei als Paar- oder Zwillingsformel, als Hendiadyoin, eine feste stilfigürliche, ja, man hat bisweilen den Eindruck, phraseologische Verbindung ein. Mit dem Adjutorium soll „dem gottesdienstlichen Geschehen ein[] weiter Raum unter dem Bogen des Bundes [ge]öffnet werden“.3 Als ein weiteres Indiz für die hohe, kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit der Kategorie „Bund“ kann auch auf einen reformierten „Gesangbuchhit“ aus dem „Genfer Psalter“ verwiesen werden, in dem es heißt: „Der Bund, der Abrams Hoffnung war, steht jetzt noch da unwandelbar.“4 Diese Umdichtung des 105. Psalms in Matthias Jorissens 1

Vgl. Reformierte Liturgie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort versammelte Gemeinde, im Auftrag des Reformierten Bundes erarbeitet und hg. von P. Bukowski u.a., Wuppertal 1999, 82. 2 M. Ernst-Habib, „… der Bund und Treue hält ewiglich“. Reformierte Frömmigkeit als Bundesfrömmigkeit, in: dies. / H.-G. Ulrichs (Hg.), Glaubensleben. Wahrnehmungen reformierter Frömmigkeit, Texte zur reformierten Theologie und Kirche 3, Solingen 2018, (51–65) 52f. 3 A.a.O., 52. 4 Der Psalter nach der Bereimung durch M. Jorissen, in revidierter Fassung hg. durch die Evangelisch-reformierte Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

Lied „Dank’, dank’ dem Herrn, du Jakobs Same“ gehört zweifellos zu den beliebtesten Psalmen, die gerne am Beginn reformierter Gottesdienste gesungen werden.5 Reformierte Frömmigkeit ist ganz offensichtlich als „Bundes-Frömmigkeit“6 zu verstehen. Auch als Antwort auf die vieltraktierte Frage: „Was ist reformiert?“7, also die Frage nach dem reformierten Proprium, wird der Bund gerne an vorderster Stelle genannt. Ein flüchtiger Blick in die Theologiegeschichte genügt, um die Bedeutsamkeit des Bundes für Reformierte abermals zu unterstreichen, war es doch Heinrich Bullinger, der mit seiner Schrift „Von dem einigen und ewigen Testament oder Bund Gottes“ (1534)8 den Bundesgedanken breit ausarbeitete und so zum „Vater der Föderaltheologie“ avancierte.9 Der Bund, so in Bayern und Nordwestdeutschland) und die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen, elektronische Textausgabe hg. durch die Johannes a Lasco Bibliothek Emden, 2001, 118 (Ps 105,4). 5 Vgl. B. Klappert, Der Name Gottes und die Zukunft Abrahams. Texte zum Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam, Judentum und Christentum 24, Stuttgart 2019, 126. 6 So Ernst-Habib, „… der Bund und Treue hält ewiglich“, 53. Dort kursiv. 7 Vgl. M. Ernst-Habib, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition, FSÖTh 158, Göttingen 2017, 221–233; 271–293; 338–352 u.ö. 8 H. Bullinger, Das Testament oder der Bund 1534, in: Heinrich Bullinger Schriften 1, im Auftrag des Zwinglivereins und in Zusammenarbeit mit u.a. H.U. Bächtold hg. von u.a. E. Campi, Zürich 2004, 49–101. Vgl. dazu H. Assel, „Bund“ – souveränes Leben mit Gott im Gebot und Gesetz. Heinrich Bullingers „Von dem einigen und ewigen Testament oder Pundt Gottes“ (1534), EvTh 64 (2/2004), 148–158; Ch.S. McCoy / J.W. Baker, Fountainhead of Federalism. Heinrich Bullinger and the Covenantal Tradition, Louisville 1991. 9 Der Begriff Föderaltheologie wurde von Heinrich Heppe im 19. Jahrhundert geprägt. Vorher war der Begriff Coccejanismus (gewählt nach dem Bremer Johannes Coccejus [1603–1669]) üblich. Vgl. J.F.G. Goeters, Art. Föderaltheologie, TRE 11 (1983), 246–252; J. Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften, UTB 1453, Göttingen 1987, 28–31; 80–85; 102–106; 240–245; A.I.C. Heron, Der Gottesbund als Thema reformierter Theologie, in: S. Lekebusch / H.-G. Ulrichs (Hg.), Historische Horizonte. Vorträge der dritten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 5, Wuppertal 2002, 39–65; R.M. Allen, Reformed Theology, London 2010, 39–46; M. Freudenberg, Die Bedeutung der Bundestheologie in der reformierten Theologie, in: B. Biberger u.a. (Hg.), Bundestheologie. Gott und Mensch in Beziehung, Vallendar 2015, 33–55; C. van der Kooi / G. van den Brink, Christian Dogmatics. An Introduction, Grand Rapids 2017, 355–366; 585f.; 705f.; K.O. Eberhardt, Vernunft und Offenbarung in der Theologie Christoph Wittichs (1625– 1687). Prolegomena und Hermeneutik der reformierten Orthodoxie unter dem Einfluss des Cartesianismus, FSÖTh 164, Göttingen 2019, 170–175. Speziell zu Coccejus vgl. den „Klassiker“ von G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus

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die ideen­geschichtlich-konfessionskundliche Auskunft, ist „eine reformierte Entdeckung“10. Im Blick auf die Emergenz des Bundesbegriffs wird man jedoch nicht nur von einer Entdeckung sprechen dürfen, sondern auch wirkungsgeschichtlich ihren Einfluss berücksichtigen müssen: „Wenn man danach Ausschau hält, welche Denkmodelle der reformierten Theologie auf Kultur, Politik, Rechtswissenschaft und andere Felder der Suche nach Erkenntnis einwirkten, ist besonders an die Bundestheologie (Föderaltheologie) zu denken. Impulse aus der Bundestheologie haben einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der modernen absolutismuskritischen Gesellschafts- und Staatstheorie und zur Beschreibung des Staatsrechts geliefert. Namen wie Hugo Grotius und Johannes Althusius stehen für diese Wirkungen der Bundestheologie. Weitere Beispiele für die Gestaltungskraft des Bundesgedankens lassen sich anführen, wie etwa das Erwachen eines theologisch begründeten Widerstandsbewusstseins bei den französischen Streitern gegen das absolutistische Königtum (Monarchomachen) während der Hugenottenkriege in Frankreich.“11

In seinem vielbeachteten und auch ins Deutsche übersetzten Buch „The Reformation of Rights“ hat der US-amerikanische Rechtswissenschaftler John Witte die steile Karriere des Bundesbegriffs und seinen Weg über das Genf Johannes Calvins und Theodor Bezas, über Johannes Althusius in die Niederlande und über John Milton und die Puritaner in die Neuengland-Staaten Nordamerikas nachgezeichnet.12 vornehmlich bei Johannes Coccejus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heilsgeschichtlichen Theologie (1923), Darmstadt 21967. Fernerhin: C.B. Carmichael, A Continental View: Johannes Cocceius’s Federal Theology of Sabbath, RHT 41, Göttingen 2019. 10 P. Opitz, Das neue Verstehensmuster: Der Bundesgedanke, in: M. Krieg / G.  Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2 2003, (48–50) 48. 11 M. Freudenberg, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 162f. Ähnlich Ch. Frey, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, 68f.; J. Moltmann, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. Welker / D. Willis (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, (157–172) 165f. 12 J. Witte, Jr., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007 (dt. Übersetzung: J. Witte, Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus, übers. von A. Glaw, Theologische Anstöße 8, Neukirchen-Vluyn 2015). Vgl. fernerhin den Überblick von J.F.G. Goeters, Die reformierte Föderaltheologie und ihre rechts-

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

Bei der „City upon a Hill“ und dem sog. „Mayflower-Compact“ geht es etwa – so Witte – um „Covenant liberty in Puritan New England“13. Treffend hält J.F. Gerhard Goeters fest, dass „die Föderaltheologie, die bei den englischen Puritanern und Kongregationalisten ebenso verbreitet ist wie bei den Presbyterianern der Westminster Assembly, an der Wiege der christlichen Gemeinwesen in Neuengland [steht] und damit prägend geworden [ist] für die christlichen Vorläufer einer demokratischen Ordnung.“14 „Am folgenreichsten“ – so auch Christian Link – ist für die Begründung und Struktur der modernen Demokratie „der Bundesgedanke gewesen.“15 Kurzum, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte belegen: Der Bund – ja, das klingt, das ist „reformiert“.16 So zumindest hält es das kulturelle Gedächtnis fest. 1.2 Ein Blick in die Gegenwart: Die Omnipräsenz des Bundesbegriffs als Grundmetapher des Sozialen und Politischen und das Bundesschweigen in der theologischen Ethik Und heute? Ganz anders stellt sich die Lage aktuell dar. Der Blick in die Vergangenheit wird kontrastiert von einem Blick in die Gegenwart. Denn bundesethisch scheint im aktuellen Ethikdiskurs so gut wie niemand mehr unterwegs zu sein.17 Dass die Kategorie „Bund“ übergeschichtlichen Aspekte, in: H. Faulenbach / W.H. Neuser (Hg.), Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, UnCo 25, Bielefeld 2006, 303–314. 13 Witte, The Reformation of Rights, 277. Kursivierung: M.H. Siehe auch M. Walzer, The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge / London 1965, 55–57; 82–85; 167–171; 212–215. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Verbannung von Roger Williams aus der Massachusetts Bay Colony. Dazu: M. Volf, Flourishing. Why We Need Religion in a Globalized World, New Haven / London 2015, 185–192. 14 Goeters, Die reformierte Föderaltheologie, 313f. 15 Ch. Link, Calvin und Calvinismus. Eine Skizze, in: M. Heimbucher / J. Lenz (Hg.), Hilfreiches Erbe. Zur Relevanz reformatorischer Theologie. Festschrift für Hans Scholl, Bovenden 1995, (97–119) 105. 16 Auch im konfessionsverwandten Baptismus spielt das Bundes-Paradigma eine wichtige Rolle. Vgl. A. Strübind, Leben mit dem Gott des Bundes. Zur Bedeutung der „Covenant“-Theologie in der baptistischen Tradition, in: U. Link-Wieczorek / U. Swarat (Hg.), Die Frage nach Gott heute. Ökumenische Impulse zum Gespräch mit dem „Neuen Atheismus“, ÖR.B 111, Leipzig 2017, 181–194. 17 So vermisst man einen entsprechenden Artikel „Bund“ etwa im aktuellen „Evangelischen Soziallexikon“, hg. von J. Hübner u.a., Stuttgart 92016. Auch im „Handbuch der Evangelischen Ethik“, hg. von W. Huber u.a., München 2015, sucht man das Stichwort „Bund“ vergeblich. Ebenso in: R. Anselm / U.H.J. Körtner (Hg.), Evangelische Ethik kompakt: Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015.

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haupt so etwas wie einen Grundbegriff der Ethik bildet, dieser Einsicht geht gegenwärtig kaum jemand nach. Indes hatte Karl Barth einst festgestellt, dass sich christliche Ethik auf die Geschichte des Bundes bezieht, „die Geschichte zwischen Gott und dem Menschen, die Geschichte von Jesus Christus, von Gottes Bund und Barmherzigkeit.“18 Israeltheologisch19 nimmt man zwar die Bundeskategorie bis in die Gegenwart hinein gerne und vielfältig in Anspruch und dies nicht zu Unrecht, eignet sie sich doch besonders, um die Einheit der Bibel Alten und Neuen Testaments und die Einheit Gottes, die Selbstbindung Gottes an sein bleibend ersterwähltes Volk und das Verhältnis von Juden und Christen, Israel und Kirche zur Sprache zu bringen.20 Auch innerhalb der ökumenischen Bewegung hat das Bundes-Paradigma, das etwa im Vorfeld der ökumenischen Weltversammlung in Seoul (1990) kontrovers diskutiert wurde, sukzessive an Bedeutung gewonnen.21 Bis hinein in den religionssoziologischen Bereich wirkt es nach, wenn man etwa an die seit dem Ende der 1960er Jahre geführte Diskussion um die „Civil Society“ als politische Einheitsbildung auf der Grundlage eines Bundesschlusses denkt, die mit dem Namen Robert N. Bellah (1927–2013) verknüpft ist, dem Kritiker und Diagnostiker des „Broken Covenant“.22 In der hiesigen theologischen Ethik hingegen macht sich entgegen der reichen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ein Bundesschwei­ gen breit.23 Diese Gegenläufigkeit muss an dieser Stelle nüchtern an18

K. Barth, Christliche Ethik. Ein Vortrag, München 1946, 8. Vgl. B. Klappert, Die Öffnung des Israelbundes für die Völker. Karl Barths Israeltheologie und die Bundestheologie der reformierten Reformation, in: ders., Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, NBST 25, Neukirchen-Vluyn 2000, 407–430. 20 Ähnlich Opitz, Das neue Verstehensmuster, 49f.; Freudenberg, Reformierte Theologie, 170f. 21 Vgl. D.J. Smit, Covenant and Ethics? Comments from a South African Perspective, in: ders., Essays in Public Theology. Collected Essays 1, ed. by E.M. Conradie, Stellenbosch 2007, (211–228) 218–221. 22 R.N. Bellah, The Broken Covenant. American Civil Religion in Time of Trial, New York 1975. 23 Vgl. bereits den frühen Aufsatz: R.N. Bellah, Zivilreligion in Amerika (1967), übers. von H. Fässler / H. Kegler, in: H. Kegler / A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986, 19–41. Man muss bis in die 1970er Jahre zurückgehen, um einen bundestheologischen Zugang zu einem aktuellen ethischen Problem zu entdecken. Dies war etwa in der Menschenrechtsdiskussion der Fall, wo u.a. J.M. Lochman / J. Moltmann ([Hg.], Gottes Recht und Menschenrechte. Studien und Empfehlungen des Reformierten Weltbundes, Neukirchen-Vluyn 1976) vom Gedanken des Bundes und der allen Menschen gelten19

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notiert werden. An diesem Befund ändern bislang auch gelegentliche Vorstöße in eine bundesethische Richtung wenig.24 So mutmaßte etwa Jürgen Moltmann vor einigen Jahren: „Nach der ‚Theologie der Hoffnung‘, die auf die Verheißungsgeschichte Gottes begründet ist, und nach der ‚Theologie der Befreiung‘, die in der Traditionsgeschichte des Exodus steht, könnte eine ‚Theologie des Bundes‘ zu einem zusammenfassenden Integrationsmodell für die Theologie führen und diese aus Unsicherheit und Krisen heraus zu einem neuen, gemeinsam zu erarbeitenden Projekt der Zukunft leiten.“25

Moltmann spricht sich für eine Bundestheologie aus, die das notwendige Korrektiv für eine politisch tragfähige Befreiungstheologie bildet: „Der Bund Gottes mit dem Volk war für die hugenottischen ‚Monarchomachen‘ die Grundlage der Lehre von der politischen Volkssouveränität im Herrschaftsbund des Volkes mit den Regierenden und damit die Grundlage des Widerstandsrechtes des Volkes gegen Tyrannen. Befreiungstheologie, die nicht zu solchen demokratischen Föderaltheologie werden, verfehlen das freie Leben und können leicht zur Ideologie elitärer Gruppen und ihrer Erziehungsdiktaturen werden. Wie der ‚Exodus‘ der geschichtliche Grund der Befreiung ist, so ist der ‚Bund‘ die konkrete Lebensform der Freiheit.“26 Auch Michael Welker hat daden Bundestreue Gottes aus argumentierten. Vgl. auch D. Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika, in: ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik, München 1986, (301–315) bes. 313ff. Kritisch dazu: U.H.J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, UTB 2107, Göttingen 42019, 174. 24 Im Oktober 1995 fand etwa eine wichtige Konsultation in Tübingen statt, zu der Charles S. McCoy und Jürgen Moltmann eingeladen hatten. Vgl. M. Volf, Exclusion and Embrace. A Theological Exploration of Identity, Otherness, and Reconciliation, Nashville 1996, 147–156. Zu nennen ist auch die Tagung „Der Bund als Grundkategorie des Gott-Mensch-Verhältnisses in der Theologie“, die anlässlich des einhundertjährigen Bestehens der Internationalen Schönstatt-Bewegung im Oktober 2014 in Vallendar stattfand und zu der das Josef-Kentenich-Institut (IRG) und das Institut für Theologie und Geschichte religiöser Gemeinschaften der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (IRG) eingeladen hatten. Vgl. den daraus entstandenen Tagungsband: B. Biberger u.a. (Hg.), Bundestheologie – Gott und Mensch in Beziehung, Vallendar 2015. 25 J. Moltmann, Einführung, in: Ch.S. McCoy, Götter ändern sich. Hoffnung für die Theologie, übersetzt von M. Reppekus, München 1983, (7–11) 11. Vgl. auch J.  Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, 94–96. 26 J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, 126.

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von gesprochen, dass „Befähigungen zur Bundesidentität einzuüben, […] die große, ja epochale Aufgabe“27 sei, vor der wir heute stehen. Ein solches Einüben sei „ohne Neugier auf das andere, ohne Freude an der Differenz und ohne die Bereitschaft, die eigene Identität der Infragestellung durch das Fremde auszusetzen und lernend zu wandeln, nicht denkbar.“28 Differenzsensibilität gehöre indispensabel zu einer „Kultur von Bundesverhältnissen“29. Doch verblieben auch diese zweifellos wichtigen und richtigen Hinweise eher auf der Ebene des Appellativ-Adhortativen und Postulatorischen, als dass sie programmatisch umgesetzt und ausgearbeitet wurden. Es bleibt also bei der zu konstatierenden ethischen Eklipse der Bundestheologie im hiesigen Kontext. Darf oder muss man hier von einem „schwere[n] Fall von Amnesie“30 sprechen? Wiederum ganz anders stellt sich die Lage im angelsächsischen Kontext dar, wo der Begriff des Bundes durchaus als Schlüsselwort in den Diskursen politischer Ethik fungiert. Offenkundig hat man „mit der Kategorie des Bundes ein Leitmotiv zur Verfügung […], das die theologische Deutung der Wirklichkeit mit einem politischen Handlungsmodell verknüpft. Der covenant wird dadurch im angloamerikanischen Denken bis zum heutigen Tag als Leitbegriff der Ethik, auch der Rechtsethik in Anspruch genommen.“31 Grundlegend wird im angelsächsischen ethischen Diskurs der Gegenwart zwischen Bund (covenant) und Vertrag (contract) unterschieden.32 Als Differenzkriterium erfolgt in der Regel auch eine Berufung 27

M. Welker, Kirche im Pluralismus, KT 136, Gütersloh 1995, 55. Ebd. 29 Ebd. 30 So Ch. McCoy (Die Bundestradition in Theologie und Politischer Ethik. Anmerkungen zum Verständnis von Verfassung und Gesellschaft der USA, in: G. Duso u.a. [Hg.] Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, 29–45, 30) im Blick auf die US-amerikanische Politik- und Gesellschaftsgestaltung. 31 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006, 145. M.L. Stackhouses vielbeachtete „Public Theology“ ist etwa bundesethisch ausgerichtet. Vgl. ders., God and Globalization. Theological Ethics and the Spheres of Life, 4 Bde. (New York / London 2000, 2001, 2002, 2007). Dazu einführend: F. van Oorschot, Öffentliche Theologie angesichts der Globalisierung. Die Public Theology von Max L. Stackhouse, ÖTh 30, Leipzig 2014. 32 R.W. Lovin, Christian Ethics. An Essential Guide, Nashville 2000, 34f.: „[W]here our goals are primarily personal, we try to keep these relationships limited. They are contracts, implicit or explicit, in which we specify what we need from others in order to achieve our goals, what we are prepared to give them in exchange for their coope­ ration, and how long we expect the relationship to last. […] Shared commitments to 28

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

auf die theologische Dignität des Bundes im Unterschied zum Vertrag. So stellt etwa Max L. Stackhouse fest: „However, a covenant is diffe­ rent from a contract in that the terms of agreement and mutual promise are established by God […]. God is always the party to covenant and sets its terms. Thus, a covenant also has sacramental characteristics.“33 Nach Stackhouse kommt der Bund im Unterschied zum Vertrag nicht einfach durch die Übereinstimmung verschiedener Parteien zustande, sondern wird von diesen als eine Stiftung Gottes anerkannt34: „God initiates the covenant; humans only receive it“.35 Der Bund ist demnach eine Gabe Gottes, seines Stifters. Dieser Befund ist um ein weiteres signifikantes Phänomen zu ergänzen, das die Grenzen von Theologie und Kirche weit übersteigt und hinter sich lässt, nämlich eine zu beobachtende Omnipräsenz des Bundesbegriffs als Grundmetapher des Sozialen und Politischen. Unlängst hat etwa Außenminister Heiko Maas angesichts der neuen Egoismen der USA („Trumpismus“) mit aufgekündigtem Klimaabkommen und Atom-Deal mit dem Iran gefordert: „Wir müssen Bündnisse schließen. Bündnisse für eine multilaterale Welt.“36 Man muss also nicht einmal einen kirchlichen Umweg nehmen und über den Reformierten Bund hinaus die EKD als Kirchenbund bemühen, um zu dem eindeutigen Befund zu gelangen: Der Begriff „Bund“ ist in der politischen Welt allgegenwärtig. Egal, ob man international irgendein Bündnis oder national die Bundeswehr, die Bundesärztekammer, das Bundesverfassungsgericht oder irgendeine andere Institution der Bundesrepublik Deutschland heranzieht, die Belege sind Legion, ja, dermaßen omnipräsent, dass der Verdacht in der Tat unabweislich zu sein scheint: Es handelt sich beim „Bund“ um eine Grundmetapher des menschlichen Zusammenlebens, also um eine Grundmetapher des Politischen und Sozialen. goals that are more important than our personal goals create covenants. We enter into them knowing that they may demand some changes in our personal goals. Though we should not take on the obligations of a covenant relationship without serious reflection on what it will require, we also know that covenants are somewhat open-ended. We cannot specify their limits as easily as we can with contracts.“ Vgl. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 218. 33 M.L. Stackhouse, Globalization, Faith and Theological Education, Theological Education 35 (2/1999), (67–77) 76. 34 So auch van Oorschot, Öffentliche Theologie angesichts der Globalisierung, 189. 35 M.L. Stackhouse, Creeds, Society and Human Rights. A Study in Three Cultures, Grand Rapids 1984, 61. 36 „Wir dürfen uns nicht wegducken“. Interview mit Heiko Maas, Süddeutsche Zeitung Nr. 129 vom 8.6.2018, 7.

2. Illustration

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Charles S. McCoy hat vom Bund als der „Grundmetapher der föderalistischen Weltsicht“37 gesprochen. Eine solche Sichtweise sei so selbstverständlich, dass sie oftmals gar nicht explizit im Sinne einer Rechenschaftsabgabe thematisiert werde: „Brillenträger schauen nicht auf ihre Gläser, sondern schauen durch sie. In der gleichen Weise sehen Menschen nicht den Bundescharakter ihres gemeinsamen Lebens, sondern alles durch ihre föderale Brillen.“38 Der Bund basiert nach McCoy auf einer common-sense-Erfahrung, aus der er entstehe, und diese sei „die der Übereinkunft, des Vertragsabschlusses und des treuen Festhaltens. Die Kategorien des Bundes, die zur Verdeutlichung der Ganzheit der Erfahrung gebraucht werden können, sind u.a.: Verbundenheit, gemeinsames Risiko, Freundschaft, Gegenseitigkeit, gegenseitige Abhängigkeit, Gemeinschaft, Zusammenarbeit, gemeinsames Ziel, Vertrag, Abkommen, Engagement, Treue, Loyalität, Vertrauen, gemeinsame Werte, natürliche Ordnung, […] religiöser Glaube.“39

2. Illustration: Vom Bund zum Vertrag. Eine Verlustanzeige Wie genau ist dieser doppelte Befund, also das hiesige Bundesschweigen einerseits und andererseits das Phänomen besagter Omnipräsenz des Bundesbegriffs, zu deuten? Gibt es Gründe für dieses „Doppelphänomen“, diesen – wenn man so will – „Double-Bind“, und wenn ja, wie lauten und was besagen sie? Sind sie zudem evident? Im Folgenden soll eine Illustration der hier zu bedenkenden Zusammenhänge erfolgen.

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Ch. McCoy, Der Bund als Grundmetapher in der Politica des Johannes Althusius, in: H. Deuser u.a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München 1986, (332–344) 337. An anderer Stelle spricht McCoy (Götter ändern sich, 155ff.) auch von „Wurzelmetapher“ bzw. vom „föderalen Paradigma“. 38 McCoy, Der Bund als Grundmetapher in der Politica des Johannes Althusius, 332. So auch ders., Götter ändern sich, 162. 39 McCoy, Der Bund als Grundmetapher in der Politica des Johannes Althusius, 337.

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2.1 Vertragstheorien. Der neuzeitliche Kontraktualismus von Althusius über Hobbes, Locke und Rousseau bis hin zu Rawls Der zweifache Befund, der als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen fungieren soll, muss hinsichtlich der Ausgangsfrage nach den Ursachen des ethischen Bundesschweigens noch um ein drittes Element ergänzt werden: Zur Omnipräsenz des Bundesbegriffs als Grundmetapher des Sozialen und Politischen, der neben der israeltheologischen Fokussierung benannt wurde, gehört auch die Wiederkehr der Bundestheologie in vertragstheoretischer Gestalt. Anders gesagt: Wenn Bundestheologie in ethischem Gewande erscheint, dann zugleich in säkularisierter Gestalt, das heißt als Kontraktualismus bzw. als Lehre vom Gesellschaftsvertrag. Dies dürfte eine entscheidende Auskunft hinsichtlich des ethischen Bundesschweigens sein: Der Vertrag tritt an die Stelle des Bundes. Zumeist wird die neuzeitliche Tradition der Vertragstheorie auf den reformierten Juristen Johannes Althusius (1563–1638) zurückgeführt, mit dem sie – grundgelegt in seiner in Herborn bzw. Siegen entwickelten „Politica methodice digesta“ (1603) – begann.40 Althusius habe den Bund im Sinne eines Vertrages zwischen Herrscher und Volk als Träger der Staatsgewalt interpretiert.41 Entsprechend seinem staatstheo­retischen Modell bestehe eine wechselseitige Verpflichtung (mutua obligatio) zwischen beiden, aus der das Recht zur Ausübung der Regierung und das Recht zur Absetzung bei Vertragsbruch erwachse. Die Souveränität liege dabei allein beim Volk, das den Herrscher zur Regierung beauftrage, nicht beim absoluten Herrscher, wie dies etwa Jean Bodin (1530–1596) behaupte.42 Die das politische Denken in der Neuzeit bestimmende Vertragstheorie wird nach Althusius von Vertretern des staatsphilosophischen 40

J. Althusius, Politik, übersetzt von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2003. 41 Zu Herrschaftsvertrag und Bund bei Althusius vgl. P.J. Winters, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschat im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1963, 256–258; Witte, The Reformation of Rights, 190–192; 201f.; C. Malandrino, Politische Theorie und Föderaltheologie, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und politische Theologie, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 123–142; C. Malandrino, Foedus (Confoederatio), in: ders. / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 217–231. 42 Zur Souveränitätslehre Jean Bodins vgl. Winters, Die „Politik“ des Johannes Al­ thusius, 120–130.

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Kontraktualismus weiterentwickelt. Sie möchten eine bestimmte Form politischer Herrschaft rechtfertigen und die Kompetenzgrenzen staatlicher Herrschaftsausübung festlegen. Zu diesem Zweck entwickeln sie die Idee des Gesellschaftsvertrages.43 Oliver O’Donovan spricht unumwunden von einem „contract myth“44, einem „Vertrags-Mythos“. Charakteristisch für die klassischen Vertragstheorien ist nach dem Kieler Philosophen Wolfgang Kersting45 ein argumentativer Dreischritt. Dieser bündelt grosso modo die Gemeinsamkeiten bzw. Konstitutiva der Vertragstheorien. 1. Die Ausgangsannahme bildet ein fiktiver Naturzustand, der anarchisch ist. In ihm treffen freien Vertragssubjekte bzw. Individuen, also keine Körperschaften Entscheidungen über die zukünftige Gesellschaftsstruktur. Der Naturzustand ist durch Unkenntnis und gewissermaßen anarchische Zustände charakterisiert, wobei die künftigen Vertragssubjekte aber als souveräne, eigeninteressierte und rational kalkulierende Individuen verstanden werden. Insofern lässt sich die Ausgangsannahme als eine durch die Symmetrie der Vertragssubjekte gekennzeichnete bestimmen.46 2. Das Mittelglied stellt der Vertrag dar, der i.d.R. einen Rechtsverzicht bzw. eine Rechtsübertragung begründet. Die ursprünglich freien Individuen sind unter bestimmten Voraussetzungen bereit, 43

Vgl. dazu W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1996. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag wird bis heute diskutiert. Jüngst hat die Kulturwissenschaftlerin A. Assmann (Menschenrecht und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft, Wien 2018) angesichts der aktuellen Flüchtlingsherausforderung für einen neuen Gesellschaftsvertrag plädiert. 44 O. O’Donovan, The Ways of Judgment. The Bampton Lectures, 2003, Grand Rapids / Cambridge 2005, 128. 45 W. Kersting, Zur Logik des kontraktualistischen Arguments, in: V. Gerhardt (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, (216–237) 216. 46 So auch O’Donovan, The Ways of Judgment, 297: „[T]here has been the pre-political individual of contractarian theory, the individual of Hobbes, Locke, and Rousseau, revived in recent times by Rawls, who is an underdetermined atom from which the molecular structures of society are constructed by processes of negotiation and compromise. […] Bearer of no personality, no social identity, no aspirations above those of fulfilling the most basic needs, he encounters us simply as the bearer of ‚human rights,‘ that tide of undifferentiated demands that relentlessly erodes the coasts of our social institutions. Though at the height of his political power today, his critical fate is already sealed, like that of the atom itself. Just as the indivisible atom has turned out to be a function of social forces. The powers of negotiation and compromise this individual was supposed to command were never individual powers in the first place.“

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zugunsten einer politischen Ordnung ursprüngliche Rechte aufzugeben oder zu übertragen. 3. Das Resultat des Vertragsabschlusses sind Gesellschaft und/oder Staat einschließlich Sozialordnung. Der Vertrag wird nicht als ein geschichtliches Ereignis, sondern als rationalistische Konstruktion verstanden. Er bildet das Resultat einer am gegenseitigen Nutzen orientierten wechselseitigen Übereinkunft. Die individuelle Gehorsamspflicht basiert dabei auf freiwilliger Zustimmung und Selbsteinschränkung der Bürgerinnen und Bürger. Dieser Dreischritt aus fiktivem Naturzustand, Vertrag und Gesellschaft und/oder Staat als Resultat des Vertragsabschlusses taucht – wie kurz angedeutet werden soll – sowohl bei Thomas Hobbes47 (1588–1679), als auch bei John Locke48 (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau49 (1712–1778) auf,50 also sowohl in der kontraktualistischen Begründung des Absolutismus (Hobbes), als auch der kontraktualistischen Begründung des liberalen Konstitutionalismus (Locke), als auch der kontraktualistischen Begründung einer direktdemokratischen Herrschaftsform (Rousseau). Der Kontraktualismus reicht freilich über die Neuzeit hinaus bis in die Gegenwart hinein. John Rawls (1921–2002) neokontraktualistische51 Begründung einer Gerechtigkeitskonzeption wäre hier etwa zu nennen. Rawls versucht 47

Th. Hobbes, Leviathan. Erster und zweiter Teil, übers. von J.P. Mayer, Stuttgart 2005. 48 J. Locke, The Second Treatise of Government / Über die Regierung. Englisch-deutsche Ausgabe, übers. von D. Tidow, hg. von P.C. Mayer-Tasch, Stuttgart 2012. 49 J.-J. Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique / Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch-deutsche Ausgabe, in Zusammenarbeit mit E. Pietzcker übers. und hg. von H. Brockard, Stuttgart 2010. 50 Die Liste dieser drei ließe sich, wie Kersting (Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages) gezeigt hat, sowohl im Blick auf die Neuzeit (etwa um den vernunftrechtlichen Kontraktualismus Immanuel Kants oder das sog. dt. Naturrecht [Samuel Pufendorf etc.]) als auch die Gegenwart (etwa um Robert Nozicks Minimalstaatkonzeption und den ökonomistischen Kontraktualismus bei James M. Buchanan) ergänzen. Zu Kant vgl. über Kersting (a.a.O., 180–216) hinaus einführend: J. Nida-Rümelin, Politische Philosophie der Gegenwart. Rationalität und politische Ordnung, UTB 3242, Paderborn 2009, 138–150. 51 Vom Neokontraktualismus Rawls’ spricht etwa Kersting, Zur Logik des kontraktualistischen Arguments, 225. Vgl. zu Rawls die aufschlussreiche Debatte zwischen H.R. Beckley (A Christian Affirmation of Rawls’s Idea of Justice as Fairness [Part I], JRE 13 [1985], 210–242; Part II erschien in: JRE 14 [1986], 229–246) und L.G. Jones (Should Christians Affirm Rawls’ Justice as Fairness? A Response to Professor Beckley, JRE 16 [1988], 251–271).

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bekanntlich unter Rückgriff auf die Idee des Gesellschaftsvertrages allgemein akzeptierte Grundsätze für eine gerechte liberal-demokratische Gesellschaftsordnung zu begründen. Auch bei Rawls manifestiert sich ein vertragstheoretisches Gedankenexperiment im Rekurs auf einen Urzustand, der nicht als geschichtliches Ereignis, sondern als rationalistische Konstruktion zu verstehen ist: „In der Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß spielt die ursprüngliche Situation der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags. Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als rein theoretische Situation aufgefaßt, die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt.“52

Nach Rawls befinden sich die Personen im Urzustand unter dem „Schleier des Nichtwissens“53 (veil of ignorance), um die Grundregeln der zukünftigen Gesellschaft unparteilich festlegen zu können. 2.2 Der Bund Gottes mit den Menschen. Eine biblisch-theologische Relektüre der Föderaltheologie Bei den Vertragstheorien geht es, wenn man so will, um säkularisierte Gestalten der Föderaltheologie. Ob Carl Schmitt mit seiner generalisierenden Beobachtung Recht hat, dass es sich bei allen politischen zugleich um säkularisierte theologische Begriffe handelt, sei dahingestellt.54 Jedenfalls lässt sich das Verhältnis von Vertragstheorie und Föderaltheologie durchaus als ein Beleg anführen. Wenn dem aber so ist, wird man zugleich nach Differenzen zwischen dem Säkularisat und dem Herkunftsterminus fragen müssen. Die dabei stets mitlaufende 52

J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. von H. Vetter, stw 271, Frankfurt a.M. 1979, 28f. 53 A.a.O., 29. Zur Kritik an Rawls unter explizitem Rekurs auf den Gesellschaftsvertrag vgl. M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, übers. von H. Herkommer, Frankfurt a.M. 2006, 128–134. 54 C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 71996, 43: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Zu Schmitts ansonsten hochproblematischer politischer Theologie vgl. aus theologischer Perspektive: D. Schellong, Carl Schmitt als Hobbes-Interpret. Überlegungen zum Begriff der politischen Theologie, BThZ 8 (1991), 94–111. Fernerhin: L. Bretherton, „Love Your Enemies“. Usury, Citizenship, and the Friend-Enemy Distinction, Modern Theology 27 (3/2011), 366–394.

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Ausgangsfrage lautet: Wie entsteht der Bund? Was konstituiert ihn? Bei einem Vergleich kann man gewiss nicht ohne einen biblisch-theologischen Rekurs auskommen, da sich die Föderaltheologie von der biblisch induzierten Idee des Bundes herleitet.55 Man mag die Föderaltheologie als reformierte Besonderheit ansehen. Ihr biblisch-theologisch hergeleiteter Anspruch auf Allgemeingültigkeit darf indes nicht verkannt werden. Bezeichnend für biblische Bundestheologie56 ist zunächst und vor allem, dass es sich bei dem Stichwort „Bund“ (hebr. berit) um das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk und nicht um eine rein zwischenmenschliche Relation handelt und sei sie die von Staaten.57 Damit ist bereits die entscheidende Differenz zur neuzeitlichen Vertragstheorie benannt. In der Umwelt Israels wird die Bundesvorstellung interessanterweise auf eine Vereinbarung zwischen menschlichen Partnern bezogen, selten aber auf das Verhältnis zwischen Gottheit und Mensch angewendet. Reichhaltiges altorientalisches Vergleichsmaterial, etwa aus dem hethitischen, neuassyrischen und aramäischen Bereich, gibt es für Schenkungsverträge oder sog. Vasallenverträge zwischen einem Höhergestellten (König) und einem Untertanen, der eine bestimmte Verpflichtung auferlegt bekommt.58 Hier manifestiert sich eine starke Asymmetrie zwischen den Partnern, zumal der Bund vom Höhergestellten gewährt oder gestiftet wird. Gleichrangigkeit sieht jedenfalls anders aus, zumal der höhergestellte für den niedergestellten Bundespartner unverfügbar ist. Für den niedergestellten Partner ist der Bund damit exklusiv, d.h. dass er keine Bündnisse mit anderen eingehen darf. In der alttestamentlichen Bundestheologie sind keineswegs nur rein zwischenmenschliche Bündnisse im Blick. Vielmehr bezieht sie sich auf das Bündnis mit Gott und damit das Gefälle zwischen Gott 55

Dabei wird man im Blick auf die Prägung auch die mittelalterliche Scholastik berücksichtigen müssen, etwa den Gedanken von der Selbstbindung Gottes im 12. und 13. Jahrhundert (von Bernhard von Clairvaux bis Bonaventura). Vgl. dazu B. Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, BHTh 54, Tübingen 1977. 56 Zum Neuen Testament vgl. J. Maschmeier, Bund. Zur Bedeutung des „neuen Bundes“ bei Paulus, in: K. Schiffner u.a. (Hg.), Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zur biblischen Exegese und christlichen Theologie. Horst Balz zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2007, 72–84. 57 So betont H.-J. Hermisson, Bund und Erwählung, in: H.-J. Boecker u.a., Altes Testament. Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen-Vluyn 51996, (244–267) 244. 58 Vgl. Ch. Koch, Vertrag, Treueid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament, BZAW 383, Berlin / New York 2008.

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und Mensch. Für Israel ist der Bund mit Gott exklusiv. Das erste Gebot bildet insofern ein Implikat der Bundesvorstellung. Bei Lichte betrachtet, fällt die alttestamentliche Bundestheologie indes nicht einfach einheitlich aus.59 Markante Akzentverschiebungen finden sich etwa zwischen der dtn/dtr Bundestheologie einerseits, die im 7. Jahrhundert mit dem Aufkommen einer ebensolchen, vielleicht von neuassyrischen Verträgen beeinflussten Bewegung entstand,60 und der priesterlichen Theologie (P) andererseits, die vermutlich aus der Zeit des babylonischen Exils stammt und mit den Bundesschlüssen die Heilsgeschichte Israels periodisiert. So betont Jörg Jeremias: „Während die priesterschriftlichen Texte entschieden auf die Vergewisserung der Menschen zielen, die durch das Gericht Gottes im Exil hindurchgegangen sind und darum immer neu die bleibende Selbstverpflichtung Gottes hervorheben, ist das Interesse der Mehrzahl der dtr geprägten Texte auf den verpflichtenden Charakter der göttlichen Willenskundgebung gerichtet, um eine Wiederholung der Katastrophe des Exils für alle Zukunft zu vermeiden.“61 Trotz dieser nicht unwesentlichen Akzentverschiebung liegt der Akzent auf dem Handeln Gottes, sei es dem vergewissernden (wie in den priesterschriftlichen Texten), sei es dem verpflichtenden (wie in den dtr Texten). In dieser biblischen Tradition der Betonung des bundesstiftenden Handelns Gottes steht die Föderaltheologie im Unterschied zur Vertragstheorie. Die entscheidende Differenz zwischen Vertragstheoretikern und Föderaltheologen besteht darin, dass es für einen Vertragstheoretiker wie Hobbes „nicht den Gottesbund des Volkes [gibt], welcher den Herrschaftsvertrag begrenzt, sondern nur den Herrschaftsvertrag der Menschen gegen die feindliche Natur, um den Krieg aller gegen alle 59

Vgl. Aurelius, Bundestheologie im Alten Testament, 357–373; J. Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 301–319; M. Bauks, Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Pers­ pektiven, Göttingen 2019, 126–151; K. Schmid, Theologie des Alten Testaments, Tübingen 2019, 132–134; 302f.; 308–311. 60 Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Königszeit, GAT 8/1, Göttingen 1992, 356–360. Fernerhin: ders., Wer waren die Deuteronomisten? Das historische Rätsel einer historischen Hypothese, in: ders., Geschichte und Theologie. Studien zur Exegese des Alten Testaments und zur Religionsgeschichte Israels, hg. von I. Kottsieper / J. Wöhrle, BZAW 326, Berlin 2003, 279–302; ders., Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., Biblische Enzyklopädie 7, Stuttgart u.a. 2001, 183; 218. 61 Jeremias, Theologie des Alten Testaments, 302. Ähnlich Gertz, Art. Bund II. AT, 1864f.; H.-Ch. Schmitt, Arbeitsbuch zum Alten Testament, UTB 2146, Göttingen 2005, 202f.

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zu beenden.“62 Bei Locke, Rousseau und schließlich Rawls geht es – anders als bei Hobbes – zwar nicht einfach um die Retrojektion konfessioneller Bürgerkriegserfahrungen in einen fiktiven Naturzustand,63 zumal der Naturzustand etwa bei Locke als ein prinzipiell friedlicher und bereits gesellschaftlich organisierter Rechtszustand (freilich ohne Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit) verstanden wird.64 Und doch ist es auch hier die Abwehr eines Kriegszustandes, also – wenn man so will – eine „Heuristik der Furcht“65, die ideengebend wirkt.66 Und selbst Rousseaus „Naturmenschen“ (hommes naturels), die frei und prinzipiell gleich an Kräften und Begabungen sind sowie ein natürliches Mitleid (pitié, commisération) empfinden,67 werden im Laufe der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Einführung von Eigentum und Arbeitsteilung mit solchen deplorablen Zuständen konfrontiert, dass es für sie nur darum gehen kann, diese als zur Zivilisation verdammte, aber doch zugleich entwicklungsfähige Menschen mit Vernunft zu überwinden. Gilt doch nach Rousseaus berühmtem Diktum: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in 62

J. Moltmann, Covenant oder Leviathan? Politische Theologie am Beginn der Neuzeit, in: ders., Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997, (31–49) 38 (zuerst erschienen in: ZThK 90 [1993], 299–317). Nach dem Urteil von J. Habermas (Auch eine Geschichte der Philosophie Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, 137) ist Hobbes derjenige unter den philosophischen Zeitgenossen, „der am konsequentesten der Linie eines methodischen Atheismus folgt. Er braucht Gott nicht mehr als Theoriebaustein, sein Materialismus kommt ohne Anleihe bei Restgrößen der christlichen Metaphysik aus.“ Fernerhin: D. Schotte, Auctoritas, non veritas, facit legem! Zur angeblichen Politischen Theologie in Thomas Hobbes’ Leviathan, DZPh 57 (5/2009), 709–724. Ausführlich: ders., Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Thomas Hobbes über Religion, Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 17, Stuttgart–Bad Cannstatt 2013. 63 Vgl. Habermas, Auch eine Philosophie der Geschichte 2, 139. 64 Vgl. Locke, The Second Treatise of Government / Über die Regierung, 10–29. Habermas (Auch eine Philosophie 2, 179) hebt hervor, dass Hobbes persönlicher Glaube an den Gott Israels und die christlichen Prämissen seines Denkens „jedoch nichts an dem säkularen vernunftrechtlichen Charakter der Verfassungskonstruktion selbst“ ändern. 65 Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, stw 3492, Frankfurt a.M. 2003, 63. 66 Dem Kap. 2 „Der Naturzustand“ (Of the State of Nature) folgt unmittelbar das präjudizierende und präformierende Kap. 3 „Der Kriegszustand“ (Of the State of War) in Lockes „The Second Treatise of Government / Über die Regierung“, 10–29; 30–39. 67 Vgl. Rousseaus (Du contract social / Vom Gesellschaftsvertrag, 11–15) Ausführungen „Von den ersten Gesellschaften“ (Des premieres sociétés).

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Ketten.“68 Bezeichnenderweise kommt Rousseau, wenn er die Schwierigkeit (difficulté) des Gesellschaftsvertrages anspricht, unmittelbar auf Verteidigung und Schutz (défende et protege) zu sprechen: „Diese Schwierigkeit lässt sich, auf meinen Gegenstand angewandt, so ausdrücken: ‚Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.‘ Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt.“69

Auch der Rawls’sche Rückgriff auf die Gesellschaftsvertragstradition, dem es um die Begründung allgemein anerkannter Gerechtigkeitsprinzipien für eine liberal-demokratische Gesellschaftsordnung geht, kommt ohne die Projektion eines „Kriegszustandes“ nicht aus, schützt doch der „Schleier des Unwissens“ als Gewährleistung des moralischen Prinzips von Unabhängigkeit gerade vor diesem.70 Einen Gottesbund des Volkes gibt es indes bei keinem dieser vertragstheoretischen Denker mehr – im Unterschied zu den Föderaltheologen. Bei einer eher typologischen Bestimmung der Differenz sollte man freilich nicht übersehen, dass es auch „Mischformen“ gibt, namentlich in der Lehre vom doppelten Bund. So findet sich etwa bei Johannes Althusius, der am Beginn der neuzeitlichen Tradition der Vertragstheorie steht, noch die Vorstellung von einem doppelten Bund, den Gott zum einen mit dem Volk schließt und den das Volk zum anderen vor Gott mit dem Herrscher schließt und ihm dabei seine Souveränität überträgt. So führt Althusius im berühmten Kap. 38 (§ 33) seiner „Politica“ zur Begründung des Widerstandsrechts aus, „dass die Sache Gottes und die Verpflichtung ihm gegenüber von den Untertanen, wenn nicht ausdrücklich, so doch gewiss stillschweigend, stets als vorzüglicher und ehrwürdiger angesehen wird als der nachfolgende Vertrag zwischen Volk und Magistrat.“71 Althusius steht als der „letzte Monar68

A.a.O., 9 („L’homme est né libre, et par-tout il est dans les fers“). A.a.O., 33. Dazu: J.B. Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998, 473. 70 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 29: „Dies [, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt werden; M.H.] gewährleistet, daß dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird.“ 71 Althusius, Politik, 394. Einen Doppelbund bei Althusius identifiziert auch A. von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 60. 69

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chomache“72 in der monarchomachischen Tradition, insbesondere der der „Vindiciae contra tyrannos“ des unter dem Pseudonym Stephanus Junius Brutus publizierenden Theologen und Staatsmanns Philippe Du Plessis-Mornay (1549–1623) mit seiner Lehre vom doppelten Bund.73 Sie bietet eine theologische Begründung des Widerstandsrechts: „Die Argumentation der Schrift [‚Vindiciae contra tyrannos‘; M.H.] ist getragen von der ausgeführten Theorie eines doppelten Bundes, eines pactum religiosum mit Gott sowie eines pactum civile zwischen Volk und Herrscher. Diese theologische, aus dem Alten Testament abgeleitete Vorstellung wird mit Hilfe römischer und mittelalterlicher Rechtstexte erläutert und explizit als ein Rechtsverhältnis verstanden.“74

Wann ist es zu der Umstellung von Föderaltheologie auf Vertragstheo­ rie gekommen? „Unter dem Einfluss Ph[ilipp] Melanchthons und dessen Lehre von der lex naturae zieht ein folgenreiches neues Element in die Föderaltheologie ein. Statt dem Bund das Übergewicht der göttlichen Initiative zu belassen, wird er (was er in zweiter, aber eben nicht in erster Linie immer auch war) als ein verbindliches Rechtsverhältnis (mutua obligatio) begriffen, und so kommt es – zuerst bei W[olfgang] Musculus und Stephan Kiss Szegedin – zur Aufspal-

72

W.H. Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, HDThG 2, Göttingen 21998, (165–352) 324. Siehe hierzu im Einzelnen: D. Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: E. Bonfatti u.a. (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius, Wiesbaden 2002, 133–164. 73 Vgl. S.J. Brutus, Strafgericht gegen die Tyrannen oder die legitime Macht des Fürsten über das Volk und des Volkes über den Fürsten, in: J. Dennert (Hg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, übers. von H. Klingelhöfer, Klassiker der Politik 8, Köln und Opladen 1968, (61–202) 73: „Wir kennen bei der Einsetzung der Könige einen doppelten Bund, zunächst den zwischen Gott, König und Volk, durch den das Volk Gottesvolk wird; zweitens den zwischen König und Volk, der besagt, daß das Volk dem, der gerecht regiert, treu gehorcht.“ 74 Ch. Strohm, Art. Widerstand II. Reformation und Neuzeit, TRE 35 (2003), (750–767) 757. Kursivierung: M.H. Vgl. ders., Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, AKG 65, Berlin / New York 1996, 351f.; 379; Moltmann, Covenant oder Leviathan?, 34. Zum pactum religiosum bei Althusius vgl. ders., Politik, 282ff. (Politica, Kap. 28, §§ 15ff.).

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tung in ein foedus generale, den zeitlichen Bund Gottes mit der Schöpfung, und ein foedus speciale, den ewigen Bund Gottes mit den Erwählten.“75

Das hat praktische Konsequenzen: „Indem der Bundesgedanke die mutua obligatio als Sinn jedes Rechtsverhältnisses herausstellt, wird er auf ref. Boden zum charakteristischen Ausdruck für die Korrespondenz von Gnadengabe und Verpflichtung der Gemeinde und hat darüber hinaus indirekt der Entstehung des modernen Staatsgedankens vorgearbeitet.“76 Mit der Vertragstheorie spitzte sich diese Entwicklung auf das Äußerste zu und mündete in eine radikale Konsequenz: Der erste Bund, nämlich der Bund Gottes mit dem Menschen, wurde gekappt und übrig blieb nur noch der Bund zwischen Volk und Herrscher, also der Menschen untereinander.77 Bei der Vertragstheorie handelt es sich mit anderen Worten um eine kupierte Bundestheologie. Gott fällt damit weg. Ersatzlos? Er wird zumindest nicht mehr als konstitutiv für den Vertrag, sprich: den kupierten Bund, verstanden. Nun muss dieser Umstand, wie man mit Verweis auf die Säkularisierung bzw. den säkularisierten (Rechts-)Staat wird einwenden können,78 noch kein Problem sein, ist dies doch nach Meinung vieler in der Moderne, wo religiöse Begründungsfiguren (etwa aufgrund der weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaates)79 zum Problem werden, angezeigt. An die Stelle Gottes könnte etwa auch ein Platzhalter-Wort, also eine Art kritisch-religionskulturelles Symbol, treten. Doch wäre damit nicht bereits konzediert, dass die Verlagerung der Gründung des menschlichen Zusammenlebens auf das Bein ihres aufgeklärten Eigeninteresses problematisch ist? Könnte, ja müsste man, um im Bild zu bleiben, so nicht 75

So Ch. Link, Art. Föderaltheologie, RGG4 3 (2000), (172–175) 173, im Anschluss an Goeters, Art. Föderaltheologie, 247f. 76 Link, Art. Föderaltheologie, 174. 77 Vgl. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 217: „[A]lle Philosophen kennen immer nur einen Vertrag, den demokratischen Vertrag, den Gesellschaftsvertrag, den Vertrag, den die Individuen untereinander schließen, um eine politische Einheit, einen politischen Körper, die Einheit des Volkes, den Souverän zu konstituieren. Im einzelnen gehen die Philosophen dann bei der weiteren Ausgestaltung der Grammatik vertragsbegründeter Herrschaft auseinander“. 78 Vgl. E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, hg. von H. Meier, München 2007. Dazu: J. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 106–118. 79 Ch. Polke, Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur welt­ anschaulichen Neutralität des Staates, ÖTh 24, Leipzig 2009.

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hinfallen, ja stürzen? So lautet zumindest die Befürchtung. Der Vertrag verlöre als kupierter Bund seine Bindungskraft. Entsprechend dieser Befürchtung hat jüngst der Frankfurter Philosoph Christoph Menke mit Blick auf die Labilität des Vertrages zu bedenken gegeben: „Nur weil und wenn die Vertragspartner bestimmte Interessen und Absichten haben, gehen sie die Verbindung ein, und sie halten sie auch nur ein, soweit dies ihren Interessen und Absichten dient. Der Vertrag ist die bedingte Verbindung: bedingt dadurch, wie die Einzelnen sind.“80 Menke unterscheidet deshalb den Vertrag vom Bund: „Ein Bund ist kein Vertrag. Das Wesen des Vertrages ist, dass er eine Verbindlichkeit stiftet, die daran gebunden ist, dass die Partner so sind – und bleiben. […] Der Bund dagegen verändert die, die ihn schließen. Er macht sie zu anderen.“81 Theologisch gesprochen, ist diese Transformation im Bund ein Topos der Heiligung. 2.3 Der kupierte Bund. Folgen der Transformation des Bundes zum Vertrag. Eine Verlustanzeige Auf dem Hintergrund der biblischen Grammatik und der von ihr getragenen reformierten Föderaltheologie wird man im Blick auf vertragstheoretische Konzeptionen gleichsam eine Verlustanzeige schalten müssen: Es ging etwas verloren, als man den Bund zum Vertrag machte! Eine auf die Begriffssäkularisierung bezogene Problemanzeige findet sich bereits bei Jürgen Habermas in der Frankfurter Friedenspreisrede von 2001: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“82 Dies lässt sich von Sünde und Schuld auf Bund und Vertrag übertragen. Doch was genau ging verloren? Die bereits gegebene Antwort lautet: Gott; zunächst einmal „nur“ er. Theologisch wird eine rein vertragstheoretische Lesart der Bundestheologie insofern als defizitär eingeschätzt werden müs-

80

Ch. Menke, Philosophenkolumne: Die Lehre des Exodus. Der Auszug aus der Knechtschaft, Merkur 70 (2016), (47–54) 52f. 81 Ebd. 82 J. Habermas, Glauben und Wissen. Die Rede des diesjährigen Friedenspreisträgers des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, FAZ vom 15.10.2001 (Nr. 239/2001), 9. Zur „postsäkularen Gesellschaft“ und den komplementären Lernprozessen vgl. ders., Religion in der Öffentlichkeit der „postsäkularen“ Gesellschaft, in: ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, (308–327) 326f.

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sen. Oder vorsichtiger: Der „engagierte Glaube“83 wird gegenüber der „Entzauberung des Bundes“ als Spielart der Weber’schen „Entzauberung der Welt“84 zumindest nach Alternativen fragen wollen.85 Doch damit nicht genug: Es zeigt sich nämlich, dass hier – auch aus der Perspektive einer/s Nichtgläubigen bzw. „religiös Unmusikalischen“ (J. Habermas) geurteilt – „mehr“ auf dem Spiel steht. Dementsprechend gilt es ein Bewusstsein zu wecken von dem, was fehlt.86 Die Lehre vom Urzustand verdeutlicht dies. Sie ist für die Vertragstheorie konstitutiv, wie Wolfgang Kersting gezeigt hat. Hier wird nämlich eine moral- und rechtstheoretische Aporie offenkundig. Im Ur- bzw. Naturzustand nimmt der Mensch den Anderen eben tendenziell als Egoisten wahr, nicht aber als Rechts- bzw. Bundesgenossen und gemeinsam Schutzbedürftigen, der genauso wie ich auf Erbarmen und Solidarität angewiesen ist, um recht leben zu können.87 Der Hobbes’sche „Wolf“ bzw. „Mensch, der des Menschen Wolf ist“,88 mag hier, was das Menschenbild betrifft, ein Extrem markieren. Aber auch bei den anderen Vertragstheoretikern zeichnet sich – wie wir gesehen haben – mit der mehr oder weniger raschen, in der Abwehrbewegung konzipierten Einführung eines Kriegszustandes eine ähnliche Tendenz ab. Die Rechtsabtretung des Individuums an den starken Staat erfolgt nach Hobbes aus Eigeninteresse. Dies aber dürfte für die Gründung des Zusammenlebens der Mensch entschieden zu wenig (an Menschlichkeit) und zugleich zu viel (an Staat) sein. 83

M. Volf, A Public Faith. How Followers of Christ Should Serve the Common Good, Grand Rapids 2011, 77–145. 84 Vgl. zur Rede von der Entzauberung der Welt M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919, hg. von W.J. Mommsen / W. Schluchter, Max Weber. Gesamtausgabe I/17, Tübingen 1992, bes. 86f.; 100; 109. Dazu: P.C. Mayer-Tasch, Religion, Politik und Staatlichkeit im Spannungsfeld von Ver- und Entzauberung der Welt, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und politische Theologie, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 451–461. 85 Vgl. H. Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt a.M. 2017. Dass in der Moderne das Aufkommen des politischen Denkens in der westlichen Welt aus der Säkularisierung und dem Ausschluss religiöser Argumente aus dem politischen Diskurs resultierte, hat E.M. Nelson (The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Cambridge / London 2010) infrage gestellt. 86 Vgl. M. Reder / J. Schmidt (Hg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Edition Suhrkamp 2537, Frankfurt a.M. 2008. 87 Vgl. W. Lienemann, Gewalt, Macht, Recht. Gewaltprävention und Rechtsentwicklung nach Karl Barth, ZDTh 17 (2001), (153–169) 164. 88 Hobbes, De cive, Widmung an den Grafen Wilhelm zu Devonshire.

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Aus theologischer Perspektive wird man darüber hinaus konstatieren müssen: Die geradezu freche Behauptung von Hobbes, dass der Mensch des Menschen Wolf sei (homo homini lupus), wird indes durch den Bundesschluss Gottes praktisch widerlegt. Denn hier zeigt sich – mit Karl Rahner gesprochen –, dass Gott den Menschen nicht als „Unmenschen“ und „findiges Tier“ behandelt, sondern als Partner.89 Bei Hobbes wird indes der Naturzustand als „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium in omnes)90 gekennzeichnet. Doch auch bei Locke und Rousseau trägt er, wie wir sahen, die anarchischen Züge nicht nur des Wilden und Ungebändigten, sondern auch des Zerstörerischen und zu Überwindenden. Theologisch geurteilt, beschreiben die Vertragstheoretiker die postlapsarische Wirklichkeit des status corruptionis, keineswegs jedoch des status naturalis. Denn bereits im status naturalis galt: „Du darfst essen von allen Bäumen im Garten“ (Gen 2,16). Oswald Bayer hat diesbezüglich treffend von der „kategorischen Gabe“91 gesprochen: „Am Anfang steht nicht das Chaos einer unbestimmten Natur und das sich daraus zwingend ergebende ‚Du mußt!‘ als Nötigung zur Kulturleistung. Am Anfang steht kein Verbot, sondern ein Gebot, aber kein ‚kategorischer Imperativ‘, sondern – als erlaubter Imperativ – eine Zusage, die unbedingt und bedingungslos allen gilt: Gewährung des Lebensraumes – des Raumes zur Arbeit und Mitmenschlichkeit“.92 Auf diesem Hintergrund lässt sich mit Jürgen Moltmann im Blick auf die angebliche Wolfsnatur des Menschen festhalten: „Wer behauptet, der Mensch sei von Natur aus böse, lästert den Schöpfer. Hob­bes meint mit dem ‚Krieg aller gegen alle‘ in Wahrheit das apokalyptische Weltende, endzeitliche Anarchie und Versinken der Welt im Chaos wie vor der Schöpfung. Darum sieht er im Friedensreich des Leviathan die Macht, dieses Ende der Welt aufzuhalten, den apokalyptischen κατέχων. Erschreckend ist aber das Bild, das Hobbes von der Natur entwirft. Sie scheint für ihn nur menschenfeindlich zu sein, weil sie ihn in jenen ‚armseligen Zustand 89

K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i.Br. 1976, 58. 90 Der Krieg aller gegen alle (bellum omnium in omnes) ist nach Hobbes (De cive I,12) der natürliche Zustand, der aus dem natürlichen Recht aller „auf alles“ (De cive I,10) folgt. Vgl. auch ders., Leviathan, XIII, 115. 91 O. Bayer, Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 13–19. Vgl. auch M.L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: J. Ebach u.a. (Hg.), „Leget Anmut in das Geben“. Zum Verhältnis von Ökonomie und Theologie, Jabboq 1, Gütersloh 2001, (105–161) 159. 92 Bayer, Freiheit als Antwort, 13.

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verwiesen‘ hat. Der Naturzustand ist gnadenloser Krieg, erst der bürgerliche Zivilzustand ist der Gnadenstand des Friedens.“93

Der Leviathan-Staat ist ein „Gemächte“ des kostverächtenden Menschen, des Sünders, der selbst leisten und Staat machen möchte, statt sich beschenken zu lassen. In der biblischen Urgeschichte ist der Sünder „in erster Linie ein Kostverächter“.94 Er nimmt nicht und isst nicht! Sünde meint hier den elementaren Sachverhalt und zugleich die niederdrückende Erkenntnis, „dass ich mir von Gott nichts schenken lassen will. So wird bei uns eine Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit mobilisiert, die in Selbst- und Fremdvernichtung enden kann.“95 Der sprichwörtliche Reim Wilhelm Buschs erfährt seine Umkehrung. Nicht mehr gilt: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man läßt.“96 Sondern nun gilt: „Das Böse, dieser Satz steht fest, ist stets das Gute, das man läßt.“97 Hier zeigt sich, dass Hobbes vertragstheoretische Lesart des Bundes nicht geeignet ist, der biblischen Grammatik gerecht zu werden. Doch auch wenn die Ausgangsannahme, sprich: der fiktive Naturzustand, optimistischer gedacht wird, wenn man etwa den puer robustus nicht wie bei Hobbes als bösen, sondern wie bei Rousseau als guten Menschen versteht,98 so wird man doch nicht einfach zu dem Ergebnis kommen können, dass nun alle Bedenken hinfällig wären, da diese nicht-hobbes’sche Lesart der biblischen Grammatik entspreche und darum unmittelbar anschlussfähig wäre. Hier zeigt sich vielmehr ein neues Problem: Der fiktive Naturzustand ist gerade bei vertragstheoretischen Denkern wie Locke, Rousseau und Rawls durch reine Symmetrie der Menschen untereinander gekennzeichnet. Wird man dagegen theologisch nicht mit dem Gottesgedanken auch auf der Asymmetrie Gott gegenüber insistieren müssen? Wird man also theologisch nicht einwenden müssen: Das Heilsgeschehen, ja die Soteriologie lässt sich 93

Moltmann, Covenant oder Leviathan, 40. Bayer, Freiheit als Antwort, 14. 95 H. Ruddies, Hans-Georg Geyer: Leben und Werk. Ein Porträt in Perspektive, in: K. von Bremen (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Schwerte-Villigst 2008, (9–24) 20. Vgl. Bayer, Freiheit als Antwort, 14: „Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung eines Verbotes (peccatum commissionis), sondern das Übersehen und Übergehen eines Gebotes als einer Gabe und Chance, die einem geboten wird (peccatum omissionis).“ 96 W. Busch, Die fromme Helene (Epilog). 97 Bayer, Freiheit als Antwort, 14. 98 Vgl. D. Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, 24–121. 94

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nicht einfach vertragstheoretisch fassen. Natürlich will das eine säkulare Vertragstheorie auch gar nicht. Im (grundlegungs-)ethischen Diskurs wird sich die Philosophie angesichts der zutage tretenden Unzulänglichkeiten vertragstheoretischer Ansätze die Frage nach einem angemessenen Umgang mit denselben stellen müssen. Wolfgang Kersting hat ihr dies gewissermaßen ins Stammbuch geschrieben. Eine ungebrochene Adaption eines theologischen Ansatzes dürfte indes für sie ausscheiden. Vertragstheorien stellen nach Kersting nun einmal „die systematische Ausarbeitung der modernitätstypischen Überzeugung dar, dass sich die gesellschaftlichen Rechtfertigungsbedürfnisse nicht mehr durch Rekurs auf den Willen Gottes oder eine objektive natürliche Wertordnung decken lassen. […] Die objetivistischen Legitimationstheorien der Tradition, das stoisch-christliche Naturrecht, der theologische Absolutismus, die teleologische Ontologie, hatten ihre Geltung eingebüßt und konnten nicht mehr herangezogen werden, um die gesellschaftlichen Begründungsgewohnheiten […] zu untermauern.“99 Die „prinzipielle begründungstheoretische Defiziens des Kontraktualismus“100 hängt nach Kersting mit der beschriebenen neuzeitlichen Entwicklung zusammen. Dass der Vertrag rechtfertigungstheoretisch nicht für sich selbst aufzu99

W. Kersting, Art. Kontraktualismus, in: M. Düwell u.a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart / Weimar 2002, (163–178) 163. Ähnlich S. Andersen, Einführung in die Ethik, übers. von I. Oberborbeck, Berlin / New York 22005, 333f. 100 Kersting, Art. Kontraktualismus, 178. A. MacIntyre (Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, übers. von H.-J. Müller, Weinheim 31995, 130) zufolge bildet die Erzählung vom Gesellschaftsvertrag gar einen Widerspruch in sich: „Die Erzählung des Gesellschaftsvertrages muß […] als erweiterte Metapher gelesen werden. Aber auch als Metapher kann sie nur fungieren, wenn sie eine vernünftig erfaßbare Geschichte ist, wenn sie gewissen elementaren Erfordernissen logsicher Kohärenz entspricht. Dazu ist sie nicht imstande. Der Gesellschaftsvertrag von Hobbes ist Grundlegung des gesellschaftlichen Lebens in dem Sinne, daß es vor dem Vertrag keine gemeinsamen Regeln und Maßstäbe gibt. Die Erzählung vom Gesellschaftsvertrag fungiert als eine Art Erklärung dafür, wie die Menschen dazu kamen, gemeinsame gesellschaftliche Normen anzuerkennen. Aber jeder Austausch von Worten zwischen Menschen, gleich ob geschrieben oder gesprochen, den man angemessenerweise als Vertrag oder Übereinkunft oder Versprechen charakterisieren kann, kann so nur charakterisiert werden kraft der Existenz einer allgemein anerkannten Regeln, gemäß der der Gebrauch der Ordnung der in Frage stehenden Wörter von beiden Parteien als eine bindende Ordnung von Wörtern verstanden wird. Unabhängig von solchen schon anerkannten und akzeptierten Konventionen kann korrekterweise nichts als Vertrag, Übereinkunft oder Versprechen bezeichnet werden.“ Ähnlich Ch. Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, übers. von H. Kocyba, stw 1027, Frankfurt a.M. 1992, 150.

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kommen vermöge, schmälere indes nicht seine philosophische Bedeutung.101 Mit der zu beobachteten „Gestaltungoffenheit des Kontraktualismus“102 in seinen diversen Ausprägungen geht nicht nur eine rechtfertigungstheoretische Schwäche, sondern auch Chance einher, da auch hinsichtlich der ethischen Prinzipienfrage „sehr unterschiedliche Konsequenzen und Ausformungen vorstellbar“103 sind, zumal der Vertrag keineswegs grundlegend die Frage nach den moralischen Prinzipien menschlichen Handelns klärt.104 Gewiss ist dabei auch an solche Prinzipien zu denken, die über das Eigeninteresse hinausgehen. Teleologische und deontologische Ansätze einer normativen Ethik treten hier in den Blick. Hinsichtlich deontologischer Ansätze dürfte dies kaum überraschen aufgrund der Nähe des Kontraktualismus zur Diskursethik und zu Kant.105 Freilich sind auch teleologische Ansätze zu berücksichtigen. Wolfgang Lienemann hat etwa in terminologischer Anlehnung an Max Webers Herrschaftssoziologie darauf hingewiesen, dass im Kontraktualismus die (hypothetische oder tatsächliche) zweckrationale Begründung an die Stelle von traditioneller oder charismatischer Autorität und Herrschaftslegitimation trete.106 Die Offenheit des Kontraktualismus macht ihn also – positiv gewendet – aus philosophischer Perspektive nicht nur angreifbar und kritikwürdig, sondern in gewisser Weise auch leistungsfähig. Auch theologisch ist er durchaus anschluss- bzw. analogiefähig, zumindest was die Freiheitsermöglichung etwa in Abgrenzung zu einer feuda101

Vgl. Kersting, Art. Kontraktualismus, 178. W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 129. Lienemann (a.a.O., 130) konstatiert: „Die vertragstheoretischen Ethik-Begründungen lassen ihre jeweiligen Implikationen und Leistungsfähigkeiten erst im konkreten historisch-politischen Kontext einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung erkennen.“ 103 A.a.O., 129. 104 Dazu Kersting, Art. Kontraktualismus, 178, begründend: „Seine [des Kontraktualismus; M.H.] Eignung als Gerechtigkeitskriterium ist von normativen Voraussetzungen abhängig, die er selbst nicht kontrollieren kann: die normativen Merkmale der Ausgangssituation, die über die allgemeine Anerkennungsfähigkeit des Verlaufs und des Ergebnisses des vertraglichen Einigungsverfahrens entscheiden können, in einem zirkelfreien Begründungsargument nicht ihrerseits kontraktualistisch gerechtfertigt werden.“ 105 Vgl. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, 129. Fernerhin: W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, stw 1282, Frankfurt a.M. 1997, 17; 664. 106 Vgl. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, 129. 102

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listischen Ordnung betrifft.107 Gleichwohl dürfen auch die Differenz einer theologischen und einer philosophischen Perspektivierung von Vertragstheorien und die dabei zutage tretenden Defizienzen derselben nicht überspielt werden. Unter die praktisch-philosophischen bzw. politisch-philosophischen Bedingungen des Kontraktualismus wird sich Theologie bzw. theologische Ethik nicht beugen können. Vielmehr dürfte für den Kontraktualismus und die praktisch-philosophische Ethik – ähnlich wie für die Metaphysik – gelten, dass die Theologie zwar im Denkraum der Metaphysik geschieht, sie aber nicht unter den Bedingungen dieses Raumes, sondern unter ihren eigenen Bedingungen lebt und arbeitet.108 Dies heißt auch, dass sich die Theologie im Sinn einer Selbstklärung darüber bewusst werden sollte, dass sie bleibend von einer Asymmetrie in der Relation von Gott und Mensch ausgeht. Dies macht etwa Rudolf Hermann in seiner Lutherauslegung deutlich: „Was er [Gott; M.H.] […] tut, insbesondere Christi Werk, bedeutet keinen Vertrag, auf den hin man als Vertragsgegner Gott zwingen könnte. Es muß bei dem Geschenk-Charakter des Heils bleiben. Beanspruchen, als sein Recht einfordern, kann es niemand, auch auf die Sendung Christ hin nicht.“109 Christi Werk bildet keinen Vertrag.110 Die eigentliche theologische Ursache für die Differenz von Vertrag und Bund bildet bei Lichte betrachtet bereits das biblische Erwählungsparadigma. Es stellt gewissermaßen die Tiefendimension aller soteriologischen Explikationen dar. Anders gesagt: Der Bund ist biblisch engstens mit der Erwählung korreliert. Das wird schon in den Väterer107

Grundlegend zur Figur von Analogie und Differenz als Grundmodell theologischen Denkens: W. Huber / H.E. Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, KT 22, München 31988, 157–193. 108 So H.-G. Geyer, Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie (1968), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, (7–21) 7f. 109 R. Hermann, Luthers Theologie. Gesammelte und nachgelassene Werke Bd. 1, hg. von H. Beintker, Göttingen 1967, 161f. 110 D. Schellong (Barmen II und die Grundlegung der Ethik, in: E. Busch u.a. [Hg.], Parrhesia. Karl Barth zum 80. Geburtstag am 10. Mai 1966, Zürich 1966, 491– 521, 507) unterstreicht zu Recht die soteriologische Notwendigkeit der Rede vom Bund: „Damit, daß wir nun vom Bund reden, wird die Stellvertretung davor bewahrt, ein unhistorisches Theologumenon zu werden. Sie ist bezogen auf Gottes Geschichte mit Israel und ereignet sich als Erfüllung dieser Geschichte. Das heißt nicht als Ende der Geschichte überhaupt, sondern als Erneuerung des Bundes und als seine Ausweitung ins Universale. Durch diese Ausweitung bekommt die Erfüllung des Bundes den Charakter eines Friedensschlusses“. Hier ist der Konnex zur politischen Ethik und insbesondere zur Friedensethik gegeben.

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zählungen evident. Der Bund ist die Bekräftigung der Erwählung und Erwählung meint dabei schlicht: Die Gottesbeziehung beginnt, „weil Gott sie eröffnet und eingeht – und aus keinem anderen Grund. Wichtigste Kennzeichen dafür sind die Berufung einerseits und der Bundesschluss als Bekräftigung andererseits. Gen 12,1–3 berichtet von der Berufung Abrams, Gen 15,18 vom Bund, den Gott ihm gewährt. Mit beidem wurden die Abrahamsgeschichten für das Gottesdenken weiter Teile der Bibel sprichwörtlich: Das Verhältnis zu Gott ist allein darauf gegründet, dass Gott dieses Verhältnis gewährt und mit ihm eine Geschichte [story; M.H.] eröffnet.“111 3. Rekreation: Der Bund als Gnadenbund. Karl Barths bundestheologischer (Neu-)Ansatz Mit der im letzten Kapitel geschalteten Verlustanzeige wurde die Differenz von Bund und Vertrag in den Blick genommen. Dabei zeigten sich die keineswegs unproblematischen Folgen der Transformation des Bundes zum Vertrag. Ein bislang lediglich angedeutetes Problem, das den Bund elementar betrifft, im Vertrag hingegen überwunden zu sein scheint, wird noch eigens zu thematisieren sein. Es betrifft die Symmetrie/Asymmetrie-Differenz zwischen Vertrag und Bund. Die Vertragstheorien scheinen gegenüber der Bundestheologie den Vorteil zu haben, dass sie bei der Vertragskonstellation von symmetrischen Verhältnissen ausgehen.112 In der Bibel handelt es sich indes sobald Gott im Spiel ist, ungeachtet dessen, ob es um ein dtn/dtr oder pries-

111

M. Hailer, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 40. 112 Die „Asymmetrie“ bildet hinsichtlich einer Theorie der Sozialbeziehungen ein Grundelement im „Feudalismus“ und meint dort vor allem die Bindung an den „Herrn“. Das berühmte „From Status to Contract“-Theorem (Henry Sumner Maine), das bis heute in den soziologischen Selbstverständigungsdebatten eine Rolle spielt und sich auf die (rechts)geschichtliche Entwicklung von der mittelalterlichen Ständegesellschaft zur liberalen bürgerlichen Gesellschaft bezieht, zeugt davon. Denn die Menschen sind danach in ihrem jeweiligen Status (oben oder unten) zu Schutzgewährung und Gehorsam verpflichtet. Diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Lienemann. Vgl. dazu H.-J. Grosse Kracht, Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften, Bielefeld 2017, 166. Dass von einem feudalistischen Status-Denken heute recht verstandene bundestheologische Ansätze abzugrenzen sind, hat m.E. vor allem Karl Barth klar gesehen.

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terschriftliches Bundesverständnis geht,113 um einen Vertrag zwischen Ungleichen, also keine symmetrische Vertragskonstellation. Zu denken ist hier natürlich vor allem an den Bund Gottes mit Israel. In der Unterordnung des Menschen unter Gott kommt ein Moment zum Tragen, das sich mit der Vorstellung eines Bundespartners schlecht zu reimen scheint.114 Diesem „Problem“ hat sich vor allem Karl Barth gewidmet, vornehmlich in seiner späten Theologie.115 Interessanterweise macht der ansonsten engagierte Bundestheologe Barth in der politischen Ethik kaum Gebrauch von der Bundesmetapher.116 Warum eigentlich nicht? Wie kommt das? Sicherlich hat dies zum einen mit der von Barth abgelehnten Scheidung in Werk- und Gnadenbund zu tun,117 die letztlich die Grundlage für das Kupieren der Bundestheologie auf dem Weg zur „reinen“ Vertragstheorie bildete. Zum anderen schreibt der junge Barth in seinem zweiten Römerbrief: „Nein! Möglichkeit, ihn zu fassen, zu binden, zu verpflichten, in ein reziprokes Verhältnis zu ihm zu treten? Nein! Keine ‚Föderaltheologie‘! Er ist Gott, er selbst, er allein.“118 Hans-Urs von Balthasar hat vom jungen Barth her gefragt: Wie geht Bundestheologie mit dem „reformierte[n] Pathos der absoluten Distanz zwischen Gott und Geschöpf“119 eigentlich zusammen? Diese Frage ist eminent bedeutsam und zugleich produktiv für ein ver113

Insofern sollte die Differenz zwischen P und der dtn/dtr Bundestheologie nicht überstrapaziert werden. Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, GAT 8/2, Göttingen 1992, 517. 114 Vgl. W. Krötke, Gott und Mensch als „Partner“. Zur Bedeutung einer zentralen Kategorie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, ZThK.B 6 (1986), (158–175) 164. 115 Zu Barths Bundestheologie vgl. E. Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996; H.-W. Pietz, Das Drama des Bundes. Die dramatische Denkform in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, NBST 12, Neukirchen-Vluyn 1998; R.H. Reeling Brouwer, Karl Barth and Post-Reformation Orthodoxy, Burlington 2015, 107–147. 116 Von einem bundestheologischen Ansatz bei Barth spricht auch Huber, Gerechtigkeit und Recht, 144–146. 117 Vgl. Barth, KD IV/1, 57–70. 118 K. Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, Karl Barth GA II/47, hg. von C. van der Kooi / K. Tolstaja, Zürich 2010, 570. Was die Motivation dieser Ablehnung Barths im Kontext seiner Auslegung von Röm 11,36 betrifft, so betont er im zweiten Römerbrief, dass die Souveränität Gottes als „Ja“ das „Nein“ zu jeder Form des Verfügens über Gott und eines ihn Bindens bedeutet. Zu fragen ist im Zusammenhang seiner Auslegung von Röm 11,36 übrigens, ob sich im Rekurs auf Hi 41,2 und im expliziten Bezug Barths auf den Leviathan nicht subkutan eine Absage an Hobbes manifestiert. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Mitarbeiter Dr. Kai-Ole Eberhardt. 119 H.-U. von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Köln 21962, 77.

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tieftes Verständnis der Theologie Barths. Auch der späte Barth kann freilich, wie geschehen auf einer Pressekonferenz in Chicago während seines USA-Aufenthaltes im Jahr 1962, vor einer Vermischung warnen: „Christentum heißt: ein Bund, eine Begegnung zwischen Gott und Mensch; und jetzt ist das Problem, Gott und Mensch in ihrer Verbindung zu verstehen, ohne sie zu vermischen.“120 Selbst wenn der alte Barth in seinem „Schwanengesang“121 Gott und Mensch als Partner bestimmt122 und von Gott als Freund des Menschen spricht, dann hebt er die Asymmetrie zwischen Gott und Mensch hervor. Er spricht gar von Gott als dem ersten und dem Menschen als zweiten Partner des Bundes: „In seinem Wort erschließt Gott sein Tun in seinem Bund mit dem Menschen, in der Geschichte von dessen Aufrichtung, Erhaltung, Durchführung und Vollendung – erschließt er eben so sich selbst: seine Heiligkeit, aber auch seine Barmherzigkeit als der Vater, Bruder und Freund, aber auch seine Macht und Hoheit als der Eigentümer und Richter des Menschen, und also sich selbst als des Bundes ersten Partner, sich selbst als den Gott des Menschen. In seinem Wort erschließt er aber auch den Menschen als sein Geschöpf, als den ihm gegenüber zahlungsunfähigen Schuldner, als den in seinem Gericht Verlorenen, aber auch als den durch seine Gnade Gehaltenen und Geretteten und so für ihn Befreiten, so von ihm in Dienst und Pflicht Genommenen – diesen Menschen als seinen Sohn und Knecht, ihn als den von ihm Geliebten und also als des Bundes anderen Partner, kurz: den Menschen als den Menschen Gottes.“123

Die Pointe der Bundestheologie Barths, der übrigens ursprünglich plante, seine Lehre von der Versöhnung Lehre vom Bund zu nennen,124 besteht darin, dass er den Bund Gottes durchgehend als Gnadenbund versteht und sich damit in die Tradition des reformierten Calvin-Schülers Caspar Olevian (1536–1587) stellt, der den Bund in seinem Werk „De substantia foederis gratuiti“ (1585)125 ausschließlich als Gnaden120

K. Barth, Gespräche 1959–1962, Karl Barth GA IV/25, hg. von E. Busch, Zürich 1995, 227. 121 Vgl. K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 31985, 17; 27. 122 Vgl. Krötke, Gott und Mensch als „Partner“, 158–175. 123 Barth, Einführung in die evangelische Theologie, 27f. 124 So E. Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 41986, 391. 125 C. Olevian, De substantia foederis gratuiti inter Deum et electos, Genf 1585; Neuausgabe 1994. Vgl. zu Olevians Bundestheologie J.F.G. Goeters, Caspar Olevian als Theologie, in: H. Faulenbach / W.H. Neuser (Hg.), Beiträge zur Union und zum

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bund beschreibt.126 Weil der Bund ein Gnadenbund ist, präzise deshalb kommt es zu einem Zugleich, zur Dialektik von Ungleichheit und Gleichheit von Gott und Mensch im Bund.127 „Es liegt an seinem Gnadencharakter, nicht abstrakt am Unterschied von Gott und Mensch, daß es ein Bund zwischen ungleichen Partnern ist.“128 Ungleich sind sie, „weil Gott der barmherzige Herr und weil der Mensch der der göttlichen Barmherzigkeit teilhaftige, aber auch bedürftige Partner dieses Bundes ist.“129 Anders gesagt: Der Bund ist, was sein Konstitutionsverhältnis betrifft, als Gnadenbund einseitig, erweist sich aber zugleich, was sein Realisierungsverhältnis betrifft, wiederum als Gnadenbund als zweiseitig.130 „Gnade ist dabei beides: dies, daß er [Gott; M.H.] den Menschen der Gemeinschaft mit ihm würdigt, und dies, daß das allein in reformierten Bekenntnis, UnCo 25, Bielefeld 2006, 215–284; A. Mühling, Caspar Olevian 1536–1587. Christ, Kirchenpolitiker und Theologe, Studien und Texte zur Bullingerzeit 4, Zug 32009, 129–133. 126 Zum Erbe der Föderaltheologie vgl. E. Busch, Der Beitrag und Ertrag der Föderaltheologie für ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung, in: F. Christ (Hg.), Oikonomia. Heilsgeschichte als Thema der Theologie. FS Oscar Cullmann zum 65. Geburtstag, Hamburg–Bergstedt 1967, 171–190; ders., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 71–97; ders., Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 169–181. 127 Vgl. zur negativen Seite dieser Dialektik, die ein Vertragsdenken ausschließt, H.G. Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesus Christi (1973), in: ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.Th. Goebel u.a., Tübingen 2003, (190– 207) 191f.: „Nach Maßgabe der biblischen Überlieferung Alten und Neuen Testaments ist der Zusammenhang oder ‚Bund‘ zwischen Gott und Mensch, von dessen Wirklichkeit die überzeugende Wahrheit mitzuteilen ihren höchsten Zweck ausmacht, absolut nicht ein Erzeugnis von Menschen: es ist nicht ‚der‘ Mensch – weder einer noch einige und auch nicht alle –, der als Mensch das ‚Und‘ zwischen Gott und Mensch hervorbringt. In biblischer Perspektive kommt kein Mensch als Produzent der Einheit von Gott und Mensch in Betracht; weder sind Menschen ihre Urheber und Begründer noch ihre Erhalter und Vollender. Und diese Negation gilt ebenfalls sowohl im Hinblick auf die Wirklichkeit als auch im Hinblick auf die Wahrheit oder Erkenntnis jener Einheit im Grund und Zentrum der gesamten theologischen Thematik.“ 128 E. Busch, Der eine Gnadenbund Gottes. Karl Barths neue Föderaltheologie, ThQ 176 (1996), (341–354) 347. 129 Barth, KD III/1, 177. 130 Vgl. Barth, KD IV/1, 25. Konstitution meint dabei nicht den Akt einer einmaligen creatio originalis, sondern durchaus die creatio continua bzw. conservatio: „Gott hält und bewährt seine Treue ihm [dem Menschen; M.H.] gegenüber nun eben darin, daß er selbst, hinwegsehend und hinweggehend über des Menschen Übertretung, auch für dessen Gegentreue und also für die Erfüllung des Bundes auch von seiner Seite aufkommt und sorgt. So sorgt Gott für seine Ehre. Und er tut es, indem er den Menschen

3. Rekreation

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Gottes Güte, nicht in menschlicher Wahl und Würdigkeit seinen Grund hat. Mit Israel schließt Gott seinen Bund, nicht weil er auf dessen Seite eine Befähigung dafür vorfindet, sondern indem ihm solcher Vorzug fehlt.“131 Gerade als ein von Gott in der Asymmetrie gestiftetes, kann, so die Auskunft Barths, das Bundesverhältnis in seiner Realisierung symmetrisch sein: „Weil Gott selbst zuerst Anwalt und Garant von Partnerschaft ist, kann der Mensch im Bunde mit diesem Gott ein echter Partner sein.“132 Der niederländische Theologe Kornelis Heiko Miskotte pointiert treffend: Bund – das heißt: „Er ist gestiftet! Er ist von einer Seite gekommen! Und doch begründet, bewahrt und schützt er eine Gegenseitigkeit zwischen Gott und Mensch.“133 Barths theologische Dialektik von Asymmetrie und Symmetrie ist atemberaubend. Freilich geht es ihm dabei nicht um eine formale Denkfigur. Barth liebte die Regel „non sermoni res, sed rei sermo subjectus est“134 – „Nicht ist der Rede die Sache, sondern der Sache ist die Rede untergeordnet“. „Demnach muß der Sinn des Bundesbegriff ‚abgelesen‘ werden ‚aus der Bundesgeschichte‘, von der ‚die ganze Bibel Zeugnis gibt‘. Und nicht darf ein vorgefundener Bundesbegriff an sie ‚herangetragen‘ werden“.135 Das relativiert auch und gerade die Tradition der reformierten Föderaltheologie und setzt sie zugleich, insofern sie dies berücksichtigt, zumindest partiell ins Recht. Inhaltlich bestimmt, ist es die umarmende Gegenwart Gottes, die dem Menschen als Partner Freiheit schenkt, welche von Barth mit dem Begriff des Bundes umschrieben wird. Dieser Begriff Bund steht bei Barth für das Zugleich von Erwählung und Verpflichtung und damit für die Dialektik von Evangelium und Gesetz und zwar in dieser Reihenfolge. Barths Bundestheologie hat eine interessante Analogie bei Luther und zwar was den schöpferisch-kreativen Aspekt des Bundes betrifft. Barth betont: „[D]ieser Bund findet Israel als solches nicht etwa schon zu Ehren zieht. Das ist sein Souveränitätsakt in der Versöhnung. Das ist die Gnade Jesu Christi.“ Ders., KD IV/1, 94. 131 Busch, Der eine Gnadenbund Gottes, 347. 132 Krötke, Gott und Mensch als „Partner“, 165. 133 K.H. Miskotte, Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen, übers. von H. Stoevesandt, Neukirchen-Vluyn 1976, 132. 134 Barth, KD I/1, 374. 135 Busch, Der eine Gnadenbund, 345. Vgl. Barth, KD IV/1, 59. Fernerhin Barth, Christliche Ethik, 10: „Die Bibel ist nicht etwa das Gesetzbuch der christlichen Ethik. Jedes Wort, jeder Satz, jede Seite der Bibel wird ihr freilich wichtig sein, aber da­ rum wichtig, weil sie das Dokument, und zwar das unentbehrliche Dokument ist, in welchem wir uns […] die Geschichte Jesu Christi immer wieder in Erinnerung rufen können.“

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

vor, sondern schafft Israel.“136 Dementsprechend akzentuiert Barth, dass Gott den neuen Menschen als Bundespartner schafft: „Und eben das: die Schaffung und Begründung eines im Verhältnis zu Gott, aber eben damit auch in sich selbst neuen menschlichen Subjektes ist tatsächlich das Ereignis der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung.“137 Luther betont in These 28 der „Heidelberger Disputation“ (1518) hinsichtlich des amor Dei: „Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten.“138 Ebenso verhält es sich nach Barth mit dem Bund. Die performative Valenz geht so weit, dass Gott mit dem Bundespartner ein Gegenüber generiert, das zugleich ein echtes partnerschaftliches Gegenüber ist. 4. Fazit: Bundestheologie – ethisch: „A lost tradition“?139 Für das Freiheitsverständnis ist das Bedenken des performierenden, das Gegenüber und damit die Relation generierenden Charakters des Bundes, für das Barth plädiert, folgenschwer. Denn hinsichtlich der Freiheit, die im Bund verortet ist und die nichts anderes als Bundes136

Barth, KD I/2, 88. So auch ders., Die Menschlichkeit Gottes. Vortrag, gehalten an der Tagung des Schweiz. Ref. Pfarrvereins in Aarau am 25. September 1956, Zollikon–Zürich 1956, 12: „Er [Gott in Christus; M.H.] ist der Initiant, Stifter, Erhalter und Erfüller des Bundes […]. Er, der ja auch der Schöpfer dieses seines Partners ist. Er, durch dessen Treue ja auch die Gegentreue dieses seines Partners erweckt und Ereignis wird.“ 137 Barth, KD IV/1, 95. Dort z.T. kursiv. Siehe auch a.a.O., 96: „Denn eben das ist ja der Sinn und die Tragweite der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung, eben das die Kraft des göttlichen Souveränitätsaktes der Gnade: daß Gott sein wahres Sein nicht für sich behalten, sondern als solches zu unserem menschlichen Sein machen und uns eben so zu sich hin umkehren, so den neuen Menschen schaffen, so für das Halten des Bundes auch von unserer Seite sorgen, so uns den Frieden mit ihm geben wollte.“ 138 M. Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe (LDStA) Bd. 1: Der Mensch vor Gott, hg. von W. Härle, Leipzig 2006, 60f.: „Amor Dei non invenit, sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili.“ Nach E. Thaidigsmann (Identitätsverlangen und Widerspruch. Kreuzestheologie bei Luther, Hegel und Barth, GT.FT 8, Mainz/ München 1983, 26–47) bildet die Umkehrung des amor hominis zur Entsprechung zum schöpferischen amor Dei die Summe der Theologie der „Heidelberger Disputation“. Vgl. auch E. Jüngel, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, in: ders., Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. Theologische Erörterungen IV, Tübingen 2000, (83–160) 103f., und in sexualethischer Hinsicht: H. Gollwitzer, Das hohe Lied der Liebe, KT 29, München 41980, 41f. 139 Vgl. Ch.S. McCoy, Federalism. The Lost Tradition?, Publius. The Journal of Fe­ deralism 31/2 (2001), 1–14.

4. Fazit

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partnerschaft meint, gilt nun: „Die ‚Freiheit‘ des menschlichen ‚Vertrauens‘ hat zur Voraussetzung die ‚Freiheit‘ des initiativen göttlichen ‚Versprechens‘. Heteronomie Gottes und Autonomie des Menschen werden damit nicht zu sich ausschließenden Begriffen, sondern zu Aspekten eines einseitig von Gott eröffneten Geschichtsprozesses zwischen ihm und dem Menschen.“140 Diese externe Konstitution der Freiheit lässt sich nicht in einer Vertragstheorie abbilden und genau darin besteht ihr Problem. Wolfgang Kersting hat dieses Problem gesehen, das durchaus in der Fluchtlinie von Rousseaus Bestimmung der benannten „Schwierigkeit“ (difficulté) des Gesellschaftsvertrags liegt und auch Christoph Menkes Problembestimmung nicht unähnlich ist. Kersting stellt fest: „Der philosophische Kontraktualismus – das ist meine grundlegende These – muß ein Argument entwickeln, in dem die objektiven Geltungsanforderungen an den Vertrag, die auf außervertragliche und prinzipiell nicht kontraktualistisch begründbare Gleichheits- und Fairneßprinzipien zurückgehen, berücksichtigt werden, in dem aber auch dem subjektiven Gültigkeitselement der freiwilligen Selbstbindung eine argumentative Funktion zukommt.“141

Gewiss wird man Gott als Bundesstifter und Bundespartner nicht auf ein außervertragliches und prinzipiell nicht kontraktualistisch begründbares Gleichheits- und Fairneßprinzip reduzieren dürfen. Dennoch dürfte Barth auf seine Weise dieser Problemanzeige mit seiner theologischen Konzipierung des Bundes als Gnadenbund in der beschriebenen Dialektik von asymmetrischer göttlicher Konstitution eines symmetrischen Bundesverhältnisses durch eine wiederum asymmetrische Kreation eines freiwilligen, selbstbestimmenden, d.h. symmetrisch realisierten und freiheitlich agierenden Bundespartners entsprochen haben. Thesenhaft zum Abschluss zugespitzt: Eine Ethik des Bundes142 wird genau dann keine „lost tradition“ sein, die zu Recht der Amnesie 140

H.Th. Goebel, Wie verborgen ist der verborgene Gott? Luthers Rede von Gott – theologisch befragt, RKZ 8/1999, (343–350) 348f. 141 Kersting, Zur Logik des kontraktualistischen Arguments, 220. 142 Zu Barths Ethik des Bundes vgl. vor allem B. Klappert, Christliche Ethik der Antwort und der Verantwortung. Karl Barths Ethik des christlichen Lebens als Ethik des Bundes und der Tora, in: H.-J. Barkenings / U.F.W. Bauer (Hg.), Unter dem Fußboden ein Tropfen Wahrheit. FS Johann Michael Schmidt, Düsseldorf 2000, 116– 136; M. Hofheinz, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 91–103.

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

anheimfällt, wenn sie den Bund als Gnadenbund zur Sprache bringt und sich nicht voreilig in das vermeintliche Äquivalent „Vertrag“ übersetzt. Dass bei einem solchen Transformationsvorgang Essentielles verloren geht, wurde gezeigt. Eine Distanz zur Vertragstheorie ist von daher angezeigt. Das Ausschreiten einer Ethik des Bundes als einer Ethik der Gnade könnte, wenn man die Tradition reformierter Bundestheologie zugrunde legt,143 vielmehr so aussehen, dass man sie etwa als „Christliche Ethik in der Perspektive des Dekalogs“144 entfaltet. Sie würde gerade so mit der „story“ des Volkes Gottes ver-bunden, also etwa ins Exodusgeschehen eingeordnet,145 und somit betonen: „Christliche Ethik gründet im Geschenk konkreter heilsgeschichtlicher Befreiung; sie geschieht und entfaltet sich als Praxis verbindlicher Freiheit.“146 Freiheit als Freiheit im Bund Gottes bzw. Freiheit als Freiheit des Bundesvolkes Gottes wäre damit als Zentralbegriff einer solcher Ethik benannt, die der Präambel des Dekalogs Rechnung trägt und zu erkennen gibt: Der Dekalog, „[d]ieses Bundesdokument ist wesentlich eine magna charta der Befreiung [...]. Nur in diesem für sie maßgebenden Zusammenhang der Befreiungsgeschichte [des Exodus] werden sie [die Gebote; M.H.] in ihrem ursprünglichen Sinn verstanden. Mit Legalismus und Moralismus haben sie nicht viel zu tun. Vielmehr mit dem Ringen um ein wahres Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen. […] Sie wehren nicht nur einem nomistischen, sondern auch einem antinomistischen Missverständnis der Freiheit.“147

143

Als Dekalogauslegung hat etwa J. Calvin (Inst. [1559], II,8,1–59) die Ethik entfaltet. So auch J.M. Lochman, Wegweisung der Freiheit. Die Zehn Gebote, Stuttgart 1995, und H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 159–183. 144 Lochman, Wegweisung der Freiheit, 11–18. Vgl. dazu auch R. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik 1, Neukirchen-Vluyn 1993, 259–265. 145 Dass auch auf diesem Weg theologische Vorsicht wird walten müssen, verdeutlicht: G. Sauter, „Exodus“ und „Befreiung“ als theologische Metaphern. Ein Beispiel zur Kritik von Allegorese und mißverstandenen Analogie in der Ethik, EvTh 38 (1978), 538–559. 146 Lochman, Wegweisung der Freiheit, 29. 147 A.a.O., 17. Zur Kritik des Moralismus anhand der „Zehn Gebote“ vgl. auch Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, 194–203.

4. Fazit

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Damit würde zugleich die Vorordnung148 des Evangeliums vor das Gebot erkennbar und der Lobpreis der Tora Gottes (vgl. Ps 1; 19; 119) aufgenommen. „Eine Bundesethik, die in den Zehn Geboten eine Lebens- und Orientierungsform für das christliche Leben entdeckt“149, wäre genau darin explorativ.150 Diverse Themenfelder der materialen Ethik, also nicht nur der politischen Ethik (und insbesondere der Friedensethik), sondern überhaupt der Sozialethik einschließlich etwa der Sexual- und Eheethik, könnten mit dem Dekalog ausgeschritten werden. Solche sozialethischen Themenfelder würden dann nicht nur als Handlungsfelder einer angewandten Vertragstheorie in den Blick genommen, sondern als Freiheitsräume gelebter Humanität, in denen der Bund Gottes Handlungsorientierung gewährt. Eine solche Bundesethik betont also nicht nur, dass sich Menschen im Sinne einer horizontalen Vertragstheorie untereinander verbünden und vertragen sollen, sondern dass sie sich unter dem Bogen des von Gott gestifteten Bundes mit der Freiheit eines Lebens mit Gott auch Handlungsorientierung schenken lassen dürfen. Dabei wäre zu erkunden, wie „sich Gottes Bund in einem Leben entdecken [lässt; M.H.], das im Einklang mit Gottes Treue (Evangelium) und seinem Anspruch (Gebot) steht.“151 Eine solche explorative Ethik möchte neu entdecken, dass „der Bund der Gerechtigkeit Gottes und des Friedens, der mit Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und mit der Geistausgießung in Kraft gesetzt ist, […] für die wache Gemeinde nicht nur eine Chiffre oder eine Wunschvorstellung“ ist.152 Von Emmanuel Lévinas stammt der Satz: „In dem bis zu Ende gedachten Bund, in einer Gesellschaft, die alle Dimensionen des Gesetzes entfaltet, ist die Gesellschaft auch Gemeinschaft.“153 Eine entsprechende Bundesethik wird indes mit dem An148

Bei Barth ist – wie B. Klappert (Promissio und Bund. Gesetz und Evangelium bei Luther und Barth, FSÖTh 34, Göttingen 1976, bes. 67ff.) gezeigt hat – die Vorordnung des Evangeliums vor das Gebot bundestheologisch grundgelegt. 149 Freudenberg, Reformierte Theologie, 171. 150 Auch wird man eine solche Ethik des Bundes nicht einfach als „partikularistisch“ brandmarken können: „Wenn die Heilstat Christi als im Bund Gottes mit den Menschen gegründet gesehen wird, haben wir eine implizit universalistische Betrachtungsweise, da ja der Bund allen gilt und Christus die ganze Menschheit vertritt. Obwohl der Christ als ethisches Subjekt durch seine Zugehörigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft gekennzeichnet ist, gibt es zwischen dieser und der übrigen Menschheit keine grundsätzliche Trennung.“ Andersen, Einführung in die Ethik, 329. 151 Freudenberg, Reformierte Theologie, 171. 152 Welker, Kirche im Pluralismus, 57. 153 E. Lévinas, Jenseits des Buchstabens. Bd. 1: Talmud-Lesungen, übers. von F. Miething, Frankfurt a.M. 1996, 126.

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I. „… der Bund und Treue hält ewiglich.“

fang anfangen154 und dort ansetzen müssen, wo auch der Gottesdienst beginnt.155 Das Adjutorium zu Beginn des reformierten Gottesdienstes verweist auf diesen Anfang, der unlöslich mit dem Bundesgeschehen verbunden ist: den Namen Gottes, „der Himmel und Erde gemacht hat, / der Bund und Treue hält ewiglich / und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände.“

154

Vgl. zu diesem Motiv der Theologie Karl Barths M. Hofheinz, „Er ist unser Friede“, 130ff. Jetzt auch: E. Busch, Mit dem Anfang anfangen. Stationen auf Karl Barths theologischem Weg, Zürich 2019. 155 D. Schellong (Art. Ethik B. Aus evangelischer Sicht, NHThG 1 [1991], 408– 417, 415) mahnt: „Evangelische Ethik wird in der permanent revolutionären Neuzeit mit Geschichtsdeutungen zurückhaltend umgehen müssen und sich auch nicht in eine bestimmte Philosophie einschreiben können, vielmehr wird sie wieder mit den Anfängen anzufangen und ihr Hauptaugenmerk auf den Zusammenhang mit der Evangeliumsbotschaft zu richten haben.“

II. Die „Politica“ des Johannes Althusius (1563–1638) Eine Vision des symbiotischen Zusammenlebens Für Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein zum 75. Geburtstag

1. Einleitung Johannes Althusius war nicht nur der Prototyp dessen, was man sich unter einem strengen reformierten Juristen vorstellt. Er war zugleich ein in seiner politischen Theoriebildung seiner Zeit weit vorauseilender „Visionär“. Diese These möchte ich im Folgenden entfalten. Sie stammt allerdings nicht von mir, sondern wurde bereits u.a. von H. Hollenstein und L. Bretherton vertreten.1 Hollenstein etwa kann von der althusianischen Vision eines symbiotischen Zusammenlebens sprechen;2 Bretherton identifiziert bei Althusius eine „‚consociational‘ vision of sovereignty“3, die sich auf „the art of living together“4 beziehe und von der gelte: „It draws on the rich scriptural and theological trope of covenant.“5 Doch was genau verbirgt sich hinter der althusianischen Vision? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt der folgenden Darlegungen. Ich möchte versuchen, sie zu beantworten und dabei zugleich einen kurzen Überblick6 über Leben und Werk des Althusius vor allem 1

K.-W. Dahm (Johannes Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter als Vordenker der Demokratie, in: ders. u.a. [Hg.], Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie. Beiheft 7, Berlin 1988, 21–41, 34) kann vom „Leibild“ sprechen. 2 H. Hollenstein, Die „Politica“ des Johannes Althusius: Eine Vision und ihre Voraussetzungen, in: ders., Des Keisers fürstliches Versteck und andere Beiträge, Bad Berleburg 2005, 26–42. 3 L. Bretherton, Christ and the Common Life. Political Theology and the Common Life, Grand Rapids / Cambridge 2019, 167. 4 A.a.O., 168. Vgl. a.a.O., 295: „Johannes Althusius’s conception of politics [is] inherently consociational: humans depend on determinate forms of life together with others if they are to survive, let alone thrive.“ 5 A.a.O., 168. 6 Zur Einführung sei besonders empfohlen: H. Hollenstein, Johannes Althusius: sein Leben und Denken – ein kurzer Überblick, in: ders., Des Keisers fürstliches Ver­ steck und andere Beiträge, Bad Berleburg 2005, 17–25; Dahm, Johannes Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter als Vordenker der Demokratie, 21–41; J. Witte, Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus, übers. von A. Glaw, Theologische Anstöße 8, Neukirchen-Vluyn 2015, 175–248. Vgl. auch M. Hofheinz, Johannes Althusius (1563–1638) – Sein Leben und Werk in Grund­

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

zu seiner politischen Theoriebildung nach seinem Hauptwerk, der „Politica“, zu geben. Dazu beginne ich mit einem kurzen biographischen Abriss. 2. Der biographische Rahmen der Vita Johannes Althusius’ und der „Sitz im Leben“ seiner Vision Johannes Althusius wurde 1563 als Sohn des gleichnamigen Müllers in Diedenshausen bei Berleburg in der Grafschaft Wittgenstein-Berleburg geboren. Er stammt aus einem durch und durch bäuerlich-ländlichen Milieu in einem grenznahen Bereich zwischen Wittgenstein und Hessen. Es dürfte keineswegs unerheblich sein, dies zu erwähnen, zumal Althusius’ Vision hier, in der auf Selbständigkeit erpichten und durch Nachbarschaftshilfe geprägten „intakten“ Gemeinschaft eines Grenzdorfes, ihren „Sitz im Leben“ hat. Zugleich waren dort Grenzstreitigkeiten an der Tagesordnung, die in Rechtsauseinandersetzungen mündeten und die Notwendigkeit des Rechts (bezogen etwa auf Steuerabgaben, aber auch die Lebensbereiche Jagd, Wald und Wasser) in seiner pazifizierenden Funktion und die Unentbehrlichkeit der juristischen Berufsgruppe täglich neu demonstrierten.7 K.-W. Dahm hat zutreffend auf die Bedeutung der dörflichen Mentalität und der non-urbanen Lebensformen in den nassauischen Grenzgebieten für die Genese von Althusius’ gemeinschaftsbezogenen Ideen hingewiesen: „In den Grenzmarken konnte sich eine auf mehr Freiheit und Genossenschaftlichkeit gerichete Sozialstruktur herausbilden, weil man den Grenzbauern schon um ihres eigenen Verteidigungswillens mehr Freiheit und Eigenständigkeit beließ als den leibeigenen Landwirten. Solche Freibauern-Siedlungen sind für viele Teilgebiete des nassauisch-wittgensteinischen Grenzraumes belegt, vor allem für die Haigermark, einschließlich des siegerländischen ‚Freien Grundes‘, in dessen Namen schon diese Tendenz erkennbar ist.“8 Diese intrikaten Entstehungszusammenhänge betreffen also nicht nur die wittgensteinsche Heimat des Althusius, sondern auch seinen späteren siegerländisch-nassauischen beruflichen Betätigungsraum mit seiner eigenständigen Genossenschaftskultur, der sog. „Haubergswirtschaft“. Zu Recht fragt Dahm, „ob Althusius nicht schon in seiner dörfzügen, in: ders. / U. Lückel in Verbindung mit A. Detmers (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 131–147. 7 Vgl. Hollenstein, Johannes Althusius: sein Leben und Denken, 18. 8 Dahm, Johannes Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 27f.

2. Der biographische Rahmen der Vita Johannes Althusius’

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lichen Heimat bestimmten Formen dieser Genossenschaftsmentalität begegnet sein muß und welchen Einfluß dieser Erfahrungshintergrund auch für diejenigen ‚symbiotisch‘-genossenschaftlichen Vorstellungen hat, in denen sich Althusius von politisch ähnlich denkenden Zeitgenossen unterscheidet.“9 Jedenfalls erinnere der ständige Hinweis des Althusius auf gegenseitiges Aushelfen und Aufeinanderangewiesensein „überdeutlich an jene engen und kooperativen Nachbarschaftsbeziehungen der nassauischen Grenzdörfer, auf die gerade die relativ freien und selbständigen Kleinbauern schon um der knappen Ressourcen an Land und Vieh willen unabdingbar angewiesen waren.“10 Der nähere Blick jedenfalls auf Althusius’ Wittgensteiner Heimat und späteres siegerländisch-nassauisches Wirkungsfeld mit seinen besonderen Mentaliäts- und Rechtsstrukturen verweist auf die Notwendigkeit, die besondere Entstehungsituation der althusianischen „Vi­ sion“ zu berücksichtigen. Der hier präsentierte biographische Rahmen der Vita des Althusius darf dies nicht ausblenden. Althusius erfuhr noch als Kind Förderung durch den Landesherrn Graf Ludwig den Älteren von Sayn-Wittgenstein (1532–1605) und dessen Bruder Georg, Domprost und Propst zu Köln.11 1577 besuchte er zunächst das Pädagogium in Marburg. Später studierte er in Köln, Basel und Genf. In Basel schloss er sein Studium mit der Promotion zum Doktor beider Rechte (Dr. iur. utr.) ab mit Verteidigung seiner Thesen über die Intestaterbfolge („De successione ab intestato“). Noch in demselben Jahr erschien sein wissenschaftliches Erstlingswerk, die später als „Iurisprudentia Romana“ bezeichnete „Iuris Romani libri duo“. Althusius erhielt daraufhin einen Ruf an die neugegründete Hohe Schule zu Herborn („Academia Nassauensis“) als Dozent für Jurisprudenz, nach heutigem Verständnis für Staatsrecht und Politologie. Deren Gründung ging auf die Initiative des nassauisch-dillenburgischen Landesherrn Graf Johann VI. (den Älteren) (1536–1606), einen Bru9



A.a.O., 28. Ebd. Vgl. auch M. Hofheinz, Denk-mal! Stellungnahme zur Idee einer „Doppel-Skulptur“ für Caspar Olevian und Johannes Althusius auf dem Bad Berleburger Olevianplatz, Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V. 110 (2021), im Erscheinen. 11 Vgl. G. Menk, Johannes Althusius und die Grafschaft Wittgenstein, in: J. Burkhardt / B. Hey (Hg.), Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz, BWFKG 35, Bielefeld 2009, 9–39. Zur dörflichen Mentalität des nassauisch-wittgensteinschen Grenzgebiets vgl. auch Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 27f. 10

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

der des berühmten Wilhelm von Oranien (1533–1584), des „Befreiers der Niederlande“ vom habsburgischen Spanien, zurück und wurde nachhaltig von dessen Schwiegervater, Ludwig dem Älteren von Sayn-Wittgenstein, unterstützt. Die „Johannea“ bildete neben Genf und Leiden das dritte intellektuelle Zentrum des reformierten Kirchentums in Europa. Die calvinistisch geprägten Herrscher setzten damals auf eine starke Bildungs- und Erziehungsoffensive in ihren Territorien und der Müllersohn Althusius wurde erneut unmittelbarer Nutznießer dessen. „Althusius schien […] offenbar wie kein anderer in der Lage, die theologisch-calvinistische Zielsetzung der Hohen Schule, wie sie zunächst von den Theologen Caspar Olevian und Wilhelm Zepper, darauf namentlich von Johann Piscator vertreten wurde, in juristische und politiktheoretische Kategorien zu übertragen.“12 Die Anstellung als Institutionarius an der Hohen Schule ging wohl vor allem auf das Betreiben Caspar Olevians (1536–1587), des berühmten Bundestheologen und Gründungsrektors der „Johannea“ sowie vormaligen Hofprediger in Berleburg, zurück. Von 1588–1592 wirkte Althusius als ordentlicher Professor (Professor iuris) an der „Johannea“ und nach einem vierjährigen Intermezzo an der Hohen Schule Steinfurt im Münsterland (1592–1596)13 erneut in Herborn bzw. Siegen (1596–1600 in Siegen, 1600–1604 in Herborn), wohin die Hohe Schule aufgrund der Pest ausweichen musste. 1596 erfolgte die Heirat mit der Witwe Margarethe Kessler (1574–1624), Tochter des angesehenen Siegener Rentmeisters Friedrich Naurath. Im Jahr 1603 erschien im Verlag Corvinus in Herborn das staatstheo­ retische bzw. politikwissenschaftliche Hauptwerk des Althusius, die „Politica methodice digesta“14. Kurz darauf (1604) wurde Althusius als Stadtsyndikus (oberster Regierungsbeamter) nach Emden berufen, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1638 wirkte.

12

D. Wyduckel, Einleitung, in: Johannes Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2002, (VII–XLVII) X. 13 H.J. Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie. Beiheft 7, Berlin 1988, 147– 160. 14 J. Althusius, Politica methodice digesta, atque exemplis sacris et profanes illustrata, 2. Neudruck der 3. Auflage Herborn 1614, Aalen 1981; J. Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2003.

2. Der biographische Rahmen der Vita Johannes Althusius’

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Emden hatte 1595 eine Revolution erlebt.15 Als Reaktion auf massive Steuererhöhungen und Gesetzesverschärfungen setzten die Emder Bürger, angetrieben von Menso Alting, dem Prediger und politischen Kopf der Stadt, den vom Grafen Edzard II. (1532–1599) eingesetzten Rat der Stadt Emden ab.16 Sie nahmen die gräfliche Burg der Cirksena, des herrschenden ostfriesischen Adelsgeschlechts, ein und zwangen den Grafen, seine Residenz nach Aurich zu verlegen und auf einen Großteil seiner Rechte in Emden zu verzichten. Wiederum hing das Schicksal Emdens eng mit dem der Niederlande zusammen: „Die Emder Revolution von 1595 und der an sie anschließende Kampf um die städtische Unabhängigkeit war eine Nebenfrucht des niederländischen Freiheitskampfes in der Epoche des sich ausbildenden europäischen Absolutismus.“17 Dementsprechend bewegte sich Emden nun im politischen Kräftefeld zwischen den um Unabhängigkeit von Spanien ringenden Niederlanden und dem lutherischen Grafenhaus. Emden wurde eine quasiautonome Stadtrepublik und als solche die Wahlheimat von Althusius. Seine Politik zielte auf die Stabilisierung von deren Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Als es etwa unter dem nach Aurich vertriebenen Grafen Enno III. (1563–1625) und dem gräflichen Kanzler Thomas Franzius (1563–1614) erneut zu dem Versuch kam, die Suprematie des ostfriesischen Grafen in Emden wiederherzustellen, wurde Althusius zum entschiedenen Verteidiger der Emder Freiheiten. Das Widerstandsrecht, welches er in seiner „Politica“ grundgelegt hatte, gelangte zur Anwendung. Als Syndikus war Althusius der erste Beamte im Rathaus mit breitem Zuständigkeitsbereich und darüber hinaus Mitglied des Magis­ trats, wenn auch ohne Stimmrecht. Der Magistrat und das Presbyteri15

Zur „Emder Revolution“ vgl. den Band H. van Lengen (Hg.), Die „Emder Revolution“ von 1595. Kolloquium der Ostfriesland-Stiftung am 17. März 1995 zu Emden, Aurich 1995. 16 Zu den politischen Emanzipationsversuchen der Hafenstadt Enden vgl. W. Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1576 bis 1611, in: K. Brandt u.a., Geschichte der Stadt Emden Bd. 1, Ostfriesland im Schutz des Deiches. Beiträge zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Ostfriesischen Küstenlandes Bd. 11, Leer 1994, 273–336; B. Kappelhoff, Emden als quasiautonome Stadtrepublik 1611 bis 1749. Geschichte der Stadt Emden Bd. 2, Ostfriesland im Schutz des Deiches. Beiträge zur Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des Ostfriesischen Küstenlandes Bd. 11, Leer 1994; S. Bildheim, Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, EHS III/904, Frankfurt a.M. 2001, 245–267. 17 H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens. Erster und zweiter Teilband, Göttingen 1996, 162f.

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

um (der Emder Kirchenrat) waren für Althusius das caput rei publicae, das Haupt des Emder Stadtstaates. Man mag fragen: Welche Absicht und welches übergeordnete Konzept leitete Althusius damals als Emder Syndikus? G. Menk bemerkt dazu: Es steht „doch außer Zweifel, daß seine Absichten nicht auf die Abtrennung der gesamten Grafschaft gerichtet waren – gerade dies lag weit ab von seinem Interesse. Hingegen lag das Zugehen auf die [niederländischen] Generalstaaten, die seit 1603 beständig zur vermittelnden Instanz zwischen Emden und dem Grafenhaus wurden, ganz in der Linie seiner ‚foederal‘ geprägten Staatstheorie. Das ‚foederale‘ Moment fand nämlich nicht nur innerhalb der Wetterauer Grafschaft [zu der Wittgenstein und Nassau-Dillenburg gehörten; M.H.] Anwendung, wo es zur Verstärkung des vornehmlich von nassauischer und wittgensteinischer Seite betriebenen institutionellen Verstärkungsprozesses dienen sollte, sondern die hier benutzten Muster ließen sich auch leicht auf das Verhältnis zwischen den Generalstaaten und der Emder Stadtrepublik anwenden.“18

Interessanterweise herrschte, was die Beurteilung von Althusius’ Wirken in Emden betrifft, in der älteren Forschung eher eine negative Einschätzung vor. So urteilt etwa H. Antholz nicht zuletzt auf dem Hintergrund des Ständekampfes und dessen Nachhutgefechten: „[Es] läßt sich eben nicht übersehen, daß der Syndicus Reipublicae Embdensis jahrzehntelang […] die radikale Politik eines Stadtregiments vertrat, welches sich nicht nur nach außen gegen absolutistische Souveränitätsansprüche des Landesherrn, sondern auch nach innen gegen weiten Unmut und wiederholte Aufstände der Bevölkerung nur mühsam im Sattel hielt.“19 Und, so Antholz weiter, der eine Oligarchisierung bei Althusius meint erkennen zu können: „Die staatsabsolutistische, antidemokratische Einstellung des Staatspolitikers und die demokratische und antiabsolutistische Einstellung des Ständepolitikers – dieser auffallende Widerspruch in Althusius’ Wirksamkeit läßt sich 18

G. Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich. Das Leben und die politische Theorie des Johannes Althusius, in: H. van Lengen (Hg.), Die „Emder Revolution“ von 1595. Kolloquium der Ostfriesland-Stiftung am 17. März 1995 zu Emden, Aurich 1995, (49–94) 87f. 19 H. Antholz, Althusius als Syndicus Reipublicae Embdae. Ein kritisches Repetitorium, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie Beiheft 7, Berlin 1988, (67–88) 71. So auch Bildheim, Calvinistische Staatstheorien, 266.

3. Die Grundlegung der althusianischen Vision

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nur dann verstehen, wenn man beide konträren politischen Grundhaltungen in den Dienst seines einen Hochzieles, nämlich der freien Emder Republik, gestellt sieht. […] Seltsam verbinden sich so reaktionäre Starrheit und revolutionäres Pathos.“20

Inzwischen ist diese negative Einschätzung vor allem durch M. Behnen relativiert worden. Althusius sei schließlich nicht allein für die Gestaltung der Emder Politik mit ihrer diffizilen Interessenvernetzung verantwortlich gewesen. Allerdings hätte Althusius erkennen müssen, dass Emdens Spielraum sehr viel knapper bemessen war, als er glaubte. Letzten Endes aber klingt auch Behnens abschliessende Einschätzung nur sehr gebrochen positiv: „Der gelehrte Syndikus Johannes Althusius fand in der Stadt Emden ein seiner angeborenen Wittgensteiner Mentalität, seiner unverdrossenen Tatkraft und seinem schwerblütigen Temperament gemäßes reiches und zugleich auch dorniges Aktionsfeld. Er wirkte für diese Stadt und über sie hinaus mehr als drei Jahrzehnte lang – unverzagt auch nach dem Tode seiner Frau, vielen seiner Mitbürger ein Beispiel für reformiertes Berufsethos, auch mit seinen unverkennbaren Schattenseiten.“21

3. Die Grundlegung der althusianischen Vision Vom Politiker Althusius nun zur „Politik“ des Althusius. Bei seinem Hauptwerk, der „Politica methodice digesta“ (1603, 21610, 31614), handelt es sich um die erste deutsche Gesellschaftslehre auf der Grundlage calvinistischer Theologie, naturrechtlicher Vorstellungen und der Philosophie bzw. Logik des Petrus Ramus (1515–1572). In der „Politica“ gewinnt die Vision des Althusius Gestalt. Sie ist alles andere als absolutistisch grundiert. Dementsprechend geht Althusius zur ratio­ nalistischen Souveränitätslehre Jean Bodins (1530–1596) und seiner Vorstellung vom Herrscher als legibus absolutus auf Distanz.22 Ja, Al­ thusius wendet sich entschieden gegen frühabsolutistische Tendenzen. 20

H. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 32, Aurich 1955, 228; 221. 21 M. Behnen, Status regiminis provinciae. Althusius und die „freie Republik Emden“ in Ostfriesland, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, (139–158) 157. 22 Zur Abgrenzung gegenüber Bodin vgl. J. Althusius, Politica XXXVIII,124–130. Zu Bodin vgl. auch Th. Maissen, Souveräner Gesetzgeber und absolute Macht. Calvin,

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

Seine Vision vom gelingenden Zusammenleben sieht anders aus. Die maiestas (höchste Staatsgewalt) und die ihr zugehörigen Befugnisse (iura maiestatis)23 habe die Gesellschaft als ganze inne;24 Althusius ist der erste, der in Richtung einer Volkssouveränität denkt.25 Das Recht zum Regieren sei durch den (Herrschafts-)Vertrag nur an die Obrigkeit delegiert (Repräsentationsprinzip), so dass das Volk ein Widerstandsrecht gegen die tyrannische Obrigkeit habe.26 Durch das pactum mandati, den idealen wechselseitigen Vertrag von Repräsentation und Aufsicht, werden die Befugnisse nach Althusius’ Vorstellung auf verschiedene Ebenen und Instanzen verteilt, was ansatzweise zu einer Gewaltenteilung führt.27 Subsidiarität und Föderalismus zeichnen sich am Horizont des althusianischen Denkens als die beiden Ordnungsprinzi-

Bodin und die mittelalterliche Tradition, in: Ch. Strohm / H. de Wall (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Berlin 2009, 91–113. 23 Vgl. D. Quaglioni, Majestas (Jura Majestatis), in: C. Malandrino / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 245–260. 24 Vgl. Althusius, Politica XXXVIII,126. 25 A. von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 60) sieht bei Althusius eine Kombination aus naturrechtlichem Kontraktualismus mit der Idee der Volkssouveränität gegeben, „die sich allem Traditionalismus zum Trotz im weitreichenden Widerstandsrecht Geltung verschafft.“ 26 Zur Widerstandslehre bei Althusius vgl. jetzt D. Schönberger, Widerstand als Gehorsam? – Umrisse der politischen Widerstandslehre des Johannes Althusius in sozial- und ideengeschichtlicher Perspektive, in: H. de Wall (Hg.), Recht, Obrigkeit und Religion in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 118, Berlin 2019, 11–44. 27 So Ch. Strohm, Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in calvinistischen Abhandlungen zum Widerstandsrecht, in: A. De Benedictis / K.-H. Lingens (Hg.), Wissen, Gewissen und Wissenschaft im Widerstandsrecht (16.–18. Jh.) / Sapere, coscienza e scienza nel diritto di resistenza (XVI–XVIII sec.), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Bd. 165, Frankfurt a.M. 2003, (141–174) 173. Von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, 60) spricht von einer „Vorform der späteren Theorie der Gewaltenteilung“.

3. Die Grundlegung der althusianischen Vision

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pien der Gewaltenteilung ab.28 Althusius gilt deshalb als „Vordenker der Demokratie“.29 Dabei erweist sich die Staats- und Souveränitätslehre des Althusius als anthropologisch sorgfältig grundgelegt. Auf ihrer Grundlage verdeutlicht Althusius: Nicht etwa die maiestas und die ihr zugehörigen Befugnisse (iura maiestatis) sind das Konstituens einer Gesellschaft, sondern die diese ordnende consociatio symbiotica. Menschen (als Individuen und Rechtspersonen) sind in Reziprozität und Partizipation aneinander gewiesen30 und zwar von frühster Geburt an: „Denn wenn der Mensch geboren wird, ist er jeder Hilfe beraubt, nackt und wehrlos gleich einem Schiffbrüchigen, der seine ganze Habe verloren hat. Er wird in die Mühsale des Lebens hinausgestoßen, kann allein weder die Mutterbrust erreichen, noch die Unbilden der Zeit ertragen oder sich mit den Füßen von der Stelle, von der er geboren ist, fortbewegen, ist zu nichts anderem imstande, als ein überaus klägliches Leben unter Jammer und Tränen zu beginnen, hin zu dem sichersten Vorzeichen drohenden Unglücks. Bar jeden Rats und jeder Hilfe, die er gerade dann so nötig hat, ist er unfähig, sich

28

Freilich fallen diese beiden Begriffe nicht explizit, sondern nur der Sache nach bei Althusius. So auch von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 59f. H. Kress (Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 10, Stuttgart 2018, 19f.) bemerkt nicht ohne konfessionelle Polemik: „Geistesgeschichtlich trifft es indessen nicht zu, wenn katholische Stimmen suggerieren, das Subsidiaritätsprinzip sei eine originär katholische Idee. Denn der Sache nach fand sich dieser Gedanke bereits bei dem evangelisch-reformierten Naturrechtslehrer Johannes Althusius, dessen für die Staatslehre interessante Ideen im 19. Jahrhundert von dem Juristen Otto von Gierke (1841–1921) wiederentdeckt worden sind.“ Zur Subsidiarität vgl. W. Blum / H.P. Gaisbauer / C. Sedmak, Subsidiarität. Tragendes Prinzip menschlichen Zusammenlebens, Regensburg 2021. 29 Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 21. 30 Die Gedanken des Althusius erinnern aus heutiger Sicht in mancherlei Hinsicht an den sog. „Kommunitarismus“, etwa wenn Alasdair MacIntyre von „Dependent Rational Animals“ spricht und von den „virtues of acknowledge dependence“. So A. MacIntyre, Dependent Rational Animals: Why Humans Beings Need the Virtues, Chicago 1999, 8. Auch L. Bretherton (Resurrecting Democracy: Faith, Citizenship, and the Politics of a Common Life, Cambridge 2015, 381) beobachtet Parallelen zwischen Althusius und MacIntyre, der sich allerdings m.W. nie mit Althusius selbst beschäftigt hat. Was den Kommunitarismus betrifft, so ist auch nach Athusius ein Rückzug ins Private, ohne öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, inhuman. Das Leben der Mönche und Eremiten lehnt Althusius ab (vgl. Althusius, Politica, I,25; I,28). Der/die Einzelne solle den Empfang vorgetaner Arbeit und unverdienter Güte(r) wiedergutmachen. Nachdrücklich spricht er sich für die vita activa aus. Vgl. Althusius, Politica I,24.

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

selbst zu helfen, es sei denn, dass ein anderer sich seiner annimmt und ihm beisteht.“31

Kommunitaristisch anmutende Grundüberzeugungen wie das Eingebunden-Sein des Menschen in einen gemeinschaftlichen Kontext und die anthropologische Prämisse der Relationalität werden hier klar ersichtbar. Die aristotelische Rede vom Menschen als zoon politikon bzw. ani­ mal sociale32 basiert Althusius zufolge auf dieser anthropologischen Konstanten, die er mit der menschlichen Hilfsbedürftigkeit gegeben sieht.33 Der Mensch ist nach Althusius freilich nicht einfach nur Mängelwesen, sondern auch ein zum interpersonalen Zusammenschluss befähigtes Wesen. Ebenso ursprünglich wie seine Hilfsbedürftigkeit sei die entsprechende Befähigung, so dass beides zugleich den Naturzustand des Menschen ausmache. Althusius umschreibt diesen Naturzustand wie folgt: „Solange der Menschen allein lebt und sich nicht der Gemeinschaft anderer anschließt, kann er bei einem solchen Mangel so vieler notwendiger und nützlicher Dinge nicht angemessen und gut leben. Da er aber Heil und Hilfe im symbiotischen Gemeinschaftsleben (vita symbiotica) findet, wird er dazu angeregt und gleichsam gedrängt, sich diesem Leben zu widmen, wenn er begehrt, angemessen und gut, ja überhaupt zu leben, und auf diese Weise zur Betätigung der Tugenden veranlasst, die sich nur in der Symbiose entfalten können. So beginnt der Mensch, über die Mittel nachzudenken, mit deren Hilfe eine symbiotische Gemeinschaft, die so viel Nutzen und Gewinn verspricht, eingerichtet, gepflegt und bewahrt werden kann. Hiervon wollen wir im Folgenden durch Gottes Gnade berichten.“34

Hier hebt nun die Schilderung der Vision des Althusius in der „Politica“ an. Der Mensch braucht also Hilfe. Als Einzelkämpfer ist er verloren. Nach Althusius erweist sich der Mensch seiner Natur nach immer schon als ein geselliges Wesen, ein „Herdentier“ (animal gregabile). Er wurde zur Pflege der Gemeinschaft mit anderen Menschen, zu ei31

Althusius, Politica I,4. Zit. nach Politik, 24. Aristoteles, Politik I,2; III,6. 33 Althusius (Politica I,32) kann gar konstatieren: „Denn der Mensch ist geselliger als jede Biene und jedes Herdentier und schon von daher kraft seiner Natur ein gesellschaftliches Lebewesen, weit mehr als Bienen, Ameisen, Kraniche und andere zu ihrer Erhaltung und ihrem Schutz zusammenlebende Tierarten.“ Zit. nach Politik, 30. 34 A.a.O., I,4. Zit. nach Politik, 24f. Kursivierung: M.H. 32

4. Konturen der althusianischen Vision

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nem symbiotischen Zusammenleben (vita symbiotica) geboren: „Die Symbioten (symbiotici) sind also einander Helfende (gr. symboēthoi), die durch das Band eines sie eng zusammenschließenden Vertrages (pactum) dasjenige in die Gemeinschaft einbringen, was einer für Leib und Seele förderlichen Lebensführung angemessen ist mit dem Ziel, daran Anteil zu nehmen und zu geben.“35 Nach Althusius bringt der Mensch eine ursprüngliche Bereitschaft zur „Symbiose“,36 zur Lebensgemeinschaft mit anderen (consociatio) mit. Althusius erblickt die genuin rechtsschöpferische Kraft des sich selbst organisierenden menschlichen Gemeinschaftslebens in den consociationes: „Gegenstand der Politik ist daher für Althusius die Lebensgemeinschaft (consociatio), in der die Symbioten sich in einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag untereinander zur wechselseitigen Teilhabe verpflichten, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist.“37 Dementsprechend lautet die vielzitierte Politik-Definition des Althusius: „Politik ist die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie Lehre vom symbiotischen Leben (symbiō­ tikē) genannt.“38 4. Konturen der althusianischen Vision Ethikgeschichtlich gilt Althusius als früher Vertragstheoretiker (Kontraktualist), der in der Tradition der reformierten Föderaltheologie steht. So verweist etwa H. Kress darauf, dass motivgeschichtlich bei Althusius „die reformierte Föderaltheologie eine Rolle [spielt], die an die alttestamentliche Vorstellung des Bundes Gottes mit seinem erwählten Volk Israel erinnerte, so dass analog ein Bund Gottes mit den Menschen bzw. mit dem Volk auch für die eigene Gegenwart behauptet werden konnte. Hiermit wurde die neuzeitliche Theorie vorbereitet, die das staatliche Zusammenleben der Menschen fiktiv auf einen ‚Bund‘, nämlich einen von den Bürgern geschlossenen Gesell-

35

A.a.O., I,6. Zit. nach Politik, 25. Vg. C. Malandrino, Symbiosis (Symbiotiké, Pactum), in: ders. / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 339–352. 37 Althusius, Politica I,2. Zit. nach Politik, 24. Kursivierung: M.H. 38 A.a.O., I,1. Zit. nach Politik, 24. Kursivierung: M.H. 36

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

schafts- oder Herrschaftsvertrag gründete.“39 Die Frage, wie sehr Al­ thusius der föderaltheologischen Tradition verhaftet ist, erweist sich allerdings forschungsgeschichtlich als umstritten.40 Dass Althusius indes die föderaltheologische Ansicht teilt, dass Gott und Mensch im Bund stehen, und seine Konzeption föderaltheologsiche Elemente beinhaltet, ist unbestritten.41 Dass der Bund den Ort des Zusammenlebens bildet, davon ist auch Althusius überzeugt. Er setzt dies in seiner Vision vo­ raus. Sie gewinnt von daher Kontur. So zielt auf das symbiotisch-friedvolle Zusammenleben „verbündeter“ Menschen ab.42 Der Bund bzw. Vertrag hat pazifizierende Wirkung: Wer sich miteinander verbündet, „verträgt“ sich. Es geht Althusius um „eine symbiotische Gemeinschaft, in der organische Wechselbeziehungen den gesellschaftlichen Körper durchströmen wie der Blutkreislauf unseren physischen Körper. Daß ein solch pulsierendes Leben die vertrockneten Strukturen des hierarchischen Gesellschaftsgefüges wieder menschlicher macht, ist für Althusius eben Aufgabe der Politik; anders gesagt, Reziprozität muß in Verfahren und Verträge eingebaut sein.“43

Es stellt sich nun natürlich die Frage, wie die Gesellschaft in ihren sozialen Strukturen aufgebaut sein sollte, so dass sich das symbiotische Zusammenleben der Menschen politisch-gesellschaftlich realisieren lässt. Althusius zufolge sollten sich die menschlichen Gemeinschaftsordnungen „von unten nach oben“ und nicht umgekehrt aufbauen. Der Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung beginnt „unten“ im breiten Volksganzen. Diese gliedert sich stufenweise von der Familie über 39

H. Kress, Staat und Person, 41. Vgl. auch J. Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, 311f. 40 Vgl. dazu meine Auführungen im Kap. 6 dieses Buches. 41 Ch. Strohm („Calvinistische“ Juristen. Kulturwirkungen des reformierten Protestantsimus, in: I. Dingel / H.J. Selderhuis [Hg.], Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, VIGM 84, Göttingen 2011, 296–312, 298) weist freilich darauf hin, dass die Bundestheologie weder im Aufbau der „Politicia methodice digesta“ noch bei der Begründung des Widerstandsrechts eine relevante oder gar konstitutive Rolle spielt. Ähnlich ders., Calvin und die reformierten Juristend es 17. Jahrhunderts, in: M.  Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RTH 9, Göttingen 2011, (222–239) 225f. 42 Vgl. D. Neri, Das Gemeinschaftsprinzip und das Friedensproblem in föderalistischer Sicht, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, 119–136. 43 Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 34.

4. Konturen der althusianischen Vision

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die Nachbarschaft, berufliche Zünfte, Genossenschaften, Bezirks- und Landschaftsverbände bis hinauf zum Staat: „Ausgangspunkt der gestuften Ordnung sind Ehe, Familie und Verwandtschaft, worauf die kollegial-beruflichen Lebensbeziehungen in den Blick gefasst werden, um von da aus zu den bürgerschaftlich-politischen Verbandsbildungen fortzuschreiten, die ihren Höhepunkt und Abschluss im umfassenden staatlichen Gemeinwesen finden. Zentrale Kategorie, mit der Althusius diesen komplexen Zusammenhang erfasst, ist die von ihm bewusst so genannte consociatio, eine Form der Gemeinschaftsbildung, die das strukturelle Rückgrat des Ganzen darstellt und alle Ordnungsformen von der kleinsten, einfachen über die größere zusammengesetzte bis zur umfassendsten größten des gesamten Gemeinwesens umschließt.“44

Diese gestufte Ordnung bildet sich im Aufbau der „Politica“ ab: Die Kap. 2–4 behandeln die private Gemeinschaft (Ehe, Verwandte, Kollegen), die Kap. 5–6 auf der nächsthöheren Ebene die öffentliche kleine Gemeinschaft, d.h. die körperschaftliche Gemeinschaft in Stadt und Provinz. Die universale Gemeinschaft untergliedert sich dann auf der wiederum nächsthöheren Ebene in die kirchliche (Kap. 9) und die weltliche (Kap. 10–17). Das Kap. 18 thematisiert die universale Verwaltung (symbiotischen Rechts) durch die Ephoren45 und die Kap. 19–39 die universale Verwaltung durch den obersten Magistrat. Unterbrochen werden diese Darlegungen nur durch das Kap. 38, das die Tyrannis behandelt und dem Widerstandsrecht (ius resistentiae) gewidmet ist.46 Ch. Bender und H. Grassl haben Althusius’ Gesellschaftsmodell, seine „Vision“, als „angewandten Calvinismus“47 bezeichnet: 44

Wyduckel, Einleitung, XIX. Vgl. S. Testoni Binetti, Ephori, in: C. Malandrino / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 201–216. Fernerhin: R. von Friedeburg, Von den Epho­ ren als Institution ständischer Mitbestimmung zur Fundamentalverfassung des Gemeinwesens: Die Entwicklung von Calvin bis Althusius, Besold und Boxhorn um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in: H. de Wall (Hg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 79–98. 46 Vgl. D. Quaglioni, Tyrannis, in: C. Malandrino / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 353–364. 47 Ch. Bender / H. Grassl, Die calvinistische Ethik und der Geist des Föderalismus, NZZ vom 1.12.2018, unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/johannes-althusius-er-verband-calvinismus-und-foederalismus-ld.1440260 (abgerufen: 1.7.2021).

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

„In der ‚Politica‘ setzte Althusius die calvinistische Lehre, dass Gott dem Volk als Ganzem die gesellschaftliche Macht übertragen habe und somit die kirchlichen Institutionen über ein von der Gemeinde gewähltes Presbyterium aufzubauen seien, in das Modell eines modernen Staates um. Von der Familie über Nachbarschaften, die beruflichen Zünfte, die Genossenschaften, die Bezirks- und Landschaftsverbände bis zur politischen Herrschaft wird Stufe um Stufe der Staat hervorgebracht. Auf jeder Stufe werden ‚Ephoren‘ (Vorsteher) gewählt, die die Gemeinschaft nach innen und aussen verkörpern. Für die Bewältigung von Aufgaben, die über ihren Einflussbereich hinausweisen, schliessen sie Verträge und Bündnisse mit den Ephoren anderer Gemeinschaften. Zusammen wählen sie die politischen Repräsentanten der ‚Städte, Provinzen und Regionen‘, die vereinbaren, ‚durch wechselseitige Verbindung einen gemeinschaftlichen Körper zu bilden‘, den Staat.“48

Dieser projektierte Gesellschaftsaufbau stand im Gegensatz zum damalig herrschenden, wonach die „oben“, d.h. die von Gott eingesetzte und in „absoluter Souveränität“ regierende Obrigkeit, den Untertanen keine Rechenschaft schuldig sei, geschweige denn von den Vertretern der unteren Ebenen abgewählt werden könne. Die Grundidee dieses antiabsolutistischen Gesellschaftsaufbaus entspricht insofern calvinistischer Ekklesiologie, genauer gesagt: dem presbyterial-synodalen Kirchenverständnis,49 als gemäß demselben das kirchliche Leben und die kirchlichen Strukturen ebenfalls „von unten“, von der Gemeinde aus (über das gewählte Presbyterium) organisiert werden und nicht „von oben“ durch einen vermeintlich unmittelbar von Gott eingesetzten und darum mit Absolutheitsanspruch regierenden Bischof oder gar Fürsten als „Notbischof“. Während man im Katholizismus und besonders im Luthertum an der überkommenen Vorstellung eines „Gottes­ gnadentums“ des regierenden souveränen Fürsten entschieden festhielt und zwar noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1918), wurden 48

Ebd. Vgl. H. Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung – Prinzip und Wandel, MEKGR 55 (2006), 199–217 (erneut abgedruckt in: H. Zschoch [Hg.], Kirche – dem Evangelium Strukturen geben. Theologische Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, VKHWB.NF 11, Neukirchen-Vluyn 2009, 220–238); ders., Kirchenordnung der Freiheit. Die presbyterial-synodale Ordnung im Wandel politischer Konstellationen, MEKGR 60 (2011), 115–133; W. Holtmann, „Ende des kirchlich-synodalen Prinzips im Zeitalter der Demokratie?“, RKZ 136 (9/1995), 412–420; Ch. Strohm, Lutherische und reformierte Kirchenordnungen im Vergleich, in: S. Arend / G. Doerner (Hg.), Ordnungen für die Kirche – Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 84, Tübingen 2015, 1–28. 49

5. Stärken und Schwächen der althusianischen Vision

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in vielen calvinistischen Regionen wichtige demokratisierende Grund­ elemente aufgenommen, die eine Nähe zur „Politica“ des Althusius erkennen lassen. Ebenso lässt sich eine Analogie zwischen dem pac­ tum (Herrschaftsvertrag) zwischen Ephoren und Herrschern und dem reformierten Amtsverständnis der gegliederten Gemeindeleitung identifizieren.50 Statt absolutistischem Machtgebaren ging es Althusius um Machtbeschränkung. So stellt G. Menk treffend fest: „Die äußerst fein und subtil konstruierte Austarierung und institutionelle Beschränkung von Macht bildete den Kern und die Mitte des Althusianischen Staatsmodells, das sich bereits in der ersten Auflage der ‚Politica methodice digesta‘ entwickelt fand. Durch den Aufbau des Staates aus seinen familiären Urzellen, gesteigert aber durch das Theorem der Volkssouveränität, wurde dem übersteigerten monokratischen Moment spanischer Prägung ein gänzlich anders begründetes und strukturiertes gegenübergestellt. Daneben sollten die Rechtsdurchwirkung des Staates und das System von Verträgen auf den verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher und staatlicher Formation schon von vornherein die Depravierung staatlicher Macht verhindern.“51

5. Stärken und Schwächen der althusianischen Vision Althusius sieht diese Bestimmungen in den beiden Tafeln des Dekalogs grundgelegt. Für ihre Durchsetzung habe die Gemeinschaft zu sorgen und an ihnen ihre Kontrolle bzw. Sozialdisziplinierung auszurichten. Dies befremdet uns heute, insbesondere was die Durchsetzung der sog. Gottesgebote der ersten Tafel des Dekalogs betrifft.52 Hier zeigt sich, dass sich die „Vision“ des Althusius nicht einfach in die Gegenwart übertragen lässt. Den Anforderungen des weltanschaulich neutralen

50

Vgl. E. Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 151–190; G. Plasger, Das dynamische Verständnis reformierter Kirchenordnung, in: J.  Wischmeyer (Hg.), Zwischen Ekklesiologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen Reformation, VIEM Beiheft 100, Göttingen 2013, 83–93; ders., Funktionalität und Kollegialität. Die ökumenische Herausforderung in Calvins Verständnis der kirch­ lichen „Ämter“, in: A. Birmele / W. Thönissen (Hg.), Johannes Calvin ökumenisch gelesen, Paderborn / Leipzig 2012, 97–112. 51 Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich, 76f. 52 Vgl. Althusius, Politica XIX,31. Fernerhin: a.a.O., VII,11.

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

Rechtsstaates genügt sie selbstverständlich nicht,53 wenngleich seine Theorie einen Meilenstein hin zu dessen Entstehung markierte.54 So ist etwa zu „kritisieren und an[zu]fragen, ob er [Althusius; M.H.] recht tat, als er den Dekalog aus dem theologischen Zusammenhang des Bundesvolkes Israel und der Exodustradition löste und die Bürgergemeinde mit der Christengemeinde einfach gleichsetzte.“55 Althusius geht von einer „Konkordanz von Politik und Religion“56 aus. Nichtsdestotrotz wird bei Althusius eine Vision erkennbar, die sich ausgerechnet in einer Zeit etablierte, als der Zug der Geschichte in die entgegengesetzte Richtung fuhr, nämlich hin zum Absolutismus.57 L.  Bretherton hat die althusianische Vision identifiziert als „a countertradition of thinking about sovereignty as neither indivisible nor in need of dissolution but as inherently distributed through various po­ wers and as more thoroughly democratic.“58 Treffend bemerkt H. Hollenstein: „Im ausdrücklichen Gegensatz zu den französischen Staatstheoretiker Jean Bodin (1530–1596) liegt Althusius zufolge das zeitlich unbegrenzte und unteilbare Recht der Souveränität, das ius regni bzw. das ius majestatis, in den Händen des Volkes. Das in Lebensgemeinschaften gegliederte Volk bleibt Inhaber der souveränen Gewalt, der summa potestas, die allerdings, wiederum anders als bei Bodin, an göttliches Recht und auch an geltendes Recht gebunden ist. Althusius steht also in einem doppelten Gegensatz zu dem Staatstheoretiker des Absolutismus. Erklärte dieser die oberste Gewalt als eine von den Gesetzen abgelöste Instanz (legibus soluta potestas) und sprach er diese absolute Macht dem jeweiligen Fürsten zu – wie sie später vom ‚Sonnenkönig‘ Ludwig XIV. (‚Der Staat bin ich‘) optimal verkörpert wird – so entschieden 53

So kann J. Althusius (Politica IX,45f.) etwa konstatieren: „Nicht zu dulden sind dagegen diejenigen, die ausdrücklich und öffentlich gottlos sind, Unruhe schaffen, den Magistrat beseitigen wollen, nicht notwendige Kriege beginnen, offenkundig üble Taten verteidigen und die zum Heil notwendigen Glaubensartikel leugnen, aufheben oder in Zweifel ziehen. […] Es darf daher nicht gestattet werden, dass alle ihre Religion frei ausüben, wenn diese der christlichen völlig widerspricht.“ Zit. nach Politik, 122. 54 Vgl. E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, hg. von H. Meier, München 2006. Dazu: V. Stümke, Zwischen Bonn und Barmen. Zwei theologische Lesarten des Böckenförde-Diktums, in: D. Kannemann / V. Stümke (Hg.), Wort und Weisheit. FS für Johannes von Lüpke zum 65. Geburtstag, Leipzig 2016, 293–302. 55 Hollenstein, Die „Politica“ des Johannes Althusius, 33. 56 Von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 66. 57 Darauf weist zu Recht H. Hollenstein (a.a.O., 34) hin. 58 Bretherton, Christ and the Common Life, 362.

5. Stärken und Schwächen der althusianischen Vision

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distanzierte sich Al­thusius von dieser Staatsauffassung, die zunächst allerdings eine steile Karriere absolvierte“59 und bis heute nachwirkt.

Es lassen sich in der frühen Neuzeit dem englisch-amerikanische Ethiker Luke Bretherton zufolge zwei Typen der Gründung moder­ner Staaten unterscheiden: der hierarchisch-zentralistische Typ, für den Bodin steht, und der kooperativ-föderale, den wiederum Althusius repräsentiert: „Althusius systemizes the medieval constitutional view and catalyzes the emergence of modern confederal or consociational accounts of sovereignty as constituted by the whole body politic and not derived from a monistic source of sovereignty whose authority stands over and above the people and their forms of association. For Althusius, it is the body politic that delegates authority ‚up‘ to the sovereigns, and not vice versa.“60

Althusius’ kooperativ-föderaler Typ des konsozialen Weges ist dem­ entsprechend nicht der der Zentralisierung aller politischer Macht in einer Hand an der Spitze des Staates, sondern meint die dezentrale Ausübung von Macht durch consociationes an der Basis des Staates: „For Althusius, sovereignty is an assemblage that emerges through and is grounded upon a process of mutual communication between covenantal associations and their reciprocal pursuit of common goods in which unity of the whole (i.e., a common life) is sought as a noninstrumental good.“61 Nicht nur für die einmalige Erlangung der Souveränität eines Staates oder Staatszusammenschlusses ist dies belangvoll, sondern über die Genese hinaus für deren fortgesetzte Ausübung.62 59

Hollenstein, Die „Politica“ des Johannes Althusius, 35. Kursivierung: M.H. Bretherton, Christ and the Common Life, 367. So auch ders., Resurrecting Democracy, 223. Vgl. Althusius, Politica IX,18: „Dieses Reichs- oder Souveränitätsrecht steht nicht den Einzelnen, sondern sämtlichen Gliedern des Reichs zusammen und dem ganzen Gemeinschaftskörper zu: Ebenso wie es nicht von einem Einzigen, sondern nur von sämtlichen Gliedern der universalen Gemeinschaft zugleich begründet werden kann, genau so sagt man, dass es nicht Sache Einzelner, sondern vielmehr die sämtlicher vereinter Glieder ist.“ Zit. nach Politik, 116. 61 Bretherton, Christ and the Common Life, 391; Resurrecting Democracy, 234. 62 Kress (Staat und Person, 30) hat darauf hingewiesen, dass Otto von Gierke unter Berufung auf Althusius eine Alternative zu Friedrich Julius Stahls Denkansatz beim Staats als Persönlichkeit rechtswissenschaftlich entwickelt habe: „In der Theoriebildung des Rechtsgelehrten Otto von Gierke wurden überindividuelle Vereinigungen – Verbände, Genossenschaften, Stiftungen – jeweils als sozialer Organismus mit eigener Persönlichkeit interpretiert. Er nannte sie ‚reale Verbandspersönlichkeiten‘. […] Bei Althusius finde sich der Gedanke, ‚dass der Staat ein organisch geordneter und ge60

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

Allerdings hat sich Bodin mit seinem Souveränitätsverständnis weitgehend durchgesetzt: „However, with the defeat of absolu­ tist mo­narchies and the passing of the ancien régime, republican and democratic self-government is increasingly seen as the only form of legitimate (and God-given) rule. Such a form of rule could involve a separation of legislative, judicial, and executive elements, but so­ vereignty is still taken to be indivisible and derived from a monistic, Olympian source (e.g., the ‚general will‘ or the ‚nation‘).“63 Die Stärke der althusianischen Vision sieht Bretherton darin, dass sie durch Pluralisierung ein höhere Maß an Diversität erlaube: „In contrast to Hobbes, Rousseau, and Hegel, Althusius allows for the plura­ lization of political order so it accomodates the diversity of associational life, whether economic, familial, or religious. In his account, to be a political ani­ mal is not to be a citizen of a unitary, hierarchically determined political society. Nor is it to participate in a polity in which all authority derives from a transcendent, monistic point of sove­reignty. Rather, it is to be a participant in a plurality of interdependent, self-organized associations that together constitute a consociational or confederal polity. Echoing the work of the Spirit, in a confederal polity, commonality does not require the erasure of difference. The singularity and specificity of each are constitutive of the commonwealth of all. Such an approach entails a strong affirmation that there is a commonwealth, and it is this affirmation that sharply distinguishes it from the antipolitical visions of ‚minarchist‘ and liberitarian approaches.“64 gliederter Körper mit eigner Persönlichkeit sei‘. Von Gierke betonte seinerseits den Stellenwert der Verbände im Staat, beeinflusste Autoren wie Hugo Preuß […] und stand im Rahmen der personalisierenden Deutungen von Staat und Gesellschaft für ein organologisches Denkmodell.“ Vgl. a.a.O., 72. In der Calvin-Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts findet sich eine organologische Interpretation seiner politischen Ethik vor allem bei J. Bohatec (Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Neudruck der Ausgabe 1937, Aalen 1961) wieder. Bohatecs Untersuchung erscheint nicht zufällig in der von Otto von Gierke begründeten Reihe „Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ als Band 147. 63 Bretherton, Christ and the Common Life, 367. So auch ders., Resurrecting Democracy, 223. 64 Bretherton, Christ and the Common Life, 390; ders., Resurrecting Democracy, 234. Bretherton (Christ and the Common Life, 390f.) unterstreicht Althusius’ „Föderalismuskonzeption“ im Sinne eines „consociational federalismus“, der eher sozietär und politisch als administrativ und staatlich sei, und unterscheidet ihn von einem „constitutional federalism“, der die Regierungsgewalt des Souveräns begrenzen möchte: „This latter approach leaves undisturbed the top-down, transcendent, and monistic nature of souvereignty. By contrast, consociationalism/confederalism envisages

6. Die Aktualität der althusianischen Vision

93

Der entstehende Nationalstaat begünstigte – historisch geurteilt – zweifellos diesen späten Triumph Bodins.65 Dennoch steht Althusius für den erfolgreichen Weg, den die Schweizer Eidgenossen mit ihren Kantonen, die deutschen Reichsstädte, die Niederlande als Republik der Vereinigten Provinzen, neugegründeten Kolonien Nordamerikas nicht zuletzt unter calvinistischem Einfluss eingeschlagen haben: „Dort entschieden vorhandene Gemeinschaften, Städte und Regionen ihre Angelegenheiten souverän mit eigenen Repräsentationsorganen. Eben dafür hat Johannes Althusius gekämpft. Eine Zuspitzung der höchsten Gewalt auf den Monarchen, gar auf einen Erbmonarchen, lehnte er strikt ab, stattdessen trat er dafür ein, dass die höchste politische Macht unübertragbar und unteilbar beim Volk und seinen Gliederungen liegt. Die Ausübung von Herrschaft sollte dabei von ‚unten nach oben‘ durch Übertragung und Überantwortung von Ämtern und Aufgaben erfolgen, kontrolliert und zeitlich befristet.“66

6. Die Aktualität der althusianischen Vision Die Hamburger Soziologin Ch. Bender und ihr Siegener Kollege H. Grassl haben jüngst angesichts der Krisen des frühen Jahrhunderts auf die Aktualität von Althusius’ Idee föderaler und subsidiärer Gewaltenteilung im Blick auf Europa hingewiesen.67 Auch der Münsteraner Ethik A. von Scheliha verweist im Blick auf das im EU-Vertragswerk von Lissabon verankerte Prinzip der Subsidiarität „auf die Aktualität seiner [Althusius’; M.H.] Gedanken“.68 Angesichts von robusten Autonomiebestrebungen von Regionen in zentralistisch regierten Nationalstaaten wie Spanien, Italien und Frankreich und der nicht nur in der Corona-Pandemie-Zeit vielbeschworenen Föderalismus-Krise zeigt sich die bleibende Relevanz von Althusius’ Vision in puncto authority arising from the whole or commonweal, which itself is constituted from multiple consociations federated together for shared purposes.“ Vgl. ders., Resurrecting Democracy, 234. 65 So auch Bretherton (a.a.O., 367): „Bodin rather than Althusius sets the course for understanding the sovereignty of the people. The theory of sovereignty and the political form of the nation-state come to mirror and justify each other.“ Ebenso ders., Resurrecting Democracy, 223. 66 Ch. Bender / H. Grassl, Die calvinistische Ethik und der Geist des Föderalismus, unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/johannes-althusius-er-verband-calvinismus-und-foederalismus-ld.1440260 (abgerufen: 1.7.2021). 67 Ebd. 68 Von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 56.

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II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

Teilung von politischer Gewalt in einem Staat oder Staatenbund.69 Gewiss bietet Althusius kein Patentrezept an, aber sein Politikmodell hat stimulierende Wirkung und erlaubt es, wie das Souveränitätsbeispiel zeigt, alternativ zu denken. In diesem Sinne haben Bender und Grassl die bedenkenswerte These aufgestellt: „Die Herausforderungen, auf die ein nach zukunftsfähigen Formen der vertikalen Gewaltenteilung suchendes Europa antworten muss, kommen aus dem Innersten der europäischen Gesellschaften. Ein wichtiger Schritt zur Lösung der innereuropäischen Konflikte bestünde in der vorbehaltlosen Anerkennung, dass die Gesellschaften aus ihren jeweiligen zentralistischen oder föderalen Traditionen sowie aus ihren je eigenen historischen Entwicklungspfaden und Institutionen nicht einfach aussteigen können und es vielfach auch nicht wollen: Die Wiederentdeckung von Johannes Althusius, das erneute Studium seiner ‚Politica‘ und die Erinnerung an die Entstehungsbedingungen des Achtzigjährigen Krieges sind nicht nur von historischem Interesse. Sie könnten dem Management der akuten Krisen, wie der drohenden Sezession Kataloniens vom spanischen Staat, den Weg weisen.“70

Natürlich wird man den „historischen Graben“ zwischen der Gegenwart und dem Achtzigjährigen Krieg nicht einfach ignorieren dürfen. Dennoch zeigt sich bei genauerem Hinsehen: „Die symbolische Spitze dieses Staates mag heute nicht wie im Falle der Sezession der Niederlande von Spanien ein König Philipp II., sondern ein König Philipp VI. sein. Aber die gegensätzlichen Vorstellungen der Konfliktparteien über die Rechte, sich selbst zu regieren, prallen wie ehedem aufeinander: Einer beleidigten Zentralregierung, die alle Souveränitätsrechte bei sich versammelt glaubt und der Region Autonomierechte zuteilt, steht eine empörte Provinz gegenüber, die ihr Recht als gleichberechtigtes souveränes Subjekt innerhalb föderaler Strukturen einfordert.“71

Wie auch immer man zu dieser These im Blick auf den „Katalonien-Konflikt“ steht, dies jedenfalls dürfte unstrittig sein: „Die Ideen der Subsidiarität und einer föderativen Staatlichkeit werden gerade 69

Zum Föderalismus bei Althusius vgl. u.a. die Beiträge im Band: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997. 70 Bender / Grassl, Die calvinistische Ethik und der Geist des Föderalismus. 71 Ebd.

6. Die Aktualität der althusianischen Vision

95

heutzutage bei der Bildung internationaler und transnationaler Zusammenschlüsse dringend benötigt.“72 Die Impulse des Althusius reichen also bis in die unmittelbare Gegenwart hinein: „Heute geht es wieder darum, dass subsidiäre und föderale Ordnungen und damit die basalen Gemeinschaften, die unser aller Leben mit Sinn, Eigenverantwortung und Freiheit erfüllen, erhalten und weiterentwickelt werden. Zu bedenken ist: Die Zentralisiierung von Macht in autoritären Regimen, leider auch in Demokratien, lässt wenig Raum für deren Vielstimmigkeit, Polyzentrik (statt Monozentrik), Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, wie wir sie kennen.“73 Gerade was Subsidiarität, Föderalismus und Volkssouveränität als die unverzichtbaren Ordnungsprinzipien der Gewaltenteilung angeht, zeigt sich, dass die althusianische Vision ihrer Zeit weit voraus war.74 Sie dürfte freilich noch in einer anderer Hinsicht durchaus aktuell, wenngleich unbequem sein, die etwa die vielzitierte Politikschelte bzw. Politikverdrossenheit betrifft: „Häufig verbindet sich die Schelte auf Politik und Politiker mit einer reinen Anspruchshaltung gegenüber dem Staat, man klagt alle möglichen Sozialrechte und -leistungen ein, lebt aber selbst als ‚privatus‘, d.h. ohne öffentliche Aufgaben wahrzunehmen, man lebt – in der Diktion Althusius’ – ‚unsymbiotisch‘, hart ausgedrückt: als Parasit der Gemeinschaft. Hier wird die Erinnerung an Althusius unbequem, ihm zufolge ist vor allem anderen der Mensch des Menschen Diener (homo homini minister), und das Wohl der Gemeinschaft ist dem Einzelnen aufgegeben und klar vorgeordnet. Wenn sich immer mehr Menschen ins Private zurückziehen und eine tatenlose Vermehrung ihres Wohlstandes erwarten und einklagen, der Rechts- und Sozialstaat aber an Experten und Professionelle delegiert wird, wird es in unserer Gesellschaft kalt, unpersönlich und inhuman.“75 72

Dies., Emder Ideen in modernen Verfassungen, 66. A.a.O., 62. 74 Vgl. Althusius, Politica XVIII,18: „Der Leiter und Verwalter dieser bürgerlichen Gesellschaft und Gemeinschaft kann, wenn es gerecht und ohne Tyrannis zugeht, nur vom Gemeinwesen selbst eingesetzt werden. Denn nach dem Naturrecht sind alle Menschen gleich, […] und keiner Jurisdiktion unterworden, es sei denn, sie unterstellen sich durch eigene Zustimmung und freiwillig einer fremden Herrschaft und übertragen ihre Rechte einem anderen. Ohne einen rechtmäßigen Titel, den er vom Herrn dieser Rechte erhalten hat, kann sie kein anderer beanspruchen“. Zit. nach Politik, 170. 75 Hollenstein, Die „Politica“ des Johannes Althusius, 40. Kursivierung: M.H. Siehe auch O. Herlyn, Sich einmischen. Zum öffentlichen Bedarf einer gemeindlichen Tugend, in: ders., Sache der Gemeinde. Studien zu einer Praktischen Theologie des „Allgemeinen Priestertums“, Neukirchen-Vluyn 1997, 171–178. 73

96

II. Die „Politica“ des Johannes Althusius

Abschließend noch eine letzte Bemerkung zur Aktualität des al­ thusianischen Denkens: Die besondere Valenz seines Politikverständnisses zeigt sich, wenn man nach dem Ursprung des Politischen fragt und die diversen Theoriebildungen betrachtet. Treffend hält im Blick auf dieselben der Erlanger Ethiker Hans G. Ulrich fest: „Der Ursprung des Politischen ist in den politischen Theorien verschieden gesehen worden, insbesondere – auf der einen Seite – darin, dass Menschen sich zum gemeinsamen Handeln zusammentun (Hannah Arendt), auf der anderen Seite darin, dass Menschen sich einen Schutz verschaffen dagegen, dass in die Rechte des je einzelnen eingegriffen wird. Schließlich aber ist der Ursprung des Politischen dort zu finden, wo einer auf den anderen achtet, ihn in seiner Not und in dem, was er/sie mitzuteilen hat, wahrnimmt. Dies macht den Status politicus aus, wie ihn die christliche Tradition in den Blick gerückt hat.“76

Althusius’ vermag mit seiner Vision hinsichtlich dieser verschiedenen Ansätze zu integrieren. Es muss sich, wie seine Vision zeigt, keineswegs um strenge Alternativen handeln, die einander ausschließen. Seine Vision betont sowohl das gemeinsame Handeln der Symbioten, als auch die Notwendigkeit des „Rechtsschutzes“ (freilich noch nicht im Sinne des individuellen Menschenrechtsschutzes,77 wie er erst im Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts auf die politische Agenda trat)78, als auch die Wahrnehmung des in Not geratenen Nächsten. Alle 76

H.G. Ulrich, Wie Geschöpf leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 574. 77 Althusius kenntn nicht nur symbiotisches Recht, sondern kann im naturrechtlichen Rahmen bereits zwischen absolutem und besonderem, kirchlichem und weltlichem Recht unterscheiden. Vgl. Althusius, Politica XXI,30; XXXVIII,129; IX,33f.; XVIII,22; X,1. Zudem zeigen sich bei dem starke Entsakarlsierungs- und Verrechtlichunsgtendenzen. Vgl. das Kap. 6 in diesem Band: Was für ein Calvinist?! Einige Antwortversuche zu offenen Fragen der Althusius-Forschung. 78 Als die wichtigsten Dokumente des politischen Liberalismus sei hier nur verwiesen auf die englische „Bill of Rights“ (1689), die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) und Verfassung (1787), sowie die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789). Zur Genese vgl. D. Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika, in: ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 301–315; F. Lohmann, Die Bedeutung des Protestantismus für die Menschenrechtserklärungen der Moderne; in: A. Liedhegener / I.-J. Werkner (Hg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, 126–152; R.  Leonhardt, Glaubensgewissheit und Religionsfreiheit. Zur religionspolitischen Ambivalenz des reformatorischen Erbes, in: A. Liedhegener / I.-J. Werkner (Hg.),

6. Die Aktualität der althusianischen Vision

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drei Faktoren gehören indispensabel zu jenem Zusammenleben, zu dem der Mensch geboren ist. Zu allem drei „Ursprungshandlungen“ ist der Christenmensch, befreit von der Sorge um sein Heil und geheiligt zu einem christlichen Leben, befähigt. Sie bezeugen je auf ihre Weise als Werke des in Christus neuen Menschen das Handeln Gottes an ihm. Althusius beendet das „Vorwort“ zur ersten Auflage seiner „Politica“ (1603) mit der Gebetsbitte: „Es gebe der Gute und Große Gott, dass wir solange wir durch seine Gande in dieser menschlichen Gemeinschaft leben, zu seinem Wohlgefallen und unseres Nächsten Heil handeln.“79

Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, 98–125. Immer noch lesenswert zur Vorgeschichte der Menschen- und Bürgerrechte in der englischen Publizistik des 17. Jahrhunderts: J. Bohatec, England und die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte. Drei nachgelassene Aufsätze, hg. von O. Weber, Graz– Köln 1956. 79 Althusius, Politik, 22.

III. „Die Stadt auf dem Berge“. Oder: Der Beginn eines (Alb-)Traumes Zur calvinistisch-puritanischen Formation des Narrativs vom „American Dream“ Für Peter D. Browning zum 65. Geburtstag

1. Einleitung: „Traumforschung“ oder: Wofür steht der „American Dream“? Ritualisierte Traumbeschwörung – als solche könnte man die Antrittsreden sämtlicher US-Präsidenten charakterisieren. In der Tat gehört die sog. „Inauguration Speech“ zu den politischen Ritualen jeder beginnenden US-Präsidentschaft. In ihr wird geradezu gesetzmäßig der amerikanische Traum beschworen. Selbst Donald Trump begann seine Amtszeit im Januar 2017 mit dieser Referenz und natürlich jüngst auch Joe Biden und zwar gleich mit einer doppelten Bezugnahme, einer direkten und einer indirekten: indirekt insofern, als dass er auf Martin L. Kings Rede „I have a dream“1 verwies, und direkt insofern, als er in Aussicht stellte: „Der Traum von der Gerechtigkeit für alle wird nicht länger aufgeschoben!“2 Es wäre nun äußerst spannend, die semantischen Verschiebungen in dieser Bezugnahme genauer zu analysieren, die alles andere als eine starre Bezugnahme darstellen. Der „American Dream“ bildet nämlich keineswegs einen starren Designator. Bei Trump etwa mündet der Rekurs auf den „American Dream“ in Trumps eigenes nationalistisches Credo „Make America great again“ bzw. „America first“.3 Trump spricht, genau genommen, nur im Plural von den Träumen der Amerikaner und dürfte damit (ausnahmsweise einmal, möchte man ergänzen) der Wahrheit recht nahegekommen sein. Der US-Korres­ pondent Roman Elsener hat jüngst vom „geteilten amerikanischen 1

M.L. King, Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufsätze und Predigten, eingel. und übers. von H.W. Grosse, GTB 79, Gütersloh 51983, 121–125. Einführend M. Haspel / B. Waldschmidt-Nelson (Hg.), Martin Luther King: Leben, Werk und Vermächtnis, Scripturae Bd. 1, Weimar 2008. 2 „Einigkeit ist der Pfad in die Zukunft“: Joe Bidens Antrittsrede im Wortlaut auf Deutsch, https://rp-online.de/nrw/landespolitik/joe-biden-antrittsrede-die-rede-des-neuen-praesidenten-in-deutsche-uebersetzung_aid-55796593 (Zugriff: 30.3.2021). 3 Antrittsrede von Präsident Trump, https://de.usembassy.gov/de/antrittsrede-von-prasident-trump/ (Zugriff: 30.3.2021).

1. Einleitung: „Traumforschung“

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Traum“4 gesprochen. Die US-Gesellschaft sei stark gespalten und auch die Pandemie habe daran nichts geändert. Die Frage stellt sich, ob der amerikanische Traum jemals ein ungeteilter Traum war, oder anders gefragt: ob es jemals von allen Amerikaner*innen geteilt wurde. Das Singularetantum „der amerikanische Traum“ wirft zudem die Frage auf, von welchem und von wessen Traum hier eigentlich die Rede ist. Was besagt also der amerikanische Traum, ohne den sich „Political Rhetoric“ in den USA nicht verstehen lässt? Wofür steht er? Von ihm geht bis heute eine Faszination aus, die wohl nur damit zu erklären ist, dass Amerika im neuzeitlichen Europa seit der frühsten Besiedlung als „Humankind’s Second Chance“ wahrgenommen wurde, als eine Art prälapsarische Rückkehr in den status integritatis: Der Garten Eden ist gleichsam erneut beziehbar. Diese protologische Ausrichtung gewinnt dabei schnell einen starken eschatologisch-messianischen „Drive“, zumal sich der Garten Eden in der Anschauung gerne unter der (Erbauer-)Hand zum neuen Jerusalem (Off 21,1–22,5) verwandelt, das vom Jenseits ins Diesseits gezogen und auf Erden erbaubar erscheint. Immerhin war die Wiedererrichtung des zerstörten Jerusalems biblisch, und das war gewiss für die Puritaner die entscheidende Referenz, mit der Wiederkehr Christi („Second Coming of Christ“) verknüpft und entsprechend messianisch konnotiert. Beide biblischen Bilder, vom Garten Erden, den Christoph Columbus betritt, und vom neuen Jerusalem, das die Pilgerväter erbauen, wurden zu Emblemen Amerikas. Beide Bilder konnten als Sinnbilder des amerikanischen Traums fungieren. Doch wenden wir uns zunächst von allzu steilen mentalitäts- und ideengeschichtlichen Aussagen ab und der Begriffsgeschichte im engeren Sinne zu: Der Terminus „amerikanischer Traum“ wurde 1931 von James Truslow Adams in seinem Buch „The Epic of America“ (Boston 1931) geprägt. Er beschrieb dort „den Traum von einem Land, in dem das Leben für jeden Menschen besser, reichhaltiger und erfüllter sein sollte und das Chancen für jeden gemäß seinen Fähigkeiten und seiner Leistung bietet.“5 „Better and richer and fuller“ – so heißt es im Original und dieser Komparativ atmet das, was Alexis de Tocqueville in seinem vielbeachteten Werk „Democracy in America“ den „Charme des antizipierten Erfolges“ nannte. Doch die Auffassungen davon, wie ein besseres, reichhaltigeres und erfüllteres Leben, ja überhaupt ein gutes, reiches und erfülltes Leben in der Grundform, also ohne Steigerung, 4



5

R. Elsener, Der geteilte amerikanische Traum, Zeitzeichen 22 (7/2021), 37–39. J.T. Adams, The Epic of America, Boston 1931, 404. Eigene Übersetzung.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

aussieht und gelingen kann, variieren beträchtlich.6 Ganz zu schweigen von den fähigkeits- und leistungsgemäßen Chancen, ein solches Leben zu erreichen. Das Telos bleibt unklar und damit auch der Weg dorthin, womit das größtmögliche Manko eines jeden teleologischen Entwurfs gegeben ist. Diese vorstellungsbezogene Diversität war, wie wir sehen werden, bereits zu Beginn des amerikanischen Traumes, gewissermaßen bei den ersten Träumenden, in gleichsam „protoamerikanischen“ Verhältnissen, ausgeprägt, und warf die Frage auf, wie mit den divergierenden, diversifizierten Träumen umzugehen ist. Das Problem der Toleranz stellte sich alsbald.7 Aus all dem lässt sich mit Bedacht schlussfolgern: Es gibt nicht den amerikanischen Traum im Singular. Es gibt ihn nur als Pluraletantum.8 Jürgen Moltmann hat bereits vor vielen Jahren auf die inhärierende „Ambivalenz des amerikanischen Traums“9 hingewiesen. Es ist Moltmann zufolge die unausgeglichene Spannung, „die Zweideutigkeit zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen Messianismus und Amerikanismus“10, die sich in dieser Vision sedimentiert. Denn der Traum stellt einerseits „keine auf Amerikaner beschränkte Hoffnung dar […], sondern hat universale Bedeutung für alle, die Amerika als Erfüllung der Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit suchen. Daraus folgt andererseits, daß eine internationale Diskussion des 6

Vgl. D.L. Mayfield, The Myth of the American Dream: Reflections on Affluence, Autonomy, Safety, and Power, Downers Grove 2020. 7 Zur Toleranz: J.R. Bowlin, Tolerance Among the Virtues, Princeton / Oxford 2016; R. Forst, „Dulden heißt beleidigen.“ Toleranz, Anerkennung und Emanzipation, in: ders., Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik, Berlin 2011, 155–178; T. Jähnichen, Glaubensfreiheit und Toleranz. Die Anerkennung des Anderen als Kriterium für Ausnahmeregelungen im Geist der Toleranz, in: J. Hübner (Hg.), Theologische Sozialethik als Anleitung zur eigenständigen Urteilsbildung. FS Martin Honecker zum 80. Geburtstag, Stuttgart 2016, 121–138; Ch. Schwöbel, Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsbedeutung, Tübingen 2011; A. Strübind, Willensfreiheit und religiöse Toleranz. Kirchengeschichtliche Perspektiven, ZThG 13 (2008), 213–242; E. Wolf, Toleranz nach evangelischem Verständnis, in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 284–299 (wiederabgedruckt in: H. Lutz [Hg.], Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, WdF CCXLVI, Darmstadt 1977, 135–154). 8 So J. Cullen, The American Dream. A Short History of an Idea That Shaped a Nation, Oxford / New York 2003, 7: „[T]here is no one American Dream. Instead, there are many American Dreams, their appeal simultaneously resting on their variety and their specificity.“ 9 J. Moltmann, Der „Amerikanische Traum“, in: ders., Politische Theologie – Politische Ethik, FThS 9, München / Mainz 1984, (89–101) 96. 10 A.a.O., 90.

1. Einleitung: „Traumforschung“

101

amerikanischen Traums keine illegitime Einmischung Fremder in die ‚inneren Angelegenheiten‘ der USA darstellt.“11 Eng mit diesem Spannungsverhältnis hängt nach Moltmann dasjenigen Spannungsverhältnis zwischen dem amerikanischen und dem menschheitlich-humanen Charakter des Traums zusammen. Als humaner Traum „kann er nur von der Menschheit als ganzer erfüllt werden. So lange Menschen von ihrem menschlichen Wesen entfremdet sind, so lange sie voneinander durch Klassen, Kaste, Rassen und Nationen getrennt sind, so lange sie gegeneinander, nicht füreinander leben, ist dieser Traum nicht erfüllbar. Er ist auch als amerikanischer Traum nicht erfüllbar, denn Amerika muß sich als Nation, als Macht und Kultur an der Entfremdung, Trennung und Unterdrückung der Menschen beteiligen. Der humane Traum kann nicht amerikanisiert werden, ohne zur ideologischen Selbstrechtfertigung des american empire and des free enterprise multinationaler Korporationen verfälscht zu werden. Als humaner Traum ist der amerikanische Traum ein wahrer und notwendiger Traum. Als amerikanischer Traum wird jedoch der humane Traum unmöglich gemacht.“12

Noch einmal: Wofür steht der amerikanische Traum? Für „American Exceptionalism“ („God’s own Country“)13 und für „Manifest Destiny“, d.h. die Vorstellung, das amerikanische Volk habe das gottgegebene Recht und den göttlichen Auftrag, seine demokratischen Prinzipien und seine politisch-territoriale Macht auf dem Kontinent und darüber hinaus auszudehnen?14 Für die „Declaration of Independence“ (1776), „The Bill of Rights“ (1791) oder „The Pledge of Allegiance“ (1892), also das Treue-Gelöbnis gegenüber der Nation und der Flagge der Vereinigten Staaten? Für den „Frontier Spirit“ in der Wildernis, für den Mythos des Wilden Westens, für den „Gold Rush“? Oder steht der amerikanische Traum für die „Tragic Landmarks in Native American History“ wie den „Trail of Tears“ (1838) und das Massaker bei Wounded Knee (1890)? Der US-amerikanische Schwarze Theologe 11

Ebd. A.a.O., 91. 13 Vgl. Ch. Tietz, God’s own country – God’s own politics? Überlegungen zum Verhältnis von Glaube und Politik im letzten amerikanischen Wahlkampf, NZSTh 47 (2/2005), 131–153; F. Lohmann, „Nation unter Gott“? Staat und Religion in den USA, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII. Europäischen Kongresses für Theologie. 18.–22. September 2005 in Berlin, VWGTh 29, Gütersloh 2006, 689–707. 14 Vgl. dazu J. Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 197–199. 12

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

James H. Cone fragt in seinem Buch „Martin & Malcom & America“ dementsprechend zugespitzt: „A Dream or a Nightmare?“15 Beide, Martin L. King und Malcom X, werden uns von Cone als eine Art personale Typologie vor Augen geführt: Martin L. King steht für den Traum („I Have a Dream“) und Malcom X für den Albtraum („I See a Night­mare“ – „White Man’s Heaven Is a Black Man’s Hell“). Grundsätzlich wäre auch zu fragen, ob der amerikanische Traum nicht als nationale Ausdrucksform einer tiefen Identitätskrise zu verstehen ist: „Ein Land, das auf keine geteilten historischen oder kulturellen Wurzeln zurückgreifen kann, befindet sich gleichsam permanent in einer (latenten oder akuten) Identitätskrise und ist deshalb umso stärker auf einheitsstiftende Mythen wie die von Erwähltsein und kollektiver Mission angewiesen.“16 Hier kann es natürlich nicht darum gehen, den amerikanischen Traum als solchen ganz und umfänglich zu evaluieren. Das wäre ein kaum zu leistendes (schon gar nicht von Theologie im Alleingang!) Unterfangen. Die Theologie würde sich an der Amerikanistik überheben. Hier kann es also nur um ein sehr viel bescheideneres Unternehmen gehen. Der Fokus bedarf schon um der Dimensionierung, d.h. genauer: der Überdimensionierungsvermeidung willen einer Verengung und zwar auf den Beginn des Traums. Auch der historisch-genetische Versuch, in Anlehnung an Hans Joas so etwas wie eine „affirmative Genealogie“17 des amerikanischen Traums zu entwickeln, wäre aus mehreren Gründen zum Scheitern verurteilt: zum einen, weil eine solche Genealogie jahrhundertelange Entwicklungen zu erzählen und dabei eine „kontingenzbewußte Vergangenheitsrekonstruktion“18 zum Ausdruck zu bringen hätte, die zumindest an bestimmten Weggabelungen auch konkurrierende und gefährdende Alternativen darzustellen hätte; zum anderen, weil das Moment der Affirmation, d.h. der „Bejahung des Appells historisch gebildeter Ideale“19 einer Evaluation derselben bedarf, wenn man nicht einfach eine Normativität des Faktischen unterstellen möchte. Es mag zwar – wie Joas zu demonstrieren bemüht ist – für die Menschenrechte gelten, verhält sich aber keineswegs immer so, dass das, „[w]as zu Be15

J.H. Cone, Martin & Malcom & America. A Dream or a Nightmare, New York 2012. 16 M. Zeindler, Erwählung. Gottes Weg in der Welt, Zürich 2009, 225. 17 H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genalogie der Menschenrechte, Berlin 2011, 15. 18 A.a.O., 190. 19 A.a.O., 191. 2

2. Vom initium zum principium

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ginn bloße subjektive Evidenz“20 besitzt, „zu historisch gesättigter argumentativer Klarheit geläutert“21 wird. Eine solche „Sakralisierung“ pauschal als „Wertegeneralisierung“22 zu unterstellen, wäre ein idealisierter Geschichtspositivismus.23 Wenn man fragt: „Was ist bei der Realisierung des amerikanischen Traums schiefgelaufen?“, oder „urteilsneutraler“: „Wo liegen Schwierigkeiten der Realisierung?“, so liegt der Blick auf den Anfang nahe. Denn der Anfang ist ja oftmals nicht nur ein initium, sondern auch principium, d.h. dass sich die Anfangsschwierigkeiten nicht selten perpetuieren, ja, bisweilen über alle Epochen und Stadien hinweg bis in die Gegenwart erstrecken. Was steht also am Beginn des amerikanischen Traumes? Was muss/darf also Gegenstand der folgenden Untersuchung sein? 2. Vom initium zum principium: Zurück an den puritanischen Anfang – oder: Worin gründet der „American Dream“? Am Beginn des amerikanischen Traumes stehen die Puritaner24 und mit ihnen ihre biblische Motivik, so zumindest hält es das kulturelle Gedächtnis fest.25 Alexis de Tocqueville notierte bei seinem ersten USA-Besuch im Jahr 1835, dass „die Bedeutung des Religiösen in diesem Land dem Besucher als erstes in die Augen fällt“, ja, dass Amerika „die einzige Nation in der Welt [sei], die auf einem Glauben begründet ist.“26 Namentlich die sog. „Pilgerväter“ gehören zum Gründungsmy20

Ebd. A.a.O., 202f. 22 A.a.O., 251. 23 Vgl. zur Kritik an Joas V. Gerhardt, Rezension zu H. Joas, Die Sakralität der Person, Philosophisches Jahrbuch 119 (II/2012), 441–444; G. Lohmann, Eine herausfordernde Geschichte der Menschenrechte, DZPhil 61 (2013), 317–321. 24 Vgl. Cullen, The American Dream, 5: „[T]he Pilgrims may not have actually talked about the American Dream, but they would have understood the ideas: after all, they lived it as people who imagined a destiny for themselves.“ Auch W.C. Pla­ cher / D.R. Nelson (A History of Christian Theology. An Introduction. Second Edition, Louis­ville 2013, 220) weisen darauf hin, dass die unterschiedlichen religiösen Gruppen (Separatisten, Kongregationalisten, Presbyterianer etc.), die als „Puritaner“ bezeichnet werden, „shared a common dream“. Vgl. zur Einigung der Puritaner in Nordamerika M.A. Noll, Das Christentum in Nordamerika, übers. von V. Jordan, KGE IV/5, Leipzig 2000, 72f. 25 Cullen (The American Dream, 8) spricht vom „first great American Dream, that of small groups of English religious dissenters who traversed an ocean of seeking a way of worshipping God as they saw fit.“ 26 A. de Tocqueville, Democracy in America, New York 1966, 268. 21

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

thos der USA. Die Frage, wie ihr amerikanischer Traum aussah, lässt sich nicht ohne Verweis auf die biblische Motivik beantworten, die ihren Glauben imprägnierte. Ihr gesamtes Projekt bestand darin, dieser spezifischen Referenz Anschauung zu verleihen, verstanden sie sich selbst doch als in der biblischen Heilsgeschichte begriffen. Dies wird wohl quellentechnisch anderswo kaum deutlicher als in den beiden „Klassikern“ schlechthin, nämlich dem „Mayflower Compact“ (1620) und John Winthrops (1606–1676) berühmter Rede „A Model of Christian Charity“27, die er im Jahr 1630 noch an Bord der „Arabella“ hielt. 2.1 Der Mayflower-Compact (1620) Rekapitulieren wir kurz die Geschichte der sog. „Pilgerväter“, die sich selbst „Saints“ nannten. Es handelte sich um eine Gruppe englischer Auswanderer, unter ihnen viele Puritaner, 102 Passagiere insgesamt, die am 5. August 1620 an Bord des Schiffes „Mayflower“ gingen und in die „Neue Welt“ aufbrachen.28 Ob sie wirklich auf der Suche nach „religious freedom“ waren, wie es das Narrativ von der Gründung nationaler Identität in eben dieser Suche will, wäre noch zu klären. Jedenfalls fand die Abfahrt später als geplant statt und die „Mayflower“ geriet in heftige Herbststürme, die den Atlantik aufpeitschten. Nach grauenhaften Strapazen erreichten die Passagiere nach neun Wochen Fahrt Cape Cod, eine Landzunge vor Plymouth an der Küste Neuenglands. Am 11. Nov. 1620, noch bevor sie völlig durchnässt und durchfroren das Schiff verließen, verpflichteten sie sich in einem feierlichen Akt zu gegenseitiger Verantwortung.29 Man versammelte sich in der Kabine und unterzeichnete den „Mayflower Compact“, den sie mit Gott und miteinander schlossen (mutua obligatio). Dort heißt es u.a.: „Wir kommen hiermit feierlich und wechselseitig, vor Gottes Angesicht und voreinander, überein und vereinigen uns selbst zu einem bürgerlichen politi-

27

J. Winthrop, A Model of Christian Charity (1630), in: P. Miller, The American Puritans. Their Prose and Poetry, New York 1956, 79–84 (= P. Miller / Th.H. Johnson [Hg.], The Puritans. A Sourcebook of Their Writings. Revised, New York 1963, 195–199); dt. Übersetzung in: KTGQ IV, 4–6. 28 Zur Geschichte der Mayflower vgl. N. Philbrick, Mayflower. Aufbruch in die Neue Welt, übers. von N. Juraschitz, München 2006. 29 A. Bächtold, Die Pilgerväter, in: M. Krieg / G. Zangger-Derron (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 22003, (171–173) 171.

2. Vom initium zum principium

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schen Körper; zur besseren Ordnung unter uns und zu Schutz und Förderung der obengenannten Absichten.“30

Es geht um mehr als einen schlichten Konsens in einer beliebigen, die Puritanergruppe betreffenden Frage der Lebensgestaltung, nämlich um einen genuin politischen Konstitutionsakt besonderer Art, dergestalt, dass nicht einfach nur der Körper, zu dem man sich zusammenschließt, als „politisch“ identifiziert wird, sondern eine neue Weise von Politik, eben „body politics“ initiiert, ja mehr noch: gegründet wird.31 Die an dieser „body politics“ Partizipierenden sind, sofern die „body politics“ als „civil“ (nicht etwa einfach nur als „public“) attributiert wird, zugleich Bürger. Dieser besondere Typus von Politik ist nicht zu verstehen, wenn von den Bürgern abgesehen wird. Freilich sind sie nicht einfach als Individuen, sondern als solche zu betrachten, die durch Vereinigung einen Körper bilden, die also mit anderen Worten einen Bund untereinander und vor Gott schließen. Die Bundespartner sind Bundesbürger.32 Doch welche Rolle spielt Gott dabei? Die „body politics“ wird co­ ram Deo gegründet. Gott tritt freilich anders als in der alttestamentlichen, etwa priesterschriftlichen oder deuteronomisch/deuteronomistischen Bundestheologie, nicht als Bundespartner auf.33 Die primär 30

Zit. nach Bächtold, a.a.O., 172. Diese Übersetzung ist treffender als diejenige in: Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, eingel. von H. Schambeck, Berlin 22007, 20. Im englischen Original heißt es: „[…] doe by these presents solemnly & mutualy in the presence of God, and one of another, covenant & combine our selves togeather info a civill body politick, for a better ordering & preservation & furtherance of the ends aforesaid“. Zit. nach Ch.A. Beard, A Basic History of the United States, New York 1950, 492f. (Appendix). 31 Der Terminus „body politics“ hat eine breite Wirkungsgeschichte entfaltet, die sich bis in die Gegenwart erstreckt. Vgl. etwa J.H. Yoder, Body Politics. Five Practices of the Christian Community Before the Watching World, Nashville 1992 (deutsche Übersetzung: Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben, Schwarzenfeld 2011). Fernerhin: O.A. Piper, The Church and Political Form, in: W.A. Quanbeck (Hg.), God and Caesar. A Christian Approach to Social Ethics, Minneapolis 1959, (1–28) 12–23; W. Brueggemann, Bodied Faith and the Body Politics, in: ders., Old Testament Theology. Essays on Structure, Theme, and Text, ed. by P.D. Miller, Minneapolis 1992, 67–94. 32 Zur Bundestheologie der Puritaner vgl. M. Walzer, The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge / London 1965, 167–171; 212–221; G. A. Moots, Politics Reformed. The Anglo-American Legacy of Covenant Theo­logy, Columbia 2010, 99–116; J. Witte, Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus, übers. von A. Glaw, Theologische Anstöße 8, Neukirchen-Vluyn 2015, 326–372. 33 Wie Witte (Die Reformation der Rechte, 32) hervorhebt, ging es beim Mayflower Compact primär um einen „sozialen Bund“: „Der soziale Bund schuf die Gesell-

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

handelnden und den Bund schließenden Subjekte sind ausschließlich die menschlichen Bundespartner. Gott erscheint lediglich als diejenigen Instanz, in deren Beisein die menschlichen Bundespartner den Bund schließen. Gott fungiert mit anderen Worten als Zeuge. Hier zeigt sich eine signifikante Verschiebung auf dem Weg hin zur neuzeitlichen Vertragstheorie, die sich als kupierte Bundes- bzw. Föderaltheologie verstehen lässt.34 Nicht ganz unzutreffend hat man festgestellt, dass der „Mayflower Compact“ „das erste offizielle Dokument einer politischen Körperschaft in Nordamerika und das erste Beispiel eines modernen Sozialvertrages“35 ist. Der Rechtswissenschaftler John Witte, Jr. hat darauf hingewiesen, dass in der Nachfolge des „Mayflower Compact“ „[m]ehr als hundert solcher gesellschaftlicher Bünde […] überall in den neuenglischen Archiven des 17. Jahrhunderts verstreut [sind] – verschiedentlich als Verträge, Zusammenschlüsse, Chartas oder Patenturkunden. In der zweiten Generation der Kolonialisierung, sowohl in Massachusetts als auch darüber hinaus, wurden diese Bünde länger und ausführlicher und gingen oft in bürgerliche Bünde über, welche die Funktionsweisen der nachfolgenden Regierungen bestimmten.“36 Es lässt sich im Blick auf alle diese Dokumente festhalten: „Bei dem in den zeitgenössischen Protokollbüchern bezeugten Verfahren bei der Gründung puritanischer Ansiedlungen war eine der ersten Handlungen der Neuankömmlinge regelmäßig der Beschluss, sich durch einen feierlichen Bundesschluss zu einer kongregationalistischen Gemeinde zusammenzuschließen. Der Bundesschluss beinhaltet in der Regel folgende Elemente: Gott wird als Bundeszeuge angerufen; der Bund wird als notwendig für die Bildung einer sichtbaren Kirche bezeichnet, denn in ihm verpflichten sich die Gläubigen, einander dabei zu helfen, gemäß dem Willen ihres Erlösers zu leben; durch den Bund bilden die Individuen ein Volk und verpflichten sich, Gottes Geboten gehorsam zu sein und in gegenseitiger Liebe und Respekt zu leben. Der Bund wurde also nicht nur als Vergewisserung des göttlichen Segens für das Bundesvolk verstanden, sondern auch als ernste Verpflich-

schaft oder das Gemeinwesen als Ganzes. Er bezeichnet jede Gemeinschaft als Gottes auserwähltes Volk und setzte einen hohen moralischen Maßstab, sodass die Gemeinschaft eine ‚Stadt auf einem Hügel‘, ein ‚Licht für die Nationen‘ sein konnte.“ Vgl. a.a.O., 345. 34 Dies habe ich mich zu zeigen bemüht in: M. Hofheinz, „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik, ZThK 117 (2/2020), 164–195. 35 Bächtold, Die Pilgerväter, 172. 36 Witte, Die Reformation der Rechte, 348.

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tung zur Befolgung und Durchsetzung der göttlichen Gebote in der durch den Bund begründeten Gemeinschaft.“37

Gott verschwindet zwar anders als in den späteren modernen Sozialverträgen im „Mayflower Compact“ noch nicht, soweit würden die frommen Pilgerväter und -mütter natürlich nicht gehen, aber seine Rollenfunktion im Geschehen des Bundesschlusses bewegt sich doch in die Richtung der eines Statisten. Wenn aber nur die menschlichen Partner untereinander den Bund schließen – wenngleich coram Deo –, so tauchen neue Probleme auf; nicht, dass Probleme vorher ausgeschlossen gewesen wären. Die Geschichte Israels zeugt von multiplen Problemkonfigurationen und Konfliktgeschehnissen rund um die Bundeskonstellation(en). Jedoch tritt Gott als Vermittlungsinstanz im „Mayflower Compact“ an den Rand. Anders gesagt: Gott ist nicht mehr als handelndes Subjekt im Vollsinn der Dritte im Bunde neben oder besser zwischen den menschlichen Bundespartnern. Die konzeptionelle Disposition des „Mayflower Compact“ verwehrt dies. D.h. aber, dass das Vermittlungspotential wegfällt, das einer Logik der Tertiarität gewissermaßen inhäriert.38 Bei Streitigkeiten zwischen den beiden Partnern sind diese nämlich nur noch auf sich alleine gestellt. Der Dritte, der übergreifende Interessen pazifizierend einbringen könnte, fällt weg. Genau hier liegt ein Problem begründet, das im weiteren geschichtlichen Verlauf, wie wir noch sehen werden, bedeutsam werden sollte, nämlich das Devianzproblem, also das Problem abweichenden Verhaltens und zwar innerhalb und außerhalb des Bundes. Auf den Punkt gebracht: Was macht man mit Abweichlern innerhalb der Bundesgemeinschaft, also devianten Bundesgenossen, gewissermaßen Dissentern unter Dissentern, und was macht man mit Abweichlern, die sich aufgrund ihrer Devianz dem Bund und damit dem Zusammenschluss zu einer Partnerschaft verweigern? In der Sprache des Seemannsbrauchtums und des Shanty-Gesangs: „What shall we do with the drunken sailor?“, so könnte man fragen. Mit dem Devianzproblem tritt die Frage nach Sozialdisziplinierung und Gewaltgebrauch auf die Agenda. Sie sind unmittelbar miteinander verknüpft und spielen in der Geschichte des Puritanismus eine prominente Rolle. 37

M. Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“: Roger Williams als Kritiker des Mythos der auserwählten Nation, übers. von M. Rothkegel, Theologische Gespräche 37 (4/2013), (159–177) 166. 38 Vgl. J. von Soosten, Feindesliebe. Konstellationen einer Grenzmoral, in: T. Meireis (Hg.), Gewalt und Gewalten. Zur Ausübung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt, Tübingen 2012, (203–224) 210–215.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

2.2 „A Model of Christian Charity“ (1630) Doch zunächst sei auf den zweiten, nicht weniger bedeutenden puritanischen „Klassiker“ verwiesen: Kurz vor der Abreise in die Neue Welt hielt der Jurist und spätere Gouverneur von Massachusetts John Winthrop im Jahr 1630 seine berühmt gewordene Ansprache „A Model of Christian Charity“ vor seinen puritanischen Glaubensgeschwistern an Bord des Schiffes „Arabella“.39 Auch seine Ausführungen sind getragen vom Bundesgedanken,40 wie man überhaupt mit John Witte, Jr. festhalten kann, dass das „Herzstück“41 puritanischer Theologie in Neuengland die Idee des Bundes bildete. Winthrop identifiziert die Puritaner mit dem Gottesvolk Israel, das nach der Wüstenwanderung nun vor der Einnahme des gelobten Landes stehe. Nicht zufällig beschließt Winthrop seine Ansprache mit den letzten Abschiedsworten des Mose an Israel: „Geliebte, vor uns ist nun Leben und Gutes, Tod und Böses hingestellt. Heute ist uns befohlen, den Herrn unseren Gott zu lieben und einander zu lieben, in Seinen Wegen zu wandeln und Seine Gebote zu halten und Seine Anordnungen und Seine Gesetze und die Artikel unseres Bundes mit Ihm, daß wir leben und zahlreich werden mögen und daß der Herr unser Gott uns segnen möge in dem Land, wohin wir gehen um es zu besitzen.“42

Hier ist nun – anders als im „Mayflower Compact“ – auch vom Bund mit Gott die Rede und von Gott als handelndem, genauer gesagt: segnendem Subjekt. Freilich lässt sich mit der nötigen Spitzfindigkeit beobachten, dass auch hier von Gott als Bundespartner und handelndem Subjekt nur in einem eingeschränkten Sinne die Rede ist, insofern der Bund als „unser Bund mit Gott“, nicht aber als „Gottes Bund mit uns“ identifiziert wird. Gottes- und Menschenliebe, die für die Doppelgestalt des Bundes stehen, nehmen diesen Bund aus der Perspektive des 39

Vgl. F.J. Bremer, John Winthrop: America’s Forgotten Founding Father, Oxford 2003, 173–184; H.J. Dawson, „Christian Charitie“ as Colonial Discourse: Rereading Winthrop’s Sermon in its English Context, Early American Literature 33 (1998), 117–148. 40 Es lässt sich mit Witte (Reformation der Rechte, 31) festhalten, dass „[d]ie Geistlichen von Neuengland [der] traditionellen calvinistischen Lehre ihre eigene besondere Bundestheorie hinzu[fügten]“. So auch Noll, Das Christentum in Nordamerika, 72f. 41 Witte, Reformation der Rechte, 326. Vgl. auch ders., Covenant Liberty in Puritan New England, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, (169–189) 177. 42 KTGQ IV/1, 6.

2. Vom initium zum principium

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Menschen in den Blick: Es geht um den Bund der Israeliten mit Gott und den Bund der Israeliten untereinander.43 Ist es im Alten Testament mit geradezu theozentrischer Schlagseite Gott, der den Bund schließt, so dass ein asymmetrisches Konstitutionsverhältnis zwischen Gott und Mensch erkennbar ist, so kippt dieses Verhältnis bei Winthrop ins Gegenteil: Der Mensch schließt den Bund mit Gott. Dieser Rollentausch lässt eine Anthropozentrik statt Theozentrik erkennen. Die Theonomie des föderaltheologischen Konstitutionsprinzips wird zurückgenommen zugunsten menschlicher Initiative. Die Bundesvorstellung bildet zwar auch bei Winthrop so etwas wie den theologischen Referenzrahmen oder besser noch die Zentralperspektive seiner gesamten Ansprache, doch hat sie sich hier bereits gegenüber dem biblischen Idiom verwandelt. Der föderaltheologische Transformationsprozess hin zum Kontraktualismus ist bereits in vollem Gange. Von dieser veränderten bundestheologischen Vorstellung ausgehend, werden alle anderen Sujets (Motive, Metaphern etc.) gesteuert. Dementsprechend hebt Winthrop hervor: „So steht die Sache zwischen Gott und uns: Wir sind mit Ihm in einen Bund eingetreten für dieses Werk. Wir haben eine Urkunde gemacht, der Herr hat uns Raum gegeben, unsere eigenen Artikel niederzuschreiben. Wir haben bekannt, diese Handlungen zu diesen und jenen Zielen zu unternehmen. Wir haben daraufhin Ihn angefleht um Heil und Segen. Wenn es dem Herrn nun gefällt, uns zu erhören und uns in Frieden an den Ort zu bringen, den wir erstreben, dann hat Er diesen Bund ratifiziert und unsere Urkunde versiegelt und wird danach eine strikte Erfüllung der darin enthaltenen Artikel erwarten.“44

Wiederum liegt die Bundesinitiative nicht bei Gott, sondern beim Menschen. Der Mensch initiiert und Gott gewährt dazu Raum und ratifiziert schließlich in Winthrops Rede. Die gratia praeveniens wird bundestheologisch in dieser Rollenkonstellation zur gratia consequens, anders gesagt: der Bundesschluss mutiert bei Winthrop von Gottes zu 43

M. Scattola (Die Lehre vom Vertrag in der Föderaltheologie der ersten englischen Puritaner, in: H. de Wall [Hg.], Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 133–150) weist darauf hin, dass die Lehre vom doppelten Bund bei den Puritanern in der eusebischen Tradition steht. Vertragspartner des Bundes mit Gott sei dabei nicht die gesamte Menschheit, sondern nur die Gemeinschaft der Auserwählten. Die Umgebung der besonderen, auserwählten Gemeinschaft werde dabei als feindlich wahrgenommen. Hier manifestiert sich durchaus ein Heilsex- statt -inklusivismus. 44 KTGQ IV/1, 5.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

des Menschen opus praeveniens. Der Ratifizierungsakt bildet lediglich das nachklappende opus consequens in einem Bundesgeschehen, das zudem geschichtstheologisch rückgebunden wird an den ungewissen Ausgang einer mehr als gewagten transatlantischen Schifffahrt und an die allzumal limitierten menschlichen Fähigkeiten der Nautik in vorindustriellen Zeiten. Nach dieser geschichtstheologischen Denkungsart, die Winthrop präsentiert, bildet die erfolgreiche Überfahrt in die Neue Welt gleichsam die Ratifizierung und Versiegelung, sprich: die Inkraftsetzung des Bundes. Aber nicht nur die Bundeskonstitution, sondern auch dessen Erfüllung liegt nach Winthrop letztlich in der Hand des Menschen. Die Bundeserfüllung wird gleichgesetzt mit der „strikten Erfüllung“ der in der Urkunde enthaltenen Artikel. Die Attributierung „strikt“ hört sich dabei bereits an wie ein fernes Donnergrollen, das die drohenden Gewitter scharfer Sozialdisziplinierung bei Zuwiderhandlungen ankündigt. Eine den perhorreszierten Bundesbruch betreffende Drohkulisse wird hier klar erkennbar aufgebaut: „Aber wenn wir die Beobachtung dieser Artikel, die die Ziele sind, die wir uns vorgesetzt haben, vernachlässigen werden, wenn wir unserem Gott heucheln, diese gegenwärtige Welt umarmen, unseren fleischlichen Neigungen nachfolgen, Großes für uns selbst und unsere Nachkommen suchen, dann wird der Herr gewiß in Zorn ausbrechen gegen uns, wird Genugtuung von solch’ einem meineidigen Volk fordern und uns den Preis erkennen lassen für den Bruch eines solchen Bundes.“45

Man erhält hier einen Vorgeschmack auf das, was später als „Jeremiade“ in die Literatur- und Ideengeschichte eingehen sollte. So hält etwa James D. Bratt hinsichtlich der zweiten Puritanergeneration und des an sie in Klagepredigten gerichteten Vorwurfs fest, der von Winthrop geforderten Vorbildfunktion nicht mehr gerecht zu werden: „Als typisch literarische Gattung im kolonialen Neuengland darf die Jeremiade gelten – eine Klagepredigt, die dem erwählten Volk anhand unzähliger Beispiele vorhält, wie es sich gegen seine Berufung versündigt hat. Doch auch die Strafen, mit denen Gott sein Volk wegen dessen Verstössen heimsucht, wurden noch als Zeichen der Hoffnung angesehen, als Beweis dafür, dass Gott den Bund mit seinem Volk nicht aufgelöst hat.“46 Es handelt sich bei diesen Strafen gewissenmaßen um signa 45

A.a.O., 5f. J.D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika, in: M.E. Hirzel / M. Sallmann (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 46

2. Vom initium zum principium

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praedestinationis bzw. signa foederis. William T. Cavanaugh hat darauf hingewiesen, dass Winthrop Am 3,2 („Aus allen Geschlechtern habe ich allein euch erkannt, darum will ich auch an euch heimsuchen all eure Sünde“) gebraucht, „to connect chosenness with judgment“.47 Auch bei Winthrop merken wir, wie stark bereits die Bundesvorstellung in den Horizont des Vertragsdenkens rückt. Diese Tendenz wird sich, wie gesagt, neuzeitlich verstärken und gewissermaßen in den Kontraktualismus münden. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, wie sie etwa bei allen konzeptionellen Differenzen bei Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau vorliegt, resultiert aus dieser Entwicklung. Im Zug dieser Entwicklung vom Bund zum Vertrag spielt sich allerdings ein Verlust ein. Gott geht gleichsam in Folge der Transformation des Bundes zum Vertrag als Bundespartner verloren.48 Der Vertrag repräsentiert insofern einen kupierten Bund.49 Bezeichnenderweise ereignet sich gewissermaßen eine Parallelhandlung in der Rezeptionsgeschichte zur Ansprache Winthrops. Sie betrifft den Gebrauch der dort verwendeten biblischen Metaphorik. Zur Demonstration sei diesbezüglich eine längere Passage aus der Ansprache Winthrops wiedergegeben, die einen Einblick in deren Reichtum gibt und „geradezu durchsetzt [ist] mit biblischen Reminiszenzen“.50 Sie betrifft den zu vermeidenden Bundesbruch seitens des menschlichen Partners, also – wenn man so will – das von Winthrop angepriesene Gegenmittel zum Scheitern des amerikanischen Traums: „Der einzige Weg, um diesen Schiffbruch zu vermeiden und Vorsorge zu treffen auch für unsere Nachkommenschaft ist die Befolgung des Rates von Micha: Recht tun, Barmherzigkeit leben, demütig wandeln mit unsrem Gott 500. Geburtstag, Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4, Zürich 2008, (71–94) 74. Zur „Jeremiade“ vgl. G. Reinartz, Die amerikanische „Jeremiade“ als rhetorische Strategie im öffentlichen Diskurs: Disillusionment in Eden, Frankfurt a.M. 1993. 47 W.T. Cavanaugh, Messianic Nation: A Christian Theological Critique of Ameri­ can Exceptionalism, in: ders., Migrations of the Holy. God, State, and the Political Meaning of the Church, Grand Rapids / Cambridge 2011, (88–108) 90. 48 Gleichwohl kann etwa John Locke den Atheismus von der von ihm befürworteten Religionspluralität im Sinne von Toleranz ausschließen. Der Toleranzgedanke ist bei ihm auf Anhänger des Gottesglaubens reduziert. Vgl. J. Locke, Ein Brief über die Toleranz, in: S. Hering (Hg.), Toleranz – Weisheit, Liebe oder Kompromiss?, Opladen 2004, 235–244. 49 Vgl. M. Hofheinz, Im Bund. Theologische Impulse zur Sexual- und Sozialethik, Solingen 2020. 50 G. Sauter, „A City upon a Hill“? Die religiöse Dimension des amerikanischen Selbstverständnisses und seine gegenwärtige Krise, in: S. Sielke (Hg.), Der 11. September 2001. Fragen, Folgen, Hintergründe, Frankfurt a.M. u.a. 2002, (69–80) 73.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

[Mi 6,8]. Zu diesem Ziel müssen wir bei diesem Werk verbunden sein wie ein Mann. Wir müssen uns untereinander in brüderlicher Liebe aufnehmen. Wir müssen willig sein, von unserem Überfluß abzugeben für die Unterstützung der Not anderer. Wir müssen beitragen zu einem persönlichen Umgang miteinander in aller Milde, Sanftheit, Geduld und Großzügigkeit. Wir müssen uns aneinander freuen, die Lage anderer zu unserer eigenen machen, miteinander fröhlich sein, miteinander trauern, zusammen arbeiten und leiden [vgl. Röm 12,9–16]: Und immer muß vor unseren Augen unsere Urkunde stehen und unsere Gemeinschaft in dem Werk, unsere Gemeinschaft als Glieder desselben Leibes [vgl. 1Kor 12,12]. So werden wir die Einheit des Geistes im Bunde des Friedens bewahren [vgl. Eph 4,3], der Herr wird unser Gott sein und mit Freuden unter uns wohnen wie unter Seinem eigenen Volk und wird Segen auf uns in allen unseren Wegen geben, so daß wir sehr viel mehr von Seiner Weisheit, Macht, Güte und Wahrheit sehen werden, als wir früher damit vertraut waren. Wir werden finden, daß der Gott Israels unter uns ist [vgl. Off 21,3], so daß zehn von uns in der Lage sein werden, tausend unserer Feinde zu widerstehen und Er uns zu einem Lob und Ruhm machen wird, so daß die Menschen bei späteren Pflanzungen sagen werden: ‚Der Herr mache es ebenso wie in Neu-England.‘ Denn wir müssen bedenken, daß wir wie eine Stadt auf dem Berge sein werden [Mt 5,14]. Die Augen aller Leute sind auf uns gerichtet: So daß, wenn wir falsch mit unserem Gott handeln in diesem Werk, das wir unternommen haben, und Ihn damit nötigen, Seine gegenwärtige Hilfe von uns abzuziehen, dann werden wir zur Geschichte und zu einem üblen Exempel in der ganzen Welt.“51

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat darauf hingewiesen, dass die der Bergpredigt (Mt 5,14) entnommene Metapher von der „Stadt auf dem Berge“ zugleich als Metapher für Jerusalem diente,52 genauer gesagt: das „neue Jerusalem“ aus Off 21. Beide Metaphern verschmelzen, sie amalgamieren. Teil dieser geschichtstheologischen Legierung 51

KTGQ IV/1, 6. Witte (Covenant Liberty in Puritan England, 178) kommentiert: „The Puritans attached great importance to public benevolence. Charity and public spiritedness were prized. Churlishness and private sumptuousness were scorned. […] These were not just homiletic platitudes. The New England Puritans prescribed and practiced good samaritanism. They punished citizens who failed to aid their neighbors in need or peril. They set up public trusts, community chests, and work programs for indigents and immigrants. They developed systems of relief for the poor, the elderly, and the handicapped. They established systems of academic and vocational education. This was a very modest social welfare program when viewed by contemporary standards, but rather magnanimous when judged by standards of the day.“ 52 Vgl. H.-U. Wehler, Die Puritaner. Weltbildspender des amerikanischen Nationalismus, in: A. Christophersen / F. Voigt (Hg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, (13–27) 20.

2. Vom initium zum principium

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ist das Bewusstsein, das „auserwählte Volk“,53 also ein „neues Israel“ zu sein: „In den kleinen neuenglischen Gemeinwesen herrschte die unerschütterliche Grundüberzeugung, dass Gott nach dem Misserfolg [der Puritaner; M.H.] in England seinem ‚Auserwählten Volk‘ jetzt einen ganzen Kontinent als ‚Gottes amerikanisches Israel‘ eröffne.“54 Wehler identifiziert dementsprechend John Winthrop als „protoamerikanischen Moses“55, der mit seiner Rede „A Model of Christian Charity“ „den Konsens über den Aufbau seiner neuartigen Gesellschaft“56 ausdrückte. Und in der Tat beruft sich Winthrop, wie bereits gezeigt wurde, am Ende seiner Rede explizit auf Mose: „Um diese Rede mit der Ermahnung des Mose zu beschließen, dieses treuen Dieners des Herrn bei seinem letzten Abschiedswort an Israel“.57 Mit der Zielutopie des „neuen auserwählten Volkes“ sei das puritanische Weltbild im Grunde fertig gewesen, das apokalyptisch aufgeladen und in der Distinktion von Gut und Böse, Auserwählten und Verworfenen manichäisch angewandt und in seiner mentalitätsgeschichtlichen Wirkmächtigkeit entfaltet werden konnte. Der Puritanismus fungierte auf diese Weise – so die These Wehlers – als „Weltbildspender des amerikanischen Nationalismus“. Die puritanische Theologie verlängerte die „alttestamentlichen Vorstellung vom ‚Auserwählten Volk‘“, die Wehler als Wurzelgrund des Nationalismus ausmacht.58 53

Das Bewusstsein, „auserwähltes Volk“ zu sein, ist indes kein US-amerikanisches Spezifikum. Vgl. U. Gäbler, Die Schweizer – ein „Auserwähltes Volk“?, in: Reformiertes Erbe. Festschrift für G.W. Locher, Bd. 1, hg. von H.A. Oberman u.a., Zwingliana 19/1, Zürich 1992, 143–155. 54 Wehler, Die Puritaner, 20. Vgl. Witte, Die Reformation der Rechte, 347. 55 Wehler, Die Puritaner, 20. 56 Ebd. 57 KTGQ IV/1, 6. 58 Vgl. Wehler, Die Puritaner, 26f.: „Ein vergleichender Überblick über die Konstruktionsteile der europäischen und amerikanischen Nationalismen ergibt, dass die alttestamentliche Vorstellung vom ‚Auserwählten Volk‘ überall Eingang gefunden und die eigene Nation als Gottes Instrument überhöht hat. Insofern fügt sich das puritanische Weltbild Amerikas in einen allgemeineren Zusammenhang, hat dort aber eine besondere Intensität entfaltet. Wenn in der gegenwärtigen Nationalismusforschung häufig die Auffassung vertreten wird, der Nationalismus habe sich in einer verhängnisvollen Steigerung allmählich bis hin zu einer ‚Politischen Religion‘ mit absolutem Loyalitätsanspruch gesteigert, bedarf dieses genetische Argument offenbar der Korrektur. Wie die Akzeptanz der puritanischen Lehre, aber auch die Genese zahlreicher anderer Nationalismen demonstriert, ist der Nationalismus von Anfang an ein Weltbild gewesen, das in direkter Anleihe auf genuin religiösen Überlieferungen aufgebaut worden ist, wie sie die alttestamentliche Doktrin vom ‚Auserwählten Volk‘ im Gelobten Land in einem ausgezeichneten Maße verkörpert. So gesehen ist der westliche Nationalismus seit jeher mit dem Anspruch aufgetreten, das Weltbild einer

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Doch bildet tatsächlich das puritanische Weltbild und die puritanische Theologie selbst das Übel oder vielleicht nicht doch etwas anderes, etwa deren Säkularisierung? Freilich ist bereits, wie demonstriert, die puritanische Theologie mit dem Zurücktreten Gottes im Bundesgeschehen im Säkularisierungsprozess begriffen. Jedoch sollte man sie nicht einfach mit späteren Erscheinungsformen gleichsetzen. So hat etwa Gerhard Sauter darauf insistiert: „Die Predigt Winthrops, eines der zentralen religiösen Dokumente des amerikanischen Puritanismus, ist weit entfernt von jeder Art von Moralismus, der die Welt in Gut und Böse aufteilt und das Böse ausmerzen will, um die ideale Gesellschaft zu verwirklichen, und der zu diesem Zwecke Gott für die eigene Purifikation zerrütteter Verhältnisse in Anspruch nimmt. Winthrop und alle diejenigen, die in seinem Sinne weiterdachten, sprachen und handelten, sahen Amerika unter dem Urteil Gottes, nicht an Gottes Seite.“59

In seiner Analyse der Predigt Winthrops zeigt Sauter die Vielfalt der biblischen Anklänge.60 Das Probleme bestehe nun nicht etwa in Win­ throps Anwendung biblischer Semantik, sondern vielmehr in deren Entleerung und jenen säkularen Reduktionismen, die sich vor allem im 19. und 20. Jahrhundert einstellten. So sei „[v]on Winthrops Rede […] allerdings nur die Metapher ‚der Stadt auf einem Berge‘ im kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten lebendig geblieben. […] Amerika soll leuchtendes Vorbild sein: darauf zurechtgestutzt, wurde die Metapher immer wieder zitiert […]. Der zweite Teil wurde verdrängt, und dadurch änderte die Metapher auch ihren Sinn: Die Stadt auf dem Berge mit ihrer Verfassung, mit ihren Regeln, Sitten und Gebräuchen, wird zur ideal society. Diese Bedeutungsverschiebung konnte nur durch ‚Amputation‘ zustandekommen.“61 Vergessen seien hingegen die Jeremiadenanklänge62 und die mit reicher biblischer Metaphorik ausgeschmückte Gesetzespredigt mit neuen Religion zu verkörpern, die allerdings weithin auf traditionellen Elementen der jüdisch-christlichen Tradition beruhte.“ 59 Sauter, A City upon a Hill, 75f. 60 Vgl. a.a.O., 73f. 61 A.a.O., 74. 62 Sauter (a.a.O., 75) würdigt die „Jeremiaden“ eingehend: „Jene Jeremiaden waren, auch wenn sie moralische Missstände anprangerten, nicht auf diese fixiert, sondern sahen sie in größeren Zusammenhängen, ähnlich wie Winthrop, wenn er mahnt, sich einander zuzuwenden, in allen Nöten ernst zu nehmen und zu helfen, Lasten gemeinsam zu tragen, Freuden miteinander zu teilen, und sich bei alledem als community zu verstehen, als ‚members of the same body‘; ein kommunitärer Charakterzug, der in den USA, der zumindest in kleinen und größeren Nachbarschaften immer lebendig ge-

2. Vom initium zum principium

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deren wiederkehrendem cantus firmus des „Wir müssen“. Vergessen sei auch das Bundesgeschehen, das mit dem ratifizierenden, ja auf hoher See und in höchster Not rettenden und richtenden Bundeshandeln Gottes rechnet: „Später“, so Sauter weiter, „geriet dieses Junktim in Vergessenheit und übrig blieb die Metapher der ‚city upon a hill‘; doch jetzt in anderer Bedeutung: Amerika steht im Licht, es leuchtet in eine dunkle Welt hinein, alle anderen stehen zumindest im Schatten, wenn sie sich nicht gar in düsterer Finsternis herumtreiben. Die Sichtbarkeit der Gottesstadt – unübersehbar in dem, was in ihr geschieht – wird vertauscht mit ihrer Leuchtkraft, ihrer Vorbildlichkeit, ihrer Identität mit dem Guten, Gerechten, dem Gott Wohlgefälligen. Diese Vertauschung, die von der Reduktion der Metapher herrührt – das ist, auf den Punkt gebracht, das Dilemma der religiösen Dimension amerikanischen Selbstverständnisses. Dessen Krise ist nicht neu“.63

Gerade für die US-amerikanische Außenpolitik wurde „die Reduktion der Metapher Winthrops, die ‚Stadt auf dem Berge‘ zum Gesellschaftsmuster und Vorbild für ‚die Welt‘, in welchem geopolitischen Umfang auch immer. Diese Vorstellung kann früher oder später zum Imperialismus führen, einem Imperialismus mit religiösen Wurzeln, die sich von einem moralistischen Dualismus nähren. Auch eine Weltbeglückung nimmt dann die Züge einer Unterwerfung all derer an, die sich nicht dem leuchtenden Vorbild beugen wollen.“64 Bei Winthrop hingegen sieht der amerikanische Traum noch anders aus. Vollmundig erscheint er nur, wenn man die Jeremiaden überhört und den sich dort artikulierenden Zweifel an dem Erfolg des eigenen Unternehmens: „[T]he threat of failure loomed large over ‚A Model of Christian Charity.‘ […] In the context of his sermon, the city Winthrop imagined was perhaps less a shining example than a potential object of ridicule.“65 Es war wohl weniger ein selbstgewisser Siegeszug sendungsbewusst-fanatischer religiöser Eiferer, der imperialistische Feldzüge späterer Zeiten antizipierte, als vielmehr „a mix of hope and fear, of looking ahead and looking over their shoulders, that characterized the Puritan migration.“66 Insofern gilt: „Only in appreciating just how hard it was – not simply in terms of physical privations but in blieben und neuerdings immer stärker beachtetet wird.“ Vgl. zum Gemeinschafts- und Gemeinsinnverständnis der Puritaner Witte, Reformation der Rechte, 350f. 63 Sauter, A City upon a Hill, 75. 64 A.a.O., 77. 65 Cullen, The American Dream, 24. 66 Ebd.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

terms of the emotional and intellectual doubts that haunted them – can we appreciate the audacity of their strange American Dream.“67 Exkurs: „The City upon a Hill“. Vom politischen Gebrauch einer prominenten Metapher. Ein Kapitel säkularer Wirkungsgeschichte Immer wieder ist das Bild von der „Stadt auf dem Berge“ im 20. Jahrhundert von US-amerikanischen Präsidenten bemüht worden – von John F. Kennedy bis Barack Obama. Auch Obamas republikanischer Kontrahent John McCain stand dem nicht nach: „Recognize that America will always be that ‚shining city upon a hill‘, a beacon of hope and opportunity for those seeking a better life built on hard work and optimism.“68 Am stärksten und nachhaltigsten gebrauchte wohl Ronald Reagan dieses Bild in den 1980er Jahren.69 In seiner Abschiedsrede (farewell address to the nation) vom 11. Januar 1989 etwa bemerkte Reagan: „Ich habe von der strahlenden Stadt mein ganzes politisches Leben lang gesprochen, aber ich weiß nicht, ob ich jemals genau das vermittelt habe, was ich sah, als ich davon sprach. Aber in meiner Vorstellung war es eine große stolze Stadt, gebaut auf Felsen stärker als Ozeane, windgepeitscht, von Gott gesegnet und von Menschen aller Art bewohnt, die in Harmonie und Frieden lebten, eine Stadt mit freien Häfen, die voller Handel und Kreativität waren, und wenn Stadtmauern nötig waren, hatten diese Wände Tore, und die Tore waren offen für alle, mit dem Willen und dem Mut zu uns zu kommen. Das ist, wie ich sie sah und immer noch sehe...“70

Bemerkenswert ist der Einspruch, den damals der Gouverneur von New York, Mario Cuomo (1932–2015), Sohn italienischer Einwanderer, in fulminanter Weise in seiner berühmten Grundsatzrede (keynote address) auf der Convention der Demokratischen Partei erhob und dabei die Tradition der „Jeremiade“ auf rhetorisch höchst eindrucksvolle Weise revitalisierte. Mario Cuomo sprach Reagan direkt an und fragte: „Mr. President, where is your shining city?“ Cuomo hielt Reagan die sozialen Klassenunterschiede, wirtschaftliche Kluft und Armutsrate entgegen: 67

Ebd. H. Bauer, The American Dream. Inventing a Nation. Topics for Advanced Lear­ ners, hg. von E. Thaler, Paderborn 2009, 49. 69 So auch Cullen, The American Dream, 24. 70 https://de.wikipedia.org/wiki/City_upon_a_Hill (Zugriff: 20.7.2015). 68

3. Religiöser Exklusivismus und/oder politischer Pluralismus?

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„Eine glänzende Stadt ist vielleicht alles, was der Präsident von der Säulenhalle des Weißen Hauses und von der Veranda seiner Ranch aus sieht, wo es allen gut zu gehen scheint. Aber es gibt noch eine andere Stadt; es gibt noch einen anderen Teil der glänzenden Stadt; den Teil, in dem einige Leute ihre Hypotheken nicht bezahlen können und die meisten jungen Leute sich keine leisten können; in dem Studenten sich nicht die Ausbildung leisten können, die sie brauchen, und Eltern aus der Mittelschicht zusehen, wie sich die Träume, die sie für ihre Kinder haben, in Luft auflösen. In diesem Teil der Stadt gibt es mehr Arme als je zuvor, mehr Familien in Schwierigkeiten, immer mehr Menschen, die Hilfe brauchen, aber nicht finden können. Schlimmer noch: Es gibt alte Menschen, die zitternd in den Kellern der Häuser dort liegen. Und es gibt Menschen, die in den Straßen der Stadt schlafen, in der Gosse, wo der Glanz nicht zu sehen ist. Es gibt Ghettos, in denen tausende von jungen Menschen, ohne Arbeit und Ausbildung, täglich ihr Leben an Drogendealer verschenken. Es gibt Verzweiflung, Herr Präsident, in den Gesichtern, die Sie nicht sehen, an den Orten, die Sie in Ihrer glänzenden Stadt nicht besuchen. In der Tat, Herr Präsident, dies ist eine Nation – Herr Präsident, Sie sollten wissen, dass diese Nation mehr ‚Eine Geschichte aus zwei Städten‘ ist als nur ‚Eine glänzende Stadt auf einem Hügel‘.“71

Cuomo konfrontiert die optimistische Vision Reagans von Amerika als einer „shining city“ mit den Negativseiten sozialer und ökonomischer Realität und zwar unter Anspielung auf Charles Dickens Novelle „A Tale of Two Cities“, die in den verarmten Städten London und Paris vor und während der Französischen Revolution spielt. Seit dieser Rede galt Cuomo übrigens als eine der größten rednerischen Begabungen in der US-Politik. Er bewarb sich zur großen Enttäuschung vieler nie auf das Präsidentenamt der USA. 3. Religiöser Exklusivismus und/oder politischer Pluralismus? Zur zeitgenössischen Deutung des puritanischen Traums bei John Winthrop und Roger Williams Der „American Dream“ der Pilgerväter und -mütter war ein kommunitärer. Es ging ihnen mit der „city upon a hill“ um ein Gemeinschaftsprojekt, um „body politics“, wie es im „Mayflower Compact“ heißt. Das Problem mit Träumen besteht freilich darin, dass oftmals nicht alle den Traum teilen oder vielleicht den Traum in eine andere 71

http://www.americanrhetoric.com/speeches/mariocuomo1984dnc.htm (Zugriff: 20.7.2015). Eigene Übersetzung.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

oder gar viele andere Richtungen weiterträumen. Und genau dieses Pluralisierungsphänomen manifestierte sich auch in der auf den ersten Blick homogen erscheinenden religiösen Gruppe der Pilgerväter, die statt einer „city upon a hill“ viele verschiedene „cities“ bildeten, auch solche, die im übertragenen Sinne eher eine Tallage aufwiesen und in mancherlei Hinsicht einen „Abstieg“ für ihre Bewohner bedeuteten. Damit sind wir beim Negativimage der Puritaner angelangt, die bis heute eine denkbar schlechte Presse genießen. Richard Rorty nannte sie unumwunden „self-flagellating sickies“ – „selbstgefällige Kranke“.72 Die Puritaner stehen – kurz gesagt – in puncto Moral für unerträgliche Bigotterie und Hybris und in puncto Gesellschafts- und Staatsverständnis für eine rigide Theokratie, die mit den Mittel schärfster Sozialdisziplinierung rücksichtslos durchgesetzt wird.73 Hinsichtlich dieses eingefleischten Urteils verweist John Witte, Jr. hingegen auf die jüngere Geschichtsschreibung:74 „Viele Historiker haben mit der Zeit gelernt, die sympathischere Sicht der Puritaner […] zu akzeptieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Puritaner oft noch als unbeugsame ‚Theonomisten‘ und aggressive ‚Theokraten‘ dargestellt, die weder das wahre Gesetz noch die wahre Freiheit kannten. Die berüchtigte Verbannung von Anne Hutchinson und Roger Williams in den 1630er Jahren, die Einführung der mosaischen Kapitalverbrechen in den 1640er Jahren, die Hinrichtung von vier Quäkern im Boston Common in den 1650er Jahren, die grausamen Hexenprozesse von Salem in den 1690er Jahren scheinen ausreichend die Freiheitsfeindlichkeit der Puritaner zu beweisen. Heute zählen die Puritaner oft zu den ‚Führungspersönlichkeiten des amerikanischen politischen Denkens‘, deren Inspiration und Lehre zu den Grundlagen von Recht und Freiheit für den Erfolg sowohl der amerikanischen Revolution als auch der nachfolgenden staatlichen und föderalen verfassungsrechtlichen Konventionen unerlässlich waren.“75 72

Zit nach Cullen, The American Dream, 12. Vgl. etwa M. Berg, Die historische Dimension: Vom Puritanismus zum religiö­ sen Pluralismus, in: M. Brocker (Hg.), „God bless America“. Politik und Religion in den USA, Darmstadt 2005, (32–49) 32: „Den in Neuengland lange dominierenden Puritanern, einer streng kalvinistischen Sekte, die danach strebte, die anglikanische Kirche von allen Überresten des Katholizismus zu reinigen, war der Toleranzgedanke gänzlich fremd, ja, sie waren, wie ein puritanischer Geistlicher offen bekannte, seine ‚geschworenen Feinde‘.“ 74 Vgl. dazu auch überblicksartig S. Hardman Moore, Reformed Theology and Puritanism, in: P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson (Hg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, 199–214. 75 Witte, Die Reformation der Rechte, 327. 73

3. Religiöser Exklusivismus und/oder politischer Pluralismus?

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Noch bei Miroslav Volf ist in seinem vielbeachteten Buch „Flouri­ shing“ zu lesen, dass die Puritaner für die spezifische Kombinatorik aus religiösem und politischem Exklusivismus stünden: „Wenn es eines Beweises bedurfte, dass religiöse Exklusivisten politische Exklusivisten sein können, sogar politische Exklusivisten der totalitären Art, dann lieferten die religiösen und politische Führer der Massachusetts Bay Colony sie im Überfluss. In der berühmten Predigt mit dem Titel ‚Ein Modell christlicher Wohltätigkeit‘ entwarf John Winthrop, ihr erster Gouverneur, die Vision der Kolonie als eine ‚Stadt auf dem Berge‘ (‚city upon a hill‘). Die Stadt war ein irdisches ‚neues Jerusalem‘, das Gott und dem Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz geweiht war. Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung bestand darin, diese Gesetze durchzusetzen sowie über die Reinheit der religiösen Observanzen zu wachen. Auspeitschungen, Verstümmelungen wie die Ohren abschneiden oder die Zunge herausschneiden sowie (bei Ehebruch, Götzenverehrung und Gotteslästerung) Hinrichtungen, das waren einige der Strafen bei Ungehorsam. Als ‚Pflegevater‘ der Kirche, um einen Ausdruck von Richard Hooker zu verwenden, eines prominenten Theologen aus dem 16. Jahrhundert, erwartete man vom Staat unnachgiebige Strenge.“76

Doch diese spezifische Kombinatorik aus religiösem und politischem Exklusivismus sieht Volf mit Roger Williams (1603–1683)77 aufgebrochen.78 Sein Beispiel beweise, dass religiöser Exklusivismus ohne Widerspruch mit politischem Pluralismus einhergehen könne. Beide seien durchaus vereinbar.79 Volf kontrastiert dementsprechend Roger Williams und John Winthrop gewissermaßen als Prototypen der gegenläufigen Kombinatoriken. So stellt Volf Williams „Community of Conscience“ Winthrops „City upon a Hill“ gegenüber und dessen politischem und religiösem Exklusivismus – wie gesagt – Williams’ religiö­sen Exklusivismus und politischen Pluralismus. Folgt man Volfs Lesart, so geht es bei der Kontroverse Williams versus Winthrop um die 76

M. Volf, Zusammen wachsen. Globalisierung braucht Religion, übers. von H.-G. Türstig, Gütersloh 2017, 185f. Vgl. auch J.M. Barry, Roger Williams and the Creation of the American Soul. Church, State and the Birth of Liberty, New York 2012, 4. 77 Zu seiner Biografie vgl. die „Klassiker“ O.E. Winslow, Master Roger Williams. A Biography, New York 1957; P. Miller, Roger Williams. His Contribution to the American Tradition, New York 1962; E.S. Gaustad, Roger Williams: Prophet of Liber­ty, Oxford 2001. 78 Vgl. Barry, Roger Williams and the Creation of the American Soul, 395: „With absolute faith in the Bible, with absolute faith in his won interpretation of it, he nonetheless believed it ‚monstrous‘ to compel another person to believe what he or anyone else believed, or to compel conformity to his or anyone else’s beliefs.“ 79 Vgl. Volf, Zusammen wachsen, 184.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Frage, ob politischer Pluralismus einschließlich der Religionsfreiheit und der Trennung von Kirche und Staat zum amerikanischen Traum gehören oder alternativ das theokratische Ideal ihrer Einheit.80 Für die Alternative beider „Traumtypen“ stehen Williams und Winthrop nach Volf: „Nach Winthrops Auffassung würde Gott nicht geehrt und Er würde die junge Kolonie nicht segnen, wenn sie Gottes Gesetzen nicht gehorchen würde; und die Kolonie könnte Gottes Gesetzen nur dann gehorchen, wenn die Regierungen ihnen Geltung verschaffen würde. Nach Williams’ Auffassung wird Gott durch einen erzwungenen Gottesdienst beleidigt, und brutale Strafen, um die religiöse Konformität durchzusetzen, widersprechen dem Charakter des barmherzigen Gottes, der sich in Jesus Christus offenbart hat. Beide Männer waren fromme Christen, und beide waren religiöse Exklusivisten. Und doch führte der religiöse Exklusivismus von Winthrop zu politischem Exklusivismus und der von Williams zu politischem Pluralismus.“81

Roger Williams Community of Conscience

John Winthrop City upon a Hill

Politischer Pluralismus (Religionsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat)

Politischer Exklusivismus (Einheit von Kirche und Staat)

Religiöser Exklusivismus

Religiöser Exklusivismus

Es dürfte nach dieser Zuordnung klar sein, für welche Seite Volf sympathisiert. Roger Williams gilt allgemein als Heros und Ikone der Religions- und Gewissensfreiheit. In seinem berühmten „Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“ mit dem Titel „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ hat etwa der Heidelberger Rechtsgelehrte Georg Jellinek im Jahr 1895 Williams ein geistes- und ideengeschichtliches Denkmal gesetzt: 80

Vgl. L. Moore, Religionsfreiheit: Roger Williams und die revolutionäre Ära, übers. von H. Lazarus, in: H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, WdF CCXLVI, Darmstadt 1977, 276–307. Zur Aktualität der Williams’schen Position: D.H. Davis, The Enduring Legacy of Roger Williams. Applying his Princi­ ples to Today’s Pressing Church-State Controversies, in: L. Lybaek u.a. (Hg.), Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung. Die Würde des Anderen und das Recht anders zu denken. FS für E. Geldbach, Ökumenische Studien 30, Münster 2004, 478–491. 81 Volf, Zusammen wachsen, 188.

3. Religiöser Exklusivismus und/oder politischer Pluralismus?

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„Die Idee, unveräußerliche, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe. Ihr erster Apostel ist nicht Lafayette, sondern jener Roger Williams, der, von gewaltigem, tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in die Einöde auszieht, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu gründen und dessen Namen die Amerikaner heute noch mit tiefster Ehrfurcht nennen.“82

Roger Williams steht in den Augen vieler für das gute Amerika, den schönen und angenehmen Traum, für die „Statue of Liberty“, John Winthrop hingegen für den Alptraum und das hässliche Amerika und seinen Exzeptionalismus, den viele zunehmend als Problem empfinden. So schrieb die Münchner Historikerin Hedwig Richter unlängst anlässlich der Erstürmung des Capitols und Bidens Amtsantritt: „Kaum hat der Präsident der Vereinigten Staaten seine Anhänger entflammt, kaum ist der Mob ins Parlament gestürmt, da sind sie wieder überall zu hören, die alten amerikanischen Beschwörungen: best democracy, greatest country, die Stadt auf dem Hügel. […] Es gibt viele Gründe für die amerikanische Katastrophe. In historischer Perspektive drängt sich einer auf: die unfassbare Hybris, die nationale Selbstvergötterung. […] Doch bei der Weltmacht USA wird das überdimensionierte Eigenlob zum globalen Problem. […] Unter dem Vergrößerungsglas von Trumps Wahnsinn wurde offenbar, dass die unbändige Selbstbegeisterungsfähigkeit mehr als eine Peinlichkeit ist. Sie ist antibürgerlich und unaufgeklärt; eine Infantilisierung politischen Denkens und Handelns. Sie steht gegen alles, wofür die Menschheit in den letzten siebzig Jahren gekämpft hat: Toleranz, friedliche Verständigung, Gleichheit und Würde aller Menschen. Dass in einem Land mit gutem Schul- und Universitätssystem die halbe Bevölkerung an ein groteskes Lügengebäude glaubt, lässt sich nicht vom amerikanischen Exzeptionalismus trennen, nicht von der Reflexionsaversion und nicht von dem Unvermögen zur Selbstrelativierung. Es ist diese Geisteshaltung, in der der Glaube wuchert, der Mann mit den 82

G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1895, 42. E. Troeltsch (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912, UTB 1812, Tübingen 1994, 760; 764) etwa folgt weitgehend Jellineks Lesart. Zu Jellineks Thesen vgl. K.D. Erdmann, Roger Williams. Das Abenteuer der Freiheit. Rede anlässlich der feierlichen Eröffnung des Rektoratsjahres 1966/67 am 23. Mai 1966, VSHUG 46, Kiel 1967. Erdmann (a.a.O., 20) hält Jellineks liberaler Williams-Deutung entgegen, dass man „Idee und Begriff der Menschenrechte […] bei Roger Williams vergeblich“ suche. Insofern sei Jellineks Deutung zu revidieren.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

pompösesten Versprechungen von nationaler Großartigkeit müsse der rechtmäßige Führer sein. Alles unter greatness ist Verrat, ein heimtückischer Stoß in den Rücken.“83

Mit Trumps Attitüde lässt sich freilich der Selbstzweifel, der etwa Winthrops Rede zu entnehmen ist, kaum vereinbaren. Man sollte solche Linien nicht auf Kosten eines schrägen Geschichtsbilds der Stereotypen und Plattitüden ziehen. Auch das wäre Verlängerung historischen Unrechts. Insofern bleibt allein schon aus Fairnessgründen nichts anderes übrig, als einen genaueren Blick auf die historischen und theologischen Konstellationen des frühen 17. Jahrhunderts und die innerpuritanischen Auseinandersetzungen um Roger Williams zu werfen. Es geht dabei um nichts weniger als die Ursprünge des politischen Pluralismus und der Toleranz. Und es geht zugleich um den zentralen Inhalt des amerikanischen Traumes – freilich immer im Blick auf die Frage, von welchem Narrativ sich die US-Amerikaner*innen (und viele ihrer Kulturanhänger*innen) leiten lassen. 4. John Cotton versus Roger Williams. Eine innerpuritanische Kontroverse um die Deutung eines Traums Die eigentliche Auseinandersetzung fand nicht zwischen Roger Williams und John Winthrop,84 sondern zwischen Williams und John Cotton (1584–1652) statt.85 Auf sie soll im Folgenden fokussiert werden. Dabei ist es wichtig im Auge zu behalten, dass es um eine innerpuritanische Kontroverse geht. Auch wenn Williams gerne zu einem der Gründungsväter des Baptismus stilisiert wird,86 wird man Miroslav Volf darin Recht geben dürfen, dass Williams zunächst einmal Purita83

H. Richter, Die Katastrophe, in: SZ Nr. 11 vom 15.1.2021, 5. Zwischen beiden hat es auch nach Williams’ Flucht (1635) einen Briefwechsel gegeben, der allerdings weitestgehend verloren ging. Vgl. Gaustad, Roger Williams, 22. Ein Brief hat freilich „überlebt“, in welchem sich Williams gegenüber Winthrop erklärt: a.a.O., 22f. Vgl. auch R. Williams, To His Much Honored Governor John Winthrop (April 16, 1638), in: P. Miller / Th.H. Johnson (Hg.), The Puritans Vol II. Revised Edition, New York u.a. 1963, 475. Einen weiteren Brief adressiert Williams 25 Jahre später „To my honored, kind friend, Mr. John Winthrop, Governor, at Hartford, on Connecticut“, 482f. 85 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung den Quellenausschnitt in: Miller / Johnson (Hg.), The Puritans II, 216–225. Zur Sekundärliteratur: Gaustad, Roger Williams, 16–20; 101–103; Byrd, The Challenges of Roger Williams, 17; 42–44; 88–91; 162f. 86 Vgl. U. Swarat, Luther und Baptisten über Glaubensfreiheit, in: P. Antes / H. de Wall (Hg.), Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Verfassungsrechtliche Grundla84

4. John Cotton versus Roger Williams

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ner war.87 Bereits in England hatte er sich der puritanischen Bewegung angeschlossen und bekam deshalb auch in der Kirche von England keine Stelle, obwohl er dort ordiniert wurde. Williams, der 1603 in London geboren wurde und in Cambridge (Pembroke College) zunächst Jura und dann Theologie studiert hatte (Graduierung im Jahr 1627), wanderte „[a]ls in England verfolgter Puritaner“88 im Jahr 1631 mit seiner Frau nach Nordamerika aus und zwar in die von seinen puritanischen Glaubensgeschwistern gegründete Massachusetts Bay Colony. In Boston gelandet, wurde Williams dort von Gouverneur Winthrop als „gottesfürchtiger Pfarrer“ begrüßt.89 Man bot ihm mit nur 28 Jahren eine äußerst attraktive Stelle als (für die Lehre zuständiger) Pastor an, doch zur großen Überraschung lehnt er ab und zwar mit der Begründung, dass sich die Puritaner Bostons in Leben und Lehre nicht stark genug von der Kirche Englands distanziert hätten. Konsequenterweise ging Williams ins stärker separatistische Plymouth, das die „Pilgerväter“ 1620 gegründet hatten. Lange (bis 1633) blieb er aber auch dort nicht, weil er die Einwanderer für ihre „Landnahme“ auf Kosten der amerikanischen Ureinwohner kritisierte. Auch in seiner nächsten Gemeinde in Salem erging es ihm ähnlich: „Aufgrund seiner scharfen Kritik an den Kolonialherren, u.a. ‚an der brutalen Behandlung der amerikanischen Ureinwohner‘, an der Einflussnahme des puritanischen Magistrats auf innerkirchliche Angelegenheiten und an kirchlichen Privilegien, kam es zu einem öffentlich geführten Streit um das Verhältnis von weltlicher Obrigkeit und Kirche. Williams bestritt die geforderte Uniformität des Glaubens, die zudem vom Regierungsapparat der Herrschenden kontrolliert und durch entsprechende Repressalien durchgesetzt wurde

gen und konfessionelle Perspektiven, Interreligiöser Dialog in gesellschaftlicher Verantwortung Bd. 3, Stuttgart 2018, (115–127) 122. 87 Vgl. Volf, Zusammen wachsen, 185. M.A. Noll (The Work We Have to Do. A History of Protestants in America, Oxford / New York 2000, 36) bemerkt gar: „Ro­ ger Williams was much too thorough a Puritan to get along in a colony run by other Puritans.“ Bereits R.H. Bainton (The Travail of Religious Liberty, New York 1951, 208) bemerkte, dass „although banashid by a Calvinist theocracy (Williams) was at certain points even more Calvinist in his theology than his opponents.“ Erdmann (Roger Williams, 17) betont indes einseitig die Abgrenzung Williams von der calvinistischen Theologie. 88 U. Schuler, Religionsfreiheit aus freikirchlicher Sicht, in: J. Schuster / V. Gäckle (Hg.), Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und christlicher Glaube, Interkulturalität & Religion 5, Berlin 2017, (35–61) 46. 89 E. Geldbach, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, BensH 70, Göttingen 1989, 65.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

– sowohl in den neu entstehenden Kolonien als auch in den Ländern Europas.“90 Einer Ausweisung nach England kam Williams zuvor; übrigens dank eines Hinweises seines einstigen Freundes Winthrop, mit dem er theologisch zerstritten war, der ihm gleichwohl menschlich verbunden geblieben zu sein scheint.91 Williams musste mitten im Winter fliehen und fand bei amerikanischen Ureinwohnern vom Stamm der Narragansett in deren Winterlager Unterschlupf und erlernte ihre Sprache.92 Williams kaufte ihnen schließlich Land ab und gründete auf diesem Gebiet den späteren (13. Bundes-)Staat Rhode Island, eine Niederlassung, die er „Providence“ (Vorsehung) nannte. Hier gründete er die erste Baptistengemeinde Nordamerikas und ließ sich 1638 als Erwachse­ner auf das Bekenntnis seines Glaubens hin taufen. In seinem Traktat „Christenings Makes not Christians“93 (Die Taufe macht noch keinen Christen) spricht er sich gegen die Kindertaufe aus. Doch auch der Baptistengemeinde gehörte er nicht lange an, sondern trennte sich von ihr, um fortan als kirchenfreier Prediger bis zu seinem Tod (1683) zu wirken. Er sagte sich von jeglicher organisierten Form von Reli­ gion los. Dieser Umstand verrät einen durchaus ausgeprägten nonkonformistischen Individualismus bei Williams, der zumindest in Bezug auf ein institutionelles Kirchentum geradezu bindungsunfähig zu sein schien.94 Scheint hier lebenspraktisch eine neuzeitlich-individualistische Naturrechtslehre auf?95 Vor allem darüber ist in der Williams-Forschung der letzten Jahrzehnte kontrovers diskutiert worden.96 In den 1670er Jahren legte sich Williams jedenfalls selbst mit den Quäkern 90

Schuler, Religionsfreiheit aus freikirchlicher Sicht, 46. So Barry, Roger Williams and the Creation of the American Soul, 5. 92 Schuler (Religionsfreiheit aus freikirchlicher Sicht, 48) weist darauf hin: „Durch Roger Williams Buch, A Key into the Language of America (1643), wurde die heute ausgestorbene Sprache der Narragansett bewahrt.“ 93 In: C.W. Freeman u.a. (Hg.), Baptist Roots. A Reader in the Theology of a Christian People, Valley Forge 1999, 114–121. 94 Troeltsch (Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 760) bemerkt, dass sich Williams „einem konfessionslosen Spiritualismus“ ergeben habe. 95 Vgl. R. Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, 242. 96 L. Moore (Roger Williams and the Historians, Church History 32 [4/1963], 432– 451, 432) unterscheidet zwischen drei Strömungen bzw. Interpretationsansätzen der Williams-Forschung: „The first in time is the negative approach, most fully developed by the orthodox Puritans. The second long accepted as squaring with orthodox Ameri­ canism, is the romantic approach, through which Williams is made over into an enlighted secular democrat. Third is what may be termed the realistic approach, whereby an attempt is made to come to grips with Williams on his own terms and to strike a balance with sincere critiques directed against him.“ Vgl. auch R.D. Irwin, A Man 91

4. John Cotton versus Roger Williams

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an und versuchte in einer öffentlichen Debatte, Georg Fox’ Lehre vom „Inneren Licht“ zu widerlegen.97 Die theologische und politische Auseinandersetzung mit den Puritanern in den benachbarten Kolonien hielt auch nach Williams’ Flucht an. Er wurde in den folgenden Jahren geradezu zur Nemesis der Puritaner in Massachusetts. Im Jahr 1644 veröffentlichte er sein wohl bekanntestes Werk „The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience“98 (Der blutige Lehrsatz von der Verfolgung aus Gewissensgründen), das bei Erscheinen in London sofort einen Eklat auslöste und dessen Verbrennung vom Parlament angeordnet wurde. Es wird heute indes zu „the great works on tolerance from the early modern period“ gerechnet.99 Hier griff Williams unter Berufung auf Gewissensfreiheit die Unterdrückung religiöser Dissidenten in Massachusetts scharf an. Unmittelbar zuvor war es ihm in London gelungen, eine „royal charter“ für sein „lebendiges Experiment“ (livlie experiment)100 in der neuen Kolonie „Providence Plantations“ zu erhalten, die deren Einwohnern die Religionsfreiheit garantierte. Die Kolonie, zu deren Präsident Williams gewählt wurde, wirkte fortan als Magnet für alle „Dissenter“, vor allem Baptisten, Quäker, Juden und sonstige Glaubensflüchtlinge, die nicht zur englischen Staatskirche gehören wollten und – wie der Name „Dissenter“ besagt – ihre Zustimmung zum Uniformitätsgesetz der Kirche von England verweigerten. Bemerkenswert ist etwa die erste Erbauung einer jüdischen Synagoge auf amerikanischem Boden im Jahr 1763 in Newport,101 Rhode Island: „Rhode Island war das erste Territorium, wo in der Moderne vollständige Gewissens- und Religions­freiheit verwirklicht wurde. Die religiösen Voraus­setzungen hatten politische Konsequenzen, die in der Folgezeit die gesamte Geschichte der Neuen Welt beeinflussen sollten.“102 for all Eras: The Changing Historical Image of Roger Williams, 1630–1993, Fides et historia 26 (3/1994), 6–23. 97 So Th. Kidd, Art. Williams, Roger, RGG4 8 (2005), 1582. Vgl. Williams’ Schrift „George Fox Digg’d Out of His Burrows“ (1676). 98 R. Williams, The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience Discussed. And Mr. Cotton’s Letter Examined and Answered. hg. von E.B. Underhill, London 1848. 99 So Bowlin, Tolerance Among the Virtues, 200. 100 Charter of Rhode Island and Providence Plantations (1163), in: J.L. Wakelyn (Hg.), America’s Founding Charters: Primary Documents of Colonial and Revolutio­ nary Era Governance Vol. 1, Westport 2006, 152. 101 Vgl. Gaustad, Roger Williams, 127. 102 Geldbach, Freikirchen, 69. So auch Barry, Roger Williams and the Creation of the American Soul, 389: „Williams created the first government in the world which broke church and state apart.“

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Theologisch besonders interessant ist die Auseinandersetzung Williams’ mit John Cotton (1584–1652), einem gebildeten und hoch angesehenen puritanischen Prediger der ersten Auswanderergeneration.103 Cotton hatte bereits im englischen Boston vor seiner Emigration 1530 zwanzig Jahre lang äußerst erfolgreich durch machtvolle Predigten gewirkt und kannte aus dieser Zeit auch Williams, der ihm freilich bei seiner Landung im amerikanischen Boston 1531 einen Korb gab. Cotton trug entscheidend zur großen puritanischen Emigration in die Neue Welt bei, indem er verkündigte, dass Gott seine Herde an einen Ort führe, wo sie „seine heiligen Ordnungen“ in Freiheit ausüben könne.104 In seiner berühmten Abschiedspredigt in Southampton wählte er – bezeichnend für seine Selbst- und Fremdwahrnehmung – als Predigttext 2Sam 7,10 aus: „Und ich will meinem Volk Israel eine Stätte geben und will es pflanzen, dass es dort wohne und sich nicht mehr ängstigen müsse und die Kinder der Bosheit es nicht mehr bedrängen.“ Cotton sieht in den Auswanderern das neue Volk Israel, das zum Exodus ins gelobte Land aufbricht: „Andere Völker erhalten ein Land wegen der Vorsehung, doch Gottes Volk erhält sein Land wegen der Verheißung: Darum wird das Land Kanaan das verheißene Land genannt. Dies ist ihnen so gewiss, wie es ihnen gewiss ist,

103

Hinsichtlich seiner Bedeutung bemerkt J.F.G. Goeters, Die reformierte Föderaltheologie und ihre rechtsgeschichtlichen Aspekte, in: ders., Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, hg. von H. Faulenbach / W.H. Neuser, UnCo 25, Bielefeld 2006, (303–314) 313: „Die kirchlichen und auch politischen Verhältnisse Neuenglands sind dann wesentlich geprägt worden von Winthrops Freund, dem in Cambridge ausgebildeten Puritanertheologen John Cotton (1584–1652), der 1633 nach Boston als theologischer Lehrer übersiedelte. Dieser hat mit seiner Schrift ‚The Covenant of Gods free grace, most sweetly unfolded and comfortably applied to a disquieted soul‘, London 1645, der Föderaltheologie breite Resonanz verschafft. Sein Buch ‚The Way of the Churches of Christ in New England, or the Way of Churches walking in brotherly equalitie or coordination, without subjection of one Church to another‘, London 1645, ist ein klassischer Ausdruck der Grundsätze und der Praxis kongregationalistischen Kirchentums. Sein Katechismus ‚Milk for Babes‘ (1646) ist das meist gebrauchte Unterrichtsbuch der Frühzeit in Neuengland. So steht die Föderaltheologie, die bei den englischen Puritanern und Kongregationalisten ebenso verbreitet ist wie bei den Presbyterianern der Westminster Assembly, an der Wiege der christlichen Gemeinwesen in Neuengland und ist damit prägend geworden für die christlichen Vorläufer einer demokratischen Ordnung.“ 104 Vgl. G.R. McDermott, Art. Cotton, John, RGG4 2 (1999), 474.

4. John Cotton versus Roger Williams

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dass sie in Christus sind, in welchem alle Verheißungen erfüllt und Ja und Amen sind.“105

Dem neuen erwählten Volk gilt demzufolge die promissio, nicht einfach nur die allgemeine providentia. Cotton vertritt eine Bundestheologie, die einerseits substitutionstheologisch das neue Gottesvolk der Auswanderer an die Stelle Israels setzt, andererseits aber ganz bewusst die heilsgeschichtliche Kontinuität zu dessen Geschichte betont. Für ihn stellt die Geschichte Israels die Manifestation des unabänderlichen Gnadenbundes zwischen Gott und seinem erwählten Volk dar. Für Cotton erschien es aufgrund dieser bundestheologischen Kontinuität erforderlich, „die gesellschaftlichen Ordnungen des Bundesvolkes der Gegenwart in Entsprechung zum Modell des alttestamentlichen Israels zu gestalten.“106 Williams intervenierte an dieser Stelle gegen diese ungebrochene Anknüpfung und sah die fortwährende Geltung des „Alten Bundes“ nicht gegeben107 und deshalb auch keine theologische Veranlassung, dessen politische Ordnungen auf die christliche Gemeinschaft zu übertragen: „Der Zustand des Landes Israel, seiner Könige und seines Volkes, im Frieden und im Krieg, hat sich als bildlich und zeremoniell erwiesen und ist kein Muster oder Präzedenzfall für irgendein Königreich oder einen Zivilstaat in der Welt, dem man folgen könnte.“108 Gewiss wird man Williams für seine substitutionstheoretische Bundestheologie kritisieren müssen, in der der Neue an die Stelle des aufgehobenen Alten Bundes tritt. Und doch hat Williams wohl eine entscheidende Schwäche in der puritanischen Bundestheologie erkannt, die sich mit Matthias Zeindler wie folgt umschreiben lässt: 105

J. Cotton, God’s Promise to His Plantations (1630), in: A. Heimert / A. Delbanco (Hg.), The Puritans in America, Cambridge 1985, 77. Übersetzung: Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 168. 106 Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 168. 107 Es geht in der Kontroverse zwischen beiden Puritanern auch um den hermeneutischen Gebrauch des Alten Testaments. Dies betont zu Recht J.Wm. McClendon, Jr., Doctrine. Systematic Theology Vol. 2, Nashville 1994, 486f. Fernerhin: Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 165. Die Behauptung Erdmanns (Roger Williams, 13), dass Williams die Theologie des Covenant, des Bundesschlusses, verwarf, fällt m.E. zu undifferenziert aus, zumal Williams durchaus einen neuen Bund der Erwählten und Heiligen kennt. Zu Williams’ Verständnis der „Politics of the Old Testament in New England“ vgl. auch J.P. Byrd, Jr., The Challenges of Roger Williams. Religious Liberty, Violent Persecution, and the Bible, Macon 2002, 53–86. 108 Williams, The Bloudy Tenent, 2: „The state of the land of Israel, the kings and people thereof, in peace and war, is proved figurative and ceremonial, and no pattern nor precedent for any kingdom or civil state in the world to follow.“

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

„Der einseitige Rückgriff auf ein – wiederum einseitig wahrgenommenes – Altes Testament erklärt auch den weitgehenden Ausfall der Christologie aus der Vorstellung der erwählten Nation. Wäre stets klar gewesen, dass der erwählte Gott eins ist mit dem leidenden, auf Gewalt verzichtenden und zu Gewaltverzicht rufenden Christus, dann hätte das Konzept der erwählten Nation nicht jenes Gefälle zur offenen Gewalt haben können, das es faktisch häufig hatte.“109

Bekannt geworden ist Cotton neben der Auseinandersetzung mit Williams vor allem dadurch, dass er als Bedingung für die Kirchenmitgliedschaft eine Erzählung über die je eigene Wiedergeburt durchsetzte – „erstmalig in der Geschichte des Christentums.“110 Cotton gilt als klassischer Vertreter einer Theokratie bzw. denkbar engen Verbindung von Kirche und Staat, der auf der Notwendigkeit von Zwangsanwendung zur Durchsetzung von Heiligungsidealen insistierte. Williams Schrift „The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience“ bildete für ihn eine einzigartige Provokation und Bedrohung, so dass er sich zu einer Antwort genötigt sah, die im Jahr 1647 unter dem Titel erschien: „The Bloudy Tenent Washed and Made White in the Blood of the Lamb“ (Die blutige Lehre gewaschen und rein gemacht im Blut des Lammes). Daraufhin griff Williams nochmals zur Feder und verfasste als Metakritik die Schrift von 1652: „The Bloudy Tenent yet more Bloody by Mr. Cottons Endeavour to Wash it White in the Blood of the Lamb“ (Die blutige Lehre noch blutiger durch Cottons Versuch, sie im Blut des Lammes weiß zu waschen). In der Kontroverse wandte sich Williams entschieden gegen die Auffassung, dass der Magistrat das Recht und die Pflicht habe, die erste Tafel des Dekalogs,111 sprich: die das Gottesverhältnis, also den 109

Zeindler, Erwählung, 228. McDermott, Art. Cotton, John, 474. Cotton betonte freilich den Gnadencharakter der Wiedergeburt und auch im Blick auf die Wiedergeburt keine Werkgerechtigkeit. Dennoch gilt, wie McDermott (ebd.) betont: „Seine [Cottons] Schülerin A. Hutchinson wurde verbannt, nachdem er sich von ihrer Erklärung losgesagt hatte, daß gute Werke kein Zeichen der Wiedergeburt seien.“ Vgl. M.K. Westerkamp, Art. Hutchinson, Anne Marbury, RGG4 3 (2000), 1965: „Wie ihr Mentor J. Cotton hob sie [Hutchinson; M.H.] die Nichtigkeit menschlichen Tuns sowie die Passivität der Glaubenden und die absolute Abhängigkeit von Gott hervor, wogegen die meisten Geistlichen Neuenglands die in der Heiligung liegende Hoffnung akzentuierten und die Vorbereitung auf den Empfang der Gnade predigten.“ Siehe dazu auch: Placher / Nelson, A History of Christian Theology, 221. Vgl. als Quelle: A. Hutchinson, The Examination of Mrs. Anne Hutchinson, in: Freeman (Hg.), Baptist Roots, 122–127. 111 Vgl. Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 171. 110

4. John Cotton versus Roger Williams

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„Gottesdienst“ des Menschen, betreffenden Gebote durchzusetzen. Im Vorwort zu „The Bloudy Tenent“ heißt es unter Ziffer 5: „Alle zivilen Staaten mit ihren Justizbeamten sind in ihren jeweiligen Verfassungen und Verwaltungen als wesentlich zivil erwiesen, und daher nicht Richter, Statthalter oder Verteidiger des geistlichen oder christlichen Staates und Gottesdienstes.“112

Und wenig später bemerkt Williams unter Ziffer 11: „Die Erlaubnis von anderen Gewissen und Gottesdiensten, als ein Staat sie bekennt, kann nur, nach Gott, einen festen und dauerhaften Frieden verschaffen; gute Sicherheit wird, nach der Weisheit des zivilen Staates, für Gleichförmigkeit des bürgerlichen Gehorsams von allen Arten genommen.“113

Damit etablierte Williams gedanklich so etwas wie eine Zwei-Reiche-Lehre,114 die zwischen dem zivilen bzw. bürgerlichen Staat (civil state) und dem geistlichen Staat und Gottesdienst (spiritual state and worship), sprich: der Kirche, unterscheidet. Sie erfordert es, Kirche und Staat zu trennen, und bildet so die theologische Legitimationsgrundlage der Gewissens- und Religionsfreiheit. Mit dem Wegfall der Uniformität von Staat und Kirche, wie sie das theokratische Ideal charakterisiert, entfällt – wie Williams bemerkte – auch der Durchsetzungszwang in Glaubensfragen. Williams sieht sich mit diesem doppelten Postulat nicht nur in Opposition zu Cotton, sondern explizit auch zu Johannes Calvin und Theodor Beza gestellt,115 ohne freilich zu registrieren, dass zumindest auch Calvin116 eine Zwei-Reiche-Lehre vertritt und auch Bezas117 Position einer differenzierten Darstellung 112

Williams, The Bloudy Tenent, 1: „All civil states, with their officers of justice, in their respective constitutions and administrations, are proved essentially civil, and therefore not judges, governors, or defenders of the spiritual, or Christian, state and worship.“ 113 Williams, The Bloudy Tenent, 2: „The permission of other consciences and worships than a state professeth, only can, according to God, procure a firm and lasting peace; good assurance being taken, according to the wisdom of the civil state, for uniformity of civil obedience from all sorts.“ 114 So auch Geldbach, Freikirchen, 66. 115 Zur den Vorurteilen gegenüber Calvin vgl. G. Plasger, Aus dem Reich der Legende. Wie Stereotype die Sicht auf Johannes Calvin verstellen, Zeitzeichen 10/2009, 28–31. 116 Vgl. M. Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 128–136. 117 Vgl. etwa Witte, Die Reformation der Rechte, 107–174.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

bedarf. Stattdessen reiht Williams seinen Gegenspieler Cotton als Vertreter des puritanisch-theokratischen Ideals der Neuengland-Staaten in diese vermeintlich theokratische calvinisch-calvinistische Tradition ein: „Das ganze Werk [gemeint ist Williams eigene Schrift „The Bloudy Tenent“; M.H.] ist voll von Schriften und Argumenten gegen die Lehre von der Verfolgung aus Gewissensgründen. [...] Es werden zufriedenstellende Antworten auf Schriften und Einwände gegeben, die von Mr. Calvin, Beza, Mr. Cotton und den Geistlichen der Neuen Englischen Kirchen und anderen früheren und späteren gegeben wurden; Antworten, die darauf abzielen, die Lehre von der Verfolgung um des Gewissens willen zu beweisen. [...] Die Lehre von der Verfolgung um des Gewissens willen ist bewiesenermaßen schuldig an all dem Blut der Seelen, die unter dem Altar nach Rache schreien.“118

Gegen das theokratische Ideal, das eine religiöse Einheitlichkeit (uni­ formity in religion) erfordert, verweist Williams auf dessen Gewaltpotential, zumal die notfalls gewaltvolle Durchsetzung von Einheitlichkeit bei gegenläufigen Tendenzen ein theokratisches Erfordernis sei. Hingegen lasse sich konstatieren: „Gott verlangt nicht, dass in irgendeinem bürgerlichen Staat eine Uniformität der Religion verordnet und erzwungen wird; welche erzwungene Uniformität, früher oder später, die größte Ursache des Bürgerkrieges, der Vergewaltigung des Gewissens, der Verfolgung Christi Jesu in seinen Dienern, und der Heuchelei und des Verderbens von Millionen von Seelen ist. […] Eine erzwungene Uniformität der Religion in einer Nation oder einem zivilen Staat verwechselt das Zivile mit dem Religiösen, leugnet die Prinzipien des Christentums und der Zivilität und dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist.“119 118

Williams, The Bloudy Tenent, 1: „Pregnant scriptures and arguments are throughout the work proposed against the doctrine of persecution for cause of conscience. […] Satisfactory answers are given to scriptures and objections produced by Mr. Calvin, Beza, Mr. Cotton, and the ministers of the New English churches, and others former and later, tending to prove the doctrine of persecution for cause of conscience. […] The doctrine of persecution, for cause of conscience, is proved guilty of all the blood of the souls crying for vengeance under the altar.“ 119 Williams, The Bloudy Tenent, 2: „God requireth not an uniformity of religion to be enacted and enforced in any civil state; which enforced uniformity, sooner or later, is the greatest occasion of civil war, ravishing of conscience, persecution of Christ Jesus in his servants, and of the hypocrisy and destruction of millions of souls.“ A.a.O., 9: „In holding an enforced uniformity of religion in a civil state, we must necessarily disclaim our desires and hopes of the Jews’ conversion to Christ.“

4. John Cotton versus Roger Williams

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Das Nebeneinander von Bürger- und Christlichkeit hält Williams nicht nur für möglich, sondern durchaus auch für funktionstüchtig und insofern geboten.120 Die Zulassung der Gewissensfreiheit stehe staatlicher und gesellschaftlicher Prosperität keineswegs per se entgegen, sondern könne diese sogar ermöglichen, insofern der Staat in weltlichen (nicht religiösen) Angelegenheiten durch die konsequente Umsetzung der zivilen Gesetze für Frieden sorge: „Wahre Bürgerlichkeit und Christentum können beide in einem Staat oder Königreich gedeihen, ungeachtet der Erlaubnis verschiedener und gegensätzlicher Gewissen, entweder von Juden oder Heiden.“121

Es ist hier durchaus eine gewisse Nähe zu Luther gegeben,122 auf dessen Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (1523) Williams explizit rekurriert123 und u.a. folgende einschlägige Passage zitiert: „Das weltlich Regiment hat Gesetze, die sich nicht weiter erstrecken als über Leib und Gut und was äußerlich ist auf Erden. Denn über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen als sich selbst allein. Darum: Wo weltliche Gewalt sich anmaßt, der Seele Gesetze zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verdirbt nur die Seelen.“124 120

R. Williams (Letter to the Town of Providence, January, 1655, in: Miller / Johnson, The Puritans II, 224f.) gebraucht ein Bild von der Schifffahrt mit einem heidnischen oder christlichen Kapitän sowie einer religiös homogenen oder diversen Belegschaft, um zu verdeutlichen: „Gewissensfreiheit führt […] gerade nicht, wie seine Gegner ihm [Williams; M.H.] unterstellen, in politische Schwärmerei oder Unordnung, was hier durch Meuterei bezeichnet wird, sondern sie erst ermöglicht Ordnung und Frieden. Der Kapitän ist mit dem Gouverneur eines Gemeinwesens (Common­ wealth) vergleichbar. Er hat für den geordneten, äußeren Rahmen des Zusammenlebens zu sorgen; sonst wäre die Welt wie ein Ozean und die Menschen wie Fische, wobei die größeren die kleineren verschlingen würden. Der christliche Glaube kann den Gouverneur zu einer gewissenhaften Erledigung seiner Aufgaben anhalten, gibt ihm aber keine Gewalt über die Gewissen. Deshalb kann die Obrigkeit christlich oder nichtchristlich sein.“ Geldbach, Freikirchen, 68. Vgl. auch ders., Gewissensfreiheit und freikirchliche Tradition, Jahrbuch des Evangelisches Bundes 1982, (81–100) 89f. 121 Williams, The Bloudy Tenent, 2: „[T]rue civility and Christianity may both flou­ rish in a state or kingdom, notwithstanding the permission of divers and contrary consciences, either of Jew or Gentile.“ 122 So auch Swarat, Luther und Baptisten über Glaubensfreiheit, 124. Bereits Erdmann (Roger Williams, 17f.) wies auf die besondere Bedeutung Luthers für Williams hin. 123 So Williams, The Bloudy Tenent, 15. Vgl. auch den Verweis auf Luther a.a.O., 28. 124 WA 11,262, 7–12 (Von weltlicher Obrigkeit, 1523). Übersetzung: M. Luther, Ausgewählte Schriften Bd. 4: Christsein und weltliches Regiment, hg. von K. Bornkamm / G. Ebeling, Frankfurt a.M. 1982, 60.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Darüber hinaus klingt es durchaus nach einer Reminiszenz an das berühmte sine vi, sed verbo in CA 28, wenn Williams bemerkt: „Es ist der Wille und das Gebot Gottes, daß seit dem Kommen seines Sohnes, des Herrn Jesus, allen Menschen in allen Völkern und Ländern eine Erlaubnis für die heidnischsten, jüdischen, türkischen oder antichristlichen Gewissen und Kulte erteilt wird: und sie sollen nur mit dem Schwert bekämpft werden, das nur in Seelenangelegenheiten zu siegen vermag: nämlich mit dem Schwert des Geistes Gottes, dem Wort Gottes.“125

5. Ein Kind der Reformation. Abschließende Bemerkungen zur Beurteilung von Williams’ Beitrag zur Religionsfreiheit und zum Toleranzgedanken Roger Williams steht durchaus in der Tradition der Reformation. Und es war gewiss kein Fehlgriff, ihn mit anderen beim Genfer Reformationsdenkmal neben Wilhelm Farel, Johannes Calvin, Theodor Beza und John Knox zu stellen. Williams selbst hätte sich vielleicht darüber geärgert. Er bildet dort aber gewiss nicht einfach einen „Gegenpol“126 zu den vermeintlichen „Theokraten“,127 sondern eine notwendige, ja unverzichtbare Ergänzung, durchaus auch zu deren Ehrenrettung. Williams zieht nämlich eine Linie als Implikat der reformatorischen Freiheitslehre auf der Grundlage jener Zwei-Reiche-Lehre aus, die Calvin und die anderen durchaus kennen. Williams war, wenn man so will, auch Calvinist.128 Er war vor allem tatsächlich auch ein Puritaner. 125

Williams, The Bloudy Tenent, 2: „It is the will and command of God that, since the coming of his Son the Lord Jesus, a permission of the most Paganish, Jewish, Tur­ kish, or anti-christian consciences and worships be granted to all men in all nations and countries: and they are only to be fought against with that sword which is only, in soul matters, able to conquer: to wit, the sword of God’s Spirit, the word of God.“ 126 So indes Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 177. 127 Vgl. etwa zur vermeintlichen Theokratie Calvins Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, 184–191. Viele Williams-Interpreten folgen dieser negativen Calvin-Lesart leider. So z.B. Erdmann, Roger Williams, 17; 19. Vgl. zum Theokratie-Vorwurf die differenzierten Ausführungen von Ch. Strohm, Theokratisches Denken bei calvinistischen Theologen und Juristen am Beginn der Moderne?, in: K. Trampedach / A. Pečar (Hg.), Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich, Tübingen 2013, 389–408. 128 M.L. Stackhouse (Creeds, Society, and Human Rights. A Study in Three Cultures, Grand Rapids 1984, 56f.) unterscheidet zwischen einem „Imperial Calvinism“, dem er auch „Puritan Massachusetts in colonial America“ zurechnet (a.a.O., 56), und

5. Ein Kind der Reformation

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Wenn es aber in seiner Kontroverse mit Cotton tatsächlich um eine innerpuritanische Auseinandersetzung ging,129 dann wird man mit William C. Placher und anderen im Blick auf die Puritaner nicht einfach nur antithetisch festhalten können: „They had not come for the sake of religious liberty, but for religious purity – to set up an ideal commonwealth according to God’s laws, an example to inspire the whole world.“130 Williams macht deutlich und steht in seiner Person dafür ein, dass sich der Puritanismus nicht auf ein theokratisches Ideal reduzieren lässt. Sein Beispiel zeigt, dass der amerikanische Traum bereits in seiner Geburtsstunde pluraler und diverser war, als ihn diejenigen interpretieren, die ihn auf dem Hintergrund antipuritanischer Stereotypen mit dem Mythos vom auserwählten Volk gleichsetzen, das Militanz in geistlicher und weltlicher Spielart walten lässt. Es ist dieser geistesgeschichtliche Zusammenhang, der die Reformation als Wurzelgrund der Religions- und Gewissensfreiheit ausweist und nicht etwa die Frühaufklärung bzw. eine neuzeitlich-individualistische Naturrechtslehre als Hintergrundüberzeugung evident erscheinen lässt. Darin ist etwa auch Rainer Forst zu widersprechen, der Williams „an der Nahtstelle traditionell religiöser Argumente [platziert; M.H.], die vorwiegend dem protestantischen Denken entstammen, und der neuzeitlich-individualistischen Naturrechtslehre.“131 Dementsprechend kennzeichnet Forst Williams als „Übergangstheoretiker“.132 Bereits Georg Jellinek interpretierte Williams im Lichte der „Declaration of Independence“ (1776) und der Rede von den selbstevidenten Wahrheiten, wonach alle Menschen gleichgeschaffen und mit bestimmten unveräußerlichen Rechten begabt wurden. Jellinek erklärte Williams dem „Free-Church Calvinism“ bzw. „Free Church Puritanism“ (vgl. a.a.O., 57). Stackhouse (a.a.O., 70–76) befürwortet eine „Liberal-Puritan synthesis“, die er in der Folgegeschichte der USA etabliert sieht: „[F]or all its potential pathologies, the Liberal-Puritan synthesis has brought about a pluralistic society centered in ecclesial and voluntary associations. This society presumes that Judeo-Christian traditions are central sources of meaning, needing understanding by human reason. ‚Freedom,‘ ‚equality of opportunity,‘ ‚multiple political parties,‘ ‚the limited state,‘ ‚separation of powers,‘ ‚government under law,‘ and the ‚relative autonomy of corporations‘ – all legitimated by the ‚agreement of the people‘ – emerge from these foundations. The freedom of religion and the right of religions to influence persons and the body politic from an inviolable social space are the basis of these developments. The hallmarks of ‚human rights‘ are rooted in these fundamental presumptions.“ A.a.O., 76. 129 Geldbach (Gewissensfreiheit und freikirchliche Tradition, 90) nennt Williams einen „calvinistischen Baptisten“. 130 Placher / Nelson, A History of Christian Theology, 220. So auch Rubboli, „Seit dem Kommen Christi sind alle Staaten völlig profan“, 167. 131 Forst, Toleranz im Konflikt, 242. 132 Vgl. ebd.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

zum energischen Kämpfer für „[d]as angeborene Urrecht der religiö­ sen Freiheit.“133 Demgegenüber lässt sich mit LeRoy Moore, James McClendon und anderen Williams-Interpreten festhalten: „Williams’ basis for soul liberty was not the Enlightenment view of human dignity and rights that influenced American thinking in the Revolution and (later) was to express itself in the Universal Declaration of Human Rights of the United Nations (1946).“134 Wie wir gesehen haben, ist es vielmehr die reformatorische und über die Reformation hinaus in Augustin wurzelnde Unterscheidung der göttlichen Herrschaftsverbände, die sich auch in Williams’ Ausführungen als federführend erweist. Auch die Freiheit des Gewissens ist bekanntermaßen seit dem Reichstag zu Worms (1520) durchaus ein reformatorischer Topos. Insofern Gewissens- und Religionsfreiheit zusammenhängen, dürfte es freilich durchaus einen – wenn auch nicht allzu engen – geistesgeschichtlichen Konnex hin zu den Grundsätzen der Religionsfreiheit geben,135 wie sie etwa im Ersten Zusatzartikel (First Amendment) der Verfassung der USA, also der sog. „Bill of Rights“ von 1791, Ausdruck finden: „Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt, oder eines, das Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und an die Regierung durch Petition zur Abstellung von Missständen zu richten, einschränkt.“136

Williams’ theologisch begründete Erklärung vollständiger Religionsfreiheit wirkte weit über seine Kolonie Rhode Island hinaus. Rainer Forst ist durchaus darin zuzustimmen, dass Williams „ein besonderes Beispiel für die religiöse Begründung eines rein säkularen Staatswe133

Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 37. McClendon, Doctrine, 484. Vgl. Moore, Religionsfreiheit, 276–307. 135 Treffend spricht Jähnichen (Glaubensfreiheit und Toleranz, 124) davon, dass „Glaubensfreiheit und Toleranz nur bedingt in der Reformationszeit angelegt und erst in Verbindung mit anderen Gedanken und unter anderen historischen Bedingungen wirksam geworden sind.“ Das Beispiel von Roger Williams zeigt indes, dass Toleranz und Religionsfreiheit nicht aus der Wirkungsgeschichte der Reformation wegzudenken sind. Vgl. zu den Ansätzen von Glaubensfreiheit und Toleranz in den Schriften Martin Luthers einführend a.a.O., 124–126; immer noch äußerst lesenswert in diesem Zusammenhang: Wolf, Toleranz nach evangelischem Verständnis, 284–299. 136 „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibi­ ting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.“ 134

5. Ein Kind der Reformation

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sens“137 liefert: „[S]ie steht argumentativ fest auf christlichem Boden und kommt von dort aus zu einer säkularen Staatsauffassung und der Forderung nach unbegrenzter Toleranz – beides ist ihm zufolge ‚the will and command of God‘“.138 Darin liegt nach Forst freilich auch die Grenze der Williams’schen Konzeption: „[N]icht in der Unfähigkeit, andere Glaubensrichtungen zu tolerieren, sondern in der fehlenden Möglichkeit, mit denen die Toleranzargumente zu teilen, die nicht dem protestantischen Glauben anhängen. Wie aus deren Perspektive, seien sie ‚Papisten‘, Juden, Türken oder ‚Antichristen‘, die Toleranz begründet werden soll, wenn nicht durch die Übernahme des christlichen Begründungsrahmens, bleibt bei Williams trotz des Strebens nach Unparteilichkeit offen. Hier zeigt sich, dass für eine Theorie wechsel­ seitiger Toleranz weitere, normativ eigenständige Argumente gefunden werden müssen, die Mitglieder ganz verschiedener Glaubensrichtungen überzeugen können.“139 Denn – so Forst: „Bei aller Forderung nach Unparteilichkeit stellt die Toleranzforderung eine Parteinahme in einer konkreten politischen Auseinandersetzung dar, die die religiösen Konflikte so zu kanalisieren sucht, dass verschiedene Gründe für Toleranz sprechen, die selbst wiederum im Konflikt liegen können, etwa religiöse mit unabhängigen, politischen Erwägungen.“140 Eine religiöse und sei sie eine religiös-naturrechtliche Begründung hält Forst hier nicht für hinreichend tragfähig. Forst selbst unternimmt den Versuch einer „reflexiven Begründung der Toleranz“.141 Er sieht sie im moralisch zu verstehenden Rechtfertigungsprinzip grundgelegt, in „eine[r] unbedingte[n] Pflicht zur bzw. ein[em] fundamentale[n] Recht auf Rechtfertigung“.142 Aus dem Recht auf Rechtfertigung entwickelt Forst alle drei Elemente bzw. Komponenten des Toleranzbegriffs: das Ablehnungs-, das Akzeptanz- und das Zurückweisungselement.143 Als „gute, in gegebenen sozialen Kontexten anerkennungswürdige Begründung“ könne gelten, was „den Kriterien von Allgemeinheit und Wechselseitigkeit standhalten kann“.144 137

Forst, Toleranz im Konflikt, 239. Ebd. Ähnlich Volf, Zusammen wachsen, 188f. 139 Forst, Toleranz im Konflikt, 243. So auch a.a.O., 551f. 140 A.a.O., 242. 141 A.a.O., 588. 142 A.a.O., 590. 143 Vgl. a.a.O., 32–38; ders., Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, in: ders. (Hg.), Toleranz. Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, Theorie und Gesellschaft 48, Frankfurt a.M. / New York 2000, (119–143) 120–122. 144 R. Forst, Toleranz im Konflikt, 590. 138

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Die Grenze der Toleranz liege dort, wo andern „ihr fundamentales Recht auf Rechtfertigung abgesprochen“145 oder es im Einzelfall miss­ achtet werde.146 6. Fazit: Träum weiter, Amerika! Der (Völker-)Bund als Gegengift zum American Exceptionalism Doch vielleicht ist der normativ-begründungstheoretische Anspruch, den Forst hier artikuliert, bereits viel zu weit gefasst. Wenn selbst Ethik nicht primär mit Begründungen, sondern vor allem mit Wahrnehmen und Verstehen zu tun hat,147 dann genügt im Blick auf die Toleranzförderung ja vielleicht schon eine Vision,148 ein Traum – mag sein ein amerikanischer Traum.149 Dass es indes generell Visionen bzw. Träume braucht, ist seit langem bekannt und auch biblisch-weisheitlich bezeugt: „Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde“, heißt es in den Sprüchen Salomos (29,18).150 Als Franklin D. Roosevelt im Jahr 1933 das New-Deal-Programm einleitete, bemerkte er: „Where there is no vision the people perish“.151 Selbst Donald Trump hat in seiner Antrittsrede 2017 von Visionen und Träumen gesprochen, freilich in der degenerierten Gestalt des „America first“. Es dürfte indes um einen Traum gehen, der hinreichend offen ist und nicht auf einen Erwählungsexklusivismus reduziert werden darf, sondern diesen überwinden will. Dass der amerikanische Traum nicht einfach mit dem Mythos vom auserwählten Volk gleichgesetzt werden 145

A.a.O., 596. Kritische Anfragen an Forsts Konzeption adressieren Th.S. Hoffmann, Rezen­ sion zu R. Forst, Toleranz im Konflikt, PhR 53 (2006), 169–173; R. Poscher, Rezension zu R. Forst, Toleranz im Konflikt, Kritische Justiz 40 (3/2007), 312–315; W. Hellmich, Rezension zu R. Forst, Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Philosophisches Jahrbuch 119 (II/2012), 428–431. 147 Vgl. J. Fischer, Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012. Ähnlich: H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005. 148 Vgl. S. Hauerwas, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974. 149 Dass auch theologische Religionskritik an dieser Stelle nötig ist, zeigt G. Plasger, Theologische Religionskritik – notwendig für eine theologische Begründung der Religionsfreiheit, in: G. Plasger / H.G. Stobbe (Hg), Gewalt gegen Christen. Formen, Gründe, Hintergründe, Leipzig 2014, 281–293. 150 Vgl. O. Herlyn, „Wenn hinterm Mond ein Stern zerplatzt ist…“ Einstige Visionen und spätere Desillusionierungen eines gesellschaftlichen Aufbruchs, RKZ 10/1998, 419–423. 151 Zit. nach Moltmann, Der „Amerikanische Traum“, 90. 146

6. Fazit: Träum weiter, Amerika!

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darf, auch wenn diese Gleichung bis in die Gegenwart hinein vielfach aufgemacht und leider auch angewandt wird, hat die vorliegende Untersuchung hoffentlich gezeigt. Sie wendet sich gegen eine zweifache Gefahr: Man sollte diesen Mythos zum einen nicht einfach in der Illusion historisieren, als sei die Vorstellung, dass exklusiv das amerikanische Volk mit Gott einen Bund geschlossen habe und einen besonderen heilsgeschichtlichen Auftrag zu erfüllen hätte, nur bei den Puritanern während der Entstehung der Neuengland-Kolonien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts relevant gewesen, habe sich dann aber in der Neuzeit gewissermaßen bis unter die Nachweisgrenze verdünnt. In säkularisierter Gestalt ist dieser Mythos heute noch lebendig. Die Beispiele sind Legion. Es fällt schwer, überhaupt einen US-amerikanischen Wahlkampf zu imaginieren, in dem die einzigartige Bestimmung und Rolle dieses außerordentlichen Landes nicht beschworen wird. Und man sollte zum anderen umgekehrt auch nicht hingehen, und allen Puritanern des 17. Jahrhunderts eine krude Bundestheologie des „American Exceptionalism“ unterstellen. Eine solche Stereotype wäre ein historischer Reduktionismus. Die puritanische Theologie umfasst wie der amerikanische Traum mehr und auch besseres. Dass der amerikanische Traum bereits in der Entstehungszeit nicht auf eine solche Theologie der „City upon a Hill“ enggeführt werden kann, dafür steht – wie wir sahen – ausgerechnet derjenige, der diese Metapher ursprünglich bemühte und mit seinen „Jeremiaden“ gewissermaßen heilsam begrenzte, nämlich der puritanische Pilgervater John Winthrop. Über Winthrop hinaus und zum Teil sicherlich in deutlicher Opposition zu ihm, unternahm Roger Williams im 17. Jahrhundert entscheidende Schritte, um durch die Anwendung einer Zwei-Reiche-Lehre Religions- und Gewissensfreiheit und damit nicht zuletzt den Toleranzgedanken gegenüber theokratischen Idealen stark zu machen. Williams führt den Nachweis, dass eine moralische „Haltung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -glaubenden [und] eine auf Toleranz begründete Logik politisch-rechtlicher Regelungen durchaus mit einer starken Überzeugung des exklusiven Wahrheitsanspruchs des eigenen Denkens oder Glaubens einhergehen.“152 Auch zeigt Williams, dass der Bundesgedanke keineswegs in ein mit Intoleranz gepaartes Theokratieideal hineinmünden muss. Anders gesagt, gründet Toleranz nicht in religiöser Indifferenz oder in einem religiösen Relativismus, sondern in einer starken Glaubensüberzeugung.153 152

Jähnichen, Glaubensfreiheit und Toleranz, 130. So W. Huber, Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013, 223. Huber (ebd) weiter: „Wenn Toleranz sich selbst aus einer 153

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

Wiederum gilt es also auch im Blick auf die Bundestheologie zu differenzieren. Hier den Stab unbedacht pauschal und endgültig zu brechen, wäre gewiss zu einfach. Denn auch der Bundesgedanke muss keineswegs konzeptionell auf einem Erwählungsexklusivismus basieren und diesen gar noch „biblisch“ verbrämen. Christian hebt zu Recht hervor: „Es ist der universale Sinn und Charakter des Bundes – er ist von vornherein zur ganzen Menschheit hin geöffnet –, der das theologische Merkmal dieser frühen Föderaltheologie [bei Zwingli und Bullinger; M.H.] ausmacht.“154 Erwählungsexklusivismus indes läuft letztendlich auf Isolationismus hinaus: Der Erwählte isoliert sich, indem er dem anderen, vermeintlich Nichterwählten, seine exklusive Erwählung gewissermaßen als „identity marker“ vor Augen hält: „Ich bin erwählt. Du bist es nicht.“ Der US-amerikanische Isolationismus hatte und hat vielerlei Gestalten, sei es in Gestalt eines Unilaterialismus des „Pax Americana“-Modells, der den USA die Rolle des Weltfriedensbringers zuschreibt und der sich auch über geltendes Völkerrecht hinwegsetzt, oder sei es in Gestalt des „America first“, das Trump auf beispiellose Weise zu kultivieren versuchte. Angesichts dieser Unilateralismen bzw. Isolationismen mag man vielleicht ahnen: „Sollte vielleicht die Bundesidee doch nicht so schlecht sein? Zum Bund gehört schließlich nicht nur ein isoliertes Subjekt!“ Ja, in der Tat und mehr noch: Wenn das Problem des amerikanischen Unilateralismus darin besteht, dass sich die USA aufgrund ihrer Einzigartigkeit nur insofern an völkerrechtliche Vereinbarungen gebunden fühlen, wie sie ihnen nützen, dann dürfte der Bundesgedanke im Sinne eines Bundes gleichberechtigter Völker ein Heilmittel gegen diese pragmatisch-isolationistische Denkungsart sein. Zur weiteren Ausdifferenzierung des hier in Erscheinung tretenden Leitgedankens wäre m.E. konkret Immanuel Kants Idee vom „Föderalismus freier Rechtsstaaten“ in den Blick zu nehmen, wie er sie im zweiten Definitivartikel seiner Schrift „Zum ewigen Friedens“ (1795) artikulierte, wo der Bund die Gestalt eines Völkerbundes freier Staaten annimmt: „Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein.“155 Kant tritt für einen Völkerbund ein, der die Einzelstaaten untereinander verbindet und so befriedet. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Presbyterianer Woodrow Wilson als US-Präsident im Jahr 1918 einen 14-Punkte-Plan vorlegte, der die Grundzüge einer Wahrheitsgewissheit speist, kann sie nicht die Wahrheitsfrage suspendieren, sondern muss sich im Streit um die Wahrheit bewähren.“ 154 Ch. Link, Art. Föderaltheologie, RGG4 3 (2000), (172–175) 173. 155 I. Kant, Zum ewigen Frieden (1795), BA 30 (Ed. Weischedel IX, 208).

6. Fazit: Träum weiter, Amerika!

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Friedensordnung für das vom Krieg zerrüttete Europa vorsah und dabei als Nachkriegsordnung einen „allgemeinen Verband der Nationen“ projektierte, der als „Völkerbund“ (League of Nations) 1920 seine Arbeit aufnahm. War diese US-amerikanische Initiative zugunsten der gesamten Völkergemeinschaft vielleicht sogar so etwas wie die konsequente Fortsetzung des amerikanischen Traumes? Und steht Wilson mit einer solche Initiative nicht in der Tradition von Williams und seinem amerikanischen Traum? Ging es Williams nicht darum, „to make America the beacon of freedom for the world“?156 Das puritanische Erbe lässt sich m.E. auch in diese Richtung deuten. Und noch eine weitere Frage wird zu stellen sein: Wenn im „Mayflower Compact“ von „Body Politics“ die Rede ist, wäre in dessen Fortschreibung nicht anstelle von Isolationismus, „America first“ und dem Mythos vom auserwählten Volk eine Völkergemeinschaft in den Blick zu nehmen, die keinen identitären und uniformen Weltstaat gründet, aber doch einen Bund guter Nachbarn, die friedlich nebeneinander leben? Wäre nicht gerade ein solcher Bund „traumhaft“? Wir sehen, dass der Bundesgedanke entgegen der gängigen Vorstellung den amerikanischen Exzeptionialismus keineswegs befeuern muss, sondern ihn vielmehr domestizieren kann. Eine säkulare Bundesgestalt reicht aus religiöser Perspektive gewiss nicht aus. Es geht in und mit ihr ja nicht um den „Christian Body“,157 sondern nur um eine Entsprechung zum Gottesbund.158 Der neuzeitliche Kontraktualismus, in dessen Tradition letztlich auch Kant steht, gleicht „nur“ oder „immerhin“ – je nachdem wie man betont – einer kupierten Bundes- bzw. Föderaltheologie. Die von Roger Williams postulierte „liberty of conscience“ wurzelte indes – wie wir sahen – in seiner dezidiert christlich-religiösen Überzeugung, einschließlich seiner theologischen Bundesvorstellung: „Williams made clear that he was no libertarian pamphleteer, as later interpreters would argue. Li­ 156

D. Skaggs, Roger Williams’ Dream for America, American University Studies IX/129, New York u.a. 1993, IX. Kursivierung: M.H. Vgl. a.a.O., 2: „Williams saw America as a land chosen of God to bring about monumental changes in the world – changes which would make possible the restoration of the New Testament Church and its flowering worldwide. He determined to create in Rhode Island an environment of freedom worthy for the world to follow.“ 157 Vgl. dazu J.J. Shuman, Discipleship as Craft: Crafting the Christian Body, in: Ch.R. Pinches u.a. (Hg.), Unsettling Arguments. A Festschrift on the Occasion of Stanley Hauerwas’s 70th Birthday, Eugene 2010, 315–331. 158 M. Hofheinz, Visionär oder Relikt der Vergangenheit? Die unverzichtbare Rolle der UNO für die Sicherung und Erhaltung des Weltfriedens, in: M. Hofheinz / C. Johnsdorf (Hg.), The Grand International Challenges in theologisch-ethischer Perspektive, Stuttgart 2021, (101–119) 109.

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III. „Die Stadt auf dem Berge“

berty of conscience was simply freedom from forced religion and freedom to uncoerced religion“159 und zwar platziert im Bund. Es scheint mir von der religiösen Idee des Bundes in einem rechtsstaatlichen Kontraktualismus à la Kant mehr übrig geblieben zu sein, als dies etwa in Gestalt der sog. „Civil Religion“ der Fall ist.160 Wie sehr die Institutionen der UNO, als Nachfolgeorganisation des „Völkerbundes“, US-amerikanischer Beteiligung und Initiative im Konzert der Völkergemeinschaft bedürfen, dürfte nach einem vierjährigen US-amerikanischen Alptraum im Weißen Haus evident sein. Abschließend sei noch der Hinweis erlaubt, dass es durchaus einen Bezug vom Völkerbund bzw. der UNO zum Traum von der Stadt auf dem Berge gibt. Wie Gerhard von Rad bereits im Jahr 1949 gezeigt hat, bildet Jes 2,1–4 „die erste und wohl älteste Fassung jenes Vorstellungskreises von der endzeitlichen Verherrlichung des Gottesberges und seiner Heilsbedeutung für die ganze Welt.“161 Nach dieser prophetischen Vision werden die Völker zum Zion, dem Tempelberg Gottes wallfahrten und Gott wird zwischen ihnen schlichten (Jes 2,4), indem er Recht spricht. Daraufhin geschieht die berühmte Umformung der Schwerter zu Pflugscharen. Hier wird gleichsam – mit Rainer Albertz gesprochen – Gottes „himmlische UNO“162 projektiert, eine Welt, in der die Völker 159

Freeman u.a. (Hg.), Baptist Roots, 113. Vgl. Moltmann, Der „Amerikanische Traum“, 98: „Was aus der religiösen Idee des Bundes im demokratischen Bewußtsein übrig geblieben ist, führt ein Schattendasein, ‚Civil Religion‘ genannt.“ Zur „Civil Religion“ vgl. R.N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: H. Kleger / A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Soziologie. Forschung und Wissenschaft 14, Berlin 22004, 19–41; ders., Religion und die Legitimation der amerikanischen Republik, in: H. Kleger / A. Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Soziologie. Forschung und Wissenschaft 14, Berlin 22004, 42–63; ders. / S.M. Tipton (Hg.), The Robert Bellah Reader, Durham / London 2006, 221–375. Vgl. auch J.H. Yoder, Civil Religion in America, in: ders., The Priestly Kingdom. Social Ethics as Gospel, Notre Dame 1984, 172–195; M. Riesebrodt, Robert Bellah. Prophet der Zivilreligion, in: A. Christophersen / F. Voigt (Hg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, 269–278. 161 G. von Rad, Die Stadt auf dem Berge (1949), in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 8, München 31965, (214–224) 215. Vgl. fernerhin: J.H. Yoder, He Came Preaching Peace, Eugene 1998, 96–107. 162 R. Albertz, Eine himmlische UNO. Religiös fundierte Friedensvermittlung nach Jes 2,2–5, in: G. Althoff (Hg.), Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011, (37–56) 41f.: „[I]n einer fernen Zukunft [wird] der Zion, der Jerusalemer Tempelberg, zum höchsten Berg der Region erhöht werden. Dann werden alle Völker zu diesem weithin sichtbaren Markierungspunkt der Welt herbeiströmen, um sich dort ihre Konflikte schlichten zu lassen. Und dabei üben die konfliktschlichtenden Weisungen des dort anwesenden Gottes eine solche Attraktivität aus, dass die Völker freiwillig kommen und die göttlichen Schiedssprüche wie selbst160

6. Fazit: Träum weiter, Amerika!

141

ihre Konflikte friedlich beilegen.163 Was für ein Traum, ein regelrechter Menschheitstraum! Weit genug, um auch den amerikanischen Traum zu integrieren und dabei umzuprägen.164 Insofern gilt: Träum weiter, Amerika, aber bitte nicht für dich allein. Träum weiter, im und für den Bund der Völkergemeinschaft.165

verständlich akzeptieren. Darum werden sie – nach Hause zurückgekehrt – selber ihre überflüssig gewordenen Waffen zerstören und die in ihnen gebundenen Rohstoffe in nützlicheres Ackergerät umwandeln. So wird die kriegerische Austragung der Konflikte aufhören und das Kriegshandwerk vergessen werden wie andere überflüssig gewordene Kulturtechniken auch. Der Text handelt also in der Tat von einer wunderbaren göttlichen Friedensvermittlung, einer Art himmlischer UNO in Jerusalem, die mit ihrer gelingenden Mediation alle Schwierigkeiten und Misserfolge unserer irdischen UNO weit hinter sich lässt.“ 163 Vgl. dazu Hofheinz, Visionär oder Relikt der Vergangenheit?, 101–119. 164 Auch in der Argumentation von Roger Williams spielt übrigens Jes 2,4 eine zentrale Rolle. Vgl. dazu ders., The Bloudy Tenent, 11; 22 u.ö. Dazu auch: Byrd, The Challenges of Roger Williams, 222. 165 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 199: „Die Humanisierung des amerikanischen Traumes hatte John F. Kennedy im Sinn, als er von den Amerikanern als den ‚citizens of the world‘ sprach. Viele Völker haben in der Tat Freiheit und Selbstregierung von Amerika empfangen. Die Amerikanisierung dieses humanen Traums von Freiheit und Menschenrecht für alle und jeden Menschen aber macht die USA zur Last für die Völker, die dieses ‚Experiment‘ mittragen und die Kosten dafür aufbringen müssen.“

IV. L  utheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt Ein Vergleich in Thesen

1. Einleitung: Zur Fragestellung und Methodik Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt – diese drei Bezugsgrößen deuten die doppelte Aufgabenstellung bzw. zweifache erkenntnisleitende Fragestellung der vorliegenden, in Thesenform dargebotenen Untersuchung an. Zum einen soll es um die Beurteilung und theologische Reflexion des Gebrauchs staatlicher und politischer Gewalt in der lutherischen und reformierten Konfession gehen; zum anderen um die Folgen, die sich daraus für die rechtserhaltende Gewalt im Sinne der Gewalt der internationalen Gemeinschaft zur Rechtsdurchsetzung ergeben. Diese doppelte Aufgabenstellung stellt eine durchaus anspruchsvolle Versuchsanordnung dar. Ihr liegt die Konstellation einer Triangulation zugrunde: Die reformierte und die lutherische Tradition sollen auf ein gemeinsames Drittes hin untersucht werden, nämlich das Paradigma der rechtserhaltenden Gewalt.1 Dabei kann es methodisch nur um eine Spurensuche gleichsam nach – wie auch immer gearteten – „Vorläufern“ einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt in beiden Konfessionen gehen. Mit dem gemeinsamen Dritten wird zugleich ein konsens- statt differenzhermeneutisches Vorgehen nahegelegt – wenn man so will, eine Komparatistik unter konsenshermeneutischer Vorgabe. Bei der geschilderten Versuchsanordnung lauern eine Menge Fallstricke, derer man sich zumindest bewusst sein sollte. Genannt werden folgende: a) Wenn man sich im Konfessionalisierungsparadigma bewegt, dann geht es zumeist um Identitätskonstruktion. Dabei lauert die Gefahr der Retrojektion, d.h. der Eintragung und Zuschreibung von Iden1

Dieses Paradigma liefert einen gemeinsamen Bezugsrahmen für die beiden Traditionen bzw. Konfessionen. Insofern ist es vielleicht nicht ganz verfehlt, von einer „Logik der Tertiarität“ zu sprechen, Vgl. J. von Soosten, Feindesliebe. Konstellationen einer Grenzmoral, in: T. Meireis (Hg.), Gewalt und Gewalten. Zur Ausübung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt, Tübingen 2012, (203–224) 212.

2. Was verbirgt sich hinter einer Ethik rechtserhaltender Gewalt?

143

titätsmerkmalen aus gegenwärtigem Interesse an Identitätskons­ truktion. Zu bedenken ist fernerhin, dass die Konfessionskulturdebatten eigentlich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufkamen. b) Sehr schnell ist man zumeist mit Idealtypiken bei der Hand, von denen man sich heuristische Kraft verspricht. Doch die Frage stellt sich: Werden diese tatsächlich den Phänomenen gerecht oder erweisen sie sich womöglich als Prokrustesbett für diese? Peter Opitz gibt zu bedenken: „Weitreichende historische oder kulturgeschichtliche Thesen sind schnell einmal aufgestellt. Ihre Bewährung und Erhärtung kann nur in aufwendiger, präziser historischer Kleinarbeit erfolgen“.2 c) Schließlich stellt sich das Problem der Selektion: Welche Quellen wählt man aus und warum? Die nötige Quellenauswahl wird angesichts der geschilderten Versuchsanordnung sicherlich auf dem Hintergrund dessen getroffen, was man als „lutherisch“ und „reformiert“ bestimmt. Doch wie verhält sich dieser Dual zu den vielfältigen innerprotestantischen Differenzierungen, d.h. zum innerprotestantischen Pluralismus? Verwiesen sei hier etwa auf den oberdeutschen Raum mit namhaften Theologen wie Martin Bucer und Wolfgang Capito, die sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Was machen wir fernerhin mit einem Phänomen wie dem Puritanismus? Lässt es sich unter „Reformiertentum“ subsumieren, das ja bereits für sich genommen verschiedene Traditionen wie z.B. die Zürcher (Zwingli, Bullinger etc.) und Genfer Tradition (Calvin etc.) umfasst. Ohne all die aufgeworfenen Fragen hier im Einzelnen beantworten zu können, sollen sie doch zumindest eingangs benannt werden und ein Bewusstsein für diese geschärft haben. 2. Was verbirgt sich hinter einer Ethik rechtserhaltender Gewalt? These 1: Eine Ethik rechtserhaltender Gewalt geht nach der Interpretation durch Hans-Richard Reuter „von einer intern ausdifferenzierten Theorie (il)legitimer Gewalt aus, die sowohl polizeiliche, militärische als auch revolutionäre Gewalt abdeckt. Der im Ausdruck ‚rechtserhaltende Gewalt‘ in Anspruch genommene Begriff des 2

P. Opitz, Anwälte der Entsakralisierung. Konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen der Frühen Neuzeit, Reformierte Presse 14 (27/2009), 9.

144

IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

Rechts bezieht sich dabei nicht auf ein faktisch gegebenes Rechtssystem, sondern normativ auf die in den basalen Menschenrechten und einer legitimen Völkerrechtsordnung konkretisierte Rechtsidee.“3

Insofern greift der beliebte Vorwurf eines Rechtspositivismus nicht, da dieser sich auf das positive Recht im Sinne des faktisch gegebenen Rechtssystems (de lege lata) und nicht die Rechtsidee (de lege ferenda) bezieht, welche sich indes zugleich in Gestalt der in Geltung stehenden Menschenrechte und des Völkerrechts konkretisiert. These 2: Eine Ethik rechtserhaltender Gewalt partizipiert an der Kant’schen Idee „Frieden durch Recht“. Dies ist der Leitgedanke einer Friedensethik als Rechtsethik bzw. Ethik rechtserhaltender Gewalt. Das Recht hat eine gesellschaftliche Steuerungsfunktion bzw. protektive Funktion. Durch Regeln des Rechts, die als soziale Interaktionsnormen fungieren, werden die Bedingungen für die friedvolle Koordination des Handelns Verschiedener (Völker, Nationen etc.) festgelegt: „Um Frieden zu stiften, bedarf es zuerst der Errichtung einer Rechtsordnung mit verallgemeinerungsfähigen Grundsätzen. Dazu gehört innerstaatlich das Gebot des Rechtsgehorsams, zwischenstaatlich das Verbot des Angriffskrieges“.4 These 3: Dem Leitgedanken der Friedensethik als Rechtsethik bzw. Ethik rechtserhaltender Gewalt zufolge ist „eine globale Friedens­ ordnung als Rechtsordnung“5 in den Blick zu nehmen. Dieser Ansatz lenkt die Aufmerksamkeit im Rahmen des Völkerrechts auf die Rechts­ institutionen als äußere Voraussetzungen eines „gerechten Friedens“: „Die Aushöhlung des geltenden Völkerrechts etwa durch das interventionistische Handeln der NATO (wie im Kosovokrieg) oder durch den hegemonistischen Unilateralismus der USA (wie im Irakkrieg) wird folgerichtigerweise kritisiert“.6 Als globales ordnungspolitisches Modell wird dabei in Anlehnung an Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“7 etwa in der aktuel3

H.-R. Reuter, Terrorismus und rechtserhaltende Gewalt. Grenzen des Antiterrorismus aus ethischer Sicht, in: T. Meireis (Hg.), Gewalt und Gewalten. Zur Ausübung, Legitimität und Ambivalenz rechtserhaltender Gewalt, Tübingen 2012, (11–29) 13. 4 W. Lienemann, Notwendigkeit und Chancen der Gewaltfreiheit, in: D. Senghaas (Hg.), Frieden machen, Frankfurt a.M. 1997, (48–62) 51. 5 H.-R. Reuter, Gerechter Friede! – Gerechter Krieg?, ZEE 52 (3/2008), (163– 168) 164. 6 W. Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik, ZEE 49 (1/2005), (113–130) 126. 7 I. Kant, Zum ewigen Frieden (Ed. Weischedel IX, 191–251).

2. Was verbirgt sich hinter einer Ethik rechtserhaltender Gewalt?

145

len EKD-Friedensdenkschrift eine kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung anvisiert. These 4: Im Zusammenhang der aktuellen EKD-Friedensdenkschrift wird der Lehre vom gerechten Krieg ebenso wie einem prinzipiellen Pazifismus zugunsten einer Ethik rechtserhaltender Gewalt, die auf die normativen Grundentscheidungen der UN-Charta bezogen ist, eine Absage erteilt. Dabei weist die Friedensdenkschrift nicht nur auf die vorrangige Option für gewaltfreie Konfliktregelung hin,8 sondern hält auch fest, dass das moderne Friedensvölkerrecht auf der Basis der UN-Charta das ältere Kriegsächtungsprogramm in ein allgemeines Gewaltverbot (Art. 2, Abs. 4) überführt hat. Krieg ist demnach illegal. Eine Ethik rechtserhaltender Gewalt betont: Es gibt keinen gerechten Krieg, sondern es darf nur noch den rechtmäßigen Gebrauch militärischer Gewalt geben. These 5: Nach Reuter bildet eine Ethik rechtserhaltender Gewalt den normativen Rahmen für die Rezeption der bellum iustum-Traditionen. Sie besagt, dass „die Lehre vom gerechten Krieg zugunsten der Konzeption eines gerechten Friedens durch Recht verabschiedet [wird], gleichzeitig aber die gewalteinschränkenden Kriterien des bel­ lum iustum in sich aufgenommen hat“.9 These 6: Hinter der geforderten Rekonstruktion der Prüfkriterien der bellum iustum-Tradition in diesem normativen Rahmen verbirgt sich eine doppelte Absicht: „Erstens ist sie darauf angelegt, die fragliche Kriteriologie voll mit den normativen Grundentscheidungen des in die UN-Charta eingegangenen Kriegsächtungsprogramms in Übereinstimmung zu halten: Eine auf die normativen Grundentscheidungen der Charta bezogene Ethik rechtserhaltender Gewalt beseitigt nicht die durch sie etablierte Ächtung des Krieges und das von ihr ausgesprochene Gewaltverbot, sondern kann dazu anleiten, Auslegungsspielräume zu konkretisieren, die bei seiner Durchsetzung auftreten. Zweitens zielt diese Rekonstruktion auch darauf ab, eine breitere Akzeptanz weil Evidenzbasis für die Notwendigkeit solcher Prüfkriterien zu gewinnen“.10

8

Vgl. W. Lienemann, Verantwortungspazifismus (legal pacifism). Zum politischen Gestaltungspotenzial pazifistischer Bewegungen im Blick auf das Völkerrecht, in: J.D. Strub / S. Grotefeld (Hg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und ge­ rechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007, (75–99) 96. 9 Vgl. Reuter, Terrorismus und rechtserhaltende Gewalt, 13. 10 H.-R. Reuter, Gerechter Frieden und „gerechter Krieg“ als Themen der neuen Friedensdenkschrift der EKD, epd-Dokumentation 19/20 (2008), (36–43) 39.

146

IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage. Konfessionelle Profile im Vergleich These 7: Hinsichtlich eines Vergleichs zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus muss festgehalten werden, dass es weder „die“ lutherische noch „die“ reformierte Tradition gab und gibt. Hinter dem Luthertum verbergen sich durchaus unterschiedliche Traditionen, ebenso wie sich hinter dem Reformiertentum eine Konfessionsfamilie verbirgt. 3.1 Lutherische Tradition These 8: Als einigendes Band des Gros des Luthertums wird eine gemeinsame, abgeschlossene Bekenntnisgrundlage wahrgenommen, die mit dem „Konkordienbuch“ (1580) vorliegt; es gibt freilich auch nichtkonkordistische lutherische Kirchen. Besondere Bedeutsamkeit kommen dabei der „Confessio Augustana“ (CA) als maßgeblicher Bekenntnisschrift,11 aber sicherlich auch der Theologie Martin Luthers zu, zumal das Konkordienbuch von der Orientierung an ihr geprägt ist.12 These 9: Insofern ist es angemessen, als Quelle für die folgenden Ausführungen die CA auszuwählen, die (a) in CA 28 bei der Thematisierung der Gewalt der Bischöfe (De potestate ecclesiasticae) die Zwei-Reiche-Lehre als Referenzrahmen nicht nur voraussetzt,13 sondern auch kurz vorstellt, und (b) in CA 16 das „Kriegführen“ (iure bellare) im Zusammenhang „De rebus civilibus“ thematisiert, und beide im Sinne von Luthers friedensethischer Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“ (1526) zu interpretieren. These 10: CA 28 wendet sich gegen die Vermischung von geistlicher und weltlicher Gewalt und merkt kritisch an, dass „aus diesem unordentlichen Gemenge sehr große Kriege (maxima bella), Aufruhr und Empörung hervorgegangen sind“. CA 28 benennt dabei nur einseitig (in Abgrenzung gegenüber den Altgläubigen) den Übergriff von Bischöfen als Anmaßung, „Kaiser und Könige nach ihrem Gutdünken ein- und abzusetzen“. Der Unterschied zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt wird wie folgt hervorgehoben: 11

BSLK 31–137. Vgl. R. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für das Studium der Theologie, UTB 2214, Göttingen 32009, 45; 48. 13 Vgl. V. Mantey, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-ReicheLehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, SuR 26, Tübingen 2005. 12

3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage

147

„Darum soll man die zwei Regimente, das geistliche und weltliche (potestates ecclesiastica et civilis), nicht miteinander vermengen und durcheinanderwerfen. Denn die geistliche Gewalt hat ihren (eigenen) Befehl, das Evangelium zu predigen und die Sakramente zu reichen. Sie soll auch nicht in ein fremdes Amt fallen, soll nicht Könige ein- und absetzen, soll weltliche Gesetze und den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit nicht aufheben oder zerrütten, soll nicht für die weltliche Gewalt Gesetze machen und aufstellen von weltlichen Händeln […]. In dieser Weise unterscheiden die Unseren beide Regimente und Gewaltämter und heißen sie beide als die höchsten Gaben Gottes (utram­ que Dei donum) auf Erden in Ehren zu halten“.

These 11: CA 28 kennt freilich ein weltliches Regiment der Bischöfe, stellt aber fest: „Wo aber Bischöfe ein weltliches Regiment und das Schwert (potestatem gladii) haben, haben sie diese nicht als Bischöfe durch göttliches Recht, sondern durch menschliches, kaiserliches Recht (iure humano); [sie sind ihnen] von römischen Kaisern und Königen zur weltlichen Verwaltung ihrer Güter geschenkt worden und gehen das Amt des Evangeliums gar nichts an. Nach göttlichem Recht (de iure divino) besteht deshalb das bischöfliche Amt darin, das Evangelium zu predigen, Sünden zu vergeben, Lehre zu (be)urteilen und die Lehre, die gegen das Evangelium ist, zu verwerfen und die Gottlosen, deren gottloses Wesen offenkundig ist, aus der christlichen Gemeinde auszuschließen – (und zwar) ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort (sine vi humana, sed verbo).“

Menschliche Gewalt wird hier für das geistliche Regiment im Blick auf kirchendisziplinarische Maßnahmen klar abgelehnt. These 12: CA 16 thematisiert im Rahmen der Erfüllung anderer politischer Pflichten (res civiles) das Kriegführen: „Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment wird gelehrt (De rebus civilibus docent), daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung (bona opera Dei) sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind, und daß Christen ohne Sünde in Obrigkeit, Fürsten- und Richteramt tätig sein können, nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Kriege führen (iure bellare), in ihnen mitstreiten, kaufen und verkaufen, auferlegte Eide leisten, Eigentum haben, eine Ehe eingehen können usw. Hiermit werden die Wiedertäufer verdammt (damnant anabaptistas), die lehren, daß das oben Angezeigte unchristlich sei.“

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IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

In der Apologie der CA ist vom iure bella gerere14 bzw. in der deutschen Übersetzung vom „Kriege führen“15 bzw. vom „Krieg führen um gemeines Friedens willen“16 die Rede. These 13: In der Forschung durchaus umstritten ist die Frage, ob und – wenn ja – wie CA 16 auf die Lehre vom bellum iustum rekurriert. Während Wilhelm Maurer noch geltend machte, dass „[d]as lutherische Bekenntnis […] die augustinische Lehre vom gerechten Krieg“17 übernimmt, weist Wolfgang Huber darauf hin, dass CA 16 keineswegs vom bellum iustum, sondern vom iure bellare spricht. In CA 16 ist interessanterweise nicht vom iuste bellare die Rede, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn die so genannte Lehre vom bellum iustum hätte aufgerufen werden sollen. Stattdessen wird vom iure bellare gesprochen. Huber macht geltend, dass es sich bei iure der Wortart nach um ein Adverb und dementsprechend bei iure bellare der grammatischen Funktion nach um eine adverbiale Bestimmung, genauer: ein Modal­ adverbial (Umstandsbestimmung der Art und Weise), handelt: „‚Iure‘ ist eindeutig dem Verbum ‚bellare‘ (Krieg führen) zugeordnet. Das heißt, durch dieses Wort werden nicht Kriege prädiziert, sondern das Führen von Kriegen. Es wird somit nicht unterstellt, dass bestimmte Kriege mit der Eigenschaft versehen werden könnten, gerecht zu sein, obwohl diese Vorstellung auch nicht ausgeschlossen ist“.18

Dementsprechend hat Torleiv Austad, auf den Huber sich beruft, darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Formel iure bellare nicht „gerechte Kriege“, sondern „rechtmäßige, d.h. nach den damaligen Rechtsvorstellungen legitime Kriege“19 gemeint sind. Mit anderen Worten soll Krieg auf rechtmäßige Weise („nach dem Recht“) geführt werden. CA greift nach Huber nicht einfach affirmativ auf das bellum-iustum-Motiv naturrechtlicher Kriegsethik zurück. These 14: Götz Planer-Friedrich hat im Blick auf das iure bella­ re auf die politischen Realitäten bzw. den zeitgeschichtlichen Kontext verwiesen: 14

BSLK 307,38f. BSLK 307,53. 16 BSLK 309,30f. 17 W. Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana, Bd. 1: Einleitung und Ordnungsfragen, Gütersloh 1976, 149. 18 Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? 130. 19 T. Austad / H.G. Pöhlmann / F. Krüger, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Gütersloh 1996, 126. 15

3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage

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„Man wird in Rechnung stellen müssen, daß die CA schließlich ‚vor Kaiser und Reich‘ präsentiert wurde, nicht auf einem christlichen Konzil. Damit ist die Absicht verbunden, die reformatorische Lehre als reichsrechtlich akzeptabel darzustellen. Unter diesen Umständen wäre es geradezu töricht, kritische Überlegungen zur Rechtmäßigkeit des kaiserlichen Anspruchs auf das Gewaltmonopol einzuflechten, wo die Augustana bereits den weltlichen Herrschaftsanspruch der Kirche so nachdrücklich bestreitet. Außerdem war ja mit dem Ewigen Landfrieden 1495 ein kriegsrechtlicher Fortschritt erreicht worden, dessen positive Wirkung gerade Luther zu schätzen wußte. Kein Zweifel – der CA liegt an der Stabilisierung dieser Verhältnisse.“20

These 15: Der sensus historicus des iure bellare mag umstritten bleiben. Eine Relektüre von CA von einer Ethik rechtserhaltender Gewalt her wird die Huber’sche bzw. Austad’sche Deutung geltend machen dürfen:21 „Aus CA XVI lässt sich […] ableiten, und das ist der Sache nach durchaus zukunftsweisend, dass es für das Führen von Kriegen einen rechtmäßigen, gesetzlichen Rahmen geben müsse. Luther und die Reformatoren dachten natürlich an das innerhalb eines Staates geltende Recht. Deshalb war ‚Aufruhr‘ für sie das unmittelbare Gegenteil von ‚iure bellare‘. […] Luther konnte noch keine Vorstellung von einer internationalen Rechtsordnung im Sinne des modernen Völkerrechts haben. Nun aber muss eine Anknüpfung an dieses Dokument von 1530 auch im Blick haben, zu welchen Weiterentwicklungen das Völkerrecht durch die Schrecken genötigt wurde, zu denen moderne Kriegsführung im Stande ist“.22

These 16: Was dies heißt, lässt sich anhand von Luthers restriktiver Interpretation naturrechtlicher bellum iustum-Kriteriologien im Rahmen seiner Zwei-Regimenten- bzw. Zwei-Reiche-Lehre verdeutlichen, die fünf wesentliche Momente umfasst:23 20

G. Planer-Friedrich, Iure bellare, in: ders. (Hg.), Frieden und Bekenntnis. Die Lehre vom gerechten Krieg im lutherischen Bekenntnis, Genf 1991, (7–20) 17. 21 Vgl. H. Meyer, Die Bedeutung der Confessio Augustana für die heutige friedens­ ethische Diskussion, in: G. Planer-Friedrich (Hg.), Frieden und Bekenntnis. Die Lehre vom gerechten Krieg im lutherischen Bekenntnis, Genf 1991, (21–46) 29. 22 Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? 125. 23 Vgl. W. Lienemann, Gibt es gerechte Kriege?, in: S.M. Zwahlen / W. Lienemann (Hg.), Kollektive Gewalt?, Bern 2006, (69–85) 74; H.-R. Reuter, Martin Luther und das Friedensproblem, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, (38–57) 47f.; H.-R. Reuter, Von der „Kriegstheologie“ zur Friedensethik. Zum Wandel der Kriegswahrnehmung im deutschen Protestantismus

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IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

a) „Niemand soll Richter in eigener Sache sein.“ Demnach liegt die Funktion der obersten legitima auctoritas beim Reichsrecht und seinen gesetzlichen Sachwaltern. Als solche Sachverwalterin ist die jeweils übergeordnete Obrigkeit in den Blick zu nehmen. „Luther unterstützte die Umsetzung des 1495 im ‚Ewigen Landfrieden‘ beschlossenen Verbots der Privatfehde und den korrespondierenden Aufbau rechtsstaatlicher Verhältnisse“.24 Eine übergreifende Rechtsordnung, d.h. der Gedanke einer universalen Ordnung von elementaren Rechtsprinzipien, liegt durchaus in der Tendenz der Ausrichtung des theologischen Denkens Luthers.25 b) „Wer Krieg anfängt, ist im Unrecht.“ Hier wird das Verbot eines Angriffs- wie Präventivkriegs ausgesprochen.26 Nur ein Verteidigungskrieg aufgrund erlittenen Unrechts ist zulässig: „Zwischen gleichgestellten Konfliktpartnern ist der einzige verantwortbare Grund zum Gebrauch militärischer Gewalt die Abwehr eines Angriffs, die Notwehr. Der ‚gerechte‘ Krieg wird umdisponiert und eingeschränkt auf den ethisch erlaubten Verteidigungskrieg. Und zwar muss es sich um einen akuten, tatsächlich erfolgten Angriff handeln, ein Präventivkrieg ist unzulässig“.27 der letzten 100 Jahre, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, (58–82) 75f. 24 V. Stümke, Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, ThFr 34, Stuttgart 2007, 334; zum Ewigen Landfrieden vgl. auch M. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“, Tübingen 2016, 81 und vor allem G. Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen... Studien zu Luthers Theologie, München 1982, 205–311. 25 Den Nachweis führt Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 719– 729. Auch Volker Stümke spricht im Blick auf Luther von einer „Hochschätzung des Rechts“. V. Stümke, Einen Räuber darf, einen Werwolf muß man töten. Zur Sozialethik Luthers in der Zirkulardisputation von 1539, in: ders., Zwischen gut und böse. Impulse lutherischer Sozialethik, EThD 23, Münster 2011, (205–228) 219; vgl. fernerhin V. Stümke, Krieg und Frieden in der Reformation: Martin Luther, in: I.-J. Werkner / K. Ebeling (Hg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden 2017, (265–275) 270f. 26 Vgl. W. Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht. Studien zur abendländischen Vorgeschichte der gegenwärtigen Wahrnehmung von Gewalt, FBESG 36, München 1982, 158. 27 H.-R. Reuter, Die Militärintervention gegen den Irak und die neuere Debatte über den „gerechten Krieg“ (2003), https://repositorium.uni-muenster.de/document/ miami/0e6e580b-1513-4f57-b05a-e4471d753897/reuter.pdf (Zugriff: 27. Mai 2017), 4; vgl. auch Lienemann, Gewalt und Gewaltverzicht, 158f.

3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage

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c) Aus der strengen Unterscheidung zwischen den Regimenten folgt, dass Kreuzzüge, Glaubens- und Religionskriege ausgeschlossen sind: „Ein Krieg, der im Namen des christlichen Glaubens geführt wird, ist an sich ein Unrecht. Diese Behauptung annulliert nicht nur die mittelalterliche Kreuzzugsidee, sondern ist auch ein Verdammungsurteil über die religiös gefärbten Ideologien, mit denen die Neuzeit ihre Kriege begründet hat“.28 Ein strikt säkularer Theo­ riestatus der so genannte Lehre vom gerechten Krieg wird hier in gewisser Weise vorbereitet. d) Luther schärft auch die Verhältnismäßigkeit (debitus modus) des Gewaltgebrauchs ein. e) Die gewissensbasierte Prüfungspflicht jedes Einzelnen hebt Luther ebenfalls hervor. Für den Fall ungerechter Kriegsführung rät Luther unverhohlen zu Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht (Desertion), wie er aus Anlass der Wurzener Fehde in seinem Brief vom 7. April 1542 an Kurfürst Johann Friedrich und Herzog Moritz unterstreicht.29 These 17: Auch wenn Luthers Beiträge sich in erster Linie als Gewissensberatung verstanden haben und darin einem personalen Verständnis politischer Herrschaft verhaftet blieben,30 liegt doch im Gefälle seiner Ausführungen durchaus eine Ethik rechtserhaltender Gewalt: „[D]ie von ihm [Luther] entwickelte Zweiregimentenlehre [ist] auch ein Fanal für die Verstaatlichung des Rechts und die Monopolisierung der Gewalt – beides übrigens in Ablehnung der Privatfehde – gewesen, von der wir noch heute zehren. Luthers Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment hat darüber hinaus Kirche und Staat (Obrigkeit) jeweils eigene Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten zugeschrieben, so dass sie nicht mehr im mittelalterlichen Machtkampf (der beiden Schwerter) gegeneinander verharren mussten“.31

28

Maurer, Historischer Kommentar zur Confessio Augustana, 152. Vgl. E. Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977, 79f.; 262ff.; M. Schulze, Martin Luther: Friedenstheologie im Angesicht des Krieges. Wider den Aufruhr, Die Packschen Händel, Die Wurzener Fehde, in: D. Kannemann / V. Stümke (Hg.), Wort und Weisheit. FS für Johannes von Lüpke zum 65. Geburtstag, Leipzig 2016, 335–344. 30 H.-R. Reuter, Frieden/Friedensethik, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, (28–37) 32. 31 Stümke, Das Friedensverständnis Martin Luthers, 58. 29

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IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

These 18: Wolfgang Lienemann beobachtet treffend: Das iure bel­ lare steht „in einer Reihe – und nicht an der Spitze – von Bestimmungen, die der Rechtssicherung der Bürger, aber weder dem politischen Machterwerb noch einem religionspolitischen Suprematsanspruch dienen. Ich lese CA 16 darum als Vorstufe zur Begründung frühneuzeitlicher Rechtsstaatlichkeit und in einer Traditionslinie, die erstmals bei Kant ihre gültige systematische Form und Begründung gefunden hat.“32

Lienemann konzediert freilich: „Der Weg von hier zu Kants Rechtsund Friedenstheorie ist zwar weit, aber in sich konsequent, denn das unverzichtbar verbindende Element ist die Einschärfung der Hoheit und Wohltat des Rechtes.“33 These 19: H.-R. Reuter hat den Zusammenhang zwischen Luthers Bestimmungen und Kants Rechtsbegriff bzw. seiner transzendentalen Begründungstheorie des Rechts (Recht als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit) hervorgehoben: „Kurzum und mit Kant gesprochen: Unter der Herrschaft des Rechts ist die Vorstellung eines ‚Rechts zum Krieg‘ unsinnig, da es zum Begriff des Rechts gehört, dass niemand Richter in eigener Sache ist [M. Luther], sondern sich jeder nach allgemeingültigen freiheitsbeschränkenden Gesetzen bestimmt.“34

32

W. Lienemann, Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden? Überlegungen zur neueren ökumenischen Friedensethik, KZG 4 (2/1991), (260–275) 266; vgl. G. Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Bd. 2, Berlin 1998, 454; vgl. zur ideengeschichtlichen Entwicklung von Luther bis Kant auch J.-Ch. Merle, Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant. Ein Überblick, in: O. Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 2004, (31–42) 31ff.; fernerhin: J.B. Schnee­wind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998. 33 W. Lienemann, Mit der Gewalt Gott dienen? Rechtsethische Überlegungen anlässlich der ökumenischen Dekade „to overcome violence“, in: M.L. Frettlöh / H.P. Lichtenberger (Hg.), Gott wahr nehmen. FS für Christian Link zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2003, (359–377) 366; zum genaueren Nachweis der Verbindung zwischen Luther und Kant vgl. Lienemann, Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden?, 266f. 34 Reuter, Gerechter Frieden und „gerechter Krieg“ als Themen der neuen Friedensdenkschrift der EKD, 38; vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), B 33–35 (Ed. Weischedel VII, 337–339).

3. Luther- und Reformiertentum zur Gewaltfrage

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3.2 Reformierte Tradition These 20: Es gibt im reformierten Protestantismus nicht nur ein dominierendes Modell politischer Ethik, sondern mindestens zwei unterschiedliche, die einerseits auf Genf (Johannes Calvin) und andererseits auf Zürich (Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger) zurückgehen. Bereits in der Auseinandersetzung (1532) zwischen Bullinger und Zwinglis Mitarbeiter Leo Jud (Befürworter einer Trennung von Staat und Kirche) wurden beide Positionen erkennbar.35 Freilich handelte es sich bei Genf und Zürich um Stadtstaaten und nicht um Fürstentümer, wie dies bei der lutherischen Reformation der Fall war. These 21: Im Unterschied zum sächsischen Reformator und seinem Zweiregimente-Modell entwirft Zwingli „ein eigenständiges Einheitsmodell, in dem kirchliche und politische Ordnung einander nicht als eigengesetzliche Bereiche gegenübertreten, sondern – auch wenn sie sich voneinander unterscheiden – in gegenseitiger Zuordnung auf das göttliche Gebot bezogen sind“.36 Zwinglis Verhältnisbestimmung „Göttliche und menschliche Gerechtigkeit“ (1523)37 steht hier im Sinne einer „Entsprechung in der Unterscheidung“ (Arthur Rich) Pate. Danach hat sich die menschliche an der göttlichen Gerechtigkeit als dem Maßstab jener zu orientieren, um die menschliche zu einer besseren menschlichen Gerechtigkeit zu steigern. These 22: Der reformierten Reformation wird oftmals ein theokratisches Verständnis des Staates nachgesagt. „Allerdings differenziert auch Zwingli deutlich zwischen der Kirche und dem Staat. Damit denkt er – wie alle Reformatoren – anders als das Mittelalter, das eher eine monistische Vorstellung von der Gewalt hatte, um die sich Kirche und Staat stritten, wobei – je nach geschichtlicher Lage und Theorie – die eine Institution über die andere die Oberhand gewann. Durch die Unterscheidung von Kirche und Staat wird das staatlich-soziale Leben von Bevormundung befreit“.38

35

Vgl. E. Campi, Bullingers Rechts- und Staatsdenken, EvTh 64 (2/2004), (116– 126) 119. 36 A.a.O., 117f. 37 H. Zwingli, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit (1523), in: Huldrych Zwingli Schriften. Bd. 1, hg. von T. Brunnschweiler / S. Lutz, Zürich 1995, 155– 213. 38 Ch. Frey, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, 55.

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These 23: Unterzieht man die lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts einem Vergleich, so fällt auf, dass die reformierten Bekenntnisschriften die Kriterien des bellum ius­ tum in der Summe ausführlicher behandeln. Es finden sich dort verstreut die klassischen Kriterien der so genannte Lehre vom gerechten Krieg wieder.39 Gleichwohl präsentiert keines der reformierten Bekenntnisse – auch der Art. 30 der Confessio Helvetica Posterior (1562/66) nicht – eine vollständige, systematisierte Lehre, wie dies etwa bei Thomas von Aquin der Fall ist, sondern es finden sich – ähnlich wie bei Augustin – nur verstreut formulierte Kriterien. Es handelt sich dabei gleichsam um flottierende Versatzstücke einer Lehre vom gerechten Krieg. Allerdings lässt sich der Befund erheben, dass bei aller Eklektik der Bezugnahme auf einzelne Kriterien in den Reformierten Bekenntnisschriften alle Topoi dieser Lehre vorkommen. These 24: In besonderer Weise ist die Entwicklung des Rechtsdiskurses der westlichen Tradition von den Lehren des Genfer Reforma­ tors Johannes Calvin inspiriert worden. Das dürfte kein Zufall sein, zumal sich bei ihm (anders als in der Zürcher Tradition) die Ausprägung einer Zwei-Reiche-Lehre findet,40 die sich theologisch als Rechtsgrund für eine Säkularisierung der staatlichen Rechtssphäre bestimmen lässt. John Witte, Jr. hat den frühen Calvinismus als „The Reformation of Rights“ bezeichnet: „Building in part on classical and Christian prototypes, Calvin developed arresting new teachings on authority and liberty, duties and rights, and church and state that have had an enduring influence on Protestant lands. Calvin’s original teachings were periodically challenged by major crises in the West – the French Wars of Religion, the Dutch Revolt, the English Revolution, American colonization, and the American Revolution. In each such crisis moment, a major Calvinist figure emerged – Theodore Beza, Johannes Althusius, John Milton, John Winthrop, John Adams, and others – who modernized Calvin’s teachings and converted them into dramatic new legal and political reforms. This rendered early modern Calvinism one of the driving engines of Western constitutionalism. A number of our bedrock Western understandings of civil and political rights, social and confessional pluralism, federalism and social 39

Vgl. M. Hofheinz, Die „Lehre“ vom gerechten Krieg nach den Reformierten Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts, in: Th.K. Kuhn / H.-G. Ulrichs (Hg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit. Vorträge der sechsten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBrP 11, Wuppertal 2008, 135–147. 40 Vgl. J. Calvin, Inst. (1559), IV,20.

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contract, and more owe a great deal to Calvinist theological and political reforms.“41

These 25: Karl Barth hat in seiner frühen Göttinger Vorlesung zur Theologie Calvins nicht ohne einen Schuss Säkularisierungs-Skepsis notiert: „Der Calvinismus ist der geschichtliche Erfolg der Reforma­ tion, weil er ihr Ethos ist. Wer hier Erfolg sagt, der sagt auch Mißerfolg, innere Einbuße, Verweltlichung. Wer Ethos sagt, wer von Gott aus in die Welt schreitet, der kehrt eben damit Gott den Rücken.“42 These 26: Hinsichtlich des Beitrags des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens hat Dietrich Ritschl die hilfreiche These aufgestellt, dass man diesen Beitrag zum modernen Menschenrechtsdiskurs nicht als eine Art von unmittelbarem Einfluss verstehen darf, sondern eher als die Erstellung der Bedingungen neuer Möglichkeiten. Ritschl nennt die Forderung nach Religionsfreiheit, die vehemente Betonung des Bundesgedankens und schließlich (in Schottland) das presbyterial-synodale System, „das zweifellos einen Einfluß auf die Begründung und die Struktur der modernen Demokratie gehabt hat“.43 These 27: Was Calvin selbst betrifft, bemerkt Christian Link treffend: „Wohl war Calvin wie nur wenige ein homo politicus, aber weder hat er so etwas wie das Prinzip der Volkssouveränität proklamiert, noch sich in dem Sinne um Menschenrechte bemüht, in dem wir heute für sie kämpfen. Dennoch haben die von ihm bestimmten Kirchen die Voraussetzungen (auf jeden Fall ein Klima) geschaffen, unter denen beide Postulate sozusagen bis zur politischen Artikulation heranreifen konnten.“44

These 28: Calvin hat wichtige Impulse für die Friedensethik als Rechtsethik und insofern auch eine Ethik der rechtserhaltenden Gewalt 41

J. Witte, Jr., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007, XIf. 42 K. Barth, Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, Karl Barth GA II/23, hg. von H. Scholl, Zürich 1993, 122. 43 D. Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika (1979), in: ders. (Hg.), Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik, München 1986, (301–315) 305. 44 Ch. Link, Calvin und der Calvinismus. Eine Skizze, in: M. Heimbucher / J. Lenz (Hg.) Hilfreiches Erbe? Zur Relevanz reformatorischer Theologie, Bovenden 1995, (97–119) 105.

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gegeben.45 Er sieht den Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit als unverfügbare göttlicher Gabe und Verheißung durchaus.46 Die Quelle der Erkenntnis, aus der er dabei „trinkt“, ist unzweifelhaft die biblische Schalom-Tradition. So bemerkt Calvin in seinem Psalmenkommentar: „Dieses Wort [shalom] bezeichnet in der hebräischen Sprache nicht bloß einen ruhigen, sondern auch einen glücklichen Zustand. Demgemäß will David sagen, daß das Volk glücklich sein müsse, wenn die öffentlichen Zustände nach der Gerechtigkeit geordnet werden“.47

These 29: Die biblische Friedens- und Gerechtigkeitsbotschaft ist nach Calvin unter Ausklammerung der rechtlichen Dimension nicht verständlich: „Du sollst das Recht nicht beugen [Dtn 16,19]. Das heißt: Du sollst die Richtschnur der Gerechtigkeit im Auge behalten und ihr folgen, ohne sie nach der einen oder anderen Seite zu verbiegen“.48 Für Calvin ist „[d]ie Grundlage allen Rechts, d.h. seiner festgelegten Gestalt (constitutio) in der Form der Gesetze, […] die Gerechtigkeit (iustice)“.49 These 30: Da aber der Frieden nach Calvin nur durch das Recht hergestellt bzw. erhalten werden kann, das Recht aber wiederum von Calvin auf die Gerechtigkeitsvorstellung bezogen wird, liegt das Paradigma eines gerechten Friedens dem Calvin’schen Denken durchaus nahe. Karl Barth, der den Terminus gerechter Frieden im kirchlich-theologischen Bereich in die friedensethische Debatte des 20. Jahrhunderts eingeführt hat,50 kann auch in dieser Hinsicht als ein Schüler Calvins bezeichnet werden. These 31: Recht ist für Calvin eben nicht das Recht der Stärkeren,51 wie dies nach sozialdarwinistischer Lesart der Fall sein mag, sondern das Recht gilt – unabhängig vom Ansehen der Person – auch den „kleinen Leute[n]“ (les petis).52 Calvin begreift 45

Vgl. M. Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, bes. 207–226. 46 So auch E. Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 293f. 47 CO 31,665 (Komm. Ps 72,3). 48 CStA 7, 104,36–105,1 (Predigt über Dtn 16,18f.). 49 Ch. Link, Calvin als Prediger, in: CStA 7, (1–17) 13. 50 Zum historischen Hintergrund des Begriffs „gerechter Frieden“ vgl. Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg?, 118ff. 51 Vgl. CStA 7, 99,22–25 (Predigt über Dtn 16,18f.). 52 CStA 7, 108,38 (Predigt über Dtn 16,18f.) – CO 27,418.

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„die irdische Justiz als das von Gott verordnete Heilmittel gegen die in Willkür und Gewalt sich manifestierende Verderbnis (corruption) des Menschen. Das Recht […] ist eine providentielle Gabe Gottes zur Erhaltung der Menschheit und als solche zugleich ein Bollwerk gegen den Zusammenbruch des sozialen Lebens. Es soll die Menschen zum Frieden und zum gerechten Miteinander fähig machen“.53

Ohne das Recht ist politischer Frieden nach Calvin nicht denkbar. Politischer Frieden wird von Calvin – mit anderen Worten – als Rechtsfrieden verstanden. Dieser Rechtsfrieden schließt nach Calvin in extremis den rechtserhaltenden Gewaltgebrauch ein. These 32: Die Anwendung des Rechts hat nach Calvin entsprechend der Maxime der „Billigkeit“ (frz. equité, lat. aequitas) zu erfolgen, wie bereits die antike Ethik (z.B. Stoa und Aristoteles) wusste: „Sie bildet als Norm des rechtlichen und sittlichen Handelns die alle Gesetzes­ auslegung bestimmende Regel, eine ‚Rechtsidee‘, die in der Natur des Menschen begründet ist und darum geradezu den ‚Kern aller positiven Gesetze‘ bildet“.54

Der aus antiker Rechtstradition stammende Begriff der „Billigkeit“ hebt auf eine milde, dem menschlichen Vermögen angemessene Anwendung der Gesetze ab. In seiner Predigt vom 11.11.1555 zu Dtn 16,18f. vergleicht Calvin die Billigkeit mit einer geraden Linie: „[W]enn sie sich nach der einen oder anderen Seite biegt, haben wir es mit Unrecht (iniquité) zu tun. Deshalb sagt Mose: Du sollst das Recht nicht beugen. Das heißt: Du sollst die Richtschnur der Gerechtigkeit im Auge behalten und ihr folgen, ohne sie nach der einen oder anderen Seite zu verbiegen“.55

These 33: Die Transformation der bellum iustum-Tradition, wie sie innerhalb der durch den Westfälischen Frieden von 1648 entstandenen Ordnung des ius publicum europaeum Ausdruck erhält, ist ohne Berücksichtigung des Calvinismus nicht zu verstehen. Auch wenn sich bereits in den berühmten Vorlesungen des Francisco de Vitoria der Übergang zum neuzeitlichen Völkerrecht anbahnte, so ist die Be53

Ch. Link, Einleitung zur Predigt über Deuteronomium 16,18f., in: CStA 7, (97f.) 97. 54 CStA 7, 98 (Predigt über Dtn 16,18f.); vgl. J. Bohatec, Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Breslau 1937, 565. 55 CStA 7, 104,35–105,1f. (Predigt über Dtn 16,18f.).

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IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

deutung des reformiert geprägten Theologen Alberico Gentili und des Calvinisten (Remonstranten) Hugo Grotius hinsichtlich der Verrechtlichung der sog. Lehre vom gerechten Krieg kaum zu überschätzen.56 In seiner Ausarbeitung des europäischen Völkerrechts, die ihre große Renaissance mit der Wiederbelebung des Völkerrechts und der Gründung des Völkerbundes um die Wende zum 20. Jahrhundert erlebte,57 stellt Grotius die berühmte These auf, dass eine Rechtsordnung auch dann noch Bestand habe, wenn wir – einer spätmittelalterlichen Hypothese folgend – annehmen, dass es Gott nicht gebe: „Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, dass es keinen Gott gäbe oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere. Sowohl die Vernunft wie die ununterbrochene Überlieferung haben uns das Gegenteil eingepflanzt“.58

These 34: Wie Christoph Strohm gezeigt hat, wurden die reformierten Juristen der frühen Neuzeit zu Anwälten der Entsakralisierung der politischen und rechtlichen Ordnung:59 Silete theologici in munere alieno.60 Die Ausstrahlungen der reformierten Theologie auf die Geschichte des Völkerrechts sind auch über Grotius hinaus keineswegs zu ignorieren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der presbyterianische Pfarrerssohn und spätere Präsident der USA, Woodrow Wilson, in dankbarer Erinnerung dieser Zusammenhänge die Stadt Calvins als Sitz des Völkerbunds vorgeschlagen hat.61 56

Zu Gentili vgl. Ch. Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 42, Tübingen 2008, 454–458; zu Gentili und Grotius vgl. Ch. Stumpf, Vom Recht des Krieges und des Friedens im klassischen Völkerrecht: Alberico Gentili und Hugo Grotius, in: I.-J. Werkner / K. Ebeling (Hg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden 2017, 291–300. 57 Vgl. G. Beestermöller, Die Völkerbundsidee. Leistungsfähigkeit und Grenzen der Kriegsächtung durch Staatensolidarität, ThFr 10, Stuttgart 1995. 58 H. Grotius, Vom Recht des Krieges und des Friedens (1625), Die Klassiker des Völkerrechts in moderner deutscher Übersetzung 1, übers. und hg. von W. Schätzel, Tübingen 1950, 33. 59 Strohm, Calvinismus und Recht, 439ff. 60 A. Gentili, De iure belli libri tres, Bd. 1, Faksimile-Reprint der Ausgabe Hanau 1612, 92. 61 Ch. Link, Humanität in reformatorischer Perspektive. Zum Menschenbild Calvins, in: M. Graf u.a. (Hg.), „Was ist der Mensch?“. Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. FS für Wolfgang Lienemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, (163–174) 164.

4. Barmen V als Zusammenführung der beiden Traditionen

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4. Barmen V als Zusammenführung der beiden Traditionen These 35: In beiden Traditionen, der lutherischen und der reformierten, tritt die Bindung der Gewalt an das Recht, mithin die sittliche Legalisierungsnotwendigkeit von Gewalt in den Blick. Anders gesagt, beantworten beide die Frage, ob man Gott mit Gewalt dienen kann, nicht einfach generell positiv, sondern wollen die Gewalt qualifiziert wissen: „Für jede Beurteilung der sittlichen Qualität von Gewalt ist […] die Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Recht entscheidend“.62 These 36: Beide Traditionen, die lutherische und die reformierte, werden gewissermaßen in Barmen V zusammengeführt, was dem historischen Umstand entspricht, dass es sich bei der Barmer Bekenntnissynode (1934) um eine Synode aus lutherischen, reformierten und unierten Kirchen handelt: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.“

These 37: So steht hinter der Formulierung von Barmen V zum einen die bekannte Rede in CA 16 von den ordinationes civiles (den bürgerlichen Anordnungen) und deren Identifikation als „gute Werke Gottes“ (bona opera Dei) und zum anderen die breite Bezeugung des funktionalen Staatsverständnisses, wie sie sich in den reformieren Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts wiederfindet.63 In Frage 105 des Heidelberger Katechismus heißt es etwa: „Der Staat hat den Auftrag, durch seine Rechtsordnung das Töten zu verhindern.“ Im Vergleich dazu kommt die eher beiläufige Bestimmung der weltlichen Gewalt in CA 28 defensiver (weniger fordernd) daher: „[W]eltliche Gewalt 62

Lienemann, Mit der Gewalt Gott dienen?, 366. Vgl. Baseler Bekenntnis (1534), Art. 8 (BSRK 98,23f.); Conf. Helvetica Prior (1536), Art. 27 (BSRK 109,16ff.); Conf. Scotica (1560), Art. 24 (BSRK 261,44f.); Conf. Belgica (1561), Art. 36 (BSRK 248,10ff.); Conf. Helvetica Posterior (1562), Art. 30 (BSRK 220,24f.); Heidelberger Katechismus (1562), Frage 105 (BSRK 712,29f.); Erlauthaler Bekenntnis (1562), De Magistratu (BSRK 313,25f.). 63

160

IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

schützt nicht die Seele, sondern Leib und Gott mit dem Schwert und leiblichen Strafen gegen äußere Gewalt.“64 These 38: Das funktionale Staatsverständnis ist konditional zu verstehen: Nur weil und insofern der Staat seiner originären Aufgabe nachkommt, verdient er es, Gottes Anordnung genannt zu werden. Daran, an der Sorge für Recht und Frieden als seinem positiven Auftrag, ist er zu bemessen. These 39: Was es nun konkret heißt, für Frieden und Recht zu sorgen, wird in Barmen V nicht weiter ausgeführt. Ja, selbst der Zusammenhang von Frieden und Recht wird nicht aufgeschlüsselt, auch wenn wir diesen heute gerne im Sinne der Formel iustitia et pax bzw. des „gerechten Friedens“ interpretieren. In Barmen V ist zunächst einmal nur von „Recht“ (ius) und nicht einfach von „Gerechtigkeit“ (iustitia) die Rede. Indem dann später von der Erinnerung an „Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit“ als der Aufgabe der Kirche gegenüber dem Staat gesprochen wird, gerät freilich auch der Rechtsbegriff in den Bannkreis der Reich-Gottes-Semantik und somit auch der biblischen Gerechtigkeitsvorstellung. These 40: Gehalt und Gestalt dieser „Sorge“ für Frieden und Recht bilden im Blick auf die Fragestellungen, die uns heute friedensethisch beschäftigen, jedoch gewissermaßen eine Leerstelle und zwar in einem spezifischen Sinne: Dem Staat wird Raum gegeben, der freilich begrenzt ist, und zwar durch die kriteriologische Funktion, die diese Aufgabenstellung für die Einschätzung des Staates seitens der Gemeinde hat. These 41: Immerhin finden sich drei präpositionale Bestimmungen dieser „Sorge“: (a) Die Sorge ist in der „noch nicht erlösten Welt“ verortet; (b) sie erfolgt „nach dem Maße menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ und (c) sie geschieht „unter Androhung und Ausübung von Gewalt“. Hinter allen drei Präpositionen verbergen sich wichtige Hinweise: a) Die Aussage „in der noch nicht erlösten Welt“ ist zugleich als Ortsund Zeitangabe zu verstehen, die wohlgemerkt für beide, Kirche wie Staat, gilt. Hier, in der Welt, die in zeitlicher Hinsicht die Signatur der „noch nicht erlösten Welt“ und nicht etwa der „unerlösten Welt“ trägt, sind beide lokalisiert. Liegt der Akzent auf dem „noch 64

Der lateinische Text spricht indes von manifestas iniurias, gegen die sich der Magistrat wende: „Magistratus defendit non mentes, sed corpora et res corporales adversus manifestas iniurias et coercet homines gladio et corporalibus poenis.“ BSLK 122,14–20.

4. Barmen V als Zusammenführung der beiden Traditionen

161

nicht“, so heißt dies, dass der Zustand der Welt von einer eschatologischen Dynamik ergriffen ist, nämlich dem Kommen des Reiches Gottes, mit dessen universaler Durchsetzung und Vollendung die Welt sein wird, was sie jetzt noch nicht ist: erlöste Welt. „Noch nicht erlöste Welt“ besagt, dass wir uns hüten müssen, den jetzigen Zustand auf Dauer zu stellen. b) „Nach dem Maß menschlicher Einsicht“: Diese Bestimmung erdet staatliche Bemühungen. Gerade weil die Kirche um das Kommen des Reiches Gottes als Autobasileia weiß, wird sie sich gegen solche Visionen wenden, die meinen, der Staat könne den Himmel auf Erden schaffen. Wo er solches versuche, mache er den Menschen das Leben zur Hölle: „Politik soll an einer besseren Welt arbeiten, aber eben nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens. Nicht mehr! Allerdings auch nicht weniger: Sie soll auf der Höhe menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens sich bewegen, die nach biblischem Verständnis auch in der noch nicht erlösten Welt beträchtlich ist“.65 c) „Unter Androhung und Ausübung von Gewalt“: Das durchaus instrumentell zu verstehende „unter“ meint hier: „Gewalt ist also nur ein, und beileibe nicht das erste und wichtigste Mittel staatlichen Handelns. Es ist die notwendige Form, nicht der Inhalt staatlichen Tuns. Gewalt kann immer nur als letztes (und strikt zu begrenzendes) Mittel zum Einsatz kommen. Und Kriterium der Gewaltausübung bleiben Recht und Frieden. Staatliche Gewalt muss sich stets fragen, ob sie der Sorge für Recht und Frieden dient […]. Staatliche Gewalt ist ihrerseits kein rechtsfreier Raum, im Gegenteil“.66 These 42: Wird Gewalt in Barmen V nur als ultima ratio verstanden, so folgt daraus, dass im Sinne der prima ratio nach Alternativen der Gewalt Ausschau zu halten ist. Folgen ergeben sich daraus insofern für die rechtserhaltende Gewalt, als die vorrangige Option für Gewaltfreiheit zu beachten ist. These 43: Bezeichnet Barmen V den Staat als Subjekt der Gewaltausübung, billigt Barmen also allein ihm den Status der legitima potestas bzw. legitima auctoritas zu, so schließt Barmen V damit zugleich die Kirche als legitimen „Träger“ dieses Status aus. Die Kirche ist demnach keineswegs zum Gewaltgebrauch befugt. Barmen V reiht 65

P. Bukowski, Politik als Wohltat – der Auftrag der Kirche, in: ders., Theologie im Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Göttingen 2017, (38–48) 42. 66 A.a.O., 44.

162

IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt

sich wiederum ein in die reformatorische Tradition, sollen doch nach CA 28 die Bischöfe sine vi humana, sed verbo,67 also ohne menschliche Gewalt allein durch das Wort regieren. These 44: Außer in Barmen V ist noch an einer anderen Stelle von Gewalt die Rede, nämlich im Schriftzitat von Barmen IV. Dort wird das in ähnlicher Weise auch bei Lukas (22,25f.) und Markus (10,42f.) zitierte Logion vom Herrschen und Dienen nach Matthäus (20,25f.) bemüht: „Jesus Christus spricht: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener.“ Der Gewaltbegriff ist hier negativ konnotiert: Gewalt kennzeichnet die Macht- und Herrschaftsstrukturen der menschlichen Gesellschaft, nicht jedoch der Jüngergemeinschaft, die durch „Dienen“ ausgezeichnet ist. Gewalt wird hier negativ bewertet und rückt erkennbar in die Nähe physischer Zwangsgewalt, wofür der lateinische Terminus violentia steht. These 45: Der Gewaltbegriff in Barmen V ist hingegen ungleich positiver geprägt und meint die im Notfall für Recht und Frieden sorgende Gewalt. Es geht um die rechts- und friedenserhaltende Gewalt, die semantisch in die Nähe der potestas rückt, worunter man reformatorisch „die segensreiche, Ordnung schaffende und gewährleistende Macht und Autorität legitimer ‚Obrigkeit‘“68 verstand. Luther nimmt in seiner „Obrigkeitsschrift“ diese Gewalt (im Sinne der lat. potestas bzw. griechischen exousia) in den Blick, wenn er im Anschluss an Röm 13,4 („Die Obrigkeit ist Gottes Dienerin, dir zugute“) schreibt: „Die Gewalt ist ihrer Natur nach derart, dass man Gott damit dienen kann“.69 Der Gewaltbegriff von Barmen, wie an diesen beiden genannten Thesen (IV und V) gezeigt werden kann, umfasst durchaus die gesamte Breite des deutschen Wortes Gewalt, in dem „lange Zeit die Bedeutungen der lateinischen Wörter potestas und violentia zusammen[flossen]“.70 Unser heutiger Sprachgebrauch ist indes dadurch gekennzeichnet, dass im Unterschied zur Sprache Luthers beide Aspekte von Gewalt ausei­ nandergetreten sind und der Begriff Gewalt zumeist mit „violence“ (vis, violencia) gleichgesetzt und negativ konnotiert wird.71 67

BSLK 124,22. W. Lienemann, Kritik der Gewalt. Unterscheidungen und Klärungen, in: W. Diet­ rich / W. Lienemann (Hg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, (10–30) 11. 69 WA 11, 257,32 (Von weltlicher Obrigkeit, 1523). 70 Lienemann, Kritik der Gewalt, 11. 71 Vgl. Lienemann, Mit der Gewalt Gott dienen?, 361f. 68

4. Barmen V als Zusammenführung der beiden Traditionen

163

These 46: Barmen V ist durchaus im Sinne einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zu verstehen. Die von ihr betonte Rechtsbindung des Militärs tritt damit in den Blick, die es bereits auf der Grundlage eines allgemeinen Gewaltverbots (Art. 2, Abs. 4 der UN-Charta) (als Grundnorm) in Gestalt des gültigen Völkerrechts gibt – unbenommen dessen, dass es freilich nur als lex imperfecta zu verstehen ist, wie wir immer wieder angesichts fahrlässiger, unilateraler Infragestellungen schmerzlich erfahren.72 Es geht gewissermaßen um ein polizeianaloges law enforcement. Gleichwohl muss man natürlich die Einschränkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Kap. VII und Art. 51 (Selbstverteidigungsrecht) der Charta berücksichtigen. Damit wird aber nicht das definitive Ende eines freien Selbstverteidigungs- und Kriegsführungsrechts (liberum ius ad bellum) außer Kraft gesetzt. Die Rechtsbindung militärischer Gewalt ist auf der Grundlage des Völkerrechts, also bereits de lege lata, gültig. These 47: Hinsichtlich einer Übertragung des innerstaatlichen Gewaltmonopols als Grundlage und Voraussetzung polizeilichen Handelns auf die internationalen Beziehungen wird man indes realistischerweise mit W. Lienemann hinzufügen müssen: „Ein Gewaltmonopol der (Organe der) UN besteht bisher nicht, und ein Gewaltlegitimationsmonopol ist zumindest eine m.E. dringend wünschbare Fortentwicklung des Völkerrechts, aber politisch und rechtlich noch keine zwingende Realität“.73

72

W. Lienemann (Recht und Gewalt. Grundlagen und Grenzen völkerrechtlich zulässiger Gewaltanwendung im Blick auf den Militäreinsatz in Afghanistan, in: H.-G. Justenhoven / E. Afsah [Hg.], Das internationale Engagement in Afghanistan in der Sackgasse? Eine politisch-ethische Auseinandersetzung, Baden-Baden 2011, 55–85, 59) benennt zwei grundlegende Defizite der UN: „(1) das Fehlen einer verbindlichen Legislativkompetenz und (2) das Fehlen einer internationalen Rechtdurchsetzungsgewalt.“ 73 W. Lienemann, Militärische Interventionen als Wahrnehmung von humanitärer Schutzverantwortung? Völkerrechtliche und moralische Urteilskriterien angesichts des religiös-weltanschaulichen Pluralismus in der Weltgesellschaft, in: H. Busche / D. Schubbe (Hg.), Die Humanitäre Intervention in der ethischen Beurteilung, Tübingen 2013, (81–105) 93.

V. Mit vertauschten Rollen? Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain zur Schöpfungsordnung in den Raum- und Zeitdeutungskämpfen der Weimarer Republik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung

1. Einleitung: Die Lehre von den Schöpfungsordnungen – eine konfessionelle Eigentradition im Deutungszusammenhang der „konservativen Revolution“? Zu den üblich gewordenen konfessionellen Zuordnungen in der Theologiegeschichte gehört die Zuweisung der sog. Lehre von den Schöpfungsordnungen zum (Neu-)Luthertum des 20. Jahrhunderts. Dem Reformiertentum hingegen wird eine Distanz zu derselben in der Regel zugesprochen.1 Als Ausnahme gilt Emil Brunner2, der im Jahr 1932 einen Entwurf mit dem programmatischen Titel „Das Gebot und die 1

„Eine reformierte Ordnungsethik“ identifiziert Ch. Frey, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, 193. Auch U.H.J. Körtner (Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 4 2019, 353) weist darauf hin, dass diese „(neu)lutherische [Lehre] auch von reformierten Theologen“ vertreten wird. 2 E. Brunner (Das Gebot und die Ordnungen, Zürich 41978, 329) definiert „Schöpfungsordnung“ wie folgt: „Jede Schöpfungsordnung ist eine dem Geschaffenen mitgegebene Ordnung, die auch vom ‚natürlichen‘ Menschen irgendwie gewusst, wenn auch nicht recht erkannt werden kann, sondern erst dem Glauben nach ihrem wahren Sinn sich erschließt. Wir werden also – das ist der Sinn des Wortes Schöpfungsordnung – in einem Gegebenen, in etwas, was ohne und gegen den Willen des Menschen da ist, den Hinweis auf den Willen Gottes des Schöpfers aufzudecken haben, so, dass der Glaube in jenem Hinweis, in jenem Gegebenen, die Schöpfungsordnung Gottes zu erkennen vermag.“ Bei einer genauer Lektüre Brunners wird man den Eindruck nicht los, dass er sich in seinen Überlegungen irgendwie unwohl gefühlt hat und auch sich selber von der eigenen Behauptung der unveränderlichen, Zeit und Raum enthobenen Konstanten immer wieder absetzt. Er spricht von einer – noetisch wie ontologischen – Brechung besser: Entstellung der Schöpfungsordnung durch die Sünde. Deswegen gibt es für ihn kein bedenkenloses Hinnehmen der Ordnungen, d.h. einen gänzlich blinden Konservativismus kann man ihm nicht vorwerfen, es geht ihm zwar um Einfügung, aber auch um Protest und Widerstand gegen das Gegebene. Zu Brunner vgl. näher­ hin M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Göttingen 2017, 239–243; 261; M. Zeindler, Emil Brunner (1889–1966), in: W. Lienemann / F. Mathwig (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahr­hundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, 85–103; H.-R. Reuter, Ethik kompakt: Emil Brunner, ZEE 62 (2018), 313–316.

1. Einleitung

165

Ordnungen“ vorlegte.3 Dementsprechend wird üblicherweise im (sozial)ethikgeschichtlichen Gedächtnis festgehalten: Bei der Schöpfungsordnungslehre handelt es sich um eine „vor allem in der lutherischen Tradition entwickelte Lehre“4. So subsumiert etwa Hans-Richard Reuter besagte Lehre unter „[d]ie Ambivalenz des Luthertums“5. Ehe, Volk, Rasse, Staat, Wirtschaft und so weiter kamen im Luthertum als „solche statisch und unveränderlich vorgegebene Ordnungen in Betracht“6, die theologisch als Schöpfungsordnungen qualifiziert wurden, „das heißt als natürlich vorgegebene Gemeinschaftsformen, die je nach eigenen Gesetzen funktionieren.“7 Wolf Krötke hielt bereits vor einigen Jahrzehnten ebenfalls fest: „Die Frage nach so etwas wie ‚Schöpfungsordnungen‘ ist in unserem [dem zwanzigsten; M.H.] Jahrhundert von dem Versuch belastet, den Nationalsozialismus theologisch rechtfertigen zu wollen. Wenn Barth auf ‚Schöpfungsordnungen‘ zu sprechen kam, dann stand ihm zeitlebens vor Augen, was ‚lutherische‘ Theologen wie Paul Althaus, Werner Elert, Friedrich Gogarten, Emanuel Hirsch und viele andere in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts über die Geschichte, das Volk, die Rasse, den Boden, den Führer als Ausdruck der Ordnung Gottes gesagt haben.“8 Rückblickend auf den Kirchenkampf während der nationalsozialistischen Herrschaft (1933–1945) hat sich die konfessionelle Differenzierung und Zuordnung der lutherischen (Schöpfungs-)Ordnungslehre als Gegenüber zur reformierten Lehre von der Königsherrschaft Christi etabliert. Es handelt sich, bei Lichte betrachtet, um eine Modifikation der Konstellation Zweireichelehre und Königsherrschaft

3

Zur Entwicklung der reformierten Theologie im 20. Jahrhundert in Deutschland vgl. G. Plasger, Reformed Theology in Germany the Twentieth Century, in: G. Harinck / D. van Keulen (Hg.), Vicissitudes of Reformed Theology in the Twentieth Century, Zoetermeer 2005, 50–68. 4 K.F. Haag, Nachdenklich handeln. Bausteine für eine christliche Ethik, Studienbuch Religionsunterricht 4, Göttingen 1996, 147. 5 H.-R. Reuter, Grundlagen und Methoden der Ethik, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (9–123) 52. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 W. Krötke, Die Schöpfungsordnungen im Lichte der Christologie. Zu Karl Barths Umgang mit einem unabweisbaren Problem (1994), in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, UnCo 26, Bielefeld 2009, (155–178) 156f. Dort mit Belegen zu allen genannten Theologen, die sich affirmativ auf „Schöpfungsordnungen“ beriefen.

166

V. Mit vertauschten Rollen?

Christi.9 Damit wird die Ordnungstheologie der Tradition der Zweireichelehre zugerechnet und durchaus eine gewisse Opposition bzw. Alternative aufgemacht.10 So kontrastiert etwa Karl-Wilhelm Dahm die aus der Schöpfungstheologie (erster Glaubensartikel) abgeleitete „Ordnungstheologie in lutherischer Tradition“11 mit der Barmer Theologischen Erklärung (1934),12 die in ihrer zweiten These von der „neoreformierten“13 Königsherrschaft Christi-Theologie bzw. dem zweiten Glaubensartikel her argumentiere: „Nicht primär vom Ersten Artikel des Credo aus, also vom Schöpfertum Gottes her seien weltliche Ordnungen in Politik oder Wirtschaft christlich zu interpretieren und gegebenenfalls zu kritisieren, sondern vom Zweiten Artikel aus, unter dem Aspekt der schon angebrochenen Königsherrschaft Christi. Angesichts der kommenden und endgültigen Herrschaft Christi werden alle sozialen Strukturen dieser Welt als vorläufig erkannt und damit relativiert. Jetzt kann über ihr geschichtliches Gewordensein diskutiert, muss ihre Veränderbarkeit akzeptiert und muss nach Kriterien ihrer Gestaltung gesucht werden; jetzt kann und muss daher die latente Ten9

Vgl. M. Hofheinz, Art. Theologische Ethik, in: K. Lindner / M. Zimmermann (Hg.), Handbuch ethische Bildung. Religionspädagogische Fokussierungen, Tübingen 2021, (101–113) 110f.; M. Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin / New York 1995, 21; ders., Einführung in die Theologische Ethik, Berlin / New York 1990, 296; J. Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Forum Systematik 11, Stuttgart u.a. 2002, 61. 10 Vgl. M. Honecker, Themen und Tendenzen der Ethik, ThR 63 (1998), (74–133) 79. 11 K.-W. Dahm, Von der Götzenkritik zum Gestaltungsauftrag. Evangelische Sozial­ ethik im Übergang, in: F. Furger u.a. (Hg.), Einführung in die Sozialethik. Münsteraner Einführungen – Theologie 3, Münster 1996, (89–114) 96. 12 H. Dembowski (Barmen heute. Anstöße zum Verständnis und zur Aufnahme der Theologischen Erklärung von Barmen 1934, in: ders., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von H. Falcke / H. Schröer, Leipzig 1995, 284–321, 297) weist darauf hin, dass die Barmer Theologische Erklärung „vor allem aus Kreisen einer lutherischen Theologie“ bestritten wurde: „Man berief sich auf die Lehre von den Schöpfungsordnungen: Unabhängig von Jesus Christus hat Gott in der Schöpfung der Welt Ordnungen eingestiftet, die göttliche Autorität haben und respektiert werden wollen: Ehe, Familie, Staat, Nation, Volk, Rasse.“ Vgl. zu Barmen auch E. Busch, Die Barmer Thesen 1934–2004, Göttingen 2004; M. Hailer, „Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Die Aktualität der Barmer Theologischen Erklärung, achtzig Jahre nach ihrer Verabschiedung, Evangelische Aspekte 24 (3/2014), 27–30; R. Frisch, Was fehlt der Evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße, Leipzig 2017, 142–144; M.L. Frettlöh (Hg.), „Gottes kräftiger An­ spruch“. Die Barmer Theologische Erklärung als reformierter Schlüsseltext, reformiert! Bd. 3, Zürich 2017. 13 Dahm, Götzenkritik, 94.

1. Einleitung

167

denz aller Sozialstrukturen zu Eigenverabsolutierung, metaphysischer Überhöhung und letzten Endes zur Selbstvergötzung entlarvt werden. Die Königsherrschaft Jesu Christi, dessen ist sich der Glaube sicher, wird sich zuletzt als mächtiger erweisen als jeder Machtanspruch politischer oder wirtschaftlicher Systeme. Sie relativiert diese Systeme auf ihren vorübergehenden Dienst in der Gesellschaft.“14 Ab den 1960er Jahren ist – auch dies wurde (sozial-)ethikgeschichtlich vielfach beobachtet – der soziologische Begriff der Institution an die Stelle des theologisch anfälligen Begriffs der Schöpfungsordnung getreten,15 um insbesondere die menschliche Gestaltungsoffenheit der „Ordnungen“ bzw. „Institutionen“ zu betonen.16 Heute beruft sich im (sozial-)ethischen Diskurs so gut wie niemand mehr auf Schöpfungsordnungen.17 Nahezu allen scheint klar zu sein: „Die Ordnungsfrage ist höchst ambivalent: Als Schöpfungsordnungen verklärt, können Institutionen bestimmter Kulturen, Gesellschaften oder Klassen ihre geschichtliche Bedingtheit verschleiern. Allzu schnell können sie als bereits in sich gut angesehen und zum Selbstzweck verfestigt werden, wobei sie ihres der Humanität dienenden Charakters beraubt und damit entstellt werden.“18 In der Weimarer Republik allerdings wurde der Begriff „Schöpfungsordnung“ und der sich hinter ihm verbergende Korridor an Deutungsmöglichkeiten heftig diskutiert. Er erlebte damals, wie noch im Einzelnen begriffs- und ideengeschichtlich zu rekonstruieren sein wird, nach zarten Anfängen im 19. Jahrhundert sein eigentliches Aufkommen. Es handelte sich, wenn man so will, um einen politischen Kampfbegriff, um den auf dem theologischen Diskursfeld hart gestritten wurde. In konservativen Kreisen, aber – wie wir sehen werden – nicht nur dort, bediente man sich seiner, zumal er in programmatischer 14

A.a.O., 93. Wesentlichen Anteil an der theologischen Einführung des Institutionenbegriffs hatte E. Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, UTB 1516, hg. von Th. Strohm, Göttingen 31988, 168–257. Vgl. G.U. Brinkmann, Theologische Institutionenethik. Ernst Wolfs Beitrag zur Institutionenethik in der evangelischen Kirche nach 1945, NBST 20, Neukirchen-Vluyn 1997. 16 So Fischer, Ethik, 60. So auch Honecker, Einführung, 291: „Heute ist weithin der Begriff Ordnungen durch das Wort Institutionen ersetzt.“ 17 E. Herms (Die Lehre von der Schöpfungsordnung, in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1994, 431–456) hat freilich diese Lehre zu erneuern versucht. Er versteht das Bestehen der Bedingungen, die den Vollzug endlicher Freiheit ermöglichen, als Schöpfungsordnung, wohlgemerkt im Singular. Vgl. a.a.O., 448. 18 Ch. Frey, Die Theologie Karl Barths. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1988, 215f. 15

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V. Mit vertauschten Rollen?

Hinsicht antirevolutionär („reaktionär“) anschlussfähig zu sein schien. Entschieden politisch-linke Vertreter, die religiös-sozialistische Theoriekonzepte befürworteten, vermieden oder opponierten offen gegen ihn. Paul Tillich etwa, der den Leitbegriff „Kairos“19 in der Weimarer Republik politisch popularisierte,20 kritisierte die Vorstellung von zeitlosen, unveränderlichen sozialen Ordnungen, also den sog. „Schöpfungsordnungen“, als „Ursprungsmythos“.21 Es gebe keine ewigen, unveränderlichen sozialen Ordnungen im Sinne ontisch-metaphysischer Entitäten. Der Begriff „Schöpfungsordnung“ gehört also unmittelbar in die Raum- und Zeitdeutungskämpfe der Weimarer Republik hinein. Er 19

Vgl. P. Tillich, Kairos (1922), in: ders., Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften, Paul Tillich Main Works / Hauptwerke 4, hg. von J. Clayton, Berlin / New York 1987, 53–72. Prägnant beschreibt D. Korsch (Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 30) Tillichs Kairos-Verständ­ nis als „Zusammenfall einer (in sich unbefriedigenden, weil immer an die Extreme von Konservativismus und Revolution auseinandergehenden) absolut-dualistischen Geschichtsauffassung mit einem (vom linearen Fortschrittsoptimismus gereinigten) relativistisch-universalen Geschichtsverständnis. Im Kairos wird offenkundig, dass die Geschichte im Unbedingten verläuft. Dass sie also einerseits verläuft – und nicht, so oder so gedeutet, zu Ende geht. Und dass sie andererseits in ihrem Verlauf zum Absoluten schlechthin in Äquidistanz bleibt.“ 20 Dies hat A. Christophersen (Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, BHTh 143, Tübingen 2008) gezeigt. „Kairos“-Theologien wie etwa die Paul Tillichs, Friedrich Gogartens, Rudolf Bultmanns, Emanuel Hirschs und Karl Barths entfachten in der Weimarer Republik großen Wirbel, den A. Christophersen zu deuten versucht. Dazu stürzt er sich in die auf den ersten Blick diffuse Gemengelage zwischen Kulturprotestanten, dialektischen Theologen und existenzialistischen Radikaldenkern, um deren Zeitdeutungskämpfe zu erschließen: „Zu erschließen, synthetisch zu interpretieren ist der durch Konstellationen erzeugte Denkraum, in den hinein die individuelle profilierten Werke geschrieben wurden“ (a.a.O., 6). Den Kairos-Theologen gemeinsam sei „die durchaus existentielle Begründung ihrer Suche nach einer gegenwartsgültigen, zugleich zukunftsmächtigen Interpretation und Ge­ staltung der Zeit“ (a.a.O., 7). Christophersen zeichnet die Kairos-Debatte nach, die im religiösen Sozialismus wurzelnd (a.a.O., 12–67), zunächst in den zwanziger Jahren als Streitgespräch im Berliner Kairos-Kreis geführt wurde (a.a.O., 68–126) und schließlich ihre Zuspitzung und Wende 1934/35 in der Auseinandersetzung zwischen Tillich und Hirsch fand, die deren enge Freundschaft zerbrechen ließ (a.a.O., 157– 214). Zur Kairos-Theologie bei Tillich vgl. auch R. Leonhardt, Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses, Baden-Baden 2017, 326–352; D. Schellong, „Ein gefährlichster Augenblick“. Zur Lage der evangelischen Theologie am Ausgang der Weimarer Zeit, in: H. Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, (104–135) 127–129. 21 Vgl. Honecker, Einführung, 297; Körtner, Evangelische Sozialethik, 353.

1. Einleitung

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greift in den Bereich des Politischen ein und deutet Raum und Zeit, nach Immanuel Kants transzendentaler Ästhetik die „reinen Formen der Anschauung“,22 zum einen als geordnet und zum anderen als auf göttliche Schöpfertätigkeit zurückgehend. Der Gebrauch dieses Begriffs wirkt in seinem jeweiligen Situationsbezug in der Regel stabilisierend, was den status quo betrifft, damit aber zugleich abgrenzend gegenüber revolutionären Umtrieben, mit Ausnahme natürlich der „konservativen Revolution“, zu deren konzeptionellem Instrumentarium er sich rechnen lässt. Im theologischen Kontext der „konservativen Revolution“ entfaltete er auch seine eigentliche Deutungsmacht. Auf diesem Terrain wird sein Charakter als Kampfbegriff manifest, zumal sich „[d]ie Qualität politischer Kampfbegriffe […] in ihrem evidenten Zugriff auf die momentane Wirklichkeit und im Versprechen zukunftsmächtiger Gestaltungskraft“23 erweist. Aber nicht nur die Zeit war von der Deutungsmacht und Suggestivkraft dieses Begriffs betroffen, sondern auch der Raum. Bekanntermaßen ist der Raum nach dem sog. „spatial turn“ in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen „nicht mehr als statisches Gebilde im Sinne eines vorhandenen, sich nicht verändernden Containers“ wahrzunehmen, sondern gemäß diesem Paradigmenwechsel „als ständig entstehende, fluide Größe“.24 Noch eine Bemerkung zur sog. „konservativen Revolution“: Es handelt sich um einen primär geschichtswissenschaftlichen terminus technicus, der alle ideologisch entschieden antiliberalen, antidemokratischen und antiegalitären Strömungen, die sich in der Weimarer Republik entwickelten, zusammenfasst.25 Ihr Rechtskonservativismus unterschied sich in seinen Ideologiemustern vom traditionellen Konservativismus (damals politisch in Zentrum und DVP beheimatet), manifestierte sich aber nicht in einer politischen Partei. Insgesamt gilt die „konservative Revolution“ als Wegbereiter („Nährboden“ oder auch

22

I. Kant, KrV, B33–B73. A. Christophersen, Gesprengte Geschichte im Zeichen des Kairos, Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 01/2009, (12–13) 12. 24 M. Schell, Anerkennung, Globalität und Raum. Gegenwärtige Perspektiven des Gerechtigkeitsdiskurses, VuF 66 (1/2021), (18–31) 28. 25 Vgl. S. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 21995; ders., Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945: Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010; K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), München 2000; F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart 2005. 23

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V. Mit vertauschten Rollen?

„Steigbügelhalter“) des Nationalsozialismus.26 Im Einzelnen zeigt sich dabei eine recht große Heterogenität der Ideologeme, zu denen im Bereich der Theologie auch die sog. Schöpfungsordnungslehre gerechnet werden kann. Sie gehört ins geistige Waffenarsenal der „konservativen Revolution“, ist also Teil ihres Armamentariums. Wie sehr der Schöpfungsordnungsbegriff in die politische Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts und vor allem das besonders ergiebige Untersuchungsterrain der Weimarer Republik hineingehört, zeigt sich an der im Folgenden dargestellten Kontroverse zwischen Otto A. Piper (1891–1982) und Alfred de Quervain (1896–1968). Bei beiden Theologen handelt es sich um damals junge Nachwuchsethiker, die am Beginn ihrer akademischen Karriere standen und um ihre eigene Position in den Wirren unruhiger Zeiten und diversifizierter Anschauungen rangen. Interessanterweise gehören beide unterschiedlichen Konfessionen an: Dem aus Thüringen und dem Bürgertum stammenden (Vater war Apotheker) Lutheraner Piper steht der aus einer Schweizer Pfarrersdynastie stammende Reformierte de Quervain gegenüber. Beide haben hugenottische Wurzeln, Piper mütterlicherseits und de Quervain väterlicherseits. Dass, wie wir noch sehen werden, ausgerechnet der Lutheraner Piper dem Reformierten de Quervain vorwirft, die Lehre von den Schöpfungsordnungen zu vertreten, mutet vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten konfessionellen Zuordnung paradox, geradezu grotesk an. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Doch bevor wir uns der Kontroverse im Einzelnen widmen, muss zunächst einmal die Genese des Begriffs „Schöpfungsordnung“ rekonstruiert werden. 2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs 2.1 Die Herkunft der Lehre von den Schöpfungsordnungen in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter Der Begriff der Schöpfungsordnung ist nicht einfach in den 1920er Jahren vom Himmel gefallen. Vielmehr erlebte er in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik als ein vordem eher randständiger Be26

Zu Bezügen zur sog. „Neuen Rechten“ vgl. H.-R. Reuter, Katechonten des Untergangs. Nation und Religion im Denken der deutschen Neuen Rechten, BThZ 35 (2018), 13–33; ders., Die populistische Revolte – Vier Anmerkungen, ZEE 62 (2018), 163–167; ders., Nation and Religion in the Thought of the German New Right, in: F. Höhne / T. Meireis (Hg.), Religion and Neo-Nationalism in Europe, Baden-Baden 2020, 115–130; J.H. Claussen, M. Fritz, A. Kubik, R. Leonhardt, A. von Scheliha, Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik, Tübingen 2021.

2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs

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griff eine einzigartige Karriere. Anhand seiner Entwicklung lassen sich im Bereich der Theologie die Bewegungsgesetze politischer Begriffsgeschichte im gesamten 20. Jahrhundert zeigen.27 Von ihm ausgehend, kann fernerhin „Konstellationsforschung“ (Dieter Henrich) betrieben und Theologiegeschichte geschrieben werden. Hier geht es freilich um wenige bzw. um kleinere Ausschnitte, genauer gesagt: zunächst einmal eine knappe Skizze wichtiger begriffsgeschichtlicher Stationen im Vorfeld der Kontroverse. Eine umfassende geistesarchäologische Rekonstruktion steht noch aus, kann aber an Ort und Stelle nicht geleistet werden. Es lässt sich eine traditionsgeschichtliche Linie bis zur sog. Ständelehre der lutherischen Orthodoxie und bis zu Luther selbst28 nachzeichnen.29 Bei der Lehre von den Schöpfungsordnungen handelt es sich gewissermaßen um eine Neufassung der sog. Dreiständelehre. Als Ordnungen versteht Luther die drei Stände, also die drei grundlegenden Bereiche gemeinschaftlichen Handelns, nämlich die Kirche (eccle­ sia), den Bereich des häuslichen Wirtschaftens (oeconomia) und den Bereich des obrigkeitlichen Handelns (politia).30 Luther nennt sie auch „Hierarchien“.31 Dementsprechend unterscheidet Luther zwischen sta­ tus bzw. ordo oeconomicus, status/ordo ecclesiasticus und status/ordo politicus und gebraucht damit eine Differenzierung, die eine gewisse Parallelität zur klassisch-antiken Unterscheidung zwischen Nährstand, Lehrstand und Wehrstand aufweist, die bereits Platon kannte.32 Luther 27

Zur Begriffsgeschichte vgl. die einschlägigen Studien von R. Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 32016. 28 Hinter Luther zurück geht bei der Rekonstruktion dieses Begriffs niemand. A. von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 15) sieht der Sache nach ein solches Konzept bei Thomas von Aquin vertreten. So auch W. Kreck, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 106–108. 29 Zur Ständelehre vgl. O. Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007, 11–115; 128f.; 139–144; 295f.; T. Jähnichen / W. Maaser, Die Ethik Martin Luthers. Studienreihe Luther 17, Bielefeld 2017, 76–83. Zur Aktualität der Dreiständelehre vgl. auch B. Wannenwetsch, Wovon handelt die Materiale Ethik? Oder: Warum die Ethik der elementaren Lebensformen theologisch unaufgebbar ist, in: A. Fritzsche / M. Kwiran (Hg.), Kirche(n) und Gesellschaft, Ökumenische Sozial­ ethik Bd. 3, München 2000, 99–135; H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 101; 104; 109–111; 340–349; 388. 30 Vgl. WA 10/I/1, 317 (Weihnachtspostille, 1522). 31 So WA 50, 652 (Von den Konzilien und Kirchen, 1539). Vgl. dazu R. Hütter, Theologie als kirchliche Praktik. Zur Verhältnisbestimmung von Kirche, Lehre und Theologie, BEvTh 117, Gütersloh 1997, 175–184. 32 Vgl. Platon, Nomoi 427c–445e.

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V. Mit vertauschten Rollen?

versteht diese Stände als Stiftungen Gottes, die zusammen mit dem Menschen geschaffen wurden und deshalb von Luther auch als con­ creatures identifiziert werden können. Durch diese „Larven Gottes“ (larvae Dei) handle Gott verborgen in der Welt.33 „Stände“ bezeichnen einerseits die Bereiche gemeinschaftlichen menschlichen Handelns, können aber andererseits auch als „Stand“ die jeweilige Position eines Menschen innerhalb dieser Bereiche begrifflich fixieren: etwa als Vater und Hausherr, Mutter und Hausherrin, Kind, Knecht, Magd usw. innerhalb der oeconomia; oder als Fürst, Richter, Amtsmann, Schreiber, Untertan usw. innerhalb der politia. Der Artikel 16 (De rebus civilibus) der „Confessio Augustana“ (1530) gibt dabei die theologische Valenz der Stände als guter Ordnung im Sinne der antischwärmerischen und antimonastischen Sentenz vor: „[Q]uod legitimae ordinationes civiles sint bona opera Dei“.34 Die Problematik der Dreiständelehre wird in Luthers Auslegung des vierten Gebots deutlich,35 sofern er dieses auf die ständische Ordnung bezog. Dies hatte nämlich zur Folge, dass er dem Elternstand den Vorrang unter den übrigen Ständen einräumte und damit seine Ethik der Stände am Modell des Vater-Kind-Verhältnisses orientierte, mithin einen Patriarchalismus legitimierte.36 Ein entsprechend konservativer Zug ist unverkennbar: „[I]m Speziellen gelten die profanen Verhältnisse, in denen man Liebe und Billigkeit [als allgemeine, dem Gebot Gottes entsprechende Regeln; M.H.] zu üben hat, als von Gott gewollt, so dass sie weder zugunsten des klösterlichen Lebens verlassen noch zugunsten einer alle Herrschaftsformen aufhebenden angeblich christlichen Anarchie umgestürzt werden dürfen. In den Dekaloggeboten zur Elternehrung sowie des Ehebruch- und Diebstahlverbots sah Luther Über- und Unterordnung, Ehe, Besitz und Arbeit von Gott geschützt und damit gerechtfertigt.“37 Innerhalb der lutherischen Orthodoxie (z.B. bei Johann Gerhard [1582–1637]) avancierte die Dreiständelehre zum dominierenden Deutungsschema der gesamten Ethik: „Die Dreiständelehre war das Gliederungsprinzip in der Sozialethik des Luthertums.“38 Die Problematik derselben bestand wiederum vor allem in der Festschreibung und theo33

Vgl. WA Br 9,610,47. BSLK 67,1. 35 Vgl. BSLK 586–605 (Großer Katechismus, 1529). 36 So auch Honecker, Einführung, 294. 37 D. Schellong, Art. Ethik B. Aus evangelischer Sicht, NHThG 2 (1991), (408–417) 409. Vgl. H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 166f. 38 So auch Honecker, Einführung, 294. 34

2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs

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logischen Überlegitimation der damaligen stratifizierten Gesellschaft. Denn: „Die zugleich soziologische wie theologische Voraussetzung der Ständelehre ist freilich: (a) Die Rangfolge, die Hierarchie der Stände steht fest; es besteht keine soziale, gesellschaftliche Mobilität; ein ‚Elitenwechsel‘, ein ‚sozialer Wandel‘ ist nicht im Blick. (b) Man wird in einen Stand hineingeboren, sucht sich ihn nicht selbst frei aus. Die Ausnahme ist die Vocatio zum Predigtamt. Ein Berufswechsel ist in der Regel nicht vorgesehen.“39 Die nächste wichtige entwicklungsgeschichtliche Station bildet die Prägung des Begriffs „Schöpfungsordnung“ im 19. Jahrhundert. Der lutherische Ethiker Adolph von Harleß (1806–1893) gilt als ihr Namensgeber. Er entwarf mit seiner konfessionellen „Christlichen Ethik“ eine Ordnungstheologie, innerhalb derer die aus der Dreiständelehre bekannten Größen wie Ehe, Familie, Staat und Kirche als „Grundformen irdischer, gottgeordneter Gemeinschaft“40 bestimmt werden. Von Harleß spricht in diesem Zusammenhang variierend von „Schöpfungsordnung“41 oder auch „Schöpferordnung“.42 Er vertritt dabei einen individualethischen Ansatz, indem er die Beziehungen der christlich bestimmten, ethischen Persönlichkeit zu diesen Grundformen („Schöpfungsordnungen“) thematisiert. 2.2 Die Performanz der Lehre von den Schöpfungsordnungen in der Lutherrenaissance Vor allem der lutherische Theologe Paul Althaus (1888–1966), der in den Zusammenhang der sog. Lutherrenaissance und des Jungluthertums gehört43 und etwa mit Karl Holl in regelmäßigem Briefwechsel 39

Ebd. G.Ch.A. von Harless, Christliche Ethik, Stuttgart 61864, 503. 41 A.a.O., 504. 42 A.a.O., 531. 43 Vgl. H. Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: K. Holl, E. Hirsch, R. Hermann (1910–1935), FSÖTh 72, Göttingen 1994, 17–33; A. Fischer, Zwischen Zeugnis und Zeitgeist. Die politische Theologie von Paul Althaus in der Weimarer Republik, AKZ.B 55, Göttingen 2012. Siehe zur Lutherrenaissance auch: Ch. Helmer / B.K. Holm (Hg.), Lutherrenaissance. Past and Present, FKDG 106, Göttingen 2015; H. Assel / B.L. McCormack (Hg.), Luther, Barth, and Movements of Theological Renewal (1918–1933), Berlin / Boston 2020. Zur Entwicklung des Luthertums im 20. Jahrhundert vgl. auch R. Hütter, The Twofold Center of Lutheran Ethics. Christian Freedom and God’s Commandments, in: K.  Bloomquist / J. Stumme (Hg.), The Promise of Lutheran Ethics, Minneapolis 1998, 31–54. 40

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V. Mit vertauschten Rollen?

stand,44 griff in der krisengeschüttelten Weimarer Republik den Halt und Stabilität versprechenden Impetus der Ständelehre begierig auf.45 Er entwickelte mit ihrer Hilfe eine Theologie der Ordnungen als Lehre von den „überindividuellen Lebenseinheiten“46, wobei er Größen wie Ehe und Familie, Volk, Recht und Staat, Rasse, Kirche und Gesellschaft im Blick hatte. In den Ordnungen der Schöpfung, die z.T. – wie Arbeit und Staat – supralapsarischen Charakter haben würden, also schon im Paradies eingesetzt worden seien, offenbare sich Gott. Die Gewissenserfahrung des unbedingten Sollens verweist nach Althaus auf diese Offenbarung. Althaus steht für die Verbindung von Ordnungstheologie und völkischem Denken und muss als einer der Vordenker einer völkischen Theologie gelten. Bereits im Jahr 1916, also mitten im 1. Weltkrieg, erschien das von ihm als Militär- bzw. Gouvernements-Pfarrer in Lodz verfasste „Wort zur allgemeinen Pastorenkonferenz des Warschauer Konsistorialbezirks“ (8. bis 9. August 1916) unter dem Titel „Die Stellung der Kirche im Volksleben“47, auf die er sich gerne im Kontext der NS-Herrschaft berief. Althaus entdeckte damals das Phänomen „Volk“: „So wie Gott jeden Menschen mit einer bestimmten Individualität begabt hat, so auch in einzelnen Völkern, die eben deshalb ihre besondere Gabe heilig halten sollen. Volkstum ist eine Ordnung der Schöpfung Gottes, Treue zum Volk dementsprechend etwas ‚Heiliges‘, das auf die Religion vorbereitet. Darum kann sich die Kirche der völkischen Frage gegenüber auch nicht neutral verhalten.“48 Was genau passiert im Zusammenhang von Althaus’ Berufung auf das „Volk“ eigentlich theologisch und geschichtshermeneutisch?49 Es 44

So Assel, Aufbruch, 126f. Assel bezeichnet Althaus „in gewisser Weise“ als Schüler Holls. A.a.O., 164. 45 Zu Althaus in der Weimarer Republik vgl. besonders Fischer, Zwischen Zeug­ nis und Zeitgeist. Zu frühen ordnungstheologischen Ansätzen bei Althaus vgl. a.a.O., 163ff. Fernerhin: J. Reinert, „Sie glauben ja nicht im Ernst, dass ich mich durch Barth von Ihnen abschrecken lasse.“ Zur Beziehung zwischen Emil Brunner und Paul Alt­ haus anhand ihres Briefwechsels 1925 bis 1935, ZDTh 37 (2/2021), 9–29. 46 P. Althaus, Grundriß der Ethik. Neue Bearbeitung der „Leitsätze“, Erlangen 1931, 87. 47 P. Althaus, Die Stellung der Kirche im Volksleben. Ein Wort zur allgemeinen Pastorenkonferenz des Warschauer Konsistorialbezirks am 8. und 9. August 1916 (gekürzt), in: ders., Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933, 55–60. Vgl. dazu K. Scholder, Die Kirche und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a.M. / Berlin 1986, 125–127. 48 H. Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 49. 49 Mit wenigen Strichen gelingt es D. Schellong, Barmen II und die Grundlegung der Ethik, in: E. Busch / J. Fangmeier / M. Geiger (Hg.), Parrhesia. Karl Barth zum

2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs

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lässt sich, bei Lichte betrachtet, ein aus mehreren Komponenten bestehendes Deutungsmuster erkennen: „Indem das Volk bzw. die völkische Gemeinschaft in den Rang einer Schöpfungsordnung erhoben wird, schießen völkisch-nationale Gesichtspunkte in die theologische Reflexion ein und führen zu ruinösen Folgen […]. Die Entscheidungen, die Althaus 1933 und 1934 gefällt hat, sind tendenziell schon hier angelegt und später […] systematisch näher begründet.“50 Die Problematik der Verbindung von Ordnungstheologie und völkischem Denken wird noch vor der sog. „Machtergreifung“ (1933) in seinem „Grundriß der Ethik“ (1931) evident, wenn es dort etwa heißt: „Das christliche Denken bejaht die völkische Besonderung der Menschheit und die Eigenart eines Volkstums als im göttlichen Schöpferwillen und Schöpferreichtum begründet. […] Aber der Christ weiß zugleich, dass die völkische Sonderung nicht nur den Reichtum der Geschichte, sondern auch Grenzen des Verstehens und Hemmung der Gemeinschaft bedeutet.“51 Die Stoßrichtung ist bei Althaus recht offenkundig: Er plädiert für die Pflicht der Treue jeden Volkes gegenüber dem eigenen Volkstum. Althaus sah aber auch die Pflicht zur Anerkennung fremden Volkstums gegeben. Hinsichtlich der sog. „Judenfrage“ erhoffte er sich „Klärung und Reinigung des Verhältnisses von verstärkter Bewusstheit des Judentums um sein eigenes Volkstum, um sein besonderes Schicksal und seine besondere Lage.“52 Freilich steht Althaus als Vertreter der Lehre von den Schöpfungsordnungen in den 1920er Jahren keineswegs solitär und isoliert im Raum. Er ist Teil eines Netzwerkes, das der Begriff „Lutherrenaissance“ umschreibt und für das u.a. der Rückgriff auf Luther konstitutiv war. Der – wenn man so will – „Gründungsvater“ der Lutherrenaissance, Karl Holl,53 schrieb bereits am 16. Januar 1915 an Martin Rade: „Wer selbst in dieser Zeit die einfache Tatsache nicht begriffen hat, dass von den Völkern die einen wachsen, darum mehr Raum brauchen, die andern altern, darum nicht mehr auf ihre ganze Stellung ein An80. Geburtstag am 10. Mai 1966, Zürich 1966, 491–521; 513f.), Paul Althaus’ Hermeneutik präzise zu skizzieren. Vgl. auch F. Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. ThW 10, Stuttgart u.a. 1981, 217–222; T. Dieter, Das Volk als Schöpfungsordnung bei Paul Althaus; in: H. Edelmann / N. Hasselmann (Hg.), Nation im Widerspruch. Aspekte und Perspektiven aus lutherischer Sicht heute, Gütersloh 1999, 181–195. 50 Fischer, Protestantische Theologie, 50. 51 Althaus, Ethik, 94. 52 A.a.O., 96. 53 Vgl. zu Holl jetzt auch: H. Assel (Hg.), Karl Holl (1866–2016). Biographie – Werk – Briefe, Tübingen 2020, 114–131.

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V. Mit vertauschten Rollen?

recht haben, wer nicht empfindet, dass das Gottes Schöpfungsordnung ist, andererseits die Augen demgegenüber verschließt, dass kein Volk gutwillig aus dem Raum, den es einmal hat, weicht und auch nicht zu weichen braucht … – mit dem streite ich mich überhaupt nicht mehr.“54 Zu den wesentlichen Motiven der Holl’schen Geschichtstheologie gehört im Zusammenhang der Annahme einer völkischen Dynamik als Movens der Geschichte das der Schöpfungsordnung. Holl zieht auch im weiteren Kriegsverlauf immer wieder zur Rechtfertigung des Krieges den schöpfungstheologisch explizierten Begriff des Volkes heran.55 Ende der 1920er Jahre konnte aber auch Karl Barth, der im Kirchenkampf zu einem entschiedenen Gegner der Lehre von den Schöpfungsordnungen avancieren sollte, in seiner sog. „Münsteraner Ethik“ vorrübergehend eine Lehre von den Schöpfungsordnungen vertreten.56 Freilich gibt es auch Gegenbeispiele aus jener Zeit – auch im Raum des Luthertums und sogar der Lutherrenaissance. So vereinnahmte Rudolf Hermann den Schöpfungsbegriff nicht schöpfungsordnungs-theologisch, sondern gebrauchte ihn sprachtheologisch.57 Rückblickend mag man sich fragen: Was machte die Attraktivität einer solchen Lehre aus? Warum wirkte sie offenkundig auch in durchaus unterschiedlichen theologischen Strömungen schulzusammenhangsübergreifend affizierend? Es spricht m.E. viel für das knappe, aber präzise Deutungsangebot, das Johannes Fischer offeriert: Die Lehre von den Schöpfungsordnungen „lässt sich verstehen als eine konservative Reaktion auf den als krisenhaft erlebten Prozess der Modernisierung. Gegenüber der Veränderungsdynamik in allen Lebensbereichen sollten die der Schöpfung eingestifteten Ordnungen so etwas wie Stabilität, 54

Zit nach Assel, Aufbruch, 125. So Assel, Aufbruch, 132. Vgl. auch a.a.O., 135. 56 Vgl. K. Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wieder­ holt in Bonn, Sommersemester 1930, hg. von D. Braun, Karl Barth GA II/2, Zürich 1973, 195f.; 326–328; 365–368; 383–391; 413ff. u.ö.; ders., Ethik II. Vorlesung Münster Wintersemester 1928/29, wiederholt in Bonn, Wintersemester 1930/31, hg. von D. Braun, Karl Barth GA II/10, Zürich 1978, 255–259; 457–360 u.ö. Vgl. dazu M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Göttingen 2017, 243–249; P.L. Lehmann, Die Ethikvorlesungen, VuF 30 (2/1985), 65–72; R. Leonhardt, Ethik, LETh 6, Leipzig 2019, 247f.; H.-R. Reuter, Das Recht in der Auslegung des Glaubens. Über Rechtsbegriffe in der neueren systematischen Theologie, in: ders., Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, ÖTh 8, Gütersloh 1996, (93– 120) 102–112. Krötke (Schöpfungsordnungen, 162) vertritt die These, dass Barth, wenn er von Ordnungen sprach, „Institutionen“ meinte und Wert auf die „Freiheit“ legte, in der alles Handeln für sie und in ihnen erfolge. 57 So Assel, Aufbruch, 310f. 55

2. Zur Genese des Schöpfungsordnungsbegriffs

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Halt und Orientierung verbürgen.“58 Für diese Deutung spricht, dass viele von den theologischen Neuansätzen in der Weimarer Republik,59 nämlich Dialektische Theologie, Lutherrenaissance und religiöser Sozialismus,60 mit Ausnahme des religiösen Sozialismus,61 die (Schöpfungs-)Ordnungsethik affirmativ rezipierten; verwiesen sei hier nochmals kurz auf Karl Barth und Emil Brunner für die Dialektische Theologie sowie auf Karl Holl und Paul Althaus für die Lutherrenaissance. Für den religiösen Sozialismus gilt genau dies nicht.62 Vielmehr stand er mit seinem revolutionären Reich-Gottes-Programm und der entschiedenen Befürwortung einer sozialen Umgestaltung im Kairos dieser Lehre entschieden ablehnend gegenüber, wie wiederum das erwähnte Beispiel Paul Tillichs zeigt. Demgegenüber unterstützte die Ordnungsethik der deutschen Theologie jenen Konservativismus, „der die rote Gefahr wie gebannt anstarrte und daher der braunen Gefahr verfiel.“63 58

Fischer, Ethik, 61, der betont, dass sich die meisten Schöpfungsordnungsethiken auf die Erhaltung statt Gestaltung des menschlichen Lebens versteift haben. Ähnlich auch Kreck, Grundfragen, 110; Ch. Frey, Wege zu einer evangelischen Ethik. Eine Grundlegung, Gütersloh 2014, 269. Fernerhin: T. Meireis, Recht, Frieden und Gewalt nach göttlicher Anordnung? Zur Revision der politischen Theologie in der fünften Barmer These, in: M.L. Frettlöh (Hg.), „Gottes kräftiger Anspruch“. Die Barmer Theologische Erklärung als reformierter Schlüsseltext, reformiert! Bd. 3, Zürich 2017, (105–126) 109f.: „Die im deutschen Kontext auch durch die erzwungene Abdankung des Monarchen und Summepiskopus erzeugte Orientierungslücke der überwiegend konservativen Protestanten suchen Ordnungstheologien durch die Postulate göttlicher Ordnungen zu füllen“. 59 Diese nennt etwa J. Rohls (Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, 617–642) in seiner Ethik-Geschichte. Etwas differenzierter noch: E. Lessing, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart. Bd. 2: 1918 bis 1945, Göttingen 2004, 319–356. Vgl. fernerhin: R. Anselm, Theologische Signatur, in: S. Hermle / H. Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch, Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932) Bd. 1, Leipzig 2019, 124–147. 60 Ein faszinierendes Panorama der theologischen Positionen am Ende der Weimarer Republik entwickelt Schellong, Augenblick, 104–135. 61 Natürlich gab es den religiösen Sozialismus auch schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber seine Institutionalisierung geschah in der Weimarer Republik. Daher halte ich es für legitim, ihn auch noch als Neuansatz zu verstehen. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Mitarbeiter Dr. Hendrik Niether. 62 Zum religiösen Sozialismus vgl. H. Ruddies, Paul Tillich, Karl Barth und der religiöse Sozialismus, in: Ch. Danz u.a. (Hg.), Religion und Politik, Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung 4, Münster 2009, 53–65; H. Ruddies, Art. Religiöse Sozialisten, RGG4 7 (2004), 409–412; Schellong, Augenblick, 124–127; von Scheliha, Ethik, 160–167. 63 Frey, Theologie, 216.

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V. Mit vertauschten Rollen?

3. Im Nessoshemd der Schöpfungsordnung? Die Kontroverse zwischen Otto A. Piper und Alfred de Quervain Kontroversen waren das besondere Metier der Weimarer Republik – auch im Wissenschaftsbetrieb.64 Die Polarisierung etwa der Parteienlandschaft und der Weltanschauungen spiegelt sich in dieser Dominanz wider: „Während der kurzen Zeit ihrer Existenz verdichteten sich die Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Staates, um die Neuorientierung von Wirtschaft und Wissenschaft, kulturellem Leben und gesellschaftlicher Ordnung“.65 Das gilt auch für die Kontroverse, die im Folgenden näher betrachtet werden soll, nämlich die zwischen Alfred de Quervain und Otto A. Piper. Unmittelbarer Anlass war die Basler Habilitationsschrift de Quervains „Die theologischen Voraussetzungen der Politik. Grundlinien einer politischen Theologie“66, die im Jahr 1931 im Furche-Verlag (Berlin) erschien. 3.1 Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Alfred de Quervains67 Nach der Matura am Freien Gymnasium Bern und dem Theologiestudium in Bern, Basel, Marburg und Berlin, war der am 28. September 1896 in La Neuville am Bielersee geborene Pfarrersohn Alfred de Quervain zunächst nicht ins Pfarramt gegangen, sondern hatte sich sehr bewusst im Osten Berlins zu Beginn der 1920er Jahre der Sozialarbeit gewidmet. Er setzte sich mit dieser vorläufigen lebensgeschichtlichen Entscheidung in ein kritisches Verhältnis zur theologischen Tradition seines konservativen („positiven“) Elternhauses. Zu seinen Lehrern 64

H. Ruddies (Flottierende Versatzstücke und ideologische Austauscheffekte. Theologische Antworten auf die Ambivalenz der Moderne, in: M. Gang / G. Raulet [Hg.], Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik 10, Frankfurt a.M. 22007, 61–77, 76) weist darauf hin, „dass es frei flottierende Theoriesegmente, wenn nicht sogar ausweisbare theoretische Bezüge, auf jeden Fall aber Grenzdiffusionen und Austauscheffekte zwischen linken und rechten Positionen gab.“ 65 Christophersen, Geschichte, 12. 66 Berlin 1931. 67 Zu beidem vgl. J. Castanyé, Die politische Theologie Alfred de Quervains, BSHST 41, Bern u.a. 1981, 17–29; W. Göllner, Die politische Existenz der Gemeinde. Eine theologische Ethik des Politischen am Beispiel Alfred de Quervains, Beiträge zur Theologischen Urteilsbildung 5, Frankfurt a.M. 1997, 23–25; 110–114; 197–199; ders., Alfred de Quervain (1896–1968), in: W. Lienemann / F. Mathwig (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, 105–131.

3. Im Nessoshemd der Schöpfungsordnung?

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gehörten vornehmlich liberale Geister, neben Adolf von Harnack, dem Wortführer der liberalen Theologie, u.a. der der religionsgeschichtlichen Schule zuzurechnende Alttestamentler Bernhard Duhm und Paul Natorp, ein Repräsentant des Marburger Neukantianismus, sowie der Basler Kirchengeschichtler Paul Wernle, der dem religiösen Sozialismus nahestand. Auch die Existenzphilosophie von Karl Barths Philosophenbruder Heinrich hat ihn nachhaltig beeinflusst.68 Dass sich der junge de Quervain der Sozialen Arbeitsgemeinschaft in Berlin unter Leitung von Friedrich Siegmund-Schultze anschloss und Sozialarbeit in den Arbeiter- und Elendsvierteln im Osten Berlins leistete, war betonter Ausdruck seiner religiös-sozialistischen Überzeugung, die ihn als „kritische[n] Wahrheitssucher“69 in die unmittelbare Nähe von Leonhard Ragaz und Hermann Kutter, den beiden religiös-sozialistischen Vorkämpfern in der Schweiz, stellte: „Es zieht ihn in die soziale Arbeit und nach Deutschland, vor allem der grossen politischen und geistigen Herausforderungen wegen, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hier viel schärfer und klarer darstellten als in der Schweiz.“ 70 De Quervain Aufgabe bestand darin, ganz im Sinne von Siegmund-Schultzes Verknüpfung von Sozialarbeit mit internationaler Verständigung und Versöhnung Verbindungen zum französischen Protestantismus herzustellen, wozu de Quervain aufgrund seiner deutsch-französischen Zweisprachigkeit besonders geeignet war. Zugleich flankierte er in Berlin seine (berufs-)praktischen mit theoretisch-geistesgeschichtlichen Studien zur Philosophie (bei Paul Tillich), Rechtsphilosophie und politischen Geschichte. Doch ausgerechnet während dieses sozialen Engagements entdeckte er die Kirche als Ort der Gemeinschaft stiftenden Suche nach dem göttlichen Ursprung menschlichen Lebens und damit einhergehend auch das Pfarramt als Perspektive für sich persönlich.71 Nachdem er, inzwischen in Frankfurt am Main in der ältesten Hugenottengemeinde Deutschlands im Pfarramt, seinem einstigen kir68

Zu de Quervains Verhältnis zu Heinrich Barth vgl. Göllner, Gemeinde, 41–44; 54f. Zu Heinrich Barth vgl. auch M. Beintker, Die Dialektik in der „dialektischen Theologie“ Karl Barths. Studien zur Entwicklung der Barthschen Theologie und zur Vorgeschichte der „Kirchlichen Dogmatik“, BEvTh 101, München 1987, 222–230; F.  Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im „Römerbrief“und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, TBT 72, Berlin / New York 1995. 69 Göllner, Alfred de Quervain, 109. 70 A.a.O., 109f. 71 So Göllner, a.a.O., 109.

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V. Mit vertauschten Rollen?

chengeschichtlichen Lehrer Paul Wernle72 sein kleines Büchlein über Johannes Calvin geschickt hatte,73 antwortete dieser am 29. Dezember 1925 in einem Brief: „Ich hatte freilich manchmal grosse Mühe, mir meinen früheren Schüler Alfred de Quervain als den Verfasser dieser Schrift vorzustellen. Jener steht vor meiner Seele als Ursprung eines jungen Revolutionärs, Sozialisten, Antimilitaristen, Freiheitsapostels; von all dem ist in Ihrem Calvinbüchlein wenig oder nichts mehr zu entdecken.“74 Wernles Verwunderung ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass reformationsgeschichtliche Studien eher zum wissenschaftlichen Profil der Lutherrenaissance und der Dialektischen Theologie, nicht hingegen zu dem des religiösen Sozialismus zu gehören schienen, de Quervain demnach also die „Fronten“ gewechselt hatte. Wie kam es zu diesem Wandel, die fast wie eine subita conversio vom Saulus zum Paulus anmutet? De Quervain hatte darüber in einem Brief­ entwurf vom 15. Mai 1922, der vermutlich an Karl Barth75 adressiert war und auf dem offiziellen Briefpapier der von Siegmund-Schultze herausgegebenen Zeitschrift „Die Eiche“ niedergeschrieben wurde,76 Rechenschaft abgelegt: „Hatte ich im Idealismus eine kritische Besinnung auf das Ganze des Lebens gesehen, also eine Besinnung auf das Wesen der Humanität, so sah ich bald ein, dass auch sie nur dann richtig gewertet und verstanden wird, wenn ihre 72

Zu Wernle vgl. Th.K. Kuhn, Theologisch-historische Leidenschaften: Paul Wernle (1872–1939), in: A. Sommer (Hg.), Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel 1747–1997, Basel 1997, 135–158. 73 A. de Quervain, Calvin. Sein Lehren und Kämpfen, Berlin 1926. 74 Zit. nach Göllner, Alfred de Quervain, 110. 75 Zu Barths Verhältnis zu de Quervain vgl. M. Freudenberg, Alfred de Quervain und sein Konzept einer reformierten Ethik – dargestellt anhand von Wuppertaler Vorträgen und Predigten 1935–1938, in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, (211–226) 213; 226; ders., Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 399. E. Lessing (Geschichte 2, 121–147; 368–388) rechnet de Quervain mit Hermann Diem, Helmut Gollwitzer, Hans Joachim Iwand, Walter Kreck, Heinrich Vogel, Otto Weber und Ernst Wolf zu den Barth­schülern. Insbesondere zu Beginn des Kirchenkampfes war die Beziehung zu Barth wohl recht eng (vgl. R. Hess, „… und hört nicht die Stimme eines Fremden.“ Von Bern 1528 nach Düsseldorf 1933: Der Weg der 1. Berner These „zwischen den Zeiten“, in: M.L. Frettlöh / H.P. Lichtenberger [Hg.], Gott wahr nehmen. FS für Christian Link, Neukirchen-Vluyn 2003, 3–26, 14). Während der Barmer Synode wohnte Karl Barth bei der Familie de Quervain in Elberfeld. So Göllner, Alfred de Quervain, 119. 76 So Göllner, Gemeinde, 24.

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Grenze erkannt wird. Das war mir schon damals klar, wie ich mein Examen machte. Ich meinte aber, dass es keiner besonderen Institution bedürfe, um auf diese Grenze, auf Gott hinzuweisen, da sie doch allgemein menschliche Angelegenheit ist und mit dem heutigen religiösen Erlebnis soviel oder so wenig zu tun hat wie mit jeder übrigen Kulturerscheinung. Meine Arbeit in der Grossstadt, gerade auch ihre soziale Seite, hat mir aber den Sinn der Kirche wieder näher gebracht. Ob Arbeitsgemeinschaft oder Gesinnungsgemeinschaft, ob religiöser Sozialismus oder Jugendbewegung, immer haftet diesen Bewegungen der Charakter des Ausschliesslichen an. Sie setzen Übereinstimmung der Willen oder der Erlebnisse voraus, sie sind also Gemeinschaften beatorum possidentium in irgend einem Sinne. Sie vertreten einen bestimmten Standpunkt und suchen eindeutig abschliessende Lösungen zu geben, indem sie die wahren Spannungen, die dialektische Bewegung der Wahrheit übersehen. Wenn die Kirche ein Recht für sich geltend machen darf und nicht in unbegründeter Weise neben den vielen anderen relativen Gemeinschaften einfach da steht, dann nur als Gemeinschaft der Sünder, der Fragenden und Suchenden, als Hinweis (nicht Verwirklichung) auf die Idee der Gemeinschaft, als Aufforderung, gemeinsam Gott zu suchen, als Mahnung, an den unsichtbaren, ungreifbaren, nicht erlebbaren Ursprung des Menschen und sein ebenso unanschauliches Ziel zu glauben.“77

Wenn man sich freilich de Quervains Calvin-Studie genauer anschaut, so wird man sich deren politischer Dimensionierung schnell bewusst. Sein politisches Interesse war keineswegs erloschen, es hatte sich nur – auch nach dessen eigenem Eindruck – weiterentwickelt. De Quer­vain setzte während seiner gesamten pfarramtlichen Tätigkeit in Frankfurt (1923–1926), Stuttgart (1926–1928) und in seiner Heimatstadt La Neuveville (1928–1931) seine intensiven theologischen Studien fort. Seine Erfahrungen in Deutschland „stärkten nicht nur ganz allgemein sein politisches Interesse, sondern sensibilisierten ihn vor allem für die geistliche wie politische Desorientierung der Menschen in der Weimarer Republik und die Fruchtlosigkeit des Kampfes konkurrierender Weltanschauungen und Ideologien jener Zeit. Sie provozierten die Frage nach der richtungweisenden Funktion der Theologie in dieser Auseinandersetzung, die Frage nach der theologischen Dimension der Politik.“78 Schließlich qualifizierte sich de Quervain wissenschaftlich im Wintersemester 1928/1929 mit einer an der Universität Wien vorgeleg77

Zit. nach Göllner, Alfred de Quervain, 110f. H. Lindenlauf, Königsherrschaft Christi und politische Entscheidung. Untersuchungen zum christozentrischen Ansatz der politischen Ethik, Saarbrücken 2016, 128. 78

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ten und von Josef Bohatec79 betreuten Dissertation über „Gesetz und Freiheit“80; 1930 habilitierte er sich in Basel mit der bereits genannten Arbeit. Sie entstand aus Vorlesungen und Vorträgen und wurde durch zwei kleinere Arbeiten ergänzt.81 Für de Quervain waren in dieser Zeit Carl Schmitt und Gustav Radbruch die wichtigsten Gesprächs- und Korrespondenzpartner, ein Umstand, der nachdrücklich für Irritationen in der Betrachtung sorgen sollte.82 Noch im selben Jahr, als die Habilitationsschrift erschien, kehrte de Quervain nach Deutschland zurück und trat eine Pfarrstelle in der Niederländisch-reformierten Gemeinde in Elberfeld an. Damit begann ein neuer Lebensabschnitt für ihn, der in den Kirchenkampf83 und die nationalsozialistische Herrschaft hineinmünden sollte.84 Er erlebte in diesen, seinen „theologisch produktivsten“85 Jahren also als reformierter Schweizer in Deutschland den Untergang der Weimarer Republik und dies aus der Perspektive des Seelsorgers: „Seine Praxis vermittelt ihm die Erfahrung alltäglicher Sorgen und einer verbreiteten Orientierungslosigkeit sowie ein besonderes Gespür für die politischen Wurzeln der deutschen Krise und ihre auch theologischen Ursachen. Dem entspricht das genuine 79

Vgl. U.H.J. Körtner, Calvinismus und Moderne. Der Neocalvinismus und seine Vertreter auf dem Lehrstuhl für Reformierte Theologie in Wien, in: ders., Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart, Salzburger Theologische Studien 7, Innsbruck / Wien 1998, 36–60; M. Hofheinz, Calvin in Feudingen? Eine literaturgeschichtliche Suchbewegung auf den Spuren des Neocalvinisten Josef Bohatec, Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V. Jg. 109 / Bd. 85 (3/2021), 128–150. 80 Stuttgart 1930. 81 Vgl. A. de Quervain, Theologie und politische Gestaltung, Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung 68, Berlin 1931; ders., Das Gesetz des Staates. Wesen und Grenze der Staatlichkeit, Berlin 1932. 82 Vgl. Lindenlauf, Königsherrschaft, 140f.: „Obwohl sein zweifellos konservativer politischer Standort nicht eo ipso als antidemokratisch definiert, ja seiner politischen Theologie vor 1933 eine bemerkenswerte Hellsicht in der Einschätzung des Nationalsozialismus attestiert werden muss, hat der von der theologischen Analyse unvermittelt in die politische Praxis übergreifende Konservatismus de Quervains mit seinem dezisionistischen Zug Veranlassung gegeben, ihn unter die theologischen Weg­ bereiter eines autoritären Staatsdenkens einzureihen.“ 83 Zum Kirchenkampf in Wuppertal siehe H. Vorländer, Kirchenkampf in Elberfeld 1933–1945. Ein kritischer Beitrag zur Erforschung des Kirchenkampfes in Deutschland, Göttingen 1968. 84 Zu de Quervain im Kirchenkampf vgl. H. Scholl, Alfred de Quervain – Ein reformierter Ethiker im Kirchenkampf, RKZ 129 (1988), 79–83; 112–116; Hess, Stimme, 3–26; Freudenberg, Alfred de Quervain, 211–226; ders, Reformierte Theologie, 385–400. 85 Göllner, Alfred de Quervain, 117. So auch ders., Gemeinde, 110.

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theologisch-politische Interesse, das seine Arbeiten der frühen dreißiger Jahre kennzeichnet.“86 3.2 Biographische und werkgeschichtliche Hintergründe Otto A. Pipers87 Der Weg des am 29. November 1891 im thüringischen Lichte geborenen und früh in der Jugendbewegung höchst aktiven Apothekersohns Otto A. Piper war in der Weimarer Zeit geprägt von der Verarbeitung seiner traumatischen Kriegserfahrungen: „Krieg ist unter allen Umständen Sünde.“88 So lautete das persönliche Resümee des jungen Kriegsfreiwilligen Piper, der 1917 „mit vollkommen zerrütteter Gesundheit“89 die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges verließ.90 Piper war zeitweise kriegsblind – aufgrund einer Senfgasvergiftung.91 Auch wurde er am 15. August 1915 in Polen schwer an Kopf und Fuß verwundet. Man fand ihn halbtot auf dem Schlachtfeld liegen: „Sanitäter lassen ihn zunächst auf dem Schlachtfeld bei den Toten zurück, bringen ihn dann aber ins Lazarett, nachdem durch den Tod eines ande-

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Lindenlauf, Königsherrschaft, 126. Vgl. zu dem einleitenden Abschnitt zu Otto A. Piper: M. Hofheinz / J. Riechmann, Zwischen Revolution und Kirchenkampf. Der Weg des Theologen Otto Piper in der Weimarer Republik. Teil 1, CuS 71 (4/2018), (14–23) 15f. Siehe zu Piper insgesamt: F.W. Graf, Lutherischer Neurealismus. Eine Erinnerung an Otto Piper, in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 329–341. 88 O. Piper, Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde an der Georg-August-Universität Göttingen am 6.5.1920, These 8. 89 W. Heidemann, „... immer Fühlung mit allen Teilen der Kirche“. Der münstersche Theologieprofessor Otto A. Piper auf dem Weg in die Emigration 1933–1938, JWKG 80 (1987), (105–151) 106. 90 Zur theologischen Be- und Verarbeitung des Ersten Weltkrieges vgl. M. Hofheinz, Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen? Resonanzen reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg, in: H.-G. Ulrichs / V. Albrecht-Birkner (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, FRTH 3, Neukirchen-Vluyn 2014, 61–85; zur Kriegs- und Friedenstheologie in der Weimarer Republik vgl. A. Christophersen, Krieg, Frieden, Volk und Vaterland. Standortdebatten der Lutherrenaissance in der Weimarer Republik, in: H. Stadtland (Hg.), „Friede auf Erden“. Religiöse Semantiken und Konzepte des Friedens im 20. Jahrhundert, Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 12, Essen 2009, 125–151. 91 Vgl. W. Danielsmeyer, Führungen. Ein Leben im Dienste der Kirche, Bielefeld 1982, 25. 87

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ren Offiziers ein Transportplatz freigeworden ist.“92 Piper musste sich vielen Operationen zur Wiederherstellung seines Gesichts unterziehen; er verlor sein rechtes Auge und auch das linke wurde beeinträchtigt. Die Narben des Krieges trug Piper zeitlebens. Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts war damit zugleich auch seine persönliche Katas­ trophe. Sie prägte auch das Gesicht des theologischen und politischen Denkens, das Piper nach dem Krieg entwickelte.93 Piper schrieb – auch vor dem Hintergrundgrund seiner persönlichen Fronterfahrungen und als Angehöriger der sog. „Frontgeneration“94 – rückblickend im Jahr 1934: „The New Theology, or the theology of the younger generation […] starts from the War experience.“95 Akademisch tat er sich in den 1920er Jahren trotz zahlreicher Publikationen sehr schwer, Fuß zu fassen. Nach dem zweiten theologischen Examen (1918) wurde er 1920 mit einer Studie zu Schleiermachers Reden bei Carl Stange in Göttingen zum Lizentiaten promoviert.96 Noch im selben Jahr erfolgte die Ernennung zum Privatdozenten für Systematische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen, doch dauerte es nahezu eine Dekade, die Piper in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen erlebte, bis er 1930 eine Stelle als ordentlicher Professor an der Universität Münster bekam, und zwar als Nachfolger Karl Barths,97 dessen Lehrstuhl nach seinem Weggang nach Bonn neubesetzt werden musste. Die Publikation von Piper zweibändigen „Grundlagen der Ethik“ (1928/30)98 war karrieretechnisch sehr förder-

92

F.W. Graf, Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, (1–110) 41. 93 Vgl. O. Piper, Die Krise der Kriegsteilnehmergeneration, Neue Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für geistige und politische Gestaltung 1/1930, 441–451. 94 D. Peukert (Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, 26) unterscheidet entsprechend seinem Ansatz der Generationengeschichte eine wilhelminische Generation (geboren vor 1871), eine Gründerzeit-Generation (geboren in der Zeit von 1870 bis Anfang der 1880er Jahre), eine Front-Generation (geboren in den späten 1880er und 90er Jahren) und eine jüngere, „im mehrfachen Sinne überflüssige Generation der seit 1900 Geborenen“. 95 O. Piper, Recent Developments in German Protestantism, London 1934, 59. 96 O. Piper, Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermacherschen Reden über die Religion, Göttingen 1920. 97 Zu Pipers Verhältnis zu Barth vgl. jetzt H. Niether, Eine reale oder vitale Dia­ lektik? Der Theologe Otto Piper und die Dialektische Theologie in der Weimarer Republik, ZDTh 37 (2/2021), 109–133. 98 O. Piper, Die Grundlagen evangelischer Ethik Bd. 1, Gütersloh 1928.

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lich im Gegensatz zu seinem politischen Engagement. Theologisch gilt er als schwer einzuordnen.99 Piper gehörte zu den wenigen Theologen im deutschen Protestantismus, die den politischen Umbruch 1918 und die Weimarer Republik nicht als Machtübernahme der „Reichsfeinde“ (USPD und SPD) ablehnten, sondern als Chance begriffen. Dabei wandelte sich sein „zunächst diffuser, auch für völkische Ideologeme offener revolutionärer Sozialismus [...] zunehmend zu einer reformistischen Politikkonzep­ tion“100. Als im März 1930 die letzte Weimarer „Große Koalition“ unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller scheiterte,101 begriff Piper die darauf erfolgende Einsetzung des ersten Präsidialkabinetts Heinrich Brünings als Übergang zu einer „verschleierte[n] Diktatur“102. Zugleich beteiligte er sich lebhaft an der Suche nach Auswegen aus der tiefgreifenden Strukturkrise des parlamentarischen Weimarer Systems, ohne dem Irrglauben zu verfallen, den Rechtsstaat auch ohne Demokratie erhalten zu können.103 Als Piper zum 30. September 1933 aufgrund des § 4 des Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums ohne Angabe näherer Gründe als Theologieprofessor der Universität Münster entlassen wurde, führte er selbst beim Abschied 1933 folgende Gründe an, die sein Wirken erschwert hätten: sein Eintreten für Demokratie und Versöhnung der Klassen auf der Grundlage des Sozialismus, sein Engagement für internationale Verständigung auf religiöser Grundlage, seine Mitwirkung in der ökumenischen Arbeit, seine guten Kontakte nach Frankreich sowie seine längeren Aufenthalte ebendort.104 99

So Lessing, Geschichte 2, 332. Freilich ist sein Demokratiekonzept von ambivalenter Natur, da es eine gewisse Nähe zum Präsidialsystem und zur Notverordnungsprogrammatik erkennen lässt: „Die Demokratiekonzeption, die Piper 1930 bis 1933 vertritt, ist insofern ein Beispiel dafür, daß im Prozeß der Auflösung der Republik selbst der verfassungstreuen Linken zuzurechnende Universitätstheologen autoritäre Konfliktlösungen propagiert haben.“ Graf, Neurealismus, 332. 101 Vgl. P. Reichel, Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik, München 2018. 102 O. Piper, Demokratie in Kirche, Staat und Wirtschaft, in: Die Verhandlungen des achtunddreißigsten Evangelisch-Sozialen Kongresses in Duisburg 26.–28. Mai 1931, Göttingen 1931, (79–109) 100. 103 Graf, Neurealismus, 340. Auch wenn man Grafs flächige Einschätzung als zu weitreichend beurteilen mag, wird man sicherlich fragen müssen, inwiefern Piper am „Wiedererstarken autoritärer Formen“ partizipierte. So Schellong, Augenblick, 105. 104 Vgl. dazu W.H. Neuser, Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster im Dritten Reich, in: ders. (Hg.), Die Evangelisch-theologische Fakultät Münster 1914 bis 1989, Bielefeld 1991, (72–93) 74–77. 100

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Piper war nicht nur eine Spiegel-, sondern auch eine „Kontrastfigur“105 in der vom Protestantismus weitgehend ungeliebten „Weimarer Republik“: Er gehörte in einer Zeit der verbreiteten christlichen Abneigung gegen die demokratische Rechts- und Regierungsform zum Weimarer Kreis verfassungstreuer Hochschullehrer, bekannte sich als solcher offen zur Demokratie,106 war Mitglied im Internationalen Versöhnungsbund und seit 1927 deutscher Delegierter der Weltkirchenkonferenz („Faith and Order“) in Lausanne; seit 1928 arbeitete er im Evangelisch-Sozialen Kongress mit: „So gibt es doch heute für den Christen eine Pflicht zur Demokratie“107, stellte Piper vor dem 38. Evangelisch-Sozialen Kongress fest. Seit 1928 war er Sprecher der Jungevangelischen Bewegung. Besonders hervorzuheben ist die für sich sprechende Tatsache, dass Piper als vermutlich einziger deutscher Hochschullehrer der Zwischenkriegszeit die theologische Ehrendoktorwürde einer französischen Fakultät erhielt,108 nämlich im Jahr 1930 die der Pariser Faculté libre – eine nachdrückliche Würdigung seines Engagements für eine deutsch-französische Aussöhnung in ökumenischen Gremien.109 Auch muss erwähnt werden, dass Piper mit einer jüdischen Frau, die zum Christentum konvertierte, Elisabeth A. Salinger († 1948), verheiratet war. Das verbindet ihn mit de Quervain, dessen Frau Anna ebenfalls jüdische Wurzeln hatte.110

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So M. Hofheinz / F. van Oorschot, „Krieg ist unter allen Umständen Sünde“. Der pazifistische Einspruch in Theologie und Biographie des lutherischen „Neurealisten“ Otto A. Piper, in: M. Hofheinz / F. van Oorschot (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Studien zur Friedensethik 56, Münster / Baden-Baden 2016, (141–168) 145. 106 O. Piper (Demokratie, 95f.) verteidigt den Weimarer Staat, ohne ihn allerdings theologisch zu überhöhen: „So entschieden es abgelehnt werden muss, aus religiösen Gründen die Demokratie als die gottgewollte Staatsform abzuleiten, so gibt es doch heute für den Christen eine Pflicht zur Demokratie. […] Das Evangelium ruft alle Menschen zum verantwortlichen Dienst an ihren Brüdern auf. […] Die Demokratie gibt nun dem Einzelnen die Möglichkeit, den Willen zur politischen Mitverantwortung zu tätigen. Wir haben kein Recht, diese Möglichkeit von uns zu weisen.“ 107 Piper, Demokratie, 95. 108 Vgl. Heidemann, Kirche, 107f. 109 „[I]n herzlicher Dankbarkeit und Verbundenheit“ widmet Piper der evangelisch-theologischen Fakultät in Paris seine Schrift: O. Piper, Gottes Wahrheit und die Wahrheit der Kirche, BSTh 4, Tübingen 1933. 110 So Freudenberg, Reformierte Theologie, 388; ders., Alfred de Quervain, 215; vgl. hierzu auch die Artikel zu Piper und de Quervain (2014) in: H. Ludwig / E. Röhm (Hg.), Evangelisch getauft – als „Juden“ verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 2014, 270f.; 280f.

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3.3 O.A. Pipers kritische Rezensionen zu A. de Quervains frühen Schriften zur politischen Ethik 3.3.1 „Ideologie und Politik“. Pipers erste Rezension Unter dem Titel „Ideologie und Politik. Eine Auseinandersetzung mit A. de Quervain“ veröffentlichte O.A. Piper aus seiner Position als Münsteraner Professor in „Evangelisch-Sozial. Vierteljahrschrift für die sozial-kirchliche Arbeit“ eine erste ausführliche Rezension zu de Quervains Basler Habilitationsschrift „Die theologische Voraussetzung der Politik. Grundlinien einer politischen Theologie“. Es handelt sich bei „Evangelisch-Sozial“ um das Organ des sog. sozialen Protestantismus, der mit dem Evangelisch-sozialen Kongress ein wirkmächtiges Forum besaß und auch in der Weimarer Republik wie bereits im Kaiserreich die Kräfte des liberalen protestantischen Bildungsbürgertums zu bündeln und zu etablieren versuchte.111 Piper dürfte sich durchaus des Umstandes bewusst gewesen sein, dass er aus dem akademischen Lehramt, de Quervain indes aus dem Pfarramt heraus schrieb. Eingangs würdigt Piper de Quervains Buch aufgrund seiner „seelsorgerlichen Art“112 als eine Schrift, die „besondere Beachtung“ verdiene, da sie „durch Auseinandersetzung mit den wichtigsten politischen Bewegungen der Gegenwart zu einem theologisch begründeten politischen Standpunkt“113 zu kommen bemüht sei. Beides sei unabdingbar für eine politische Ethik theologischer Provenienz: der Bezug auf die Gegenwart bzw. die Berücksichtigung ihrer politischen Bewegungen und eine eigene genuin theologische Begründung des politischen Standpunktes. Mit diesem Doppelakzent ist eine Ellipse umschrieben, um deren beiden Pole Pipers gesamte Auseinandersetzung mit de Querva111

Vgl. T. Jähnichen, Aufbrüche, Konflikte und Krisen – Weichenstellungen des sozialen Protestantismus in der Weimarer Republik, in: ders. / N. Friedrich (Hg.), Protestantismus und soziale Frage, Münster 2000, 9–28; ders., Evangelisch-sozialer Kongress, RGG4 2 (1999), 1733f.; T. Jähnichen / N. Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: H. Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik, Wiesbaden 22005, (871–1114) 982–1020; H. Ruddies, Ethik als theologisches Problem. Eine theologisch-historische Skizze zur Ethikdebatte im neueren Protestantismus, in: A. von Scheliha / M. Schröder (Hg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart u.a. 1998, (249–267) 255–260; von Scheliha, Protestantische Ethik, 144–152. 112 O. Piper, Ideologie und Politik, EvSoz 37 (1/1932), (4–10) 7. 113 A.a.O., 4.

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in kreist, nimmt er doch eine doppelte Abgrenzungsbewegung bei de Quervain wahr: gegenüber dem katholischen Naturrecht114 und der aktivistischen Mystik, die im religiösen Sozialismus, namentlich bei Paul Tillich, vertreten werde. Kennzeichnend für de Quervains eigene Position sei sein „Ansatz beim Schöpfungsbegriff“115. Es gehe ihm also darum, „den Menschen als Geschöpf Gottes anzusehen, das heiße: als geschichtlichen Menschen, der volkshaft und staatlich-politisch bestimmt sei, der einen ‚Stand‘, einen Beruf habe, und der in familienhaften und klassenmäßigen Verbänden lebe. Zu dieser Auffassung stehe im Widerspruch der Individualismus, der Freiheit und Erlösung in der Abstreifung all dieser Bindungen suche. Geschöpf sein heiße unter dem Gesetz des Schöpfers stehen, und das erlaube uns unter gar keinen Umständen eine dieser Bindungen zu ignorieren. Es gebe keinen höheren Wert, um deswillen jene geopfert werden dürften. Freilich dürften sich jene Bindungen auch keine Eigengesetzlichkeit anmaßen, der Christ lebe in ihnen als einer, der auf seine Auferstehung warte.“116 Piper sieht freilich bei de Quervain nicht die Ausrichtung auf die mit der Auferstehung einhergehende neue Schöpfung als federführend an, sondern das Beharren auf Einordnung in die Ordnungen. Das leitende, die eigentliche Deutungsmacht besitzende Paradigma sei kein eschatologisches, sondern ein schöpfungs-, ja ordnungstheologisches. Piper wirft de Quervain daher „christlichen Konservativismus“117 vor. Dieser zeige sich auch, wenn jener die Koordinaten seines Denkens in recht typologischer Manier anhand der Auseinandersetzung mit vier Gegenwartsbewegungen bestimme, nämlich a) dem Liberalismus (mystischer Individualismus, der Glaube an das autonome Ich), b) dem religiösen Sozialismus, der „sich als Kirchenersatz anbiete und Heil und Erlösung verspreche“118, c) dem christlichen Konservativismus (F.J. Stahl, E.L. von Gerlach, A. Vilmar u.a.), den de Quervain mit „einer gewissen Freundlichkeit“119 behandle, dem er dann aber vorwerfe, „[e]r wolle christlich sein, aber er nehme im Grunde den Menschen in seiner Vernünftigkeit, nicht den von Gott erwählten Menschen zum Ausgangspunkt“120, d ) den jungen naturalistischen Konservativismus, 114

Bereits in seiner Dissertation hatte sich A. de Quervain (Gesetz und Freiheit, bes. 90–122) intensiv mit dem katholischen Naturrecht auseinandergesetzt. Vor allem Kreck, Ethik, 106–108, folgt A. de Quervains Lesart. 115 Piper, Ideologie und Politik, 5. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 A.a.O., 6. 120 Ebd.

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dessen Anliegen „um die Erhaltung des Volkstums“121 de Quervain verdächtigerweise besonders würdige. De Quervain gelangt nach Pipers Einschätzung zu einem situa­ tionsethischen, um nicht zu sagen dezisionistischen Plädoyer, das die ethische Urteilsbildung im jeweiligen politischen Entscheidungsfall weder aposteriori noch apriori stark mache: „Man kann es bedauern, dass heute die weltanschaulich fundierte Politik so selten geworden ist, aber wir können nicht mehr zu den politischen Weltanschauungen zurück. Wir müssen gleichwohl Politik treiben, freilich mit dem Wissen um die Grenzen der Politik. Durch Begrenzung und Einordnung erst empfange sie ihre Würde, ihr Recht und ihren Ort. Die einzelne politische Entscheidung aber könne die Theologie dem Menschen nicht abnehmen; eben darin bestehe seine Geschichtlichkeit, dass er sich im Gehorsam selbst von Fall zu Fall entscheiden müsse.“122 Diese Einschätzung de Quervains prädiziert Piper als „außerordentlich wertvoll: […] Hier wird nicht einfach, wie es heute so oft geschieht (bei den Volkskonservativen und dem Christlichen Volksdienst ebenso wie bei vielen religiösen Sozialisten) ein im Voraus bestehender politischer Standpunkt mit Hilfe theologischer Begriffe zu sanktionieren gesucht, sondern trotz der offensichtlichen Sympathien des Verfassers für die Volkskonservativen wird hier das Politisieren und die Politik selbst zu einem ernstlichen theologischen Problem. Es geht letzten Endes um die Frage: Ist Politik vom Standpunkt evangelischen Glaubens aus überhaupt zu rechtfertigen, und wenn ja, welche Bedingungen muss sie dann erfüllen?“123 Trotz dieses großen Verdienstes zeige sich jedoch auch eine Problematik bei de Quervains Behandlung der Politik, die gleichsam in abstracto, nämlich in Auseinandersetzung mit den politischen Welt­ anschauungen statt der gegenwärtigen praktischen Politik, erfolge.124 Deren politische Entscheidungen seien aber in Wirklichkeit keine politischen, sondern ideologische Entscheidungen, wie am Beispiel der jungnationalen Bewegung Wilhelm Stapels und seinem Verständnis von „Volksnomos“ und totalem Staat zu erkennen sei.125 Der politische 121

Ebd. Zu Pipers eigenem Volk- und Staatsverständnis vgl. den zeitgleich erschienenen Aufsatz: O. Piper, Von der Liebe zu Volk und Staat, in: Ethik. Sexual- und Gesellschafts-Ethik 8 (4/1932), 295–304. 122 Piper, Ideologie und Politik, 6. 123 A.a.O., 7. 124 Vgl. ebd. 125 Zu W. Stapel vgl. R. Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation, Gütersloh 2007; M. Weinrich,

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Nutzen prävaliere in den politischen Entscheidungen. Der pragmatische und der theologische Standpunkt aber würden bei de Quervain auseinandergerissen.126 De Quervain würde sich mit seiner Thematisierung der Weltanschauungen nur auf der Ebene der Ideologien bewegen127 und diese dann „durch einen unmittelbaren Glaubensgehorsam ersetzen“128 wollen. Die Ebene der politischen Pragmatik, gleichsam jenseits der Ideologiekritik und der Befähigung zu derselben, blende de Quervain hingegen aus. Das ausschlaggebende politische Motiv sei jedoch nicht die Durchsetzung einer bestimmten Weltanschauung, sondern „die Erringung der politischen Macht[:] Natürlich braucht jeder, der nach politischer Macht strebt, auch eine Weltanschauung, um vor seiner eigenen Vernunft sein Machtstreben und seine Ziele zu rechtfertigen. Aber politisches Ziel und politischer Kampf ergeben sich doch beim praktischen Politiker nicht durch Deduktion aus einer obersten Idee, sondern aus der Wechselwirkung zwischen der politischen Lage und der Art und Weise, wie der Politiker auf Grund seines Naturells, seiner Herkunft, seiner Stellung und Bildung diese Lage beurteilt.“129 Piper führt aber noch ein zweites Bedenken an, das die Thematik dieses Beitrages, nämlich die Lehre von der Schöpfungsordnung, unmittelbar betrifft. Bei Piper heißt es dazu: „Durch Quervains Buch zieht sich im Geheimen die Meinung, es gäbe so etwas wie eine evangelische politische Weltanschauung. Gewiß er ist sehr zurückhaltend, er möchte nicht so etwas wie ein christliches System der Politik geben, aus dem jeder ohne weiteres die rechten politischen Maßnahmen ableiten könnte. Aber die Art und Weise, wie hier vom Schöpfungsgedanken Gebrauch gemacht wird, ist nur von seinem naturalistischen Konservativismus her verständlich. Quervain folgt, wenn er von Schöpfung redet, der Linie, die von Brunstädt, Althaus, Gogarten und Schreiner geDie bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, 401–405. 126 Vgl. Piper, Ideologie und Politik, 8. 127 In der Rezension zu de Quervains flankierendem Bändchen „Das Gesetz des Staates“ heißt es bei Piper dazu: „Er [de Quervain; M.H.], der so sehr darauf bedacht ist, die lebendige Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, übersieht, dass seine ‚zeitlosen‘ Ideologien nur ein Versuch sind, die eigene geschichtliche Lage zu überspringen, in der eben auch der Theologe immer nur von einem geschichtlichen Standpunkte aus zur Politik reden kann. Statt dessen verfährt de Quervain so, als ob es der Mensch in seiner Hand hätte, ob er liberal oder konservativ eingestellt sein will, ob er mehr an seine Eingliederung in die Gemeinschaft oder mehr an die Verteidigung seiner Persönlichkeit gegen die Gemeinschaft bedacht sein will.“ O. Piper, Der wirkliche Staat und die Ethik, CW 46 (20/1932), (927–932) 930. 128 Piper, Ideologie und Politik, 10. 129 A.a.O., 7f.

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zogen worden ist (mit entgegengesetztem Ergebnis auch von Wünsch) und die ihren Ursprung bei Hegel und Troeltsch hat, nicht aber, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, bei Luther.“130 Piper bemüht sich, Luther selbst von der Lehre von den Schöpfungsordnungen freizusprechen und die Traditionslinie zwischen ihm und der Lutherrenaissance zu kappen, ja gegen diese zu wenden. Es geht hier also auch um die Entfaltung der Deutungsmacht im Blick auf Luther, mithin um sein legitimes Erbe, das die Lutherrenaissance für sich beanspruche. Im Gegensatz zu deren Weltbild sei Luthers indes christozentrisch. Luther notiert etwa in seiner ersten Psalmenvorlesung: „Christus finis omnium et centrum“.131 Hier hat das theologische Denken Piper zufolge Einkehr zu halten und von hier aus auch den entscheidenden Einwand gegen die Lehre von den Schöpfungsordnungen zu artikulieren: „Von der Schöpfung wie von der Vollendung der Welt wissen wir deshalb nur so viel, als wir in Christus erkennen. Als der Erlöser bekennt sich Christus zu seiner Welt, aber eben als zu einer, die der Erlösung bedarf. Wir haben deshalb zwar ein Recht, in dieser Welt und gerade auch in ihren Ständen und Ordnungen Gottes Willen zu finden. Aber wir haben eben kein Recht, diese Welt und ihre Stände als die reine Offenbarung seines Willens anzusehen.“132 Das theologische Problem der Schöpfungsordnungen ist demzufolge nicht einfach nur ein ontisches, sondern zugleich ein noetisches, das Christus betrifft. Von der Schöpfung lässt sich in einem theologisch qualifizierten Sinne nur christologisch und weil christologisch darum entschieden eschatologisch reden. Genau dieses eschatologische Paradigma, das die Schöpfung im Lichte der Erlösung betrachtet, werde durch die überkommene Rede von Schöpfungsordnungen untergraben: „Aber freilich muss in der evangelischen Ethik das Allgemeine von der Erlösung her gesehen werden, d.h. aber eben gerade nicht, wie im Jungen Konservativismus und seiner Verwendung des Schöpfungsbegriffes, in seinem Sein, sondern seiner Bestimmung.“133 Piper formuliert den Grundsatz: „Er [der Christ; M.H.] hat vom Erlösungswirken Christi aus das Ziel der Politik und die politische Haltung zu bestimmen.“134 Diesen Grundsatz sieht Piper bei de Quervain unterlaufen: „[W]eil er [de Quervain; M.H.] sie [die Welt; M.H.] nicht vom Erlöser her sieht, sondern vom Schöpfer her, gelangt er zu bedenklichen Konse130

132 133 134 131

A.a.O., 8. WA 3, 368,22 (Dictata super Psalterium, 1513–1515). Piper, Ideologie und Politik, 8. A.a.O., 9. A.a.O., 10.

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quenzen.“135 Diese würden in eine eigene politische Weltanschauung münden, über eine distinkt christliche Politik hinaus, die de Quervain letztlich vom Politiker, auch vom säkularen, fordere: „Gläubige Unterordnung unter Gott bedeutet ihm [de Quervain; M.H.] Ehrfurcht vor dem schöpfungsmäßigen Sein. Das aber soll in der Gebundenheit des Menschen an Familie, Stand, Klasse, Volk und Staat liegen. Hierbei wird aber unversehens diese Gebundenheit selbst mit der Bejahung einer bestimmten Weise der Gebundenheit gleichgesetzt. Quervain lässt z.B. nur die gute alte Sitte als Sitte gelten, er übersieht, dass jede Gemeinschaft sich sofort auch ihre Sitten schafft; oder die industrielle Bindung an Volk und Heimat wird der bäuerlichen gegenüber als geringwertig angesehen usw. D.h. aber eine bestimmte Integration der an sich rein funktionalen natürlichen Bindung wird nun als Schöpfungswille hingestellt. Dabei ist doch an sich gar nicht gesagt, dass etwa in der Umgestaltung des Volkes mit Hilfe des Klassenkampfes weniger Ehrfurcht vor dem Schöpferwillen steckt als in seiner Umgestaltung mit Hilfe der Staatsautorität oder im freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte. Ungewollt läuft diese Grundlegung doch auf die Empfehlung einer bestimmten Politik hinaus.“136 Als Gegenprogramm zu einer christlichen Politik fordert Piper: „Die Kritik der Weltanschauungen muss eine immanente Kritik sein. Sie darf also nicht mit dem Rüstzeug der Theologie, sondern muss mit den Mitteln der Erfahrungswissenschaften und der Philosophie erfolgen. […] Zugleich aber muss der Seelsorger schärfer als es bei Quervain geschieht, darauf hinweisen, dass all diese politischen Welt­ anschauungen als menschliche Deutungen ihr relatives Recht haben, das Auseinandersetzung mit dem Gegner, nicht aber unkritische Verurteilung verlangt, und dass diese Auseinandersetzung nur da eine christliche Auseinandersetzung ist, wo man durch seine eigene Anschauung hindurch das Erlösungsziel im Auge hat.“137 3.3.2 „Der wirkliche Staat und die Ethik“. Pipers zweite Rezension Für Piper ging die Auseinandersetzung mit de Quervain, die im Verlauf der Rezension zunehmend an Schärfe gewann, mit einer zweiten Rezension in eine neue Runde. Diese verfasste Piper unter dem Titel „Der wirkliche Staat und die Ethik“ für Martin Rades „Die Christliche Welt“ 135

A.a.O., 9. Ebd. 137 Ebd. Hier zeigen sich im Übrigen Berührungspunkte zur Position Paul Tillichs. E. Lessing (Geschichte 2, 332–338) ordnet beide theologiegeschichtlich einander zu. 136

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noch im selben Jahr zu de Quervains kleiner, seine Habilitations­schrift flankierenden Schrift „Das Gesetz des Staates. Wesen und Grenzen der Staatlichkeit“ (1932).138 Damit widmete sich Piper vertiefend der Konzipierung einer der konkreten Ordnungen durch de Quervain, nämlich dem Staat. Piper geht dort ganz analog zu seiner ersten Rezension vor und startet mit einer Würdigung: „De Quervain hat sich in dankenswerter Weise um die theologischen Voraussetzungen der Politik bemüht und er hat dadurch sicher manchem einen Dienst leisten können, der im Eifer der Politik sein Christsein ganz vergessen hatte. In einer neuen kleineren Schrift hat sich de Quervain nun noch speziell zum Problem des Staates geäußert. Er macht hier den Versuch, von protestantischer Seite aus die Bemühungen fortzusetzen, die Carl Schmitt vom Boden des katholischen Dogmas aus begonnen hat. Die Aufgabe ist wichtig, aber eben deshalb erfordert jeder derartige Versuch – ungefähr gleichzeitig legen ja auch W. Stapel und Gogarten eine evangelische Staatslehre vor – doppelte Aufmerksamkeit und schärfste Ablehnung aller unevangelischen Missdeutungen des Staates.“139 Nach dieser Würdigung benennt er kurz zur Einordung die Abgrenzung de Quervains vom ordnungstheologischen Entwurf Wilhelm Stapels: „Die politische Ethik kann sich nicht aus der Eigengesetzlichkeit eines Staates heraus entwickeln.“140 Hier liegt der tiefe Konsens zwischen de Quervain und Piper. Auch den „Seelsorger de Quervain“ lobt Piper erneut. Dennoch nehme der Ordnungsbegriff auch in diesem Parergon de Quervains eine zentrale Stellung ein: „Pflicht des Staatsmannes sei es, seinem Berufe zu leben, und der bestehe nicht in der Steigerung staatlicher Macht, sondern darin, verantwortlich Ordnung zu schaffen, Recht zu sprechen und das politische Volk zu sammeln […]. Die Grenzen, die dem Staate nach innen gezogen sind, zeigten sich z.B. darin, dass der Staat Ehe und Familie als selbständige Ordnungen anerkennen müsse, die er nicht verschlingen dürfe; er müsse vielmehr seine Gesetzgebung als Sachwalter dieser Ordnungen handhaben.“141 De Quervain gehe offen­kundig ordnungstheologisch von einer „prästabilierte[n] Harmonie der Lebensordnungen“142 aus, „die alle aufeinander bezogen wären“143 und insofern in ihrem Gesamt in „bester“ Ordnung seien. Ansonsten aber berücksichtige de Quervain, wie Piper kritisch 138

Berlin 1932. Das Bändchen ist Paul Wernle zum 60. Geburtstag „in Verehrung und Dankbarkeit“ gewidmet. 139 Piper, Staat, 927. 140 A.a.O., 928. 141 Ebd. 142 A.a.O., 929. 143 Ebd.

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im Sinne einer doppelten Botschaft einwirft, „hier wohl an Tillich geschult – die geschichtliche Dynamik des Gemeinschaftslebens.“144 Das „ansonsten“ impliziert die Kritik, dass dies eben in de Quervain Argumentation nicht durchgehend der Fall sei. Wiederum versuche de Quervain zwar, auch in diesem Werk die Schöpfungstheologie kritisch in Anschlag zu bringen, wenn er etwa den „geschöpflichen Charakter des Lebens“ hervorhebe und die „Gehalte menschlich-geschöpflichen Lebens“145 als Grenze des Staates bestimme. Eine Begründung aber für solche Aussagen liefere de Quervain nicht, sondern es bleibe bei einem „weil Gott das so wolle“.146 Piper findet dies „peinlich“147. Auch an seiner affirmativen Bezugnahme auf die Ich-Du-Lehre Friedrich Gogartens148 sei Kritik zu üben, da de Quervain nolens volens den Standpunkt des Naturrechts vertrete, zumal er diesem auch noetische Valenz („Offenbarungserkenntnis“) zuspreche.149 Hinsichtlich des Naturrechtes gelte indes: „Das Christentum lässt das Naturrecht gelten, aber es ordnet es den Zwecken des hereinbrechenden Gottesherrschaft unter.“150 In ihrem Kern besagt nun Pipers Kritik ganz seiner ersten Rezension entsprechend: „Bei de Quervain ist 144

A.a.O., 930. Im Original bei de Quervain, Gesetz, 47. 146 Piper, Staat, 930. 147 A.a.O., 931. 148 Vgl. dazu M. Weinrich, Der Wirklichkeit begegnen... Studien zu Buber, Grisebach, Gogarten, Bonhoeffer und Hirsch, Neukirchen-Vluyn 1980, 131–212. Vgl. speziell zu Gogartens völkischer Theologie ders., Kompromisslosigkeit, 399–401; Schellong, Augenblick, 119–122; ders., Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie. Grundentscheidungen der „Dialektischen Theologie“, in: J. Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, Paderborn u.a. 1983, 292–315. Fernerhin zu Gogartens politischer Theologie T. Dietz, Krisis und Geschick. Friedrich Gogartens Lutherlektüre, LJ 86 (2019), (248–271) 261–263. 149 Vgl. Piper, Staat, 930. Piper identifiziert in der komparatistischen Perspektive des ökumenischen Abgleichs einen „verhängnisvollen Fehler“ (ebd.) bei de Quervain: „De Quervain übersieht offenbar, dass die konkreten Normen, die wir unter Anleitung jenes Naturrechtes bilden, in unaufhebbarer Abhängigkeit von unserer Subjektivität, vor allem unserer persönlichen Weltanschauung stehen. Er macht dagegen aus seiner persönlichen Weltanschauung selbst ein Moment der Norm. Die Katholiken sehen im allgemeinen an diesem Punkte klarer, und auf katholischer Seite würde man deshalb nicht so leicht in de Quervains Fehler verfallen, die christliche Front als solche mit der gegen Demokratie und ‚westlichen Individualismus‘ zusammenfallen zu lassen, oder das naturhaft geschichtliche Ereignis der Volkswerdung mit der Beugung unter Gottes Willen gleichzusetzen. Es ist eine der bedauerlichen Inkonsequenzen de Quervains.“ 150 A.a.O., 931. Vgl. zum Naturrecht auch O. Piper, What Is Natural Law?, ThTo 2 (4/1946), 459–471. 145

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durch die naturrechtliche Grundlegung die große Spannung zwischen den natürlichen Gemeinschaften und der Gottesherrschaft verschwunden. Seine Ethik stellt ohne Zweifel auf naturrechtlichem Gebiet einen wesentlichen Fortschritt dar gegenüber dem Dogmatismus vieler politischer Ethiker, denn sie ist viel beweglicher und wirklichkeitsnäher. Aber Gott ist hier eben nur ein Ideogramm für den Ursprung; es ist de Quervain nicht gelungen, die Ethik von der zentralen Erkenntnis des Glaubens, nämlich der Erlösung und der neuen Schöpfung in Jesus Christus her zu begründen.“151 Bedenken meldet Piper fernerhin gegenüber de Quervains Staatsbegriff an. Zwar wolle dieser nicht von einem konstruierten Idealbegriff eines Staates ausgehen, er tue dies de facto aber doch, bleibe insbesondere in seinen Ausführungen über die Schweiz ideologisch,152 indem er die Wirklichkeit des Staates und d.h. für Piper die Machtinteressen des Staates nicht in den Blick nehme, ja auch keinen Wesensbegriff im Blick auf den Staat präge. Durch seinen Idealbegriff aber „schweben alle seine [de Quervains; M.H.] Erörterungen in der Luft.“153 Piper hält dagegen: „[D]er wirkliche Staat ist Herrschaft einer Gruppe oder Schicht über die anderen Glieder des Staatsvolkes, bei der die Wahrung der Interessen der Regierenden mit dem relativen Vorteil für die Regierten verbunden ist.“154 Diese Definition erinnert in gewisser Weise an Max Webers Politikbegriff, wenn dieser Politik nicht etwa als die fröhliche Moderation der eigenen Bedeutungslosigkeit, sondern als ernstes „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung [bestimmt], sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“155 Den entschiedenen Widerspruch Pipers erntet de Quervain für seine „eigentümlich freundliche Beurteilung der Eingriffe und Angriffe des nationalistischen Politikers gegen eine pazifistische Kirche.“156 Hier scheint bei Piper ein besonderer Nerv getroffen zu sein. Hier liegt gewissermaßen die Sollbruchstelle seiner Rezension vor. Denn hier 151

Piper, Staat, 931. Vgl. a.a.O., 929. 153 Ebd. 154 Ebd. 155 M. Weber, Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 21958, (493–548) 494. Macht aber ist nach M. Weber (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 28) „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. 156 Piper, Staat, 929. 152

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geht es um Pipers eigenes und das kirchliche Selbstverständnis.157 Der Pazifist Piper kann die Unterstellung de Quervains, die Staatsmänner besäßen besseres Wissen um das Wort Gottes, nicht auf sich beruhen lassen und wendet mit Verve ein: „Sowenig ich bestreiten will, dass unter Umständen der Politiker oder Staatsmann über Fragen der christlichen Ethik ein zuständiges Urteil abgeben kann, so abwegig erscheint es mir, wenn man heute den Kampf des Nationalismus gegen den christlichen Pazifismus meint als Abwehr einer unkritischen ‚christlichen Sittlichkeit‘ durch ein kritisches gläubiges Wissen rechtfertigen zu können. Das würde nur dann zutreffen, wenn Staat und Kirche auf einer Ebene ständen. Das gilt aber von der Kirche höchstens soweit, als sie organisierte Gemeinschaft ist, gerade aber nicht von ihr als Verkündigerin des Wortes Gottes. Denn der Politiker streitet als Politiker um die Macht, nicht um Gottes Wort. Seine Politik ist also niemals auf die Herausstellung des wahren Glaubensverständnisses gerichtet. Und der Kampf des politischen Nationalismus gegen den christlichen Pazifismus ist eben deshalb niemals nur dialektisch gemeint, sondern direkt politisch. Denn der Politiker wird alles bekämpfen, was ihm in den Weg tritt. Darum wird ihm Gottes Wort als Gericht über alles Menschliche immer ein Hindernis sein. Der Gegensatz zwischen Staat und Kirche ist nicht nur ein einmaliges Ereignis, sondern im Wesen des Staates begründet, und er wird auch durch ein Staatskirchentum nur verdeckt, aber nie aus der Welt geschafft.“158 Hier ist Pipers eigene Bestimmung des Staats-Kirchen-Verhältnisses mit Händen zu greifen. Sie erweist sich zudem auf ein kritisches Volkskirchenverständnis159 hin transparent. Piper wendet sich gegen eine staatskirchlich erzwungene Harmonie zwischen Kirche und Staat. Er setzt vielmehr eine durch und durch spannungsvolle Beziehung voraus. Als ehemaliges USPD-Mitglied war er diesbezüglich besonders sensibilisiert, kam es doch in Preußen während der Novemberrevolution unter Adolph Hoffmann, dem Mitbegründer der USPD, zum Versuch, Kirche und Staat radikal zu trennen (u.a. durch Einstellung

157

Etwa zeitgleich zu seinen Rezensionen veröffentlichte Piper das Plädoyer: O. Piper, Abrüstung als religiöse Verpflichtung, in: Ethik. Sexual- und Gesellschafts-Ethik 8 (4/1932), 273–279. Es handelt sich um eine Ansprache Pipers bei der Abrüstungskundgebung der „Arbeitsgemeinschaft der Konfessionen für den Frieden“ in Berlin am 30. November 1930. 158 Ebd. 159 Vgl. dazu K. Meier, Volkskirche 1918–1945. Ekklesiologie und Zeitgeschichte, München 1982, 9–46.

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der Staatszuschüsse und Aufhebung des Religionsunterrichts),160 was kirchlicherseits als Verdrängung aus dem öffentlichen Leben empfunden wurde.161 Bekanntermaßen setzte sich Hoffmann im Ergebnis nicht durch und es kam zum sog. „Kulturkompromiss“ und der sog. „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat, die sich im Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung manifestierte.162 Piper geht explizit auf die Weimarer Verhältnisse ein, wenn es sich für die konkrete Verkündigung der Kirche und damit eine politische Kirche ausspricht, die sich nicht von allen notwendigen Entscheidungen fernhält. Er rekurriert dabei gezielt auf das Signalwort der sog. Dia­lektischen Theologie, nämlich das „Wort Gottes“, das als Reizwort in den Diskursen fungierte: „Gottes Wort trifft den Empfänger nur, wenn es in seine Lage hineingesprochen wird, und darum muss evangelische Verkündigung notwendig konkret sein. Die Kirche, die heute z.B. nicht zu der herrschenden Wirtschaftsordnung Stellung zu nehmen wagt, sagt vielleicht erbauliche Dinge über die Wirtschaft. Aber sie sagt eben nicht Gottes Wort, sondern das Wort ängstlicher Menschen. Und wenn die Kirche heute zu dem latenten – o dass er noch latent wäre! – Bürgerkriege schweigt, so zwingt sie Gott, an ihrer Stelle die Steine reden zu lassen. Das konkrete Wort der Kirche ist freilich keine politische Entscheidung für Hakenkreuz oder Sowjetstern, wohl aber eine Entscheidung gegen den Ungehorsam für die Beugung unter Gottes Wort. So gesehen, gibt es aber immer einen Kairos für die Kirche. Sie ist nicht in erster Linie eine Schule, in der wir über den Begriff wahrer Staatlichkeit belehrt werden sollen, sondern die Stelle, wo Gott ganz konkret seinen Willen und sein Urteil in der Welt verkündet. […] Ohne diesen Mut zur Konkretheit wird durch solche Schriften, wie die de Quervains nur erreicht, dass trotz aller allgemeinen Hinweise auf die Sündigkeit des Menschen die Vertreter bestimmter politischer Tendenzen beglückt feststellen zu können meinen, dass sie die eigentlichen Sachwalter Gottes sind.“163 160

Vgl. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914– 1949, München 32008, 439. 161 Otto Dibelius etwa sah in Adolph Hoffmann die „Mächte der Zerstörung“ verkörpert. Vgl. zu Dibelius Leonhardt, Christentum, 319–323. Zur Auseinandersetzung Dibelius versus Barth vgl. E. Busch, Mit dem Anfang anfangen. Stationen auf Karl Barths theologischem Weg, Zürich 2019, 67–84. 162 Vgl. dazu Leonhardt, Christentum, 313f.; von Scheliha, Protestantische Ethik, 154–160; M. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, KGE III/5, Leipzig 2002, 118–121. 163 Piper, Staat, 931f.

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3.4 Überzogene Kritik? Zur Beurteilung des Einspruchs Pipers gegen de Quervains frühe politische Ethik 3.4.1 Die mutmaßliche Reaktion de Quervains auf Pipers Einspruch Leider ist uns keine Reaktion de Quervains auf Pipers ausführlichen und mit großer Schärfe vorgetragenen Rezensionen bekannt. Insofern will es als unpassend erscheinen, von einer Kontroverse zu sprechen. Doch auch wenn keine direkte Replik de Quervains bekannt ist, dürfen wir sicher sein, dass er die Rezension Pipers sehr bewusst wahrgenommen und sie nicht einfach übersehen hat. Im Anhang zu de Quervains Schrift „Das Gesetz des Staates“ ist ein Pressespiegel mit „Presseurteilen über ‚Die theologischen Voraussetzungen der Politik‘“ abgedruckt.164 Neben anderen Statements aus neun verschiedenen theologischen Zeitschriften wird Piper als einziger Verfasser namentlich erwähnt und ein kurzes Statement aus seiner Rezension gewissermaßen als „Appetizer“ abgedruckt. Es ist freilich recht spekulativ, über de Quervains Reaktion zu mutmaßen. Gleichwohl wird man davon ausgehen dürfen, dass de Quervain sich über die Heftigkeit der Ausführungen Pipers in der Sache gewundert haben wird. Mit Begriffen wie „peinlich“ droht Piper fast die Contenance zu verlieren und läuft Gefahr, die würdigenden Passagen seiner Rezension als captationes benevolentiae erscheinen zu lassen. Vermutlich fiel Pipers Rezension nach de Quervains Wahrnehmung überpointiert, ja unfair aus, da er selbst sich im initialen Anliegen doch mit Piper einig wusste. So zeigt sich bereits in seiner Habilitationsschrift sowohl eine Ablehnung des Erkenntnisweges der natürlichen Theologie165 als auch eine Skepsis gegenüber der Theologie eigengesetzlicher Schöpfungsordnungen,166 die er nicht nur mit Karl Barth, sondern auch Otto Piper teilt.167 Warum aber dann diese Attacken Pipers? Die heutigen theologisch informierten Lesenden sind wahrscheinlich nicht weniger erstaunt als de Quervain es damals vielleicht war. Dies 164

Vgl. de Quervain, Staat, 71f. Vgl. A. de Quervain, Voraussetzungen, 40–59. Vgl. im „Spätwerk“ de Quervains auch ders., Heiligung. Ethik Erster Teil, Zollikon-Zürich 1942, 198–200 u.ö. 166 Vgl. a.a.O., 132–134. Fernerhin: ders., Ethik I, 307–334; ders., Kirche, Volk, Staat. Ethik II. Erster Halbband, Zollikon-Zürich 1945, 284–289. Vgl. auch Kreck, Grundfragen, 113f., der sich in seiner Kritik an der Lehre von den Schöpfungsordnungen neben K. Barth explizit auf A. de Quervain beruft. 167 So H. Lindenlauf, Karl Barth und die Lehre von der „Königsherrschaft Christ“. Eine Untersuchung zum christozentrischen Ansatz der Ethik des Politischen im deutschsprachigen Protestantismus nach 1934, Spardorf 1988, 451. 165

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liegt freilich daran, dass wir beide Rezensionen perspektivisch, d.h. von hinten bzw. ex post lesen und zwar im Wissen um die strenge christologische Konzentration in de Quervains wirkmächtigem ethikgeschichtlichen Beitrag zum Kirchenkampf, für den er später bekannt wurde. Schließlich war er es, der „den ersten ethischen Gesamtentwurf unter dem Leitgedanken der ‚Königsherrschaft Christi‘ vorlegte und damit gleichermaßen stil- und begriffsbildend wirkte“.168 Dass ausgerechnet er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, ordnungstheologisch zu argumentieren und der Lehre von den Schöpfungsordnungen erlegen zu sein, verwundert, da es nicht ins theologiegeschichtliche Schema passen will. Und dass ausgerechnet ein Lutheraner diesen Vorwurf lancierte, verwundert nicht weniger. Die Rollen scheinen – wie gesagt – nach gängiger konfessionsbezogener Zuordnung vertauscht zu sein. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, eine Apologie de Quervains zu liefern und ihn gegenüber ungerechtfertigten Vorwürfen Pipers in Schutz zu nehmen. Gegenüber der Versuchung, de Quer­ vain vorschnell rein zu waschen, gilt es zunächst einmal die hermeneutische Aufgabe des Verstehens ganz im Sinne der Maxime Hannah Arendts „Ich will verstehen“169 wahrzunehmen. Dazu gehört zunächst einmal die Realisierung, dass de Quervain in der Zeit der untergehenden Weimarer Republik selbst noch ein Suchender war, der um seine theologische Position rang, welche er dann im Kirchenkampf fand und von da aus ausbaute: „Diese Unmöglichkeit, den Ethiker Alfred de Quervain insbesondere in den zwanziger Jahren einer abgesicherten Position und dem zugehörigen Lager zuzuordnen, hat denn auch verschiedentlich zu Irritationen geführt“170, auf die wir noch zu sprechen kommen müssen. Die dargestellte Kontroverse bewegt sich also, was biographisch-werkgeschichtlich bedacht sein will, im Bereich von de Quervains Frühwerk. Freilich zeigt sich auch hier schon – wie in allen Phasen seines Oeuvres – seine politische Intention und auch die Absicht kristallisiert sich hier heraus, die politische Dimension der Theologie im Verstehenshorizont einer (dialektischen) Theologie des Wortes Gottes sowie der reformatorischen Tradition und damit gegen sonstige „Weltanschauungen“ zur Sprache zu bringen.171 Apropos Weltanschauung: Piper kritisiert de Quervain dafür, das weltanschauliche Moment der praktischen Politik überbewertet zu ha168

Lindenlauf, Königsherrschaft, 29. Vgl. a.a.O., 126. So auch ders., Karl Barth, 450. 169 H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. von U. Ludz, München / Zürich 1976, 46. 170 Göllner, Alfred de Quervain, 112. 171 So auch Lindenlauf, Königsherrschaft, 332f.

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ben und damit de facto politikfern auf ideologischer Ebene zu agieren. Politikgeschichtlich steht wohl de Quervains Wahrnehmung der Parteiendemokratie der Weimarer Republik dahinter. Es war damals durchaus gängig, sie gewissermaßen als starre Weltanschauungsagenturen zu betrachten.172 De Quervain dürfte sich freilich darin von Piper intentional missverstanden fühlen, dass sich seine Ausführungen nicht für, sondern gegen die Prävalenz der Weltanschauung richten und er vielmehr deren „Dekonstruktion“ anstrebe. Dass sich die Parteien primär als Weltanschauungsparteien verstehen, war also keine normative, sondern stattdessen eine deskriptive Aussage, die er im Einklang mit und im selben Interesse wie Piper vollzog. Die Kritik richtet sich mit anderen Worten gegen den verpanzerten „Parteienstaat“ in Weimar, den er durchaus als deplorablen Zustand wahrnahm, und dies nicht aus einem polemisch-antidemokratischen Affekt heraus, sondern aus einem ernsten Interesse an einer lebensfähigen, kompromissbereiten Demokratie. Der theologischen Ethik kommt in dieser weltanschaulich-parteilichen Gemengelage nach de Quervain eine überaus kritische Aufgabe zu: „Sie muss verfestigte Orientierungen des Handelns aufbrechen, seien diese Verfestigungen nun ideologischer, weltanschaulicher, moralischer oder auch verfahrenstechnischer Natur. […] In ‚Die theologischen Voraussetzungen der Politik‘ hat de Quervain diese kritische Aufgabe an allen politischen Weltanschauungen durchgeführt, die in der Weimarer Republik praktische politische Bedeutung hatten, weil sie einer oder mehreren Parteien als Orientierung dienten.“173 De Quervain dürfte sich jedenfalls darüber gewundert haben, dass Piper ihm eine unzureichende Wesensbestimmung des Staates vorwarf, da es ihm doch gerade darum ging, den Staat aus einer ontologischen Wesensbestimmung herauszulösen und funktional zu erfassen, d.h. von seiner Aufgabe her, für Recht zu sorgen, also im Dienst an der Rechtsordnung. Freilich kann man fragen, ob bei de Quervain – auch in seinem Spätwerk – die staatsmetaphysische Frage nach dem Wesen des Staates tatsächlich endgültig überwunden ist, zumal er auch in seiner „Ethik“ (II/1: Kirche, Volk, Staat) noch durchaus ontologisch nach dem Wesen des Staates174 und auch der Herrschaft Christi über den Staat175 fragt. Bei de Quervain durchbrechen die Antworten jedoch mehr und mehr die traditionelle Fragestellung.176 172

174 175 176 173

So Göllner, Gemeinde, 46. Göllner, Alfred de Quervain, 116. Vgl. de Quervain, Ethik II/1, 196. Vgl. a.a.O., 210. So zutreffend Lindenlauf, Karl Barth, 454.

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3.4.2 „Politische Theologie“ – zur Rolle einer (un-)aufgegriffenen Formel Carl Schmitts in der Kontroverse Erstaunlich ist es, dass Piper in seiner Rezension nicht die Formel „politische Theologie“ aus dem Untertitel von de Quervains Habilitation aufgreift, sondern den Begriff ausklammert. Immerhin handelt es sich – wie Friedrich Wilhelm Graf bemerkt – um „wohl die erste Monographie eines Weimarer protestantischen Theologen, in der Carl Schmitts Formel ‚politische Theologie‘ in den Titel aufgenommen wird“.177 Im Vorwort dankt de Quervain Carl Schmitt178 explizit: „Professor Dr. jur. Carl Schmitt in Berlin hat durch seine Teilnahme und sein Verständnis auch für meine früheren Veröffentlichungen die Arbeit an diesem Buche mir erleichtert.“179 In der Tat gehören de Quervains frühen Texte in den Umkreis der vor allem von Carl Schmitt unter dem Schlagwort „politische Theologie“ vorangetriebenen Debatte.180 Aus diesem Umstand sollte man aber nicht vorschnell ein rein affirmatives Verhältnis zu Schmitt und dessen Politikbegriff ableiten. Wenn, wie Schmitt sagt, alle politischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind,181 dann lohnt es sich nach den theologischen Voraussetzungen der Politik zu fragen. Insofern dürfte de Quervain Schmitts „politische Theologie“ als Ermutigung zu seinem Habilitationsprojekt wahrgenommen haben. Das heißt aber nicht, dass er Schmitt unkritisch folgte oder gar zu einem „Schmittianer“ wurde. Was ist so problematisch an Schmitts „politischer Theologie“?182 Herbert Lindenlauf hat ihre Problematik präzise umschrieben: Nach Schmitt habe politische Theologie „die Aufgabe, die Korrespondenz 177

Graf, Universitätstheologie, 84. Zu Carl Schmitts Biographie vgl. einführend: H. Ottmann, Carl Schmitt – Leben und Werke, in: K. Graf Ballestrem / H. Ottmann (Hg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, 61–87. 179 de Quervain, Voraussetzungen, 10. 180 So Göllner, Gemeinde, 45. 181 So C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 112021, 43: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“ Schmitt verweist beispielhaft auf das Verhältnis von allmächtigem Gott und omnipotentem Gesetzgeber, Wunder und Ausnahmezustand, Deismus und modernem Rechtsstaat, Theismus und Monarchie. 182 Vgl. zu dieser Frage auch Erik Petersons Auseinandersetzung mit Schmitt: R. Mielke, Das Politische als Passion und Fragment. Erik Peterson und Carl Schmitt in der Auseinandersetzung um die Grundlagen der Politischen Theologie, EvTh 79 (2019), 450–466; J. Moltmann, Covenant oder Leviathan? Politische Theologie am Beginn der Neuzeit, in: ders., Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997, 31–49. 178

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theologischer Metaphysik und politischer Theorie als notwendigen Zusammenhang zu begründen und ihre Konvergenz gegen die vom bürgerlichen Liberalismus wie vom Anarchismus betriebene Auflösung des Staates in die Gesellschaft zur Befestigung der Souveränität des Staates ins Feld zu führen, um seine Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu sichern. Dazu überführt Schmitt die politische Theologie in ein dezisionistisches Konzept politischen Handelns mit einem starken Gefälle zum autoritär agierenden Staat als Entscheidungsträger. Diese Konsequenz, zu der Schmitt sich auch nach der Manifestation des totalen Staates im Jahr 1933 bekannte, rückt den Begriff der politischen Theologie jedoch in eine fragwürdige Nachbarschaft zur Ideologie des Nationalsozialismus und lässt seine Rezeption in der Theologie notwendig zur kritischen Revision des mit ihm bezeichneten Ansatzes werden.“183 De Quervain geht es – anders als Schmitt – gerade nicht um den autoritären Staat, sondern er wendet sich gegen den Missbrauch der Theologie zu politischen Zwecken. „Daher wehrt sich de Quervain gegen jeden nach den Bedürfnissen der politischen Situation konstruierten Zusammenhang von Theologie und Politik wie insbesondere gegen die Auflösung der Theologie in eine allgemeine Kulturphilosophie.“184 Die theologische Legitimation vorgefasster politischer Ziele, wie derjenigen Schmitts, die ohne Zweifel auf den autoritären Staat ausgerichtet waren, widerspricht de Quervains Verständnis politischer Theologie, die – so wie er sie konzipiert – als qualifizierte theologische Reflex­ion kritisch auf die der Politik inhärierenden „Weltanschauungen“ hin zu erfolgen habe. Insofern ist de Quervain der politische Grundbezug theologischen Denkens wichtig. Zugleich kann und muss man natürlich fragen, ob sich de Quervain hinreichend deutlich im Grundsätzlichen wie im Konkreten von der Politiktheorie Schmitts abgrenzt.185 183

Lindenlauf, Königsherrschaft, 129. Nach Rohls (Ethik, 739) hat sich später, in den 1970er Jahren aus dem Barthianismus das Programm einer politischen Theologie entwickelt. 184 Lindenlauf, Königsherrschaft, 130. Vgl. de Quervain, Theologie, 6; ders., Voraussetzungen, 14f. 185 Lindenlauf (Königsherrschaft, 139) bleibt hier skeptisch: „Zwar betont de Quervain, dass Gottes Gebot vom Menschen auch in der Politik ein verantwortliches Handeln fordert; dessen Kriterium erscheint aber nur mittelbar als ein theologisches, insofern es die (wenn auch durch das Wort Gottes qualifizierte) geschichtliche Situation selbst ist, welcher sich der politisch Handelnde verantwortlich weiß. Von hier aus gewinnt der Begriff der Entscheidung, um den sich de Quervains politische Ethik aufbaut, eine weit über den banalen Wortsinn hinausreichende, inhaltlich durch das dezisionistische Konzept Carl Schmitts beeinflusste Bedeutung.“

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So mag der von de Quervain hervorgehobene Begriff der Entscheidung, seine Betonung der konkreten Entscheidung und des Rufes zur Entscheidung eine große Nähe zu Schmitts Dezisionismus186 suggerieren. Und in der Tat gilt: „Der zeitgeschichtlich nächste Bezugspunkt zu de Quervains Rede von konkreter Entscheidung ist [….] natürlich der Dezisionismus der Zeit der Weimarer Republik und es ist gar keine Frage, dass de Quervain sich in diesem geistesgeschichtlichen Kontext bewegt und an seinen Problemen und Aporien teil hat.“187 Dabei wird man jedoch zeitgeschichtlich berücksichtigen müssen: „De Quervains Aneignung erfolgte noch vor ihrer Desavouierung durch die politische Entwicklung und steht ganz am Anfang der Auseinandersetzung um ihren Gehalt.“188 Vor allem ist es wichtig, den theologischen Begründungszusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, in dem de Quervains dezisionistisch anmutende Rhetorik steht. Es ist die Aufgabenstellung der theologischen Ethik, die ihn bei dieser Begriffswahl leitet. Theologische Ethik hat ihm zufolge die Aufgabe, „den Raum für eine Verantwortung und Entscheidung im Gehorsam und in der Liebe offen zu halten“.189 Verfestigungen müssen aufgebrochen und der Raum für menschliches Handeln, das aus einer Reihe von konkreten Entscheidungen besteht, soll geschützt werden. Theologische Ethik hat vor allem protektive Funktion und zwar im Blick auf die menschliche Freiheit. Was heißt das? Theologische Ethik zielt auf Freiheit zur konkreten, sachgemäßen Entscheidung. Doch was hat diese mit Freiheit zu tun? „Entscheidungen sind nach dieser Sicht [de Quervains; M.H.] frei von dem Zwang, sich aus Letztbegründungsinstanzen abzuleiten und rechtfertigen zu müssen. Es genügt, wenn handelnde Menschen die bestimmten Gründe dieser oder jener bestimmten Entscheidung namhaft zu machen wissen. Das endgültige Urteil über bestimmte Entscheidungen zu sprechen, ist dagegen Gott vorbehalten. Aus dieser Differenz von menschlicher Entscheidung und Gottes Urteil über sie entspringt die besondere Freiheit des Menschen, sachgemäße konkrete Entscheidungen zu treffen, statt sich in ideologische Letztbegründungen zu verheddern. Diese Freiheit ist natürlich keine andere als die Freiheit von 186

Vgl. H. Hofmann, Art. Dezision, Dezisionismus, HWP 2 (1972), 159–161; C.  Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Göttinger Abhandlungen zur Soziologie 3, Stuttgart 1958. 187 Göllner, Gemeinde, 85f. 188 Lindenlauf, Königsherrschaft, 130. 189 de Quervain, Voraussetzungen, 73.

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den Werken, die Gott vorbehalten sind, und die wir Menschen sicher nur schlechter machen können als Gott selbst.“190 Es ist eine distinkt reformatorische Logik, genauerhin die ihres Freiheitsverständnisses, die in de Quervains Entscheidungspathos aufleuchtet. Diese Logik unterscheidet sein Entscheidungspathos grundlegend vom Schmittschen Dezisionismus, der seiner Anlage nach rechtsphilosophischer Natur ist. Schmitt kennzeichnet das dezisionistische Moment wie folgt: „Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet, ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“191 Schmitt wendet sich damit gegen den Rechtspositivismus und sein Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung und verweist auf dasjenige Moment, das sich der gleichsam syllogistischen Ableitung (Deduktion) konkreter Urteile aus den Prämissen entzieht. Diesen unwägbaren Moment, diesen irrationalen Rest pointiert der Dezisionismus. Es ist die Huldigung irrationaler Letztbegründung, durch die der Dezisionismus Anstoß erregt. So hält W. Göllner treffend fest: „An dieser Rede vom normativen Nichts knüpft de Quervains Rede vom souveränen Willen Gottes in dem präzisen Sinn an, als er Gottes Willen durch keine Norm (etwa das thomistische Naturrecht) gebunden sieht. Gleichzeitig wir hier aber auch der wichtigste Unterschied zwischen de Quervains Rede von Entscheidung und dem Dezisionismus Carl Schmitts deutlich. Entscheidungen sind für de Quervain immer Gehorsamsentscheidungen, ihre Autonomie und Souveränität ist immer eine von Gott mitgeteilte, nie die Autonomie eines in sich selbst souveränen menschlichen Subjektes. In diesem Sinne als Aktualisierung menschlicher Souveränität muss die dezisionistische Rede von Entscheidung aber verstanden werden. […] Was de Quervains Rede von Entscheidung in den Dezisionismusverdacht geraten ließ, ist, dass sie das Element des unableitbar Ursprünglichen im politischen Handeln festhalten will. […] Das Element des Ursprünglichen oder Initia­ torischen ist m.E. das Wahrheitsmoment des Dezisionismus im Rahmen der Politiktheorie, das sie nur zu ihrem Schaden übergehen kann. Nur darf man dieses Wahrheitsmoment eben nicht gegen alle anderen Merkmale der Politik ausspielen und zum Grundstein einer gewisser-

190

Göllner, Alfred de Quervain, 116f. Schmitt, Politische Theologie, 37f.

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maßen heroischen Lebensform stilisieren, wie das in den zwanziger Jahren getan wurde.“192 Exkurs: Friedrich Wilhelm Grafs Kritik an de Quervain Friedrich Wilhelm Graf hat die These vertreten: „Der reformierte Bar­ th­ianer Alfred de Quervain hat in seiner ‚politischen Theologie‘ [den] dialektisch-theologischen Kampf gegen den theologischen Liberalismus und [den] konservativ-revolutionären Kampf gegen politischen Liberalismus und liberale Demokratie miteinander parallelisiert“.193 Dabei habe de Quervain „intensiv den Begriff des Politischen und die Liberalismuskritik Carl Schmitts rezipiert und noch 1931 Volkstum und starken Staat zu Schöpfungsordnungen Gottes erklärt und dabei ausdrücklich einen positiven Zusammenhang zwischen dialektischer Wort-Gottes-Theologie und nachliberal autoritärem Staatsideal hergestellt.“194 De Quervain gehöre zu denjenigen Schülern Barths, die „seine Theologie in den späten zwanziger Jahren als theologische Radikalisierung des zeitgenössischen Dezisionismus haben rezipieren können.“195 So habe de Quervain „die These vertreten, zwischen der dialektisch-theologischen Wort-Gottes-Theologie und dem antiliberalen Politikbegriff Carl Schmitts gebe es elementare strukturelle Entsprechungen.“196 Schmitts Politikbegriff bzw. seine Konstitution des

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Göllner, Gemeinde, 70. Göllner beruft sich auf H. Arendt (Über die Revolution [1965], München / Zürich 42000, 265) und ihre Bestimmung des politischen als des initiatorischen Handelns: „Jeder Anfang birgt in sich ein Element völliger Willkür. Nicht nur befindet er sich außerhalb der Kausalitätskette, in der jede Wirkung sofort als Ursache weiterer Entwicklungen verlässlich determiniert ist, er ist überhaupt nicht eigentlich abzuleiten – wäre er es, so wäre er kein Anfang – und erscheint daher, was Zeit und Raum betrifft, gleichsam aus dem Nirgendwo.“ 193 F.W. Graf, Der Weimarer Barth – ein linker Liberaler?, in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, (446–459) 457. 194 Graf, Der Weimarer Barth, 457. Vgl. jetzt auch H. Kress, Die Erblast der Politischen Theologie. Carl Schmitt – Karl Barth – heutige Anschlussprobleme, ZEE 64 (2020), 119–131. Zum Hintergrund vgl. A. Rasmusson, Historiography and Theology. Theology in the Weimar Republic and the Beginning of the Third Reich, KZG 20 (1/2007), 155–180; S. Holtmann, Karl Barth als Theologe der Neuzeit. Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie, FSÖTh 118, Göttingen 2007. 195 F.W. Graf, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, (111–137) 127. 196 Ebd.

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V. Mit vertauschten Rollen?

Politischen durch den Gegensatz von Freund und Feind197 werde hier übernommen.198 In der Tat kann de Quervain feststellen: „Carl Schmitt sagt mit Recht, dass die entscheidende Kategorie des Politischen das Freund-Feind-Verhältnis sei“.199 De Quervain knüpft auch unzweifelhaft an Schmitts Politikbegriff an, der essentiell von der Abgrenzung lebt. Erst Abgrenzung ermöglicht nach Schmitt politische Einheit. Deshalb kommt dem Phänomen des Krieges bei Schmitt eine Schlüsselfunktion zu: „Der Krieg [...] offenbart die jeder politischen Vorstellung zugrunde liegende Möglichkeit dieser Unterscheidung von Freund und Feind.“200 Werner Göllner hat nun freilich zu Recht darauf hingewiesen, dass de Quervains Vorstellung von Politik sich an diesem Punkt kategorial von Schmitt unterscheidet: „Denn bei ihm [de Quervain; M.H.] ist der Kern des Politischen und damit der Kristallisationskern der politischen Theorie nicht das Phänomen der Feindschaft, sondern das Phänomen der Sammlung. Ist Schmitts politisches Paradigma der Krieg, so kommt diese Funktion bei de Quervain dem Kampfes- und Hoheitszeichen zu. Und bezeichnenderweise findet sich bei Schmitt nichts der Rede vom Kampfes- und Hoheitszeichen Entsprechendes. Scheidung, Abgrenzung, Erkenntnis des Feindes sind bei de Quervain eher negative Implikate des Begriffs der Sammlung. Und wenn auch seine Rede von Sammlung und Scheidung wie Schmitts Unterscheidung von Freund und Feind stark am Militärischen orientiert ist, so blickt de Quervain doch nicht primär auf den Krieg, sondern auf das gewiss jedem Krieg vorangehende, aber nicht notwendig in ihn hineinführende Phänomen der Sammlung um Kampfes- und Hoheitszeichen.“201 Göllner insistiert auf diesem Unterschied: „Dieser Unterschied hängt unmittelbar damit zusammen, dass de Quervain das Phänomen 197

Zu Freund und Feind bei Schmitt vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 82009, 25–50; 94–102. Dazu: R. Mehring / C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003. Fernerhin: L. Bretherton, „Love your Enemies“. Usury, Citizenship and the Friend-Enemy Distinction, MoTh 27 (3/2011), 366–394; D. Schellong, Carl Schmitt als Hobbes-Interpret. Überlegungen zum Begriff der Politischen Theologie, BThZ 8 (1991), 94–111. Einführend: C. Graf von Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890–1990, Reinbek bei Hamburg 1990, 172–184. 198 Vgl. Graf, Revolution, 128. 199 de Quervain, Voraussetzungen, 19. 200 Schmitt, Begriff, 36. 201 Göllner, Gemeinde, 72.

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von Sammlung und Scheidung nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche wahrnimmt. Dort aber hat die gottesdienstliche Ver-Sammlung eine konstitutive Bedeutung, nicht die Scheidung von den Häretikern. Das entspricht de Quervains Rede von der Königsherrschaft Christi […]: Christus schafft seine Gemeinde durch das Wort und er sammelt sie um das Wort. Diese theologische Rede bildet bei de Quervain den primären Hintergrund seiner Rede von Sammlung und Scheidung, während sich Schmitt am Phänomen des Krieges orientiert. Angesichts dieser tiefgreifenden Verschiedenheit verliert die teilweise Übereinstimmung in der Terminologie sehr an Gewicht.“202 Werner Göllner hat bezüglich der Kritik Grafs aus gutem Grund von einer „zu kurz greifenden Gegenkritik“203 gesprochen. Sie basiere auf falschen Prämissen. Graf gehe selbstverständlich davon aus, „dass die politiktheoretische Leistung des Liberalismus in der Begründung einer pluralistischen, parlamentarischen Parteiendemokratie besteht.“204 Daher bedeute Liberalismuskritik für Graf zugleich Demokratiekritik. Göllner hält dagegen: „Nun hat sich aber der deutsche Liberalismus gerade über der Frage der Zustimmung zur Demokratie lange Zeit immer wieder gespalten und weite Teile sind bis in den ersten Weltkrieg hinein nicht für eine demokratische Verfassung eingetreten, sondern für die konstitutionelle Monarchie. […] Die Trennung von Liberalismus und Demokratie ist keine Erfindung Carl Schmitts, wie Graf zu meinen scheint, sondern eine historische Tatsache, zumindest was die Geschichte des deutschen Liberalismus betrifft. Zwar kann Graf diese Tatsache unter dem Titel des deutschen Sonderweges, auf den er mehrfach hinweist, in seine These integrieren. Aber dennoch hat seine Identifikation von Liberalismus und Demokratie ihm den Blick für die politiktheoretische Pointe der Liberalismuskritik de Quervains verstellt. Dessen Kritik richtet sich primär nicht gegen Inhalte, eine demokratische Verfassung etwa, sondern gegen eine bestimmte Struktur politischer Tätigkeit überhaupt, nämlich die des Verwirklichens von (ideologischen) Partei-Programmen – gegen Politik im Modus des Herstellens! Dieses Strukturproblem […] bekommt Graf nicht in den Blick, weil er – mit de Quervain gesprochen – Liberalismus sofort mit einer bestimmten, eben demokratischen, Weltanschauung identifiziert und damit das eigentliche Problem des Liberalismus verdeckt.“205 Dem 202

Ebd. A.a.O., 93. 204 Ebd. 205 A.a.O., 93f. Vgl. zur Liberalismus-Kritik de Quervains fernerhin: Göllner, Alfred de Quervain, 114f. Zum deutschen Sonderweg vgl. H.-W. Krumwiede, Evange203

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ist nichts hinzuzufügen – nur der Hinweis, dass Göllner sich explizit auch gegen Pipers Rezension wendet, auf dessen „stark von seiner liberal-sozialen Position bestimmte Besprechung“206 sich Graf stütze. Piper aber erfasse ebenso wenig wie Graf „die entscheidenden Pointen der Liberalismuskritik de Quervains“.207 3.4.3 Das gemeinsame theologische Anliegen: Der Konnex von Schöpfung und Erlösung Am stärksten dürfte sich de Quervain bei Pipers eigentlichem Anliegen missverstanden gefühlt haben, nämlich Schöpfung und Erlösung nicht voneinander zu separieren, Schöpfung also nicht als creatio originalis zu verabsolutieren. Dass der erste Glaubensartikel nicht vom zweiten und dritten Artikel lösbar ist, betont de Quervain in seiner Habilitationsschrift in der Tat nachdrücklich und verbindet auch Geschöpflichkeit und Auferstehungshoffnung engstens miteinander.208 Geschöpfliche Existenz und eschatologische Hoffnung gehören für de Quervain untrennbar zusammen: Der Mensch, der ganz Geschöpf ist, sei „zugleich hingerichtet auf die völlige Erlösung“.209 De Quervain gebraucht das Calvinsche Verständnis von Heiligung als Neuschöpfung durch den Geist Gottes und den Geist Christi, um dem theologisch Rechnung zu tragen. Aber nicht nur in ontischer, sondern auch noetischer Hinsicht zeigt sich hier eine trinitarische Konnexion in den Begründungszusammenhängen. Explizit heißt es bei de Quervain: „Von der Erkenntnis der Sünde, der Offenbarung, der Erlösung aus gelangen wir auch zur Erkenntnis von Gottes Schöpferwillen.“210 Die Schöpfungslehre wird bei de Quervain also durchaus auch noetisch an die Themen der Christologie rückgebunden. Bei Lichte betrachtet, zeigt sich bei ihm eine durchgängig trinitarische Einbettung seiner Rede von der Schöpfung.211 Der Vorwurf Pipers scheint sich hier gleichsam in Luft aufzulösen. Zu vermuten steht allerdings, dass er sich gar nicht gegen de Quervain direkt richtet, sondern an jene theologischen Zeitgenossen, die sich – lische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik, GKTG 2, Neukirchen-Vluyn 1990, 109–111; von Scheliha, Protestantische Ethik, 167–175. 206 Göllner, Gemeinde, 97. Göllner rekurriert auf die „Tätigkeitsphänomenologie“ H. Arendts (Vita activa oder Vom tätigen Leben [1967], München / Zürich 2002, 98–317), die zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln unterscheidet. 207 Göllner, Gemeinde, 97. 208 Vgl. de Quervain, Voraussetzungen, 41–45. Fernerhin: ders., Theologie, 8. 209 de Quervain, Voraussetzungen, 44. 210 A.a.O., 41. 211 So auch Göllner, Gemeinde, 56.

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anders als de Quervain – mit ihrer Lehre von der Schöpfungsordnung des Vorwurfs schuldig machen. Dabei ist vor allem an die Vertreter der Lutherrenaissance zu denken. Um es sprichwörtlich zu pointieren: Piper schlägt gleichsam den Sack und meint den Esel. Nicht anders wird es de Quervain beim Vorwurf Pipers ergangen sein, eine Lehre der „Schöpfungsordnungen“ zu vertreten. Er selbst hat sich gewiss nie als ein solcher Repräsentant verstanden. Die Selbstwahrnehmung differiert hier erheblich von der Fremdeinschätzung. In der Tat setzt de Quervain den Begriff „Schöpfungsordnungen“, den er in seiner Habilitationsschrift nur an dieser, also einer einzigen Stelle gebraucht, in Anführungszeichen.212 Jedoch referiert er in diesem Zusammenhang die Reformatoren, seine eigentlichen Gewährsmänner. Er sieht sie den „Gehorsam gegenüber Eltern und Obrigkeit“ predigen. Und im direkten Anschluss bemerkt er: „In diesem Zusammenhang wurde der Mensch an die ‚Schöpfungsordnungen‘ Gottes erinnert, wurde sein Individualismus gerichtet, wurde seinem eigenen Schöpfertum entgegengetreten. Heilig, gottwohlgefällig ist nicht die freie Persönlichkeit, sondern der Mensch in seinem Stand und Beruf. Was heute geschieht, wo Obrigkeit und Familie, Stand und Beruf in der Auflösung begriffen sind, das ist ein Zurückgehen auf die ‚Ur-Gegebenheit‘, auf ‚die unmittelbare Schöpfung‘: auf das Volk. Darin äußert sich der Gehorsam des Menschen, dass er als Volksglied lebt. Heilig und Gott wohlgefällig ist nicht die auf sich gestellte Persönlichkeit, sondern das Volk als unmittelbare Schöpfung Gottes und der einzelne als Glied seines Volkes. So etwa würde der Volkskonservative heute reden und sein Anliegen vertreten.“213 Im Kontext der sog. Konservativen Revolution kam es, wie Quervain richtig sieht, zu einer regelrechten „ideologische[n] Hypostasierung“214 des Volksbegriffs. Es handelt sich also um ein Referat, das de Quervain präsentiert und nicht einfach seine eigene Meinung. Kritisch kann de Quervain etwa einwenden: Wer „sich auf sein völkisches Sein zurückzieht“, wer Gottes Wort und Vernunft „aus einer völkischen Gegebenheit ableitet und damit die Möglichkeit der Begegnung, der Aussprache, des Dienstes außerhalb des völkischen Zusammenhangs leugnet, der reißt das 212

So de Quervain, Voraussetzungen, 133. A.a.O., 133f. 214 K. Nowak, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: H. Renz / F.W. Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Troeltsch-Studien 4, Gütersloh 1987, (133–171) 146. Vgl. dazu auch die Ausführungen Leonhardts (Christentum, 326–331) zum Volksbegriff bei Emanuel Hirsch. 213

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Geschöpf vom Schöpfer los, der entzieht sich dem Worte des Schöpfers“.215 Es kann durchaus eine „kritische Reserve gegenüber dem für die völkische Weltanschauung zentralen Begriff des Volkes und gegenüber der mit der völkischen Weltanschauung verbundenen kirchenpolitischen Position“216 bei de Quervain beobachtet werden. Und dennoch fällt ins Auge, wie geradezu liebevoll er den volkskonservativen Protest darstellt: „Die Anschauung der Persönlichkeit im christlichen Konservativismus ist gekennzeichnet durch Sicherheit und Überlegenheit. […] Geschichtliches Leben ist nicht Gedanke, nicht Tat des Menschen, wird uns gesagt, sondern Setzung Gottes, Setzung der Natur. An der Geschichte zerbricht die selbstgewisse, in sich gefestigte Persönlichkeit, zerbricht der Wille, der das Leben meistern will. Das ist es, was der naturalistische Konservativismus eindrucksvoll heute geltend macht. Seine Losung lautet also: Es schafft nicht der Mensch das Volk, sondern es lebt der einzelne durch das Volk und im Volk, von Gnaden des Volkes, von Gnaden dessen, der die Völker schuf. Auf die Frage, welches denn die entscheidende Gegebenheit für den Menschen sei, empfangen wir die Antwort: das Volk, dem der Mensch angehört, in das hinein er gestellt worden ist.“217 Verräterisch für de Quervains geradezu romantisches Gesellschaftsbild ist folgende Eingabe: „Der bodenständige Mensch – zu allererst der Bauer, aber auch der Arbeiter, meist zu allerletzt der Großstadt-Intellektuelle – spürt, dass seine Lebenswurzel getroffen werden soll, dass sie getroffen wird. So steht er im Kampfe um die volksgemäße Sitte, um das volksgemäße Recht, um die volksgemäße Religion. Die individualistisch und aufklärerisch missbrauchte und verbrauchte Menschheitsidee hat ihre kritische Bedeutung eingebüßt. Sie muss vom eigenen Volke und seinem Freiheitskampfe aus neu verstanden werden.“218 Schließlich gelangt de Quervain zu der Forderung: „Wir haben, um das heute leidenschaftlich sich meldende Anliegen des naturalistischen Konservativismus zu hören und in der Erkenntnis, dass wir da hören müssen, [uns] mit unserm Fragen zurückgehalten. Wir halten freilich auch hier daran fest, dass die Theologie nur sichtend und richtend helfend kann, dass sie auch hier nichts übernehmen und nicht in Dienst gestellt werden kann.“219 Eindeutig greift de Quervain auf das kon215

217 218 219 216

de Quervain, Voraussetzungen, 154. Göllner, Gemeinde, 96. de Quervain, Voraussetzungen, 132f. A.a.O., 134. A.a.O., 136.

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servative Ordnungsdenken zurück. Sein Plädoyer für einen „christlichen Konservativismus“, welcher den geschöpflichen Zusammenhang menschlicher Wirklichkeit wahren soll, macht hier deutlich erkennbare Anleihen. Für de Quervain steht fest: „Die Strukturen, in die sich der Mensch damit einfügt, können, insofern sie Gegebenheiten sind, welche die Ordnung der Schöpfung reflektieren, selbst als Ordnungen bezeichnet werden.“220 Es lässt sich mithin im Hinblick auf de Quervains ordnungstheologische Anleihen konstatieren: „Mit der Berufung auf solche Ordnungen stimmt de Quervain in eine Tendenz politischer Ethik seiner Zeit ein, die sich nicht auf das Luthertum beschränkte und die auch die Vertreter der Theologie des ‚Wortes Gottes‘ beeinflusste.“221 Freilich lassen sich bei de Quervain auch gewisse Absetzungsbewegungen beobachten.222 Diese betreffen zum einen (a) eine sich auf die Ständelehre stützende Ordnungstheologie: „De Quervain sieht darin aber das ästhetisch-metaphysische Missverständnis der Ordnungen menschlichen Zusammenlebens, das aus den Ständen ontologische Gegebenheiten macht. Statt die Ordnungen in dieser Weise naturalistisch aufzufassen und sie in eine ebenfalls naturalistische geschichtliche Weltanschauung einzubauen, will er sie eben geschichtlich verstehen. Was er darunter versteht, erklärt er am Beispiel des familiären Zusammenlebens. Dieses darf nicht der Verwirklichung eines über die Familie schwebenden Zieles oder Ideals dienen, es darf überhaupt keinem externen Ziel dienstbar gemacht werden. Vielmehr ist es das Ereignis des Zusammenlebens je dieser Menschen in je dieser Familie, in dessen Geschichte die Beteiligten je neu und unter Umständen je anders mit Gottes Gebot konfrontiert sind, das sie in dieser Familie leben heißt, ihnen den Weg dieses Zusammenlebens je neu zeigen will und dem sie im Gehorsam entsprechen sollen.“223 Statt von Schöpfungsordnungen zu sprechen, nimmt de Quervain hier die Geschichtlichkeit der geschöpflichen Existenz in den Blick und versteht die Ordnungen als diejenigen sozialen Bezüge, in denen man lebt, welche zugleich die Orte einer bestimmen Lebensweise darstellen, an denen auf Gottes je konkretes Gebot gehört und ihm im Gehorsam entsprochen wird.224 Familie, Volk, Staat, Stand, Beruf und Klasse identifiziert de Quervain

220

222 223 224 221

Lindenlauf, Königsherrschaft, 136. Ebd. Vgl. de Quervain, Voraussetzungen, 50f.; 56f. Göllner, Gemeinde, 52. Vgl. de Quervain, Voraussetzungen, 47; 49. Vgl. Göllner, Gemeinde, 52.

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dementsprechend als „Kennzeichen unserer Geschöpflichkeit“225, nicht als Schöpfungsordnungen. Die Absetzungsbewegung zur Lehre von den Schöpfungsordnungen betrifft zum anderen (b) den Rekurs auf die Zweireichelehre, mithin die Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment Gottes, zur Legitimation einer sog. „Eigengesetzlichkeit“226 weltlicher Strukturen. Diese Gefahr sieht de Quervain deutlich und grenzt sich von ihr ab. Es ist folglich eine charakteristische und signifikante Doppelbewegung des Zugleichs von Negation und Affirmation, Nähe und Distanz, Abgrenzung und Vereinnahmung in der Rezeption ordnungstheologischer Denkmuster bei de Quervain zu verzeichnen. 3.5 Abschließende Beurteilung De Quervains Stellung zur Ordnungstheologie und insbes. zur Lehre von den Schöpfungsordnungen ist mit anderen Worten differenziert und dialektisch zu beurteilen. Sie entzieht sich einer schlichten Eindeutigkeit und hinterlässt insgesamt einen zwiespältigen Eindruck: Es scheint fraglich, „ob seine Kritik der politischen Ideen der kritischen Funktion des Wortes Gottes gerecht wird oder sich nicht doch mit einem partikularen konservativen und antiliberalen Standpunkt identifiziert, der zudem einer vergangenen Gesellschaftsordnung verpflichtet ist, und damit theologisch wie politisch positionell wird.“227 De Quervain ist gewiss vor allzu eilfertigen Vorverurteilungen in den Schutz zu nehmen. Dennoch zeigt sich: „Dass de Quervain sich während der Weimarer Republik im Kontext der gängigen konservativen Kritik des Liberalismus bewegte, ist unzweifelhaft.“228 De Quervains „latenter Traditionalismus und Konservativismus“229 gehört in der Tat zum Profil seines Frühwerkes und dürfte dessen Re225

de Quervain, Voraussetzungen, 47. Reuter (Ethik, 64) identifiziert im Anschluss an Karl Barth das Problem der „,Eigengesetzlichkeit der Schöpfungsordnungen‘ im Neuluthertum“, das darin bestehe, dass diese „dem Evangelium vorgeordnet oder unabhängig von ihm erkennbar“ (ebd.) seien. Als ob isoliert von einem Schöpfergott geredet werden könnte, werden im Sinne eines geradezu verabsolutierten ersten Glaubensartikels bestimmte soziale bzw. kulturelle Größen auf die Anweisungen eines solchen Gottes zurückgeführt. Zur Eigengesetzlichkeit vgl. vor allem W. Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, NBST 4, Neukirchen-Vluyn 21985, 33–70. 227 So Lindenlauf, Königsherrschaft, 137. 228 Göllner, Gemeinde, 88f. 229 Lindenlauf, Königsherrschaft, 334. 226

3. Im Nessoshemd der Schöpfungsordnung?

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zeption durchaus erschwert haben. Das „romantisch-konservative Gesellschaftsbild“230 der frühen Schriften de Quervains fügt sich hier ein, wenngleich er später versucht hat, es für demokratische Mechanismen im säkularen Rechtsstaat zu öffnen. Jedoch spricht er – was Piper anstößig erscheint – den Politiker unter impliziten konstantinistisch-staatskirchlichen Prämissen unterschwellig als membrum eccle­ siae an.231 Einer Christianisierung politischer Strukturen redet er indes nicht das Wort. Er setzt die Kirchenzugehörigkeit des politischen Adressaten jedoch ebenso voraus wie die Zugehörigkeit der politischen Sphäre zur Herrschaft Christi. Die erstgenannte Prämisse teilt Piper nicht. Er rechnet verstärkt mit säkularen Voraussetzungen in einem weltanschaulich neutralen Rechtsstaat wie der Weimarer Republik, die er aus vollem Herzen bejaht. Piper hat mit der ihm eigenen Sensibilität de Quervains „anti-liberales, konservativ-romantisches, organologisches Gesellschaftsbild“232 bemerkt und mit der ihm eigenen Entschiedenheit auch dagegen protestiert. Seine Entschiedenheit neigt zu einer gewissen Überpointierung, die unfair und maßlos zu werden droht. Man merkt, wie sehr Piper selbst in seiner eigenen politischen Existenz be- und getroffen ist. Was de Quervains Gesamtwerk betrifft, so ist indes zu berücksichtigen, dass „de Quervains theologische Arbeit der folgenden Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges eine Neuorientierung erkennen lässt. Sie wird zweifellos durch die politischen Ereignisse beschleunigt, ist jedoch nicht nur als Reaktion auf eine veränderte Situation zu begreifen, sondern erwächst aus der Reflexion der Theologie auf die ihr immanente christologische Begründung. Denn trotz seines Abstandes zu einem christozentrischen Ansatz ist schon das frühe Denken de Quervains nicht ganz ohne Anknüpfungspunkte, die zu einem solchen führen.“233 Es waren gewiss auch die Schwächen des eigenen, frühen Entwurfs, die de Quervain motivierten, sein Werk weiter zu entwickeln. Piper hat, wie gesagt, die Schwächen de Quervains recht schonungslos entlarvt und aufgespießt. Bei ihm finden wir eine klar gegen den Konservativismus der Ordnungstheologie ausgerichtete, der damaligen Gesellschaft geltende Deutungskompetenz wieder, die sich auch auf reformatorische Theologie und eher traditionelle Theologumena berufen kann. Piper lässt vor allem keinen Zweifel daran, dass 230

Ebd. Vgl. a.a.O., 335. 232 Lindenlauf, Karl Barth, 452. Vgl. Castanyé, Alfred de Quervains, 170–174; 182–189. 233 Lindenlauf, Königsherrschaft, 141. 231

214

V. Mit vertauschten Rollen?

er den Begriff „Schöpfungsordnung“ für theologisch illegitim erachtet. Er sah sich offenbar genötigt, seinen Widerspruch sehr massiv zu artikulieren. Auch dies ist indes ein Indiz dafür, wie sehr nicht nur die Politik, sondern auch die auf die Politik reflektierenden Geisteswissenschaften, unter ihnen die Theologie, an der polarisierten Kultur der damaligen Zeit partizipierten. Moderater im Ton, aber in der Sache nicht unklarer als Piper hat zuletzt Herbert Lindenlauf eine solidarische Kritik am jungen de Quervain bündig formuliert, die cum grano salis zu überzeugen vermag: „De Quervain will die Politik, indem er ihre Eigengesetzlichkeit bestreitet, für den Christen als Raum des Glaubensgehorsams öffnen, doch lassen seine Ansätze vor 1933 die nötige Konsequenz vermissen. Offen bleibt die Frage der Kriterien politischer Entscheidung sowie die Rolle der Vernunft im Entscheidungsprozess. Der trinitarische Ansatz vermag sich nicht gegen das Schwergewicht des im ersten Artikel verankerten ordnungstheologischen Denkens durchzusetzen, und auch die Inkarnation wird, indem sie als ratio cognoscendi der Bindung des Menschen an eine ständische Ordnung in Anspruch genommen wird, wie die Christologie überhaupt ihrer politischen Gestaltungskraft beraubt, womit de Quervains frühes theologisch-politisches Denken sein Defizit gegenüber den Erfordernissen eines christozentrischen Ansatzes der Ethik signalisiert.“234 4. Der Begriff der Schöpfungsordnung im Nationalsozialismus und heute. Ein Ausblick Im Kontext des Nationalsozialismus und der sog. „Machtergreifung“ Adolf Hitlers zeigte sich, dass der Begriff „Schöpfungsordnung“ höchst missbrauchsanfällig235 und geradezu schutzlos den höchst gefährlichen völkischen und rassistischen Aneignungsattacken ausgeliefert war. Besonders fatal für den Leumund des Begriffs war der sog. „Ansbacher Ratschlag“ (1934), der als Reaktion auf die Barmer Theologische Erklärung bekannt gab: „Es [das Gesetz; M.H.] bindet jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, und verpflichtet uns auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutzusammenhang). […] Indem uns der Wille Gottes ferner stets in unserem Heute und Hier trifft, bindet er uns auch an den bestimmten historischen Augenblick der Familie, des Volkes, der Ras234

Ebd. So Honecker, Einführung, 297.

235

4. Der Begriff der Schöpfungsordnung im Nationalsozialismus und heute

215

se, d.h. an einen bestimmten Moment ihrer Geschichte.“236 Hier zeigte sich: „Die Ordnungstheologie diente also ideologisch der Legitimation des Nationalsozialismus als Gottesordnung. Rasse, Volkstum sind Schöpfungsordnungen. Das schließt eine Zustimmung oder zumindest unkritische Haltung zu den Nürnberger Gesetzen zur Reinerhaltung der deutschen Rasse, zum Arierparagraphen, zum Antisemitismus mit ein.“237 Darüber hinaus zeigte sich: Der Begriff der Schöpfungsordnung koalierte auf eigentümliche Weise mit dem Kairos-Begriff, der in seiner Offenheit und faszinierenden Bedeutungsfülle eine geradezu sprachmagnetische Anziehungskraft besaß,238 fatalerweise aber eine Identifikation des bestimmten historischen Augenblicks mit der „Stunde des Nationalsozialismus“ erlaubte. So erfolgte – über (vermeintliche) ideologisch-weltanschauliche und (partei-)politische Grenzen hinweg – eine Aneignung des Zentralbegriffs der religiösen Revolution aus den 1920er Jahren, deren Vorkämpfer – wie Paul Tillich – für den religiösen Sozialismus eintraten239: „Für Paul Tillich erwiesen sich Weltkriegsende und Revolutionswirren, die von ihm im Einklang mit der großen Mehrheit der Deutschen als Zeit der Krise wahrgenommen wurden, als Kairos für antiliberale Neugestaltung von Gesellschaft, Kultur und Theologie.“240 Heute gilt das Konzept der Schöpfungsordnung weitgehend als „kontaminiert“; zumindest würde wohl kaum jemand diesen Begriff vorbehaltlos affirmativ gebrauchen. Treffend bemerkt Torsten Meireis: „Als problematisch erweist sich dabei einerseits die letztlich unvermittelte Legitimation und Fixierung bestimmter historischer Gestalten des Sozialen, die etwa in der Überhöhung der Kategorie des ‚Volks‘ 236

Ansbacher Ratschlag, (3. These) zit. nach K.D. Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. Bd. 2: Das Jahr 1934, Göttingen 1935, 103. In der 5. These, welche die Grundlagen der gemeinsamen theologischen Arbeit der Unterzeichner summiert, heißt es: „In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ‚frommen und getreuen Oberherrn‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ‚gut Regiment’, ein Regiment mit ‚Zucht und Ehre‘ bereiten will.“ Vgl. zum Ansbacher Ratschlag auch Mildenberger, Theologie, 217–220. 237 Honecker, Einführung, 296. 238 So Christophersen, Geschichte, 13. 239 Vgl. ebd.: „Flankiert von zahllosen Trabanten, von suggestiven Formeln wie: der rechte Augenblick, die erfüllte Zeit, der besondere Moment, oder auch: Forderung des Tages, der Stunde feierte er Triumphe gerade im Religiösen Sozialismus, der nach verlorenem Ersten Weltkrieg und, angeregt durch Schweizer Vorbilder, seine Zeit gekommen sah – die Zeit konsequenter Gesellschaftsumbildung im Zeichen theologischer Reflexion und politischer Entscheidungsrhetorik.“ 240 Ebd.

216

V. Mit vertauschten Rollen?

im Nationalsozialismus grell ins Auge sticht, andererseits aber auch die ungeklärte Differenz von kultureller Gestaltbarkeit und behaupteter göttlicher Setzung.“241 Eindringlich wird deshalb gemahnt: „Da diese Position bekanntlich eine antidemokratische Tendenz hatte und zur Legitimation des Nationalsozialismus als Gottesordnung […] führen konnte, muss heute der Begriff der Schöpfungsordnung mit großer Vorsicht verwandt werden“.242 Der Anpassungsbereitschaft des Protestantismus gegenüber der Naziherrschaft wurde durch einen theologischen Kampfbegriff wie den der Schöpfungsordnung Vorschub geleistet. 243 Er diente der Legitimation der konservativen Revolution. Insofern handelt es sich um ein eindeutiges Negativbeispiel für die Anwendung neulutherische Ordnungstheologie. Es zeigt die Problematik der sich auf sie berufenden Argumentationsfiguren und lässt eine entschiedene Absage plausibel erscheinen. Offenkundig wird die Problematik der Schöpfungsordnungen an einem weiteren, zweiten Beispiel und zwar im Zusammenhang der Homosexualitäts-Debatte: „[D]ie scharfe Ablehnung durch die christlichen Kirchen als Sünde und Verletzung der göttlichen Schöpfungsordnung [hat] die Pathologisierung von Homosexualität gefördert.“244 Der bereits erwähnte Emil Brunner, der beispielhaft für viele zitiert sei, hält die monogame, heterosexuelle Ehe für eine göttliche Schöpfungsordnung. Aus der gegebenen Schöpfung würden sich Gründe ableiten lassen, „warum ein Mann mit einem Weibe in ehelicher Liebe verbunden sein soll. […] Die eine der Tatsachen ist die, dass jeder Mensch unwiderruflich eines Mannes und eines Weibes Kind, dass jeder Vater unwiderruflich mit diesem Weib und jedes Weib unwiderruflich mit diesem Mann dieses Kindes Vater oder Mutter ist. […] Die andere, zunächst, wie es scheint, damit in keinem Zusammenhang stehende Tatsache, ist die der menschlich-geschlechtlichen Liebe. Auch in ihr liegt der Hinweis – nicht mehr, aber auch nicht weniger! – auf das von

241

T. Meireis, Ethik des Sozialen, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (265–329) 269. 242 Ch. Frey u.a., Repetitorium der Ethik für Studierende der Theologie, Waltrop 3 1997, 203. 243 H.-R. Reuter / T. Meireis, Ethik, in: W. Marhold / B. Schröder (Hg.), Evangelische Theologie studieren. Eine Einführung, Lehr- und Studienbücher zur Theologie 3, Münster 22007, (121–133) 130. 244 F. Surall, Ethik der Lebensformen, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (451–516) 490.

4. Der Begriff der Schöpfungsordnung im Nationalsozialismus und heute

217

uns gesuchte ‚Monos‘. Denn die echte natürliche Liebe ist ihrem Wesen nach ‚monistisch‘.“245 Horst Gorski, der Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, hat im Zusammenhang der Diskussion um ein evangelisches Eheverständnis anlässlich der Einführung der sog. „Ehe für alle“ (2017) vom „Theoriedefizit“246 einer Theologie der Schöpfungsordnung gesprochen.247 Er konstatiert: „Schöpfungstheologie als Schlüssel zu einer normativen Ordnung ist aber obsolet geworden.“248 Die Ehe sei zwar weiterhin als „Institution“ aufgegeben,249 lasse sich aber nicht naturrechtlich oder schöpfungstheologisch begründen.250 Indes reicht der „lange Schatten der Ordnungsethik“251 auch hinsichtlich des Eheverständnisses bis weit in die Gegenwart und dominiert das gesamte 20. Jahrhundert, wie sich anhand kirchlicher Stellungnahmen leicht demonstrieren lässt. Die Orientierung an der Normativität von Schöpfungsordnungen wirkt hier nach: Zwar vermeidet man „den Begriff der Schöpfungsordnung und spricht lieber vom biblischen Menschenbild und dem darin zum Ausdruck kommenden ursprünglichen Schöpferwillen Gottes. Doch in der Sache kommt dies auf dasselbe hinaus: Dem biblischen Menschenbild entspricht nur die Geschlechtergemeinschaft von Mann und Frau. Dies wird unterstrichen durch die Musterung der einschlägigen Bibelstellen zur Homosexualität, welche zu dem Ergebnis kommt, dass ‚homosexuelle Praxis‘ dem Willen Gottes widerspricht.“252 Dass diese ordnungstheologische Argumentationsfigur auch hermeneutisch unzureichend ist, muss hier nicht weiter demonstriert werden. Wichtiger ist an dieser Stelle, ihre Wirkmächtigkeit und damit immense ethik245

Brunner, Gebot, 329–331. H. Gorski, Schleichender Prozess. Die Entwicklung neuer Kriterien für das evangelische Eheverständnis, Zeitzeichen (1/2019), (8–11) 9. 247 Zur Überwindung dieses Paradigmas vgl. auch R. Hess, „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“. Biblisch-(de)konstruktivistische Anstöße zu einer entdualisierten Eschatologie der Geschlechterdifferenz, in: dies. / M. Leiner (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. J. Christine Janowski zum 60. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2005, 291–323. 248 Gorski, Prozess, 9. 249 Vgl. auch M. Hofheinz, Im Bund. Theologische Impulse zur Sexual- und Sozial­ ethik, Solingen 2020, 64–84. 250 Vgl. Gorski, Prozess, 11. 251 R. Anselm, Veränderungsdynamiken im evangelischen Eheverständnis – Reaktionen und Progressionen im 20. und 21. Jahrhundert, epd-Dokumentation 06/2019, (51–59) 52. 252 J. Fischer, Homosexualität und Kirche – eine unendliche Geschichte. Zu einem Lehrstück über den Sinn ethischer Debatten, in: ders., Handlungsfelder angewandter Ethik. Eine theologische Orientierung, Stuttgart u.a. 1998, (95–105) 99. 246

218

V. Mit vertauschten Rollen?

geschichtliche Bedeutung zu zeigen, wozu die eheethische Exemplifizierung bzw. das Beispiel der Homosexualität-Debatte genügen mag. 5. Epilog Gewiss gehört die Kontroverse zwischen Piper und de Quervain nicht zu den großen, aggressiv ausgefochtenen Intellektuellenfehden der Weimarer Republik, die eine ganz eigene Konfliktqualität aufweisen. Dennoch zeigt sich hier im Kleinen, im – wenn man so will – theologischen Mikrokosmos, wie scharf – zum Teil im Ton und in der Sache – auch zwischen Vertretern solcher Positionen gefochten wurde, die bei aller Differenz breite Schnittmengen aufweisen. Insofern ist das Kleine auf das Große, der theologische Mikro- auf den gesamtgesellschaftlichen Makrokontext hin transparent. In solchen Gefechten spielten Kampfbegriffe wie der der Schöpfungsordnung eine entscheidende Rolle. Sie fungierten als Reizworte in den Diskursen und mobilisierten – in Zustimmung wie Ablehnung. In ihnen ging es um die Ausprägung der Umgestaltungsprozesse der Gesellschaft, die theoriebasiert auf ein geistesgeschichtliches Fundament gestellt werden sollten. Den Kampfbegriffen eignete dabei polarisierende Kraft. Es mag zunächst paradox klingen, im Blick auf die sog. „konservative Revolution“ von einem „Kampfbegriff Schöpfungsordnung“ zu sprechen, zumal diesem Begriff aufgrund seiner konservativen Stoßrichtung zunächst nichts so fern zu liegen scheint wie das Revolutionspathos. Die Paradoxie dieses Kampfbegriffes partizipiert an jener Paradoxie, die bereits dem etablierten Begriff „konservative Revolution“ zu eigen ist, der wie eine contradictio in adiecto anmutet. Die durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass die Instrumentalisierung des „Kampfesbegriffes Schöpfungsordnung“ quer zu gängigen konfessionellen Zuordnungen erfolgte. Ein Lutheraner wie Otto Piper konnte ihn ebenso entschieden ablehnen, wie ein Reformierter wie Emil Brunner sich zustimmend auf ihn berufen konnte. Alfred de Quervain eignet sich indes – wie dargestellt – trotz seiner Nähe zur Ordnungstheologie nicht dazu, vereinnahmend als Repräsentant der Lehre von den Schöpfungsordnungen angeführt zu werden. Zu groß sind seine eigenen Absetzungsbewegungen. Und dennoch zeigt sein Beispiel auch, dass sich die Dialektische Theologie, der er zuzuordnen ist,253 vor dem Kirchenkampf nicht einfach zu einem Abbruchereig253

So Göllner, Alfred de Quervain, 113: „Sachlich war Alfred de Quervain in den zwanziger Jahren jedenfalls wie kaum ein anderer darum bemüht, den Bereich der

5. Epilog

219

nis gegenüber Ordnungstheologie und insbesondere der Lehre von den Schöpfungsordnungen stilisieren lässt. Noch ein abschließendes Wort zu den konfessionellen Zuordnungsgepflogenheiten: Gewiss wäre es konfessionspolitisch unfair, pauschal von einer konfessionellen Äquidistanz zur Lehre von der Schöpfungsordnung zu sprechen. Dass sie insbesondere im (Neu-)Luthertum vertreten wurde, ist unverkennbar, wenngleich auch einzelne reformierte Vertreter diese Konzeption aufgreifen bzw. positiv rezipieren konnten. Ihr den Status eines „identity markers“ hinsichtlich der konfessionellen Identität zuzubilligen, trifft gewiss nicht flächig auf das Luthertum zu, allenfalls das Neuluthertum und auch hier nur auf bestimmte Spielarten. Otto Piper ist als Positivbeispiel ein Gewährsmann dafür, dass sich solche simplifizierenden Zuordnungen als unzulänglich erweisen. Seine Stimme glich jedoch in der untergehenden Weimarer Republik leider zu sehr der eines einsamen Rufers in der Wüste (vgl. Mk 1,2f.).

Ethik und insbesondere der politischen Ethik im Sinne der dialektischen Theologie zu durchdenken.“

VI. Was für ein Calvinist?! Einige Antwortversuche zu offenen Fragen der Althusius-Forschung1

1. Einleitung Althusius gilt heute als „Prototyp des reformierten Juristen“.2 Nachdem ihn der Rechtsgelehrte Otto von Gierke (1841–1921) gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer „fast rätselhaften Vergessenheit“3 entriss, hat sich dieses Urteil sukzessive manifestiert. Neben den Predigern Johannes a Lasco (1499–1560) und Menso Alting4 (1541–1612) wird er heute als „herausragende Persönlichkeit des Emder Calvinismus“5 gesehen. Er gilt zudem als „der bedeutendste reformierte Staatsrechtler“.6 Doch wer war dieser calvinistische Jurist, der zeitlich ins sog. „konfessionelle Zeitalter“, also die Zeit zwischen dem Augsburger Religionsfrieden (1555) und dem Westfälischen Frieden (1648) nach dem 30-jährigen Krieg, gehört? Diese Frage bildet die übergreifende Ausgangsfrage all der vielen Fragen, die im Folgenden thematisiert werden, und dies aus gutem Grund. Denn in der Althusius-Forschung sind viele Fragen offen, die insbesondere seine Identität als Calvinist 1

Die folgenden Ausführungen gehen auf Thesen zurück, die ich anlässlich meines Rigorosums im Jahr 2007 an der Universität Bern im Fach Kirchengeschichte er­stellte. Ich lege sie hier in einer geringfügig aktualisierten Version erstmals vor. Für die damalige Diskussion danke ich sehr meinen Prüfern Rudolf Dellsperger, Wolfgang Lienemann und Christoph Müller. 2 Ch. Strohm, Recht und Jurisprudenz im Reformierten Protestantismus 1550– 1650, ZSRG.K 92 (2006), (453–493) 454. So auch ders., Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, (71–102) 71. 3 O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik (1880), Breslau 31913, VI. 4 K.-D. Voss / W. Jahn (Hg.), Menso Alting und seine Zeit. Glaubensstreit – Freiheit – Bürgerstolz, Veröffentlichungen des Ostfriesischen Landesmuseums Emden Heft 35, Oldenburg 2012. 5 H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens. Erster und zweiter Teilband, Göttingen 1996, 162. 6 W.-F. Schäufele, Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, LETh 4, Leipzig 2021, 206.

1. Einleitung

221

betreffen.7 Im Hintergrund steht dabei die Diskussion um die konfessionelle Prägung der frühneuzeitlichen Staatslehren.8 Diese Diskussion lässt die Frage in den Vordergrund treten, ob Althusius’ Vorstellungen vom Verhältnis von Staat und Kirche, Religion und weltlicher Obrigkeit reformiert bzw. calvinistisch sind.9 Diese Diskurszusammenhänge werden im Folgenden vorausgesetzt und dabei folgende Fragen nach dieser Einleitung (1.) traktiert: Kann Althusius etwa als ein „Bundesjurist“ bezeichnet werden, der in seiner politischen Theoriebildung Gebrauch von reformierter Föderaltheologie macht (2.)? War er ein calvinistischer Monarchomache oder wie kam es zur Ausprägung einer solch extensiven Widerstandslehre bei Althusius (3.)? Und welche Rückschlüsse lässt das methodische bzw. methodologische Vorgehen in seiner „Politica“ zu? Ist es gerechtfertigt, Althusius als „calvinistischen Ramisten“ zu bezeichnen (4.)? Gibt es so etwas wie frühcalvinistische Säkularisierungstendenzen bei Althusius, so dass man ihn als einen „Säkularisierer“ bezeichnen kann (5.)? Erlauben die Entsakralisierungs- und Verrechtlichungstendenzen in der althusianischen Theoriebildung diese Zuschreibung? Wie verhalten sich dazu etwa die konfessionalisierenden Tendenzen bei Althusius? Konterkarrieren sie nicht diese Attributierung? Schließlich verlangt die Frage nach Althusius’ Stellung zur umstrittenen „Eigengesetzlichkeit“ politischen Handelns eine Klarstellung (6.): Wurde sie von Althusius befürwortet? Hätte sie nicht der „Calvinist Althusius“ ablehnen müssen? Ja, war Althusius überhaupt ein Calvinist oder er7

Einen knappen Forschungsüberblick im Hinblick auf die ältere englischsprachige Debatte gibt S.J. Grabill, Rediscovering the Natural Law in Reformed Theological Ethics, Grand Rapids / Cambridge 2006, 122–129. Vgl. zu diesem Buch die wichtigen Einwände in den Rezensionen von L. Baschera, Zwingliana 34 (2007), 177f. und J.A. Herdt, MoTh 24 (1/2008), 129–132. 8 Zur Problematik der konfessionellen Zuschreibungen vgl. Ch. Strohm, Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen, in: ders. / H. de Wall (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Historische Forschungen 89, Berlin 2008, 1–32. 9 So H. de Wall, Pactum religiosum und kirchliche Verwaltung in der Politica des Johannes Althusius, in: R. von Friedeburg / M. Schmoeckel (Hg.), Recht, Konfession und Verfassung im 17. Jahrhundert. West- und mitteleuropäische Entwicklungen, Historische Forschungen 105, Berlin 2015, (53–65) 54. Einführend: D. Wyduckel, Konfession und Jurisprudenz bei Althusius, in: Ch. Strohm / H. de Wall (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Historische Forschungen 89, Berlin 2009, 167–197; exemplarisch: K. Odermatt, Konfessionelle Einflüsse auf das Berufs- und Amtsverständnis in Althusius’ „Politica“, in: Ch. Strohm / H. de Wall (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Historische Forschungen 89, Berlin 2009, 199–228.

222

VI. Was für ein Calvinist?!

weist sich solch eine konfessionelle Prädikation als irreführend? Die Ausführungen schließen mit einem wirkungsgeschichtlichen Ausblick (7.). Es zeigt sich angesichts der Fülle dieser offenen Fragen, wie wenig die „Identität“ des Johannes Althusius in konfessioneller Hinsicht geklärt ist, insbesondere was die Ausprägung des Calvinismus in seiner politischen Theorie betrifft. Hier besteht Klärungsbedarf. 2. Althusius – ein „Bundesjurist“? Oder: Baut die „Politica“ auf reformierter Föderaltheologie auf? Die im Spätherbst 1584 im Zuge der konfessionell geprägten Politik des Grafen Johann VI. von Nassau-Dillenburg eröffnete Hohe Schule in Herborn („Johannea“) war die erste calvinistische und zugleich gräfliche Hochschulgründung.10 Durch den Gründungsrektor Caspar Olevian (1536–1587) eingeführt, wurde dort die reformierte Föderaltheologie heimisch. Forschungsgeschichtlich ist umstritten, ob und inwiefern die „Politica“ des Althusius ein auf der reformierten Föderaltheologie beruhendes Lehrbuch der politischen Wissenschaft darstellt. Während etwa J.P. Winters11, G. Menk12, Ch. McCoy13 und H.H. Esser14 geltend machen, dass die „Politica“ des Althusius Einflüsse reformier10

Vgl. G. Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584–1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 30, Wiesbaden 1981. 11 P.J. Winters, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1963. 12 Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich, 52; 55f.; 62; 71f.; 87f.; ders., Johannes Althusius (1563–1638). Der Theoretiker des Rechts- und Verfassungsstaates der Neuzeit, in: B. Heidenreich / G. Göhler (Hg.), Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland, Darmstadt / Mainz 2011, (37–67) 54–59. 13 Ch. McCoy, The Centrality of Covenant in the Political Philosophy of Johannes Althusius, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechts­theorie Beiheft 7, Berlin 1988, 187–199. 14 H.H. Esser, Calvin und Althusius. Analogie und Differenz ihrer politischen Theorien, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechts­ theorie Beiheft 7, Berlin 1988, (163–186) bes. 186; ders., Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, (83–97) bes. 97.

2. Althusius – ein „Bundesjurist“?

223

ter (etwa olevianischer) Föderaltheologie in die calvinistische Staatstheorie überführe,15 betonen etwa C.J. Friedrich16 und E. Reibstein17 den auf säkular-naturrechtlichen Begründungen beruhenden Charakter der Rechts- und Staatslehre des Althusius. Sie verstehen Althusius als einen Proponenten der „checks and balances“ in der politischen Theo­ riebildung. Abwägend urteilt im Anschluss an E. Troeltsch etwa Ch. Strohm: Die Lehre des Althusius ist „in Wahrheit ein Schritt über den echten Calvinismus hinaus und ein Mittelglied zwischen ihm und dem klassisch-rationalistischen Naturrecht.“18 M.E. gilt es differenziert zu urteilen: Althusius ist sicherlich nicht einfach als genuiner Vertreter der olevianischen Bundestheologie zu identifizieren, zumal Althusius Olevian nie zitiert.19 Während Ole­vian 15

Vgl. Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich, 72: „Letztlich liefen […] sowohl die reformierte Kirchenorganisation wie auch die Prinzipien der Bundeslehre, die in Olevians zentraler Schrift ‚De foedere gratuiti inter Deum et electos‘ entwickelt waren, auf die Temperierung staatlicher Macht in jener Weise hinaus, wie sie sich in einem nunmehr säkular gewendeten ‚kontraktologischen System‘ bei Althusius wiederfindet.“ So auch ders., Johannes Althusius, 56. 16 C.J. Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975. Vgl. auch ders., Introduction, in: Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the Third Edition of 1614. Augmented by the Preface to the First Edition of 1603 and by 21 hitherto Unpublished Letters of the Author. With an Introduction by C.J. Friedrich, Cambridge 1932, XIII–XCIX. 17 Vgl. E. Reibstein, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaats und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen 5, Karls­ruhe 1955. 18 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausdruck Tübingen 1912, Teilband 2, UTB 1812, Tübingen 1994, 697. Auch E. Hirsch (Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens Bd. 1 [1949], hg. von A. Beutel, Waltrop 2000, 14) bezeichnet die „Politica“ des Althusius als ein „Übergangswerk“, in dem „sich das schillernde Ineinander beider Momente, des biblischen und des rationalen [spiegelt]. Es ist auf der einen Seite mit seiner streng reformiert-kirchlichen Gesamthaltung, mit seiner alles andre zurückdrängenden, den knappen logischen Aufbau allenthalben überwuchernden biblischen Bewährung jeder einzelnen Aussage klar die klassische Vollendung der reformierten Staats- und Gesellschaftslehre des konfessionellen Zeitalters. Es weist auf der anderen Seite mit seinem Gebrauch einer überreich entwickelten Vertragstheorie und mit seiner stark vom Nützlichkeitsstand­ punkt beherr­schten praktischen Rationalität, mit seinem bewußten Vermeiden eigentlich theologischer Gedankengänge schon hinüber in eine neue Zeit.“ 19 C. Malandrino, Politische Theorie und Föderaltheologie, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003,

224

VI. Was für ein Calvinist?!

mit theologischem Interesse den Gnadencharakter20 des in Christus vermittelten und vollendeten Bundes und somit dessen Asymmetrie im Blick auf die ungleichen Bundespartner, also Gott und Mensch, betont, akzentuiert Althusius mit politischem Interesse anhand der mutua obligatio des Bundes (als Sinn jedes Rechtsverhältnisses) die Symmetrie.21 Anders gesagt: Olevian hat föderaltheologisch das Gott-Mensch-Verhältnis im Blick, Althusius hingegen vertragstheoretisch das Mensch-Mensch-Verhältnis.22 Freilich darf man nicht übersehen, dass Althusius kein reiner Vertragstheoretiker ist,23 sondern die Lehre vom doppelten Bund24 übernimmt,25 verstanden als pactum Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, (123–142) 138. Vgl. auch H. Janssen, Das paulinische Gleichnis vom Leibe als Paradigma für die symbiotische Gesellschaft bei Althusius, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie Beiheft 16, Berlin 1997, 99–117. 20 Bereits der Titel von Olevians Hauptwerk „De substantia foederis gratuiti inter Deum et electos“ (1584) ist sprechend. 21 Esser (Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, 95) stellt zum Fehlen einer Widerstandslehre bei Olevian fest, dass das Bundesverhältnis zwischen Gott und Erwählten „nicht auf die mutua obligatio zwischen Fürst und Volk übertragen“ wird. 22 Wie Althusius, so spricht auch Calvin von wechselseitigen Pflichten, durch die „die Obrigkeit oder der Fürst seinem Volk und umgekehrt das Volk seinem Fürsten […] verbunden ist.“ J. Calvin, Auslegung der Evangelienharmonie 1. Teil, übers. von H. Stadtland-Neumann / G. Vogelbusch, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe 12, hg. von O. Weber, Neukirchen-Vluyn 1965, 126. 23 Treffend bemerkt Wyduckel, Einleitung, XXV: „Das Recht zum Widerstand folgt […] nicht allein aus dem zwischen Volk und Magistrat geschlossenen Herrschaftsvertrag und den Fundamentalgesetzen, sondern wird zugleich durch einen weiteren, vor und mit Gott geschlossenen religiösen Bund, das pactum religiosum legitimiert, der nicht nur eine theologische, sondern auch eine politische und rechtliche Funktion hat.“ So auch ders., Althusius und die Monarchomachen, 143. 24 Einen Doppelbund bei Althusius identifiziert auch A. von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, Tübingen 2013, 60. Siehe auch M. Hofheinz, Im Bund. Theologische Impulse zur Sexual- und Sozialethik, Solingen 2020, 26. 25 Ausgeführt in den „Vindiciae contra tyrannos“ (1579) des Philippe Du Plessis-Mornay (1549–1623), der unter dem Pseudonym Stephanus Junius Brutus publizierte. Vgl. S.J. Brutus, Strafgericht gegen die Tyrannen oder die legitime Macht des Fürsten über das Volk und des Volkes über den Fürsten, in: J. Dennert (Hg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, übers. von H. Klingelhöfer, Klassiker der Politik 8, Köln und Opladen 1968, (61–202) 73: „Wir kennen bei der Einsetzung der Könige einen doppelten Bund, zunächst den zwischen Gott, König und Volk, durch den das Volk Gottesvolk wird; zweitens den zwischen König und Volk, der besagt, daß das Volk dem, der gerecht regiert, treu gehorcht.“

2. Althusius – ein „Bundesjurist“?

225

religiosum26 mit Gott und als pactum civilis zwischen Volk und Herrscher.27 Dies zeigt sich in den althusianischen Ausführungen zum Widerstandsrecht und zwar in zweifacher Hinsicht, insofern zum einen den Ephoren oder Ständen sowohl der Schutz der göttlichen Ordnung als auch der Rechte des Volkes obliegt, und insofern zum anderen das Widerstandsrecht gegen den Herrscher sowohl aus der Verletzung der religiösen Pflichten als auch im Verstoß gegen den Bund mit dem Volk erwächst.28 So führt Althusius im berühmten Kap. 38 (§ 33) seiner „Politica“ zur Begründung des Widerstandsrechts aus, „dass die Sache Gottes und die Verpflichtung ihm gegenüber von den Untertanen, wenn nicht ausdrücklich, so doch gewiss stillschweigend, stets als vorzüglicher und ehrwürdiger angesehen wird als der nachfolgende Vertrag zwischen Volk und Magistrat.“29 Es darf also festgehalten werden: Im Blick auf das pactum religiosum steht Althusius durchaus in der bundestheologischen Tradition Olevians oder zumindest in deren Nähe. Grundsätzlich gilt es zu beachten, dass der „Bund“ durchaus die Wurzelmetapher althusianischen Denkens darstellt.30 Bereits mit dem Begriff „pactum“ „leuchtet ein Zusammenhang der Althusiustheorie mit der Föderaltheologie auf, was schon durch die Verwandtschaft der Worte pactum, contractus und foedus signalisiert ist.“31 Nach Althusius 26

Vgl. zum pactum religiosum de Wall, Pactum religiosum und kirchliche Verwaltung in der Politica des Johannes Althusius, 53–65. 27 Vgl. Althusius, Politica XXXVIII,15ff. 28 So treffend Ch. Strohm, Art. Widerstand II. Reformation und Neuzeit, TRE 35 (2003), (750–767) 758 unter Verweis auf Althusius, Politica XXXVIII,3; XXXVIII,11; XXXVIII,37. 29 Althusius, Politica XXXVIII,33. Zit. nach Politik, 394. 30 So Ch. McCoy, Der Bund als Grundmetapher in der Politica des Johannes Althusius, in: H. Deuser u.a. (Hg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. FS für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München 1986, 332–344, treffend. So auch Ch.S. McCoy / J.W. Baker, Fountainhead of Federalism. Heinrich Bullinger and the Covenantal Tradition, Louisville 1991, 50–62. Zustimmend auch: C. Malandrino, Politische Theorie und Föderaltheologie, 138. Vgl. fernerhin: C.A. Zwierlein, Reformierte Theorien der Vergesellschaftung: Römisches Recht, föderaltheologische koinōnia und die consocia­ tio des Althusius, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 191–223. 31 Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 36. Kursivierung: M.H. Vgl. J. Witte, Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrecht im frühen Calvinismus, übers. von A. Glaw, Theologische Anstöße 8, Neukirchen-Vluyn 2015, 25. Vgl. ausführlich C. Malandrino, Foedus (Confoederatio), in: ders. / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbio-

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VI. Was für ein Calvinist?!

pointiert der Bundesgedanke die mutua obligatio und zwar im Sinne des doppelten Bundes, der hinsichtlich der Bundespartner sowohl zwischenmenschlich als auch göttlich-menschlich konturiert ist und so zum charakteristischen Ausdruck für die Korrespondenz von Gnadengabe und Verpflichtung wird. Bezeichnenderweise beruft sich Al­ thusius immer wieder auf die alttestamentlichen Bundesschlüsse und interpretiert sie als Grund und Modell der symbiosis, auf der jede con­ sociatio (Ehe, Sippe, Zunft, Dorf/Stadt, Provinz, Reich) basiert bzw. basieren sollte. Im Sinne einer reformatio vitae, verstanden als Erneuerung allein aus dem Worte Gottes, zeigt sich hier Althusius’ Verwurzelung in der calvinistisch-reformierten Tradition in seinem Gebrauch der Schrift, um den Glauben – vermittelt über die exempla sacra – ins Leben zu ziehen. Mithin können Einflüsse reformierter Föderaltheologie auf die politische Theorie Althusius’ festgehalten werden; es lässt sich aber keine unmittelbare Überführung bzw. direkte Anwendung oder Ableitung feststellen. 3. Althusius – ein calvinistischer Monarchomache? Zur Ausprägung der Widerstandslehre beim Calvinisten Althusius Althusius hat die Lehren der sog. calvinistischen Monarchomachen, deren publizistische Verbreitung insbesondere die sog. „Bartholomäusnacht“ beschleunigte, aufgenommen.32 In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 wurde bekanntermaßen ein Massaker an den Hugenotten und ihrem Führer Admiral Gaspard de Coligny (1519–1572) verübt mit 3.000–4.000 Toten allein in Paris und beinahe 30.000 Toten in ganz Frankreich. Als „Monarchomachen“ (= „Königsbekämpfer“) bezeichnet man mit diesem „polemischen Neologismus“33 „eine Gruppe von politischen Schriftstellern aus Frankreich, Schottland und Spanien, die mit ihren Schriften gegen frühabsolutistische Herrschaftstischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 217–231; ders., The Calvinistic Covenant’s Theology and Federalism: the Experience of Althusius, in: H. de Wall (Hg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 99–132. 32 Vgl. zum Thema vor allem D. Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: E. Bonfatti u.a. (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica methodice digesta des Johannes Althusius, Wolfenbütteler Forschungen 100, Wiesbaden 2002, 133–164; W.H. Neuser, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, HDThG 2, Göttingen 21998, (165–352) 322–324. 33 So M. Ohst, Art. Monachomachen, RGG4 5 (2008), (1407–1408) 1407. Althusius (Politica XXXVIII,106) verwehrt sich gegen diese Bezeichnung.

3. Althusius – ein calvinistischer Monarchomache?

227

ansprüche der Fürsten kämpften, ohne freilich grundsätzlich die Mo­ narchie in Frage zu stellen.“34 Der antihugenottische Terror warf die Frage nach dem Widerstand(srecht) auf: Dürfen sich die Protestanten gewaltsam wehren? Als Instrumentarium zur rechtlichen Stärkung des Widerstandes wollte Althusius das Amt der Ephoren als eigentliches Gegenüber der Stände verstanden wissen. Althusius griff die Konzipierung des antiken, vor allem aus Sparta bekannten Ephorats als des verfassungsmäßig zuständigen Kontrollorgans zur Mäßigung und Begrenzung monarchischer Herrschaft bei Johannes Calvin (1509–1564)35 auf. Althusius betonte deren Legitimität, den Herrscher (zum Schutz der göttlichen Ordnung bzw. der im Herrschaftsvertrag festgeschriebenen Rechte des Volkes) nicht nur zu überwachen, sondern auch abzusetzen. Wie viele andere calvinistisch-monarchomachische Autoren (etwa Theodor Beza [1519–1605], François Hotman [1524–1590] und insbesondere Philippe Du Plessis-Mornay [1549–1623]), so begründete auch Althusius das Widerstandsrecht mit der Verletzung der religiösen Pflichten des Herrschers gegenüber Gott und Mensch. Fand sie statt, „dann traten die Ephoren – die Hüter der Verfassung – auf den Plan, um den eingetretenen Deformationen entgegenzuwirken und ihnen letztlich abzuhelfen. In solchen Fällen war Widerstand von Verfassungsinstitutionen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Was aus der ausdrücklichen Berechtigung zum Widerstand gegen oberste staatliche Institutionen als Konterkarierung oder Aufhebung staatlicher Macht schlechthin interpretiert werden konnte, stellte sich freilich ausschließlich als ein Modell dar, das im Ausnahmefall die Rehabilitierung einer durch Recht bestimmten und auf institutionellem Ausgleich beruhenden Staatlichkeit ermöglichen sollte.“36

Bewegte die frühen Monarchomachen noch die Frage, wer die Tyrannenherrschaft rächt, Gott oder Mensch, so ist Althusius an einer allgemeingültigen, vernünftigen Staatstheorie gelegen.37 Mit der Relati34

So Ch. Strohm, Recht, Macht und Gewissen im frühen Calvinismus, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht, Macht und Gerechtigkeit, VWGTh 14, Gütersloh 1998, (502– 515) 505. 35 Vgl. Calvin, Inst. (1559), IV,20,31. 36 Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich, 77. 37 So Neuser, Dogma und Bekenntnis, 324. So auch Wyduckel (Althusius und die Monarchomachen, 139), demzufolge die Argumentation der Monarchomachen in ihren Streitschriften situativ blieb, während Althusius die Argumente systematisierte und zu einem rechtlich, politisch und gesellschaftlich reflektierten Ganzen zusammenfasste.

228

VI. Was für ein Calvinist?!

vierung der Macht des Herrschers sowie der Stärkung der ephoralen Position entwickelte Althusius monarchomachisches Gedankengut in Richtung auf das moderne Gewaltenteilungsprinzip weiter,38 ohne dass er jedoch bereits die für den liberalen Rechtsstaat konstitutive Trennung der drei Gewalten vertrat. Wilhelm H. Neuser bezeichnet Althusius als den „letzten Monarchomachen“39. 4. Althusius – ein calvinistischer Ramist? Zur Methode der „Politica“ des Johannes Althusius Die Hohe Schule in Herborn („Johannea“) schrieb als verbindliche Lehrmethode im gesamten Unterricht (nach den von Caspar Ole­vian und seinem Schwiegersohn Johann Piscator [1546–1625] ausgearbeiteten Schulgesetzen) die sog. ramistische Philosophie vor,40 die als betont auf Praxis abhebende Wissenschaftstheorie Lerninhalte und Didaktik nachhaltig beeinflusste. Herborn bildete gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Zentrum des Ramismus. Der Ramismus geht zurück auf den französischen Philosophen und Humanisten Petrus Ramus (1515–1572). Sein „gesamtes, umfassendes Werk diente einem Ziel: Im Sinne der humanistischen Kritik an dem maroden Bildungswesen und einem abseitigen scholastischen Wissenschaftsbetrieb sollte eine Alternative aufgezeigt werden. Der spitzfindigen scholastischen Syllogistik sollte die wahre, aus den Traditionen der antiken Rhetorik gespeiste Dialektik entgegengestellt werden. Von einer solchermaßen erneuerten Dialektik ausgehend, versuchte Ramus den gesamten Stoff der artes liberales zu ordnen und mit Hilfe immer neuer, zumeist dichotomistischer Einteilung zu gliedern. Dieses auffällige Bestreben, das

38

Von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, 60) identifiziert eine „Vorform der Theorie der Gewaltenteilung“. 39 Ebd. Zurückhaltender urteilt Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, 164: „Es dürfte […] nicht zweifelhaft sein, dass seine Politik, obwohl aus den monarchomachischen Schriften manches übernommen ist, vom Anspruch wie vom Konzept her wesentlich über diese hinausgeht.“ 40 Zur Schule des Petrus Ramus vgl. Neuser, Dogma und Bekenntnis, 328–330; J.  Moltmann, Zur Bedeutung des Petrus Ramus für Philosophie und Theologie im Calvinismus, ZKG 68 (1957), 295–318 und insbes. Ch. Strohm, Theologie und Zeitgeist. Beobachtungen zum Siegeszug der Methode des Petrus Ramus zu Beginn der Moderne, ZKG 110 (1999), 352–371.

4. Althusius – ein calvinistischer Ramist?

229

Wissen der Zeit mit Hilfe einer visualisierbaren und zugleich simplifizierenden Logik darzustellen,“41

lässt sich auch in Althusius’ „Politica“ beobachten. Ihr liegt ein dichotomes Schema zugrunde,42 das sich eindeutig als ramistisch erweist. Dasselbe gilt auch für Althusius’ Werk „Dicaeologicae libri tres“ (1617),43 bei dem es sich um eine Überarbeitung seines Erstlingswerks „Iuris romanis libri duo“ (1586)44 handelt. Die vollständigen Titel beider Werke machen den methodischen Rückgriff auf die ramistische Logik explizit. Ob und inwiefern die dichotomische Zergliederung allerdings mustergültig zur Anwendung gelangt, darüber lässt sich streiten. In ihr spiegelt sich jedenfalls das methodische Vorgehen der ramistischen Logik / Dialektik zum Erzielen eines nachhaltigen Erkenntnisgewinns (inventio) wider: „Diese vollzieht sich deduktiv: Ein übergeordneter Begriff wird zunächst genau fixiert (definitio); seine Implikate werden sodann in einer absteigenden Folge von Dichotomien weiter entfaltet (divisio); hierdurch entsteht die Möglichkeit, die der Erscheinungswelt inhärente vernünftige Ordnung zur Darstellung zu bringen.“45 Wie für die Ramisten typisch, so findet sich jedenfalls auch bei Althusius „ein hohes Interesse an definitorischer Klarheit mit dem Willen zur Durchsichtigkeit des begrifflich-systematischen Zusammenhangs, der sich auch darin äußert, dass den betreffenden Werken regelmäßig umfangreiche Tabellen und Gliederungsschemata vorangestellt werden. Im ramistisch geprägten Denken kommt so eine sezierende Vernunft zum Vorschein, die die recta in­ tentio im ciceronischen Verständnis hinter sich lässt oder dieser doch einen neuen, ganz anderen, formalen Sinn verleiht. Althusius legt die ramistische Methode sowohl seiner Politik- als auch seiner Rechtslehre in expliziter Weise zu Grunde. Dabei wird die ramistische Methode im Allgemeinen viel weniger konsequent durchgeführt als programmatisch vorgegeben. Das war

41

Strohm, Theologie und Zeitgeist, 352f. Kursivierung: M.H. Vgl. die Darstellung des Schema Politicae in: Althusius, Politik, 9–12. 43 J. Althusius, Dicaelogicae Libri Tres: Totum et universum Jus, quo utimur Methodicé complectentes. Herborn 1617. Vgl. auch die graphischen Darstellungen der Gliederungen der drei Buchteile im Neudruck der Ausgabe Frankfurt a.M. 1649 (Aalen 1967): a.a.O., 1; 518; 592f. 44 J. Althusius, Iuris romanis libri duo. Ad leges Methodi Rameae conformati, Basel 1586. 45 M. Ohst, Art. Ramus, Petrus, RGG4 7 (2004), (33–34) 34. Ohst folgt Ch. Strohm, Art. Ramus, Petrus, TRE 28 (1997), (129–133) 131f. 42

230

VI. Was für ein Calvinist?!

auch schwierig, weil die ramistische Logik selbst uneindeutig blieb, wozu ihre mehrfache Umgestaltung nicht unerheblich beigetragen hat.“46

Althusius hat in transparenter Darstellung und angestrebter Praktikabilität (usus) den Ramismus für die Politikwissenschaft fruchtbar zu machen versucht. Dessen mehr oder weniger konsequente Anwendung liegt nicht nur dem Aufbau und dem Vorgehen zugrunde, sondern ist auch in Details auszumachen; beispielsweise wird bei der Behandlung des ius resistentiae das Vorgehen zur Absetzung einer notorisch und bekanntermaßen (nota) gegen Gottes Gebot verstoßenden Obrigkeit nicht als spontane Revolution des Volkes, sondern als ein geordnetes, von den Ephoren gefordertes Verfahren dargestellt: „Nach der Erkenntnis des Wesens der Tyrannis ist nun nach einem Gegenmittel zu suchen, mit dem sie rechtzeitig beseitigt wird. Dieses besteht im Widerstand und in der Absetzung des Tyrannen. Beides wird allein den Optimaten zugestanden, wie wir […] über die Ephoren ausgeführt haben. Durch den Widerstand verhindern die Ephoren mit Wort und Tat eine Tyrannis des obersten Magistrats, setzen ihn ab oder verweisen ihn aus ihrer Mitte, wenn die Tyrannis nicht heilbar ist und die Rechte des Gemeinkörpers anders nicht wohlbehalten, in gutem Zustand und unversehrt bewahrt werden können und es auch sonst nicht möglich ist, das Gemeinwesen von den Übeln zu befreien.“47

Der Tyrannenwiderstand wird „als ein geregeltes Verfahren positiviert, also in das positive Recht der Lebensgemeinschaft ‚Staat‘ aufgenommen.“48 Dies geschieht allerdings erst seit der zweiten Auflage der „Politica“ von 1610 und wird im Kap. XXXVIII der dritten Auflage (1614) in extenso ausgeführt.

46

Wyduckel, Einleitung, XVI. Kursivierung: M.H. Vgl. Althusius, Politica XXXVIII,28f. Zit. nach Politik, 393. Es folgt darauf die Nennung von Gründen für den Widerstand durch Althusius. Vgl. ders., Politica, XXXVIII,30–35. 48 J.P. Winters, Das Widerstandsrecht bei Althusius, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie Beiheft 7, Berlin 1988, (543– 556) 548. 47

5. Althusius – ein Säkularisierer?

231

5. Althusius – ein Säkularisierer? Entsakralisierungs- und Verrechtlichungstendenzen in der politischen Theoriebildung des Althusius 5.1 Frühcalvinistische Säkularisierungstendenzen bei Althusius Im Protestantismus findet sich sowohl auf lutherischer wie auf reformierter Seite die Überzeugung wieder, dass die weltliche Obrigkeit ihrer Funktion nach die Hüterin beider Tafeln des Dekalogs (custodia utriusque tabulae) sein sollte.49 Diese nach heutigem Verständnis vom weltanschaulich neutralen Rechtsstaat problematische und unhaltbare Aussage treffen etwa Philipp Melanchthon (1496–1560)50 zur Legitimation des „landesherrlichen Kirchenregiments“ und Johannes Calvin in dem magistralen Abschlusskapitel „De politica administratione“ seiner „Institutio“.51 Im konfessionellen Zeitalter setzten jedoch auch Gegenbewegungen ein, die eine Entsakralisierung des Rechts befürworteten und eine relative Autonomie der Rechtssphäre gegenüber der Religion guthießen. Gerne wird diesbezüglich auf zwei geläufige Dikta reformierter Juristen verwiesen, die im Zusammenhang der Genese des Völkerrechts stehen: Zum einen auf das berühmte „etsi deus non daretus“ des niederländischen Remonstranten Hugo Grotius (1583–1645) und zum anderen auf den nicht weniger einschlägigen Satz Alberico Gentili (1552–1608) „Silete theologici in munere alieno“.52 Hier stellt „die Entsakralisierung der politischen und rechtlichen Ordnungen den Ausgangspunkt und die entscheidende Bedingung allen Völkerrechts“53 dar. Auch bei Althusius finden wir eine Annäherung an den Gedanken der vernünftigen Selbstevidenz des Rechts und zwar in der Betonung des Eigenrechts staatlichen bzw. obrigkeitlichen Handelns gegenüber 49

Vgl. zur zweiten Tafel des Dekalogs Althusius, Politica I,23. Vgl. P. Melanchthon, Loci praecipui von 1559, hg. von R. Stupperich, in: Melanchthon Werke Bd. II/2, Gütersloh 21980, 726,26ff. 51 Vgl. Calvin, Inst. (1559), IV,20,9. 52 Vgl. Ch. Strohm, „Silete theologici in munere alieno“. Konfessionelle Aspekte im Werk Alberico Gentilis, in: H. de Wall (Hg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 195–223. Bemüht hat diesen Satz etwa C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 82009, 15. 53 Ch. Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 42, Tübingen 2008, 455. 50

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VI. Was für ein Calvinist?!

kirchlich-religiösen Herrschaftsansprüchen. So zeichnet sich bereits bei Althusius das Bemühen ab, das Recht kirchlich-religiöser Verfügung zu entziehen. Bereits die „methodologische“ Bemerkung des Al­ thusius im Vorwort zur ersten Auflage der „Politica“ (1603) gibt zu denken: „Die Theologen schließlich schärfen ihm [sc. dem Staatsmann; M.H.] allenthalben die Gebote der Frömmigkeit und christlichen Liebe ein und wollen sogar die praktische Handhabung des Dekalogs zur politischen Richtschnur machen. Meines Erachtens müssen derartige Fragen als in diesem Zusammenhang überflüssig und nicht zur Sache gehörig ausgeschieden und an den Ort, den sie gerechterweise in anderen Wissenschaften haben, verwiesen werden.“54

Diese Ausführungen sind auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung Althusius mit den Herborner Theologen, namentlich Johann Piscator, Matthias Martinius (1572–1630) und Wilhelm Zepper (1550–1607), über die Gegenwartbedeutung des mosaischen Rechts im Verhältnis zum kaiserlichen Recht zu verstehen:55 „Vordergründig ging es um die grundsätzliche Frage, welche Teile des mosaischen Gesetzes in der Gegenwart noch gültig seien und inwieweit sich die weltliche Gesetzgebung am biblischen Gesetz zu orientieren habe. Konkret wurde das an dem Problem, mit welcher Strafe Diebstahl zu ahnden sei. Die Theologen sahen die Todesstrafe nur in den Fällen als angemessen an, in denen sie nach dem im mosaischen Gesetz offenbarten Willen Gottes vorgesehen war. Althusius hingegen orientierte sich in dieser Sache primär am römischen Recht mit deutlich strengeren Strafen.“56

Das Selbstbewusstsein, mit dem Althusius den Theologen mit Blick auf die Bibelauslegung entgegentrat, zeigt, dass er sie nicht nur als deren Domäne betrachtete und zwar aufgrund dessen, dass „die Bibel nicht nur Aussagen zu Heilsfragen und Fragen individueller Lebensgestaltung [enthält], sondern ebenso beispielhafte Aussagen zu Recht und Staat. Und aus diesem Wissen kann der Jurist bzw. Politiker schöpfen, ohne der Deutungshoheit der Theologen unterworfen zu sein. Diese 54

Zit. nach Althusius, Politik, 18. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung P. Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius mit den Herborner Theologen (1601), in: F. Quarthal / W. Setzler (Hg.), Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. FS für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1980, 16–32. 56 Strohm, Calvinismus und Recht, 222. 55

5. Althusius – ein Säkularisierer?

233

bezieht sich abgesehen von den Heilsfragen lediglich auch auf das moralische Gesetz, nicht aber auf das Judizialgesetz bzw. die politischen Gestaltungsmaximen.“57 Hier zeigt sich: Althusius sieht „die Bibel im Sinne des reformierten Protestantismus nicht nur als Zeugnis des Heilshandeln Gottes, sondern auch als mehr oder weniger normativ verstandenes Exempelbuch für alle möglichen Bereich der Weltgestaltung.“58 Bereits bei Althusius ist eine Entsakralisierungstendenz hinsichtlich des Rechts erkennbar, die sich näherhin als Verrechtlichungstendenz interpretieren lässt.59 Wie Ch. Strohm plausibel gemacht hat, lässt sich dies am Beispiel des besonderen Gebrauchs, den Althusius von den exempla sacra in seiner „Politica“ macht, zeigen. Der volle Titel seines Hauptwerkes „Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata“ weist bereits auf die Bedeutung derselben hin. Seit langem gibt die Vielzahl, ja „Überfülle“ der dort von Althusius angeführten Bibelstellen Rätsel auf. Die umstrittene „Preisfrage“ der Althusius-Forschung lautet, ob sie eher illustrativen bzw. ornamentalen oder inhaltlich normierenden Charakter haben. Entsprechend ihrer Beantwortung lässt sich eine Zuordnung zu den beiden großen forschungsgeschichtlichen Interpretationsansätzen vornehmen. Während diejenigen, die den inhaltlich normierenden Charakter der exempla sacra betonen,60 die „Politica“ der Tendenz nach als „ein auf der Theologie Calvins beruhendes Lehrbuch der politischen Wissenschaft“61, als eine Überführung reformiert-theologischer Grundentscheidungen in die Staats- und Rechtstheorie verstehen,62 akzentuie57

A.a.O., 221. A.a.O., 223. 59 Die Entsakralisierungstendenz ist nach Strohm kein auf Althusius zu reduzierendes, sondern ein allgemeines frühcalvinistisches Phänomen. Strohm kommt etwa auch im Blick auf Lambertus Danaeus (1530–1595) zu ähnlichen Ergebnissen Vgl. Ch. Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Bei­ spiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, AKG 65, Berlin/New York 1996, 517ff. 60 Zu den exempla sacra vgl. H. Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, EHS XXIII/445, Frankfurt a.M. 1992; K.H. Rengstorf, Die exempla sacra in der Politica des Johannes Althusius, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie Beiheft 7, Berlin 1988, 201–212. 61 Winters, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 270. So auch ders., Johannes Althusius, in: M. Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, München 31995, (29–51) 33. 62 Vgl. z.B. Esser, Calvin und Althusius, 163–186; ders., Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, 83–97; Ch. McCoy, The Centrality of Covenant in the Political Philosophy of Johannes Althusius, 187–199; G. Menk, Die 58

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VI. Was für ein Calvinist?!

ren diejenigen, die in der Politica allein eine säkulare Begründung der Rechts- und Staatslehre erkennen können, den illustrativen Charakter der Bibelstellenverweise.63 5.2 Die Dialektik konfessionalisierender und säkularisierender Tendenzen bei Althusius Die Althusius-Forschung bemüht sich, diese verfahrene forschungsgeschichtliche Konstellation zu überwinden, indem sie besagte Frontstellung als falsche Alternative zu überführen versucht. Dieser Weg ist m.E. weiterführend. So macht etwa Ch. Strohm eine für die althusianische Rechtslehre charakteristische „Dialektik von konfessionalisierenden und säkularisierenden Tendenzen“64 transparent und zwar anhand der Übertragung ursprünglich streng gemeindebezogener Bibelstellen aus ihrem „religiösen“ Kontext in einen allgemeinmenschlichen. Diese Übertragung erweist sich, wie Strohm anhand der paulinischen Charismenlehre (in 1Kor 12) zeigen kann, als theologisch motiviert:

Hohe Schule Herborn im 16. und 17. Jahrhundert, in: J. Wienecke (Hg.), Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn 1584–1984. FS zur 400-Jahrfeier, Herborn 1984, 22–37; E. Wolf, Johannes Althusius, in: ders., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1963, 177–219. 63 Dass der illustrative Charakter keineswegs notwendigerweise auf einem säkularen Begründungsversuch des Rechts beruhen muss, sondern auch auf die humanistische Herkunft und das didaktische Grundanliegen des Althusius zurückgeführt werden kann, macht H. Hollenstein (Schule und Erziehung bei Althusius, Calvin und Comenius in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung, in: F.S. Carney u.a. [Hg.], Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 7–22, 8ff.) geltend. Hollenstein weist zugleich darauf hin, dass die in der humanistischen Tradition stehenden exempla sa­ cra et profana, sofern sie illustrativ als Medium bzw. Lehrmittel eingesetzt werden und deswegen auch promiscue gebraucht werden können, nicht einfach dem konfessionell-theologischen Usus entsprechend als dicta probantia dienen. Ich halte diese Einordnung durchaus für plausibel. Sie muss der im Folgenden im Anschluss an Ch. Strohm vorgetragenen Erklärung nicht notwendigerweise widersprechen. Beide Deutungen verhalten sich m.E. nicht alternativ, sondern komplementär im Sinne einer wechselseitigen Stützung. 64 Ch. Strohm, Althusius’ Rechtslehre im Kontext des reformierten Protestantismus, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, (71–102) 92.

5. Althusius – ein Säkularisierer?

235

„Die paulinische Charismenlehre in 1Kor 12, die angesichts von Konflikten in der Gemeinde die Verschiedenheit der Geistwirkung hervorhebt, wird bei Althusius zu einem der Grundtexte, die das Programm einer umfassenden Reformation nicht nur der Lehre, sondern auch des Lebens begründen. Ganz auf der Linie Luthers und Calvins, aber eben konsequenter, sieht der Jurist Althusius in 1Kor 12 die biblische Begründung dafür, dass die unterschiedlichen Begabungen und Berufe in der gottgewollten vita activa zur Anwendung kommen sollen.“65

In dem von Paulus in den Blick genommenen Gemeindemodell sieht Althusius – ebenso wie in der „politica Judaica“66 – die schlechthin vorbildliche Gesellschaft präformiert bzw. realisiert,67 deren Konstituens die ordnende consociatio symbiotica darstellt. Hier seien die Menschen (und zwar als Individuen und Rechtspersonen) in Reziprozität und Partizipation aneinander gewiesen. Sie würden eine ursprüngliche Bereitschaft zur „Symbiose“, zur Lebensgemeinschaft mit anderen (consociatio) mitbringen. Das paulinische Gleichnis fungiert also 65

Ders., Recht und Jurisprudenz im Reformierten Protestantismus 1550–1650, 461. Althusius (Politik, 14) schreibt im Vorwort zur dritten Auflage der Politica im Jahr 1614: „Häufiger habe ich Beispiele aus der Heiligen Schrift verwendet, weil sie Gott und fromme Männer zum Urheber hat und weil meines Erachtens seit Anfang der Welt kein Gemeinwesen weiser und vollendeter eingerichtet war als das der Juden. Wenn wir bei ähnlichen Sachverhalten und Umständen davon abweichen, so gehen wir in die Irre.“ Vgl. auch den Abschnitt „Althusius und die Politia Judaica“ in: Janssen, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, 54–61. Fernerhin: L. Campos Boralevi, Politia Judaica, in: C. Malandrino / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 281–292. 67 Hier findet sich wiederum eine interessante Parallele zu Calvin, der im Zusammenhang der „politica Judaica“ den figura-Begriff bemüht und die Vorbildlichkeit Israels herausstreicht. So betont H. Scholl (Der Geist der Gesetze. Die politische Dimension der Theologie Calvins dargestellt besonders an seiner Auseinandersetzung mit den Täufern, in: P. Opitz [Hg.], Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, Zürich 2003, 93–125, 109) im Blick auf Calvin treffend: „Das Volk des ATs ist nicht nur vergänglicher Vorschatten der wahren neutestamentlichen Gemeinde, wie die Täufer annehmen, sondern auch figura des Staates als Gabe Gottes in dieser vergehenden Welt.“ So kann Calvin etwa betonen, „daß aller wohlgeordnete Zustand eines Staatswesens ein herrliches Gottesgeschenk ist, – wenn alle einzelnen Stände, wenn Richter und Ratsherren, Soldaten und Anführer, Künstler und Verkündiger in Wechselwirkung einander unterstützen und zum gemeinen Besten des ganzen Volkes zusammenwirken.“ J. Calvin, Auslegung des Propheten Jesaja 1. Hälfte, übers. von W. Boudriot, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe 6, hg. von O. Weber, Neukirchen 1941, 83. 66

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VI. Was für ein Calvinist?!

als „Paradigma für die symbiotische Gesellschaft“68 bei Althusius. Er säkularisiert die Charismen in 1Kor 12 so weit, dass er sie als allgemeinen menschliche „Anlagen“ und „Begabungen“ interpretiert und insofern die Geistesgaben (Charismen) nicht mehr nur auf die Kirchengemeinde beschränkt.69 Diese dispositionsbezogene Säkularisierungstendenz wird – wie Strohm beobachtet – durch Althusius’ Umgang mit biblischen Belegen promulgiert. Die Beigesellung biblischer Belege und solcher römischen Rechts (als exempla profana), die Althusius dem Corpus Iuris Civilis entnimmt, kommt „einer Verweltlichung des Religiösen, einer Entsakralisierungstendenz“70 gleich. Dem entspricht, dass Althusius zwischen römisch-rechtlichen und biblischen Vorgaben bzw. Normen keinen wirklichen Gegensatz, sondern ein harmonisches Komplementaritätsverhältnis sieht.71 Hinter diesem konkordanztheoretisch72 anmutenden Denken wird eine übergeordnete Strategie erkennbar: „Die Bibelstellen erfüllen nicht zuletzt die Funktion, den konsequenten Verzicht auf das kanonische Recht in der Rechtslehre und damit einen radikalen Bruch theologisch zu begründen.“73 Die Bibelbezüge dienen zugleich dazu, die Dignität des Rechts und der Obrigkeit in ihrer Rechtsfunktion theologisch zu legitimieren: „Daß Althusius in seinen Werken in umfassendem Maße auf Bibeltexte zurückgreift, darf nicht den Blick dafür versperren, daß er damit gerade gegen eine falsche Vermengung von Gott und Welt argumentiert, d.h. nicht nur Gott Gott sein lassen, sondern eben auch Welt Welt sein lassen will. So finden weltliche Machtansprüche der Kirche oder auch die Einschränkung der Kompetenz der weltlichen Obrigkeit im Blick auf die Person des Geistlichen den scharfen Widerspruch des Althusius. Um diese Anliegen zu unterstreichen, wird insbesondere auf Röm 13,1–7 als für die von der geistlichen Gewalt unabhängige Einsetzung und Eigenständigkeit der weltlichen Obrigkeit verwiesen. Dieser Text ist nicht zufällig der am häufigsten zitierte Bibeltext in der Politica.“74

68

So Janssen, Das paulinische Gleichnis vom Leibe als Paradigma für die symbiotische Gesellschaft bei Althusius, 99–117. Vgl. auch ders., Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, 70–75. 69 So a.a.O., 255. 70 Strohm, Althusius’ Rechtslehre, 91. 71 Vgl. a.a.O., 88f. 72 Von einer konkordanztheoretischen Denkungsart bei Althusius spricht etwa von Scheliha (Protestantische Ethik des Politischen, 65; 68). 73 Strohm, Recht und Jurisprudenz, 459. Vgl. ders., Calvinismus und Recht, 454. 74 So treffend Strohm, Althusius’ Rechtslehre, 96f.

6. Althusius – ein Befürworter von Eigengesetzlichkeit?

237

6. Althusius – ein Befürworter von Eigengesetzlichkeit? Der Versuch einer Klarstellung Es geht Althusius hierbei wohlgemerkt nicht etwa um die Entlassung der Obrigkeit aus dem Herrschaftsanspruch Gottes, sondern vielmehr ihre Einweisung in und unter denselben. Die Obrigkeit ist für Althusius qua göttlicher Installation selbstverständlich an den Dekalog als Regel und Norm aller Handlungen gebunden. Sie muss ihre Aufgabe in strenger Bindung an ihn ad gloriam Dei ausführen. Ja, Althusius kann sogar das Widerstandsrecht kriteriologisch an den Dekalog koppeln.75 Althusius propagiert also nicht die Eigengesetzlichkeit obrigkeitlichen 75

So kann J. Althusius feststellen, dass „Form, Maß und Ziel“ des Mandats des Herrschers „der Dekalog und die Fundamentalgesetze des Reichs“ (Politica XIX,14; zit. nach Politik, 198) sind. Das Volk erteilt durch einen Ephoren den Auftrag zur Übertragung des Mandats und der Magistrat „gelobt und verspricht, dass er den ihm vorgelegten Gesetzen gemäß nach der ersten Tafel des Dekalogs in frommer und nach der zweiten in gerechter Weise regieren und herrschen werde“ (Politica XIX,31; zit. nach Politik, 202). In dem voluminösen Kapitel XXXVIII („Die Tyrannis und ihre Gegenmittel“), in dem Althusius das Widerstandesrecht entfaltet, greift er mit den Stichworten „pietas et iustitia“, als Inhalt der beiden Gebotstafeln, den Dekalog im Blick auf eine Bestimmung der zwei Arten der Tyrannis auf: „Es gibt zwei Arten der Tyrannis oder der tyrannischen Regierung des Gemeinwesens. Die eine ist auf die Zerstörung und Aufhebung der Fundamentalgesetze des Reiches gerichtet, die andere besteht in einer der Frömmigkeit und Gerechtigkeit entgegengesetzten Verwaltung der Geschäfte und des Vermögens des Gemeinschaftskörpers“ (Politica XXXVIII,5; zit. nach Politik, 389). Als einen der Gründe für den legitimen Widerstand gegen den Magistrat nennt Althusius explizit den Verstoß gegen den Dekalog: „Der erste Grund ergibt sich aus der Natur des Vertrags, der zwischen dem Magistrat und dem Volk bzw. der universalen Gemeinschaft geschlossen wurde. Aufgrund dieses Vertrags ist der Magistrat verpflichtet, den ihm vorgeschriebenen Gesetzen gemäß gerecht und fromm zu regieren, nämlich den beiden Tafeln des Dekalogs und den Gesetzen des Reichs entsprechend“ (Politica XXXVIII,31; zit. nach Politik, 393). Dem entspricht der siebte Grund, „dass die Stände oder Ordnungen des Reichs und sein oberster Magistrat als Versprechende und Verpflichtete gemeinsam dafür einzustehen haben, dass die Gesetze des Dekalogs im Reich beachtet werden“ (Politica XXXVIII,38; zit. nach Politik, 396). Vgl. auch Politica XXXVIII,100: „Deshalb muss man einem Herr­ scher, der etwas gegen die erste und zweite Tafel des Dekalogs vorschreibt, durch Ungehorsam Wider­stand leisten“ (zit. nach Politik, 408). Vgl. zum Widerstandsrecht bei Althusius fernerhin R. von Friedeburg, Widerstandsrecht, Untertanen und Vaterlandsliebe: Die Politica des Johannes Althusius von 1614 und ihre Rezeption in einem ständisch-fürst­lichen Konflikt (1647–1652), in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 261–283; Strohm, Das Verhältnis von theologischen, politisch-philosophischen und juristischen Argumentationen in

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VI. Was für ein Calvinist?!

Handelns gegenüber Gottes Gebot, sondern akzentuiert das Eigenrecht solchen Handelns gegenüber kirchlichen Herrschaftsansprüchen: Gerade weil die weltliche Obrigkeit von Gott eingesetzt ist (Röm 13,1– 7), deshalb hat die weltliche Gewalt ihr eigenes Recht, ein weltliches Recht, das in seiner Weltlichkeit auf die Gottesverehrung bezogen ist, wie Althusius mittels der beschriebenen Beigesellung als „Beweisführung“ für die Koinzidenz von römischem und biblischem Recht zu demonstrieren bemüht ist. Wie sein Gebrauch der Bibel zeigt, ist Althusius also mit anderen Worten an der Dissoziierung von Religion und Justiz, der Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem gelegen. Mit dieser Intention bewegt sich Althusius zweifellos im Rahmen der Zwei-Reiche-Lehre, die kein lutherisches Sondergut darstellt, sondern reformierterseits, bei Calvin76 angefangen bis hin zu Karl Barths Unterscheidung von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946),77 trotz aller Modifikationen gegenüber Luther einen festen und zentralen Ort in der politisch-ethischen Theoriebildung besitzt.78 So stellt Strohm treffend fest:

calvinistischen Abhand­lungen zum Widerstandsrecht, 141–174; Winters, Das Wider­ standsrecht bei Althusius, 543–556. 76 Zur Zweireiche-Lehre bei Calvin vgl. M. Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 132–136. 77 M. Beintker (Die politische Verantwortung der Christengemeinde im Denken Barth, ZDTh 12 [1996], 149–174, 158) spricht sich – wie bereits vor ihm E. Wolf (Barmen. Kirche zwischen Versuchung und Gnade, BEvTh 27, München 1957, 120f.; ders., Königsherrschaft Christi und lutherische Zwei-Reiche-Lehre, in: ders., Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozial­ ethik, München 1965, 207–229, 229), H. Gollwitzer (Die christliche Gemeinde in der politischen Welt, in: ders., Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1962, 1–60; 24f.; 38f.) und H.E. Tödt (Die Bedeutung von Luthers Reiche- und Regimentenlehre für heutige Theologie und Ethik, in: N. Hasselmann [Hg.], Gottes Wirken in seiner Welt. Zur Diskussion um die Zweireichelehre, Band 2: Reaktionen, Hamburg 1980, 52–126, 59) – zu Recht gegen das Ausspielen der Zwei-Reiche-Lehre gegen die Konzeption der Königsherrschaft Christi aus und liest die 5. Barmer These, die Barth in „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ als Referenzrahmen gebraucht, in Verbindung mit Barmen II „als konstruktive Reinterpretation – justament der Zwei-Reiche-Lehre“. Barth kritisiert lediglich deren dualistische Interpretation, die eine Distanzierung der beiden Reiche bzw. Regimente lehrt, ohne deren Bezug zueinander hinreichend kenntlich zu machen. 78 Vgl. M. Hofheinz, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschaulich neutrale Rechtsstaat, in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Göttingen 2017, (343–369) 368f.

7. Wirkungsgeschichtlicher Ausblick

239

„Althusius bewegt sich in den Bahnen des epochemachenden Entsakralisierungsschubes, der mit Luthers konsequenter Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments verbunden war, mit allen beschriebenen Konsequenzen für das Person- und Sachrecht. Die Fülle der Bibelstellen-Verweise darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich gerade so – gleichsam biblisch begründet – von der Vermischung von Gott und Welt im kanonischen Recht distanziert.“79

Bei Althusius zeigt sich beispielhaft, „wie gerade der für die Reformierten charakteristische Anspruch, die Reformation des Lebens mit Hilfe einer dem Wort Gottes gemäßen Gestaltung aller Lebensbereiche voranzutreiben, eine spezifische Dialektik beinhaltet. Der konsequent durchgeführte Anspruch, den Glauben ins Leben zu ziehen, ist mit einer Verweltlichung des Religiösen, einer Entsakralisierungstendenz verbunden.“80 7. Wirkungsgeschichtlicher Ausblick Die Wirkungen, die Althusius geschichtlich hinterließ, verlaufen keineswegs geradlinig. In Emden dürfte ihn ebenso wie in Wittgenstein, im Siegerland und im Dillkreis – von wenigen „Eingeweihten“ abgesehen – kaum jemand kennen bzw. ideengeschichtlich etwas Bahnbrechendes mit ihm verbinden,81 obwohl die Lehre des Althusius konzeptionell durchaus eng auf den Erfahrungshorizont kleiner Territorien wie eben Wittgenstein, Nassau-Dillenburg und Ostfriesland bezogen ist.82 Allenfalls Schulen wie das Berleburger oder Emder Gymnasium erinnern an ihn, wobei Schule und Erziehung bei Althusius höchste Bedeutung für das Gemeinschaftsleben zukommt.83 Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren seine Werke nicht mehr gefragt, zumal nach dem „Westfälischen Frieden“ (1648) das Weiterverfolgen der Ziele reformierter Politik als konsens- und ordnungsgefährdend erschien und monarchomachische Elemente eher als konfliktförderlich denn als pazifizierend eingeschätzt wurden.84 79

Strohm, Althusius’ Rechtslehre, 98. A.a.O., 91. 81 So Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 21f. 82 Vgl. Wyduckel, Einleitung, XXXIX. 83 Dies hat Hollenstein (Schule und Erziehung bei Althusius, Calvin und Comenius in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung, 7–22) gezeigt. 84 So Wyduckel, Einleitung, XL. 80

240

VI. Was für ein Calvinist?!

Dieter Wyduckel zufolge erschienen vier Faktoren bzw. Argumente aus zeitgenössischer Perspektive anstößig und kritikwürdig: „[E]rstens, dass die Oberherrschaft oder höchste Gewalt grundsätzlich nicht beim Herrscher, sondern beim Volk bzw. den Untertanen liege (Souveränitätsargument), zweitens, dass dies zur Folge habe, den Herrscher wie einen bloßen Bevollmächtigten oder abhängigen Diener zu betrachten, dem keine Gewaltenfülle, sondern nur eine Amtsgewalt zukomme (Magistratsargument), sowie drittens, dass für den Fall, dass die Obrigkeit nicht gut regiere, d.h. die ihr eingeräumten Rechte überschreite, den Untertanen ein Recht zum Widerstand zustehe mit der Befugnis, den Herrscher ggf. abzusetzen, ja ihn als Tyrannen u.U. sogar zu töten (Widerstandsargument). Hinzu tritt unter spezifisch rechtlichem Aspekt die Vorstellung, dass der Herrscher keine absolute Macht besitze, sondern rechtlich gebunden sei und die gesamte politische Ordnung auf einer vertraglich vereinbarten, fundamentalgesetzlichen Grundlage beruhe (konstitutionelles Argument).“85

Anders sieht die Wirkungsgeschichte im internationalen Kontext aus. Insbesondere im US-amerikanischen Zusammenhang gilt Althusius als politischer Theoretiker von Rang, ja mit Weltgeltung versehen. Immer wieder liest man, dass sogar die Väter der amerikanischen Verfassung mit den Gedanken des Althusius vertraut waren.86 Es wird vermutet, dass Althusius über die calvinistisch-puritanische Lehre Eingang in die „neue Welt“ fand.87 Direkte Bezüge zum sog. „Mayflower Compact“88 von 1620 lassen sich indes kaum herstellen. Und doch erinnert z.B. der Aufruf in der „New England Confederation“ (1643), eine Konsozia­ tion zu gegenseitiger Hilfe und Stärkung zu bilden, durchaus an Althu85

Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, 138. Vgl. Dahm, Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter, 22: „Für viele Amerikaner und nicht nur für akademische Lehrer gilt er als einer der Vorväter und Inspiratoren der amerikanischen Verfassung“. So auch H. Hollenstein, Johannes Althusius: sein Leben und Denken – ein kurzer Überblick, in: ders., Des Keisers fürstliches Versteck, Bad Berleburg 2005, (17–25) 20. 87 Vgl. Menk, Zwischen Westeuropa und dem Heiligen Römischen Reich, 49ff.; J. Witte, Jr., Covenant Liberty in Puritan New England, in: F.S. Carney u.a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposiums zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603–2003, Beiträge zur Politischen Wissenschaft 131, Berlin 2004, 169–189; M. Scattola, Die Lehre vom Vertrag in der Föderaltheologie der ersten englischen Puritaner, in: H. de Wall (Hg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 99–131. 88 Der Mayflower Vertrag (11. November 1629), in: H. Schambeck / H. Widder u.a. (Hg,), Dokumente der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 22007, 19f. 86

7. Wirkungsgeschichtlicher Ausblick

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sius. So heißt es etwa in deren Präambel, dass es gelte, „to enter into a present consociation amongst ourselves, for mutual help and strength in all our future concernments.“89 Hier artikuliert sich durchaus althusianischer Geist. Geistesgeschichtlich lassen sich über den Gedanken der Volkssouveränität und des Gesellschaftsvertrages auch Bezüge zum französischen Aufklärungsphilosophen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) herstellen, der Althusius gekannt haben bzw. mit den Grundgedanken der „Politica“ vertraut gewesen sein soll.90 Rousseau, seinerseits ursprünglich auch calvinistisch sozialisiert,91 hat 150 Jahre nach Althusius das Verständnis von Demokratie durch Prinzipien der unmittelbaren Volkssouveränität (wie der Direktwahl staatlicher Parlamente durch „das Volk“) und der Gewaltenteilung mit starken Folgewirkungen ausgebaut.92 Auch John Locke (1632–1704) darf genannt werden, bei dem sich die ebenfalls althusianisch anmutende Vorstellung von der rechtlichen Übertragbarkeit der Herrschaftsgewalt, die zur Ausübung anvertraut wird, findet. Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler J. Witte, Jr. hält fest, dass J. Lockes berühmtes Werk „Letter Concerning Toleration“ (Ein Brief über Toleranz) von 1689, das er zu einem Großteil verfasste, während er in liberalen holländischen Kaffeehäu89

Die „New England Confederation“ (1643), in: H. Schambeck / H. Widder u.a. (Hg,), Dokumente der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 22007, 35: „[S]o erachten wir es daher als unsere unentrinnbare Pflicht, ohne Verzug in einem Bund zu gegenseitiger Hilfe und Stärkung in allen unseren künftigen Angelegenheiten zusammenzutreten“. 90 Vgl. D. Wyduckel, Althusius – ein deutscher Rousseau?, in: K.-W. Dahm u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie. Beiheft 7, Berlin 1988, (465–493) 493. 91 Vgl. H. Scholl, Von der Reformation zur Revolution – Die beiden Genfer J. Calvin und J.-J. Rousseau vor der Frage nach sozialer Gerechtigkeit, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 135–158. 92 Die Positionen sind jedoch keineswegs deckungsgleich: „Im Unterschied zu Althusius geht Rousseau davon aus, dass das Volk, ausser der Volksversammlung, über keine politischen Gliederungen verfügen sollte. Strikt lehnt er Formen der Korporation, der Delegation und der Repräsentation ab; sie könnten den Volkswillen verzerren, ja schwächen. Die Französische Revolution folgte ihm hierin und zerschlug die meisten überkommenen intermediären Gemeinschaften zwischen Regierung und Volk. Bis heute zeigen sich die langanhaltenden Folgen in den konfliktreichen Versuchen der zur Provinz herabgesetzten alten europäischen Landschaften, von der Bretagne bis nach Korsika, sich aus dieser Degradierung zu befreien.“ Ch. Bender / H. Grassl, Die calvinistische Ethik und der Geist des Föderalismus, NZZ vom 1.12.2018, unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/johannes-althusius-er-verband-calvinismus-und-foederalismus-ld.1440260 (abgerufen: 22.7.2021).

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VI. Was für ein Calvinist?!

sern saß, „wesentlich restriktiver war als Althusius’ Werk ‚Politica‘, das fünfundsiebzig Jahre zuvor veröffentlich worden war.“93 Dass Althusius, wie sich abschließend festhalten lässt, in seiner Vision von erheblicher Bedeutung für das moderne Verständnis von Gesellschaft ist, lässt sich daran erkennen, dass er immer wieder als Ahnherr innovativer Ideen angeführt wird, etwa als „Vater des modernen Föderalismus“94 oder auch „Vordenker des Subsidiaritätsprinzips“95; ganz zu schweigen vom Widerstandsrecht gegenüber unrechtmäßiger Ausübung von herrschaftlicher Gewalt, einer weiteren rezeptionsgeschichtlich äußerst relevanten Spur, die bis hinein in die Überlegungen der Widerstandskreise gegen das NS-Regime zu verfolgen wäre.96 Es kann summa summarum kein Zweifel bestehen: Johannes Althusius hat mit seiner „Politica“ viele der heute relevanten politiktheoretischen Themen gesetzt und aufgegriffen und einen national wie international höchst beachtenswerten Beitrag zur „reformierten Weltgeltung“ geliefert.

93

Witte, Die Reformation der Rechte, 211. C. Malandrino (The Calvinistic Covenant’s Theology and Federalism: the Experience of Althusius, in: H. de Wall [Hg.], Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 99–131, 120) spricht vom „Althusian protofederalism“. Vgl. zum (Proto-)Föderalismus bei Althusius als Strukturprinzip und Theoriedesign konsozialer Ordnung fernerhin die Beiträge von D.J. Elazar, Th.O. Hüglin, P. Nitschke, D. Wyduckel und R. Zippelius, in: G. Duso u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechts­theorie Beiheft 16, Berlin 1997, 209–305. 95 Vgl. dazu Th.O. Hüglin, Althusius – Vordenker des Subsidiaritätsprinzips: in: A. Riklin / G. Batliner (Hg.), Subsidiarität, Baden-Baden 1994, 97–117; J. Rohls, Subsidiarität in der reformierten Konfessionskultur, in: P. Blickle u.a. (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002, 37–58; C. Malandrino, Subsidiarität in der politischen Praxis des Althusius, in: P. Blickle (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche. Staat und Gesellschaft, Berlin 2002, 237–268; M. Scattola, Subsidiarität und gerechte Ordnung in der politischen Lehre des Johannes Althusius, in: P. Blickle u.a. (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002, 337–367; von Scheliha, Protestantische Ethik des Politischen, 55–68. 96 Winters (Das Widerstandsrecht bei Althusius, 556) bemerkt: „Peter Graf York von Wartenburg hat vor dem Volksgerichtshof den Widerstand gegen Hitler mit dem Hinweis gerechtfertigt, das Wesentliche sei der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen gegenüber Gott gewesen. Das war Geist von des Althusius’ Geist.“ 94

VII. „Just a minor thinker“? Zur Größenordnung in der Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Versuch einer dialektischen Würdigung1

1. Vorbemerkung Als ich vor einigen Jahren einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt am Princeton Theological Seminary antrat, sorgte dies für Irritationen. Ich betonte bei meinen Antrittsbesuchen gegenüber Kolleg*innen, dass ich sowohl am „Center for Barth Studies“ als auch am „Abraham Kuyper Center for Public Theology“ mein „sabbatical“ verbringen wolle. Dieses Ansinnen schien indes schwer vermittelbar zu sein, mindestens ebenso schwer wie die Positionen der Namensgeber beider Institutionen.2 Ein mir wohlgesonnener, älterer Kollege sprach seinen Vorbehalt gegenüber meinen Plänen dann auch recht unverblümt aus: Barth, ja natürlich, aber Kuyper?3 Solch eine Beschäftigung lohne sich nun wirklich nicht. Denn: „He is just a minor thinker!“ An Abraham Kuyper (1837–1920) scheiden sich die Geister.4 Die einen halten ihn für ein „Genie“5, das mit seinen Calvinismus-Vorlesungen den faszinierenden „Versuch einer modernen Fortschreibung 1

Für Hilfestellung bei den Übersetzungen aus dem Niederländischen danke ich herzlich Herrn Prof. Dr. Gerard den Hertog (Apeldoorn) und für wichtige Hinweise Herrn PD Dr. Hans-Georg Ulrichs (Karlsruhe / Osnabrück). 2 Eine Kampfkonstellation identifiziert etwa Th.L. Haitjema, Der Kampf des holländischen Neu-Calvinismus gegen die Dialektische Theologie, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 571–589. 3 Zu Barth und Kuyper vgl. C.B. Anderson, Jesus and the „Christian Worldview“. A Comparative Analysis of Abraham Kuyper and Karl Barth, Cultural encounters 2 (2/2006), 61–80. Vgl. auch den Bonhoeffer/Kuyper-Vergleich von G. Dekker / G.  Harinck, The Position of the Church as Institute in Society: A Comparison between Bonhoeffer and Kuyper, PSB 28 (1/2007), 86–98. 4 Vgl. H.-G. Ulrichs, Wo er auftrat, gab es Krach. Vor hundert Jahren starb Abraham Kuyper, der Begründer des Neucalvinismus, Zeitzeichen 11/2020, 22–24. 5 H.-G. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe des Calvinismus – neu gelesen, Bielefeld 2019, 72. Vgl. auch a.a.O., 13. Fernerhin: N.P. Woltersdorff, Abraham Kuyper (1837–1920), in: J. Witte / F.S. Alexander (Hg.), The Teachings of Modern Christianity on Law, Politics, and Human Nature Vol. 2, New York 2006, (219–248) 219: „He [Kuyper] was an astonishing polymath and an organizational genius.“ Vgl. auch die freilich ganz anders, nämlich evangelikal ausgerichtete Darstellung: J.E. mc-

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VII. „Just a minor thinker“?

[statt Repristinierung] des Calvinismus“6 unternommen habe, für die anderen ist Kuyper „just a minor thinker“. Oder um die Lagerbildung entlang dieser divergenten Wahrnehmung etwas zu variieren: Während ihn die einen für den kühnen Visionär einer zukunftsfähigen „Public Theology“7 und postmodernefähigen christlichen Ethik8 erachten, wehren sich die anderen mit Händen und Füßen gegen seine Impulse und sein Erbe. Welches dieser beiden Lager hat nun Recht? Anders gefragt: Wer und/oder was ist Kuyper – ein großer oder kleiner Theologe? Körperlich war Kuyper nach allem, was wir wissen, kein Goliath und dennoch hatte sein Auftreten – wie biographische Eingaben immer wieder bestätigen – „etwas Imponierendes“. Nicht umsonst wurde er „Abraham der Gewaltige“9 genannt. Dieses (gar einer altorientalischen Gottheit würdige) Epitheton hat er sich gewiss auch in Princeton verdient, wo sein Auftritt anlässlich der „Stone Lectures“10 seine Wirkung Goldrick, God’s Renaissance Man. The Life and Work of Abraham Kuyper, New York 2006 (Reprint). 6 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 59. 7 Dies ist etwa die Auffassung von M.L. Stackhouse (1935–2016). Vgl. dazu F. van Oorschot, Öffentliche Theologie angesichts der Globalisierung. Die Public Theology von Max L. Stackhouse, ÖTh 30, Leipzig 2014, 101–107. Vgl. auch V.E. Bacote, The Spirit in Public. Appropriating the Legacy of Abraham Kuyper, Grand Rapids 2005; J. Bolt, A Free Church, A Holy Nation. Abraham Kuyper’s American Public Theology, Grand Rapids / Cambridge 2001. Vgl. fernerhin: M. Welker, Is Theology in Public Discourse Possible outside Communities of Faith?, in: L.E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, (110–122) 111. 8 So etwa G. Haas, Kuyper’s Legacy for Christian Ethics, CTJ 33 (1998), 320–349. Vgl. auch J.W. Skillen, Why Kuyper Now?, in: L.E. Lugo (Hg.), Religion, Plura­ lism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, 365–372. 9 C. Augustijn, Abraham Kuyper, in: M. Greschat (Hg), Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 9/2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u.a. 1985, (289–307) 298. Vgl. D. van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, (338–359) 348. 10 A. Kuyper, Lectures on Calvinism. Six Lectures Delivered at Princeton University Under Auspices of the L.P. Stone Foundation, Grand Rapids 1931. Dt. Übersetzung: A. Kuyper, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus, gehalten zu Princeton, übers. von M. Jaeger, Gr. Lichterfelde 1904. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle Verweise im Fließtext. Als Kommentar zu den Calvinismus-Vorlesung siehe: P.S. Heslam, Creating a Christian Worldview. Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids / Cambridge 1998. Siehe auch J. Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006, 418–428; J.D. Bratt, Abraham Kuyper: Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids / Cambridge 2013, Kap. 13.

1. Vorbemerkung

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nicht verfehlte. „Er ist ein geborener Schauspieler, der intuitiv weiß, welche Rolle er in einer bestimmten Situation zu spielen hat.“11 Wie ein spanischer Matador erschien er den Anwesenden, die er in seinen Bann zog. Und man fragt sich noch heute: Was macht(e) – abgesehen von Kuypers virtuoser Rhetorik – das Faszinosum dieser Vorlesungen aus? Bevor ich dieser Frage auf dem Hintergrund der politisch-theologischen Ausführungen Kuypers insbes. in der dritten Vorlesung („Der Calvinismus und die Politik“, gehalten am 14.10.1898)12 seiner „Stone Lectures“ nachgehe,13 ist es nötig, einige methodische Bemerkung vorzuschieben.14 Die Frage nach Kuypers Größe beziehe ich dabei, wie zunächst festgehalten werden darf, auf die Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Um Kuypers Denken Fairness widerfahren zu lassen, kann und soll diese Frage differenziert und dialektisch beantwortet werden.15 Ich benenne jeweils Argumente im Stil von Pro und Contra für dessen Größe und Marginalität. Ob dabei im Ergebnis (verteilt auf Pro und Contra) viel Licht und wenig Schatten zu konstatieren sein wird, oder viel Schatten und wenig Licht, wird sich zeigen. Dass indes die Stärken jeweils nur auf dem Hintergrund der Schwächen identifiziert und benannt werden können und sollen, sowie umgekehrt die Schwächen nur auf dem Hintergrund der Stär11

Augustijn, Abraham Kuyper, 298. Vgl. Bolt, A Free Church, 465 („Itinerary of Abraham Kuyper’s Visit to America in 1898“). 13 Vgl. Kuyper, Reformation und Revolution, 71–100. Vgl. als Kommentar zur dritten Vorlesung: Heslam, Creating a Christian Worldview, 142–166. 14 Im Rahmen einer ausführlicheren Studie wäre es unabdingbar, Kuypers „staatskundliche“ Ausführungen in den „Stone Lectures“ mit seinem Spätwerk, namentlich der zweibändigen „Antirevolutionaire Staatkunde“ (Eerste Deel: De Beginselen [Kampen 1916]; Tweede Deel: De Toepassing [Kampen 1917]), zu vergleichen. Besonders aufschlussreich sind etwa die Darstellung des Verhältnisses von Kirche und Staats in: Antirevolutionaire Staatkunde I, 417–486, sowie die Darstellung des Calvinismus (a.a.O., 621–719). Zur Genese vgl. Koch, Abraham Kuyper, 546–555. 15 Treffend stellt W. Kreck (Rechter und falscher Respekt vor dem Bekenntnis der Väter, in: W. Herrenbrück / U. Smidt [Hg.], Warum wirst Du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, 67–78, 67f.) fest: „[W]ir möchten weder zu denen gehören, die in blinder Autoritätsgläubigkeit nur die Gräber der Propheten schmücken, noch zu den theologisch meist leicht befrachteten ewigen Besserwissern, welche die Geschichte der Theologie und Kirche mit sich selbst beginnen lassen, sondern wir gedenken der Väter mit einer Dankbarkeit und Verehrung, aber auch in einer Freiheit, die ich als kritischen Respekt bezeichnen möchte.“ Bei Kuyper (Reformation wider Revolution, 17) heißt es: „Der Calvinismus hat dem Genie nie Weihrauch gestreut. Er hat seinen Helden kein Standbild errichtet, kaum daß man ihren Namen nennt.“ 12

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ken, halte ich im Sinne einer differenzierten und dialektisch verfahrenden Urteilsbildung für ausgemacht. Keine ernsthafte Würdigung wird ohne Kritik auskommen können und keine ernsthafte Kritik ohne Würdigung. Jede Würdigung beginnt mit einer Kritik und jede Kritik mit einer Würdigung. Da es mir im Folgenden um einen Versuch geht, Kuypers politisch-theologisches Denken dialektisch zu würdigen, beginne ich eo ipso mit einer Kritik. Auf dem eingeschlagenen kritischen Weg zeigt sich: Man muss erst einmal bestimmte Schichten abtragen und freilegen, bevor man zu brauchbarem Material vorstößt. Eine solchermaßen stratifizierende Hermeneutik, die gleichsam archäologisch birgt, soll den im Folgenden entfalteten Versuch leiten. Diese Versuchsanordnung dient einem recht verstandenen „Annäherungsversuch“ an Kuyper und sein politisch-theologisches Denken.16 2. Anfälligkeiten oder: Die Schwächen im politisch-theologischen Denken Abraham Kuypers Etwas hemdsärmelig formuliert: Um Kuyper würdigen zu können, muss man sich erst einmal Luft verschaffen und, um die bellikose Metaphorik Kuypers aufzugreifen,17 eine Kanonade an Kritik und Gravamina loswerden, bevor man auch Stärken benennen kann. Nur auf diesem Hintergrund, gleichsam dialektisch eingebettet, wird eine Würdigung erfolgen können. Salopp formuliert: Man muss erst einmal schimpfen wie ein Rohrspatz, bevor man einen leisen Lobgesang anzustimmen vermag. Dazu komme ich nochmals auf die Faszination zurück, die von Kuypers „Stone Lectures“ ausging. Sie ist sicherlich zu einem Gutteil auf eine gewisse Einseitigkeit zurückzuführen, mit der Kuyper seine Geschichtskonstruktion durchführt. Seit Hayden White wissen wir ja, dass Historie auch eine rhetorische Gattung ist, die sich bei den Grie-

16

Vgl. M. Hofheinz, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschauliche neutrale Rechtsstaat, in: M. Freudenberg / G. Plasger (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 14, NeukirchenVluyn 2011, 51–77 (wiederabgedruckt in: ders., Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 9, NeukirchenVluyn 2017, 343–369). 17 Vgl. dazu Augustijn, Abraham Kuyper, 299.

2. Anfälligkeiten

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chen aus dem Epos entwickelt hat.18 Kuypers Einseitigkeit ist auf das Engste mit der hohen Dosis Selbstbewusstsein verknüpft, die er dem „Calvinismus“ injiziert. Einer meiner Studenten hat es nach einer Kuyper-Sitzung in einem Seminar auf den Punkt gebracht: „Kuyper lesen ist wie eine Überdosis Anabolika für den reformierten Zehnkampf des Lebens. Man verspricht sich Muskelkraft und gerät dabei doch nur in die ständige Gefahr des Herzversagens.“ Hat der Student nicht Recht? 2.1 Heroistisch-hagiographische Anfälligkeiten: Kuypers homogenisierendes Calvinismus-Narrativ Bereits wenn wir fragen, was das denn sei – der Calvinismus, werden wir dessen ansichtig, was Kuyper überbetont und/oder ausblendet. Der Calvinismus beginnt für Kuyper – anders als etwa bei Troeltsch19 – mit Calvin20, nicht etwa mit Zwingli, und endet in der Gegenwart, also für Kuyper gewissermaßen mit Kuyper. Dazwischen rekonstruiert er eine betont breite Traditionslinie (vgl. 8f.), die von der amerikanischen Revolution (1763–1783), über die „Glorious Revolution“ (1688/89) gegen das Stuartkönigtum, über Wilhelm den Schweiger, den Führer im niederländischen Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien (1568–1648), bis hin zu Calvin verläuft (vgl. 78–80). In dieser Sukzession sieht Kuyper das vollmundige Urteil grundgelegt: „Im Calvinismus liegt der Ursprung und die Bürgschaft unserer konstitutionellen Freiheiten“ (71).21 Kuyper neigt hier ganz offenkundig dazu, die kulturelle Prägekraft und den politischen Einfluss des Calvinismus auf die Rechts- und Freiheitsentwicklung sehr hoch einzuschätzen, wenn nicht gar zu überschätzen.22 Anders gesagt: Kuypers Blick auf den Calvinismus ist recht 18

H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übers. von P. Kohlhaas, Frankfurt a.M. 1991. 19 Vgl. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Bd. 2 (1912), UTB 1812, Tübingen 1994 (ND), 681; 752. 20 Genau genommen mit Johannes Calvin und Johannes a Lasco, als dessen Erbe sich Kuyper ebenfalls versteht. So J. Vree, Abraham Kuyper als Erbe a Lascos, in: Ch. Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 14, Tübingen 2000, 357–375. 21 Vgl. A. Kuyper, Calvinism: Source and Stronghold of Our Constitutional Li­ berties (1874), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 279–322. 22 So auch J. Witte, Jr., Die Reformation der Rechte. Recht, Religion und Menschenrechte im frühen Calvinismus, übers. von A. Glaw, Theologische Anstöße 8, Neukirchen-Vluyn 2015, 382.

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verklärt. Er allein sei in der Lage, dem „Sturm des Modernismus“ (4) zu trotzen, wie Kuypers bereits zu Beginn der „Stone Lectures“ und dann auch am Ende (187) staccato einhämmert.23 Kuypers Traditionslinie Calvin, Niederlande, England und USA als „den drei historischen Ländern politischer Freiheit“ (71) repräsentiert ein reduktionistisches Narrativ, das viele andere Traditionsströme ausblendet und zudem das Feindbild der „gottlosen“ französischen Revolution („ni Dieu ni maitre“) (16; 80; 174; vgl. zu deren Terror: 100) kolportiert.24 Immer dann, wenn er auf die französische Revolution zu sprechen kommt, ereifert sich Kuyper regelrecht. Man gewinnt bisweilen den Eindruck, als treibe ihm dann ein obsessiver Antimodernismus ungebremsten Schaum vor den Mund. Die Ironie besteht nun freilich darin, dass Kuyper trotz oder gerade auf dem Hintergrund dieser anti­ modernistischen Invektiven versuchte, den Calvinismus zu modernisieren bzw. „der christlichen Präsenz eine moderne Form zu geben.“25 Kuyper selbst vertritt paradoxerweise einen mit bestimmten modernen Ideen Westeuropas versöhnten, freikirchlich umgeformten und antirevolutionär amalgamierten Heiligungscalvinismus26.27 John Bolt hat bezeichnenderweise von „Abraham Kuyper’s Christian-Historical Political Imagination“ und von „Abraham Kuyper the Poet“28 gesprochen. Die Antithetik (vgl. 78) der beiden Traditionsströme, ja der beschworene Antagonismus zwischen den beiden auf Leben 23

Zum Modernismus, den Kuyper stets von der Moderne zu distinguieren bemüht ist, vgl. A. Kuyper, Modernism: A Fata Morgana in the Christian Domain (1871), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 87–124. 24 Zum Feindbild der französischen Revolution muss man freilich beachten, dass in Deutschland die französisch-demokratischen Traditionen im Grunde genommen erst nach 1945 positiv rezipiert wurden und vorher von nationalem Ressentiment geprägt waren. So W. Grab, Französische Revolution und deutsche Geschichtswissenschaft, in: S. Brink / R. Schoch (Redaktion), Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland, Nürnberg 1989 (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg), 41–58. 25 J. Vree, Art. Kuyper, Abraham, RGG4 4 (2001), (1912–1913) 1912. So auch H. Berkhof, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, Neukirchen-Vluyn 1985, 117. 26 Vgl. A. Kuyper, Perfectionism (1879), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 141–163. 27 Ähnlich R. Barth, „Retter des Protestantismus“. Der Calvinismus in der Sicht Ernst Troeltschs, ZNThG 17 (2010), (162–181) 179. 28 Bolt, A Free Church, 42. So auch ders., Abraham Kuyper as Poet: Another Look at Kuyper’s Critique of the Enlightenment, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 30–41.

2. Anfälligkeiten

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und Tod kämpfen Weltanschauungen Modernismus und Calvinismus (vgl. 4), spielt eine entscheidende Rolle in seiner Geschichtskonstruktion. Legt man Hayden Whites narrative Modellierung (emplotment) zugrunde, so figuriert Kuypers Erzählweise irgendwo zwischen Romanze und Tragödie, nämlich der romanzenhaften Betonung eines ständigen Fortschreitens der Gesellschaft zum Besseren (etwa in Sachen Freiheitsrechte) bzw. des vom Calvinismus errungenen „ewigen Sieg des Guten über das Böse“ einerseits, und der tragödienhaften Beschreibung des Scheiterns der Menschheit in Revolution und Gottlosigkeit andererseits.29 Grautöne treten jedenfalls bei Kuypers stark homogenisierendem Zugriff zurück und ein wahrnehmungs- und differenzsensibles Phänomen wie das der intrakonfessionellen Pluralität innerhalb des „Calvinismus“ entschwindet im Zuge der Kuyperschen Linienführung.30 Kuyper gehört zweifellos zu jenen Nationalkonservativen des 19. Jahrhunderts, die die französische Revolution nahezu31 ausschließlich als Herrschaft der Guillotine und des Schreckens charakterisieren. Zu deren positiver Würdigung zumindest bis zur Jakobinerherrschaft sind sie nicht bereit. Arg reduktionistisch, um nicht zu sagen grobschlächtig, fällt etwa Kuypers Einwand gegen Jean-Jacques Rousseau32 und seine Lehre von der Volkssouveränität aus. Die Ausgangsannahme a) eines fiktiven Naturzustandes, b) eines durch Rechtsverzicht bzw. Rechtsübertragung erzielten Vertrages und c) eines durch Vertragsabschluss erwirkten Staates gehört zum Argumentationsdreischritt aller klassischen Vertragstheorien und kann keineswegs ausschließlich Rousseau zugeschrieben werden. Sie findet sich bei nahezu allen Kontraktualisten, auch bei Thomas Hobbes und John Locke, ebenso wie im Neokontraktualismus der Gegenwart, etwa bei John Rawls.33 Die naive Historizi29

Vgl. White, Metahistory, 21–25. Ähnlich Witte, Die Reformation der Rechte, 383. 31 Immerhin würdigt Kuyper (Reformation wider Revolution, 4) die Vernichtung der Tyrannei der Bourbonen fügt aber sofort hinzu: „[D]as Prinzip der Revolution bleibt antichristlich und hat seither wie ein Krebs weitergefressen, um alles, was für unser christliches Bewußtsein feststand, loszubröckeln und zu unterwühlen.“ 32 Zu Rousseau und den Calvinismus vgl. indes H. Scholl, Von der Reformation zur Revolution – Die beiden Genfer J. Calvin und J.-J. Rousseau vor der Frage nach sozialer Gerechtigkeit, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 135–158. Vgl. zu Rousseau auch K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 51985, 153–207. 33 Vgl. M. Hofheinz, „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik, ZThK 117 (2/2020), 164–195. 30

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tät des Gesellschaftsvertrages34 wird hingegen von keinem Kontraktualisten vertreten.35 Kuyper verkennt mit seiner Rede vom „Wahn einer auf Fiktion begründeten Volkssouveränität“ (81) deren gewissermaßen transzendentale Anlage. Mit der Lehre von der Staatssouveränität, die Kuyper ebenfalls heftig kritisiert, macht er es sich freilich noch leichter, indem er ihr keinen Namen zuordnet, sondern sie lediglich als „ein Produkt von Deutschlands philosophischem Pantheismus“ (81; vgl. 4) kennzeichnet.36 Es handelt sich, wie Kuyper suggeriert, offenbar um einen komplementären Typus zur Volkssouveränität, wobei es schwerfallen dürfte, einen tatsächlichen Vertreter dieses karikaturhaft dargestellten Plädoyers für Staatsapotheose und Rechtspositivismus (vgl. 82) zu benennen.37 Hier wurde schlicht ein Pappkamerad aufgebaut.38 Hegel jedenfalls kann Kuyper hier nicht ernsthaft vor Augen gehabt haben.39

34

Vgl. Kuyper, Reformation wider Revolution, 81: „Auf calvinistischem Erbe, wie auch in Ihren Konstitutionen, beugt man vor Gott die Knie, aber gegenüber dem Mitmensch erhebt man stolz das Haupt; hier aber, auf dem Standpunkt der Volkssouveränität, ballt man gegen Gott vermessen die Faust, und unterdessen kriecht man als Mensch vor seinem Mitmenschen und vertuscht diese Selbsterniedrigung durch die Fiktion eines vor Tausenden von Jahren durch Vertreter, von denen niemand eine Erinnerung hat, abgeschlossenen ‚contract social‘.“ 35 Vgl. W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darm­ stadt 1996. 36 Vgl. A. Kuyper, The Blurring of the Boundaries (1892), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 363–402. 37 Bacote (The Spirit in Public Theology, 74) beobachtet: „[P]antheism served as the umbrella ideology that encompassed the thought of figures such as Nietzsche, Darwin, Hegel, and Schleiermacher.“ Eine ziemlich heterogene Gruppierung, möchte man meinen. Vgl. Heslam, Creating a Christian Worldview, 101–105. 38 Dazu passt die scharfe Abgrenzung Kuypers (Reformation wider Revolution, 90): „Hauptziel meines Beweisgangs war, Ihnen zu zeigen, wie der Calvinismus dadurch, daß er ein Gott empfangenes Recht und eine souveräne Autorität auch in den sozialen Lebenssphären handhabt, Protest einlegt gegen die Allmacht des Staates, Protest gegen die abscheuliche Vorstellung, als ob es kein Recht über und außer dem geltenden Gesetz geben könne, und Protest ebenso gegen die Hoffahrt des Absolutismus, der keine grundgesetzlichen Rechte kennt außer als Ausfluß der Fürstengunst“. 39 Dass besagte Vorwürfe Hegel nicht treffen, zeigt etwa M. Wendte, Der Hegelsche Staat und die Vernunft der Religion, in: O. Hidalgo / Ch. Polke (Hg.), Staat und Religion. Zentrale Positionen zu einer Schlüsselfrage des Politischen Denkens, Leipzig 2016, 265–278. Vgl. auch die große Hegel-Biographie von K. Vieweg, Hegel. Philosoph der Freiheit, München 2019. Fernerhin: Was ist von Hegel geblieben? Fragen an Gunnar Hindrichs, Rahel Jaeggi und Günter Zöller, Information Philosophie Nr. 3/2020, 32–36; J. Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, 471f.

2. Anfälligkeiten

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Noch ein Wort zur recht divergenten Wahrnehmung der Völker und Nationen: Kuypers Amerika-Bild mutet recht schmeichelhaft, um nicht zu sagen unkritisch an,40 ebenso wie die Stilisierung der Niederlande zum Ursprung und Hort der Gewissensfreiheit (vgl. 93; 100). Dafür fällt Kuypers Blick auf andere Völker und Länder umso kritischer, um nicht zu sagen despektierlich, aus: „Eine Regierungsform wie die Ihre“, so betont Kuyper an seine US-amerikanischen Zuhörer*innen gewandt,41 „würde in China keinen Tag standhalten. Das russische Volk ist selbst jetzt noch nicht reif für irgend welche konstitutionelle Regierungsform. Und unter den Kaffer- und Hottentottenstämmen in Afrika würde selbst eine Verwaltung, wie sie in Rußland besteht, undenkbar sein. Dies alles nun setzt Gott fest und regelt es nach dem verborgenen Ratschluß seiner Vorsehung“ (77)42 – so Kuyper weiter. Diese Zeilen sprechen für sich.

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Ähnlich Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 24; Witte (Die Reformation der Rechte, 375; 378) bemerkt kritisch: „Er [Kuyper] hüllte sich […] seltsamerweise in Schweigen hinsichtlich der vielen Versäumnisse gegenüber Frauen, Kindern, Schwarzen, Indianern, misshandelten Arbeitern, Armen und verschiedenen Minoritäten jener Zeit.“ Vgl. fernerhin: Heslam, Creating a Christian Worldview, 74–84; J. Witte, The Biography and Biology of Liberty: Abraham Kuyper and the American Experiment, in: L.E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, 243–262. Reichlich Quellenmaterial zum Amerika-Bild Kuypers findet sich in: A. Kuyper, Varia Americana, Amsterdam / Pretoria 1899. 41 Zum Einfluss Kuypers in Nordamerika, der bis in die Gegenwart reicht, vgl. J.D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika, in: M.E. Hirzel / M. Sallmann (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 4, Zürich 2008, (71–94) 91f.; ders., Reformed Theology in North America, in: P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson (Hg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, (267–284) 281f. Mit Blick auf Deutschland führt E. Busch (Reformed Theology in Continental Europe, in: P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson [Hg.], The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, 230–247, 236) das Aufkommen der jungreformierten Bewegung auf Kuypers Einfluss zurück. 42 Vgl. dazu auch Kuypers „entwicklungsgeschichtlichen“ Ausführungen: Kuyper, Reformation wider Revolution, 96; 99; sowie zum naheliegenden Rassismus-Vorwurf Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 66–69; D.Th. Kuiper, Groen and Kuyper on the Racial Issue, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 69–81. Zur Kritik an Kuyper siehe P.J. Paris, The African and African-American Understanding of Our Common Humanity: A Critique of Abraham Kuyper’s Anthropo­ logy, in: L.E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, 263–280.

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VII. „Just a minor thinker“?

2.2 Triumphalismus-Anfälligkeit: Kuypers theozentrischer cantus firmus Es zeigen sich – bei Lichte betrachtet – bei Kuyper weitere „Anfälligkeiten“, im Blick auf die wir heute, also post festum, gewarnt sein sollten. Ich spreche vorsichtig von „Anfälligkeiten“, da wir hier nicht anachronistisch urteilen sollten, zumal man ja bekanntlich ex post immer schlauer ist. Das gilt etwa für Kuypers Rede von den „Schöpfungsordnungen“ (vgl. etwa die Rede vom Staat als Schöpfungsordnung gegen die Sünde; 75; siehe auch 84f.; 122), die uns heute sozialethisch weder in politisch-ethischen noch gar in sexualethischen Zusammenhängen vorbehaltlos über die Lippen geht.43 Auch auf eine „völkische“ Anfälligkeit Kuypers werde ich noch zu sprechen kommen, möchte aber zunächst bei den wohl signifikantesten „Anfälligkeiten“ Kuypers einsetzen, nämlich der konstantinistischen und triumphalistischen. Sie betreffen den theozentrischen cantus firmus von Kuypers Ausführungen: Als „Grundprinzip des Calvinismus“ (72) macht Kuyper die „absolute Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben“ (72; vgl. 41) aus. Von ihr ausgehend werden die Souveränität von Staat (vgl. 78–83), Gesellschaft (vgl. 83–91) und Kirche (vgl. 91–95) im Sinne der Sphärensouveränität und des „Gottesgnadentums“ (vgl. 76) abgeleitet.44 Von allen diesen Bereichen wie von allen Völkern und Nationen gilt nach Kuyper: Gott hat sie geschaffen. „Sie bestehen um seinetwillen; sie sind sein Eigentum. Und darum haben alle diese Völker und in ihnen die ganze Menschheit für seine Ehre dazusein“ (74). Kuypers Anfälligkeit spiegelt sich in dem triumphalistischen Ton der Stone-Lectures wider, mit dem die neucalvinistisch verstandene Souveränität Gottes zugleich als der königliche Weg der Kultur, Wissenschaft und des Staates dargestellt wird. Der theologie-, kultur- und geistesgeschichtliche Triumphalismus zeigt sich etwa in der ostentativen Abgrenzung seines theonomen Souveränitätsverständnisses von der profanen Volks- und Staatssouveränität. Das folgende lange Zitat veranschaulicht dies:

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Vgl. W. Krötke, Die Schöpfungsordnungen im Lichte der Christologie. Zu Karl Barths Umgang mit einem unabweisbaren Problem, in: ders., Barmen – Barth – Bonhoeffer. Beiträge zu einer zeitgemäßen christozentrischen Theologie, UnCo 26, Bielefeld 2009, 155–178; Hofheinz, Ethik – reformiert, 239–248. 44 Zur Wirkungsgeschichte dieser anfälligen Kategorie der „Sphärensouveränität“ vgl. C.L. Rigby, The Christian Life, in: P.T. Nimmo / D.A.S. Fergusson (Hg.), The Cambridge Companion to Reformed Theology, Cambridge 2016, (96–113) 111f.

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„Daher rühme ich denn sowohl gegenüber der Volkssouveränität der Enzyklopädisten wie gegenüber der Staatssouveränität der deutschen Pantheisten doch die Souveränität Gottes, die als Quell aller Autorität unter Menschen vom Calvinismus proklamiert worden ist. Der Calvinismus vertritt unsere höchsten und besten Bestrebungen dadurch, daß er alle Menschen und alle Völker vor das Angesicht unseres Vaters im Himmel stellt. Der Calvinismus rechnet mit der Tatsache der Sünde, die man zuerst weggezaubert hat und jetzt in seiner pessimistischen Kopflosigkeit als das Wesen unseres Daseins begrüßt; er unterscheidet zwischen der natürlichen Gliederung unseres organischen Zusammenlebens und dem mechanischen Verband, den uns die Obrigkeitsautorität anlegt; er macht die Unterwerfung unter die Autorität leicht, weil er uns in jeder Autorität die Forderung der Souveränität Gottes ehren läßt; er erhebt uns aus einem Gehorsam aus Furcht vor dem starken Arm zu einem Gehorsam um des Gewissens willen; er lehrt uns von dem bestehenden Gesetz zu dem Quell des ewigen Rechtes in Gott aussehn, und flößt uns den unüberwindlichen Mut ein, ratlos gegen das Unrecht, auch des Gesetzes, im Namen des höchsten Rechtes zu protestieren; und wie mächtig auch der Staat übergreife und die freie persönliche Entwicklung ins Gedränge bringe, über diesem mächtigen Staat leuchtet vor dem Auge unserer Seele stets als noch unendlich mächtiger die Majestät des Königs der Könige, vor dessen Richterstuhl das Recht des Appells für jeden Bedrückten offensteht, und zu dem immerdar unser Gebet aussteigt, daß er unser Volk und in dem Volk uns und unser Haus segnen möge“ (82f.).

Kuyper vergleicht den Calvinismus nicht ohne dekadenztheoretische Anleihen „mit dem allgemeinen Werte-Zerfall der übrigen Welt seither und kommt zum Schluss“45: „Auf sittlichem Gebiet ist der Calvinismus bisher noch nie an Hoheit der Auffassung und Kraft zur Selbstbeherrschung übertroffen worden. […] Wer dürfte verkennen, dass wenigstens auf sittlichem Gebiet (seit der Reformation) der Calvinismus die Siegespalme davontrug“ (67; vgl. 174f.; 187). Diesen kulturkämpferisch anmutenden Siegesjubel mag man Kuyper – heute vielleicht weniger denn je – nicht recht verzeihen. Er mutet allzu wohlfeil an. Ja, er beruht im Blick auf ein reflexiv gewordenes historisches Bewusstsein auf einer Scheingewissheit. So hat etwa Hans Scholl in seiner Wuppertaler Abschiedsvorlesung betont: „[Auch] ich halte nun [wie Kuyper; M.H.] Calvins Institutio für das beste theologische Buch der Kirchengeschichte. Dennoch bin ich froh, dass noch vor der Mitte des 20. Jahrhunderts andere gute Calvinkenner in Holland das 45

Scholl, Von der Reformation zur Revolution, 141.

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VII. „Just a minor thinker“?

neucalvinistische Unternehmen stoppten. […] Haitjema formulierte seine Anfrage an das neucalvinistische Konzept seiner Landsleute von der Freien Universität Amsterdam so: ‚Wird da der Calvinist nicht zum Schluss allzu flott als Königsmensch proklamiert, der das Pilgrimskleid vorzeitig von sich wirft?‘“46

Wenn schon Triumphalismus, dann müsste johanneisch47 festgehalten werden: Gesiegt hat ja nicht der Calvinismus, sondern gesiegt hat das Lamm, das die Siegesfahne trägt.48 Das heißt: Wir müssen die Königsherrschaft Christi nicht erst aufrichten und durchsetzen: „Das Kreuz ist, wie Barth sagt, bereits Christi bzw. Gottes Königsthron und die Auferstehung die Offenbarung des gnädigen Urteils Gottes, das er über den Gekreuzigten und mit ihm über alle Menschen gesprochen hat.“49 Das entlastet uns von allen theo- und auch christokratischen Avancen, wie sie ja auch in der Geschichte des Calvinismus (wahrscheinlich nicht ganz selten) geltend gemacht wurden.50 Theozentrischer und christozentrischer also müsste der Triumphalismus Kuypers ausfallen, um nicht theokratisch anfällig zu werden. 2.3 Konstantinistisch-zivilreligiöse Anfälligkeit: Kuypers (Re-)Chris­ tianisierungsstrategie Von einer konstantinistischen51 Anfälligkeit bei Kuyper hat etwa der bekannte US-amerikanische Ethiker Stanley Hauerwas gesprochen: „I have the impression […] that this [Kuypers Projekt; M.H.] is […] an extremely Constantinian project, who want to make the whole world the church and then you can use that world coercively against those 46

Scholl, Von der Reformation zur Revolution, 142. Das Zitat von Haitjeman findet sich in: Th.L. Haitjema, Abraham Kuyper und die Theologie des holländischen Neucalvinismus, ZZ 9 (1931), (331–354) 354. 47 Vgl. J.-W. Taeger, „Gesiegt! O himmlische Musik des Wortes!“ Zur Entfaltung des Siegesmotivs in den johanneischen Schriften, ZNW 85 (1994), 23–46. 48 Vgl. W. Kreck, Der Sieg Jesu Christi. 9 Predigten, München 1940. 49 W. Kreck, Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Theologische Beilage 2/89 zur RKZ, (2–8) 3. 50 Vgl. R.J. Mouw, Abraham Kuyper. A Short and Personal Introduction, Grand Rapids / Cambridge 2011, 132ff. 51 Zum Konstantinismus-Vorwurf vgl. auch J.H. Yoder, The Constantinian Sources of Western Social Ethics, in: ders., The Priestly Kingdom. Social Ethics as Gospel, Notre Dame 1984, 135–147; vgl. fernerhin: W.T. Cavanaugh, What Constantine Has to Teach Us, in: ders., Field Hospital. The Church’s Engagement with a Wounded World, Grand Rapids / Cambridge 2016, 157–174.

2. Anfälligkeiten

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who don’t seem be doing what you think is required.“52 Kuyper votiert freilich gegen die „konstantinistischen Eierschalen“, die in Form von Ausrottung des falschen Gottesdienstes auch am Calvinismus hingen (vgl. 92).53 Kuyper spricht sich ebenfalls bedauernd gegen den Scheiterhaufen Servets (vgl. 92) wie auch explizit gegen Theokratie aus (vgl. 77f.: „Von Theokratie war allein in Israel die Rede, weil Gott in Israel unmittelbar eingriff“).54 Und dennoch ist der Vorwurf Hauerwas’55 m.E. nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn trotz der von Kuyper nachdrücklich geforderten Trennung von Kirche und Staat56 und der Ablehnung von Cäsaropapismus wie Hierokratie (vgl. 98), haben nach Kuyper „beide, Kirche und Staat, jeder auf seinem eigenen Gebiet, Gott zu gehorchen und seiner Ehre zu dienen. Und dazu muß nun“, so Kuyper weiter, „auf beider Gebiet Gottes Wort herrschen, jedoch auf Staatsgebiet nur durchs Gewissen der mit Macht bekleideten Person“ (96). Kuyper träumt unverkennbar von einem christlichen Staat, wobei er die Christlichkeit der Regierung gleichsam „traumwandlerisch“ auf die Ebene der individuellen Person des Machthabenden verlagert. Er habe aus persönlicher Einsicht heraus „nach den Prinzipien, die für die Staatskunst von Christus ausgehen“ (96), zu regieren. Hinsichtlich eines säkularen Staats- und Rechtsverständnisses ist es dann zweifellos befremdlich, wenn Kuyper von der Obrigkeit fordert, der Gotteslästerung entgegenzutreten (vgl. 95). Weltanschauliche Neutralität des Staates scheint hier definitiv nicht Kuypers Prämisse zu sein. Sein Aufgabenkatalog für die Obrigkeit (vgl. 89; 95) widerspricht dem deutlich und Kuyper beruft sich dabei auf das Naturrecht, genauer gesagt den

52

S. Hauerwas im Interview mit J. Wilson (Teaching Fellow, Regent College) vom 27.6.2018, https://www.youtube.com/watch?v=1BcZlxGt3xs (Zugriff: 31.8.2020). 53 Kuyper (Reformation wider Revolution, 94) formuliert den Beurteilungsgrundsatz: „[N]icht in dem, was der Calvinismus aus der Vergangenheit übernahm, sondern in dem, was er neu schuf, muß der tiefe Grundzug seines Charakters gesucht werden“. Dort z.T. kursiv. 54 Vgl. zum Problem der Theokratie bei Kuyper auch Bolt, A Free Church, 303– 350. 55 Vgl. zu Hauerwas, Kuyper und dem Konstantinismus-Vorwurf auch R.J. Mouw, Culture, Church, and Civil Society: Kuyper for a New Century, PSB 28 (1/2007), 48–63, bes. 52–54. 56 Kuyper (Reformation wider Revolution, 91) gibt als sein Programm die Losung aus: „Die freie Kirche im freien Staat“. Vgl. a.a.O., 98: „Die Souveränität des Staates und die Souveränität der Kirche bestehen neben einander, und begrenzen, d.h. beschränken, einander gegenseitig.“

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VII. „Just a minor thinker“?

Umstand, dass das „Gottesbewußtsein […] einem jeden von Natur ein­ erschaffen“ (95) sei.57 Und dennoch kann Kuyper festhalten, dass die Obrigkeit „als Obrig­keit die Voraussetzungen entbehrt, um ein Urteil [zur wahren Kirche bzw. zum Wahrheitsbesitz der Kirchen; M.H.] abzugeben, und jedes Urteil hierüber der Souveränität der Kirche zu nahe tritt“ (97; dort z.T. kursiv). „Die Obrigkeit“, so Kuyper in Aufnahme einer Zwei-Reiche-Lehre, „trägt das Schwert, das verletzt, nicht das Schwert des Geistes, das in geistlichen Fragen entscheidet“ (97). Kuypers Position ist – wie wir sehen – in religionspolitischer Hinsicht,58 insbesondere was die Frage der weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaates betrifft,59 alles andere als spannungsfrei.60 Sie erscheint bei Lichte betrachtet als recht reduktionistisch, insofern sie die weltanschauliche Neutralität des Staates nur gegenüber den christlichen Konfessionen, sozusagen als „christlich-ökumenische Neutralität“, nicht aber allgemein religionspolitisch in den Blick nimmt (vgl. 98). Der Historiker Gerhard Menk hat in seinem Forschungsüberblick bei Kuyper eine verdeckte bzw. überlagerte Christianisierungsstrategie identifiziert: „Schon hier [in Kuypers Princetoner Vorträgen; M.H.] wurde – wie wenige Jahre später bei Max Weber – die Frage nach dem Kalvinismus als Lebensform aufgeworfen, allerdings völlig anders beantwortet. Denn Kuyper versuchte dem zunehmenden Säkularisierungsprozeß dadurch zu begegnen, daß er einer neuen Verchristlichung der Welt das Wort redete. Doch wurde dieses Bestreben überlagert durch die veränderte Deutung des Kalvinismus. Nicht die Entwicklung zur kapitalistischen Moderne stand bei Kuyper im Vorder-

57

Zum Verhältnis Calvinismus und Naturrecht vgl. S.J. Grabill, Rediscovering the Natural Law in Reformed Theological Ethics, Grand Rapids / Cambridge 2006. 58 Vgl. N. Woltersdorff, Abraham’s [sic!] Kuyper’s Model of a Democratic Polity for Societies with a Religiously Diverse Citizenry, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 190–205. 59 Vgl. H.-R. Reuter, Gleichheit und Differenz in der Religionspolitik – was fordert das Neutralitätsprinzip?, ZEE 54 (2010), 243–248; ders., Neutralität – Religionsfreiheit – Parität. Grundlagen eines legitimen Religionsverfassungsrechts im weltanschaulichen-neutralen Staat, in: W. Lienemann / H.-R. Reuter (Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden–Baden 2005, 15–31. 60 Grundlegende Spannungen zwischen den partikularistischen und universalistischen Aspekten in Kuypers Denken beobachtet u.a. auch Heslam, Creating a Christian Worldview, 262f.

2. Anfälligkeiten

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grund, sondern das genaue Gegenteil war der Fall, indem er dem Kalvinismus einen äußerst konservativ-antirevolutionären Mantel umhängte.“61

Das antivolkskirchliche bzw. dezidiert freikirchliche Motiv bei Kuyper muss dieser latenten Rechristianisierungsstrategie nicht notwendigerweise widersprechen,62 da Kuyper das Vertrauen in volkskirchliche Christlichkeit und ihre Durchsetzungsfähigkeit nie besaß und von daher keine andere als eine „freikirchliche“ Option sah.63 Es zeigt sich hier fernerhin eine zivilreligiöse Anfälligkeit: Kuyper votiert zwar entschieden freikirchlich für die Trennung von Kirche und Staat, aber keineswegs für eine Trennung von Religion und Politik.64 Wenn es ihm – wie wir noch sehen werden – um die „Souveränität im eigenen Bereich“ geht und damit sowohl eine Vormundschaft des Staates als auch 61

G. Menk, Streiflichter zur deutschen und internationalen Forschung über Kalvinismus und Puritanismus, in: ders., Zwischen Kanzel und Katheder. Protestantische Pfarrer- und Professorenprofile zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Marburg 2011, (50–78) 72f. Ähnlich urteilt der Amsterdamer Kirchenhistoriker C. Augustijn, der bei Kuyper ebenfalls eine latente Rechristianisierungsstrategie entdeckt: „Sämtliche politische Mittel, die ihm, dem Anführer, zur Verfügung stehen, sollen dem einen Zweck dienen: Der Kern der Nation muß den ihm rechtmäßig zustehenden Platz wieder bekommen und von da aus muß das Volk der Niederlande als Ganzes rechristianisiert werden. Im Grunde“, so Augustijn weiter, „ist Kuyper ein hoff­nungsloser Romantiker. In einem geschmacklosen Verschen schildert er sein eigenes Streben: ‚Dem Volk zugute‘ und alles läuft auf dasselbe hinaus: ‚Bis sich das Volk wieder vor Gott beugt.‘ Ein Traum? Natürlich, Kuyper gab sich keinen Illusionen hin. Er selbst hatte festgestellt, daß ‚der calvinistische Glaube, im Vergleich zu niedrigeren Formen des Christentums – wie dem Luthertum und, viel schlimmer noch, dem Katholizismus – so tief religiös und in einem so hohen Maße geistlich sei, daß er niemals die große Masse ansprechen werde‘. Aber es war doch auch mehr als ein Traum, nämlich ein Stück typischen Kulturoptimismus‘ des 19. Jahrhunderts. Ebenso wie das Christentum und die abendländische Kultur letzten Endes dank ihrer inneren Kraft und Überlegenheit die nicht-europäischen Religionen und Kulturen in einem freien Wettbewerb der Zivilisationen überwinden würden, so würde schließlich innerhalb der niederländischen Gesellschaft erkannt werden, daß allein die von Gott selbst in die Schöpfung gelegten Strukturen wirklich heilbringend seien.“ Augustijn, Abraham Kuyper, 330f. Zum „Romantiker“ Kuyper vgl. J. de Bruijn, Abraham Kuyper as a Romantic, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 42–52; ders., Calvinism and Romanticism: Abraham Kuyper as a Calvinist Politician, in: L.E. Lugo (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, 45–58. 62 Ulrichs (Abraham Kuyper als Ideologe, 21) weist auf die „volkskirchliche“ Kritik gegen den „freikirchlichen“ Kuyper hin. 63 Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, 292. 64 Vgl. Witte, Die Reformation der Rechte, 376.

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VII. „Just a minor thinker“?

ein kirchliches Kuratel vermieden werden soll,65 so stellt sich die Frage, welcher Natur das tragende Fundament ist. Seine Antwort darauf lautet: Religion bildet die Grundlage des politischen Systems.66 Bereits zu Beginn der dritten Vorlesung stellt Kuyper unmissverständlich und d.h. in seinem Fall mit triumphalistisch-kulturkämpferischer Attitüde fest: „Die religiöse Bewegkraft des Calvinismus hat, gerade weil sie nicht bloß die Zweige beschnitt und den Stamm reinigte sondern bis zur Wurzel des Lebens selber reichte, auch dem politischen Zusammenleben einen eigenen Grundgedanken zugrundegelegt. Daß dies so sein mußte, steht für jeden, der einsieht, daß auch nicht ein politisches System je zur Herrschaft gekommen ist, das nicht seine Grundlage in einer eigenartigen religiösen Anschauung gefunden hätte, schon von selber fest“ (71).

2.4 Die „völkische“ Anfälligkeit und antirevolutionäre Ausrichtung Kuypers Gerhard Menk sieht bei Kuyper den Calvinismus „als gänzlich antirevolutionäres Phänomen“67 bestimmt.68 In der Tat trug Kuypers politische Partei den Namen „Antirevolutionäre“ oder „Christliche-Historische Partei“.69 Besonders übel nimmt Menk es Kuyper, dass dieser unmittelbar nach der deutschen Novemberrevolution 1918, „zu einem besonders prekären Zeitpunkt“70, mit rechtskonservativ-völkischen Kreisen in Deutschland gemeinsame Sache gemacht und den Aufsatz „Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee“71, seine letzte zu Lebzeiten in Deutschland veröffentlichte Publikation, zu dem Band „Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavisch-baltischen Wissenschaft“ (Leipzig: Verlag Friedrich Wilhelm Grunow) beigesteuert habe. 65

Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, 296. Vgl. dazu auch Kuypers Befürwortung der öffentlichen Präsenz des Gebets in politischer Kultur und Schule. Vgl. Kuyper, Reformation wider Revolution, 189. 67 Menk, Streiflichter, 73. 68 Zum Verständnis des „Antirevolutionären“ vgl. auch Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, 588–621. 69 Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, 295. 70 Menk, Streiflichter, 73. 71 A. Kuyper, Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee. Reformation wider Revolution, in: K.H.L.W. van der Bleek (Hg.), Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavisch-baltischen Wissenschaft, Leipzig 1919, 58–69. 66

2. Anfälligkeiten

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Genau dies ist freilich – wie Hans-Georg Ulrichs in diesem Band zeigt – umstritten. Offenbar gibt es keinen brieflichen Verkehr zwischen Kuyper und dem Herausgeber, einem gewissen Walter van der Bleek (1877–1946).72 Von daher ist fraglich, ob Kuyper diesen Text frei gegeben hat. Es handelt sich bei Kuypers Beitrag in besagtem Band jedenfalls über weite Strecken der Sache nach um ein Kompilat u.a. aus der dritten Princetoner Vorlesung, die recht oberflächlich popularisiert und von dem Herausgeber mit einem Fußnotenapparat versehen wurde. In welche Fahrwasser Kuyper damit gerät, sieht man, wenn man die Anmerkungen zu diesem Aufsatz näher betrachtet. Im Fußnotenapparat wird nämlich Kuypers Ablehnung der französischen Revolution in den Kontext der „Ideen von 1914“ gestellt und der schwedische Staatswissenschaftler und Politiker Rudolf Kjellén (1864–1922) zitiert, auf den sich auch heute noch Vertreter*innen den „Neuen Rechten“ berufen: „[D]er große Streit besteht nicht bloß zwischen Völkern, sondern zwischen Weltanschauungen (zu welcher Ansicht sich ja auch jetzt Kaiser Wilhelm II. in seiner Rede an Hindenburg bekannt hat) und nicht bloß zwischen verschiedenen Richtungen in der Gegenwart, sondern im Grunde zwischen verschiedenen Epochen: der Weltkrieg ist ein Kampf zwischen 1789 und 1914; ersteres Jahr vertreten durch Frankreich-England, letzteres durch Deutschland: der in der Gegenwart neuentstandene ‚Deutsche Gedanke in der Welt‘ (Rohrbach) hat einen entscheidenden Kampf mit dem französischen Gedanken aus dem Beginn der großen Revolution aufgenommen.“73 Die Antithetik der beiden Traditionsströme, wie sie für Kuypers Geschichtskonstruktion charakteristisch ist, gerät hier durch den heraus­geberischen Eingriff ins kriegspolitisch-nationalistische Fahrwasser und der Calvinismus auf die Seite einer pangermanischen Idee. Man sollte indes Kuyper nicht voreilig eine Aufgeschlossenheit gegenüber einem pangermanischen Nationalismus unterstellen, der in breiten gesellschaftlichen Kreisen in und nach dem Krieg bekanntlich nur allzu ungebremst chauvinistisch daherkam. Zudem ist hinsichtlich der Datierung darauf hinzuweisen,74 dass van der Bleek in seinem „Schlußwort“ zu dem Band bemerkt: „Das 72

K.H.L. Walter van der Bleek ist nicht nur der Übersetzer des „Löwen von Flandern“ ist, sondern auch des zu Kriegszeiten (1915) erschienenen Werkes: „Die Vernichtung der englischen Weltmacht und des russischen Zarismus durch den Dreibund und den Islam“, herausgegeben vom kriegspolitischen Kulturausschuss der deutschnor­dischen Richard-Wagner-Gesellschaft für germanische Kunst und Kultur (Berlin). 73 Kuyper, Der Calvinismus und die protestantische Staatsidee, 62 (Fußnote 1; vom Herausgeber verfasst, der Rudolf Kjellén zitiert). 74 Diesen Hinweis verdanke ich H.-G. Ulrichs.

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VII. „Just a minor thinker“?

vorliegende Werk wurde vor dem Umsturz im November 1918 abgeschlossen.“75 Diesen Umstand berücksichtigt Menk leider nicht. Man wird hier also mit Unterstellungen im Blick auf die sog. „Novemberrevolution“ vorsichtig sein müssen, Kuyper freilich auch nicht voreilig von jeglicher Verortung im konservativen und nationalen Lager dispensieren dürfen.76 Vor allem dort scheint er zumindest in Deutschland in dieser Zeit rezipiert worden zu sein, wobei natürlich gilt: quidquid re­ cipitur, secundum modum recipientis recipitur. Dass Kuyper im Ersten Weltkrieg und darüber hinaus unverhohlen Sympathien für Deutschland und dessen gerade eben abgedankten Kaiser Wilhelm II. artikuliert hat, darf als biographisch gesichert gelten.77 Abschließend möchte ich noch erläutern, warum hier von einer „völkischen“ Anfälligkeit Kuypers gesprochen wird. Damit sei Kuyper kein völkischer Nationalismus unterstellt, sondern vielmehr auf ein Problem aufmerksam gemacht, dass sich bei Kuyper vor allem in seinem politschen-ethischen Hauptwerk, der „Antirevolutionairen Staatkunde“ (1916f.), zeigt.78 Es betrifft die rassische Grundierung des Volksbegriffs. Genau dies meine ich mit „völkisch“. Kuypers Gebrauch des Begriffs „Volk“ fällt zunächst durchaus differenziert aus. Er beo­ bachtet, auch etymologisch belehrt und durchaus konnotationssensibel, einen äquivoken Begriffsgebrauch.79 Dann aber konnektiert er den Rassebegriff mit dem des „Volkes“. Volk avanciert dadurch zu mehr als einer Sammelbezeichnung für rein sozial definierte Menschengruppen. Der Volksbegriff geht auch über eine rein ethnische Füllung hinaus und dies hat – wie gesagt – mit seiner Konnektierung mit dem Rassebegriff zu tun. Dies ereignet sich im § 7 („Volk en ras“) seiner „Antirevolutionairen Staatkunde“, wenn Kuyper dort den physis-Begriff auf den der 75

K.H.L.W. van der Bleek, Schlußwort, in: ders. (Hg.), Die protestantische Staatsidee. Der Nordgeist Germaniens im Lichte der deutsch-niederländischen und skandinavisch-baltischen Wissenschaft, Leipzig 1919, (173–177) 178. 76 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 73. 77 Vgl. a.a.O., 18. Man stelle Kuypers Einschätzung etwa Karl Barths Einschätzung gegenüber, wie er sie etwa im September 1942 artikulierte: K. Barth, Die protestantischen Kirchen in Europa – ihre Gegenwart und ihre Zukunft, in: ders., Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 31985, 252f. Dazu: D. Schellong, Immer wieder reformatorische Theologie? Ein Brief, in: M. Heimbucher / J. Lenz (Hg.), Hilf­ reiches Erbe? Zur Relevanz reformatorischer Theologie. FS Hans Scholl, Bovenden 1995, 20–30. 78 Zu den „völkischen“ Implikationen vgl. den Abschnitt „het volk“ in Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, 145–166. 79 Vgl. a.a.O., 151–155 (§§ 4–6); § 4: „Tweeërlei begrip van Volk“ (151f.); § 5: „Tweeheid gebleven“ (152–154); § 6: „Vierderlei beteekenis van volk“ (154f.).

2. Anfälligkeiten

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Rasse anwendet. Es geschieht vorsichtig, aber doch erkennbar, wenn Kuyper sich zunächst gegen eine Überbetonung des physischen Ursprungs von „Rasse“ ausspricht, aber doch festhalten kann: „Jedoch sollte der physische Ursprung nicht allzu einseitig betont werden. Dies würde nämlich dazu führen, dass die beiden Konzepte von Rasse und Volk verschmelzen, wozu nicht nur in Europa, sondern teilweise bereits in Asien und vor allem in Afrika und bei den Ureinwohnern Australiens und Amerikas Anlass bestehen könnte. Die Unterscheidung der Rassen soll im engeren Sinne physisch erfasst werden. Nicht als ob der Unterschied nur physisch wäre? Dies ist deshalb nicht möglich, da eine unbestreitbare Verbindung / Zusammenhang zwischen Seele und Körper besteht.“80

Kuyper agiert aus gutem Grund zögerlich, um dann doch, wenngleich nicht absolut und solitär, Rasse biologisch festzuschreiben. Irritierend ist seine Rede von „Negern“. Dieser in politischer Hinsicht diskriminierungsbezogene Sprachgebrauch befremdet uns heute. Sein Vergleich zwischen „einem Chinesen und einem Neger“ zeigt zudem, wie er bestimmte Stereotypen als psychische Dispositionen im Sinne empirischer Entitäten zuschreibt: „Wenn man einen Chinesen mit einem Neger vergleicht, tritt der Kontrast zwischen der nervösen Unempfindlichkeit des Chinesen und der nervösen Überempfindlichkeit des Negers sofort in den Vordergrund, und wie könnte es anders sein, als dass dieser grundlegende Unterschied die ganze Natur der beiden Gruppen bestimmt? Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in jeder Rasse neue Unterschiede untergeordneter Art auftreten, die zwar nicht das alles beherrschende Merkmal des Rassenunterschieds leugnen, aber dennoch Variationen in dieser einen Rasse offenbaren, aus denen ein sehr klarer Unterschied in der Entwicklung des Lebens entstand.“81 80

A.a.O., 155 (eigene Übersetzung: M.H.): „Toch mag op de physische herkomst niet te eenzijdig nadruk worden gelegd. Hierdoor toch zouden de twee begrippen van ras en volk inéénvloeien, iets, waarvoor niet alleen in Europa, maar ten deele reeds in Azië, en meer nog in Afrika en onder de oorspronkelijke bewoners van Australië en Amerika, aanleiding zou kunnen bestaan. Het onderscheid der rassen is in strengen zin physiek te nemen. Niet alsof het verschil uitsluitend physiek ware? Dit toch kan daarom niet, overmits er tusschen ziel en lichaam onloochenbaar verband bestaat.“ 81 A.a.O., 155f. (eigene Übersetzung: M.H.): „Vergelijkt men een Chinees met een Neger, dan springt terstond het contrast tusschen de nerveuze ongevoeligheid van den Chinees en de nerveuze overgevoeligheid van den Neger in het oog, en hoe zou het anders kunnen, of dit principieele verschil moet geheel den aard der beide groepen beheerschen? Dit neemt echter niet weg, dat in elk ras weder nieuwe verschillen van ondergeschikten aard opkomen, die wel niet het alles beheerschende kenmerk van het

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VII. „Just a minor thinker“?

Gleichsam unterhalb der rassischen Zugehörigkeit konzediert Kuyper zwar sozial bzw. kulturell bedingte Ausdifferenzierungen, aber eben nur als „token“ (Vorkommnisse) eines „types“. So bestimmt Kuyper das Ineinandergreifen von Natur und Kultur hinsichtlich des Rassebegriffs. Anders gesagt: Der Rassebegriff hat bei Kuyper auch die Konnotation der sozialen bzw. kulturellen Konvention. Die Denotation des Rassebegriffs ist bei Kuyper aber eine andere und darin besteht das Problem. Seine rassetheoretischen Darlegungen sind problematisch. Spätestens wenn Kuyper schöpfungs- bzw. vorsehungstheologische Festschreibungen vornimmt, wie in seiner bereits zitierten Bemerkung zu den „Kasser- und Hottentottenstämmen in Afrika“ in seinen Stone-Lectures, wird dies evident.82 Bemerkungen wie die, dass „Gott allein die Nationen schuf“ (78; vgl. 84f.), zeigen in Kombination mit dem Ordnungsbegriff die schöpfungs- bzw. ordnungstheologische „Überlegitimation“ sozialer bzw. kultureller Kategorien wie Volk, Nation oder eben Rasse. Um nicht missverstanden zu werden: Nicht jede Verwendung des Rasse-Begrifffs ist a priori als rassistisch zu kennzeichnen. Es geht nicht um ein vorschnelles Verbot des vielschichtigen Rassebegriffs, so als wäre damit das Rassismusproblem bereits gebannt. Das Grundgesetz der BRD ist etwa antirassistisch angelegt, auch wenn es in Art. 3 (3) den aktuell vieldiskutierten Rassebegriff gebraucht. Als Analysebegriff ist er gerade für die Antidiskrimierungsarbeit m.E. unverzichtbar.83 Kuyper aber konzipiert „Rasse“ durch die Verwendung des phy­ sis-Begriff als objektives Merkmal, nicht als soziales Konstrukt. Hier liegt die Schwierigkeit bzw. die „völkische“ Anfälligkeit. Anders gesagt: Dass Rasse biologisch und nicht als soziales Konstrukt verstanden wird, darin besteht das Problem. Aktuelles Beispiel: „Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zur Disko verweigert wird, geht der Türsteher nicht davon aus, dass er biologisch der ‚schwarzen Rasse‘ angehört, sondern dass Schwarzer Männlichkeit, wie im Falle von George Floyd, gefährliche, negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Das ist gemeint, wenn von Rasse und Geschlecht als soziale Konstrukte gesprochen wird, die zudem mit einander verschränkt sind. Rasse wird also als eine notwendige Kategorie herangezogen, um Diskriminierung ras-onderscheid verloochenen, maar toch variatiën in dit ééne ras openbaren, waa ruit een zeer duidelijk onderscheid in de ontplooiing van het leven opkwam.“ 82 Vgl. auch a.a.O., 148–150 (§ 3: „Joden, Arabieren, Kuraen, Zigeuners“). 83 Vgl. C. West, Race Matters. With a New Introduction, Boston 2017; ders., Gerechtigkeit! Über Religion, Rassismus und Demokrtaie, hg. von A. Honnacker / R. Heymann, Dresden 2020.

3. Latenzen

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zu messen, beispielsweise beim Racial Profiling.“84 Denn: wenngleich es keine Rasse im Sinne einer biologischen Entität gibt, so wirkt sie dennoch. Gewiss wäre es von Kuyper zu viel verlangt, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einsichten der sog. „Critical Race Theory“ vorwegzunehmen. Insofern wäre es sicherlich unfair, ihm vorzuwerfen, diesem Paradoxon in seinen Ausführungen nicht gerecht zu werden. Dennoch muss dies heute zur Sprache kommen und benannt werden. Dazu gehört aus theologischer Sicht vor allem, dass schöpfungstheologische Überhöhungen quasi-biologischer bzw. biologistischer Zuschreibungen moniert werden. Um die Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse wusste man bereits seit David Humes85 Einspruch gegen die Ableitung von Sollens- aus Seinsaussagen im 18. Jahrhundert und spätestens seit G.E. Moores „Principia Ethica“86 (1903).87 3. Latenzen. Die leicht übersehbaren Stärken im politischtheologischen Denken Abraham Kuypers „This said, I have to admit“ – so möchte ich diesen dritten Teil einleiten. Denn es zeigen sich unterhalb der Oberfläche sowohl der Kuyperschen Ausführungen als auch der nötigen Kuyper-Kritik doch auch gewisse Stärken und anschlussfähige Potentiale, aber eben nur auf den zweiten Blick, gleichsam subkutan. Ich möchte hier drei Punkte benennen: 3.1 Sphärensouveränität. Kommunitaristisch anmutende Impulse Kuypers Viel Kritisches lässt sich zu der von Kuyper projektierten „Souveränität im eigenen Kreis“ (83; dort kursiv) ausführen88 – angefangen beim be84

C. Barskanmaz / N. Samour, Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, unter: https://verfassungsblog.de/das-diskriminierungsverbot-aufgrund-der-rasse/ (Zugriff: 05.11.2020). 85 Vgl. D. Hume, Treatise of Human Nature (1739/49), hg. von L.A. Selby-Bigge, Oxford 21985, 455–476. 86 Vgl. G.E. Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903, 38. 87 Vgl. Ch. Frey, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 41; 72; 157. 88 Der Grundgedanke der „Souveränität im eigenen Kreis“ besagt Kuyper (Reformation wider Revolution, 86f.) zufolge, „daß die Souveränität Gottes, wo sie auf Menschen herabsteigt, sich in zwei Sphären teilt, einerseits in die Autoritätssphären des Staates und andererseits in die Autoritätssphäre der gesellschaftlichen Lebenskreise, und daß in diesen beiden Sphären die ihnen innewohnende Autorität souverän ist, das

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VII. „Just a minor thinker“?

rühmt-berüchtigten Modell der Versäulung („Verzuiling“), das seinen eigenen kulturellen und historischen Index hat.89 Kuyper ist bekanntlich „einer der wichtigsten Anreger jener Gesellschaftsform gewesen, die man mit dem Ausdruck ‚verzuiling‘ bezeichnet.“90 Doch steht die „Versäulung“ nicht für „die zur Erstarrung führende Segmentierung der niederländischen Gesellschaft“91? Geht es nicht um „ein[en] Gesellschaftsaufbau, bei dem sich die einzelnen Teile der Bevölkerung in die eigenen Organisationen zurückziehen und nur über die Führungsspitzen der Kontakt mit den anderen Bevölkerungsschichten aufrechterhalten wird“92? Von der gesellschaftlichen Anlage her betrachtet, ist die Verständigungsorientierung und Konsensbereitschaft auf basaler Ebene damit nicht breit aufgestellt. Freilich zeigen sich hier auch Ambivalenzen und d.h. mit dem Schatten auch Licht. So stellt C. Augustijn fest: „Die Isolierung hat zwar verengend gewirkt, hat aber andererseits zu einer eigenen Gestaltung des persönlichen und des gemeinschaftlichen Lebens geführt, und zwar sowohl in Sachen der Moral wie auch des Lebensstils. Zu sehr hat man die Grenzen geschlossen, doch der Einsatz für eine eigene Formung von Wissenschaft und Kultur ist kein geringes Ideal.“93 Geht es also bei der Versäulung nicht auch um eine Stärkung partizipativer Strukturen? Ist nicht die Anschlussfähigkeit an das Subsidiaritätsprinzip ein Pfund, mit dem in diesem Zusammenhang zu wuchern wäre?

will sagen, allein Gott über sich hat. Doch darf hier nicht übersehen werden, daß die Art dieser Souveränität in beiden Sphären nicht dieselbe ist. In der Autoritätssphäre des Staates zwingt sie mechanisch, d.h. äußerlich mit starkem Arm; in der Autoritätssphäre des gesellschaftlichen Lebens zwingt sie organisch, d.h. durch moralisches und inhärentes Übergewicht.“ Dort z.T. kursiv. Vgl. auch A. Kuyper, Sphere Sovereignty (1880), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 461–490. 89 Zur Versäulung vgl. A.L. Molendijk, Versäulung in den Niederlanden: Begriff, Theorie, lieu de mémoire, in: F.W. Graf / K. Grosse Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Bd. 37, Köln u.a. 2007, 307–327. 90 Augustijn, Abraham Kuyper, 305. Zur Sphärensouveränität vgl. auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, 356. 91 Augustijn, Abraham Kuyper, 294. So auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, 357, der „Segmentierung und Erstarrung“ als Negativfolgen nennt. Vgl. fernerhin Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 40f. 92 Augustijn, Abraham Kuyper, 294. 93 Augustijn, Abraham Kuyper, 306. van Keulen (Der niederländische Neucalvinismus, 357) hebt positiv hervor, dass das Versäulungs-Modell „Emanzipation und Initiative“ ermögliche.

3. Latenzen

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Auf den zweiten Blick lässt sich ein Bezug, ja zumindest eine gewisse Nähe zu Johannes Althusius (1563–1638) und seinem aus heutiger Sicht kommunitaristisch anmutenden Pathos beobachten. Darauf hat der US-amerikanische Rechtswissenschaftler John Witte, Jr. hingewiesen: „Für Althusius waren familiäre, private und politische Vereinigungen [asso­ ciations im engl. Original; consociationes bei Althusius94] ebenso eindeutige Bereiche von Recht und Liebe, Gerechtigkeit und Billigkeit. Jede Vereinigung war auf das Naturrecht gegründet und unterlag dem allgemeinen Vereinigungsgesetz. Jede Vereinigung wiederum diente als Quelle für das positive oder anwendbare Recht. Jede erließ spezifische Gesetze, um der Vereinigung zu Gerechtigkeit und Billigkeit zu verhelfen und um die Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder zu schützen.“95

Diese Auffassung erinnert in der Tat stark an die „Sphärensouveränität“ Kuypers. Kuyper selbst muss in Althusius „einen frühen Propheten einer eigenständigen Theorie der Sphärensouveränität“96 gesehen haben.97 Die Rückbesinnung auf Gemeinschaften und das Gemeinwohl lag beiden sehr am Herzen und das für unsere Ohren kommunitaristisch anmutende Plädoyer für die Stärkung von (zivilgesellschaftlichen) Basisgemeinschaften mit ihren partizipativen Strukturen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Verein etc.) verbindet beide.98 Bei Kuyper heißt es 94

Vgl. C. Zwierlein, Consociatio, in: C. Malandrino / D. Wyduckel (Hg.), Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, Berlin 2010, 75–100. 95 Witte, Die Reformation der Rechte, 221f. (im engl. Original: The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007, 184). 96 So Witte, Die Reformation der Rechte, 245. Auch L. Bretherton (Christ and the Common Life. Political Theology and the Case of Democracy, Grand Rapids / Cambridge 2019, 395) sieht die Verbindung zwischen Kuyper und Althusius und in der Konzeption der „Sphärensouveränität“ „a further strand of consociationalism“. 97 Vgl. Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, 652f. 98 Ein Desiderat wäre m.E. ein Vergleich zwischen M. Walzer (Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, übers. von H. Herkommer, Frankfurt / New York 1992) und Abraham Kuyper. Bei beiden wird nach meinem Eindruck die Diversität der Lebensbereiche konzeptionell berücksichtigt. Walzer möchte sie in Gestalt von Gerechtigkeitssphären berücksichtigt wissen. Die Gemeinschaftsförderung kleiner, übersichtlicher Gemeinschaften durch den Staat bzw. die Obrigkeit wird bei beiden zur Stärkung partizipativer Elemente projektiert. Vgl. W. Reese-

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VII. „Just a minor thinker“?

geradezu antietatistisch: „Der Staat darf keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt“ (89). Ordnungspolitisch99 erteilt Kuyper auch dem Kosmopolitismus eine deutliche Absage, insofern er einen Weltstaat postlapsarisch für unmöglich erachtet (vgl. 72f.; 85).100 Einen solchen „doch gewollt zu haben, war die Vermessenheit des Turmbau’s zu Babel“ (85). Freilich hält Kuyper wie auch Althusius den Menschen mit Aristoteles für ein xōon politikon. Wie Althusius direkt im ersten Kapitel seiner „Politica methodice digesta“ (1603; 31614) deutlich macht, geht es in der Politik um konsoziale Gemeinschaftsbildung: „Politik ist die Kunst, die Menschen zusammenzuschließen, damit sie untereinander ein gesellschaftliches Leben begründen, pflegen und erhalten. Deshalb wird sie Lehre vom symbiotischen Leben (symbiotikē) genannt.“101 Der Mensch ist nach Althuius ein homo symbioticus: Homo homini minister – „[d]ie Symbioten sind also einander Helfende“.102 Wie bei Althusius, so manifestiert sich auch bei Kuyper ein ausgeprägtes organisches Denken oder zumindest ein ausgeprägter organischer Vorstellungsgehalt. So spricht Kuyper etwa vom „organischen Leben der Gesellschaft und dem mechanischen Charakter der Obrigkeit“ (83f.). Als „Reibung und Kollision“ (86) umschreibt Kuyper den Kampf zwischen der Obrigkeit in ihrem Einheitsdrang und den diffundierenden Kräften der Gesellschaft. Bei Kuyper paart sich freilich das organische Denken nicht nur mit dem Schöpfungsordnungsgedanken, sondern auch mit einem nicht unerheblichen Schuss Vitalismus (vgl. 10–12), wie er sich im 19. Jahrhundert formierte und zu einem Kampfbegriff wurde, wenn Kuyper etwa von dem den Sphären „ein erschaffene[n] Lebensgesetz“ (88) spricht. Kuyper kann auch betonen, dass „das lokale Zusammenleben in Städten und Dörfern einen Lebenskreis bildet, der aus der Notwendigkeit des Lebens selber aufkommt und darum autonom im eigenen Busen sein muß“ (88). Auch das lokale

Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik, stw 1282, Frankfurt a.M. 1997, 496–567. 99 Zu Kuypers ordnungspolitischen Vorstellungen vgl. Kuyper, Antirevolutionaire Staatkunde I, 312–400. 100 Zur „kommunitaristischen“ Verteidigung des Kosmopolitismus vgl. jüngst M.  Nussbaum, Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, übers. von M. Weltecke, Darmstadt 2020. 101 Althusius, Politica I,1. Zit. nach Johannes Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, eingel. und hg. von D.Wyduckel, Berlin 2003, 24. 102 Althusius, Politica I,6 (Politik, 25).

3. Latenzen

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Zusammenleben, welches Althusius so wichtig ist,103 fällt nach Kuyper unter die „Sphärensouveränität“, gehört also zu den Bereichen, in denen es „die Prinzipien des Calvinismus zur Geltung [zu] bringen [gelte]. Mit seinen eigenen Worten: ‚Es gibt auf dem ganzen Hof unseres menschlichen Lebens nicht eine winzige Ecke, wo nicht der Ruf Christi, der der Souverän aller Menschen ist, erschallt: Mein.‘“104 3.2 Pluralismusfähigkeit. Der Konnex von Freiheit und Pluralismus nach Kuyper Kuyper hebt bei aller Einseitigkeit der Darstellung in seiner Geschichtskonstruktion die Pluralismusfähigkeit des Calvinismus hervor und stellt damit in gewisser Weise auch seine eigene unter Beweis.105 Dass sich hinter dem „Zauberwort“ des Pluralismus106 auch Hochproblematisches verbergen, ja tarnen kann, wird uns gegenwärtig insbesondere am Beispiel der sog. „Neuen politischen Rechten“ und des von ihr geforderten „Ethnopluralismus“ deutlich.107 Und doch hilft uns der politische Pluralismus gerade auch demokratietheoretisch weiter, da er nicht einfach etwa mit Carl Schmitt108 die Existenz eines homogenen Volkswillens unterstellt, sondern vielmehr vom Vorhandensein unter103

Vgl. K.-W. Dahm, Johannes Althusius – ein Herborner Rechtsgelehrter als Vordenker der Demokratie, in: ders. u.a. (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie 7, Berlin 1988, (21–41) 27f.; D. Wyduckel, Einleitung, in: Johannes Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, eingel. und hg. von D.Wyduckel, Berlin 2003, (VII–XLVII) XXXIX. 104 Augustijn, Abraham Kuyper, 293. Vgl. van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, 351. 105 Die Grenzen des von ihm konzedierten konfessionellen Pluralismus wurden dabei bereits in den problematisierenden Ausführungen im Kap. 2 sichtbar. Vgl. zu Kuypers Pluralismus-Konzeption: Bacote, The Spirit in Public Theology, 61–63; Bolt, A Free Church, 339–348; M.E. Brinkman, Kuyper’s Concept of the Pluriformity of the Church, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 111–122. 106 Vgl. einführend R. Eisfeld, Art. Pluralismus/Pluralismustheorien, in: D. Nohlen / F. Grotz (Hg.), Kleines Lexikon der Politik, München 62015, 469–474. 107 Vgl. H.-R. Reuter, Katechonten des Untergangs. Nation und Religion im Denken der deutschen Neuen Rechten, BThZ 35 (2018), 13–34. Fernerhin: J.H. Claussen / M. Fritz / A. Kubik / R. Leonhardt / A. von Scheliha, Christentum von rechts, Tübingen 2021; I. Nord / Th. Schlag (Hg.), Die Kirchen und der Populismus. Interdisziplinäre Recherchen in Gesellschaft, Religion, Medien und Politik, VWGTh 59, Leipzig 2021. 108 Vgl. C.B. Anderson, Liberalism versus Democracy? Abraham Kuyper and Carl Schmitt as Critics of Liberalism, in: J. Bowlin (Hg.), The Kuyper Center Review Vol. 4: Calvinism and Democracy, Grand Rapids / Cambridge 2014, 54–65.

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VII. „Just a minor thinker“?

schiedlicher Interessen und Interessengruppen in der Gesellschaft und auch im Bereich von Kirche und Konfession ausgeht. Bei „Kuyper at his best“ ist es gerade der Zusammenhang von Freiheit und Pluralismus, den er zu demonstrieren versucht. Freiheit und Pluralismus bedingen sich nach Kuyper wechselseitig: „Freiheit fungiert als Quelle des Pluralismus und der Pluralismus als Bedingung der Freiheit.“109 Nach J. Witte sind es „vier [Spiel-]Arten von Freiheit und Pluralismus“110, die Kuyper besonders lobend hervorhebt, die religiöse, die kirchliche, die soziale und die politische Spielart.111 Die Freiheitsrhetorik Kuypers reklamiert dabei die Gewissensfreiheit112 als das „Palladium aller persönlichen Freiheit“ (99) vollmundig und gewiss nicht ohne Geschichtsrevisionismus (oder doch zumindest Geschichtsreduktionismus) für den Calvinismus. Kuyper ist sich dabei aber durchaus bewusst, bestimmte freikirchliche Vertreter zu vereinnahmen, die gegen den Calvinismus agierten.113 So betont Kuyper die „unleugbare[] Tatsache, daß es nicht selten Baptisten und Remons­ tranten waren, die vor nun drei Jahrhunderten dies System der freien Kirche gegen den Calvinismus verteidigt haben“ (92). Zu nennen wäre etwa Roger Williams (1603–1683), der Gründer des Staates Rhode Island. Und dennoch erachtet Kuyper die Gewissensfreiheit als durch den Calvinismus in die Welt gekommen: „Bemerkenswert ist es denn auch, daß die Gewissensfreiheit von Anfang an von unsern calvinistischen Theologen und Juristen gegenüber der Inquisition verteidigt worden ist. Rom durchschaute außerordentlich gut, wie die Gewissensfreiheit das Fundament der kirchlichen Einheit unterwühlte, und ging dagegen an. Aber auch umgekehrt heißt es also erkennen, daß der Calvinismus durch sein lautes Eintreten für die Gewissensfreiheit die Einheit der sichtbaren Kirche im Prinzip preisgab“ (94; dort z.T. kursiv; vgl. 100).

Im Calvinismus manifestiert sich nach Kuyper ein Ja zum Pluralismus im Sinne der „vielgestaltige[n] Offenbarung der Kirche Christi auf Er109

Witte, Die Reformation der Rechte, 375. Ebd. 111 Vgl. a.a.O., 375–378. 112 Zur Gewissensfreiheit vgl. auch Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 30. 113 Vgl. etwa zum Puritanismus-Bild Kuyers: J.D. Bratt, Abraham Kuyper: Puritan, Victorian, Modern, in: C. van der Kooi / J. de Bruijn (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Works, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 53–68, bes. 65–68 (wiederabgedruckt in: L.E. Lugo [Hg.], Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids / Cambridge 2000, 3–21). 110

3. Latenzen

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den“ (98). Und selbst über die Kirche hinaus kann Kuyper das Wirken der „allgemeinen Gnade“ (110; 116)114 konstatieren – etwa im Bereich der Kunst. So hält er etwa unter Berufung auf Calvin fest, dass „die ‚artes liberales‘ Gaben sind, die Gott ‚promiscue piis et impiis‘, d.h. gleicherweise und ohne Unterschied Gläubige und Ungläubigen zuerteilt hat, ja die zufolge der Geschichte sogar in reicherem Maß gerade außerhalb des Glaubenskreises geglänzt haben“ (156; vgl. 148). Die Pluralismusfähigkeit115 des Kuyperschen politischen Modells resultiert aus dem projektierten Nebeneinander der autonomen Lebenssphären im Kampf um die Freiheit, ist also der Disposition nach in der Sphärensouveränität grundgelegt: „[S]o ist der Kampf für die Freiheit nicht nur für einen jeden in seinem Kreis für erlaubt erklärt, sondern sogar zur Pflicht gemacht, nicht dadurch, daß man, wie in der französischen Revolution, Gott beiseite schiebt und den Menschen auf den Thron der Allmacht setzt, sondern gerade dadurch, daß sich alle Menschen, die Behörden eingeschlossen, tief ehrerbietig beugen müssen vor der Majestät des allmächtigen Gottes“ (91).

Dies ist natürlich hinsichtlich der Verletzung von weltanschaulicher Neutralität des (Rechts)Staates zutiefst problematisch. Hier artikuliert sich aber bei Kuyper zugleich eine Pluralismus-Wertschätzung: Die Realisierung des Programms „der freien Kirche im freien Staat“ (98) bringt nach Kuyper nämlich einen enormen Pluralismusgewinn mit sich und zwar durch das Zerbrechen einer vorausgehenden Einheit.116 Die Genese der Freiheit beginnt Kuyper zufolge mit dem Einheitsbruch: „[W]o diese Einheit bricht, tagt die Freiheit von selbst“ (94). Der Einheitsbruch wird gleichsam zum Konstitutionsprinzip. Dem säkularen Modernismus wirft Kuyper vor, alle Verschiedenheiten zu leugnen und wegzubuchstabieren (20) und namentlich in Gestalt der 114

Zur allgemeinen Gnade vgl. A. Kuyper, Common Grace (1902–1904), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 165–201. Dazu: C.B. Anderson, A Canopy of Grace. Common and Particular grace in Abraham Kuyper’s Theology of Science, PSB 24 (1/2003), 122140. 115 Zur Pluralitätsfähigkeit vgl. auch Augustijn, Abraham Kuyper, 204. 116 Es lässt sich nach Kuyper (Reformation wider Revolution, 93) nicht leugnen, „daß der Calvinismus selber tatsächlich einen Bruch in die Einheit der Kirche gebracht, und daß gerade in den calvinistischen Ländern eine reiche Mannigfaltigkeit von allerhand Bildungen auftrat“. Mit nicht geringerem Pathos betont Kuyper, „daß die freie Kirche ausschließlich in den Ländern erblühte, in denen der Odem des Calvinismus zu wehen begann, d.h. in der Schweiz, Niederland, England, Schottland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika.“ Ebd.

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VII. „Just a minor thinker“?

französischen Revolution paganen „Gleichheitsutopien“ zu verfallen und damit die Moderne zu verspielen (21). Kuyper geht so weit, dass er die „Einheit der Religion“ (96) für entwicklungsgeschichtlich primitiv erklärt. Wiederum vitalistisch heißt es bei Kuyper: „Fast bei allen Völkern sieht man denn auch, daß sie mit Religionseinheit beginnen. Gewinnt aber das individuelle Leben bei fortgehender Entwicklung an Kraft, dann ist es eben natürlich, daß diese Einheit sich spaltet, und Vielförmigkeit sich als unabweisbare Forderung einer reicheren Lebensentwicklung geltend macht“ (96f.; vgl. 94f.). Hier artikuliert sich bei Kuyper durchaus eine Wertschätzung von Vielfalt.117 3.3 Die kleinen Leute. Kuypers sozialdiakonisches Engagement Zu den sympathischen Seiten Kuypers gehört auch seine Hinwendung zu den sog. „kleinen Leuten“ (kleyne luyden). Bei den „kleinen Leuten“ hat Kuyper „die calvinistische Bevölkerungsgruppe und auch deren Gedankenwelt [vor Augen], so wie sie sich in den Niederlanden vom 16. zum 18. Jahrhundert unter pietistischem Einfluß, vor allem aber auch in der damaligen reformierten Scholastik entwickelt haben. Kuyper möchte dieser Gruppe, die nun zum Teil durch die Abspaltung von 1834 außerhalb der Hervormde Kerk zu stehen gekommen war, ein neues Selbstbewußtsein geben und sie zum Kern der Hervormde Kerk, ja des niederländischen Volkes überhaupt gestalten.“118 Bereits Wilhelm von Oranien habe den „kleinen Leuten“ „das Gelingens eines Unternehmens verdankt“ (31). Freilich hat Kuypers Hinwendung zu den „kleinen Leuten“ auch etwas mit der Überwindung sozialer Gräben und der Erschließung neuer Milieus zu tun.119 Denn man muss sich klarmachen: „Nach Herkunft und Ausbildung gehört er [Kuyper] zu den führenden Kreisen, doch machte er sich schon bald geistig davon los und wurde zum Emanzipator einer reformierten Bevölkerungsschicht, die sich größtenteils aus den untersten Ständen zusammensetzte. Der von Kuyper ausgelöste gesellschaftliche Prozess war deshalb zuallererst für diesen Teil der Bevölkerung von Bedeutung, doch erfaßte er auch andere sich emanzipierende Gruppen wie Katholiken und Sozialisten.“120 Mit Recht hat 117

Vgl. zum Thema Th. Bauer, Die Vereindeutung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2019, der leider wieder auf die Stereotype von Calvins „Tyrannei der Tugend“ in Genf zurückgreift. 118 Augustijn, Abraham Kuyper, 295f. 119 Vgl. Ulrichs, Abraham Kuyper als Ideologe, 33. 120 Augustijn, Abraham Kuyper, 290. Vgl. auch van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, 344.

3. Latenzen

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der marxistische Historiker Jan Romein Kuyper den „Glöckner der kleinen Leute“121 genannt. Und auch Christian Link hält fest, dass Abraham Kuyper, „der als Theologe und Staatsmann das Ideal der Heiligkeit der Gesellschaft in seiner vielleicht aktivsten Form vertrat, für die Überwindung des sozialen Elends in den Niederlanden so viel getan hat wie kein zweiter.“122 Kuypers Engagement in der sozialen Frage123 verdient es also auch in sozialdiakonischer Hinsicht nachdrücklich gewürdigt zu werden. Positiv hervorzuheben ist: Bei Kuyper zeigt sich „die Sorge um den schwachen Menschen und dessen Schutz“124 und zwar in klarer Abgrenzung vom Sozialdarwinismus. So ist etwa festzuhalten: „Kuypers theologische Ansichten [haben] im hohen Maße zur Bildung einer Bevölkerungsgruppe beigetragen […], die von jeher von der Welt abgewandt lebte. Kuypers Schüler sind in der Vorstellung aufgewachsen, die Welt der Politik und der Wissenschaft, ja der Kunst sogar sei für den Christen kein fremdes Terrain, sondern er habe auch da seine Aufgabe zu erfüllen. Es geht um eine ‚allumfassende Lebens- und Weltanschauung‘.“125

Und gerade darin erweist sich Kuypers Anliegen eben nicht als schichtenspezifisch enggeführt,126 sondern als in der Reichweite geradezu universalistisch grundiert. 121

J. Romein, Abraham Kuyper. De klokkenist der kleine luyden, in: ders. / A.  Romein, Erflaters van onze beschaving. Nederlandse gestalten uit zes eeuwen, Amsterdam 101973, 747–770. Vgl. Augustijn, Abraham Kuyper, 293: „Als Orthodoxer wurde er [Kuyper] akzeptiert, aber als zu ungestüm gemieden. Zur gleichen Zeit suchte er auch selbst die Isolierung. Durch diese Entwicklung näherte er sich immer mehr der ziemlich breiten Schicht von Gläubigen herkömmlicher Prägung. Mit einem archaisierenden unzutreffenden Ausdruck nannte er sie die ‚kleinen Leute‘. Deren Sprachrohr wurde er in zunehmendem Maße.“ 122 Ch. Link, Calvin und der Calvinismus. Eine Skizze, in: M. Heimbucher / J. Lenz (Hg.), Hilfreiches Erbe? Zur Relevanz reformatorischer Theologie. FS Hans Scholl, Bovenden 1995, (97–119) 117. Vgl. das Urteil von Berkhof, 200 Jahre Theologie, 117: „Daß er [Kuyper] kein Repristinationstheologe wurde, bewiesen seine sozialpolitischen Ideen und Aktivitäten. Konservative Christen warfen ihm vor, daß sein sogenannter ‚Neu-Calvinismus‘ kaum mehr etwas mit Calvin zu tun habe.“ 123 Vgl. A. Kuyper, Manual Labor (1889), in: J.D. Bratt (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998, 231–254. 124 Augustijn, Abraham Kuyper, 305. 125 A.a.O., 303. 126 Augustijn (Abraham Kuyper, 289) hat darauf hingewiesen, dass Kuyper „seinen Einfluß deshalb ausüben [konnte], weil er im Namen einer bestimmten Volksschicht sprach und sein Wirken diese Gesellschaftsschicht geformt hat.“

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VII. „Just a minor thinker“?

4. Fazit Um abschließend nochmals auf die Ausgangsfrage und den Titel des Vortrages zu sprechen zu kommen: Hatte mein älterer Princetoner Kollege also nicht doch Recht? War Kuyper „just a minor thinker“? Der Daumen scheint sich nach allem bislang Ausgeführten doch nicht einfach nur nach unten zu senken. Ein ausschließlich negatives Urteil wäre ebenso undifferenziert wie undialektisch und würde Kuyper gewiss nicht gerecht. Neben den beobachteten Anfälligkeiten, die als mehr oder weniger unübersehbare Schwächen identifiziert wurden, gilt es ebenso, die auch leicht übersehbaren Stärken im politisch-theologischen Denken Kuypers wahrzunehmen. Hinsichtlich eines fairen Urteils sekundiert ausgerechnet Karl Barth zwar nicht im Detail, aber doch auf der Grundsatzebene dem angezählten Kuyper. Denn: Was heißt schon „groß“ oder „klein“ im Blick auf einen Theologen? Es handelt sich schlicht um einen theologischen Kategorienfehler, so gibt Barth in seinem „Schwanengesang“ zu bedenken, der damit nicht nur „Abraham, den Gewaltigen“, sondern auch „Carolus Magnus“ vom Sockel holt:127 Es kommt nicht darauf an, wer der/die Größte ist. „Es mag grosse Juristen, Mediziner, Naturforscher, Historiker, Philosophen geben: es gibt aber – das gehört beiläufig auch zu den ‚Existentialien‘ der Theologie – nur kleine Theologen. Es kann aber niemand auch nur ein ganz kleiner, auch nur ein im äussersten Nebenfach, ein auch nur dilettantisch und unbeholfen mit dieser Wissenschaft beschäftigter und also ihrem Gegenstand konfrontierter Mensch sein, ohne dass ihm dieser über den Kopf wächst, ohne dass das Objekt ihm, dem Subjekt gegenüber, unaufhaltsam die Oberhand gewinnt, ohne dass es ihn, der es von sich aus so gar nicht ‚haben‘ kann, hat – sodass er seinerseits willig oder unwillig, bewusst oder unbewusst, aber sehr bestimmt ein von ihm nicht nur faszinierter, sondern eben betroffener Mensch wird.“128

Insofern wird man – dialektisch vermittelt – Kuyper wie Barth selbst als kleinen Theologen bezeichnen dürfen,129 aber eben nicht einfach nur als einen „ganz kleinen“ Theologen, „not just a minor thinker“. 127

Vgl. Ch. Möller, Karl Barth der „kleine Theologe“ in seiner großen Bedeutung für die Praktische Theologie, in: Zwischen Mystik und Ratio. FS für Rainer Röhricht, hg. von u.a. S. Landau, Waltrop 1989, (179–201) 179; 201. 128 K. Barth, Einführung in die Theologie, Zürich 31985, 86. 129 Man kann vielleicht von dem Impuls eines Kleinerwerdens der Theolog*innen bei Barth sprechen. Vgl. A. Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theo-

4. Fazit

273

Denn Kuyper gibt sich selbst immer wieder als ein vom Gegenstand der Theologie, nämlich Gott, auf dem Feld der Politik konfrontierter und betroffener Mensch zu erkennen. Und das ist keine Kleinigkeit für einen politischen Theologen, wie groß oder klein er auch immer sein mag.

logie. Ein Versuch über das Projekt einer „impliziten Theologie“ bei Barth, Tillich, Bonhoeffer, Benjamin, Horkheimer und Adorno, Tübingen 1996.

VIII. „Die Sitzung geht weiter!“ Oder: Synode und Parlament Die Rezeption der Emder Synode von 1571 durch den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann

1. Eine einleitende biographische Einordnung Niemand geringeres als das deutsche Staatsoberhaupt, der Bundespräsident, war anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der Emder Synode am 6. Oktober 1971 zu einem Vortrag nach Emden eingeladen. Bei dem damaligen Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann (1899– 1976) handelte es sich freilich nicht einfach nur um den höchsten staatlichen Würdenträger, den die Bonner Republik aufzubieten hatte, sondern zugleich um einen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als bekennender Christ bekannte und keineswegs unumstrittene linksprotestantische Persönlichkeit, die über viele Jahrzehnte höchste kirchliche Ämter und Funktionen begleitete und den Weg der evangelischen Kirche in der jungen Bundesrepublik prägte. Heinemann, ein Freund Karl Barths (1886–1968) und vor allem seines Schülers Helmut Gollwitzers (1908–1993),1 hatte bereits als Rechtsberater der Bekennenden Kirche und Sprecher der Synodalen des Rheinlands aktiv am sog. Kirchenkampf (1933–1945) und der an der Barmer Bekenntnissynode (1934) teilgenommen,2 war Mitunterzeichner der Stuttgarter Schuld­ erklärung (1945) und nach dem Krieg von 1949 bis 1955 Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD sowie Mitglied des Rates der EKD von 1945 bis 1967. Auch nahm er an den Weltkirchenkonferenzen in Amsterdam (1948) und Evanston (1954) teil. Wohlgemerkt war Heinemann Jurist und kein Berufstheologe, freilich ein äußerst versierter Laientheologe3 und engagierter Christ, der sich neben „seinem beruflichen und politischen Engagement ganz in 1

Zur Freundschaft Heinemanns mit Gollwitzer vgl. C. Stern, Zwei Christen in der Politik. Gustav Heinemann und Helmut Gollwitzer, München 1979; Th. Flemming, Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen 2014, 421–426. 2 Vgl. W. Koch, Heinemann im Dritten Reich. Ein Christ lebt für morgen, Wuppertal 1972. 3 Nach dem Urteil von W. Vögele, Christus und die Menschenwürde. Eckpfeiler der politischen Ethik des Justizministers und Bundespräsidenten Gustav Heinemann, in: J. Thierfelder / M. Riemenschneider (Hg.), Gustav Heinemann. Christ und Politiker. Mit einem Geleitwort von Manfred Kock, Karlsruhe 1999, (150–169) 150, wer-

1. Eine einleitende biographische Einordnung

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den Dienst seiner Kirche stellte“.4 Heinemann gehörte zu den markanten protestantischen Profilen, die dem Nachkriegsdeutschland Kontur verliehen. Erhard Eppler hat seinen väterlichen Freund Heinemann als eine „der interessantesten, markantesten und auf seine Weise wirksamsten Gestalten im Deutschland des 20. Jahrhundert“5 bezeichnet. Politisch war sein Leben mit der Zugehörigkeit zu nicht weniger als fünf Parteien (wohlgemerkt nacheinander) ungemein bewegt. Bekannt wurde Heinemann als der Innenminister Konrad Adenauers, der aus Protest gegen dessen Wiederbewaffnungspolitik aus dem Kabinett und der CDU austrat,6 mit der „Gesamtdeutschen Volkspartei“ eine eigene, wenig erfolgreiche Partei gründete,7 schließlich zur SPD übertrat, Justizminister der Großen Koalition und mit den Stimmen von SPD und FDP zum dritten Bundespräsidenten der Bundesrepublik gewählt und damit einen sozialliberalen „Machtwechsel“ einleitete.8 Heinemanns ereignisreiches Leben ist Gegenstand etlicher Biographien geworden.9 Heinemann hat das Amt des Bundespräsidenten nicht als das eines Staatsschauspielers, sondern eines „Bürgerpräsidenten“ interpretiert und zwar durchaus in einem Doppelsinn, also – wenn man so will – sowohl als Genitivus subiectivus als auch Genitivus obiectivus. Geniden die politische Ethik und die Rechtsethik Gustav Heinemanns „weithin immer noch unterschätzt“. Deren Grundlinien hat Vögele (a.a.O., 150–169) selbst nachgezeichnet. 4 M. Kock, Geleitwort. Im Dienst der Kirche, in: J. Thierfelder / M. Riemen­ schneider (Hg.), Gustav Heinemann. Christ und Politiker. Mit einem Geleitwort von Manfred Kock, Karlsruhe 1999, (8–13) 9. 5 E. Eppler, Vorwort, in: Th. Flemming, Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen 2014, (7–8) 8. Vgl. auch E. Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt a.M. / Leipzig 1996, 33–39; 52–54; 64–66; 76–84. Ähnlich J. Rau, Gustav Heinemann, in: W. Huber (Hg.), Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, München 1990, 55–68. 6 Vgl. D. Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972. 7 Vgl. M. Klein, Anti-Parteien-Mentalität im parteipolitischen Engagement. Historische Studien zum Verhältnis zwischen dem westdeutschen Protestantismus und den politischen Parteien von der „Stunde Null“ 1945 bis zum Ende der „Ära Adenauer“ 1963 und zu dessen Vorgeschichte, BHTh 129, Tübingen 2005. 8 Zu Heinemanns Weg in die SPD vgl. T. Jähnichen, Impulse des Protestantismus für das Parteiwesen in Deutschland. Der Weg Gustav Heinemanns im Vergleich mit Adolf Stoecker und Friedrich Naumann, in: M.L. Frettlöh / H.P. Lichtenberger (Hg.), Gott wahr nehmen. FS für Christian Link, Neukirchen-Vluyn 2003, 425–437, bes. 432–437. 9 Vgl. H. Lindemann, Gustav Heinemann. Ein Leben für die Demokratie, München 1978; J. Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 2009; Flemming, Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen.

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

tivus obiectivus meint, dass Heinemann sich als Präsident der Bürger verstanden, sich also ihnen direkt und unmittelbar verpflichtet wusste, ihre Nähe sucht und sich nicht in Distanznahme übt; doch darüber hi­naus ist Heinemanns Selbstverständnis auch das eines Bürgers. Der Präsident als Bürger, genauer gesagt: als Citoyen, dies besagt der Genitivus subiectivus. Thomas Flemming hat seiner Heinemann-Biographie den sprechenden Untertitel gegeben: „Ein deutscher Citoyen“. Dazu führt Flemming aus: „[E]in ‚mündiger Bürger‘ wollte Heinemann stets sein; ein Bürger, der als ‚mitverantwortliches und in freier Selbstbestimmung mitwirkendes Glied‘ den Staat und die Gesellschaft ‚als seine eigene Angelegenheit‘ versteht und sich aktiv an deren Gestaltung, womöglich steten Verbesserung beteiligt. ‚Bürger‘ also ganz im Sinne eines engagierten ‚Citoyen‘, so verstand es Heinemann, und nicht eines ‚Bourgeois‘, der in erster Linie auf die Wahrung seines Besitzes und seiner Privilegien bedacht ist.“10 An dieser Stelle kann es natürlich nicht darum gehen, die Biographie Heinemanns umfassend aufzuarbeiten oder auch nur um ein Kapitel zu ergänzen. Vielmehr muss hier der Fokus denkbar eng gesetzt werden und allein ein kleiner Ausschnitt seines Werkes in den Blick genommen werden, nämlich seine Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat anhand seines Vergleichs zwischen Synode und Parlament. 2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt einer komparativen Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat 2.1 Der Hintergrund des Vergleichs: Heinemanns geschichtspolitisches Anliegen als Bundespräsident Heinemann hat während seiner 5-jährigen Bundespräsidentschaft zwischen Juli 1969 und Juni 1974 mehr als 200 Reden und Ansprachen gehalten. Dabei treten einige wiederkehrende thematischen Zusammenhänge und inhaltliche Schwerpunkte zutage, die Heinemann offensichtlich besonders am Herzen lagen und in deren Vermittlung er seine besondere „Mission“ als Bundespräsident sah. Es lassen sich nach Heinemanns Biograph Thomas Flemming drei solcher Themenkreise eruieren: 1. „Bürgermut“ und staatsbürgerliches Engagement; 2. die Stärkung von Friedenswillen und Friedensfähigkeit; 3. die Erinnerung

10

Flemming, Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen, 9.

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

277

an die teilweise verschütteten Freiheitstraditionen in der deutschen Geschichte.11 In diesen dritten Themenkreis gehören auch Heinemanns Emder Ausführungen zu „Synode und Parlament“. Diesbezüglich gilt es zu beachten: „Gustav Heinemann wollte zwar ausdrücklich nicht ‚Geschichtslehrer der Nation‘ sein, hielt es aber doch für notwendig, den Deutschen, die seiner Ansicht nach auch Ende der sechziger Jahre noch stark in obrigkeitsstaatlichem Denken befangen waren, weitgehend vergessene Freiheitstraditionen ins Gedächtnis zu rufen.“12 Die „Vertiefung republikanischen und demokratischen Bewusstseins“13 lag ihm am Herzen. Man muss sich klarmachen, dass Heinemann in einer Zeit in der Bundesrepublik agierte, in der die demokratische Kultur noch keineswegs voll ausgeprägt war, sondern sich nach Auffassung vieler erst zu entwickeln begann. So kritisierte damals etwa Jürgen Habermas die lediglich „formaldemokratische“ Prägung der politischen Institutionen, die einer „diffuse[n] Massenloyalität“14 gleiche, und forderte dazu auf, „gegen die Stabilisierung eines naturwüchsigen Gesellschaftssystems über den Köpfen seiner Bürger“15 anzugehen.16 Heinemanns „Mission“ war durchaus geschichtspolitischer Natur. Er betrieb sie mit geradezu volkspädagogischem Eifer: „Mir geht es darum, bestimmte Bewegungen in unserer Geschichte, die unsere Demokratie vorbereitet haben, aus der Verdrängung herauszuholen und mit unsrer Gegenwart zu verknüpfen. Um es positiv auszudrücken: Mir liegt daran, bewusst zu machen, dass unsere heutige Verfassung durchaus eigenständige Wurzeln hat und nicht nur eine Auflage der Sieger von 1945 ist […]. Unsere Geschichte ist nicht so arm an Freiheitsbewegungen, wie wir und andere uns oftmals einreden wollen.“17 11

Vgl. a.a.O., 427. Ebd. 13 Vögele, Christus und die Menschenwürde, 153. 14 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, 55. 15 A.a.O., 196. 16 Heinemanns „Mission“ lässt sich durchaus auch als Beitrag zur Überwindung einer „Elitendemokratie“ verstehen. Vgl. R. Anselm, Die Elitendemokratie überwinden. Zur Aufgabe der Kirchen in der Demokratie, in: Ch. Albrecht / R. Anselm, Differenzierung und Integration. Fallstudien zu Präsenzen und Praktiken eines Öffentlichen Protestantismus, Tübingen 2020, 41–58. 17 G.W. Heinemann, Die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte. An­ sprache aus Anlass der Eröffnung der Erinnerungsstätte in Rastatt, 26. Juni 1974, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Gustav W. Heinemann. Reden und Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, (36–44) 39f. 12

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

In seiner Ansprache bei der Schaffermahlzeit im Bremer Rathaus vom 13. Februar 1970 heißt es: „Ich glaube, dass wir einen ungehobenen Schatz an Vorgängen besitzen, der es verdient, ans Licht gebracht und weit stärker im Bewusstsein unseres Volkes verankert zu werden. […] Glücklicherweise hat es auch in Deutschland lange vor 1848 nicht wenige freiheitlich und sozial gesinnte Männer und Frauen gegeben, auch ganze Gruppen und Stände, die sich mit der Bevormundung der Herrschenden nicht abfinden wollten.“18

Zu diesen verschütteten Freiheitstraditionen, die es verdienen, ins öffent­liche Bewusstsein gerückt zu werden, gehört auch die Emder Generalsynode von 1571. 2.2 Der Anlass des Vergleichs: Das 400-jährige Jubiläum der Emder Synode Heinemann nimmt das 400-jährige Jubiläum der Generalsynode von 1571 und die Einladung nach Emden zum Anlass, sich zum Verhältnis von Synode und Parlament zu äußern und entfaltet „eine[n] grundsätzlichen Vergleich“19 zwischen beiden. Sein Vortrag ist mit anderen Worten komparativ angelegt. Wie die Komparatistik ihrer Absicht nach Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Vergleichsgegenständen schärfer herausarbeitet, so dürfte es auch Heinemanns Intention gewesen sein, die Konturen hervortreten zu lassen. Beide Vergleichsgegenstände sollen sich wechselseitig erhellen. Eine solche auf schnörkellose Klarheit abzielende Anlage kam gewiss Heinemanns charakterlicher Disposition entgegen, die als geradlinig, aber doch auch als nüchtern und trocken beschrieben wurde. Heinemanns Biograph Jörg Treffke bemerkt dazu: „Zeitgenossen charakterisierten Heinemanns Wesensart im allgemeinen [sic!] als spröde, bisweilen als sauertöpfisch. Sein Auftreten wurde wie auch seine Sprache von vielen als sachlich-nüchtern und karg empfunden. Nur bei wenigen Themen ließ Heinemann ein gewisses Pathos für die Sache durch18

G.W. Heinemann, Geschichtsbewusstsein und Tradition in Deutschland. An­ sprache bei der Schaffermahlzeit im Bremer Rathaus, 13. Februar 1970, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Gustav W. Heinemann. Reden und Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, (30–35) 33f. 19 G.W. Heinemann, Synode und Parlament, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Gustav W. Heinemann. Reden und Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, (132–143) 132.

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

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blicken. Grundsätzlich geschah dies, wenn er über ‚Demokratie‘ sprach. Gerne und leidenschaftlich appellierte er daran, sich bewusst zu machen, dass Deutschland ‚erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte‘ stehe und nun endlich die ‚freiheitliche Demokratie‘ zum ‚Lebenselement unserer Gesellschaft werden‘ müsse. Zugleich entschuldigte er sich meist augenzwinkernd für seinen schwärmerischen Exkurs mit dem Hinweis, er sei nun einmal ein ‚oft ungestümer Befürworter demokratischer Lebensform‘.“20

In dem zu untersuchenden Vortrag „Synode und Parlament“ blitzt dieses Pathos bisweilen auf und es wird – wenngleich sicherlich verhalten und wohldosiert – Leidenschaft erkennbar. Über den Ton, in dem diese Rede gehalten wurde, wissen wir leider nichts, da Heinemann aufgrund von Krankheit21 nicht persönlich in Emden zugegen war und seine Ansprache nicht vortragen konnte. Er ließ sie durch seinen langjährigen Mitarbeiter und Vertrauten, den damaligen nordrheinwestfälischen Landesminister für Bundesangelegenheiten Diether Posser (1922–2010),22 der seit den 1950er Jahren Sozius von Heinemann in dessen Essener Anwaltspraxis war, vorlesen. Immerhin ist die Verbreitung dieses Vortrages recht groß gewesen, insofern sie nicht in der „Reformierten Kirchenzeitung“,23 sondern auch einem Sonderheft24 zum Jubiläum erschien und auch eine Replik erfuhr.25 20

Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien, 221. So S. Meurer, Synode und Parlament – Rückfragen an Bundespräsident Gustav Heinemann, RKZ 113 (1972), (41–44) 41. 22 Vgl. die Autobiographie D. Posser, Anwalt im kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968, München 21991; D. Posser, Gustav Heinemann, in: K. Scholder / D. Kleinmann (Hg.), Protestantische Profile. Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, Königstein/Taunus 1983, 382–396, hat auch ein kurzes „Porträt“ Heinemanns verfasst. 23 RKZ 113 (1972), 38–41. 24 In: Die Emder Synode von 1571. Beiträge aus dem Jubiläumsband: 1571 – Emder Synode – 1971, hg. von der Evangelisch-reformierten Kirche in Nordwestdeutschland, Neukirchen-Vluyn 1973, 71–80. 25 Die Replik, auf die hier nachdrücklich verwiesen sei, stammt von Meurer, Synode und Parlament, 41–44. Er sieht die Gefahr gegeben, dass bei Heinemann „Parlament und Synode in Aufbau und im Verhalten ihrer Mitglieder so stark auseinandergerückt werden, daß sie beziehungslos nebeneinander existieren“ (a.a.O., 41). Kritisch fragt Meurer (ebd.) zurück: „Werden damit nicht letztlich doch wieder zwei Reiche postuliert, in denen dem Christ zugemutet wird, mal so und mal anders zu existieren?“ Diese Kritik Meurers an Heinemann ist der Tendenz nach sicherlich überzogen, da auch K. Barth, auf den sich Meurer beruft, in „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946), die particula veri einer Zweireiche-Lehre bewusst festhält. Vgl. K.  Barth, Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, 21

280

VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

Die Rezeption der Emder Synode fällt in Heinemanns Vortrag einerseits sehr beschränkt aus und reduziert sich auf den Eingangsartikel der Emder Kirchenordnung von 1571, wo es bekanntermaßen heißt: „Keine Gemeinde darf über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere älteste, kein Diakon über andere Diakone Vorrang haben oder Herrschaft beanspruchen. Sie sollen lieber dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit aus dem Weg gehen.“26

Kirchenhistoriker*innen hätten sich sicherlich eine breitere Bezugnahme gewünscht, vor allem im Blick auf die Genese und Wirkungsgeschichte der Emder Synode. Doch war eine historische Rekonstruktion nicht die von Heinemann zu leistende Aufgabe. Andererseits steht der eingeschränkten Wahrnehmung Heinemanns durchaus die Weite seiner Einordnung gegenüber. Heinemann nimmt die Emder Synode nicht isoliert wahr, sondern stellt sie kirchen- und politikgeschichtlich jeweils in einen größeren Kontext: kirchengeschichtlich, indem er die Synode der Vorgeschichte der Barmer ThSt 104, Zürich 41989, 49–82, bes. 62–64 (Abschnitt 12). Meurer stellt gleichwohl unter Berufung auf die „kirchliche Empirie“ eine Reihe von wichtigen und bedenkenswerten solidarisch-kritischen Rückfragen zu Heinemanns Rede, die insgesamt auf einem allzu optimistischen, ja verklärten Bild von der harten presbyterial-synodalen Wirklichkeit basiere. Die Einwände Meurers (Synode und Parlament, 44) sind nichtsdestotrotz von der Intention getragen, Heinemanns presbyterial-synodalen Anliegen aufzunehmen und gleichsam zu radikalisieren, was heiße, dass „man nach Lage der Dinge ihre [der presbyterial-syndalen Ordnung; M.H.] uns überlieferte Form [wird] modifizieren müssen.“ Die zur Zeit der Emder Synode entwickelten presbyterial-synodalen Formen seien damals berechtigt und gut gewesen, seien heute aber nicht mehr hinreichend, so dass man ihr Grundanliegen aufnehmen und die Formen gewissermaßen „aktualisieren“ müsse. Die Kirche könne in Sachen „Demokratie“ mittlerweile eben auch vom Staat lernen und nicht nur umgekehrt. Gewiss hatte Meurer mit diesem Plädoyer Heinemann grundsätzlich auf seiner Seite. Heinemann hat damals, wie K. Halaski (Synode und Parlament, RKZ 113 [3/1972], 37), der damalige Herausgeber der „Reformierten Kirchezeitung“ (RKZ) schreibt, in Kenntnis der Rückfragen Meurers deren Aufnahme neben seinen eigenen Ausführungen ausdrücklich begrüßt. Zu Karl Halaski vgl. H.-G. Ulrichs, „Ein frischer Mensch mit vielseitigem Interesse“. Der reformierte Publizist, Funktionär und Liturgiker Karl Halaski, in: ders., Reformierter Protestantismus im 20. Jahrhundert. Konfessionsgeschichtliche Studien, FRTH 9, Göttingen 2018, 550–585. 26 Die Akten der Emder Synode, Art. 1. Zit. nach M. Freudenberg / A. Siller, Emder Synode 1571. Wesen und Wirkungen eines Grundtextes der Moderne, Göttingen 2020, 71. Zur Emder Synoder vgl. neben diesem Band einführend das Jubiläums­ heft: Keine einsamen Entscheidungen. Emder Synoder 450 Jahre, hg. von Evangelisch-reformierter Kirche / Reformiertem Bund in Deutschland, Breklum 2020.

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

281

Theologischen Erklärung (1934) zuordnet und die Eingangsartikel von Emden als Präfiguration von Barmen III liest; politikgeschichtlich, indem Heinemann den Bezug zur Genese eines demokratischen Ethos in der deutschen Geschichte herstellt, das im Widerspruch zum nationalsozialistischen Führerprinzip steht.27 Den Hintergrund der Ausbildung eines solchen Ethos bilden die Schwierigkeiten, die der deutsche Protestantismus, namentlich das Luthertum, aufgrund der mit dem landesherrlichen Kirchenregiment einhergehenden Obrigkeitsmentalität mit der Demokratie hatte.28 Heinemann macht demgegenüber deutlich, welche bedeutenden demokratietheoretischen wie demokratiepraktischen Impulse vom reformierten Flügel der Reformation ausgingen,29 die sich vor allem in der presbyterial-synodalen Kirchenordnung manifestierten.30

27

Vgl. Heinemann, Synode und Parlament, 141. Vgl. zu den Schwierigkeiten H.-R. Reuter, Angebot und Aufgabe. Der deutsche Protestantismus und die Demokratie des Grundgesetzes, ZEE 64 (2020), 105–118. Vgl. auch zu den unterschiedlichen Entwicklungen im Protestantismus W. Huber, Protestantismus und Demokratie, in: ders. (Hg.), Protestanten in der Demokratie. Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland, München 1990, 11–36. 29 Vgl. M. Sallmann, Reformation und Demokratie: Die Bedeutung von Subsidiarität und Priestertum aller Gläubigen, in: P. Bosse-Huber u.a. (Hg.), 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich, Zürich 2014, 247–255; J. Staedtke, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: ders., Reformation und Zeugnis der Kirche. Gesammelte Studien, hg. von D. Blaufuss, ZBRG 9, Zürich 1978, 281–304. Speziell zu Calvin: M. Beintker, Calvin und die Demokratie, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeshcichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 360– 374. M. Beintker (Leitlinien reformatorischer Ekklesiologie. Das Beispiel Calvins, ZThK 114 [2017], 398–416, 416) bezeichnet die presbyterial-synodale Verfassung als eine der „Fernwirkungen der Ekklesiologie Calvins“. Negativ beantwortet letztlich Ph.  Benedict (Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven / London 2002, 533–537) die Frage nach dem Beitrag des reformierten Protestantismus zur Demokratie. 30 Vgl. die Definition von J. Mehlhausen, Art. Presbyterial-synodale Kirchenverfassung, TRE 27 (1997), (331–340) 331: „Obwohl der Begriff […] erst recht spät zum Fachterminus des evangelischen Kirchenrechts wurde, beschreibt er ein aus der reformierten Tradition des 16. Jahrhunderts stammendes Prinzip der Leitung der Kirche, demzufolge der kirchliche Leitungsauftrag (das Kirchenregiment) bei kollegial zusammengesetzten Gremien leiten soll, in denen jeweils Theologen und Nichttheologen gleichberechtigt miteinander beraten und beschließen.“ 28

282

VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

2.3 Die presbyterial-synodale Kirchenverfassung als Demokratisierung der Kirche Das Heinemannsche Pathos manifestiert sich in seinen Ausführungen dann, wenn er den egalitären Impuls der presbyterial-synodalen Ordnung herausarbeitet, der auf demokratische Partizipation im Rahmen einer Gemeindekirche zielt.31 So hebt Heinemann trotz aller Unterschiede zwischen Synode und Parlament hervor, „wie sehr auch die Kirche durch eine klare presbyterial-synodale Ordnung (Aufbau von unten!) zur Verlebendigung einer demokratischen Staatsordnung beitragen kann“, weil „ein kirchlicher Aufbau aus brüderlicher [und schwesterlicher] Gleichberechtigung ihrer Glieder in den staatlichen Raum hineinwirkt.“32 Dieses Hineinwirken wird nicht näher spezifiziert. Heinemann geht aber wohl vor einer Vorbildfunktion kirchlicher Ordnungen aus, die paradigmatischen Charakter haben.33 Die Kirche predigt nämlich – wie Barmen III sagt – nicht nur mit ihrer Botschaft, sondern auch mit ihrer Ordnung und zwar als Christengemeinde mitten in der Bürgergemeinde. Karl Barths Modell von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946) steht hier bis in die Diktion hinein Pate34 und liefert mit dem Bild von den beiden konzentrischen Kreisen die Anschauung für Heinemanns Ausführungen. Es geht auch Heinemann – entsprechend diesem Bild – um eine differenzierte Zuordnung 31

W. Huber, Synode und Konziliarität. Überlegungen zur Theologie der Synode, in: G. Rau u.a. (Hg.), Das Recht der Kirche III. Zur Praxis des Kirchenrechts, FBESG 51, München 1994, 319–338, 330f., sieht ein „konstruktives Wechselverhältnis“ zwischen der modernen Demokratie und der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung gegeben. So auch H. Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung, 230, der von einer „vielgestaltige[n] Wechselwirkung von politischem und kirchlichem Konstitutionalismus“ spricht: „namentlich die presbyterial-synodale Ordnung, wie sie am klarsten am Niederrhein und in Teilen Westfalens praktiziert wurde, wirkte als Modell für den politischen Liberalismus. Umgekehrt fand dieser Liberalismus ein vergleichsweise ungefährliches Betätigungsfeld im kirchlichen Bereich, im Einsatz für eine Kirchenverfassung, in der die Rechte des ‚Kirchenvolkes‘ gegenüber der ‚Kirchenregierung‘ verbrieft werden sollten.“ 32 Heinemann, Synode und Parlament, 142. 33 Dies ist auch der Leitgedanken von Karl Barths Kirchenrechts-Verständnis. Vgl. K. Barth, KD IV/2, 815: „Rechtes Kirchenrecht ist vorbildliches Recht.“ Dazu R. Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik 1, Neukirchen-Vluyn 1993, 64–70; H.-R. Reuter, Was soll das Recht in der Kirche? Zur Begründung und Aufgabe evangelischen Kirchenrechts, in: ders., Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, ÖTh 8, Gütersloh 1996, 121–164. 34 So gebraucht Heinemann, Synode und Parlament, 143, explizit den Barthschen Terminus bzw. Buchtitel „Christengemeinde und Bürgergemeinde“.

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

283

von Staat und Kirche, Kirche und Gesellschaft.35 Der egalitäre Impuls scheint dabei für Heinemann entscheidend zu sein: „Indem die Christengemeinde geschwisterliche Gleichheit unter der Herrschaft Jesu Christ selbst praktiziert und lebt, macht sie sich zugleich mitverantwortlich für die Bürgergemeinde, wird sie zur Anwältin sozialer und rechtsstaatlicher Demokratie.“36 Synode und Parlament repräsentieren, wenn man so will, in nuce das Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde. Heinemann beschränkt sich bei seinem Vergleich zwischen Synode und Parlament auf seine rheinische Heimatkirche und deren presbyterial-synodale Ordnung sowie den deutschen Bundestag. Es ist wichtig, diesen „Versuchsaufbau“ zu beachten.37 Denn die rheinische Kirchenordnung ist keineswegs, wie Heinemann weiß,38 mit der Emder Generalsynode und ihrem vierstufigen Aufbau aus Presbyterium/Gemeinde, Classis, Provinzial- und Generalsynode gleichzusetzen. So weist etwa Wilhelm Holtmann darauf hin: „Gewiß, man darf die reformierten Synoden nicht gleichstellen mit den späteren Synoden, die aufgrund der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835 gebildet wurden. Diese Synoden standen weithin nur als beratende und beschließende Körperschaften neben dem Kirchenregiment, das vom Landesherrn durch die Konsistorien ausgeübt wurde. Bei den alten reformierten Synoden liegt das Kirchenregiment bei der Synode.“39

Genau diesen Punkt macht Heinemann mit dem Art. 168 der Rheinischen Kirchenordnung stark:40 „Die evangelische Kirche im Rheinland 35

Vgl. Vögele, Christus und die Menschenwürde, 168. B. Klappert, Christengemeinde und Bürgergemeinde. K. Barth – G. Heinemann – H. Simon, in: ders., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, (285–304) 291. 37 So auch W. Holtmann, „Ende des kirchlich-synodalen Prinzips im Zeitalter der Demokratie?“, RKZ 136 (5/1995), (412–420) 416. 38 Vgl. Heinemann, Synode und Parlament, 133. 39 Holtmann, Ende, 414. Im Blick auf die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung urteilt Zschoch, Gemeindekirche und Kirchenordnung, 33: „[D]ie Verbindung der presbyterial-synodalen Tradition mit den liberalen Leitvorstellungen einer repräsentativen Demokratie machte die Modernität der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung aus. Der Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 stellte daher für das Rheinland und Westfalen keinen derart tiefen Einschnitt dar wie für andere Gebiete in Deutschland.“ Vgl. ausführlich: ders., Kirchenordnung der Freiheit. Die presbyterial-synodale Ordnung im Wandel politischer Konstellationen, MEKGR 60 (2011), (115–133) 123–127. 40 Vgl. Heinemann, Synode und Parlament, 135. 36

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

wird von der Landessynode geleitet.“ Heinemann möchte dabei nicht einfach die Kirchenleitung entmachtet wissen, sondern jene konsistorial-amtskirchlichen Elemente, die sich in den Landeskirchenämtern gewissenmaßen gewohnheitsrechtlich und behördentechnisch an der Synode vorbei einschleifen: „Die Kirchenleitung hat also keine eigene Kirchengewalt, und die Synode ist darum auch keine Vertretungskörperschaft der Gemeinden oder der Kirchenglieder in einem Gegenüber zur sogenannten Kirchenleitung. Die Synode ist vielmehr in ungeteilter Zuständigkeit das Leitungs- und Verwaltungsorgan des landeskirchlichen Zusammenschlusses ihrer Ortsgemeinden und Kirchenkreise. Sie selber vertritt diese Landeskirche nach außen (Art. 169, 11).“41

Kirchenleitung im eigentlichen Sinne sind nach Heinemann nicht die Kirchenämter in Düsseldorf, Bielefeld etc.,42 sondern die Presbyterien der örtlichen Gemeinden, die Synoden der Kirchenkreise und Landeskirchen, wohlgemerkt „alles das ohne Machtbefugnis aus hierarchischer Überordnung, sondern in einer in allen Fragen der Lehre und des Verhaltens auf Mahnung und Belehrung ausgerichteten brüderlichen Gemeinschaft.“43 „Ein Kernproblem“ für die presbyterial-synodale Ordnung stellt nach Heinemann „die Verfestigung der Kirchenleitung“44 dar, welches durch die Landeskirchenämter strukturell verschärft werde: „Wenn auch der Präses und die anderen hauptamtlichen Mitglieder der Kirchenleitung ebenfalls Mitglieder des Landeskirchamtes sind, so ergeben sich doch gerade daraus für die Kirchenleitung, aber auch für das Landeskirchenamt aus ihrer ständigen Befassung mit den Leitungs- und Verwaltungsaufgaben erhebliche Übergewichte an Einfluss, denen gegenüber die Grundgedanken einer presbyterial-synodalen Ordnung nur schwer durchzuhalten sind. Hier wäre eine ständige kritische Frage die, ob nicht obendrein etwas nach

41

A.a.O., 135f. Sehr präzise extrapoliert Heinemann, a.a.O., 135, die Funktion der Landeskirchenämter: „Da aber die Synode nicht ständig versammelt werden kann, übt zwischen den Tagungen das Präsidium der Synode deren Befugnisse unter der Bezeichnung ‚Kirchenleitung‘ im Auftrage der Synode aus (Art. 172, 192), wobei sich die sogenannte Kirchenleitung des Landeskirchenamtes bedient, das an die Weisung der Kirchenleitung gebunden ist (Art. 203).“ 43 Ebd. 44 A.a.O., 142. 42

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

285

oben gezogen wird, was unten, also in den Kirchenkreisen, erledigt werden könnte.“45

Holtmann weist auf die multiplen Quellen der Rheinischen Kirchenordnung hin,46 die sich nicht auf die Emder Generalsynode reduzieren lassen: „Die Kirchenordnung der Rheinischen Kirche ist aus der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835 hervorgegangen, die wiederum hat Vorstufen in der Genfer Kirchenordnung von 1541, der Kölner Reformationsschrift von 1543, der niederländischen Kirchenordnung von 1550, den Einrichtungen des Johannes a Lasko in Ostfriesland und London, der französischen Kirchenordnung von 1559, den Beschlüssen des Weseler Konvents von 1568 und der Emder Synode von 1571, der ersten reformierten Generalsynode in Duisburg von 1610, deren Beschlüsse länger als zwei Jahrhunderte eine Rechtsordnung für reformierte Kirchen am Niederrhein gehabt haben. Aber auch die Synodalordnung des geistlichen Ministeriums der lutherischen Kirche im Klever Gebiet, wo althessische Vorbilder und die Zweibrücker Kirchenordnung von 1557 Spuren hinterlassen haben, wirken auf die Kirchenordnung von 1835 ein. Das alles und vor allem die Erkenntnisse, die im Kirchenkampf wieder neu gewonnen wurden, bestimmen die Kirchenordnung der Rheinischen Kirche, die 1952 ihre gültige – nicht endgültige und auch nicht unwandelbare – Gestalt gefunden hat.“47

2.4 Heinemanns Kirchenverständnis: Kirche als Gemeindekirche im Lichte von Barmen III Dennoch verbindet – wie Heinemann hervorhebt – die gemeindekirchliche Traditionslinie Emden und die Rheinische Kirchenordnung. Sie sei von der amtskirchlichen Traditionslinie zu unterscheiden und verlaufe über Barmen III. Zugleich hole sie Luthers Versäumnis nach, im Sinne einer konsequenten Reformation eigene Ordnungen zu etablieren und in diesem Sinne auf die reformatio doctrinae die reformatio vitae folgen zu lassen:

45

Ebd. Vgl. dazu ausführlich: H. Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung – Prinzip und Wandel, MEKGR 55 (2006), 199–217 (erneut abgedruckt in: H. Zschoch [Hg.], Kirche – dem Evangelium Strukturen geben. Theologische Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, VKHWB.NF 11, Neukirchen-Vluyn 2009, 220–238). 47 Holtmann, Ende, 416. 46

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„Diese Notwendigkeit wurde indessen dadurch umgangen, dass die Luther zugewandten Landesfürsten und Magistrate der reichsfreien Städte mit Willen Luthers die Gestaltung der neuen Landeskirchen in die Hand nahmen und jene Koppelung von Thron und Altar praktizierten, die das Schicksal der lutherischen Kirche geworden ist.“48

Das landesherrliche Kirchenregiment, das die amtskirchliche Traditionslinie der Alten Kirche beerbte, ist nach Heinemanns Lesart der große, langanhaltende Katechon, der gewissermaßen dazwischengekommen und die konsequente Realisierung des gemeindekirchlichen Prinzips ganze 400 Jahre lang verhindert hat, indem die Gemeinden königlichen Konsistorien und königlichen Generalsuperintendenten unterstellt wurden.49 Das gemeindekirchliche Prinzip besage indes schlicht: Kirche ist Gemeinde.50 Kirche ist eine Gemeinde von Schwestern und Brüdern, wie es in Barmen III heißt, „in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“ Gemeinde der Schwestern und Brüder – d.h. nach Heinemann, der wiederum den egalitären, antiabsolutistischen bzw. antihierarchischen Zug der Kirchenordnung stark macht, 51 „dass eine evangelische Kirche keine hierarchisch gegliederte 48

Heinemann, Synode und Parlament, 134. Vgl. a.a.O., 135. 50 Zur Gemeindekirche vgl. E. Busch, Gemeindekirche. Vortrag vor dem „Reformierten Forum Berlin“ am 11.4.1997, RKZ 138 (6/1997), 268–276; O. Weber, Was heißt heute „reformiert“?, in: ders., Die Treue Gottes in der Geschichte der Kirche. GA II, BGLRK 29, Neukirchen-Vluyn 1968, (147–161) 155–159. E. Wolf, Barmen. Kirche zwischen Versuchung Gnade, BEvTh 27, München 31984, 133f., bemerkt kritisch: „Im Kirchenkampf begann sich in der Tat so etwas wie Gemeindekirche, ‚mündige Gemeinde‘, zu regen. In der bruderrätlichen Organisation der Bekennenden Kirche hat man das aufzufangen gesucht und für die Laientätigkeit des Gemeindebruderrates und der Gemeinde überhaupt auch neue gottesdienstliche Möglichkeiten entwickelt, die freilich nach 1945 oft als reine Notstandsmaßnahmen zugunsten des nun wieder unbehinderten Amtes abgebaut wurden“. 51 Den antihierarchischen Wesenszug von Kirche betonte bereits die Emder Synode. So nachdrücklich A. Detmers, Kirche ohne Hierarchie. Die Emder Synoder (1571) – Wegmarke der presbyterial-synodalen Kirchenordnung, in: M. Hofheinz / U. Lückel (Hg.), Zentrale Gestalten evangelischer Kirchengeschichte in Niedersachsen, Bielefeld 2021, 65–82. 49

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

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Heilsanstalt sein kann und dass erst recht keinesfalls der Staat ihr Herr ist, auch nicht Herr ihrer Ordnungen.“52 In Barmen III sieht Heinemann „endlich auch eine tragfähige Begründung dessen“ angeboten, „was evangelischerseits unter Kirche zu verstehen ist.“53 Ob Heinemann hier bewusst auf Ernst Troeltsch’ Kirchen-Typologie aus seinen „Soziallehren“ anspielt, wie der Terminus „Heilsanstalt“ naheliegt, bleibt unklar. Jedenfalls unterscheidet Troeltsch bekanntermaßen zwischen den drei Typen Kirche, Sekte und Mystik.54 Dass Heinemann keineswegs einfach nur den klassischen Kirchentypus vor Augen hat, der nach Troeltsch durch einen anstaltlich-institutionellen Charakter gekennzeichnet ist, wird evident, wenn man sich Troeltschs Gegenüberstellung des Sektentypus anschaut: Während die Kirche, die Massen- und Volkskirche sein will, „die Göttlichkeit und Heiligkeit aus den Subjekten in die objektive Heilsanstalt und ihre göttliche Gnadenund Wahrheitsausstattung“55 verlegt, geht es den Sekten um „Bekenntnisgemeinden heiliger Christen“, denen das „absolute Evangelium […] Gewalt, Macht und Recht verbietet“.56 Diesem letztgenannten Typus nähert sich Heinemann mit seinem Kirchenverständnis, das vom „Kirchenkampf“ geprägt ist, erkennbar an.57 Mit Troeltsch gesprochen, begegnet uns bei Heinemann ein Kirchenverständnis gewürzt mit einem guten Schuss „Sozialphilosophie des asketischen Protestantismus, der aus dem freikirchlichen und pietistisch gefärbten Calvinismus und den der Verkirchlichung angenäherten asketischen Sekten emporwuchs“58. Kirche ist Heinemann zufolge keine Staatskirche und auch keine Heilsanstalt und doch ist – wie Heinemann betont – jede Ortgemeinde im Vollsinn Kirche, „nicht lediglich eine Filiale oder unselbständige Untergliederung der Landeskirche.“59 Der Bundespräsident betont: „Glied einer Kirche ist man dadurch, dass man Glied seiner örtlichen Kirchengemeinde ist. Ihr gehört man durch Taufe oder durch Übertritt aus einer 52

Heinemann, Synode und Parlament, 134. Ebd. 54 Vgl. E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912, UTB 1812, Tübingen 1994, 965–986 („Schluss“). 55 A.a.O., 970. 56 A.a.O., 971. 57 Vgl. auch M. Hofheinz, Zwischen Volk und Bekenntnis, in: D. Plüss / M.D. Wüthrich / M. Zeindler (Hg.), Ekklesiologie und Volkskirche. Theologische Zugänge aus reformierter Perspektive, Praktische Theologie im reformierten Kontext 14, Zürich 2016, 131–140. 58 Troeltsch, Soziallehren, 984. 59 Heinemann, Synode und Parlament, 135. 53

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

anderen christlichen Konfession oder durch Zuzug an; nur aus ihr kann man austreten.“60

Heinemann denkt hier kongregationalistisch von der Ortsgemeinde her und zugleich auf dieser Grundlage „bottom up“ statt „top down“ und zwar unter Akzentuierung des Subsidiaritätsprinzips, wonach „nichts auf höherer Stufe behandelt werden soll, was auf unterer Stufe erledigt werden kann.“61 2.5 „Keine Macht der einen über die anderen“: Heinemanns Macht- und Staatsverständnis Dennoch ist Kirche nicht einfach „Menschenwerk“ wie ein Verein, sondern nach Heinemann durchaus Stiftung Christi, was auch Auswirkungen auf ihr Machtverständnis habe: „Die Kirche ist kein vereinsmäßiger Zusammenschluss von Anhängern einer bestimmten Religion aus deren persönlicher Entscheidung, sondern Stiftung Christi. Ihre Grundlagen und Aufgaben sind darum menschlicherseits verfügbar. Für ihre Lehre und für ihre Ordnungen bestehen Grenzen, die sich aus dem Evangelium ergeben. Das heißt zugleich, dass es für die Glieder der Kirche nicht jene persönlichen Freiheitsrechte gibt, wie sie die staatliche Ordnung in den Grundrechten unserer Verfassung anerkennt. Auch dürfen in der Kirche keine Machtpositionen entwickelt werden, die der brüderlichen Gleichberechtigung aller widersprechen. Von daher entfällt für den Bereich der Kirche das staatliche Problem der Gewaltenteilung.“62

Der Machtbegriff,63 den Heinemann seinen Ausführungen unterlegt, die zu den Unterschieden zwischen Synode und Parlament überleiten, ist durchaus im Sinne der klassischen Machtdefinition Max Webers zu begreifen, wonach Macht zu verstehen ist als „die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.64 Der von 60

A.a.O., 138. A.a.O., 133. 62 A.a.O., 136. 63 Vgl. zur „Machtfrage“ M. Hailer, Gottes Macht und die Mächte des Politischen. Politische Theologie mit Franz Rosenzweig und der Barmer Theologischen Erklärung, in: W.H. Ritter / J. Kügler (Hg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, Münster 2006, 135–156. 64 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 28. Zur Ambivalenz der Macht vgl. auch W. Lienemann, Frieden. 61

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Heinemann gebrauchte Machtbegriff ist keineswegs einfach negativ zu verstehen, wie etwa bei Jacob Burkhardt, demzufolge „Macht an sich böse“65 ist. Macht ist nach Heinemann durchaus ein humanum,66 ein in spezifischer Weise den Menschen auszeichnendes Vermögen, das gebraucht und missbraucht werden kann. Im Raum der Kirche kennzeichnet Heinemann den Machtmissbrauch als einen solchen, wenn Macht im Widerspruch zur geschwisterlichen Gleichberechtigung gebraucht wird. So betont Heinemann im Blick auf die Synode im Unterschied zum Parlament: „Nicht ein Kampf um Überwältigung des einen Teils durch den anderen darf in ihr stattfinden, nicht um Macht der einen über die anderen darf es in ihr gehen, vielmehr sollen sich ihre Mitglieder in brüderlicher Beratung um Einmütigkeit der Entscheidungen bemühen (Art. 184).“67

M.E. hätte sich zur Präzisierung des Machtbegriffs durchaus eine Bezugnahme auf Barmen IV angeboten, die Heinemann leider nicht explizit vornimmt. In Barmen IV heißt es: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“ Der Dienstbegriff präzisiert in Barmen IV den Machtbegriff, indem er deutlich macht, dass Macht kein Herrschaftsinstrument darstellt.68 Dieser egalitäre Impuls ist zweifellos auch im Vom „gerechte Krieg“ zum „gerechten Frieden“, Ökumenische Studienhefte 10, Göttingen 2000, 17f. 65 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. von R. Marx, Stuttgart 1978, 302: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübt. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß andere unglücklich machen.“ 66 Vgl. dazu den Machtbegriff bei H. Arendt (Macht und Gewalt [1970], übers. von G. Uellenberg, München / Zürich 142000, 45), die zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet: „Macht entspricht der mesnchlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existiert, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht‘, heißt dies in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh (potestas in populo – ohne ein ‚Volk‘ oder eine Gruppe gibt keine Macht), auseianndergeht, vergeht auch ‚seine Macht.“ 67 Heinemann, Synode und Parlament, 140. 68 Vgl. E. Busch, Die Barmer Thesen 1934–2004, Göttingen 2004, 60–62. Ferner­ hin: P. Opitz, Das Amt und die Ämter – Eine Erinnerung an die Anfänge der refor-

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

Art. 1 der Emder Synode angelegt und wurde wenige Jahre später in der Herborner Generalsynode von 1586 im Art. 60 aufgenommen, die unter dem Vorsitz von Caspar Olevian (1536–1587) tagte: „Keine Gemeinde, kein Diener, kein Ältester, kein Diakon soll weiter einen Vorrang über den andern haben.“69 Ein solcher Machtgebrauch ist im Sinne geschwisterlicher Dienstausübung durchaus kirchlich legitim, ja angezeigt.70 Auch Heinemann verteufelt Macht keineswegs, weder in der Kirche noch im Staat, wo sie dem Vorletzten oder – wie Heinemann zu sagen beliebte – der „relative[n] Utopie einer verbesserten Welt“71 dienen kann. Das Instrument zur Lenkung der Macht bildet nach Heinemann das Recht in seiner domestizierenden Funktion. In seinem vielbeachteten Bonner Vortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologie seitens der Bonner Theologischen Fakultät im Jahr 1967 betont Heinemann: Der Rechtsstaat lässt sich „sehr wohl nicht nur in seinen Grundrechten, sondern auch im ganzen als die Bemühung um ein gutes Verhältnis zwischen Macht und Recht, d.h. um

mierten Ämterlehre, in: C.R. Famos / I.U. Dalferth (Hg.), Das Recht der Kirche. Zur Revision der Zürcher Kirchenordnung, Zürich 2004, 81–108; G. Plasger, Die Ämter der Gemeinde. Überlegungen zur Bedeutung des reformierten Amstverständnisses im Blick auf die neuere ekklesiologische und ökumenische Diskussion, in: M. Böttcher u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS Gerrit Noltensmeier, Wuppertal 2005, 179–194. 69 P. Jacobs (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen o.J. [1949], 278. Bereits in Art. 9 der Herborner Generalsynode heißt es: „Es soll Gleichheit walten in der Lastenverteilung zwischen Dienern, Presbytern und Diakonatsgenossen gemäß Rat der Klassis.“ 70 In der Frageantwort 55 des „Heidelberger Katechismus“ (1563) heißt es: „Was verstehst du unter der ‚Gemeinschaft der Heiligen‘? Erstens: Alle Glaubenden haben als Glieder Gemeinschaft an dem Herrn Christus und an allen seinen Schätzen und Gaben. Zweitens: Darum soll auch jeder seine Gaben willig und mit Freuden zum Wohl und Heil der anderen gebrauchen.“ 71 G.W. Heinemann, Ansprache zur Übernahme des Amtes am 1. Juli 1969, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Gustav W. Heinemann. Reden und Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, (13–20) 17. Heinemann wiederholt die Wendung von „relativen Utopie einer besseren Welt“ in seiner Abschiedsrede vom 1. Juli 1974: G.W. Heinemann, Abschied vom Amt am 1. Juli 1974, in: ders., Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969–1974, Gustav W. Heinemann. Reden und Schriften Bd. 1, Frankfurt a.M. 1975, (335–340) 339.

2. Heinemanns Vortrag „Synode und Parlament“ als Gesichtspunkt

291

Mäßigung der Macht durch das Recht und durch staatsbürgerliche Mitverantwortung zugunsten der Würde des Menschen interpretieren.“72

Freilich schwingt in alldem bei Heinemann kein optimistisches Menschenbild mit, wenn er im Sinne von Barmen V bemerkt: „Der Staat kann sich bei aller staatsbürgerlichen Gleichberechtigung weder brüderlich noch ohne Machtstruktur organisieren. Er ist Obrigkeit, die Gewalt über ihre Bürger hat (Römer 13, 1ff.). Er ist eine Notordnung, die der Neigung der Menschen zum Chaos widersteht. Er soll das Gute fördern, aber auch die Bösen strafen. Er soll seinen Bürgern den Frieden sichern. Zu alldem braucht er hoheitliche Befugnisse und Machtmittel.“73

Gerade was den Gewaltgebrauch betrifft, tritt der Unterschied zwischen Staat und Kirche in Erscheinung, insofern der Staat im Unterschied zur Kirche „allein rechtmäßig Gewalt anwenden darf – Gewalt in der Form von Polizei, Gericht, Gerichtsvollzieher, Gefängnis und Militär.“74 2.6 Differenzen zwischen Synode und Parlament Hier zeigen sich beachtliche Differenzen zwischen Kirche und Staat im Allgemeinen und dann auch Synode und Parlament im Besonderen. Heinemann unterstreicht solche signifikanten Unterschiede in seinem Emder Vortrag: „Synode und Parlament […] sind nach ihren Aufträgen, ihrem Zustandekommen und ihren Arbeitsweisen zwei Körperschaften gleicher Verschiedenheit, wie Kirche und Staat, wie Jesus und Pilatus verschieden sind. Sie verstehen zu wollen, heißt davon auszugehen, dass die Kirche das Organ der göttlichen Rechtfertigung des Menschen, der Staat hingegen das Organ des menschlichen Rechts ist. Sie ändern oder verbessern zu wollen, erfordert ein Hineindenken in die jeweils besonderen Anforderungen an Kirche und Staat.“75 72

G.W. Heinemann, Der demokratische Rechtsstaat als theologisches Problem, in: ders., Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Aufsätze zu Kirche – Staat – Gesellschaft 1945–1975, hg. von D. Koch, Gustav W. Heinemann Reden und Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 1976, (268–280) 280. 73 Heinemann, Synode und Parlament, 136f. 74 A.a.O., 137. F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Mit einem Vorwort von R.  Mayer und einer Gedenkrede von G. Scholem, Frankfurt a.M. 1988, 370, kann gar sagen: „Er [der Staat; M.H.] kann keinen Augenblick das Schwert aus der Hand legen.“ 75 Heinemann, Synode und Parlament, 140.

292

VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

Im Einzelnen arbeitet Heinemann folgende Differenzpunkte heraus: a) die Gewaltenteilung, die – wie bereits erwähnt – nach Heinemann im Bereich der Kirche entfällt; b) die Wahlen,76 die als direkte Wahlen in der Kirche im Unterschied zum bundesrepublikanischen Staat (direkte Parlaments- das heißt Kreistags-, Landtags- und Bundestagswahlen) nur auf der unteren Ebene der Presbyterien erfolgen, nicht aber der von Kreis-, Landes- und EKD-Synoden; c) die Formierung des Parlaments nach Parteien und Fraktionen, die die Synode nicht kennt;77 d) die unterschiedliche Zusammensetzung von Parlament und Synode (Bundestag kennt nur gewählte, die Synode hingegen auch ent­ sandte sowie berufene Mitglieder);78 e) das Amtsgelübde und die Amtsentkleidung bei Presbyter*innen und Synodalen im Unterschied zu politischen Mandatsträger*innen;79 f) der Umgang und die Arbeitsweisen von Synoden und Parlamenten, wobei letztere „Stätten der Auseinandersetzung, ja des Kampfes um die Macht im Staat und um die Durchsetzung von Interessen“80 seien. 76

Vgl. a.a.O., 137f. Vgl. a.a.O., 138. J. Mehlhausen, Art. Presbyterial-synodale Kirchenverfassung, 337, spricht zu Recht davon, dass der sog. Kirchenkampf „die Problematik der zu den Kirchenwahlen antretenden Kirchenparteien [aufdeckte; M.H.], die zum Einfallstor für kirchlich-theologisch unvertretbare Bestrebungen und eine ideologische Instrumentalisierung der kirchlichen Verfassungsstrukturen werden konnten. […] Es kam zwischen 1933 und 1945 aber auch zu einer Wiederentdeckung der biblisch-reformatorischen Wurzeln der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung. Es ist wiederholt geradezu als der ‚Ertrag des Kirchenkampfes‘ bezeichnet worden, dass es in seinen Wirren zu einer völlig neuen Besinnung auf den geistlichen Charakter und Auftrag aller Leitungsaufgaben in der Kirche gekommen ist.“ Vgl. Zschoch, Die presbyterial-synodale Ordnung, 224. 78 Vgl. Heinemann, Synode und Parlament, 138f. 79 Vgl. a.a.O., 139. 80 Ebd. Den Gebrauch der Kampfesmetapher in Heinemanns Rede kritisiert Meurer (Synode und Parlament, 41) als Inkohärenz zu seiner eigentlichen Position: „Was soll man dazu sagen, daß nach Heinemanns Worten in der Kirche brüderlich verfahren werden muß, während im Gefüge der parlamentarischen Demokratie der Kampf um Macht geführt wird, wobei dieser Kampf außerhalb des Parlaments ‚von unablässiger Polemik der Parteien begleitet wird, um die öffentliche Meinung zu gewinnen oder zu stören‘? Wird von dem Christen dabei nicht gefordert, in ständiger Schizophrenie zu existieren? Erinnert dies nicht allzu sehr an eine gewisse Staatsethik, die unter Berufung auf Luther die Eigengesetzlichkeit der politischen Entscheidung und des 77

3. Fazit

293

In der Synode gehe es hingegen um die „Einmütigkeit im Geist“ und das „Überstimmen von Minderheiten kann darum auf einer Synode nur Ultima ratio sein.“81 3. Fazit Mit Wolfgang Vögele lässt sich festhalten: „Heinemann ging es um die Kritik einer in Deutschland tief in der politischen Mentalität verankerten Untertanenmentalität, die nicht zuletzt von einer autoritätsgläubigen konservativen Theologie inspiriert wurde. An die Stelle des Untertanen trat für Heinemann der mündige Bürger und die mündige Bürgerin.“82

Vehement spricht sich Heinemann auf diesem Hintergrund für eine „Demokratisierung der Kirche“ aus und bemerkt zu diesem Ausdruck: „Unpassend ist sicher der Ausdruck ‚Demokratisierung‘, denn es kann sich nicht um Übertragung von Regeln der staatlichen Demokratie auf die Kirche handeln. Wohl aber müssen wir uns fragen, ob sich in diesen Rufen nicht auch der Wunsch nach besserer Verwirklichung der presbyterial-synodalen Ordnung ausspricht. Wir werden also nachdenken müssen, ob die Voraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts gut gesetzt sind – ob der Vorsitz in den Presbyterien immer durch einen Pfarrer versehen werden muss –, ob die bisherige Weise der Offenlegung der kirchlichen Finanzen genügt?“83

Zur Aktivierung des Gemeindelebens und stärkere Beteiligung der Kirchenglieder schlägt Heinemann eine Verlebendigung der Gemeindeversammlung vor (Art. 139).84

politischen Verhaltens behauptet?“ Meurer (ebd.) fügt hinzu: „Jeder, der Heinemann kennt, weiß, daß er dort nicht zu Hause ist.“ L. Bretherton (Christ and the Common Life: Political Theology and the Case for Democracy, Grand Rapids / Cambridge 2019, 454) umschreibt „Politik“ anschaulich und ausgewogen als „a dance of both conflict and conciliation“. 81 Heinemann, Synode und Parlament, 140. 82 Vögele, Christus und die Menschenwürde, 159. 83 Heinemann, Synode und Parlament, 141. 84 Vgl. a.a.O., 141f.

294

VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

Lebendige Gemeinden, die demokratieanalog von unten her aufgebaut sind und nicht in Bischöf*innen an den Spitze,85 sondern in den Synoden ihre Repräsentationsinstanz finden, darum ging es Heinemann. Er wollte keine Behördenkirche, die nur noch mit ihrer kirchenamtlichen Selbstverwaltung beschäftigt ist und in der „top down“ von Superintendent*innen oder sonstigen kirchlichen Würdenträger*innen qua Amtsautorität durchregiert wird: „Den Wechsel vom autoritären Obrigkeitsstaat zum Staat als der Gemeinschaft von Bürgerinnen und Bürgern konnte Heinemann um so leichter vollziehen, als er auch die Kirche nicht als autoritär geleitete Bischofskirche begriff, sondern sich immer vehement für ihre synodale Verfassung eingesetzt hat. Die Synode repräsentiert für ihn das Element des Demokratischen in der Kirche. Das Eintreten für die synodale Verfassung ist auch ein Spiegel des dauernden Einsatzes für die stärkere Repräsentation der Laien und Nichttheologen in der Kirche, insbesondere in der Kirchenleitung.“86

Heinemann sah „in dieser Umorientierung […] vor allem das demokratische Element.“87

85

Treffend bemerkt H. Zschoch, Gemeindekirche und Kirchenordnung. Zur presbyterial-synodalen Ordnung im Rheinland; in: Evangelische Kirchen in Köln und Umgebung, hg. von G.A. Menne / Ch. Nötzel, Köln 2007, (32–34) 32: „Die presbyterial-synodale Ordnung im Rheinland versucht, das an der Gemeinde orientierte Kirchenverständnis umzusetzen in eine auf der Gemeinde von der Gemeinde ausgehende Kirchenordnung. Leitungsämter eigenen Rechts, wie es in anderen evangelischen Kirchen das Bischofsamt darstellt, kennt die rheinische Kirche daher nicht.“ Dort z.T. kursiv. Zschoch (a.a.O., 33) urteilt abgewogen: „Die presbyterial-synodale Ordnung erlaubt innerkirchliche Demokratie und damit zugleich Streit in der Kirche, denn Konflikte und Interessengegensätze können nicht durch Amtsautorität ‚von oben‘ entschieden werden. Sie bindet den Dienst der Pfarrerinnen und Pfarrer ein in eine geistliche Leitungsgemeinschaft, kann bei ungünstigen Konstellationen aber auch zu zermürbendem Kleinkrieg um die Zielvorstellungen gemeindlicher Arbeit und um den Einsatz der kirchlichen Finanzen führen. Sie ermöglicht die Delegierung und die Kontrolle innerkirchlicher Macht, ist aber auch nicht dagegen gefeit, durch machtbewusste Einzelne und durch ‚Klüngelbildung‘ (zu der gerade den Rheinländern eine Neigung nachgesagt wird) in der Praxis ausgehebelt zu werden. Dass alle Leitungsorgane aus den Gemeinden heraus gebildet werden, verhindert nicht Konflikte zwischen den verschiedenen Leitungsebenen, zumal in Zeiten knapper werdender kirch­licher Mittel.“ Ähnlich ders., Die presbyterial-synodale Ordnung, 237f. 86 Vögele, Christus und die Menschenwürde, 168. 87 Ebd.

3. Fazit

295

Hier werden Impulse Heinemanns für eine Optimierung der presbyterial-synodalen Ordnung erkennbar,88 die komparativisch nach dem „Mehr“ an Demokratie fragen, das es zu wagen gelte. Zur Erinnerung: Noch bevor Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn mit dem Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ sein Regierungsprogramm umschrieb, hatte Bundespräsident Heinemann bereits seine Amtsantrittsrede als Bundespräsident vor dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat am 1. Juli 1969 mit den Worten geschlossen: „Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben. Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wird. Darum wollen unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses unser Land leisten.“89

Einer von Heinemanns Nachfolgers im Amt des Bundespräsidenten, Johannes Rau (1931–2006), hat in seiner Würdigung von Heinemanns basisdemokratischer und gemeindekirchlicher Orientierung die überspitzte Formulierung gewählt: „Gustav Heinemann war ein Mann, den der kirchliche Überbau nicht interessierte, sondern der nach der Gemeinde als der Versammlung derer fragte, bei denen man Gemeinschaft der Glaubenden findet, jemand, dem der Staat nicht so wichtig war wie die lebendige Gemeinschaft der Bürger, jemand, der von dieser Haltung her gesprächsfähig war wie selten einer vor oder nach ihm“.90 88

Vgl. Zschoch, Gemeindekirche und Kirchenordnung, 33: „Bei allen […] Risiken überwiegen jedoch die Chancen der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung als einer modernen, einer demokratischen Gesellschaft gemäßen und zukunftsfähigen Ordnung. Dass sie geprägt ist von den Erfahrungen von Minderheitsgemeinden und der Behauptung evangelischen Wahrheitsbewusstseins in einer sich anders orientierenden Umwelt, stellt angesichts der voraussehbaren Entwicklungen des 21. Jahrhunderts eine deutliche Empfehlung dar.“ 89 Heinemann, Ansprache zur Übernahme des Amtes am 1. Juli 1969, 19f. Zum Verständnis weltlicher Orbigkeit in reformierten Kirchenordnungen vgl. J. Becker, Die Rolle der Obrigkeit in reformierten Kirchenordnungen der Frühen Neuzeit, in: H. de Wall (Hg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen 102, Berlin 2014, 235–259. Zu den Konflikten, die aus der presbyterial-synodalen Kirchenorndung mit der weltlichen Orbigkeit erwachsen konnten vgl. M. Beintker, Konsequenzen der „Discipline Ecclésiastique“ für Kirchenverfassung und Gemeindeordnung in Brandenburg-Preußen?, in: M. Stolpe / F. Winter (Hg.), Wege und Grenzen der Toleranz. Edikt von Potsdam 1685–1985, Berlin 1987, 51–68. 90 Rau, Gustav Heinemann, 64f.

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VIII. „Die Sitzung geht weiter!“

Um abschließend noch einmal auf das Verhältnis von Synode und Parlament zurückzulenken: Was sie vereint, ist das kommende Reich Gottes, um das die Synode im Unterscheid zum Parlament weiß, dessen Kommen aber Heinemann auch vor dem Parlament des weltanschaulich neutralen Staates, an dem er prinzipienfest festhielt,91 nicht verschwiegen hat. Nicht, dass wir das Reich Gottes herstellen könnten,92 wohl aber ermöglicht es beiden, Synode wie Parlament, ihre Arbeit. Heinemann schloss seine Amtszeit im Juli 1974 mit folgender bedeutungsvollen Geschichte: „In der Mitte des vorigen Jahrhunderts tagte in einem Staat des nordamerikanischen Mittelwestens das Parlament dieses Staates. Und wie es dort manchmal vorkommt, zog ein fürchterliches Unwetter herauf, ein Orkan, und verdunkelte den Himmel. Es wurde schwarz wie die Nacht. Die Parlamentarier wollten voll Entsetzen die Sitzung abbrechen und aus dem Sitzungssaal stürmen. Darauf sagte der Sprecher des Parlaments: ‚Meine Herren! Entweder die Welt geht jetzt nicht unter und unser Herr kommt noch nicht – dann ist kein Grund vorhanden, die Sitzung abzubrechen. Oder unser Herr kommt jetzt – dann soll er uns bei der Arbeit finden. Die Sitzung geht weiter!‘“93

91

So Vögele, Christus und die Menschenwürde, 165. Vögele (a.a.O., 166) führt weiter aus: „Obwohl er [Heinemann; M.H.] den Staat als weltanschaulich neutral ver­ stand, konnte er von der ‚Kirchenfreundlichkeit‘ des Staates sprechen, und er meinte damit einen Staat, der Freiheit gewährt für Verkündigung und Gottesdienst, für die selbständige und selbstverantwortete Organisation der Kirchen und für diakonische Maßnahmen – unter Einschluss der politischen Diakonie.“ 92 So Heinemann, Ansprache zur Übernahme des Amtes am 1. Juli 1969, 16. 93 Heinemann, Abschied vom Amt am 1. Juli 1974, 339f. Auch Heinemanns Freund H. Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität. Einführung in die Evangelische Theologie, München 1978, 225, beschließt seine Abschiedsvorlesung an der FU Berlin mit dieser Geschichte.

IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst Ethisch-liturgische Konturen Für Hans G. Ulrich zum 75. Geburtstag

1. Einleitung: Tradition, Ethos und die Aufgabe der Ethik (als Explikation und Exploration) nach Hans G. Ulrich Hans Ulrich hat die Ethik als die „Explikation und Exploration des – artikulierten und artikulierbaren – Ethos, wie es sich für den einzelnen Christen im Zusammenhang mit der christlichen, gottesdienstlichen Gemeinde, in der er lebt, entfaltet“,1 zu verstehen gelehrt. An diesem Ethik-Verständnis ist einiges bemerkenswert. Zum einen, dass Ethik mit Ethos weder einfach identifizierend kurzgeschlossen noch separatistisch auseinandergerissen wird. Ethos muss aus einer gewissen Distanz heraus expliziert und exploriert werden. Dazu gehört auch die Reflexion und kritische Prüfung des Ethos. Zugleich aber wird auch das gesehen, was Ethik-Entwürfe unserer Tage nur allzu leicht zu übersehen drohen, nämlich dass Ethik selbst eine Praxis ist, die mit der christlichen, gottesdienstlichen Ethik selbst verbunden ist, so dass diese Distanz nicht das separieren darf, was zusammengehört. Christliche Ethik im beschriebenen Sinne hat nämlich das Ethos der christlichen, gottesdienstlichen Gemeinde nicht nur zum Gegenstand, den man aus der Distanz kritisch betrachtet, sondern sie auch Teil dieses Ethos.2 Ethik ist mit anderen Worten verortet. Ethos meint eben den Raum, in dem sich auch Ethik als Explikation und Exploration des Ethos ereignet. Ethik expliziert und exploriert das Ethos, dessen Teil sie ist. Dieses Zugleich der Ethik als Theorie und Praxis des Ethos, als Gegenstand und Teil des Ethos, macht die Komplexität der Selbstreflexivität einer Ethik aus, die wohlgemerkt selbst in dem verortet ist, woraufhin sie reflektiert.3 Im Ulrich’schen Sinne ist da1

H.G. Ulrich, Perspektiven für eine ökumenische Sozialethik. Grundpositionen evangelischer Sozialethik, Cath 58 (2004), (175–198) 177. 2 Vgl. a.a.O., 176. 3 Vgl. a.a.O., 178: „Sie [die Ethik; M.H.] ist dann auch nicht nur deskriptiv, sondern exploriert dieses Ethos, ist selbst ein Teil seiner Erprobung. Auf der einen Seite geht es in der Ethik um die – universell vermittelbare – Reflexion dessen, was ethisch verbindlich ist, um diese Verbindlichkeit aufzuweisen oder zu begründen, auf der anderen Seite geht es zwar auch um diese Aufgabe, aber zugleich und zuerst um die Präsenta­

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

bei die Reflexion wiederum nur Teil der Exploration des christlichen Ethos, wie sie die christliche Ethik vornimmt. Bemerkenswert an diesem Ethikverständnis Ulrichs ist zum anderen die Verbindung von christlichem Ethos und Gottesdienst. Ethos wird hier wörtlich verstanden als ein Raum, als eine Wohnung, genauer gesagt: als der Raum und die Wohnung, in dem/der sich das Tradieren von Praktiken4 wie Beten, Schriftlesen,5 Predigen, Taufen und Abendmahl ereignet. Dieser Raum ist der Gottesdienst. Ethik als Explikation und Exploration des Ethos hat mit diesem Ethos auch die Praktiken, die dort beheimatet sind, zu explizieren und explorieren. Ethik ist – wie wir gehört haben – selbst eine dieser Praktiken.6 Sie steht diesen Praktiken also nicht nur distanziert gegenüber, sondern reiht sich partizipierend in diese Praktiken ein. Ethik nimmt dabei auch in den Blick, dass mit den Praktiken des Gottesdienstes auch Ethos tradiert wird – gottesdienstliche Praktiken wie das gemeinsame Beten, das Hören auf das Wort der Predigt, das Taufen und die Feier der Gemeinschaft mit Christus im Abendmahl. Das Tradieren von Ethik im Gottesdienst ist nur zu verstehen, wenn Ethik selbst als eine Praktik in den Blick genommen wird, die selbst zum Vollzug des christlichen Ethos gehört.7 Das hat H.G. Ulrich der theologischen Ethik, besser gesagt: der Zunft ihrer Betreiber*innen nachdrücklich und mit vollem Recht ins Stammbuch geschrieben. Er geht davon aus: Christlich-gottesdienstliches Ethos ist mehr als die Summe gottesdienstlicher Praktiken, kann aber nicht in der Abstraktion von ihnen, gleichsam freiflottierend im luftleeren Raum entfaltet werden.8 Ethos meint nämlich gerade nicht den luftleeren, sontion, die Mitteilung und die Bezeugung eines bestimmten Ethos in seiner besonderen Artikulation.“ Hervorhebung im Original: M.H. 4 Zum Zusammenhang der Praktiken Beten und Predigen vgl. R. Kunz, Die Andacht des Gebets und die Anmutung der Predigt, in: D. Plüss u.a. (Hg.), Gottesdienst in der reformierten Kirche. Einführung und Perspektive, Praktische Theologie im reformierten Kontext 15, Zürich 2017, 131–144. 5 Vgl. B. Wannenwetsch, Gottesdienst als kultureller Widerstand. Das Ethos gottesdienstlicher Lesungen, Gemeinsames Gebet, in: L. Baschera / A. Berlis (Hg.), Form und Wirkung des Gottesdienstes, Zürich 2014, 238–240. 6 Vgl. B. Wannenwetsch, The Ethics of Doing Theology, in: S.F. Parson / L.P. Hemminger (Hg.), Redeeming Truth: Considering Faith and Reason, London / Notre Dame 2007, 167–183. 7 Vgl. Ulrich, Perspektiven für eine ökumenische Sozialethik, 198. 8 Vgl. H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 118: „Eine ethische Praxis, die das geschöpfliche Leben von Menschen zum Gegenstand hat, steht der Auffassung gegenüber, dass die Ethik jenseits dessen ansetzen könnte, was Menschen immer schon betrifft, prägt und trägt, jenseits ihres

1. Einleitung

299

dern den gleichsam mit Praktiken gefüllten Raum, der vermittelt über diese Praktiken mit der Präsens Gottes und seines Geistes verbunden ist. Der Vorgang der Tradition verdient in diesem Zusammenhang eigens betrachtet zu werden.9 Wenn hier vom Vorgang der Tradition die Rede ist,10 heißt das, dass „Tradition“ nicht archaisch als musealer Bestand in den Blick genommen wird, sondern im Sinne eines nomen actionis als lebendiger Vorgang der „traditio“.11 Hans Ulrich hat darauf hingewiesen, dass Tradition „nicht nur Übergabe, Weitergabe [ist], sondern gegenläufige, querlaufende Gabe, wie es das griechische Wort ‚paradosis‘ anzeigt. Was weitergegeben wird, steht ‚para‘ – entgegen und quer zu dem, was nur weitergeht oder fortgesetzt wird.“12 Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund einige dieser Praktiken in näheren Augenschein genommen werden, wie sie in einer bestimmten konfessionellen Tradition verortet sind, nämlich der re-

Lebens, als die universellen Subjekte einer Freiheit, die immer noch alles vor sich hat und für die auch immer noch alles anders sein könnte. Dem kommt die Mitteilung der Schöpfung zuvor. Diese beginnt nicht ab ovo, von irgend einem Ursprung, nicht von irgend einem Fundament, nicht grundsätzlich, sondern sie setzt ein, indem sie sagt: ‚Im Namen Gottes – unser Anfang geschehe im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes‘ – so wie der christliche Gottesdienst beginnt. Die theologische Ethik setzt ein, wo die Geschichte angefangen und immer neu angefangen hat, die im Namen Gottes begegnet.“ 9 Vgl. a.a.O., 198–225; M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Neukirchen-Vluyn 2017, 1–7. 10 Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 208: Tradition „bleibt nur Tradition in dieser lebendigen Weitergabe, sie bleibt Tradition nur im Vollzug, in dem sich immer neu das anders nicht fassbare Wort Gottes spiegelt – unendlich spiegelt. So wird die Tradition – ihrer expliziten Gestalt – zum Ort und Medium des Ethos als eines überlieferten.“ Vgl. auch a.a.O., 204f.; 304. 11 Vgl. B. Wannenwetsch, Die Ökonomie des Gottesdienstes. Eine Alternative zum Gestaltungsparadigma im liturgischen Handeln, in: J. Neijenhuis (Hg.), Evangelisches Gottesdienstbuch und Kirchenrecht. Beiträge zur Liturgie und Spiritualität, Leipzig 2002, (37–55) 48. 12 Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 200. Hervorhebung im Original: M.H. Vgl. auch a.a.O., 344. Tradieren heißt nach H.G. Ulrich, dass etwas Bestimmtes – ein traditum – weitergegeben wird. „Tradition ist das Medium, in dem Menschen gemeinsam und in radikaler Lernbereitschaft eine Aufgabe vollziehen […]. In einer Tradition stehen heißt danach, sich in einer solchen mich bindenden Aufgabe zu wissen, nicht dieses oder jenes Wissen weiterzugeben, sondern an dem weiterzuarbeiten, was mir überkommen ist“ (a.a.O., 203).

300

IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

formierten. Zur reformierten Tradition lässt sich im Sinne einer Konfessionsfamilie vieles sagen, was hier freilich unterbleiben muss.13 Dafür, dass Ethik im Gottesdienst tradiert wird, ist die reformierte Tradition innerhalb der ökumenischen Liturgiefamilie besonders bekannt, ja geradezu berühmt-berüchtigt. Wenn es für alles ein Übermaß gibt, dann scheint dieses im Fall der ethischen Tradierung hier, im Reformiertentum, beheimatet zu sein. Man spricht – bisweilen despektierlich – von einer „Ethisierung“ oder auch „Moralisierung“ des Gottesdienstes.14 Diese Einschätzung wird gerne mit einer zweiten korreliert, nämlich der Überzeugung, dass Reformierte in ihren Gottesdiensten gar keine Liturgie besitzen.15 Das Vorurteil gegenüber der reformierten Tradition besagt also zugespitzt: Falls es überhaupt so etwas wie eine reformierte Liturgie geben sollte und es sich dabei nicht um eine oxymorontische Kategorie handelt,16 dann ist diese „ethisierend“. Im Folgenden wollen wir uns – vorurteilsvergewissert – diesen beiden Vorurteilen zuwenden. Urteilen lernen heißt in unserem Fall: sich an Vorurteilen abzuarbeiten. Dazu wollen wir keine beliebigen Beispiele aus der schier überbordenden Vielfalt17 an reformierten Gottesdienstformen bzw. -traditionen herausgreifen, sondern uns gleichsam an die Wiege des Reformiertentums begeben, d.h. nach Zürich und

13

Zum Überblick vgl. den Band Plüss u.a. (Hg.), Gottesdienst in der reformierten Kirche. 14 Vgl. dazu R. Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis, Theophil 10, Zürich 2006, 105: „Weder Zwingli noch Bullinger lassen sich für eine solche Entwicklung verantwortlich machen, aber es ist unbestreitbar, dass das erzieherische Grundanliegen der Reformation die Instrumentalisierung der Liturgie als Disziplinierungsmittel tendenziell bestärkte.“ 15 Vgl. M. Freudenberg, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 266: „Ein landläufiges Klischee – zu dem gewiss auch manche reformierte Gottesdienste Anlass geben – besagt, dass ein Gottesdienst ohne liturgischen Wechselgesang und andere Merkmale der römisch-katholischen, orthodoxen und lutherischen Feier keine Liturgie habe.“ 16 Gegen dieses Vorurteil hat angeschrieben: D.G. Hart, Recovering Mother Kiek. The Case of Liturgy in the Reformed Tradition, Grand Rapids 2003, bes. 21–40. Siehe fernerhin: ders. / J.R. Muether, With Reverence and Awe. Returning to the Basics of Reformed Worship, Phillipsburg 2002, 89–116. 17 Vgl. Freudenberg, Reformierte Theologie, 265. Zur liturgischen Vielfalt innerhalb der reformierten Traditionen vgl. die Ausführungen zu Zürich, Basel, Bern, Straßburg, Württemberg und Genf in: K.-H. Bieritz, Liturgik, Berlin / New York 2004, 474–497. Zur weltweiten Vielfalt in der reformierten Konfessionsfamilie siehe L. Vischer (Hg.), Christian Worship in Reformed Churches Past and Present, Grand Rapids (USA) / Cambridge (UK) 2003.

2. Reformierte Liturgie 1

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dann auch nach Genf.18 Die beiden wohl bekanntesten reformierten Reformatoren treten hier in den Blick: Huldrych Zwingli und Johannes Calvin. Dabei bekommen wir es mit durchaus unterschiedlichen Gottes­diensttraditionen zu tun, die vor allem Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger einander annäherte.19 2. Reformierte Liturgie 1: Ethisch-liturgische Konturen nach Huldrych Zwinglis Predigtgottesdienst Liturgiegeschichtlich, ja liturgiepolitisch berühmt-berüchtigt geworden ist Huldrych Zwingli für die Einführung des Predigtgottesdienstes. Diese Tat mag revolutionär erscheinen. Man muss jedoch zweierlei beachten: Erstens ist Zwingli bei Lichte betrachtet nicht der einzige Reformator, der – anders als Luther – mit dem Messtypus (Kritik an der Messe als absurde Wiederholung des einmaligen Opfers Christi) brach, vielmehr gilt dies auch für weitere Reformatoren aus dem oberdeutschen Raum. Zweitens ist der Predigtgottesdienst als übernommenes oberdeutsches Erbe am mittelalterlichen Prädikantengottesdienst orientiert, der von den Predigerorden wie den Dominikanern entwickelt wurde, um Häresie abzuwehren und die Menschen in ihrer Muttersprache zu lehren: „Die oberdeutschen Reformatoren behielten einfach den spätmittelalterlichen Kanzelgottesdienst in der Volkssprache (den sogenannten ‚Pronaus‘) bei und stellten die evangelische Predigt in seinen Rahmen.“20 Wenn man von einer liturgiepolitischen Revolution sprechen mag, dann bestand diese wohl am ehesten in der „Umstellung vom Ritus zur Textauslegung“.21 Am Neujahrstag 1519 begann Zwingli seine Tätigkeit als Leutpriester in Zürich bekanntermaßen mit einer Predigtreihe 18

Vgl. einführend zum reformierten Gottesdienst im 16. Jahrhundert: E.A. McKee, Reformed Worship in the Sixteenth Century, in: Vischer (Hg.), Christian Worship, 3–31. 19 Vgl. Freudenberg, Reformierte Theologie, 276. 20 M. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen 22009, 178. So auch B. Bürki, Der reformierte Gottes­dienst, in: H.-Ch. Schmidt-Lauber u.a. (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen 32003, (160–171) 161: „Der reformierte Predigtgottesdienst mit seiner liturgischen Sprödigkeit ist nichts anderes als die Fortsetzung des mittelalterlichen Pronaus, der sich von der Messe absetzt.“ 21 G. Etzelmüller, Was geschieht beim Gottesdienst? Die eine Bibel und die Vielfalt der Konfessionen, Leipzig 2013, 58.

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zum Matthäusevangelium. Er entschied sich damit gegen die Perikopenordnung, die eine Verbindung mit der Messe darstellte, und für die lectio continua als systematisierte Lehrverkündigung: „Zwingli möchte und erwartet es auch, daß seine Gemeinde durch die Predigten Einsicht bekommt in das Handeln Gottes, ‚ut Christi beneficium clarius agnoscerent ac gloriam‘ – ‚auf daß sie Christi Wohltat und Herrlichkeit klarer erkennen‘. Sehen, erkennen, auch lernen nennt Zwingli: in den Predigten geht es darum, den Glauben zu verstehen, und den Glauben zu verstehen, heißt die Schrift zu verstehen. Zwinglis Reformationswerk war von Anfang geprägt durch die praedicatio continua. Und so ist es nicht von ungefähr, daß er anderen Predigern empfiehlt, auch so zu verfahren – und dieser Ratschlag ist auf fruchtbaren Boden gefallen.“22

Zwingli flankierte seine Gottesdienstreform der lectio bzw. praedica­ tio continua mit der 1525 gegründeten Prophezei, einer Bibelschule für Prediger, in der sie die Bibel in den Ursprachen zu lesen lernten, um in biblischen und theologischen Fragen Kompetenz zu erwerben.23 Hier zeigt sich bereits ein Wesenszug reformierter Liturgie: „[R]eformierte[s] Anliegen [ist es], bei den Schriften des Alten und Neuen Testaments den Ausgangspunkt für das Reden von Gott und zu Gott zu nehmen“.24 Anhand von Zwinglis Gottesdienstreform, insbesondere seiner Abendmahlsordnung, möchte ich im Folgenden versuchen, mit ein paar wenigen Pinselstrichen nachzuzeichnen, wie die Konturen einer Ethik aussehen, die vermittelt über das Ethos im Gottesdienst tradiert wird. Dieses Beispiel ist besonders brisant, da Zwinglis Abendmahlsverständnis (Abendmahl als Fahneneid bzw. Verpflichtungszeichen) gleichsam als Sinnbild für die Ethisierung der reformierten Liturgie und des reformierten Gottesdienstes steht. Auch wenn man den Zür22

G. Plasger, Der Bibel folgen. Gedanken zur Predigtreihe, in: D. Jeschke u.a. (Hg.), Das Wort, das in Erstaunen setzt, verpflichtet. Dankesgabe für Jürgen Fangmeier, Wuppertal / Zürich 1994, (237–250) 239. Hervorhebungen M.H. Das Zitat stammt aus Z I, 285 (Apologeticus Archetelus) (Z = Huldrych Zwinglis Sämtliche Werke, hg. von E. Egli u.a., 14 Bde., CR 88–101, Berlin u.a. 1905ff.). Vgl. auch E. Campi, Die Reformation in Zürich, in: A.N. Burnett / E. Campi (Hg.), Die Schweizerische Reformation. Ein Handbuch, Zürich 2017, (71–135) 80. 23 Zur Prophezei vgl. M. Hofheinz, Der Gottesdienst als Raum der Öffentlichkeit. Ethische Konturen einer etwas anderen öffentlichen Theologie, in: Th. Wabel u.a. (Hg.), Zwischen Diskurs und Affekt. Politische Urteilsbildung in theologischer Perspektive, ÖTh 35, Leipzig 2018, (189–209) 198–200. 24 Freudenberg, Reformierte Theologie, 277. Hervorhebung im Original: M.H.

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cher Reformator gegenüber dem Vorurteil wird abgrenzen müssen, so ist nicht zu leugnen, dass dem Abendmahl Zwingli zufolge eine besondere ethische Bedeutung zukommt.25 Ich möchte dies auf einen Blick an einem aktuellen Bild des Zürcher Großmünsters demonstrieren.

Abb. 126 Peter Opitz kommentiert: „Es ist immer noch klar eine katholische Kirche. Zwar sind die Wände kahl und die Kirche karg, aber der Chor ist erhöht, hier zelebrierten die Priester die Messe wie eine Art Show auf der Bühne. Zwingli wollte aber weder einen erhöhten Chor noch einen Altar, sondern einen Tisch, um den herum die Leute Abendmahl feierten. Er wollte Augenhöhe. Der Tisch sollte deshalb im ‚Gefletz‘ stehen, vorne im Kirchenschiff, aber auf dem Boden, auf dem die Menschen standen. Das ist theologisch wichtig, hatte aber auch sozial und politisch Konsequenzen. So ist der gefeierte Christus plötzlich mitten in der Gemeinde und alle sind gleich.“27

25

Zu Zwinglis Abendmahlsgottesdienst vgl. G.W. Locher, Im Geist und in der Wahrheit. Die reformatorische Wendung im Gottesdienst zu Zürich, Nach Gottes Wort reformiert 11, Neukirchen-Vluyn 1957, 23f.; A. Ehrensperger, Lebendiger Gottesdienst. Beiträge zur Liturgik, hg. von R. Kunz / H.-J. Stefan, Zürich 2003, 15–40; Kunz, Gottesdienst evangelisch-reformiert. 26 http://www.sgkgs.ch/de/Kulturgueter-1/Sakralbauten/Zuerich/Zuerich-Grossmuenster (abgerufen: 1.10.2017). 27 P. Opitz, „Das Zwingli-Denkmal sollte man entfernen“, in: https://www.ref.ch/ news/das-zwingli-denkmal-sollte-man-entfernen/ (abgerufen; 1.10.2017).

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

Doch der Reihe nach: Vorne auf dem Abendmahlstisch ist zunächst die aufgeschlagene Bibel zu sehen. Sie verweist auf die erste Kontur. Bereits in der Einleitung zur Zürcher Abendmahlsordnung „Action oder Brauch des Nachtmahls“28 (1525) bemerkt Zwingli, dass „solche Zeremonien, die der Sache dienen, verordnet [wurden], die wir zum christlichen Gedächtnis des Todes Christi, zur Mehrung des Glaubens und der brüderliche Treue, zur Besserung des Lebens und Verhütung der Laster des menschlichen Lebens etlichermaßen zu reizen für förderlich und geschickt gehalten haben.“29 Zwingli gebraucht hier eine tugend­ ethische Sprache mit markanter pädagogischer Pointierung („Reizung“). Auch im Gebet nach dem Mahl heißt es: „Verleih uns auch, daß wir so unschuldig leben, wie es deinem Leibe, deinem Gesinde und deinen Kindern ziemt, damit auch die Ungläubigen deinen Namen und Ehre lernen zu erkennen. Herr, behüte uns, daß dein Name und Ehre um unseres Lebens willen von niemand geschmäht werde.“30 Auch diese „Rahmung“ der Abendmahlsordnung dürfte der Befeuerung des Vorurteils bzw. des Vorbehalts gegenüber Zwinglis „ethisierter Abendmahlslehre“ zuträglich gewesen sein. (1) Erste Kontur: Der Wortbezug – Ethik des Wortes Gottes Mit seinen liturgiepolitischen Grundentscheidungen tradierte Zwingli eine Konzentration auf das Wort Gottes. Besonders sinnenfällig wird dies während der Zürcher Abendmahlsfeier durch den Bibelkuss. In der Zürcher Abendmahlsordnung „Action oder Brauch des Nachtmahls“ von 1525 heißt es: „Dann küsse der Leser das Buch und spreche: Gott sei gelobt und gedankt, er wolle nach seinem heiligen Wort uns alle Sünde vergeben.“31 Zwingli etabliert selbst eine liturgische „Tradition“, indem er zugleich mit der herrschenden Tradition bricht: „Zwingli kann im überkommenen Perikopensystem nur traditio humana erkennen, die in seinen Augen keineswegs hilft, das in der Heiligen Schrift bezeugte Evangelium zu erkennen. Nicht der Bruch mit der menschlichen Überlieferung ist nach Zwinglis Ansicht zu 28

Z IV, 13–24. Vgl. dazu einführend J. Voigtländer, Ein Fest der Befreiung. Huldrych Zwinglis Abendmahlslehre, Neukirchen-Vluyn 2013, 67–71. 29 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 179 (Z IV, 14, 11–15). Kunz (Gottesdienst evangelisch reformiert, 85) hat die Liturgie des „Nachtmahls“ bei Zwingli als die Nahtstelle zwischen „innere[m] und äußere[n] Engagement für Gott“, „Dankbarkeit und dem gerechten Tun“ identifiziert. 30 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 184 (Z IV, 22, 15–19). 31 A.a.O., 182 (Z IV, 20, 28–30).

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rechtfertigen, sondern die überkommene Einteilung.“32 Die Zerstückelung der biblischen Schriften führe dazu, die Schrift der traditio unterzuordnen. Die Schrift sei indes aller menschlichen Ordnung übergeordnet.

Wortbezug als Schriftbezug – in der Liturgie wird dies durch den Wechsel von „Wort und Antwort“ anhand der verschiedenen Sprechrichtungen – etwa zur Gemeinde hin oder von der Gemeinde her zu Gott hin33 – abgebildet.34 Hier wird gleichsam ein bestimmtes Ethos gestiftet, ein Ethos, ohne das Ethik nicht auskommen kann, auf das hin sie immer wieder neu zu reflektieren hat, wenn sie sich denn als aus dem Grundakt des Hörens heraus geborene begreift.35 Nach Aussage der aktuellen „Reformierten Liturgie“ (1999) wendet sich Gott im Gottesdienst der Gemeinde auf zweifache Weise zu: Indem Gott zu der hörenden Gemeinde spricht und indem Gott auf uns hört.36 Dieses Handeln Gottes ist ethosbildend: Es bildet den Ort, in dem die Kinder Gottes leben. In der ersten Berner These (1528) heißt es: „Die heilige christliche Kirche, deren einziges Haupt Christus ist, ist aus dem Worte Gottes geboren und hört nicht die Stimme eines Fremden [Joh 10,5; M.H.].“37 Die Kinder Gottes leben weniger unter der Herrschaft, als vielmehr in der Herrschaft des Wortes Gottes. Darauf zielt die reformatorische Rede von der Kirche als creatura verbi.38 Insofern geht es beim Gottesdienst um eine Topo-logie, um den Ort, wo das Wort Gottes herrscht. Insofern ist auch und gerade in der Gottesdiensttradition – wie Hans G. Ulrich

32

Plasger, Der Bibel folgen, 238. Zu den Sprechrichtungen vgl. O. Herlyn, Sache der Gemeinde. Studien zu einer Praktischen Theologie des „Allgemeinen Priestertums“, Neukirchen-Vluyn 1997, 15f. 34 Dass es sich bei der Betonung der „Wort und Antwort“-Relation nicht um reformiertes Proprium handelt, darauf weist bereits Luthers sog. „Torgauer Formel“ hin. Siehe WA 49,588: (Kirchweihpredigt über Lk 14,1–11). Zur Interpretation siehe Herlyn, „Versammelte Gemeinde“, in: ders., Sache der Gemeinde, 11–16. 35 Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 378: „[I]m Hören von Gottes Wort werden Menschen neu geschaffen und in diesem Sinne erscheint auch die Kirche Jesu Christi als die Schöpfung des Wortes.“ 36 So Reformierte Liturgie. Gebete und Ordnungen für die unter dem Wort Gottes versammelte Gemeinde, hg. von P. Bukowski u.a., Wuppertal / Neukirchen-Vluyn 1999, 23f. 37 G. Plasger / M. Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, 24. 38 Vgl. M. Zeindler, Die Kirche als Interpretationsgemeinschaft der Schrift, in: M. Hofheinz u.a. (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, (323–351) 340. 33

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

hervorhebt – auf das zu fokussieren, was in der Tradition das lebendige Wort ausrichtet, was die paradosis ist.39 In diesem Sinne geht es in der Ethik um die menschliche Antwort auf Gottes Wort. Christliche Ethik antwortet auf Gottes Wort, sie ist kein Selbstgespräch, sondern kommt – wie der Glaube – ex akoēs – aus dem Hören (Röm 10,17): „Christliche Ethik beginnt also nicht mit dem, was man Besinnung nennen könnte, sondern christliche Ethik beginnt mit einem Hören. […] Wer christliche Ethik verstehen will, wird sich nicht weigern dürfen, sich wenigstens hypothetisch an den wunderlichen Ort zu begeben, von dem aus sie denkt und redet, an dem der Mensch immer zuerst zu hören, auf Gottes Wort zu hören, und dann erst zu denken und zu reden hat.“40

Dieser Ort ist kein anderer Ort als der des Gottesdienstes.41 39

Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 344: „Im Vorgang der Tradition geschieht erneut das Empfangen, das Aufnehmen und selbst erproben. Dahinter bleibt diejenige – weithin wirksame – Beschreibung einer Hermeneutik zurück, die ihr die Aufgabe zuweist, ‚Traditionsbestände‘ für eine ‚Aneignung‘ aufzubereiten. Hier wird verdeckt, was in der traditio das lebendige Wort ausrichtet, was die paradosis ist. Dies ist der Ort einer theologischen Hermeneutik, die in allem Verstehen das ‚Erleiden‘ dessen, was man ‚Sinn‘ nennen mag, im Blick behält.“ 40 K. Barth, Christliche Ethik. Ein Vortrag, München 1946, 6. Hervorhebung im Original: M.H. Der Umstand, dass Barth in der Grundlegung seiner Gebotsethik immer wieder auf die Gehorsamsmetapher rekurriert, hat damit zu tun, dass er den Gehorsam in der biblischen bzw. reformatorischen Tradition der fides ex auditu vom Akt des Hörens her versteht. Dass Gott redet (deus loquens) und zwar auch gebietend redet, ist für Barth nicht fraglich: „Wir können es [das Gebot Gottes; M.H.] hören, so gewiß wir ihm und niemand sonst als ihm gehören. Die Frage kann nicht die sein, ob er redet, sondern nur die, ob wir hören. Und damit sind wir schon wieder bei der Frage unseres Gehorsams und Ungehorsams, unseres Glaubens oder unserer Gottlosigkeit“ (KD II/2, 747). Dementsprechend ist nach Barth im Zusammenhang der Ethik nicht Gott, sondern der Mensch gefragt. Mit der Gehorsamsfrage sei in der Ethik die Frage nach dem Hören des Menschen und seiner Offenheit für das Gebot Gottes, das immer „manda­ tum concretum, ja mandatum concretissimum“ (a.a.O., 738) ist, gestellt. Gerade im Blick auf das menschliche Hören beobachtet Barth eine menschliche Fluchtbewegung. So fragt er suggestiv: „Und wie, wenn wir nun […] geradezu auf der Flucht vor Gottes Gebot, nämlich vor dem Besonderen, Konkreten, was es jetzt und hier gerade von uns haben will, uns befinden sollten? Wenn wir es im Grund ablehnten, in Gottes Gebot wirklich ‚unseres Fußes Leuchte‘ [vgl. Ps 119,105; M.H.] zu haben?“ A.a.O., 832f. Vgl. W. Lienemann, Das Gebot Gottes als „Ereignis“. Bibelgebrauch und freie Verantwortlichkeit in der Ethik Karl Barths, ZDTh 15 (2/1999), 155–177. 41 Vom Gottesdienst als „Ort des Hörens auf Gottes Wort“ spricht auch Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 306.

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(2) Zweite Kontur: Der Gemeindebezug – Die versammelte Gemeinde als Subjekt einer kirchlichen Ethik Der Gottesdienst ist ethisch so bedeutsam, weil er der Ort der versammelten Gemeinde42 ist:43 „Der reformierte Gottesdienst ist zuerst und vor allem Sache der Gemeinde.“44 Im Gottesdienst, der „nur als ‚Konzelebration‘ gestaltet werden kann“,45 konstituiert sich gleichsam die Gemeinde als ethisches Subjekt.46 Das wird bei Zwingli in den liturgischen Vollzügen an keiner Stelle so deutlich wie im Abendmahl: „Die, welche ein und dieselben Sakramente brauchen, werden ein und dasselbe Volk und gleichsam eine heilige geschworene Gemeinschaft; sie gehen auf in einem Leib und einem Volk; und wer es verrät, ist eidbrüchig.“47 Der Gang zum Abendmahl ist Zeugnis – Zeugnis der Zugehörigkeit zum Leib Christi. Dementsprechend heißt es in der Zürcher Abendmahlsordnung:48 „[W]elcher zu diesem Fest, Mahl und Danksa-

42

Zur Ekklesiologie der „versammelten Gemeinde“ vgl. E. Busch, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 151–172; Freudenberg, Reformierte Theologie, 265–267; Herlyn, Sache der Gemeinde, 9–25; 118–135; H.-J. Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 488–552; E. Mechels, „Versammelte Gemeinde“. Impulse der Ekklesiologie Otto Webers im Kontext der pluralistischen Gesellschaft, in: G. Plasger (Hg.), Otto Weber: Impulse und Anfragen, EBrP 6, Wuppertal 2002, 55–72; G. Plasger, Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012, 143–156; O. Weber, Versammelte Gemeinde. Beiträge zum Gespräch über Kirche und Gottesdienst, Neukirchen-Vluyn 21975. 43 Meyer-Blanck (Liturgie und Liturgik, 177) würdigt Zwinglis Gottesdienstordnung dahingehend, dass „[d]as Verstehen der Gemeinde und damit die religiöse Kommunikation […] wieder an die Stelle des mysteriösen priesterlichen Opferhandelns“ tritt. 44 R. Kunz u.a., Einleitung, in: dies. (Hg.), Reformierte Liturgik – kontrovers, Zürich 2011, (7–10) 10. 45 Reformierte Liturgie, 25. 46 Zur Gemeinde als Subjekt des Gottesdienstes vgl. M. Zeindler, Ekklesiologie des reformierten Gottesdienstes, in: Plüss u.a. (Hg.), Gottesdienst in der reformierten Kirche, (117–130) bes. 124–126. 47 Z VI/5, 161, 2–5 (Fidei expositio, 1531). Zit. nach E. Saxer, Huldrych Zwingli. Ausgewählte Schriften. In neudeutscher Wiedergabe mit einer historisch-biographischen Einführung, Neukirchen-Vluyn 1988, 175. 48 Zur Einführung der Abendmahlsfeier in Zürich vgl. P. Opitz, Kanzel und Gefletz – theologische und räumliche Verschiebungen zur Einführung des reformierten Abendmahls in Zürich (1525), in: Ch. Sigrist (Hg.), Kirchen Macht Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Zürich 2010, 45–58.

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gung erscheint, bezeugt, daß er deren sei, die da glauben, daß sie mit dem Tod und Blut unseres Herrn Jesu Christi erlöst sind“.49 Zwingli versteht die Gemeinde auf liturgischer Ebene als handelndes Subjekt. „[S]o soll zugleich – und gerade so – gewürdigt werden, dass auf der theologischen Ebene Christus das alleinige Handlungssubjekt bleibt.“50 Zwingli orientiert sich auch hier – wie so oft – am Heilandsruf Jesu: „Kommt her zu mir all ihr Geplagten und Beladenen: Ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Christus wird als Einladender zum Abendmahl verstanden. Er führt seinen Leib zusammen. Damit die Gemeinde die Feier liturgisch praktizieren kann muss der Abendmahlsritus räumlich inmitten der Gemeinde stattfinden: „Er wird der Gemeinde nicht mehr im Chor, an erhöhter Stelle, vorzelebriert, sondern findet im ‚Gefletz‘ statt, wie Zwingli den vorderen, leeren Teil des Kirchenschiffs bezeichnet. Das Abendmahl findet buchstäblich auf der Ebene statt, auf welcher sich die Gemeinde befindet. Ein an die Wand gebauter, einige Stufen höher liegender Altar ist als Ablage für Kelch und Brotschale ungeeignet: Wendet sich der Pfarrer diesem zu, steht er mit dem Rücken zur Gemeinde, und umgekehrt. Wer in der Mitte zwischen Brot und Wein einerseits und der Gemeinde andererseits steht, beansprucht liturgisch, zu vermitteln. So sind in der durch Zwingli inaugurierten reformierten Tradition Altäre – ebenso wie an die Wand gestellte Abendmahlstische – unmöglich. Altäre konnten im Zürcher Grossmünster nicht umfunktioniert oder uminterpretiert, sie mussten schlicht abgebrochen werden.“51

Das Abendmahl ging nun so vonstatten, dass zunächst während der Predigt Brot und Wein sichtbar auf dem Tisch im „Gefletz“ lagen und erst nach der Predigt in der Gemeinde herumgereicht wurden.52 Zwingli ist bemüht, in der Zürcher liturgischen Praxis dem Einheits- und Vereinigungscharakter des Mahls Rechnung zu tragen und seinem grenzund trennungsüberwindenden Wesen in der liturgischen Durchführung zu entsprechen. Das gilt etwa im Blick auf soziale Konstruktionen wie die Trennung von Klerikern und Laien, Arm und Reich, Mann und Frau, nach welchen Indikatoren sie auch immer errichtet sein mögen: a) Im Blick auf den Dualismus von Klerikern und Laien: „Die Einheit der Gemeinde findet zunächst ihren Ausdruck darin, dass alle 49

51 52 50

Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 180 (Z IV, 15, 12–15). Opitz, Kanzel und Gefletz, 51. A.a.O., 50. Vgl. ebd.

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zusammen im Kirchenraum die Kommunion empfangen. Die Unterscheidung zwischen Klerikern, die ihren Ort im Chor haben, und den Laien, die ihren Ort im Kirchenschiff finden, ist damit zugunsten der Darstellung der Einheit der Gemeinde aufgehoben.“53 Doch die Aufhebung der Trennung gilt nicht nur für Kleriker und Laien, sondern auch b) im Blick auf die Separation von Arm und Reich: „Die im Glauben begründete Gemeinschaft relativiert […] auch die [Unterscheidung; M.H.] von Herr und Knecht. Das wird besonders eindrücklich, wenn bei der Feier des Nachtmahls, zu der die ganze Gemeinde versammelt ist, alle gemeinsam aus hölzernen Schüsseln und Bechern Brot und Wein empfangen.“54 Soziale Statusindikatoren wie die Schlichtheit des Abendmahlsgeschirrs werden dabei durchaus aufgegriffen: „Die Schüsseln und Becher sollen aus Holz sein, damit der Luxus nicht wiederkommt.“55 Es geht dabei erkennbar um das Teilen: „[B]ereits die Art und Weise des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines lässt das Moment des Teilens der Gemeinde – im Unterscheid zu einem Austeilen durch die ‚Kirche‘ und Entgegennehmen durch das ‚Volk‘ – in den Vordergrund treten: Da die Gemeinde nicht an einem Tisch Platz hat, bleibt sie auf den Bänken sitzen und nimmt dort das Mahl ein – eine Konzession an die praktische Durchführung, die das Ideal einer sitzenden Tischgemeinschaft noch durchscheinen lässt. Nicht nur die Feier in beiderlei Gestalt, auch dass das Brot in einer breiten Schüssel herumgereicht wird, damit jeder sich ‚mit seiner eigenen Hand‘ ein Stück nehmen oder gar abbrechen kann, war im Vergleich zur spätmittelalterlichen Messfeier, aber auch im Vergleich zu der durch Luther inaugurierten Tradition, eine Revolution.“56 53

G. Etzelmüller, Das Alte Testament und die Ökumene der christlichen Liturgiefamilien, ThLZ 136 (2011), (363–378) 369. 54 Ebd. 55 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 181 (Z IV, 17, 1–2). 56 Opitz, Kanzel und Gefletz, 51. Die Differenz zu Luther pointiert Opitz (a.a.O., 52) wie folgt: „Während die römische Messe als Opferritus konzipiert war, und während Luther in radikaler Umkehrung des Messopfers das Abendmahl konsequent als Gabe Gottes an die Menschen zu verstehen lehrte, interpretierte Zwingli die Abendmahlsfeier primär von der Leitmetapher des Gastmahls her, die ja im Neuen Testament verschiedentlich verwendet wird und die auch den Kontext des Abendmahls im neutestamentlichen Zeugnis bildet. So wählt Zwingli nicht zufällig 1Kor 11 als vorzulesenden Abendmahlstext aus. Zunächst wird dabei die gesamte paulinische Abendmahls­ paränese für die Versammlung der Gemeinde in Korinth (1Kor 11,20–29) verlesen […]. Die für Luther so zentrale Dimension der individuellen Testamentszueignung, orientiert am mittelalterlichen Absolutionsspruch, wird in der Semantik des Gastmahls

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c) Schließlich ist auch auf die Trennung von Mann und Frau zu verweisen: Männer und Frauen saßen auch im Zürcher Gottesdienst getrennt voneinander.57 Zwingli wollte aber entsprechend der deuteronomischen Festkonzeption die „Gleichberechtigung von Männern und Frauen (in liturgischen Dingen) zum Ausdruck bringen, indem er Männer und Frauen mehrere liturgische Stücke im Wechsel sprechen lassen wollte [so das Gloria und das Benedik­ tus, das Agnus Dei, das Sanctus, das Apostolikum und schließlich den 113. Psalm nach dem Mahl; M.H.], was aber der Rat nicht genehmigte. Wie die Israeliten sich bei den Wallfahrtsfesten als die eine Familie Gottes darstellten, so stellt sich in Zürich in den von Freude und Danksagung geprägten Abendmahlsfeiern die Bürgergemeinde als Gemeinde von Schwestern und Brüdern dar.“58 Zwingli betont, dass die Überwindung des Trennenden solcher Grenzziehungen nur durch die einheitsstiftende Kraft des Heiligen Geistes möglich ist.59 Im Gebet nach dem Mahl heißt es im Dank des Zürcher Abendmahlgebets: „O Herr, allmächtiger Gott! Der du uns durch deinen Geist in Einigkeit des Glaubens zu deinem einigen Leibe gemacht hast“.60 Zusammenfassend lässt sich festhalten: „Im Fest des Nachtmahls transzendiert die Gemeinde ihre gesellschaftlichen Differenzierungen und entdeckt, was sie im Glauben schon ist, nämlich der zweifellos weniger stark akzentuiert. Das Gefälle der Gnade zwischen Christus und dem Menschen wird damit in Zwinglis Augen aber keineswegs abgeschwächt. In diesem Gefälle erhält die Abendmahlsfeier aber einen breiten Raum, indem andere von Paulus mit dem Abendmahl verbundene Momente, das Bekennen und das Verhältnis zwischen den Tischgenossen, von Anfang an mitthematisiert werden.“ Zur ethischen Relevanz von 1Kor 11,17–34 vgl. G. Hunsinger, The Eucharist and Ecumenism: Let us Keep the Feast, Cambridge 2008, 253-262; ders., The Eucharist and Social Ethics, in: ders., Conversational Theology: Essays on Ecumenical, Postliberal and Political Themes, with Special Reference to Karl Barth, London u.a. 2015, 65–91. 57 Vgl. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 181 (Z IV, 16, 15f.). 58 Etzelmüller, Altes Testament, 369. So auch Opitz, Kanzel und Gefletz, 51. 59 Vgl. Etzelmüller, Was geschieht beim Gottesdienst?, 58: „Die Gemeinde feiert ihre Gottesdienste zwar in der Erwartung der Parusie, aber nicht in einer gottlosen Zeit, sondern in der Gegenwart des Geistes. Dessen Werk besteht nach den johanneischen Abschiedsreden vor allem darin, alles zu lehren und an alles zu erinnern, was Jesus gesagt hat und so die Jünger in alle Wahrheit zu führen. Demgemäss ist die Regelform des Sonntagsgottesdienstes in Zürich als Lehrgottesdienst konzipiert. Seine Aufgabe ist es, die Gemeinde an die Worte Jesu zu erinnern und diese auszulegen.“ 60 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 184 (Z IV, 22, 9f.).

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eine Leib Christi. […] Die Darstellung dieser Einheit des Leibes Christi steht nun freilich nicht einfach unverbunden der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber, sondern soll auf diese zurückwirken. Das Abendmahl wird zur Ermahnung, ‚christliche liebe, trüw und diennstbarkeyt ye eins gegen dem andren ze halten‘ (Z IV, 694, 6f.). Wie im Deuteronomium so dienen auch in Zürich die großen Jahresfeiern […] der Darstellung der Gemeinschaft“.61

(3) Dritte Kontur: Bezug auf das Passah und die „story Gottes“ – Ethik der Erinnerung Über diesen gemeindeethischen Impuls hinaus macht Zwingli bereits mit dem Untertitel der Abendmahlsordnung deutlich, um was es ihm geht: „Gedächtnis oder Danksagung Christi“.62 Beides hängt auf das Engste zusammen: „So dieses [Wieder]Gedächtnis eine Danksagung und ein Frohlocken dem allmächtigen Gott ist“.63 Die Danksagung erwächst aus dem Gedächtnis und zielt auf Nachfolge ab.64 Der nachfolgeethische Impuls ist ohne seine erinnerungsethische Voraussetzung nicht zu haben. Zwingli betont, dass „diesem Gedächtnis des Leidens Christi und diese[r] Danksagung für seinen Tod ein gemeinsames [Leben; M.H.] der Christen und [ein] unschuldiges frommes Leben nachfolgen soll.“65 Nun wurde oft gegen Zwingli im kontroverstheologischen Streit polemisiert und ihm eine Reduzierung des Abendmahls auf ein „Erinnerungsmahl“ zur Last gelegt – mit dem Vorwurf, dass Christus im Erinnerungsmahl nach Zwinglis Verständnis nicht anwesend sei. Das Gegenteil ist der Fall. Zwingli führt explizit aus: „Wir glauben, dass Christus beim Abendmahl anwesend ist, ja wir glauben nicht einmal, dass es ein Abendmahl sei, wenn nicht Christus gegenwärtig ist [...] wir glauben, dass der wahre Leib Christi beim Abendmahl sakramental und geistlich gegessen wird“.66

61

Etzelmüller, Altes Testament, 369. Hervorhebung im Original: M.H. Zitiert wird aus der „Ordnung der christlichen Kirche zu Zürich“ (nach Ostern 1525), Z IV, 680–694. Zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im reformierten Gottesdienst vgl. Zeindler, Ekklesiologie des reformierten Gottesdienstes, 125f. 62 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 179 (Z IV, 13, 1f.). 63 A.a.O., 180 (Z IV, 15, 10f.). 64 Vgl. Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert, 52: „Der Gottesdienst ist kein gutes Werk, sondern Stärkung auf dem Weg in der Nachfolge Christi.“ 65 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 180 (Z IV, 14, 21–23). 66 ZS IV, 313; 315 (Fidei expositio, 1531).

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

Zwingli rechnet eindeutig mit der Gegenwart des dreieinigen Gottes beim Abendmahl.67 Er spricht davon, dass Christus „dieses Wiedergedächtnis [widergedächtnis; M.H.] eingesetzt hat“.68 Hier taucht nun der Begriff auf, den Zwingli bereits 1523 in den „Auslegen und Gründe der Schlußreden“ in Art. 1869 gebraucht hatte. „Wenn die Gemeinde Abendmahl feiert, gedenkt sie des einmaligen, in der Geschichte geschehenen Opfers Jesu Christi, der ihr selber gegenwärtig ist.“70 Es geht um das „Gedächtnis seines [Jesu Christi; M.H.] Todes“.71 Zugleich erinnert das Zürcher Abendmahl – entsprechend dem Nachtmahl Jesu – an das Passah. In der Zürcher Abendmahlsordnung ist explizit von „ungesäuerte[n] Brote[n]“72 die Rede. Im „Commentarius“ heißt es bei Zwingli: „eucharistiam nostrum pascha“73 – „das Abendmahl ist unser Passah“.74 Zwingli knüpft an die Passahtradition an75 und von dieser Tradition her ist auch sein „Erinnerungsverständnis“ im Sinne des hebräischen zachar geprägt. Wie etwa Willy Schottroff in seiner Untersuchung zum „Gedenken“ im Alten Testament gezeigt hat, geht es beim zachar um „menschliche Erinnerung, [die] Vergangenes um seiner Gegenwartsbedeutung willen“76 ergreift.77 Anders als die rationalistische Zwingli-Interpretation will, platonisiert Zwingli nicht 67

So auch nachdrücklich Opitz, Ulrich Zwingli, 71f. Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 181 (Z IV, 16, 3). 69 Vgl. dazu J. Voigtländer, Ein Fest der Befreiung. Huldrych Zwinglis Abendmahlslehre, Neukirchen-Vluyn 2013, 27–43. 70 Plasger, Das Sakrament als „widergedächtnis“. Einige Aspekte zum Verständnis von Taufe und Abendmahl bei Zwingli, in: H. Klueting / J. Rohls (Hg.), Reformierte Retrospektiven, EBrP 4, Wuppertal 2001, (105–113) 110. 71 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 181 (Z IV, 17, 17). Vgl. a.a.O., 183 (Z IV, 21, 24–28): „[Z]um Gedächtnis […], daß er den Tod für uns erlitten und sein Blut zur Abwaschung unserer Sünden vergossen hat. Darum erinnere sich selbst ein jeder nach dem Wort Pauli, was an Trost, Glauben und Sicherheit er in dem Genannten an unserem Herrn Jesus Christus habe“. 72 A.a.O., 184 (Z IV, 23, 6f.). 73 Z III, 803, 26 (De vera et falsa religione commentarius, 1525). 74 ZS III, 298. 75 Vgl. dazu ausführlich Voigtländer, Ein Fest der Befreiung, 61–90, bes. 89f. 76 W. Schottroff, „Gedenken“ im Alten Orient und im Alten Testament. Die Wurzel zakar im semitischen Sprachkreis, WMANT 15, Neukirchen-Vluyn 1964, 339. 77 Dementsprechend heißt „widergedächtnis“ bei Zwingli nicht einfach: illic et tunc, sondern auch hic et nunc. Es gibt einen Gegenwartsbezug: „[D]as Erlösungsgeschehen ist nicht der Vergangenheit angehörig […], sondern [bestimmt] die Gegenwart […]. Die Gemeinde als der Leib Christi dankt Gott, erinnert damit an das eine Opfer Jesu Christi und tut das als Gemeinschaft, die mit der Feier auch die eigene Verpflichtung, als erlöste Gemeinde zu leben und zu handeln, vor Gott und den Menschen bekennt“ (Plasger, Das Sakrament als „widergedächtnis“, 111). 68

2. Reformierte Liturgie 1

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einfach, sondern greift alttestamentlich-jüdische Strukturen auf.78 Es geht eben nicht um re-memoratio, sondern um com-memoratio.79 Dementsprechend gilt für Zwinglis Abendmahlsverständnis: „Indem die Gemeinde das Abendmahl begeht, wird ihr eine zweifache Perspektive zuteil: Zunächst geht der Blick zurück auf das in der Zeit geschehene Heilsereignis, die durch den Tod und das Blut Jesu Christi Wirklichkeit gewordene Erlösung. Dieses Heilsereignis ist aber nicht beschränkt auf die Vergangenheit, sondern umfaßt auch die Gegenwart: Den am Abendmahl teilnehmenden Gläubigen wird durch die Feier bezeugt, daß sie in das Heilsereignis hineingehören, daß sie der Heilsgeschichte gegenwärtig sind.“80

In der Terminologie Dietrich Ritschls lässt sich festhalten, dass es Zwingli um die story Gottes geht, als deren Teil er die Abendmahlsgemeinde versteht. Diese story wird im Sinne des „widergedächtnisses“ erinnert. Dass diese Erinnerung wiederum nicht nur kognitive und voluntative Aspekte aufweist, sondern auch affektive Dimensionen einschließt, dürfte evident sein und nicht überraschen. Affekte erweisen sich nämlich – bei Lichte betrachtet – als „selbst in Narrationen eingebunden“.81 Das Abendmahl hat nach Zwingli Verpflichtungscharakter und besitzt eine ethische Ausrichtung. Wohlgemerkt ist diese nicht ohne das Erlösungsgeschehen und ohne die Gegenwart Gottes zu haben und dementsprechend nicht von diesen theologischen Begründungszusammenhängen zu entkoppeln.

78

So betont Plasger (Das Sakrament als „widergedächtnis“, 110) treffend: „Mit der Rede vom Gedächtnis ist nun bei Zwingli nicht einfach ein ‚Sich-Erinnern‘ gemeint, so, als ob durch das Erinnern das Ereignis und die Bedeutung des Todes Jesu von den Feiernden in ihre Gegenwart hineingeholt würde. Wäre das der Fall, so würde letztlich die feiernde Gemeinde zum Subjekt der Wirksamkeit seines Opfers, weil es ja durch ihr eigenes Erinnerungsvermögen in ihre Gegenwart transportiert würde. Und damit würde das sich in der Geschichte ereignete Opfer Jesu in die Verfügung der Gemeinde gegeben – eine Vorstellung, der Zwingli gerade wehren will, indem er Wirksamkeit des Opfers und Feier zunächst ganz weit auseinanderhält, um sie richtig aufeinander beziehen zu können. ‚Das Mahl des Herrn ist ein Gedächtnis des Todes Christi, nicht Vergebung der Sünden; denn die gibt es allein aufgrund des Todes Christi‘.“ Vgl. auch Voigtländer, Ein Fest der Befreiung, 213. 79 So Voigtländer, Ein Fest der Befreiung, 209. 80 Plasger, Das Sakrament als „widergedächtnis“, 112. 81 M. Mühling, Systematische Theologie: Ethik. Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns, UTB 3748, Göttingen 2012, 251.

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

„[D]ie Feiernden [werden] von Gott, nicht durch sich selber, zu Zeitgenossen der Geschichte Gottes gemacht. Sie erkennen und bekennen sich als die in die Geschichte Gottes Verwobenen: Im Exodus waren sie selbst dabei; im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi sind sie selber gestorben und auferstanden […] Der in der Feier des Abendmahls real gegenwärtige Jesus Christus macht die Gemeinde seiner Gegenwart teilhaftig. Im Abendmahl bekennt die Gemeinde diese Geschichte Gottes und ihren Anspruch auf die Gegenwart, indem sie sich selber einbezogen weiß.“82

3. Reformierte Liturgie 2: Ethisch-liturgische Konturen nach Johannes Calvins Gottesdienstordnung Wechselt man den Standort und geht von Zürich nach Genf, so treten mit der Genfer Gottesdienstordnung (1542),83 wie sie Calvin entwickelt hat, über Zwingli bzw. Zürich hinaus weitere Konturen in Erscheinung. Was dabei das Verhältnis von Calvin und Zwingli betrifft, so werden etwas andere Akzentuierungen sichtbar, die aber weder unvereinbar einander gegenüber stehen, wie die Bullingerʼsche Vermittlung zeigt, noch den Typus „reformierter Gottesdienst“ sprengen.84 Grundsätzlich gilt: „Die reformierten Kirchen konnten und wollten keine Einheitsliturgie schaffen, sondern nahmen Akzente anderer Gottesdienstformen auf, sofern diese geeignet erschienen, den Grundcharakter vom konzentrierten Hören auf Gottes Wort zu bekräftigen.“85 (4) Vierte Kontur: Bezug auf das Almosen – Ethik der Gabe Calvin geht in seinem Gottesdienstverständnis von drei Hauptstücken des Gottesdienstes aus: Gebet, Predigt und Mahl.86 Er beruft sich bei dieser Trias auf den „Brauch des altkirchlichen Gottesdienstes“, also durchaus auf die Tradition, freilich nur insofern, als dass die altkirchliche Tradition der apostolischen nach dem prägenden Vorbild von 82

Plasger, Das Sakrament als „widergedächtnis“, 112. In: Calvin Studienausgabe (= CStA) Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, hg. von E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 137–225. 84 Zu diesem Typus vgl. Etzelmüller, Was geschieht im Gottesdienst?, 51–61; ders., ... zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn. Eine biblische Theologie der christlichen Liturgiefamilien, Frankfurt 2010, 195–252. 85 Freudenberg, Reformierte Theologie, 269. 86 Wie E. Busch (Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 24f.) herausarbeitet, ist die Genfer Gottesdienstordnung in dieser Dreiteilung trinitarisch geprägt. 83

3. Reformierte Liturgie 2

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Apg 2,42 folgt: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ Calvin bemerkt in der „Institutio“: Nach Brauch der apostolischen Kirche müsste es so sein, „dass keine kirchliche Versammlung ohne Wort, Gebete, Teilnahme am Abendmahl und Almosen geschähe“.87 Hier tritt interessanterweise über die genannte Trias hinaus das Almosen als vierte Größe hinzu. E. Busch bemerkt dazu treffend: „Auch wenn Calvin das Almosen nach Apg. 2,42 als viertes Hauptstück des Gottesdienstes nennen kann, so ordnet er es faktisch der Eucharistie zu, spe­ ziell der darin bekundeten Verbundenheit der Glieder des Leibes Christi. Dort, wo nach römischer Lehre in der Messe der Priester die (‚unblutige‘) Opferung Christi vollzieht, redet Calvin in seiner Abendmahlsliturgie eben von dem Almosen, welches in dankbarem Gehorsam gegen den ein für allemal für uns Dahingegebenen von uns zu geben sei“.88

In der Genfer Gottesdienstordnung von 1542 heißt es entsprechend: „Wir bezeugen dies [unsere dankbare Hingabe an den, der sich zu unserer Vergebung für uns dahingegeben hat; E.B.] durch Opfer und heilige Gaben (wie es die christliche Liebe verlangt), welche Christus und seinen Geringsten dargebracht werden: dem Hungernden, dem Dürstenden, dem Nackten, dem Fremden, dem Kranken, dem Gefangenen. Denn aller, die in Christus leben und ihn in sich tragen, tun aus freiem Willen das, was das Gesetz von ihnen verlangt. Dieses nun befiehlt, dass man nicht ohne Opfergabe vor Gott erscheinen soll.“89 87

Inst. (1559), IV,17,44. Hervorhebung im Original: M.H. Vgl. J. Calvin, Komm. Apg 2,42 (CO 26,57f.). 88 Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, 22. Überhaupt betont Calvin die Zentralität der: Mahlfeier: „Wiederum ist die Mahlfeier Zusammenfassung und Höhepunkt des Gottesdienstes, insofern sie die beiden anderen Elemente in sich begreift. In ihr legt der Herr ‚den Reichtum seiner Güte […] gleichsam aus seiner Hand in unsere‘, und zwar durch das mit den Elementen verbundene Wort. Im Mahl sagen und singen wir ihm Lob und Dank. Und dazu tritt im Abendmahl noch drittens das Geschehen, in dem die Gemeindeglieder sich zur gegenseitigen Liebe verbinden. Darum muss die Eucharistie sinnvollerweise in jedem Gottesdienst gefeiert werden. Die Abstellung des römischen Missstandes, dass das Abendmahl nur einmal pro Jahr von der Gemeinde zu genießen sei, war Calvin allem Anschein nach noch wichtiger als die der anderen Missstände wie Abendmahlsliturgie in fremder Sprache, Kelchentzug, Anbetung der Elemente. Es war der Genfer Rat, der die regelmäßige Feier des Abendmahls in jedem Gottesdienst verhinderte. In der Institutio redet aber Calvin so, als finde das Abendmahl gleichwohl in jedem Gottesdienst statt.“ A.a.O., 23. 89 CStA 2, 201.

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

Der Begriff der „Gabe“ ist hier zentral. Ein Ethos des (Almosen-)Gebens wird hier in der Genfer Gottesdienstordnung tradiert, damit sozusagen die Gabe selbst tradiert wird. Eine Ethik der Gabe hat dieses Ethos nach H.G. Ulrichs „Ansatz“ zu explizieren und zu explorieren. Dass eine solche Ethik der Gabe ihrerseits auch Teil des Ethos ist, wird an diesem Umstand (der Tradition im Sinne des Tradierens) besonders sichtbar. Das Ethos der Gabe ist selbst Gabe und eine in der Ulrichʼschen Weise an ihm partizipierende Ethik wird als Ethik der Gabe ebenfalls selbst zu derselben. Mit der Gabe ist auf das Engste der Dank als angemessene Reaktion auf die Gabe verknüpft, so dass sich eine Ethik der Gabe zugleich als eine Ethik der Dankbarkeit gestalten wird.90 In der Genfer Gottesdienstordnung heißt es in der „Ermahnung vor dem Mahl“: „[L]aßt uns nicht undankbar sein gegenüber der grenzenlosen Güte unseres Retters, der all seinen Reichtum und seine Güter auf diesem Tisch ausbreitet, um sie an uns zu verteilen. Denn indem er sich uns gibt, bezeugt er uns, daß alles, was er hat, unser ist.“91 Und am Ende des Dankgebets nach der Mahlfeier heißt es in trinitarischer Zuspitzung: „Himmlischer Vater, wir sagen dir ewig Lob und Dank, daß du uns armen Sündern ein solches Gut gewährt hast, daß du uns in die Gemeinschaft mit deinem Sohn Jesus Christus geholt hast, unserem Herrn, den du für uns in den Tod gegeben und uns als Speise und Nahrung zum ewigen Leben geschenkt hast. Verleihe uns nun auch die Gabe, daß wir diese Dinge nie vergessen, daß sie vielmehr in unseren Herzen eingeprägt bleiben und wir beständig im Glauben wachsen und zunehmen. Dieser bewirkt alle guten Werke, und wenn wir so handeln, ordnen und führen wir unser Leben zur Erhöhung deines Ruhms und zur Auferbauung unseres Nächsten. Durch ihn, Jesus Christus, deinen Sohn, der in der Einheit des heiligen Geistes ewig mit dir regiert.“92 90

Zur Ethik der Dankbarkeit vgl. K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlaß. Vorlesungen 1959–1961, Karl Barth GA II/7, hg. von H.-A. Drewes / E. Jüngel, Zürich 1976, 501: „Gottes in Jesus Christus wirksames und offenbares Wort seiner freien Gnade ist sein alle Menschen und jeden im besonderen angehendes Gebot, in dem er nach der Antwort ihres Gehorsams im Denken, Reden und Tun ihrer freien Dankbarkeit ruft.“ D. Schellong (Art. Ethik B. Aus evangelischer Sicht, NHThG 2 [1991], 408–417, 416) versteht die Ethik des späten Barths als „Ethik der Dankbarkeit“. Vgl. auch M. Hofheinz, Artikel „The Christian Life“, in: G. Hunsinger / K.L. Johnson (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to Karl Barth. Vol. 1: Barth and Dogmatics, New York / Chichester 2020, 355–367. 91 CStA 2, 211. 92 CStA 2, 213. Dort kursiv. Siehe dazu auch Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, 22; 25.

3. Reformierte Liturgie 2

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(5) Fünfte Kontur: Bezug auf das Schuldbekenntnis – Ethik der Buße93 Die Genfer Gottesdienstordnung beginnt nach dem Adjutorium mit dem Bußbekenntnis („Meine Brüder, ein jeder von euch stelle sich vor das Angesicht des Herrn mit dem Bekenntnis seiner Fehler und Sünden [faultes et pechez; M.H.] und folge in seinem Herzen meinen Worten: …“94), das an die Stelle des Confiteor (‚Ich gestehe…‘) in der römischen Messe tritt.95 Daraufhin erfolgt die Absolution: „Ein jeder von euch soll sich wahrhaftig als Sünder erkennen, sich vor Gott demütigen und glauben, daß der himmlische Beter ihm gnädig sein will in Jesus Christus. Für alle diejenigen, die auf diese Weise bereuen und Jesus Christus zu ihrem Heil suchen, verkündige ich die Vergebung im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.“96 Bezeichnenderweise folgt der Absolution der Dekalog: „Es entspricht Calvins Verständnis des Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung, dass auf den Vergebungszuspruch hin die Gemeinde den Dekalog singt, als Bekenntnis dazu, dass der Gott der Güte seinen Willen seinen ‚armen Knechten‘ kundtut. Das ist verbunden mit der Bitte, uns unsere Übertretungen nicht anzurechnen, sondern die Gerechtigkeit des Gesetzes uns so einzuprägen, dass wir Gott loben, indem wir ihm dienen und gehorchen. Es folgt aber auf jede der 12 Strophen des – wohl wieder von Calvin verfassten – Dekalog-Lieds ein Kyrie eleison.“97

Das Unser-Vater und der berühmte Genfer Psalmengesang schließen sich an.98 Man kann hier regelrecht von einer liturgisch gestalteten 93

Zur reformierten Theologie der Buße vgl. die soeben erschienene, wegweisende Untersuchung von L. Baschera, Hinkehr zu Gott. „Buße“ im evangelisch-reformierten Gottesdienst, EKGP 4, Göttingen 2017; ders., Gebet als Buße. Von der Notwendigkeit, sich immer wieder Gott zuzuwenden, in: O. Dürr u.a. (Hg.), Wachet und betet. Mystik, Spiritualität und Gebet in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Unruhe, Glaube & Gesellschaft 10, Münster 2021, 175–191. 94 CStA 2, 163. Vgl. Baschera, Hinkehr zu Gott, 106–110; Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, 25. 95 Zur historischen Rekonstruktion vgl. Baschera, Hinkehr zu Gott, 94–103. 96 CStA 2, 163. Dort kursiv. Vgl. Baschera, Hinkehr zu Gott, 129–132. 97 Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, 25. Ähnlich in der gottesdienst-theologischen Deutung Baschera, Hinkehr zu Gott, 133–135. Vgl. den Anhang „Psalmes“ zu „La Forme des prieres et chantz ecclesiastique“ (1542), in: CO 6, (211–224) 221–223. 98 Zum Bund und zur Bezugnahme auf den Bund bei der Gottesdiensteröffnung vgl. den ersten Beitrag in diesem Band (= M. Hofheinz, „… der Bund und Treue hält

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

„Bundeserneuerung“ sprechen: 99 „Die Gemeinde antwortet auf die Verkündigung der Gnade in Jesus Christus, indem sie sich erneut feierlich zum ewigen Gnadenbund Gottes – dessen Urkunde das Gesetz ist – bekennt.“100 Der exponierte liturgische Ort des Bußbekenntnisses will im Blick auf die Tradierung von Ethos und damit Ethik bedacht sein. Treffend bemerkt G. Etzelmüller: Es „wäre im Blick auf die calvinistischen Gottesdienstordnungen zu erforschen, was es für das Politik- und Rechtssystem bedeutet, wenn in ihrer Umgebung Menschen religiöse Kommunikation stets mit einem Sündenbekenntnis beginnen. Das Woche für Woche gesprochene Sündenbekenntnis, das Calvin seiner Genfer Liturgie voranstellte (vgl. CStA 2, 162, 2–21), ist zu einem Konfessionsmerkmal des Calvinismus geworden. So wurde es während des Religionsgespräches von Poissy von Théodor de Bèze zusammen mit den anderen reformierten Theologen kniend vor dem König als lebendigster Ausdruck reformierten Wesens rezitiert. Bis heute sind die amerikanischen Presbyterianer ‚the most adamant of modern liturgical revisers in insisting on beginning worship with confession.‘ Dass die Einsicht in die Sündhaftigkeit des Menschen politische Konsequenzen haben kann, zeigt sich zumindest bei Calvin selbst.“101 Verwiesen sei etwa auf sein Plädoyer für die Verteilung des Regierungsgeschäfts auf mehrere Hände.102 Man denke auch an Reinhold ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik, ZThK 117 [2/2020], 164–195). 99 Vgl. Freudenberg, Reformierte Theologie, 274: „Der Psalmengesang erhielt seinen festen Ort nach dem Schuldbekenntnis und vor der Predigt. Am Ende dieses innovativen liturgischen Weges steht der Genfer Psalter von 1562 mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen, ergänzt durch das gesungene Glaubensbekenntnis, das Unser Vater-Gebet und den Lobgesang des Simeon.“ Zum Genfer Psalter vgl. P. Bernoulli / F. Furler (Hg.), Der Genfer Psalter – eine Entdeckungsreise, Zürich 2 2005. 100 Baschera, Hinkehr zu Gott, 134. Hervorhebung im Original: M.H. 101 G. Etzelmüller, Der Pluralismus der christlichen Liturgiefamilien als Formzusammenhang einer zusammenwachsenden Welt, ThZ 68 (2012), (25–45) 36. 102 Dieses Plädoyer ist freilich bei Calvin eher aristokratischer als demokratischer Natur: Calvin folgert „aus der Tatsache der ‚Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen‘, dass ‚es sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so daß sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, wenn sich einer mehr als billig erhebt, mehrere Aufseher und Meister da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten‘. Konsequent plädierte Calvin deshalb politisch für ‚eine Aristokratie […], die an die bürgerliche Regierungsform angrenzt‘ (Inst. IV,20,8 / OS V,478,29–479,2, 4f.).“ (Etzelmüller, Der Pluralismus, 36f.).

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Niebuhrs berühmtes Paradoxon: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit aber macht Demokratie notwendig.“103 Die liturgische Verankerung des Schuldbekenntnisses im Gottesdienst ist also, wie diese „Resonanzen“ veranschaulichen, ethisch hoch bedeutsam. Es geht dabei um eine Ethik der Buße, die mit der Praktik des Bußbekenntnisses verbunden ist und auf jenes Neu-Erschaffen-Werden bezogen ist,104 das in der reformierten Tradition als Heiligung verstanden wird.105 (6) Sechste Kontur: Bezug auf die Fürbitte für die Obrigkeit – theozentrische Ethik des Politischen In Calvins Fürbitte für die Obrigkeit, wie sie in der Genfer Gottesdienst­ ordnung ihren festen Platz hat, fällt die starke Theozentrik auf. Es geht Calvin, wie er direkt zu Beginn des Gebets klarstellt, um Gottes Gebot, für die Obrigkeit zu beten, und zwar nicht einfach umstandslos, sondern weil Gott sie über die betende Gemeinde eingesetzt hat. Dieser Umstand der Einsetzung durch Gott ist auch für die Reihung der Gebetsanliegen entscheidend, die sich von der Obrigkeit ausgehend auf Gottes Volk und alle Menschen erstreckt: „Zuerst haben wir dein Gebot, für diejenigen zu beten, die du über uns gesetzt hast, Obrigkeit 103

R. Niebuhr, Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung, München 1947, 8. Vgl. dazu M. Zeindler, Reinhold Niebuhr (1892–1971): „Christlicher Realismus“ in Zeiten der Krise, in: M. Hofheinz / M. Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, (101–123) 112f. 104 Vgl. auch Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 312. 105 Auf den Zusammenhang von Liturgie und Heiligung hat bereits Weber (Versammelte Gemeinde, 103–111) hingewiesen: Das Liturgische „hat seinen dogmatischen ‚Ort‘ in der Lehre von der Heiligung. Die Liturgie – in ihrer Gesamtheit – bringt zum Ausdruck, daß uns die Heiligung in unserer Gemeinschaft unter dem Wort gewährt wird. Wir können, hierin teilweise zurückschauend, teilweise auch vorwegnehmend, ebenso sagen: die Liturgie als die konkrete Vollzugsgestalt der Kirche als des Leibes Christi macht offenbar, daß Leben in der Heiligung Leben im Empfangen und in der Hingabe ist. Von hier aus versteht man, daß in vergangener Zeit da und dort die ‚Praktische Theologie‘ als Bestandteil der Ethik behandelt wurde [Weber verweist auf Andreas Hyperius und Gisbert Voetius; M.H.], sofern man nicht geradezu beide gleichsetzte (Weber verweist wiederum auf Henr. Nyssen; M.H.]. Sachlich wird man jedenfalls behaupten müssen, daß Gottesdienst – im geläufigen Sinne – und Heiligung im engsten Zusammenhang stehen. Heiligung aber bedeutet nicht die Herausnahme eines Lebens- oder Wirklichkeitsbereichs durch Gott und für Gott, sondern vielmehr die Beschlagnahme unserer ganzen Existenz“ (a.a.O., 109).

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

und Regierende, danach für alle Bedürfnisse deines Volkes, ja aller Menschen.“106 Wiederum ist für den weiteren Verlauf die Theozentrik der Gebetshaltung charakteristisch. Calvin spricht vom Vertrauen auf Gottes heilige Lehre und seine Verheißung. Er benennt den Ort vor Gottes Antlitz als Ort der zum Gebet versammelten Gemeinde und gleichsam den innertrinitarischen Modus des Gebets im Namen Jesu Christi, der – wie Calvin sequenziert – nur als Gottes Sohn auch unser einziger Retter und Mittler ist. Eine theozentrische Ethik wird im Sinne Calvins immer eine trinitarische Ethik sein müssen. Dies bringt der Gottesbegriff, der in der Genfer Gottesdienstordnung trinitarisch expliziert wird, mit sich. Der gesamte Genfer Gottesdienst weist eine Prägung durch die trinitarische Formel (vgl. Mt 28,19) auf.107 Doch was heißt Theozentrik? Theozentrik heißt – wie Calvin direkt eingangs des Fürbittgebets für die Obrigkeit klarstellt – dass es auch im Blick auf dieses Gebetsanliegen nicht einfach um menschliche Bedürfnisse und Wünsche, menschlichen Willen und Wohlgefallen geht, sondern um eine Ausrichtung auf Gott, um eine Gottsuche und -anrufung: „[D]u mögest uns in deiner unendlichen Güte unsere Übertretungen gnädig verzeihen und unsere Gedanken und Wünsche so zu dir hinziehen und erheben, daß wir dich von ganzem Herzen suchen und anrufen können, so wie es deinem Wohlgefallen und deinem Willen entspricht, welcher allein vernünftig ist.“108 Interessanterweise spricht Calvin hier weniger von der Obrigkeit, sondern der gottesdienstlichen Gemeinde. Politik beginnt hier, indem Gott die Herzen durch sein Gebot regiert und die Hörenden so ihre Bürger-Existenz im Himmelreich gewinnen (vgl. Phil 3,20a).109 So beginnt die politische Existenz der Christenmenschen, die in der Explikation derselben nun auch für die

106

CStA 2, 165. Dies weist E. Busch (Das trinitarische Bekenntnis im Genfer Gottesdienst, in: ders., Trinitäts- und Christusdogma. Ihre Bedeutung für Beten und Handeln der Kirche. FS J. Martikainen, Münster u.a. 2001, 195–210) nach. Fernerhin: ders., Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, 21–29. 108 CStA 2, 167. 109 Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 415. Zur Anspielung auf Phil 3,20a vgl. M. Hofheinz, „Das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln“ (Phil 3,20a). Predigt am 24.9.2017 (Wahlsonntag), in: http://www.reformiert-info.de/18396-0-8-1. html (abgerufen: 1.3.2018). 107

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Obrigkeiten Fürbitte halten. Die politische Existenz beginnt da, wo der Mensch Gott sein Herz regieren, d.h. Gottes Herrschaft walten lässt.110 Calvin wird auch hier von dem Gedanken geleitet: Wenn Gott im Leben von uns Menschen zu seinem Recht kommt und ihm die Ehre gegeben wird, dann ist auch dem Menschen unüberbietbar geholfen. Calvins berühmtes Diktum: „Wo Gott erkannt wird, kommt auch die Menschlichkeit zur Ehre“,111 folgt derselben Logik. Aufgrund dieser theozentrischen Vorordnung von Gottes Willen vor unsere Wünsche kommt Calvin in seiner Fürbitte zunächst gar nicht auf die Obrigkeit zu sprechen, sondern auf Gott, seine Ehre und sein Gebot. Der Schluss­ akkord der „Institutio“ „Ehre sei Gott!“112 wird hier gebetstechnisch performiert. Oder anders gesagt: Der Gebotsgehorsam vor allem hinsichtlich des ersten Gebots – „Du sollst keine anderen Götter haben“ (Ex 20,3; Dtn 5,7) – wird hier praktisch-liturgisch vollzogen. Wenn Calvin dann schließlich auf die Obrigkeit zu sprechen kommt, prädiziert er „Fürsten und Herren“ als Gottes Diener, denen er sein Recht anvertraut hat. Gott hat nach Calvin nicht auf sein Recht verzichtet, als er sie einsetzte. In seinem Daniel-Kommentar bemerkt Calvin: „[W]enn Gott auf die Alleinherrschaft in der Welt verzichtet, so daß alles blind und sinnlos verläuft, so hat er aufgehört, Gott zu sein!“113 In seinem Fürbittgebet bittet Calvin für die Regierenden Genfs um Gottes Geist, „der allein gut und wahrhaft die Hauptsache ist“.114 Calvin bittet ganz unverhohlen und ungeniert um Gotteserkenntnis und zwar die Erkenntnis des trinitarischen Gottes, also um etwas, vor dem wir unter der Prämisse eines weltanschaulich-säkularen Rechtsstaates und des konsequent säkularen Charakters des modernen Rechts zurückschrecken würden. Anders Calvin:

110

Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 424f. und 588: „Der politische Einsatz von Christen beginnt nicht jenseits ihrer Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde, was zu jeder Art von Loyalität oder Gefolgschaft führen kann, sondern mitten in ihrem Leben als Glieder der Gemeinde Jesu Christi, mitten im Gottesdienst, in dem sie sich als die Gemeinde Jesu Christi versammeln kann. Die Existenzform von Christenmenschen findet daher im Gottesdienst ihren prägenden und paradigmatischen Ort.“ 111 J. Calvin, Komm. Jer 22,16 (CO 38,388): „Ubi cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas.“ Dazu: M. Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 58f. 112 Inst. (1559), IV,20,32. 113 J. Calvin, Komm. Dan 2,12 (CO 40,577). 114 CStA 2, 167.

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IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

„So mögen sie [die Regierenden; M.H.] in wahrem Glauben erkennen, daß Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr, der König der Könige und der Herr aller Herren ist, dem du alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben hast. Sie mögen danach trachten, ihm zu dienen und sein Reich in ihrem Herrschaftsgebiet zu preisen, indem sie ihre Untergebenen, die Geschöpfe deiner Hände und Schafe deiner Weide, gemäß deinem Wohlgefallen führen“.115

Calvin hatte hier deutlich erkennbar werdende „Hemmungen gegenüber einer sich selbst überlassenen staatlichen Eigengesetzlichkeit. Jedenfalls kann nach ih[m] die Frage des menschlichen Zusammenlebens im Staat für den Glauben nicht gleichgültig sein. Darum nicht, weil es, bei allem Unterschied, zwischen Staat und Kirche doch eine bestimmte, positive Beziehung gibt. Diese Beziehung ist aber zuerst nicht die, die die Kirche, sondern die der in der Kirche bezeugte Gott zum Staat hat. Er ist auch außerhalb des Bereiches, wo das Evangelium geglaubt wird, nicht abwesend. Er ist der Herr auch über den politischen Raum.“116

Weil Christus in seinem königlichen Amt auch Herr über den politischen Raum ist, in dem der Staat eine bestimmte Funktion wahrnimmt, kann und muss der Staat auch daran behaftet werden, für Frieden zu sorgen.117 Calvin vertritt mit anderen Worten ein funktionales Staatsverständnis.118 Der Staat herrscht letztendlich, „damit wir hier und auf der ganzen Erde in Frieden und Ruhe dir in aller Heiligkeit und Anständigkeit dienen und, befreit und sicher vor der Furcht unserer Feinde, dir unser ganzes Leben lang Lob und Dank sagen können.“119 Der Staat herrscht also, um der Gemeinde den Gottesdienst zu ermöglichen. Das ist der politische Gottesdienst – nicht etwa der Gemeinde, sondern des Staates. Der Staat, den Calvin hier anvisiert, ist ein sich 115

Ebd. E. Busch, „Gott hat nicht auf sein Recht verzichtet“. Die Erneuerung der Kirche im Verhältnis zum politischen Bereich nach dem Verständnis der reformierten Reformatoren, EvTh 52 (1992), (160–176) 164 (Hervorhebung im Original: M.H.); ders., Reformiert, 197. 117 Vgl. Busch, Reformiert, 213f. 118 Treffend bemerkt Busch, „Gott hat nicht auf sein Recht verzichtet“, 167: „Daß der Staat von Gott eingesetzt ist, bedeutet für Zwingli und Calvin nicht einfach eine Sanktionierung jedweden Regiments und seiner Verfügungen. So würde der Staat letztlich zum irdischen Gott, der absoluten Gehorsam für sich beanspruchen darf. Daß er von Gott eingesetzt ist, heißt vielmehr, daß er zu einer spezifischen Funktion eingesetzt ist.“ So auch Hofheinz, Calvins theologische Friedensethik, 97–102. 119 CStA 2, 167. 116

3. Reformierte Liturgie 2

323

begrenzender Staat, der nicht zum totalen Staat und damit zum Götzen wird, sondern der sich selbst begrenzt und so Raum lässt, damit die Kirche ihrer Aufgabe, nämlich ihrem Gottesdienst, nachgehen kann.120 Der rechte Staat sorgt für die Freiheit der Verkündigung. Darin ist er leiturgos, der Diener Gottes nach Röm 13,6. Es gilt festzuhalten: In Calvins Fürbittgebet aus der Genfer Kirchenordnung werden die Konturen einer theozentrisch formierten Ethik des Politischen sichtbar, die bei Calvin vor dem Hintergrund einer rechtverstandenen Zweireiche-Lehre entfaltet werden. Gerade anhand der paulinischen Ermahnung zum Gebet für „Könige und alle, die in obrigkeitlicher Stellung sind“ (1Tim 2,1f.), welches im Sonntagsgebet der Genfer Liturgie den ersten Platz einnahm,121 vermag Calvin bei aller genauen Unterscheidungsnotwendigkeit auf die Zusammengehörigkeit von beiden Reichen zu verweisen. Denn in diesem Dienst zeigt sich die politische Dimension der Existenz der Gemeinde par excellence. Ihr Gottesdienst ist gerade darin eminent politisch, dass die Gemeinde darum bittet, die politische Administration solle ihre eigentliche Aufgabe doch wirklich wahrnehmen bzw. erfüllen.122 Das Gebet für die politische Administration führt indes nicht erst in die sozial-politische Verantwortung der Kirche hinein. Nein, sie nimmt sie bereits wahr. Im Gebet vollzieht sich ein aufmerksames Mitgehen in politicis, ein aktives Teilnehmen an den bedrängenden politischen Gegenwartsproblemen. Der Übergang zur Ermahnung der politischen Administration erweist sich gleichsam als fließend. Wird die Bitte um die Erfüllung besagter Aufgabe insbesondere in Gegenwart der Herrschenden vor Gott gebracht, gewinnt sie damit bereits den Charakter einer mehr oder weniger latenten oder indirekten Ermahnung. Denn das coram Deo formulierte, öffentliche Gebet geschieht schließlich zugleich coram hominibus.123

120

Vgl. Busch, „Gott hat nicht auf sein Recht verzichtet“, 176. So H. Scholl, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten, Stuttgart u.a. 1976, 54. 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. a.a.O., 55–59; ders., Fürbitte für das weltliche Regiment bei Calvin, in: J.J. Stamm / E. Wolf (Hg.), Freude am Evangelium. Alfred de Quervain zum 70. Geburtstag am 28. September 1966, München 1966, 107–119. 121

324

IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

4. Fazit: Der reformierte Gottesdienst als formativer Kontext christlicher Ethik Wir haben gefragt, wie eine Ethik aussieht, die vermittelt über das Ethos im reformierten Gottesdienst tradiert wird. Im Rekurs auf Hans G. Ulrichs Ethik-Definition wurde herausgearbeitet, dass Ethos nicht einfach nur den Gegenstand der Ethik ausmacht, sondern auch den Ort markiert, wo die Praxis der Ethik in den Blick kommt. Ob im Gottes­ dienst immer schon Ethik betrieben wird, eine solche Behauptung wäre wohl im Blick auf die umfassende Aufgabe von Explikation und Exploration allzu vollmundig. Gleichwohl ist das von der Ethik zu explizierende und explorierende Ethos unter Absehung vom Gottesdienst nicht zu verstehen. Denn der Gottesdienst ist vermittelt über die gottesdienstlichen Praktiken gewissermaßen dieses Ethos, dieser Ort. Wie sieht nun eine Ethik aus, die im reformierten Gottesdienst ihren Ort, ihr Ethos hat und die vermittelt über die gottesdienstlichen Praktiken geprägt wird? Gewiss ist eine solche Prägung nicht als eine Total-Determinierung der Ethik zu verstehen. Ebenso gewiss werden jedoch auch die gottesdienstlichen Praktiken nicht ohne Wirkung (Resonanz) auf die Praxis der Ethik bleiben. Anders gesagt: Ethik lässt sich nicht einfach aus den gottesdienstlichen Praktiken deduzieren. Gleichwohl aber wird sie durch sie inspiriert, ja sogar tradiert – und zwar in bestimmten gottesdienstlich induzierten Konturen. In der bisherigen Entfaltung sind anhand von Zwinglis und Calvins Gottesdienstordnungen sechs solcher ethisch-liturgischen Konturen schemenhaft in Erscheinung getreten. Dass sich diese Konturen noch ergänzen im Sinne von feiner ausdifferenzieren ließen, ist unbestreitbar.124 Diese Konturen lassen recht klare Bezüge erkennen: Einen Wort- und Gemeindebezug sowie Bezüge auf das Passah bzw. die story Gottes, das Almosen, das Schuldbekenntnis und die Fürbitte für die Obrigkeit. Diese Bezüge kennzeichnen den reformierten Gottesdienst. Sie verleihen ihm Kontur und profilieren ihn dadurch. In Umrissen wird deutlich, welche Art von Ethik der reformierte Gottesdienst nach seinen Ordnungen vermittelt über das Ethos und als Teil des Ethos tradiert: Eine Ethik des Wortes Gottes, die zugleich eine Gemeindeethik

124

So habe ich an anderer Stelle genauer zwischen Wort-, Schrift- und Gemeindebezug differenziert und den Bezug auf die gemeinsame Schriftauslegung als Kennzeichen einer diskursiv-kommunikativen Ethik im Sinne einer eigenen Kontur herauszuarbeiten versucht. Vgl. Hofheinz, Der Gottesdienst als Raum der Öffentlichkeit, 197–203.

325

4. Fazit

bzw. kirchliche Ethik, Ethik der Erinnerung, Ethik der Gabe, Ethik der Buße und theozentrische Ethik des Politischen. Konturen einer gottesdienstlichen Ethik Bezüge des Gottesdienstes; Kennzeichen des Ethos

Bezüge bzw. Kennzeichen der gottesdienstlichen Ethik

1. Wortbezug 2. Gemeindebezug 3. Story-Bezug 4. Almosenbezug 5. Bezug auf das Schuldbekenntnis 6. Bezug auf das Politische (Fürbitte für die Obrigkeit)

1. Ethik des Wortes Gottes 2. Gemeindeethik 3. Ethik der Gabe 4. Ethik der Erinnerung 5. Ethik der Buße 6. Theozentrische Ethik des Politischen

Bei dieser Klassifizierung geht es indes nicht um verschiedene Ethiken, die additiv nebeneinander stehen und gleichsam nach bereichsethischem Muster summiert werden müssen, um Felder der Ethik abzudecken. Auch handelt es sich nicht um alternative Typen oder Konzepte von Ethik, sondern eher Prädikate bzw. Leitbegriffe einer Ethik, die im reformierten Gottesdienst grundgelegt und durch die diversen liturgischen Praktiken, die in ihm tradiert werden, formiert wird. Diese Praktiken kennzeichnen, bilden und prägen das Ethos, das Ethik ihrer Aufgabe nach – so H.G. Ulrich – expliziert und exploriert. Bei diesen Praktiken des reformierten Gottesdienstes geht es um nichts weniger als die Einübung in die Lebensgestalt der Kinder Gottes.125 Wenn man so etwas wie einen Oberbegriff bilden müsste, so würde sich am ehesten der erstaufgeführte Begriff, d.h. Ethik des Wortes Gottes, nahelegen, sofern das Wort Gottes den Ausgangspunkt einer im obigen Sinne tradierten Ethik bildet. Das reformierte Gottesdienstverständnis bezieht sich – wie ausgeführt wurde – auf den Grundakt des Hörens.126 Um das Zentrum des bezeugten Wortes Gottes herum „formen sich gleichsam konzentrische Kreise des liturgischen Mitvollzugs“.127 Es ist „das genaue Hinhören auf die biblischen Texte, das der menschlichen Rede von Gott zur Sprache verhilft und der gottesdienstlichen Feier [im reformierten Gottesdienst; M.H.] ihre Tiefe 125

Vgl. Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 321. Vgl. Freudenberg, Reformierte Theologie, 265. 127 A.a.O., 266. 126

326

IX. Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst

verleiht.“128 Kennzeichnend dürfte die „besondere Intensität an Konzentration auf das [sein], was der [Heidelberger] Katechismus [Frage 98; M.H.] als ‚lebendige Predigt‘ von Gottes Wort bezeichnet.“129 Im reformierten Gottesdienst soll sich jenes Hören auf Gottes Wort neu ereignen, in dem die vita christiana ihren Ursprung hat, welche den Gegenstand der christlichen Ethik bildet.130 Die notwendige und heilsame Verbindung von Gemeinde und Ethos sowie Ethik ist dort gegeben, wo die Gemeinde der Ort des Hörens auf Gottes Wort ist. Mit Hans G. Ulrich gesprochen: „Die gottesdienstliche Gemeinde ist eine immer im Hören auf das Wort Gottes lernende Gemeinde. Die inzwischen deutlicher artikulierte Forderung, den Zusammenhang von Ethik und Gemeinde, von Ethik und Gottesdienst neu zu bedenken, hat hier ihren Ausgangspunkt.“131

128

A.a.O., 279. Zeindler (Ekklesiologie des reformierten Gottesdienstes, 126; vgl. auch a.a.O., 125) weist indes treffend darauf hin: „Die Konzentration des reformierten Gottesdienstes auf das Wort wurde und wird leider allzu oft verwechselt mit einer Dominanz der gesprochenen Sprache. Die Sprachlichkeit des Evangeliums meint aber nicht die Privilegierung eines bestimmten Kommunikationsmediums, und erst recht soll sie nicht dazu führen, dass in den reformierten Gottesdiensten vor allem geredet, gedacht und räsoniert wird. Die Kirche des Wortes ist nicht die Kirche der Wörter! Das wird schon daran sichtbar, dass die Sakramente den Reformatoren neben der Auslegung der Bibel in der Predigt als zweite Gestalt der Verkündigung gegolten haben; Calvin bezeichnet Taufe und Abendmahl als ‚sichtbares Wort‘.“ Vgl. CStA 2, 153. 129 Freudenberg, Reformierte Theologie, 280. 130 Vgl. Ulrich, Perspektiven für eine ökumenische Sozialethik, 181. Zur Ethik des Predigens vgl. Ch.L. Campbell, The Word Before the Powers. An Ethic of Preaching, Louisville / London 2002. 131 Ulrich, Wie Geschöpfe leben, 610.

X. „Gott, gib uns…“ – das Gelassenheitsgebets („Serenity Prayer“) Reinhold Niebuhrs Ein tugendethischer Interpretationsversuch Für Stanley Hauerwas zum 80. Geburtstag1

1. Einleitung „Nimm doch das Gelassenheitsgebet vom Oetinger. Da steht alles Wichtige drin.“ Wenn mein Bruder oder ich als Grundschüler nach Hause kamen und wieder einmal von einer Mitschülerin oder auch einem Mitschüler ein Poesiealbum zugesteckt bekommen hatten, brachte uns dies regelmäßig in Verlegenheit: „Was schreibe ich da bloß hi­ nein?“ Der Spruch sollte ja einen gewissen bleibenden Wert besitzen und nicht zu banal, aber auch nicht allzu frömmelnd daherkommen. Kurz: Gefragt war ein Poesiealbumspruch, dessen man sich auch Jahre später nicht schämen musste. Meistens folgten mein Bruder und ich dem Rat meiner Mutter, weil auch wir fanden: Klüger, weiser und lebenserfahrener konnte man eigentlich nicht formulieren, als es der Autor dieses Gebets getan hatte. Irgendwie spürten wir schon damals die „Magie“, die von diesem Gebet ausging, dessen theologische Tiefe natürlich weit über den Anspruch eines Poesiealbums hinausgeht: „Gott, gib uns die Gnade, mit Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die sich nicht

1

Ich verdanke dem Studium bei Stanley Hauerwas die kritische Begegnung mit der Theologie Reinhold Niebuhrs. Vgl. S. Hauerwas, A Better Hope: Resources for a Church Confronting Capitalism, Democracy, and Postmodernity, Grand Rapids 2000, 56: „Given my critical relation to Reinhold Niebuhr, some may find it odd I think it so important to maintain his significance, but such a view fails to appreciate that criticism is finally the deepest form of appreciation. I can only think the way I think because Reinhold Niebuhr made such important mistakes.“ Vgl. fernerhin: ders., Wilderness Wanderings: Probing Twentieth-Century Theology and Philosophy, Boulder 1997, 32–62; ders., With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Na­ tural Theology, Grand Rapids 2001, 87–140; ders., Barth and Reinhold Niebuhr, in: G. Hunsinger / K.L. Johnson (Hg.), The Wiley Blackwell Companion to Karl Barth. Vol. 2: Barth in Dialogue, Chicester 2020, 633–643. Zu Hauerwas’ intrikatem Verhältnis zu Niebuhr vgl. D. Malotky, Deceptive Honesty: Myth and Virtue in Reinhold Niebuhr, in: K. Carnahan / D. True (Hg.), Paradoxical Virtue. Reinhold Niebuhr and the Virtue Tradition, Abingdon / New York 2020, 82–98.

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X. „Gott, gib uns…“

ändern lassen, den Mut, Dinge zu ändern, die geändert werden sollten, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“2 Vor vielen Jahren schrieb Helmut Thielicke (1908–1986) eine vielbeachtete Auslegung des „Vaterunsers“ mit dem Titel „Das Gebet, das die Welt umspannt“.3 Wenn es, abgesehen vom „Herrengebet“, ein Gebet gibt, von dem sich empirisch grundiert behauptet lässt, dass es die Welt umspannt, also im wahrsten Sinne als „ökumenisch“ bezeichnet werden kann, so dürfte es wohl das Gelassenheitsgebet sein. Es hat eine einzigartige Verbreitung erfahren, auch wenn es, in kirchenhistorischen Dimensionen gedacht, keineswegs alt, sondern relativ jung ist. Seine Wirkungsgeschichte ist inzwischen völlig unüberschaubar geworden. Man denke nur an seine äußerst beliebte Alltagsverwendung als Sinnspruch in unzähligen Zitatanthologien, auf Kondolenzkarten oder eben in Poesiealben. Sowohl in der jungen Bundesrepublik als auch in den USA hat dieses Gebet eine beispiellose Karriere hingelegt und es wie kein anderes in öffentliche Ansprachen, Gedenkfeiern und Sonntagsreden geschafft.4 Es wurde – pointiert formuliert – zu einem Stück Zivilreligion. Man kennt es auch als Motto der Anonymen Alkoholiker, die es bei ihren „Meetings“ gemeinsam sprechen und in ihrer Literatur verwenden. Auch ein Politiker mit einem distanzierten, ambivalenten Verhältnis zum christlichen Glauben, wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015) kann seine letzten Bücher mit diesem Gebet schließen. Schmidt kommentiert: „Worauf es mir ankommt, sind Tugenden, die ich die ‚bürgerlichen‘ Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewusstseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit. Wenngleich ich in meinem Leben innerlich nicht gebetet habe, so mich doch zwei Gebete tief angerührt, nämlich das Vaterunser und sehr viel später das ‚Serenity Prayer‘ des Amerikaners Reinhold Niebuhr“.5 Auch fungiert dieses 2

E. Sifton, Das Gelassenheits-Gebet, München/Wien 2001, 5. H. Thielicke, Das Gebet, das die Welt umspannt. Reden über das Vaterunser, Stuttgart 1945. 4 Vgl. R.W. Fox, Reinhold Niebuhr. A Biography, New York 1985, 290. 5 H. Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, München 22010, 336. An anderer Stelle endet H. Schmidt (Was ich noch sagen wollte, München 2015, 232f.) mit der Bemerkung: „Auf mich übertragen, möchte ich dieses Gebet heute ein wenig abwandeln. Die innere Gelassenheit, die ich mir gewünscht habe, seit ich als Fünfzehnjähriger die ‚Selbstbetrachtung‘ des Mark Aurel las, hat sich mit zunehmendem Alter von selbst eingestellt. Der Mut, eine mir wichtige Sache mit Leidenschaft und Außenmaß durchzusetzen, hat mir im Laufe meines politischen Lebens oft genug Kraft gegeben; er wird mich hoffentlich auch auf dem letzten Stück meines Weges nicht verlassen. Die Weisheit sollte darin bestehen, auf diesem letzten Lebensabschnitt Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden.“ Bis heute berufen sich – wie jüngst M. Plathow (De3

2. Zur Herkunftsfrage des Gebets und Autorschaft Reinhold Niebuhrs

329

Gebet als Wahlspruch des Zentrums Innere Führung der Bundeswehr. Spiegeln sich in der Trias aus Gelassenheit, Mut und Weisheit nicht auch soldatische „Tugenden“ im Gelassenheitsgebet wider? Überhaupt wäre angesichts der „Renaissance der Tugendethik“6, wie sie interna­ tional im Bereich der theologischen Ethik nicht zuletzt mit dem Namen Stanley Hauerwas verbunden ist,7 neu nach Erklärungsmustern für die Attraktivität dieses Gebets zu fragen. Genau dies soll im Folgenden geschehen, wenn aus tugendethischer Perspektive ein Interpretationsversuch desselben gewagt wird. 2. Zur Herkunftsfrage des Gebets und Autorschaft Reinhold Niebuhrs Die Herkunft dieses Gebets war viele Jahre umstritten und nicht weniger spannend als seine Verbreitungsgeschichte, bis sich herausstellte, dass der nordamerikanische Theologe Reinhold Niebuhr (1892–1971) sein Verfasser ist. Dessen Tochter Elisabeth Sifton bemerkt: „Noch heute taucht es in Büchern und Aufsätzen als eine wunderbare Anleitung zur Weisheit auf. Wie dramatisch dann die Ironie, wenn sich herausstellt, daß der wirkliche Autor des Gebets ein Amerikaner deutscher Abstammung ist, dessen öffentliche Tätigkeit dreißig Jahr hindurch in der schärfst möglichen Gegnerschaft zum religiösen und politischen Leben in Deutschland stand; dessen Familie durch mehrere Generationen hindurch eine manchmal schroffe, stets aber wohlbedachte Distanz zum Heimatland gehalten hat; der den deutschen Pietismus ‚seicht‘ und ‚irrelevant‘ fand – so schwach wie die religiösen Heucheleien in seinem eigenen Land; und der das Gebet im Jahr 1943 schrieb – auf dem Höhepunkt des Krieges gegen Deutschland!“8

mokratie und „christlicher Realismus“. Zum fünfzigsten Todestag des wirkmächtigen Theologen Reinhold Niebuhr [1892–1971], Zeitzeichen 6/2021, 25–27, 26) betonte – führende Politikerinnen und Politiker wie Hillary Clinton oder Barack Obama auf Niebuhr. 6 Vgl. M. Hofheinz, Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert, FRTH 8, Neukirchen-Vluyn 2017, bes. 64–113. 7 Vgl. einführend: S. Hauerwas. Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Neukirchen-Vluyn 1995, 69f.; 163–168; ders. / Charles Pinches, Christians among the Virtues. Theological Conversations with Ancient and Modern Ethics, Notre Dame 1997; S. Hauerwas, The Character of Virtues. Letters to a Godson, Grand Rapids 2018. 8 Sifton, Das Gelassenheits-Gebet, 8.

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X. „Gott, gib uns…“

Laut seiner Tochter verfasste Niebuhr dieses Gebet im Juli oder August 1943 während eines der alljährlichen Aufenthalte in seinem Ferienort Heath, einem Dorf im Nordwesten von Massachusetts, und zwar für einen der Gottesdienste, die er dort in der Union Church von Heath als Gastprediger häufig hielt. Niebuhr hatte das Gelassenheits-Gebet auf einen benutzten Briefumschlag notiert:9 „God, give us grace to accept with serenity the things that cannot be changed, Courage to change the things which should be changed, and the Wisdom to distinguish the one from the other.“10

Bis heute gibt es freilich auch Stimmen, die eher für eine „Frühdatierung“ um 1932/33 votieren.11 Der Umstand, dass das Gebet auch häufig dem württembergischen Theologen Friedrich Christoph Oetin­ ger (1702–1782) zugeschrieben wird, dürfte indes auf einer schlichten Verwechselung beruhen: „In fact the German version was not the work of Oetinger but the work of Theodor Wilhelm, a writer who took the pseudonym Oetinger and (according to his own later recollection) put a German translation into circulation after receiving a copy from a Canadian friend in the 1940s.“12 Im Evangelischen Gesangbuch (Rheinland, Westfalen, Lippe in Gemeinschaft mit der Evangelisch-reformierten Kirche)13 etwa findet sich der Text leider unter dem falschen Verfassernamen Oetinger. Dies ist beileibe nicht das einzige Beispiel einer falschen Zuschreibung. Als Verfasser tauchen bis auf den heutigen Tag auch immer wieder Persönlichkeiten von welthistorischem Rang auf wie Mark Aurel (121–180 n.Chr.) oder Franz von Assisi (1181/82–1226), denen das 9

So R. McAfee Brown, Introduction, in: ders. (Hg.): The Essential Reinhold Niebuhr. Selected Essays and Addresses, New Haven/London 1986, (XI–XXIV) XXIV. 10 E. Sifton, The Serenity Prayer. Faith and Politics in Times of Peace and War, New York/London 2003, 7. 11 So etwa F.R. Shapiro, Who Wrote the Serenity Prayer? The Chronicle of Higher Education, April https://www.chronicle.com/article/Who-Wrote-the-Serenity-Prayer-/146159 (abgerufen: 2.7.2020). 12 Fox, Reinhold Niebuhr, 290. Vgl. auch Sifton, Gelassenheits-Gebet, 122ff. 13 Unter Nr. 873 (S. 1400). Mittlerweile hat das Gelassenheitsgebet auch den kirchenoffiziellen Weg ins Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (Nr. 844) gefunden.

3. Reinhold Niebuhrs Theologie in nuce

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Gebet zugeordnet wird. Auch haben sich im Laufe seiner Verbreitung mehr oder weniger geringfügige textliche Modifikationen eingeschlichen. Nicht ohne Süffisanz bemerkt Niebuhrs Tochter Elisabeth Sifton: „Meistens wird angenommen, das Gebet sei sehr alt – seine Strenge und Eindeutigkeit sind ungewöhnlich für die trübe, von Kompromissen geprägte heutige Denkart. Und so ist man schnell mit dem typisch postmodernen Verdacht zur Hand: Sicher sei es rabbinischen oder stoischen Ursprungs – aus dem Lateinischen oder Hebräischen übernommen, möglicherweise aus dem Schottischen. Und selbst wenn ein moderner Pastor sich einbildet, es stamme aus seiner Feder, so ist doch wahrscheinlich, daß er es seiner Sammlung geläufiger geistlicher Sprüche – entstanden in Zeiten, die eine bessere Prosa schrieben als die unsere – entnommen und nun für uns neu aufbereitet hat.“14

3. Reinhold Niebuhrs Theologie in nuce Die Kraft des Einflusses Reinhold Niebuhrs lässt sich nach dem Urteil des niederländischen Theologen Hendrikus Berkhof (1914–1995) an der Resonanz dieses Gebets ermessen.15 Matthias Zeindler hat darüber hinaus behauptet, dass sich an diesem Gebet „die Grundzüge von Niebuhrs theologischem Denken gut zeigen [lassen], ja, es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir in diesem Text Niebuhrs Theologie ‚in a nutshell‘ vor uns haben.“16 Dieses Urteil ist sicherlich nicht überzogen. Denn das Niebuhr’sche Denken erweist sich tatsächlich als durch zwei Faktoren konstituiert. Berkhof spricht von zwei Säulen, die sich gegenseitig verstärken: „Die erste ist die Einsicht in die Ohnmacht der Welt zur Selbsterlösung: Jede Befreiung führt nach kürzerer oder längerer Zeit zu neuer Abgötterei und Unterdrückung. Und die zweite ist die Entdeckung, daß gerade das Evangelium sowohl exakt die Wahrheit über unsere Welt aussagt, als auch uns durch das

14

Sifton, Das Gelassenheits-Gebet, 7f. Vgl. H. Berkhof, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, Neukirchen-Vluyn 1985, 277. 16 M. Zeindler, Reinhold Niebuhr (1892–1971): „Christlicher Realismus“ in Zeiten der Krise, in: M. Hofheinz / M. Zeindler (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, (101–123) 107f. Auch Ch. Polke (Reinhold Niebuhr, ZEE 63 [2019], 307–310, 309) spricht von einer „Bündelung seines [Niebuhrs; M.H.] Denkens“. 15

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X. „Gott, gib uns…“

Angebot einer höheren Wirklichkeit, der Gnade, ermöglicht, standzuhalten und immer wieder einen Weg zu finden.“17

Es lasse sich allerdings nicht ausmachen, welche Entdeckung für Niebuhr zuerst und welche später kam; sie seien Hand in Hand gegangen. Niebuhr spricht von einer „circular relation“.18 Diese beiden Säulen stehen in der Begrifflichkeit des Gelassenheitsgebets für „das, was wir nicht ändern können“, und für „das, was wir ändern können.“ Potentiale und Grenzen menschlichen Handelns treten hier in den Blick, die sich in der Erfahrung jedes Menschen abbilden. Auf diesen beiden Säulen ruht gleichsam das Gebäude unseres Lebens. Einerseits sind wir Menschen, „eingelassen in einen Zusammenhang von Natur und Geschichte, aber auch von persönlichen Lebensumständen. Auf vieles davon haben wir keinen Einfluss, es liegt uns voraus. Die adäquate Einstellung zu dieser Dimension unseres Lebens ist es, sie gelassen anzuerkennen. Es ist uns aufgegeben, dasjenige zu ändern, das wir nicht ändern können.“19 Andererseits gehen wir Menschen aber auch nicht auf im Determinismus des uns Vorgegebenen: „Wir sind zwar bedingt durch Natur, Gesellschaft und persönliche Lebensumstände, wir transzendieren dieses Bedingtsein aber auch. Wir sind in der Lage, unsere Bedingtheit zu reflektieren und in ihrem Rahmen bewusst zu handeln.“20 Eine analoge Struktur weist das reformatorische simul iustus et peccator auf.21 Man kann durchaus fragen, ob Niebuhr hier nicht den Versuch unternimmt, diese grundlegende anthropologische Bestimmung begrifflich zu variieren bzw. zu reformulieren.22 In der Rede vom Nicht-Änderbaren bzw. vom erfahrenen Selbstwiderspruch von 17

Berkhof, 200 Jahre Theologie, 270. Ganz ähnlich spricht Zeindler (Reinhold Niebuhr, 108) von „zwei Dimensionen des menschlichen Lebens“, die Niebuhr hervorhebe. 18 R. Niebuhr, Intellectual Autobiography, in: Ch.W. Kegley / R.W. Bretall (Hg.), Reinhold Niebuhr. His Religious, Social and Political Thought, New York 1961, (1–23) 9. 19 Zeindler, Reinhold Niebuhr, 108. 20 Ebd. 21 Vgl. A. Massmann, Gerecht und Sünder zugleich im Kalten Krieg. Reinhold Niebuhrs christlicher Realismus und die Sündenlehre, in: D. Schössler / M. Plathow (Hg.), Öffentliche Theologie und Internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs, Wiesbaden 2013, 95–125. 22 Vgl. D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 164: „Dem simul iustus et peccator entspricht die subjektive Charakteristik des Christen durch Buße und Glaube, Demut und heitere Gelassenheit“.

3. Reinhold Niebuhrs Theologie in nuce

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Ändern-Wollen und Nicht-Ändern-Können spiegelt sich im Licht von Röm 7,14–25 – gewiß nur in zarten Anklängen und ohne weitere, theologisch notwendige, allzumal christologische Ausführungen23 – die paulinische Sündenlehre wider und in der Rede von der Gnade Gottes, die noch zu analysieren sein wird, die Rechtfertigungsbotschaft. Niebuhr gilt bis heute nicht zu Unrecht als personifizierte „Verbindung von angelsächsischem common sense mit reformatorisch geprägter Theologie“.24 Zugleich lässt sich beobachten: In der Verifikation der dissonanten Doppelerfahrung von Ändern-Wollen und Nicht-Ändern-Können bildet sich in dem Gelassenheitsgebet so etwas wie ein „moralischer Realismus“ bzw. ein „Christian Realism“ ab, der als konzeptionelle Selbstzuschreibung das Programm Niebuhrs auf den Punkt bringt.25 „Einer seiner zentralen Kritikpunkte an den modernen politischen Anschauungen, aber auch an den Kirchen und Theologien seiner Zeit lautet, dass sie einem anthropologischen und geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen Optimismus huldigen, der nicht nur an der Wirklichkeit, sondern ebenso an der biblischen Sicht des Menschen vorbeiziele. Damit haben wir die Grundlinien von Niebuhrs Theologie vor uns: Der Mensch ist ein festgelegtes Wesen, das seine Festlegung aber immer auch transzendiert, und es ist Aufgabe des Menschen, sein Leben in der rechten Unterscheidung dieser zwei Dimensionen zu leben. In seinem opus magnum ‚The Nature and Destiny of Man‘ tut Niebuhr im Grunde nichts anderes, als diese beiden Dimensionen menschli23

Vgl. O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams. Römer 7,7–25a, in: ders., Paulusstudien II, WUNT 143, Tübingen 2002, 104–154. 24 D. Lange, Selbstdarstellung, in: Ch. Henning / K. Lehmkühler (Hg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, UTB 2048, Tübingen 1998, (121–141) 126. 25 R.W. Lovin, Reinhold Niebuhr and Christian Realism, Cambridge 1995. Fernerhin: G. Dorrien, Christian Realism: Reinhold Niebuhr’s Theology, Ethics, and Politics, in: D.F. Rice (Hg.), Reinhold Niebuhr Revisited. Engagements with an American Original, Grand Rapids/Cambridge 2009, 21–36; T.C. West, Reinhold Niebuhr on Realism, in: S.M. Floyd-Thomas / M.A. De La Torre (Hg.), Beyond the Pale. Readings Ethics from the Margins, Louisville 2011, 119–128. Aus politikwissenschaftlicher Sicht: Ch. Rohde, Reinhold Niebuhr. Die Geburt des Christlichen Realismus aus dem Geist des Widerstandes, Berlin 2016, bes. 198–311. Zu den geisteswissenschaftlichen Hintergründen vgl. auch M.D. Douglas, Reinhold Niebuhr’s Two Pragmatisms, The Journal of Theology and Philosophy 22 (3/2001), 221–240; C. West, The American Evasion of Philosophy. A Genealogy of Pragmatism, Madison 1989, 150–164. G. Dorrien (Social Ethics in the Making. Interpreting an American Tradition, Chicester/Malden 2011, 226–304) ordnet dem „Christian Realism“ auch H. Richard Niebuhr, John C. Bennett und Paul Ramsey zu.

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X. „Gott, gib uns…“

cher Existenz aufzuzeigen, sie historisch zu unterfüttern und theologisch zu entfalten.“26

Es stellt sich dabei natürlich die Frage, wie die Weisheit des Unterscheidens zwischen „dem, was sich ändern lässt“, und „dem, was sich nicht ändern lässt“, eingespielt und ggf. erlernt werden kann.27. Der Ort solchen Erlernens ist das Gebet. In ihm geht es nicht zuletzt um Charakterschulung.28 Das Gebet hat elementar mit der Haltung des Subjektes zu tun. Bezeichnenderweise bittet Niebuhr um die Weisheit des Unterscheidens. In diese Richtung deuten auch die Schlusssätze in seinem Hauptwerk „The Nature and Destiny of Man“29: „Thus wisdom about our destiny is dependent upon a humble recognition of the limits of our knowledge and our power. Our most reliable understanding is the fruit of ‚grace‘ in which faith completes our ignorance without pretending to possess its certainties as knowledge; and in which contrition mitigates our pride without destroying our hope.“30 Hier deutet sich bereits an, dass sich Niebuhrs Theologie keineswegs tugendethisch abstinent verhält. Stanley Hauerwas31 hat darauf 26

Zeindler, Reinhold Niebuhr, 108f. Zur menschlichen Befähigung zur Selbsttranszendenz vgl. bereits R. Niebuhr, An Interpretation of Christian Ethics (1935), New York 1956 (ND), 67; 87–89. Fernerhin: R. Niebuhr, Beyond Tragedy. Essays on the Christian Interpretation of History (1937), New York 1965 (ND), 19; 138; 182. 27 So auch T. Bellmann, Zwischen Liebesideal und Realismus. Theologische Anthropologie als soziale Ressource bei Reinhold Niebuhr, Göttingen 2018, 280. Lovin (Reinhold Niebuhr und Christian Realism, 96) deutet hier, Konzessionen an einen „kirchlichen Kommunitarismus“ machend, eine vorsichtige Kritik an Niebuhr an, bei dem die „importance of a community of faith for nurturing and sustaining the distinctive Christian vision“ weniger im Blick sei. Zur Kritik an Niebuhr vgl. fernerhin: J.H. Yoder, Reinhold Niebuhr and Christian Pacifism, MQR 29 (1955), 101–123; M.G. Cartwright, Sorting the Wheat from the Tares: Reinterpreting Reinhold Niebuhr’s Interpretation of Christian Ethics, in: S. Hauerwas u.a. (Hg.), The Wisdom of the Cross. Essays in Honor of John Howard Yoder, Grand Rapids/Cambridge 1999, 349– 372; A. Rasmusson, „The curious fact that ... the Lord always puts us on the just side“: Reinhold Niebuhr, America, and Christian Realism, Studia Theologica: Nordic Journal of Theology 66 (1/2012), 41–61. 28 Vgl. zur Rolle des Gebets in Niebuhrs Theologie und Ethik Ch. Dowdy, Choo­ sing Sorrow: Niebuhr, Contrition, and White Catastrophe, in: K. Carnahan / D. True (Hg.), Paradoxical Virtue. Reinhold Niebuhr and the Virtue Tradition, Abingdon / New York 2020, 144–164. 29 R. Niebuhr, The Nature and Destiny of Man. A Christian Interpretation. One Volume Edition. Gifford Lectures, New York 1949. 30 Niebuhr, The Nature and Destiny of Man II, 321. 31 S. Hauerwas (The Work of Theology, Grand Rapids/Cambridge 2015, 178) hat die tugendethische Pointierung bei Niebuhr erkannt. Darin sind ihm inzwischen auch

3. Reinhold Niebuhrs Theologie in nuce

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wie auch andere in der Niebuhr-Forschung hingewiesen.32 Dabei ist natürlich klar, dass Niebuhr nicht als „reiner“ Tugendethiker gelten kann und darf, sondern allenfalls als „gemischter“.33 Genauer noch wird man davon sprechen müssen, dass sich lediglich tugendethische Ansätze von begrenzter Reichweite bei Niebuhr finden lassen, aber keine entfaltete, freistehende Tugendlehre. Ein Ausschließlichkeitsanspruch besteht bei Niebuhr schon gar nicht, wie die Ethik überhaupt seit den Tagen Schleiermachers34 über weite Strecken mit der Komplementarität der Leitaspekte von Tugend, Pflicht und Gütern und d.h. akteurs-, regel- und ergebnisorientiert arbeitet. Über das Sollen, das Ziel und die Wirkung von Handlungen hinaus sind eben „persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen (‚Tauglichkeiten‘), Charaktereigenschaften und Haltungen [gefragt], die Menschen das Gute und Richtige von sich aus (spontan), verlässlich (konstant) und treffsicher (situationsadäquat) tun lassen. Gegen das bloße Sollen rücken Tugenden das konkrete Können, also die individuellen Fähigkeiten, die affektiven Antriebe und die Kontextsensibilität des/der Handelnden in den Blick.“35

andere gefolgt. Vgl. etwa die multiplen Beiträge in dem Band K. Carnahan / D. True (Hg.), Paradoxical Virtue. Reinhold Niebuhr and the Virtue Tradition, Abingdon / New York 2020. Hauerwas verweist zutreffend auf Niebuhrs Bestimmung der Aufgabe der Kirche „to bear witness against every form of pride and vainglory, whether in the secular or in the Christian culture, and be particularly intent upon our own sins lest we make Christ the judge of the other but not ourselves.“ Reinhold Niebuhr on Politics, hg. von H. Davis / R. Good, New York 1960, 205. 32 Vgl. vor allem D.A. Morris, Virtue and Irony in American Democracy. Revisi­ ting Dewey and Niebuhr, Lanham u.a. 2015. Ferner: Bellmann, Zwischen Liebesideal und Realismus, 373f.; 390–394; 419f.; R.W. Lovin, An Introduction to Christian Ethics. Goals, Duties, and Virtues, Nashville 2011, 226. 33 K.P. Rippe / P. Schaber (Einleitung, in: dies. [Hg.]: Tugendethik, Stuttgart 1998, 1–18, 16) unterscheiden wie folgt: „Nach einer reinen Tugendethik liefern uns allein die Tugenden moralische Gründe zum Handeln. Ich habe Grund, so und so zu handeln, wenn die Handlungsweise Ausdruck einer Tugend ist. Einer gemischten Tugendethik zufolge liefern uns nicht nur Tugenden moralische Handlungsgründe. Eine gemischte Tugendethik kann auch utilitaristische und deontologische Handlungsgründe anerkennen. Es handelt sich dementsprechend um einen moraltheoretischen Ansatz, der keinen Ausschließlichkeitsanspruch erhebt.“ 34 Vgl. F.D.E. Schleiermacher, Ethik. Allgemeine Einleitung (1816), in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig 21927, (485–557) 550f. 35 H.-R. Reuter, Tugend, in: R. Anselm / U.H.J. Körtner (Hg.), Evangelische Ethik Kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, (204–211) 204. So auch ders., Grundlagen und Methoden der Ethik, in: W. Huber u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (9–123) 39.

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X. „Gott, gib uns…“

4. „Gott, gib uns…“. Form und Inhalt des Gelassenheitsgebets als Bittgebet 4.1 Der gabetheologische Auftakt des Gelassenheitsgebets Im Folgenden möchte ich nun eine eigene Auslegung des Gelassenheitsgebets entfalten. Ich frage dabei durchaus nach der intentio auc­ toris – auch nach dem vielbeschworenen „Tod des Autors“ (Roland Barthes) bzw. der nicht weniger oft beschworenen „Rückkehr des Autors“ (Michel Foucault). Dass Sinnerzeugung beim Lesenden stattfindet, muss dabei nicht infrage gestellt werden, ebenso wenig wie die Beobachtung, dass sich im Falle des Gelassenheitsgebets – wie wir sahen – die Wirkungs- und Verbreitungsgeschichte ohnehin verselbständigt hat. Bei diesem Gebet handelt es sich zwar nicht um Poesie im klassischen Sinne, insofern etwa kein Reimschema und keine metrische Gestaltung vorliegt. Und doch offenbart es sich bei näherem Hinsehen als eine überraschend kunstvoll komponierte Texteinheit. Der Aufbau ist recht klar und einheitlich: Er besteht aus drei Stichoi, die jeweils zweiteilig (a+b) sind und nach dem Auftakt, nämlich der Invocatio bzw. der Gebetsanrede „Gott, gib uns die Gnade“, anheben: Auftakt: „Gott, gib uns die Gnade, I. a mit Gelassenheit Dinge hinzunehmen, b die sich nicht ändern lassen, II. a den Mut, Dinge zu ändern, b die geändert werden sollten, III. a und die Weisheit, b das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Der Auftakt macht mit der Adressierung Gottes und der im Imperativ formulierten, aber eher optativisch als adhortativ anmutenden Bitte „gib uns“ deutlich, dass es sich um ein Gebet handelt. Die Formulierung „gib uns“ verweist zugleich darauf, dass es um Gaben Gottes geht, die erbeten werden. Die Bittenden sehen sich selbst als Empfangende. Sie wissen sich damit in den Zustand des Passiven versetzt. Gleichsam mit offenen Händen erbeten sie von Gott das Füllen derselben.

4. „Gott, gib uns…“

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Die theologische Bedeutung dieses Auftaktes kann m.E. kaum überschätzt werden.36 Denn mit ihm wird bereits ein gabetheologisches Verständnis der in den folgenden drei Stichoi genannten Tugenden Gelassenheit (Ia), Mut (IIa) und Weisheit (IIIa) nicht nur präjudiziert, sondern festgeschrieben. Gegenüber einer präskriptiven Überhitzung und imperativischen Überforderung wird hier der Vorrang der Gabe vor der Aufgabe betont. Besagte Tugenden (Ia–IIIa) sind als Geschenke Gottes zu verstehen, die sich seiner Zuwendung verdanken. Anders gesagt: Die in der klassischen Tugendlehre bei Aristoteles „offen gebliebene Frage, was die Genese der sittlichen Haltungen in Gang setzt, wenn doch die Person, um gerecht, klug, besonnen oder mutig handeln zu können, über die entsprechenden moralischen Tugenden bereits verfügen muss“,37 beantwortet Niebuhr unter Verweis auf Gott und den Geschenkcharakter der Tugenden. Sie sind also nicht machbar, sondern bilden sich, indem Menschen sich in ihrem Tun zugleich als empfangend erfahren. Es handelt sich, wenn man so will, um responsorische Tugenden. Mit ihnen antworten die Betenden auf ein ihnen zuvorkommendes Geschehen (gratia praeveniens), das theologisch als Wirken Gottes verstanden wird.38 Jegliche Form der reformatorisch gescholtenen „Werkgerechtigkeit“ ist damit ausgeschlossen, da Gott der Geber und der bittende

36

Besonders im Blick auf A. Camus’ Roman aus dem Jahr 1947 „Die Pest“ (La Peste [ed. Gallimard], Paris 1992) fallen kontrastreiche Parallelen zu Niebuhrs theologischem Ansatz ins Auge. Camus geht die „Absurdität“, das Widersinnige (Schmerz, Leid, Tod, das Ungerechte usw.) also das, was sich nicht verändern lässt, an, ohne auf die Religion oder irgendeine sinngebende Ideologie zurückzugreifen („[S]ans lever les yeux vers ce ciel où [Dieu] se tait“; a.a.O., 121). Trotzdem kommt er fast zu einer ähnlichen, scheinbar stoischen Haltung wie Niebuhr: „Vivre, c’est faire vivre l’absurde“ (ders., Le mythe de Sisyphe. Essai de l’absurde [ed. Gallimard], Paris 1942, 76). Aber Camus geht natürlich vom atheistischen Axiom aus und setzt die permanente „Revolte“ gegen die tragische Irrationalität der Welt: „Je me révolte, donc je suis“ (ders., L’homme révolté [ed. Gallimard], Paris 1951, 36). Und dieser Protest äußert sich bei ihm in einem Humanismus, der Solidarität, Freundschaft und Herzenswärme einschließt. Von Camus her gedacht, findet sich in der Anrede und Bitte Niebuhrs „God, give us grace“ die Antithese, das theologische Axiom, das die Augen öffnet für eine andere Wirklichkeit und eine rettende Unterscheidung, die die Betenden bewahrt vor Verzweiflung und Erstarrung, vor Fatalismus und Quietismus. Diesen Hinweis verdanke ich Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein. 37 Reuter, Tugend, 206. 38 Ich greife hier dankbar zurück auf unveröffentlichte Formulierungen Prof. Dr. Johannes von Lüpkes.

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X. „Gott, gib uns…“

Mensch Empfänger seiner Gabe ist.39 Wiederum nicht ohne Süffisanz bemerkt Niebuhrs Tochter Elisabeth Sifton im Blick auf die nordamerikanische „Selbsthilfe-Kultur“: „Das Schicksal seines Gebets hat sich in Amerika nach dem Krieg derart mit dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker verbunden, daß die meisten Menschen meinen, die darin enthaltenen Hoffnungen drückten nur das aus, was wir – in unserer Selbsthilfe-Kultur – persönlich erstreben müssen: Wir müssen uns bessern. Aber das war nicht meines Vaters eigentliche Absicht.“40 In diesem Zusammenhang fällt im originalen Wortlaut Niebuhrs eine kleine Asymmetrie ins Auge. Niebuhr sprach anders als etwa die Anonymen Alkoholiker nach ihm von der „Gnade, mit Gelassenheit […] hinzunehmen“, während letztere nur die Gelassenheit erwähnten. Niebuhr hat damit einmal mehr die gabetheologische Ausrichtung seines Gebets unterstrichen und sie im Sinne eines gnadentheologischen Verständnisses fixiert. Darüber, wie diese Gnade bzw. das Geschenk vermittelt wird, ob etwa sakramental eingegossen (gratia infusa) wie die theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe nach 1Kor 13,13) bei Thomas von Aquin41 oder auf andere Weise, darüber macht das Gebet keine weitere Aussage. Jedenfalls handelt es sich bei besagter Asymmetrie keineswegs um eine „kleine Asymmetrie mit großer Wirkung“. Die Gnade fiel nämlich dem populären Rezeptionsprozess dieses Gebets, wie das Beispiel der Anonymen Alkoholiker zeigt, zum Opfer und wurde gegen Niebuhr vielfach getilgt. Eine Asymmetrie besteht freilich nicht nur zwischen dem Original und der Version der Anonymen Alkoholiker. Asymmetrisch ist auch das Originalgebet, weil die Gnade zwar in der ersten Bitte vorkommt, dann aber nicht mehr explizit genannt wird. Dies lässt sich so verste39

Zur Tugendlehre aus reformatorischer Sicht vgl. Hofheinz, Ethik – reformiert!, 64–113; P. Bartmann, Das Gebot und die Tugend der Liebe. Über den Umgang mit konfliktbezogenen Affekten, Stuttgart u.a. 1998. 40 Sifton, Das Gelassenheits-Gebet, 40. 41 Thomas von Aquin, STh II–II, q. 1–170. Nach Thomas konstituieren Glaube, Liebe und Hoffnung als theologische Tugenden „einen eingegossenen Habitus, der die von der Sünde gestörten Antriebspotentiale aufs Neue an der schöpfungsgemäßen Wesensnatur des Menschen ausrichtet und ihn so zur Teilnahme an Gottes Leben befähigt. Die übernatürliche Liebe ist Form aller Tugenden, die Kraft, die den Handlungen ihren Heilswert als ‚verdienstliche Werke‘ verleiht“ (Reuter, Tugend, 206). Hieran entzündet sich der reformatorische Einspruch. Zu den protestantischen Einwänden vgl. auch M. Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff Tugend. Die Zweideutigkeit der Tugend, in: K.P. Rippe / P. Schaber (Hg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 166–184; W. Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 140–144.

4. „Gott, gib uns…“

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hen, dass Niebuhr den Gnadencharakter auch von Mut und Weisheit mitdenkt, auch wenn er nicht explizit genannt wird. Die Auslassung der Gnade in der zweiten und dritten Bitte, die ja zu einer Veränderung der Syntax führt und so den ersten Vers asymmetrisch hervorhebt („Mut“ statt „die Gnade, mit Mut…“ o.ä.), kann auch als ihre Betonung gedeutet werden, die oftmals gerade nicht erkannt worden ist: Die einmalige Nennung ganz am Anfang hebt die Würde und Bedeutung der Gnade hervor. Die Gnade umfasst eigentlich alles andere, was das Gebet ausführt: Gelassenheit, Mut und Weisheit sind nur lebenspraktische Konkretisierungen der einen heilsamen, empfangenen Gnade. Mit den Worten „give us grace“ wird somit das principium essendi et cogno­ scendi des Gebets und der Betenden genannt.42 4.2 Gelassenheit, Mut, Weisheit. Die drei Tugenden des Gelassenheitsgebets Im Folgenden möchte ich nun auf die drei bereits genannten Tugenden näher eingehen und zwar beginnend mit der „Gelassenheit“ (Ia), die dem Gebet seinen Titel verlieh. Hierbei geht es, folgt man besagtem gabetheologischen Verständnis, um eine passive Haltung, die näherhin im Verzicht auf eine bestimmte Aktivität besteht, nämlich der Änderung bzw. des Änderungsversuchs dessen, was nicht zu ändern ist. Dieser Versuch wäre, so die Logik des Gelassenheits-Gebets, ohnehin chancenlos und müsste irreal und kontrafaktisch bleiben, da es nun einmal um dasjenige geht, was nicht geändert werden kann. Hier ist deshalb Gelassenheit angezeigt. Wohlgemerkt geht es dabei nicht um die stoische Haltung der ataraxia, die das Schicksal unerschütterlich und in völliger Ruhe erträgt, da der nous nun einmal mechanisch über der Welt waltet und die höchste Tugend des Menschen darum nur in der Ruhe, in der Apathie als der Enthaltung von allen Leidenschaften, bestehen kann.43 Zwar wird das Gelassenheitsgebet oftmals auf dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der Stoa gelesen und bestimmte Parallelen dürften hier tatsächlich unverkennbar sein. So differenziert der Stoiker Epiktet (um 50–ca. 138 n.Chr.) beispielsweise in seinem „Handbüchlein der Moral“ (Enchiridion) gleich im ersten Satz ähnlich wie Niebuhr: „Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht. In unserer 42

Diesen Hinweis verdanke ich meinem Mitarbeiter Dr. Kai-Ole Eberhardt. Vgl. dazu R. Niebuhrs Einschätzung der Stoa: Niebuhr, The Nature and Destiny of Man I, 6–10; 19; 215; 268; 280; 284; 290f.; 297; Niebuhr, The Nature and Destiny of Man II, 14; 253; 256; 272–275. 43

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X. „Gott, gib uns…“

Macht stehen: Annehmen und Auffassen, Handeln-Wollen, Begehren und Ablehnen – alles, was wir selbst in Gang setzen und zu verantworten haben. Nicht in unserer Macht stehen: unser Körper, unser Besitz, unser gesellschaftliches Ansehen, unsere Stellung – kurz: alles, was wir selbst nicht in Gang setzen und zu verantworten haben.“44 Diese stoische Tradition bricht keineswegs in der Neuzeit ab. So kann etwa noch Friedrich Schiller (1759–1805) im Stile eines Makarismus bemerken: „Wohl dem Menschen, wenn er gelernt hat, zu ertragen, was er nicht ändern kann, und preiszugeben mit Würde, was er nicht retten kann.“45 Es geht im Gelassenheitsgebet dagegen nicht um Leidenschaftslosigkeit, sondern um Ergebung.46 Nicht die Unempfindsamkeit wird hier als erstrebenswert angesehen, sondern die Ergebung als höchste Empfindsamkeit und zwar gegenüber Gott, die ihm das Wirken im Zusammenhang von Welt und Selbst überlässt. Bei Gerhard Tersteegen (1697–1769) heißt es: „Wie die zarten Blumen / willig sich entfalten / und der Sonne stille halten, / laß mich so / still und froh/ deine Strahlen fassen / und doch wirken lassen.“47 Dementsprechend fordert Tersteegen auf: „[K]ommt, ergebt euch wieder.“48 Es folgt der Verweis auf die zweite Tugend und zwar den „Mut“ (IIa). Er bezieht sich auf das, was geändert werden kann. Damit verbleibt diese zweite Tugend, der Mut (engl. „courage“), nicht im Bereich des Irrealis, sondern bewegt sich im Bereich des Potentialis. In der klassischen Tugendlehre gilt sie neben der Besonnenheit, der Gerechtigkeit und der Klugheit als Kardinaltugend.49 Aristoteles, der 44

Zit. nach Epiktet, Teles und Musionius, Wege zum Glück, hg. von M. Fuhrmann, München 1991, 17. 45 F. Schiller, Über das Erhabene (1793), in: Schiller’s sämmtliche Werke in einem Bande, Stuttgart/Tübingen 1834, 1297. 46 S. Wells (Transforming Fate into Destiny: The Theological Ethics of Stanley Hauerwas, Eugene 22004) hat das „Hauerwas-Projekt“ als Versuch umschrieben, das fatum („fate“) der individuellen Krisen im Rahmen einer christlichen Ethik in „destiny“ zu transformieren, wie es im Kontext der Glaubensgemeinschaft wahrgenommen wird. Gewiss stand dieses Projekt nicht auf Niebuhrs Agenda und doch wäre m.E. zu fragen, ob es ihm nicht auch präzise um die Ergebung in Gottes „Willen“ (auch seinen Geschichtswillen) und nicht in kontingente „things“ bzw. Faktizitäten oder fatum ging. Dies ist m.E. ein neuralgischer Punkt der Niebuhr-Interpretation. Vgl. Niebuhr, Intellectual Autobiography, 9. 47 EG 165,6. 48 EG 165,1. 49 Vgl. Thomas von Aquin, STh I–II, q. 55–67; Platon, Politeia IV, 433b–c; ders., Nomoi, 631c–d.

4. „Gott, gib uns…“

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bekanntlich zwischen Verstandestugenden50 und sittlichen Tugenden51 unterscheidet, spricht von der Tapferkeit (gr. andreia) im Sinne seiner Mesotes-Lehre als der Mitte zwischen Draufgängertum und Feigheit. Bei Aristoteles52 bezieht sich die Tapferkeit ebenso wie bei Platon53 auf kriegerisches Verhalten und es scheint auch kein Zufall zu sein, dass Niebuhr sein Gelassenheitsgebet im Kontext des Zweiten Weltkrieges verfasste und es zu dieser Zeit seine eigentliche Karriere entfaltete. Tapferkeit gilt ja „als jene Tugend, die befähigt, Schicksalsschläge zu bestehen und Furcht, nicht zuletzt Todesangst zu ertragen.“54 Kant etwa definiert Tapferkeit in der „Metaphysik der Sitten“ als „das Vermögen und de[n] überlegte[n] Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun.“55 Kant spricht auch vom „gesetzmäßigen Mut, in dem, was Pflicht gebietet, selbst den Verlust des Lebens nicht zu scheuen.“56 Bereits bei Aristoteles57 geht es ebenso wenig wie bei Niebuhr um die Bescheidung auf ein Mittelmaß, auch nicht um die Einschränkung der Lust und der Affekte,58 sondern um die Überwindung von Angst und Furchtsamkeit im Blick auf Veränderung, genauer: um Ermunterung zur Änderung der änderbaren Dinge. Als dritte Tugend wird die „Weisheit“ (IIIa) genannt. Genauer gesagt, sieht Niebuhr die von Gott geschenkte Weisheit als Kunst des Unterscheidens als angemessene Arbeitsweise an. Um sie bittet er im Gebet. Die sophia wird übrigens in der antiken Tradition gelegentlich anstelle der phronesis als Kardinaltugend59 genannt, weil Platon sie in der „Politeia“ neben den drei anderen zu den Grundtugenden im Staat zählt.60 Sie hat nach Platon ihren Sitz im logistikon, d.h. im Kopf bzw. Geist. Übrigens meint die phronesis bei Aristoteles als intellektuelle Tugend der Klugheit die praktische Urteilskraft, die am guten 50

Vgl. Aristoteles, EN I,13; VI,1–13. Vgl. Aristoteles, EN I,13; II,1–III,8; II,9–V,15; IV,2; X,8. 52 Vgl. Aristoteles, EN III,9–12. 53 Vgl. Platon, Politeia IV, 429b–430c; 442b. 54 H. Hofmeister, Philosophisch denken, Göttingen 21997, 317. Aus derselben Linie entsteht fast eine Dekade später die wirkmächtige theologische Auseinandersetzung mit dem Mut von Niebuhrs engem Kollegen Paul Tillich. Vgl. P. Tillich, The Courage to Be (1952), New Haven/London 32014. 55 I. Kant, Metaphysik der Sitten, A 3 (Ed. Weischedel VII, 509). 56 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 216 (Ed. Weischedel X, 591). 57 Vgl. Aristoteles, EN II,5–9. 58 So zutreffend Hofmeister, Philosophisch denken, 317. 59 Vgl. zu Platons gesamter Lehre von den Kardinaltugenden ders., Politeia IV, 427c–445e. 60 Platon, Politeia IV, 427d–429a. 51

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X. „Gott, gib uns…“

Leben auch hinsichtlich des guten Lebens in der polis orientiert ist und die im Prozess der situationsbezogenen Reflexion die richtige Mitte bestimmen kann.61 Auch Niebuhr erblickt in der Weisheit das Vermögen zur Kritik. Er steht damit zugleich in der biblischen Tradition des weisen Königs Salomo, der Gott um Weisheit und damit Urteilskraft bittet: „So gib deinem Diener ein Herz, das hört, damit er deinem Volk Recht verschaffen und unterscheiden kann zwischen Gut und Böse“ (1Kön 3,9; Zürcher Bibel 2007).62 Niebuhr ist sich dessen gewiss: „Die Fähigkeit zur echten Unterscheidung der zwei Dimensionen […] können wir nicht einfach voraussetzen. Die realistische Einstellung zum Leben können wir auch verfehlen, und sie muss uns deshalb immer wieder gegeben werden.“63 Niebuhr geht also davon aus, dass zwischen dem, was wir ändern können (IIb), und dem, was wir nicht ändern können (Ib), eine kognitive Dissonanz besteht. Anders gesagt, geht Niebuhr von einer Differenzerfahrung64 im Blick auf das Nicht-Ändern-Können (Ib) und das Ändern-Können (IIb) aus, die sich im Leben von Menschen niederschlägt und die bearbeitet werden muss im Sinn der Herstellung kognitiver Konsonanz hin zu einem harmonischen Ganzen.65 Nach Leon Festingers „Theorie der kognitiven Dissonanz“ gibt es drei Möglichkeiten der Dissonanzreduktion:66 a) durch den Hinzugewinn eines einstellungsverändernden Novums (Addition neuer konsonanter Kognitionen); b) durch Änderungen einer oder mehrerer eigener Überzeugungen (Subtraktion dissonanter Kognitionen); c) durch das Abziehen bzw. Herabsetzen und gleichzeitige Hinzuziehen von kognitiven Elementen (Subtraktion dissonanter bei gleichzeitiger Addition konsonanter Kognitionen).67 61

Aristoteles, EN I,9; VI,3–9; VI,13. Vgl. H.G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 300. 63 Zeindler, Reinhold Niebuhr, 108. 64 Zur Differenzerfahrung als anthropologischer Ausgangs- und religiöser Erschließungserfahrung vgl. H. Hollenstein, Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage, RPäH 16, Aachen 1984, bes. 104ff. 65 Zur Entstehung von kognitiver Dissonanz vgl. L. Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, Bern 1978, 25–28. 66 Wie N. Neumann (Paulus als Mensch und Theologe. Die paulinische Biografie und Theologie im Lichte von Dissonanz und Dissonanzreduktion, ThZ 60 [2004], 319–336) gezeigt hat, lassen sich alle drei Punkte auch anhand der paulinischen Biografie und Theologie nachzeichnen. 67 Vgl. L. Festinger u.a., When Prophecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Group that Predicted the Destruction of the World, New York 1956, 26; ders., Theorie, 30–35. 62

4. „Gott, gib uns…“

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Folgt man diesem Schema, so lässt sich die Dissonanzauflösung, wie Niebuhr sie im dritten Stichos durchführt, am ehesten der ersten Möglichkeit (also a) zuordnen. Es wird der Blickwinkel verändert, nämlich im Sinne der Gewinnung einer im wörtlichen Sinne kritischen (vom gr. krinein) Perspektive, die Niebuhr als Weisheit bestimmt.68 Der „Lösungsweg“ zum Verschwinden der Dissonanz besteht hier darin, dass er im Unterscheiden zwischen dem, was nicht zu ändern ist, und dem, was geändert werden kann, besteht. Hinzu kommt das Einnehmen einer diesem Unterschied entsprechenden Haltung, nämlich der Tugend der Gelassenheit und des Mutes. Beide werden, wie gesagt, als Geschenk bzw. Gabe Gottes verstanden. Nur so kann einem wesentlichen Problem der Ethik begegnet werden, nämlich dem des sinnvollen und nicht-sinnvollen bzw. situationsadäquaten und inadäquaten Handelns, das zugleich im Sinne der Verantwortung nach Folgen fragt, die im Gelassenheitsgebet als Veränderungen in den Blick treten.69 Die Evidenz dieser „Lösung“ (Dissonanzauflösung bzw. -reduk­ tion) dürfte damit zu tun haben, dass hier (in III) keine Scheinlösungen favorisiert werden, die entweder in einem Bagatellisieren bzw. Verdrängen der Dissonanz oder einem Externalisieren (Darstellung des Verhaltens als von außen erzwungen) bestehen. Die besagte Dissonanz wird vielmehr im Gelassenheitsgebet anerkannt und durch die Gewinnung einer neuperspektivierten Haltung entsprechend neu sortiert und dimensioniert. Es geht dabei freilich nicht (nur) um das selektive Aufsuchen oder Interpretieren von konsonanten und daher dissonanzreduzierenden Informationen. Vielmehr wird beides, das Nicht-Verän68

Hinsichtlich des Niebuhr’schen „distinguish“ wird man sicherlich fragen können, ob dieses „Unterscheiden“ nicht dem großen „subhistorischen Lebensstrom“ der monastischen Tradition entstammt. Benedikt von Nursia nennt schon in der Regula (64,19) die discretio, die „maßvolle Unterscheidung“, die mater virtutum. Zit. nach: Die Benediktsregel. Lateinisch/Deutsch, hg. von P.U. Faust OSB, Stuttgart, 154f. Die grundlegende Unterscheidung zwischen der vita contemplativa und der vita activa scheint doch im fernen Horizont der Niebuhr’schen Gegenüberstellung zu stehen. Ich verdanke diesen Hinweis Pfr. i.R. Dr. Helmut Hollenstein. Er schreibt mir im Blick auf seine eigene seelsorgliche Erfahrung: „Ich weiß aus einigen Gesprächen, wie hoch die Kunst der maßvollen Unterscheidung gerade im spirituellen Leben geschätzt wird, den Weg zum Wesentlichen und Heilvollen zwischen blindem Aktivismus und resignativem Quietismus zu finden.“ 69 D. Lange (Christlicher Glaube und soziale Probleme. Eine Darstellung der Theologie Reinhold Niebuhrs, Gütersloh 1964, 133), der „serenity“ bei Niebuhr mit „Heiterkeit“ oder auch „Gewißheit“ übersetzt, weist darauf hin, dass sie „Wachheit und Verantwortungsbewußtsein nicht aus[schließt], sondern begründet“. Vgl. a.a.O., 141; 146; 191. Vgl. auch R.W. Lovin, Christian Realism and the New Realities, Cambridge 2008, 93–95.

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X. „Gott, gib uns…“

derbare und das Veränderbare, realisiert. Genau dieser Realismus der Wahrnehmung wirkt ohne Zweifel evidenzsteigernd. 4.3 Die Kohärenz der drei Tugenden des Gelassenheitsgebets im Spannungsfeld von Liebe und Gerechtigkeit Abschließend sei nun sachbezogen und werkgeschichtlich nach der Verortung der tugendethischen Zusammenhänge in Niebuhrs eigener ethischen Theoriebildung gefragt. Eine innere, theologisch-ethisch aufzeigbare Kohärenz der drei Tugenden Gelassenheit, Mut und Weisheit lässt sich, so meine These, erkennen, wenn man seine liebesethischen Ausführungen zugrunde legt. Ihre Auswahl ist also nicht allein dem hermeneutischen Untersuchungsgegenstand, sprich: dem Gelassenheitsgebet, geschuldet, sondern größeren konzeptionellen Zusammenhängen seines Werkes. Es zeigt sich, dass die liebesethischen Zusammenhänge, in denen sich Niebuhr seit seinem einschlägigen Werk „Moral Man and Immoral Society“ (1932) bewegt und die hier freilich nur angedeutet werden können,70 durchaus tugendethisch grundiert sind. Dabei ist zugleich die Brechung zwischen Individualethik und Sozialethik zu berücksichtigen, auf die Niebuhr in besagtem Werk hinweist. Die Liebe von Individuen sei vom Gruppenverhalten zu unterscheiden: „The central thesis was, and is, that the Liberal Movement both religious and secular seemed to be unconscious of the basic difference between the morality of individuals and the morality of collectives, whether races, classes or nations. This difference ought not to make for a moral cynicism, that is, the belief that the collective must simply follow its own interests. But if the difference is real, as I think it is, it refutes many still prevalent moralistic approaches to the political order.“71 Der Konnex zwischen Rechtfertigungslehre und Handlungstheorie ist bei Niebuhr ganz offenkundig liebesethischer Natur. Die Gnade, die nach Niebuhr nicht nur als Vergebung verstanden werden darf (imputativ), sondern als Macht, die das neue Leben wirkt, manifestiert sich 70

Vgl. dazu ausführlicher meine Darlegung: M. Hofheinz, Platzanweisung. Reinhold Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen, in: ders., Ethik – reformiert!, 263–287, bes. 273–277; ders., Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen? Resonanzen reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg, in: a.a.O., 236–262, bes. 249–255 (mit Schaubild: a.a.O., 254). 71 R. Niebuhr, Moral Man and Immoral Society. A Study in Ethics and Politics, London/New York 1960, IX. Ähnlich C. West, Gerechtigkeit. Über Religion, Rassismus und Demokratie, hg. von A. Honnacker / R. Heymann, Dresden 2020, 17.

4. „Gott, gib uns…“

345

nämlich Niebuhr zufolge in der Liebe.72 Die Liebe ist mit anderen Worten die Wirkung der Gnade. Die vergebende Gnade Gottes ist Niebuhr zufolge darin zugleich ermächtigend, dass sie zu entschlossenem Handeln befreit: „The Christian is freed by that grace to act in history; to give his devotion to the highest values he knows; to defend those citadels of civilization of which necessity and historic destiny have made him the defender; and he is persuaded by that grace to remember the ambiguity of even his best actions.“73 Dieses Handeln, zu dem die Gnade befreit, vollzieht sich nach Niebuhr in Gelassenheit, der ersten im Gelassenheitsgebet genannten Tugend. Niebuhr spricht auch davon, dass sich die Gelassenheit in der freien Hingabe der Liebe (agape) „validiert“ (validate).74 Die Liebe treibt den Menschen nach Niebuhr zu mehr Gerechtigkeit an. Sie stiftet den Mut, die zweite im Gelassenheitsgebet identifizierte Tugend. Die Liebe bildet zugleich als Ideal das Leitbild politischen Handelns. Gleichwohl kann sie nicht als konkretes Ziel erreicht werden, im Unterschied zur politischen Gerechtigkeit, die als irdische Realisierung einer Annäherungsform an Liebe immer auch ein Kompromiss mit der Sünde darstellt. Die Gerechtigkeit sorgt für den Ausgleich, der durch die Spontanität der Liebe gefährdet wird. Insofern nun die Gerechtigkeit, die Niebuhr in doppelter Weise, nämlich als Freiheit und Gleichheit näherbestimmt, die zueinander in Spannung stehen,75 hat sie elementar mit der Weisheit als der sich in der Unterscheidungskunst auswirkenden Urteilskraft zu tun.76 Gelassenheit ist wiederum angezeigt, da sich nur relative Verbesserungen des jeweiligen status quo erreichen lassen. 72

Vgl. R. Niebuhr, Christianity and Power Politics, New York 1940, 3. A.a.O., 30. 74 So u.a. R. Niebuhr, Faith and History. A Comparison of Christian and Modern Views of History, New York 1949, 137; ders., Christian Realism and Political Problems. Essays on Political, Ethical, and Theological Problems, New York 1953, 139f.; 155. 75 Niebuhr: Interpretation, 134. G. Dorrien (Soul in Society. The Making and Renewal of Social Christianity, Minneapolis 1995, 151) weist darauf hin, dass sich bei Niebuhr die Bestimmung dieses Verhältnisses, genauer gesagt: die Gewichtung dieser beiden Faktoren (Gleichheit und Freiheit), im Laufe der Jahre gewandelt hat. 76 Auch hinsichtlich der Gerechtigkeit geht es Niebuhr um eine „balance of po­wer“. So auch Dorrien, Soul, 105. Hier setzt m.E. zu Recht die Kritik an Niebuhr ein. So moniert W. Huber (Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006, 240f.), dass bei Niebuhr die Vorstellung von der Gerechtigkeit ihre kritische Kraft verliere: „Denn mit dem Hinweis auf die Unvollkommenheit der Menschen können vielfältige Kompromisse gerechtfertigt werden; es kann gerade nicht mehr ausgemacht werden, welches Maß an Freiheitseinschränkung oder Ungleichheit um die Sündhaftigkeit der Menschen willen noch als gerecht gelten kann. Zumindest 73

346

X. „Gott, gib uns…“

Wie wir sehen, bewegen sich die drei im Gelassenheitsgebet benannten Tugenden Gelassenheit, Mut und Weisheit im Spannungsfeld von Liebe und Gerechtigkeit.77 Der Mut ist primär der Liebe und die Weisheit der Gerechtigkeit zugeordnet, wobei zu berücksichtigen ist, dass Liebe und Gerechtigkeit in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen und sich nicht ausschließen. Gelassenheit bezieht sich auf ihr Verhältnis zueinander, das Niebuhr als Ausgleich konzipiert. Im Miteinander dieser Tugenden bildet sich so etwas wie ein Gleichgewicht der Kräfte ab. Die Verbindung zu einer „balance of power“, dem alten englischen Prinzip der Politik, ist hier keineswegs einfach assoziativ, zumal Niebuhr nicht zuletzt in politischem Kontext agierende Menschen im Blick hat, die aus einer bestimmten Haltung heraus agieren, wie er sie im Gelassenheitsgebet umschreibt. Zu ihrem Handeln gehört sowohl das weisheitliche Abschätzen, inwiefern eine Situation für Veränderung offen ist, als auch die Erkenntnis, dass „Gerechtigkeit nicht nur zur Liebe in einem dialektischen Verhältnis steht, sondern auch in sich selbst die konstitutive Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit enthält. Die Erfahrung zeigt, daß egalitäre Systeme durch Zwang die Freiheit liquidieren, während libertäre Systeme zur Unterdrückung der Schwachen durch die Starken führen. Die Regierungsgewalt muß dabei beide Ziele ins Gleichgewicht bringen und selbst durch das Prinzip der Gewaltenteilung mit Gegengewichten (checks and balances) versehen werden.“78

sucht man bei Reinhold Niebuhr vergeblich nach einer Antwort auf diese Frage.“ So auch H. Bedford-Strohm, Gemeinschaft kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, ÖTh 11, Gütersloh 1999, 314. 77 Zum Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit bei Niebuhr vgl. auch R. Niebuhr, Love and Justice. Selections from the Shorter Writings, hg. von D.B. Robertson, Cleveland/New York 1967. Fernerhin: Lange, Christlicher Glaube, 43–52; Lovin, Rein­hold Niebuhr, 191–212; M. Douglas, The Paradoxes of Virtue: Agape in the Work of Reinhold Niebuhr, in: K. Carnahan / D. True (Hg.), Paradoxical Virtue. Reinhold Niebuhr and the Virtue Tradition, Abingdon / New York 2020, 98–114. 78 Lange, Ethik, 165f.

5. Fazit

347

5. Fazit Eingangs wurde von der besonderen „Magie“ des Gelassenheitsgebets gesprochen. Abschließend sei nun noch einmal gefragt: Was macht diese „Magie“ aus? Warum hat es diese einmalige Verbreitungsgeschichte als ein Gebet erfahren, das um die Welt ging? Darüber mag man spekulieren und nach Erklärungsmustern suchen. Einige Antwortversuche haben meine bisherigen Ausführungen vielleicht nahegelegt und/oder bedient; etwa eine zeitgeschichtliche Begründung, die auf die besonderen Rezeptionsumstände im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach rekurriert. Diese Begründung korreliert gewissermaßen mit einer psychologischen, die auf das Muster einer kognitiven Dissonanz Bezug nimmt. Niebuhrs Gebet und die dort explizierte Dissonanz würde demzufolge auf eine alltagsweltliche Ursprungssituation und eine in ihr verortete Differenzerfahrung zurückgehen: Der Aufbau der eigenen Sinnwelt und der ihm korrespondierende Abbau des Veränderungswürdigen wird durch die Ohnmachtserfahrung, nicht alles Veränderungswürdige auch verändern zu können, gefährdet. Das Verfahren der Dissonanzreduktion erfährt nach diesem psychologischen Verständnis in der Bitte um die Weisheit, zwischen beidem zu unterscheiden, seine Anwendung. Genau darin, dass das Gelassenheitsgebet diesen psychologischen Prozess in nuce bzw. in aphoristischer Manier durchläuft, könnte die besondere „Magie“ bzw. die starke Anziehungskraft des Gelassenheitsgebets beruhen. Natürlich wird in diesem Zusammenhang auch die kraftvolle Aphoristik Niebuhrs zu berücksichtigen sein. So bemerkt etwa Richard Crouter: „Die Sprachmelodie und der aphoristische Stil, die Niebuhrs Denken Dringlichkeit und Charakter verleihen, scheinen auch in seinen Gebeten auf.“79 Dies dürfte allzumal für das Gelassenheitsgebet gelten. All diese Ansätze könnten im Zusammenspiel eine hinreichend klare und plausible Erklärung liefern. Der vorgelegte tugendethische Interpretationsversuch hat dies zumindest zu demonstrieren versucht. Dass das Gelassenheitsgebet dabei nicht einfach nur „von gestern“ ist, sondern sicherlich eine Zukunft hat, dürfte damit zusammenhängen, dass hier, ohne dass der Tugendbegriff verwandt wird, Tugenden genannt werden, die auch gegenwärtig gefragt sein dürften: Gerade heute erwarten wir nicht nur von Managern Mäßigung, Politikern Verantwortungsbereitschaft, Staatsbürgern Zivilcourage, Andersdenkenden 79

R. Crouter, Reinhold Niebuhr (1892–1971) und H. Richard Niebuhr (1894– 1962), in: F.W. Graf (Hg.), Klassiker der Theologie. Zweiter Band: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, (258–288) 269.

348

X. „Gott, gib uns…“

Toleranz80 und Ärzten Empathie,81 sondern jede und jeder dürfte sich auch im Persönlichen und Privaten die Gelassenheit wünschen, das hinzunehmen, was wir nicht ändern können, den Mut, das zu ändern, was wir ändern können, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

80

Vgl. D. Lange, Ideologie und Toleranz im Denken Reinhold Niebuhrs, ZEE 38 (1994), 4–16. Zur Toleranz als Tugend: J.R. Bowlin, Tolerance Among the Virtues, Princeton/Oxford 2016. 81 Vgl. Reuter, Tugend, 204. So auch ders., Grundlagen, 39.

Liste der Erstveröffentlichungen

Einleitung: Die Kunst des Zusammenlebens. Politisch-ethische Studien zur reformierten Theologie (unveröffentlicht). I.  „… der Bund und Treue hält ewiglich.“ Der Bund als Grundmetapher theologischer Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 117 (2/2020), 164–195. II.

 ie „Politica“ des Johannes Althusius (1563–1638). Eine Vision des D symbiotischen Zusammenlebens (unveröffentlicht).

III.  „Die Stadt auf dem Berge“. Oder: Der Beginn eines (Alb-)Traumes. Zur calvinistisch-puritanischen Formation des Narrativs vom „American Dream“ (unveröffentlicht). IV. Lutheraner, Reformierte und die Ethik rechtserhaltender Gewalt. Ein politisch-ethischer Vergleich in Thesenform, in: Sarah Jäger / Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Gewalt in der Bibel und in kirchlichen Traditionen. Fragen zur Gewalt Bd. 1, Reihe „Gerechter Frieden“, Wiesbaden 2018, 53–85. V.  Mit vertauschten Rollen? Die Kontroverse zwischen Otto Piper und Alfred de Quervain zur Schöpfungsordnung in den Raum- und Zeitdeutungskämpfen der Weimarer Republik. Eine problemgeschichtliche Untersuchung (unveröffentlicht). VI.  Was für ein Calvinist?! Einige Antwortversuche zu offenen Fragen der Althusius-Forschung (unveröffentlicht). VII.  „Just a minor thinker?“ Zur Größenordnung in der Formation von Abraham Kuypers politisch-theologischem Denken. Der Versuch einer dialektischen Würdigung, in: Martin Laube / Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Weltgestaltender Calvinismus. Studien zur Rezeption Abraham Kuypers, FRTH 12, Göttingen 2021, 105–131. VIII. „Die Sitzung geht weiter!“ Oder: Synode und Parlament. Die Rezeption der Emder Synode von 1571 durch den Bundespräsidenten Gustav W. Heinemann (unveröffentlicht).

350

Liste der Erstveröffentlichungen

IX.  Die Tradierung von Ethik im reformierten Gottesdienst. Ethisch-liturgische Konturen, in: Marco Hofheinz unter Mitarbeit von Kai-Ole Eberhardt (Hg.), Die Tradierung von Ethik im Gottesdienst. Symposiumsbeiträge zu Ehren von Hans G. Ulrich, EThD 26, Münster 2019, 81–107. X.  „Gott, gib uns…“ – das Gelassenheitsgebet („Serenity Prayer“) Reinhold Niebuhrs. Ein tugendethischer Interpretationsversuch, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik (ZEE) 65 (2021), 87–101.

Abkürzungsverzeichnis

Hinweis zum Gebrauch von Abkürzungen Die in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen entsprechen dem von Siegfried Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der „Theologischen Realenzyklopädie“ (TRE), 2. überarbeite und erweiterte Auflage, Berlin / New York 1994. Hinweis zum Zitationsverfahren In den Fußnoten wird nicht die vollständige Literaturangabe, sondern nur der Autor, ein Kurztitel und die Seitenzahl wiedergegeben. Auslassungen innerhalb eines Zitats sind durch Punkte in eckigen Klammern [...] kenntlich gemacht. Ergänzungen innerhalb eines Zitats sind in eckige Klammern [ ] gesetzt. BSLK Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. von Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss im Gedenkjahr der Augsburgerischen Konfession 1930, Göttingen 1930. BSRK Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, hg. von E.F.K. Müller, Leipzig 1903. BS Heinrich Bullinger Schriften, Bde. I–VII, hg. von E. Campi u.a., Zürich 2004. CO Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, 58 Bde., hg. von W. Baum u.a., CR 29–87, Braunschweig 1863ff. CStA Calvin-Studienausgabe, hg. von E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn, 1994ff. EBzrP  Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, hg. von M. Freudenberg u.a., Bde. 1–10, Wuppertal 1999–2008, ab Bd. 11, Neukirchen-Vluyn 2009ff. EThD Ethik im Theologischen Diskurs / Ethics in Theological Discourse, hg. von M. Heimbach-Steins u.a., Münster 2002ff. FRTH Forschungen zur Reformierten Theologie, hg. von M. Hofheinz u.a., Neukirchen-Vluyn 2014. Inst. Institutio Christianae religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb.

352

Abkürzungsverzeichnis

von O. Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. KD Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik. 4 Bde., 13 Teile und 1 Registerbd., Zollikon–Zürich 1932–1967. Politica  Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata, 2. Neudruck der 3. Aufl., Herborn 1614 (ND Aalen 1981). Politik Johannes Althusius, Politik, übers. von H. Janssen, in Auswahl hg., überarb. und eingel. von D. Wyduckel, Berlin 2003. OS Ioannis Calvini Opera Selecta, hg von P. Barth / G. Niesel, 5 Bde., München 1926ff. QGTS Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, hg. von L. von Muralt u.a., Zürich 1952ff. SBRThP Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, hg. von V. Albrecht-Birkner / G. Plasger, Wuppertal 2010ff. SC Supplementa Calviniana Sermones inédits (SC), hg. von J. McCord, Neukirchen-Vluyn 1961ff. RHT Reformed Historical Theology, hg. von H.J. Selderhuis, Göttingen 2007ff. WA  Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“), Weimar 1883ff. Z Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, hg. von E. Egli u.a., 14 Bde., CR 88–101, Berlin u.a. 1905ff. ZDTh Zeitschrift für dialektische Theologie, hg. von Komitee zur Förderung des Studium der dialektischen Theologie, Kampen 1985ff. ZS Huldrych Zwingli Schriften, Bde. I–IV, hg. von T. Brunnschweiler / S. Lutz, Zürich 1995.

Personenregister

Adams, James Truslow  99 Adenauer, Konrad  275 Albertz, Rainer  53, 66, 140 Albrecht-Birkner, Veronika  183 Alemann, Ulrich von  13, 17 Allen, R. Michael  40 Althaus, Paul  20, 165, 173–175, 177, 190 Althusius, Johannes  10, 12f., 16–18, 20, 22f., 25, 31, 34, 48, 55, 76–86, 88–97, 220–242, 265f. Alting, Menso  79, 220 Andersen, Svend  73 Anderson, Clifford B.  243, 267, 269 Anselm, Reiner  VII, 10, 42, 177, 217, 277 Antholz, Heinz  80f. Aquin, Thomas von  338, 340 Arendt, Hannah  16f., 25, 96, 199, 205, 208, 289 Aristoteles  18, 20, 22–27, 84, 157, 266, 337, 340–342 Assel, Heinrich  40, 173–176 Assisi, Franz von  330 Assmann, Aleida  49 Augustijn, Cornelis  244–246, 257f., 264, 267, 269–271 Aurel, Mark  328, 330 Aurelius, Erik  30, 53 Austad, Torleiv  148 Bacote, Vincent E.  244, 250, 267 Bächtold, Andreas  104–106 Bainton, Roland H.  123 Baker, J. Wayne  40, 225

Balthasar, Hans-Urs von  66 Barry, John M.  119, 124f. Barskanmaz, Cengiz  263 Barth, Heinrich  179 Barth, Karl  1, 4, 25, 29, 31, 43, 66–70, 155, 176f., 180, 184, 198, 205, 238, 243, 249, 254, 260, 272, 274, 279, 282, 306, 316 Barth, Roderich  248 Barthes, Roland  336 Bartmann, Peter  338 Baschera, Luca  21, 221, 317f. Bauer, Thomas  270 Bauks, Michaela  53 Bayer, Oswald  60f., 171 Beard, Charles A.  105 Becker, Judith  295 Bedford-Strohm, Heinrich  11, 346 Beestermöller, Gerhard  158 Behnen, Michael  81 Beintker, Michael  179, 238, 281, 295 Bellah, Robert N.  43 Bellmann, Tina  334f. Bender, Christiane  87, 93–95, 241 Benedict, Philip  281 Bennett, John C.  333 Berg, Michael  118 Berkhof, Hendrikus  248, 271, 331f. Bernoulli, Peter E.  318 Beza, Theodor  129, 132, 227, 318 Bildheim, Stefan  80

354 Binetti, Saffo Testoni  87 Bleek, K.H.L. Walter van der 259f. Blum, Wilhelm  83 Bodin, Jean  91, 93 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 57, 90 Bohatec, Josef  29, 92, 97, 157, 182 Bolt, John  244f., 248, 255, 267 Bonhoeffer, Dietrich  243 Bowlin, John R.  100, 125, 348 Brandt, Willy  295 Bratt, James D.  110, 244, 251, 268 Bremer, Francis J.  108 Bretherton, Luke  VII, 10, 25f., 51, 75, 83, 90–93, 206, 265, 293 Breuer, Stefan  169 Brink, Gijsbert van den  40 Brinkman, Martien E.  167, 267 Browning, Peter D.  VIII, 98 Brueggemann, Walter  105 Brüning, Heinrich  185 Bruijn, Jan de  257 Brunner, Emil  164, 177, 216– 218 Brutus, Stephanus Junius  56 Bubner, Rüdiger 17 Bürki, Bruno  301 Bukowski, Peter  39, 161, 305 Bullinger, Heinrich  40, 300f., 314 Burckhardt, Jacob  289 Burman, Frans  19 Busch, Eberhard  VIII, 8f., 66–69, 74, 89, 156, 166, 197, 251, 286, 289, 307, 314–317, 320, 322f. Busch, Wilhelm  61 Byrd, James P.  122, 127, 141

Personenregister

Calvin, Johannes  6, 16, 29, 72, 129, 132, 154–157, 180, 182, 208, 224, 227, 231, 233, 235, 238, 247, 253, 269–271, 282, 301, 314f., 317–324, 326 Campbell, Charles L.  2, 326 Campi, Emidio  3, 153, 302 Campos Boralevi, Lea  235 Camus, Albert  337 Carmichael, Casey B.  41 Carnahan, Kevin  335 Cartwright, Michael G.  28, 334 Castanyé, Josep  178, 213 Cavanaugh, William T.  27, 111, 254 Charry, Ellen T.  25 Christophersen, Alf  168f., 178, 183, 215 Claussen, Johann Hinrich  170, 267 Clinton, Hillary  329 Comenius, Johann Amos  3 Cone, James H.  102 Cotton, John  32, 122, 126f., 133 Crouter, Richard  347 Cullen, Jim  100, 103, 115f., 118 Cuomo, Mario  116f. Dahm, Karl-Wilhelm  75–77, 83, 86, 166, 225, 239f., 267 Danaeus, Lambertus  233 Danielsmeyer, Werner  183 Darwin, Charles  250 Davis, Ellen F.  26, 120 Dawson, Hugh J.  108 Deeters, Walter  79 Dekker, Gerard  243 Dellsperger, Rudolf  220 Dembowski, Hermann  166 Detmers, Achim  VIII, 7, 286 Dibelius, Otto  197 Diem, Hermann  180

Personenregister

Dieter, Theodor  175 Dietz, Thorsten  194 Dorrien, Gary  333, 345 Douglas, Mark D.  37, 333, 346 Dowdy, Christopher  334 Drunen, David van  29 Du Plessis-Mornay, Philippe 56, 224, 227 Duhm, Bernhard  179 Durand, Marie  3 Duso, Giuseppe  94, 242 Eberhardt, Kai-Ole  VIII, 19f., 40, 66, 339 Edwards, Jonathan  3 Ehrensperger, Alfred  303 Eisfeld, Rainer  267 Elazar, Daniel J.  242 Elert, Werner  165 Elsener, Roman  99 Epiktet 339f. Eppler, Erhard  275 Erdmann, Karl Dietrich  121, 123, 127, 132 Ernst-Habib, Margit  VIII, 39f. Eßer, Hans Helmut  8, 222, 224, 233 Etzelmüller, Gregor  301, 309–311, 314, 318 Faber, Eva-Maria  8 Farel, Wilhelm  132 Fergusson, David A.S.  4 Festinger, Leon  342 Fischer, André  173f. Fischer, Hermann  174f. Fischer, Johannes  136, 166f., 176f., 217 Fischer, Rainer  19 Flemming, Thomas  274–277 Floyd, George  262

355 Forst, Rainer  32, 110, 124, 133–136 Foucault, Michel  336 Fox, Richard W.  328, 330 Frettlöh, Magdalene L.  60, 166 Freudenberg, Michael  VIII, 11, 40f., 43, 73, 180, 182, 186, 280, 300–302, 305, 307, 314, 318, 325f. Frey, Christofer  41, 153, 164, 167, 177, 216, 263 Friedeburg, Robert von  87, 237 Friedrich, Carl Joachim  11, 31, 223 Friedrich, Norbert  187 Frisch, Ralf  166 Fritz, Martin  170, 267 Furler, Frieder  318 Gäbler, Ulrich  113 Gaisbauer, Helmut P.  83 Gaustad, Edwin S.  119, 122, 125 Gautier, Dominik  38 Geldbach, Erich  123, 125, 129, 131, 133 Gentili, Alberico  158, 231 Gerhardt, Volker  10f., 49, 103 Gerlach, Ernst Ludwig von  188 Gertz, Jan Christian  30 Geyer, Hans-Georg  61, 64, 68 Gierke, Otto von  14, 31, 83, 91f., 220 Goebel, Hans Theodor  71 Göllner, Werner  178–182, 199– 201, 203–208, 210–212, 218f. Goeters, J.F. Gerhard  40–42, 57, 67, 126 Gogarten, Friedrich  165, 190, 193f. Gollwitzer, Helmut  7, 70, 180, 238, 274, 296 Gorski, Horst  217

356 Grab, Walter  248 Grabill, Stephen J.  221, 256 Graf, Friedrich Wilhelm  183– 185, 201, 205–208 Grassl, Hans  87, 93–95, 241 Grosse Kracht, Hermann-Josef 65 Grotefeld, Stefan  13 Grotius, Hugo  158, 231 Grotz, Florian  13 Haag, Karl Friedrich  165 Haas, Guenther  244 Habermas, Jürgen  54, 57–59, 277 Hailer, Martin  65, 166, 288 Haitjema, Theodorus Lambertus 243, 254 Halaski, Karl  280 Hardman Moore, Susan  29, 118 Harinck, George  243 Harleß, G.Ch. Adolf von  173 Harnack, Adolf von  179 Hart, Darryl G.  300 Haspel, Michael  98 Hauerwas, Stanley  VIII, 1f., 136, 254f., 327, 329, 334f., 340 Hays, Richard B.  2 Heckel, Martin  150 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 92, 191, 250 Heidemann, Wilfried F.  183, 186 Heinemann, Gustav W.  6, 35f., 274–296 Hellmich, Wolfgang  135 Henrich, Dieter  171 Herdt, Jennifer A.  221 Herlyn, Okko  5, 95, 136, 305, 307 Hermann, Rudolf  64, 176 Hermisson, Hans-Jürgen 52 Herms, Eilert  167

Personenregister

Heron, Alasdair I.C.  8, 40 Hertog, Gerard C. den  243 Heslam, Paul S.  244f., 250f., 256f. Heß, Ruth  180, 182, 217 Hindenburg, Paul von  259 Hirsch, Emanuel  165, 168, 173, 194, 209, 223 Hitler, Adolf  214 Hobbes, Thomas  12, 48–51, 53f., 59–62, 66, 92, 111, 249 Hoffmann, Adolph  196f. Hoffmann, Thomas S.  135 Hofius, Otfried  333 Hofmann, Hasso  203 Hofmeister, Heimo  341 Holl, Karl  173, 176f. Hollenstein, Helmut  VIII, 10, 18, 75f., 90f., 95, 234, 239f., 337, 342f. Holtmann, Stefan  205 Holtmann, Wilhelm  88, 283, 285 Honecker, Martin  166–168, 172, 214f., 338 Hooker, Richard  119 Hotman, François  227 Huber, Wolfgang  42, 45f., 64, 66, 137, 144, 148f., 156, 212, 281f., 345 Hüglin, Thomas O.  242 Hütter, Reinhard  72, 171, 173, 282 Hume, David  263 Hunsinger, George  310 Hutchinson, Anne  118 Hyperius, Andreas  319 Irwin, Raymond D.  124 Iwand, Hans Joachim  180

Personenregister

Jacobs, Paul  290 Jähnichen, Traugott  32, 100, 134, 137, 171, 187, 275 Jahn, Wolfgang  220 Janssen, Heinrich  224, 233, 235f. Jellinek, Georg  121, 134 Jeremias, Jörg  53 Joas, Hans  59, 102f. Johann VI., Graf von Nassau-Dillenburg 222 Jonas, Hans  54 Jones, L. Gregory  50 Jorissen, Matthias  39 Jüngel, Eberhard  70 Jung, Martin H.  197 Junius, Franziskus (der Ältere) 21 Kant, Immanuel  33, 50, 63, 138–140, 144, 152, 169, 341 Kappelhoff, Bernd  79 Kersting, Wolfgang  49f., 57, 59, 62f., 71, 250 Keulen, Dirk van  244, 264, 267, 270 Kidd, Thomas  125 King, Martin Luther  98 Kjellén, Rudolf  259 Klappert, Bertold  40, 43, 71, 73, 283 Klein, Michael  275 Klingelhöfer, Hans  56 Knox, John  132 Koch, Diether  275 Koch, Jeroen  244f. Koch, Werner  274 Kock, Manfred  275 Körtner, Ulrich H.J.  29, 44, 164, 168, 182 Kooi, Cornelis van der  40 Korsch, Dietrich  168

357 Koselleck, Reinhart  171 Kraus, Hans-Joachim  72, 172, 307 Kreck, Walter  171, 177, 180, 188, 198, 245, 254 Kreß, Hartmut  VII, 10, 14–16, 83, 85f., 91, 205 Krieg, Matthias  3f. Krockow, Christian Graf von 203, 206 Krötke, Wolf  66f., 69, 165, 176, 252 Krüger, Friedhelm  148 Krumwiede, Hans-Walter 79, 207f., 220 Kubik, Andreas  170, 267 Kuhn, Thomas K.  180 Kuiper, Dirk Th.  251 Kunz, Ralph  298, 300, 304, 307, 311 Kurz, Roland  189 Kutter, Hermann  179 Kuyper, Abraham 34f., 243–273 Lange, Dietz  332f., 343, 346, 348 Lasco, Johannes a  220, 247, 285 Laube, Martin  35 Lehmann, Paul L.  176 Leonhardt, Rochus  10, 96, 146, 168, 170, 176, 197, 209, 267 Lessing, Eckhard  177, 180, 185, 192 Lessing, Gotthold Ephraim  14 Lévinas, Emmanuel  73 Lienemann, Wolfgang  VIII, 13, 27, 59, 63, 65, 72, 144f., 149f., 152, 158f., 162f., 220, 288f., 306, 338 Lindemann, Helmut  275 Lindenlauf, Herbert  181–183, 198–203, 211–214

358 Link, Christian  3, 6, 8, 31, 42, 57, 138, 155–158, 271 Locher, Gottfried W.  303 Lochman, Jan M.  43, 72 Locke, John  48–50, 54, 60f., 111, 241, 249 Lohfink, Norbert  30 Lohmann, Friedrich  96, 101, 103, 179 Lovin, Robin W. 45, 333–335, 343, 346 Lüpke, Johannes von  337 Luhmann, Niklas  16 Luther, Martin  79, 191, 235, 238f., 285f., 292, 301, 305, 309 Maaser, Wolfgang  17 MacIntyre, Alasdair  62, 83 Maissen, Thomas  81 Malandrino, Corrado  48, 85, 223–225, 242 Malotky, Daniel  327 Mantey, Volker  146 Martinius, Matthias  232 Maschmeier, Jens  52 Maßmann, Alexander  332 Mathwig, Frank  VII, 164, 178 Maurer, Wilhelm  148, 151 Mayer-Tasch, Peter Cornelius  59 Mayfield, D.L.  100 McAfee Brown, Robert  330 McCain, John  116 McClendon, James Wm.  2, 127, 134 McCoy, Charles S.  40, 44f., 47, 70, 222, 225, 233 McDermott, Gerald R.  126, 128 McGoldrick, James E.  243f. McKee, Elsie Anne  301 Mechels, Eberhard  307 Mehlhausen, Joachim  281, 292 Mehring, Reinhard  206

Personenregister

Meier, Kurt  196 Meireis, Torsten  VII, 177, 215f. Melanchthon, Philipp  231 Menk, Gerhard  77, 80, 89, 222f., 227, 233, 240, 256–258, 260 Menke, Christoph  58, 71 Meurer, Siegfried  279f., 292f. Meyer, Harding 149 Meyer-Blanck, Michael  301, 304, 307–312 Mielke, Roger  201 Mildenberger, Friedrich 175, 215 Miller, Patrick  119 Miskotte, Kornelis Heiko  69 Möller, Christian  272 Molendijk, Arie L.  264 Moltmann, Jürgen  3, 5, 41, 43f., 54, 56, 60f., 100f., 136, 140f., 201, 228 Moore, G.E.  263 Moore, G. LeRoy  120, 124, 134 Moots, Glenn A.  105 Morris, Daniel A.  335 Mouw, Richard J.  254f. Mühling, Andreas  68 Mühling, Markus  313 Müller, Christoph  220 Müller, Hermann  185 Münch, Paul  232 Muller, Richard A.  20 Natorp, Paul  179 Nelson, Derek R.  103, 128, 133 Neri, Demetrio  17, 86 Neumann, Nils  342 Neuser, Wilhelm H. 56, 185, 226–228 Nida-Rümelin, Julian  50 Niebuhr, H. Richard  333, 347 Niebuhr, Reinhold  29, 318f., 327, 329–335, 337–347 Niether, Hendrik  177, 184

Personenregister

Nietzsche, Friedrich  6, 250 Nimmo, Paul T.  4 Nitschke, Peter  242 Noll, Mark A.  103, 108, 123 Nord, Ilona  267 Nowak, Kurt  209 Nursia, Benedikt von  343 Nussbaum, Martha C.  266 Obama, Barack  329 Odermatt, Katharina  221 O’Donovan, Oliver  49 Oetinger, Friedrich Christoph 330 Ohst, Martin  226, 229 Olevian, Caspar  34, 67f., 78, 222–225, 228, 290 Oorschot, Frederike van  45f., 186, 244 Opitz, Peter  3, 5, 41, 43, 143, 289, 303, 307–310, 312 Ottmann, Henning  201 Pangritz, Andreas  272f. Paris, Peter J.  251 Perlitt, Lothar  30 Peterson, Erik  201 Peukert, Detlev  184 Philbrick, Nathaniel  104 Pinches, Charles  329 Piper, Otto A.  34, 105, 178, 183–201, 209, 214, 218 Piscator, Johann 78, 228, 232 Placher, William C.  103, 128, 133 Planer-Friedrich, Götz 149f. Plasger, Georg  VIII, 89, 129, 135, 165, 290, 302, 304f., 307, 312–314 Plathow, Michael  328f. Platon  171, 340f. Plüss, David  300

359 Pöhlmann, Horst Georg  148 Polanus, Amandus von Polandsdorf 19f. Polke, Christian  13, 57, 331 Poscher, Ralf  135 Posser, Diether  279 Quaglioni, Diego  82, 87 Quervain, Alfred de  34, 178– 182, 186–214, 218 Rad, Gerhard von  140 Radbruch, Gustav  182 Rade, Martin  192 Ragaz, Leonhard  179 Rahner, Karl  60 Raiffeisen, Friedrich-Wilhelm  3 Ramsey, Paul  333 Ramus, Petrus  18, 20–22, 81, 228f. Rasmusson, Arne  205, 334 Rau, Johannes  275, 295 Rawls, John  48–51, 54f., 61, 249 Reagan, Ronald  116 Reeling Brouwer, Rinse H.  66 Reese-Schäfer, Walter  35, 63, 265f. Reibstein, Ernst  223 Reichel, Peter  185 Reinartz, Gabriele  111 Reinert, Jonathan  174 Rengstorf, Karl Heinrich  233 Reuter, Hans-Richard  VII, 13, 143–145, 149–152, 164f., 170, 176, 212, 216, 256, 267, 281f., 335, 337f., 348 Ricœur, Paul  15 Riechmann, Jens  183 Riesebrodt, Martin  140 Rigby, Cynthia L.  252 Rippe, Klaus Peter  335

360 Ritschl, Dietrich  44, 96, 155, 313 Robling, Franz-Hubert  19, 22 Rohde, Christoph  333 Rohls, Jan  40, 86, 177, 202, 242, 250 Rohrbach, Paul  259 Romein, Jan  271 Roosevelt, Franklin D.  135 Rosenzweig, Franz  291 Rousseau, Jean-Jaques  48, 50, 54f., 60f., 71, 92, 111, 241, 249 Rubboli, Massimo  107, 127f., 132f. Ruddies, Hartmut  61, 177f., 187 Salinger, Elisabeth A.  186 Sallmann, Martin  281 Samour, Nahed  263 Sandel, Michael  11 Sauter, Gerhard  72, 111, 114f. Saxer, Ernst  307 Scattola, Merio 109, 240, 242 Schaber, Peter  335 Schäufele, Wolf-Friedrich  220 Schambeck, Herbert  105, 240f. Scharffenorth, Gerta  150 Scheliha, Arnulf von  VII, 10f., 32, 55, 82f., 90, 93, 170f., 177, 187, 197, 208, 224, 228, 236, 242, 267 Schell, Maximilian  169 Schellong, Dieter  8, 51, 64, 68, 74, 172, 174, 177, 185, 194, 206, 260, 316 Schiller, Friedrich  340 Schlag, Thomas  267 Schleiermacher, Friedrich D.E. 250, 335 Schmid, Konrad  53 Schmidt, Helmut  1, 328 Schmidt, Kurt Dietrich  215

Personenregister

Schmitt, Carl  17, 51, 53, 182, 193f., 201–207, 231, 267 Schmitt, Hans-Christoph 53 Schneewind, Jerome B.  55, 152 Schoberth, Wolfgang  17, 35 Schönberger, Dennis  82 Scholder, Klaus  174 Scholl, Hans  182, 235, 241, 249, 253f., 323 Schotte, Dietrich  54 Schottroff, Willy  312 Schütz, Katharina  3 Schuler, Ulrike  123f. Schulze, Manfred  151 Schwöbel, Christoph  32f., 100 Sedmak, Clemens  83 Shapiro, Fred R.  330 Shuman, Joel J.  139 Siegmund-Schultze, Friedrich 179f. Sifton, Elisabeth  327–331, 338 Siller, Anne  280 Simon, Ernst  15 Skaggs, Donald  139 Skillen, James W.  244 Skinner, Quentin  10 Smend, Rudolf  15 Smit, Dirkie J.  43 Smith, James K.A.  2 Sontheimer, Kurt  169 Soosten, Joachim von  107, 142 Stackhouse, Max L.  45f., 132f., 244 Staedtke, Joachim  27, 281 Stahl, Friedrich Julius 91, 188 Stamer, Torben  36 Stange, Carl  184 Stapel, Wilhelm  189, 193 Stern, Carola  274 Stern, Fritz  169 Sternberger, Dolf  25–28 Stolleis, Michael  15

Personenregister

Strohm, Christoph  9, 15, 19–21, 56, 82, 86, 88, 132, 158, 220f., 223, 225, 227–229, 231–239 Strübind, Andrea  42, 100 Stümke, Volker  90, 150f. Surall, Frank  216 Swarat, Uwe  131 Taeger, Jens-Wilhelm  254 Taylor, Charles  62 Tersteegen, Gerhard  340 Teuffel, Jochen  19 Thaidigsmann, Edgar  70 Thielicke, Helmut  328 Thomä, Dieter  61 Tietz, Christiane  101 Tillich, Paul 168, 177, 179, 188, 194, 215, 341 Tocqueville, Alexis de  99, 103 Tödt, Heinz-Eduard  63, 238 Tönnies, Ferdinand  11 Torrance, Thomas F.  5 Treffke, Jörg  275, 278f. Troeltsch, Ernst  4, 121, 124, 191, 223, 247, 287 True, David  335 Trump, Donald  98, 136, 139 Ulrich, Hans G.  VIII, 96, 136, 171, 297–299, 305f., 316, 319–321, 324–326, 342 Ulrichs, Hans-Georg  VIII, 29, 35, 243f., 251, 257, 259f., 264, 268, 270, 280 Vieweg, Klaus  250 Vilmar, August  188 Vischer, Lukas  300 Visser’t Hooft, Willem A.  4 Vliet, Jason van  8 Vögele, Wolfgang  274f., 277, 283, 293f., 296

361 Voetius, Gisbert  319 Vogel, Heinrich  180 Vogel, Traugott  25 Voigtländer, Johannes  304, 312f. Volf, Miroslav  42, 44, 59, 119f., 122f., 135 Vorländer, Herwart  182 Voss, Klaus-Dieter  220 Vree, Jasper  247f. Wabel, Thomas  36 Wall, Heinrich de 35, 221, 225 Wallace, Mark I.  15 Walzer, Michael  42, 51, 105, 265 Wannenwetsch, Bernd  17, 37, 171, 298f. Warnecke, Hans Jürgen 79 Wartenburg, Graf Peter York von 242 Weber, Max  16f., 27, 59, 195, 256, 288 Weber, Otto  180, 286, 307, 319 Wehler, Hans-Ulrich 112f., 197 Weider, Jonathan  36 Weinrich, Michael VII, 189f., 194 Welker, Michael  8, 44f., 73, 244 Wells, Samuel  340 Wendte, Martin  250 Wenz, Gunther  152 Wernle, Paul  179f. West, Cornel  262, 333, 344 West, Traci C.  333 Westerkamp, Marilyn K.  128 White, Hayden  246, 249 Widder, Helmut  240f. Wilhelm, Theodor  330 Wilhelm I. (Oranien)  247, 270 Wilhelm II. (deutscher Kaiser) 259f. Williams, Roger  32, 118–121, 123f., 126f., 129–132, 139, 268

362 Wilson, Jonathan  255 Wilson, Woodrow  138f., 158 Winslow, Ola Elisabeth  119 Winters, Peter J.  48, 222, 230, 233, 238, 242 Winthrop, John  104, 111, 113–115, 119f. Witte, John, Jr.  41f., 48, 75, 105f., 108, 112f., 115, 118, 129, 154f., 225, 240–242, 247, 249, 251, 257, 265, 268 Wittich, Christoph  19 Wolf, Erik  234 Wolf, Ernst  32, 100, 134, 167, 180, 238, 286 Wolgast, Eike  151 Woltersdorff, Nicholas P.  243, 256 Wyduckel, Dieter  11f., 14, 22, 56, 78, 87, 221, 224, 226–228, 230, 239–242, 267

Personenregister

Yoder, John H.  105, 140, 254, 334 Zangger-Derron, Gabrielle  4 Zeindler, Matthias  VII, 4, 102, 127f., 164, 305, 307, 311, 319, 326, 331f., 334, 342 Zepper, Wilhelm  78, 232 Zippelius, Reinhold  242 Zschoch, Hellmut  88, 282f., 285, 292, 294f. Zwierlein, Cornel A.  225, 265 Zwingli, Huldrych  3, 29, 153, 247, 300, 302–304, 307–314, 322, 324

Bibelstellenregister

Altes Testament

Sprüche 29,18

5, 136

Genesis 2,16 12,1–3 15,18

60 65 65

Exodus 20,3

Jesaja 2,1–4 2,2–5 2,4

140f. 140 140

321

Deuteronomium 5,7 5,17 16,18f. 16,19 22,4

Jeremia 22,16

321

321 16 156 156 9

Amos 3,2

111

Micha 6,8

112

2. Samuel 7,10

126

Daniel 2,12

321

1. Könige 3,9

342

Neues Testament

Hiob 41,2

66

Psalmen 1 19 72,3 105 105,4 113 119 119,105

73 73 156f. 39 40 310 73 306

Matthäus 5,14 11,28 20,25f. 28,19

112 308 162 320

Markus 10,42f.

162

Lukas 22,25f.

162

Apostelgeschichte 2,42 315

364 Römerbrief 7,7–25a 7,14–25 10,17 11,36 12,2 12,9–16 13,1–7 13,4 13,6

Bibelstellenregister

333 333 306 66 25 112 238, 291 162 323

1. Korintherbrief 11 309 11,17–34 310 11,20–29 309 12 234–236 12,12 112 13,13 338

2. Korintherbrief 3,18 7 Epheserbrief 4,4 6,23

112 9

Philipperbrief 3,20a

320

1. Timotheusbrief 2,1f. 323 Johannesapokalypse 21,1–22,5 99 21,3 112

Sachregister

Abendmahl  298, 302–316 –– Erinnerungsmahl 311 –– Eucharistie(feier)  312, 315 –– Mahlfeier 315f. –– A. als „widergedächtnis“ 311–314 Affekt  199f., 313, 340f. Almosen  314–316, 324–326 Altes Testament  43, 52f., 113f., 127f., 225f., 302, 312f. Analogie (analogia)  63f., 69f., 88f. Ansbacher Ratschlag  214f. Aristotelismus, aristotelisch  18–28, 84, 340–342 Aufklärung  10, 31, 33, 210, 241f. balance of power  345f. Baptisten, Baptismus  42, 122–125, 268 Barmer Theologische Erklärung 33f., 36, 90, 159–163, 165f., 238, 280–291 –– 2. These (Barmen II)  64, 174, 238 –– 3. These (Barmen III)  36, 281–283, 286f. –– 4. These (Barmen IV)  162, 289 –– 5. These (Barmen V)  28, 159–163, 291 Bekennen  191, 310, 314 Bekennende Kirche  274, 286 Bekenntnis  124, 148, 317–319, 324f.

Bekenntnisschriften, Lutherische 148, 152, 154 –– Confessio Augustana  146, 148–152, 159, 172 –– Großer Katechismus  172 Bekenntnisschriften, Reformierte 154, 159f. –– Berner Thesen  180, 305 –– Confessio Helvetica Posterior 154 –– Heidelberger Katechismus  29, 159f., 290, 325f., 362 Bergpredigt 112f. Bildung  20, 33, 78, 116f., 190, 228f. Bund (foedus)  11, 29–31, 39–74, 85f., 105–115, 127f., 136–141, 155, 223–226, 317f. –– Bundestheologie, bundestheologisch  11, 28, 30f., 40–46, 48, 51–53, 56–58, 65–69, 71–73, 85f., 105f., 109, 126f., 137f., 221–226 –– Gnadenbund  30f., 65–74, 127, 317f. –– Bundesschweigen  30f., 42–48 –– Völkerbund  138–141, 158 Calvinismus, calvinistisch  2f., 9f., 21, 29, 78, 87–89, 132f., 154–158, 220–263, 267–270, 287, 318 Christianisierung 213 –– Christianisierungsstrategie 35, 254–258 –– Rechristianisierung  35, 257f.

366 Christologie, christologisch  8, 127f., 191, 198f., 208f., 212– 214, 332f. consociatio symbiotica  11–14, 83–85, 235f. Dämonologik  26f. Dank, Dankbarkeit  39f., 159, 245, 304f., 310f., 314–316, 322 Dekalog  13, 71–73, 89f., 128f., 172, 231f., 237f., 317 Demokratie, demokratisch  34, 41f., 81–83, 101, 155, 185f., 199f., 207f., 241f., 276–285, 293–296, 318f. Demut, demütig  111f., 317, 332 Diakonie, (sozial-)diakonisch 35, 270f., 296 Diskurs, diskursiv  30f., 42f., 45f., 62f., 154f., 167–169, 197, 218 Dreiständelehre 170–173 Ebenbild 7f. Ehre Gottes  68f., 252, 255, 304, 321 Eigengesetzlichkeit, eigengesetzlich  153, 188, 193, 198f., 212–214, 221f., 237–239, 292f., 322 Erinnerung  36f., 160, 276f., 311–314, 324–326 Erwählung  64f., 69, 136–138 Erzählung, erzählen  62, 102f., 128, 248f. Eschatologie, eschatologisch  1f., 5–9, 26–28, 99, 160f., 191, 208 Eschatologik 26–28 Ethik  5, 7–9, 25–38, 42f., 71–74, 136, 172f., 192–197, 297–301, 304–306, 316, 324–326

Sachregister

–– christliche E.  43, 71f., 297f., 306 –– deontologische E.  63, 335 –– diskursive E., Diskursethik  63, 324 –– E. der Buße  37, 317–319, 324–326 –– E. der Gabe  37, 314–316, 324–326 –– E. der Erinnerung  36f., 311–314, 324–326 –– E. des Wortes Gottes  36f., 304–306, 324–326 –– E. rechtserhaltender Gewalt 142–163 –– Friedensethik, friedens­ ethisch  33f., 73, 144–146, 155f., 160 –– Gebotsethik  25, 306 –– Gemeindeethik  36f., 324–326 –– Individualethik, individual­ ethisch  173, 344 –– kirchliche E.  324–326 –– politische E.  7f., 10, 16–18, 25–30, 34–36, 45, 66, 92, 153, 187–197 –– Rechtsethik  45, 144, 155f. –– Sozialethik  9, 73, 172f., 344 –– theologische E.  5, 25f., 63f., 203f., 298f. –– theozentrische E.  37, 252–254, 319–326 –– Tugendethik, tugendethisch 37f., 304, 327–348 Ethos  4, 36–38, 155, 280f., 297–301, 305f., 315f., 318, 324–326 Evangelium (und Gesetz / Politik) 9, 73, 147, 212, 288, 322

Sachregister

Feind (feindlich), Feindschaft, Feindbild  13, 17, 53, 60, 109, 112, 118, 185, 206, 248, 322 Föderalismus, föderalistisch (föderal)  14, 47, 82, 91–95, 118, 138, 242 –– Föderaltheologie, föderal­ theologisch (siehe Bund) Freiheit, freiheitlich  31, 35, 44, 63, 69–73, 76, 79, 95, 100, 118–134, 137, 141, 152, 155, 161, 167, 176, 180, 182, 188, 203f., 210, 245–251, 265–269, 277–279, 288, 296, 299, 323, 345f. Freude  1, 6, 45, 112, 114, 290, 310 Freund, Freundschaft  16, 47, 67, 206, 337 Frieden (pax)  9, 13f., 17f., 27f., 33, 60f., 64, 70, 73, 109, 112, 116, 127, 129, 131, 138f., 141, 144–152, 155–162, 183, 196, 276, 291, 322 –– Augsburger Religionsfrieden 220 –– Frieden durch Recht (Kantsche Idee)  33, 138–140, 144, 152 –– iustitia et pax  160 –– Westfälischer Frieden  157, 220, 239 Fürbitte für die Obrigkeit  51, 319–325 Gabe  17, 38, 46, 57, 60f., 147, 156f., 174, 226, 235f., 269, 290, 299, 309, 314–316, 336–339, 343 –– Ethik der Gabe (siehe Ethik) –– Gabetheologie  336–339 Gebet  37, 97, 253, 258, 304, 310, 314–316, 319–323, 328

367 –– Gelassenheitsgebet (serenity prayer)  37f., 327–348 –– Unser-Vater-Gebet  317f., 328 Gebot (siehe auch Dekalog)  25, 58–61, 72f., 106–108, 129, 132, 144, 153, 159f., 172, 202, 211, 230, 232, 237f., 306, 316, 319–321 –– Erstes Gebot  53 –– Gottesgebote (Dekalog)  13, 89 –– Gebotsethik (siehe Ethik) –– mandatum concretum, manda­ tum concretissimum 306 –– Viertes Gebot  172 –– Zehn Gebote (siehe Dekalog) 72f. Geist, Heiliger  112, 132, 208, 235f., 286, 293, 299, 310, 316f., 321 Geistliche, geistlich  108, 118, 128, 130, 133, 170, 236, 292, 294, 311, 331 –– geistliche(s) Gewalt, Regiment, Schwert  146f., 151, 212, 236, 238f., 256 –– geistliches Ministerium  285 –– geistlicher Staat (spiritual state) 129 Gelassenheit (serenity, siehe Gebet) 327–348 Gemeinde, gemeindlich  36–39, 57, 73, 88, 106, 123, 147, 160, 207, 234–236, 265, 280, 282– 297, 302–326 –– Christengemeinde und Bürgergemeinde  90, 238, 279, 282f. –– Gemeindeethik (siehe Ethik) –– Gemeindeleitung 89 –– Gemeindekirche 36 –– Landgemeinde und Stadtgemeinde 14

368 Gemeinschaft, gemeinschaftlich 8, 10–18, 22f., 47, 68, 73, 76, 84–97, 106–109, 112, 127, 142, 165, 171–175, 179, 181, 190– 196, 230, 237–241, 264–266, 284, 290, 294f., 298, 307–312, 315f., 319, 330, 340 –– Bundesgemeinschaft  107 –– Lebensgemeinschaft als con­ socia­tio  10–13, 26, 31, 75, 83–87, 91–93, 226, 235, 241, 265 –– Gemeinschaftsleben als vita symbiotica  11, 13, 83–86, 235 –– Geschlechtergemeinschaft  217 –– Jüngergemeinschaft  162 –– Völkergemeinschaft  139–141 Gerechtigkeit, gerecht (iustutia/ ius­tice)  13, 27, 50f., 55f., 63, 73, 95, 98, 100, 115, 156–160, 224, 237, 265, 304, 317, 319, 337, 340, 345f. –– göttliche und menschliche Gerechtigkeit 153 –– gerechter Frieden – gerechter Krieg  144f., 148–160 –– Werkgerechtigkeit  128, 337 Geschichte, geschichtlich (history) 2, 5, 7, 14, 24, 31, 44, 50f., 62, 64f., 69, 74, 90, 104, 107, 112, 117, 125, 153, 155, 165–168, 175, 179f., 188–190, 194, 202f., 207, 210f., 215, 218, 239, 245f., 249, 254, 259, 267–270, 277– 281, 296, 299, 301, 312–314, 332, 340 –– Befreiungsgeschichte  72 –– Begriffsgeschichte  99, 167, 170f. –– Bundesgeschichte  43, 67, 69 –– Ethikgeschichte  37, 85, 165, 167, 177, 199

Sachregister

–– Frömmigkeitsgeschichte  30 –– Geschichtspositivismus  103 –– Geistesgeschichte  30, 83, 133f., 203, 218, 241, 252, 339 –– Geschichte des Christentums 128 –– Geschichte Israels  64, 107, 127 –– Geschichtshermeneutik  174 –– Geschichtstheologie  110, 112, 176, 333 –– Geschichtswissenschaft  169 –– Heilsgeschichte  53, 72, 104, 127, 137, 313 –– Ideengeschichte  10, 15, 32, 41, 99, 110, 120, 152, 167, 239 –– Kirchengeschichte  179, 220, 253, 280 –– Kulturgeschichte  3, 30, 143 –– Problemgeschichte  31, 34 –– Rechtsgeschichte  14, 65 –– sensus historicus  149 –– Theologiegeschichte  29, 40, 164, 171, 192, 199 Gesellschaft, gesellschaftlich  10–17, 23, 31, 34, 41, 45, 58, 62–65, 73, 81–95, 106, 113–118, 127, 131, 144, 162, 167, 173f., 178, 202, 210–218, 223, 227, 235f., 242, 249, 252, 263–271, 276, 279, 283, 295, 310f., 332 –– Gesellschaftsvertrag  31, 48–57, 62, 71, 111, 241, 250 Gewissen (conscience)  129–134, 139, 151, 174, 253, 255 –– community of conscience  119f. –– Gewissensfreiheit  120, 125, 129–134, 137, 251, 268 Glaube (fides)  4f., 47, 54, 59, 103f., 111, 121, 123f., 128–131, 135, 137, 151, 164, 167, 189,

Sachregister

369

195f., 226, 239, 257, 269, 290, 295, 302–312, 316, 322, 328, 332, 338, 340 –– Glaubensartikel  90, 166, 208, 212 –– Glaubensflüchtling  125 –– Glaubensfreiheit  121, 134 –– Glaubensgehorsam  190, 214, 286 –– Glaubensgeschwister  108, 123 –– Glaubensgewissheit 33 Gleichheit  51, 68, 121, 283, 290, 345f. Global 144 –– globale Krise/globales Problem 24, 121 Glückseligkeit, glücklicher Zustand  22, 156 Gnade  61, 67–72, 84, 88, 128, 210, 252, 269, 287, 310, 316, 318, 327, 332f., 336, 338f., 344f. –– Gnadenbund (siehe Bund) –– Gnadencharakter  68, 128, 224, 339 –– Gnadengabe  57, 226 –– gratia infusa  338 –– gratia praeveniens und conse­ quens  109, 337 –– Primat der Gnade  38 Gottesdienst, gottesdienstlich 36–40, 74, 120, 129, 207, 255, 286, 296–326, 330 –– politischer G.  322 Gut  12, 22, 83, 147, 316, 335

Heiligung (sanctificatio)  9, 58, 128, 208, 248, 317, 319 Hermeneutik, hermeneutisch 14f., 127, 142, 174f., 199, 217, 246, 306, 344 Herrschaft, Herrscher, herrschaftlich  14, 26, 31, 48–57, 63, 78, 81f., 86, 88f., 93, 95, 123, 134, 149, 151f., 162, 165f., 172, 174, 182, 195, 200, 213, 224–228, 232, 237–242, 249, 258, 278, 280, 283, 289, 305, 321–323 –– Gottesherrschaft 194f. –– Herrschaftsbund  44, 48 –– Königsherrschaft (siehe dort) Hoffnung (spes)  5f., 39, 100, 110, 128, 208, 338 –– Theologie der Hoffnung  44 Humanismus, humanistisch  20f., 228, 234, 337 Humanität, Humanisierung  73, 141, 167, 180

Haltung (habitus)  1, 15, 81, 121, 137, 191, 215, 295, 320, 334f., 337–339, 343, 346 Handlung  45, 73, 97, 106, 109, 151, 202, 237, 308, 335, 338 –– Handlungstheorie, handlungstheoretisch 344

Kampfbegriff  34, 167, 169, 216, 218, 266 Kapitalismus, kapitalistisch  256 Kirche, kirchlich (ecclesia)  3, 5, 32, 34, 36, 43, 46, 78, 88, 106, 118–120, 123–130, 146–155, 159–161, 171–174, 179–181,

Identität  45, 102, 104, 115, 142f., 219f., 222 Institution, institutionell  13f., 26, 46, 49, 80, 88f., 94, 124, 140, 144, 153, 167, 176f., 181, 217, 227, 243, 277, 287 Israel  43, 52–54, 66, 69f., 85, 90, 108f., 112f., 126f., 235, 255, 310 –– Geschichte Israels (siehe Geschichte) –– Israeltheologie  43, 48

370 188, 195–197, 207, 210, 213, 216f., 221, 223, 236, 245, 255–257, 268f., 274–296, 303, 305, 308f., 314f., 319, 322f., 326, 330–335 –– Kirchengeschichte (siehe Geschichte) –– Kirchenkampf  165, 176, 180, 182, 199, 218, 274, 285f., 292 –– Kirchenordnung  36, 280–285, 323 –– Kirchenregiment  36, 231, 281–283, 286 –– Weltkirchenkonferenz 186, 274 Königsherrschaft (Jesu Christi) 165–167, 199, 207, 238 Kommunitarismus, kommunitaristisch  11, 35, 83f., 114, 117, 263, 265f., 334 Konfession, konfessionell  30, 33–35, 42, 54, 83, 123, 142f., 146, 164f., 170, 173, 199, 218–222, 231, 234, 249, 256, 267f., 288, 299f., 318 –– konfessionelle Identität  219 –– konfessionelles Zeitalter  29, 170, 220, 223, 231 Konstantinismus, konstantinistisch  35, 213, 252, 254f. Konstellationsforschung 171 Kontext  31, 36f., 45, 63, 84, 135, 148, 169, 174, 177, 203, 209, 212, 214, 218, 234, 240, 259, 309, 324, 335, 340f., 346 Kontraktualismus, kontraktualistisch  11, 30, 48–50, 62–64, 71, 82, 85, 109, 111, 139f., 249f. Kreuz Christi  73, 254 Kirchenregiment (siehe Kirche) Kultur  3, 41f., 45, 51, 60, 76, 101–103, 122, 141, 167, 178,

Sachregister

181, 197, 202, 212–216, 247, 252f., 257–259, 262, 264, 277, 338 –– Kulturgeschichte (siehe Geschichte) –– Kulturprotestantismus 168 –– Kulturwelt 34 –– Kulturwissenschaft 169 Kunst (ars)  10, 16–28, 85, 255, 266, 269, 271, 341–345 –– Kunst des Zusammenlebens (ars consociandi)  16, 25 –– ars interrogandi  25 –– ars inveniendi  24 –– ars politica  16, 18, 24 –– artes liberales  20, 228, 269 Leben, christliches (vita christia­ na)  6, 21, 73, 97, 326 Leib, leiblich  12, 85, 112, 131, 160, 304, 307–315, 319 Leidenschaft, leidenschaftlich 279, 328, 339 –– Leidenschaftslosigkeit 340 Liberalismus, liberal  50f., 55, 65, 96f., 121, 133, 179, 187f., 190, 202, 205, 207f., 212, 228, 241, 275, 282f. –– antiliberal  169, 205, 212–215 –– Liberalismuskritik  205, 207f. –– liberal movement 344 Liebe (agape)  9, 70, 106, 108, 112, 172, 203, 216f., 232, 265, 311, 315, 338, 344–346 Liturgie, liturgisch  36f., 39, 297–326 Lutheraner / Luthertum / lutherisch  3, 33f., 79, 88, 142f., 146–154, 159–166, 170–177, 183, 199, 211f., 216, 218f., 231, 238, 257, 281, 285f.

Sachregister

Lutherrenaissance  173–177, 180, 191, 209 Macht  7, 14–17, 27, 36, 60, 67, 88–95, 101, 112, 121, 151f., 162, 167, 169, 175, 185, 188, 190–197, 223f., 227f., 236, 240, 250, 253, 255, 259, 269, 275, 284, 287–296, 339f., 344 Maxime  157, 199, 233 meditatio futurae vitae  6 Mensch  1, 7–18, 22–33, 37, 43–47, 51–54, 57–76, 83–86, 95–103, 106–112, 116f., 124, 129, 131–133, 138, 147, 153– 167, 172–175, 181, 188–197, 203f., 208–211, 214–217, 224, 227, 235f., 249–254, 260, 266– 273, 288–291, 298f., 301–306, 309–312, 318–322, 332–340, 345f. –– Menschenrechte  14, 43f., 96f., 102, 121, 141, 144, 155 Mentalität  76f., 81, 281, 293 –– Mentalitätsgeschichte  99, 113 Mittelalter, mittelalterlich  20, 52, 56, 65, 151, 153, 158, 301, 309 Moral, Moralität, Moralismus, moralisch  2, 5, 21, 55, 59, 63, 72, 106, 114f., 118, 135, 137, 200, 233, 264, 300, 333–339, 344 Mut  38, 116, 197, 253, 276, 328f., 336–348 Nachahmung (imitatio)  19, 24 Nachfolge  311 Narrativ (das)  32, 35, 104, 122, 248f. Nation, national  46, 92f., 101–106, 116f., 121f., 128, 130, 132, 139, 144, 166, 175, 189,

371 242, 248f., 251f., 257, 260–262, 277, 344 Nationalismus, nationalistisch 98, 113, 195f., 259f. Nationalsozialismus, nationalso­ zialistisch  2, 165, 170, 182, 202, 214–218, 281 Naturrecht, naturrechtlich  50, 62, 81–83, 95f., 124, 133–135, 148f., 188, 194f., 204, 217, 223, 255f., 265 Neocalvinismus, neocalvinistisch 29, 182 Neutralität, weltanschauliche  13, 57, 255f., 269 Neuzeit, neuzeitlich  2, 15, 30–32, 48–52, 55, 62, 74, 85, 91, 99, 106, 111, 124, 133, 137–139, 151f., 157f., 221, 340 Niederlande, niederländisch  29, 34, 41, 69, 78–80, 93f., 182, 231, 247f., 251, 257f., 264, 270f., 285, 331 Norm, Normkritik  26, 62, 144, 157, 163, 194, 204, 217, 233, 236f. –– Normativität, normativ  15, 63, 102, 135f., 144f., 200, 204, 217, 233 Obrigkeit  36f., 82, 88, 123, 131, 147, 150f., 162, 171, 209, 221, 224, 230f., 236–240, 253–256, 265f., 277, 281, 291, 294f., 319–325 Öffentlichkeit, öffentlich  30, 87, 90, 95, 123, 125, 156, 197, 258, 274, 278, 292, 302, 323, 328f. Ökonomie, ökonomisch  3, 50, 117 Ökumene, ökumenisch  43, 185f., 194, 256, 300, 328

372 Offenbarung (revelatio) 120, 174, 191, 194, 208, 232, 254, 268, 316, 319 Ordnung, Ordnungen  13, 21, 42, 47, 50, 62, 64, 82, 87, 95, 105, 126f., 131, 144–150, 153, 157, 162–177, 188–199, 211–219, 225–231, 237–242, 262, 266, 291, 302, 305, 325 –– Abendmahlsordnung  302–312 –– Friedensordnung  139, 144 –– Gottesdienstordnung  36f., 307, 314–325 –– Kirchenordnung  36, 280–296, 323 –– Rechtsordnung  13, 144, 149f., 158f., 200, 204 –– Schöpfungsordnung (siehe Schöpfungsordnung) –– Sozialordnung, Gesellschaftsordnung  50f., 55, 63, 86, 127, 212 –– Staatsordnung  147, 282 –– Völkerrechtsordnung  144 –– Wertordnung  62 Ordnungstheologie, ordnungstheologisch (siehe Theologie) Orthodoxie  9, 21, 40, 124, 171f., 271, 300 Parlament, parlamentarisch  36, 121, 125, 185, 207, 241, 274– 283, 288–292, 296 Parteien  13, 46, 62, 116, 169, 178, 200, 207, 215, 258, 275, 292 Partizipation, partizipatorisch 12, 26, 83, 105, 144, 218, 235, 264f., 282, 298, 316 peregrinatio  100, 238

Sachregister

Philosophie, philosophisch  21, 23, 44, 50, 54, 62–64, 71, 74, 81, 179, 192, 228, 250, 341 Pietismus, pietistisch  41, 270, 287, 329 Plural  98, 133 Pluralismus, pluralistisch  33, 35, 92, 117, 119f., 122, 143, 154, 207, 267–269 poiesis 22–24 Politik, politisch  3, 7–13, 16–32, 34f., 37, 41–51, 56–59, 63–66, 73–98, 104–106, 113–122, 125–127, 131–137, 142, 144, 147f., 151–158, 161–170, 178– 193, 195–207, 210, 212–215, 219–229, 231–241, 245–248, 252, 256–261, 265–269, 271– 277, 282, 292f., 296, 301–304, 318–325, 328f., 333, 345–347 –– policy 13 –– politics  13f., 26, 83, 105, 117, 127, 139, 335 –– polity  13, 92 Politikwissenschaft, politikwissenschaftlich  13, 17f., 21–23, 25f., 78, 230, 333 Politologik  26–28, 77, 126 Prädestination, prädestinatorisch 3 Praxis, praktisch  19, 21–24, 37, 57, 60, 64, 72, 179, 182, 189f., 199f., 217, 223, 228, 230–232, 294, 297–299, 308f., 319–321, 324f., 341 Problemgeschichte, problemgeschichtlich  31, 34 Protestantismus, protestantisch 9, 20, 28, 36, 83, 133–135, 146, 153, 179, 185–187, 193, 201, 216, 231–233, 258, 275, 281, 287

Sachregister

–– Linksprotestantismus, linksprotestantisch 274 Puritanismus, Puritaner, puritanistisch  3, 29, 32, 41f., 99, 103–108, 110, 113f., 118f., 123, 125–127, 130–133, 137–139, 143, 240 Ramismus, ramistisch  20f., 228–230 realism, Christian  333f., 343, 345 Recht, rechtlich  5, 13, 15, 22, 31, 33, 48, 50f., 64, 69–71, 76–79, 82, 86f., 90, 94–96, 101, 111, 118, 121f., 128, 134–137, 140–152, 156–163, 174, 181, 186, 189, 191–193, 200, 210, 223–227, 230–241, 247, 250, 253, 265, 269, 282, 287, 290– 292, 298, 321–324 Rechtfertigung (iustificatio) 62, 135f., 176, 199, 291, 317, 333, 344 Reformation, reformatorisch  3, 9f., 21, 29, 33, 41, 121, 132– 134, 149, 153–155, 162, 180, 204, 235, 239, 253, 281, 285, 300, 305, 308, 314, 318, 332, 337f. –– reformatio doctrinae 285 –– reformatio vitae  21, 226, 285 Reformiertentum, reformiert 2–11, 14, 16, 20, 25–36, 39–42, 46, 48, 52, 58, 66–69, 72–75, 78, 83, 85, 89, 142–147, 156–159, 165, 170, 182, 205, 218–223, 226, 231–234, 239, 242, 247, 270, 279, 281–287, 290, 300– 302, 307, 314, 324f., 330 Reich Gottes  5f., 160, 177, 296

373 Revolution, revolutionär  34, 79–81, 117f., 121, 134, 143, 154, 164, 168–170, 177, 185, 205, 209, 215–218, 230, 241, 247f., 259, 269f., 301, 309 –– antirevolutionär  35, 168, 248, 257f. –– konservative R.  34, 169f., 209, 216–218 Säkularisierung  51, 57, 114, 154, 201, 221 Säkularität  58, 62, 114, 116, 134f., 139, 151, 192, 213, 223f., 255, 269, 321 Sakrament  147, 286, 307, 313, 326 –– sacramentum et exemplum 226, 233 Schöpfung  7, 57, 60, 166, 176, 190–192, 194, 208f., 216f., 263, 299, 305, 338 –– Neuschöpfung  1f., 188, 195 Schöpfungsordnung  34, 164– 177, 188, 190–199, 205, 208– 219, 252, 257, 262, 266 Schrift, Heilige (sacra scriptura) 15, 159, 162, 226, 235, 298, 302–305, 324 Selbst, Selbstbilder  6, 50, 55, 61, 70f., 95, 104, 115, 121f., 126, 209f., 276, 328, 331, 333, 337f., 340 Schuld 58 –– Schuldbekenntnis  37, 274, 317–319, 324f. Sphärensouveränität  35, 250, 252, 263–269 Solidarität, solidarisch  59, 337 Sozialismus, sozialistisch  180, 185

374 –– religiöser S.  168, 177, 179– 181, 188f., 215, 270, Staat (res publica), staatlich  3, 13–17, 27, 34, 36, 41, 48–52, 57, 59, 61, 77f., 80–95, 107, 118–120, 127–135, 138–154, 159–165, 173f., 178, 182, 185, 188–202, 205, 207, 211–215, 221, 223, 227f., 230–235, 241f., 245, 249–269, 274–277, 280– 283, 287f., 290–296, 321–323, 341 Stoa, Stoiker, stoisch  62, 157, 331, 337, 339f. story  37, 65, 72, 311, 313, 324f. Streben  4, 16, 27, 135, 190, 195, 257, 338 Subjekt  27, 37, 49, 70f., 73, 94, 103, 106–108, 138, 161, 194, 204, 272, 287, 299, 307f., 313, 332, 334 Subsidiarität  10, 82f., 93–95, 242, 264, 288 Symbiose, symbiotisch  10–13, 16–18, 24, 31, 35, 48, 57, 75, 77, 83–87, 94–96, 226, 235f., 266 Synode, synodal  36, 88, 155, 159, 180, 274–296 Täufer, Täufertum, täuferisch 124, 147, 235 Telos, Teleologie, teleologisch  4, 22f., 62f., 100 Theokratie, theokratisch  28, 118, 120, 128–130, 132f., 137, 153, 254f. Theologie, theologisch –– altprotestantische Theologie 19, 21 –– Befreiungstheologie  44

Sachregister

–– calvinistische Theologie / Theologie Calvins  6, 9, 78, 81, 123, 155, 233, 235 –– dialektische T.  29, 69, 177, 180, 197, 199, 205, 218 –– Föderaltheologie / Theologie des Bundes (siehe Bund) –– Israeltheologie  43, 48 –– liberale T.  179, 205 –– Ordnungstheologie  34, 166, 173–177, 188, 193, 199, 211– 219, 262 –– politische T.  27f., 35, 178, 182f., 187, 193, 198, 200–202, 205, 214, 245f., 272 –– puritanische Theologie  108, 113f., 125, 127, 137 –– reformierte Theologie  5, 21, 41, 85, 158, 221, 233, 317 –– T. der Hoffnung  44 –– T. des Wortes Gottes  199, 205, 211 –– Theologiegeschichte/theologiegeschichtlich  29, 40, 164, 171, 192, 199, 252 –– theologische Religionskritik 136 Theozentrik, theozentrisch  35, 37, 109, 252, 254, 319–323, 325 Tradition, tradieren   7, 13f., 20–26, 33–38, 44, 48, 53–56, 62f., 67–72, 82, 85f., 90, 94, 96, 108f., 114, 116, 130–133, 139, 142–146, 152–159, 162–171, 178, 191, 199f., 212f., 225f., 228, 234, 247f., 259, 277f., 281–286, 297–309, 312–319, 324f., 340–343 Traum, amerikanischer (American Dream)  32, 98–104, 111, 115, 117, 120–122, 133, 136–141

Sachregister

Trinität, trinitarisch  208, 214, 314, 316, 320f. Tugend (virtus)  37f., 84, 270, 304, 328f., 335, 337–347 –– Kardinaltugenden 340f. –– theologische T. (Glaube, Liebe, Hoffnung)  338 –– Tugendlehre  335, 337f., 340 Universalismus, universalistisch  73, 100, 256, 271 Universalität, universal  5, 64, 87, 91, 134, 138, 150, 161, 168, 237 Urteilen  35, 103, 114, 142, 147, 151, 159, 189, 196f., 203f., 246, 254f., 300, 341f., 345 Utopie, utopisch  5, 16, 113, 270, 290 Verantwortung  95, 104, 159, 186, 203, 291, 323, 328, 343, 347 Vernunft (ratio)  28, 50, 54, 62, 158, 188, 190, 209, 214, 227, 229, 231, 320, 328 Versöhnung  67, 69f., 179, 185f. Vertrag, vertraglich  11f., 15, 31, 45–58, 62–66, 71f., 82–89, 93, 106f., 109, 111, 224f., 227, 237, 240f., 249f. –– Vertragstheorie  11, 30, 48–53, 55–66, 71–73, 85, 106, 223f., 249 Vision, visionär  1–16, 21, 24, 31–35, 75–77, 81–96, 100, 117, 119, 136, 140, 161, 202, 242, 244, 334 viva vox evangelii 37 Völkerrecht, völkerrechtlich 138, 144f., 149, 157f., 163, 231

375 Volk  5, 15, 30, 43f., 48, 53–57, 72, 82, 85–95, 101, 106–113, 126f., 132–141, 144, 155f., 158, 162, 165, 174–176, 188–196, 200, 205, 209f., 214f., 224–227, 230, 235, 237, 240f., 249–253, 257–262, 267, 270f., 277f., 282, 287, 289, 301, 307, 309, 319f., 342 –– völkisch  12, 35, 174–176, 185, 194, 209f., 214, 252, 258, 260, 262 Vollkommenheit  8, 27, 345 Weimarer Republik  34, 167– 170, 174, 177f., 181–187, 197, 199f., 203, 212f., 218f., 226 Weisheit, weisheitlich  5, 26, 38, 112, 129, 136, 328f., 334–348 Weltkrieg, Erster  88, 174, 177, 179, 183, 207, 215, 259f. Weltkrieg, Zweiter  213, 341, 347 Werk(e)  23f., 64–67, 74, 97, 109, 112, 128, 159, 204, 288, 310f., 316, 337f. Widerstand  31, 41, 44, 55f., 79, 82, 86f., 164, 221, 224f., 227, 230, 237, 240, 242, 341 Wirkungsgeschichte, wirkungsgeschichtlich  2, 32, 41–43, 105, 134, 222, 240, 252, 280, 328 Wort (Gottes)  36, 67, 132, 147, 159, 162, 196f., 199, 202, 205, 207, 209–212, 239, 255, 299, 304–306, 314, 316, 319, 324–326 Zivilreligion, zivilreligiös  35, 257, 328 Zusammenleben  16–18, 23–26, 31, 33, 37, 46, 57, 59, 75, 84f.,

376 97, 131, 211, 253, 258, 266f., 322 –– gelingendes Z.  7–11, 28, 30, 32–36, 82

Sachregister

Zweireichelehre  129, 132, 137, 146, 149, 151, 154, 165f., 212, 238, 256, 279, 323