Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft: Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens [1 ed.] 9783428478569, 9783428078561


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Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft: Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens [1 ed.]
 9783428478569, 9783428078561

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WOLFGANG WOHLERS

Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft

Hamburger Rechtsstudien herausgegeben von den Mitgliedern des Fachbereichs Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg Heft 84

Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens

Von Wolfgang Wohlers

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Hamburg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wohlers, Wolfgang: Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft : ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens / von Wolfgang Wohlers. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Hamburger Rechtsstudien ; H. 84) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1992/93 ISBN 3-428-07856-X NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0072-9590 ISBN 3-428-07856-X

Vorwort Die nachfolgende Arbeit ist im Wintersemester 1992/1993 vom Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Hamburg als Dissertation angenommen worden. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschließlich November 1992 berücksichtigt werden. Danken möchte ich an dieser Stelle zunächst Herrn Professor Dr. Gerhard Fezer für die stetige und engagierte Betreuung, mit der er die Entstehung dieser Arbeit entscheidend gefördert hat. Seine zahlreichen Hinweise und Anregungen haben mein Verständnis proze.>sualer Strukturen und Zusammenhänge über den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit hinaus maßgebend geprägt. Weiterhin danke ich nicht nur der Universität Hamburg für die Gewährung einer Druckkostenbeihilfe, sondern vor allem auch meinen Eltern, die meinen Werdegang in jeder nur erdenklichen Hinsicht gefördert haben. Ihnen widme ich dieses Buch. Wolfgang Wohlers

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Gegenstand und Gang der Untersuchung I. Problemstellung ..................................................................

19

11. Überblick über den derzeitigen Stand der rechts wissenschaftlichen Diskussion ............................................................................

21

1. Die grundlegenden Arbeiten Eberhard Schmidts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

a) Die Gründe für die Einführung der Staatsanwaltschaft in das deutsche Strafverfahrensrecht ......................................................

21

b) Die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft .............................

23

c) Die Funktion der Staatsanwaltschaft ................................ . . .

25

2. Die derzeit vertretenen Auffassungen zum Institut der Staatsanwaltschaft ..........................................................................

26

a) Die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft .............................

26

aa) Die Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur dritten Gewalt ......

28

bb) Die Auseinandersetzung über die Parteistellung der Staatsanwaltschaft .................................................................

30

b) Die Funktion der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren ..............

32

aa) Die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde ..................

32

bb) Die Funktion der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten nach Anklageerhebung .........................................

33

(1) Die Staatsanwaltschaft als Kontroll- oder Gleichgewichtsorgan .............................................................

33

(2) Die Staatsanwaltschaft als Vertreterin staatlicher oder gesellschaftlicher Interessen ..........................................

35

(3) Die Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft als Teilfunktion innerhalb des prozessualen Erkenntnisprozesses .......

37

(4) Der Staatsanwalt als "Träger der harten Rolle" .............

38

(5) Stellungnahme ..................................................

39

III. Gang der Untersuchung .........................................................

39

8

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil

Die geschichtliche Entwicklung des Instituts der Staatsanwaltschaft im deutschen Strafverfahrensrecht I. Der Meinungsstand zu den Gründen für die Einführung der Staatsanwalt-

schaft ..............................................................................

43

1. Die bisherigen rechtswissenschaftlichen Erklärungsmodelle .............

43

2. Die rechtssoziologische Kritik an dem in der Rechtswissenschaft vorherrschenden Erklärungsansatz ..................................................

45

3. Kritische Würdigung des Meinungsstandes ............. ....... ... ........

47

11. Die Ausgangsbedingungen für die Reform des Strafverfahrens in den deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts .................................

49

1. Einleitung .....................................................................

49

2. Der Inquisitionsprozeß als Vorläufer des reformierten Strafprozesses.

50

a) Die Grundstruktur des Inquisitionsverfahrens ......................... b) Die Ausgestaltung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses ....

50 53

c) Die Mißstände des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens .......

54

3. Die Folgerungen der Rechtswissenschaft aus den Mißständen des Inquisitionsverfahrens ................................................................ a) Einleitung .................................................................

56 56

b) Der Streit um die Abgrenzung des Anklage- und Untersuchungsgrundsatzes ................................................................ aa) Die Vertreter einer formellen Abgrenzung der Verfahrensprinzipien ............................................................. bb) Die Vertreter einer materiellen Unterscheidung der Verfahrensprinzipien ............................................................. cc) Die inhaltliche Übereinstimmung der verschiedenen Ansätze c) Die aus der Sicht der rechtswissenschaftlichen Diskussion des 19. Jahrhunderts anzustrebende Verteilung der Funktionen im reformierten Strafverfahren ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Konzeption der Staatsanwaltschaft als Kontrollorgan gegenüber dem Gericht .................................................... bb) Die Konzeption der Staatsanwaltschaft als Ermittlungs- und Anklagebehörde .......................... :.......................... cc) Zusammenfassung ...... ... ........ .... ...... ............ ... ... ......

57 57 58 58 59 60 61 62

4. Die der partikularstaatlichen Gesetzgebung zur Verfügung stehenden Vorbilder ......................................................................

63

a) Die französisch-rheinländische Staatsanwaltschaft ....................

63

b) Der Ankläger des anglo-amerikanischen Strafverfahrens ............ c) Das Fiskalat ...............................................................

65 66

5. Zwischenergebnis ............................................................

67

Inhaltsverzeichnis

9

1lI. Die Refonngesetzgebung in den deutschen Partikularstaaten vor 1848 ....

67

l. Vorbemerkung ................................................................

67

2. Die Strafverfahrensrefonn in den deutschen Partikularstaaten bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts .................. ...... ........ .......

68

3. Die Forderungen der ständischen Vertretungen nach einer umfassenden Verfahrensrefonn .............................................................

70

a) Die Refonnzusagen in einigen Staaten .................................

70

b) Die Entwicklung in den norddeutschen Staaten .......................

71

c) Die erfolglosen Refonnbemühungen im Großherzogtum Hessen und im Königreich Bayern ...................................................

73

aa) Das Großherzogtum Hessen-Dannstadt ........ ...................

74

bb) Das Königreich Bayern ............ ........ ............ ...... .......

75

d) Die Auseinandersetzungen über eine Strafprozeßrefonn im Königreich Sachsen .............................................................

75

e) Zwischenergebnis .........................................................

77

4. Die Refonngesetze der Jahre 1843 und 1845 .......... ........ ...........

78

a) Die Strafprozeßordnung des Königreichs Württemberg vom 22.6.1843 ............................................ ....................

78

b) Die Strafprozeßordnung des Großherzogturns Baden vom 6. 3. 1845

81

5. Der Stellenwert der Staatsanwaltschaft in den landständischen Bemühungen um eine Verfahrensrefonn .............................................

85

a) Die Staatsanwaltschaft als eigenständiges Refonnziel ................

85

b) Die Staatsanwaltschaft als notwendige Folge einer umfassenden Verfahrensrefonn .............................................................

88

aa) Die Überzeugung von der Notwendigkeit eines staatlichen Anklägers ............................................................

88

bb) Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft als Folge der Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Verfahrens .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

90

c) Die Vorstellungen über die Ausgestaltung der staatsanwaltlichen Verfahrensteilhabe ............................................................

93

aa) Die Bedenken gegen eine Mitwirkung innerhalb des Verfahrens

93

bb) Die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft innerhalb des Verfahrens

94

cc) Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft ................

97

d) Zusammenfassung ........................................................

99

6. Die Entwicklung im Königreich Preußen bis zum Erlaß der Verordnung vom 17.7.1846 ..............................................................

100

a) Die regierungsinterne Refonndiskussion ...................... .........

101

b) Der Polenaufstand des Jahres 1846 als auslösender Faktor der Refonn ......................................................................

105

c) Der Inhalt der Verordnung vom 17.7.1846.... .......... ...... .......

106

10

Inhaltsverzeichnis

IV. Die partikularstaatliche Refonngesetzgebung 1848 bis 1850

107

1. Einleitung .....................................................................

107

2. Die Märzaufstände des Jahres 1848 als auslösender Faktor der Verfahrensrefonn .................................................................

108

3. Die Refonngesetze 1848/50 ...............................................

110

a) Die Schwurgerichts- und Preßdeliktsgesetze 1848 /49 ...............

110

b) Die umfassenden Strafverfahrensgesetze 1848 / 49 ...................

113

c) Die Verfahrensordnungen des Jahres 1850 .................. ..........

116

V. Die Ausgestaltung des refonnierten Strafverfahrens durch die Strafverfahrensgesetze der Jahre 1848/50 .............................................

118

1. Die Aufgabe und Funktion der Staatsanwaltschaft .......................

118

2. Die Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft ............................

120

a) Die Beteiligung am Verfahren vor Anklageerhebung ................

120

aa) Die Frage der Mitwirkung an der Voruntersuchung.. ...........

120

bb) Die Ausgestaltung der Mitwirkung in der Voruntersuchung ...

121

cc) Die gesetzgeberischen Gründe für die Ausgestaltung der Voruntersuchung ............................................................

123

b) Die Ausgestaltung des Eröffnungsverfahrens ..........................

125

c) Die Ausgestaltung des Hauptverfahrens ...............................

126

d) Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft .....................

129

VI. Die Anlehnung der partikularstaatlichen Verfahrensrefonn an das französisch-rheinländische Strafverfahren ............................................

132

1. Die Unmöglichkeit einer eigenständigen Verfahrensrefonn in den deutschen Partikularstaaten .......................................................

134

2. Die Vorteile einer Rezeption des französisch-rheinländischen Strafverfahrensrechts ..............................................................

135

3. Die Fortführung der eingeschlagenen Reformrichtung ........ ...........

137

VII. Die partikularstaatlichen Strafverfahrensrefonngesetze 1851 bis 1870 ....

137

1. Einleitung .....................................................................

137

2. Die Einschränkung der Schwurgerichtsbarkeit ............................

138

3. Die Ausweitung der Refonngesetzgebung auf weitere Staaten..........

139

4. Die Revision der 1848/50 erlassenen Verfahrensgesetze ................

142

a) Das preußische Gesetz vom 3.5. 1852 .................................

142

aa) Die Änderungen hinsichtlich der Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft..........................................................

143

bb) Die Diskussion einer grundsätzlichen Umgestaltung der Funktionenteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht ............

144

Inhaltsverzeichnis

11

b) Die Reform des Strafverfahrensrechts in den thüringischen Staaten

145

aa) Die Funktion der Staatsanwaltschaft ..............................

146

bb) Die Straffung des Zwischenverfahrens ............................

148

c) Die Strafprozeßordnungen der Königreiche Württemberg und Sachsen sowie der Großherzogtümer Hessen und Baden..................

149

aa) Die Übereinstimmung hinsichtlich der Verfahrensmaximen ....

150

bb) Die Auffassungen zur Funktion der Staatsanwaltschaft im reformierten Strafprozeß .................................................

153

VIII. Die Ausgestaltung des reformierten Anklageverfahrens durch die Strafverfahrensgesetze 1852 bis 1870 ...............................................

158

1. Die Beteiligung der Staatsanwaltschaft an der Voruntersuchung .......

158

a) Der Antrag der Staatsanwaltschaft als Voraussetzung für die Einleitung der Voruntersuchung ............................................

158

b) Die Mitwirkung in der gerichtlichen Voruntersuchung...............

159

2. Das Eröffnungsverfahren ....................................................

161

3. Das Hauptverfahren .................................................... ......

163

4. Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft .........................

168

5. Zusammenfassung.... ....................................... ........... ......

171

IX. Die Gründe für die Orientierung am französisch-rheinländischen Verfahren

172

1. Die Vorstellungen von der Funktion des Strafverfahrens als Grundlage der Rezeption des französischen Rechts ...................................

173

2. Die Gründe für die verwirklichte Teilung der Funktionen zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht .............................................

176

3. Die Bedeutung der rechtswissenschaftlichen Diskussion für die Reformgesetzgebung ..................................................................

179

Der Abschluß der Verfahrensreform durch die Reichsstrafprozeßordnung ...

180

1. Einleitung .....................................................................

180

2. Die Vorgeschichte ............................................................

181

3. Allgemeine Bestimmungen zum Institut der Staatsanwaltschaft ........

183

4. Die Verfahrens struktur der Reichsstrafprozeßordnung nach den Entwürfen .........................................................................

185

5. Die Beratungen der Reichstagskommission .......... ............... ... ...

187

a) Die Zuständigkeit für die Beweisermittlung ...........................

187

b) Die Zuständigkeit für die Beweiserhebung ............................

189

c) Die Kompetenz zur Bestimmung des Beweisumfanges ..............

192

d) Zusammenfassung ........................................................

195

x.

12

Inhaltsverzeichnis e) Die weitere Ausgestaltung der staatsanwaltlichen Verfahrensteilhabe

197

aa) Die Anhörungsrechte der Staatsanwaltschaft.....................

198

bb) Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft ................

199

(1) Die der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stehenden Rechtsmittel.......... ...... ..... ..... ............ ..... ............ ......

199

(2) Die Ausgestaltung der Rechtsmittelbefugnis der Staats-

anwaltschaft .....................................................

200

XI. Zusammenfassung ...............................................................

202

Dritter Teil Die Funktion der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten nach Anklageerhebung I. Einleitung .........................................................................

208

11. Die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung ........................

211

1. Die Entwicklung bis zum 1. StVRG ...... ................. .......... ......

211

2. Die Gründe für die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung ..

212

3. Die Auswirkungen auf das Verfahren nach Anklageerhebung .... ......

215

a) Einleitung .................................................................

215

b) Anordnungskompetenzen der Staatsanwaltschaft ......... '" .........

216

aa) Ermittlungskompetenzen der Staatsanwaltschaft.................

219

bb) Beweissicherungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft. ... ... ....

221

cc) Zwischenergebnis ...... ..... ..... ....... ............... ...... ... ....

222

III. Die Staatsanwaltschaft als Hilfsorgan im gerichtlichen Verfahren .........

223

1. Einleitung .....................................................................

223

2. Die derzeitige Ausgestaltung des Funktionsbereiches ....................

224

3. Die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Durchführung gerichtlicher Anordnungen ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22'5 a) Vorbemerkung ... ......... ..... ..... ... ... .... ..... ... ....... ...... ... ....

225

b) Die Unvereinbarkeit einer umfassenden Durchführungsverpflichtung mit der Struktur des reformierten Strafverfahrens .... . . . . . . . . . . . . . . . . 226 c) Die Verpflichtung zur Durchführung gerichtlicher Anordnungen im Rahmen des § 36 Abs. 2 Satz 1 StPO ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 IV. Die Abgrenzung des gerichtlichen und staatsanwaltlichen Funktionsbereichs im Verfahren nach Anklageerhebung .... .......... ............... ..... ... .....

231

1. Einleitung ....................................................... . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Die Änderungen an den Mitwirkungsrechten der Verfahrensbeteiligten in der Beweisaufnahme ......................................................

233

Inhaltsverzeichnis

13

3. Die Änderungen der Beweismittelinitiativrechte der Verfahrensbeteiligten ...........................................................................

234

a) Die Entwicklung bis zum StVÄG 1979 ................................

235

b) Die Neufassung des § 245 StPO durch das StVÄG 1979 ...........

238

4. Zwischenergebnis ............................................................

240

a) Das Fortbestehen der überkommenen Funktionenteilung ............

240

b) Die Antragsbefugnis der Staatsanwaltschaft...........................

241

c) Die Anhörungsrechte der Staatsanwaltschaft ..........................

242

aa) Beschränkungen der Anhörungsbefugnisse .......................

242

bb) Ungeschriebene Anhörungsbefugnisse ....... ... ............. .....

244.

5. Die Etablierung konsensualer Verfahrensstrukturen ......................

246

a) Einleitung .................................................................

246

b) Das Strafbefehlsverfahren als Grundmodell der vereinfachten Verfahrensformen ....... .... ................................ ........ ..... ........

247

c) Die Modifizierung der Verfahrensstruktur durch die §§ 153 ff. StPO 249 aa) Einleitung ............................................................

249

bb) Die historische Entwicklung der §§ 153 ff. StPO ...............

250

cc) Die Gründe für die Ausgestaltung der §§ 153 ff. StPO .........

252

dd) Die Auswirkungen auf die Funktion der Staatsanwaltschaft. ...

255

d) Konsensuale Verfahrensstrukturen innerhalb des Beweisaufnahmeverfahrens .................................................................

256

aa) Vorbemerkung ..... ..... ....... ... ............. .... ..... ....... ......

256

bb) Die Substitution des Zeugenbeweises durch den Urkundenbeweis

256

cc) Die vereinfachten Formen des Urkundenbeweises .... ..... ......

258

e) Die Problematik konsensualer Verfahrensführung und -erledigung über den von der StPO gezogenen Rahmen hinaus ...................

260

aa) Die Bedeutung konsensualer Verfahrens weisen in der Praxis des Strafverfahrens .......................................................

260

bb) Die Unvereinbarkeit von Absprachenpraxis und Verfahrensstruktur de lege lata .................................................

262

V. Die Art und Weise der Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im Verfahren nach Anklageerhebung ..........................................................

269

1. Einleitung .......................................................... ;..........

269

2. Die Verpflichtung zur Kompetenzwahrnehmung .........................

270

3. Der Maßstab für die Kompetenzausübung .................................

272

14

Inhaltsverzeichnis 4. Die Vereinbarkeit des Weisungsrechts mit der staatsanwaltlichen Funktion und Rechtsstellung ......................................................

275

5. Zwischenergebnis ............................................................

278

VI. Die Rechtsmittelbefugnis der Staatsanwaltschaft .............................

278

1. Die Verpflichtung zur Ausübung der Rechtsmittelbefugnisse ...........

278

2. Die Maßstäbe für den Rechtsmittelgebrauch ..............................

280

3. Die Beschwer als Zulässigkeitsvoraussetzung eines staatsanwaltlichen Rechtsmittels ..................................................................

283

VII. Die Problematik des von der Mitwirkung am Verfahren ausgeschlossenen Staatsanwaltes .................................................................... 286 1. Das Mitwirkungsverbot und Ablösungsgebot .............................

286

a) Die Regelungen der Strafverfahrensgesetze ...........................

286

b) Die Verpflichtung als allgemeiner Verfahrensgrundsatz .............

288

2. Fallgruppen des Mitwirkungsverbotes für den Staatsanwalt .............

289

a) Persönliche Betroffenheit ................................................

289

b) Vorbefassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 c) Dokumentierte Voreingenommenheit .. ... ...... ........ ..... ..... ......

292

d) Zwischenergebnis .........................................................

293

3. Die Durchsetzung des Ablösungsanspruches ..............................

294

a) Der bisherige Meinungsstand ...........................................

294

b) Stellungnahme ............................................................

296

VIII. Schlußbetrachtung und rechtspolitischer Ausblick Literaturverzeichnis

302

306

Abkürzungsverzeichnis a. A.

a. a. O. Abs. a. F. AG AGGVG Anm. AnwBI ArchCrimR (NP) Art. BayObLG BayObLGSt BBG Bd. BGBl. BGH BGHSt BGHZ BK BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerwG bzgl. bzw. ders. d. h. DJT DJZ DR DRiZ dto. EGGVG EGStGB EGStPO Einl. evtl.

= anderer Ansicht = am angegebenen Ort = Absatz = alte Fassung = Amtsgericht = Ausführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz = Anmerkung = Anwaltsblatt = Archiv des Criminalrechts (Neue Folge) = Artikel = Bayerisches Oberstes Landesgericht = Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen = Bundesbeamtengesetz = Band = Bundesgesetzblatt = Bundesgerichtshof = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen = Bonner Kommentar = Bundestagsdrucksache = Bundesverfassungsgericht = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts = Bundesverwaltungsgericht = bezüglich = beziehungsweise = derselbe = das heißt = Deutscher Juristentag = Deutsche Juristenzeitung = Deutsches Recht = Deutsche Richterzeitung = dito = Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz = Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch = Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung = Einleitung = eventuell

16 f. (ff.) Fn. FS GA GedS gern. ggf. GG GS GVG h.M. hrsg. HV i. S. d. i. V. m. JA JR JuS Justiz JW JZ Kap. KG KK KMR KritJ LG LR LZ MDHS MDR MSchrKrim m.w.N. NdsRPflege n. F. NJW No. Nr. NStE NStZ o. g. OLG RG RGBl. RGSt

Abkürzungsverzeichnis = folgende = Fußnote = Festschrift = Goltdammer's Archiv für Strafrecht = Gedächtnisschrift = gemäß = gegebenfalls = Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland = Der Gerichtssaal = Gerichtsverfassungsgesetz = herrschende Meinung = herausgegeben = Hauptverhandlung = im Sinne der = iri Verbindung mit = Juristische Arbeitsblätter = Juristische Rundschau = Juristische Schulung = Die Justiz = Juristische Wochenschrift = Juristenzeitung = Kapitel = Kammergericht = Karlsruher Kommentar zur StPO = Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur StPO = Kritische Justiz = Landgericht = Löwe/Rosenberg = Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht = MaunzlDürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz = Monatsschrift für Deutsches Recht = Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform = mit weiteren Nachweisen = Niedersächsische Rechtspflege = neue Folge = Neue Juristische Wochenschrift = Nummer = Nummer = Neue Entscheidungssamm1ung für Strafrecht = Neue Zeitschrift für Strafrecht = oben genannten = Oberlandesgericht = Reichsgericht = Reichsgesetzblatt = Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Abkürzungsverzeichnis RiStBV Rn. RStPO RuP S. SchlHA SJZ SKStPO sog. StA StPÄG StPO StV StVÄG StVRG u. a.

v. vgl. VO VwVfG w.N. b. z. B. ZfStrVerf Ziff. ZRP ZStW z. T.

2 Wohlers

= Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren = Randnummer = Reichsstrafprozeßordnung Recht und Politik Seite Schleswig Holsteinische Anzeigen Süddeutsche Juristenzeitung Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung = sogenanntes = Staatsanwaltschaft = Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG = Strafprozeßordnung = Strafverteidiger = Strafverfahrensänderungsgesetz = Strafverfahrensreformgesetz = unter anderem = vor = vergleiche = Verordnung = Verwaltungsverfahrensgesetz = weitere Nachweise bei = zum Beispiel = Zeitschrift für deutsches Strafverfahren = Ziffer = Zeitschrift für Rechtspolitik = Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft = zum Teil

17

Erster Teil

A. Gegenstand und Gang der Untersuchung I. Problemstellung Neben dem Gericht ist am Strafverfahren mit der Staatsanwaltschaft ein weiteres staatliches Organ beteiligt. Anders als beim Gericht erstreckt sich die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft auf alle Abschnitte des Verfahrens; ihre Verfahrensteilhabe hat im Rahmen des heute geltenden Strafverfahrensrechts allerdings für die verschiedenen Verfahrensabschnitte eine in ihrer Regelungsdichte sehr unterschiedliche Ausgestaltung erfahren. Hinsichtlich des Verfahrens bis zur Anklageerhebung finden sich eindeutige und umfassende gesetzliche Bestimmungen der staatsanwaltlichen Aufgabe und Funktion: Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet einzuschreiten, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte den Verdacht einer Straftat begründen (§ 152 Abs. 2 StPO). Sie hat, unter Zuhilfenahme der ihr zur Verfügung stehenden umfassenden Eingriffskompetenzen (§§ 161 ff. StPO), den zugrundeliegenden Sachverhalt aufzuklären und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob die öffentliche Klage zu erheben ist (§§ 160, 170 StPO). Ist das Erkenntnisverfahren durch eine rechtskräftige Entscheidung des erkennenden Gerichts abgeschlossen, hat die Staatsanwaltschaft gegebenenfalls die Vollstreckung zu leiten (§ 451 StPO). Hinsichtlich der Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im Verfahren zwischen Anklageerhebung und rechtskräftigem Urteil fehlt es an vergleichbar eindeutigen und umfassenden gesetzlichen Bestimmungen. Zwar hat die Staatsanwaltschaft auch in diesen Verfahrens abschnitten mitzuwirken, insbesondere in der Hauptverhandlung ist ihre dauernde Anwesenheit zwingend vorgeschrieben (§§ 226, 338 Nr. 5 StPO). Anders als für die Verfahrensabschnitte vor Anklageerhebung bzw. nach (rechtskräftigem) Urteil, legt das Gesetz aber das Ziel der staatsanwaltschaftlichen Verfahrensteilhabe in diesen Verfahrensabschnitten nicht (ausdrücklich) fest und beschränkt sich bei der Ausgestaltung der staatsanwaltlichen Verfahrensteilhabe im wesentlichen auf punktuelle Regelungen, wie z. B. das Frage- und Erklärungsrecht in der Beweisaufnahme (§§ 240 Abs. 2, 241 a Abs. 2, 257 StPO) und den Schlußvortrag (§ 258 StPO). Eine umfassendere Beschreibung der staatsanwaltlichen Funktion im Hauptverfahren findet sich derzeit allein in den Nr. 127, 128 RiStBV. Die Staatsanwaltschaft hat hiernach dafür Sorge zu tragen, daß das Gesetz beachtet (Nr. 127 2*

20

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Abs. 1 Satz 1), die gesetzlichen Möglichkeiten zur Beschleunigung und Vereinfachung der Hauptverhandlung genutzt werden (Nr. 127 Abs. 2) und die Hauptverhandlung geordnet abläuft (Nr. 128 Abs. 1). Darüber hinaus soll der Staatsanwalt durch Anträge, Fragen oder Anregungen darauf hinwirken, daß die für die gerichtliche Entscheidung notwendigen Umstände umfassend aufgeklärt werden (Nr. 127 Abs. 1 Satz 2, 128 Abs. 2). Den RiStBV kann indes aufgrund ihres Charakters als Verwaltungsvorschrift lediglich innerdienstliche Richtlinienqualität, nicht aber eine über den staatsanwaltschaftsintemen Bereich hinausreichende Verbindlichkeit zukommen, insbesondere können sie eine gesetzliche Regelung nicht ersetzen 1. Bedingt durch das Fehlen umfassender und eindeutiger gesetzlicher Regelungen sind zum einen Probleme bei der Abgrenzung des staatsanwaltlichen und gerichtlichen Funktionsbereichs im Verfahren nach Anklagerhebung aufgetreten, zum anderen ist weder eindeutig geklärt, nach welchen Maßstäben die Staatsanwaltschaft ihre - noch näher zu bestimmende - Funktion in diesen Verfahrensabschnitten auszurichten hat, noch besteht Klarheit über das ihr obliegende Tätigkeitsziel. So ist beispielsweise umstritten, ob die Staatsanwaltschaft auch nach Anklageerhebung weiterhin befugt sein soll, eigenständig Ermittlungen anzuordnen und durchzuführen 2 bzw. eine Verpflichtung besteht, entsprechende Anordnungen des Gerichts auszuführen 3. Ebenso ungeklärt ist die Frage, ob die Staatsanwaltschaft von den ihr im Gesetz eingeräumten Kompetenzen (z. B. §§ 240,257,258,296 StPO) Gebrauch zu machen 4 bzw. nach welchen Maßstäben sie etwa eine Entscheidung über die Ausübung ihrer Rechtsmittelbefugnisse zu treffen hat 5 • Entscheidungserheblich für die oben genannten Problemkreise sind letztlich die Funktion, die der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten nach Anklageerhebung zukommt und die Anforderungen, die sich für ihre Verfahrensmitwirkung aus ihrer Rechtsstellung innerhalb des Verfahrens ergeben. Weiterhin ist die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft Ansatzpunkt und gleichzeitig auch entscheidungserhebliches Kriterium für die Frage, ob ein Staatsanwalt unter bestimmten Voraussetzungen an der Mitwirkung in einem konkreten Strafverfahren gehindert ist bzw. die anderen Verfahrensbeteiligten einen Anspruch auf seine Ablösung haben 6. Angesichts des Fehlens (ausdrücklicher) gesetzlicher Bestimmungen ist die Prozeßrechtsdogmatik gefordert, anhand der strukturellen Vorgaben des Strafverfahrensrechts die Funktionsbereiche der Verfahrensbeteiligten abzugrenzen und 1 LR-K. Schäfer, Ein!. Kap. 3 Rn. 56b; OLG Düsseldorf, NStZ 1989, 88; BayObLGSt 1981, 193 (194). 2 Vg!. unten Kap. C. 11. 3. b) aa). 3 Vgl. unten Kap. C. III. 3. 4 Vgl. unten Kap. C. V. 2.; C. VI. 1. 5 Vgl. unten Kap. C. V. 3.; C. VI. 2. 6 Vg!. unten Kap. C. VII.

1I. Derzeitiger Stand der Diskussion

21

die Anforderungen an ihre Verfahrensteilhabe zu bestimmen. In der bisherigen rechtswissenschaftlichen Behandlung dieser Thematik hat indes gerade die Aufgabe der Staatsanwaltschaft in den Verfahrens abschnitten nach Anklageerhebung nur eine "recht stiefmütterliche Aufmerksamkeit"7 gefunden.

11. Überblick über den derzeitigen Stand der rechtswissenschaftlichen Diskussion Anders als im Rahmen der Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts 1 sind Rechtsstellung und Funktion der Staatsanwaltschaft innerhalb des gerichtlichen Strafverfahrens derzeit in grundsätzlicher Hinsicht nicht mehr Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion. Untersucht man die aus jüngerer Zeit vorliegenden Stellungnahmen zu dieser Thematik, ist zwar eine weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf die generelle Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren festzustellen, es fällt jedoch auf, daß die Funktion der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten nach Anklageerhebung in der Diskussion entweder weitgehend ausgeblendet oder lediglich in Teilbereichen behandelt wird. Als Einstieg in die Thematik soll nachfolgend zunächst die bisherige rechtswissenschaftliche Behandlung dieser Frage im Überblick nachgezeichnet werden. Ausgangspunkt der Untersuchung sind hierbei Arbeiten Eberhard Schmidts, der sich in den Jahren 1944 bis 1964 mehrfach mit dieser Thematik beschäftigt und die derzeit vorherrschenden Auffassungen zu dieser Frage maßgeblich geprägt hat. 1. Die grundlegenden Arbeiten Eberhard Schmidts

a) Die Gründe für die Einführung der Staatsanwaltschaft in das deutsche Strafverfahrens recht In der rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere aber in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die These 2 vertreten, die Einführung der Staatsanwaltschaft in das Strafverfahren sei auf den Gedanken des Parteiprozesses zurückzuführen, die Staatsanwaltschaft sei mit dem Ziel eingeführt worden, die (im Inquisitionsverfahren in der Person des Inquirenten personifizierte) Strafgewalt des Staates aufzugliedern und in zwei Personen in Erscheinung treten zu lassen, um diese dann gegeneinander auszuspielen und sie wechselseitigen Hemmungen und Kontrollen zu unterwerfen 3. Soweit ersichtlich 7

1

2

3

Marx, GA 1978, 365.

Vgl. unten Kap. B. II. 3. c). Vgl. insbesondere Henkel, DJZ 1935,530 (531, 533); ders., DR 1935,277 (278 f.). Vgl. bei Eb. Schmidt, Kohlrausch-FS, S. 275,282 f.

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

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erstmalig in einem 1944 veröffentlichten Beitrag zum Thema "Staatsanwaltschaft und Gericht"4 hat Eb. Schmidt diese These zurückgewiesen und demgegenüber die Auffassung vertreten, die Einführung der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Anklageprozeß im Verlaufe des 19. Jahrhunderts sei nicht als ein Entgegenkommen einer politischen Tendenz gegenüber zu verstehen, sondern müsse als Ergebnis einer von der Prozeßrechtswissenschaft begründeten und getragenen Einsicht "transpolitischer Natur" in die verfahrenspsychologische Notwendigkeit dieser Institution angesehen werden 5. Grundlage seiner Auffassung ist die These, die Strafverfahrensreform des 19. Jahrhunderts habe nicht allein politische Hintergründe und Ursachen gehabt, sondern sei wesentlich von einer wissenschaftlichen Bewegung getragen worden, die "mit der für deutsche Wissenschaft selbstverständlichen Intention auf Wahrheit und Objektivität an die Frage des Verfahrensrechts herangetreten ist und durchaus verstanden hat, dem politischen Schlagwort die ernste wissenschaftliche Sachkunde entgegenzustellen" 6. Anders als bei den rein politischen Forderungen, wie etwa der Öffentlichkeit des Verfahrens? oder der Frage der Schwurgerichtsbarkeit 8, sei es in der wissenschaftlichen Reformdiskussion allein um die Frage gegangen, "wie auf prozessualem Wege und mit justizförmigen Erkenntnismitteln die Wahrheit zu finden sei als Grundlage eines gerechten Urteils."9 Nicht "politische Ideologien und Phraselogien" 10, sondern die der Strafrechtspflege allein angemessene Frage, wie das Ideal, "daß der Schuldige bestraft, der Unschuldige freigesprochen wird" 11, erreicht werden könne, hätte der von der Wissenschaft getragenen Forderung nach Einführung der Staatsanwaltschaft zugrunde gelegen 12. Zwar sei festzustellen, daß (im politischen Bereich) am Anfang die Tendenz bestanden habe, "die Staatsanwaltschaft insofern als Vertreterin spezifischer Regierungsinteressen einzuführen, als ihre Aufgabe darin hat bestehen sollen, der Obrigkeit die Möglichkeit zu geben, gegen Urteile der Gerichte Rechtsmittel einzulegen, eine Möglichkeit, die im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß sich nur für den Inquisiten, nicht aber für den Staat entwickelt hatte, da dieser ja im Inquisitionsprozeß ausschließlich durch den Inquisitionsrichter vertreten war". 13 Diese ursprüngliche Konzeption eines Gesetzeswächters im polizeistaatlichen 4 Kohlrausch-FS, S. 263 ff. 5

MDR 1951, 1 (2).

Kohlrausch-FS, S. 273. ? Vgl. Lehrkommentar Teil I, Rn. 401. 8 Kohlrausch-FS, S. 273; MDR 1951, 1 (2). 9 Kohlrausch-FS, S. 278. 6

10 11 12 13

MDR 1951, 1.

Kohlrausch-FS, S. 263. Kohlrausch-FS, S. 276; MDR 1951, 1. DRiZ 1957,273 (275); MDR 1951, 1.

II. Derzeitiger Stand der Diskussion

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Sinne sei jedoch im Verlaufe der Reformdiskussion zugunsten einer "die ganze Rechtsstaatlichkeit der Reformtendenzen in sich aufnehmenden" Konzeption aufgegeben worden 14. Im wesentlichen anband der Promemoria der preußischen Minister v. Savigny und Uhden vom 23.4.1846 sowie eines Votums v. Savignys vom 22.9.1843 legt Eb. Schmidt dar 1\ daß mit der Aufgabe des Gesetzeswächters nicht gemeint war "eine Kontrolle und Beaufsichtigung der Gerichte, soweit darunter mehr zu verstehen wäre, als die Möglichkeit, im Instanzenzuge ein richterliches Urteil unter dem Gesichtspunkt tatsächlicher oder rechtlicher Fehlerhaftigkeit vor einem höheren Gerichte anzufechten. Gemeint war vielmehr die Aufgabe, ,bei dem Verfahren gegen den Angeklagten von Anfang an dahin zu wirken, daß überall dem Gesetz ein Genüge geschehe' und zwar in dem Sinne, daß die StA ,eben so sehr zum Schutze des Angeklagten als zu einem Auftreten wider denselben verpflichtet sein solle', und gemeint war, weil ,unumgänglich notwendig', ,die Wirksamkeit des StaatsAnwalts als Wächter des Gesetzes nicht erst mit Überweisung eines Angeklagten an die Gerichte, sondern schon bei den vorhergehenden Operationen der PolizeiBehörden eintreten zu lassen, weil sonst ein wesentlicher und oft sehr präjudizieller Teil des Verfahrens einer Kontrolle entzogen geblieben und der Zweck des Institutes (d. h. eben der StA als solcher) in einem erheblichen Umfang durch dessen Einrichtung vereitelt oder doch verkümmert worden wäre'." Diese Auffassung habe der ,,rechtswissenschaftlichen Auffassung jener Zeit vollkommen entsprochen" 16 und sei im wesentlichen von allen großen Prozessualisten der Reformzeit geteilt worden 17.

b) Die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft Die modifizierte Auffassung von der Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren kennzeichnet für Eb. Schmidt den Übergang vom Polizei- zum Rechtsstaat 18. Mit der Einführung der Staatsanwaltschaft in das Strafverfahren habe man das im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß vorherrschende polizeistaatliche Denken ablösen und damit die Rechtsidee als Grundlage des Strafverfahrens aktivieren wollen 19. Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei es, nicht den Macht-, sondern den Rechtswillen des Staates zu repräsentieren 20; sie sei Vertreterin des rechtsstaatlichen Prinzips und Symbol des Gerechtigkeitswillens des Staates 21 • MDR 1951, I (2). MDR 1951, 1 (2); DRiZ 1957, 273 (276); Einführung S. 330 f.; Kohlrausch-FS, S. 282; Lehrkommentar Teil I, Rn. 95. 16 DRiZ 1957, 273 (276). 17 MDR 1951, 1 (2). 18 DRiZ 1957,273 (276). 19 DRiZ 1957,273 (276); Einführung S. 330. 20 DRiZ 1957, 273 (279); Lehrkommentar Teil I, Rn. 95; Lehrkommentar Teil III, § 146 GVG Rn. 5. 21 DRiZ 1957,273 (278). 14

15

24

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Die Staatsanwaltschaft sei zwar kein Organ der Rechtsprechung 22 , wohl aber ein gegenüber den Gerichten selbständiges 23 Organ der Rechtspflege 24, dem gemeinsam mit den Gerichten im Bereich der Strafrechtspflege die Aufgabe der Justizgewährung obliege 25 . Aus der Rechtsstellung als Justizbehörde in diesem rechts staatlichen Sinne folge ihre Verpflichtung zu Legalität 26 und Objektivität 27 und ihre unbedingte Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit 28 . Der in der Rechtswissenschaft zwischen den Vertretern des ,,materiellen" und "formellen" Parteibegriffes ausgetragene Streit um den Parteibegriff im Strafverfahren 29 betreffe ein Scheinproblem ohne sachliche Bedeutung 3o . Dem Parteibegriff könne im Strafverfahren allenfalls insoweit eine konstruktive Bedeutung zukommen, als hierdurch deutlich gemacht werde, "daß die Rechtnehmenden in ihren Prozeßrollen mit dem rechts gewährenden Gericht nicht identisch sind"3!. Angesichts der der Staatsanwaltschaft im gesamten Verfahren obliegenden unbedingten Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit und ihrer Verpflichtung zur Sachlichkeit und Objektivität könne weder die Staatsanwaltschaft als Verfahrenspartei 32 noch überhaupt der Parteigedanke an sich als Grundprinzip des reformierten Anklageverfahrens anerkannt werden 33 . Von einer Partei lasse sich sachlich nur dort sprechen, "wo die vor dem Gericht erscheinenden Rechtnehmenden Interessen vertreten, die vom Staat aus gesehen, auf gleicher Wertebene liegen"34 Dies sei im Strafprozeß nicht der Fall. "Wenn der Staat in der Prozeßsubjektsrolle der Staatsanwaltschaft vor seinem eigenen Gericht als der Rechtnehmende erscheint, so ordnet er sich damit hinsichtlich seiner (materiellrechtlichen) Strafansprüche in rechtsstaatlicher Form der unabhängigen rechtsprechenden Gewalt unter, tritt aber keineswegs auf die Ebene des Beschuldigten. Dem Beschuldigten gegenüber bleibt die Staatsanwaltschaft immer die mit staatlicher Macht ausgestattete Behörde, deren prozessuale Interessen sich mit denen des Beschuldigten überhaupt nicht vergleichen lassen."35 22 MDR 1964,629 ff., 713; Lehrkommentar Teil I, Rn. 96. 23 MDR 1961,269 (271); MDR 1964,629 (632): Lehrkommentar Teil I, Rn. 96. 24 DRiZ 1957,273 (279); MDR 1964,629 (632); MDR 1964,713. 25 DRiZ 1957,273 (279); MDR 1961,269 (271). 26 In MDR 1964,713 weist Eb. Schmidt ergänzend darauf hin, daß die Bindung an Recht und Gesetz unter der Geltung des Grundgesetzes letztlich aus Art. 20 Abs. 3 GG folge. Ausführlich hierzu: Gössel, GA 1980,325 (331 ff.). 27 MDR 1951, 1 (3,7); MDR 1964,629 (632). 28 MDR 1951, 1 (6); DRiZ 1957,273 (279); MDR 1961,269 (271); MDR 1964,629 (632), 713 (714, 718); Lehrkommentar Teil I, Rn. 364, 369; Lehrkommentar Teil III, § 146 GVG Rn. 5. 29 Vgl. insbesondere v. Hippel, S. 224 ff.; w. N. b. Eb. Schmidt, Lehrkommentar Teil I, Rn. 105. 30 Lehrkommentar Teil I, Rn. 106. 3! Lehrkommentar Teil I, Rn. 107; Kohlrausch-FS, S. 285. 32 MDR 1951, 1 (7); Lehrkommentar Teil I, Rn. 96. 33 Kohlrausch-FS, S. 284; Lehrkommentar Teil I, Rn. 106 ff. 34 Lehrkommentar Teil I, Rn. 107.

H. Derzeitiger Stand der Diskussion

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Weiterhin könne von Parteien im Strafverfahren auch aus verfahrensstrukturellen Gründen nicht gesprochen werden. "Echte Parteien" seien solche, die vor dem erkennenden Gericht kontradiktorisch verhandeln, maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung der tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung haben und gegebenenfalls den Streitgegenstand einverständlich ohne Beteiligung des Gerichts beilegen können 36. Im Strafverfahren stritten indes nicht Staatsanwaltschaft und Beschuldigter vor dem Gericht, vielmehr handele es sich um eine Untersuchung durch das Gericht 37. Weder hätten die Verfahrensbeteiligten eine Möglichkeit, über den Prozeßgegenstand zu verfügen 38 noch sei die Staatsanwaltschaft hierzu nach ihrer prozessualen Rechtsstellung überhaupt berechtigt. Auf die ,,(durchaus überflüssige) gemeinsame Benennung und Etikettierung"39 der Verfahrensbeteiligten solle daher besser verzichtet werden, da alle mit dem Parteibegriff sachlich verbundene Vorstellungen von Waffengleichheit, Bindung des Gerichts an den Parteivortrag und Beweislastverteilung zwischen den Parteien mit dem Wesen des Strafverfahrens unvereinbar seien 4O •

c) Die Funktion der Staatsanwaltschaft Die Funktion, die der Staatsanwaltschaft innerhalb des Strafverfahrens zukommt, leitet sich für Eb. Schmidt ebenfalls aus Erkenntnissen ab, die auf psychologischen Einsichten in die notwendige Ausgestaltung eines auf Wahrheit und Gerechtigkeit abzielenden Strafverfahrens beruhen. Die Aufteilung der staatlichen Funktionen im Strafverfahren auf zwei Organe 41 , die Gliederung des Verfahrens in zwei grundlegend verschiedene Abschnitte 42 und das hieraus resultierende "arbeitsteilig-funktionale Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft und Gericht"43 sieht er als eine notwendige Konsequenz der Gebrechen des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens. Als Kardinalfrage der Verfahrensreform sei in der wissenschaftlichen Diskussion seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts allgemein die unhaltbare psychologische Situation des Richters im Inquisitionsprozeß erkannt worden 44 • Dieser sei, beeinflußt durch Vor-Urteile, die aus der ihm übertragenen Ermittlungstätigkeit erwachsen konnten, in der Gefahr gewesen, die notwendige Unbefangen35 Lehrkommentar Teil I, Rn. 106; vgl. in diesem Sinne bereits Feisenberger, DRiZ 1925, 384 (385). 36 Lehrkommentar Teil I, Rn. 108. 37 Lehrkommentar Teil I, Rn. 9, 109, 111; vgl. auch Güde, AnwBI 1961, 3 (4 f.). 38 Lehrkommentar Teil I, Rn. 110. 39 Lehrkommentar Teil I, Rn. 107. 40 Kohlrausch-FS, S. 286; Lehrkommentar Teil I, Rn. 106. 41 Lehrkommentar Teil I, Rn. 93. 42 Lehrkommentar Teil I, Rn. 94. 43 MDR 1964,629 (632). 44 Koh1rausch-FS, S. 278 f.; DRiZ 1957,273 (278).

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

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heit und Unvoreingenommenheit gegenüber der Tat- und Schuldfrage zu verlieren 45 . Um den erkennenden Richter vor dieser Gefahr zu schützen und ihm die Erfüllung seiner urteilenden Funktion zu ermöglichen, sollte er von ermittelnden Tätigkeiten entlastet und auf die Funktion der Prüfung eines von anderer Stelle gesammelten Materials beschränkt werden 46. Da eine Übertragung der frei werdenden Ermittlungsaufgaben des Inquisitionsrichters auf ein anderes (gesondertes) richterliches Organ wegen des zur damaligen Zeit gegenüber den Gerichten bestehenden Mißtrauens nicht möglich gewesen sei 47, seien diese Aufgaben einem anderen staatlichen Organ, der Staatsanwaltschaft, übertragen worden 48 . Gleichzeitig sei hierdurch sichergestellt worden, daß die für die Ermittlungstätigkeit unentbehrliche Tätigkeit der Polizei nicht im Geiste polizeilichen Zweckmäßigkeitsdenkens, sondern nach rechtlichen Gesichtspunkten und unter Beachtung der Gesetze erfolgt 49 . Hinsichtlich des Verfahrens nach Anklageerhebung hebt Eb. Schmidt hervor, daß diese Verfahrensabschnitte unter "initiativer Leitung des Gerichts" stehen 50. Die Hauptverhandlung sei nicht angelegt als ein kontradiktorisches Streitgespräch zwischen Parteien vor dem Gericht, sondern als eine von der Instruktionsmaxime geprägte Untersuchung durch das Gericht 51. In diesen Verfahrensabschnitten erscheine die Staatsanwaltschaft daher "als Organ des vor seinem Gericht rechtnehmenden Staates"52. Neben dem verfahrenstragenden Gericht könne, ja müsse sich die Staatsanwaltschaft auf ein kontrollierendes Beobachten beschränken, soweit der Vorsitzende "sicher, gewandt, erschöpfend alles erörtert, die Verhandlung fest und sicher führt, alles beobachtet, was irgend von Bedeutung sein könnte". 53

2. Die derzeit vertretenen Auffassungen zum Institut der Staatsanwaltschaft

a) Die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft Die von Eb. Schmidt entwickelte Auffassung zur allgemeinen Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren hat zwischenzeitlich nahezu ungeteilte Zustimmung in Literatur und Rechtsprechung gefunden. Nach allgemeiner Auf45 MDR 1951, 1 (2). 46

Kohlrausch-FS, S. 279,281; Lehrkommentar Teil I, Rn. 348.

47 DRiZ 1957, 273 (275, 278). 48 Kohlrausch-FS, S. 281; DRiZ 1957,273 (277 /278); Lehrkommentar Teil I, Rn. 97; Lehrkommentar Teil III, § 146 GVG Rn. 4. 49 MDR 1951, 1 (2); Einführung, S. 331; Lehrkommentar Teil I, Rn. 95. 50 MDR 1951, 1 (6). 51 Kohlrausch-FS, S. 290 f.; MDR 1951, 1 (6). 52 Lehrkommentar Teil I, Rn. 97. 53 MDR 1951, 1 (6).

11. Derzeitiger Stand der Diskussion

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fassung haben Staatsanwaltschaft und Gericht auf dem Gebiet des Strafrechts gemeinsam die Aufgabe der Justizgewährung zu erfüllen 54. Die Staatsanwaltschaft wird als ein dem Gericht gleichgeordnetes 55 , von diesem unabhängiges 56 Organ der Strafrechtspflege angesehen. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht sollen bei ihrer Tätigkeit den Zielen der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet sein 57. Da die Staatsanwaltschaft inhaltlich auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet sei, verkörpere sie nicht den Machtwillen des Staates, sondern dessen Rechts- oder Gerechtigkeitswillen 58 • Hieraus ergebe sich wiederum eine der Staatsanwaltschaft im gesamten Strafverfahren obliegende Pflicht zur Objektivität 59. 54 KK-Schoreit, § 141 GVG Rn. 3; Kintzi, Wassennann-FS, S. 902; Odersky, Rebmann-FS, S. 365; Pfeiffer, Rebmanri-FS, S. 362; Kunert, Wassennann-FS, S. 920; Wendisch, Schäfer-FS, S.248; Schairer, S. 118; Hofmeister, NdsRpflege 1958, 61; Kuhlmann, DRiZ 1976,11 (13); Nowakowski, Gutachten zum 45. DJT, S. 11; Görcke, ZStW Bd. 73 (1961), 561 (581); Schnarr, NStZ 1991,209 (213); Deutscher Richterbund, DRiZ 1972,181; BVerfGE 9,223 (228); 63,45 (63); RGSt 60,189 (190/191); OLG Bremen, NJW 1955, 1243 (1244). 55 Odersky, Rebmann-FS, S. 352; Pfeiffer, Rebmann-FS, S. 362; Kleinknecht/ Meyer, Ein!. Rn. 87, v. § 141 GVG Rn. 1; KK-R. Müller § 160 Rn. 1; Gerland, S. 115; Krey / Pföhler, NStZ 1985, 145 (146); Nowakowski, Gutachten zum 45. DJT, S. 10; Schäfer, S.78; BGHSt 24, 170 (171); vg!. Kühne, Rn. 59; Roxin, S.48, die den Tenninus "gleichgeordnet" für mißverständlich halten und ersatzweise den Begriff "selbständig" vorschlagen; ablehnend auch Peters, § 23 11 2, mit dem Argument, daß das Gericht im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft ein Verfassungsorgan sei. 56 KK-Pfeiffer, Ein!. Rn. 61; KK-Schoreit, § 141 GVG Rn. 3; Odenthal, StV 1991, 441 (443); Odersky, Rebmann-FS, S. 352, Pfeiffer, Rebmann-FS, S. 362; Nowakowski, Gutachten zum 45. DJT, S. 10; Schäfer, S. 78; Schnarr, NStZ 1991, 209 (213); Vogel, DRiZ 1974,235 (236). 57 Kleinknecht / Meyer, Einl. Rn. 87; LR-K. Schäfer, Einl. Kap. 13 Rn. 47; LRK. Schäfer, 23. Auflage, v. § 141 GVG Rn. 10; KK-Schoreit, § 141 GVG Rn. 2; KKPfeiffer, Ein!. Rn. 63; Deutscher Richterbund, DRiZ 1972, 181; Görcke, ZStW Bd. 73 (1961),561 (577 f.); Gössel, GA 1980, 325 (336); Güde, Justiz 1958, 222 (223); Henkel, § 2911 1; Hofmeister, NdsRpflege 1958,61 f.; Krause, SchlHA 1968, 105 (107, 109); Krey / Pföhler, NStZ 1985, 145 (146); Krey / Pohl, JA 1985,61 (62); Kühne, Rn. 59; Leß, JR 1951, 193 (194); Nowakowski, Gutachten zum 45. DJT, S. 12; Nüse, JR 1965, 319 (320); Peters, § 23 11 2a; Pfeiffer, Rebmann-FS, S. 362; Roxin, § 10 A III 5; Schäfer, S. 77; Wendisch, Schäfer-FS, S. 248; BVerfGE 63, 45 (63); BGHZ 20, 178 (180). 58 Amelunxen, DRiZ 1955,92; Gössel § 3 AI; Krey / Pföhler, NStZ 1985, 145 (146); Krey / Pohl, JA 1985, 61 (62);Kuhlmann, DRiZ 1976, 11 (13); Kunert, WassennannFS, S.920; Ulrich, DRiZ 1988, 368 (369); Vogel, DRiZ 1974, 235 (236); Wendisch, Schäfer-FS, S.248; kritisch zu dieser Fonnulierung Zuberbier, DRiZ 1988, 254, der hierin ein "leeres Wortspiel" sieht. 59 LR-Gollwitzer, v. § 296 Rn. 23, § 296 Rn. 30; LR-K. Schäfer, 23. Auflage, v. § 141 GVG Rn. 10; KK-Hürxthal, § 258 Rn. 11; KK-Schoreit, § 141 GVG Rn. 2; Kleinknecht/ Meyer, v. § 141 GVG Rn. 8; Amelunxen, Revision, S. 14; Arloth, NJW 1983, 208; Bruns, Grützner-FS, S. 49; Fezer, Strafprozeßrecht 11, 19/ 15; Gerland S. 115; Gössel § 3 A I; ders., GA 1980,225 (231); Görcke, ZStW Bd. 73 (1961),561 (571); Henkel, § 29 11 1; Hofmeister, NdsRpflege 1958, 61 (62); Krey / Pohl, JA 1985, 61 (62, 66); Kuhlmann, DRiZ 1976, 11 (13); Kunigk, S. 19; Krause, SchlHA 1968, 108; Odersky, Rebmann-FS, S. 353 / 354; Peters, § 23 11 2a; Pfeiffer, Rebmann-FS, S. 362; Roxin, DRiZ 1969, 385; Wendisch, Schäfer-FS, S. 247; OLG Stuttgart, NJW 1974, 1394 (1395);

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1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Abweichende Stellungnahmen zu der von Eb. Schmidt entwickelten Auffassung sind im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Diskussion der letzten dreißig Jahre allein in bezug auf die staatsrechtliche Einordnung der Staatsanwaltschaft und hinsichtlich der VOn ihm abgelehnten Parteistellung der Staatsanwaltschaft festzustellen. aa) Die Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur dritten Gewalt Von einigen Autoren wurde die Auffassung vertreten, die Staatsanwaltschaft sei ein Teil der rechtsprechenden Gewalt im Sinne des Art. 92 GG60. Als Exekutivorgan kann die Staatsanwaltschaft nach dieser Auffassung nicht angesehen werden, weil sie im Vorverfahren Aufgaben zu erfüllen habe, die im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß richterliche Aufgaben waren 61. In einer Stellungnahme der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund heißt es hierzu: "Dadurch, daß die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren an die Stelle des Richters gesetzt wurde, wurden nicht bisher richterliche Aufgaben in solche der Verwaltung umgewandelt. Wäre dies der Sinn der Neuregelung gewesen, so hätte nichts näher gelegen, als der Polizei die Ermittlungstätigkeit zu übertragen. Das aber hätte die Einführung des polizeistaatlichen Elements in den Justizbereich bedeutet, was schärfsten Widerspruch erfuhr. Weg vom Polizei- hin zum Rechtsstaat lautete die Losung. "Um jegliche Mißdeutung in dieser Hinsicht auszuschließen, wurde die Staatsanwaltschaft nicht dem Innen- und Polizeiminister , sondern dem Justizminister unterstellt, der seitherige Bereich der Rechtspflege also unverändert gelassen. Die neue Regelung sollte dazu dienen, im gesamten Kriminalbereich polizeistaatliches Denken durch rechtsstaatliche Methoden zu überwinden. So wurde die Staatsanwaltschaft als Justizorgan, nicht als Teil der Exekutive geschaffen; sie wurde ein neues Glied in der ungeteilten Justiz und wurde in diese integriert. So ist es noch heute."62 Weiter wurde aus der Richtergleichheit der Staatsanwaltschaft und ihrer "nicht wegzudenkenden Funktion im Rahmen der Rechtsprechung auf dem Gebiete der Strafrechtspflege"63 der Schluß gezogen, die Staatsanwaltschaft könne nicht zur Exekutivbehörde abgestuft werden, da ihre Mitwirkung am Hauptverfahren sonst verfassungswidrig wäre 64. LG Mönchengladbach NStE Nr. 1 zu § 24 StPO; kritisch zur Rechtswirklichkeit: Kühne, Rn. 62. 1 ff; Marx, GA 1978, 365 (368); Leß, JR 1951, 193 (194 f.) sieht hierin die ,,Lebenslüge" der Staatsanwaltschaft. 60 Görcke, ZStW Bd. 73 (1961),561 (578 ff.); Kohlhaas, S. 46; Wagner, NJW 1963, 8 (9); wohl auch Bader, JZ 1956, 4 (6); vgl. auch die Stellungnahme der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund" DRiZ 1968,357 (357,361); Goebel, NJW 1961, 856 (857 f.) hinsichtlich der Verfahrensabschnitte zwischen Anklageerhebung und gerichtlicher Entscheidung. 61 Görcke, ZStW Bd. 73 (1961), 561 (564 / 565); Kohlhaas, S.46; Wagner, NJW 1963, 8; vgl. auch die Denkschrift des Deutschen Richterbundes zur Frage der Einbeziehung der Staatsanwälte in das Richtergesetz, in: DRiZ 1955, 254. 62 DRiZ 1968, 357 (357, 361), vgl. auch bereits DRiZ 1955,254 (255). 63 Görcke, ZStW Bd. 73 (1961), 561 (586).

H. Derzeitiger Stand der Diskussion

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Mit seinem 1964 veröffentlichten programmatischen Beitrag ,,zur Rechtsstellung und Funktion der Staatsanwaltschaft als lustizbehörde"65 ist Eb. Schmidt dieser Auffassung noch selbst entgegengetreten. Er kritisiert, daß die Vertreter dieses Ansatzes es versäumt hätten, den Nachweis zu führen, daß die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit tatsächlich Rechtsprechungsaufgaben zu erfüllen habe 66. Im Anschluß an Arndt sieht Eb. Schmidt das "Wesen der Rechtsprechung" in der "singulären Eigenart der prozeßbeendenden richterlichen Sachentscheidung und der ihr um der Gewißheit willen und im Hinblick auf ihren tatsächlichen und rechtlichen Gehalt verliehenen Rechtskraft." 67 Da die Tätigkeitsakte der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren diese Kriterien nicht erfüllen würden, könne ihre Tätigkeit nicht als Rechtsprechung aufgefaßt werden 68. Die Staatsanwaltschaft könne daher weder als Organ der Rechtsprechung angesehen werden 69, noch seien die Bestimmungen über die richterliche Unabhängigkeit auf die Staatsanwälte anwendbar 70 . Die Staatsanwaltschaft sei als Organ der Verwaltung zuzuordnen. Von Verwaltungsbehörden anderer Kategorien unterscheide sie sich jedoch durch ihre Funktion als lustizbehörde. Ihre auf die Rechtsprechungstätigkeit der Gerichte ausgerichtete Funktion mache sie zu einem Organ der Rechtspflege 71. In dieser so begründeten Auffassung über die Einordnung der Staatsanwaltschaft in das Gewaltengefüge hat Eb. Schmidt wiederum allgemein Zustimmung gefunden. Die Staatsanwaltschaft wird nunmehr wohl allgemein als ein Organ der Rechtspflege, nicht jedoch als Teil der Rechtsprechung selbst angesehen 72 • Teilweise wird im Anschluß an Eb. Schmidt die Auffassung vertreten, die Staatsanwaltschaft sei staatsrechtlich ein der Rechtspflege zugeordneter Teil der Exekutive, der auf Rechtsprechung hinarbeite 73. Von anderen Autoren wird die Staatsan-

Kohlhal}s, S. 40 ff.; hiergegen zutreffend: Blomeyer, GA 1970, 161 (164). 65 MDR 1964,629 ff., 713 ff. 66 MDR 1964,629 (630). 67 MDR 1964,629 (631); vgl. auch Lehrkommentar Teil I, Rn. 14. 68 MDR 1964,629 (631). 69 MDR 1964, 713. 70 MDR 1964, 629 (631). Dies ist der Punkt, um den es den Befürwortem der Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Judikative letztlich ging (vgl. z. B. die Stellungnahme der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund, in: DRiZ 1968, 357 (362». 71 MDR 1964,713. 72 Kissel § 141 Rn. 8; KK-Schoreit, § 141 GVG Rn. 3; Kleinknecht / Meyer, v. § 141 GVG Rn. 7; Gössel, GA 1980,325 (334 ff., 336); ders., Dünnebier-FS, S. 136; Kintzi, Wassermann-FS, S. 901; Krause, SchlHA 1968, 105 (107); Krey Rn. 338; Krey / Pohl, JA 1985, 61 (62); Schilcken Rn. 574; Schnarr, NStZ 1991, 209 (211); Ulrich, DRiZ 64

1988, 368 (369).

73 Kleinknecht / Meyer, v. § 141 GVG Rn. 6; Gössel, GA 1980, 325 (336); Kintzi, Wassermann-FS, S. 901 f.; Odersky, Rebmann-FS, S. 343; Schäfer, S. 78; Schnarr, NStZ 1991, 209 (213); Ulrich, DRiZ 1988, 368 (369).

30

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

waltschaft wegen ihrer funktionellen Stellung zwischen Judikative und Exekutive als ,,Rechtspflegeorgan eigener Art" angesehen 74. bb) Die Auseinandersetzung über die Partei stellung der Staatsanwaltschaft Während das Problem der Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur dritten Gewalt aus heutiger Sicht wohl als im Sinne Eb. Schmidts geklärt angesehen werden kann, ist der Streit über die "Parteirolle" der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren nicht beigelegt. Er beschränkt sich jetzt aber auf die Verfahrensabschnitte nach Anklageerhebung, da die Staatsanwaltschaft nach dem Wegfall der gerichtlichen Voruntersuchung durch das 1. StVRG vom 9.12.1974 75 im Vorverfahren das allein und ausschließlich verfahrenstragende staatliche Organ ist und ihr daher bereits formell nicht mehr eine Parteirolle zukommen kann. Ebenso wie Eb. Schmidt zieht die heute herrschende Auffassung aus dem inhaltlich gleichgerichteten Tätigkeitsziel von Gericht und Staatsanwaltschaft den Schluß, daß das Strafverfahren auch nach Anklageerhebung kein Parteiverfahren und die Staatsanwaltschaft keine Verfahrenspartei sein könne 76 • Im Anschluß an Eb. Schmidt wird dies zum einen damit begründet, daß der Parteiprozeß (im Strafverfahren nicht vorhandene) widerstreitende Beteiligte voraussetze, die sich bei der Verfolgung ihrer widerstreitenden Interessen gleichberechtigt gegenüberstehen und den Verfahrens ablauf nach Maßgabe der jeweils für zweckmäßig erachteten Interessen bestimmen und auch durch Vergleiche beenden können 77. Zum anderen setze eine ParteisteIlung voraus, daß die vor dem Gericht erscheinenFezer, StrafprozeBrecht I, 1 / 29; Peters, § 23 11; Roxin, § 10 A III. BGB!. I, S. 3393. 76 Kissel § 141 Rn. 5; Kleinknecht / Meyer, v. § 141 GVG Rn. 8; LR-Gollwitzer, § 296 Rn. 30; KK-Pfeiffer, Ein!. Rn. 63; Arnelunxen, Revision, S. 14; Arloth, NJW 1983,208; Bader, NJW 1949, 737 (738); Biermann, GA 1955, 353 (357); Börker, JR 1953,237 (240); Bruns, Grützner-FS, S. 49; Dästner, RuP 1982..182; Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund, DRiZ 1968, 357 (361); Döhring, DRiZ 1958,286; Feisenberger, DRiZ 1925,384 (385); Fezer, StrafprozeBrecht 1,2/25; Gerland S. 115; Goebel, NJW 1961, 856 (857; wegen seiner Annahme, die Staatsanwaltschaft gehöre zur Judikative); Gössel § 3 A I; ders., GA 1980, 325 (337); Henkel, § 29 11 1, 31 III 1; Hofmeister, NdsRpflege 1958, 61 (62 f.); Kintzi, Wassermann-FS, S. 902; Krause, SchlHA 1968, 105 (107, 109); Krey / Pohl, JA 1985, 61 (66); Kuhlmann, DRiZ 1976, 11 (13); Kunigk, S. 19; LeB, JR 1951, 193 (194); J. Meyer, S. 46; Peters, § 23 11 2a; Pfeiffer, Rebmann-FS, S. 362; Roxin, DRiZ 1969, 385; Schäfer, S. 78; Wagner, JZ 1974, 212; Wendisch, Schäfer.-FS, S. 247; RGSt 60, 189 (190 f.); BGHSt 15, 155 (159); OLG Bremen, NJW 1955, 1243 (1244); OLG Stuttgart, NJW 1974, 1394 (1395). A. A.: H. Mayer, Eb. Schmidt-FS, S. 639 ff.: Er lehnt die Auffassung von Eb. Schmidt ab, der Vorsitzende handele in der Hauptverhandlung als Inquirent. Richtig sei vielmehr, daß dieser nur die von den Parteien vorgelegten Beweise erhebe und gegebenenfalls lediglich ergänzende Beweiserhebungen von sich aus vornehme (S. 642). 77 Gössel, GA 1980, 325 (337); ders., ZStW Bd. 94 (1982), 5 (29); vg!. auch Kap. 74 75

A. 11. 1. b).

H. Derzeitiger Stand der Diskussion

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den Verfahrensbeteiligten Interessen vertreten, die vom Staat aus gesehen auf gleicher Wertebene lägen 78. Diese Anforderungen seien nicht erfüllt, weil die Staatsanwaltschaft staatliche Interessen vertrete 79 und wegen ihrer unbedingten Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit über diese Interessen auch nicht verfügen könne 80. Die Annahme einer Parteistellung und die Verpflichtung auf Wahrheit und Gerechtigkeit schlössen sich gegenseitig aus 81. Diesem materiellen Rollenverständnis setzt eine Minderauffassung entgegen, daß die Staatsanwaltschaft formell Träger einer Parteirolle sei, weil sie im Verfahren (nach Anklageerhebung) die Interessen des durch die Straftat verletzten Staates vertrete 82. Da dieses Interesse jedoch nur darauf gerichtet sei, daß der tatsächlich Schuldige bestraft werde, sei die Staatsanwaltschaft trotz ihrer formellen Parteistellung inhaltlich zur Objektivität und zur Ermittlung der materiellen Wahrheit verpflichtet 83. Im Ergebnis besteht damit über die Rolle der Staatsanwaltschaft im Verfahren inhaltliche Übereinstimmung. Dem Streit darüber, ob die Staatsanwaltschaft ein Amt in der Rolle und mit den Rechten einer Partei oder eine Parteirolle mit den Pflichten eines Amtes ausübe, kommt vor diesem Hintergrund, wie Eb. Schmidt bereits zutreffend erkannt hatte, allein aus konstruktiver Sicht Bedeutung zu 84.

Kuhlmann, DRiZ 1976, 11 (13). Ebenso bereits in der älteren Literatur: Grunau, DJZ 1936, 794 (796); vgl. auch Feisenberger, DRiZ 1925, 384 (385); a. A H. Mayer, Eb. Schmidt-FS, S. 640 f., der darauf abstellt, daß es für die Staatsanwaltschaft und den Angeklagten um den identischen Streitgegenstand, nämlich die Frage, ob und inwieweit der Freiheitsstatus des Angeklagten durch den strafrechtlichen Vorwurf betroffen wird oder nicht, gehe (, S. 641). Weiterhin hebt er hervor, daß in der Rechtswirklichkeit auch der Angeklagte in vielen Fällen das objektive Recht schütze, während der Staatsanwalt oft auch parteiisch agiere (S. 640). 80 Gössel, ZStW Bd. 94 (1982), 5 (29). 81 Bader, NJW 1949, 737 (738); Dästner, RuP 1982, 180 (182); Gössel, GA 1980, 325 (337); ders. § 3 A I; Henkel, § 29 11 1; Krause, SchlHA 1968, 105 (107); Krey Rn. 362; J. Meyer, S. 47; Peters, § 23 11 2a; Wagner, JZ 1974, 212; Bereits Henkel, (DJZ 1935, 530 (532» hatte darauf hingewiesen, daß die Vorstellung einer unparteiischen Partei ein Widerspruch in sich sei (er hat damals in der RStPO allerdings (noch) ein Parteiverfahren gesehen). . Kintzi, Wassermann-FS, S. 902 und einige der o. g. Autoren heben vornehmlich auf die Unvereinbarkeit einer Partei stellung mit dem Objektivitätsgebot ab. A A: H. Mayer, Eb. Schmidt-FS, S. 640, der darauf abstellt, daß die Staatsanwaltschaft in der Rechtswirklichkeit nicht schlechthin objektiv verfahre. Mayer verkennt hier, daß der normative Anspruch, der an ein staatliches Organ zu stellen ist, nicht durch dessen Verhalten verändert wird, das evtl. diesem Anspruch nicht genügt (dto. Marx, GA 1978, 365 (368) bzgl. der Hauptverhandlung). 82 Marx, GA 1978, 365 (366); Blomeyer, GA 1970, 161 (172 f.); Brangsch, NJW 1951,59; vgl. Nowakowski, Gutachten zum 45. DJT, S. 12 ff. (16); Güde (AnwBI1961, 3 (4» und Amelunxen (Revision, S. 14/ 15) sprechen insoweit von einer ,,künstlichen Parteirolle" . 83 Marx, GA 1978,365 (371); Blomeyer, GA 1970, 161 (173); v. Hippel, § 43 H. 84 Vgl. bereits Eb. Schmidt, Kohlrausch-FS, S. 285. 78 79

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1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

b) Die Funktion der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren aa) Die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde Die Stellungnahmen zur Funktion der Staatsanwaltschaft innerhalb des Strafverfahrens sind im Gegensatz zur Frage der allgemeinen Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft nicht in erster Linie durch die wissenschaftliche Autorität Eb. Schmidts dominiert; maßgebend sind hier vielmehr die durch das 1. StVRG vom 9.12.1974 85 erfolgten Veränderungen im Funktionsgefüge der Strafprozeßordnung: Durch das 1. StVRG wurde die gerichtliche Voruntersuchung beseitigt und die Leitung des Vorverfahrens allein und ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft überführt. Die richterlichen Kompetenzen im Ermittlungsverfahren wurden auf die Zulässigkeitskontrolle bei der Durchführung von bestimmten Zwangsmitteleinsätzen beschränkt. Ziel des Gesetzgebers war es, "die Zuständigkeit zwischen Richter und Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren konsequenter als das geltende Recht dergestalt zu verteilen, daß die Staatsanwaltschaft im Iustizbereich zur alleinigen Ermittlungsbehörde mit den hierfür notwendigen Befugnissen" ausgestaltet wird 86. Die bisherige Ausgestaltung des Verfahrens unter Beibehaltung des Instituts der gerichtlichen Voruntersuchung sei vornehmlich historisch bedingt. Das Mißtrauen des Gesetzgebers von 1877 gegen die damals noch junge Institution der Staatsanwaltschaft habe sich jedoch als unberechtigt erwiesen. Die Einschaltung des Richters in das Ermittlungsverfahren sei in dem weiten Umfang der geltenden Rechtslage nicht notwendig, um dem Beschuldigten den rechtsstaatlich erforderlichen Schutz zu gewähren. In der Entwurfsbegründung wird unter Verweis auf Eb. Schmidt, dem damit auch in dieser Frage zumindest ein indirekter Einfluß auf die derzeit vorherrschenden Ansichten zukommt, ausgeführt, die Staatsanwaltschaft sei wie die Gerichte der Rechtsprechung zugeordnet und verkörpere nicht den Machtwillen, sondern den Rechtswillen des Staates. Ihre gesamte Verfolgungstätigkeit und Mitwirkung am Verfahren habe sie in unbedingter Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit durchzuführen. Hieraus wird gefolgert, es sei lediglich bei tiefgreifenden Eingriffen in die Freiheitssphäre des Bürgers verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch geboten, diese Eingriffe nicht allein der Staatsanwaltschaft zu übertragen, sondern an eine Anordnung des Richters zu binden. 87 Als Folge der Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung wird die Staatsanwaltschaft unter dogmatischen Gesichtspunkten vornehmlich als Ermittlungs-, Anklage- oder noch allgemeiner als Strafverfolgungsbehörde gesehen 88 , deren BGB!. I, S. 3393. BT-Drucks. VI / 3478, S. 41; 7/551, S. 37. 87 BT-Drucks. VI/ 3478, S. 42 f.; 7/551, S. 38 ff.; vgl. auch 7/2600, S. 13. 88 LR-K. Schäfer, Ein!. Kap. 13 Rn. 47; LR-K. Schäfer, 23. Auflage, v. § 141 GVG Rn. 4; LR-Gollwitzer, v. § 296 Rn. 23; Bader, NIW 1949, 738; Bringewat, GA 1972, 289 (291); Bruns, Grützner-FS, S. 47; Krey / Pohl, JA 1985,61; Krey Rn. 334 f.;Kausch, 85

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11. Derzeitiger Stand der Diskussion

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Aufgabe es sei, das Ermittlungsverfahren zu führen und den Fall gegebenenfalls durch Anklage dem Gericht zu unterbreiten 89. Die Funktionsteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht wird dahingehend beschrieben, daß die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsorgan und das Gericht das Urteilsorgan des Strafverfahrens sei 90. Zwar soll die weitere Beteiligung der Staatsanwaltschaft am gerichtlichen Verfahren nach Erhebung der Anklage eine "prozessuale Aufgabe eigener Art"91 sein. In der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens wird aber das "Schwergewicht ihrer Tätigkeit" gesehen 92 , weswegen der Funktion als "Ermittlungsorgan der Strafprozeßordnung" auch Bedeutung für die Verfahrensabschnitte nach Anklageerhebung beigemessen wird. So wird z. B von Peters aus der gesetzlichen Funktionsverteilung zwischen dem Gericht als dem urteilenden und der Staatsanwaltschaft als dem ermittelnden Organ gefolgert, die Staatsanwaltschaft sei nach Anklageerhebung einerseits weiterhin berechtigt, selbständige Ermittlungen durchzuführen, andererseits sei sie verpflichtet, gerichtlicherseits angeordnete Beweiserhebungen auszuführen 93. bb) Die Funktion der Staatsanwaltschaft in den Verfahrens abschnitten nach Anklageerhebung Angesichts der verfahrenstragenden Funktion der Staatsanwaltschaft im Verfahren bis zur Anklageerhebung wird ihre Funktion im Verfahren nach Anklageerhebung weitgehend vemachlässigt 94 . Die "besondere prozessuale Aufgabe" der Staatsanwaltschaft in diesen Verfahrens abschnitten wurde bisher lediglich in Teilbereichen untersucht, jedenfalls vermag keiner der bisher vorliegenden Erklärungsansätze allen Teilbereichen der staatsanwaltlichen Verfahrensteilhabe gerecht zu werden. (1) Die Staatsanwaltschaft als Kontroll- oder Gleichgewichtsorgan Die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten zwischen Anklageerhebung und Verkündung des Urteils wird von einigen Autoren mit der S.227 Fn. 15; Kuhlmann, DRiZ 1976, 11 (13); Peters, § 23 II 1; ders., Der neue Strafprozeß, § 7 I; Roxin, § 10 A; Schlüchter, Rn. 51; Wagner, JZ 1974, 212 (217); OLG Bremen, NStZ 1986, 120 (121); OLG Zweibrücken, StV 1986,51 (52). 89 Kleinknecht / Meyer, Einl. Rn. 87. 90 Kausch, S. 227 ff.; Peters, § 23 III 1. Aus der Zeit vor dem 1. StVRG bereits: Kommission für Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund, DRiZ 1968,357; Görcke, ZStW Bd. 73 (1961),561 (5660; Henkel, § 29 11 (S. 132); Wagner, NJW 1963, 8. 91 Kleinknecht, Bruns-FS, S. 180; Kleinknecht / Meyer, § 152 Rn. 2; vgl. auch Strate, StV 1985, 337 (338). 92 Kühne, Rn. 60. 93 Peters, §§ 23 III 1,58 II 2b; vgl. im einzelnen Kap. C. 11. 3. b); C. III. 3. 94 Vgl. Marx, GA 1978, 365. 3 Wohlers

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1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Bemerkung kommentiert, die Staatsanwaltschaft vertrete in der Hauptverhandlung die Anklage 95 • Der Zweck der staatsanwaltlichen Tätigkeit im Hauptverfahren wird weitgehend darin gesehen, anregend und kontrollierend auf das vom Gericht getragene 96 Verfahren einzuwirken 97. Die Staatsanwaltschaft sei verpflichtet, den Richter bei der Erforschung des wirklichen Sachverhalts und bei der Rechtsanwendung zu unterstützen 98 • Sie habe sich an gerichtlichen Entscheidungen zu beteiligen, diese zu fördern 99 und trage eine (Mit-)Verantwortung für die Recht- und Ordnungsgemäßheit des Verfahrens 100. Als "Hüterin des Gesetzes" habe sie darauf zu achten und darauf hinzuwirken, daß dem Gesetz für und wider den Beschuldigten Genüge geschehe und insbesondere die Prozeßordnung richtig gehandhabt werde 101. Zum Teil wird die Funktion der Staatsanwaltschaft aber auch darin gesehen, "als Gleichgewichtsorgan im Gesamtgefüge des Prozesses 102, als Regulator an der Waage der Gerechtigkeit" tätig zu werden 103. So hat etwa Güde 104 die Aufgabe des Staatsanwaltes darin gesehen, "ein Rechtsamt an der Seite des Gerichts" auszuüben. Der Staatsanwalt habe die Gerechtigkeit zu fördern und darauf hinzuwirken, daß die Schuldigen bestraft, die Unschuldigen aber freigesprochen werden. An dieser Verpflichtung sei das gesamte Prozeßverhalten der Staatsanwaltschaft auszurichten. Die Funktion des Staatsanwaltes sei deswegen eine dynamische, die sich wandelt, 95 KK-Pfeiffer, Ein!. Rn. 63; Eb. Schmidt, Lehrkommentar Teil 1,1, § 152 Rn. 2; Güde, Justiz 1957,301; Krey Rn. 391,400; Kunigk, S. 19; Peters, § 23 IV e; Pfeiffer, RebmannFS, S. 374; Roxin, § 10 A 11; Rüping, Strafverfahren, S.30; Schäfer, S. 77. 96 Vg!. Eb. Schmidt, Lehrkommentar Teil I, Rn. 109, 111; Fuhrmann, GA 1963,66; Güde, AnwBl 1961, 3 (4 f.); Schmid, Mayr-FS, S. 543. 97 Peters, § 23 IV e; Frisch, Bruns-FS, S. 409; Odenthal, StV 1991,441 (444); Odersky, Rebmann-FS, S. 352; Hernnann, S. 369. 98 Kleinknecht / Meyer, v. § 141 GVG Rn. 8; Bader, NJW 1949,737 (739); Odenthal, StV 1991,441 (443); Schmid, Verwirkung, S. 363. Nach Kunigk, S. 19, wirkt die Staatsanwaltschaft "auch hier bei der Aufklärung und Urteilsfindung entscheidend mit." Nach Schäfer, S.77, ist die Staatsanwaltschaft am gerichtlichen Verfahren "wesentlich" bzw ...entscheidend" beteiligt. Vg!. auch Görcke, ZStW Bd. 73 (1961),561 (570,577 f.). 99 Kleinknecht/Meyer, v. § 141 GVG Rn. 3; Pfeiffer,Rebmann-FS, S. 362; Wendisch, Schäfer-FS, S.243 (248); Krey / Pföhler, NStZ 1985, 145 (146); Kröpil, NJW 1992, 654 (656). 100 Odersky, Rebmann-FS, S. 352; KK-Hürxthal, § 258 Rn. 11; Odenthal, StV 1991, 441 (443); Schmid, Verwirkung, S.363. 101 Kleinknecht / Meyer, Ein!. Rn. 87, § 152 Rn. 2; LR-Gollwitzer, § 296 Rn. 30; Koh1haas, DRiZ 1966, 46 (48); Sarstedt, NJW 1964, 1752 (1753); Kühne, Rn. 60; Odersky, Rebmann-FS, S.356; Gössel, GA 1980, 325 (337); Görcke, ZStW Bd.73 (1961),561 (565); OLG Bremen, NStZ 1989,286. 102 Vg!. in diesem Sinne bereits: Glaser, Handbuch § 71 IV 2. 103 Güde, Justiz 1958,222 (223); in, AnwBl 1961,3 bezeichnet er die Verteidigung als das kalkulierte Gegengewicht zur funktionellen Parteilichkeit der Staatsanwaltschaft (so auch: Blomeyer, GA 1970, 161 (171». 104 Justiz 1958,222 (223 f.).

11. Derzeitiger Stand der Diskussion

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,je nachdem, ob ein unverteidigter Angeklagter ihm gegenübersteht oder ein bestens gewappneter, ob ein aggressiver, timider oder ein ungeschickter Verteidiger; ja auch je nachdem, ob vor ihm ein uneinsichtiger, energischer, die Verhandlung beherrschender oder ein schwacher Vorsitzender" 105 (agiert). Die Ausführungen Güdes werfen die Frage auf, wo die Grenze dieser dynamischen Funktion der Staatsanwaltschaft zu ziehen wäre. Darf der Staatsanwalt einen seiner Auffassung nach überhöhten Strafantrag stellen, um hierdurch dem (erwarteten und als zu niedrig eingeschätzten) Strafantrag der Verteidigung so entgegenzuwirken, daß im Ergebnis, d. h. in der Entscheidung des Gerichts, die Strafe "herauskommt", die der Staatsanwalt als die gerechte ansieht? 106 Ist der Staatsanwalt gegebenenfalls hierzu sogar verpflichtet? Darfbzw. muß der Staatsanwalt eingreifen, wenn ein "schwacher Vorsitzender" der Verhandlung nicht gewachsen ist? Wenn ja, wie soll er dies tun? Güde selbst vertritt die Auffassung, daß nur sachgemäße Strafanträge gestellt werden dürften; der Staatsanwalt habe die Strafe zu beantragen, die er für gerecht halte 107. Hinsichtlich des Einflusses auf die Verfahrensführung stellt Güde klar, daß seiner Auffassung nach allein eine Einwirkung auf den Richter möglich sei 108. Seine Ausführungen stehen damit letztlich im Einklang mit der Auffassung, nach der die Staatsanwaltschaft das die Verfahrensführung des Gerichts anregend und kontrollierend begleitende Organ sein soll. Problematisch ist allerdings, inwieweit dieses Modell den Befugnissen der Staatsanwaltschaft im Rahmen der §§ 153 ff. StPO aber auch der §§ 251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, 408 a StPO gerecht zu werden vermag. Ersichtlich passen sich die in diesen Vorschriften vorgesehenen Zustimmungserfordernisse der Staatsanwaltschaft nicht nahtlos in das Bild des passiven Kontrolleurs der richterlichen Verfahrens führung ein. (2) Die Staatsanwaltschaft als Vertreterin staatlicher oder gesellschaftlicher Interessen

Andere Autoren versuchen, der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im gerichtlichen Strafverfahren generell eine über die Funktion eines parallelen Kontrollorgans hinausgehende eigenständige Aufgabe zuzuweisen. Marx meint, eine auf das Amt des "Gesetzeswächters" beschränkte Staatsanwaltschaft sei neben dem für das ordnungsgemäße Verfahren primär verantwortlichen Gericht überflüssig 109. Er sieht die Staatsanwaltschaft deshalb in der Hauptverhandlung als die parteiische Vertreterin der gesellschaftlichen Interessen 110. Anders als das GeGüde, Justiz 1958, 222 (223). Marx (GA 1978,365 (369, Fn. 25», LeB (JR 1951, 193) und Strunck (NJW 1949, 416) halten dies für die gängige Praxis. 107 Justiz 1958, 222 (226). 108 Justiz 1958,2222 (224). 109 GA 1978, 365. 105

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I. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

richt, das im Rahmen seiner prozessualen Fürsorgepflicht auch die Interessen des Angeklagten zu wahren habe, sei die Staatsanwaltschaft hierzu nicht verpflichtet 111. Ihre Aufgabe sei allein darauf gerichtet, die gesellschaftlichen Interessen an einem Schutz der Gesellschaft vor Straftätern, der Resozialisierung der Straftäter und der Schlichtung der durch Straftaten verursachten Konflikte durchzusetzen 112. Roxin und K. Meyer sehen den Staatsanwalt in der Hauptverhandlung als Anwalt eines die modeme Kriminalpolitik bestimmenden Resozialisierungsstrafrechts 113; Blomeyer als das mit der Wahrnehmung des staatlichen Strafanspruchs betraute Organ 114. H. Mayer ist der Auffassung, man werde die Frage nicht verneinen können, daß der Staat berechtigt und verpflichtet sei, "in den Grenzen des Rechts Rechtspolitik im konkreten Einzelverfahren durch die (ihm) unterstellte Anklagebehörde zu betreiben." 115 Gegen den Gebrauch dieser oder vergleichbarer Formeln ist zunächst einzuwenden, daß hierdurch im Ergebnis mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden. Maßgebend hierfür ist, daß allein eine (allerdings sehr unbestimmte) Zielbestimmung der staatsanwaltschaftlichen Verfahrensteilhabe nach Anklageerhebung gegeben wird, mithin offen bleibt, wie die Staatsanwaltschaft auf dieses Ziel hinzuwirken hat. Weiterhin stellt die Bezeichnung des Staatsanwaltes als Vertreter besonderer Interessen (im Vergleich zum Gericht) ein reines Wortspiel dar, wenn und soweit man die staatlichen bzw. gesellschaftlichen Interessen, die der Staatsanwalt vertreten soll, darin sieht, daß eine materiell gerechte Entscheidung in einem prozeßordnungsgemäßen Verfahren gefällt wird, da in diesem Fall die angeblich aufgehobene Identität zwischen dem gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Tätigkeitsziel beibehalten wäre. Ein Gegensatz könnte nur dann entstehen, wenn man die Aufgabe der Staatsanwaltschaft allein darin sehen wollte, den (materiell 110 Marx, GA 1978,365 (369). Vgl. auch bereits Dolchow, S. 81 und Bennecke-Beling, S. 123, die die Ansicht vertreten haben, die Staatsanwaltschaft habe das "öffentliche Interesse" wahrzunehmen. Die Formulierung der Vertretung staatlicher Interessen findet sich auch bei Glaser, Handbuch § 71 III, S. 139, der diese Formulierung jedoch gebraucht, um daraufhinzuweisen, daß die von der Staatsanwaltschaft vertretenen Interessen nicht mit denen des Angeklagten identisch seien, da die Staatsanwaltschaft über den Einzelfall hinaus Folgerungen für andere Verfahren bedenken müsse und damit das Interesse an einer einheitlichen Strafrechtspflege verfolge. 111 A. A. wohl Odersky, Rebmann-FS, S. 354, der davon ausgeht, daß die Staatsanwaltschaft gegenüber einem "strengen Gericht" auf Mäßigung und Zurückhaltung hinzuwirken habe. 112 Marx, GA 1978, 365 (370); vgl. auch Gärtner, S. 92 ff. 113 Kleinknecht / Meyer, v. § 141 GVG Rn. 3; Roxin, DRiZ 1969,385 (389); bereits Graf zu Dohna, S. 5 hat den öffentlichen Ankläger als Anwalt des Staates bezeichnet. 114 GA 1970, 161 (170); ebenso: Strunck, NJW 1949,416; Gärtner, S. 90 ff. 115 H. Mayer, Eb. Schmidt-FS, S. 641.

11. Derzeitiger Stand der Diskussion

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berechtigten) Strafanspruch durchzusetzen. Im Ergebnis wird aber wohl auch von den oben genannten Autoren niemand die Auffassung vertreten wollen, die Staatsanwaltschaft sei davon befreit, die Strafprozeßordnung einzuhalten bzw. dürfe eine Verletzung des Prozeßrechts durch das Gericht tolerieren oder ausnutzen. Eine solche Auffassung würde verkennen, daß das gesellschaftliche bzw. staatliche Interesse nicht nur darauf gerichtet sein kann, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, sondern dies auch und gerade (nur) in einem prozessual einwandfreien Verfahren, da anderenfalls über den Verlust der schützenden Verfahrensfonnen letztlich auch die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit gefährdet wäre. (3) Die Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft als Teilfunktion innerhalb des prozessualen Erkenntnisprozesses Schlüchter und J. Meyer sehen die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung .als Voraussetzung für dasF~!J.ktio.nieren eines vom Gesetz gewollten interaktiven Willensbildungsprozesses 116. Die Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft wird als notwendige Teilfunktion innerhalb des Verfahrens der gerichtlichen Wahrheitsfindung begriffen 117. Ausführlich dargelegt wurde dieser erkenntnistheoretisch orientierte Ansatz von Jürgen Meyer. Er sieht den Strafprozeß als einen auf die Erkenntis von Wahrheit und Gerechtigkeit gerichteten kognitiven Vorgang 118. Ein geeignetes und oft auch unentbehrliches Mittel, um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, sei die dialektische Methode, d. h. die Erkenntis des Richtigen als Synthese aus These und Antithese l19 • Wegen der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte, der Mehrdeutigkeit der rechtlichen Begriffe und in Anbetracht des Umstandes, daß diese aufgrund der begrenzten menschlichen Erkenntnis- und Verstandeskraft von verschiedenen Personen subjektiv anders als wahr bzw. richtig erkannt werden, sei ohne dialektisches Vorgehen eine Annäherung an ein objektiv richtiges Ergebnis nicht zu erzielen 120. Der dialektische Prozeß sei hier der Weg zur Erkenntnis, dessen Ergebnis und Begründung durch die Logik auf ihre Berechtigung überprüft werde 121. Aufgabe der Verfahrensbeteiligten im Strafprozeß sei es, ihre jeweilige subjektive Richtigkeitsüberzeugung in das Verfahren einzubringen und damit zur Wahrheitsfindung beizutragen 122. Schlüchter, Rn. 441, 450.1. Vgl. in diesem Sinne auch bereits Güde (AnwBl 1961,3): Die aktive Vertretung von gegensätzlichen Interessen durch Prozeßparteien solle der Wahrheitsfindung dienen. 118 J. Meyer, S. 81. 119 J. Meyer, S. 82 ff., 90; vgl. auch Spendel, JuS 1964,465 (467); Schairer, S. 116; Güde, AnwBl 1961, 3; kritisch: Schünemann, GA 1978, 161 (168). 120 J. Meyer, S. 84 ff. 121 J. Meyer, S. 91. 122 J. Meyer, S. 92 f. 116

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1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

Dieser Ansatz vermag zwar überzeugend zu begründen, daß es sinnvoll ist, den Verfahrensbeteiligten und damit auch der Staatsanwaltschaft Einfluß auf die Entscheidungsfindung des Gerichts einzuräumen, aus normativer Sicht ist er aber Einwänden ausgesetzt: Anders als das anglo-amerikanische Strafverfahren ist das deutsche Strafverfahren nicht als ein dialogisches Verfahren zwischen dem eine Schuldthese aufstellenden Ankläger und dem die Antithese vertretenden Angeklagten ausgestaltet. Vielmehr handelt es sich um eine vom Aufklärungsgrundsatz beherrschte Untersuchung durch das entscheidungsbefugte Organ, das Gericht, selbst. Güde und Eb. Schmidt haben zu Recht darauf hingewiesen, daß im Hauptverfahren die Mitwirkung der anderen Verfahrensbeteiligten von der umfassenden Dispositionsgewalt des Gerichts überdeckt wird 123. Die Verfahrensbeteiligten können lediglich dem verfahrenstragenden Organ ihre Sicht des Untersuchungsergebnisses darlegen bzw. ihre Auffassung über das einzuschlagende Verfahren äußern. Das Gericht ist weder verpflichtet noch berechtigt, in ein dialogisches.verfahren der Erkenntnisgewinnung unter Einbeziehung der Verfahrensbeteiligten einzutreten. Dieser Ansatz kann damit letztlich allein als eine erkenntnistheoretische Untermauerung der Ansicht angesehen werden, die die Funktion der Staatsanwaltschaft in der Rolle eines anregenden Kontrolleurs der richterlichen Verfahrens führung sieht. (4) Der Staatsanwalt als "Träger der harten Rolle" Von Blanckenburg, Sessar und Steffen wurde unter verfahrenssoziologischen Gesichtspunkten die Ansicht entwickelt, der Staatsanwaltschaft komme in der Hauptverhandlung die Aufgabe zu, "Träger der härteren Rolle" zu sein 124. Ausgangspunkt dieser Autoren war die im wesentlichen auf Luhmann zurückgehende Überlegung, daß die Funktion des gerichtlichen Verfahrens in erster Linie in der Legitimation rechtlich verbindlicher Entscheidungen bestehe und es deswegen sozial akzeptierte Formen der Konfliktlösung bieten müsse 125. Aufgrund der Annahme, daß der Staatsanwalt in der Strafrechtspraxis doch mehr oder weniger die Rolle des Kontrahenten des Angeklagten ausfülle, sei es sinnvoll, daß der Staatsanwalt die Rolle des Härteren spiele, um den Richter in die Lage zu versetzen, die Rolle des Milderen zu übernehmen und es dem Angeklagten so zu ermöglichen, das vom Richter gefällte Urteil zu akzeptieren 126.

123 AnwB11961, 3 (5); vgl. auch Eb. Schrnidt, MDR 1951, 1 (6); ders., Lehrkommentar Teil I, Rn. 109, 111. 124 Blanckenburg / Sessar / Steffen, S. 257, 260; zustimmend: Schairer, S. 118 f.; vgl. Roxin, Schmidt-Leichner-FS, S. 148; Marx, GA 1978,365 (371 Fn. 32); kritisch demgegenüber: Odersky, Rebmann-FS, S. 353. 125 Vgl. Luhmann, S. 26,37,111. 126 Schairer, S. 118.

III. Gang der Untersuchung

39

(5) Stellungnahme Odersky 127 hat bereits zutreffend darauf hingewiesen, daß die Auffassung von der Staatsanwaltschaft als "Träger der harten Rolle" möglicherweise unter verfahrenssoziologischen Gesichtspunkten plausibel sein mag; aus normativer Sicht kann sie dagegen nicht überzeugen. Das Verfahrensrecht gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Gericht die Rolle des Härteren zukommen soll, für die weitere Untersuchung kann diese Auffassung damit außer Betracht bleiben. Allerdings können auch die von der Rechtsdogmatik angebotenen Erklärungsmodelle der Funktion der Staatsanwaltschaft im Verfahren nach Anklageerhebung nicht gänzlich überzeugen. Der erkentnistheoretische Ansatz J. Meyers vermag nur einzelnen dialogischen Elementen der ansonsten inquisitorisch ausgerichteten Verfahrens struktur gerecht zu werden. Der in mehreren Spielarten von der herrschenden Meinung vertretene Ansatz von der Staatsanwaltschaft als (passivem) Kontrollorgan gegenüber dem verfahrenstragenden Gericht wird demgegenüber der Struktur einiger neuerer Normkomplexe - etwa den §§ 153 ff. StPO - nicht gerecht. Die Darstellung des derzeitigen Erkenntnisstandes macht deutlich, daß die Funktion der Staatsanwaltschaft innerhalb des Verfahrens nach Anklageerhebung nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Untersuchung der strukturellen Grundlagen des geltenden Verfahrensrechts bestimmt werden kann. Ziel dieser Strukturanalyse muß es dabei unter anderem auch sein, die für die Abgrenzung und Ausgestaltung der Funktionsbereiche bedeutsame Frage nach der allgemeinen Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren zu klären.

IH. Der Gang der Untersuchung Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, anband der Grundstruktur des derzeitigen Strafverfahrensrechts die Funktion(en) aufzuzeigen, die der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten nach Anklageerhebung zukommen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang zunächst, daß das reformierte Strafverfahren strukturell auf dem arbeitsteilig-funktionalen Zusammenwirken mehrerer Verfahrens beteiligter beruht, die Funktion der Staatsanwaltschaft mithin nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit der Funktion der anderen Verfahrensbeteiligten, insbesondere des Gerichts, bestimmt werden kann. Vor allem aber kann das derzeit geltende Strafverfahrensrecht in seiner strukturellen Ausgestaltung nur vor dem Hintergrund seiner historischen Entwicklung vollständig erfaßt werden. Zunächst ergibt sich die Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung bereits aus dem Umstand, daß die grundlegenden Strukturen des Rechts, wie im vorliegenden Zusammenhang die Struktur des reformierten Anklageverfahrens, in ihrer 127

Rebmann-FS, S. 353 f.

40

1. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

grundsätzlichen Bedeutung entweder - wie im geltenden Strafverfahrensrecht - vom Gesetz vorausgesetzt werden, oder - wie in den meisten verfahrensrechtlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts - durch einzelne Normen hervorgehoben werden, die ihrerseits auslegungsbedürftig sind und denen daher eher der Charakter von Programmsätzen zukommt. Angesichts der Tatsache, daß dem geltenden Verfahrensrecht ausdrückliche Bestimmungen des Funktionsbereichs der am Verfahren beteiligten staatlichen Organe nicht zu entnehmen sind, muß anhand der Motive, die zur Einführung des reformierten Anklageverfahrens geführt haben, sowie der Ausgestaltung und Entwicklung dieser Verfahrensform ermittelt werden, welche Funktionen den einzelnen Verfahrensbeteiligten innerhalb der jeweiligen Verfahrensabschnitte zukommen sollen. Für den vorliegenden Zusammenhang ergibt sich die Notwendigkeit einer historischen Aufarbeitung darüber hinaus auch aus der bisherigen Aufarbeitung der Thematik. Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben I, sind die Bewertung der Ziele und Motive, die der Reform des deutschen Strafverfahrensrecht im 19. Jahrhundert zugrunde lagen, von wesentlicher Bedeutung für die derzeit vertretenen Auffassungen zur Rechtsstellung und Funktion der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Zwar haben die obigen Ausführungen gezeigt, daß insoweit nahezu einhellig die Auffassung vertreten wird, die Staatsanwaltschaft verkörpere den Gerechtigkeitswillen des Staates, sie sei als ein dem Gericht gleichgeordnetes, von diesem aber unabhängiges Organ der Strafrechtspflege den Zielen der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit und im Rahmen ihrer gesamten Mitwirkung bei der Justizgewährung im Bereich der Strafrechtspflege zu strikter Objektivität verpflichtet. Grundlage dieser Auffassung ist aber ein wesentlich rechtshistorisch begründetes Verständnis der Struktur des Strafverfahrens, dessen Berechtigung und Bedeutung für die Analyse der Struktur des derzeit geltenden Strafverfahrensrechts ebenfalls nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Analyse der Entwicklung des reformierten Strafprozesses beurteilt werden kann. Nachfolgend sollen daher in einem größeren historischen Abschnitt zunächst die Motive aufgezeigt werden, die im 19. Jahrhundert zur Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Strafprozeß und damit (auch) zur Einführung der Staatsanwaltschaft in das deutsche Strafverfahrensrecht geführt haben. Weiterhin soll dargelegt werden, mit welchen Funktion(en) die Staatsanwaltschaft in das Gesamtgefüge des Strafverfahrens integriert wurde. In einem weiteren Schritt ist dann zu untersuchen, ob und in welchem Maße diese Funktion(en) der Staatsanwaltschaft im Verlauf der historischen Entwicklung Veränderungen erfahren haben. Angesichts der aufgezeigten Notwendigkeit einer Aufarbeitung des historischen Entwicklungsgangs muß es überraschen, daß eine entsprechende Studie - soweit ersichtlich - bisher nicht vorliegt. Die grundlegende Arbeit Küpers I

Vgl. insbesondere oben Kap. A. 11. 1. a), c).

III. Gang der Untersuchung

41

zur ,,Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre(n) geschichtlichen Grundlagen" beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den dogmatisch-wissenschaftlichen Entwicklungsprozessen der strukturellen Grundlagen des deutschen Strafverfahrensrechts. Die bisher vorliegenden, mehr an der rechtstatsächlichen Umsetzung der Verfahrensreform orientierten Arbeiten stellen entweder einzelne Phasen der Reformentwicklung in den Vordergrund oder beschränken sich auf die Darstellung der Entwicklung in ausgewählten Staaten. Die hierdurch bedingte Überbetonung der Entwicklungen vor 1848 und insgesamt der Entwicklung im Königreich Preußen wird der partikularstaatlichen Verfahrensreform in ihrer Gesamtheit nicht gerecht. Um Fehlbewertungen der historischen Entwicklung zu vermeiden, erscheint es notwendig, den mit der Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Anklageprozeß verbundenen komplexen Entwicklungsprozeß umfassend zu untersuchen. Besonderes Gewicht wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung deshalb darauf gelegt, auch die Entwicklung in den nicht preußischen Staaten und vor allem die Bedeutung der partikularstaatlichen Verfahrensreform der 50er und 60er Jahre des 19. Jahrhunderts zu erfassen. Auf der Grundlage der Ergebnisse der rechtshistorischen Untersuchung soll dann abschließend die funktionelle Struktur des derzeitigen Strafverfahrensrechts untersucht und insbesondere die Ausgestaltung der staatsanwaltlichen Verfahrensteilhabe dargelegt werden. Angesichts der umfassenden Themenstellung der Untersuchung soll das Schwergewicht der Erörterungen in den Teilen der Arbeit, die sich direkt mit dem derzeit geltenden Recht befassen, auf die in der bisherigen juristischen Diskussion eher vernachlässigten Verfahrensabschnitte zwischen Anklageerhebung und (rechtskräftigem) Abschluß des gerichtlichen Strafverfahrens gelegt werden. Da sich die Funktion der Staatsanwaltschaft in den Verfahrensabschnitten vor Anklageerhebung für das heute geltende Recht bereits mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Gesetz selbst ergibt, konnte bei der Frage nach der derzeitigen Funktion der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren das Verfahren vor Anklageerhebung insoweit ausgeblendet werden, als es nicht (auch) für die Verfahrensabschnitte nach Anklageerhebung von (struktureller) Bedeutung ist. Demgegenüber war diese Beschränkung im Rahmen der rechtshistorischen Aufarbeitung nicht möglich, da dies wiederum die Gefahr begründet hätte, die historische Entwicklung einseitig bzw. verzerrt darzustellen. Bereits an dieser Stelle sei weiterhin darauf hingewiesen, daß es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit sein kann, zu untersuchen, wie die Funktionen bzw. Funktionsbereiche der Verfahrensbeteiligten abgegrenzt werden sollten. Es soll vielmehr, unabhängig davon, ob diese Ausgestaltung letztlich zu befürworten oder abzulehnen ist, dargelegt werden, wie sich die Funktionen der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren historisch entwickelt haben. Ein Beitrag zu etwaigen Reformüberlegungen kann und soll durch diese Untersuchung nur insoweit geleistet werden, als die Erkenntnis der derzeitigen strukturellen Grundlagen des Strafverfahrens deutlich macht, welche Reformeingriffe bzw. praktischen Ent-

42

I. Teil: Gegenstand und Gang der Untersuchung

wicklungen - verwiesen sei hier auf die aktuelle Problematik der "Absprachen im Strafprozeß"2 - möglich sind, ohne daß die strukturellen Grundlagen des geltenden Strafverfahrensrechts verlassen werden. Überlegungen dahingehend, ob die de lege lata bestehende Struktur des reformierten Strafverfahrens de lege ferenda beibehalten oder reformiert werden sollte, konnten im Rahmen der vorliegenden Arbeit angesichts der bereits sehr umfangreichen Themenstellung nicht mehr angestellt werden. Die Untersuchung versteht sich in dieser Hinsicht als Grundlage für Arbeiten, die sich speziell dieser Fragestellung widmen.

2 Vgl. hierzu im einzelnen Kap. C. IV. 5. e).

Zweiter Teil

Die geschichtliche Entwicklung des Instituts der Staatsanwaltschaft inn deutschen Strafverfahrensrecht I. Der Meinungsstand zu den Gründen für die Einführung der Staatsanwaltschaft 1. Die bisherigen rechtswissenschaftIichen Erklärungsmodelle

Die Staatsanwaltschaft ist im Laufe des 19. Jahrhunderts in das Gefüge des deutschen Strafprozeßrechts integriert worden. Diese Entwicklung war dabei Teil der Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch den sogenannten reformierten Strafprozeß. Bereits die zeitliche Parallele dieser Entwicklung mit den gesellschaftlichen bzw. politischen Umgestaltungen des 19. Jahrhunderts legt es nahe, auch die Umgestaltung des Strafverfahrensrechts als Folge einer allgemeinen politischen Entwicklung zu verstehen. Wie bereits oben dargelegt wurde 1, hatte aber Eb. Schmidt dezidiert die Auffassung vertreten, der mit der Einführung der Staatsanwaltschaft verbundene strukturelle Wandel des Strafverfahrensrechts sei nicht Folge politisch begründeter Reformforderungen gewesen, sondern das Kernstück einer von der Wissenschaft getragenen, allein an der Sache der Strafrechtspflege orientierten Forderung nach einer Reform des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens. Als Kardinalfragen dieser Verfahrensreform sei zum einen die Notwendigkeit einer Aufspaltung der verfahrensbeherrschenden Rolle des Inquirenten, der sich dadurch, daß er gleichzeitig Ankläger, Verteidiger und Richter sein sollte, in einer psychologisch unhaltbaren Situation befand und zum anderen die Ablösung des den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß beherrschenden polizei staatlichen Denkens durch ein rechtsstaatliches Denken erkannt worden. Beide Ziele seien durch die Einführung der Staatsanwaltschaft in das Gefüge des Strafverfahrens erreicht worden: Dadurch, daß der Staatsanwaltschaft die Aufgabe des "angreifenden Klägers" 2 übertragen wurde, konnte der Richter seine "richterliche Entscheidungsfunktion"3 wieder angemessen erfüllen. Die Leitung 1 2

3

Vgl. oben Kap. A. II. Kohlrausch-FS, S. 279. Ebd.

44

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

der Ennittlungstätigkeit durch die Staatsanwaltschaft habe gleichzeitig die Gewähr dafür geboten, daß diese nicht im Geiste polizei staatlichen Zweckmäßigkeitsdenkens, sondern nach rechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere unter Beachtung der Gesetze erfolgt. In der Rechtswissenschaft hat Eb. Schmidt mit diesen Thesen zur Entstehungsgeschichte der Staatsanwaltschaft weitgehend Zustimmung gefunden 4 • Lediglich einige Autoren haben demgegenüber in unterschiedlicher Gewichtung (auch) politische Gründe als Ursache für die Einführung der Staatsanwaltschaft hervorgehoben. Während zum Teil allein darauf hingewiesen wird, daß das Institut der Staatsanwaltschaft "im Gefolge einer politisch bestimmten Refonnbewegung" nach Deutschland gekommen sei 5, sehen andere Autoren die Staatsanwaltschaft als notwendige Folge der (politisch motivierten) Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch ein öffentliches und mündliches Schwurgerichtsverfahren 6. In einer Stellungnahme der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund heißt es, die Staatsanwaltschaft sei ein Kind der im Vonnärz refonnatorisch und 1848 revolutionär zum Ausdruck gelangenden demokratischen und liberalen Ideen 7 • Demgegenüber wurde VOn Elling hervorgehoben, daß die Forderung nach Einführung der Staatsanwaltschaft "eine bemerkenswerte Inkonsequenz im Programm der liberalen Bewegung" gewesen sei, da der Kernpunkt dieser Bewegung ~ die Rechtssphäre des Staatsbürgers gegenüber der Staatsgewalt zu erweitern und zu sichern - durch Einführung der Staatsanwaltschaft als zweites staatliches Organ im Strafverfahren, das "Rechte wider den Angeklagten wahrnehmen sollte", gefährdet worden sei 8. Entscheidend für die Einführung der Staatsanwaltschaft sei deswegen die Tatsache gewesen, daß in den deutschen Staaten seit der Juli-Revolution des Jahres 1830 allgemein die französischen Zustände für nachahmungswürdig gehalten worden seien 9 • Gelegentlich wird auch die von Eb. Schmidt für die Entwicklung in den deutschen Staaten bestrittene These vertreten, die Einführung der Staatsanwalt4 Vgl. Kausch, S. 227 ff.; Küper, S. 181 ff.; Zimmennann, S. 56 ff.; Roxin, DRiZ 1969, 385; Krey Rn. 335 f.; Görcke, ZStW Bd. 73 (1961), 561 (565); Blomeyer, GA 1970, 161 (169); Krause, SchlHA 1968, 105; Hofmeister, NdsRpflege 1958,61; Güde Justiz 1957,301 (304); Marx, GA 1978,365 (368) m. w. N.; Henkel, § 2911; Döhring, DRiZ 1958, 282 f.; Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund, DRiZ 1968, 357. 5 Vgl. z. B. Güde Justiz 1957,301 (303). 6 Börker, JR 1953, 237; aus dem älteren Schrifttum bereits: Floegel, DRiZ 1935, 169; vgl. auch: Günther, Staatsanwaltschaft: Kind der Revolution, passim; kritisch hierzu: Rüping, GA 1992, 147 (150). 7 DRiZ 1968,357. 8 A. A. Roxin, DRiZ 1969, 385 und Börker, JR 1953, 237, die die Auffassung vertreten, die Staatsanwaltschaft sei als Instrument staatsbürgerlicher Befreiung in das Strafverfahren integriert worden. 9 Glaser, in: Holtzendorff Bd. 1, S. 15 f.; Elling, S. 52 ff. (54); vgl. auch Carsten, S.16/17.

I. Meinungsstand

45

schaft sei ein Ausfluß des Bestrebens gewesen, den Strafprozeß in der Konzeption der Gewaltenteilung zu organisieren 10. Als eine "ewige Erfahrung" wird hervorgehoben, daß jede Macht die Tendenz zu ihrem Mißbrauch gleichsam eingebunden in sich selbst trage und deshalb einer kontrollierenden Beschränkung bedürfell. Die durch die Aufteilung der zentralen Strafverfolgungsgewalt des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses entstehenden Teilgewalten sollten sich gegenseitig kontrollieren und Grenzen setzen 12. Die Staatsanwaltschaft sei als Kontrollorgan gegenüber dem Gericht konzipiert gewesen 13. Letztlich handelt es sich bei den oben dargelegten Differenzen vornehmlich um Unterschiede in der Bewertung des Gewichts des "wissenschaftlichen" und "politischen" Anteils bzw. Gehalts der Verfahrensreform. Eine gänzlich andere Kritik erfuhr der Begründungsansatz Eb. Schmidts dagegen aus rechtssoziologischer Sicht; kritisiert wurde hier vor allem die methodologische Herangehensweise. 2. Die rechtssoziologische Kritik an dem in der Rechtswissenschaft vorherrschenden Erklärungsansatz

In einem 1978 veröffentlichten Beitrag haben Blanckenburg und Treiber den oben skizzierten Begründungsansatz Eb. Schmidts als "strukturblind" kritisiert 14. Eb. Schmidt erweise sich als Vertreter des ideengeschichtlichen Ansatzes. Dieser sei dadurch gekennzeichnet, daß "epochale Ideen" 15 die historische Entwicklung lenken, einige "große Männer"16 diese Ideen erkennen und "als Männer der Tat" umsetzen, wobei sie zugleich gegenüber ihren Zeitgenossen ihr Tun begründen. Diese Begründungen würden dann zur Erklärung der historischen Entwicklung herangezogen 17. Dieser Ansatz sei strukturblind, da die Bedeutung von Herrschafts- und ökonomischen Strukturen als innovationsfördernde und innovationshemmende Faktoren verneint bzw. gar nicht gesehen würden. Weiterhin werde nicht beachtet, daß es im Zeitraum zwischen der Aufstellung von Programmzielen und deren 10 Vgl. Gössel, GA 1980,325 (328, 330 f.); Güde Justiz 1957, 301 (302); a. A. neben Eb. Schmidt (Kohlrausch-FS, S. 282; Lehrkommentar Teil I Rn. 96) auch Küper, (S. 179 ff.), der diese Begründung nur für die Einführung des reformierten Strafverfahrens in Frankreich, nicht aber für Deutschland gelten lassen will. Hinsichtlich der deutschen Strafverfahrensreform folgt er der Auffassung Eb. Schmidts, diese sei vornehmlich wissenschaftlich geprägt gewesen und habe im Gegensatz zu Frankreich vor allem das Ziel gehabt, die aus prozeßpsychologischen Erwägungen heraus als problematisch erkannte Stellung des Richters im gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren zu reformieren. 11 Gössel, GA 1980, 325 (338 f.). 12 Ebd., S. 331. 13 Ebd., S. 341. 14 B1anckenburg/Treiber, S. 165. 15 Bei Eb. Schmidt: Das Prinzip der Aktivierung der Rechtsidee. 16 Bei Eb. Schmidt z. B.: v. Savigny, Uhden, Mittermaier. 17 Blanckenburg / Treiber, S. 164.

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

46

Durchführung aufgrund zeitgeschichtlicher Veränderungen zu Vollzugsdefiziten oder auch Zielverschiebungen kommen könne. Zu berücksichtigen sei der von der Implementationstheorie hervorgehobene Gesichtspunkt, daß die Wirkung eines politischen Programms wesentlich von der Art der Durchführung abhänge. Zu klären sei daher, von wem und auf welche Weise ein politisches Programm verwirklicht werde 18. Hinsichtlich der Einführung der Staatsanwaltschaft vertreten Blanckenburg / Treiber die Auffassung, daß diese - wegen der hierdurch bewirkten Aufspaltung der Personaleinheit von Inquirentem und Richter l9 - der bürgerlich-liberalen Bestrebung nach rechtsstaatlichen Garantien entsprach 20. Das mit der Einführung der Staatsanwaltschaft proklamierte Reformziel sei "die Sicherung rechtsstaatlicher Garantien durch Abschaffung des Inquisitionsprozesses" gewesen 21. Die Reformjuristen bzw.liberalen Strafrechtsreformer hätten jedoch allein bei der "Politikformulierung der liberalen 1840er Jahre" mitdiskutieren dürfen 22 . Die Implementierung der so initiierten Reformpolitik hätten die Regierungen an sich gezogen, die an einer reformzielgerechten Implementierung desinteressiert waren und völlig andere Ziele verfolgt hätten 23. Ziel sei es gewesen, "die neu geschaffene Institution der Staatsanwaltschaft für eine Politik der Herrschaftssicherung zu instrumentalisieren."24 Die Regierungen hätten mit dem Auf- und Ausbau der Staatsanwaltschaft versucht, "ihre Machtstellung gegenüber den Gerichten durchzusetzen" 25. Im Anschluß an Carsten führen sie aus, die konservativen Regierungen hätten es verstanden, "das Institut der Staatsanwaltschaft geschickt in ihrem Sinne zu benutzen und ihm eine Stellung zu verschaffen, die es zu einem sicheren und verläßlichen Instrument der herrschenden Gewalten in der Rechtspflege machte."26 Die Reformpolitik sei darauf hinausgelaufen, "daß die Regierungen durch die Einführung der Staatsanwaltschaft nur an Macht gewonnen hatten, da sie die Einrichtung, die zum Schutze des Angeklagten gegen Willkür des Inquirenten gedacht war, dazu benutzten, ihren eigenen Einfluß auf das Strafverfahren, ihre Machtstellung gegenüber den Gerichten zu erhalten oder noch zu stärken." 27 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 165. Ebd., S. 166.

Blanckenburg / Treiber, S. 163, 165 f.; ebenso: Schubert, S. 123. Blanckenburg / Treiber, S. 165. Ebd., S. 163, 173. Blanckenburg / Treiber, S. 163, 165, 173; a. A.: Schwarze, GS Bd. 16 (1864), 401 (406); Roxin, DRiZ 1969,385, die der Auffassung sind, die Staatsanwaltschaft sei nicht als Instrument obrigkeitlicher Repression, sondern als Erbe der Aufklärung und als Mittel staatsbürgerlicher Befreiung konzipiert worden. 24 Blanckenburg/Treiber, S. 169; vgl. auch Brangsch, NJW 1951,59 (61). 25 Blanckenburg / Treiber, S. 163, 165/166. 26 Carsten S. 20 f.; Blanckenburg / Treiber, S. 168; ebenso: Schubert, S. 124; einschränkend: Gössel, GA 1980, 325 (326). 27 Blanckenburg / Treiber, S. 170; Carsten, S. 33, 37.

I. Meinungsstand

47

Begründet wird diese Ansicht im wesentlichen damit, daß die hierachische Struktur der Staatsanwaltschaft mit dem Justizminister an der Spitze und der Beamtenstatus des einzelnen Staatsanwaltes in Verbindung damit, daß sich z. B. in Preußen jeder Richter vor seiner Anstellung als Staatsanwalt politisch zu bewähren und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu lernen hatte, die Staatsanwaltschaft zu einem Disziplinierungs- und Herrschaftsinstrument der Regierung und zu einem Kontrollorgan gegenüber den Gerichten und Richtern gemacht habe 28. 3. Kritische Würdigung des Meinungsstandes

Hinsichtlich der Frage nach den maßgeblichen Motiven für die Einfügung der Staatsanwaltschaft in das Strafverfahren stimmen Blanckenburg und Treiber grundsätzlich mit dem von ihnen abgelehnten Ansatz Eb. Schmidts überein, sie sehen die Einführung der Staatsanwaltschaft allerdings - wie auch einige Vertreter der Rechtswissenschaft 29 - wesentlich als Folge politischer Reformforderungen. Ihre Kritik, der von Eb. Schmidt entwickelte Begründungsansatz würde die Implementierung der Staatsanwaltschaft als Institution nicht ausreichend berücksichtigen, ist im Ansatz zutreffend; ihre Ausführungen verfehlen indes die für die Frage nach der Funktion der Staatsanwaltschaft im arbeitsteilig-funktionalen Zusammenwirken mit den Gerichten maßgebenden Aspekte. Es mag sein, daß (konservative) Regierungen die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft als Institution dazu benutzt haben, Einfluß auf die Strafrechtspflege zu nehmen. Soweit in der Staatsanwaltschaft ein Disziplinierungsinstrument gegenüber den Gerichten gesehen wird, werden allein Möglichkeiten einer indirekten Disziplinierung aufgezeigt, die im vorliegenden Zusammenhang interessierende und auch hinsichtlich einer etwaigen "Kontrollfunktion gegenüber den Gerichten" bedeutsame Frage nach der Funktion und Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren selbst wird dagegen nicht erörtert. Gerade wenn man aber davon ausgeht, daß (auch in der heutigen Zeit) von der Exekutive der Versuch gemacht wird, Einfluß auf die Judikative auszuüben, erscheint es umso dringlicher, die funktionelle Struktur des reformierten Strafverfahrens und damit die Funktionsbereiche der am Verfahren beteiligten Organe offenzulegen. Maßgeblich ist damit aus heutiger - jedenfalls rechtsdogmatischer - Sicht nicht, daß die Regierungen der deutschen Partikularstaaten die Institution der Staatsanwaltschaft als "Herrschaftsinstrument" benutzen wollten; eine mehr als historische Bedeutung hätte dieser Versuch nur dann, wenn er sich in der Struktur des Verfahrens niedergeschlagen hätte. Auch wenn die von Blanckenburg / Treiber geäußerte Kritik - zumindest aus rechtsdogmatischer Sicht - den Begründungsansatz Eb. Schmidts nicht grund28 29

Blanckenburg / Treiber, S. 170 ff. Vgl. Kap. B. I. 1.

48

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

sätzlich in Frage zu stellen vennag, ist allerdings für die vorliegende Untersuchung ein Hinweis von Bedeutung: Blanckenburg und Treiber 30 weisen darauf hin, daß der Umstand, der in Preußen die von Eb. Schmidt angenomme "Aktivierung der Rechtsidee" tatsächlich ausgelöst hat, nicht die Promemoria der Minister v. Savigny und Uhden gewesen ist, sondern der Polen aufstand des Jahres 1846, der die Einführung eines mündlichen, öffentlichen Anklageverfahrens als notwendig erscheinen ließ, wenn dem staatlichen Interesse an einer zügigen (und öffentlichen) Durchführung des Verfahrens entsprochen werden sollte 31. Die Problematik des Begründungsansatzes von Eb. Schmidt liegt tatsächlich darin, daß er die rechtstatsächliche Umsetzung der Verfahrensrefonn und damit die hierzu in Beziehung stehenden politischen Hintergründe und Intentionen weitgehend ausblendet. Der Hinweis darauf, daß die Ausführungen v. Savignys / Uhdens in der Promemoria vom 23.3. 1846 "der rechts wissenschaftlichen Auffassung jener Zeit vollkommen entsprochen" haben 32 bzw. "allgemein anerkannte Anschauungen und Grundsätze widerspiegel(n)" 33 können ebenso wenig ausreichen wie die Bemerkung, daß das wissenschaftliche Werk Mittennaiers "zweifellos den größten Einfluß gehabt habe." 34 Überzeugen könnte dies nur unter der Voraussetzung, daß es sich bei der partikularstaatlichen Verfahrensrefonn tatsächlich, wie von Eb. Schmidt vertreten 35 , um eine von der Wissenschaft maßgeblich getragene Refonn gehandelt hat. Eb. Schmidt selbst erkennt an, daß die Verfahrensrefonn durch politische Einflüsse ausgelöst worden ist 36 • Zu untersuchen wird sein, ob und in welchem Umfang die von Eb. Schmidt hervorgehobenen Ideen der führenden Strafprozessualisten tatsächlich Eingang in die Verfahrensrefonn gefunden haben. Im Rahmen dieser Untersuchung wird sich dann auch zeigen, mit welcher Funktion die Staatsanwaltschaft in das Strafverfahren "implementiert" wurde.

Blanckenburg / Treiber, S. 169/170. Vgl. hierzu auch Gössel, GA 1980, 325 (326, 328) sowie Kap. B. III. 6. b). 32 Eb. Schmidt, DRiZ 1957,273 (276). 33 Ebd. 34 Kohlrausch-FS, S. 276. 35 Vgl. Kap. A. II. 1.; B. I. 1. 36 Kohlrausch-FS, S.273; noch weitergehend Küper, S. 167, der hervorhebt, "die Reformbewegung als ganze wie ihre Ergebnisse im einzelnen (seien) entscheidend durch politische Faktoren mitgeprägt." Ebd., S. 168 und noch deutlicher in der Peters-FS, S. 32 f. vertritt er dann jedoch wie Eb. Schmidt die Auffassung, die Verfahrensreform weise (zumindest in den späteren Phasen) ausgeprägt wissenschaftliche Grundzüge auf und sei wesentlich von der Dogmatik getragen; insbesondere im Verlauf der Reformbewegung sei ein deutliches Anwachsen prozeßdogmatisch-theoretischer Bemühungen spür30

31

.bar.

II. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

49

11. Die Ausgangsbedingungen für die Reform des Strafverfahrens in den deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts 1. Einleitung

Das Institut der Staatsanwaltschaft fand im Verlauf des 19. Jahrhunderts Eingang in das deutsche Strafprozeßrecht. Soweit ersichtlich, taucht es erstmalig in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Entwürfen zu Strafverfahrensreformgesetzen einiger süddeutscher Partikularstaaten auf!. Tatsächlich eingeführt wurde die Staatsanwaltschaft erstmalig im Großherzogturn Baden durch das Gesetz vom 28.11.1831. Ebenso wie nach dem Gesetz des Königreichs Hannover vom 16.2. 1841 oblag der Staatsanwaltschaft vornehmlich die Aufgabe, gegen Entscheidungen der Strafgerichte Rechtsmittel im Interesse des Staates einzulegen. Durch das provisorische Gesetz vom 18.2.1836 wurde die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft im Großherzogturn Baden auf die Mitwirkung im Verfahren vor dem erkennenden Gericht ausgedehnt. Eine vergleichbare Beteiligung am Strafverfahren ergab sich nach der Strafprozeßordnung für das Königreich WÜI1temberg vom 22.6.1843. Durch eine Verordnung vom 17.7.1846 wurde im Königreich Preußen der Anklageprozeß unter Mitwirkung der Staatsanwaltschaft eingeführt, allerdings beschränkt auf die Verfahren bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht in Berlin.

In den Jahren 1848 bis 1870 führten dann bis auf die beiden Fürstentümer Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe sowie die beiden Mecklenburgischen Großherzogtümer 2 alle deutschen Staaten - wenn auch in unterschiedlichem Umfang - den Anklageprozeß ein. Die Verfahrensteilhabe der Staatsanwaltschaft wurde hierbei zwar zum Teil unterschiedlich ausgestaltet, das Institut der Staatsanwaltschaft als solches war aber Teil jedes Reformgesetzes. Abgeschlossen wurde dieser Prozeß durch das Inkrafttreten der Reichsstrafprozeßordnung vom 1.2. 1877, die das reformierte Strafverfahren und das Institut der Staatsanwaltschaft einheitlich im ganzen Deutschen Reich einführte. Grundlage der oben kurz skizzierten komplexen Entwicklung war die Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses durch den sogenannten reformierten Strafprozeß. Die mit diesem Vorgang verbundenen Intentionen und Motive werden nur dann verständlich, wenn die Situation der Strafrechtspflege in den deutschen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Betrachtung einbezogen wird. Nachfolgend soll daher zunächst ein Überblick gegeben werden über die Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts und die Mißstände, die in der Strafrechtspflege vor Eintritt in die Reformphase der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts aufgetreten waren. 1 Königreich Württemberg 1828, 1830 und 1839; Großherzogturn Baden 1835; Königreich Bayern 1831. 2 Mecklenburg-Schwerin kannte allerdings seit 1857 die Institution des sog. CriminalFiscals (vgl. hierzu Kap. B. VII. 3.).

4 Wohlers

50

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

2. Der Inquisitionsprozeß als Vorläufer des reformierten Strafprozesses

a) Die Grundstruktur des Inquisitionsveifahrens Seiner Grundkonzeption nach war der sogenannte Inquisitionsprozeß darauf angelegt, daß ein mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattetes und allein für das Verfahren verantwortliches Organ der Staatsgewalt, der sog. Inquirent, auf einen Verdacht hin von Amts wegen tätig wurde. Seine Aufgabe war es, die materielle Wahrheit zu ermitteln und auf dieser Grundlage entweder selbst ein Urteil zu fallen oder aufgrund des Untersuchungsergebnisses die nach Aktenlage ergehende Entscheidung eines Spruchkörpers herbeizuführen 3. Dem einer strafbaren Handlung Verdächtigen kam eine Subjektstellung innerhalb des Verfahrens zur Wahrheitsfindung nicht zu 4 • Er hatte nicht nur keine prozessualen Verteidigungsrechte, sondern war vielmehr verpflichtet, an der prozessualen Wahrheitsfindung durch den Inquirenten, d. h., an seiner eigenen Überführung, mitzuwirken 5. War der Inquirent der Überzeugung, der Inquisit verweigere zu Unrecht ein Geständnis, konnte er mit prozessualen Zwangsmitteln auf diesen einwirken. Als adäquates Zwangsmittel wurde insbesondere auch die körperliche Folter angesehen, die zwar im Verlaufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts endgültig in den deutschen Partikularstaaten abgeschafft, praktisch aber lediglich durch psychische Torturen abgelöst und im übrigen durch Institute wie z. B. die Verdachtsstrafen und die Instanzentbindung ersetzt wurde 6. Die Bedeutung der Folter für das Verfahren liegt darin begründet, daß aufgrund gesetzlicher Beweisregeln eine Verurteilung weitgehend nur dann möglich war, wenn der Inquisit die Tat gestanden hatte? Im übrigen war - auch soweit ein Geständnis nicht unverzichtbare Voraussetzung einer Verurteilung war - nach den damaligen forensischen und insbesondere auch verkehrstechnischen Möglichkeiten eine andere Art der Beweisführung vor erhebliche praktische Probleme gestellt 8.

Eb. Schmidt, Einführung, S. 86 f.; Sellert / Rüping, S. 109 f. Henkel, § 9IV4. 5 Biener, GS 1855 (Bd. 1),408 (435). 6 Noellner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841),36 (46 ff.); Henkel, § 9IV3; Köstlin, Wendepunkt, S. 102 f.; Küper, S. 117 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 70AII; Sellert / Rüping, S. 466; Zimmermann, S. 6 ff.; umfassend zur Verdachts strafe: Schaffstein, ZStW Bd. 101 (1989),493 (494 ff.). ? Noellner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 36 (45 ff.); Kleinheyer, Geständnis, S. 378; ders., Tradition, S. 11; Sellert / Rüping, S. 268. Zur zunächst noch allein formalen Bedeutung des Geständnisses in den Frühformen des Inquisitionsverfahrens vgl.: Kleinheyer, Geständnis, passim; Trusen, S. 81 ff. 8 Eb. Schmidt, Einführung, S. 89 ff.; Kleinheyer, Geständnis, S. 368; vgl. auch den Kommissionsbericht der 1. Kammer der badischen Ständeversammlung zum Entwurf des Jahres 1843, mitgeteilt bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 136 (141 f.). 3

4

II. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

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Die Grundkonzeption des Inquisitionsverfahrens entsprach mit dem absoluten Vorrang der staatlichen Machtentfaltung und der weitgehenden Rechtlosigkeit des einzelnen Untertanen gegenüber der staatlichen Gewalt absolutistisch-polizeistaatlichen Vorstellungen von den Zusammenhängen zwischen staatlicher Machtbehauptung bzw. -entfaltung, der rechtlichen Position des Einzelnen und der Reaktion auf die Verletzung sozialer Normen. Das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren erscheint damit als das dem absolutistischen Staat kongenial entsprechende Strafverfahren 9. Ob sich der Inquisitionsprozeß in den deutschen Staaten selbständig entwickelt hat oder aus dem mittelalterlich-italienischen, insbesondere kanonischen Recht übernommen wurde, braucht hier nicht vertieft zu werden 10. Allgemein anerkannt dürfte sein, daß der germanische Rechtsgang mit seiner aus heutiger Sicht formellen Wahrheitsfindung 11 und der weitgehend Privatpersonen obliegenden Strafverfolgungsinitiative den im Verlauf des Mittelalters sich wandelnden Vorstellungen von der Funktion der Strafrechtspflege nicht mehr entsprach 12. Im Zuge der Etablierung der staatlichen Macht war der Schutz der Rechtsgemeinschaft vor Verletzungen sozialer Normen zu einer primär staatlichen Aufgabe geworden 13. Das Strafrecht sollte nicht mehr - wie der Rechtsgang germanischer Prägung 14 - in erster Linie eine Friedensordnung zwischen (freien) Gemeinschaftsmitgliedern gewährleisten, sondern der Durchsetzung des staatlich garantierten Landfriedens dienen 15. Folge dieses Funktionenwandels war zunächst, daß die ursprünglich auf Wiedergutmachung abzielenden Sanktionen allgemein in Strafen gegen Leib und Leben (sogenannte peinliche Strafen) umgewandelt wurden 16. Weiterhin mußte sich aber auch das Strafverfahrensrecht in seiner inhaltlichen Ausrichtung und seiner formellen Ausgestaltung den neuen Anschauungen anpassen. Der germanische Rechtsgang war so lange ein den gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechendes Verfahren, wie das Strafverfahren vornehmlich die Aufga9

Glaser, in: Holtzendorff Bd. 1, S. 15; Sundelin, S. 23; Zachariae, Handbuch Bd. 1,

§ 26II; Gössel, GA 1980, 325 (329); Henkel, § 9II; Hettinger, S. 87, 89; Eb. Schmidt,

Einführung, S. 194, 324; vgl. auch Biener, GS 1855 (Bd. 1), 408 (415). 10 Vgl. einerseits Eb. Schmidt, Einführung, S. 86 ff. (114 f.); ders., ZStW Bd.85 (1973),857; ders., ZStW Bd. 62 (1944), 232 (253 ff.) und andererseits Oehler, KaufmannGedS, S.847; w. N. b. Sellert/Rüping, S. 109 Fn. 166; Jerouschek, ZStW Bd.104 (1992), 328 (334, 347 f.); Trusen, passim; aus dem älteren Schrifttum grundlegend hierzu; Biener, Beiträge, S. 134 ff., 145 ff. 11 Vgl. Binding, S. 187 ff.; Biener, Beiträge, S. 137. 12 Hettinger, S. 86 m. w. N. 13 Eb. Schmidt, Einführung, S. 114; ders., ZStW 62 (1944), 232 (236 ff.); Küper, S. 109; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 67C; Biener, GS 1855 (Bd. 1), 408 (411 f.). 14 Eb. Schmidt, Einführung, S. 37 ff., 76 ff.; Sellert / Rüping, S. 61 ff., 107 ff.; Küper, S.107. 15 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 48 ff.; Trusen, S. 58 ff., 77 ff. 16 Eb. Schmidt, Einführung, S. 57 ff.; Sellert / Rüping, S. 98 ff.; Biener, GS 1855 (Bd. 1), 408 (412); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 67C; Henkel, § 61. 4*

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

be hatte, freien Gesellschaftsmitgliedem die Wiederherstellung der zwischen ihnen gestörten Rechts- bzw. Friedensordnung zu ermöglichen. Durch den mit der Etablierung staatlicher Macht verbundenen Wandel in der Funktion des Strafrechts war es nicht mehr vordringliche Aufgabe des Strafverfahrens, eine Friedensordnung durch ein ritualisiertes Verfahren wiederherzustellen; vielmehr sollte das Strafverfahren der Staatsgewalt die Möglichkeit eröffnen, tatsächlich begangene Verletzungen sozialer Normen zu ahnden. Voraussetzung hierfür war zum einen ein auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit gerichtetes Verfahren 17. Zum anderen mußten, da die Strafrechtspflege nunmehr eine staatliche Aufgabe war, amtswegige Verfahren in weitem Umfang möglich sein 18. Zwar hatte es amtswegige Verfahren bereits in gewissem Umfang auch im altgermanischen Rechtsgang gegeben 19. Die neue Qualität, die durch das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren in die Strafrechtspflege eingebracht wurde, bestand jedoch darin, daß sich die amtswegige Strafverfolgung durch den sogenannten Inquirenten als Normalfall des Strafverfahrens etablierte, neben der die praktische Bedeutung des in der Theorie weiterbestehenden akkusatorischen Verfahrens beständig abnahm 20 • Obwohl das formelle Anklageverfahren in den geschriebenen Rechtsquellen der Rezeptionszeit weiterhin bestehen blieb, neben dem amtswegigen Verfahren formell sogar die eigentliche Grundform des Verfahrens war 21 , hatte es jedenfalls für die praktische Strafrechtspflege im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert keine Bedeutung mehr 22 • Indem der Staat in nahezu jedem Fall ex officio einschritt und ein potentieller privater Ankläger von einer Prozeßführung dadurch abgehalten wurde, daß er während des Verfahrens, vor allem aber im Falle des Prozeßverlustes mit erheblichen eigenen Nachteilen zu rechnen hatte 23, wurde die durch eine Straftat verletzte Privatperson in die Rolle eines bloßen Denunzianten abgedrängt 24.

17 Eb. Schmidt, Einführung, S. 86 ff.; Sellert / Rüping, S. 110; Binding, S. 189 f.; Biener, GS 1855 (Bd. 1), 408 (414); Henkel, § 6. 18 Eb. Schmidt, Einführung, S. 86 ff.; Henkel, § 6; Sellert / Rüping, S. 110. 19 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 43 ff., 84 ff.; Sellert / Rüping, S. 108; Gerland, S. 15; Binding, S. 185; Elling, S. 8 f.; aus dem älteren Schrifttum: Biener, Beiträge, S. 134 ff., 140 ff. 20 Eb. Schmidt, Einführung, S. 123 ff., 198 ff.; Roxin § 69AII2a; Henkel, § 9IVl. 21 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang allerdings, daß sich die zunächst noch vorgesehene Verfahrensrolle des Anklägers bereits in den Rezeptionsgesetzen auf die Ingangsetzung des Verfahrens beschränkte, das selbst inquisitorisch ablief (vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 195; ders., ZStW Bd. 85 (1973), 857 (860); Sellert/Rüping, S. 206 f., 264; Kleinheyer, Tradition, S. 22; a. A.: Trusen, S. 112 ff.). 22 Eb. Schmidt, Einführung, S.123ff., 198ff.; Sellert/Rüping, S.464ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 69AII2a; Henkel, § 9IVl. 23 Eb. Schmidt, Einführung, S. 198 ff.; Henkel, § 8III2. 24 Küper, S. 109; Henkel, § 9IVl.

11. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

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b) Die Ausgestaltung des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses Die Ausgestaltung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens wird durch die Maximen der Verbrechensverfolgung als amtswegige Pflicht des Staates und die uneingeschränkte Machtstellung des Inquirenten als alleiniges staatliches Organ im Verfahren geprägt: Der Inquirent wird von Amts wegen tätig, wenn er von einer möglichen strafbaren Handlung durch Anzeige oder auch gerüchteweise Kenntnis erlangt hat, wenn Indizien einen entsprechenden Verdacht begründen bzw. die Begehung eines Verbrechens offenkundig ist. In Anlehnung an das kanonische Vorbild gliederte sich der Inquisitionsprozeß in seiner ursprünglichen, maßgeblich durch die Autorität Carpzows geprägten Ausgestaltung in zwei grundsätzlich zu unterscheidende Verfahrensabschnitte 25 : In der sogenannten Generalinquisition 26 hatte der Inquirent die Frage zu klären, ob tatsächlich ein bestimmtes Verbrechen vorlag und eine konkrete Person mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als Verdächtiger in Betracht kam. Verfahrensziel der Generalinquisition war damit die Feststellung des sogenannten corpus delicti, dessen Annahme je nach Delikt an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft war. Die Gestaltung des Untersuchungsverfahrens war grundsätzlich dem Ermessen des Inquirenten überlassen, bestimmte Untersuchungshandlungen, insbesondere die peinliche Befragung, d. h. die Folter, waren in diesem Verfahrensabschnitt indes, ausgeschlossen 27. Hatte die Generalinquisition zur Feststellung des corpus delicti geführt, wurde die sogenannte Spezialinquisition 28 eröffnet, deren Ziel darin bestand, den Tatbestand des Verbrechens nebst den erforderlichen Beweismitteln festzustellen. In der Regel wurde der Verdächtige als "Inquisit" in Haft genommen 29 • Gestand er die ihm angelastete Tat nach Vorhalt der Beschuldigung und der (in der Generalinquisition gewonnenen) Beweise nicht, wurde er vom Inquirenten dem sogenannten artikulierten Verhör unterzogen, d. h., er wurde anhand eines Fragenkatalogs vernommen, der auf der Grundlage der Ergebnisse der Generalinquisition ausgearbeitet worden war 30 • Die Fragen und Antworten wurden schriftlich festgehalten, um insbesondere in den Fällen, in denen der Inquirent nicht selbst das Urteil zu fällen hatte, nach Abschluß der Spezialinquisition eine Entscheidung nach Aktenlage zu ermöglichen 3l • Erst nach Abschluß der Untersuchung konnte 25 Zur grundsätzlichen Ausgestaltung vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 195; Sellertl Rüping, S. 264 ff.; zum Einfluß Carpzows vgl. insbesondere: Biener, Beiträge, S. 165 ff., 182 ff. 26 Vgl. hierzu Eb. Schmidt, Einführung, S. 195 ff.; Henkel, § 9IV2a. 27 Auch der Verdächtige konnte nur informatorisch als Zeuge befragt werden (vgl. Sellert I Rüping, S. 265). 28 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 197 ff.; Henkel, § 9IV2b. 29 Sellert I Rüping, S. 266. 30 Vgl. Sellert I Rüping, S. 266 f.; Löhr, S. 29 f. 3l Eb. Schmidt, Einführung, S. 197 f.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

der Defensor die Ennittlungsakten einsehen und eine Verteidigungs schrift zu den Akten reichen 32. Der Inquisitionsprozeß in seiner oben skizzierten Ausgestaltung wies mit der strengen Unterscheidung zwischen General- und Spezialinquisition zumindest noch gewisse den Inquisiten schützende Fonnen auf. Ein entscheidender Unterschied zwischen General- und Spezialinquisition bestand darin, daß der Inquisit (erst) im Rahmen des artikulierten Verhörs auch der Folter unterzogen werden durfte, um ein Geständnis zu erlangen 33. Eine solche Einschränkung der freien Machtenfaltung obrigkeitlicher Organe stand indes nicht im Einklang mit dem absolutistischen Staatsverständnis 34 • Nach den damaligen Vorstellungen war die gesamte polizeiliche Tätigkeit des Staates, zu der auch die Strafrechtspflege gerechnet wurde, vornehmlich unter dem Gesichtspunkt einer möglichst wirkungsvollen Durchsetzung staatlicher Macht zu organisieren. Dem entsprach es, daß die den Inquirenten in seiner Tätigkeit behindernde Unterscheidung zwischen General- und Spezialinquisition ihre Bedeutung verlor. Das so von allen Fönnlichkeiten in der Verfahrensgestaltung freigestellte Verfahren war allein dem zweckgebundenen Ennessen des Inquirenten anheimgestellt, der insbesondere nicht mehr an die ursprünglichen Voraussetzungen für die Anwendung von Zwangsmitteln (insbesondere der körperlichen bzw. später psychischen) Folter gebunden war 35 • c) Die Mißstände des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens

Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich zumindest in der strafprozeßrechtlichen Literatur nahezu allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß der gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß aufgrund seiner Mängel einer grundlegenden Refonn bedürfe 36• Als eigentliche Ursache der Gebrechen der Strafrechtspflege wurde die grundsätzliche Konzeption des Inquisitionsverfahrens selbst erkannt. Aufgrund der Unbestimmtheit des Verfahrens hinsichtlich seiner Fonn und des Verfahrensgegenstandes waren effektive Verteidigungsmöglichkeiten für den Inquisiten nicht gegeben 37. 32

Eb. Schmidt, Einführung, S. 197; ders., ZStW Bd. 85 (1973), 857 (864 f.); Henkel,

§ 91V4.

33 Vgl. Sellert/Rüping, S.265, 267, 465; Eb. Schmidt, ZStW Bd.85 (1973), 857 (862). 34 Vgl. Sellert / Rüping, S. 273; Biener, Beiträge, S. 184 ff. NachZachariae, Handbuch Bd. I, ~ 57 lag diese Entwicklung im Grundansatz des Inquisitionsprinzips begründet. 35 Eb. Schmidt, Einführung, S. 203 ff.; Sellert / Rüping, S. 273,377; Gössel, GA 1980, 325 (327); Henkel, § 911. 36 JA. A. Hoepfner, S. 42 ff. 37 Biener, GS 1855 (Bd. 1),408 (423 f.); Mittermaier, Mündlichkeit, S. 297 ff.; ders., ArchCrimR (NF) 1837, 1 (7 ff.); Köstlin, Wendepunkt, S. 102 f.; Zachariae, Gebrechen,

11. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

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Dem Inquisiten wurde - selbst wenn er sich in Haft befand - in der Regel weder mitgeteilt hinsichtlich welcher tatsächlicher Umstände noch unter welchen rechtlichen Gesichtpunkten gegen ihn ermittelt wurde. Angesichts dieser Ungewißheit fehlte ihm jeglicher Anhaltspunkt für eine wirksame Verteidigung. Diese wäre darüber hinaus auch bereits dadurch unmöglich gewesen, daß dem Inquisiten keine prozessualen Verteidigungsbefugnisse zur Verfügung standen. Der Inquisit, der auch während monate- oder jahrelanger Untersuchungsverfahren ohne Verteidiger blieb, war damit allein darauf angewiesen, daß der Inquirent von sich aus auch möglichen entlastenden Umständen nachging. Die fehlende Bestimmtheit des Verfahrensgegenstandes bereits zu Beginn der Untersuchung hatte weiterhin zur Folge, daß der Inquirent die Untersuchung so lange auf weitere Handlungen des Inquisiten ausdehnen konnte, bis er ein strafwürdiges Verhalten festgestellt hatte. Nach nahezu allgemeiner Überzeugung war das allein der praktisch schrankenlosen und gleichzeitig unkontrollierten Gewalt des Inquirenten überantwortete Untersuchungsverfahren nicht geeignet, das selbstgesteckte Ziel des Inquisitionsprozesses - die Ermittlung der materiellen Wahrheit - zu erreichen 38. Aufgabe des Inquirenten war es, Spuren möglicher Verbrechen zu verfolgen. Ihm oblag die gesamte Ermittlung des Sachverhalts, die Bestätigung des von ihm selbst ausgesprochenen Verdachts und die Auffindung und Sicherung der Beweise. Gleichzeitig sollte er auch dafür Sorge tragen, daß die für den Verdächtigen sprechenden Umstände ermittelt und berücksichtigt wurden. Die Vereinigung der Aufgabe des Anklägers, des Verteidigers und des Untersuchungsorgans in einer Person wurde als psychologische Überforderung erkannt 39. Mittermaier hat überzeugend dargelegt, daß der Inquirent, durch den von ihm selbst zu Beginn des Verfahrens bejahten Verdacht bei seiner Untersuchungstätigkeit insoweit befangen war, als es ihm - zumindest unbewußt - darum ging, den von ihm selbst bereits bejahten Verdacht bestätigt zu sehen. Im Verlaufe der Untersuchung verfestigte sich das vorgefaßte Bild der Wahrheit immer mehr, so daß der Inquirent tatsächlich nicht in der Lage war, entlastende Umstände und die objektive Wahrheit zu erkennen. Abgesehen von diesen psychologischen Momenten wurde die Gefahr willkürlichen Verhaltens des Inquirenten dadurch begründet, daß dieser wegen seiner Abhängigkeit gegenüber dem jeweiligen Landesherrn, verbunden mit dem Erwartungsdruck gegenüber seiner Rolle als S. 123 ff., 138 ff.; vgl. auch Hahn, Motive zur RStPO, S. 159 f.; Eb. Schmidt, Einführung, S.328. 38 Mittermaier, ArchCrimR (NF) 1837, 1 (6 f.); ders., ArchCrimR (NF) 1842, 424 (442 ff.; 455); ders., Gesetzgebung, S. 272 ff.; Köstlin, Wendepunkt, S. 78, 80; v. Savigny, Denkschrift, S. 43; Zachariae, Gebrechen, S. 91 ff.; Vgl. Eb. Schmidt, Einführung, S. 328; Gössel, GA 1980,325 (327); Küper, S. 112 f. 39 Der Erwartungsdruck gegenüber dem Inquirenten wurde zusätzlich noch durch die Spruchdiskasterien erhöht, die erwarteten, vollständig aufgearbeitete, d. h., subsumtionsfahige Akten übersandt zu bekommen.

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

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Strafverfolgung sorg an zu "falschem Amtseifer" und damit zu ungerechtfertigten oder zumindest zu energisch betriebenen Untersuchungen veraniaßt wurde 40. Eine weitere erhebliche Gefahr für die Richtigkeitsgewähr des Urteils bestand schließlich darin, daß die erkennenden Richter, an welche die Akten nach Abschluß der Untersuchung versandt wurden, allein auf der Grundlage der Ermittlungsakten und damit aus zweiter Hand zu urteilen hatten 41 • Bewußte oder unbewußte Verfälschungen des Untersuchungsergebnisses durch den Inquirenten machten diesen neben seinen oben genannten Funktionen auch noch zum mittelbar erkennenden Richter 42 • Verschärft wurde diese Gefahr noch in den Fällen, in denen der Inquirent als Berichterstatter in einem Kollegium oder als Einzelrichter im Anschluß an die von ihm selbst geführte Untersuchung ein Urteil zu fällen hatte 43. 3. Die Folgerungen der Rechtswissenschaft aus den Mißständen des Inquisitionsverfahrens

a) Einleitung Das rechtswissenschaftliche Schrifttum war sich spätestens seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts einig, daß das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren reformbedürftig war. Nachdem zunächst einige Autoren noch die Auffassung vertreten hatten, es sei ausreichend, das Strafverfahren systemimmanent zu reformieren 44, hatte sich seit Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß eine umfassende Reform unter Einführung neuer Verfahrensgrundsätze und einer neuen Verfahrensstruktur unumgänglich sei. Im Ergebnis bestand Einigkeit dahingehend, daß der neue Verfahrenstyp die Mißstände des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens beseitigen, am Ziel einer materiell gerechten Entscheidung auf der Grundlage materieller Wahrheit aber festgehalten werden müsse. Außerdem wurde die Strafrechtspflege übereinstimmend als eine dem Staat obliegende und daher durch staatliche Organe wahrzunehmende Aufgabe angesehen. Verdeckt wurde diese grundsätzliche ÜbereinArchCrimR (NF) 1842,424 (442 ff.). Zimmermann, S. 118 ff.; Gössel, GA 1980,325 (327); Küper, S. 115 f.; Löhr, S. 30; Mittermaier, ArchCrimR (NF) 1837, 1 (9 ff:); Zachariae, Gebrechen, S. 156 ff.; Elling, S. 22 f. Ursprünglich war diese Verfahrensgestaltung als Schutz für den Inquisiten gedacht gewesen (vgl. SeIlert / Rüping, S. 270). 42 Vgl. die Motive zum Entwurf einer Strafprozeßordnung für Baden von 1835, mitgeteilt bei Noellner, ZfStrVerfn. F. Bd. 1 (1844),86 (90 f.) sowie den Kommissionsbericht der Ersten Kammer der badischen Ständeversammlung, mitgeteilt bei NoeIlner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 136 (141); Elling, S. 23 f. 43 Vgl. bei NoeIlner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (391). 44 Vgl. z. B. Baner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 105 (120 ff.); Hepp, S. 3, 40 ff.; Hoepfner, passim; zum Stand der rechtswissenschaftlichen Diskussion bis 1843 vgl. zusammenfassend: Mittermaier, Mündlichkeit, S. 13 ff. 40 41

11. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

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stimmung innerhalb der rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion jedoch durch einen langanhaltend und ausführlich ausgetragenen Streit über die Bezeichnung der dem Verfahren zugrundezulegenden Verfahrensgrundsätze, insbesondere des Anklage- und Untersuchungsprinzips, bei der sich die Vertreter einer formellen und einer materiellen Abgrenzungslehre gegenüberstanden 45.

b) Der Streit um die Abgrenzung des Anklageund Untersuchungsgrundsatzes aa) Die Vertreter einer formellen Abgrenzung der Verfahrensprinzipien Insbesondere Zachariae und Mittermaier wollten den Untersuchungs- und Anklage grundsatz nach formellen Kriterien unterscheiden. Nach dem Anklage- oder Akkusationsprinzip seien am Strafverfahren drei Rechtssubjekte beteiligt: Der entscheidende Richter, der Anklagevertreter und der Angeschuldigte. Das Verfahren sei dadurch gekennzeichnet, daß dieses nur auf Antrag des mit der Person des Richters nicht identischen Anklägers eingeleitet werden könne 46 • Demgegenüber kenne das auf dem Untersuchungs- oder Inquisitionsprinzip beruhende , Verfahren nur ein Verfahrenssubjekt, den Inquirenten. Dieser leite das Verfahren ein und führe es durch. Der Angeschuldigte sei hier nur Objekt, nicht aber Subjekt des Verfahrens 47. Das Ziel des Strafverfahrens sahen Zachariae und Mittermaier in der Ermittlung der materiellen Wahrheit in rechtlicher Art und Weise 48. Die beste Form des Strafprozesses sei diejenige, die ein Optimum an Wahrheit und gleichzeitig sicher schützende Formen gegen Willkür gewährleiste 49 • Das inquisitorische Verfahren verfehle die materielle Wahrheit und weise keine schützenden Formen auf. Demgegenüber gewährleiste das Anklageverfahren die notwendigen schützenden Formen 50 • Werde das Anklageverfahren nicht durch einen privaten, sondern durch einen öffentlichen Ankläger durchgeführt, sei auch das Ziel der materiellen Wahrheit nicht gefahrdet 51. 45 V gl. die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Zachariae und Köstlin bei Zimmermann, S. 12 ff. 46 Zachariae, Gebrechen, S. 53 ff.; ders., Handbuch Bd. I, § 11; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 281 ff. 47 Zachariae, Gebrechen, S. 42 ff.; ders., Handbuch Bd. I, § 11; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 281 ff.; vgl. auch Planck, S. 147 f. 48 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 282; ders., ArchCrimR (NP) 1838, 163 (169); Zachariae, Handbuch Bd. I, §§ 10 f.; ders., Gebrechen, S. 58,68 ff. 49 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 287; ders., ArchCrimR (NF) 1838, 163 (180 f.) und 1842, 424 (442). 50 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 292 ff., 303 ff.; Zachariae, Gebrechen, S. 70. 51 Mittermaier, Strafverfahren (Theill), S. 154 ff.; ders., Mündlichkeit, S. 288 f., 291; Zachariae, Handbuch Bd. I, § l1IIIa; ders., Gebrechen, S. 73; vgl. auch Planck, S. 150 f.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

bb) Die Vertreter einer materiellen Unterscheidung der Verfahrensprinzipien Die wohl überwiegende Auffassung in der rechtswissenschaftlichen Literatur faßte demgegenüber den Unterschied zwischen dem Untersuchungs- und Anklagegrundsatz materiell auf52 • Nach dem Anklageprinzip sei die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens von dem freien Willen eines privaten Anklägers abhängig, der Richter sei an die von den Parteien zu schaffende Tatsachengrundlage gebunden 53. Demgegenüber bestehe das Wesen des Untersuchungsgrundsatzes darin, daß der Staat die Bestrafung und Verfolgung von Rechtsbrüchen nicht dem Einzelnen überlasse, sondern hierfür staatliche Stellen schaffe, die von Amtswe~en diese Aufgabe im öffentlichen Interesse wahrzunehmen hätten 54. Das auf dem materiellen Untersuchungsgrundsatz beruhende Strafverfahren könne in formeller Hinsicht organisch oder unorganisch gegliedert sein, d. h. entweder in der Form des Anklageverfahrens oder unter alleiniger Beteiligung eines einzigen staatlichen Organs verwirklicht werden 55. Der Zweck des Strafverfahrens sei die Verwirklichung der materiellen Wahrheit, d. h. die Verwirklichung des Rechts an sich 56. Das materielle Untersuchungsprinzip sei für das Strafverfahren unverzichtbar, weil nur dieses Prinzip die private Willkür ausschließe und die materielle Wahrheit und Gerechtigkeit gewährleiste 57 • Innerhalb des materiellen Untersuchungsprinzips sei sodann die Durchführung des organischen Prozesses, d. h. die Anklageform, vorzugswürdig, weil diese die Voraussetzung dafür schaffe, daß ein ausreichender Schutz des Angeschuldigten gewährleistet sei 58. cc) Die inhaltliche Übereinstimmung der verschiedenen Ansätze Wie bereits Köstlin 59 , einer der Hauptkontrahenten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, selbst erkannt hatte, unterschieden sich heide Auffassungen 52 Vgl. außer den nachfolgend genannten Autoren auch noch: Hepp, Anklageschaft, S.6; Stemann, GA Bd. 8 (1860),41; Dalcke, GA Bd. 7 (1859), 734 (741); Schwarze, GS 1859, 1 (7); kritisch dagegen: Planck, S. 148 f., 153. 53 Abegg, S. 43 f.; Köstlin, S. 43, 46; Sundelin, S. 14 f. 54 Abegg, S. 44 f.; Köstlin, S. 44,48; Sundelin, S. 15. Kritisch hierzu Walther, Rechtsmittel, S. XV, der darauf hinweist, daß das Ziel der materiellen Wahrheit, das mit dem Untersuchungsgrundsatz verbunden sei, auch ohne staatliche Strafverfolgungstätigkeit möglich sei, wie das Beispiel des englischen Strafverfahrens zeige. 55 Köstlin, S. 44; Abegg, S. 45 f. 56 Köstlin, S.24; Sundelin, S. 14 f., 121; Schwarze, GS 1859, 1 (18); vgl. auch Walther, Rechtsmittel, Abtheilung I, S. 78. 57 Köstlin, S. 29; Abegg, S.46, 53; vgl. auch Dalcke, GA Bd.7 (1859), 734 (744) und Bd. 8 (1860), 145. 58 Köstlin, S. 49 ff., 76 ff.; Abegg, S. 50 ff.; Sundelin, S. 26 ff. 59 S.55.

11. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensrefonn

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in ihren inhaltlichen Zielen im wesentlichen nicht; Glaser hat bereits zutreffend hervorgehoben, daß es sich letztlich um einen "Streit um Worte"60 gehandelt habe: Die Strafverfolgung wurde allgemein als eine staatliche Aufgabe angesehen 61 , das Ziel des Strafverfahrens sollte die materielle Wahrheitsfindung sein. Die Notwendigkeit schützender Formen, insbesondere für den Angeschuldigten, hatte zur Folge, daß neben dem Richter weitere Organe geschaffen werden mußten, wobei das Amt des Anklägers zwangsläufig wiederum ein staatliches Organ erforderte 62 . Unterschiede bestanden allein darin, daß das angestrebte Verfahren von der überwiegenden Meinung als Untersuchungsverfahren in Anklageform bezeichnet wurde, während es nach der Gegenauffassung als Anklageverfahren zu bezeichnen war. Biener hatte den Vorschlag gemacht, auf die Termini des Untersuchungsund Anklageverfahrens völlig zu verzichten. Er verstand das Verfahren als eine Verbindung "akkusatorischer Formen" mit dem "politischen Prinzip"63, konnte indes auch mit dieser neuen Formel den Streit nicht beilegen, der ohne bleibenden Gewinn nicht unerhebliche wissenschaftliche Kapazitäten gebunden hat. c) Die aus der Sicht der rechtswissenschaftlichen Diskussion des 19. Jahrhunderts anzustrebende Verteilung der Funktionen im reformierten Strafverfahren

Wie oben gezeigt wurde 64 , war die Aufspaltung der Rolle des Inquirenten des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens auf mehrere staatliche Organe für die an der rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion beteiligten Autoren einer der wesentlichen Aspekte der Verfahrensreform. Nachfolgend soll untersucht werden, wie die Aufteilung der Funktionen nach Auffassung der Rechtswissenschaft erfolgen sollte. Festzustellen ist in diesem Zusammenhang, daß zwei von staatlichen Organen wahrzunehmende Funktionen in ihrer Zuordnung außer Streit standen: Die verfahrensbeendende Entscheidung sollte den Gerichten verbleiben 65, die Einleitung des Verfahrens sollte an den Antrag eines öffentlichen Anklägers gebunden werden 66. Die Zuordnung der weiteren Funktionen der Sachverhaltsermittlung und Beweiserhebung war demgegenüber umstritten.

60 Glaser, Handbuch Bd. I, S. 36 Fn. 11. 61 Vgl. außer den oben genannten Autoren auch noch Planck, S. 117 f. 62 Vgl. Sundelin, S. 24 f., 32 f.; Biener, GS 1855 (Bd. 1),408 (425,430). 63 GS 1855 (Bd. 1), 408 (427, 437). 64 Vgl. Kap. B. 11. 2. c). 65 Vgl. Planck, S. 186. 66 Vgl. Zachariae, Gebrechen, S. 274.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung aa) Die Konzeption der Staatsanwaltschaft als Kontrollorgan gegenüber dem Gericht

In den Anfängen der rechtswissenschaftlichen Diskussion überwog die Auffassung, die Staatsanwaltschaft sei als Kontrollorgan neben dem verfahrensleitenden Richter auszugestalten. Besonders deutlich wird dieser Ansatz bei Alexander Müller, der 1825 dafür eintrat, die Staatsanwaltschaft weder an der materiellen Leitung des Vor- noch des Hauptverfahrens zu beteiligen 67. Die Staatsanwaltschaft solle allein das gerichtliche Verfahren veranlassen und dieses dann kontrollieren, d. h. auf ein ordnungsgemäßes Verfahren hinwirken. Hierzu sollte sie jederzeit mündlich oder schriftlich ihre Ansicht äußern können und gegebenenfalls durch Beanstandungen oder Rechtsmittel gegen eine fehlerhafte Verfahrensführung vorgehen 68 • Insbesondere um fehlerhafte Entscheidungen zu vermeiden, habe die Staatsanwaltschaft darüber hinaus die Aufgabe, den Gerichten gegebenenfalls das Gesetz zu erläutern 69 • Einen weiteren wichtigen Aspekt der Aufgabe der Staatsanwaltschaft sah Müller darin, daß diese die Oberaufsicht über die gesamte Strafrechtspflege sowie .die Amtsführung der Richter erhalten sollte 70. In der Reformdiskussion der vierziger Jahre wurde dieser Ansatz weitergeführt. So vertrat Molitor die Auffassung, die Voruntersuchung und das Haupt~eifahren seien durch einen Untersuchungsrichter bzw. das erkennende Gericht zu leiten. Aufgabe der Staatsanwaltschaft sollte es allein sein, den Impuls zur Tätigkeit des Untersuchungsrichters zu geben und die Anklage vor dem erkennenden Gericht auszuführen. Untersuchungshandlungen der Staatsanwaltschaft seien allenfalls im Falle des flagrant ctelit denkbar. Reiner werde das Institut in seiner Stellung aber erhalten, wenn man die Staatsbehörde auch hier darauf beschränke, Anträge zu stellen 71. In den späteren Phasen der rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion verlor diese Auffassung an Boden, wurde aber weiterhin auch von namhaften Autoren vertreten. So war Biener der Auffassung, die Staatsanwaltschaft sei "ohne Zweifel" nicht zur Führung der Untersuchung berufen, weswegen hierfür nur der Instruktionsrichter bzw. der Präsident des Gerichts verbleibe 72. Zachariae war der Ansicht, die Staatsanwaltschaft müsse darauf beschränkt bleiben, Anträge zu stellen und dürfe selbst keine Handlungen vornehmen, "welche ihrer Natur nach den Charakter gerichtlicher Handlungen haben", da der Staatsanwalt ansonsten in die Position des Inquirenten komme 73 • Ebenso wandte sich Frey gegen Müller, §§ 91, 111. Müller, §§ 100 f., 114, S. 198, 215 f. 69 Müller, § 99. 70 §§ 96, 101 ff. 71 Molitor, ZfStrVerf a. F. Bd. 3 (1843), 1 (26); in diesem Sinne auch Frey, S. 75 f.; Schmitt, GS 1849 (1. Bd.), 276 (285); vgl. auch Jagemann, GS 1849 (1. Bd.), 122 (123). 72 GS 1855 (Bd. 1), 408 (434, 436). 67

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II. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

61

selbständige Untersuchungshandlungen durch die Staatsanwaltschaft, da dies der notwendigen Trennung zwischen Anklage- und Untersuchungsbehörde widersprechen würde 74. Auch der Generalstaatsanwalt des Königreichs Sachsen, Schwarze, war der Ansicht, der Staatsanwaltschaft solle keine direkte Einwirkung auf die eigentliche Untersuchungsführung zukommen, da diese ein richterliches Geschäft sei 75 • Obwohl die Staatsanwaltschaft ebenso wie das Gericht dem gleichen Ziel, der materiellen Wahrheit und Gerechtigkeit, verpflichtet sei, sei sie neben dem allein verfahrensleitenden Gericht nicht überflüssig, da sie das Verfahren 'des Gerichts anrege und kontrolliere und so dem Verfahrensziel nütze 76. Schwarze nimmt innerhalb der rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion jedoch bereits deswegen eine Sonderstellung ein, weil er als maßgeblicher Autor der sächsischen Strafprozeßordnung von 1855 und als Kommissionsmitglied der späteren Reichstagskommission zur Beratung des Entwurfes von 1874 eher der Reformgesetzgebung als der wissenschaftlichen Diskussion zuzuordnen ist. bb) Die Konzeption der Staatsanwaltschaft als Ermittlun~-' und Anklagebehörde In der rechtsdogmatischen Reformdiskussion wurde gegen den oben dargestellten Ansatz eingewandt, er würde die Funktionenüberhäufung des Inquirenten nicht beseitigen, sondern das Verfahren lediglich in zwei Abschnitte zerteilen, innerhalb derer der Untersuchungsrichter bzw. der erkennende Richter weiterhin inquirierend tätig sei und lediglich neben dem Inquirenten, aber ohne direkten Einfluß auf das eingeleitete Verfahren ein weiteres Organ bestehen würde. Der Staatsanwaltschaft würde bei dieser Funktionenteilung letztlich innerhalb des Verfahrens nur die Aufgabe bleiben, "über den Beweis zu reden"77. Von den maßgeblichen Autoren der späteren rechtswissenschaftlichen Reformdiskussion hatte Mittermaier zunächst noch die Ansicht vertreten, die Staatsanwaltschaft solle in der Voruntersuchung keine eigenen Untersuchungshandlungen vornehmen 78. Auch hinsichtlich des Hauptverfahrens sprach er sich noch in einem seiner Hauptwerke aus dem Jahre 1845 dafür aus, nach der Anklageerhebung am Untersuchungsprinzip festzuhalten 79. Unter Zugrundelegung seines formellen Verständnisses der Verfahrensprinzipien bedeutete dies, daß allein der Richter die Untersuchung durchführen und leiten sollte. Irieinein späteren Werk ließ 73 Zachariae, Handbuch Bd. 1, S. 427 ff.; ders., Gebrechen, S.77, 273, vgl. auch Haager, GS 1859,350 (351). 74 Frey, S. 75 f. 75 Schwarze, GS 1859, 1 (15); a. A. Stemann, GA Bd. 8 (1860), 41 (48). 76 Schwarze, GS 1859, 1 (13 f., 21, 23 ff.); vgl. auch Haager, GS 1859,350 (361, 365). 77 Sundelin, S. 122. 78 Mündlichkeit, S. 45 /46,326; ders., ArchCrimR (NP) 1837, 1 (15). 79 Mündlichkeit, S. 307.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

Mittennaier diese Auffassung (unausgesprochen) fallen und forderte, die Beweisaufnahme solle wie im englischen und schottischen Strafprozeß durch die Parteien erfolgen, d. h. die Staatsanwaltschaft habe die Zeugen der Anklage zu benennen sowie in das Verfahren einzuführen und könne im Wege des Kreuzverhörs die von der Verteidigung eingeführten Zeugen der Verteidigung vernehmen. Dem Richter komme die Aufgabe zu, das Verfahren zu kontrollieren und ein Urteil zu sprechen 80. In der rechtswissenschaftlichen Refonndiskussion nach 1848 wurde diese Verteilung der Funktionen zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht weitgehend geteilt. Auch andere Autoren wie Sundelin, Köstlin, Keller, Glaser und Planck wollten die Vorlage des Beweises grundsätzlich der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung überantworten 81. Köstlin unterschied sich von den anderen Autoren dadurch, daß er die eigentliche Beweisaufnahme durch die Parteien, die Auswahl der Beweismittel und die fonnelle Leitung der Beweisaufnahme aber dem Richter übertragen wollte. Nach Sunde1in sollte der Richter ergänzend tätig werden, d. h., er sollte auch solche Zeugen, die von den primär zuständigen Parteien nicht benannt und verhört wurden, selbst vernehmen 82 • Keller und Sunde1in forderten darüber hinaus, der Staatsanwaltschaft bereits die Leitung des Vorverfahrens zu übertragen, da die Stoffsammlung Aufgabe des Anklägers sei 83. Nach Einführung des refonnierten Strafprozesses in den deutschen Partikularstaaten wurde diese Forderung auch von Praktikern mehrheitlich unterstützt. Mehrere Staatsanwälte vertraten die Auffassung, die Staatsanwaltschaft müsse in der Voruntersuchung die Stoffsammlung durchführen, über das Ergebnis der Voruntersuchung eigenverantwortlich entscheiden, in der Hauptverhandlung den Anklagebeweis vorlegen und die Beweisaufnahme durchführen 84. Auch aus der Richterschaft wurde die Forderung unterstützt, die Beweisaufnahme der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zu übertragen 85. cc) Zusammenfassung Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum sind somit zwei unterschiedliche Konzeptionen einer Aufteilung der im Strafverfahren von staatlichen Organen 86 wahrGesetzgebung, S. 468 ff. Sundelin, S. 123 ff.; Glaser, ArchCrimR (NF) 1851, 191 (200 ff.); Planck, S. 151 ff., 158, 172 ff., 186 f.; Keller, S. 288, 291 ff.; Köstlin, S. 32. 82 Sundelin, S. 124; ähnlich Zachariae, Gebrechen, S. 75 f. 83 Keller, S. 250 ff.; Sundelin, S. 28 f. 84 Stemann, GA Bd. 8 (1860), 41 (42,45,47); Dalcke, GA Bd. 9 (1861), 155 (160 ff.). 85 Rehm, GS 1860, 3 (7 f., 11 ff.), der dem Richter jedoch wie Sundelin noch eine ergänzende Funktion zuweisen wollte. 86 Daß die Funktion der Verteidigung des Beschuldigtem diesem selbst bzw. einem nicht als Staatsorgan auftretenden Verteidiger zukommen sollte, war unstreitig und wurde auch nicht als diskussions würdig angesehen. 80 81

II. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

63

zunehmenden Funktionen festzustellen: Einerseits wurde der Aspekt der Kontrolle des richterlichen Handeins in den Vordergrund gestellt. Diese Sicht führte konsequent dazu, den öffentlichen Ankläger innerhalb des Verfahrens auf eine lediglich anregende und kontrollierende Funktion zu begrenzen, wobei zwangsläufig der Richter weiterhin die Rolle des, nun allerdings in seiner Verfahrensführung kontrollierten, Inquirenten einzunehmen hatte. Bei dem in den späteren Phasen der Reformdiskussion vordringenden Ansatz wurde demgegenüber vornehmlich der Aspekt in den Vordergrund gestellt, durch Aufteilung der Funktionen des Inquirenten die objektive Stellung des (erkennenden) Richters zu gewährleisten. Nach dieser Konzeption waren die Funktionen des Inquirenten im Ergebnis so aufzuspalten, daß der Staatsanwaltschaft die Strafverfolgungsinitiative und die Verfahrensführung, dem Richter demgegenüber die Kontrolle der staatsanwaltlichen Verfahrensführung und die abschließende Entscheidung zugekommen wäre. Beide Modelle sind ersichtlich durch das französisch-rheinländische Institut der Staatsanwaltschaft bzw. durch die Institution des öffentlichen Anklägers im anglo-amerikanischen Strafverfahren beeinflußt. Bevor die eigentliche Verfahrensreform in den deutschen Staaten untersucht wird, soll daher ein kurzer Überblick über diese Institute, die dem Gesetzgeber als praktizierte Beispiele zur Verfügung standen, gegeben werden. 4. Die der partikularstaatIichen Gesetzgebung zur Verfügung stehenden Vorbilder

a) Die französisch-rheinländische Staatsanwaltschaft Eine in Funktion befindliche Staatsanwaltschaft bestand in den deutschen Partikularstaaten lediglich seit dem Jahre 1810 in den linksrheinischen Provinzen (Rheinpreussen, Rheinhessen und Rheinpfalz ) 87. Dort war sie während der französischen Besatzungszeit im Zuge der Übernahme des französischen Rechtssystems eingeführt worden. Auch nach Ende der Besatzungszeit wurde an dem Strafverfahren französicher Prägung festgehalten, da sich dieses öffentliche und mündliche Anklageverfahren als dem gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren in jeder Hinsicht überlegen erwiesen hatte 88. Selbst in Preußen, wo die Regierung ansonsten einer Reform des Strafprozesses und einer Einführung der Staatsanwaltschaft grundsätzlich ablehnend gegenüberstand, hatte sich die königlich-preußische Immediat-Justiz-Kommission im Jahre 1818 dafür ausgesprochen, in der Provinz 87 Geyer, S. 148, 154, 157; Floegel, DRiZ 1935, 168; Döhring, DRiZ 1958, 283; Carsten, S. 15; Kintzi, Festschrift des OLG Braunschweig, S. 112; Schweichel, S. 267 ff.; M. G. Müller, S. 67 ff. 88 Zimmermann, S. 10.

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

64

Rheinpreußen das französische Strafverfahren beizubehalten 89 • Lediglich für die Aburteilung von Staatsverbrechen wurde 1821 das gemeinrechtliche Verfahren erneut eingeführt, aber bereits durch königliche Verordnung vom 18.2.1842 wieder abgeschafft 9O • Die Staatsanwaltschaft französischer Prägung war eine hierarchisch gegliederte Behörde mit weitreichendem Wirkungskreis auch über die Strafrechtspflege hinaus 91 • Ihr oblag die Beaufsichtigung bzw. Überwachung des Geschäftsgangs der Gerichte und Registerbehörden. Sie hatte als Wächter des Gesetzes darüber zu wachen, daß die Gerichte zur Verwirklichung des Rechts beitrugen. Hierzu stand es ihr frei, sich jederzeit in ein Verfahren einzuschalten und zugunsten derjenigen Partei zu intervenieren, zu deren Ungunsten eine Gesetzesverletzung vorlag. Außerdem hatte sie die Aufgabe, Regierungsmitteilungen und -äußerungen an die Gerichte weiterzuleiten sowie den Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland zu bewerkstelligen. Andererseits war die Staatsanwaltschaft das Organ, das die Exekutivgewalt des Staates vor dem Gericht zu vertreten hatte. Das hauptsächliche Betätigungsfeld der Staatsanwaltschaft lag insoweit auch in Frankreich auf dem Gebiet der Strafrechtspflege 92 • Die Staatsanwaltschaft hatte Erkenntnisse über strafbare Handlungen zu sammeln. Unter den Voraussetzungen des delit flagrant konnte die Staatsanwaltschaft selbst Untersuchungshandlungen vornehmen; grundsätzlich hatte sie indes die gerichtliche Voruntersuchung zu beantragen und deren Durchführung durch den Ermittlungsrichter zu beaufsichtigen. Insbesondere konnte sie hier Maßnahmen des Ermittlungsrichters anregen bzw. dessen Verfahrensführung beanstanden 93 • Nach Ende der Voruntersuchung hatte die Staatsanwaltschaft die Einstellung der Untersuchung oder die Eröffnung der Hauptuntersuchung zu beantragen. Wurde die Eröffnung abgelehnt, standen ihr hiergegen Rechtsmittel zu. Wurde das Hauptverfahren eröffnet, hatte die Staatsanwaltschaft das Amt des öffentlichen Anklägers zu versehen. Auch hier sollte sie aber nicht einseitig nur zuungunsten der Anklage auftreten, das Ziel ihrer Tätigkeit sollte vielmehr die Ermittlung der materiellen Wahrheit sein. Stellte sich heraus, daß der Beschuldigte gerechterweise freizusprechen war, hatte die Staatsanwaltschaft auf den Freispruch hinzuwirken; Rechtsmittel konnte sie auch zugunsten des Beschuldigten einlegen. Abegg, ArchCrimR (NF) 1847, 103 (l09 f.); Carsten, S. 23; Schweichel, S. 268. Vgl. bei Otto, S. 46; Schweichel, S. 276. 91 Frey, S. 27 ff.; Planck, S. 26 ff.; Sundelin, S. 9 ff.; v. Savigny, Denkschrift, S. 39 f.; Zachariae, Handbuch Bd. 1, S. 200 f.; ders., Gebrechen, S. 267 f.; Schmitt, GS 1849 (1. Bd), 276 (298),; zur Entwicklung der französischen Staatsanwaltschaft vgl. Haber, Strafgerichtliche Offentlichkeit, S. 32 ff., 252 ff. 92 Nach Schubert, S. 123 spielte die Tätigkeit als öffentlicher Ankläger nur eine untergeordnete Rolle. 93 Vgl. Schweichel, S. 270 ff.; Planck, S. 30 ff.; Frey, S. 39 ff., 64 ff., 84 ff.; Schmitt, GS 1849 (1. Bd.), 276 (284 f., 288 ff.). 89

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11. Ausgangsbedingungen der Strafverfahrensreform

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Wurde ein Angeklagter rechtskräftig verurteilt, hatte die Staatsanwaltschaft die Strafvollstreckung zu beaufsichtigen. Insgesamt wurden Staatsanwaltschaft und Gericht als koordinierte Behörden der Strafrechtspflege angesehen, die beide die Verpflichtung hatten, die Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes zu bewirken 94 •

b) Der Ankläger des anglo-amerikanischen Strafverfahrens Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft französischer Prägung bestanden im anglo-amerikanischen Rechtskreis Institutionen, deren alleinige Aufgabe darin bestand, als Anklagevertreter im Strafverfahren aufzutreten 95. Anders als die französische Staatsanwaltschaft handelte der Ankläger hier allein im Interesse der Anklage. Da der (öffentliche oder private) Ankläger jedoch auch nach englischem, schottischem oder nordamerikanischem Recht letztlich als Vertreter des durch das Verbrechen verletzten Staates auftrat 96 , hatte auch er allein das Interesse an der Verurteilung des wirklich Schuldigen zu vertreten 97 • Im Gegensatz zum Strafverfahren französischer Prägung wurde das Verfahren jedoch nicht durch richterliche Organe betrieben; es war vielmehr Aufgabe des Anklägers und des Beschuldigten, den Anklage- und Entlastungsbeweis zu ermitteln und vorzulegen, die Zeugen (im Kreuzverhör) zu vernehmen und das Urteil (der Geschworenen) zu beantragen, wobei streng auf gleiche Verfahrensrechte von Anklage und Verteidigung geachtet wurde 98. Den richterlichen Organen oblag sowohl in der Voruntersuchung als auch in der Hauptverhandlung allein die Aufgabe, die Verfahrensführung der Parteien zu kontrollieren, nach Abschluß der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung die Geschworenen zu instruieren und nach dem Wahrspruch der Geschworenen ein Urteil zu fallen 99 • Unterschiede bestanden insoweit, als in Schottland die Aufgabe des Anklagevertreters durch ein staatliches Organ, den sog. procurator fiscal unter Aufsicht des Lord advocate, wahrgenommen wurde 100, während in England selbst staatliche Organe nur bei bestimmten schweren Verbrechen 101 von Amts wegen tätig wurden, ansonsten die Strafverfolgung aber vom Tätigwerden einer Privatperson abhängig war, die allerdings nicht mit dem Verletzten identisch sein mußte 102. 94 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 319 ff.; Planck, S. 30 ff.; Zachariae, Gebrechen, S. 268 f. 95 Planck, S. 33 ff. (35); Zachariae, Handbuch Bd. 1, S. 166 ff.. 96 Vgl. Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S. 61; ders., Gesetzgebung, S. 108. 97 Planck, S. 35; Mittermaier, Deutsches Strafverfahren, Theil 1, S. 157. 98 Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S. 88 ff., 318 ff., 406 ff. 99 Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S.73, 305 ff., 431 ff., 490 ff.; ders., GS 1849 (Bd. 1), 17 (20 ff.). 100 Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S. 185 ff.; ders., Mündlichkeit, S. 32. 101 Insbesondere bei Verbrechen gegen den Staat oder bei Tötungsdelikten (vgl. Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S. 96 ff., 130 ff.). 102 Mittermaier, Englisches Strafverfahren, S. 61 ff.; 79 ff.

5 Wohlers

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

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Auch in den nordamerikanischen Staaten bestand ein Mischsystem aus öffentlicher Anklagebehörde und Strafverfolgung durch Privatpersonen 103. c) Das Fiskalat

Außer den Staatsanwaltschaften in den linksrheinischen Gebieten bestanden in den deutschen Strafverfahrensordnungen keine weiteren Vorbilder, auf die die Reformgesetzgebung hätte zurückgreifen können. In Betracht zu ziehen wäre in diesem Zusammenhang allein noch das Institut des Fiskalats 104. Der Fiskal war eine Institution des mittelalterlichen deutschen Strafverfahrens, dessen Funktion im wesentlichen darin bestanden hatte, die fiskalischen Interesen des Landesherrn in gerichtlichen Verfahren wahrzunehmen 105. Im Rahmen dieser Funktion war der Fiskal bis ins 18. Jahrhundert hinein auch als öffentlicher Ankläger in Strafverfahren aufgetreten, wobei dieses Amt jedoch oft mit dem des Inquirenten zusammenfiel oder neben diesem eine rein formale Funktion hatte 106. Größere praktische Bedeutung hatte das Fiskalat zuletzt nur noch in Brandenburg-Preußen und Hessen besessen 107. In Preussen hatten die Fiskale neben der Aufgabe, in Fällen geringer Bedeutung das Amt des Inquirenten auszuüben 108, allgemein die Beobachtung der Gesetze zu überwachen, insbesondere auch die Aufsicht über die staatliche Verwaltung und Gerichtsbarkeit auszuüben 109. In Hessen war der Fiskal vornehmlich öffentlicher Ankläger. Seine Aufgabe bestand darin, nach Abschluß der Voruntersuchung, an der er keinen Anteil hatte, auf der Grundlage der Untersuchungsakten eine Anklage zu fertigen und diese vor dem Strafgericht in der öffentlichen Schlußverhandlung zu vertreten 110. Neben dem gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren konnte sich das Institut des Fiskalats auf Dauer nicht behaupten. In Hessen trat es Anfang des 19. Jahrhunderts stillschweigend außer KraftIlI; zuletzt wurde es in Preußen dadurch aufgegeben, daß durch eine Kabinettsordre vom 10.3.1809 die Wiederbesetzung von Fiskalstellen untersagt wurde 112.

Ebd., S. 203 ff. Nach Elling, S. 10 ff.; Carsten, S. 7; Zimmennann, S. 6; Otto, S. 4; Sundelin, S. 5 konnte diesem Institut keine Vorbildfunktion zukommen, weil es vor der eigentlichen Refonnphase bereits wieder aus der deutschen Strafrechtspraxis verschwunden war. 105 Carsten, S. 2; Schweichel, S. 278. 106 Carsten, S. 2 ff.; v. Savigny, Denkschrift, S. 36 f. 107 Vgl. allgemein zur Entwicklung des Institutes: Heffter, ArchCrimR (NP) 1845, 595 ff.; Carsten, S. 1. 108 v. Savigny, Denkschrift, S. 36 f. 109 v. Savigny, Denkschrift, S. 37 f.; Heffter, ArchCrimR (NP) 1845, 595 (604 ff.). 110 Bopp, ZfStrVerf a. F. Bd. 2 (1842), 316 (322 ff.). 111 Bopp, ZfStrVerf a. F. Bd. 2 (1842), 316 (338). 112 v. Savigny, Denkschrift, S. 39; Heffter, ArchCrimR (NP) 1845,595 (611); Otto, S. 5; Carsten, S. 5; Schweichel, S. 278. 103

104

III. Refonngesetzgebung vor 1848

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5. Zwischenergebnis

Festzuhalten ist, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest im rechtswissenschaftlichen Schrifttum Einigkeit über die Reformbedürftigkeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens erzielt worden war. Wie bereits von Eb. Schmidt und Küper zutreffend hervorgehoben wurde 113, spielte die Einführung der Staatsanwaltschaft, durch die die als wesentliche Ursache der Mängel des Inquisitionsverfahrens erkannte Funktionenüberhäufung des Inquirenten beseitigt werden sollte, im Rahmen der rechtsdogmatischen Reformüberlegungen eine zentrale Rolle. Inhaltliches Ziel der wissenschaftlichen Reformbemühungen war es, die Strafjustiz durch eine funktionelle Neugliederung in die Lage zu versetzen, das Ziel der materiellen Wahrheitsfindung zu erreichen. Der von Eb. Schmidt in den Vordergrund gestellte Übergang vom polizeistaatlichen zum rechtsstaatlichen Strafprozeß bezieht sich allerdings allein auf die Form des Verfahrens; die inhaltliche Ausrichtung auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit war bereits Leitlinie auch des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens gewesen 114. Für die Entwicklung der nachfolgend zu untersuchenden partikularstaatlichen Reformgesetzgebung von Bedeutung ist insbesondere der Umstand, daß auch die Rechtswissenschaft - zumindest in der Zeit vor 1848 - im wesentlichen allein die Rezeption des französischen Strafverfahrensrechts in ihre Reformüberlegungen einbezogen hatte. Die Hinwendung weiter Teile der rechtswissenschaftlichen Strafverfahrensreformer zum Strafverfahren anglo-amerikanischer Prägung fällt demgegenüber vornehmlich in die Zeit nach 1848, konnte mithin erst in den späteren Phasen der Reformgesetzgebung wirksam werden. Als praktizierte Vorbilder standen der partikularstaatlichen Reformgesetzgebung das englische und insbesondere das französische Strafverfahren zur Verfügung, wobei letzteres dadurch, daß es in den linksrheinischen Provinzen in Geltung stand, einen direkteren Einfluß auf die Reform ausüben konnte.

III. Die Reformgesetzgebung in den deutschen Partikularstaaten vor 1848 1. Vorbemerkung

Wie bereits angedeutet, kann der Prozeß der Ablösung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens durch den reformierten Strafprozeß in den deutschen Staaten im wesentlichen in drei Phasen gegliedert werden: Zu unterscheiden ist die Periode vor der revolutionären Bewegung des Jahres 1848, die Reformgesetzge113 114

S*

Vgl. die Nachweise in Fn. 10. Vgl. Kap. B. 11. 2.; B. 11. 3.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

bung in den deutschen Ländern zwischen 1848 und 1870 und schließlich der Abschluß dieser Entwicklung durch die Schaffung der einheitlichen Reichsjustizgesetze nach der Reichsgründung 1871. Die Jahre nach 1848 erscheinen hierbei als die eigentliche Phase gesetzgeberischer Tätigkeit. Der Entwicklung vor 1848 kommt vor allem deswegen Bedeutung zu, weil in dieser Zeit die Motive und Ziele der Verfahrensreform abgeklärt und bestimmt wurden. Allerdings sind auch in dieser Zeit bereits vereinzelt Reformen durchgeführt worden. Nachfolgend soll zunächst untersucht werden, welche Intentionen den Reformbestrebungen zugrunde lagen. Gegenstand der Untersuchung sind hierbei die Motive und Ziele der am Prozeß der Umgestaltung des Verfahrensrechts unmittelbar beteiligten Personen und Institutionen, d. h. der jeweiligen Landesfürsten mit ihren Regierungen sowie der in den Ständeversammlungen vertretenen Bevölkerungsschichten. Zu berücksichtigen ist, daß gegen den Willen der jeweiligen Landesfürsten - zumindest vor 1848 - eine Umgestaltung des Strafverfahrens nicht in Gang gesetzt werden konnte. Sofort einsichtig ist dies für die Staaten, die, wie z. B. das Königreich Preußen bis 1848, eine landesweite ständische Vertretung nicht hatten, in denen eine etwaige Verfahrensreform mithin allein regierungsintern vorangetrieben werden konnte. Auch in Staaten mit ständischen Vertretungen war deren Wirkungskreis jedoch darauf beschränkt, Wünsche und Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung an die Regierungen heranzutragen. Die Vorlage eines Gesetzesentwurfs aus der Mitte einer Ständeversammlung heraus lag für die damalige Zeit außerhalb des praktisch Möglichen. 2. Die Strafverfahrensreform in den deutschen Partikularstaaten bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts

Die Regierungen der deutschen Staaten standen zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer umfassenden Reform des Strafverfahrensrechts mehrheitlich ablehnend gegenüber. Angestrebt wurde von ihnen die Beseitigung festgestellter Mängel und Auswüchse des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens, ohne gleichzeitig dessen Grundstruktur aufgeben zu wollen. Bayern hatte mit dem von Feuerbach redigierten Strafgesetzbuch von 1813 eine Strafprozeßordnung erhalten, die zwar einige Härten des gemeinrechtlichen Strafverfahrens abmilderte, im Grundsatz aber am Inquisitionsprinzip festhielt. Insbesondere hatte sich der Vorschlag Feuer?achs, für Kapitalverbrechen ein öffentliches Schlußverfahren einzuführen, nicht durchsetzen können I. Im Königreich Sachsen wurden bereits durch Gesetz vom 30.3.1838 einige besonders offensichtliche Mängel des Inquisitionsverfahrens beseitigt, wie z. B. die sogenannte außerordentliche Strafe 2 • Indes hielt auch der Regierungsentwurf einer 1

WaIther, Lehrbuch, S. 45 f.; Elling, S. 71.

III. Refonngesetzgebung vor 1848

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neuen Strafprozeßordnung aus dem Jahre 1842 daran fest, eine grundlegende Refonn abzulehnen und stattdessen lediglich weitere Hauptmängel des Verfahrens systemkonfonn beseitigen zu wollen 3. Das Großherzogturn Baden war der erste deutsche Staat, der in diesem Zusammenhang das Institut der Staatsanwaltschaft in das Strafverfahren einführte. Durch Gesetze vom 28.12.1831 wurde der Anklageprozeß mit Staatsanwaltschaft bei Beleidigungen von Staatsbediensteten und für Preßvergehen eingeführt 4 • Aufgabe der Staatsanwaltschaft war es, das gerichtliche Strafverfahren zu initiieren und gegen gerichtliche Entscheidungen gegebenenfalls Rechtsmittel einzulegen. Der Aufgabenkreis der Staatsanwaltschaft erweiterte sich infolge eines provisorischen Gesetzes vom 18.2.1836 5 • Hiernach hatte die Staatsanwaltschaft "allen Sitzungen des Hofgerichtes, in welchen Strafsachen zur Aburtheilung kommen, beizuwohnen". Ein eigenes Referat oder Votum sollte die Staatsanwaltschaft in der hofgerichtlichen Sitzung zwar nicht abgeben dürfen; es war ihr jedoch gestattet, anschließend an die Vorträge des Referenten und des Instruktiv-Votanten, ihre Meinung zu äußern, wenn dies im Interesse der Gerechtigkeit, d. h. für oder gegen den Angeschuldigten, nötig schien 6 • Der Staatsanwalt konnte verlangen, "daß ihm sogleich nach erfolgter Aburtheilung sämmtliche Acten zugestellt werden" (§ 5). Bezweifelte er die Gesetzmäßigkeit eines in Strafsachen ergangenen hofgerichtlichen Erkenntnisses, konnte er Rekurs an das Oberhofgericht einlegen (§§ 6, 7). Nachdem das Hofgericht zunächst aus der ursprünglichen Fassung der §§ 6, 7 die Folgerung gezogen hatte, daß der Staatsanwalt keine Rechtsmittel zugunsten des Angeschuldigten ergreifen könne, wurde der § 7 von der Regierung und den Ständen im Rahmen der ständischen Genehmigung des Gesetzes 7 dahin gefaßt, daß der Staatsanwalt gegen hofgerichtliche Erkenntnisse in Strafsachen Rekurs ergreifen könne, "sei es zum Nachtheil oder Vortheil des Angeschuldigten."8

2 Acten des außerordentlichen Landtags vom Jahre 1854, Beilagen zu den Protokollen der 1. Kammer, 2. Band, Bericht der Zwischendeputation der 1. Kammer über den Entwurf der Strafprozeßordnung für das Königreich Sachsen, S. 3 f.; Minennaier, Mündlichkeit, S. 117; ders., ArchCrimR (NF) 1842,61 (72); Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 380 (400); Elling, S. 92. 3 Zwischenbericht der Deputation der 1. Kammer, (Fn. 2), S. 4; Mittennaier, Mündlichkeit, S. 117; ders., ArchCrimR (NF) 1842, 424 ff.; Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (401); vgl. Lucius, ZfStrVerf a. F. Bd. 3 (1843), 259 (283 ff.). 4 Baner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841),378 (379); Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 506 (508); Keller, S. 55 ff.; Elling, S. 68; Carsten, S. 21; Döhring, DRiZ 1958,283; Floegel, DRiZ 1935, 168. 5 Vgl. bei Baner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 379 (381 ff.); kritisch hierzu: Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 506 (508). 6 Baner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 379 (382 f.). 7 Durch Gesetz vom 3.8.1837. 8 Vgl. Baner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 379 (384).

2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

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Eine allgemeine eigenständige Untersuchungstätigkeit war der Staatsanwaltschaft nach den obigen Gesetzen nicht gestattet 9. Neben seiner Tätigkeit als Ankläger in Preßstrafsachen und Beleidigungs- bzw. Verleumdungsprozessen hatte der Staatsanwalt jedoch noch den Gang der Untersuchung in Fällen von Mord, Totschlag, Straßenraub und gewaltsamen Diebstahl zu überwachen und vornehmlich auf deren beschleunigte Abwicklung hinzuwirken. Weiterhin hatte er die abgeschlossenen Untersuchungen in Selbstmordfallen zu überprüfen, die gesamte Tätigkeit der Strafrechtspflege statistisch festzuhalten, die Vollziehung von Strafurteilen und die Strafanstalten generell zu überwachen und den Rechtshilfeverkehr mit auswärtigen Gerichtsstellen wahrzunehmen 10 Im Königreich Hannover wurde die Staatsanwaltschaft ebenfalls durch ein auf Antrag der Stände am 16.2.1841 erlassenes Gesetz "über die Zulassung von Rechtsmitteln gegen die Erkenntnisse der Kriminalgerichte im Interesse des Staates" II eingeführt. Aufgabe der Staatsanwälte war es, Rechtsmittel beim vorgesetzten Gericht einzulegen, wenn ein Strafgericht in einer Sache nicht oder nicht mehr tätig werden wollte (Art. 4) oder ein Angeschuldigter in eine zu gelinde Strafe verurteilt oder zu Unrecht freigesprochen worden war (Art. 6) 12. Mit den dargestellten Verfahrensreformen, insbesondere denjenigen im Großherzogtum Baden, waren die im Rahmen einer Integration der Staatsanwaltschaft in die bestehende Struktur des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einer Umgestaltung des Verfahrens im wesentlichen erschöpft worden. Weitergehende Änderungen waren jetzt nur noch im Rahmen einer umfassenden Neugestaltung der Verfahrensstrukturen zu erreichen. 3. Die Forderungen der ständischen Vertretungen nach einer umfassenden Verfahrensreform

a) Die ReJormzusagen in einigen Staaten Nach Ende der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich war in einigen, vornehmlich süddeutschen Staaten den ständischen Vertretungen eine Vetfahrensreform von den Regierungen in Aussicht gestellt worden. Im Großherzogtum Hessen sollte nach Art. 103 der Verfassung "für das ganze Großherzogtum (... ) ein Strafgesetzbuch und ein Gesetzbuch über das Verfahren in Rechtssachen eingeführt werden. "13 Bereits im Jahre 1817 befürwortete eine GesetzgebungsBaner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 379 (390). Vgl. Baner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 379 (384 ff.). 11 Gesetzessammlung für das Königreich Hannover, 1841, I. Abtheilung, S. 99 ff. 12 Mittermaier, ArchCrimR (NF) 1842,61 (72 f.); Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 506 (509); Elling, S. 86. 13 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 268. 9

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kommission die Einführung des in Rheinhessen geltenden Strafverfahrensrechts französischer Prägung auch in den anderen Landesteilen 14. Die Vorbildfunktion des linksrheinischen Strafverfahrensrechts dürfte zumindest mitursächlich dafür sein, daß bereits im Jahre 1819 den Ständen des bayerischen Landtags durch den Landtagsabschied vom 22. Juli die Einführung eines auf Öffentlichkeit und Mündlichkeit beruhenden Strafverfahrens zugesichert wurde 15. Ebenfalls 1819 war auf dem ersten Landtag des Großherzogturns Baden in der Kammer der Abgeordneten ein Antrag auf eine umfassende Reform des Strafverfahrens eingebracht worden 16. In Kurhessen hatte die kurfürstliche Staatsregierung den Ständen im Landtagsabschied vom 9.3.1831 sowohl ein neues Strafgesetzbuch als auch eine neue Strafprozeßordnung in Aussicht gestellt l7 •

b) Die Entwicklung in den norddeutschen Staaten Wie sich bereits in den obigen Ausführungen angedeutet hat, ist hinsichtlich einer umfassenden Verfahrensreform ein deutliches Gefälle zwischen der Entwicklung in den nord- und süddeutschen Staaten festzustellen. Während die Regierungen der süddeutschen Staaten einer Verfahrensreform nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden, wurden entsprechende Reformforderungen in den norddeutschen Staaten entweder durch schlichte Untätigkeit der Regierungen verzögert oder ein Eingehen auf diese Forderungen, wie insbesondere in Kurhessen, ausdrücklich verweigert. In Kurhessen hatten die Stände mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß ihrer Auffassung nach die am 9.3.1831 zugesagte neue Strafprozeßordnung auf dem Anklageprinzip und den Grundsätzen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit beruhen müsse 18. Der von der Regierung auf dem Landtag 1840/41 schließlich vorgelegte Entwurf beschränkte sich demgegenüber darauf, den Hauptmangel des bisherigen Strafverfahrens in der Untersuchungsmethode zu sehen, die insbesondere ein zügiges Verfahren verhindert habe. Abhelfen wollte man diesem Mangel mit einzelnen Reformen unter Beibehaltung der grundsätzlichen Verfahrensstruktur 19. Der zuständige Ausschuß der Siändeversammlung und diese selbst verlangten demgegenüber eine umfassende Umgestaltung des Verfahrens. Um jedoch wenigstens einige Verbesserungen durchsetzen zu können, berieten die Stände den Regierungsentwurf und genehmigten ihn mit Änderungen. Nachdem 14 Bopp, ZfStrVerf a. F. Bd.2 (1842), 316 (338 ff.); Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 268 (270). 15 Walther, Lehrbuch, S. 46. 16 Elling, S. 68; Carsten, S. 21. 17 Noellner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 229 (234); ders., ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 292 (299). 18 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 292 (302). 19 Noellner, ZfStrVerf a. F. Bd. 1 (1841), 229 (232 ff., 240 ff.; vgl. auch Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 292 (293).

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

die Regierung diesen Änderungen nicht zugestimmt hatte, lehnten die Stände den Entwurf ab und beantragten die Vorlage eines neuen Entwurfes, der eine umfassende Reform zum Gegenstand haben sollte 20. Dennoch legte die Regierung den Entwurf unverändert der Ständeversammlung 1846 erneut vor 2!. In den Motiven wurde eine umfassende Reform mit der Begründung abgelehnt, eine neue Strafprozeßordnung führe zu tiefgreifenden Veränderungen bestehender Zustände und zu damit verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren für das allgemeine Wohl. Da sich weder die "Doctrin" noch die "erneuerungssüchtige deutsche Gesetzgebung" über die einer solchen Reform zugrundezulegenden Grundsätze verständigt habe, lehne die Regierung eine solche Reform ab 22 . In den Beratungen der Ständeversammlung sprach sich die Regierung nochmals gegen eine umfassende Reform aus, da diese in anderen Staaten zu keiner Verbesserung geführt habe 23 . Weiterhin erklärte der Regierungsvertreter, "daß die Regierung auch bei dem dermaligen unveränderten Zustand noch länger ganz gut ausharren könne, wenn der Regierungsentwurf von den Ständen abgelehnt werde"24. Als die Ständeversammlung auf Anraten ihres Rechtspflegeausschusses in der Sitzung vom 10.7.1846 den Regierungsentwurf ablehnte und die Vorlage eines Entwurfes verlangte, der das Anklageprinzip, die Mündlichkeit und die Öffentlichkeit zum Gegenstand habe 25, trat in Kurhessen ein Stillstand der Reformgesetzgebung ein, der bis ins Jahr 1848 andauerte. In anderen norddeutschen Staaten wurde die Forderung nach einem öffentlichen und mündlichen Strafverfahren erst in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einigen Ständeversammlungen erhoben. Die jeweiligen Regierungen gingen auf die 1842 und 1844 in der Ständeversammlung der Herzogtümer Schleswig und Holstein 26 sowie 1845 in der Ständeversammlung des Herzogtums Braunschweig 27 vorgetragenen Wünsche, Reformentwürfe für ein mündliches und öffentliches Anklageverfahren mit Staatsanwaltschaft vorzulegen, ebensowenig ein wie der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg auf eine entsprechende Bürgerpetition vom 8.6.1842 28 . 20 Noellner, ZfStrVerf a. F. Bd. 3 (1843),57 (59);, ZfStrVerfn. F. Bd. 3 (1846),292 (294). 2! Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.3 (1846), 292 (294); Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 271 (281). 22 Vgl. Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 292 (296 f.); Hepp, OS 1851 (2. Bd.), 271 (281). 23 Vgl. bei Noellner, ZfStrVerfn. F. Bd. 3 (1846), 292 (303); Hepp, OS 1851 (2. Bd.), 271 (281). 24 Vgl. bei Noellner, ZfStrVerfn. F. Bd. 3 (1846), 292 (304); Hepp, OS 1851 (2. Bd.), 271 (282). 25 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 292 (301). 26 Vgl. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 184, 191 f.; Hepp, OS 1851 (2. Bd.), 271 (294). 27 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 192 ff.; vgl. auch bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844),244 (248, 251 ff.). 28 Vgl. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 184.

III. Refonngesetzgebung vor 1848

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Der Ständeversammlung des Königreiches Hannover waren bereits 1831 Entwürfe für eine Refonn des Strafverfahrens vorgelegt worden. Nachdem zunächst eine Kommission der Ständeversammlung beantragt hatte, baldmöglichst das öffentliche und mündliche Strafverfahren einzuführen, sprach sich eine weitere Kommission im Jahre 1834 insbesondere wegen der hiennit verbundenen Kosten gegen die Einführung dieses Verfahrenstyps aus 29 • Ein einstimmiger Antrag der Zweiten Kammer vom 8.12.1846, der darauf gerichtet war, die Regierung möge den Entwurf einer Strafprozeßordnung, der ein öffentliches und mündliches Anklageverfahren zum Gegenstand habe, den Ständen zur verfassungsmäßigen Mitwirkung vorlegen 30, fand in der Ersten Kammer keine Zustimmung 31 und veranlaßte die Regierung auch nicht, in dieser Richtung tätig zu werden 32. Auf ein Schreiben, in dem die Stände ihre Überzeugung äußerten, "daß unser jetziges Strafverfahren einer Refonn dringend bedürfe" 33, teilte das Staatsministerium des Herzogtums Braunschweig der Ständeversammlung am 24.1.1845 mit, die Regierung habe sich in dieser Sache eine bestimmte Ansicht noch nicht gebildet, werde den Gegenstand jedoch weiterhin nicht aus den Augen verlieren und insbesondere die Entwicklung in den anderen Ländern beobachten. 34 c) Die erfolglosen Reformbemühungen im Großherzogtum Hessen und im Königreich Bayern

Im Königreich Bayern und im Großherzogturn Hessen unterschied sich die Ausgangslage für die Verfahrensrefonn insoweit von den anderen deutschen Staaten, als in der bayerischen Rheinpfalz und in Rheinhessen, ebenso wie im preußischen Rheinland 35, eine in Funktion befindliche Staatsanwaltschaft bestand. Wie bereits dargelegt wurde, war diese in den linksrheinischen Gebieten während der französischen Besatzungszeit im Jahre 1810 im Zuge der Übernahme des französischen Rechtssystems eingeführt und auch nach Beendigung der Besatzungszeit - wie der gesamte Strafprozeß französischer Prägung - beibehalten worden 36. In den rechtsrheinischen Landesteilen wurde demgegenüber der gemeinrechtliche Inquisitionsprozeß praktiziert. In den Provinzen Starken burg und Oberhessen des Großherzogturns Hessen galt in der ersten Hälfte des 19. J ahrhunderts offiziell noch die peinliche Gerichtsordnung aus dem Jahre 1726,37 praktisch jedoch das gemeinrechtliche Inquisitionsverfahren 38 • Mittennaier, ArchCrimR (NP) 1837, 1 (20 f.). Vgl. bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846),451 (453,455 f.). 31 Vgl. bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.3 (1846),451 (457 Fn. 4). 32 Vgl. Elling, S. 87. 33 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 244 (248). 34 Mittennaier, Mündlichkeit, S. 195; Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 244 (249); Hepp, OS 1851 (2. Bd.), 271 (293). 35 Vgl. hierzu Kap. B. 11. 4. 36 Vgl. Kap. B. 11. 4. a). 29

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aa) Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt In der Ständeversammlung des Großherzogtums Hessen waren auf den Landtagen der Jahre 1833, 1834 und 1835/36 Anträge gestellt worden, zur Verwirklichung des Art. 103 der Verfassung des Großherzogtums das rheinhessische Strafverfahren für die anderen Provinzen zu übernehmen 39. In den Kammerberatungen sprach sich die Regierung dahin aus, eine Reform zu unterstützen, sofern die Kammern eine solche wünschten 4O • Die Auflösung der Landtage verhinderte indes sowohl im Jahre 1833 als auch im Jahr 1834 Beratungen des Gesetzgebungsausschusses 41 • Nachdem der Antrag nochmals auf dem folgenden Landtag aufgegriffen wurde, kam es 1835 / 36 zu Beratungen einer Regierungskommission mit den Gesetzgebungsausschüssen der Kammern 42. Dabei wurde ein Antrag auf Übernahme des rheinhessischen Modells verworfen, es sollte jedoch eine umfassende Reform mit dem rheinhessischen Modell als Vorbild durchgeführt werden 43. Der Großherzog kündigte die "ungesäumte Bearbeitung des Gesetzgebungswerkes" an 44 , ohne das sich allerdings in den folgenden knapp zehn Jahren in dieser Sache etwas tat. Auf dem Landtag des Jahres 1845 wurden von der Ständeversammlung sowohl ein Antrag auf Übernahme des in Rheinhessen geltenden Verfahrensrechts abge1ehnt 45 als auch ein Antrag, die Bearbeitung der im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Kodiftkationen des Zivilrechts zugunsten einer beschleunigten Bearbeitung der Strafprozeßordnung auszusetzen 46 • Einerseits wurde befürchtet, das Abweichen von dem Gesetzgebungsplan würde der Zivilgesetzgebung schaden, andererseits wurde der Zustand in der Strafrechtspflege als nicht so besorgniserregend angesehen, daß eine solche Gefahr hingenommen werden müßte 47 •

Vgl. Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 268 (269). Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (390). 39 Bopp, ZfStrVerf a. F. Bd.2 (1842), 316 (342 f.); Noellner, ZfStrVerf n. F. (1844), 268 (271). 40 Bopp, ZfStrVerf a. F. Bd.2 (1842), 316 (343); Noellner, ZfStrVerf n. F. (1844), 268 (272). 41 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 268 (273 f.); Bopp, ZfStrVerf a. F. (1842),316 (345). 42 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 268 (275). 43 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 268 (277); Bopp, ZfStrVerf a. F. (1842),316 (347). 44 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 268 (277). 45 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 268 (280). 46 Vgl. bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (382 ff.). 47 Vgl. bei Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (400). 37

38

Bd. 2 Bd.2 Bd. 2 Bd.2

III. Reformgesetzgebung vor 1848

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bb) Das Königreich Bayern Ebenfalls ergebnislos verliefen die Bemühungen um eine Verfahrensreform im Königreich Bayern. Dort war 1828 ein erster Entwurf, der auf den durch den Landtagsabschied vom 22.7. 1819 zugestandenen Prinzipien beruhen sollte, im Auftrag des Königs erarbeitet worden. Die im Jahre 1830 vom König zur Prüfung dieses Entwurfes eingesetzte Kommission ließ diesen jedoch fallen und erarbeitete einen eigenen Entwurf, der am 10.10.1831 dem Staatsrat und am 19.12.1831 den Ständen vorgelegt wurde 48. Der Entwurf wurde nicht von den Kammern selbst, sondern lediglich von einem Ausschuß der 2. Kammer geprüft und von diesem abgelehnt 49 • Der Entwurf wurde als weitgehend nicht konsequent genug angesehen; andererseits wurde die vorgesehene Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren, die nach dem Entwurf für die Vorbereitung und Führung der Anklage zuständig war und sich nur zur Anordnung von Zwangsmaßnahmen gerichtlicher Hilfe bedienen mußte 50, als einschränkungsbedürftig angesehen 51. Die kompromißlose Haltung der Kammer führte dazu, daß die Regierung den Entwurf zurückzog 52. Die legislative Tätigkeit kam mit Ausschußbericht zunächst zum Stillstand 53. In der Ständeversammlung auf dem Landtag der Jahre 1842/43 wurde jedoch wieder der Wunsch nach einem öffentlichen und mündlichen Strafprozeß laut. Die Kammer der Abgeordneten faßte den Beschluß, den König zu bitten, ein Gesetzbuch über den Strafprozeß, bei welchem die Öffentlichkeit und die Mündlichkeit des Verfahrens ins Auge zu fassen seien, den Kammern vorzulegen. Die Kammer der Reichsräthe trat dem Beschluß der 2. Kammer bei, wobei allerdings zwischen den Kammern der Umfang der gewünschten Öffentlichkeit streitig blieb. Der König rief daraufhin erneut eine Gesetzgebungskommission ins Leben 54, die jedoch vor 1848 keine Ergebnisse vorzulegen vermochte.

d) Die Auseinandersetzungen über eine StrafprozeßreJorm im Königreich Sachsen Im Königreich Sachsen scheiterte die Verfahrensreform letztlich ebenfalls an unüberbrückbaren Gegensätzen hinsichtlich des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Ein von der Regierung im Jahre 1842 vorgelegter Reformentwurf hatte noch eine grundlegende Reform des Strafverfahrens abgelehnt und stattdessen lediglich ~inige weitere Hauptmängel des Verfahrens systemkonform beseitigen wollen 55. 48 49

50 51 52

53 54

Walther, Lehrbuch, S. 46 f. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 127. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 126 f.; ders., ArchCrimR (NF) 1842,79 f. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 127 f. Vgl. Haber, ZStW Bd. 91 (1979),590 (595 f. Fn. 9). Walther, Lehrbuch, S.48; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 129. Vgl. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 129 f.

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2. Teil: Geschichtliche Entwicklung

Die Erste Kammer des Landtags beschloß, dem Gesetzesentwurf der Regierung zuzustimmen und damit am Inquisitionsverfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit, der Mündlichkeit und des Anklageprinzips festzuhalten s6. Demgegenüber verwarf die Zweite Kammer in Übereinstimmung mit einem entsprechenden Votum ihrer Deputation 57 den Regierungsentwurf und beschloß, bei der Regierung die Vorlage eines neuen Entwurfes zu beantragen, der ein öffentliches und mündliches Anklageverfahren mit Staatsanwaltschaft zum Inhalt haben sollte 58. Durch Dekret vom 25.1.1843 zog der König daraufhin den Gesetzesentwurf zurück 59. Ein Versuch der Zweiten Kammer, einen ständischen Antrag auf Einführung des öffentlichen und mündlichen Anklageverfahrens mit Staatsanwaltschaft an den König zu richten, scheiterte zunächst, weil die Erste Kammer ihre Zustimmung hierzu verweigerte 60. Unter dem Druck mehrerer Petitionen aus der Bevölkerung 61 und eines wiederholten Antrages der Zweiten Kammer auf dem folgenden Landtag (1845) erklärte sich die Regierung am 20.9. 1845 bereit, einer grundlegenden Reform mit dem Ziel eines mündlichen Anklageverfahrens mit Staatsanwaltschaft zuzustimmen 62. Eine Deputation der Zweiten Kammer legte am 24.11. 1845 der Kammer einen Bericht vor und empfahl, die Staatsregierung zu ersuchen, einen Entwurf vorzulegen, der auch die Öffentlichkeit des Strafverfahrens gewährleisten sollte 63. Die Deputation sprach sich gegen die Schwurgerichtsbarkeit aus, hielt aber eine Verwirklichung des Öffentlichkeitsgrundsatzes für unabdingbar 64 • Ohne Öffentlichkeit des Strafverfahrens sei weder die Einführung der Staatsanwaltschaft als eine "vielverzweigte Behörde mit inquisitorischen Rechten und Verpflichtungen"65 zu verantworten, noch könne verhindert werden, daß das mündliche Verfahren in Willkür ausarte 66 • 55 Zwischenbericht der Deputation der 1. Kammer, (Fn. 2), S. 4; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 117; ders., ArchCrimR (NF) 1842, 424 ff.; Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 380 (401); vgl. Lucius, ZfStrVerf a. F. Bd. 3 (1843), 259 (283 ff.). 56 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 120; Noellner, ZfStrVerfn. F. Bd. 3 (1846), 77 (81). 57 Vgl. den Deputationsbericht der 2. Kammer, wiedergegeben in: Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Anklageproceß, Geschworenengerichte. Eine systematische Zusammenstellung der Verhandlungen der sächsischen Ständeversammlung hierüber, Grimma 1843, S. 163, 175. 58 Mittermaier, Mündlichkeit, S. 123; Elling, S. 93. 59 Zwischenbericht der Deputation der 1. Kammer, (Fn. 2), S. 5; Mittermaier, Mündlichkeit, S. 125; Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 271 (278); Elling, S. 93. 60 Zwischenbericht der Deputation der 1. Kammer, (Fn. 2), S. 6; Elling, S. 93. 61 Nach einem Bericht der 1. Kammer vom 17.2.1846 waren bei der 2. Kammer 59 Petitionen eingegangen (vgl. Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 3 (1846), 77 (82». 62 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd.2 (1844), 380 (404); Hepp, GS 1851 (2. Bd.), 271 (278); Elling, S. 93 f. 63 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 380 (407 ff., 422). 64 Noellner, ZfStrVerf n. F. Bd. 2 (1844), 380 (413 ff.).

III. Refonngesetzgebung vor 1848

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In einer Sitzung der Zweiten Kammer vom 8.12.1845 erklärte der Vertreter der Staatsregierung 67 , daß das Staatsministerium sich für die Mündlichkeit und die Staatsanwaltschaft ausspreche, allein für die Öffentlichkeit könne es sich nicht erklären. In den Kammerberatungen vom 16., 17. und 18. Dezember 1845 schloß sich die Zweite Kammer einstimmig der Auffassung ihrer Deputation an, daß die Öffentlichkeit eine unverzichtbare Garantie gegen Willkür sei 68. Am Ende der Debatte ergriff der Vertreter des Staatsministeriums das Wort, erklärte sich nochmals gegen die Öffentlichkeit und machte deutlich, daß, sofern die Kammern an dieser Forderung festhalten würden, es eine Reform nicht geben werde 69. Dennoch folgte die Kammer einstimmig dem von ihrer Deputation vorgeschlagenen Antrag 70. Die Deputation der Ersten Kammer schloß sich der Auffassung der Staatsregierung an, daß die:: Hauptverhandlung mündlich sein müsse; weiterhin sprach sich die Deputatien für