Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955. 3428070607, 9783428070602

Inhalt: G. Zieger, Der 17. Juni 1953 - K. W. Fricke, Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe - N. Katzer, Die Berliner Viermächtek

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German Pages 206 Year 1991

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Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955.
 3428070607, 9783428070602

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Studien zur Deutschlandfrage Band 10

Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 zu den Genfer Viermächtekonferenzen von

STUDIEN

ZUR

DEUTSCHLANDFRAGE

Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis

B A N D 10

Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955

Mit Beiträgen von Dieter Blumenwitz, Karl Wilhelm Fricke, Christian Greiner, Nikolaus Katzer, Mechthild Lindemann, Helmut Rumpf, Hans-Erich Volkmann und Gottfried Zieger

Duncker & Humblot * Berlin

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge gehen ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955 / hrsg. von Dieter Blumenwitz . . . - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Studien zur Deutschlandfrage; Bd. 10) (Veröffentlichung / Göttinger Arbeitskreis; Nr. 437) ISBN 3-428-07060-7 NE: Blumenwitz, Dieter [Hrsg.]; 1. GT; Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 437 Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-6887 ISBN 3-428-07060-7

INHALT Der 17. Juni 1953 Von Prof. Dr. Gottfried

Zieger , Göttingen

7

Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe Von Karl Wilhelm Fricke , Köln

27

Die Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage Von Dr. Nikolaus Katzer

49

Die militärische Integration der Bundesrepublik Deutschland in die W E U und die NATO, 1954-1957 Von Dr. Christian Greiner , Freiburg i.Br Zur innenpolitischen Auseinandersetzung um den westdeutschen Verteidigungsbeitrag 1950-1955 Von Prof. Dr. Hans-Erich Volkmann , Freiburg i.Br Die Wiedererlangung der deutschen Souveränität durch Bundesrepublik Deutschland und ihre Begrenzung durch alliierten Vorbehaltsrechte Von Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Würzburg

75

107

die die 133

Die Regelung der deutschen Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg Von Prof. Dr. Helmut Rumpf , Bonn

147

Die Deutschlandfrage auf der Gipfelkonferenz und der Außenministerkonferenz in Genf 1955 Von Mechthild Lindemann , Μ Α . , Bonn

177

Dem vorliegenden Band liegen Referate einer Wissenschaftlichen Fachtagung des Göttinger Arbeitskreises und Teilergebnisse des Forschungsprojekts "Deutschland auf den Viermächtekonferenzen 1954-1959" zugrunde.

DER 17. JUNI 1953* Von Gottfried Zieger

I m Abstand von 30 Jahren sollte es angezeigt sein, über die Ereignisse nachzudenken, die von den Bauarbeitern in der Stalinallee in Berlin (Ost) wie ein Flächenbrand auf die Städte und Betriebe in der D D R übergegriffen haben. Ein für deutsche Verhältnisse erstaunliches Phänomen; vielleicht nimmt man deshalb heute im Bundesgebiet dazu eine höchst unterschiedliche Haltung ein. So gab und gibt es Strömungen und Vorschläge, diesen nationalen Gedenktag abzuschaffen und dafür den 23. Mai als Verfassungstag zu begehen. Wir sollten uns noch einmal erinnern: der 17. Juni 1953 ist aufgrund von parallelen, in der Sache übereinstimmenden Anträgen aus der Mitte des Bundestages heraus von SPD und C D U / C S U zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Die SPD-Fraktion hatte gefordert, diesen Tag des Aufstandes in Berlin (Ost) und der D D R als "Nationalfeiertag" gesetzlich festzulegen 1 . Die C D U / C S U hatte vorgeschlagen, den 17. Juni zu einem "nationalen Gedenktag zu bestimmen 2 . Daraus geworden ist dann das Gesetz über den Tag der deutschen Einheit vom 4. August 1953, das den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag festgelegt hat 3 . Wenn wir heute unsere Kalender einmal daraufhin betrachten, wie dort der 17. Juni vermerkt steht, so finden wir nur noch selten die richtige Bezeichnung dieses Feiertages. Wir lesen dann vielfach nicht "Tag der deutschen Einheit", sondern blasser und unbestimmter "Gedenktag", "gesetzlicher Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland" oder noch allgemeiner "gesetzlicher Feiertag". Wir sollten bei der Ausgabe der Wand- und Taschenkalender in den nächsten Jahren einmal darauf achten. Offensicht*

Unveränderter Text des Vortrages auf der Fachtagung des Göttinger Arbeitskreises am 28./29. Oktober 1983 in Göttingen. 1

Verhandlungen des Deutschen Bundestags I. Wahlperiode, Anlage Bd. 25 B T Drucks.

4624. 2

Ebenda B T Drucks. 4625.

3

BGBl. 1953 I, S. 778.

Gottfried Zieger

8

lieh zeigt sich hier Gedankenlosigkeit oder die Tendenz, solange der 17. Juni nicht als gesetzlicher Feiertag, als "Tag der deutschen Einheit" abgeschafft ist, ihn inhaltlich ins Unbestimmte zu rücken, mit seinen Konturen auch die inhaltliche Aussage: die Erinnerung an die deutsche Einheit zu verwischen. Bei den zahlreichen Beiträgen, die in unserer Presse zur 30. Wiederkehr des 17. Juni 1953 veröffentlicht worden sind, war mit Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen, daß es eine offenbar wachsende Zahl von Journalisten - oder Redaktionen - gibt, die bemüht sind, darzulegen, daß der 17. Juni mit der Einheit in Deutschland eigentlich gar nichts zu tun habe. Es sei bei den Arbeiterunruhen zunächst um bessere Lebensbedingungen, also wirtschaftliche Probleme, gegangen, hinzu seien später Forderungen nach mehr politischer Freiheit getreten; um die deutsche Einheit sei es damals nicht gegangen 4 . Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Wochenendausgabe vom 11./12. Juni 1983 an die Spitze ihrer Betrachtung zum 17. Juni einen ausführlichen Artikel von Erich Loest gestellt: "Dieser Gewittertag, damals. Der 17. Juni 1953 in der Erinnerung eines Augenzeugen". Loest war damals Bezirksvorsitzender des Schriftstellerverbandes in Leipzig, also ein Funktionsträger des Systems. Er lebt jetzt im Bundesgebiet. In seinem hier geschriebenen Aufsatz findet sich u.a. der Satz: "Für keinen, der sich in die Wirren dieses Tages verstrickte, war die Einheit des Vaterlandes das bestimmende Moment, niemand kämpfte für sie". Der frühere Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der D D R in Berlin (Ost), Klaus Bölling , hat in seinem Interview zum 17. Juni dieses Jahres dargelegt, der Aufstand am 17. Juni 1953 sei nicht eine Manifestation des Willens zur nationalen Einheit gewesen, sondern neben ökonomischen Protesten der Ausdruck nach Freiheit und elementaren Menschenrechten 5. Wer selbst die Vorkommnisse des Juni 1953 miterlebt hat, findet immerhin eine Genugtuung in der Tatsache, daß in der Presse auch heute Auffassungen anzutreffen sind, die den Ereignissen historisch gerecht werden, Stimmen, die darlegen, daß am 17. Juni die ganze deutsche Bevölkerung die Wiedervereinigung erhofft und gewünscht habe 6 . Es besteht gewiß ein sehr naher innerer Zusammenhang zwischen dieser neu aufgebrachten These, der Aufstand vom 17. Juni habe nichts mit der 4 So u.a. G. Spörl, Ruhe muß herrschen im Land, in: Die Zeit Nr. 25 vom 17. Juni 1983, S. 13. 5 Tagsspiegel vom 12. Juni 1983, S. 9. 6 Beispielsweise E. O. Maetzke, Ein Tag zum Nachdenken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juni 1983, S. 1; H. Höhne, "Berija wollte die D D R liquidieren", in: Der Spiegel Nr. 24/1983, S. 87 f.

Der 17. Juni 1953

9

deutschen Einheit zu tun, und den Tendenzen zur Abschaffung dieses "Tages der deutschen Einheit" mit dem Verwischen der Bezeichnung des Feiertages. Wir sehen daran zugleich, wie in den vergangenen 30 Jahren der einstmals bestehende Konsens zwischen den politischen Parteien in dieser Frage aufgekündigt worden ist. Es soll versucht werden, der Frage nachzugehen, was die heute verfügbaren Quellen über jene Ereignisse auch zu diesem Punkt aussagen. Dazu bedarf es einer Skizzierung der historischen Konstellation, aus der die Vorgänge des 17. Juni 1953 hervorgegangen sind. Die Jahre 1952/53 waren unruhige Jahre in Deutschland und in Europa gewesen. I m letzten Regierungsjahr des sowjetischen Diktators Stalin hatte sich im sowjetischen Herrschaftsgebiet ostwärts der Elbe eine nachhaltige Spannung ausgebreitet. Der Abfall Titos vom Sowjetblock 1948 hatte zu einer Titoistenverfolgung mit Schauprozessen in den sowjetisch beherrschten Ländern Europas geführt. Die militärische Aggression in Korea im Sommer 1950 war nicht beigelegt, sondern schwelte weiter. In der D D R begann die Partei- und Staatsführung noch zu einer Zeit des Notenaustausches über die Stalinnote vom März 1952 mit der Abschottung der D D R von den drei Westzonen. Die Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie vom 26. Mai 1952 hat die Grundlage zu dem Stacheldraht und den übrigen Sperrmechanismen an der innerdeutschen Demarkationslinie gelegt 7 . A u f der 2. Parteikonferenz der Staatspartei im Juli 1952 wurde eine ganz neue Phase der politischen Entwicklung in Mitteldeutschland verkündet: der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der D D R 8 . Damit wurde ein bisher äußerlich gewahrter Konsens zwischen den Vier Mächten in Deutschland, ein demokratisch-parlamentarisches Regierungssystem nach dem Modell der Weimarer Verfassung in allen Besatzungszonen zu verwirklichen, seitens der Sowjetunion aufgekündigt. Hier liegt eine der wesentlichen Ursachen für die immer stärker auseinanderdriftende Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland. Denn für die D D R werden nunmehr offen die sowjetischen Organisationsstrukturen und Wertvorstellungen verbindlich gemacht. Alles das diente mit dazu, die Enttäuschung der deutschen Bevölkerung unter sowjetischer Herrschaft zu verstärken und Verbitterung zu erzeugen, weil man damit die Chancen für die Wiederherstellung deutscher staatlicher Einheit schwinden sah. I n einer radikalen Weise wurden vom 24. Juli 1952 an die bestehenden Strukturen verändert und die gerade erst mit dem Anspruch auf Verwirklichung demokratischer Prinzipien konstituierten Länder und 7

GBl. D D R 1952, S. 405.

8

Dokumente der SED Bd. IV., Berlin (Ost), 1954, S. 73.

Gottfried Zieger

10

Länderregierungen in der D D R liquidiert 9 . Schlag auf Schlag ist damals der verschärfte Kurs in der D D R vorangetrieben worden. Aus zeitlichen Gründen müssen einige Stichworte genügen. A u f dem Gebiete des Strafrechts kam es im Herbst 1952 zu einer drastischen Verschärfung. Das Gesetz zum Schutze des Volkseigentums vom 2. Oktober 1952 hatte für alle Delikte gegen Volkseigentum die Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus eingeführt und weitere Tatbestände mit einem Strafrahmen von drei bis fünfzehn Jahren Zuchthaus bzw. zehn bis fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus geschaffen, mit obligatorischer Vermögenseinziehung 10 . Die Waffe des Wirtschaftsstrafrechts, insbesondere auf der Grundlage des Gesetzes zum Schutze des innerdeutschen Handels aus dem Jahre 1950, wurde von der Staatsmacht repressiv gegen Industrie, Handwerk und alle Selbständigen eingesetzt 11 . Auch die Landwirtschaft wurde nicht verschont: es begann der erste Zugriff auf die selbständige wirtschaftliche Existenz vieler Klein- und Mittelbauern zugunsten der Kollektivierung 12 . Der durch diese Maßnahmen der Repression erzeugte Druck läßt sich am deutlichsten aus den steil ansteigenden Zahlen der Republikflüchtlinge ablesen. Hatten 1951 165.648 Deutsche die D D R verlassen, so waren es 1953 331.390, wobei diese Zahl überwiegend auf das erste und zweite Quartal entfällt. I m März 1953 hatte die Fluchtbewegung mit 58.605 Personen den Höhepunkt erreicht 13 . Die Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952 dekretierte, daß bereits der Versuch, die D D R zu verlassen, zur Totalenteignung führt 1 4 . Drei Wochen später folgte die Verordnung über die Bildung der Gesellschaft für Sport und Technik, mit der die Militarisierung der Jugend einsetzte 15 . A m 5. März 1953 war die Schraube der Einkommensteuer noch weiter angezogen worden 1 6 . A m selben Tage wurde die Einstellung der Industrie9 Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. Juli 1952, GBl. D D R 1952, S. 613. 1 0 GBl. D D R 1952, S. 982. 1 1

12

Vom 21. April 1950, GBl. D D R 1950, S. 327.

Hierzu M. Kramer, Die Landwirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone, 1953, S. 20 13ff. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin. 1961, S. 15. 1 4 GBl. D D R 1952, S. 615. 1 5 1 6

Vom 7. August 1952, GBl. D D R 1952, S. 712.

Verordnung zur Änderung der Einkommenbesteuerung und zur Sicherung des Einganges der Abgabenforderungen (Erste Einkommensteueränderungsverordnung), GBl. D D R 1953, S. 392.

Der 17. Juni 1953

11

und Handelskammer verfügt und damit den noch vorhandenen privaten Wirtschaftsbetrieben der letzte organisatorische Rückhalt genommen 17 . I n der Währungsreform 1948 hatte die sowjetische Besatzungsmacht zwar Bargeld und private Forderungen grundsätzlich im Verhältnis 10 : 1 abgewertet, die dem Staat zustehenden Forderungen indessen im Verhältnis 1 : 1 abwertungsfrei gelassen18. Das benutzten die staatlichen Organe dann gezielt, um über Steuerforderungen aus vergangenen Jahren private Betriebe in den Konkurs zu treiben; eine Verordnung vom 19. März 1953 räumte im Konkursverfahren allen öffentlichen Forderungen einen Vorrang ein 1 9 . Z u dem gestiegenen politischen Druck trat eine massive Verschlechterung der Versorgungslage in Mitteldeutschland. Die Lebensmittelrationierung bestand fort; kontingentierte Lebensmittel gab es vorwiegend nur in minderwertiger Qualität. Dem stand das qualitativ bessere Angebot in den Geschäften der Staatlichen Handelsorganisation (HO) gegenüber, mit fast unerschwinglichen Preisen 20 . Die Gewerkschaften waren ihrer Funktion als Interessenvertreter der Arbeitnehmer beraubt und mit der Staatspartei gleichgeschaltet worden 2 1 . So gab es von dieser Seite her keine Möglichkeit, auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung i.S. einer Verbesserung einzuwirken 22 . Verbitterung ergab sich aus dem Entzug von Lebensmittelkarten für alle Unternehmer, selbständig tätigen Handwerker, freiberuflich arbeitenden Rechtsanwälte, Hausbesitzer, Einzelhändler usw., also die "Nichtwerktätigen" sowie deren Angehörige und Kinder über 15 Jahre 23 . Das forcierte Programm des Ausbaus der Schwerindustrie ging einher mit einer bewußten Zurückstellung der Konsumgüterproduktion. Der Ausbau der Grundstoffindustrie, der Energiewirtschaft und des Schwermaschinenbaus sollte vor allem durch eine allgemeine Steigerung der 17 Beschluß über die Einstellung der Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer, GBl. 18D D R 1953, S. 391. Verordnung über die Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands vom 21. Juni 1948, Teil IV. Umwertungsbedingungen für laufende und andere Konten. Ziff. I I a ) Konten der Deutschen Wirtschaftskommission, deutscher Verwaltungen, Volkseigener Betriebe. ZVOB1.1948, S. 220. 19 Verordnung zur Änderung der Verordnung über den Rang volkseigener Forderungen im Konkurs des Schuldners, GBl. D D R 1953, S. 460. 20

21

H. Weber, Kleine Geschichte der D D R . 1980, S. 63.

H. Zimmermann, Stichwort "Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)" in: D D R Handbuch 3. Aufl. 1985, S. 459 (461). Vgl. auch Bundesvorstand des F D G B (Hrsg.), Geschichte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin (Ost) 1982, S. 361. 22 K.W. Fricke, Der Arbeiteraufstand. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, in: Spittmann/Fricke (Hrsg.), 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der D D R . 1982, S. 5 (6). 23 Verordnung über die Ausgabe von Lebensmittelkarten in der Deutschen Demokratischen Republik und im demokratischen Sektor von Groß-Berlin vom 9. April 1953, GBl. D D R 1953, S. 543. Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Ausgabe von Lebensmittelkarten in der Deutschen Demokratischen Republik und im demokratischen

Gottfried Zieger

12

Arbeitsproduktivität auf dem Wege höherer technisch begründeter Arbeitsnormen erreicht werden 24 . Das bedeutete für den Arbeiter im Ergebnis sinkende Löhne und Konsumverzicht. Durch die Flucht Tausender von Bauern nach dem Westen kam es zum Teil zum Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung . Die beginnende Militarisierung legte der Bevölkerung zusätzliche Lasten auf. Mitten in diese sich zuspitzende Lage in der D D R fiel die Nachricht vom Tode Stalins am 5. März 1953. Das Abtreten Stalins wurde gerade von den Deutschen in der D D R als eine große Hoffnung auf grundlegende Änderung der Verhältnisse empfunden; das läßt sich äußerlich ablesen am Rückgang der Flüchtlingszahlen nach dem Monat März 1953 26 . M i t Stalin war ein solcher Personenkult getrieben worden, daß das Wegfallen der Zentralfigur des sowjetischen Systems das gesamte ideologische Konzept der Partei- und Staatsführung ins Wanken zu bringen drohte. Die Ratlosigkeit in der SEDFührung wurde rasch im Lande spürbar 27 . Walter Ulbricht , der Vorsitzende der Staatspartei, versuchte freilich hartnäckig, den Stalinismus auch nach dem Ableben Stalins aufrechtzuerhalten. So verurteilte beispielsweise das Bezirksgericht Leipzig noch am 17. April 1953 zwei Arbeiter zu vier bzw. sechs Jahren Zuchthaus, weil sie dieser allgemeinen Genugtuung über den Tod Stalins und der Hoffnung auf bessere Zustände Ausdruck gegeben hatten 2 8 . I n der Sowjetunion hatte eine kollektive Führung die Macht übernommen. Sie sah sich einer schwierigen Lage gegenüber, da ihr die angespannte Situation im sowjetischen Lager bewußt war. Unter Führung von Malenkow als dem neuen Vorsitzenden des Ministerrates wurden moderate Töne in der Außen- und Innenpolitik hörbar. Bei der Trauerkundgebung für Stalin hatte Malenkow am 9. März 1953 für eine Politik der internationalen Zusammenarbeit und der Entwicklung besserer geschäftlicher Beziehungen mit allen Ländern plädiert und von dem Lenin-Stalinschen Leitsatz einer Möglichkeit des langen Nebeneinanderbestehens und friedlichen Wettbewerbs

Sektor von Groß-Berlin vom 30. April 1953, GBl. D D R 1953, S. 659. 2 4

25

Weber (Fn. 20), S. 62.

Fricke (Fn. 22) S. 8; vgl. auch S. Doernberg, Kurze Geschichte der D D R , Berlin (Ost). 1969, S. 234 f. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin (Fn. 13), S. 15. 2 7

S. Brant, Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953.1954,

S. 79f.

28

Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.), Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands. Teil II, 19521954. 1955 S. 134 f.

Der 17. Juni 1953

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IQ der zwei verschiedenen Gesellschaftssysteme in der Welt gesprochen . Erste Schritte zu einer internationalen Entspannung zeigten sich in Korea. A m 30. März 1953 erklärte sich die kommunistische Seite bereit, dem amerikanischen Vorschlag eines Austausches kranker und verwundeter Kriegsgefangener zuzustimmen 30 . A m 26. April 1953 wurden die Waffenstillstandsverhandlungen wieder aufgenommen und im Juli zum Abschluß gebracht 31 . Zur selben Zeit zeigte die Sowjetregierung Bereitschaft, die Verhandlungen über den Abschluß eines Staatsvertrages mit Österreich zu eröffnen 32 . Vielleicht kann mit einem Wort darauf aufmerksam gemacht werden, daß auch in der Tschechoslowakei der gestiegene Druck sich bemerkbar gemacht hatte. Anfang Juni war es in Pilsen und anderen Industriestädten des Landes teilweise zu blutigen Revolten gekommen, die offiziell als "kapitalistische Putschversuche" bezeichnet worden waren. Mit Hilfe der Sicherheitskräfte Μ

wurden sie niedergeschlagen . Die sowjetische Führung war also gewarnt über die zugespitzte Lage in ihrem Herrschaftsbereich. Offenbar bestimmte auch dies die Führung zu einer Änderung nicht nur des außen-, sondern auch des innenpolitischen Weges. Vom April 1953 an finden sich erste Signale für einen "Neuen Kurs" im sowjetischen Lager, gekennzeichnet durch Konzessionen an Arbeiter, Bauern und Konsumenten . I m Schrifttum wird von verschiedenen Versuchen der neuen sowjetischen Führung berichtet, in einem mäßigenden Sinne auf die Parteiführung der SED Einfluß zu nehmen. Doch dort führte man den stalinistischen Kurs fort 3 5 . A m 13./14. Mai 1953 trat das Zentralkomitee der SED zusammen und faßte Beschlüsse, mit denen die Partei- und Staatsführung ihren Entschluß bekräftigte, die bisherige politische Linie unverändert beizubehalten 36 . Ulbricht hat diese schwierige Phase sogar noch dazu benutzt, sich eines persönlichen Widersachers zu entledigen. Opfer dieser neuen Säuberung wurde Franz Dahlem, der in der Weimarer Zeit Mitglied des Reichstages sowie Mitglied des Zentralkomitees der KPD und nach 1945 Kaderchef der SED 29 3 0

31

Archiv der Gegenwart (AdG) vom 9. März 1953, S. 3901A. A d G vom 2. April 1953, S. 3935 A.

A d G vom 7. Mai 1953, S. 3982 A. Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 27. 32 Juli 1953. A d G vom 30. Juli 1953, S. 4094 A. A d G vom 30. Juli 1953, S. 4096 A. Die Sowjetunion notifizierte am 30. Juli 1953 den Westmächten die Bereitschaft, die Beratungen des Staatsvertrages zu eröffnen, wenn auf den "Kurzvertrag" verzichtet werde. 33 J. K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918-1978, 2. Aufl. 1978, S. 145 f.; A d G vom 13. Juni 1953, S. 4036 A /2. 3 4 Heller/Nehring, Geschichte der Sowjetunion. Bd II, 1940-1980.1985 S. 200 f. 3 5 Vgl. H. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. 1967, S. 209 ff.; A. Baring, Der 17. Juni 1953.1983, S. 42 ff. 3 6

Dokumente der SED (Fn. 8), S. 410 ff.

14

Gottfried Zieger

gewesen war. Er wurde wegen "völliger Blindheit" gegenüber "den Versuchen imperialistischer Agenten, in die Partei einzudringen", und wegen nichtparteimäßigen Verhaltens zu seinen Fehlern seiner Funktionen im Politbüro, Sekretariat und Zentralkomitee enthoben 37 . Der Ausschluß Dahlems und anderer hoher Funktionäre stand im Zusammenhang mit dem Schauprozeß in der CSSR gegen Slansky, aus dem in der D D R nur ungenügende Konsequenzen gezogen worden seien 38 . Unmittelbar von Bedeutung für unser Thema ist ein weiterer Beschluß, der auf dieser Sitzung des Zentralkomitees am 13./14. Mai 1953 gefaßt worden ist: Der Beschluß nämlich, "daß die Arbeitsnormen insgesamt um mindestens 10 Prozent erhöht werden. Diese Erhöhung der Arbeitsnormen" - wurde ausdrücklich hinzugesetzt - "muß der erste Schritt zur Beseitigung der bestehenden rückständigen Arbeitsnormen und der Ausgangspunkt einer systematischen Arbeit auf dem Gebiet der technischen Arbeitsnormung sein" 39 . Diese ungewöhnliche Reaktion einer Sozialistischen Arbeiterpartei, Arbeitsnormen durch Dekret zwangsweise zu erhöhen, erklärt sich aus dem Ärger der Parteiführung, daß die in den Betrieben seit Monaten geführte Kampagne, zu einer "freiwilligen" Erhöhung der Arbeitsnormen zu gelangen, keine Resonanz gezeigt hatte 4 0 . Diese Blindheit der Parteiführung gegenüber der Verärgerung der arbeitenden Bevölkerung muß um so mehr überraschen, als es schon im April in dem Kupferhüttenwerk Mansfeld, in den Zeiss-Werken in Jena und an anderen Orten in der D D R zu Streiks gekommen war, weil beispielsweise wetterbedingte Feierschichten nicht mehr bezahlt werden sollten 41 . Der Parteibeschluß über die Normenerhöhung führte in Finsterwalde, Gotha, Hennigsdorf, Nordhausen, Chemnitz und auf Baustellen in Berlin (Ost) zu einzelnen Arbeitsniederlegungen 42 . Die Parteiführung wußte also, daß es gärte. Gleichwohl meinte sie, durch die erprobten Gewaltmittel den Widerstand auf stalinistisch-administrative Weise brechen zu können. Dies erklärt es, daß die Partei- und Staatsführung vierzehn Tage später mit einem Ministerratsbeschluß vom 28. Mai 1953 den Parteibeschluß normativ bekräftigte und bekanntgab, es sei "zunächst eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen im Durchschnitt um mindestens 10 % bis zum 30. Juni 1953" - einem kurzfristigen, aber nicht zufälligen Datum, dem 60. Geburtstag Walter Ulbrichts - "sicherzustellen" 43 . 3 7

Ebenda S. 406 f.; A d G vom 15. Mai 1953, S. 3991 (3994 A / l ) .

3 8

Dokumente der SED (Fn 8), S. 395.

3 9

Af) 4 1

42

Dokumente der SED (Fn 8), S. 413.

Fricke (Fn. 22), S. 9. Ebenda.

K. W. Fricke, Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2. Aufl. 1965, S. 107 ff. 43 Beschluß des Ministerrats der D D R vom 28. Mai 1953, Präambel, Absatz 10,

Der 17. Juni 1953

15

Die Entwicklung ist von hier aus nicht, wie man meinen könnte, gradlinig zum 17. Juni weitergegangen. Es erfolgte vielmehr zunächst eine Intervention der sowjetischen Schutzmacht. Wie wir heute wissen 44 , war Walter Ulbricht von den neuen Machthabern im Kreml verschiedentlich aufgefordert worden, seine Politik des verschärften Klassenkampfes zu korrigieren. Als Ulbricht eigensinnig auf seiner Politik beharrte, erschien am 5. Juni in Berlin (Ost) Wladimir Semjonow als neuer sowjetischer Hochkommissar und zwang das Politbüro der SED zu einem Kurswechsel. Die sowjetischen Forderungen eines "Neuen Kurses" enthielten nicht nur Erleichterungen für Versorgung und Lebensstandard der Bevölkerung, sondern gingen soweit, von der Führung ein öffentliches Reuebekenntnis vor der Bevölkerung zu verlangen 45 . Darauf beschloß das Politbüro am 9. Juni eine Politik des "Neuen Kurses", die nach zwei Tagen im "Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde 4 6 . Darin stand u.a., daß seitens der SED und der Regierung der D D R in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen worden seien, die ihren Ausdruck in Verordnungen und Anordnungen gefunden hätten, wie den Verordnungen über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe sowie in außerordentlichen Maßnahmen der verschärften Steuererhebung usw. Es wurde festgestellt, daß die Interessen solcher Bevölkerungsteile, wie der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker, der Intelligenz vernachlässigt worden seien. Diese ernsten Fehler hätten dazu geführt, daß zahlreiche Personen die Republik verlassen hätten. Der Ministerrat hat dann am 11. Juni die Zwangsvorschriften wieder aufgehoben 47 . Bemerkenswert ist es, daß das Dekret über die Erhöhung der Arbeitsnormen - soweit ich sehe - nicht formell aufgehoben worden ist. Die Gewerkschaftszeitung "Tribüne" veröffentlichte am 16. Juni 1953 einen Aufsatz von Otto Lehmann 48 , dem Sekretär beim Bundesvorstand des FDGB, in dem die Normerhöhung bekräftigt wurde. In diesem Aufsatz hieß es: "Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Kommuniqués des GBl. D D R 1953, S. 781. 4 4

Der Spiegel Nr. 24/1983 (Fn. 6), S. 75.

4 5

Baring (Fn. 35), S. 42 f.

4 6

Vom 11. Juni 1953; Dokumente der SED (Fn. 8), S. 428 ff.

47

Verordnung über die Aufhebung der Beschränkungen bei der Ausgabe der Lebensmittelkarten für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und des demokratischen Sektors von Groß-Berlin vom 11. Juni 1953. Verordnung über die in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zurückkehrenden Personen vom 11. Juni 1953. Verordnung über die Aufhebung der Verordnung zur Sicherung der Landwirtschaftlichen Produktion und der Versor|ung der Bevölkerung vom 11. Juni 1953. GBl. D D R 1953, S. 805 f. Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen. Nachdruck als Dokument Nr. 24 in: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Hrsg.). Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift über den Juni-Aufstand in der sowjetischen Besät-

Gottfried Zieger

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Politbüros und des Ministerrats vom 9. bzw. 11. Juni 1953 wird in einigen Fällen die Frage gestellt, inwieweit die Beschlüsse über die Erhöhung der Arbeitsnormen noch richtig sind und aufrechterhalten bleiben. Die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig". Es ist Fricke beizupflichten, daß dieser Artikel nach den vorangegangenen Spannungen, vor allem nach dem offenen Eingeständnis von Fehlern, geradezu einen Massenprotest hervorrufen mußte 9 . Otto Nuschke hat am 17. Juni in einem Interview mit dem RIAS gesagt, das sei der Zünder für die Erregungswelle gewesen 50 . Die Behauptung der DDR-Führung, der 17. Juni 1953 sei der T a g X gewesen, an dem der Westen zu einem lange und gut vorbereiteten Anschlag auf die D D R habe ausholen wollen, entspricht der allgemeinen Politik der DDR-Führung, für eigenes Versagen den Klassengegner verantwortlich zu machen oder eigenes Tun mit bewußten Unwahrheiten zu ummanteln 5 1 . Dasselbe gilt für die auch heute noch offiziell vertretene Behauptung, der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 habe dazu gedient, einen unmittelbar drohenden Überfall der Bundeswehr und der Westmächte auf Μ

Berlin (Ost) zuvorzukommen . Die SED-Parteiführung weiß sehr wohl um die wirklichen Zusammenhänge. Wie soll sie ideologisch zugeben können, daß sich Arbeiter gegen eine Arbeiterregierung gewaltsam erheben? Soweit wir heute wissen, hat es vor dem 17. Juni heftige Diskussionen unter den Arbeitern gegeben. A n der Baustelle Block 40 der Stalin-Allee wurden am 15. Juni zwei Delegierte gewählt, die von der Regierung die Rücknahme der Normerhöhung fordern sollten 53 . Es sind wohl zwei Gesichtspunkte gewesen, die dann am 16. Juni zu dem Ausbruch des Streiks in der Stalin-Allee geführt haben. Einmal diskutierte man auf der Baustelle Block 40 der Stalin-Allee die Frage, ob man die beiden gewählten Delegierten allein zur Diskussion mit Regierung und F D G B schicken wolle. Da man meinte, es bestehe die Gefahr, daß man sie dort verhaftet, entschied man sich, gemeinsam hinzuziehen. Vor allem aber hatte der vorerwähnte Aufsatz von Otto Lehmann in der "Tribüne", den die Arbeiter zuneszone und Ostberlin (zitiert: Volksaufstand). 1953, S. 43. Fricke (Fn. 22), S. 11. 5 0

O. Nuschke am 17. Juni in einem lUAS-Interview, abgedruckt als Dokument Nr. 25 in: Volksaufstand (Fn. 48), S. 45; ebenso bei Baring (Fn. 35), S. 179. 5

* E. Honecker, Aus meinem Leben. Berlin (Ost) 1980, S. 184 f.; Dokumente der SED (Fn. 8), S. 452: Doernberg (Fn. 25), S. 236 ff. 5 2

53

Doernberg (Fn. 25), S. 445 ff A d G vom 18. August 1961, S. 9284 (9285 A 1,3).

Schilderung der Ereignisse, wenn nicht anders zitiert, nach: Baring (Fn. 35), S. 57 ff; Brant (Fn. 27), S. 103 ff.; J. G. Leithäuser, Der Aufstand im Juni, 1954; Ewers/Quest, Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni, in: Spittmann/Fricke (Fn. 22), S. 23.

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am 16. Juni früh lasen, ihre Erbitterung maßlos gesteigert. Es sei die Zeit nunmehr zum Handeln gekommen. Sie fertigten ein Transparent an: "Wir fordern Herabsetzung der Normen", und kurz darauf setzten sich die ersten 300 Bauarbeiter in Bewegung. Der Zug erhielt von unterwegs laufend Verstärkung und wuchs rasch zu einer mächtigen Demonstration an. Das Haus des FDGB fand man verschlossen und niemanden zur Diskussion bereit. Daraufhin zog man in die Leipziger Straße zum Haus der Ministerien. Es waren schätzungsweise etwa 10.000 Demonstranten, die auch hier alles verschlossen fanden. Es erschien dann eine Frau, die Staatssekretärin Walther, die man nicht zu Wort kommen ließ, weil man sie irrigerweise für die Sekretärin von Walter Ulbricht hielt und den Parteichef selbst sprechen wollte. Der ließ sich freilich nicht sehen. Mut hatte Minister Selbmann, der sich den Arbeitern stellte, aber niedergeschrien wurde. Professor Havemann kam hinzu und versuchte, den Demonstranten eine Vorlesimg über die Widersprüche und Probleme der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation zu halten. Doch die Arbeiter lärmten zunehmend und pfiffen ihn herunter. I n Sprechchören verlangte man, Grotewohl und Ulbricht zu sprechen. Eine eigentliche Führung in dem Demonstrationszug war nicht vorhanden. Manche über die Normenreduzierung hinausgehenden politischen Forderungen wurden im Kreise der Demonstranten laut und mit Beifall bedacht. Als Selbmann gegen 14 Uhr bei einem zweiten Redeversuch bekanntgab, daß der Ministerrat die administrative Normerhöhung zurückgenommen habe 5 4 , weil dies ein Fehler gewesen sei, wurde er von einem Arbeiter beiseite geschoben mit dem Bemerken, es gehe jetzt nicht mehr allein um die Frage der Normerhöhung. Es kam jetzt alles das zum Vorschein, was die Menschen seit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus bedrückte. Man hatte im Massenerlebnis die eigene Macht und auf der Seite der allmächtigen Partei- und Staatsführung eine lähmende Schwäche verspürt. Man zog ohne Resultat vom Haus der Ministerien wieder ab, mit der Ankündigung, den Generalstreik auszurufen und am anderen Tage wiederzukommen. Die Ereignisse des 17. Juni sind in diesem Kreise bekannt, so daß auf deren Darstellung verzichtet werden kann. Es kam an mehr als 250 Orten in der D D R spontan zu Massendemonstrationen, verbunden mit Arbeitsniederlegungen, also einem Generalstreik. Es war eine spontane Massenbewegung, die Hunderttausende erfaßte. Es gibt heute Überlegungen, die Ereignisse zu quantifizieren. Grotewohl hat nach dem 17. Juni offiziell davon gesprochen, es sei in 272 Ortschaften von 300.000 Arbeitern gestreikt worden. Bei 5,5 Mio Arbeitnehmern wären das damals 5,5 % gewesen. Nur in 54

Vgl. Erklärung des Politbüros vom 16. Juni 1953; in: Dokumente der SED (Fn. 8),

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Ausnahmefällen hätten sich Intellektuelle beteiligt, das Bürgertum habe sich weitgehend aus den Ereignissen herausgehalten 5 . Hier besteht die Gefahr, die Ereignisse des 17. Juni nachträglich in eine Minderheitenaktion umdeuten zu wollen und den Vorkommnissen die eigentliche nationale Basis zu entziehen. Als einen nationalen Gedenktag kann man den 17. Juni nur begehen, wenn die Mehrheit der Menschen in der D D R damals hinter den Ereignissen gestanden hat. Wer die Tage um den 17. Juni selbst miterlebt hat, kann nicht den mindesten Zweifel an dem Massencharakter der Ereignisse haben. Gewiß, die Arbeiterschaft war bereit zu handeln und trat als aktiver Teil der ganzen Unternehmung in Erscheinung. Historisch muß man darum auch von dem Aufstand der Arbeiter in der D D R sprechen. Das läßt sich aber nicht in den umgekehrten Schluß umdeuten, daß die übrigen Schichten der Bevölkerung, Bauern, Mittelstand, Bürgertum und Intelligenz, abseits gestanden hätten . Streiks und Demonstrationen auf dem Dorfe sind schwerlich vorstellbar, das Bürgertum neigt zur Beobachtung und zum Abwarten, es hat den Schwung der Arbeiterschaft aber in seiner überwältigenden Mehrheit aufgegriffen. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Bürgertum sich eher zur Flucht entschlossen hatte als daß es Bereitschaft zu aktivem Handeln gegen das System zeigte. Die Aktion des 20. Juli 1944 läßt sich als Vergleich hierzu nicht heranziehen. Die meisten Verluste durch Republikflucht hatte das Bürgertum aufzuweisen und damit auf seine Weise mit den Füßen gegen das System abgestimmt 57 . Durch die jahrelange Propaganda, abgestellt auf die Kraft der Arbeiterklasse und gegen bürgerliches Denken, haben die Ereignisse des 17. Juni ein getreuliches Spiegelbild, eine exakte Kehrseite dieser offiziellen Bewußtseinshaltung gezeigt: die Arbeiterschaft erwies sich als die Kraft, als die sie stets herausgestellt worden war, selbstbewußt wandte sie sich gegen das System der Unterdrückung. Das Bürgertum blieb zunächst verschüchtert, vielleicht auch im Innern mit der Frage belastet, wie die Dinge weitergehen würden. A n der inneren Zustimmung zu den Ereignissen kann indessen nicht gezweifelt werden. Die Spannung in der D D R war in den Jahren 1952/53 in einer so fieberhaften Weise gestiegen, wie allein die nach oben schnellenden Zahlen der Flüchtlingsbewegungen aus der Zone dartun, daß nach dem Tode Stalins die Erwartung auf eine grundlegende notwendige Änderung der Dinge in der Luft lag und entweder auf eine offiziell gesteuerte oder eine spontane Weise S. 432 f. 5 5 O. Grotewohl, Im Kampf um die einige Deutsche Demokratische Republik, Bd. III. Berlin (Ost), 1954, S. 381. 5 6

57

J. Rühle, Der 17. Juni und die Intellektuellen, in: Spittmann/Fricke (Fn. 22), S. 156. Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes

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von Seiten der Betroffenen auf eine radikale Änderung der Situation hindrängte. Es war wie ein Flächenbrand der Erleichterung und Begeisterung, der sich in Szenen emotionaler Empfindungen auf den Straßen und Plätzen, in den Betrieben und Familien äußerte. Der eigentliche Anlaß der Normenerhöhung, der in der Tat nur die Arbeiter betraf, war dabei fast nebensächlich geworden. So mußten sich zwangsläufig die eigentlichen politischen Grundforderungen der Menschen rasch in den Vordergrund schieben 5 8 : Rücktritt der sog. Deutschen Demokratischen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hatte, Zulassung sämtlicher großen demokratischen Parteien Westdeutschlands, freie, geheime Wahlen innerhalb von 4 Monaten, Freilassung sämtlicher politischen Gefangenen, sofortige Abschaffung der Zonengrenze, Auflösung der sog. Nationalarmee und keine Repressalien gegen die Streikenden. So lauteten die Forderungen der Werktätigen aus dem Kreise Bitterfeld, die sich im wesentlichen mit den Forderungskatalogen der übrigen Städte gedeckt haben 59 . Freiheit und Einheit, politische Normalisierung im westlichen Sinne waren die Hauptforderungen. Es ist unverantwortlich und unverständlich, wenn heute behauptet wird, die Forderung nach Freiheit habe es gegeben, aber nicht die Forderung nach nationaler Einheit. In Berlin wurden die Sektorenschlagbäume weggeräumt, in Bitterfeld und anderwärts die Beseitigung der Zonengrenze und Zurückziehung der Volkspolizei gefordert, also gerade ein Abbau der zwangsweise aufgerichteten Schranken, die Deutsche von Deutschen trennen sollten 60 . Es war ein Akt nationaler Bewußtwerdung mit den anderen Deutschen in den westlichen Besatzungszonen und in Berlin (West). Daran kann ernstlich nicht gezweifelt werden. Nicht zutreffend ist die offizielle Lesart der DDR-Führung, die Aufstandsbewegung sei vom Westen her, insbesondere vom RIAS gesteuert gewesen. Vor allem ist es unzutreffend, daß der RIAS seinerseits zum Generalstreik aufgerufen habe 61 . I m Gegenteil. Der RIAS hat in seiner Nachrichtensendung am 16. Juni um 16.30 Uhr sich auf die Nachricht beschränkt, daß Demonstranten vor dem Haus der Ministerien zum Generalstreik aufgerufen hätten. Auf ausdrückliche Anordnung der amerikanischen Behörden durfte dieser Hinweis in den späteren Sendungen des Nachmittags und des Abends ebensowenig enthalten sein wie eine Aufforderung zu Streiks und Demonstranten 62 . Jakob Kaiser, damals Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, hat ausdrücklich am Abend des 16. vom 13. August 1961 in Berlin (Fn. 13), S. 16 f. 5 8

Fricke (Fn. 22), S. 15.

5 9

Hierzu: Leithäuser (Fn. 53), S. 41.

6 0

Ebenda.

6 1

Chamberlin/Wetzel, Der 17. Juni und der RIAS, in: Spittmann/Fricke (Fn. 22), S. 212; R. Hildebrandt, Der 17. Juni. 1983, S. 43 ff. 6 2

Baring (Fn. 35), S. 99f.; Hildebrandt (Fn. 61), S. 55.

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fft Juni über den Rundfunk eine Mahnung zur Besonnenheit abgegeben . Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Scharnowski, hat vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus die Forderungen der Streikenden unterstützt, zugleich aber zur Zurückhaltung aufgerufen 64 . Berichtet wird von Szenen der Verbrüderung zwischen Deutschen aus Ost- und West-Berlin; auch dies unterstreicht den nationalen Charakter der damaligen Ereig• 65 msse . Gegen die sowjetische Besatzungsmacht haben sich die Demonstranten nicht gerichtet 66 . Es hat - ich habe sie selbst in Leipzig gesehen - vereinzelt Schilder und aufgemalte Parolen "Russen raus" gegeben. Die Stoßrichtung der Demonstration ging indes nicht gegen die Russen, sondern gegen das Regime in der D D R , gegen die deutschen Funktionäre . In Leipzig habe ich - als im Laufe des 17. Juni LKWs mit russischen Soldaten im Straßenbild auftauchten - sogar Verbrüderungsszenen zwischen russischen Soldaten und Demonstranten erlebt. Das schlug erst um, als in den Städten Panzer eingesetzt wurden, um die Demonstrationen auseinanderzutreiben. Da ist mit Steinen gegen Panzer geworfen worden. Als die Ereignisse dann am 17. Juni voll in Gang gekommen waren, hat es natürlich an Presse- und Rundfunkmeldungen aus dem Westen nicht gefehlt, wie könnte sich auch die freie Presse aus diesen Ereignissen heraushalten. Der auslösende Funke ist jedenfalls nicht von der westlichen Seite ausgegangen, im Gegenteil hat man dort versucht, eine Explosion zu verhindern . Die Ereignisse des 17. Juni haben im übrigen sowjetischen Lager ihre Kreise gezogen. In der Tschechoslowakei haben die Unruhen vom Juni fortgewirkt 9 . Vor allem aber kam es in Polen nach dem 17. Juni 1953 zu Streiks und Unruhen, die zur Unterbrechung der Eisenbahnlinien zwischen Frankfurt/Oder und Brest Litowsk geführt haben 70 . In Ungarn führten sie zum Sturz der Regierung. Der neue Ministerpräsident Imre Nagy kündigte am 4. Juli vor dem ungarischen Parlament ein Reformprogramm an, das sich vor allem auf die Gewährleistung der Bürgerrechte gegenüber der StaatssicherfA Baring (Fn. 35), S. 102, mit dem Text der Ansprache S. 176; Hildebrandt (Fn. 61), S. 55. Chamberlin/Wetzel (Fn. 61) S. 214; Baring (Fn 35) S. 102 mit Text der Rundfunkerklärung S. 177. 6 4

Fricke (Fn. 35), S. 13. 6 6

Baring (Fn. 35), S. 95.

6 7

Fricke (Fn. 22), S. 20; Baring (Fn. 35), S. 95.

6 8

Ebenda S. 98 ff.

69

Ebenda S. 96 f. mit dem Hinweis, daß der Arbeiteraufstand "zu ausgedehnten und langanhaltenden Arbeitsniederlegungen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern, besonders in Workuta (UdSSR), geführt" habe. 7 0 A d G vom 5. Juli 1953, S. 4065 C.

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71

heit bezog. Fehler und Mißbräuche wurden auch dort eingestanden . In der Sowjetunion selbst kam es zum Sturz Berijas, zu seiner späteren Aburteilung und Hinrichtung. Der Spiegel hat seiner Ansicht Ausdruck gegeben, den Aufstand in der D D R hätten die politischen Gegner Berijas dazu benutzt, ihn zu Fall zu bringen. Er habe als der eigentliche Schuldige an der Katastrophe in der D D R gegolten. A m Morgen des 18. Juni sei Berija auf einer Sitzung des Präsidiums des Zentralkomitees verhaftet worden 7 2 . I n der D D R rächte sich Ulbricht durch den schimpflichen Ausschluß von Zaisser und Herrnstadt aus allen Funktionen in der Staatspartei am 26. Juli 1953. Ein Jahr später sind sie aus der Partei ausgeschlossen worden 7 3 . Objektiv gesehen, hat der 17. Juni dank dem Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte die Machtposition Ulbrichts gerettet 74 . Doch dieser war zunächst gebunden, den "Neuen Kurs" durchzuführen. Insofern mußte er seine ursprüngliche Politik des verschärften Klassenkampfes zurücknehmen 75 . Daraus die Fama bilden zu wollen, durch den Aufstand der Bauarbeiter in Berlin (Ost) seien Chancen für eine Wiedervereinigung Deutschlands unfreiwillig verspielt worden 76 , entspricht eher der Sucht des Journalisten nach Sensationen als der Wirklichkeit in Deutschland. Die sowjetische Politik - und das gilt insbesondere für die Deutschlandpolitik, bei welcher die Westmächte involviert waren - ist immer vorsichtig und bedacht in ihren Operationen vorgegangen. Auch Malenkow und Berija waren keine Choleriker wie Chruschtschow, der später in seinem Abenteurerkurs stets rechtzeitig von der kollektiven Führung gebremst und schließlich entmachtet worden ist. Ein abrupter Wechsel in der Deutschlandpolitik der UdSSR ist deshalb höchst unwahrscheinlich und politisch wirklichkeitsfremd, wenn man meint, die Sowjets selbst hätten mit Hand anlegen wollen, sog. kapitalistische Verhältnisse in ihrer Zone wieder einzuführen, die D D R gewissermaßen an den Westen zu verkaufen. Das ist in der politisch verantwortlichen Führung der 71 A d G vom 4. Juli 1953, S. 4064 F; Wortlaut der Rede von Ministerpräsident Nagy in: A d G vom 20. Juli 1953, S. 4082 H. 7 2 Der Spiegel, Nr. 24 vom 13. Juni 1983, S. 88. 7 3 Dokumente der SED (Fn. 8), S. 471; K. W. Fricke, Warten auf Gerechtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen. 1971, S. 94 f. 7 4 "Nicht trotz, sondern wegen der Schwäche, die der SED-Staat am 17. Juni gezeigt hat, konnte sich Ulbricht behaupten, mußte Moskau ihn stützen, statt ihn zu stürzen", schreibt Baring (Fn. 35), S. 123. 75 Wie Baring a.a.O., S. 115 darlegt, habe Grotewohl im Sommer 1953 den "Neuen Kurs" mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) der Sowjetunion 1921 bis 1925 verglichen. Bereits im Juli 1953 hat das 15. ZK-Plenum ausgesprochen, die "Generallinie der Partei war und bleibt richtig". Bei dem "Neuen Kurs" handele es sich nur um eine Atempause. Dokumente der SED (Fn. 8), S. 467. 7 6 G. Wettig, Die sowjetische Deutschland-Politik am Vorabend des 17. Juni, in: Spittmann/Fricke (Fn. 22), S. 56 (62); Höhne (Fn. 6), S. 88.

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Sowjetunion gewiß nie gedacht worden . Wenn in diesem Zusammenhang an die Idee einer Neutralisierung Gesamtdeutschlands erinnert wird, dann ist diese in einem ganz anderen Zusammenhang zu sehen, nämlich als Station auf dem Wege, ganz Deutschland in die sowjetische Interessensphäre hineinzuziehen. Das ist ein verständliches Großmachtinteresse, das auch heute latent bei der Partei- und Staatsführung von UdSSR und D D R maßgebend ist. Fragen wir zum Schluß zum einen nach den Möglichkeiten, die der Westen gehabt hätte, etwas zu tun, und zum anderen nach den Auswirkungen für die heutige politische Situation, so kann man ersteres rasch beantworten. Gewiß hätten die drei Westmächte rechtliche Handhaben zur Verfügimg gehabt, um sich bei ihrem Mit-Alliierten mit dem Verlangen nach Gewährung von Freiheitsrechten und einem ausreichenden Lebensstandard der deutschen Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone zur Geltung zu bringen. Die Mitspracherechte der Vier Mächte beziehen sich nicht lediglich auf die ihrer Administration unmittelbar unterstellten Besatzungszonen, sondern auf Gesamtdeutschland. Das ist von ihnen bei den Ostverträ78

gen fast zwanzig Jahre später übereinstimmend bekräftigt worden . Das gemeinsame alliierte Besatzungsprogramm von Potsdam sah die Gewährung der klassischen politischen Rechte der bürgerlichen Demokratie vor: Zulassung aller Parteien, Demonstrationsrecht, Meinungsfreiheit sowie Gewährleistung einer freien Presse 79 . Insofern können wir sagen, daß die Arbeiter am 17. Juni 1953 zugleich für diese Ziele des sog. Potsdamer Abkommens demonstriert und gestreikt haben. A m hinreichenden Rechtstitel zu einer Einschaltung in die Vorkommnisse im Sowjetsektor Berlins und in der sowjetischen Besatzungszone hat es auf westlicher Seite also nicht gefehlt. Insofern ist die Aussage in dem vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in diesem Jahre neu aufgelegten Heft über den Aufstand vom 17. Juni 1953 unzutreffend, wenn es darin heißt: "Der Westen hatte keine 80 rechtlichen Möglichkeiten einzugreifen" . Es fehlte vielmehr der politische Entschluß und wohl auch die militärische Fähigkeit, den Sowjets Paroli zu bieten. Ob ein geschicktes politisches Eingreifen zu einem anderen Ausgang 7 7

78

Wettig (Fn. 76), S. 67.

Das ergibt sich u.a. aus den Noten zu den Ostverträgen, Noten der Westmächte zum Moskauer Vertrag, BGBl. 1972 II, 357 ff.; Noten der Westmächte zum Warschauer Vertrag, BGBl. 1972 II, 365 ff. sowie aus der übereinstimmenden Note der Vier Mächte zu den angekündigten Aufnahmeanträgen beider deutscher Staaten in die U N , H. von Siegler (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland, Mitglied der Vereinten Nationen. Eine Dokumentation. 1973, S. 191. 79 Teil III, A (Politische Grundsätze) Ziff. 9 ( I I ) und Ziff. 10 des sogenannten Potsdamer Abkommens. Amtsblatt des Kontrollrats. Ergänzungsblatt I., S. 13 (15). Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.). Der Aufstand vom 17. Juni 1953.1983, S. 22.

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der Ereignisse hätte beitragen können, ließe sich nur spekulativ beantworten. Die Situation der militärischen Einmauerung der beiden Blöcke in Europa verbot es dem Westen, sich zu rühren, man war deshalb auf westlicher Seite sorgsam bestrebt, die Ereignisse unter Kontrolle zu halten, eine abwartende Haltung einzuschlagen, die sich 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der CSSR und 1980 in Polen in gleicher Weise wiederholen sollte. Interessanter mag darum die andere Frage nach den Konsequenzen und Lehren aus den Ereignissen des 17. Juni 1953 sein. Auch wenn der Aufstand vom 17. Juni 1953 keinen äußerlichen Erfolg gehabt hat und nach Verhängimg des Ausnahmezustandes von sowjetischen Standgerichten 19 Todesurteile, von deutschen Gerichten weitere drei Todesurteile gefällt und im Westen insgesamt 1.383 Strafurteile mit beträchtlichen Freiheitsstrafen bekannt geworden sind 8 1 , haben diese Ereignisse doch Auswirkungen auf das Sensorium der Sowjetunion mit sich gebracht. Die Jahre 1956,1968 und 1980 haben - in einem seltsamen Rhythmus von 12 Jahren - für weiteres Anschauungsmaterial gesorgt. Wenn sich wachsende politische Repression mit akuten Versorgungsmängeln verbindet, besteht die Gefahr von Unruhe in den Betrieben; die Arbeiter sind insoweit die Schrittmacher für die Bevölkerung im ganzen Lande. Das klassische sowjetische Mittel der militärischen Niederwerfung derartiger Ansätze eines offenen Aufruhrs von Kronstadt 1921 bis zur CSSR 1968 ist 1980 in Polen nicht mehr von der sowjetischen Führung eingesetzt worden. Ich möchte die These aufstellen, daß es der Druck der öffentlichen Meinung ist, das gewachsene Bewußtsein der Verpflichtung zur Achtung eines Mindeststandards von Menschenrechten, welche der Sowjetführung den Entschluß zu einer abermaligen militärischen Gewaltaktion in Bruderstaaten erheblich erschweren. So wird sich ein sowjetischer Panzereinsatz gegen die Deutschen in der D D R wie am 17. Juni 1953 kaum wiederholen. Ist aber das Mittel einer militärischen Intervention der Roten Armee in den Hintergrund gedrängt worden, so stehen den Machthabern aus deren Perspektive heute nur zwei Alternativen zu Gebote: auf der einen Seite der Versuch einer Verbesserung der materiellen Lage im eigenen Lande. So läßt sich wohl sagen, daß Erich Honecker nach seinem Machtantritt sich nachhaltig bemüht hat, durch die Verbesserung des Lebensstandards für Ruhe im Lande zu sorgen und dadurch vielleicht sogar Zustimmung zu dem System zu gewinnen. Die Situation permanenter Mängel und einer schleichenden Inflation haben diese Phase in der D D R schon seit 1982 beendet. Den Ansätzen einer Unruhe in der Bevölkerung Ende 1982 ist man mit raschen Lieferungen im Zuge des innerdeutschen Handels seitens der DDR-Regierung ent-

K. W. Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, in: Spittmann/Fricke (Fn. 22), S. 70 (72 f.).

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gegengetreten; insofern erweist sich der Ost-West-Handel als Stabilisator des sowjetischen Systems 82 . A u f der anderen Seite verfügt der sowjet-sozialistische Staat über das Mittel der Repression mit eigenen Machtinstrumenten. Die DDR-Parteiund Staatsführung hat den Aufbau der Kampfgruppen der Arbeiterklasse nach dem 17. Juni intensiv vorangetrieben. Sie stellen ein zusätzliches internes Repressivinstrument dar, das dem Staatssicherheitsdienst zur Seite t r i t t 8 3 . I n Polen ist die äußere Ordnung im Dezember 1981 auf einem ähnlichen Wege wiederhergestellt worden, dem Vernehmen nach mit Unterstützung des sowjetischen Geheimdienstes und des Staatssicherheitsdienstes der D D R . Auch die Verschuldungskrise seit Beginn der 80er Jahre hat die Länder des sowjetischen Lagers in beträchtliche wirtschaftliche Schwierigkeiten versetzt 84 . Doch bedarf es weiterer Umstände, um die Flamme des Aufruhrs zu entfachen. Z u politischem Druck und wirtschaftlicher Misere muß - wofür der 17. Juni 1953 vorzügliches Anschauungsmaterial bietet - wohl stets ein sichtbar werdendes Zurückweichen des Systems vor der Arbeiterschaft hinzutreten. Auch in Polen ist dies 1980 festzustellen gewesen. Vor allem werden die unterdrückten Völker in Mittel- und Osteuropa jeden Machtwechsel in Moskau sehr genau beobachten, inwieweit er einen Kurswechsel signalisiert. Hier liegt zugleich die Hoffnung für eine echte Normalisierung der Verhältnisse in Europa, daß die Sowjetführung das bisherige System gewaltsamer Repression durch partnerschaftliche Beziehungen ersetzt, die den Ländern des sowjetischen Lagers mehr nationale und individuelle Freiheit sichern, der Sowjetunion dafür erneute Erschütterungen an ihrer europäischen Grenze ersparen. Was die Situation im anderen Staate Deutschlands anbelangt, so muß festgehalten werden, daß es eine offene Grenze in Deutschland am 17. Juni gab. Heute dagegen ist diese Grenze hermetisch abgeriegelt. Das Gefühl des Eingesperrtseins bietet einen Anreiz für Resignation oder Anpassungsbereitschaft. Doch liegt darin zugleich die Gefahr eines raschen Anstiegs des Drucks und des Gegendrucks. Die Partei- und Staatsführung der D D R hat darauf verschiedentlich mit einer Abschiebung öffentlicher Kritiker oder oppositioneller Kräfte reagiert. Die Vorgänge, die aus Jena bekanntgeworden sind, zeigen eine Verstärkung dieser Strategie der DDR-Regierung, Widerstand im Lande abzubauen. Neu ist wohl gegenüber 1953 die wachsende Unruhe und Unbekümmertheit unter der Jugend. 8 2

83

Der Spiegel Nr. 44/1982 S. 135 f. und Nr. 17/1983, S. 45 f.

J. Nawrocki, Bewaffnete Organe in der D D R . 1979, S. 146. Stichwort "Kampfgruppen", in: DDR-Handbuch (Fn. 21), S. 707. 84 Hierzu G. Zieger, Probleme der Verschuldung östlicher Staatshandelsländer, in: Archiv des Völkerrechts Bd. 21 (1983), S. 239 ff.

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Auch der Westen hat durch seine wirtschaftliche Hilfsbereitschaft eine gewisse Einwirkungsmöglichkeit i. S. einer Dämpfung von Unzufriedenheit und Unruhe in den Ländern des sowjetischen Lagers. Bisher ist es an keiner Stelle gelungen, das sowjetische Herrschaftssystem wegen seiner machtmäßigen Perfektionierung gewaltsam von innen aufzubrechen. So gibt es wohl nur den Weg, das System von außen her zu bewegen, selbst Bedingungen zu schaffen, die einen wirtschaftlichen und politischen Mindeststandard gewährleisten. Dazu gehört einerseits, daß wir im Westen mehr zu unterscheiden lernen zwischen dem System und den Menschen im Osten und daß wir zum anderen der betroffenen Bevölkerung im sowjetischen Herrschaftsbereich die eklatanten Unterschiede zwischen ihr und der privilegierten herrschenden Schicht (Nomenklatura) verdeutlichen. War der 17. Juni nach alledem auch ein Tag, an dem es um die deutsche Einheit ging? Die Frage muß rückhaltlos bejaht werden. Der arbeitsrechtlich-soziale Anlaß hat rasch den aufgestauten Mißmut der DDR-Deutschen freigesetzt. Unterdrückt fühlte man sich nicht nur durch das politische System und geschunden durch die Ausbeutung im Arbeitsprozeß sowie die unzureichende Versorgung. Ein wesentlicher Anlaß zur Spannung zwischen den Menschen und dem System war insgesamt die Sowjetisierung Mitteldeutschlands, die Propagandawelt mit ihren Unwahrheiten und dem Zwang zu einer Schizophrenie des Denkens. In dem Ruf nach Freiheit, nach Befreiung der politischen Gefangenen steckte die Forderung nach Beseitigung eines Systems, das solche politischen Gefangenen nötig zu haben meint. Da der Glaube an die Einheit der deutschen Nation bei den Deutschen in der D D R vor 30 Jahren ungebrochen war, richtete sich der Zorn der demonstrierenden Arbeiter am 17. Juni 1953 vor allem gegen die Person von Walter Ulbricht, der die Sowjetisierung mit allen Mitteln vorangetrieben hat ("weg mit dem Spitzbart") 85 . Man sah in ihm den eigentlichen Hemmschuh für das Knüpfen neuer Verbindungen zu den Deutschen in den Westzonen. Die Bitterfelder Forderung auf Zulassung der westdeutschen Parteien in Mitteldeutschland spricht für sich; deutlicher kann man die Sehnsucht nach bürgerlich-demokratischen Verhältnissen nicht zum Ausdruck bringen. Daß man diese stärker im sozialdemokratischen Sinne verwirklicht hätte, ist wegen der Tradition der Sozialdemokratie in den mitteldeutschen Industrierevieren zu vermuten. Für das Sowjetsystem ist der 17. Juni 1953 auch heute noch mit einem peinlichen Vorzeichen versehen: die Massenaktion der Arbeiter und sonstigen Bürger hat die These von der Interessenübereinstimmung zwischen Volk

8 5

Leithäuser (Fn. 53), S. 17.

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und Führung widerlegt und den totalitären Charakter des Staatsapparates entlarvt. Das Bewußtsein, gegen diese totalitäre Herrschaft aufgestanden zu sein, für die eigenen Werte der Freiheit, Demokratie und der nationalen Einheit demonstriert zu haben, sollte nicht verdrängt, sondern gepflegt werden. Denn der 17. Juni weist auf die nationale Aufgabe hin, die offene deutsche Frage durch Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas zu lösen. Ein Verfassungstag am 23. Mai würde nur für die Westdeutschen einen Aussagewert haben können und die Deutschen im anderen Teil Deutschlands ausklammern. In der Beibehaltung des 17. Juni als eines Gedenktages zur Erinnerung an diese uns und der kommenden Generation aufgegebene Vollendung der deutschen Einheit, wie es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, liegt eine gewichtige Aufgabe für alle Deutschen.

DIE ZAISSER/HERRNSTADT-GRUPPE Von Karl Wilhelm Fricke

I. Einleitung

Der Versuch, eine Fallstudie über die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe zu erarbeiten, rechtfertigt sich aus mehreren Gründen: Erstens stellt ihre Opposition den bis heute politisch am weitesten gediehenen Versuch dar, die Strategie und Taktik der SED durch Fraktionsbildung im Führungskern der Partei zu ändern. Zweitens ergibt sich ihre Bedeutung daraus, daß die oppositionelle Konzeption der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe wesentlich von Auseinandersetzungen geprägt worden ist, die im Politbüro der SED damals über die nationale Frage in Deutschland geführt worden sind. Drittens ist für die Opposition der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe bestimmend gewesen, daß sie sich eng im Kontext zur sowjetischen Deutschlandpolitik entwickelt hat. Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt waren als Verfechter einer Politik hervorgetreten, um die nach dem Tode J. W. Stalins auch in der Führung der KPdSU gerungen worden ist. Dies alles möglichst genau zu untersuchen, ist um so dringender geboten, als die Zaisser/Herrnstadt-Opposition kein singuläres Ereignis geblieben ist. Auch in Zukunft sind ähnliche Entwicklungen nicht auszuschließen - obschon sich bekanntlich die Geschichte nicht wiederholt -, ihre Analyse kann eine realistische Einschätzung erleichtern helfen.

IL Materialbasis

Was hier fast thesenhaft zugespitzt als Einleitung dargelegt worden ist, soll im folgenden auf einer Materialbasis erörtert und belegt werden, die gewiß nicht breit ist, die aber gleichwohl genügt, um ein Mosaik zusammenzusetzen, das die Zaisser/Herrnstadt-Opposition in ihren Konturen deutlich hervortreten läßt. Selbstverständlich kann es dabei nicht um politische Legendenbildung gehen, sondern allein um eine sachlich fundierte, historisch wahrhaftige Dar-

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Stellung, die allerdings um so unerläßlicher ist, als die Historiker der SED die Geschichte der Zaisser/Herrnstadt-Opposition bis heute entweder nur beiläufig oder überhaupt nicht behandeln oder behandeln dürfen - was vermutlich aktuelle politische Gründe hat. Zum Beispiel entledigen sich die Verfasser des parteioffiziellen Abrisses "Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands", erschienen 1978 in Ost-Berlin, dieser Aufgabe in buchstäblich einem Satz. Sie sprechen schlicht von einer "Auseinandersetzung mit dem Mitglied des Politbüros und Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser und dem Kandidaten des Politbüros und Chefredakteur des Zentralorgans 'Neues Deutschland' Rudolf Herrnstadt, die die Generallinie der Partei ändern, den von der 2. Parteikonferenz beschlossenen Kurs revidieren und den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus hinauszögern wollten und hierbei mit fraktionellen Methoden arbeiteten" 1 . Dies und die Notiz, daß beide aus dem Zentralkomitee und aus der SED ausgeschlossen wurden, ist alles, was sie über Zaisser und Herrnstadt für erwähnenswert hielten oder halten durften. Nicht einmal dazu verstand sich Prof. Heinz Voßke, ein maßgeblicher Parteihistoriker immerhin, der in seinem 1983 erschienenen biographischen Abriß "Walter Ulbricht" 2 die Zaisser/Herrnstadt-Fraktion mit keinem Wort auch nur erwähnt, obwohl sie 1953 beinahe Ulbrichts Sturz herbeigeführt hätte, insoweit also unverzichtbarer Bestandteil seiner politischen Biographie zu sein hat. Voßke fällt damit noch hinter eine 1968 veröffentlichte biographische Skizze über "Walter Ulbricht - Arbeiter, Revolutionär, Staatsmann" zurück, die Lieselotte Thoms, Hans Vieilard und Wolfgang Berger veröffentlicht haben, drei Autoren, die keinerlei wissenschaftlichen Anspruch als Historiker erheben, die aber gleichwohl folgendes niederschrieben: "Unter Walter Ulbrichts Leitung zerschlägt das Zentralkomitee eine Fraktion von Kapitulanten in der Parteiführung und festigt die Einheit und Geschlossenheit der Partei" 3 . Beim Namen nennen mochten auch sie Zaisser und Herrnstadt mitnichten. Die Materialbasis ist natürlich nicht so breit, wie man sie sich wünscht. Die folgende Darstellung stützt sich in der Hauptsache auf Beschlüsse des Zentralkomitees und des Politbüros der SED, auf Reden führender Funktionäre, auf Stellungnahmen in der Publizistik der Partei sowie auf Aussagen von Zeitzeugen, die wie Heinz Brandt die Auseinandersetzungen um die

1 Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Abriß, (Ost-) Berlin 1978, S. 297.

2

3 Vgl.

H. Voßke, Walter Ulbricht, Biographischer Abriß, (Ost-) Berlin 1983.

L. Thoms/H. Vieillard/W. Berger, Walter Ulbricht - Arbeiter, Revolutionär, Staatsmann. Eine biographische Skizze, (Ost-)Berlin 1968, S. 157.

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Zaisser/Herrnstadt-Fraktion aus unmittelbarer Nähe beobachten konnten.Herangezogen wurde auch alle relevante Sekundärliteratur.

I I I . Zur zeitlichen Eingrenzung

Zeitlich läßt sich die Geschichte der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe ziemlich genau eingrenzen. Ausgelöst wurde ihre Opposition durch die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED - sie fand vom 9. bis 12. Juli 1952 in Ost-Berlin statt - in der D D R zeitigten und die spätestens im Spätherbst 1952 nicht mehr zu verkennen waren. Verschärfte innere Repression (die Zahl der politischen Verurteilungen bezifferte sich 1952 auf mehr als 4.000, nicht weniger als 182.000 Flüchtlinge verließen im selben Jahr die D D R 4 ) , niedrige Einkünfte (das monatliche Durchschnittseinkommen für Produktionsarbeiter betrug 1952 lediglich 313,- Mark 5 ) und an die Nachkriegszeit erinnernde Versorgungsnöte waren fatale Indizien einer krisenhaften Entwicklung, die die Zaisser/Herrnstadt-Opposition gegen die Ulbrichtsche Linie vom Aufbau des Sozialismus in der D D R unmittelbar provoziert hat. Auf der 10. Plenartagung des Zentralkomitees der SED, die vom 20. bis 22. November 1952 in Ost-Berlin abgehalten wurde, stießen die Gegensätze erstmals, wenn auch noch verschlüsselt aufeinander. Ihre Zuspitzung erfuhren sie mit der politischen Verunsicherung, die der Tod Stalins am 5. März 1953 in der Führung der SED ausgelöst hat, sowie mit der im Frühjahr heranreifenden Krise der DDR, hervorgerufen nicht nur durch die Konsequenzen der forcierten sozialistischen Umwälzung, sondern auch durch eine Reihe unsozialer Maßnahmen 6 wie den Entzug der Lebensmittelkarten für bestimmte Gruppen und Schichten, durch Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel und schließlich, auf dem 13. Plenum des Z K am 13./14. Mai 1953 beschlossen, durch Erhöhung der Arbeitsnormen "um mindestens 10 Prozent" 7 .

4 Nach Angaben des Gesamtdeutschen Instituts Berlin wurden 1952 insgesamt 2.974 Verurteilungen aus politischen Gründen registriert. Die Dunkelziffer wird auf mindestens 30 Prozent geschätzt; vgl. dazu K. W. Fricke, Politik und Justiz in der D D R . Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 551. - Zur Zahl der Flüchtlinge vgl. das DDR-Handbuch, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 2. Auflage, Köln 1979, S. 400. 5 Vgl. Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, (Ost-) Berlin 1956, S. 226. 6 Vgl. dazu das Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrats vom 9. April 1953, in: Tägliche Rundschau 11. April 1953. 7 Beschluß des Zentralkomitees vom 14. Mai 1953, in: Dokumente der SED, Bd. I V , (Ost-)

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Das 13. Plenum exekutierte auch einen vielbeachteten Wechsel in der Q

Führung der SED: Walter Ulbricht ließ durch ZK-Beschluß einen seiner potentiellen Rivalen entmachten, Franz Dahlem, damals Mitglied des Politbüros und als Sekretär des Z K Kaderchef der Partei. Nach den verfügbaren Quellen trat die Zaisser/Herrnstadt-Fraktion mit ihrer Opposition offen hervor, als die Führung der SED die am 9. Juni im Politbüro beschlossene Politik des Neuen Kurses zu formulieren begann. Dies geschah auf unmittelbare Weisung aus Moskau, überbracht von W. S. Semjonow 9 , dem neuen Hohen Kommissar der UdSSR für Deutschland, der am 5. Juni nach Ost-Berlin zurückgekehrt war, wo er sich zuvor jahrelang ids Politischer Berater der Sowjetischen Militäradministration und der Sowjetischen Kontrollkommission bewährt hatte. Das Datum seiner Rückkehr deutet auf einen zeitlichen Zusammenhang mit dem PolitbüroBeschluß vom 9. Juni. Ein politischer Zusammenhang wird durch Heinz Brandt 1 0 bekundet, damals Sekretär für Agitation in der Berliner Landesleitung der SED, der von Hans Jendretzky darüber informiert worden ist, wie das Politbüro von Semjonow anhand einer knapp formulierten Direktive auf die Ausarbeitung des Neuen Kurses "binnen einer Woche" verpflichtet wurde. Dabei war nicht nur die bisherige Führung der SED "von Semjonow unerhört scharf kritisiert", sondern auch kein Zweifel daran gelassen worden, "daß Moskau an einer raschen Verwirklichung des Neuen Kurses äußerst interessiert sei". Die Initiative ging eindeutig von dort aus. Laut Brandt überbrachte Semjonow "die entscheidenden Gesichtspunkte" für die zu fassenden Beschlüsse "schriftlich in Thesenform" - und das Politbüro übernahm sie wortwörtlich. Wortführer des Neuen Kurses wurden allerdings Zaisser und Herrnstadt, die bis dahin konspirativ vorgegangen waren, "mit den Methoden des Nachrichtendienstes, der sogenannten aktiven Aufklärung" 11 , wie sich Ulbricht später mokierte; sie hielten nun die Zeit für gekommen, mit geöffnetem Visier zu kämpfen und im Politbüro ihre Forderung nach einer "Erneuerung der Partei" 1 zur Diskussion zu stellen. I n den dramatischen Tagen vor und nach dem Aufstand vom 17. Juni blieb das Ringen unentschieden. Als zum Beispiel vier Tage nach dem mitteldeutschen Berlin 1954, S. 410 ff.

o

9 Beschluß des Zentralkomitees vom 14. Mai 1953, a.a.O., S. 405 ff. Vgl. "Botschafter W. S. Semjonow in Berlin eingetroffen", in: Tägliche Rundschau 6. Juni 1953. Als Datum seines Eintreffens wird der 5. Juni ausdrücklich benannt. 1 0 Vgl. H. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, München 1967, S. 209 und 215. 1 1 "Schlußwort des Genossen Walter Ulbricht", in: Das 15. Plenum des Zentralkomitees der SED, (Ost-)Berlin 1953, S. 107 (parteiinternes Material).

12

W. Ulbricht, Die Politik der Partei, ihre Erfolge und Fehler, in: Das 15. Plenum des Zentralkomitees der SED, a.a.O., S. 77.

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Aufstand das 14. Plenum des Z K zusammentrat, war noch alles offen. Nach außen übrigens bekundete die Spitze der Partei noch Einmütigkeit und Harmonie. Als Wilhelm Zaisser am 20. Juni 1953 seinen 60. Geburtstag beging, veröffentlichten die Zeitungen in Ost-Berlin einen offiziellen Glückwunsch 13 des Zentralkomitees, worin der "liebe Genosse Wilhelm Zaisser" - dem zum Geburtstag auch der Karl-Marx-Orden verliehen worden war - als "bewußter Kämpfer für die Sache der Partei", als 'anspornendes Beispiel für alle Mitglieder unserer Partei" gewürdigt wurde, so daß der Außenstehende von Fraktionskämpfen nichts ahnen konnte. Der Öffentlichkeit wurden sie erst nach dem 15. Plenum des Z K bekannt, das vom 24. bis 26. Juli 1953 zusammentrat. Erst zu diesem Zeitpunkt konnte Ulbricht seinen entscheidenen Schlag gegen die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe führen und ihre politische Entmachtung durchsetzen. Zaisser und Herrnstadt wurden aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen14, wodurch sie zugleich aus dem Politbüro ausschieden und ihre Funktionen verloren: Zaisser als Minister für Staatssicherheit, Herrnstadt als Chefredakteur des "Neuen Deutschland". Als sie durch Beschluß des 17. Plenums am 22./23. Januar 1954 auch aus der Partei ausgeschlossen wurden , war die Affäre für Ulbricht endgültig erledigt. Die politische Abrechnung mit der Zaisser/Herrnstadt-Opposition auf dem IV. Parteitag der SED, der sich vom 30. März bis 5. April 1954 in Ost-Berlin versammelte, bedeutete nur noch ihre agitatorische Bewältigung. Für die Geschichte der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe zog sie nur noch formell einen Schlußstrich.

IV. Die personelle Konstellation

Ehe die von der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe entwickelte Konzeption zu erörtern ist, mag die Aufhellung ihrer biographischen Hintergründe und personellen Verflechtungen nützlich sein, weil sie die Fronten in der damaligen Führung der SED eher verstehen machen. Wie in anderen kommunistischen Parteien sind politische Richtungskämpfe auch in der SED immer zugleich persönliche Machtkämpfe. Hier zunächst ein Blick in die Lebensläufe der 1 3 Vgl. "Glückwunsch des Z K der SED an Minister Wilhelm Zaisser", in: Tägliche Rundschau 21. Juni 1953. 14 Vgl. Kommuniqué der 15. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei, (Ost-)Berlin 1953, S. 103 f. ^ Kommuniqué der 17. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Neues Deutschland 24. Januar 1954.

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beiden Schlüsselfiguren. Wilhelm Zaisser 16 , 1893 in Rotthausen bei Gelsenkirchen geboren - also vom gleichen Jahrgang wie Walter Ulbricht Sohn eines GendarmerieWachtmeisters, war von Beruf ursprünglich Volksschullehrer. 1914 Soldat, 1919 heimgekehrt als Leutnant, trat er im selben Jahr der Kommunistischen Partei Deutschlands in Essen bei. A b 1921 bereits übernahm er hauptberuflich Funktionen in der Partei - als Redakteur, als Mitglied der Bezirksleitung Ruhrgebiet beziehungsweise der Oberbezirksleitung West, als Mitarbeiter schließlich im Apparat des Zentralkomitees der KPD. 1927 ging er nach Moskau, wo er für die folgenden Jahre als Agent in die sowjetische Militärspionage wechselte - unter anderem mit Einsatz in China -, bis er zu Beginn der dreißiger Jahre neue Aufgaben in Moskau übernahm. 1932 wurde er Mitglied der KPdSU und absolvierte gleichzeitig einen Kursus an der Militärakademie der Roten Armee. Von daher gesehen war sein Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg als Kommandeur der X I I I . Internationalen Brigade und als Chef der Basis der internationalen Einheiten in Albacete eine folgerichtige Entscheidung. Unter dem Namen "General Gomez" erlangte Zaisser einen legendären Nimbus. 1938 wieder in Moskau, arbeitete er als Übersetzer und Redakteur. Von 1943 bis 1946 wirkte er als Lehrer an Antifa-Schulen für deutsche Kriegsgefangene in Talici und Krasnogorsk. Erst im Februar 1947 kehrte Zaisser nach Deutschland zurück, übernahm die Leitung der Landespolizei in Sachsen-Anhalt, wechselte im September 1948 als Innenminister nach Dresden und erhielt im Februar 1950 die Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit übertragen. Gleichzeitig wurde er in den Parteivorstand der SED kooptiert und 1950 auf dem III. Parteitag ins Zentralkomitee gewählt. Unmittelbar danach stieg er als Mitglied in das Politbüro der SED auf. Dies blieb er bis zu dem Konflikt mit Ulbricht. Seine letzten Jahre brachte Zaisser als Lektor des Ostberliner Dietz Verlages zu. 1958 ist er, 65jährig, in Berlin-Hirschgarten an einem Herzinfarkt verstorben. I m Gegensatz zu Wilhelm Zaisser, einen Mann von praktischer Intelligenz, mit großen administrativen und organisatorischen Fähigkeiten, zeichnete sich Rudolf Herrnstadt 1 7 durch hohe Intellektualität aus, durch die Fähigkeit zu konzeptionellem Denken, durch die Begabung zum Reden und zum Schreiben. 1 6 Vgl. K . W . Fricke, Die DDR-Staatssicherheit, Köln 1982, S. 204 ff.

Entwicklung/Strukturen/Aktionsfelder,

Vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, herausge-

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1903 als Sohn eines in Auschwitz ermordeten Rechtsanwalts in Gleiwitz geboren, ursprünglich Jura-Student, Mitglied der KPD seit 1924,1925 Lektor in Berlin, arbeitete Herrnstadt von 1928 bis 1936 als Korrespondent des "Berliner Tageblattes", also einer bürgerlichen Zeitung, in Prag, Warschau und Moskau. Seit den frühen dreißiger Jahren betätigte er sich zugleich für den sowjetischen militärischen Nachrichtendienst, eine Beziehung, die dazu führte, daß er 1939 die Leitung der Westeuropa-Abteilung beim Geheimdienst der Roten Armee übertragen erhielt. Herrnstadt ist unter anderem die Anwerbung des 1942 als Mitglied der "Roten Kapelle" hingerichteten Gesandtschaftsrates Rudolf von Scheliha zuzuschreiben. A b 1943 Chefredakteur der Zeitung "Freies Deutschland" und Mitglied des "Nationalkomitees Freies Deutschland", kehrte Herrnstadt 1945 als Mitglied der "Gruppe Sobottka" nach Deutschland zurück und übernahm hier die Chefredaktion der "Berliner Zeitung". I m März 1949 betraute die Partei ihn mit der Chefredaktion des "Neuen Deutschland". Als Mitglied des Zentralkomitees seit dem III. Parteitag der SED und als Kandidat des Politbüros seit 1950 gehörte er zur Elite der Partei. Nach Verlust von Funktion und Parteimitgliedschaft im Juli 1953 beziehungsweise im Januar 1954 war er nur noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralarchiv der DDR, Zweigstelle Merseburg, tätig; er durfte auch wieder über historische Themen publizieren, teils unter Pseudonym. 1966 ist er in Halle an der Saale gestorben. Beide, Zaisser wie Herrnstadt, hatten kraft ihrer Funktionen in den frühen fünfziger Jahren im Führungskern der SED starke Positionen inne. Gleichzeitig dürften sie zu den bestinformierten Politikern in der D D R gezählt haben: Zaisser dank seines Informationsnetzes, Herrnstadt als Chefredakteur des zentralen Parteiorgans mit Zugang zu allen journalistischen Informationsquellen. Dem Politbüro gehörten damals - zur Zeit der 2. Parteikonferenz - neun Mitglieder und sechs Kandidaten an 1 8 . Außer Zaisser waren dies als Mitglieder: Walter Ulbricht, Generalsekretär des Z K der SED und Erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten; Franz Dahlem, der für Kaderfragen zuständige Sekretär des Z K ; Friedrich Ebert, Oberbürgermeister von Ost-Berlin; Ministerpräsident Otto Grotewohl; Hermann Matern, Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission; Fred Oelßner, als Sekretär des Z K der Chef-Ideologie der Partei; Staatspräsident Wilhelm Pieck; und Heinrich Rau, Vize-Minsiterpräsident und Chef der Koordinierungsstelle für Industrie und Verkehr. geben vom Institut für Zeitgeschichte, Teil I, München 1980, S. 287.

18

Vgl. Kommuniqué der ersten Sitzung des Zentralkomitees vom 25. Juli 1950, in: Doku-

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Die sechs Kandidaten des Politbüros stellten außer Herrnstadt Anton Ackermann, damals Direktor des Marx-Engels-Lenin-Stalin-Instituts; Erich Honecker, damals Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend; Hans Jendretzky, damals 1. Sekretär der Landesleitung Berlin der SED; Erich Mückenberger, damals Chef der SED in Thüringen; und Elli Schmidt, damals Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands. Nur drei Mitglieder des Politbüros waren damals zugleich im elfköpfigen Sekretariat des Zentralkomitees vertreten: Ulbricht, Dahlem und Oelßner. Die übrigen ZK-Sekretäre zur Zeit der 2. Parteikonferenz waren Hermann Axen, damals zuständig für die gesamte Agitation der Partei; Edith Baumann, damals zuständig für die Frauenpolitik der SED; Hans Lauter, zuständig für die Kulturpolitik der SED; ferner Otto Schön, Leiter des Büros des Sekretariats und des Politbüros; Willi Stoph, Leiter der Abteilung Wirtschaft im Zentralkomitee; PaulVerner, befaßt mit Organisationsfragen; Kurt Vieweg, damals für die Landwirtschaftspolitik zuständiger Sekretär; und schließlich Herbert Warnke, zugleich Vorsitzender des Bundesvorstandes des FDGB. Die personelle Konstellation im Politbüro ist damit ziemlich genau bestimmbar. In Kenntnis aller politischen Beziehungen und persönlichen Verhältnisse müssen die Politbüro-Mitglieder Ulbricht und Matern, wahrscheinlich auch Oelßner auf der einen Seite, Dahlem und Zaisser auf der anderen Seite als zueinander in Gegensatz gesehen werden. Die anderen nahmen, als sich die Zaisser/Herrnstadt-Fraktion offen formierte, eine abwartende bis schwankende Haltung ein, ausgenommen Wilhelm Pieck, der sich auf dem Höhepunkt des Fraktionskampfes zur Kur in der Sowjetunion aufhielt und somit unbeteiligt blieb. Von den sechs Kandidaten des Politbüros, unter denen Mückenberger damals schon über eine Statistenrolle kaum hinauskam, hielten lediglich Honecker und Warnke zu Ulbricht - während Hans Jendretzky und Elli Schmidt mit der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe sympathisierten. Von Anton Ackermann hieß es, er habe "die Position der Genossen Herrnstadt und Zaisser aktiv unterstützt" 19 . Eine Verschiebung dieser Konstellation, die einer relativen Stärkung Ulbrichts gleichkam, brachte der Sturz Dahlems: Als führender Kopf der deutschen kommunistischen Westemigration wurde er auf der 13. Tagung des Z K "zur Sicherung der Parteiführung" 20 aus dem Z K ausgeschlossen. Das bedeutete zugleich Ausscheiden aus allen Führungsfunktionen. Unter mente der SED, Bd. III, (Ost-)Berlin 1952, S. 189. 1 9

20

W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 79. Beschluß des Zentralkomitees vom 14. Mai 1953, a.a.O., S. 407.

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anderem wurde Dahlem beschuldigt, "gegenüber den Versuchen imperialistischer Agenten, in die Partei einzudringen, völlige Blindheit bewiesen" 21 zu haben. Zaisser, der mit Dahlem aus den Zeiten des spanischen Bürgerkrieges gut befreundet war, mußte sich nach diesem Schlag in seiner Entschlossenheit, Ulbricht zu entmachten, bestärkt sehen. Gleichzeitig war sie schwieriger geworden. Wenn es auf dem Mai-Plenum des Zentralkomitees gleichzeitig mit Dahlems Sturz zu einer weiteren Säuberung kam - ihr fiel Hans Lauter zum Opfer, weil er der Gestapo Mitteilungen über den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands gemacht haben sollte so hing dies mit der Zaisser /Herrnstadt-Gruppe allerdings nicht zusammen.

V. Inhalt und Zielsetzung der Zaisser/Herrnstadt-Opposition

Man kann die Konzeption der Zaisser /Herrnstadt-Opposition auf drei wesentliche Zielsetzungen zurückführen: Innerparteilich auf die Erneuerung der SED; DDR-intern auf eine Revision der auf die sozialistische Umwälzung gerichteten Strategie und Taktik der SED; und DDR-extern auf einen Kurs, der der weiteren Vertiefung der Teilung Deutschlands entgegenwirken, ja, sie sogar überwinden helfen sollte. Diese Konzeption ist jedenfalls aus den vorliegenden Quellen zu rekonstruieren. Der Wortlaut der "politischen Plattform", die Zaisser und Herrnstadt ausgearbeitet haben, ist bis heute nicht bekannt geworden. Ausführlich, obschon polemisch hat sich Walter Ulbricht mit ihr auf dem 15. Plenum des Zentralkomitees auseinandergesetzt. Ich zitiere: "Der Hauptinhalt dieser schriftlich und mündlich entwickelten Plattform waren folgende Gesichtspunkte: 1.

Die Politik der Partei sei in der Hauptrichtung fehlerhaft.

2.

Die Partei sei entartet, deshalb sei eine grundlegende Erneuerung der Partei notwendig, weshalb sie auch in ihren schriftlichen Darlegungen eine 'Erneuerung der Partei'- so heißt wörtlich die Überschrift - forderten. Diese 'Erneuerung'sollte eine entscheidende Änderung der Parteileitung bedeuten.

3.

Sie traten in ihrer Plattform mit der sozialdemokratischen These auf, 21

Ebenda, S. 406; zum Fall Dahlem vgl. auch J. Schultz, Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED, Stuttgart/Düsseldorf 1956, S. 125 ff.; und K. W. Fricke, Warten auf Gerechtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen. Bericht und Dokumentation, Köln 1971, S. 89 ff.

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daß die SED die Partei des ganzen Volkes sein soll. Sie wichen damit von dem grundlegenden marxistischen Lehrsatz ab, daß die SED eine Partei des Proletariats, eine Partei der Arbeiterklasse ist. In der Plattform wird eine These aufgestellt, daß die Partei der wirtschaftlichen Tätigkeit der kapitalistischen Elemente große Freiheit gewähren sollte; das ist eine These, die die Restaurierung des Kapitalismus in der Deutschen Demokratischen Republik bedeutet und gewissen sozialdemokratischen Forderungen entspricht" 22 . Soweit Ulbricht. Eine bestimmende These der Plattform lautete wörtlich: "Wenn die Partei die berechtigten Interessen auch der anderen Klassen und Klassenteile ... wahrnehmen wird, wird sie die volle Unterstützung sowohl der Arbeiterklasse wie die der anderen Klassen und Schichten finden" 23 . Man versteht, daß und warum diese Konzeption nicht nur als "antimarxistische Plattform", sondern auch als "sozialdemokratische Plattform" charakterisiert worden ist. Es war logisch, daß eine solche Wendung in der Generallinie der SED, eine solche "Erneuerung der Partei" nicht ohne personelle, ohne "kaderpolitische" Alternative denkbar war. Folglich betrieb die Anti-UlbrichtOpposition auch "die Neubesetzung der Parteiführung". Zaisser unterbreitete "auf einer Sitzung der Kommission des Politbüros, die sich mit den organisatorischen Fragen der Vorbereitung (einer Plenartagung) des Zentralkomitees beschäftigte, den Vorschlag, Walter Ulbricht als Generalsekretär abzusetzen, und schlug als 1. Sekretär des Zentralkomitees den Genossen Herrnstadt vor. Genosse Herrnstadt erklärte seinerseits auf der Sitzung der Kommission, daß ihn die Partei unterstützen werde" 24 . Taktisch soll sich Herrnstadt darauf eingestellt haben, "gestützt auf die Redaktion des 'Neuen Deutschland' und auf Berlin, die Parteispitze zu erobern und den zentralen Parteiapparat so zu erneuern, daß er für ihn ein williges Werkzeug würde" 2 5 . Unter den gegebenen Umständen konnte die Neubesetzung der Führungsspitze auf die Entfernung Ulbrichts nicht beschränkt bleiben. "Mit Ulbricht fängt man an. Dann kommt Matern, dann Genosse Honecker und dann die anderen" 26 - ereiferte sich Ulbricht auf dem 15. Plenum. I n der Tat wäre es folgerichtig gewesen, auch Hermann Matern zu entmachten: Als Chef der Zentralen Parteikontrollkommission war er für Ulbricht jederzeit 2 2

23

W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 77 f.

Zit. nach "Uber die sozialdemokratische Ideologie der Gruppe Zaisser-Herrnstadt", in: Neues 24 Deutschland 22. August 1953. W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 78. 25 H. Matern, Bericht der Zentralen Parteikontrollkommission, in: Protokoll der Verhandlungen des IV. Parteitages der SED, Bd. I, (Ost-)Berlin 1954, S. 219. 2 6 "Schlußwort des Genossen Ulbricht", a.a.O., S. 110.

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eine politische Stütze gewesen. Und auch der Austausch Erich Honeckers, der als Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend die "Kaderreserve der Partei" in seiner Obhut hatte, wäre von politischer Logik gewesen, zumal er damals zu den stalinistischen Einpeitschern der auf der 2. Parteikonferenz beschlossenen Politik gehörte. Dagegen war für Zaisser eine andere Aufgabe vorgesehen: "Zaisser wollte über das Innenministerium, gestützt auf die Machtorgane, den Staatsapparat beherrschen" 27 - offenbar übrigens unter vorläufiger Tolerierung Otto Grotewohls als Ministerpräsident. Als weitere Konsequenz hatte Herrnstadt "die Absetzung des Bundesvorstandes des FDGB" gefordert, weil sich die Gewerkschaften in der D D R nicht als Interessenvertretungen der Arbeiter, sondern als Transmissionsriemen der Partei verstanden hatten. In den Auseinandersetzungen über die Erhöhung der Arbeitsnormen im Vorfeld des 17. Juni 1953 mußte sich das bitter rächen. Auch diese Forderung ergab sich logisch aus der erstrebten Umwandlung der SED in eine sozialistische Volkspartei. I m wesentlichen Teilen wird diese hier nach Ulbricht und Matern wiedergegebene Version durch Heinz Brandt bestätigt. Insbesondere bestätigt er auch, daß Herrnstadt von Semjonow "den Auftrag erhalten" habe, "personelle Vorschläge für ein neues Pol-Büro, ein neues Sekretariat sowie für ein neues Z K auszuarbeiten und sie der Parteispitze zur Beschlußfassung vorzulegen" 2 9 . M i t dem Beschluß über den Neuen Kurs, an dessen Formulierung Herrnstadt maßgeblich mitgewirkt hat, schien Ulbricht die Führung der Partei faktisch schon entzogen. Zugleich mit der offenen Konfrontation innerhalb des Politbüros suchte Herrnstadt nach außen zu wirken, indem er mit Hilfedes "Neuen Deutschland" den Neuen Kurs voranzutreiben, zu popularisieren und in seinem Sinne zu interpretieren trachtete. Nicht zufällig ist ihm dies nach seinem Sturz zum Vorwurf gemachte worden: Als Chefredakteur des 'Neuen Deutschland' behandelte Herrnstadt nach dem 9. Juni den Neuen Kurs der SED von Ausgabe zu Ausgabe in mehr und mehr entstellter Form. Besonders nach dem 17. Juni veröffentlichte er in den Spalten der Zeitung Beiträge, die die Linie der Partei verzerrt darstellten. Er verstieg sich bei der Verfolgung seiner parteifeindlichen Linie so weit, daß er die Spalten des 'Neuen Deutschland' Fechner für seine offen regierungsfeindlichen Äußerungen zur Verfügung stellte" 30 - eine Anspielung auf ein Interview, in dem sich der damalige Justizminister Max Fechner am 30. Juni gegen die straf27 29

H. Matern, Bericht der zentralen Parteikontrollkommission, a.a.O., S. 219. W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 78 f. H. Brandt, Ein Traum .., a.a.O., S. 209. "Worin äußerte sich die Fraktionstätigkeit Herrnstadts und Zaissers?", in: Tägliche

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rechtliche Verfolgung von Streikenden und auch von Streikführern ausgesprochen hatte, was ihn bekanntlich selbst für einige Jahre hinter Gefängnisgitter brachte .

VI. Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe und die nationale Frage

Einen besonderen Aspekt erhielt die Konzeption der Zaisser/ HerrnstadtGruppe durch ihre Haltung in der nationalen Frage, die für die Beschlüsse über den Neuen Kurs ebenfalls konstitutiv gewesen war, denn erklärterweise hatte das Politbüro der SED dabei "das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile (Teile!) Deutschlands konkret erleichtern" 32 . Durch einen Leitartikel in der "Täglichen Rundschau", dem Blatt der sowjetischen Besatzungsmacht, war der nationale Aspekt des Neuen Kurses sogar noch verstärkt worden: "Diese Beschlüsse haben große internationale Bedeutung. Sie sind auf das große Ziel der Wiedervereinigung des deutschen Volkes in einem geeinten nationalen deutschen Staat ausgerichtet" 3 3 . Demnach sollte sich der Neue Kurs nicht als taktisches Manöver verstehen, sondern als "bedeutende prinzipielle Veränderung in der Politik der SED" 3 4 . Für die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe konnte es daher in der nationalen Frage kein Zögern geben: Ihrer Auffassimg nach sollte der Aufbau des Sozialismus in der D D R nicht zuletzt deshalb gebremst werden, weil er die Spaltung Deutschlands vertiefte. Es ging Zaisser und Herrnstadt um eine Revision der Beschlüsse der 2. Parteikonferenz auch wegen ihrer unvermeidlich separatistischen Folgen. Die nationale Frage sollte Vorrang vor der sozialen Frag erhalten - nicht umgekehrt, während Ulbrichts Konzeption von der Voraussetzung ausging, "daß die imperialistische Herrschaft in Westdeutschland um so mehr geschwächt wird, je umfassender die sozialistischen Gesetzmäßigkeiten in der D D R wirksam werden" 35 : Wiedervereinigung also mit Hilfe einer starken sozialistischen D D R im Zuge einer radikalen Umwälzung in der Bundesrepublik - eine Vorstellung, die wenig Realitätssinn verriet. Zaisser und Herrnstadt dagegen ließen sich in der nationalen Frage von Rundschau 16. August 1953. 31 Vgl. dazu K. W. Fricke, Warten auf Gerechtigkeit, a.a.O., S. 93 f. 32 Kommuniqué des Politbüros vom 9. Juni 1953, in: Dokumente der SED, BD. I V , a.a.O., S. 428. 33 "Wichtige Beschlüsse", in: Tägliche Rundschau 13. Juni 1953 (ohne Verfasserangabe). 3 4 Ebenda. 35 Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 7, (Ost-) Berlin 1966, S. 237.

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der Überlegung leiten, "daß die Sowjetunion unter den gegebenen Verhältnissen an einer Entspannung der internationalen Lage interessiert ist und deshalb eine Vereinigung der Bevölkerung der D D R mit dem AdenauerStaat zulassen wird; anders ausgedrückt: Die Sowjetunion wird die D D R preisgeben, sie wird Konzessionen an das kapitalistische Deutschland machen" 36 . Karl Mewis, damals 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock der SED, äußerte dies am 20. Januar 1954 vor dem Parteiaktiv des Ostseebezirks. I n dieser Offenheit war der nationale Aspekt der Zaisser/HerrnstadtOpposition niemals zuvor angesprochen worden. Die fortdauernde Diskussion darüber belegt indes, daß sich die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe in der nationalen Frage durchaus auf Zustimmung in der SED hatte stützen können. So wurde, als Beispiel genommen, Georg Wehner, damals 1. Sekretär der Kreisleitung Karl-Marx-Stadt, wegen "Unklarheiten" in der nationalen Frage zur Verantwortung gezogen. "Genosse Wehner brachte zum Ausdruck, daß mit der Erringung der Einheit Deutschlands bei uns in der D D R durchaus eine bürgerliche Mehrheit entstehen könnte, wo die Partei der Arbeiterklasse eine Oppositionsrolle einnimmt. Es ist offensichtlich, daß der Genosse Wehner sich nicht im klaren ist, daß die Einheit Deutschlands nur mit dem Sturz des Adenauer-Regimes und auf demokratischer Grundlage zustande kommen kann" 37 . Eben dieser auch von der Zaisser/HerrnstadtGruppe vertretene Standpunkt wurde als eine "Parole des Feindes" von der "Einheit um jeden Preis" strikt verworfen.

M I . Die Zaisser/Herrnstadt-Opposition im Kontext zur sowjetischen Deutschlandpolitik

Bereits auf dem 15. Plenum des Z K hatte Ulbricht "die sehr ernste Frage gestellt, ob es einen Zusammenhang der Fraktionsarbeit Herrnstadt/Zaisser mit dem Fall Berija gibt" 3 8 . Sie lag nahe, da Zaisser als Minister für Staatssicherheit zu Berija in enger Beziehung gestanden hatte. Schließlich wurde der Apparat des MfS vom sowjetischen Sicherheitsdienst gesteuert und kontrolliert. Inhaltlich trafen sich die Vorstellungen der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe in der nationalen Frage mit Erwägungen der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Tode Stalins. Ahnlich wie der Diktator selbst in seinen letzten Jahren, aber entschiedener, zielstrebiger scheinen zwei seiner Nachfolger, L. P. Berija und G. M . Malenkow, den 36 gab

"Dem I V . Parteitag entgegen", in: Ostsee-Zeitung 23. Januar 1954 (ohne Verfasseran-

$

8

Lt. "Volksstimme", Karl-Marx-Stadt, 12. August 1953; zit. nach: Ost-Probleme Nr. "Schlußwort des Genossen Ulbricht", a.a.O., S. 108.

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Gedanken einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands unter den Bedingungen der bewaffneten Neutralität erwogen zu haben. Aufmerksame Beobachter 39 der Moskauer Szene wie Richard Löwenthal und Boris Meissner haben schon vor Jahren darauf aufmerksam gemacht. Ulbricht bezichtigte Berija in der Tat schon 1953 auf dem 15. Plenum: "Zum Beispiel trat er gegen den Aufbau des Sozialismus in Deutschland auf und wandte sich gegen die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, d.h. er war für die Restauration des Kapitalismus in der Deutschen Demokratischen Republik" 40 . Und er zitierte im Plenum des Z K ohne Namensnennung einen "Genossen Minister", dem Zaisser "gesagt habe, die neue Linie bestehe in der Nachgiebigkeit gegenüber dem Westen und könne zur Wiedererlangung der Herrschaft der Bourgeoisie führen" 41 . Die Diskussion darüber spiegelt die Stimmung wider, mit der die Führung der SED einen Grundsatzartikel in der "Prawda" vom 10. Juni 1953 aufgenommen hatte. Unter Berufung auf die "Lenin-Stalinsche These von der Möglichkeit des friedlichen Nebeneinanderbestehens gegensätzlicher Systeme" war darin als "Auffassung der Sowjetregierung" niedergelegt, "daß es keine internationalen Probleme gibt, die nicht auf friedlichem Wege auf der Grundlage gegenseitiger Abkommen der interessierten Länder gelöst werden können . A u f westlicher Seite ist dies damals freilich nicht als politisches Signal begriffen oder ernstgenommen worden. Heinz Brandt geizt daher nicht mit Kritik, wenn er meinte: "Die Bundesrepublik und die westlichen Demokratien hatten sich als unfähig erwiesen, jene einzigartige Konstellation, die durch den Diadochenkampf im Kreml nach Stalins Tod ausgelöst worden war, für die damals vorübergehend mögliche friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und eine Gesamtentspannung zwischen den beiden Blöcken zu nutzen" 43 . Und in einem anderen Zusammenhang kommentiert er die Ausgangslage im Frühjahr 1953 mit den Worten: "In dieser Situation hätte eine einsichtige Politik der Westmächte darauf gerichtet sein müssen, die progressiven Kräfte im Kreml direkt und indirekt zu stützen, das hieß aber, ihnen zu erleichtern, den Neuen Kurs der D D R durchzuführen" 44 . Auch wer diese Wertung der Politik Berijas und Malenkows für zu positiv halten mag, muß sie als nachdenklich stimmende Meinung zu den Diskussionen respektieren, 39 Vgl. R. Löwenthal, Vorwort zu Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953, Stuttgart 1983, S. 8 ff; und B. Meissner, Die Sowjetunion und Deutschland 1941 bis 1967, in: Europa-Archiv Nr. 40 14/1967, S. 522. 41 42

W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 79.

"Schlußwort des Genossen Ulbricht", a.a.O., S. 108.

"Die Kommunistische Partei - die lenkende und leitende Kraft des Sowjetvolkes", in: Prawda 43 10. Juni 1953, zit. nach: Ost-Probleme Nr. 28/1953, S. 1162. H. Brandt, Ein Traum..., a.a.O., S. 245. 4 4 Ebenda, S. 221.

Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe

41

die damals die Führung der SED bewegt haben. Sie sind auch später wiederholt aufgeflackert. Nicht von ungefähr ist Ulbricht auf dem 14. Plenum des Z K , das vom 23. bis 26. November 1961 tagte - ein Vierteljahr nach Errichtung der Berliner Mauer - erneut auf den Konflikt mit der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe in der nationalen Frage zurückgekommen. Als "charakteristisch an der damaligen Auseinandersetzung" bezeichnete er es, "daß der Gegner den Hauptschlag gegen den Aufbau des Sozialismus in der D D R führte und damit die Position von Berija aufnahm. Bekanntlich war Berija gegen den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik aufgetreten" 45 . Ulbricht belastete nunmehr auch Malenkow, den N. S. Chruschtschow zwischenzeitlich gestürzt hatte. "Er vertrat eine Politik des Zurückweichens und der Kapitulation vor den imperialistischen Kräften der westdeutschen Bundesrepublik. Bei Berija und Malenkow war die Ablehnung der Leninschen Parteinormen und der Prinzipien der Sowjetdemokratie verbunden mit einer Kapitulationspolitik gegenüber dem Imperialismus. Berija war empört, als ich 1953 gegen seine Politik in der deutschen Frage auftrat" 46 . Ulbrichts Rückgriff auf die Auseinandersetzung mit der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe diente erstens dazu, die Abgrenzung der D D R gegenüber West-Berlin politisch und ideologisch zu rechtfertigen; zweitens aber ließ sie auch erkennen, daß in der SED - gewiß nicht nur in der Führung - die nationale Frage damals erneut diskutiert worden sein muß. Als letzter Kronzeuge sei Chruschtschow benannt, der Ulbrichts Version 1963 in einer Rede vor sowjetischen Schriftstellern und Künstlern bestätigt hat. "Bereits in den ersten Tagen nach dem Tod Stalins begann Berija Schritte zu unternehmen, die die Arbeit der Partei desorganisierten und auf die Untergrabung der freundschaftlichen Beziehungen der Sowjetunion zu den Bruderländern des sozialistischen Lagers gerichtet waren. Gemeinsam mit Malenkow schlug er beispielsweise provokatorisch vor, die Deutsche Demokratische Republik als sozialistischen Staat zu liquidieren, und empfahl der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, auf die Losung des Kampfes für den Aufbau des Sozialismus zu verzichten" . Gewiß kann gegen die Äußerungen Ulbrichts und Chruschtschows kritisch eingewandt werden, daß sie nur Behauptung und nicht Beweis für die dama4 5 W. Ulbricht, Der X X I I . Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neues Deutschland 28. November 1961. 46 Ebenda. - Interessanterweise ist der zitierte Passus in der Fassung des Referats, die in die gesammelten Reden und Aufsätze Ulbrichts, Zur Geschichte der deutschen ArbeiterbeweBd. X, (Ost-)Berlin 1966, S. 158 ff. aufgenommen wurde, nicht mehr enthalten. N. S. Chruschtschow, In hohem Ideengehalt und künstlerischer Meisterschaft liegt die Kraft der sowjetischen Literatur und Kunst", in: Neues Deutschland vom 14. März 1964.

Karl Wilhelm Fricke

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ligen Pläne im Kreml sind. Überdenkt man jedoch den chronologischen Ablauf jener dramatischen Juni- und Julitage 1953, so spricht manches für die vermuteten Zusammenhänge.

V I I I . Die Liquidierung Berijas und die Entmachtung der Zaisser/Herrnstadt-Gruppe

Wie unmittelbar damals die Mächtigen in Moskau in die Politik der SED eingegriffen haben, ist historisch durch die bereits erwähnte Tatsache erwiesen, daß der Neue Kurs auf unmittelbare sowjetische Intervention hin hatte beschlossen werden müssen. Die Rolle, die der Hohe Kommissar der UdSSR in Deutschland, W. S. Semjonow, dabei gespielt hat, ist ebenfalls bereits erörtert worden. Es heißt, das Politbüro habe nach seiner Rückkunft in OstBerlin am 5. Juni tagtäglich beraten, in Permanenz sozusagen. Als am 9. Juni schließlich der neue Kurs beschlossen worden war, schien das politische Schicksal Ulbrichts besiegelt: In Moskau war seine Entfernung aus der Parteispitze für zweckdienlich befunden. Zumindest hat Berija, wahrscheinlich aber auch Malenkow seine Ersetzung durch Rudolf Herrnstadt gebilligt und gutgeheißen. Berija soll damals bereits zwei Emissäre nach Ost-Berlin geschickt haben, Offiziere des sowjetischen Sicherheitsdienstes, die mit Zaisser konkret die erforderlichen personellen Umstellungen im Partei- und Staatsapparat erörtert haben sollen. Gerettet ist Ulbricht - bittere Ironie der Geschichte: - allerdings durch den Aufstand vom 17. Juni. "Ulbrichts Absetzung war eine Hauptforderung der Aufständischen gewesen. Im Kreml hatte sich nach anfänglichem Zögern die Meinung durchgesetzt, ein Nachgeben gegenüber dieser Forderung bedeute erheblichen Prestigeverlust, könne von den Aufständischen als Zugeständnis aus Schwäche ausgelegt werden und zu neuen Unruhen mit noch weitergehenden Forderungen führen" 48 . Zum anderen kam ihm ein dramatisches Ereignis zugute, das die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe unmöglich hatte vorhersehen können: A m 26. Juni 1953 wurde Berija als Opfer der Diadochenkämpfe im Kreml gestürzt, "als Feind der Partei und des Staates entlarvt" 49 , aber damit war die Anti-Ulbricht-Opposition um alle politischen Chancen gebracht. Ohne Schützenhilfe aus Moskau konnten Zaisser und Herrnstadt einen Führungswechsel in Ost-Berlin unmöglich durchsetzen. I m Politbüro und im Zentralkomitee der SED hatten sie umso weniger eine Chance, als sich Ulbricht nun auch des Arguments bedienen konnte und 48

49

C. Stern, Ulbricht. Eine politische Biographie, Köln/Berlin 1963, S. 182. Mitteilung über ein Plenum des Z K der KPdSU, in: Tägliche Rundschau 11. Juli 1953.

43

Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe

bedient hat, daß Zaissers Unfähigkeit als Minister für Staatssicherheit durch die Geschehnisse des 17. Juni erwiesen wäre. Dabei hatte der Aufstand genau besehen die Ulbrichtsche Generallinie widerlegt und die Konzeption Zaissers auf fatale Weise bestätigt. Als typisch für die Argumentation Ulbrichts folgendes Zitat: "Das Politbüro hat festgestellt", so erklärte er 1953 auf dem 15. Plenum des Zentralkomitees der SED, "daß die Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit versagt hat. Das Ministerium für Staatssicherheit hat sich nicht auf die Hauptaufgabe, auf den Kampf gegen die faschistische Untergrundbewegung konzentriert. Es hat die Initiative und Verantwortung der Mitarbeiter nicht entwickelt; es hat Tendenzen der Überheblichkeit gegenüber der Partei gefördert und eine formal-bürokratische, administrative Arbeit geduldet. Die Leitung des Ministeriums hat auch ihre Mitarbeiter in den Kreisen und Betrieben nicht zu einer verantwortlichen Arbeit erzogen. Praktisch waren sie in den meisten Fällen von der Arbeiterklasse isoliert ... Das vollständige Versagen der Mitarbeiter der Staatssicherheit gegenüber der faschistischen Untergrundorganisation in solchen Werken wie Leuna, Buna, Zeiss und anderen Werken muß zum Anlaß genommen werden, die Arbeit der Organe der Staatssicherheit vor allem in den Industriezentren gründlich zu ändern" 50 . Auch in seinem Schlußwort attackierte Ulbricht noch einmal die Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit. "Ich habe nicht von den Funktionären des Apparates für Staatssicherheit gesprochen... Der Apparat für Staatssicherheit ist ein Apparat, der aus guten Genossen besteht. Es sind nur einige wenige, die am 17. Juni versagt haben. Aber die Führung hat versagt" 51 . Nicht von ungefähr richtete Ulbricht auf dem 15. Plenum den Hauptstoß gegen Zaisser: Nach dem Sturz Dahlems war er der einzige im Politbüro, der Ulbricht ernsthaft hätte gefährden können. Herrnstadt hingegen befand sich, bei aller intellektuellen Brillanz, politisch in völlige^ Abhängigkeit zu Zaisser. Dennoch begnügte sich Ulbricht, ein erfahrener Taktiker, vorerst mit einer Funktionsenthebung seiner Widersacher. Erst nachdem Berijas Schicksal in Moskau besiegelt war - bekanntlich wurde er durch Urteil einer Sonderkammer beim Militärkollegium des obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 23. Dezember 1953 mit dem Tode bestraft und noch am selben Tage erschossen 52 -, ließ er durch Beschluß des Z K vom 23. Januar 1954 ihre Entfernung auch aus der SED sanktionieren: "Nach der Aussprache beschloß das Zentralkomitee entsprechend den vom Genossen Hermann Matern unterbreiteten Vorschlägen des Politbüros, Herrnstadt und Zaisser aus der 5 0

W. Ulbricht, Die Politik der Partei..., a.a.O., S. 73.

5 1

"Schlußwort des Genossen Walter Ulbricht", a.a.O., S. 105.

52

Vgl.

"Untersuchung

im

Fall

Berija

abgeschlossen",

in:

Tägliche

Rundschau

44

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Μ

Partei auszuschließen . Mit der Formulierung wird dokumentiert, daß die eigentliche Entscheidung bereits im Politbüro gefallen war: das Zentralkomitee hatte sie im Grunde nur zu bestätigen. Indes beließ es Ulbricht dabei. Vor ein Gericht ließ er Zaisser und Herrnstadt nicht bringen, die politische S t r a f j u s t i z als Instrument innerparteilicher Machtkämpfe schien ihm untauglich geworden. Im Gegensatz zu PaulMerker etwa, ehemals Mitglied des Politbüros, haben Zaisser und Herrnstadt keinen Tag in politischer Haft der D D R zubringen müssen. Entsprechend milde kamen die Sympathisanten der Zaisser/HerrnstadtGruppe davon: Anton Ackermann wurde eine "strenge Rüge" erteilt, unter gleichzeitigem Ausschluß aus dem Zentralkomitee der SED, während Elli Schmidt und Hans Jendretzky mit einer einfachen Rüge bedacht wurden 5 4 . I m Gegensatz zu Zaisser und Herrnstadt sind sie zweieinhalb Jahre später, auf dem 28. Plenum des Z K (27.-29. Juli 1956), sogar rehabilitiert 55 worden: Während Elli Schmidt und Anton Ackermann fortan bis zu ihrem Veteranendasein beziehungsweise bis zu ihrem Tode nur politisch irrelevante Funktionen bekleiden durften, ihre Mitgliedschaft im Z K also nicht zurückerhielten, durfte sich Jendretzky neben mehrfach wechselnden, verhältnismäßig verantwortlichen Aufgaben auch als Mitglied des Zentralkomitees wiederfinden. Ihm gehört er bis heute an. Entsprechendes galt bis zu seinem Tode 1981 für Franz Dahlem. In einem Glückwunsch 56 zum 80. Geburtstag Dahlems hat Honecker ihm sogar "unwandelbare Treue" zum Marxismus-Leninismus "auch in den Jahren" bescheinigt, in denen er "auf Grund falscher Anklagen aller gesellschaftlicher Funktionen enthoben" war. Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt sind formell bis heute nicht rehabilitiert worden. Anders als Herrnstadt, den man bis heute totschweigt, wird Zaisser in Memoiren wieder lobend erwähnt. Heinz Hoffmann und Max Seydewitz würdigen seine Verdienste im Spanischen Bürgerkrieg. Sogar Erich Honecker zählt ihn in seiner Autobiographie "Aus meinem Leben" jenen "verdienten Funktionären" zu, mit denen ihn "seit Jahren gemeinsame politische Tätigkeit" 5 7 verbunden habe. Die Tatsache, daß seine Witwe Else Zaisser wiederholt mit hohen staatlichen Auszeichnungen bedacht 19. Dezember 1953; sowie IC W. Fricke, Warten auf Gerechtigkeit, a.a.O., S. 18. Kommuniqué der 17. Tagung des Zentralkomitees der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Neues Deutschland 24. Januar 1954. 54 Ebenda. - Jendretzky war bereits am 8. August 1953 als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitun^Berlin durch Alfred Neumann abgelöst worden. Kommuniqué der 28. Tagung des Zentralkomitees, in: Dokumente der SED, Bd. V I , (Os^Berlin 1958, S. 138 ff. "Glückwunsch des Zentralkomitees zum 80. Geburtstag Franz Dahlems", in: Neues Deutschland 14. Januar 1972. 57 E. Honecker, Aus meinem Leben, Frankfurt/Main - (Ost-)Berlin 1980, S. 177.

Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe

45

wurde, deutete ebenfalls auf Absolution, wobei dies alles vor dem Hintergrund der Ära Honecker gesehen werden muß: Manches erscheint in anderem Licht als in der Ära Ulbricht.

IX. Folgerungen aus der Zaisser/Herrnstadt-Opposition

Eine Analyse der Zaisser/Herrnstadt-Opposition führt erstens vor Augen, daß die Führung der SED keineswegs von jener Einheit und Geschlossenheit geprägt ist, mit der sie sich nach außen hin präsentiert. Risse im scheinbar monolithischen Block sind nicht ausgeschlossen. Von den neun Mitgliedern und sechs Kandidaten des Politbüros zur Zeit der 2. Parteikonferenz haben immerhin zwei Mitglieder und vier Kandidaten mehr oder minder offen gegen Ulbricht opponiert - andere nahmen eine schwankende oder abwartende Haltung ein. Nur eine Minderheit hatte vorbehaltlos zu Ulbricht gehalten: Zweitens muß hervorgehoben werden, daß keine noch so geschickte Kaderpolitik ähnliche Fraktionsbildungen zu verhindern vermag. I m Ergebnis des 15. Plenums wurden 1953 Karl Schirdewan und Gerhard Ziller als Mitglieder des Zentralkomitees kooptiert und die Führung der Partei in folgender Zusammensetzung 58 neu formiert: für Franz Dahlem rückte Karl Schirdewan ins Politbüro auf, als Sekretär des Z K neuer Kaderchef der SED; Wilhelm Zaisser wurde im Politbüro durch Willi Stoph ersetzt, damals Minister des Innern und in dieser Eigenschaft nicht nur Chef der Volkspolizei einschließlich ihrer kasernierten Verbände, der späteren Kader der Nationalen Volksarmee, sondern zugleich aufsichtsführender Chef der Staatssicherheit, insoweit das Ministerium aufgelöst und dem M d l als Staatssekretariat für Staatssicherheit unter Leitung von Ernst Wollweber eingegliedert wurde. Bruno Leuschner, damals Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, wurde als Kandidat des Politbüros neu bestellt. Gleichzeitig wurde das Sekretariat des Zentralkomitees in der bis dahin bestehenden Form aufgelöst. Die Funktion des Generalsekretärs wurde durch die Funktion des Ersten Sekretärs des Z K ersetzt - ein Rüffel für Ulbricht -, der in dieser Funktion allerdings auf dem 15. Plenum einstimmig gewählt wurde. Z u weiteren ZK-Sekretären wurden berufen: Erich Mücken58

Kommuniqué der 15. Tagung des Zentralkomitees..., a.a.O., S. 103.

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berger (für Landwirtschaftspolitik); Fred Celßner (für Ideologie/ Propaganda); Karl Schirdewan (für Kader/Organisation); Paul Wandel (für Kultur/Erziehung); und Gerhard Ziller (für Wirtschaftspolitik). Nach dem IV. Parteitag der SED ist die Führung der SED personell unverändert geblieben. Wie schon angedeutet, ist die Zaisser/Herrnstadt-Opposition kein singuläres Ereignis geblieben: Im Zuge des "politischen Tauwetters", das nach dem X X . Parteitag der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED aufzuziehen begann, kristallisierte sich in der Führung der SED eine neue Opposition gegen Walter Ulbricht heraus, von der jedoch die Öffentlichkeit erst am 6. Februar 1958 erfuhr. Ein Kommuniqué über die 35. Tagung des Zentralkomitees enthielt den lakonischen Hinweis: "Das Plenum mußte sich mit der Tätigkeit einer opportunistischen Gruppe in der Partei beschäftigen, die versucht hatte, die politische Linie der Partei zu ändern" 59 . A n seinem gleichzeitig veröffentlichten Beschluß ging hervor, daß Karl Schirdewan aus dem Politbüro und aus dem Zentralkomitee, Ernst Wollweber aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen worden waren und daß schließlich Fred Oelßner nicht mehr dem Politbüro angehörte. Ihre Parallelen zur Zaisser/Herrnstadt-Opposition sind mehr als interessant - sie verweisen auf das in der Führung der SED vorhandene Konfliktpotential. Denn in dieser Oppositionsgruppe waren Schirdewan und seine Gesinnungsfreunde damals, wie es im Politbüro-Bericht an das 35. ZK-Plenum hieß, zu der Auffassung gekommen, "daß die Politik der Partei, wie sie vom Zentralkomitee ausgearbeitet wurde, zu Schwierigkeiten führen würde. Sie spekulierten auf die Schwierigkeiten, die mit der weiteren Entwicklung der sozialistischen Umgestaltung in der Deutschen Demokratischen Republik verbunden sind" 60 . Auch wollten sie nicht die Gefahren begreifen, "die sich aus der illusionären Auffassung ergaben, die Einheit Deutschlands um jeden Preis herbeizuführen" 61 . Diese Vorwürfe trug kein Geringerer als Erich Honecker vor. Es war das politische Debüt des heutigen Parteichefs als ZK-Sekretär. Parallelen zwischen der Schirdewan-Gruppe und der Zaisser/ HerrnstadtFraktion ergaben sich nicht nur aus Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung, sondern auch aus dem Umstand, daß sich wiederum der Chef der Staatssicherheit, Zaisser Nachfolger Ernst Wollweber, zur Opposition bekannte. Er 59 Kommuniqué der 35. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Neues Deutschland 7. Februar 1958.

60

Aus dem Bericht des Politbüros an das 35. Plenum des Zentralkomitees der SED, in: Neues Deutschland 8. Februar 1958 (Berichterstatter Erich Honecker).

6 1 λ

Ebenda.

Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe

47

besaß wie Schirdewan eine annähernd realistische Vorstellung von der inneren Situation der D D R und dürfte sich mit ihm in der Auffassung getroffen haben, daß politischer Terror gegen oppositionelle Kräfte 1956/57 die Gefahr eines Aufstands in Mitteldeutschland eher begünstigt als verringert hätte. Ungarn als Menetekel-! Zur Schirdewan-Gruppe hatte sich schließlich auch Gerhard Ziller bekannt: In ihm hatte sie einen Verbündeten gefunden, der die krisenhafte ökonomische Entwicklung der D D R überschaute. Seine Stellung innerhalb der Schirdewan-Gruppe ist bis heute unklar geblieben. Sie wird sich niemals mehr klären lassen. Nachdem Ulbricht zum Gegenangriff übergegangen und erkennbar geworden war, daß Schirdewan und Genossen unterliegen würden, verübte Gerhard Ziller am 14. Dezember 1957 Selbstmord. Selbstverständlich handelte auch die Schirdewan-Gruppe nicht ohne politische Rückversicherung im Kreml - ohne sie wären oppositionelle Auseinandersetzungen in der Führung der SED von vornherein aussichtlos. Zumindest steht fest, daß sich Schirdewan - der als Nachfolger Ulbrichts an die Spitze der SED treten sollte - während eines Moskau-Aufenthaltes nach dem X X . Parteitag der KPdSU der Unterstützung Chruschtschows hatte versichern können. Allerdings hatte Chruschtschow zur Vorsicht geraten: "Es darf keine neuen Erschütterungen in der D D R geben. Der Führungswechsel muß glatt verlaufen", hatte er Schirdewan bedeutet. "Dafür müssen Sie garantieren" 6 2 . Für Heinz Brandt steht es jedenfalls außer Zweifel, "daß eine kurze Zeit lang Nikita Chruschtschow damit einverstanden war, ja erstrebte, daß Karl Schirdewan zum Ersten Sekretär der SED aufrückte und ein neues PolBüro etablierte" . Diese kurze Zeit war verstrichen, als Chruschtschow nach dem Führungswechsel in Polen und dem Volksaufstand in Ungarn selber unter politischen Druck geriet und sich deshalb gezwungen sah, die Schirdewan-Wollweber-Fronde fallenzulassen. Aus Dokumenten der SED ist Näheres dazu bis heute nicht bekannt geworden. Hervorhebung verdient aber, daß Ulbricht 1961 auf dem in anderem Zusammenhang bereits erwähnten November-Plenum des Z K der Schirdewan-Gruppe erneut Verkennung der nationalen Frage vorhielt. "Das Festhalten an alten überlebten Vorstellungen mußte zu opportunistischen Fehlern führen. Unter den Bedingungen des Bestehens zweier deutscher Staaten mit verschiedener Gesellschaftsordnung kann die nationale Frage nur gelöst werden durch die maximale Festigung der Arbeiter- und Bauern-Macht und den Aufbau des Sozialismus in der D D R sowie durch die Über-

fO H.

Brandt, Ein Traum..., a.a.O., S. 328.

^ Ebenda.

48

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windung der Herrschaft des Militarismus und Imperialismus in Westdeutschland" 64 . Es besteht kein Grund zu der Vermutung, daß die Führung der SED unter Erich Honecker von dieser Maxime abgewichen ist - und eben dies erlaubt die Folgerung, daß die nationale Frage für die SED seit den Tagen der Zaisser/Herrnstadt-Opposition bis heute ihre politische Brisanz behalten hat. Sie kann auch in Zukunft oppositionelle Spaltungen in der Spitze der Partei provozieren - zumal wenn sie mit Richtungskämpfen in der Führung der KPdSU korrespondieren sollten. 65

6 4 6 5

W. Ulbricht, Der X X I I . Parteitag der KPdSU und die Aufgaben..., a.a.O.

1990 erschien im Rowohlt Taschenbuch-Verlag Reinbek bei Hamburg eine Publikation unter dem Titel "Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953", Aufzeichnungen, die Rudolf Herrnstadt hinterlassen hat. Durch sie wird das vorstehend veröffentlichte Referat bestätigt, ergänzt und präzisiert.

DIE BERLINER VIERMÄCHTEKONFERENZ VON 1954 UND DIE DEUTSCHE FRAGE Von Nikolaus Katzer

I. Die Vorgeschichte

Die Berliner Konferenz von 1954 war das erste Außenministertreffen der vier Mächte seit 1949. Vom 23. Mai, dem Tag der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, bis zum 20. Juni 1949 hatte letztmals der Rat der Außenminister in Paris getagt. In der deutschen Frage war keine Einigung erzielt worden. Die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze machte es zur vordringlichen Aufgabe, einen modus vivendi für das geteilte Deutschland zu finden, etwa in Form begrenzter Übereinkünfte über engere Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Besatzungszonen1. Die folgenden Jahre waren durch Notenwechsel bestimmt, die stets im Vorfeld von Verhandlungen steckenblieben. Die Konferenz der stellvertretenden Außenminister im Palais Marbre Rose in Paris (5. März bis 21. Juni 1951) wurde abgebrochen, nachdem man sich nicht einmal auf die Tagesordnung für eine Außenministerkonferenz hatte verständigen können 2 . Die stillschweigende Übereinkunft, die Erörterung aus dem Konferenzsaal in die Öffentlichkeit zu verlagern, war im wesentlichen eine Folge des Ausbruchs des Koreakrieges. Zwar hatte sich schon zuvor die Absicht beider Seiten abgezeichnet, den jeweiligen Teil Deutschlands in das eigene militärische und politische System einzugliedern. Der Krieg in Fernost setzte jedoch

H. Volle, Der "Modus vivendi" in Europa. Die Ost-West-Beziehungen und die Pariser Außenministerkonferenz von 1949, in: EA, 1949, S. 2383-2391; ders., Der Verlauf der Pariser Außenministerkonferenz vom 23. Mai bis 20. Juni 1949, in: ebd., S. 2391-2398; FRUS, 1949, vol. III, Washington 1974, S. 856-1065.

2

Keesing's Archiv der Gegenwart (AdG), 1951, S. 2845; Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion. Bd. I, Berlin (Ost) 1957, S. 267 f.; B. Meissner, Rußland, ¿lie Westmächte und Deutschland. Die sowjetische Deutschlandpolitik 1943-1953, Hamburg 1954, S. 254 f.; EA, 1951, S. 3951, 4212.

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λ

die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auf die Tagesordnung . Mittels Anträgen von westlicher Seite an die Vereinten Nationen zur Schaffung neutraler Wahlkommissionen und mit der Durchführung von "Friedenskongressen" sowie mittels "Initiativen" der DDR-Regierung auf östlicher Seite wurde die weiterhin gültige Viermächteverantwortung für Deutschland aus dem Blickpunkt zu rücken versucht. Wechselseitige Beanspruchung des Alleinvertretungsrechts für ganz Deutschland durch die Bundesregierung und die DDR-Regierung 4 entzogen einer gemeinsamen Sicht, was freie gesamtdeutsche Wahlen seien, von vornherein die Grundlage. Die aufsehenerregende sowjetische Note vom 10. März 19525 konnte kaum einen Ausweg aus der deutschlandpolitischen Sackgasse weisen, da ihre Angebote gezielt der neuen westlichen Deutschlandpolitik zuwiderliefen und der Gedanke eines zwar bewaffneten, aber neutralisierten Deutschlands in den Nachkriegsgrenzen bei den Deutschen selbst kaum Anklang finden konnte. Stalin hatte sich die zuvor noch heftig abgelehnte, den Amerikanern zugeschriebene Neutralitätsidee überraschend zu eigen gemacht 6 . Was blieb, war der Vorwurf, die Gelegenheit, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, "versäumt" zu haben 7 .

E. Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, Stuttgart 1985, S. 241 ff.; N. Wiggershaus, Die Entscheidung für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag 1950, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956. Bd. 1. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München/Wien 1982, S. 325^02; B. Bonwetsch/P. M. Kuhfus, Die Sowjetunion, China und der Koreakrieg, in: VjhfZG, 1/1985, S. 28-87; A. Fischer, Anfänge der Wiederbewaffnung in der S B Z / D D R (1945/46-1955/56), in: ders. (Hrsg.), Wiederbewaffnung in Deutschland nach 1945, Berlin 1986, S. 11-30. 4 s. Adenauers Erklärung vor dem Bundestag vom 21. Oktober 1949 (AdG, 1948/49, S. 2106); Erklärung des Außenministers der D D R , Georg Dertinger, vor der Volkskammer vom 22. Februar 1950 (Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der D D R - Bd. I, Berlin (Ost) 1954, S. 150. ^ Text in: Die Deutsche Frage 1952-1956. Notenwechsel und Konferenzdokumente der vier Mächte. Hrsg. von Eberhard Jäckel, Frankfurt/Berlin 1957, S. 23 f. 6 W. Ulbricht hatte am 1. Februar 1950 in einem Presseinterview erklärt, Neutralität bedeute "eine direkte Ermunterung der Kriegsinteressen, weil diese Lösung letzten Endes aus den Büros der amerikanischen Agentur stammt. Sie würde die Selbstaufgabe des deutschen Volkes und der Nation bedeuten." (Tägliche Rundschau, 2. Februar 1950); s. dazu Meissner, Rußland (Anm. 2), S. 223 f; zu amerikanischen Neutralisierungsplänen s. A. Frohn, Neutralisierung als Alternative zur Westintegration. Die Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika 1945-1949, Frankfurt 1985. 7 Zur neuentbrannten Diskussion: R, Steininger, Eine Chance zur Wiedervereinigung? Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Darstellung und Dokumentation auf der Grundlage unveröffentlichter britischer und amerikanischer Akten, Bonn 1985 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 12); N. Meyer-Landrut, Die Haltung der französischen Regierung und Öffentlichkeit zur Stalin-Note vom 10. März 1952, Phil. Diss. Köln 1987; FRUS 1952-1954, Vol. V I I , Germany and Austria, Part 1, Washington 1986, S. 169-327; K. Dittmann, Adenauer und die deutsche Wiedervereinigung. Die politische Diskussion des Jahres 1952, Düsseldorf 1981; H. Graml, Die Legende von der verpaßten Gelegenheit. Zur sowjetischen Notenkampagne des Jahres 1952, in: VjhfZG, 1981, S. 307-341; A. Hillgruber, Adenauer und die Stalin-Note vom 10. März 1952, in:

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

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Der Notenwechsel gestaltete sich wegen der fehlenden Manövrierbereitschaft als Fortführung der Pariser Vorverhandlungen von 1951 mit anderen Mitteln. Zeitgenossen gewannen den Eindruck, es handele sich um einen "Dialog von Taubstummen" 8 . A n die Stelle von Viermächtegesprächen über Deutschland traten interne Absprachen und Sondergespräche. So hatte die Sowjetunion auf die Vorentscheidung der westlichen Außenministerkonferenz vom 12. bis 19. September 1950 in New York zur Westintegration und Wiederaufrüstung der Bundesrepublik mit der Einberufung einer demonstrativen Gegenkonferenz der Außenminister der osteuropäischen Staaten in Prag vom 20./21. Oktober 1950 reagiert 9 . Als es nach den notenbewegten und entscheidungsträchtigen Jahren 1952 und 1953 zur Einigung auf eine Viererkonferenz kam, war sie nur durch den beiderseitigen Verzicht auf Vorbedingungen möglich geworden. Der Kompromiß zeugte kaum von grundsätzlicher Verhandlungsbereitschaft. Die Verzahnungen jeweils eigener Art bei der Interessenabstimmung auf beiden Seiten und die fortgeschrittenen Integrationsbemühungen ließen einen Anfang bei Null, eine tabula rasa, nicht mehr zu. Allerdings durfte von der Konferenz eine Definition des status quo erwartet werden. Nach den Jahren der zweigeteilten Deutschlandpolitik stand die Frage zur Klärung an, ob Viermächtekonferenzen überhaupt noch zur Lösung des deutschen Problems beitragen konnten.

II. Die Konferenzvorbereitungen

I m Frühjahr 1953 überschlugen sich Ereignisse und Initiativen. Die neue amerikanische Regierung unter Präsident D.D. Eisenhower und Außenminister J.F. Dulles war mit dem Programm eines "rollback" des Kommunismus in Europa angetreten und hatte damit ihre Abkehr von der vermeintlich zu nachgiebigen containment-policy der Truman-Adminstration bekundet. Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Hrsg. von D. Blumenwitz u.a., Bd. II, Stuttgart 1976, S. 111-130; P.März, Die Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten, Frankfurt/Bern 1982; G. Meyer, Die sowjetische Deutschlandpolitik im Jahre 1952, Tübingen 1970; H.-P. Schwarz (Hrsg), Die Legende von der verpaßten Gelegenheit, Stuttgart/Zürich 1982 (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 5); G. Wettig, Die sowjetische Note vom 10. März 1952 - Wiedervereinigungsangebot oder Propagandawerkzeug? Köln 1981; aus sowjetischer Sicht: V.N. Belezki, Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten in der Nachkriegszeit 1945-1976, Berlin (Ost) 1977, S. 141-145; S. Thomas, Die sowjetische Deutschland-Note vom 10. März 1952 - eine verpaßte Chance, in: 50 Jahre deutsch-sowjetische Beziehungen 1917-1967, Berlin (Ost) 1967, S. 81-96 (Deutsche Außenpolitik, Sonderheft). 8

E. Jäckel, Einleitung zu: Die Deutsche Frage 1952-1956 (Anm. 5), S. 12.

9

s. "Präger Erklärung" vom 22. Oktober 1950, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik der

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Gleichzeitig war die Bereitschaft zum Abbau der internationalen Spannungen erklärt worden. Der Tod Stalins am 5. März 1953 führte zu keiner Neuorientierung der amerikanischen Politik, zumal diplomatische Offerten aus Moskau ausblieben. Träger und Symbolfigur der sich an den Tod des Diktators knüpfenden Erwartungen der westlichen Öffentlichkeit wurde deshalb der britische Premier Winston Churchill, der in einer Unterhausrede vom 11. Mai die Zeit für eine Gipfelkonferenz reif hielt, seine frühere antisowjetische Position aufgab und nun ein sowjetisches Sicherheitsbedürfnis anerkannte 10 . Er stieß damit nicht nur auf Ablehnung bei Eisenhower und Adenauer, sondern auch auf die der Experten im Foreign Office, dessen Leitung er für den erkrankten Eden mit übernommen hatte 1 1 . Man fürchtete ein Wiederaufleben der Neutralitätsdiskussion und verwies auf die Gefahren eines vereinigten, neutralen Deutschlands. Weniger der schwach begründete Optimismus des alternden britischen Regierungschefs als vielmehr das Drängen der labilen französischen Regierung auf einen neuerlichen Nachweis der Unmöglichkeit einer gemeinsamen Deutschlandpolitik mit der Sowjetunion 12 ebnete den Weg zu einer Viererkonferenz der Außenminister, während von Churchills Gipfelidee nur das Zugeständnis eines Treffens der westlichen Regierungschefs auf Bermuda vom 4. bis 7. Dezember 1953 übrigblieb 13 . Zwar waren die Bemühungen der neuen sowjetischen kollektiven Führung um eine Entkrampfung der internationalen Atmosphäre spürbar, doch die Anzeichen für eine Kurskorrektur in der Deutschlandpolitik, gar die Bereitschaft zur Preisgabe der D D R , blieben sehr vage und unter der Oberfläche 14 . Die Ereignisse um den Aufstand vom 17. Juni 1953 veranlaßten die Kreml-Führung zum Ausbau einer defensiven Status-Quo-Politik in Deutschland. Bundeskanzler Konrad Adenauer hielt den Zeitpunkt, eine Viermächtekonferenz auf Außenministerebene zu fordern, für günstig, um einerseits den Vorwurf der Opposition, die Bundesregierung hintertreibe Sowjetunion. Bd. I, S. 244-253. ί 0

EA, 1953, S. 5738 ff.

1 1

s. A. Seidon, Churchill's Indian Summer. The Conservative Government, 1951-1955, London u.a. 1981, S. 396-409; R. Steininger, Ein vereintes, unabhängiges Deutschland? W. Churchill, der Kalte Krieg und die deutsche Frage im Jahre 1953, in: M G M , 2/1984, S. 105144; J. Foschepoth, Churchill, Adenauer und die Neutralisierung Deutschlands, in: D A , 12/1984, S. 1286-1301. 1 2 1 3

A. Eden, Memoiren 1945-1957, Köln/Berlin 1960, S. 75.

AdG, 1953, S. 4282; EA, 1953, S. 6231 f.; FRUS 1952-1954, Vol. V , part 2, S. 1710-1847; J.W. Young, Churchill, the Russians and the Western Alliance: the three-power conference at Bermuda, December 1953, in: English Historical Review, October 1986, S. 889-912. 14 G. Wettig, Die sowjetische Deutschlandpolitik am Vorabend des 17. Juni, in: 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der D D R . Hrsg. von I. Spittmann/K. W. Fricke, Köln 1982, S. 56-69; H. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West,

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

53

eine solche Begegnung, zu entkräften und seine Wahlchancen zu verbessern, und andererseits die EVG-Ratifizierung durch den Nachweis sowjetischer Intransigenz in der deutschen Frage voranzubringen. Er nahm dabei in Kauf, mit einer Sondermission Herbert Blankenborns zur Konferenz der westlichen Außenminister in Washington (10. bis 14. Juli 1953) gegen die "diplomatische Kleiderordnung" zu verstoßen 15 und sich den Vorwurf "deutscher Taktlosigkeit" einzuhandeln 16 . Der von den Westmächten am 15. Juli 1953 eingeleitete Notenaustausch 17 bestätigte die Unvereinbarkeit der deutschlandpolitischen Positionen der Westmächte und der Sowjetunion. Die unter Zugzwang geratene Sowjetunion deutete erst nach der einhellig ablehnenden Reaktion der westlichen Öffentlichkeit auf die sowjetische Note vom 3. November 1953 ihre Bereitschaft zu einer ViermächtekonfereDZ an. Der Zeitpunkt der tatsächlichen Zusage stand in Zusammenhang mit der Ankündigung eines westlichen Gipfeltreffens auf Bermuda, das als Druckausübung der Amerikaner und Briten auf die in der Frage der EVG-Ratifizierung hinhaltende französische Regierung gewertet werden konnte, und war kaum zufällig auf den Vorabend der Vertrauensabstimmung in der französischen Nationalversammlung datiert. Die auf beiden Seiten ungeliebte Konferenz sollte nun in Berlin, nicht in Lugano, wie die Westmächte vorgeschlagen hatten, stattfinden. Die lange Ungewißheit hatte die Vorbereitungen nicht eben beflügelt. Die Einberufung der mit der Planung beauftragten Expertengruppe verzögerte sich mit dem Verstreichen der vorgeschlagenen Konferenztermine 15. Oktober und 9. November 1953. Der Standpunkt der Bundesregierung war im Herbst 1953 längst nicht formuliert und geriet in den Wochen vor der Konferenz in das Kompetenzgerangel zwischen Auswärtigem Amt, Bundeskanzleramt, Gesamtdeutschem Ministerium und Außenpolitischem Ausschuß des Bundestages, wobei sich Adenauer schließlich über das eigens gebildete Interministerielle Komitee hinwegsetzte und mittels seiner engen Vertrauten Blankenborn, Wilhelm G. Grewe und Walter Hallstein die Gespräche mit den westlichen Experten führte. Von einer gleichberechtigten deutschen Beteiligung an der westlichen Konferenzvorbereitung 18 kann nicht gesprochen werden. Dazu fehlten die rechtlichen wie die atmosphärischen VorausMünchen 1967, S. 207-247. 1 5 H. Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines diplomatischen Tagebuchs 1949 bis 1979, Frankfurt/Berlin/Wien 1980, S. 159; K. Adenauer, Erinnerungen 19531955, Stuttgart 1966, S. 222. 1 6 Schreiben des britischen Hohen Kommissars Ivone Kirkpatrick an das Foreign Office, 10. Juli 1953 (Public Record Office (PRO) Foreign Office (FO) 371/103667/ C 1071/52). 1 7 1 8

s. Die Deutsche Frage 1952-1956 (Anm. 5), S. 41-58.

s. H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründeijahre der Republik 1949-1957 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in fünf Bänden. Hrsg. von K. D. Bracher u.a., Bd. 2) Stuttgart/Wiesbaden 1981, S. 213.

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Setzungen19. Immerhin erinnerte man im Foreign Office anläßlich zu starker französischer Widerstände daran, man werde die Deutschen nicht unendlich 10 als "inferior beings" behandeln können . Die Bundesregierung hätte durch ein ausgearbeitetes Konzept der eigenen Ansichten zur Lösung der deutschen Frage früher und intensiver Einfluß nehmen können. Das "Risiko der Festlegung" 21 wurde angesichts einer Konferenz gescheut, von der man wenig erwartete. Der amerikanische Außenminister Dulles bestärkte die Bundesregierung in dieser Haltung, als er in einem Gespräch mit Staatssekretär Hallstein vom 21. Okt. 1953 den bevorstehenden Expertenrunden lediglich den Charakter eines "academic exercise" zubilligte 22 . Die erste Serie der Expertengespräche der Westmächte fand erst nach der Londoner Außenministerkonferenz der Westmächte vom 21. Okt. bis 2. Nov. 1953 in Paris statt. Der anschließend vorgelegte "Paris-Report" bildete fortan die Diskussionsgrundlage der Westalliierten betreffend das Deutschlandproblem und den österreichischen Staatsvertrag 23. Von den vier Schwerpunkten "General tactics", "Security assurances", "Austria" und "Germany" war letzterer der umfangreichste und enthielt Kommentare zu einer Grundsatzerklärung über Deutschland, zu freien Wahlen, zum Status einer gesamtdeutschen Regierung, zu den Prinzipien eines Friedensvertrages und zu wirtschaftlichen Fragen. Die beiden letzten Komplexe waren heftig umstritten und weit von einer gemeinsamen Linie entfernt. Bei der zweiten Serie von Gesprächen vom 16. bis 21. Dezember 1953 in Paris waren die Delegationsstäbe reduziert worden, und es ging nicht mehr um eine vertiefende Erörterung der Sachkomplexe, sondern um deren Straffung. Die strittigen Bereiche des ersten Berichts, v.a. die heikle Frage eines Friedensvertrages und das damit zusammenhängende Grenzproblem, wurden - nicht zuletzt auf Drängen Adenauers herausgenommen und die 19 s. dazu W. G. Grewe, Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960, S. 46 ff., 169 ff.; H. Maier/A. Tobler, Die Ablösung des Besatzungsstatuts in der Bundesrepublik Deutschland, in: EA, 1955, S. 8082 ff.

20

Schreiben von Frank Roberts an den britischen Botschafter in Paris, Oliver Harvey, vom 12. November 1953 (PRO FO 371/103693/ C 1071/723). 2 1 Schwarz, Die Ära Adenauer (Anm. 18), S. 213. 2 2 FRUS 1952-1954, Vol. V I I , 1, Washington 1986, S. 546. Memorandum des Gespräches zwischen Dulles und Hallstein vom 21. Oktober 1953. 23 Tripartite Official Talks on Germany and Austria. Paris, October 21 - November 2,1953 (PRO FO 371/103691/ C 1071/676).

^Aufzeichnungen von Hancock, 30. Dezember 1953 (PRO FO 371/109270/C 1071/58). Die Weigerung Adenauers, sich vor freien Wahlen über die Prinzipien eines Friedensvertrages zu unterhalten, hatte zur Folge, daß die deutsche Seite in dieser Frage nicht von den westlichen Experten konsultiert wurde. Aus britischer Sicht konnte es wegen Zusagen an Polen und die Sowjetunion bei friedensvertraglichen Grenzverhandlungen nur mehr um die endgültige Regelung des Gebietes zwischen westlicher und östlicher Neisse gehen (PRO FO 371/103683/

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

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verbliebenen in der Reihenfolge der gewünschten Tagesordnung für die Konferenz aufbereitet: 1. Deutschland, 2. Österreich, 3. Europäische Sicherheit 2 5 . Von der im Sommer 1953 im State Department geborenen Idee, auf der Grundlage detaillierter Positionspapiere ein geeignetes Pendant zum sowjetischen Friedensvertragsentwurf zu schaffen , war kaum etwas übrig geblieben. Auch der Ende September 1953 im Foreign Office fertiggestellte, karge Entwurf "Heads of a German Peace Treaty" 2 war nur in den ersten "Paris-Report" aufgenommen worden 2 8 . Im Foreign Office wagte man sich nur vorsichtig auf das bisher von der Sowjetunion allein bestellte Terrain der europäischen Sicherheit vor und gelangte kaum weiter als bis zu dem Zugeständnis einer Sicherheitsgarantie für die Sowjetunion 29 . A n der zweiten Runde hatte von deutscher Seite Grewe mit dem ungeklärten Status eines inoffiziellen "Beobachters" teilgenommen 30 . Die Ergebnisse der beiden Expertenrunden bilden die Urform des "Eden-Plans", den der britische Außenminister der Berliner Konferenz vorlegte. Die Berichte nannten freie Wahlen zu einer Nationalversammlung, die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung und einen frei vereinbarten Friedensvertrag als wichtigste Etappen auf dem Weg zur deutschen Einheit. Deutlicher als in der endgültigen Fassung des "Eden-Plans" war von der Absicht die Rede, das vereinigte Deutschland (oder wenigstens die Bundesrepublik) in die westeuropäische Gemeinschaft zu integrieren, die ihrerseits Bestandteil einer sich "ständig entwickelnden Atlantischen Gemeinschaft" sein sollte 31 . Dieser Rahmen C 1071/478 "brief" der britischen Delegation für die Expertengespräche von Paris). Derweil befaßte sich im Auswärtigen Amt eine Arbeitsgruppe mit militärischen Klauseln in Friedensverträgen nach beiden Weltkriegen und alternativen Lösungen der Oder-Neisse-Frage (Politisches Archiv [PA] Auswärtiges Amt [AA] 232-00 I I 2101/53) und legte Anfang Oktober zwe^eheime Ausarbeitungen vor. Tripartite Official Talks on Germany and Austria. Second Series. Paris, December 16 - 21,1953 (PRO FO 371/103700/ C 1071/951). s. H.-J. Rupieper, Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954, in: VjhfZG, 3/1986, S. 433; ders., Wiedervereinigung und europäische Sicherheit. Deutsch-amerikanische Überlegungen für eine entmilitarisierte Zone in Europa 1953, in: M G M , 1/1986, S. 91-130. 2 7

PRO P R E M 11/419.

M

Paris-Report I, S. 22-25.

29

In einem streng geheimen Memorandum von Lord Salisbury für das Kabinett vom 14. September 1953 wurden allerdings eine Reihe von Sicherheitsvereinbarungen mit der Sowjetunion erörtert (PRO P R E M 11/419). Die von Lord Salisbury als aussichtsreichste apostrophierte Lösung mit Nichtangriffspakten zwischen den EVG-Staaten und möglicherweise Österreichs und dem "russischen Block" stieß bei Briten und Amerikanern auf erhebliche Bedenken (PRO P R E M 11/449 Bericht von Frank Roberts vom 23. Oktober 1953 über die Expertengespräche in Paris). 30 Die Begegnungen der alliierten Experten mit Grewe galten als "informelle Treffen", bei denen letzterer auf Fragen antwortete (O. Harvey an das Foreign Office, 18. Dezember 1953 (PRO FO 371/103699/C 1071/923); vgl. W. G. Grewe, Rückblenden 1976-1951, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, S. 174-178. -* 1 Paris-Report I, S. 3; II, S. 4.

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unterschied sich nicht von den fünf Prinzipien der Resolution, die der Deutsche Bundestag mit breitem Konsens am 10. Juni 1953 verabschiedet und am 10. Dezember 1953 bekräftigt hatte 3 2 . Die Experten wiesen der Viererkonferenz die begrenzte Aufgabe zu, eine Übereinkunft mit der Sowjetunion über die "Wiedervereinigung in Freiheit" zu erzielen, die den Weg zu einer "allgemeinen Regelung" ebnen konnte. Im Falle des Scheiterns sollten die westlichen Vorschläge als "einzige Mittel" zur Lösung der deutschen Frage ausgegeben werden. Man verstand sie als Teil eines Programms, das den Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion Rechnung trug und "die friedliche Koexistenz der Sowjetunion mit dem Westen" ermöglichte 33 . Da man nicht von einer sowjetischen Zustimmung zu den westlichen Plänen ausgehen konnte, war das Außenministertreffen dazu ausersehen, die Russen "für die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands und Europas allein verantwortlich" zu machen. Es durfte daher nicht in einer "Sackgasse" münden, die es den Westmächten erschwerte, sich aus den Erörterungen "herauszuwinden" (extricate) und die Westintegrationspläne fortzusetzen 34 . In der Tagesordnungsfrage wollten die Westalliierten flexibel agieren und keinen frühen "breakdown" der Konferenz provozieren. Bei unliebsamen Themen wurde den Außenministern empfohlen, sich die sowjetischen Ansichten lediglich "anzuhören", dann die eigenen vorzutragen und "so schnell wie möglich zum nächsten Tagungsordnungspunkt überzugehen" 35 . Fruchtlose rhetorische Schaukämpfe wie in Paris 1951 würden dadurch zwar vermieden oder wenigstens abgekürzt werden können, doch stand zu befürchten, daß der unergiebige Notenwechsel mit anderen Mitteln im Konferenzsaal seine Fortsetzung fand. Über die sowjetische Konferenzvorbereitung ist wenig bekannt. Aus den sowjetischen Noten, Äußerungen führender Politiker und dem Verhalten der DDR-Regierung lassen sich gleichwohl die sowjetischen Konferenzziele ermitteln und Rückschlüsse auf die geplante Taktik ziehen. Zweifellos stand es in sowjetischem Interesse, den Ausbau des Nordatlantikpaktes zu hemmen, die E V G zu verhindern, die Auflösung der NATO-Stützpunkte und den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa zu erreichen. Vordringlich galt es, die Westintegration der Bundesrepublik und die Einbeziehung ihrer wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen in das westliche Verteidigungsbündnis zu durchkreuzen. Dazu würde es notwendig sein, Deutschland durch attraktive Angebote von den Westmächten zu 3 2

EA, 1953, S. 5825 f.; AdG, 1953, S. 4289.

3 3

Paris-Report I, S. 3; II, S. 4.

3 4

Paris-Report II, S. 4.

35 Λ

Ebd., S. 7.

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

57

isolieren oder bestehende Differenzen unter den Alliierten auszunutzen. Nicht zuletzt mußte die sowjetische Führung bestrebt sein, ihre Position in der D D R zu festigen und dem Ansehen der diskreditierten dortigen Regierung aufzuhelfen. Die nachhaltige Forderung einer Fünfmächtekonferenz über Indochina unter Einbeziehung der Volksrepublik China, die die USA strikt ablehnten, und die bevorzugte Erörterung von Fragen der europäischen Sicherheit deuteten darauf hin, daß man in Moskau auf eine Ruhepause in der Deutschlandpolitik hinarbeitete. Eine vergleichbare Konsultation, wie sie zwischen den Westmächten und der Bundesregierung praktiziert wurde, hat es zwischen Moskau und Ost-Berlin nicht gegeben. Der Blick der SED blieb auf das Ende einer Konferenz gerichtet, die erweisen sollte, ob die Ostintegration vorangetrieben werden konnte.

I I I . Die Vorschläge zur Lösung der deutschen Frage während der Konferenz 36

Überraschend schnell einigten sich die vier Außenminister auf die von V. M . Molotov am 25. Jan. 1954, dem ersten Verhandlungstag, vorgelegte Tagesordnung: 1. Maßnahmen zur Entspannung und Einberufung einer Fünfmächtekonferenz, 2. Deutsche Frage und europäische Sicherheit, 3. Österreichischer Staatsvertrag 37. Was in der Öffentlichkeit als hoffnungsvoller Auftakt gewertet wurde , erlitt durch Molotovs Eröffnungsansprache einen spürbaren Dämpfer 3 9 . Eden sprach von einer "alten Platte , während

36 Eine ausführliche Darstellung über Vorgeschichte, Verlauf und Ergebnisse der Berliner Konferenz wird der Verfasser in absehbarer Zeit vorlegen, s. weiterhin: H.-J. Rupieper, Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954. Ein Höhepunkt der Ost-West-Propaganda oder die letzte Möglichkeit zur Schaffung der deutschen Einheit? in: VjhfZG, 3/1986, S. 427-453; aus sowjetischer Sicht: V. N. Belezki, Die Politik der Sowjetunion (Anm. 7), S. 153-161; P A . Nikolaev, Politika Sovetskogo Sojuza ν germanskom voprose 1945-1964, Moskau 1966, S. 185-195; E. Laboor, Kalter Krieg oder Entspannung? Die Außenpolitik der Sowjetunion im Kampf um die kollektive Sicherung des Friedens in Europa 1954/55, Berlin (Ost) 1983,S. 15-45; ders., Auf dem Wege nach Helsinki 1954-1975. Die Berliner Außenministerkonferenz 1954 Beginn des Kampfes der Sowjetunion um die Gesamteuropäische Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Berlin (Ost) 1977. 3 7 Neue Zeit, Nr. 5, 30. Januar 1954, Beilage, S. 8. 3 8

39

FAZ, Nr. 22, 27. Januar 1954, S. 1.

W . M . Molotov, Reden auf der Berliner Außenministerkonferenz, Berlin (Ost) 1954, S. 5-22. 40 Eden, Memoiren (Anm. 12), S. 88.

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sich Dulles am Folgetag zu einer scharfen Replik veranlaßt sah 41 . Die Konferenz umfaßte zwischen dem 25. Januar und 18. Februar 1954 21 Plenarsitzungen, über die in anschließenden Pressekonferenzen Bericht erstattet wurde, und sechs geschlossene Sitzungen. Daneben fanden Treffen der westlichen Außenminister untereinander und einzeln mit Molotov im Rahmen von Dinners statt 42 . In zähen Verhandlungen war vor Konferenzbeginn vereinbart worden, daß die Sitzungen der ersten und dritten Verhandlungswoche im Gebäude des ehemaligen Allierten Kontrollrates an der Potsdamer Straße im Westteil Berlins, die der zweiten im Amtssitz des sowjetischen Hohen Kommissars Unter den Linden in Ost-Berlin, der auch die sowjetische Botschaft beherbergte, stattfinden sollten. In den Sitzungen der vierten Woche traf man sich abwechselnd im Ost- und Westteil Berlins. Unter Mißachtung der Verfahrensordnung preschte der britische Außenminister am 29. Januar 1954 mit dem westlichen Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands vor, der nach dem Namen des Vortragenden und der wirkungsvollen Präsentation umgehend zum "Eden-Plan" wurde 4 3 . Die mit der Endredaktion betrauten britischen Experten hatten ihre Fassung gegen eine unmittelbar vor Konferenzbeginn vorgelegte amerikanische Variante durchgesetzt 44 . In den Tagen vor und nach Eröffnung des Außenministertreffens hatte der britische Entwurf mehrere Überarbeitungen erfahren, zuletzt, nachdem er der Bundesregierung vorgelegen hatte. Die britische Delegation hielt die letzte Fassung ihres Entwurfes für ein vollkommenes Gebilde, das den Anfechtungen Molotovs sowie den kritischen Blicken der Öffentlichkeit standhalten konnte. In einem Kommentar hieß es: "It would appear that

FRUS 1952-1954, Vol. V I I , 1, S. 827-832. Eden hielt die Rede Dulles' für "schärfer im Ton ... als notwendig schien" (PRO FO 371/109276/ C 1071/250 Schreiben Edens an das Foreign Office, 26. Januar 1954). 42 Autorisierte Protokolle gibt es nicht. Nach der Konferenz wurden offizielle Dokumente und Reden veröffentlicht, z. T. nur in Auszügen: Documents relating to the Meeting of Foreign Ministers of France, the United Kingdom, the Soviet Union and the United States of America. Berlin, January 25 - February 18, 1954, London, Her Majesty's Stationery Office. Cmd 9880; Foreign Minister's Meeting. Berlin Discussions. January 25 - February 18,1954. Department of State Publication 5399. Washington 1954; Documents de la Conférence de Berlin (25 janvier -18 février 1954). La Documentation Frangaise. Recueils et Monographies. Nr. 27. Présidence du Conseil. Paris 1954; Die Viererkonferenz in Berlin 1954. Reden und Dokumente. Hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin oJ. Auch hinsichtlich der sowjetischen Dokumente und Reden Molotovs sind diese Ausgaben am vollständigsten. Vergleichbare sowjetische Editionen existieren nicht. Unvollständig : W. M . Molotov, Reden auf der Berliner Außenministerkonferenz, Berlin (Ost) 1954; s.a. Die Berliner Außenministerkonferenz der vier Mächte. Dokumente, Wien 1954. Die Dinner-Gespräche sind - unvollständig - dokumentiert bei: Rupieper, Die Berliner Außenministerkonferenz 1954 (Anm. 36), S. 447-453. 4 3 Eden, Memoiren (Anm. 12), S. 91. 4 4 PRO FO 371/109276/C1071/249 25. Januar 1954.

Schreiben von Palliser an das Foreign

Office,

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

59

whatever points are at issue are questions for the lawyers" 45 . Blankenborn hatte am 27. Januar eine Kopie des Plans erhalten. Grewe brachte sie Adenauer nach Bonn, wo sie am 28. Januar im Kabinett beraten wurde. Adenauer beschwerte sich über die mangelnde Zeit zur Erörterung und Blankenborn sprach entgegen seiner zuvor verständnisvollen Haltung nun ebenfalls davon, die Bundesregierung sei "überrumpelt" worden 4 6 . I n einer intern erstellten Chronologie der Entstehung des Plans rechtfertigten die Experten ihr Vorgehen und verwiesen auf die enge Konsultation der deutschen Seite in wichtigen Fragen. Die "slowness" der Bundesregierung bei der Beantwortung von Fragen und die Präsentation völlig neuer Vorschläge kurz vor Konferenzbeginn hätten die Arbeit zusätzlich erschwert. I m übrigen hätte die französische Regierung der Vorlage eines noch nicht unter den Westalliierten endgültig abgestimmten Dokuments bei der Bundesregierung schwerlich zugestimmt . Die Aufregung war der angespannten Atmosphäre anzulasten, denn Adenauer stimmte dem Plan grundsätzlich zu, obwohl seine kurz zuvor angebrachten Änderungswünsche hinsichtlich einer Erwähnung der Volkspolizei und gesonderter Wahlen in der D D R keine Berücksichtigimg fanden. Der "Eden-Plan" sah vor, die deutsche Wiedervereinigung in fünf Etappen durchzuführen: 1.

Freie Wahlen in ganz Deutschland

2.

Einberufung der daraus hervorgehenden Nationalversammlung

3.

Ausarbeitung einer Verfassung und Vorbereitung der Friedensvertragsverhandlungen

4.

Annahme der Verfassung und Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, die für die Verhandlung des Friedensvertrages zuständig ist

5.

Unterzeichnung und Inkraftsetzung des Friedensvertrages 48.

Angelpunkt des Plans waren die freien Wahlen, die bereits in den Jahren vor der Konferenz zum Kernstück der westlichen Taktik in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geworden waren. Ein Wahlgesetz sollte aus den vorliegenden Entwürfen des Bundestages und der Volkskammer erstellt 4 5

PRO FO 371/109276/ C 1071/249 (1) Aufzeichnung von P. M. Foster, 27. Januar 1954.

4 6

PRO FO 371/109278/ C 1071/314 Protokoll der Expertensitzung vom 28. Januar 1954; PRO FO 371/109284/C 1071/436 Schreiben des britischen Hohen Kommissars F. HoyerMillar an seinen Stellvertreter J. G. Ward, 6. Februar 1954. 4 7 ebd., Beilage; PRO FO 371/109277/ C 1071/297 Schreiben Hoyer-Millars an das Foreign Office, 29. Januar 1954. 48 Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 223 ff.; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 58 ff.

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werden und Überwachungskommissionen auf zentraler, Landes- und lokaler Ebene aus Vertretern der vier Mächte und möglicherweise neutraler Staaten die Bedingungen freier und geheimer Wahlen sicherstellen. Der Plan und Edens Erläuterungen ließen nichts mehr von den Varianten erkennen, die zwischen den Westalliierten und der Bundesregierung teilweise heftig umstritten waren. Dabei war es um die Machtbefugnisse der Nationalversammlung im Ost- und Westteil Deutschlands bis zur Auflösung der bestehenden beiden Regierungen und die Frage des Machttransfers auf die gesamtdeutsche Regierung und deren Status gegangen. Einig waren sich die westlichen Experten, daß es der Sowjetunion unmöglich gemacht werden müsse, mit einer gesamtdeutschen Regierung "Katz und Maus zu spielen" und durch die Hinauszögerung eines Friedensvertrages eine "'Österreichische Situation'" zu schaffen 4 . Die Ansichten Adenauers und seiner Berater zielten auf ein möglichst langes Fortbestehen der noch nicht souveränen Bundesrepublik und ihrer Regierung, um Einfluß auf die ungewissen Ereignisse nach den Wahlen zu behalten, und sind unter der verkürzten Bezeichnung "Kaufmann-Plan" an die Öffentlichkeit gelangt 50 . Demnach sollten in Deutschland zeitweise drei Regierungen nebeneinander bestehen 51 . Der "Eden-Plan" sah jedoch vor der Verabschiedung der Verfassung lediglich eine "provisorische gesamtdeutsche Behörde" (authority) mit begrenzten Befugnissen vor und unterschied sich damit von dem sowjetischen Vorschlag einer Provisorischen Regierung. Die aus freien Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung würde die gesamtdeutsche Regierung bilden und mit ihr den Zeitpunkt des Machttransfers entscheiden. Eden erwähnte den Zielpunkt des westlichen Wiedervereinigungskonzeptes, den Abschluß eines Friedensvertrages, ohne nähere Erläuterungen. Er verzichtete völlig auf die Festlegung von Grundsätzen und lehnte lediglich einen "Diktatfrieden" ab. M i t dem Recht der gesamtdeutschen Regierung, die internationalen Verpflichtungen der Bundesregierung oder "des ostdeutschen Regimes" zu übernehmen - sofern sie "mit der Charta der Vereinten Nationen übereinstimmen" - sowie sich "zu friedlichen Zwecken" mit anderen

4 9

Paris-Report I, S. 17; II, S. 15.

5 0

s. Neue Zürcher Zeitung, Nr. 345, 16. Dezember 1953; Nr. 347, 18. Dezember 1953; Frankfurter Rundschau, 7. Januar 1954. Erich Kaufmann, Rechtsberater im Auswärtigen Amt, hatte die gewandelten Ansichten Adenauers Vertretern der Alliierten Hohen Kommission in Bonn vorgetragen (PRO FO 371/103698/ C 1071/895 Schreiben des britischen Delegationsleiters in Paris, Frank Roberts, an das Foreign Office, 17. Dezember 1953). In Molotovs Vorschlag vom 4. Februar 1954 war diese Möglichkeit ebenfalls vorgesehen mit dem gravierenden Unterschied bei der Bildung der provisorischen gesamtdeutschen Regierung (Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 228); vgl. die Sowjetnote vom 15. August 1953 (Die Deutsche Frage 1952-1956 (Anm. 5), S. 45).

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Staaten zusammenzuschließen , glaubten die Westmächte, ausreichende Garantien für ein westorientiertes Gesamtdeutschland angedeutet zu haben. Molotov war sichtlich überrascht von Edens Vorstoß und verzichtete auf eine ausführliche Entgegnung. Neben dem Vorwurf, sich unabgesprochen von der Tagesordnung gelöst zu haben, machte er dem britischen Außenminister das ironische Kompliment, wie ein "gelehrter Konstitutionalist streng deutschen Typs" gesprochen zu haben 53 . Molotov ließ in der sechsten Plenarsitzung am 30. Januar keinen Zweifel daran, daß er genau an jener Stelle ansetzen würde, die von den Westmächten freigelassen worden war: beim Friedensvertrag. Unumwunden sprach er von einer Bindungsklausel im westlichen Plan und ließ sich auch im weiteren Verlauf der Konferenz nicht davon abbringen. Wahlen hatten nach seiner Meinung zwar eine gewisse Bedeutung, gleichwohl hob er die in Ost und West unterschiedlichen Ansichten darüber, was "wirklich freie" und "demokratische" Wahlen seien, hervor. Man müßte vorher Klarheit haben, wie sich die Lage in Deutschland nach Wahlen gestalten würde 5 4 . In einer fast dreistündigen Rede erläuterte Molotov am 1. Februar die Prinzipien des sowjetischen Friedensvertragsentwurfes 55. Sie deckten sich bis auf einen Zusatz mit dem Text der Note vom 10. März 1952, der Gesamtdeutschland nunmehr von jeder Verpflichtung politischer oder militärischer A r t freisprach, die sich aus Verträgen der Bundesrepublik und der D D R ergab. In einem Memorandum der DDR-Regierung an die Konferenz vom 30. Januar war noch deutlicher von einer Annullierung der Verträge von Bonn und Paris die Rede gewesen 56 . Bemerkenswert war eine "Präzisierung" der militärischen Vertragsbestimmungen. Die 1952 zugestandenen nationalen Streitkräfte, "die für die Landesverteidigung erforderlich sind", sollten nun "entsprechend den Aufgaben innerer Art, der örtlichen Grenzverteidigung und des Luftschutzes" beschränkt werden. Damit wurde dem Argument begegnet, die Sowjetunion rede einer unbegrenzten Aufrüstung Deutschlands und einer Neuauflage der Entwicklung der Zwischenkriegszeit das Wort. Diese Einschränkung jedoch raubte dem lockenden Angebot einer deutschen Nationalarmee vollends die Anziehungskraft. A u f westalliierter Seite gab es schon ernste Bedenken beim Gedanken einer deutschen Nationalarmee innerhalb der NATO. Im Zusammenhang mit Befürchtungen, Adenauer 52 5 3

Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 61. PRO FO 371/109279/ C 1071/332 Protokollentwurf der Plenarsitzung vom 29. Januar

1954. 54 Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 61-64; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 62 ff.; PRO FO 371/109279/ C 1071/333 Protokollentwurf der 6. Plenarsitzung. 5 5 Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Anm. 2), Bd. I, S. 121-124,406428. 5 6

Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der D D R . Bd. I, Berlin (Ost) 1954, S. 136.

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könne nach seinem Wahlsieg vom 6. September 1953 unter dem Einfluß nationalistischer Elemente in der Koalition mit dem Gedanken einer Nationalarmee im Rahmen der N A T O "flirten", wandte sich der amerikanische Hohe Kommissar James Conant am 28. Okt. 1953 mit grundsätzlichen Überlegungen an Dulles: "I would be deeply concerned if there were any possibility of a national German army. I know some people in the Pentagon and in Congress feel otherwise. And the former British High Commissioner, Sir Ivone Kirkpatrick, also was willing to consider the possibility, but from what I have seen I would consider the creation of a national German Army a most dangerous untertaking. The basic German political situation is too unstable and the German governmental structure is too new to trust the final command of a national army to the hands of the unknown German leaders of the future. It could well be that such a national army would find itself allied with the East against the West" 5 7 . A m 4. Feburar ging Molotov mit seinem Vorschlag "über die Bildung einer Provisorischen Gesamtdeutschen Regierung und die Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen" 5 8 zur endgültigen Ablehnung des "EdenPlans" über. Die beiden deutschen Regierungen erhielten zur Aufgabe, "unverzüglich" eine "Beratung bevollmächtigter Vertreter Ost- und Westdeutschlands zwecks Einigung über das Verfahren zur Bildung der Provisorischen Gesamtdeutschen Regierung, über deren Zusammensetzung, Funktionen, Aufgaben und Befugnisse" einzuberufen. Die Provisorische Regierung sollte durch die beiden Parlamente "unter weitgehender Teilnahme der demokratischen Organisationen" gebildet werden. Z u ihren Aufgaben zählte die Vorbereitung und Durchführung freier Wahlen, die Vertretung deutscher Interessen bei der Vorbereitung des Friedensvertrages und in internationalen Organisationen sowie die "Verhinderung einer Einbeziehung Deutschlands in Koalitionen oder Militärbündnisse, die gegen irgendeine der Mächte, welche mit ihren Streitkräften gegen Hitlerdeutschland teilgenommen haben, gerichtet sind". Alle Besatzungstruppen mußten vor den Wahlen abgezogen werden, mit Ausnahme von "beschränkten Kontingenten, welche zur Ausführung der Schutzfunktionen zurückgelassen werden, die sich aus den Kontrollaufgaben der vier Mächte ergeben". Diese Abweichung von den Vorschlägen des Jahres 1952 wies der Sowjetunion Kontrollaufgaben in "Ostdeutschland", den Westmächten in "Westdeutschland" zu. Für Verhandlungen in der deutschen Frage blieb kein Spielraum. Das Festhalten am Potsdamer Abkommen bezüglich einer Grenzregelung und als 5 7

58

FRUS 1952-1954, V I I , 1, S. 551 f. Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Anm. 2), Bd. I, S. 449 ff.

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Plattform bei der Suche nach einer "geeigneten Regierung" 59 zur Unterzeichnung des Friedensvertrages waren die Eckpfeiler eines unflexiblen Angebots. Die einzig lebhafte Debatte der Konferenz hatte sich am 3. Februar nach Molotovs Forderung einer Volksabstimmung über die Verträge von Bonn und Paris entwickelt 60 . Bidault sprach von einer "irreführenden" Fragestellung und Eden versuchte vergeblich, den sowjetischen Außenminister vom heiklen EVG-Thema auf die freien Wahlen zurückzubringen. Aus Edens Sicht hatte man es zu diesem Zeitpunkt mit einem "complete conflict of view" zu tun 6 1 , und Molotov reagierte nicht auf die Kritik, er ignoriere den "völlig neuen" westlichen Plan. Immerhin war der britische Außenminister froh, daß die Sowjetunion "ihre Karten aufgedeckt" hatte und eine Wiedervereinigung nur auf der Grundlage ihrer eigenen "extremen Bedingungen" zulassen würde. Molotov stellte in einer teilweise improvisiert wirkenden Rede vom 5. Februar klar, Ereignisse wie die des 17. Juni 1953 würden sich nicht wiederholen, womit er entsprechende Erwartungen im Westen ins Reich der Illusion verlegen wollte 6 2 . Im übrigen sah er in einem "unkontrollierten parlamentarischen System", das an sich nicht schlecht sei (!), keine ausreichende Garantie gegen ein Wiederaufleben des "Nazismus" 63 . Denn Hitler sei ebenfalls durch freie Wahlen an die Macht gekommen. Die zweite Verhandlungswoche hatte im Zeichen des Aufbaus einer sowjetischen Abwehrposition gegen den wirkungsvoll plazierten westlichen Wiedervereinigungsplan gestanden. Abgesehen von Molotovs besonderer Referenz an die westliche Öffentlichkeit vom 5. Februar war jeder Brückenschlag vermieden worden und die Konferenz in die von den Westmächten gefürchtete "Sackgasse" geraten 64 . Das rhetorische Spiel der Außenminister mit historischen Daten und Ereignissen wie dem Versailler Vertrag, den Gründen für das Scheitern der Weimarer Republik und für die Machter59 Ebd., S. 440; vgl. das Protokoll von Potsdam in: Teheran, Jaita, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der "Großen Drei". Hrsg. und eingeleitet von Alexander Fischer, Köln 1985, S. 405. 60 s. Edens Bericht an das Foreign Office vom 4. Februar (PRO FO 371/109280/ C 1071/ 363); Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 122 ff.; Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 147-151. 6 1 PRO FO 371/109281/ C 1071/371 Bericht an das Foreign Office vom 4. Februar. s. etwa das streng geheime Schreiben des amerikanischen Hohen Kommissars Conant an Dulles vom 17. Juli 1953 (FRUS 1952-1954, V I I , 1, S. 489). 6 3

s. Edens Bericht vom 6. Februar (PRO FO 371/109281/ C 1071/391); vgl. Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 159 ff.; Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 110 ff. In den sowjetischen Dokumentensammlungen ist diese Rede nicht enthalten. 6 4

so Bidault in seiner Rede vom 6. Februar (Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 161).

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greifung Hitlers, die außenpolitische Lage der Zwischenkriegszeit und Deutschlands Rolle darin, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 und schließlich die Ereignisse nach 1945 hatte bereits erkennen lassen, daß sich die Außenminister von der isolierten Betrachtung des deutschen Problems entfernten. Da sich Molotov nicht nur ständig wiederholte, sondern auch die westlichen Außenminister in eine unliebsam starre Haltung manövrierte, kamen Eden, Dulles und Bidault überein, "to bring matters to a head" 65 . Molotov durchkreuzte diesen Wunsch mit der Koppelung der deutschen Frage mit einem europäischen Sicherheitssystem. Den Tag, an dem der sowjetische Außenminister den Entwurf eines "Gesamteuropäischen Vertrages über die kollektive Sicherheit in Europa" mit einem Katalog von "Sicherheitsgarantien" vorlegte 66 , nannte Eden "the worst day in discussions here, in that Molotov showed his hand more unashamedly" 67 . Eden zeigte Nerven, als jener Punkt erreicht war, den er schon vor seiner Reise nach Berlin hatte kommen sehen. Seiner Meinung nach ging es der Sowjetunion nicht nur um die Verhinderung der EVG, sondern um die Beseitigung des gesamten westlichen Verteidigungssystems der NATO. Eden befürchtete einen Einbruch in der westlichen Abwehrlinie: "I do not think we can do any good by discussing Soviet demands for the abolition of N A . T . O . in public, and I am more than ever convinced that the sooner this conference ends its discussion of the German side of our affairs the better" . Molotovs Ausgangspunkt war das vorläufige Fortbestehen der Teilung Deutschlands. Vordringliches Anliegen bei der Lösung der deutschen Frage sei die Verhinderung der "Spaltung Europas in militärische Gruppierungen". Unter Anspielung auf den am 2. Sept. 1947 in Rio de Janeiro unterzeichneten interamerikanischen Beistandspakt forderte er ein europäisches Gegenstück und nannte die willkürliche Zahl von 32 Teilnehmerstaaten. Molotov spekulierte unmißverständlich auf das französische Unbehagen an der E V G 6 9 . Die vorrangige Bildung des europäischen Sicherheitssystems würde, nach Molotovs Ausführungen, eines der "Haupthindernisse" für einen "geeinten friedliebenden und demokratischen deutschen Staat", nämlich die Einbeziehung "des einen oder anderen Teils" in militärische Gruppierungen, beseitigen. Bis zum Friedensvertragsschluß und bis zur Wiedervereinigung 6 5 s. Edens Bericht über die Absprache der westlichen Außenminister vor der Plenarsitzung vom 9. Februar 1954 (PRO FO 371/109285/ C 1071/442). 6 6 Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Anm. 2), Bd. I, S. 466-478; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 183-192; s. dazu W. Bödigheimer, Die Verhandlungen über das Sicherheitsproblem auf der Berliner Konferenz von 1954, in: EA, 1954, S. 6496-6513. 6 7 so Eden in einem Telegramm vom 11. Februar an das Foreign Office über die Sitzung vom Vortag mit dem Vermerk, es im Kabinett als Geheimsache zu behandeln (PRO F O 371/ 109286/ C 1071/463). 68 . j ebd.

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würden Bundesrepublik und D D R getrennte Mitglieder des Sicherheitspaktes sein. Die sowjetische Position in Deutschland und Europa wäre durch den Abzug aller Besatzungstruppen (bis auf vereinbarte begrenzte Kontingente) fast unanfechtbar geworden, nicht zuletzt durch die bereits erfolgte Wiederbewaffnung in der D D R und die Verdrängung der Amerikaner vom europäischen Kontinent, denen nur eine "Beobachter"-Rolle zugestanden wurde. Zunächst war die Neutralisierung Deutschlands vorgesehen. Erst danach sollten die vier Mächte eine Konferenz zum Abschluß des europäischen Sicherheitspaktes einberufen. Die Wiedervereinigung der beiden darin vertretenen deutschen Staaten sollte weiter den vier Mächten obliegen. Dulles lehnte die sowjetischen Vorschläge als "schlechten Scherz" ab, weil sie Westdeutschland und Westeuropa äußerer Aggression aussetzten und sowjetische Truppen unbemerkt nach Deutschland zurückverlegt werden könnten 7 0 . Bidault brachte das einseitige sowjetische Sicherheitsinteresse auf die Formel: "Security of Europe includes, but is not limited, to security of USSR" 7 1 . Ein Sicherheitspakt erschien ihm erst nach Regelung der deutschen und österreichischen Frage und einer friedensvertraglichen Grenzziehung denkbar. Er bot strengere Klauseln als Garantie gegen eine Loslösung Deutschlands aus der E V G an, auf die Molotov aber nicht einging. Molotov hatte mit seinem unannehmbaren Maximalprogramm eine geschlossene westliche Abwehr hervorgerufen. Seine Monroe-Doktrin für Europa, wie Eden sie nannte 72 , war die ausführliche Variante des sowjetischen Slogans "Europa den Europäern". Einzelbestimmungen verdeutlichten das Ziel, zunächst die Anerkennung der D D R als eigenständigen europäischen Staat zu erreichen. Die Periode vor Friedensvertragsschluß und deutscher Einheit war somit als längerer Zeitraum eingeplant. A m Ende der dritten Verhandlungswoche war die Konferenz auch in der Österreichfrage ins Stocken geraten, da Molotov einen Fortschritt in der deutschen Frage von einer Übereinkunft über den Staatsvertrag abhängig machte 73 . Neue unakzeptable Klauseln schlossen vorerst eine Einigung aus und deuteten auf den Wunsch Moskaus nach Zeitgewinn hin - bis sich das Schicksal der E V G geklärt haben würde. Während Bidault hinsichtlich des Sicherheitspakts den rein europäischen G. Bidault, Noch einmal Rebell. Von einer Resistance in die andere, Berlin 1966, S. 230. 7 0

Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 162 ff.; FRUS 1952-1954, V I I , 1, S. 1023-1027.

7 1

FRUS 1952-1954, V I I , 1, S. 1020.

72 7 3

Documents relating to the Meeting of the Foreign Ministers (Anm. 42), S. 116 f. s. die Verhandlungen vom 12. Februar 1954 (Die Viererkonferenz [Anm. 42], S. 199-217;

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Charakter der Sowjetunion in Frage stellte und auf "eurasische" Verflechtungen verwies 74 , anerkannte Eden das bestehende sowjetische Sicherheitssystem, versuchte aber, dem über diesen Machtbereich hinausgreifenden Ansinnen jede Berechtigung abzusprechen. Neue Vorschläge zur Sicherheit in Europa war er nur bereit zu erörtern, wenn sie "be consistent with our security in the West, that is, with the continued existence of Ν A . T . O . " 7 5 . Dies veranlaßte den sowjetischen Außenminister zu einer, wie Eden meinte, "unvorbereiteten" Rede in "sehr gemäßigter Sprache", die erneut ausschließlich an die westliche Öffentlichkeit gerichtet war 7 6 . Wie Bidault sprach er zwar von der "Existenz zweier Lager" unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, meinte aber die Sicherung des Friedens in Europa durch das "Prinzip des einheitlichen Lagers" erreichen zu können 77 . Der Frage nach der Vereinbarkeit zwischen europäischem Sicherheitspakt und N A T O wich Molotov mit der Gegenfrage aus: "Für oder gegen kollektive Sicherheit in Europa. Wenn wir dafür sind, so ist alles übrige eine Sache konkreter Formulierungen" 7 8 . Molotov hatte seinen Vorschlägen nicht nur, wie Eden argwöhnte, ein "unschuldigeres Gewand" als in den vorausgehenden Sitzungen angelegt 79 , sondern jede Bedrohung des Westens durch den "Sowjetblock"geleugnet. I n Bezug auf die deutsche Frage hatte Bidault am 15. Februar unumwunden festgestellt, "Ostdeutschland" gehöre politisch, wirtschaftlich und militärisch längst zum "Ostblock" und verfüge mit der Kasernierten Volkspolizei über eine "bewaffnete Streitmacht" in einer Stärke von 100.000 Mann, über Pan80

zer, Flugzeuge und schwere Waffen . In seiner Rede vom 10. Februar hatte der sowjetische Außenminister noch den Vorschlag gemacht, weder in Ostnoch in Westdeutschland eine Armee zuzulassen81. Nun aber dementierte er nicht einmal Bidaults Behauptung und verwies lediglich vielsagend auf dessen angeblich unzureichende Informationen 82 . Kurz vor Abschluß der Konferenz Foreign Minister's Meeting [Anm. 42], S. 175-187). 7 4 s. Edens Bericht vom 18. Februar 1954 über die vorletzte Plenarsitzung vom Vortag (PRO FO 371/109288/ C 1071/538); vgl. Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 270 f. 7 5

s. Edens Bericht vom 16. Februar 1954 (PRO FO 371/109287/ C 1071/502).

7 6

Molotovs Rede ist weder in den sowjetischen, noch in den offiziellen amerikanischen und britischen Dokumentationen enthalten. Auszüge in: AdG, 1954, S. 4386; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 245-248; s.a. Edens Bericht vom 16. Februar 1954 (PRO FO 371/109287/ C 1071/502). 7 7 7 8 7 9

80

AdG, 1954, S. 4386. ΚΛ ebd. s. Edens Bericht vom 16. Februar 1954 (PRO FO 371/109287/ C 1071/502).

Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 240; Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 166; vgl. die deutlich höheren Schätzungen von Dulles (ebd., S. 268, S. 125). 8 1 s. Edens Bericht vom 11. Februar (PRO FO 371/109286/ C 1071/465); vgl. den Bericht der amerikanischen Delegation vom 11. Februar (FRUS 1952-1954, V I I , 1, S. 1022). 8 2 s. Edens Bericht vom 18. Februar 1954 (PRO FO 371/109288/ C 1071/538); vgl. Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 265; Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 124.

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ging Molotov in dieser Frage mit dem Vorschlag "Über Stärke und Bewaffnung der Polizei" in die Offensive, in dem ein Viermächteabkommen über "die deutsche Polizei sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland einschließlich der Fragen der Stärke und der Bewaffnung aller Arten der Polizei" gefordert wurde 8 3 . Er machte den Westmächten eine Gegenrechnung über die westdeutsche Polizei auf, deren Stärke er auf 203.000 Mann zuzüglich 155.000 deutsche Hilfskräfte in den westlichen Armeen bezifferte 84 . I n der folgenden Sitzungspause versuchte Eden seine westlichen Kollegen zur Schadensbegrenzung für einen Gegenvorschlagsentwurf zu gewinnen, in dem die vier Hohen Kommissare beauftragt wurden, Stärke, Ausbildung und Bewaffnung aller A r t von (Polizei-) Streitkräften in ganz Deutschland zu untersuchen 85 . Dulles und Bidault lehnten jedoch wegen möglicher Rückwirkungen der Bildung einer Viermächtekommission auf das Ratifizierungsverfahren der E V G ab . Der amerikanische Außenminister übernahm die Entgegnung auf Molotovs geschicktes Ablenkungsmanöver. Unter Hinweis auf das Beispiel Koreas, wo sich beim Abzug der Amerikaner im Norden "hoch organisierte und ausgebildete" Streitkräfte, im Süden aber nur Polizeikräfte befanden, lehnte er jeden Vergleich der Verhältnisse in Ost- und Westdeutschland ab 8 7 . Die Konferenz war nun endgültig von den Realitäten in Deutschland eingeholt worden. Die brisante Debatte am Ende entsprach Adenauers Wunsch, die Volkspolizei zum Gegenstand der Debatten zu machen, obwohl ihm eine andere Form vorgeschwebt hatte 8 8 . Der Verlauf der Debatte über die 83

R4 Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Anm. 2), Bd. I, S. 480. s. Edens Bericht vom 18. Februar 1954 (PRO FO 371/109288/ C 1071/538). Diese Passagen fehlen in: Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 265 und Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 124. 85 86 s. Edens Bericht vom 18. Februar (ebd.). s. Edens Bericht vom 19. Februar 1954 über die letzte Plenarsitzung (PRO F O 371/ 109288/ C 1071/556). 87 Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 266-270; Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 124-127. 88 In einem Memorandum vom 16. Januar 1954 forderte die Bundesregierung die Westmächte auf, auf der Konferenz die Reduzierung und Abrüstung der Volkspolizei auf das Niveau des Bundesgrenzschutzes zu fordern (s. die englische Fassung: PRO FO 371/109276/ C 1071/241). Wegen der "Anomalie des Vergleichs" und der "widersinnigen" Forderung einer Reduzierung der Volkspolizei, nicht aber des Abzugs der Roten Armee wurde Adenauers Vorschlag von den Westmächten abgelehnt (s. den Bericht des britischen Hohen Kommissars Hoyer-Millar vom 20. Januar 1954 über ein Gespräch von Vertretern der Alliierten Hohen Kommission mit Grewe (PRO FO 371/109274/ C1071/200) und die Aufzeichnung von Roberts über das westliche Expertentreffen in Berlin am 23. Januar 1954 (PRO FO 371/ 109276/ C 1071/255). Wenngleich Grewe selbst, nach Ansicht seiner Gesprächspartner, "nicht begeistert" von Adenauers Vorschlag war, hielt er doch - in Übereinstimmung mit ihm wie den westlichen Regierungen -" die bloße Existenz großer Polizeikräfte in der Ostzone" für ein "potentielles Einschüchterungsmittel" bei gesamtdeutschen Wahlen.

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Wiederbewaffnung konnte die westlichen Delegationen kaum zufriedenstellen. Erwartungsgemäß hatte man Molotov nicht davon überzeugen können, daß ein Deutschland in der E V G "ein sicherer Partner und Nachbar" für alle europäischen Staaten sein würde als ein wiederbewaffnetes Deutschland nach sowjetischen Vorstellungen 89 . Der sowjetische Außenminister hatte sich nicht in eine vermeintlich leicht zu westlichen Gunsten entscheidbare Erörterung von Widersprüchen in der sowjetischen Deutschlandpolitik verwickeln lassen. Z u Beginn der Konferenz schienen die Vorteile auf westlicher Seite klar auf der Hand zu liegen und Anthony Nutting hatte am 28. Jan.1954 für Eden notiert: "Russia has herself proposed that Germany should have a national army. She had not told us, however, how she would control and limit that army. E.D.C. provides effective limitations. But how would the Russians limit a German national army? By writing restrictions into a Peace Treaty? Re-occupy the Eastern Zone? Or send an Aide Mémoire to the German Foreign Office? We can add as a tease that of course Russia has already created forces in Eastern Germany of tanks and guns and aeroplanes. No doubt she can control these forces, but only because she is in occupation. We are talking about Germany in a completely different context - a reunified Germany with no occupation regime" 90 . Über diesen anderen Zusammenhang, der nach einem knappen Jahrzehnt seit Kriegsende angesichts der geschaffenen Tatsachen immer mehr aus dem Blickfeld geriet, hatte die Konferenz nicht zu einer gemeinsamen Sprache gefunden. Es blieb die Schlußfolgerung, daß es künftig zwei deutsche Armeen und voneinander getrennte Kontrollinstanzen geben würde: Die bereits bestehende ostdeutsche Armee in der vorläufigen Gestalt der Kasernierten Volkspolizei unter der Kontrolle der sowjetischen Besatzungsmacht und die noch zu bildende westdeutsche Armee unter der Kontrolle der E V G und der NATO. Das angeblich Zukunftsweisende, das Nutting im westlichen Plan zu erkennen glaubte, schrumpfte nach Molotovs Störmanöver mit dem Entwurf eines europäischen Sicherheitspakts auf den Kern zusammen, den westdeutschen Verteidigungsbeitrag sicherzustellen und zu rechtfertigen. Die Sowjetunion hatte nichts unternommen, was in Deutschland über den Status quo hinausweisen konnte. Von Molotov das Zugeständnis eines westlichen Sicherheitsinteresses zu erwarten, wäre vermessen gewesen. Der sowjetische Entwurf eines Vertrages über kollektive Sicherheit in Europa war jedoch so unannehmbar konzipiert, daß er zumindest als Duldung des vom Westen beschrittenen Weges gewertet werden kann. Die großen Entwürfe zur Wiedervereinigung Deutschlands waren damit 89

so Anthony Nutting in einer Aufzeichnung für Eden vom 28. Januar 1954 (PRO FO 371/ 109291/ 9 0 C 1071/644). ebd.

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vorläufig erledigt. Molotovs letzter Vorschlag "Über gesamtdeutsche Komitees", die Maßnahmen zur Erleichterung und Erweiterung wirtschaftlicher Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland und zur Schaffung "günstiger Bedingungen für die Entwicklung der deutschen nationalen Kultur" ergreifen sollten 91 , wurde von den westlichen Außenministern äußerst reserviert aufgenommen 92 . Auf eine Debatte ließ man sich nicht ein, sondern legte aus Rücksicht auf die Öffentlichkeit einen eigenen Maßnahmenkatalog zur Verbesserung der innerdeutschen Beziehungen und der Lage Berlins vor 9 3 . Die Empfehlungen der Experten vor der Konferenz, auf einen "clean break" hinzuwirken 94 , erwiesen sich als Fessel, von der sich die Außenminister nicht freimachen konnten. Edens hilfloses Beharren auf freien gesamtdeutschen Wahlen als dem kürzesten Weg "zur sozialen und kulturellen Einheit Deutschlands" 95 entsprach der unbeweglichen Konferenztaktik. Geradezu ketzerisch wirkte Bidaults Äußerung, Molotovs letzter Vorschlag befasse sich mit Angelegenheiten, die nicht mehr in der Zuständigkeit der vier Mächte lägen und bei denen es den beiden deutschen Regierungen freistünde, untereinander übereinzukommen 96 . Eden wollte diesen Wink an die Deutschen jedoch nicht dahingehend verstanden wissen, als beabsichtigten die Westmächte, "irgendeine formelle Beziehung zwischen der Bundesregierung im Westen und den deutschen Behörden in der Ostzone zu fördern" 97 . Während Edens Erklärung auf der Linie der Bundesregierung lag, wies Bidaults Formel über den Tag hinaus und forderte zum Nachdenken darüber auf, wie die Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands bei fortdauernder Spaltung von den Deutschen selbst gestaltet werden konnten. Die späte Präsentation von Molotovs Vorschlag deutete an, daß es ihm nicht um eine Verhandlung durch die Außenminister gegangen war, wohl aber um einen Hinweis auf die angestrebte Stabilisierung des Status quo.

91 9 2

Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion (Anm. 2), Bd. I, S. 481. s. Edens Bericht vom 18. Februar 1954 (PRO FO 371/109288/ C 1071/538).

93 04 Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 129; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 273 f. s. die Aufzeichnung von Roberts vom 11. Januar 1954 (PRO FO 371/ 109272/ C 1071/ 112). Auch aus Adenauers Sicht kam es weniger auf das Ergebnis der Konferenz an, als vielmehr darauf, wie man sie beendete und der Sowjetunion dafür die Schuld zuschob (s. Rupieper, Die Berliner Außenministerkonferenz [Anm. 36], S. 435). 9 5 s. seinen Bericht über die Sitzung vom 17. Februar 1954 (PRO FO 371/109288/ C 1071/ 538).

97

ebd. Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 130; Die Viererkonferenz (Anm. 42), S. 274.

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IV· Die Konferenzergebnisse im Urteil

Gemessen an den öffentlichen Bekundungen vor der Konferenz stellte das gemeinsame SchluBkommuniqué 98 die westlichen Ziele auf den Kopf: Die vereinbarte Konferenz über Indochina und Korea nahm den breitesten Raum ein. Über sie war fast ausschließlich in den geheimen Sitzungen beraten worden. I m Unterschied zu Amerika wurde dieses Ergebnis in Frankreich begrüßt, da man sich Unterstützung für eine Beilegung des IndochinaKonflikts versprach. Zwar handelte es sich - auf amerikanisches Beharren hin - nicht um eine "Fünfmächtekonferenz" unter gleichberechtigter Teilnahme der Volksrepublik China und damit um deren diplomatische Anerkennung. Gleichwohl war eine unübersehbare Bresche in die zuvor völlig ablehnende Haltung Washingtons geschlagen worden. Der Schwerpunkt der Verhandlungen, die deutsche Frage und die europäische Sicherheit sowie der österreichische Staatsvertrag, spiegelte sich lediglich in dem lapidaren Schlußsatz, es habe "einen vollständigen Meinungsaustausch" gegeben, ohne daß die Außenminister zu einer Einigung gekommen wären. Zwar klang in dem Abschnitt über die Abrüstung durch Verweis auf die UN-Resolution vom 28. November 1953 das amerikanische QQ

Bestreben an, solche Fragen aus Viermächteverhandlungen herauszuhalten - bilaterale Gespräche standen derzeit ohnehin nicht zur Debatte doch war auch damit ein Topos aufgegriffen, der die sowjetische Außenpolitik zunehmend beherrschte. Der neue sowjetische Vorschlag eines europäischen Sicherheitspakts war ohne westliches Gegenstück geblieben, wenngleich Bidault am 15. Februar 1954 eine ausführliche Stellungnahme abgegeben und die Rahmenbedingungen für eine "kollektive Sicherheit" im Weltmaßstab und eine "kontrollierte 100

Abrüstung" dargelegt hatte . Unübersehbar war die Erörterung der deutschen Frage in den Sog dieser Zusammenhänge geraten. Aus strategischen Gründen versuchte die im Fernen Osten ausgreifende Sowjetunion, sie auf den europäischen Kontext zu reduzieren, während den Westmächten, allen voran den Amerikanern, an der Herstellung atlantischer Bezüge lag. Die Überlegungen über konkrete Abrüstungsmaßnahmen und entmilitarisierte Zionen in Europa waren zwar vor der Konferenz in den Schubladen der westlichen Außenministerien verschwunden, doch war abzusehen, daß sie rasch wieder für den Entwurf alternativer Gegenkonzepte gegen den sowjetischen Europa-Gedanken und seine militärischen Prämissen hervorgeholt 08

Die Deutsche Frage 1952-1956 (Anm. 5), S. 71. s. Eisenhowers Rede vor der U N O vom 8. Dezember 1953 (AdG, 1953, S. 4283 f.). 100 Foreign Minister's Meeting (Anm. 42), S. 164-170; Die Viererkonferenz, S. 238-244.

9 9

Berliner Viermächtekonferenz von 1954 und die Deutsche Frage

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würden, der bei Beobachtern die Vorstellung eines "'volksdemokratischen Europa'" weckte 1 0 1 . Immerhin hatte Blankenborn während der Konferenz einem britischen Delegationsmitglied als "persönliche Idee" vorgeschlagen, der Sowjetunion im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands eine von der U N O garantierte Sicherheitszone anzubieten. Damit verband er das überraschende Eingeständnis unzureichender Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion im EVGKonzept 1 0 2 . Adenauer hingegen hielt es für "lächerlich", wenn "der Elefant von der kleinen Schildkröte" Sicherheit fordere 1 0 3 . Angesichts dieser Perspektiven für künftige Begegnungen zwischen West und Ost waren die Erörterungen in Berlin über die deutsche Frage tatsächlich nicht mehr als ein "Schattenboxen", wie Roberts nach den Expertengesprächen im Dezember 1953 vorausblickend notierte, bei dem es den Russen um die Verzögerung und den Westmächten um die Beschleunigung der EVG-Ratifizierung ging 1 0 4 . Zwar waren beide Seiten am Ende darum bemüht, die jeweils eigene Position als realistischer herauszustreichen und die Schuld für das Scheitern der Verhandlungen abzuwälzen, doch hatte der Zwang, die Verhältnisse in Deutschland auch ohne baldige Wiedervereinigung zu regeln und - spätestens seit der ersten sowjetischen Wasserstoffbombenexplosion im August 1953 über atomare Rüstungsbegrenzung nachzudenken, von vornherein den "clean break" verhindert, der nur noch für Teilaspekte tauglich schien. Eines gewissen Maßes an Ruhe bedurften beide Seiten, um ihre Pläne in Deutschland fortzuführen. Die von der Sowjetunion ins Spiel gebrachte "Entspannung" beinhaltete aus westlicher Sicht aber den gefährlichen Beigeschmack der Duldung der sowjetischen Politik in der D D R und in Osteuropa. Wohl aus diesem Grund blieb die Präsentation von Vorschlägen für menschliche Erleichterungen eine klägliche Episode. Daß sie den Schlußakkord bildete, mochte gleichwohl die Deutschen darauf vorbereiten, "den Schock des Scheiterns in den Hauptpunkten" 105 zu verwinden. Auf westlicher Seite war man sich bewußt, daß die Sowjetunion die Regelung dieser "minderen Fragen" oder "kleinen Lösungen" zum Anlaß nehmen würde, nicht die Hohen Kommissare, sondern die beiden deutschen Regierungen in die Verantwortung zu rufen und damit die Aufwertung der D D R zu betreiben. Die Bundesregierung war dazu nicht bereit, obwohl Adenauer die neuen Zusammenhänge der deutschen Frage erkannt hatte. Beim "Kanzler-Tee" am 1 0 1

102 103

K. Mehnert, Die Viererkonferenz von Berlin, in: Osteuropa, 2/1954, S. 108. Aufzeichnung von Roberts, 1. Februar 1954 (PRO FO 371/109291/ C 1071/666).

so der Bundeskanzler am 2. Februar 1954 vor ausgewählten Journalisten (Adenauer, Teegespräche 1950-1954. Bearb. von Hanns Jürgen Küsters, Berlin 1984, S. 525). Aufzeichnung von Roberts, 24. Dezember 1953 (PRO FO 371/109269/ C 1071/14). 1 0 5 so der britische Hohe Kommissar Hoyer-Millar in einem Schreiben an das Foreign Office vom 7. Januar 1954 (PRO FO 371/109270/ C 1071/47).

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2. Februar 1954 sagte er vor ausgewählten Journalisten: "Glauben Sie, wenn Sie Russe wären (...), würden Sie dann während schwebender Verhandlungen über Asien oder wenn Atomwaffenverhandlungen schweben, dieses Pfand freiwillig aus der Hand geben, ich meine das Pfand: die Sowjetzone?" 106 . Die deutsche Delegation in Berlin begnügte sich wegen Adenauers Fixierung auf das Scheitern der Verhandlungen mit der von den Westmächten zugestandenen, aber keineswegs ausgefüllten "Beobachterrolle". Die von Felix von Eckardt, dem Leiter des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, mit einigem Erfolg geführte "erste große Schlacht um die Gunst der Journalisten, der Leser und der Radiohörer in der ganzen W e l t " 1 0 7 konnte für einige Zeit das völlig defensive Auftreten des deutschen Delegationsleiters Blankenborn überspielen. Dieser notierte vor allem die "Erleichterung" in den westlichen Delegationen über das Ende der "wochenlangen , Deklamationen , " 1 ° 8 . Seine Analyse der Aussichten der Konferenz vom 25. Januar 1954 hatte sich nicht mit den Möglichkeiten deutscher Einflußnahme. sondern mit den negativen Absichten Molotovs auseinandergesetzt . Adenauer hatte unmittelbar vor Konferenzbeginn den im Krankenstand befindlichen Blankenhorn anstelle des ursprünglich dafür vorgesehenen Grewe zum Delegationsleiter bestimmt und ersterem die Aufgabe mit den Worten beschrieben: "Ich glaube, Sie können die Arbeit, die Sie zu tun haben, vom Krankenhaus oder von einem guten Hotel aus erledigen, Sie brauchen dabei nicht in Erscheinung treten. (...) Die Sache kann sehr wichtig werden und ein falscher Schritt - ich brauche es Ihnen kaum zu sagen - kann natürlich große Folgen haben" 1 1 0 . Die Furcht vor einer "'österreichischen Lösung"' 1 1 1 lähmte die Tatkraft für möglicherweise Erreichbares. Als von deutscher Seite der Bogen mit dem Ansinnen überspannt wurde, einen großen Auftritt des Bundeskanzlers oder gar des Kabinetts in Berlin zu inszenieren, um die Gunst der Öffentlichkeit bei dem sich abzeichnenden "complete deadlock" in den Verhandlungen über die deutsche Frage durch eine Rede zur deutschen Einheit zu erreichen und "'Solidarität'" mit den Bewohnern der "Ostzone" zu bekunden, war einhellige

1 0 6

107 S. 285.

Teegespräche (Anm. 103), S. 526. F. von Eckardt, Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen, Düsseldorf/Wien 1967,

108 109 1 1

Blankenhorn, Verständnis (Anm. 15), S. 187.

ebd., S. 181. 0 ebd., S. 179 f.; vgl. Grewe, Rückblenden (Anm. 30), S. 184.

1 1 1

s. Blankenhorn, Verständnis (Anm. 15), S. 178; vgl. B. Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 1986, S. 461. Kreisky, seinerzeit Staatssekretär im Außenamt, war Mitglied der österreichischen Delegation in Berlin.

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Ablehnung bei den westlichen Delegationen die Folge . Die Abhängigkeit von der Öffentlichkeit ließ auch jenen - erneut "persönlichen" - Gedanken Blankenborns entstehen, im Gegensatz zu Adenauer eine geschlossene Sitzung über Deutschland zu fordern - nicht, um doch noch zu einer Übereinkunft zu gelangen, sondern um "sogar Ollenhauer", den SPD-Vorsitzenden, davon zu überzeugen, "daß wir jeden Stein umgewendet haben" 1 1 3 . Die Berliner Außenministerkonferenz ist jenseits dieser vordergründigen taktischen Winkelzüge von Grewe, dem zweiten Ersten Mann der deutschen Delegation, als der Zeitpunkt bezeichnet worden, "an dem die Weichen endgültig auf die getrennte und sich immer weiter voneinander entfernende Entwicklung der beiden Teile Deutschlands gestellt wurden" 1 1 4 . Dies gilt trotz unterschiedlicher Gewichtung und fundamentaler Gegensätzlichkeit für beide Seiten. Das "cold war exercise" 115 ebnete den Weg für die weittragenden Entscheidungen des Herbstes 1954, als das gescheiterte EVG-Konzept rasch zu den Akten gelegt wurde, bzw. des Jahres 1955, als die modifizierten Pariser Verträge in Kraft traten, die Bundesrepublik der N A T O beitrat, der Warschauer Pakt gegründet, der Staatsvertrag mit Österreich unterzeichnet, die D D R von der Sowjetunion formal in die Souveränität entlassen wurde und N.S. Chruschtschow die "Zwei-Staaten-Theorie" verkündete. Die damit verbundene "prinzipiell neue Lage in den deutschen Angelegenheiten" 116 war entscheidend durch die Berliner Außenministerkonferenz vorbereitet worden. Die Westmächte hatten einerseits das sowjetische Herrschaftsgebiet trotz verbaler Attacken weitgehend akzeptiert und konnten andererseits das Auftreten der sowjetischen Delegationen mit einigem Grund als verklausulierte Hinnahme der Entwicklung in Westeuropa verstehen 117 . Die Illusionen, die sich am "Geist von Genf' nach der Gipfelkonferenz 1955 nährten, s. die Aufzeichnungen von Roberts, 1. Februar 1954 (PRO FO 371/109291/C 1071/ 666); Aufzeichnung von Nutting über ein Gespräch mit Blankenhorn, 8. Februar 1954 (PRO FO 371/ 109292/ C 1071/701); Hoyer-Millars Aufzeichnung, 9. Februar 1954 (PRO FO 371/ 109292/ C 1071/701 [2]). 1 1 3 Aufzeichnung Nuttings, 11. Februar 1954 (PRO FO 371/109292/ C 1071/694). Zuvor und später hatte Blankenhorn Geheimverhandlungen abgelehnt, um keine "großen Hoffnungen" zu wecken (Memorandum vom 6. Februar 1954, FRUS 1952-1954, Vol. V I I , 1, S. 977). 114 Grewe, Rückblenden (Anm. 30), S. 186. 115 so Nutting in einer Aufzeichnung vom 30. Dezember 1953 (PRO FO 371/109271/ C 1071/89). 1 1 6 so Belezki, Die Politik der Sowjetunion (Anm. 9), S. 161. Laboor spricht von einer "qualitativ neuen Lage" nach der Berliner Konferenz (Kalter Krieg [Anm. 36], S. 15).

Adenauer wertete das Ergebnis der Konferenz als Bestätigung der Richtigkeit der westlichen Position und Molotovs Auftreten als Hinweis darauf, daß die Sowjetunion keine Verschärfung der Spannungen mit dem Westen wünschte (s. die streng geheime Aufzeichnung vom 20. Febr. 1954 über ein Gespräch des Bundeskanzlers mit dem amerikanischen Außenminister am späten Abend des 18. Febr. auf dem Flughafen Köln-Wahn, FRUS 1952-1954, Vol. V I I , 1, S. 1208).

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und pragmatische Ansätze des Brückenschlags, wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, prägten eine neue Phase der Ost-West-Beziehungen, in der "Kalter Krieg" und "Entspannung" Hand in Hand gingen, die Pläne zur Wiedervereinigung aber vorläufig den Realitätsgehalt verloren.

DIE MILITÄRISCHE INTEGRATION DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND IN DIE WEU UND DIE NATO, 1954-1957 Von Christian Greiner

Wenn im Zusammenhang mit den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland von Integration die Rede ist, wird fast immer an ihren Einbau in das staatliche und gesellschaftliche System gedacht, man könnte diesen Vorgang als "innere" Integration bezeichnen. Unberücksichtigt bleibt meist, daß auch die Eingliederung der Bundeswehr in die westlichen Sicherheitsbündnisse eine wesentliche Aufgabe war. Diesen Prozeß kann man als "äußere" Integration ansehen1. Die damit verbundenen Probleme und Schwierigkeiten sollen hier im Überblick an Hand der militärstrategischen Planungen erläutert werden. Militärstrategie wird dabei als Gesamtplan einer Allianz oder einzelner Mitglieder definiert, nach dem das militärische Potential zur Verfolgung sicherheitspolitischer Ziele eingesetzt werden soll. Ihre Bestandteile sind die Beurteilung der Bedrohung, die Pläne für den Einsatz militärischer Macht, die Festlegung und Bereitstellung des erforderlichen militärischen Potentials sowie der wirtschaftlichen und finanziellen Mittel dafür 2 . Damit sind die Tätigkeitsbereiche erfaßt, die am "bündnisintensivsten" sind und das einzelne Mitglied am engsten an die Allianzen heranführen. Unter Integration soll hier der "Vorgang einer Umorientierung politischer" - und natürlich auch militärischer - "Loyalitäten auf ein neues den Nationalstaat transzendierendes Aktionszentrum hin" verstanden werden 3 . Von dieser Definition her wäre zu fragen, wie loyal sich das neue Bündnismitglied gegenüber der N A T O und ihren Interessen gab, und welches die 1 Der Beitrag basiert zum Teil auf noch nicht allgemein zugänglichen Akten und Befragungen. Aus diesem Grunde können Zitate und Aussagen nicht in jedem Fall belegt werden. Für die korrekte Wiedergabe verbürgt sich der Autor. Das Manuskript wurde 1984 abgeschlossen.

2

R. E. Osgood: Problems of Security and Collaboration, in: The American Political Science Review, 54 (1960), S. 106. 3 L. Brock, Internationale Organisation, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft. Hrsg. v.

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Gründe für ein mögliches Abweichen gemessen am Verhalten der anderen Bündnisteilnehmer waren. Der aktuelle Bezug des Themas ist unübersehbar. Er ist auch von den in die Zukunft blickenden Handelnden 1955 erkannt worden. Man postulierte: "Entscheidend für die Entwicklung der Streitkräfte wird ihr Gesetz des Anfangs sein ,.."4. Wissenschaftlich wird das Problem etwas anders formuliert: "... die wesentlichen Strukturen einer Institution [sind] durch deren Gründungsgeschichte bestimmt und [können] nur in ihren sekundären Ausprägungen verändert werden" 5 . So ist zu fragen, welche nachwirkenden "Erfahrungen" die Bundesrepublik und ihre Streitkräfte beim Eintritt in die N A T O gemacht haben. Die bis jetzt gewonnenen Erkenntnisse sind vielleicht etwas verkürzt, aber sehr griffig auf die Formel von der "Aufbaukrise der Bundeswehr" gebracht worden 6 . Es wird dabei vor allem auf die in nationaler Verantwortung durchgeführte Aufstellung der Streitkräfte Bezug genommen. Wie sich diese Krise auf die Stellung der Bundesrepublik in der N A T O auswirkte, und ob es daneben andere Schwierigkeiten mit dem Bündnis gab, wäre hier zu fragen. Allen deutschen Politikern und Militärexperten zeigte schon die geographische Lage der Bundesrepublik, daß es im Grunde nur ein Ziel jeder sicherheitspolitischen Bemühung geben konnte, das der Kriegsverhinderung. Besonders Bundeskanzler Adenauer betonte seit 1949 immer wieder den in diese Richtung wirkenden abschreckenden Charakter der NATO. Trotzdem gab es noch einen anderen mehr militärstrategischen Grund, dieser Allianz beizutreten. Nur dann konnte man die Planungen beeinflussen, die für den Fall vorbereitet werden mußten, daß die Abschreckung versagte. Die deutschen Militärs beschränkten sich bis unmittelbar vor die Verhandlungen zum NATO-Beitritt in ihren Überlegungen auf den operativen, konventionellen Bereich. Als Erfahrung aus dem Zweiten Weltkrieg aber auch aus der Erkenntnis der aktuellen Lage in Europa nach 1945 wurde das operative Konzept einer "beweglichen, operativen Verteidigung" entwickelt, die angriffsweise zu führen war . Dieses Operationskonzept fand schon 1950 A. Görlitz, München 1970, S. 164. 4 Vom künftigen deutschen Soldaten. Gedanken und Planungen der Dienststelle Blank, Bonn 1955, S. 21. 5 W. Rüegg, Die studentische Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft, Erlenbach/Zürich o. J., S. 1. 6

H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, Stuttgart 1981, S. 299 ( = Geschichte der Bundesrepublik, Bd. 2). 7 C. Greiner, "Operational History (German) Section" und "Naval Historical Team". Deutsches militärstrategisches Denken im Dienst der amerikanischen Streitkräfte von 1946 bis 1950, in: Militärgeschichte. Probleme - Thesen - Wege, Stuttgart 1982, S. 419 ( = Beiträge zur Militär-

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Eingang in die erste offiziell für den Bundeskanzler erarbeitete militärische Denkschrift. Es hieß dort: "Man kann selbst mit 50 Divisionen eine etwa von Passau bis Lübeck verlaufende 800 km lange Front nicht starr verteidigen. Nur in beweglicher Kampfführung läßt sich das Gebiet zwischen Elbe und Rhein erfolgreich halten" . Strittig war, wie offensiv diese Art von Verteidigung sein sollte. Der "westeuropäische Raum mußte so weit ostwärts wie möglich verteidigt werden" 9 . Die Verteidigung sollte an der erst zu gewinnenden Elblinie beginnen, die Kampfhandlungen wollte man möglichst bald auf "ostdeutsches Gebiet" vortragen 10 . I m Gespräch mit höheren amerikanischen Offizieren war davon die Rede, den Kampfplatz nach Mitteldeutschland, in die Tschechoslowakei und nach Polen zu verlegen. Experten außerhalb offizieller Verantwortung wollten mit Panzerkorps und Luftlandetruppen bis in die Sowjetunion vorstoßen. Geboren waren diese Ideen alle aus dem Wunsch, der Bundesrepublik das Schicksal des Schlachtfeldes zu ersparen und von der Defensive im Kriegsfall in die Offensive übergehen zu können. Kritik an diesem Konzept regte sich frühzeitig. Sie stellte der "Umfassungsschlacht" als dem Kern der beweglichen Verteidigung die "Frontaldruckschlacht" entgegen und operierte mit einer weitgehend, wenn nicht statischen so doch defensiven Verteidigung unmittelbar an der Ostgrenze der Bundesrepublik. Gegen alle Kritik verteidigte Generalleutnant a.D. Heusinger, der Chef der Militärischen Abteilung in der Dienststelle Blank, 1953 die offizielle deutsche operative Doktrin im Bulletin der Bundesregierung. Es gab nur "ein Mittel gegen einen russischen Angriff: Die bewegliche Verteidigimg. Der Verteidiger mußte seinerseits den Angreifer angreifen, wo immer sich eine Chance dafür bot" 1 1 . Der "Deutsche Uebersee-Dienst" verbreitete diese Version weltweit in Englisch und Spanisch und unterstrich damit ihren offiziellen Charakter. Vergleicht man die deutschen Überlegungen mit den gleichzeitigen NATO-Planungen, so ergibt sich vor allem im konventionellen Bereich eine weitgehende Übereinstimmung. Unter dem strategischen Nuklearschirm der USA, über dessen Qualität und Einsatzmöglichkeiten die meisten NATOund Kriegsgeschichte, Bd. 25). ® H.-J. Rautenberg, N. Wiggershaus, Die "Himmeroder Denkschrift" vom Oktober 1950, Karslruhe 1977, S. 40. 9

Ebd., S. 39.

1 0

Ebd., S. 40; H. Speidel, Gedanken zur Sicherung Westeuropas, 15.12.1948, in: H. Speidel, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, Frankfurt/M. 1977, S. 470. 11 A . Heusinger, Die Verteidigung Westeuropas, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 201 v. 21.10.1953, S. 1674.

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Mitglieder bis 1955 im Unklaren blieben, hatte sich die N A T O 1950 aufgemacht, ein konventionelles Kräftegleichgewicht bis 1954 herzustellen. Ansporn dafür waren der Korea-Krieg und der Einstieg der UdSSR in die Nuklearrüstung. Ziel war, mit den dann aufgestellten Streitkräften eine "Vorwärtsstrategie" zu ermöglichen, d.h. mit der Verteidigung so weit im Osten wie möglich zu beginnen. Das dazu entwickelte Operationskonzept entsprach weitgehend dem der deutschen beweglichen Verteidigung. Es galt, "den Feind so weit ostwärts in Deutschland wie möglich zu halten und seine Operationsfreiheit durch Einsatz aller offensiven und defensiven Mittel einzuschränken" 12 . Der NATO-Rat bestätigte im Februar 1952 die notwendigen Streitkräfteplanungen und verabschiedete im Dezember 1952 die zugehörige militärstrategische Richtlinie. Rund 54 präsente Divisionen sollten in Mitteleuropa die Integrität des NATO-Vertragsgebietes verteidigen, unterstützt von einer gleichzeitig gegen die UdSSR zu führenden strategischen Luftoffensive mit nuklearen Mitteln. Das war der militärstrategische und operative Rahmen für die seit 1950 von Deutschen und NATO-Partnern vorgesehenen 12 Divisionen der Bundesrepublik 13 . Diese Harmonie im konventionellen Bereich kam nicht von ungefähr. Obwohl die Bundesrepublik als Mitglied der E V G nicht der N A T O angehören sollte, hielten die führenden Militärs der Dienststelle Blank, die Generalleutnant a.D. Dr. Speidel und Heusinger, seit 1952 enge Verbindung zu NATO-Stäben, besonders zu SHAPE in Paris, und zu wichtigen N A T O Staaten wie den USA. Der Stellvertreter des NATO-Oberbefehlshabers in Europa, General Eisenhower, Feldmarschall Montgomery bot 1952 Speidel den Gedankenaustausch über jede militärische Frage an. Eisenhowers Stabschef General Gruenther hatte "vollstes Verständnis" dafür, daß die Deutschen an der Planung beteiligt sein mußten. 1953 stellte Heusinger in Amerika "auf strategischem Gebiet und in der Frage der operativen Planungen ... eine erfreuliche Übereinstimmung der amerikanischen Auffassungen mit den unseren" fest. "In betonter Form" vertraten die Amerikaner die "bewegliche, offensiv geführte Verteidigung, keine Preisgabe westdeutschen Bodens ..." 14 . Natürlich wollte man den Deutschen, die man schließlich brauchte, bei diesen militärstrategischen Gesprächen entgegenkommen. Es ließ sich auch 12 C. Greiner, Die alliierten militärstrategischen Planungen zur Verteidigung Westeuropas 1947-1950, in: R. G. Foerster u.a.: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München 1982, S. 230 13 ( = Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 1). C. Greiner, Nordatlantische Bündnisstrategie und deutscher Verteidigungsbeitrag, 1954 bis 1957, in: A. Fischer u.a.: Entmilitarisierung und Aufrüstung in Mitteleuropa 1945-1956, Herford 1983, S. 120 f. ( = Vorträge zur Militärgeschichte, Bd. 4). 1 4 Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), BW 9/2527-3, fol. 18.

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leicht Einvernehmen über eine Zukunftsplanung erzielen, die ohne die deutschen Divisionen nicht zu verwirklichen war. Trotzdem ist das Ausmaß an Übereinstimmung zwischen offizieller NATO-Planung und deutschen Vorstellungen bemerkenswert, wenn auch zum Teil durch geographische Verhältnisse vorgegeben. So gesehen mußte eine Integration in die N A T O fast reibungslos zu bewältigen sein. Diese "konventionelle Harmonie" wurde ab 1953 empfindlich gestört durch die Entwicklung der nuklearen Waffentechnik in den USA und durch neue sicherheitspolitische Überlegungen der Eisenhower-Administration. Die 1949 in Gang gebrachten Arbeiten zur Entwicklung von nuklearen Waffen für den taktischen und Gefechtsfeldeinsatz konnten 1953 erfolgreich abgeschlossen werden. Es war nun möglich, kleinere nukleare Sprengköpfe mit Geschützen und Jagdbombern einzusetzen. Diese Waffensysteme wurden ab 1953 in Europa stationiert. Die amerikanische Regierung verfügte damit über ein weites Spektrum einsatzfähiger Nuklearsysteme, die denen der UdSSR noch weit überlegen schienen. Hierauf stützte sich die sicherheitspolitische Konzeption des "New Look", die den Nuklearmitteln zur Abschreckung und Verteidigung Vorrang vor den konventionellen Streitkräften einräumte. Finanzielle Erwägungen spielten eine wichtige Rolle. Nuklearmittel schienen billiger als konventionelle Divisionen, deren weltweite Stationierung auch mit Blick auf Europa eingeschränkt werden sollte. Nur knapp scheiterten 1953 entsprechende Vorschläge des amerikanischen Verteidigungsministers Wilson und des Vorsitzenden der amerikanischen Stabschefs Admiral Radford am Widerstand des Präsidenten Eisenhower und seines Außenministers Dulles. Zweifellos war es aber die Absicht der USA, auch aus Europa Divisionen abzuziehen und sie durch taktische Nuklearwaffen und deutsche Divisionen zu ersetzen 15 . Die N A T O folgte diesem amerikanischen Trend ohne große Diskussion, weil sich schon 1953 herausstellte, daß die 1952 festgelegten Streitkräftepläne nicht eingehalten werden konnten. Der NATO-Rat empfahl im Dezember 1954 "zur Erhöhung der Verteidigungskraft ... die modernen Entwicklungen der Waffen und der Technik zu berücksichtigen". "Modern" stand in den öffentlich zugänglichen NATO-Dokumenten für "nuklear" 16 . Ein Plan des Militärausschusses, der auf einer "integrierten Atomleistungsfähigkeit" aufbaute, d.h. den sofortigen Einsatz etiler nuklearen Mittel im Falle eines sowjetischen Angriffs vorsah, wurde gebilligt. Fraglich blieb zunächst, wer den Einsatzbefehl für die Nuklearwaffen geben sollte. Der NATO-Rat stellte fest, daß die Verantwortung der nationalen Regierungen für die Ausführung dieser neuen Verteidigungsplanung im Kriegsfall unberührt bleibe. Die Ent1 5

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 116 ff.

1 6

Ebd., S. 119.

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Scheidung über den Einsatz auch der taktischen Nuklearwaffen lag damit beim amerikanischen Präsidenten 17 . Denn allein die USA verfügten über diese und alle anderen nuklearen Mittel. Deutlich war aber das Bestreben der NATO-Oberbefehlshaber, die Verantwortung für den Einsatzbefehl übertragen zu bekommen. Das erforderte die Bündnisplanung, die Feldmarschall Montgomery im Oktober 1954 in London öffentlich wie folgt umriß: "Ich will vollkommen klarstellen, daß wir bei SHAPE den Einsatz von... nuklearen Waffen zur Grundlage unserer operativen Planung im Rahmen unserer Verteidigung machen. Bei uns heißt es nicht mehr: 'Sie werden vermutlich eingesetzt', es steht fest: 'Sie werden eingesetzt, wenn wir angegriffen werden'" 18 . Mochten diese starken Worte auch an die Adresse Moskaus gerichtet sein, so blieb der N A T O auf Grund der verfügbaren Streitkräfte gar keine andere Wahl. Die Zahl der für Mitteleuropa geplanten Divisionen mußte von 54 auf 30 herabgesetzt werden. Tatsächlich vorhanden waren ca. 21. Ihre Ausrüstung mit taktischen Nuklearwaffen wurde unumgänglich. Der bisher konventionelle Rahmen für die Aufstellung der deutschen Streitkräfte hatte sich im Augenblick, da sich die Bundesrepublik anschickte, der N A T O beizutreten, drastisch verändert. Dem zukünftigen Mitglied stellen sich völlig neue Probleme. Ein mögliches Schlachtfeld Bundesrepublik würde von nun an ein nukleares sein. Es war zu bedenken, in welchem Umfang deutsche Streitkräfte in den Rahmen der "nuklearisierten" Bündnisstrategie paßten. Ob und wie sie sich an der geplanten nuklearen Gefechtsführung beteiligen konnten oder mußten, schien eine weitere Frage. In jedem Fall mußte man nun die Organisation der deutschen Streitkräfte an den Bedingungen eines Nuklearkrieges ausrichten. In der Forschung ist bisher die Meinung anzutreffen, daß offizielle Stellen die neue Entwicklung der Bündnisstrategie überhaupt nicht gekannt, nicht rechtzeitig erkannt oder falsch eingeschätzt hätten 19 . Einige Tatsachen stehen dieser Auffassung entgegen. Schon im Oktober 1950 machte der deutsche Generalkonsul in New York Ausführungen des Vorsitzenden der amerikanischen Stabschefs, der zugleich Vorsitzender des Militärausschusses und der Ständigen Gruppe der N A T O war, über den Einsatz von Atombomben gegen Truppenmassierungen zum Gegenstand eines Berichtes an das BunIQ 1 0 19

Ebd., S. 123.

P. Noack, Militärpolitische Entscheidungen nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: H. Buchheim u.a.: Aspekte der deutschen Wiederbewaffnung bis 1955, Boppard/Rh. 1975, S. 150 f. ( = Militärgeschichte seit 1945, Bd. 1); J. L. Richardson, Deutschland und die N A T O , Köln 1967, S. 45; M . Dormann, Demokratische Militärpolitik, Freiburg 1970, S. 197 ( = Sozialwissenschaften in Theorie und Praxis, Bd. 11); H.-G. Pöttering, Adenauers Sicherheitspolitik 1955-1963, Düsseldorf 1975, S. 128 ff. ( = Bonner Schriften zur

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deskanzleramt. Er bezeichnete das Problem exakt: "Wenn die Deutschland zugesicherte Sicherheitsgarantie mit seiner Zerstörung durch Atombomben im Kriegsfall eingelöst werden soll, kann von einer echten Sicherheit nicht die Rede sein" 20 . 1952 erprobten die USA die erste taktische Nuklearwaffe. General Gruenther, der europäische NATO-Oberfehlshaber, erklärte am 1. April 1953 in öffentlicher Sitzung eines Kongreßausschusses, daß die N A T O auf solche Waffen warte, um ihre Unterlegenheit bei den konventionellen Streitkräften auszugleichen21. I m November 1953 wurde der Bundeskanzler selbst von einem Reporter der amerikanischen Truppenzeitschrift "Stars and Stripes" auf den Zusammenhang zwischen konventionellen Truppen und taktischen Atomwaffen angesprochen 22. Die schon erwähnten Ausführungen Montgomerys kannte die Dienststelle Blank im November 1954 in einer Übersetzung. Die Teilnahme an den alliierten Manövern in der Bundesrepublik 1954 vermittelte den deutschen Beobachtern aus der Dienststelle einen überzeugenden Eindruck von der geplanten nuklearen Gefechtsführung der NATO. Generalleutnant a.D. Dr. Speidel erhielt Anfang Oktober 1954 von Blank den Auftrag, "sich in zunehmendem Maße und entsprechend den sich bietenden Möglichkeiten auf eine enge - wenn auch zunächst ja leider noch nicht offizielle - Zusammenarbeit mit SHAPE einzustellen". Nicht nur spielten Fragen des Atomeinsatzes bei den folgenden Gesprächen eine wichtige Rolle. Speidel wurde auch mit der in Mitteleuropa geplanten Verteidigung vertraut gemacht. Gruenther vertrat wie Montgomery die Auffassung, "daß im gegenwärtigen Schwächezustand des Bündnisses eine wirksame Verteidigung Westeuropas ausgeschlossen sei, wenn SACEUR nicht die sofortige Entscheidungsgewalt über den Einsatz der atomaren Waffen in Händen habe" 23 . Über französische Offiziere erhielt Speidel eine Studie über taktische Atomwaffen, die die Grundlage der organisatorischen Planungen bei SHAPE bildete 2 4 . Es ist also davon auszugehen, daß die deutsche Seite im Großen über die Bündnisplanungen vor ihrem Bündnisbeitritt orientiert war. Das schließt Unkenntnis bei Details der nuklearen Waffentechnik nicht aus. Trotz der Ankündigung des NATO-Rates im veröffentlichten KommuniPolitik und Zeitgeschichte, Bd. 10).

20

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 121 f. H. Speier, German Rearmament and Atomic War, Santa Monica 1957, S. 167 ( = Project Rand Corporation, R-298). 2 1

2 2

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 122 f.

2 3

Speidel, Aus unserer Zeit (Anm. 10), S. 331.

2 4 B A - M A , B W 9/51, U 792/54, Atomkrieg und Organisation der Streitkräfte, Rohübersetzung, o. D.

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qué, daß "moderne" Waffen in die Verteidigungsplanung einbezogen würden, kam es zu keiner Erörterung in der Öffentlichkeit. Auch die Dienststelle Blank hüllte sich in Schweigen. Lediglich unabhängige Militärexperten stellten die Konsequenzen in der von der Dienststelle finanziell geförderten Zeitschrift "Wehrkunde" dar: "Das bedeutet die praktisch unwiderrufliche Umstellung der NATO-Streitkräfte auf den Atomkrieg". Es wurde empfohlen, dem Oberfehlshaber der N A T O in Europa von vornherein freie Hand für den Einsatz der taktischen Nuklearwaffen zu geben 25 . Die öffentliche Diskussion wie auch die Bundestagsdebatten um die Pariser Vertragswerke drehten sich um die politischen Implikationen des deutschen NATO-Beitritts. Militärstrategische Argumente blieben im konventionellen Bereich und beschäftigten sich mit dem Problem, daß auch deutsche Soldaten der Bundesrepublik nicht das Schicksal des Schlachtfeldes im Rahmen eines konventionellen Krieges würden ersparen können. Diese Behauptung versuchte der Bundeskanzler mit dem später oft zitierten Satz zu entkräften, als NATO-Mitglied werde die Bundesrepublik nicht länger Schlachtfeld eines Krieges zwischen den USA und der UdSSR sein 2 6 . Diese Feststellung bezog sich nicht so sehr auf den Abschreckungswert der N A T O und damit die Verhinderung eines Krieges. Der Kanzler stützte sich vielmehr auf Aussagen von General Gruenther über die mit den deutschen Streitkräften mögliche konventionelle Vorwärtsstrategie. Er klammerte die nuklearen Waffen völlig aus. Die entsprechenden Äußerungen Gruenthers waren über Speidel von der deutschen Seite quasi bestellt worden 27 . Damit gewinnt man einen charakteristischen, wenn auch vielleicht noch nicht umfassenden Eindruck von der deutschen Reaktion auf die neue Strategie der N A T O im Bündnis selbst. Man suchte die Unterstützung der Allianz für die eigene, noch weitgehend konventionelle Vorstellung von Militärstrategie und Verteidigungsplanung. Während die deutsche Seite zu dieser Zeit sehr selbstbewußt ihre Aufstellungs- und Organisationspläne bei SHAPE vertrat, enthielt sie sich jeder Diskussion oder Kritik der Bündnisstrategie. Sie schwieg sich vor allem über nukleare Probleme aus. Sicherlich hing das mit dem noch inoffiziellen Status der Bundesrepublik zusammen. Hinzu kam, daß man ja in den Pariser Verträgen auf die Produktion von ABC-Waffen auf dem eigenen Territorium verzichtet hatte. So mußten offensichtlich "alle Assoziationen und allzu leicht mißverständlichen Äußerungen vermieden werden..., die in irgendeiner

25

J. Ruoff, Atomwaffeneinsatz mit Vorbehalt?, in: Wehrkunde 4 (1955), S. 44 ff. Speier, German Rearmament (Anm. 21), S. 168 f.

2 7

BA-MA, BW 9/2884, fol. 10.

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Form deutsches Streben nach nuklearen Waffen hätten vermuten lassen" . Wer genauer hinsah, konnte allerdings bemerken, daß der Unterstützungskurs der N A T O gelegentlich vom Ziel abwich. Wenige Tage vor den bestellten Ausführungen Gruenthers veröffentlichte das Bulletin der Bundesregierung andere Äußerungen von ihm. Wohl waren die deutschen Divisionen zur "Verteidigung nach vorn" notwendig. Die taktischen Atomwaffen aber stellten das "Rückgrat der westlichen Verteidigung" dar, ohne die jede Art von Verteidigung unmöglich schien 29 . Auch im nationalen Bereich war es das Bestreben der Regierung, sich in der Frage der Nuklearwaffen bedeckt zu halten. Blank erklärte im Verteidigungsausschuß sogar das Kommuniqué des NATO-Rates als geheim und mußte sich von der Opposition eines besseren belehren lassen. Aber dieses Gremium machte ohnehin keine Anstalten, sich der Problematik zu nähern. Fragen der "inneren" Integration und des "Inneren Gefüges" der Truppen schienen wichtiger. Lediglich Regierungsstellen beschäftigten sich ab Jahresbeginn 1954 intern mit der amerikanischen Strategie des "New Look" und der darauf basierenden Bündnisstrategie. Denkschriften des Auswärtigen Amtes und der Dienststelle Blank versuchten vor allem, den Wert des konventionellen Streitkräftebeitrages der Bundesrepublik auch unter den neuen Bedingungen nachzuweisen. Man kam dabei zu dem Schluß, daß es in Europa bei einer "starken örtlichen [konventionellen] Verteidigung" unter Beteiligung amerikanischer Streitkräfte bleiben werde. In unzähligen Studien wurden die Wirkung der Nuklearwaffen und ihre Auswirkung auf die militärische Führung und die Organisation der Streitkräfte untersucht 30 . Allgemein waren die politisch und militärisch Verantwortlichen der Bundesrepublik bis zum tatsächlichen Bündnisbeitritt eher geneigt, sich mit militärfachlichen Fragen der neuen Bündnisstrategie zu beschäftigen, als sich der Problematik eines Nuklearkrieges in Europa und auf dem Bundesgebiet zu stellen. Hinderlich für jede Behandlung dieser Probleme war, daß Adenauer wohl aus außenpolitischen Gründen gegen jede Beschäftigung mit Nuklearfragen eingestellt war. Seine eigene Auffassung der neuen Lage teilte er 1953 dem amerikanischen Reporter mit. Er warnte davor, allzu großes Vertrauen in die Atomwaffen zu setzen, da der Vorsprung der USA vor der UdSSR sich zusehends vermindere. Von daher war er gegen einen Ersatz konventioneller Streitkräfte durch nukleare Waffen. Vielmehr mußten die letzteren als zusätzliche Verstärkung betrachtet werden. Von der nuklearen Waffentechnik hatte er 28

J. Fischer, Militärpolitische Lage und militärische Planung bei Aufstellungsbeginn der Bundeswehr, in: Militärgeschichte (Anm. 7), S. 458. "Verteidigung nach vorn!" General Gruenther zur Frage des deutschen Verteidungsbeitrages, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 28 v. 10.2.1955, S. 226.

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eher konventionelle Vorstellungen. Die Atom-Artillerie galt ihm als sehr wirksame Waffe, die Schaden nur in Gebieten anrichten würde, "die ohnehin von Kampfhandlungen heimgesucht" würden. Von dieser Einschätzung her glaubte er, man werde in der Bundesrepublik "jede Verstärkung der amerikanischen Kampfkraft auf dem Kontinent" willkommen heißen , und hatte schon zuvor der Stationierung der amerikanischen Atom-Geschütze in der Bundesrepublik Deutschland zugestimmt. Unmittelbar nach dem NATO-Beitritt demonstrierte im Juni 1955 das Luftmanöver "Carte Blanche" der deutschen Öffentlichkeit die möglichen Folgen der neuen Bündnisstrategie für die Bundesrepublik. Vorwiegend über dem Gebiet der Bundesrepublik übten taktische Luftstreitkräfte der N A T O die nukleare Vernichtung einer feindlichen Luftwaffe und ihrer Infrastruktur zu Beginn eines Krieges. Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit sollte dazu die nukleare Abschreckungsfähigkeit der N A T O auch der UdSSR demonstriert werden. Auch Angehörige der Dienststelle Blank nahmen als Beobachter an den Übungen teil 2 . Die ungewöhnliche Öffentlichkeit dieser Übung rückte das Schicksal der Bundesrepublik im Falle einer nuklearen Auseinandersetzung in den Mittelpunkt einer ersten öffentlichen militärstrategischen Debatte. Unter dem Eindruck von 1,7 Millionen Toten und 3,5 Millionen Verletzter, die eine Verteidigung unter diesen Bedingungen in wenigen Tagen gefordert hätte, war die Erregung verständlich. Zumal man sich diesen Aspekt des Bündnisbeitritts bisher kaum bewußt gemacht hatte. I m Verein mit Militärexperten der Presse forderte die SPD nun die Aufgabe der als sinnlos und gefährlich angesehenen Wiederbewaffnung und die Verwendung der Mittel für den Schutz der Zivilbevölkerung. M i t Hohn und Spott hielt man dem Bundeskanzler sein Schlachtfeldzitat vom Februar vor. Die mehr emotionellen als logischen Argumente boten natürlich keine Lösung und entsprachen nicht den Vertragsverpflichtungen, die die Bundesrepublik übernommen hatte. Sie setzten die Bundesregierung in der Öffentlichkeit aber in ein außerordentlich schlechtes Licht. Rückständigkeit und Geheimniskrämerei wurden ihr zusätzlich vorgeworfen. Die Rechtfertigungsversuche der Regierung und ihrer Militärs waren zum Teil wenig überzeugend. A m gefährlichsten schien es, den Kritikern Inkompetenz vorzuwerfen und die Gefahr und Folgen eines Nuklearkrieges zu bagatellisieren. Blank erklärte als Antwort auf eine große Anfrage der SPD, das Manöver sei "fiktiv" gewesen und mit Atombomben würden nur militärische Ziele ange-

31

B A - M A , BW 2/4041, fol. 144 ff.

US-Truppen zum Schutz Europas notwendig, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 218 v. 13.11.1953, S. 1809 f.

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griffen . Den meisten Raum in der Argumentation nahmen allerdings Versuche ein, den konventionellen Streitkräftebeitrag der Bundesrepublik auch unter den neuen Bedingungen zu rechtfertigen. Die deutschen Streitkräfte wurden, so Heusinger vor dem Bundeskabinett, gebraucht, um nach dem nuklearen Schlagabtausch die Entscheidung zu bringen und den Krieg zu beenden, ein erträgliches Gleichgewicht zu den konventionellen Streitkräften der UdSSR herzustellen, einen konventionellen Überfall abzuwehren, die Luftwaffenbasen zu schützen, die Verteidigung zu führen, wenn aus Gründen der nuklearen Parität keine Nuklearwaffen von den USA und der UdSSR eingesetzt wurden, die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß ausreichend amerikanische Streitkräfte auf dem Kontinent bleiben. Zusammenfassend stellte er fest: "a) Deutsche Divisionen sollen und werden [die] Kriegsgefahr verhindern helfen.

in Mitteleuropa

b) I m Falle eines Krieges [ist] kein Überrollen mehr durch sowjetische Panzerwalze [möglich]. c) Der aktive Schutz der Bevölkerung durch die Streitkräfte ist der erste Teil der Verteidigungsmaßnahmen, der passive Schutz der Bevölkerung der zweite Teil , der ebenfalls ungemein wichtig ist Es kam darauf an, diese konventionellen Streitkräfte so zu organisieren und zu dislozieren, daß sie der frühzeitigen nuklearen Vernichtung entgingen. Dies schien möglich. Blank gab im Juli 1955 nun öffentlich zu, daß man "seit langem die Möglichkeit [habe], intensiv mitzuberaten... und in die Erfahrungen und Versuche Einblicke [habe], die von den anderen NATONationen gemacht" würden. Die deutschen militärischen Planungen trügen deshalb "modernsten Erkenntnisse in vollem Umfang Rechnung" . Die Risiken einer mit nuklearen Mitteln geführten Verteidigung traten in 32 33

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 125.

Speier, German Rearmament (Anm. 21), S. 186 f.; Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 127. 3 4 B A - M A , B W 9/2527-111, fol. 8 ff u. fol. 17. 35 Die Lehren aus den Manövern "Carte Blanche", in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 131 v. 19.7.1955, S. 1112 f.

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diesen Argumenten kaum zutage. Die Vorstellung eines konventionellen Krieges bestimmte offensichtlich diese Zusammenfassung. Der Bundesminister für besondere Aufgaben Strauß stand den Überlegungen der N A T O zur nuklearen Abschreckung näher, hielt allerdings wenig von der logischen Konsequenz, daß beim Versagen der Abschreckung die dann erforderliche Verteidigung mit nuklearen Mitteln geführt werden mußte. Er setzte ganz auf die abschreckende Wirkung der strategischen Nuklearwaffen und lehnte "den Gedanken eines Krieges mit taktischen Atomwaffen leidenschaftlich ab". Aus dieser Sicht waren konventionelle Streitkräfte nur noch eine "relative Größe". Strauß gestand so den USA sogar einen Abbau ihrer Landstreitkräfte "auf amerikanischem Boden" zu, denn ihr Beitrag zum Bündnis war die strategische Luftwaffe. Die deutschen Streitkräfte waren ein konventioneller Beitrag im Rahmen der Arbeitsteilung der N A T O . Sie sicherten der Bundesrepublik Mitsprache und Mitplanung. Nuklearen Gefechtsbedingungen angepaßt, hatten sie im Verteidigungsfall "dezentralisierte Basen" der Luftwaffe für eine "Anfangszeit" zu sichern, bis von diesen der strategische nukleare Gegenschlag erfolgt war 3 6 . Die N A T O selbst tat sich schwer, den rein konventionell geplanten Beitrag der Bundesrepublik mit der neuen Bündnisstrategie in Einklang zu bringen. Nachdem man sich einmal entschlossen hatte, die nukleare Abschrekkung und Verteidigung zu betonen, mußte die Herausstellung der starken konventionellen Streitkräfte der Bundesrepublik diese Position im Urteil der UdSSR möglicherweise wieder in Zweifel ziehen. Eine allzu deutliche Betonung der Nuklearstrategie entwertete den Beitrag der Bundesrepublik und brachte die Bundesregierung möglicherweise in innenpolitische Schwierigkeiten. General Gruenther versuchte, im Mai 1955 dieses Dilemma zu überwinden: Grundkonzeption der N A T O sei die Verhütung eines Krieges. I m Kriegsfall sei man gegenwärtig in der Lage, einen auf breiter Front angreifenden Aggressor [nuklear] zu vernichten, nicht aber, gewisse Gebiete vor einer Invasion zu schützen. Nach der Aufstellung der deutschen Streitkräfte sei man fähig, Westeuropa einschließlich der Bundesrepublik gegen einen auf breiter Front geführten Angriff zu verteidigen 37 . Wenn mit der Verteidigung unter Einschluß der deutschen Divisionen eine konventionelle Abwehr gemeint war, stellte Gruenther eine Revision der NATO-Strategie in Aussicht, zu der das Bündnis auch mit den deutschen Streitkräften kaum fähig war. Verschwieg er aber den trotz der deutschen Verbände immer noch notwendigen Einsatz taktischer Nuklearwaffen, so tat 36 Oberstes Ziel: Verhinderung eines Krieges, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 132 v. 20.7.1955, S. 1117 ff. 3 7 General Gruenther's Godesberger Rede, in: Wehrkunde, 4 (1955), S. 249 ff.

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er dies offensichtlich, um die Bundesregierung vor Schwierigkeiten zu bewahren. Daß öffentliche Verlautbarungen von NATO-Stellen nicht immer mit den internen Plänen übereinstimmen mußten, zeigte auch das Problem der ersten Verteidigungslinie. Während man öffentlich von der "Verteidigung nach vorn" oder "Vorwärtsstrategie" sprach, beabsichtigte man selbst, mit den deutschen Divisionen an Weser und Fulda zu verteidigen 38 . Die deutsche Seite verzichtete im zweiten Halbjahr 1955 ganz auf eine Beteiligung an der in der Allianz fortdauernden Strategie-Diskussion. Während einer zweitägigen Sitzung der NATO-Verteidigungsminister im Oktober 1955, bei der von allen NATO-Oberfehlshabern die neue Verteidigungsplanung vorgetragen wurde, hüllten sich Minister Blank, NATO-Botschafter Blankenhorn und Generalleutnant a.D. Heusinger in Schweigen. Andere NATO-Mitglieder sparten nicht mit kritischen Fragen. Die Zurückhaltung des jüngsten Bündnismitglieds hatte sicher ihre Berechtigung, aber so entwickelten sich grundsätzliche Dinge der Bündnisverteidigung zunächst ohne einen der Hauptbetroffenen weiter. Die deutsche Schweigsamkeit mochte auch andere Gründe haben. National hatte man mit der Vorbereitung der Aufstellung mehr als genug zu tun. Im Bündnis selbst war es nur mit viel Mühe gelungen, die angebotenen Personalstellen angemessen zu besetzen und damit überhaupt in allen Gremien präsent zu sein. Bessere Fortschritte erzielte man bei den Bemühungen, die aufzustellenden Streitkräfte dem Gefecht unter nuklearen Bedingungen anzupassen. Die Organisationsform der kleinen und beweglichen Divisionen wurde davon bestimmt. Die allgemeine Richtung der Bemühungen brachte Blank auf die Formel: "Die Folgerung aus der Atomsituation darf nicht lauten: Kleinere Heere, sondern viele kleine Verbände, nicht: Starke Verminderung, sondern Auflockerung und Beweglichkeit" 39 . M i t den "Grundsätzen der Truppenführung" erschienen im März 1956 gleichzeitig die "Führungsgrundsätze des Heeres im Atomkrieg". Diese Trennung symbolisierte deutlich, daß man sich im Führungsdenken nicht frühzeitig festlegen wollte. Im Gegensatz zur Bündnisplanung, die die Nuklearwaffen zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen gemacht hatte, hielten sie die deutschen Planer für "zusätzliche Kampfmittel", die allein nichts entscheiden konnten und auch die herkömmlichen Führungsgrundsätze nicht außer Kraft

το 39 B A - M A , BW 9/2884, fol. 11. Nicht kleinere Heere- viele kleine Verbände, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 84 v. 5.5.1956, S. 57 ff.

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setzten . I m Zuge der Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht entwickelte die Bundesregierung in der ersten Hälfte des Jahres 1956 eine eigene militärstrategische Konzeption. Sie diente zwar vor allem der Begründung einer Wehrpflichtarmee mit 500.000 Mann, aber sie sollte auch die Gefahr eines Nuklearkrieges auf deutschem Boden bannen. Diese Überlegungen trug der ehemalige Feldmarschall von Manstein im Verteidigungsausschuß vor: "Es ist gerade die Schwäche der freien Welt an herkömmlichen Waffen, die zur Zeit die Gefahr eines Atomkrieges bedingt. Wenn die Sowjetunion heute ein Gleichgewicht auf dem Gebiet der atomaren Rüstung anstrebt, so muß die freie Welt dies auf dem Gebiet der herkömmlichen Streitkräfte tun, wenn sie dem Zwang, von sich aus zu den Atomwaffen zu greifen, entgehen will. Ein solches Gleichgewicht aber wird ... ohne angemessenen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik... nicht zu erreichen sein" 41 . Blank qualifizierte das anzustrebende Gleichgewicht als ein "für die Verteidigung tragbares" 42 . M i t dieser Zielsetzung versuchte man nun, die offizielle NATO-Strategie, die inzwischen allgemein unter der Bezeichnung "Schild und Schwert" bekannt geworden war, zu interpretieren. Das "Schwert" der NATO, d.h. die "Luft- und Atomwaffe", sollte im "Zentralgebiet" der gegnerischen "Hauptmilitärmacht", d.h. der UdSSR, eingesetzt werden. Der "Schild", d.h. die "konventionelle Waffe", sollte die Sicherung des deutschen Heimatgebietes übernehmen 43 . Das deutsche militärstrategische Konzept gründete sich damit auf die Herstellung eines angemessenen konventionellen Gleichgewichts in Europa. Es hatte eine vorwiegend konventionelle "Vorwärtsverteidigung" unter weitgehender Ausklammerung der taktischen Nuklearwaffen zum Ziel. Nuklearmittel sollten zur Abschreckung dienen oder allenfalls strategisch auf dem Gebiet der UdSSR eingesetzt werden. Welche Überzeugungsarbeit im Bündnis zu leisten war, zeigten gleichzeitige Äußerungen des SACEUR, General Gruenther: "Unsere heutige Konzeption dreht sich um die maximale Ausnutzung unserer neuen Waffen - besonders unserer Atomwaffen. In gewisser Weise kann man fast sagen, daß unsere Landstreitkräfte diese Waffen unterstützen. ...Wir versuchen, einen Boden-Luft-Schild zu schaffen, der stark genug ist, um einen Feind zu 40 W. v. Scheven, Die Entstehungsgeschichte der Heeresdienstvorschriften "Truppenführung" ( T F ) von 1933 bis heute, in: Truppenpraxis, 1974, S. 353. 4 1 R. v. Manstein/T. Fuchs, Manstein. Soldat im 20. Jahrhundert. Militärisch-politische Nachlese, München 1981, S. 353. 42 43 Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 129. Allgemeine Wehrpflicht oder nicht?, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes,

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Konzentrationen zu zwingen. Wenn er sich konzentriert, wird er für Atomwaffen besonders verwundbar". Wo diese feindlichen Truppenkonzentrationen stattfinden würden, lag auf der Hand, wenn die N A T O beabsichtigte, mit den deutschen Truppen an Weser und Fulda zu verteidigen. Wozu die deutschen Divisionen gebraucht wurden, erläuterte Gruenther ebenfalls: "Der deutsche Beitrag bedeutet tatsächlich einen ganz erheblichen Unterschied, denn unter den gegenwärtigen Bedingungen ist unser Luft-Boden-Schild nicht stark genug, um den gesamten Vorteil unserer Atomwaffen auszunutzen" 44 . Der Schild wurde auch immer dünner. Frankreich zog Truppen nach Algerien ab. Großbritannien verminderte die Zahl der aktiven Verbände, weil seine Nuklearrüstung bezahlt werden mußte. Von 21 sank die Zahl der präsenten Divisionen im Abschnitt Mitteleuropa über 18 bis 16 herab. Von dem nach Gruenther "absolut notwendigen Minimum" von 30 war man weit entfernt 45 . So mußte es neben intellektueller Überzeugung für die Deutschen darauf ankommen, ihre Divisionen möglichst schnell aufzustellen, um eine Änderung der NATO-Strategie in dem angestrebten Sinn zu erreichen. Amerikanische Absichten schließlich zwangen die Bundesregierung, für ihre militärstrategischen Vorstellungen in der N A T O aktiv zu werden. Aus Zeitungsberichten erfuhren die Partner der USA im Juli 1956, daß der Vorsitzende der amerikanischen Stabschefs Admiral Radford die Streitkräfte der USA bis 1960 um 800.000 Mann verringern wolle. Die amerikanischen Heeresverbände in Europa sollten auf eine mehr oder minder "symbolische" Größe reduziert werden. Die amerikanische Geringschätzung konventioneller Streitkräfte ließ auch Pressemeldungen glaubhaft klingen, daß die N A T O nach Meinimg der amerikanischen Administration überhaupt weniger Bodentruppen und deshalb auch keine 12 deutschen Divisionen benötige . Den Zeitimgsberichten folgte das Dementi auf dem Fuß. Admiral Radford versicherte, daß keine einseitigen Schritte unternommen würden. Den Bündnismitgliedern wurde mitgeteilt, daß nichts ohne Konsultation in der N A T O geschehen werde 4 7 . Trotzdem war besonders die Bundesrepublik alarmiert. Durch Abzug amerikanischer Truppen und die damit verbundene Verringerung der NATO-Schildstreitkräfte wäre dem Bündnis fast jede konNr. 104 v. 9.6.1956, S. 1015 ff. 44 A. M . Gruenther, N A T O - das Instrument des Friedens, in: Schriftenreihe zur Wehrpolitik, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise, Heft Nr. 19, Oktober 1956, S. 6 (Pressekonferenz General Gruenthers vor dem Wirtschaftspolitischen Club in Bonn am 9. Mai 45 1956). 4 6

47

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 120 u. 130. Ebd., S. 131.

Speier, German Rearmament (Anm. 21), S. 14; Der "Radford-Plan", in: Wehrkunde, 5 (1956), S. 409 f.

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ventionelle Verteidigungsoption verloren gegangen. Der Bundeskanzler sprach jetzt von einer "prinzipiellen Umstellung in der militär-strategischen Planung", die er für außerordentlich bedenklich hielt, "weil bei einseitiger Betonung der Entwicklung nuklearer Waffen und gleichzeitiger Zurückstellung der konventionellen Waffen... die Gefahr eines Atomkrieges im Falle eines Konfliktes sich erhöhen würde" 48 . I m Grundsatz wurden die amerikanischen Absichten durch die Bündnisstrategie mit ihrem Schwergewicht bei den Nuklearwaffen gedeckt. Die Bundesrepublik entschloß sich trotzdem nun, gegen beide auf der Grundlage ihrer militärstrategischen Überlegungen anzugehen. Der deutsche Vertreter im Ausschuß der militärischen Repräsentanten in Washington mußte eine "Demarche" vortragen, daß nach deutscher Auffassung "... jede beabsichtigte Änderung der strategischen Planung zunächst im Military Committee... zu beraten und sodann dem NATO-Rat vorzuschlagen sei". Generalleutnant Heusinger flog sofort nach Washington und legte die deutschen Bedenken in einer ganztägigen Sondersitzung der Ständigen Gruppe dar. Heusinger plädierte für die Beibehaltung einer starken konventionellen Streitkräftekomponente und wandte sich damit gegen die zunehmende Abstützung der N A T O auf die Nuklearwaffen. Zwei Gründe, die dafür sprachen, hob er besonders hervor: die Gefahr eines vom Osten provozierten lokalen Bürgerkrieges in Deutschland und eines konventionellen Überraschungsangriffes unter der atomaren Pattsituation zwischen den beiden Supermächten. I n beiden Fällen schien der Rückgriff auf Nuklearmittel nicht angebracht. Die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte war in seinen Augen und, wie er ausdrücklich versicherte, in denen des Bundeskanzlers ein "schwerer Schlag" gegen die NATO. Es sei dies kein deutsche Problem sondern eines der N A T O und der USA. I n einer Unterredung mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Wilson machte der deutsche Botschafter den Standpunkt der Bundesrepublik noch einmal ganz klar: "Man könne die Bevölkerung der freien Länder Europas nur dann dazu bringen, Verteidigungsanstrengungen zu machen, wenn man die öffentliche Meinung davon überzeuge, daß diese Anstrengungen sinnvoll sind, und zumindest eine Chance bieten, Europa vor der völligen Vernichtung zu bewahren.... Soweit es Europa angehe, müsse man sich deshalb stets auf beide [nukleare und konventionelle] Arten der Abwehr einrichten" 49 . Die deutsche Seite betrachtete ihre Intervention als "erfolgreich" und ver48

Militärstrategische Umstellung?, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 135 v. 24.7.1956, S. 1336.

4

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 132.

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suchte nun, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Heusinger erklärte, es seien in Mitteleuropa nicht 30, sondern 36 Divisionen erforderlich 50 . Der Bundeskanzler betonte erneut, daß er eine "Verlagerung des Schwergewichts zugunsten der Atomwaffen für verfehlt" halte 5 1 . Blank verfocht noch einmal seine Version der "Schwert- und Schild"-Strategie. Das nukleare "Schwert" diente der Abschreckung und im Krieg "einem kraftvollen Gegenschlag" auf den Angreifer. Die Landstreitkräfte des "Schildes auf dem europäischen Kontinent" schützten das Territorium der Bundesrepublik vor dem raschen Zugriff feindlicher Streitkräfte 52 . Von taktischen Nuklearwaffen war nicht die Rede. Wohl gestand die amerikanische Regierung im November 1956 endgültig zu, daß keine Truppen aus Europa abgezogen würden, aber sie stellte nun ihrerseits Bedingungen. Ziemlich verärgert hatte der amerikanische Außenminister Dulles schon im Juli 1956 auf die deutsche Initiative reagiert. Er forderte, von den USA nicht zu viel zu verlangen, sondern sich lieber selbst mehr anzustrengen. Das ging vor allem an die Adresse der Bundesrepublik, die nun endlich "mindestens 500.000 Mann" aufstellen und die 18-Monate-Wehrpflicht einführen sollte. Völlig unbeeindruckt zeigte sich der SACEUR, General Gruenther. Nach seiner Meinung gab es keine kleinen Kriege. Vielmehr mußte man zur Abschreckung "den Sowjets immer wieder klar machen, daß jeder Versuch der Entfesselung eines solchen... zwangsläufig zum großen Krieg und damit zum Einsatz der Atomwaffen führen" würde. So hatte die Auseinandersetzung um eine Abmilderung der ganz auf Nuklearwaffen aufgebauten Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der N A T O erst begonnen. Wenn die Bundesrepublik Erfolg haben wollte und diese Strategie in Richtung auf eine gleichgewichtige nukleare und konventionelle Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit entwickeln wollte, mußte sie vor allen Dingen die der N A T O gegenüber eingegangenen Verpflichtungen einhalten und pünktlich erfüllen. Hierzu sah sich die Bundesrepublik im Laufe des Jahres 1956 kaum noch in der Lage, denn die Aufstellung der Streitkräfte war in ernste Schwierigkeiten geraten. Es zeigte sich immer deutlicher, daß man die 1954 übernommenen Verpflichtungen weder der Zahl noch der Zeit nach einhalten konnte. Die entsprechenden Bestimmungen der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954, die im Protokoll Nr. I I über die Streitkräfte der Westeuropäischen

5 1 Lohnt sich der Aufbau der Bundeswehr noch?, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 155 v. 21.8.1956, S. 1491. 5 2 Keine Revolution in Führung und Organisation der Streitkräfte, in: Bulletin des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 180 v. 25.9.1956, S. 1717; s.a.: Bundesverteidigungsminister Theodor Blank über Probleme der Umrüstung, in: Wehrkunde, 5 (1956), S. 511 f.

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Union zusammengefaßt waren, sahen im einzelnen folgendes vor: Land- und Luftstreitkräfte waren nach den Abmachungen im Militärischen Sonderabkommen zum EVG-Vertrag vom 27. Mai 1952 aufzustellen. Die dort festgelegten Zahlen galten als Höchststärken 53 . Das Militärische Sonderabkommen nun nannte überhaupt keine Gesamtzahl, sondern verpflichtete die Bundesrepublik lediglich, 12 Divisionen und 1326 Flugzeuge zur Verfügung zu stellen. Hieraus konnte eine personelle Stärke von 395.000 Mann interpoliert werden. Die Bundesregierung selbst hatte der N A T O im September 1952 401.000 gemeldet 54 . Die Marinestreitkräfte der Bundesrepublik sollten sich zwar im Rahmen des Sonderabkommens halten. Hier waren 186 Schiffe und 54 Flugzeuge vorgesehen mit einer Personalstärke von je 10.000 aktiven und 10.000 Reservesoldaten. Der N A T O waren 1952 17.500 angegeben worden, weil man 6.000 Reservesoldaten zu den aktiven genommen hatte. Gleichzeitig aber wurde in den Pariser Verträgen bestimmt, daß "die Marinestreitkräfte der Bundesrepublik Deutschland... aus den Schiffen und Verbänden [bestehen sollten], die zur Erfüllung der ihr von der Organisation des Nordatlantikvertrages zugewiesenen Verteidigungsaufgaben erforderlich sind" 55 . Die Stärke der Streitkräfte für die bodenständige Verteidigung und der Polizei sollte durch ein Abkommen innerhalb der W E U festgelegt werden. I m Militärischen Sonderabkommen fehlten diese Kräfte völlig. In ihrer Antwort auf Fragen der N A T O hatte die Bundesregierung 1952 hier 42.000 Mann vorgesehen 56 . Die verklausulierten Angaben in den Pariser Verträgen waren aus Gründen der Geheimhaltung gemacht worden, denn auch das Militärische Sonderabkommen war geheim. Intern bemühte man sich in der W E U und in der N A T O um mehr Genauigkeit. Die 12 Divisionen wurden mit einem Faktor 41.500 multipliziert. Das ergab für Land- und Luftstreitkräfte 498.000 Mann. Marine und territoriale Verteidigimg blieben unberücksichtigt. Die Bundesrepublik selbst hatte der N A T O 1952 eine Gesamtzahl von 478.000 für alle Teilstreitkräfte und die bodenständige Verteidigung gemeldet. Eine Hochrechnung des Militärischen Sonderabkommens ergab ca. 425.000 Mann ohne territoriale Verteidigung 57 .

5 3

Europa-Archiv, 9 (1954), S. 7129.

K. Fett, Die Grundlagen der militärischen Planung, in: H. Buchheim u.a. (Anm. 19), S. 182; B A - M A , B W 9/1311, PI. Bonn/W/G3/Org., Aktennotiz , 11.9.1952, S. 1. 5 5 Fett, Grundlagen (Anm. 54), S. 182; BA-MA, BW 9/1311, Aktennotiz (Anm. 54), S. 2; E A (Anm. 53), S. 7129. 5 6

E A (Anm. 53), S. 7129; BA-MA, BW 9/1311, Aktennotiz (Anm. 54), S. 2

5 7

B A - M A , BW 9/51, P S G / l - D / 1 0 (Final), Paris Steering Group on the Results of the

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Alles in allem führten die Zahlenbeispiele immer zu einer Höchststärke um 500.000. Nur die von W E U und N A T O intern festgelegte Zahl erlaubte, wenn man Marine und bodenständige Streitkräfte hinzuzählte, eine höhere Gesamtstärke. I m Grundsatz bestand keine Verpflichtung, eine dieser Zahlen zu erreichen 58 . Organisation und Struktur des deutschen Verteidigungsbeitrages waren im Militärprotokoll und im Militärischen Sonderabkommen zum EVG-Vertrag bis in alle Einzelheiten festgelegt gewesen, z.B. Zahl und A r t der Divisionen, Flugzeuge und Schiffe, die Wehrpflicht und die Dauer des Grundwehrdienstes mit mindestens 18 Monaten. A l l dies galt nach den Pariser Verträgen als Rahmen, durfte aber bei gleichwertiger Kampfkraft und, um den Bedürfnissen der N A T O zu entsprechen, "auf den neuesten Stand gebracht und angepaßt werden" 59 . Eingehend regelte eine Entschließung des NATORates im Oktober 1954 die Unterstellung der künftigen deutschen Streitkräfte unter die NATO-Kommandobehörden. Gleichzeitig wurden die Befugnisse des SACEUR erweitert. Alle im NATO-Bereich Europa stationierten Streitkräfte waren dem Bündnis zu unterstellen. Ausnahmen konnte nur der NATO-Rat genehmigen. Von diesen Bestimmungen waren alle deutschen Verbände betroffen. Die Integrationsebene wurde gegenüber dem EVG-Vertrag vom Korps zur Heeresgruppe angehoben, damit konnten deutsche Korps gebildet werden. Die erweiterten Kompetenzen des SACEUR umfaßten die mehr oder minder intensive Mitsprache bei der Dislozierung, der Versorgung und der Ausbildung der unterstellten Truppen. Eingeschlossen war ein umfangreiches Informations- und Inspektionsrecht. Vorausgesetzt wurde jeweils nationale Zustimmung. Das Ziel dieser Bestimmungen war "die größtmögliche Wirksamkeit der gemeinsamen Verteidigung". Sie galten für alle Bündnismitglieder, die in Europa Truppen unterhielten. Trotzdem konnte der besondere Bezug auf die künftigen deutschen Streitkräfte nicht übersehen werden. Denn nur sie waren allein auf dem europäischen Kontintent stationiert, während andere NATOStaaten wesentliche Streitkräftekontingente in oder für Übersee unter nationaler Verantwortung bereithalten konnten. Ein Rest von Mißtrauen schien sichtbar, wenn im amerikanischen Urteil die Machtbefugnisse des NATO-Oberkommandierenden in Europa auch deshalb erweitert werden sollten, "um einen selbständigen deutschen Truppenaufmarsch zu verLondon Conference, 15.10.1954, S. 2; BW 9/1311, Aktennotiz (Anm. 54), S. 2; Fett, Grundlagen (Anm. 54), S. 182. 58 D. Walz, Die Bundeswehr und die 500.000-Mann-Frage, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht, 1984, S. 32. 59 Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1952, S. 1 ff. und Zusatzprotokoll zu dem Vertrag über... Militärprotokoll, S. 60 ff.; E A (Anm. 53), S. 7129.

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hindern" 60 . Das Militärische Sonderabkommen regelte auch genau den zeitlichen Rahmen für die Aufstellung der deutschen Streitkräfte. In zwei, zwei-einhalb und drei Jahren sollten die Heeresverbände, Marineeinheiten und Luftwaffengeschwader aufgestellt sein. A u f diese Bestimmung nahm das Streitkräfteprotokoll der W E U keinen Bezug. Lediglich der dreijährige Turnus der Streitkräfteplanung in der N A T O konnte ein Hinweis darauf sein, in welchen zeitlichen Kontext die deutschen Aufstellungsvorhaben einzuordnen waren. Zwischen den Konferenzen in London und Paris hatten Militärexperten der Dienststelle Blank in verschiedenen internationalen Arbeitsgruppen unter Aufsicht der N A T O an der Formulierung dieser Bestimmungen mitgewirkt. Sie waren anschließend mit dem Ergebnis zufrieden. "Das Notwendige und Wünschenswerte" schien erreicht zu sein 61 . Nach dem Urteil des Bundestagsausschusses für Europäische Sicherheit war das, was nun aufzustellen war, eine "Nationalarmee", die Bestandteil einer "Koalitionsarmee" innerhalb der N A T O werden sollte. Wenn auch wegen der militärischen Integration an der klassischen Form dieser Begrifflichkeit Abstriche zu machen waren, galt doch der Grundsatz, daß "nationale Kompetenz" überall dort griff, wo kein vertraglich festgemachter Anspruch von N A T O oder W E U vorlag. Dies war im Frieden um so mehr der Fall, als die militärische Integration eigentlich erst im Verteidigungsfall recht zu Geltung kam 6 2 . Das Ergebnis konnte der deutschen Seite nicht unangenehm sein, denn schon im Februar 1951 hatte Blank seinen engsten Mitarbeitern anvertraut, "wirkliches Ziel der Bundesregierung sei weniger eine EuropaArmee als ein deutsches Kontingent im Rahmen der Atlantikorganisation. Darüber hinaus gehöre eine bewaffnete Macht nun einmal zu jedem souveränen Staat als nicht wegzuleugnender Bestandteil" 63 . Die Frage war, wie dieser nach dem Scheitern der E V G wieder gewonnene Freiraum im Einklang mit den NATO-Verpflichtungen genutzt wurde. Nach den Vorstellungen der Dienststelle Blank war die Aufstellung der Streitkräfte ein drei-phasiger Vorgang. "Reiner", d.h. papiermäßiger, "Planung" sollten "praktische Vorarbeiten" folgen und dann die "eigentliche Aufstellung" der Streitkräfte beginnen.

6 0 E A (Anm. 53), S. 7136 ff.; D. D. Eisenhower, Die Jahre im Weissen Haus 195S-1956, Düsseldorf 1964, S. 446. 6 1

62

B A - M A , BW 9/3365, fol. 146.

K. Ipsen: Rechtsgrundlagen und Institutionalisierung der Atlantisch-Westeuropäischen Verteidigung, Hamburg 1967, S. 51 ff. U. de Maiziere, Stationen eines Soldatenlebens, hrsg. v. Generalleutnant a.D. L. Domröse, Herford 1982, S. 164 f.

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Die "reine Planung" dauerte im Grunde schon seit 1950 an. Sie mußte nun auf der Grundlage der Pariser Verträge verbessert werden. Das geschah noch bis zum Jahresende 1955 und schloß langwierige Verhandlungen mit den Bündnissen ein, ehe W E U und N A T O diesen Planungen zustimmten. In der Frage der Gesamtstärke blieben die deutschen Planungen zunächst in dem vorgesehenen Rahmen. Der N A T O wurden im November 1954 440.000 Mann ohne bodenständige Verteidigung avisiert. Der Kanzler nahm auf seine Amerikareise im Juni 1955 die Zahl 427.000 m i t 6 4 . Erst im Rahmen der NATO-Beratungen und im Zusammenhang mit Überlegungen zur Stärke der territorialen Verteidigung ergab sich im September 1955 plötzlich die Gesamtzahl von 605.000. Die Bundesregierung hatte offensichtlich, von 498.000 Mann für Land- und Luftstreitkräfte ausgehend, Marine sowie Heimatverteidigung dazu gezählt. Die Teilstreitkräfte nutzten die ihnen jetzt zufallende organisatorische Freiheit, um "neue und eigene Konzepte zur Sprache zu bringen" 65 . Ein allgemeiner Trend zu Lösungen, die gegenüber den EVG-Vereinbarungen als waffentechnisch gewichtiger erschienen, wurde sichtbar. Das Heere wünschte mehr Panzerdivisionen für die bewegliche Verteidigimg. Gleichzeitige Bemühungen der NATO, eine Einheitsdivision zu schaffen, wurden eher skeptisch betrachtet. Die Luftwaffe gedachte, die Jagdwaffe zur Luftverteidigung zu stärken. Die Marine wollte zur Kampfführung in der Ostsee und zum Geleitschutz im Nordatlantik Zerstörer. Bereits im November 1954 entschied Blank für eine Aufstellungszeit von drei Jahren 66 . Nicht alle Vorschläge der deutschen Militärplaner fanden die Zustimmung der W E U und der NATO. Man akzeptierte die Gesamtzahl von 605.000, schränkte aber in der Organisation der Teilstreitkräfte die deutschen Wünsche ein. Von den sechs Panzerdivisionen wurden zwei zurückgestellt. A u f drei zusätzliche Panzerbrigaden mußte auf Wunsch Frankreichs ganz verzichtet werden. Die Befürchtung Heusingers, man könne diese deutsche Forderung als Aufbau einer "Offensiv-Armee" interpretieren, schien auch in NATO-Kreisen vorgeherrscht zu haben 67 . Die Jagdgeschwader der Luftwaffe wurden zugunsten der Jagdbomber und Aufklärer gekürzt. Der NATOLuftwaffenbefehlshaber in Europa, General Norstad, verwies auf die defensiven Luftverteidigungsaufgaben, für die sich langsam eine Lösung mit

6 4

BA-MA, BW 1/16105, fol. 52 ff.

H. Gerlach, Aus den Anfängen der Bundesmarine. Vortrag vor dem 11. und 12. Admiralstabsoffizierlehrgang, 1971, S. 19. 6 6

67

B A - M A , BW 9/2527-5, fol. 142. Noack, Entscheidungen (Anm. 19), S. 152.

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fA Raketen abzeichnete . Die Zerstörer der Marine wurden in einer A r t Wortkosmetik in "größere Schiffe" umbenannt. A n Geleitschutzaufgaben im Nordatlantik sollte die Bundesrepublik nach Einspruch Großbritanniens nicht beteiligt werden 69 . Die so von den Bündnispartnern mit Einschränkungen genehmigte Planung galt es, nun zu verwirklichen. Hier nun ergaben sich weit mehr Schwierigkeiten im nationalen Bereich als zuvor in der Allianz. Während der "praktischen Vorarbeiten" waren folgende Vorhaben geplant: "1. Schaffung der gesetzlichen Grundlagen, 2. Bereitstellung der finanziellen Mittel, 3. Bereitstellung des vor und zum Beginn der ersten Lehrgänge erforderlichen Personals und Materials, 4. Einleitung von Baumaßnahmen, 5. Anlauf der Rüstungsvorbereitungen" 70. Als Zeit schienen dafür 6 bis 18 Monate erforderlich. Seit 1953 kämpften die Militärplaner um einen weit vor die eigentliche Aufstellung vorgezogenen Beginn dieser Vorbereitungen. Dazu fand sich die politische Führung und vor allem Bundeskanzler Adenauer aus außenpolitischen Gründen nicht bereit. Das Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. M a i 1955 wurde schließlich als Termin für den Beginn der Vorbereitungsphase bestimmt 7 1 . Da fast gleichzeitig den USA und der N A T O der 1. Januar 1956 als Aufstellungsbeginn mitgeteilt wurde, ergab sich die kürzestmögliche Vorbereitungszeit von 6 Monaten. Es ist hier nicht der Raum, all die Friktionen zu schildern, die dazu führten, daß dieser ohnehin kurze Zeitraum nur schlecht genutzt werden konnte. Zwei Daten mögen das Ergebnis charakterisieren. Erst 1 1 / 2 Monate vor Aufstellungsbeginn konnten am 12. November 1955 die ersten Soldaten verpflichtet und neu eingestellt werden. Die NATO-Kommandostäbe waren daher bei aller äußerlich demonstrierten freundlichen Höflichkeit darüber verärgert, daß die ersten deutschen Soldaten für integrierte Stabsverwendungen Ende Juli 1955 mit dem Status "außer Diensten" und in Zivil eintrafen. Zwei Tage vor Aufstellungsbeginn wurde am 30. Dezember 1955 das 6 8 6 9

7Π 71

B A - M A , BW 9/2527-6, fol. 28 und BW 9/2882, fol. 70 f. Gerlach, Aus den Anfängen (Anm. 65), S. 29. B A - M A , BW 1/16105, fol. 61.

A. Heusinger, Die Jahre der Vorbereitung 1950-1955, in: Truppenpraxis 1965, S. 825; U. de Maiziére, Probleme bei Planung und Vorbereitung der Aufstellung des deutschen militärischen Verteidigungsbeitrages, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau, 1981, S. 115 f.

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deutsch-amerikanische Verteidigungshilfsabkommen ratifiziert, ohne das die im Januar 1956 einrückende Soldaten keine Waffen gehabt hätten. Aber im Grunde war die "Krise" der deutschen Streitkräfteaufstellung weit vor ihrem Beginn vorhergesehen worden. Vertreter des Bundesministeriums der Finanzen machten schon im Januar 1955 den Vorschlag, "in den Verhandlungen mit den Amerikanern... und mit dem Bundestag... evtl. die Unmöglichkeit einer Aufstellung der Streitkräfte in 3 Jahren, aus finanziellen Gründen evident zu machen". Zumindest die Amerikaner benötigten solche Informationen nicht. Im August 1955 äußerte die amerikanische Botschaft bei den Verhandlungen um das Verteidigungshilfeabkommen die Bitte, "einen Plan vorzulegen, der die bestehenden Schwierigkeiten berücksichtigte". Die Zeit von drei Jahren für die Aufstellung war in ihrer Sicht ein finanzielles, wirtschaftliches und organisatorisches Problem. Die Haltung der verantwortlichen Politiker war angesichts dieser Probleme zwiespältig und der Vorbereitung der Aufstellung nicht förderlich. Der Bundeskanzler verlangte schon im Januar 1955 die vorgezogene Aufstellung von drei Divisionen aus freiwilligen Soldaten 72 . U m die Vorbereitungsarbeiten zu beschleunigen, wurde die gesamte in der Dienststelle Blank vorbereitete Gesetzgebung beiseite genommen und durch das unzulänglich formulierte Freiwilligengesetz ersetzt. Das Ziel war, schnell 6.000 Soldaten für dringend notwendige Vorbereitungsmaßnahmen zu bekommen. A l l dies geschah in der Absicht, rasch sichtbare militärische Präsenz zu schaffen. Beeindruckt werden sollten damit die Verbündeten. Gleichzeitig wollte man einer Tendenz der internationalen Politik zuvorkommen, die in Richtung einer Entspannung zwischen Ost und West zu laufen schien, und in Zukunft die Aufstellung deutscher Streitkräfte erschweren würde. Statt Beschleunigung wurde allerdings Verwirrung bei den militärischen Planern und Widerstand bei den parlamentarischen Gremien und den Bundesländern, damit Verzögerung insgesamt erzeugt. Der Absicht des Bundeskanzlers genau widersprechend mußte in das Freiwilligengesetz der Passus eingefügt werden, daß die einzustellenden Soldaten "nicht zu militärischen Verbänden zusammengefaßt" werden durften 73 . Dem Druck des Bundeskanzlers auf die militärische Planung entsprach keineswegs sein Durchsetzungsvermögen im innenpolitischen Raum. Insgesamt zeigte sein Verhalten, dem sich der neue Minister Blank nicht widersetzen konnte, "daß der Kanzler die Streitkräfte primär als politisches Instrument begriff und von militär-

72 73

Noack, Entscheidungen (Anm. 19), S. 158.

Gesetz über die vorläufige Rechtsstellung der Freiwilligen in den Streitkräften, § 1,2., in: Bundesgesetzblatt 1955, Teil I, S. 449.

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organisatorischen Erfordernissen keine rechte Ahnung hatte" 74 . Den zunehmenden Schwierigkeiten noch vor Beginn der Aufstellung versuchte man mit einer Doppelstrategie zu begegnen. Gegenüber der Öffentlichkeit und den Verbündeten wurde versucht, den Eindruck aufrechtzuerhalten, daß alles nach Plan ging. Nach innen begann man, die ersten Notmaßnahmen einzuleiten. Aus "nationaler Priorität" wurde im November 1955 beschlossen, den Bundesgrenzschutz ganz in die neuen Streitkräfte zu überführen. Blank und der Innenminister hatten noch kurz zuvor eine Übernahme bzw. Abgabe strikt abgelehnt. Die "nationale Priorität" hatte sich offenbar aus dem wachsenden Mißtrauen und dem zunehmenden Druck von Seiten der USA und der N A T O ergeben. Unter diesen nicht eben günstigen Voraussetzungen begann im Januar 1956 die Aufstellung der neuen deutschen Streitkräfte mit Lehrtruppen des Heeres, der Luftwaffe und Marine. A m Ende des Jahres sollten 96.000 Mann unter Waffen stehen, 1958 die gesamte Aufstellung abgeschlossen sein. Über Truppenschulen führte beim Heer der Weg zu den ersten Verbänden. Durch die Übernahme von Bundesgrenzschutzbeamten konnten im Juli 1956 drei Divisionskader aufgestellt werden 75 . Die Luftwaffe hatte von Anfang an mit personellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Der größte Teil der Flugzeugführer der ehemaligen Luftwaffe konnte für moderne Düsenflugzeuge nicht wiederverwendet werden. Trotz großzügiger Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe dauerte die Ausbildung neuer Piloten lange 76 . Verhältnismäßig gute Startbedingungen fand die Marine vor. Durch die geschlossene Übernahme des Seegrenzschutzes und der "Labour Service Unit B", einem deutschen Minenräumverband, der bisher im Dienst der Amerikaner gestanden hatte, war ab 1.7.1956 der Kern einer kleinen Ausbildungsflotte vorhanden. Auch die so wichtige sichtbare Präsenz deutscher Seestreitkräfte war damit gegeben 77 . Trotz des erfreulichen Starts waren die sich häufenden Schwierigkeiten nicht zu übersehen. I n Konkurrenz mit der aufblühenden Wirtschaft gelang es nicht, die benötigten Freiwilligen mit den gewünschten Qualifikationen zeitgerecht einzustellen. Nur die Hälfte der BGS-Beamten trat in die neuen 74 75

Schwarz, Ara Adenauer (Anm. 6), S. 267.

J. Bennecke, Von Andernach bis heute. Zehn Jahre Aufbau des Heeres, in: Truppenpraxis 76 1965, S. 885. J. Steinhoff, Aufbau einer Taktischen Luftwaffe im Rahmen der N A T O , in: Truppenpraxis 77 1965, S. 910. F. Poske, Der Seegrenzschutz 1951-1956. Erinnerung. Bericht. Dokumentation. München 1982; A. v. Blanc, Der Bundesgrenzschutz - See und seine Eingliederung in die Marine, in: Truppenpraxis 1965, S. 928; K. Peter, Labour Service Unit (LSU) (B) und (C), in: Truppenpraxis 1965, S. 932.

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Streitkräfte ein. I m Kompetenzgewirr zwischen Bund und Ländern stockte der Aufbau der Infrastruktur für die neuen Streitkräfte bald völlig. Die Einstellung neuer Soldaten mußte wegen fehlender Unterkünfte vorübergehend gestoppt werden 78 . So lange wie irgendmöglich versuchten die Verantwortlichen, diese Lage vor der Öffentlichkeit und den Bündnispartnern zu verschleiern. Während im März 1956 intern die 1955 der N A T O mitgeteilten Zahlen reduziert wurden, deutete man der Allianz diesen Sachverhalt noch im Mai nur sehr vorsichtig an 7 9 . Zunehmend geriet die politische Führung der Bundesrepublik damit unter Entschluß- und Handlungszwang gegenüber dem Bündnis; dies nicht nur in der Frage des Zeitplans und der Gesamtstärke, sondern auch mit dem wichtigen Problem der Grundwehrdienstdauer, die innen- und parteipolitisch immer umstrittener wurde. Während der von der Bundesrepublik in der N A T O ausgelösten Diskussion um den "Radford-Plan" mußten die Schwierigkeiten bei der Aufstellung weiter im Hintergrund gehalten werden. Kurz nach ihrem für die Bundesregierung durchaus befriedigenden Ausgang aber mußte nun gehandelt werden. Zunächst entschied der Bundeskanzler im September 1956 für einen Grundwehrdienst von 12 Monaten, obwohl die N A T O 24 oder mindestens 18 Monate gefordert hatte. Im Laufe des Oktobers mußte dann auch gegenüber der N A T O eine Kürzung des Streitkräfteumfanges und eine Verlängerung der Aufstellungszeit zugegeben werden. Anstelle von 605.000 Mann sollten nur noch 500.000 aufgestellt werden. Hierfür waren jetzt nicht mehr drei Jahre bis 1958, sondern fünf bis 1960 vorgesehen. In dieser Zeit wollte man zunächst auch nur 350.000 bereitstellen 80 . Bereits Ende 1956 wurde das Aufstellungsziel von 96.000 Mann um ca. 36.000 verfehlt 81 . Auch 60.000 Mann schienen in deutschen Augen eine "respektable" Leistung, aber sie blieben unter den der N A T O mitgeteilten Planungen 82 . Diese Entscheidungen widersprachen den militärstrategischen Vorstellungen, die man bisher in der Öffentlichkeit und gegenüber der N A T O vertreten hatte. Sie fanden ihre Begründung in innenpolitischen, finanziellen, wirtschaftlichen, parteipolitischen, ja sogar wahltaktischen Überlegungen. Z u organisatorischen Fehlern der militärischen und politischen Führung gesell78 79

Bennecke, Andernach (Anm. 75), S. 885.

BA-MA, BW 1/16105, Staatssekretär an Verteiler, Betr.: Gesamtaufstellungsplanung, 28.3.1956, S. 1 f. und BW 9/2527-8, fol. 56.

80

8 1

82

Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 133. B A - M A , BW 9/2527-8, fol. 118. Bennecke, Andernach (Anm. 75), S. 885.

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ten sich Fehleinschätzungen über den Zeitbedarf von gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen. Allgemein gelang es nicht, die Realisierung der international eingegangenen Verpflichtungen im nationalen Bereich durchzusetzen. Auffällig war, daß der Bundeskanzler fast immer für die innenpolitischen Belange entschied und den bündnispolitischen Schaden seiner Entscheidungen offensichtlich gering bewertete. Das konnte auch daraus geschlossen werden, daß die Entscheidungen und Maßnahmen weitgehend ohne Konsultation mit dem Bündnis getroffen wurden. Diplomatisch, aber bestimmt reagierte die NATO. Der NATO-Rat zweifelte nun an der "Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, ihren übernommenen Verpflichtungen nachzukommen". Strauß sprach von einem "Scherbengericht" und von "ernsten Vorhaltungen" der Bündnispartner. Der Leiter der deutschen Vertretung bei der NATO, Botschafter Blankenhorn, hatte zuvor schon um den "politischen Kredit" gefürchtet. Der Bundeskanzler verfiel nun in tiefen Pessimismus und glaubte das deutsche Ansehen in der N A T O "total zerstört" 83 . Zweifellos hatten Ansehen und Gewicht der Bundesrepublik im Bündnis gelitten. Annäherung und Anpassung an die Allianz schien der deutschen Seite nun das Gebot der Stunde. Das galt auch für die bisher kritisierte Militärstrategie der NATO. A u f der Kabinettsitzung vom 17. Oktober 1956 bestimmte der Bundeskanzler, daß trotz des Wechsels im Ministeramt von Blank zu Strauß "keine umwälzende Änderung der Verteidigungspolitik der Bundesregierung beabsichtigt sei" 84 . Je mehr aber der konventionelle deutsche Beitrag schrumpfte, umso schärfer gerieten die Nuklearwaffen der N A T O in den deutschen Blick. Schon während der Reise Heusingers im Juli 1956 in die USA hatten hohe französische Offiziere die Deutschen auf Probleme in diesem Bereich hingewiesen. Heusinger und seinen Begleitern wurde klargemacht, "daß die Entwicklung und die Verwendung der Atomwaffe nicht nur ein Privileg der angelsächsischen Mächte bleiben [dürfe], sondern die westeuropäischen Mächte in diese ganzen Fragen viel stärker eingeschaltet werden müßten, als dies bisher der Fall war". Das nächste Argument schloß an diese Feststellung unmittelbar an: "Auch die europäischen Nationen brauchten atomare Waffen, und zwar einmal zur Abschreckung überhaupt und zum anderen zu taktischem Gebrauch". Das Bild vervollständigte sich durch die Bemerkung, es "sei insbesondere ein sehr enges Zusammengehen zwischen Deutschland und Frankreich als den beiden stärksten westeuropäischen Kontinentalmächten erforderlich". 83 Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 134; H. Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuches 1949 bis 1979, Frankfurt/M. 1980, S. 254. 8 4 B A - M A , BW 9/2593-1, fol. 322.

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In einer A r t von "nuklearem Brainstorming" außerhalb der Tagesordnung griff nun das Bundeskabinett am 19. Dezember 1956 diese Problematik auf. Der Bundeskanzler bezeichnete die Beschlußfassung der N A T O zum Einsatz von Nuklearwaffen und damit letzten Endes die alleinige Entscheidungskompetenz des amerikanischen Präsidenten als "irreal" und zog daraus den Schluß: "Es sei daher dringend erforderlich, daß die Bundesrepublik selbst taktische Atomwaffen besitze". Bedauert wurde der "mangelnde Einfluß der Bundesrepublik in der NATO". Ursache dafür schien, daß man noch kein "Machtfaktor" war. U m diesen Zustand zu überwinden, "müsse also gefordert werden, den Aufbau der Bundeswehr im Einklang mit den Verpflichtungen beschleunigt durchzuführen, eine Zusammenfassung Europas voranzutreiben und nukleare Waffen in der Bundesrepublik herzustellen" . Von diesen extremen Positionen mußte schon wegen der Verpflichtungen, die man in den Pariser Verträgen eingegangen war, wieder abgewichen werden. U m aber an den Planungen und Entscheidungen der N A T O auch im nuklearen Bereich wenigstens beteiligt zu werden, mußte man zunächst die neue Bündnisstrategie akzeptieren. Im März 1957 stimmte die Bundesrepublik dem neuen Strategiekonzept der N A T O zu. Seine Grundüberlegung war, daß die Allianz unabhängig von der A r t eines militärischen Angriffs mit nuklearen Mitteln reagieren werde. Gleichzeitig empfahl der neue Oberfehlshaber der N A T O in Europa, General Norstad, "alle NATO-Streitkräfte einschließlich der Bundeswehr im Gebrauch atomarer Waffen zu schulen". I m April 1957 erklärten sich die USA auf Antrag verschiedener Bündnismitglieder, darunter auch die Bundesrepublik, bereit, ihren Partnern in Europa Trägerwaffen für nukleare Mittel zur Verfügung zu stellen. Im Dezember 1957 beschloß der NATORat, zur Verwirklichung der neuen Strategie einen Vorrat nuklearer Sprengsätze in Europa zu lagern 86 . Wesentliche Konsequenz dieser Beschlüsse für die Bundesrepublik war die Ausrüstung einiger Heeres- und Luftwaffenverbände mit sogenannten "Mehrzweckwaffen", mit denen konventionelle und nukleare Mittel eingesetzt werden konnten. Die seit 1955/56 angestellten Überlegungen zur Organisation der Heeresdivisionen für den Einsatz unter nuklearen Gefechtsbedingungen erhielten dadurch eine neue Dimension, daß man nun mit Hilfe der "Mehrzweckwaffen" aktiv an dem nuklearen Gefecht teilnehmen wollte. Für Verteidigungsminister Strauß war eine Umgliederung durch 85 Ebd., fol. 324 f.; s.a. H. K. Rupp, Außenparlamentarische Opposition in der Ara Adenauer, Köln 1980, S. 36 ff. 86 Greiner, Bündndisstrategie (Anm. 13), S. 134 f.; T. Enders, Franz Josef Strauß - Helmut Schmidt und die Doktrin der Abschreckung, Koblenz 1984, S. 43 ( = "Bernard u. Graefe aktuell", hrsg. v. Arbeitskreis für Wehrforschung, Bd. 38).

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die Ausstattung mit "Mehrzweckwaffen" überhaupt erst nötig geworden . Die Öffentlichkeit wurde über die neue militärstrategische Marschrichtung nicht im Unklaren gelassen. Strauß lieferte im Januar 1957 eine neue Interpretation der "Schwert-Schild-Strategie": M i t den nuklearen und thermonuklearen "Schwert-Streitkräften" sollte ein "tödlicher Schlag gegen einen Aggressor geführt werden". Die mit taktischen Atomwaffen ausgerüsteten "Schild-Streitkräfte" hatten Basen für Raketen und für strategische Bomber zu schützen. Nur konventionell bewaffnete Streitkräfte schienen von untergeordneter Bedeutung. Sie bekamen zwei Aufgaben zugewiesen: dort Widerstand zu leisten, wo der Einsatz taktischer Atomwaffen nicht nötig war, weil keine Entscheidung gesucht wurde, und örtlich begrenzte Angriffe abzuwehren, die nicht als gefährliche Aggressionen anzusehen waren, weil hinter ihnen kein entschlossener politischer Wille vermutet wurde 8 8 . Bundeskanzler Adenauer erläuterte im April 1957 mit "unbekümmerter Selbstverständlichkeit" die neue Lage: "Die taktischen [nuklearen] Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, daß unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neueste Entwicklung mitmachen. Die großen Waffen haben wir ja nicht... Die ganze Entwicklung ist in vollem Fluß. Wir Deutschen können die Entwicklung nicht stoppen. Wir können uns nur anpassen"89. Schon formierte sich aber neue Opposition gegen die Bündnisstrategie und nun auch gegen den Kurswechsel der Bundesregierung. Über die Strassen zogen die "Kampf-dem-Atomtod"-Bewegung und die Ostermarschierer. I n den militärischen Planungsstäben fanden sich die Bedenken in neuen Studien wieder. Generalleutnant Heusinger warnte vor dem "Trugschluß, daß die Anwendung der Atomwaffe herkömmliche Waffen erübrige". Er sah die Gefahr, "daß wir nur im Schlepptau der Amerikaner und der amerikanischen Gedankengänge abmarschieren". Das dürfe nicht geschehen. Es müsse "eine Alternative zum Atomkrieg geben". Der Soldat habe "eine besonders große Verantwortung gegenüber den Politikern" 90 . Generalleutnant Dr. Speidel, seit 1. April 1957 NATO-Befehlshaber der Landstreitkräfte in Europa-Mitte kehrte zurück zu den deutschen Überlegungen vom Sommer 1956. Er wollte sich bemühen, "die konventionelle Abwehrkraft zu stärken, um die für

87

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Greiner, Bündnisstrategie, S. 135; Rupp, Opposition (Anm. 85), S. 37.

Die "Schwert-Schild-Strategie" der N A T O , in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes 89 der Bundesregierung, Nr. 4 v. 8.1.1957, S. 35. Pöttering, Adenauers Sicherheitspolitik (Anm. 19), S. 95. 90 B A - M A , BW 2/980, Gedanken General Heusinger zur Atomkriegführung, o.d. (vermutlich November 1956), S. 2.

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Deutschland gefährliche Vergeltungsstrategie überflüssig zu machen" 91 . Überprüft man nun das Ausmaß der Integration am Grad der Loyalität zwischen der N A T O und der Bundesrepublik, so lassen sich für den Zeitraum vom Herbst 1954 bis zum Frühjahr 1957 folgende, vorläufige Feststellungen treffen. Bis zum Beitritt im Mai 1955 genoß die Bundesrepublik sicherlich das Vertrauen der N A T O und vor allem ihrer Führungsmacht USA. Die Erwartungen in die militärische Leistungsfähigkeit des neuen Mitgliedes waren allenthalben groß. Der Wunsch der Bundesrepublik, bis zum offiziellen Beitritt als Beobachter in verschiedenen Bündnisgremien präsent sein zu dürfen, wurde zwar abgelehnt. Die Allianz bemühte sich jedoch, durch umfassende Information auf inoffziellem Weg das künftige Mitglied ins Bild zu setzen. Darüber hinaus versuchten Bündnisbefehlshaber, durch öffentliche Erklärungen die Bundesregierung in der Debatte mit der parlamentarischen Opposition zu unterstützen. Die Loyalität der Bundesrepublik wurde in dieser Zeit keiner Probe unterzogen. Die übernommenen Verpflichtungen schienen nach der Planung auf dem Papier durchaus realisierbar. Die für die Bundesrepublik bei Versagen der Abschreckung gefährliche Brisanz der Bündnisstrategie wurde öffentlich nicht debattiert und intern wohl eher verharmlost. Als durch Manöver der N A T O die Auswirkungen der neuen Militärstrategie der Allianz auf die Bundesrepublik sichtbar wurden, kündigte sich ab Juni 1955 ein Dissens an, der sich binnen Jahresfrist zu einer A r t von Loyalitätskrise ausweitete. Die Bundesrepublik bezweifelte die Tauglichkeit der Bündnisstrategie für ihre Sicherheitsbedürfnisse. Der N A T O und den USA kamen Bedenken an dem Willen der Bundesrepublik, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Ausdruck fand dieser Zustand in gegenseitigen Vorwürfen. Der deutsche Botschafter bezweifelte die Führungsfähigkeit der USA im Bündnis. Er kritisierte, "daß eine Diskussion um die Grundlagen der gemeinsamen Strategie gewissermaßen unbeabsichtigt und unter Außerachtlassung der Lebensnotwendigkeiten der Verbündeten vor der Öffentlichkeit ausgetragen würde". Adenauer bezeichnete die von den Amerikanern verfolgten Pläne öffentlich als "verfehlt" 92 . I m Gegenzug mußte sich die Bundesregierung unsanft daran erinnern lassen, daß ihr Bündnisbeitrag im Grunde zu gering und sie mit ihren Aufstellungsvorhaben schon hinter den Planungen zurück war 9 3 .

91 9 2

93

Speidel, Aus unserer Zeit (Anm. 10), S. 361. Lohnt sich der Aufbau ... (Anm. 51), S. 1491. Der amerikanische Verteidigungsminister Wilson war der Meinung, im Vergleich zu den

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Die Feststellung einer Krise trifft für die Aufstellung der Streitkräfte sicher mehr zu, als für den militärstrategischen Dissens im Bündnis. Bündnispolitisch summierte sich aber das deutsche Versagen bei der Streitkräfteaufstellung mit der deutschen Kritik an der Bündnisstrategie und führte zu einer Minderung des deutschen Ansehens in der NATO. Dieser Prozeß wurde im Urteil amerikanischer Politiker und Militärs noch dadurch gefördert, daß zur Begründung für die Verkürzung des Grundwehrdienstes nun plötzlich der von den USA unter deutscher Kritik längst zurückgenommene "Radford-Plan" von deutscher Seite angeführt wurde. Die Vermutung des Bundeskanzlers, die Bundesrepublik habe ihr Ansehen in der N A T O "total zerstört", war sicher übertrieben. Das sehr pessimistische Urteil erklärte sich vielleicht damit, daß man vor den einigermaßen selbstherrlichen Entscheidungen zur Streitkräfteplanung und zum Grundwehrdienst seinen Einfluß überschätzt hatte, wozu auch die erfolgreiche Intervention gegen den "Radford-Plan" beigetragen haben mochte. Nun mußte man feststellen, daß doch einiges an gutem Willen und auch an Vorschußlorbeeren verspielt worden war. Hätte sich die Bundesregierung in diesem Augenblick auf Herstellung und Besitz taktischer Nuklearwaffen versteift, um im Bündnis auch ein "Machtfaktor" zu sein, wäre sicher die Krise erheblich verschärft worden. So aber paßte sie sich fast "überloyal" der neuen Bündnisstrategie an. War die Krise durch militärstrategische Bedenken ausgelöst worden, so wurde sie von Seiten der Bundesregierung nicht beigelegt, weil diese verschwunden waren, sondern weil die deutsche Position aus anderen Gründen nicht mehr gehalten werden konnte. Die Loyalität anderer "alter" Bündnismitglieder in dem behandelten Zeitraum war sicherlich im Bereich der Militärstrategie größer, wenn auch Frankreich zum Teil ähnliche Kritik, wie die Bundesrepublik, anzumelden hatte. Die Annahme der neuen Bündnisstrategie hatte aber ähnliche Gründe wie sie dann die Bundesregierung zum Einlenken zwangen. Kein Bündnismitglied kam seinen Verpflichtungen bei den konventionellen Streitkräften gemessen an den Planungen der N A T O nach. Großbritannien und Frankreich verringerten im Gegenteil ihre Truppen auf dem Kontinent. Sie begrüßten schon aus diesem Grund die Verlagerung der Bündnisstrategie hin zu den nuklearen Kampfmitteln. Dies fiel ihnen um so leichter, als sie bei einer militärischen Auseinandersetzung nicht von Anfang an Schlachtfeld sein würden, wie die Bundesrepublik Deutschland. Eine wesentliche "Erfahrung" der Bundesrepublik Deutschland kurz nach ihrem Beitritt zur N A T O war sicher die des Scheiterns mit einer eigenen militärstrategischen Initiative und mit der vom Bündnis übernommenen USA müsse die Bundesrepublik 800.000 Mann aufstellen.

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Streitkräfteaufstellung. Die bis heute spürbare deutsche Zurückhaltung in der militarstrategischen Diskussion scheint von dieser Erfahrung mitgeprägt. Eine Kritik, die behauptet: "Die NATO-Integration ermöglichte es der Bundesrepublik, Streitkräfte ohne eigene strategische Konzeption aufzustellen", ist sicher überzogen 94 . Eine gewisse Gering- oder Unterschätzung strategischer Planung wurde aber noch 1982 bei einer Überprüfung der Organisation des Verteidigungsministeriums unwidersprochen festgestellt 95 . Wenn sich die Bundesrepublik auch stets für wichtige Einzelfragen, wie die Vorneverteidigung, eingesetzt hat, bleibt doch sonst ihr Anteil bei der Formulierung der Bundesstrategie oft verborgen. Möglicherweise sind Formeln wie "Verteidigung im Bündnis" und "Bündnisarmee" doch hinderlich bei der klaren Definition der eigenen Sicherheitsinteressen. Hinsichtlich der Streitkräfte bemühte sich die Bundesrepublik nach ihrem ersten Gesichtsverlust von 1956, ihre Verpflichtungen in der Allianz der Zahl nach peinlich genau einzuhalten. In der Öffentlichkeit und unter Militärs bestand die Kritik an der Nuklearstrategie der N A T O auch nach der deutschen Anpassung fort. Es bildeten sich zwei Schulen militärstrategischen Denkens heraus. Die eine setzte fast ausschließlich auf die Kriegsverhinderung durch nukleare Abschreckung. Die andere bezog bei gleicher Betonung der Kriegsverhütung durch Abschrekkung ihr Versagen in die Überlegungen mit ein. Von daher waren Konzepte für eine dann notwendige Verteidigung zu fordern, die nicht das nuklearer Vernichtung preisgaben, was es zu schützen galt. Als jeweilige Vertreter dieser Denkrichtungen können die ehemaligen Verteidigungsminister Strauß und Schmidt gelten 96 . Letztlich werden Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit nach innen und außen nur glaubwürdig bleiben, wenn sie sich auf militärische Optionen gründen, die im Vergleich zu denen eines möglichen Gegners nicht allzu schlecht abschneiden . Das Bestreben, dieses Ziel zu erreichen, wird man hinter dem Denken und Handeln der deutschen Politiker und Militärs 1956 vermuten dürfen. Ihr Scheitern wird verständlicher, wenn man auf die Situation heute - rund 30 Jahre später - blickt. Denn noch 94 A. Mechtersheimer, Rüstung und Politik in der Bundesrepublik. M R C A Tornado, Geschichte und Funktion des größten westeuropäischen Rüstungsprogramms, Bad Honnef 1977, S. 27. 95 Greiner, Bündnisstrategie (Anm. 13), S. 137. 96 Enders, Strauß - Schmidt (Anm. 86). Er übersteigert allerdings die Bedeutung der nuklearen Abschreckung bis zu der Aussage: "Die Frage, mit welchen Waffen eine Verteidigung geführt werden sollte, war und ist für die Bundesrepublik von sekundärer Bedeutung" (S. 97 154). K.-P. Stratmann, NATO-Strategie in der Krise? Militärische Optionen von N A T O und Warschauer Pakt in Mitteleuropa, Baden-Baden 1981 ( = Internationale Politik und Sicherheit, hrsg. v. d. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bd. 5).

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Christian Greiner

immer kämpfen die NATO-Mitglieder mit einer erheblichen konventionellen Schwäche im gesamten Spektrum ihrer militärischen Möglichkeiten. U n d noch immer ist neben fast aussichtslosen Bemühungen, dies durch Abrüstung und Rüstungskontrolle zu ändern, der Ausgleich nur durch nukleare Mittel möglich.

ZUR INNENPOLITISCHEN AUSEINANDERSETZUNG UM DEN WESTDEUTSCHEN VERTEIDIGUNGSBEITRAG 1950-1955 Von Hans-Erich Volkmann

In den frühen 50er Jahren entzündete sich eine der schärfsten politischen Kontroversen in der Bundesrepublik an der Frage der sogenannten Wiederbewaffnung, womit in der Regel ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag bzw. die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte gemeint waren. Wohl kaum ein anderes Thema hat die Öffentlichkeit damals so aufgebracht wie dieses, wobei die Meinungsverschiedenheiten quer durch die gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, sowie durch die großen Parteien verliefen. Politiker, Industrielle, Intellektuelle, Arbeiter und Handwerker, selbst die ehemaligen Militärs befiel Unbehagen, das sich zeitweilig in parlamentarische, aber auch außerparlamentarische Opposition umwandelte, als Bundeskanzler Adenauer knapp fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches die Aufrüstung der Bundesrepublik bzw. die Aufstellung westdeutscher militärischer Kontingente den Westalliierten antrug 1 . Seit Übernahme der Kanzlerschaft hat Adenauer konsequent auf einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag hingearbeitet. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt erklärte er am 11. November 1949 in L'Est Républicain die Bereitschaft der Bundesrepublik, sich im Bedarfsfall an der Bildung einer europäischen Armee beteiligen zu wollen. Wenige Wochen später, am 4.12.1949, wiederholte er diese Auffassung im Piain Dealer, holte sich jetzt aber eine westalliierte Abfuhr 2 . Die ihn bewegenden Motive waren vielschichtig. Sicher ist die dem Bolschewismus unterstellte weltrevolutionäre Vgl. Κ. v. Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration. Die innere Auseinandersetzung und die militärische und außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik 1950-1952. Stuttgart 1970; K. A. Otto, Der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Motivstruktur und politisch-organisatorische Ansätze. In: Unsere Bundeswehr? Zum 25jährigen Bestehen einer umstrittenen Institution. Frankfurt/Main 1981, S. 52-104; H.E. Volkmann, Die innenpolitische Dimension Adenauerscher Sicherheitspolitik in der E V G Phase. In: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 2, München 1990, S. 235-604. 2 Vgl. G. Wettig, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943-1955. München 1967, S. 283-289.

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Hans-Erich Volkmann

Expansionsabsicht ein ihn bewegendes Moment gewesen. A u f die zweifellos von der S B Z / D D R ausgehende, wenngleich überschätzte Infiltrationsgefahr, in Verbindung mit der frühen Aufstellung unterschiedlicher militärischer und paramilitärischer kasernierter und nicht kasernierter bewaffneter Einheiten, glaubte der Bundeskanzler, zunächst durch die Aufstellung zentraler Polizeiverbände reagieren zu müssen. Der im Juni 1950 von kommunistischer Seite angezettelte, vielfach als Stellvertreterkrieg, als auf deutsche Verhältnisse übertragbar qualifizierte, amerikanische Truppen bindende Koreakonflikt, die verstärktes französisches militärisches Engagement fordernden Kampfhandlungen in Indochina, ließen Adenauer einen Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik, bevorzugt im atlantischen Rahmen, aktuell und aufgrund versteckter und offener alliierter Aufmunterungen nun auch möglich erscheinen. Dennoch stießen erste Initiativen, z.B. durch ein entsprechendes Memorandum vom August 1950 an McCloy, auf Reserve. Die wenig später von den Westmächten nicht zuletzt zur Beruhigung der inzwischen aufgebrachten westdeutschen innenpolitischen Szene abgegebene Sicherheitsgarantie vermochte den Bundeskanzler nicht von dem einmal beschrittenen Weg abzubringen, zumal Eingeweihte wußten, daß die Bundesrepublik und Europa im Fidle eines sowjetischen Angriffs konventionell nicht zu verteidigen waren und die amerikanische Strategie vorzugsweise eine Rückeroberung mit atomaren Waffen vorsah, ein Umstand, der Adenauers Ansinnen verständlich macht, über eigene militärische Verbände im Rahmen des atlantischen Bündnisses auch auf die Verteidigungskonzeption einwirken zu wollen. Die auf französisches Mißtrauen gegenüber einer bundesdeutschen Aufrüstung im Spätsommer 1950 schließlich in Richtimg einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft gelenkten Vorbereitungen für die Aufstellung westdeutscher Kontingente verlieh der von Adenauer verfolgten Sicherheitspolitik eine neue Qualität. Schuman-Plan zur Errichtung der Montan-Union und Pleven-Plan zur Schaffung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft betrachtete der Bundeskanzler nach dem inzwischen erfolgten Bonner Beitritt zum Europarat nun als entscheidenden Einstieg in eine europäische Gemeinschaft mit der Chance der Gewinnung staatlicher Souveränität und partnerschaftlicher Gleichberechtigung. Diese Koppelung von Wehrbeitrag und westeuropäischer Integration, vornehmlich von Adenauer initiiert und unter strenger Handhabung seiner Richtlinienkompetenz durchgesetzt, ist zwar von der Mehrheit der C D U / C S U akzeptiert worden, dennoch anfänglich nicht unumstritten gewesen. Eine vertraulich gebliebene Umfrage des Allensbach-Instituts für das Kanzleramt vom Oktober 1950 ergab unter CDU-Anhängern 40 % für den Aufbau einer selbständigen westdeutschen Armee, 40 % waren dagegen, 20 % unentschieden. Die Frage nach der Teilnahme bundesdeutscher Truppen an einer westeuropäischen Armee beantworteten im selben Monat sogar nur 29 % der CDU-Anhänger mit ja, 41 % mit nein, 12 % mit "kommt darauf

Verteidigungsbeitrag 1950-1955

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an". I m Dezember 1950 erklärten sich dann aber bereits 47 % der C D U Anhänger mit Adenauers Einstellung zur Bewaffnung Westdeutschlands, d.h. im Rahmen der sich inzwischen abzeichnenden EVG, einverstanden, lediglich 11 % hielten sie für falsch. Im Juli 1952, knapp 2 Jahre später, sprachen sich schon 51 % repräsentativ befragter CDU-Anhänger für die Annahme des Deutschland-Vertrages, lediglich 3 % dagegen aus 3 . In der Folgezeit ließ sich eine tendentiell wachsende Zustimmung der zur C D U hin orientierten Wählerschaft in der Frage des Wehrbeitrages registrieren, denn einen Monat später billigten bereits 73 % von ihnen Adenauers energisches Eintreten für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, indem sie ihm bestätigten, daß er damit "das Beste für Deutschland" wolle. Die Haltung der potentiellen CDU-Wählerschaft korrespondierte mit der des engsten Führungskreises der Partei. Hier kam nur vereinzelt, wenngleich grundsätzlicher Widerspruch auf. Getragen wurde er neben Gustav Heinemann vor allem von den Repräsentanten der in den Westen gekommenen Ost-CDU, so vom gesamtdeutschen Minister Jakob Kaiser und den späteren Kabinettsmitgliedern Tillmanns und Gradl. Dabei ging es um die Vereinbarkeit von militärischer Westintegration und Wiedervereinigung, wobei die innerparteilichen Opponenten im Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ein entscheidendes Hindernis auf dem gesamtdeutschen Weg erblickten. Noch 1951 gab es Bedenken sowohl hinsichtlich einer kompromißlosen Hinwendung zum Westen, geäußert u.a. von Bundestagspräsident Ehlers. Der aus der D D R übergesiedelte Gradl gab lange Zeit der Schaffung eines neutralen deutschen Gesamtstaates den Vorzug vor einer militärischen Westintegration. Im Frühjahr 1952 erhielten die Protagonisten einer primär auf Wiedervereinigung ausgerichteten Politik noch einmal Auftrieb durch die bekannte Stalin-Note, in der die Sowjetunion den Westmächten Verhandlungen über die Schaffung eines begrenzt bewaffneten, wiedervereinigten Deutschlands in Neutralität vorschlug 4. Blumenfeld und Gradl drängten auf einen Vier-Mächte-Dialog zur Lösung der deutschen Frage, denn sie hielten es mit ihrem politischen Gewissen für kaum vereinbar, 20 Millionen Deutsche ohne nachdrückliches Bemühen dem Einfluß des Sowjetkommunismus 3 Diese und die nachfolgenden Befragungsergebnisse sind, falls nichts anderes vermerkt ist, dem Bestand des Bundesarchivs BA Β 145/4220 entnommen. Es handelt sich zumeist um Zahlenmaterial, das bislang nicht veröffentlicht wurde, sondern zur vertraulichen Unterrichtung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers diente und politisch handlungsorientiert ausgerichtet war. Die Frageformulierungen sind zum Teil gleichbleibend über einen längeren Zeitraum beibehalten worden, wurden aber immer wieder spezifiziert und ergänzt, so daß die demoskopischen Ergebnisse einen hervorragenden Quellen- und Aussagewert besitzen. Zur Methode der Demoskopie vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. X I - X X V . 4 Vgl. P. März, Die Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten. Zur deutschlandpolitischen Diskussion 1952 in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der westlichen und der sowjetischen Deutschlandpolitik. Frankfurt/Main, Bern 1982. Hier auch weiterführende Literatur.

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zu überlassen 5. Während diese und auch andere Politiker, unter ihnen Jakob Kaiser, befürchteten, durch Deutschland- und EVG-Vertrag werde die Tür zur Wiedervereinigung wenn nicht endgültig, so doch auf lange Sicht zugeschlagen, argumentierte Adenauer gerade umgekehrt: "Die Integration Europas muß das oberste Ziel unserer Außenpolitik sein. Nur wenn sich Europa bildet mit einem freien Deutschland kann es ein Damm gegen die rote Flut sein. Nur mit einem starken Europa haben wir auch die Aussicht, die Sowjetzone und die Gebiete jenseits der Oder und Neiße für die Freiheit zurückzugewinnen" 6. "Wir müssen darauf vertrauen, daß die westliche Welt so aufgerüstet wird, daß Rußland eines Tages bereit sein muß, zu verhandeln" 7 . Der unergiebige Notenaustausch zwischen den Westmächten und der Sowjetunion bewirkte dann, daß sich die Gruppe um Gradl und andere in die Unvermeidlichkeit der Ratifizierung des Vertragswerkes schicken 8 . Der Adenauers persönlichem Ansehen zugeschriebene Wahlerfolg 1953 hat die letzten innerparteilichen oppositionellen Stimmen verstummen lassen. Die Tatsache, daß um die E V G vier Jahre lang gerungen wurde, ehe sie im August 1954 an der französischen Nationalversammlung scheiterte, es dann aber auf Seiten der Bundesregierung nur zweier Monate bedurfte, um die vertraglichen Voraussetzungen für den Beitritt in den Atlantikpakt und dessen Verteidigungsorganisation, die NATO, zu schaffen, legt die Vermutung nahe, daß Adenauer mit seiner Zustimmung zu einer EVG-Regelung zwar einen Schritt in Richtung Europa gehen wollte, jedoch primär mittels eines westdeutschen Verteidigungsbeitrags Souveränität und außenpolitischen Handlungsspielraum zu erlangen suchte, und sich erst in zweiter Linie von gesamteuropäischen, gesamtdeutschen und auch verteidigungspolitischen Überlegungen hat leiten lassen9. In einen national-konservativen und einen liberal-demokratischen Flügel gespalten, hat sich innerhalb der FDP in der Wehrfrage sehr rasch die erste Gruppierung mit Vizekanzler Blücher, den ehemaligen Offizieren Wildermuth, v. Manteuffel und Mende durchgesetzt 10 . Frühzeitig verband die FDP die Frage der Souveränität mit der des Wehrbeitrages, und stark europäisch 5 Protokoll der 10. Sitzung des Bundesparteiausschusses der C D U , 14.6.1952. Archiv für Christlich-Demokratische Politik ( = ACDP). Protokolle des Bundesparteiausschusses aus den Jahren 1950-1953, VII-001-019/10. 6

Adenauer, 12.2.1951, vor dem Bundesparteiausschuß. Ebd. VII-001-019/3.

7

Adenauer auf der 5. Sitzung des Bundesparteiausschusses, 4.7.1951. Ebd. VII-001-091/4.

8

Protokoll der Sitzung des Bundesparteiausschusses, 6.9.1952. Ebd. VII-001-019/14.

9

Vgl. dazu N. Frei; F. Friedlaender (Hrsg.), Ernst Friedlaender: Klärung für Deutschland. Leitartikel in der ΖΕΓΓ1946-1950. München, Wien 1982, S. 29. Vgl. die - gemessen an der guten Aktenlage - nicht ganz befriedigende Dissertation von D. Wagner, FDP und Wiederbewaffnung. Die wehrpolitische Orientierung der Liberalen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1955. Boppard a. Rhein 1978.

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Verteidigungsbeitrag 1950-1955

orientiert, hat die Partei mehrheitlich einer gemeinsamen Verteidigung Europas das Wort geredet. Dennoch gab es lautstarke Gegenstimmen, die sich nicht nur in der Öffentlichkeit deutlich vernehmen ließen, sondern die FDP als Koalitionspartner wie die Bundesregierung selbst in Schwierigkeiten brachten. Die Partei befand sich im Zwiespalt zwischen der Forderung nach Westintegration und dem Willen zur Wiedervereinigung, eines ihrer politischen Hauptanliegen, ergänzt durch das Bestreben nach Rückgewinnung der Gebiete jenseits von Oder und Neiße. Eine gewisse Verbindung zwischen beiden politischen, sich offenkundig widersprechenden Programmpunkten schien dadurch zu bestehen, daß man Wiedervereinigung und Rückgewinnung der an Polen gefallenen Territorien ausschließlich im westeuropäischen Bündnis glaubte, erreichen zu können, wobei man sich gleichzeitig aber des Desinteresses, ja des Widerstandes Frankreichs bewußt war. Schließlich tat die FDP dann doch den ersten Schritt in Richtung Westintegration, wobei sie die westdeutsche Aufrüstung "als wichtigen Beitrag zur Verwirklichung einer europäischen Föderation" erachtete 11 . Die durch die Stalin-Note ausgelöste Wiedervereinigungs- und Neutralitätsdebatte erfaßte auch die Freien Demokraten, innerhalb deren besonders der außenpolitische Experte, frühere Wilhelmstraßen-Diplomat und spätere Botschafter der Bundesrepublik in Belgrad, Pfleiderer, mit dem nach ihm benannten, im Juni 1952 in Waiblingen vorgelegten Plan für die Schaffung eines aus den ehemaligen vier Besatzungszonen zusammengefügten bewaffneten Deutschlands hervortrat, das, zwischen den großen politischen Blöcken installiert, dennoch nicht zu absoluter Neutralität verurteilt sein sollte 1 2 . Da sich selbst im nationalen Flügel der FDP Zweifel an der Wirksamkeit des Adenauerschen Konzeptes Wiedervereinigung durch Westintegration regten, wurde der Vorschlag innerparteilich intensiv diskutiert, ohne letztlich eine Mehrheit zu finden. Der Fall Pfleiderer wäre sicher Episode geblieben, wenn sich nicht der baden-württembergische D V P / F D P Ministerpräsident Reinhold Maier auf die Seite seines Landsmannes geschlagen hätte, als Chef einer Landesregierung in Koalition mit SPD und BHE. Da Maier auch seit Juli 1952 als Präsident des Bundesrates amtierte, war Stuttgart das Zünglein an der Waage bei der Abstimmung über die der Ländervertretung vorgelegten Verträge von Bonn und Paris. Unter starkem Druck seiner Partei, die ihm sogar mit Ausschluß drohte, stimmte Reinhold Maier mit der Mehrheit des Bundesrates endlich einem vom Bayerischen Ministerpräsidenten Ehard (CSU) vorgeschlagenen Verfahren zu, wonach der Bundesrat die 1 1 FDP-Fraktion, Stiftung, 77. 1 2

Kurzprotokoll,

Nr. 77, 15.11.1950. Archiv

der

Friedrich-Naumann-

Rede vom 6.6.1952. In: K. G. Pfleiderer, Politik für Deutschland. Reden ud Aufsätze

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Ratifizierungsgesetze für beschlossen hielt, nachdem er die verfassungsmäßig vorgeschriebene Einspruchsfrist hatte verstreichen lassen. Das Spannungsfeld in der FDP zwischen denen, die einer Politik der Stärke durch militärische Westintegration und denjenigen, die der Wiedervereinigung Priorität einräumten, bleib latent vorhanden und spiegelt sich auch im Meinungsbild der Partei-Anhänger wider. Vor den eigentlichen EVG-Verhandlungen überwog im Frühherbst 1950 noch das nationale Moment, denn mit 42 % der repräsentativ Befragten lag das Votum der FDP-Anhänger für eine selbständige westdeutsche Armee 2 % über dem der CDU-Wähler, obgleich eine knappe Mehrheit noch ihre grundsätzliche Ablehnung jeglicher Aufrüstung betonte. Nach Adenauers EVG-Kurs zwei Monate später befragt, lag die Zahl der Befürworter noch niedriger, nämlich bei 40 %; die generellen Gegner eines Verteidigungsbeitrages waren allerdings zu Gunsten der Unentschiedenen um 15 % zusammengeschrumpft. I m Juli 1952 befragt, ob der Bundestag den Deutschland-Vertrag annehmen oder ablehnen solle, erklärten sich 46 % der befragten FDP-Anhänger dagegen, 12 % bei immerhin 42 % Enthaltungen dafür. Erst nach dem ergebnislosen alliierten Notenaustausch aus Anlaß der Stalin-Offerte zog eine Mehrheit von 61 % die Sicherheit vor den Russen der deutschen Einheit vor. Nach dem Scheitern der E V G brach das nationale Moment in der FDP wieder durch, und mit 76 % gegen 20 % sprachen sich zwar befragte FDP-Wähler grundsätzlich für einen anderen Weg zu einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag aus, aber nur 45 % für eine Armee in Zusammenarbeit mit den Westmächten. Im Oktober 1954 schließlich, kurz vor der Entscheidung des Beitritts der Bundesrepublik zum Atlantikpakt, akzeptierten 59 % der FDP gegenüber 54 % befragter CDU-Anhänger - dieses Verteidigungsbündnis, 29 % gegenüber 22 % bei der C D U gaben der Wiedervereinigung den Vorzug. Die Deutsche Partei als Regierungspartner machte in der Wehrfrage keine Schwierigkeiten. Bereits in den Koalitionsverhandlungen hatte sich ihr Vorsitzender Hellwege als besonderer Interessenvertreter der ehemaligen Berufssoldaten zu erkennen gegeben und - von Adenauer akzeptiert - nachdrücklich die "Wiederherstellung des Versorgungsrechts der Wehrmachtangehörigen ... unter möglichster Aufrechterhaltung des seit 1918 bestehenden Rechtszustandes" gefordert 13 . Die Bundestagsfraktion der DP suchte sich auf diesem Felde von der C D U / C S U und der FDP deutlich abzuheben und trat daher energischer als diese für die Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse durch die westlichen Siegermächte ein, ja sie machte dies und das Zuge1948-1956. Stuttart 1961, S. 83-99. 13 Brief Hellwege, 14.9.1949, an Adenauer. Zit. n. H. Meyn, Die Deutsche Partei. Entwicklung und Problematik einer national-konservativen Rechtspartei nach 1945. Düsseldorf

Verteidigungsbeitrag 1950-1955

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ständnis partnerschaftlicher Gleichberechtigung in einem zukünftigen Bündnis und die Gewährung des vollen Mitbestimmungsrechts in allen Fragen der Deutschlandpolitik zur Bedingung für den von ihr grundsätzlich gebilligten Beitritt der Bundesrepublik zur EVG. Wie die C D U setzte sie sich daher nachdrücklich für ein baldmöglichstes Inkraftsetzen des Deutschlandvertrages ein, den sie als die ihren Forderungen entsprechende Grundvoraussetzung für eine Mitgliedschaft in einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft erachtete. Sie lehnte deshalb, genau umgekehrt als C D U / C S U und die potentiellen westlichen Bündnisländer, das Junktim zwischen Deutschlandund EVG-Vertrag - ersterer wird erst wirksam nach Inkrafttreten des letzteren - zunächst einmal ab. Ansonsten zeigte sich die DP mit dem konsequenten Westkurs Adenauers einverstanden. "Wir von der Deutschen Partei lehnen den Versuch der Schaukelpolitik zwischen Ost und West ab. Unsere politische Konzeption ist westlich 1 ". Die Zahl der Befürworter eines wie auch immer gearteten Verteidigungsbeitrages lag bei den Anhängern dieser national-konservativen Rechtspartei stets höher als in C D U und FDP. Im Oktober 1950 sprachen sich 59 % der DP-Anhänger für den Aufbau einer selbständigen westdeutschen Armee aus, 24 % dagegen, 17 % waren unentschieden. Die Zahl derjenigen, die eine Einladung der Bundesrepublik, "im Zusammenhang mit dem Atlantikpakt und im Rahmen einer europäischen Armee ... eine neue Wehrmacht aufzubauen", begrüßt hätten, lag bereits im Februar 1950, also bevor diese Problematik öffentliche Aktualität erlangt hatte, bei den repräsentativ befragten Anhängern der DP bei über 50 %, während sich deutliche Mehrheiten bei den potentiellen CDU-, SPD- und FDP-Wählern noch grundsätzlich dagegen aussprachen (vgl. die nachfolgende Statistik).

1965, S. 23. 14 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, 68. Sitzung, 13.6.1959, S. 2493.

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Frage: "ich würde gem Ihre Meinung zu einer Frage hören, die heute viel in der Welt besprochen wird: Sind Sie fir oder gegen den Auflau einer selbständigen deutschen Armee?" Oktober

1950

DAFÜR DAGEGEN UNENTSCHIEDEN Gesamtbevölkerung

35%

46%

19%

40% 29 % 42 % 38% 59 % 15 % 73 %

40% 57% 48% 45% 24% 65% 24%

20% 14% 10% 17% 17% 20% 3%

Politische Orientierung: zur zur zur zur zur zur zur

CDU SPD FDP Bayernpartei Deutschen Partei Zentrums-Partei Deutschen Rechtspartei

Frage: 'Würden Sie es begrüßen, wenn Deutschland im Zusammenhang mit dem Atlantikpakt und im Rahmen einer europäischen Armee eingeladen würde, eine neue Wehrmacht aufzubauen ?" Februar JA Gesamtbevölkerung

NEIN

1950 UNENTSCHIEDEN

33 %

52%

15%

35 % 23% 36% 24% 56 % 58%

46% 60% 51% 71% 35% 42%

19% 17% 13% 5% 9%

Politische Orientierung: zur zur zur zur zur zur

CDU SPD FDP KPD Deutschen Partei Deutschen Rechtspartei

-

Das aus den Septemberwahlen des Jahres 1953 hervorgegangene zweite Kabinett Adenauer gewann durch die Aufnahme des B H E in den Kreis der Koalitionspartner in der Verteidigungspolitik ein stabilisierendes Element hinzu. Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten stand der Aufstellung westdeutscher Streitkräfte grundsätzlich positiv gegenüber, wenngleich er seine Zustimmung an die Erfüllung gewisser Bedingungen knüpfte. Auf dem ersten Bundesparteitag im September 1952 in Goslar

Verteidigungsbeitrag 1950-1955

115

waren die Voraussetzungen für ein entsprechendes Votum in vier Punkten formuliert worden: 1.

Der B H E räumte dem sozialen Ausgleich zwischen den alteingesessenen Bürgern der Bundesrepublik und seiner Partei-Klientel, den Vertriebenen, Vorrang vor der Finanzierung eines Verteidigungsbeitrages ein.

2.

Er sah die wichtigste Funktion einer "Wehrmacht" in der Verteidigung der Souveränität eines Staates, die die Bundesrepublik noch nicht besaß, die es also im Zusammenhang mit der Aufstellung von bundesdeutschen Kontingenten zu realisieren galt. Auch der B H E ging von einer Integrations-Armee innerhalb eines supranationalen Verbundes aus, bestand hier aber nicht nur auf Gleichberechtigung, sondern auch auf dem Verzicht der Partner-Staaten auf eigene nationale Kontingente, wie sie z.B. Frankreich zur Erfüllung seiner kolonialen Aufgaben beibehalten wissen wollte.

3.

Der B H E erwartete die Wiederherstellung des Ansehens des deutschen Soldaten, in erster Linie durch die Rückführung der Kriegsgefangenen und durch die Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse bzw. die Überantwortung der Kriegsverbrechen beschuldigter Wehrmachtangehöriger an die deutsche Justiz.

4.

Der B H E verband die Verteidigungsproblematik mit der des Rechtes auf Heimat, wie er es für die Vertriebenen in die Politik einbrachte. Konkret bedeutete dies, daß sich die Partei gegen die Ratifizierung von Deutschland- und EVG-Vertrag ausssprach, solange den Vertragspartnern ein Vetorecht in der Deutschlandfrage zustand 5 .

A u f parlamentarischer Ebene setzten lediglich die Sozialdemokraten der Verteidigungspolitik der Koalitionsregierung relevanten Widerstand entgegen, sieht man von der DDR-hörigen KPD einmal ab 1 6 . Die kritische Haltung der SPD und ihrer Anhänger erklärt sich aus mehreren Momenten. Zum einen hat es in der Sozialdemokratie immer Pazifisten gegeben, die allerdings nach 1945 aus den Parteiführungsgremien ausgeschlossen blieben; zum anderen aus ihrem historisch belasteten Verhältnis zur bewaffneten Macht, aber auch aus ihrer Oppositionsrolle. Die SPD hatte Adenauers Konzept der westeuropäischen militärischen Integration keine die Öffentlichkeit mehrheitlich überzeugende Alternative entgegenzusetzen. Sie lehnte zwar weder einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, noch ein verVgl. dazu F. Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950-1960. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur einer politischen Interessenpartei. Diss. Marburg/Lahn 1966, S. 84-85. 1 6 Vgl. U. F. Löwke, Für den Fall, daß ... Die Haltung der SPD zur Wehrfrage 1949-1955. Hannover 1969.

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eintes Europa kategorisch, sondern lediglich bedingt ab, konnte sich aber nicht zu einem konstruktiven "ja, aber", sondern nur zu einem "nein, wenn nicht" durchringen. I m Europa-Rat, dessen Mitgliedschaft sie im Bundestag abgelehnt hatte, den sie dann aber doch mit Delegierten beschickte, ließ Carlo Schmid bereits im August 1950 diese Einstellung erkennen, als zwei französische Abgeordnete und Winston Churchill unter Hinweis auf Korea die Aufstellung westdeutscher Kontingente innerhalb einer europäischen Armee anregten: Verteidigung Europas ja, westdeutsche Beteiligung nein, "solange", dies ist Zitat Schmid, "als nicht Europa, d.h. eine supra-nationale europäische Regierung geschaffen worden ist" 1 7 . Die Einbeziehung Westdeutschlands in ein vereinigtes Europa erschien aber nur möglich, wie Ollenhauer wenig später betonte, wenn die Westalliierten sich vorher bereiterklärten, "die politische Verwaltung Deutschlands [gemeint ist hier die der Bundesrepublik] nach innen und außen den Deutschen selbst zu überlassen" 18 . Hier offenbaren sich die Differenzen zwischen C D U und SPD in Sachen Verteidigung und europäischer Westintegration vordergründig als poMtisch-taktischer Natur: Während der Bundeskanzler durch Wohlverhalten eine Verbesserung des politischen Status der Bundesrepublik zu erreichen suchte, erwartete die SPD-Führung entsprechende Vorleistungen seitens der Westalliierten. Denn wo Adenauer und die Koalition die erhitzte Atmosphäre zu Beginn des Korea-Konfliktes zu nutzen gedachten, um über einen Verteidigungsbeitrag Souveränität und außenpolitisches Gewicht zu erlangen, auch eine entsprechende antikommunistische Propaganda nicht scheuten, um die Furcht vor einem kommunistischen Überfall zu schüren und dergestalt den weit verbreiteten Widerstand in der Bevölkerung gegen eine Aufrüstung aufzuweichen, dort reagierte die SPD wesentlich nüchterner. Sie sah Europa nicht akut militärisch bedroht - der Bundeskanzler übrigens auch nicht -, weshalb man in Sachen Wehrbeitrag nichts zu überstürzen brauchte. Als grundsätzlicher Art erwies sich die Kontroverse zwischen C D U / C S U und SPD um den Zusammenhang von Wehrbeitrag und Wiedervereinigung. Während der Bundeskanzler weniger die militärische Stärke verbündeter Streitkräfte, als vielmehr den vom Bündnis erhofften langfristig ausgehenden militär-politischen und ökonomischen Druck in sein deutschlandpolitisches Kalkül einbezog, dachte der Freiwillige des Ersten Weltkrieges Schumacher durchaus in militärisch-strategischen und operativen Kategorien, setzte er auf militärische Stärke. So hielt er einen isolierten Übergriff bewaffneter Kräfte der D D R für ausgeschlossen, und von daher erübrigten sich westdeutsche Streitkräfte. Darüber hinaus meinte er, eine militärische Aggression aus dem 17 C. Schmid in der beratenden Versammlung des Europa-Rates, 10.8.1959. Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. SPD-Parteivorstand, Protokolle 1950.

Verteidigungsbeitrag 1950-1955

117

Osten würde immer von der Sowjetunion getragen werden. I n der gegebenen Situation der westalliierten militärischen Schwäche konnten westdeutsche Kontingente nur unter hohen Verlusten ein militärisches Vorfeld lediglich hinhaltend verteidigen, was nicht zu verantworten war. Und weiterhin war er der Auffassung, nach den Verlusten im Zweiten Weltkrieg dürfe nur eine Vorneverteidigung offensiven Charakters, und zwar östlich der Grenzen der Bundesrepublik und schwerpunktmäßig auch nur außerhalb der Grenzen der D D R , zum Zwecke der Wiederherstellung Gesamtdeutschlands erfolgen. Dazu war eine massive, den Erfolg außer Zweifel stellende amerikanische Präsenz in der Bundesrepublik und in Europa notwendig, ehe der westdeutschen Bevölkerung eigene Verteidungsopfer abverlangt werden konnten 1 9 . Als Ursache dieses Dissenses muß der unterschiedliche Stellenwert gelten, den C D U / C S U und SPD der nationalen Frage einräumten. Bei Adenauer genoß die Westintegration entweder im europäischen oder atlantischen Rahmen eindeutig Priorität vor der Wiedervereinigung. EVG- oder NATOBeitritt besaßen in diesem Zusammenhang lediglich langfristig, wenn von ihm überhaupt kalkuliert, instrumentalen Charakter, indem er zumindest verbal seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, ein entsprechendes Bündnis werde durch militärpolitischen und rüstungsökonomischen Druck Moskau zu deutschlandpolitischen Konzessionen zwingen. Der Bundeskanzler übte sich geflissentlich in teilstaatlicher Genügsamkeit, auch wenn er dies vor der Öffentlichkeit zu verschleiern wußte, die sowohl auf historisch-emotional begründetem rheinpreußischem Desinteresse an den Gebieten jenseits der Elbe, als auch auf Überlegungen hinsichtlich wahrscheinlicher innen- und parteipolitischer Kräfteverschiebungen zu Ungunsten der Union im Zuge einer deutsch-deutschen Zusammenfügung beruhte, aber die sicher auch realpolitischen Gegebenheiten in Form westalliierter, insbesondere französischer Ablehnung gegenüber der Schaffung eines größeren Deutschlands Rechnung trug. Während Adenauer seinen Kurs der militärischen Westbindung unbeirrbar beibehielt und aus Furcht vor einem erneuten Rappallo-Syndrom bei den Westalliierten weder Alternativen noch Modifizierung selbst erwog oder wo sie an ihn herangetragen wurden, darauf reagierte, ließ die SPD eine ähnlich konsequente Kursbestimmung ihrer Politik vermissen. Zwar erhob sie die Wiedervereinigung zur Vorbedingung für eine Westintegration. Da aber aufgrund der Mehrheitsverhältnisse gesamteuropäische oder atlantische Verpflichtungen nicht zu verhindern waren, drängte sie auf kündbare Vereinba1 8

19

SPD-Pressedienst, 21.8.1950, S. 1.

Vgl. dazu U. Buczylowski, Kurt Schumacher und die deutsche Frage. Stuttgart-Degerloch 1973, S. 49-111; R. G. Foerster, Innenpolitische Aspekte der Sicherheit Westdeutschlands 19471950. In: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Bd. 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan. München, Wien 1982, S. 403-575, hier S. 441 ff.

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rungen dort, wo oder wenn sie einer gesamtdeutschen Entwicklung im Wege stehen sollten. Deutschlandvertrag, der mittels seiner Bindungsklausel die Integration eines gesamtdeutschen Staates in die Europäische Gemeinschaft präjudizierte, und EVG-Vertrag, die nach ihrer inzwischen bestätigten Befürchtung beide die Wiedervereinigung auf absehbare Zeit verhinderten, konnte sie daher nicht akzeptieren. Wenn die Wiedervereinigung zu erreichen sein sollte "durch Aufnahme der Hypothek", so ein SPD-Abgeordneter Ende August 1953, "daß das vereinigte Deutschland kein Bestandteil einer von dem einen Machtblock geführten militärischen Allianz sein darf, ... bin ich bereit..., darin keine unzumutbare Beschränkung der Außenpolitik der künftigen Regierung" zu sehen. Damit war eines der politischen Reizwörter der Zeit wenn nicht expressis verbis ausgesprochen, so doch zur Debatte gestellt: Neutralität! Wie haltet Ihr es, so lautete die stets wiederholte Frage der Regierung an die große Oppositionspartei, mit der Neutralität? Hier wandelte sich die Haltung der Partei, und dazu differierte sie noch zwischen ihren führenden Köpfen, von strikter Ablehnung bis zur Erwartung, die vier Siegermächte würden aufgrund der Stalin-Note vom März 1952 einen gangbaren Weg für die Schaffung Gesamtdeutschlands finden, der zur Entspannung in Europa beitragen und an dessen Ende durchaus die Integration Deutschlands in ein wie auch immer geartetes Europa stehen konnte. I n der Folgezeit gewann die neutralistische Komponente in der SPD-Politik eine immer stärkere Bedeutung, ohne daß die Partei sich eindeutig und geschlossen darauf verständigt oder festgelegt hätte. Nach dem Scheitern der E V G forderte Ollenhauer im Bundestag "die Allianz-Freiheit Deutschlands... in einem kollektiven Sicherheitssystem" 20. Ebenfalls gleichzeitig war die Entscheidung vom ob zum wie eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages in den SPD-Spitzengremien gefallen, sichtbar dokumentiert durch die intensive Kontaktpflege führender SPD-Politiker mit hohen ehemaligen Militärs. Sie fand ihren institutionalisierten Ausdruck im Sommer 1954 in der Schaffung des Sicherheitspolitischen Arbeitskreises beim Parteivorstand, in den Helmut Schmidt neben Fritz Erler als Exponenten der wenigen realitätsbezogenen Politiker, die die politischen Weichen in Richtung eines Verteidigungsbeitrages der Bundesrepublik für eindeutig und endgültig gestellt hielten, berufen wurde. Gleichzeitig machte die Partei konkrete Vorschläge für die innere Konsolidierung und den Ausbau bereits bestehender europäischer Einrichtungen, allerdings unter Berücksichtigung gesamtdeutscher Gesichtspunkte. Zwar hat die SPD-Führung den Schritt von der E V G zur N A T O nicht schon eindeutig an der Jahreswende 1954/55 vollzogen, sich aber dann in das

20 Zitate aus einer Aufzeichnung des Bundeskanzleramtes über SPD-Stimmen zur Neutralisierung Deutschlands bzw. zur Bündnisfreiheit. Stiftung Konrad Adenauer-Haus, Bd. Nr. 12.21, H. 2: Material zur Frage des Wehrbeitrages.

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Unvermeidliche geschickt und sich konstruktiv am Aufbau der Bundeswehr beteiligt. Nicht nur in den Parteien und Regierungsgremien bzw. Parlamenten bildete die sogenannte "Wiederbewaffnung" einen der zündendsten Konfliktstoffe der frühen 50er Jahre. Auch in der Öffentlichkeit wurde wohl kaum ein anderer politischer Gegenstand heftiger diskutiert. Der damalige Bundeskanzler hat dieses Phänomen aufmerksam und mit großer Skepsis beobachtet. Über die ablehnende Haltung weiter Kreise der westdeutschen Bevölkerung gab sich Adenauer keinerlei Illusionen hin, doch ließ er sich in der Festlegung seines politischen Kurses dadurch niemals irritieren. "Gegen eine Wiederaufrüstung Deutschlands", so schreibt er in seinen Memoiren, "war zu erwarten eine politische Opposition von Seiten der Oppolsitionsparteien, eine psychologische Opposition von Seiten pazifistisch eingestellter, nationalistischer und gewisser kirchlicher Kreise und eine Opposition aus den Kreisen der früheren Wehrmacht, die aus verschiedenen Gründen am Aufbau eines deutschen Kontingents nicht beteiligt werden konnten... Ein deutscher Beitrag zu einer Verteidigungsarmee war in der Bundesrepublik ausgesprochen unpopulär" 21 . Auf der Suche nach möglichen Ursachen für diesen Tatbestand fand der Bundeskanzler allerdings nur eine Teilwahrheit heraus: "Die innere Haltung des deutschen Volkes machte mir sehr große Sorge. Das deutsche Volk war durch den Krieg und die Nachkriegszeit in einen Zustand gekommen, in dem es zwar die Freiheit schätzte, aber nicht bereit zu sein schien, für die Freiheit Opfer zu bringen" 22 . Dies traf insofern zu, als die Kriegserlebnisse, die Leiden der Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung noch zu tief im allgemeinen Bewußtsein wurzelten, als daß die westdeutsche Bevölkerung sich mehrheitlich rasch wieder mit dem Gedanken von Soldaten und Krieg, letzterer gegen wen und warum auch immer, hätte befreunden können. Es sollte lange dauern, ehe ein westdeutscher Verteidungsbeitrag auf breiter Ebene als offenkundig unverzichtbar und daher unvermeidbar angesehen wurde. Aber dies hat Adenauer stets gewußt: "trotz aller Anstrengungen der Bundesregierung und der Koalitionsparteien blieb der Gedanke der Leistung eines Beitrages und der Übernahme von Verpflichtungen zur Verteidigung Europas im deutschen Volk sehr unpopulär, und zwar auf Grund der Agitation der Kommunistischen Partei und der Sozialdemokratischen Partei, auf Grund von Rundfunkkommentaren und yy

Zeitungsäußerungen, auch von angeblich neutralen Blättern" . Die Medien und die Linken sind inzwischen ein zu probates Objekt politischer Schuldzuweisung geworden, als daß der Historiker sich mit einer solchen Erklärung zufriedenstellen ließe. In Wahrheit ist das Motivmuster für die negative Ein2 1

K. Adenauer, Erinnerungen 1945-1953. Stuttgart 1965, S. 355.

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Stellung eines Großteils der bundesdeutschen Bevölkerung gegenüber den Bonner Aufrüstungsplänen viel komplizierter gewesen 24 . Da waren zunächst einmal die Pazifisten und Kriegs- bzw. Wehrdienstverweigerer. I m Dezember 1953, gleichsam auf dem Höhepunkt der EVG-Phase, trat eine Mehrheit von 48 % der Bevölkerung für eine Kriegsdienstverweigerung ein, im Januar 1955, kurz vor der Ratifizierung der Pariser Verträge, gab es immer noch eine Ablehnungsfront von 45 % gegen 39 % Befürworter 25 . Vor der Unterzeichnung der genannten Kontrakte hielten sich die Aktivitäten der Kriegsdienstverweigerer in Grenzen, wenngleich eine Reihe von Friedensgruppen, die immer in Gefahr stand, kommunistisch unterwandert zu werden, eine gewisse Tätigkeit entfaltete. In diesem Zusammenhang muß insbesondere die Öffentlichkeitsarbeit der Internationale der Kriegsdienstgegner, der deutsche Zweig der War Resisters' International, herausgestellt werden, die den Kriegsdienst aus Ehrfurcht vor dem Leben grundsätzlich ablehnte, auch einen regionalen Konflikt zwischen Ost und West als Vorstufe eines dritten Weltkrieges erachtete, in dessen Verlauf der Untergang des Abendlandes programmiert schien. Die Internationale wandte sich aber auch speziell gegen General- und EVG-Vertrag, nicht nur, weil sie diese Kontrakte als der Wiedervereinigung entgegenstehend erachtete, sondern weil aus ihrer Sicht Aufrüstung, militärische Pakte und einseitige politische Bindungen aus historischer Erfahrung weniger kriegsverhindernd wirkten, als militärische Konflikte geradezu provozierten. Die Organisation sprach sich deshalb für Verhandlungen auf der Grundlage des Stalinschen Angebotes vom März 1952 mit dem Ziel der Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands aus. A b dem Jahre 1955 machte die Liga für Wehrdienstgegner von sich reden mit ihrer Forderung nach friedlicher Koexistenz auf der Basis kollektiver Sicherheit. Die Arbeitsgemeinschaft deutscher Friedensverbände und der Internationale Versöhnungsbund sind hier zu nennen, Organisationen, die eng mit dem Namen Siegmund-Schultze verbunden sind, der als evangelischer Theologe die Verweigerung des Wehr- und Kriegsdienstes aus Gewissensgründen forderte und sich in gutem Kontakt zum A m t Blank aktiv für eine entsprechende gesetzgeberische Regelung verwendete 26 . In der Bewegung gegen die sogenannte Remilitarisierung hatten sich,

2 3

24

Ebd., S. 387.

Vgl. dazu H. K. Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ara Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD. Köln 1983 ,S. 30-64. 2 5 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, S. 377. 2 6 Vgl. allgemein zur Problematik der Gegnerschaft gegenüber einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag und speziell zur Friedensbewegung in den Anfängen der Bundesrepublik E. Dietzfelbinger, Die westdeutsche Friedensbewegung 1948 bis 1955. Die Protestaktionen gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1984.

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wenngleich organisatorisch nicht verbunden, diejenigen Kräfte zusammengefunden, die sich aus leidvoller historischer Erfahrung gegen ein Wiederaufleben des preußisch-deutschen Militarismus wandten, gegen das Wiedererstehen einer Elite, die oft in dünkelhafter Selbstüberschätzung und nicht selten in kritikloser Identifikation mit Kaiserreich und NS-Regime mit zu den Totengräbern des Deutschen Reiches zählt. Daß in dieser zumeist antifaschistischen Formation die kommunistische Linke eine hervorragende Stelle einnahm und mit ihrer antimilitaristischen Kampagne handfeste politische Agitation gegen das staatliche und gesellschaftliche System der Bundesrepublik verband, versteht sich von selbst. Daß der D G B mit in der vordersten Reihe der antimilitaristischen Front stand, berechtigt trotz eines gewissen kommunistischen Einflusses an der Basis nicht dazu, an seiner politischen Verantwortung für das demokratische Staatswesen zu zweifeln. Als prominentestes korporatives Opfer des NSRegimes aber auch im Bewußtsein ihres Versagens im Jahre 1933 fühlten sich die im D G B zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften verpflichtet, eine der tragenden Säulen des demokratischen Gemeinwesens zu sein, "als Korrektiv zum Parteiensystem und Parteienstaat" zu wirken 2 7 . A u f ihrem Gründungskongreß 1949 hatten sie den Schwerpunkt ihres politischen Engagements deutlich gemacht, der "in der Verteidigung der demokratischen Einrichtungen ... gegen jede Autograthie und jede Totalität" beruhte 2 8 . I n Nationalismus und Militarismus erblickten sie eine existentielle Bedrohung des jungen Staatswesens, und wo er in neuem Gewand, in Parteien, soldatischen Vereinen und Traditionsverbänden in Erscheinung trat, zogen sie dagegen zu Felde. Zwar hatten die Militärs 1949 nicht, wie 30 Jahre zuvor, bei der Taufe der Republik Pate gestanden. Aber die Gewerkschaften erkannten, daß sich angesichts vermeintlicher oder tatsächlicher Bedrohung seitens der S B Z / D D R , respektive Sowjetunion, mit dem Etikett des Antibolschewismus versehen, Neonazismus und Militarismus Chancen zum Überleben oder zur Wiederbelebung boten. Die soziale Notlage, die zu Recht oder Unrecht erfolgte politische, gesellschaftliche und berufliche Diskriminierung der ehemaligen Berufssoldaten förderten deren Bestreben, sich nicht nur zur Wahrnehmung beruflicher und ökonomischer Interessen, sondern auch politisch zusammenzuschließen. A n scharfer Polemik hat es daher nicht gefehlt, als sich mit der Gründung des Verbandes Deutscher Soldaten das Bemühen abzeichnete, bisher bestehende Vereinigungen und Gruppen zu einem Dachverband zusammenzufassen. In Krisenzeiten, so meinte der DGB, stelle eine zentrale soldatische Interessenorganisation eine 27 W. Abendroth, Zur Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 3,1952, S. 641-648, hier S. 648.

28

H. Böckler. In: Protokoll. Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes München, 12.-14. Oktober 1949. Köln/Rhein 1950, S. 205.

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Gefahr für die demokratische Ordnung dar. Darüber hinaus bedeute "die Restaurierung militaristischer und nationalistischer Kreise" eine außenpolitische Belastung 29 . Nach dem mißlungenen Zusammenschluß machte dann aber der D G B seinen Frieden mit den Soldatenverbänden, denen er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bescheinigte, sie stellten einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung der Bundesrepublik dar. Zwischen 1949 und Ende 1950 lehnten nach einer EMNID-Umfrage rund 3/4 der westdeutschen Bevölkerung ein persönliches Soldatwerden bzw. das ihrer Angehörigen rundweg ab 3 0 . Sie bildeten die große Zahl der Anhänger der Ohne-Mich-Bewegung, die Zulauf aus allen sozialen Schichten und Parteien verzeichnete. Es gelang nicht, sie zu einem schlagkräftigen außerparlamentarischen Instrument zu formieren, weil ihre Mitglieder in der Regel keine auf politische Veränderungen bedachte Protestier waren, sondern sich persönlich gegenüber einem Verteidigungsbeitrag verweigerten. Bei den ehemaligen Berufssoldaten, die einen hohen Prozentsatz der Verweigerer ausmachten, war es nicht selten die unverarbeitete nationale Niederlage, der ofmals ein hohes persönliches, politisches oder militärisches Engagement für die falsche Sache vorausgegangen war. Andere konnten sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, nach Jahren der erbitterten Gegnerschaft nun plötzlich Kombattanten der einstigen Feindmächte werden zu sollen. Eine weit verbreitete politische Orientierungslosigkeit, aber auch die Verweigerung aus gekränkter nationaler und berufsständischer Ehre, Stichworte: totale Kapitulation, Kollektivschuld, Verurteilung hochrangiger Offiziere müssen als haltungs- und handlungsbestimmende Kriterien gelten. Die Ohne-Mich-Bewegung war zu einem nicht geringen Teil von Kräften getragen, die sich einem Verteidigungsbeitrag nur bedingt verweigerten, deren "ohne mich" verbunden war mit dem Zusatz "so lange bis" oder "ehe nicht", die also konkrete Bedingungen stellten. Die ehemaligen Berufssoldaten forderten z.B. die soziale und versorgungsrechtliche Gleichstellung mit den Beamten, wirksame Schritte zur Beendigung ihrer, wie sie es empfanden, beruflichen Diffamierung, Revision und Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse und schließlich politische und militärische Gleichberechtigung in einem zukünftigen Bündnis. Die Bundesregierung konnte also davon ausgehen, daß sich unter veränderten Vorzeichen die Reihen der Ohne-Mich-Bewegung lichten würden. Der sich abzeichnende Verteidigungsbeitrag im supranationalen Rahmen innerhalb einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft eröffnete als konstituierendes Moment eines vereinigten Europas neue politische Perspekti29 Entscheidung des Bundes-Jugendausschusses des DGB. Zit. n. Gewerkschaftliche Monatshefte 2,1951, S. 540. Vgl. dazu Otto, S. 60 ff.

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ven, und weite, dem Gedanken einer Aufrüstung kritisch gegenüberstehende Kreise der Öffentlichkeit waren bereit, ihre Bedenken zurückzustellen, wenn die E V G ein Schritt in diese Richtung sein sollte. Adenauers kompromißlos an die Bedingungen von Souveränität und partnerschaftlicher Gleichberechtigung im Bündnis gekoppelte Bereitschaft zur Leistung eines Verteidigungsbeitrages hat ihre Wirkung speziell auf die Ohne-Mich-Bewegung, vor allem auf die ehemaligen Berufssoldaten nicht verfehlt. I m April 1951 sprach sich eine knappe Mehrheit repräsentativ befragter Bundesbürger für eine Mitwirkung an einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag aus, jedoch keine absolute Mehrheit. Dieses Ergebnis kann aber nur im Zusammenhang mit einer alternativ formulierten Frage bewertet werden, die lautete: "Sind Sie für deutsche Mitwirkung an der Verteidigung Westeuropas oder sind Sie für eine Neutralisierung Deutschlands?". 37 % sprachen sich für eine Mitwirkung bei der Verteidung aus, 36 % immerhin für eine Neutralisierung, 27 % waren unentschieden. Z u den Protagonisten eines westdeutschen Verteidungsbeitrages läßt sich auch der D G B rechnen. Spätestens seit Beginn des Korea-Krieges verband zumindest die Gewerkschaftsspitze den Willen zur Verteidigung des von ihr akzeptierten Staatswesens gegen den Militarismus nach innen mit dem Entschluß zur Abwehr äußerer Bedrohung, wie sie von D D R und UdSSR auszugehen schien. Das Hans-Böckler-Haus in Düsseldorf hatte sich nach dem Prinzip des do ut des: Zusage der Einführung der paritätischen Mitbestimmung in der Montan-Industrie durch Adenauer, gegen Zusage der Unterstützung der Verteidigungspolitik durch den DGB - auf die Seite der Befürworter eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages geschlagen. E V G und Montan-Union als wichtige Elemente westeuropäischer Einigimg machten es der Gewerkschaftsspitze möglich, für einen Verteidigungsbeitrag zu votieren, zumal man "gerade von der zu schaffenden europäischen Wehrwirtschaft starke Impulse für eine Vereinheitlichung der europäischen Wirtschaftspolitik" erwartete 31 . Zudem wurden Montan-Union und E V G als wirksame Disziplinierungs- und Kontrollinstrumente gegenüber dem zukünftigen Militär und der Rüstungsindustrie gewertet. Ungeachtet zum Teil heftigen Widerstandes in Einzelgewerkschaften und von Streiks begleiteten Protesten der Basis, insbesondere in Bayern, hat der D G B einen aus 31 G. Tuchtfeldt: Der Stand der europäischen Integration Anfang 1952. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 3, 1952, S. 56-59, hier S. 57. Zur Koppelung von Europa- und Wehrpolitik im D G B vgl. auch L. Rosenberg, Die Westpolitik der deutschen Gewerkschaften. In: U. Borsdorf; Η O. Hemmer, G. Leminsky; H. Markmann (Hrsg.), Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität. Zum 60. Geburtstag von Heinz O. Vetter. Köln 1977, S. 553566; L. Niethammer, Entscheidungen für den Westen - Die Gewerkschaften im Nachkriegsdeutschland. In: H. O. Vetter (Hrsg.), Aus der Geschichte lernen - die Zukunft gestalten. Dreißig Jahre DGB. Protokoll der wissenschaftlichen Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften vom 12. und 13. Oktober 1979 in München. Köln 1980, S. 224-234.

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seiner Sicht konstruktiven Beitrag zur Aufstellung der späteren Bundeswehr durch Mitarbeit in den Fragen der Bildung und Ausbildung des Soldaten im Sinne der Inneren Führung geleistet. Der D G B manövrierte sich auf diese Weise in eine schwierige Lage, sowohl gegenüber der SPD wie gegenüber großen Teilen der Basis, die sich einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag gegenüber mit unterschiedlicher Motivation versagten. 1952, während der Wehrdebatten des Bundestages, kam es vielerorts zu Warnstreiks, hinter denen auch Einzelgewerkschaften wie IG-Metall und Ö T V s t a n d e n . Aber wo die einen ihren Frieden mit einem deutschen militärischen Kontingent innerhalb einer europäischen Armee zu schließen bereit waren, sahen andere gerade in der Kombination von Verteidigung und Westintegration einen Weg beschritten, den mitzugehen sie für ausgeschlossen hielten, und zwar unter gesamtdeutschen Aspekten. Es gab nicht wenige gesellschaftliche und politische Lager, die sich in dieser Frage spalteten. Unter diesem Spannungsbogen stand auch die Studentenschaft, die zwar dem bereits besagten Meinungstrend folgte, innerhalb deren sich aber politisch wirksame Gruppen gegen Remilitarisierung, Aufrüstung im allgemeinen und gegen die E V G insbesondere formierten. Während sich beispielsweise noch im Mai 1950 rund 91 % der befragten Erlanger Studenten ablehnend gegenüber Kriegsdienst und einem westdeutschen militärischen Kontingent verhielten, waren es im Wintersemester 1950/51 lediglich noch 31,5 %, 64 % reagierten nicht grundsätzlich ablehnend, aber 88,5 % sprachen sich lediglich gegen eine Bewaffnung "in der jetzigen Situation" aus. Die Zahlen schwanken von Universität zu Universität, sind auch noch nicht vollständig ausgewertet, doch muß die Erlanger Studentenschaft als besonders konservativ eingestuft werden. Ein Gegenbeispiel ist die Göttinger alma mater. Hier schlugen die Wellen des Protestes besonders hoch, war der Schulterschluß zwischen Studentenschaft und Lehrkörper besonders eng. In der zweiten Januarhälfte 1951 erschien eines der zahlreichen Flugblätter, das die Gegenargumente nichtkommunistischer Studenten und Hochschullehrer paradigmatisch enthielt: Westdeutsche Aufrüstung provoziert möglicherweise einen sowjetischen Präventivschlag, beschwört die Gefahr eines Machtkartells von Militär und Industrie. Aufrüstung bedeutet eine kaum tragbare Belastung des noch ungefestigten ökonomischen Systems, gefährdet die Wiedervereinigung. Unterzeichnet war dieses Flugblatt von einer einmaligen Koalition: seitens 32 Zu der Problematik D G B und Verteidigungsbeitrag vgl. auch H.-E. Volkmann, Zur innenpolitischen Diskussion um einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag am Beispiel der Gewerkschaften, 1947 bis 1956. In: Entmilitarisierung und Aufrüstung in Mitteleuropa 19451956. Herford, Bonn 1983, S. 144-163; ders.: D G B und Verteidigungsbeitrag in der E V G Phase. In: H.-E. Volkmann; W. Schwengler (Hrsg.), Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung. Boppard a. Rhein 1985, S. 291-316.

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der Studentenschaft unter anderem von Peter v. Oertzen und seitens der Professoren u. a. von Wilhelm Treue, beide später durch wissenschaftstheoretische und politische Welten voneinander getrennt 33 . Einzelnen Widerstands ungeachtet gingen die politischen Vertretungen der Studentenschaft in der EVG-Phase allmählich vom ob zum wie über. Anfang Juni 1953 unterbreiteten der Ring Christlich Demokratischer Studenten, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der Liberale Studentenbund Deutschlands, der Bund Demokratischer Studentenvereinigungen und die Studentenbewegung für internationale Föderation ihre Forderungen zur Gestaltung einer deutschen Wehrverfassung, die sie intensiv mit Vertretern des Amtes Blank diskutierten. Gefordert wurden die allgemeine Wehrpflicht, die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte, Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und die Einführung von Prinzipien im Sinne der späteren Inneren Führung 3 4 . Bereits früher war mit dem Verband Deutscher Studentschaften über die Zurückstellung während des Studiums verhandelt worden. Die beiden großen Kirchen bildeten einen gewichtigen politischen Faktor in der Auseinandersetzung um den Verteidigungsbeitrag. Ungeachtet dessen, daß Kardinal Frings als Vorsitzender der Katholischen Bischofskonferenz unmittelbar nach Ausbruch des Korea-Konflikts zur westdeutschen Beteiligung an einer eventuell nötig werdenden Verteidigung des christlichen Abendlandes aufgerufen hatte, verhielten sich katholische Kirche und Gläubige zunächst reserviert bis ablehnend. Dann aber erlagen sie mit Verkündigung des Pleven-Plans der Faszination des Europagedankens. Die Opposition weniger Gruppierungen, so der katholischen Laien- und Arbeiterbewegung, wurde vom Episkopat unterdrückt. In dem ihr neuen Bewußtsein, gleichsam zur staatstragenden Kirche zu gehören, war es insbesondere der Bund der katholischen Jugend, der neben anderen Organisationen und Einrichtungen der katholischen Kirche die Planungen des Amtes Blank tatkräftig unterstützte, vor allem im Hinblick auf das sogenannte "innere Gefüge" 35 . Demgegenüber gab die Evangelische Kirche einen besonders unbequemen Partner für die Bundesregierung ab 3 6 . Zum einen, weil die einzelnen 3 3 3 4

Nein? Ein Göttinger Flugblatt. BA Nachlaß Wildermuth 251/7a.

Forderungen der politischen und freien Studentenverbände Deutschlands zur Gestaltung einer deutschen Wehrverfassung, Anfang Juni 1953. Bundesarchiv-Militärarchiv ( = B A - M A ) B W 9/2830. 35 Vgl. dazu A. Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948-1955. Mainz 1981; ders., Die Kirchen und die E V G . Zu den Rückwirkungen der Wehrdebatte im westdeutschen Protestantismus und Katholizismus auf die politische Zusammenarbeit der Konfessionen. In: H.-E. Volkmann; W. Schwengler (Hrsg.), Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, S. 317-335. 3 6 Dokumente zu dieser Problematik bei W. W. Rausch; Ch. Walther, Evangelische Kirche

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Bekenntnisrichtungen und Landeskirchen, ungeachtet ihres administrativen Zusammenschlusses in der E K D einen weiten kirchenpolitischen Handlungsspielraum besaßen, der auch einzelnen Kirchenvertretern eingeräumt wurde, weil Gliedkirchen und Einzelpersönlichkeiten über ein unterschiedliches Staatsverständnis verfügten, das nicht zuletzt ihr Verhältnis zu der C D U / C S U geführten Bundesregierung bestimmte. Obwohl seit 1950 durch einen offiziellen Vertreter bei der Bundesregierung in Bonn präsent, sprach die Evangelische Kirche nicht mit einer Zunge. Zum anderen bildete die Bekennende Kirche als politisch-moralisches Gewissen der E K D , eine A r t Über- oder Nebenkirche, wenngleich selbst unter ihren Mitgliedern in der Wehrfrage kein Konsens herrschte. Aus christlich-religiöser Sicht, und in diesem Punkt schien die Evangelische Kirche zunächst Geschlossenheit zu demonstrieren, sah sie sich laut einer Erklärung des Kirchentages aus dem Jahre 1950 außer Stande, "einer Remilitarisierung Deutschlands ... das Wort" zu reden, "weder was den Westen, noch was den Osten anlangt" 37 . Eine solche Aufrüstung barg als Teil des Wettrüstens die Gefahr des Krieges in sich, und die E K D beschwor daher bereits auf ihrer Synode in Berlin Weißensee im selben Jahr "die Regierungen und Vertretungen unseres Volkes, sich durch keine Macht der Welt in den Wahn treiben zu lassen, als ob ein Krieg eine Lösung und Wende unserer Not bringen könnte" 38 . Die am Schluß beider Deklarationen formulierte Bitte um zumindest verfassungsmäßige Verankerung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen signalisierte jedoch, daß die E K D in der Frage eines Verteidigungsbeitrages zukünftige Realitäten respektieren werde. Daher konstatierten Landesbischöfe Westdeutschlands Anfang 1952, daß die Bundesrepublik wie andere Staaten das Recht haben müsse, sich vor äußerer Bedrohung militärisch zu schützen. Ganz im Gegensatz zu früheren kirchlichen Erklärungen wurde nun festgestellt, schon oft habe "die Waffenlosigkeit derer, denen es mit Recht und Frieden ernst war, die Kriegsgefahr erhöht, sobald wehrlose Räume zum Zugriff verlokken" 3 9 . Hinter solchen Äußerungen stand unausgesprochen die Angst vor einer kommunistischen Aggression, die unter anderem der württembergische Landesbischof Haug deutlich aussprach: "Man mag es tief bedauern, daß uns keine Zeit bleibt zur Aufarbeitung unserer Vergangenheit, aber wir müssen

in Deutschland und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950-1955. Gütersloh 1978. 37 Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Frieden, beschlossen auf dem Kirchentag in Essen 1950, Zit. n. H. E. Jahn, Für und Gegen den Wehrbeitrag. Argumente und Dokumente. Köln 1957, S. 151. 3 8 Kundgebung der Synode der EKD, 23.-27.4.1950. Ebd.

39

Denkschrift vom Februar 1952. Ebd., S. 152.

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uns beteiligen an der Aufrichtung eines Dammes gegen die Flut aus dem Osten" 40 . Dem Staat zu geben, was des Staates ist, diese Grundauffassung hat die die E K D beratende Kammer für öffentliche Verantwortung vertreten, der der Freiburger Historiker Gerhard Ritter und die beiden späteren C D U Bundesminister Tillmanns und Schwarzhaupt ihren geistigen Stempel aufdrückten. Ganz anders argumentierten die Gegener einer deutschen Wiederaufrüstung, als deren prominenteste, wenn auch nicht repräsentative Wortführer der hessen-nassauische Kirchenpräsident Niemöller und Gustav Heinemann gelten können, beide Mitbegründer der Bekennenden Kirche, deren Sprecher, Pfarrer Mochalski, ebenfalls zu den entschiedensten Aufrüstungsgegnern zählte. Höchst politische Charaktere, an deren Lauterkeit es keinen Zweifel gibt, fehlte es den Erstgenannten nicht selten am Blick für die politische Realität und das Machbare, was es erleichterte, sie durch gezielte Diffamierung ins politische Abseits zu drängen. Beide setzten politische und kirchenpolitische Prioritäten, bei denen sie nicht nur ein Großteil des evangelischen Klerus, sondern auch der Bevölkerung der Bundesrepublik und das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes auf ihrer Seite wußten. Für beide stand das Verfassungsgebot der Wiedervereinigung an der Spitze der politischen Wertskala. Für Niemöller bedeutete ein zweigeteiltes, ja dreigeteiltes Deutschland einen Herd latenten Unfriedens und damit dauernder Kriegsgefahr, die durch eine West-Ost-Blockbildung nur verschärft werden konnte. Die drohende Apokalypse eines Atomkrieges durch den Besitz nuklearer Waffen in Washington und in Mokskau ließ ihn zum konsequenten Pazifisten werden. Bestimmend für Niemöllers Absage an eine Aufrüstung in Westdeutschland wie in der D D R und insbesondere sein Widerstand gegen eine militärische Westintegration der Bundesrepublik beruhten auf seiner gesamtdeutschen kirchenpolitischen Orientierung. Kaum ein anderer hat die Abtrennung der protestantischen deutschen Ostgebiete, die zunächst drohende und dann faktische Spaltung der Evangelischen Kirche im Zuge der Installation zweier deutscher Staaten so nachdrücklich verurteilt wie er. Für Niemöller bestand zudem kein Zweifel daran, daß eine ostentative Westbindung mittels eines Verteidungsbeitrages die schwache Gesamtkirche sprengen mußte. Auf dieser Erkenntnis beruhte sein Widerstand gegen die Sicherheits- wie Gesamtwestpolitik der C D U / C S U und Adenauers. Er hat in seiner national-protestantischen Grundeinstellung ein vom politischen Katholizismus dominiertes Deutschland in Form der Bundesrepublik niemals akzeptiert. Sein viel zitierter und zweifelsfrei überzogener Satz von dem in Rom gezeugten und in Washington geborenen Bonner Staat erklärt sich vor 4 0

Zit. n. Jahn, S. 154.

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diesem Hintergrund. Niemöller hat für seine Forderung nach Wiedervereinigung statt Wiederbewaffnung in seiner Eigenschaft als Leiter des kirchlichen Außenamtes der E K D bei seinen vielfachen Reisen in den Ostblock Verbündete gesucht, ein Umstand, den nicht zuletzt führende EKD-Mitglieder innerhalb der C D U dazu benutzten, ihn zum Kommunisten zu stempeln. In Gerstenmeiers Wochenzeitung "Christ und Welt" stand im Januar 1954 zu lesen: "Niemöller ist erst vor einigen Wochen in Budapest gewesen und hat dort der kommunistischen Ungarischen Nachrichtenagentur eine Erklärung 'gegen die Aufrüstung und für den Frieden' zur Verfügung gestellt... Mehr noch: er nahm sogleich danach an der Tagung des kommunistischen Weltfriedensrates in Wien teil. Er zerstörte damit die letzten Zweifel, wo er heute politisch steht" 41 . Auch Heinemann, Renommierprotestant im ersten Kabinett Adenauer, setzte die politischen Prioritäten anders als sein Kanzler: nämlich Wiedervereinigung statt Wiederbewaffnung 42 . Und wo Adenauer alle gesamtdeutschen Stränge konsequent zu kappen suchte, war Heinemann als Präses der Synode der E K D bestrebt, gerade diese gesamtdeutsche Institution auch als Forum für politische Gespräche bestehen zu lassen. Heinemann erachtete die möglicherweise von der Sowjetunion bzw. der D D R ausgehende Bedrohung weniger als eine militärische, denn als - primär marxistisch-ideologisch begründet - revolutionäre und damit innenpolitische, der am erfolgreichsten durch die Schaffung stabiler demokratischer Verhältnisse und einer gerechten und dauerhaften Sozialordnung zu begegnen war. Darüber hinaus wies er warnend auf den eskalierenden Effekt westdeutscher Aufrüstung hin, da sich die Bundesrepublik aus der Sicht des Kreml als der antikommunistischste aller westeuropäischen Staaten gebärdete, eine Überzeugung, die in Verbindung mit der sowjetischen Erinnerung an den "furor teutonicus" der Jahre 1941 bis 44 massive Ängste wachzurufen geeignet erschien. I m Herbst 1950 verließ er das Kabinett. 1952 trat er aus der C D U aus. Die Namen Niemöller und Heinemann stehen nicht nur stellvertretend für die große Zahl der Opponenten aus den Reihen der Evangelischen Kirche gegen eine westdeutsche "Wiederbewaffnung", sie repräsentieren partiell auch die Opposition aus gesamtdeutscher Verantwortung, wie sie sich unter anderem in Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei sammelte, in die die Bundestagsabgeordnete Helene Wessel einen Teil des Zentrums einbrachte. Heinemanns Suche nach Verbündeten, die sich hätten bereit finden können, sein Konzept der Kommunikation, auch und gerade mit dem Osten, mitzutragen, um ein wiedervereinigtes Deutschland zu erreichen, stieß auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Berührungsängste gegenüber der S B Z / D D R waren in der Bundesrepublik derart groß, daß sich Mitstreiter lediglich noch am 4 1

Zit. n. Die junge Kirche 1954, S. 104.

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Rande oder außerhalb des parlamentarischen Spektrums finden ließen. Das Wahlbündnis der GVP mit dem Bund der Deutschen des Weimarer Reichskanzlers Josef Wirth, der die 1922 von ihm mitgetragene Rapollo-Politik der Verständigung mit der Sowjetunion, nun um 30 Jahre verschoben und unter anderen Präliminarien, wieder aufnehmen wollte, und der nachweislich erhebliche finanzielle Zuwendungen von kommunistischer Seite erhielt, dieses Wahlbündnis bot der C D U die Handhabe zur politischen und persönlichen Diffamierung Heinemanns, indem man ihn in den Dunstkreis des Kommunismus stellte. Nicht weniger unglücklich war der Umgang mit Organisationen wie dem Nauheimer Kreis des Würzburger Historikers Professor Noack, der wohl die breiteste Resonanz unter den neutralistischen Gruppierungen gefunden haben dürfte. Nauheimer Kreis und GVP waren Teil der Volksbefragungsbewegung zur deutschen Aufrüstung, die einen riesigen Zulauf nicht zuletzt von kommunistischer Seite hatte, was sie politisch suspekt werden ließ. Die zunächst guten Kontakte Noacks, der im übrigen zeitweilig CSUStadtrat in Würzburg war, zu führenden Persönlichkeiten der D D R , die sich allerdings ostentativ von ihm distanzierten, als er auch für ihren Machtbereich eine Volksbefragung forderte, taten ein übriges, um ihn seinem anfänglich auch in C D U und SPD vorhandenen Kreis politischer Sympathisanten zu entfremden. Bliebe noch ein Blick auf eine wichtige Gruppierung zu werfen, die von einem westdeutschen Wehrbeitrag am ehesten betroffen gewesen wäre, auf die Jugendlichen. Ihr politischer Wille artikulierte sich am deutlichsten dort, wo er durch eine organisierte Institution zum Ausdruck gebracht wurde. Dabei läßt sich feststellen, daß sich die politisch wie konfessionell orientierten Jugendverbände im großen und ganzen meinungskonform mit ihren Parteien und Kirchen verhielten, die Gewerkschaftsjugend allerdings der den Wehrbeitrag weitgehend ablehnenden Basis näher als der DGB-Führung stand, die sportlichen und kulturell ausgerichteten Organisationen zu einheitlichen Stellungnahmen, wie sie der Bundesjugendring mehrfach einforderte, nicht in der Lage waren. Dennoch hat der Bundesjugendring als Dachverband frühzeitig einen intensiven Gedankenaustausch mit dem A m t Blank gepflegt und noch in der EVG-Phase einen von der Mehrheit seiner Mitglieder getragenen Fragenkatalog vorgelegt, der vor allem das sogenannte Innere Gefüge zukünftiger westdeutscher Streitkräfte betraf und der auch sorgfältig beantwortet wurde 4 3 . Auch hier also war der Trend vom ob zum wie unverkennbar, obgleich sich die Gewerkschaftsjugend auf Druck der 42

Vgl. dazu D. Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage. München 1972. Beantwortung des Fragenkataloges des Deutschen Bundesjugendringes Dienststelle Blank, 14.8.1953. B A - M A BW 21/28. 4 3

an

die

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Basis letztlich doch einer konstruktiven Zusammenarbeit entzog. Interessant in unserem Zusammenhang wäre sicher auch noch eine Einbeziehung der wirtschaftlichen Interessenverbände in unsere Betrachtung, doch ist hier der Forschungsstand noch zu unzureichend, als daß verbindliche Aussagen gemacht werden könnten. Man weiß um die Übereinstimmimg dieser Interessengruppen mit der Wirtschaftspolitik Erhards, gleichzeitig aber auch um eine gewisse Scheu, angesichts der Nachkriegsprozesse in das Rüstungsgeschäft einzusteigen, wenngleich Industrie und Handwerk sich in Einzelfällen frühzeitig um Aufträge bemüht haben. Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung ließ allerdings die Frage einer direkten und indirekten Rüstungsproduktion zunächst nicht als besonders aktuell erscheinen. Die Phase zwischen dem Scheitern der E V G im August 1954 und der Ratifizierung der Pariser Verträge zu Beginn des Jahres 1955 weist eigentlich in der Diskussion der Öffentlichkeit keinen qualitativen Sprung auf, obwohl doch der Wechsel von einer europäisch zu einer atlantisch eingebundenen westdeutschen Streitmacht den auf Europa orientierten Befürwortern eines Teils ihrer den Wehrbeitrag akzeptabel erscheinen lassenden Argumente beraubte. Zwar kam es noch einmal zu einem gewissen konzentrierten Aufbäumen der Aufrüstungsgegner in der sogenannten Paulskirchenbewegung, in der sich hin bis zu den Kommunisten alles traf, was gegen die Aufrüstung und gegen die Politik der Bundesrepublik ganz allgemein agierte, einschließlich Vertreter der SPD, des DGB und der Evangelischen Kirche. I n der entscheidenden Entschließung wurden die unterschiedlichen politischen Interessen und Auffassungen dennoch auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, auf das Postulat der Wiedervereinigung, wenngleich über den zu beschreitenden Weg dorthin und über die politische wie gesellschaftliche Ausgestaltung eines zukünftigen gesamtdeutschen Staates die Meinungsschere weit auseinanderklaffte. Die Entscheidung für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag, nun im Rahmen eines atlantischen Bündnisses, war längst gefallen. Einmal im Bundestag, wo die Regierungskoalition über die absolute Mehrheit verfügte, aber auch in der westdeutschen Öffentlichkeit. Dies hatte mehrere Gründe. Die Argumente der generellen Gegner eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages wie die derjenigen aus gesamtdeutscher Verantwortung fanden ein großes publizistisches Echo, aber keinen genügend breiten öffentlichen Resonanzboden! Bereits im September 1951 gab es eine dünne Mehrheit unter der westdeutschen Bevölkerung über 18 Jahren von 52 % gegegenüber 48 % für einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag. I m Sommer des darauffolgenden Jahres sprachen sich 78 % für eine Bindung an den Westen, nur 4 % dagegen aus. Die Erklärung ist in der allgemeinen Bedrohungsvorstellung zu suchen. Es überwog die Angst vor einer kommunistischen Inter-

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vention die Bedenken gegen eine westdeutsche Aufrüstung. I m Sommer 1952, also nach der Stalin-Note, fühlte sich eine absolute Mehrheit der Westdeutschen durch die Sowjetunion bedroht, und eine ebenfalls zwischen Sommer 1952 und 53 wachsende absolute Mehrheit zog die Sicherheit der deutschen Einheit vor. D.h. die Argumente der Neutralisten aus gesamtdeutscher Verantwortung: z.B. Deutschland- und EVG-Vertrag blockieren, Verhandlungen auf der Grundlage der Stalin-Note fördern die Chancen einer Wiedervereinigung, kamen, wie man heute sagt, nicht über. Umfragen im Sommer 1953 und Herbst 1954 ergaben, daß die Mehrheit repräsentativ Befragter ein sowjetisches Junktim: Wiedervereinigung statt Armee und Bündnis, ablehnte. Eine absolute Mehrheit erklärte sich zum gleichen Zeitpunkt 1953 mit Adenauers Politik der Wiedervereinigung einverstanden, also mit einer Politik der Westorientierung und der Stärke gegenüber dem Ostblock. Es schwand nicht unbedingt der Wille zur Wiedervereinigung, aber der Glaube daran, sie in absehbarer Zukunft realisieren zu können. Der Kalte Krieg hatte einen tiefwurzelnden Pessimismus erzeugt, der allein schon seinen Ausdruck darin fand, daß im Dezember 1953 lediglich 8 % der deutschen Bevölkerung an einen positiven Ausgang der Berliner Konferenz, die ja eine alliierte Annäherung in der Deutschlandfrage im Sinne einer Wiedervereinigung bringen sollte, glaubten, lediglich 10 % der CDU-, 9 % der SPDund 6 % der FDP-Anhänger. Nach dem Scheitern der E V G im August 1954 an der Pariser Nationalversammlung waren lediglich 3 % der Westdeutschen über 18 Jahre der Auffassung, die Aussichten auf eine Wiedervereinigung hätten sich verbessert, weil Moskau nun ohne zeitlichen und militärischen Druck ruhig und ehrlich verhandeln könne. Jetzt sprachen sich lediglich 24 % der westdeutschen Bevölkerung für einen Verzicht auf westdeutsche Streitkräfte aus, 59 % hingegen dafür, einen anderen Weg für einen Verteidigungsbeitrag zu suchen, mehrheitlich mit 49 % nun auch die befragten SPD-Wähler. In offenkundigem Widerspruch hierzu mag die Antwort auf die Frage sein: "Glauben Sie, daß die Wiederbewaffnung Deutschlands den Frieden in Europa festigt oder daß sie die Kriegsgefahr vergößert?" 44 % der CDU-Wähler glaubten an eine Festigung des Friedens, rund ein Viertel an eine Steigerung der Kriegsgefahr - etwa das gleiche Verhältnis gilt für die FDP, während es in der SPD genau umgekehrt aussah: nur 22 % der SPDAnhänger meinten, der Friede wäre sicherer, 44 %, also die doppelte Prozentzahl, befürchtete eine Potenzierung der Kriegsgefahr. Die Auflösung dieses Widerspruchs zwischen Zustimmung zu einem wie auch immer gearteten Verteidigungsbeitrag und der weitverbreiteten Furcht vor einer dadurch sich verschärfenden Situation militärischer Konfrontation liegt wohl in der Überzeugung begründet, der sich abzeichnende Schutz innerhalb eines atlantischen Bündnisses sei selbst im Falle eines Krieges größer als ohne diesen der Frieden sicher.

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Neutralität und nationale Frage besaßen vor dem Hintergrund der innenpolitischen Konstellationen und unter sicherheitspolitischen Aspekten keine Chance. A b Januar 1953 zeigte das Meinungsbarometer, das bis dahin stets Höchstwerte für die SPD ausgewiesen hatte, erstmals einen Umschwung der politischen Großwetterlage zugunsten der C D U an. Damit war der Sozialdemokratie jede reale Möglichkeit genommen, sich an die Spitze einer Sammelbewegung der vielfältig motivierten Gegner von Westintegration und westdeutschem Verteidigungsbeitrag im Sinne einer politischen Präferenz für ein vereinigtes Deutschland zu stellen, ein Bestreben übrigens, das sie niemals gehegt hat. Zeitgeschichte sieht sich der Aufgabe verpflichtet, die Verbindung zwischen unserer jüngsten Vergangenheit und unserer Gegenwart herzustellen. Zeitgeschichtliche Aussagen sind sicher nicht primär darauf ausgerichtet, handlungsorientierend zu wirken, sie stehen aber auch nicht im politisch leeren Raum, weil sie in der Regel keine Retrospektive auf ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte darstellen, sondern eine Schau zurück in einem noch fließenden politischen Prozeß. Was den Zusammenhang von Wehrpolitik, Westorientierung und gesamtdeutscher Frage anbelangt, so besteht die begründete Aussicht, daß hier ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte seinen Abschluß findet. Wie bedrohlich sich der Kalte Krieg auch von Zeit zu Zeit zugespitzt haben mag, die Westmächte scheinen ihn aufgrund einer Politk des bewußten Rüstungswettlaufs zu gewinnen. Adenauers in diesem Sinne verstandene Poltik der Stärke hat ihre deutschlandpolitische Wirkung bezüglich der Wiedervereinigung nicht verfehlt. Ob es der einzige, ungefährlichste und kürzeste Weg gewesen ist, darüber werden die Historiker noch zu befinden haben.

DIE WIEDERERLANGUNG DER DEUTSCHEN SOUVERÄNITÄT DURCH DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND IHRE BEGRENZUNG DURCH DIE ALLIIERTEN VORBEHALTSRECHTE* Von Dieter Blumenwitz

* Den Beitrag widme ich Friedrich Berber, geboren am 27.11.1898, gestorben am 24.10.1984

I. Der SouveränitätsbegrifT

Der Begriff der Souveränität entbehrt - ganz abgesehen von seiner unterschiedlichen Ausgestaltung in West und Ost - in weitem Umfang wissenschaftlicher Klarheit 1 . Ohne zunächst auf den bestimmten Inhalt der Souveränität einzugehen, muß die Souveränität des Staates als des Völkerrechtssubjekts von der Souveränität des Trägers der Staatsgewalt unterschieden werden 2 . I m völkerrechtlichen Bereich und damit auch bei der Behandlung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland interessiert primär nur die erste Bedeutung des Wortes Souveränität 3. Spricht man von der Souveränität des Staates als Eigenschaft des Völkerrechtssubjekts, so darf das nicht zu dem Schluß verleiten, daß es sich hier um eine Eigenschaft handelt, die der Rechtsperson zukommen oder nicht zukommen kann, ohne daß dadurch der Rechtsstatus qualitativ beeinträchtigt würde. Ausgehend von der völkerrechtlichen Konzeption des Staates als 1

So schon Fenwick, International Law, 1948, S. 106.

2

Vgl. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 120.

3

Nach dieser terminologischen Klärung Bundesregierung oder der der Regierung der nung der verfassungsrechtlichen Stellung der würde. Auf diese Fragestellung konzentrierte der 50er Jahre.

ist es wenig sinnvoll, von der Souveränität der D D R zu sprechen, da damit nur eine KennzeichRegierungen im internen Bereich vorgenommen sich jedoch die deutschlandrechtliche Forschung

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Handlungssubjekt muß die Einschränkung der Handlungsfähigkeit und die Vorenthaltung von Zuständigkeiten Einfluß auf die Qualität des Völkerrechtsstatus nehmen. Nur von einem materiell gefaßten 4 oder nur von einem formell gefaßten 5 Souveränitätsbegriff auszugehen - eine Unterscheidung, die im Schrifttum getroffen wird 6 -, wäre zu einseitig, um der Vielfalt der politischen Erscheinungen gerecht zu werden. Es genügt nicht, nur auf wirtschaftliche oder parteipolitische Abhängigkeitsformen abzustellen, da derartige Differenzierungen mangels Ideologiengleichheit illusorisch wären. A m formell gefaßten Souveränitätsbegriff ist richtig, daß bei der Frage nach der Souveränität eines Gemeinwesens, soweit dieses allgemein als Träger zumindest eines beschränkten Kreises von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten angesehen wird, von formal rechtlich faßbaren Größen auszugehen ist, wie sie vornehmlich in völkerrechtlichen Abmachungen und Verträgen ihren Niederschlag gefunden haben. Dies darf aber nicht daran hindern, nachzuprüfen, ob die nach dem formellen Souveränitätsbegriff unschädliche Unterwerfung unter völkerrechtliches Vertragsrecht 7 nicht den materiellen Kern der Souveränität trifft. Weiter kann bei der näheren Untersuchung und Auslegung der die Souveränität herstellenden oder einschränkenden völkerrechtlichen Akte nicht auf einen Seitenblick auf die tatsächlichen, rechtlich nicht weiter faßbaren Abhängigkeitsverhältnisse verzichtet werden. Dies gebieten schon die Grundsätze der Normanwendung und Normauslegung 8 . Ausgangspunkt einer Diskussion des Problems der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland muß daher die an der politischen Wirklichkeit geschulte realistische Interpretation der sog. Souveränitätserklärungen und -Vereinbarungen sein.

4 Hier wird nur auf wirtschaftliche oder parteipolitische Abhängigkeit abgestellt; vgl. von der Heydte, Die Entwicklung der deutschen Rechtslage, in: Jahrbuch für Internationales Recht, 1962, S. 138 ff (147 05 Hier werden nur die Tatsachen berücksichtigt, die in internationalen Verträgen und Abmachungen rechtlich faßbar sind; vgl. Marschall von Bieberstein, Zum Problem der völkerrechtlichen Anerkennung der beiden deutschen Regierungen, 1959, S. 99; Marschall von Bieberstein weist darauf hin, daß eine materielle Interpretation des Souveränitätsbegriffs für die Völkerrechtspraxis nur dann Wert besitze, wenn über seine Kriterien größere Klarheit und Einigkeit herrsche, als dies heute der Fall ist. Vgl. Schuster, Deutschlands staatliche Existenz im Widerstreit politischer und rechtlicher Gesichtspunkte 1945-1963,1963, S. 50 ff; Marschall von Bieberstein (Anm. 5), S. 97 ff. 7 So insbesondere Bündnisverträge, die die Stationierung ausländischer Truppen gestatten oder wesentliche Befugnisse der auswärtigen Gewalt dritten Staaten vorbehalten. 8 Vgl. Blumenwitz, Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, 1966, S. 106 f.

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II. Das Fortschreiben der alliierten Siegerrechte nach Beendigung der occupatio bellica

1. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs haben sich nicht an die Schranken gehalten, die das allgemeine Völkerrecht, insbesondere der 3. Abschnitt der Haager Landkriegsordnung 9 , "der Ausübung militärischer Gewalt auf besetztem feindlichen Gebiet" setzt. Die von den Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs nach der Niederlage Deutschlands wahrgenommenen Rechte lassen sich - zumindest in dem Umfang, in dem sie von den Vier Mächten beansprucht und ausgeübt werden - völkerrechtlich kaum rechtfertigen 1 0 . Die "Rechte und Verantwortlichkeiten" der Siegermächte sind nur in dem Umfang völkerrechtskonform, als sie von der "occupatio bellica" oder einem treuhandsähnlichen Verhältnis für Deutschland als Ganzes gedeckt werden oder die vertragliche Zustimmung der betroffenen Staaten gefunden haben oder finden werden 11 . Die Siegermächte leiten ihre Befugnisse mithin grundsätzlich nicht aus dem Recht, sondern aus dem Sieg her (sog. "occupatio sui generis"). Die durch die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland erfolgte Abweichung vom allgemeinen Völkerrecht wird U N rechtlich durch die sog. Feindstaatenklauseln der Charta der Vereinten •

Nationen vom 26. Juni 1945

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ausgegrenzt.

2. Objekt der Vier-Mächte-Verantwortung ist Deutschland in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 13 , d.h. Deutschland als Ganzes. Die Grundstrukturen der Vier-Mächte-Verantwortung werden geprägt vom Festhalten an der Einheit Deutschlands und durch die Respektierung eigener Zuständigkeitsbereiche der jeweiligen Besatzungsmacht. Dieser Absicht entsprach die gemeinschaftliche Besetzung Deutschlands und die Gründung einer gemeinschaftlichen Organisation, deren Hauptorgan der Kontrollrat 1 war. Dieser war als Hauptorgan einer Staatenverbindung der Vier Mächte zu sehen, das unabhängig von seinen Mitgliedern für diese verbindliche gemein9

Text: RGBl. 1910, S. 107.

1 0

Vgl. dazu auch Blumenwitz, Inhalt und völkerrechtliche Grenzen der "Rechte und Verantwortlichkeiten" der Vier Mächte in: Staatliche Kontinuität unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage Deutschlands. Staats- und Völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Bd. 1, S. 47 f; ders., Was ist Deutschland?, 1982, S. 24. Vgl. auch die Schlußbemerkung. 1 2 1 3

Art. 53 und 107; Text: BGBl. 1973 II, S. 431 ff.

Vgl. Ziffer 1 des Londoner Protokolls; Text: U N T S Bd. 227, S. 279. Durch diese Formulierung wurden in Mitteleuropa einige Territorialfragen faktisch festgelegt, die üblicherweise Gegenstand eines Friedensvertrages gewesen wären; vgl. dazu Blumenwitz, Was ist Deutschland?, 1982, S. 21 ff. 14 Vgl. das Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14.11.1944; Text: Rauschning, Die Gesamtverfassung Deutschlands 1962, S. 53 ff.

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schaftliche Gewalt ausübte. Er hatte selbständig eigene Zuständigkeiten neben den Zuständigkeiten der einzelnen Zonenbefehlshaber. Die wesentlichen Zuständigkeiten des Kontrollrats waren die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten. Die gesamthänderische Zuständigkeit der Vier Mächte kam neben und unabhängig vom Kontrollrat in Betracht 15 . 3. Der Fortbestand der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland hing nicht vom Fortbestand des Kontrollrats - der funktionsunfähig 16 wurde - ab, da für alle Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen die Vier Mächte zuständig sind. Eine einseitige Beendigung der Vier-Mächte-Vereinbarung in bezug auf Deutschland als Ganzes erfolgte auch nicht durch einen "Rücktritt" der UdSSR 1 7 . Zwar hat die UdSSR in der Note vom 27.11.195818 erklärt, daß sie das Londoner Protokoll vom 12.9.1944 und die mit ihm verbundenen Zusatzabkommen als null und nichtig ansehe 19 . Später hat die UdSSR jedoch die durch einseitigen Rücktritt ohnehin nicht vernichtbaren originären Besatzungsrechte der Westmächte in Berlin anerkannt und die Geltung des Potsdamer Abkommens bestätigt 20 . Insofern scheint die UdSSR die Note vom 27.11.1958 nicht als Rücktritt zu werten oder ihn stillschweigend zurückzunehmen. 4. Trotz des Übergangs von ehemaligen Vier-Mächte-Zuständigkeiten auf die einzelnen Besatzungsmächte wird an einem Minimum gesamthänderischer administrativer Zuständigkeiten festgehalten. Z u den Zuständigkeiten, die sich nach außen manifestieren, gehören die Arbeit der Berliner Flugsicherheitszentrale 21 , die Verwaltung und Beaufsichtigung des alliierten 1 5 Vgl. dazu Blumenwitz, Inhalt und völkerrechtliche Grenzen der "Rechte und Verantwortlichkeiten" der Vier Mächte (Anm. 10), S. 51 ff. 1 6 Die Funktionsunfähigkeit des Kontrollrats - hervorgerufen durch das Ausscheiden des sowjetischen Vertreters - bedeutete aber zunächst noch nicht seinen rechtlichen Untergang. Erst im Jahre 1952 lehnten dann sowohl die Westmächte als auch die UdSSR in dem Notenwechsel vom 10.7. und 23.8.1952 (Texte bei Jaenicke, Der Abbau der Kontrollratsgesetzgebung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, Bd. 28, S. 44 f. [Anm. 75]) die Rückkehr zum Kontrollratssystem ab. Die Vereinbarungen, die den Kontrollrat betreffen, kann man somit als obsolet betrachten. 17 Dazu vgl. Schenk, Die Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes, insbesondere 18 deren Entwicklung seit 1969, S. 57 ff.

Text: Dokumente zur Berlinfrage 1944-1966, hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, 3. Aufl., S. 301 ff. 19 Hierin ist der Versuch der Sowjetunion zu sehen, die Rechtsposition der Westmächte zu schwächen. 20 Chruschtschow auf der Pressekonferenz vom 19.3.1959; Text: Europa-Archiv 1959, S.D. 183; Note der UdSSR an die USA vom 3.8.1961; Text: Dokumente zur Berlin-Frage (Anm. 21 18), S. 429. Gegründet durch die Flugvorschriften für die Flugzeuge, die die Luftkorridore in Deutschland und die Kontrollzone Berlins befliegen, vom 22.10.1946; Text: Dokumente zur Berlin-Frage (Anm. 18), S. 48 ff.

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Gefängnisses in Spandau , sowie der Vollzug der Urteilssprüche des Nürnberger Militärgerichtshofs. Auch die sowjetischen Militärmissionen in Bünde (Westf.), Frankfurt a.M. sowie in Baden-Baden und die Militärmissionen der Westmächte in Potsdam blieben erhalten 23 . Die sowjetischen Militärmissionen genießen nach wie vor quasi diplomatische Vorrechte und Befreiungen im Bundesgebiet 24 . Ein Rest gemeinsamer Zuständigkeiten für Deutschland als Ganzes bestätigt die Fortgeltung der Feindstaatenklauseln 25 . Schließlich akzentuieren auch das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom 3.9.1971 und die Erklärung der Vier Mächte zum UNO-Beitritt der beiden deutschen Staaten die gesamthänderische Zuständigkeit der Vier Mächte 2 6 . 5. Die Bundesrepublik Deutschland hat den alliierten Siegerrechten zwar keine eigene Rechtsgrundlage verschafft, sie aber doch politisch akzeptiert, da sie unter den gegebenen Umständen der einzige Garant für den Fortbestand Deutschlands sowie für die Sicherheit und den Status Berlins waren. Die Vier-Mächte-Rechte sind nach unserem heutigen Verständnis kein "Superverfassungsrecht", sondern eine "rechtliche Klammer für die Fortexistenz Gesamtdeutschlands"27. Grundgesetz und Vier-Mächte-Rechte sind hierbei - wie innerstaatliches Recht und Völkerrecht - zwei getrennte Normkomplexe, die jeweils von ihrem Standpunkt aus Herrschaft über einen Gegenstand beanspruchen können. Die Vier-Mächte-Rechte überlagern als Besatzungsrecht kraft Effektivität deutsches Verfassungsrecht, löschen es aber in seiner innerstaatlich verpflichtenden Existenz nicht aus 2 8 . 6. Die Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland vollzog sich noch ganz unter der Herrschaft des Besatzungsregimes 29, so daß die Treuhänderschaft der vier Siegermächte für Deutschland als Ganzes nicht berührt werden konnte. Ein Problem ergab sich erst, als im Jahre 1955 der Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei 22 Vgl. auch die Hess-Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission in: EuG 23R Z 1975, S. 482 ff. Vgl. Art. 2 des Londoner Abkommens vom 14.11.1944 in der geänderten Fassung vom 1.5.1945; Text: Rauschning (Anm. 10), S. 53ff. 2 4 Vgl. Rumpf, Land ohne Souveränität, 2. Aufl. 1973, S. 23 f. 2 5

Sie sollen bis zum Abschluß eines Friedensvertrages das Recht zum Einschreiten absi-

chern.

26

Text: Dokumente des geteilten Deutschlands, hrsg. von von Münch, Bd. II, S. 94 ff. Zur Vier-Mächte-Erklärung zum UNO-Beitritt vgl. unten. 2 7 BVerfGE 36, S. I f f (19).

28

So bleibt z.B. für alle Organe der Bundesrepublik die Feststellung des Grundgesetzes bedeutsam, daß Berlin grundsätzlich ein Land der Bundesrepublik ist, obleich diese Rechtsauffassung von den Siegermächten nicht geteilt wird. Vgl. BVerfGE 7, S. Iff. (7ff.). Dies zeigt z.B. sehr deutlich das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949, VO.B1BZ 1949, S. 416 und auch Art. 87 der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950.

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Mächten, der sog. Deutschland- oder Generalvertrag in Kraft trat. I m Deutschlandvertragvom 26. Mai 1952 in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. März 1955» wurde zum Teil eine ausreichende Grundlage für die Annahme einer souveränen Bundesrepublik gesehen 31 . Diese Meinung verweist auf Art. 1 Abs. 2: "Die Bundesrepublik wird demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben". a) Bei der Auslegung dieser Vorschrift darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatenpraxis in völkerrechtlichen Verträgen das Wort "Souveränität" gelegentlich verwendet, um den eigentlichen Charakter der Rechtsbeziehungen dunkel und widerspruchsvoll zu lassen 32 . Es muß auch Mißtrauen erwekken, wenn die Souveränität, die dem Staat kraft seines bloßen Daseins zukommt, aus Rechtssätzen abgeleitet werden muß 3 3 . Verdacht muß letztlich auch dann geschöpft werden, wenn Souveränitätserklärungen mehrmals wiederholt werden oder in neuer Fassung ausgesprochen werden müssen, da grundsätzlich nur schwache Staaten auf derartige Erklärungen angewiesen sind. b) Aber auch diese allgemeinen politischen Erwägungen außer Betracht gelassen, bietet A r t 1 Abs. 2 des Vertragstextes des Deutschlandvertrages nicht die erforderliche Klarheit, die ein großer Teil der Autoren ihm in den 50er Jahren entnehmen mochte. Nach Art. 1 Abs. 2 Deutschlandvertrag soll die Bundesrepublik Deutschland nur "die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben". Damit ist gerade nicht gesagt, daß sie ein souveräner Staat ist 3 4 . Die Bundesrepublik wird nicht unter den Begriff "souveräner Staat" subsumiert, sondern es wird nur eine besondere Eigenschaft des souveränen Staates mit einer besonderen Eigenschaft des in Aussicht genommenen Rechtsstatus der Bundesrepublik in Bezug gebracht. Es liegt streng genommen ein Analogieschluß vor, der allgemein qualitativ Verschiedenes voraussetzt, das sich in gewissen Besonderheiten entspricht. Die entsprechende Besonderheit, die die Bundesrepublik und ein souveräner Staat gemeinsam haben sollen, wäre die "volle Macht" ("full authority"). Was die "volle Macht" im einzelnen darstellen soll, ist der Souveränitätserklärung in A r t 1 Abs. 2 Deutschlandvertrag allein nicht zu entnehmen.

3 0

31

BGBl. 1955 II, S. 305 ff.

Vgl. Kutscher-Grewe, Bonner Vertrag 1952, S. 16 f; Marschall von Bieberstein (Anm. 5), S. 97 32ff; von der Heydte (Anm. 4), S. 147 f; Dahm, Völkerrecht Bd. 1,1960, S. 170. 3 3 3 4

Vgl. dazu auch Blumenwitz (Anm. 8), S. 108 f. Vgl. Berber (Anm. 2), S. 121, Anm. 4. Vgl. Blumenwitz (Anm. 8), S. 109 f; Rumpf (Anm. 24), 2. Aufl. 1973, S. 20 ff, 35.

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c) Während die Souveränitätserklärung für sich auf Grund der unpräzisen Formulierung juristisch schwer faßbar ist, entbehren die Vorbehalte nicht an politischem Gewicht. Es werden nicht nur Rechte vorbehalten; diese werden auch einseitig ausgelegt und der sonst üblichen Schiedsgerichtsbarkeit entzogen 3 5 . Entscheidend für die Souveränität eines Staates ist die Frage nach der Unabhängigkeit von der Kontrolle anderer Staaten, wobei die Unterwerfung unter das Völkerrecht, also auch die Unterwerfung unter völkerrechtliche Verträge, grundsätzlich keine Einbuße an Unabhängigkeit mit sich bringt. Bei jedem vertraglichen Verzicht auf die volle Unabhängigkeit muß aber zusätzlich noch geprüft werden, ob die Freiheit des verzichtenden Völkerrechtssubjekts nicht gerade in ihrem Wesensgehalt derart gemindert wird, "daß der betroffene Staat diese Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit gegen den Willen des Staates oder der Staatengruppe, zu deren Gunsten diese Beschränkung besteht, nicht nur nicht ohne völkerrechtlichen Rechtsbruch aufheben kann, sondern auch nicht ohne verfassungsrechtlichen Rechtsbruch" 36 . Es erscheint zunächst fraglich, ob die von den Alliierten aufgrund der Art. 2, 4 Abs. 1S. 1 und 2, Abs. 2 S. 1, 5 Abs. 2 S. 1 und 2 Deutschlandvertrag ausgeübten Kontrollmaßnahmen überhaupt auf völkerrechtlichem Vertrag beruhen bzw. beruht haben 37 . Dies ist zu verneinen, obwohl die Kontrollrechte in die Urkunde eines völkerrechtlichen Vertrages aufgenommen wurden. Aus Art. 1 i V m Art. 9 Abs. 3 des Deutschlandvertrages ergibt sich nämlich, daß es sich um Vorbehalte der Siegermächte handelt, die gar nicht zur Diskussion standen, über die die Bundesrepublik auch gar nicht verfügen konnte. Es handelt sich um Rechte, die den Siegermächten kraft ihrer (rechtswidrigen) Ausweitung der "occupatio bellica" zur Verfügung stehen 38 . Die Abstriche vom vollen Souveränitätsstatus der Bundesrepublik Deutschland werden insbesondere durch Art. 2 Deutschlandvertrag deutlich, der die Vorbehaltsrechte der Siegermächte regelt. Satz 1 lautet: "Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrages verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes 35 3 6

37

Vgl. Art. 9 Abs. 3 Deutschlandvertrag. Berber (Anm. 2), S. 125.

So auch Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem 1960, S. 27; Schuster (Anm. 6), S. 55 ff. 38 Zur "occupatio sui generis" vgl. auch oben.

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einschließlich der Wiedervereinigung und einer friedensvertraglichen Regelung." 39 . Die drei hohen Kommissare haben allerdings dem Bundeskanzler schon in dem Schreiben vom 26. Mai 1952 versichert, "daß das Recht in bezug auf Deutschland als Ganzes, das sich die Drei Mächte vorbehalten haben, nicht dahin ausgelegt werden kann, daß ihnen hierdurch gestattet wird, die zwischen ihnen und der Bundesrepublik durch die heute unterzeichneten Verträge hergestellten Beziehungen nachteilig zu beeinflussen" 40 . I n Art. 7 Deutschlandvertrag verpflichten sich die Drei Mächte, die Vorbehaltsrechte politisch nur mit einem bestimmten Ziel auszuüben ("frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland"; "Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist"). Beides vermag jedoch den quasi-dinglichen Charakter des Statusvorbehalts nicht zu mindern. Konkrete Auswirkung hat der Vorbehalt bisher vor allem in Berlin, wo das Grundgesetz nach dem Willen der Drei Mächte nur beschränkt anwendbar ist. Im Bundesgebiet wirkt sich der Vorbehalt noch bei der Truppenstationierung aus. Das Recht des Truppenaufenthaltes ist nämlich - trotz der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zum Nordatlantikpakt - nicht nur vertraglich, sondern auch noch besatzungsrechtlich begründet 4 1 . Die Bundesrepublik hat sich in Art. 4 Abs. 2 S. 2 Deutschlandvertrag damit einverstanden erklärt, daß Streitkräfte der gleichen Nationalität und Effektivstärke wie zu der Zeit, als die Verträge in Kraft getreten sind, in ihrem Gebiet gehalten werden. Diese Vereinbarung wird durch den "Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland" vom 23. Oktober 1954 42 ergänzt. A u f den gesamtdeutschen Vorbehalt wird auch die bereits erwähnte 43 Beibehaltung der sowjetischen Militärmissionen mit ihren quasi-diplomatischen Vorrechten und Befreiungen im Bundesgebiet gestützt, die im Austausch gegen die westlichen Militärmissionen in der sowjetischen Zone 1945 beglaubigt worden waren. Mit der "Ausübung ihrer Verantwortlichkeiten in 39 Vgl. auch BVerfGE 5, S. 1 ff (134), wo das Gericht meint, die Vier Mächte könnten "Kraft ihrer - insoweit weiterbestehenden - übergeordneten Besatzungsgewalt handeln", um Maßnahmen, die sie zur Wiedervereinigung Deutschlands für geboten halten, unter sich zu vereinbaren und ohne Rücksicht auf entgegenstehendes deutsches Recht ins Werk zu setzen. In diesem Sinne auch Bathurst-Simpson, Germany and the North Atlantic Community, 1956, S. 195, wo behauptet wird, nur das Besatzungsregime in der Bundesrepublik sei beendet worden, nicht aber die Besatzung selbst in Deutschland, die auf Vier-Mächte-Basis beruhe. 40 Text: Ergänzende Dokumente zu den Pariser Verträgen vom 23.10.1954; BGBl. 1955 II, S. 499. 4 1

Vgl. noch unten I V .

4 2

BGBl. 1955 II, S. 253 ff.

Deutsche Souveränität und allierte Vorbehaltsrechte

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bezug auf Deutschland als Ganzes" begründen die Drei Mächte ferner, daß sie die Kontrolle über so\*jetrussische Luftfahrzeuge im Luftraum der Bundesrepublik ausüben. Auf die gleiche Rechtsgrundlage wurde schließlich auch die Verpflichtung der Bundesrepublik zurückgeführt, für die Kosten des Spandauer Kriegsverbrechergefängnisses aufzukommen. d) Der sog. innere "Sicherheitsvorbehalt" des Art. 5 Abs. 2 Deutschlandvertrag war eine auflösend bedingte Belastung, da es in der Hand des Gesetzgebers der Bundesrepublik lag, ihn auszuräumen. Dies geschah erst im Jahre 1968 mit dem Inkrafttreten des 17. Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes (Notstandsverfassung) 44 und des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses 45. "Die von den Drei Mächten bisher innegehabten oder ausgeübten Rechte in bezug auf den Schutz der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Streitkräften, die zeitweilig von den Drei Mächten beibehalten" wurden, sind somit erloschen, da "die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben" 46 . Die deutschen Behörden sollen dadurch "in Stand gesetzt" sein, "wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen", wie es Art. 5 Abs. 2 Deutschlandvertrag verlangt. Nach dem berühmten Wort von Carl Schmitt: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" 47 , hätten - auch nach staatsrechtlichen Kriterien - Bundesregierung und Parlament erst zu diesem Zeitpunkt - 1 3 Jahre nach der förmlichen Beendigung der occupatio - Souveränität für sich in Anspruch nehmen können. 7. Der "Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen", der sog. Überleitungsvertrag, bindet die deutsche Staatsgewalt durch vertragliche Auflagen in einer Weise, die das normale Maß völkervertragsrechtlicher Beschränkungen eines Staates so wesentlich übersteigt, daß er im Rahmen der Darstellung der Wiedererlangung der deutschen Souveränität zu berücksichtigen ist. 4 3

Vgl. oben II.4.

4 4

Text: BGBl. 1968 I, S. 709 ff.

4 5

Text: BGBl. 1968 I, S. 949 ff.

46 Laut Erklärung der Drei Mächte vom 27. Mai 1968 (BGBl. 1968 I, S. 714) sind die Vorbehaltsrechte mit dem Inkrafttreten des 17. Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes (BGBl. 1968 I, S. 709), der sog. Notstandsverfassung, und des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (BGBl. 1968 I, S. 949) erloschen. 4 7 C. Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1934, S.ll.

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Der Überleitungsvertrag 48 wurde durch das Pariser Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 geändert und trat am 5. Mai 1955 in Kraft. Der I. Teil des Überleitungsvertrages enthält Beschränkungen der gesetzgebenden Gewalt. Der allgemeinen Vermutung, das Besatzungsrecht habe seine Rechtsgeltung durch die Beendigung der Besatzung verloren, wurde durch eine Regelung vorgebeugt, durch die die Organe der Bundesrepublik und der Länder gemäß ihrer im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeit befugt sind, Besatzungsrecht aufzuheben oder zu ändern. Bis dahin blieben die Besatzungsvorschriften also in Kraft. Nach Art. 1 Abs. 1 S. 3 dürfen vom Kontrollrat erlassene Rechtsvorschriften weder aufgehoben noch geändert werden. Diese Vorschrift erfolgte wohl aus Rücksicht auf die vierte Besatzungsmacht Sowjetunion. Allerdings darf die Bundesrepublik "nach jeweiliger Konsultation mit den Drei Mächten" Rechtsvorschriften "innerhalb des Bundesgebietes außer Wirksamkeit" setzen 49 . Ausgenommen bleiben solche, die durch andere Vertragsbestimmungen oder auf ausdrückliches Verlangen der Drei Mächte in Ausübung ihrer Rechte festgeschrieben worden sind. A u f die "Rechte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes" beriefen sich die drei Außenminister denn auch in einem Schreiben vom 26. Mai 1952, mit dem sie darum ersuchten, einige Kontrollratsvorschriften nicht außer Kraft zu setzen. "Rechtsvorschriften, durch welche die vorläufigen Grenzen der Bundesrepublik festgelegt worden sind oder die nach anderen Bestimmungen des (Deutschland-)Vertrages oder der Zusatzverträge in Kraft bleiben", dürfen nur mit Zustimmung der Drei Mächte geändert oder aufgehoben werden. Die rechtsprechende Gewalt wurde durch das Vertragswerk materiell eingeschränkt, indem die deutsche Gerichtsbarkeit über gewisse Tatbestände mit Besatzungsberührung ausgeschlossen und Besatzungsurteile einer Überprüfung entzogen wurden. Verfahrensrechtlich erfolgte eine Einschränkung dadurch, daß für bestimmte Rechtsgebiete internationale Schiedsgerichte oder Kommissionen eingesetzt wurden, die Entscheidungen deutscher Verwaltungsbehörden und Urteile deutscher Gerichte aufheben können 5 0 . Alle drei Gewalten unterliegen der Verpflichtung, von den Besatzungsmächten geschaffene individuelle Rechtsstellungen zu achten und so zu

4 8

49

Text: BGBl. 1955 II, S. 405.

Einige Kontrollratsnormen setzte noch die Alliierte Hohe Kommission am Tage ihrer Auflösung außer Wirksamkeit, darunter auch das Gesetz über die Bestrafung der Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen. Viele Kontrollvorschriften hat auch der Bundesgesetzgeber beseitigt, vgl. das erste Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. 1956 I, S. 437), das vierte Gesetz vom 19. Dezember 1960 (BGBl. 1960 I, S. 1015) usw. Vgl. Art. 3 Abs. 2 und 3 des I. Teils des Überleitungsvertrages sowie die Art. 57.

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behandeln, als wären sie nach deutschem Recht entstanden 51 . Alle drei Gewalten sind schließlich auch gehindert, Personen zu benachteiligen, die mit den Besatzungsmächten zusammengearbeitet haben 52 . Die deutschen politischen Organe sind des weiteren darauf festgelegt worden, auf einigen, wenn auch eng begrenzten, Gebieten den Vollzug von Besatzungsanordnungen zu gewährleisten 53 . Trotz der Vielgestaltigkeit der Vier-Mächte-Rechte waren die Souveränitätsvorbehalte Ende der 60er Jahre im politischen Leben der Bundesrepublik kaum mehr präsent. Einige Staats- und Völkerrechtler hielten sie für obsolet 5 4 . Sie erlebten jedoch im Rahmen der sog. neuen deutschen Ostpolitik eine ungeahnte Renaissance. Die Ostvertragspolitik ließ nichts rechtlich deutlich und politisch virulent werden, was 1955 unklar und politisch tabuisiert war.

I I I . Die Vier-Mächte-Rechte nach Abschluß der Ostvertragspolitik

1. Die Erklärungen der Drei Westmächte zum Moskauer und Warschauer Vertrag verdeutlichen, daß diese Verträge die Vier-Mächte-Rechte nicht zu berühren vermögen . In Beantwortung einer Note der Bundesrepublik Deutschland vom 7. August 1970 anläßlich der bevorstehenden Unterzeichnung des Moskauer Vertrages und einer Note vom 19. November 1970 zum Warschauer Vertrag bestätigen die drei Westmächte der Bundesrepublik, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes, wie sie in den Nachkriegsübereinkünften ihren Niederschlag gefunden haben, durch diese zweiseitigen Verträge nicht berührt werden und nicht berührt werden können. Dieser Notenwechsel wurde auch der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen zur Kenntnis gebracht. 2. Die Vier-Mächte-Rechte - über die sog. Entspannungs- und Normalisierungspolitik hinweg- fortzuschreiben, ist Aufgabe der Unberührtheitsklauseln. Derartige Unberührtheitsklauseln enthalten Art. 4 Moskauer Vertrag und Art. I V Warschauer Vertrag. Für die deutsch-deutschen Beziehungen wird der Vorrang der Vier-Mächte-Verantwortlichkeit in einem beson5 1

Vgl. Art. 2 des I. Teils des Überleitungsvertrages.

5 2

Vgl. Art. 3 Abs. 1 des I. Teils des Überleitungsvertrages.

5 3

Vgl. Art. 9 Abs. 2 des I. Teils des Überleitungsvertrages.

5 4

Vgl. z.B. Doehring, Bindung der Bundesrepublik aus dem Deutschlandvertrag, in: NJW 1971, S. 449 ff.

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deren Briefwechsel vom 21. Dezember 1972 zu Art. 9 Grundvertrag 56 hervorgehoben. Eine entsprechende Regelung fehlt dagegen im Prager Vertrag^ 7 , da die Nichtigkeit des Münchner Abkommens Deutschland in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 nicht berührt. I m Vier-Mächte-Abkommen über Berlin 5 8 ist die Unberührtheitsklausel im letzten Satz der Präambel und in Ziff. 3 von I enthalten. Schließlich enthält auch das Prinzip X des Prinzipienkatalogs der KSZE-Schlußakte 59 eine Unberührtheitsklausel. Die Unberührtheitsklausel besagt, daß Rechtspositionen der Vertragsparteien aus früheren Verträgen oder auch Abmachungen, die die Vertragsparteien nur betreffen, unberührt bleiben, d.h. im Konfliktfalle praktisch Vorrang gegenüber den neuerlich getroffenen Vereinbarungen haben sollen. Unberührt bleiben also die vierseitigen Vereinbarungen über den VierMächte-Status einschließlich der Berliner Erklärung 6 0 und des Potsdamer Abkommens 6 1 . Unberührt bleiben insbesondere auch der Deutschlandvertrag und die mit ihm zusammenhängenden Vereinbarungen. 3. Auch die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die U N O kann als solche nicht zu einer Verkürzung der von den Siegermächten beanspruchten Befugnisse führen, da diese in einer Erklärung vom 9.11.1972, die als UNO-Dokument zirkulierte, bekräftigen, "daß diese Mitgliedschaft die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praxis in keiner Weise berühren darf' 6 2 . Die beiden deutschen Staaten dürfen daher trotz der Zustimmung der Vier Mächte zu ihrer Aufnahme in die U N O nicht darauf vertrauen, von diesen nicht mehr als Feindstaaten im Sinne des Art. 107 UNO-Charta behandelt zu werden, soweit den Vier Mächten noch Rechte und Verantwortlichkeiten zustehen. 5 5

Text: BGBl. 1972 II, S. 356ff., 364ff.

5 6

Text: BGBl. 1973 II, S. 421; am 21.12.1972 übermittelte die D D R der UdSSR entsprechend einer Vereinbarung mit der Bundesrepublik eine Note, nach der die D D R und die Bundesrepublik unter Bezugnahme auf Art. 9 Grundvertrag feststellen, "daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken durch diesen Vertrag nicht berührt werden können"; Text: Verträge, Abkommen und Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 1973, S. 40. 5 7

58 5 9

Text. BGBl. 1974 II, S. 989 f. Text: siehe Anm. 26. Text: BT-DS 7/3867.

6 0

Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 7 ff.

6 1

Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, S. 13 ff.

6 2

Text: A d G 1972, S. 17457.

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IV. Die "Nachrüstung" und das Recht der Truppenstationierung auf deutschem Boden

Die politische Diskussion um die sog. "Nachrüstung" im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses hat in den 80er Jahren einen weiteren Aspekt der Vorbehaltsrechte wieder in den Vordergrund gerückt, nämlich die Frage, ob die Stationierung von Pershing II-Raketen auf dem Gebiet der Bundesrepublik auch ohne die Zustimmung der zuständigen deutschen Organe möglich 63

ware . Das Recht der Truppenstationierung auf deutschem Gebiet ergibt sich auch heute noch aus dem Siegerstatus der vier Großmächte und nicht nur aus vertraglichen Vereinbarungen. Art. 4 Abs. 2 S. 1 des Deutschlandvertrages bestimmt neben Art. 4 Abs. 2, dessen Regelungsgehalt mit Inkrafttreten des deutschen Verteidigungsbeitrages obsolet geworden ist, daß die "bisher ausgeübten oder innegehabten und weiterhin beizubehaltenen Rechte in bezug auf die Stationierung von Streitkräften in Deutschland von den Bestimmungen dieses Artikels nicht berührt (werden), soweit sie für die Ausübung der im ersten Satz des Artikels 2 dieses Vertrages 64 genannten Rechte erforderlich sind". Entscheidend für die praktische Politik ist, daß die westlichen Siegermächte ihre Vorbehaltsrechte einseitig interpretieren dürfen 65 . Nach Art. 9 des Deutschlandvertrages soll zwar ein Schiedsgericht eingerichtet werden, "das gemäß den Bestimmungen der beigefügten Satzung tätig werden wird". Gemäß Art. 9 Abs. 3 Deutschlandvertrag sind jedoch von der vertraglich vereinbarten Schiedsgerichtsbarkeit Streitigkeiten ausgenommen, "welche die in Artikel 2, ... dem ersten Satz des Absatzes 2 des Artikels 4 ... angeführten Rechte der Drei Mächte oder Maßnahmen auf Grund der Rechte berühren ...". Diese Angelegenheiten unterliegen "nicht der Gerichtsbarkeit des 6 3

64

Dazu BVerfGE 84, S. Iff.

Art. 2 S. 1 lautet: "Im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abschluß eines Friedensvertrages verhindert hat, behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung und einer friedensvertraglichen Regelung." 6 5 Das konnte insbesondere bei der Nachrüstungsdebatte hinsichtlich der Auslegung des Begriffs "Effektivstärke" relevant werden. Bedeutet "Effektivstärke", daß die Westmächte Truppen mit der gleichen Kopfstärke und mit der gleichen Ausrüstung wie 1955 beim Inkrafttreten der Verträge in der Bundesrepublik stationieren dürfen, oder bedeutet der Begriff, daß Stationierungsrechte der Westmächte je nach der Rüstung des Ostblocks variabel und anpassungsbedürftig sind, die Rüstung also "effektiv" sein darf?

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Schiedsgerichts oder eines anderen Gerichts", wie Art. 9 Abs. 3 Deutschlandvertrag ausdrücklich vermerkt.

V. Ausblick

Das Bundesverfassungsgericht führt in seiner Grundvertragsentscheidung aus, es sei verfassungswidrig, "wenn die Verweisimg auf die Vier-MächteVerantwortung für Gesamtdeutschland bedeuten würde, künftig sei sie allein noch eine (letzte) rechtliche Klammer für die Fortexistenz Gesamtdeutschlands. Verfassungskonform ist die Verweisung auf die Vier-Mächte-Verantwortung nur, wenn sie eine weitere Rechtsgrundlage für das Bemühen der Bundesrepublik um Wiedervereinigung bildet, nämlich eine völkerrechtliche neben der staatsrechtlichen Klammer". Die Vier-Mächte-Rechte und die entsprechenden Souveränitätseinschränkungen tragen ein Janusgesicht: Sie erscheinen einerseits als Ausdruck eines Treuhandverhältnisses für Deutschland als Ganzes, andererseits bedeuten sie auch eine Interventionsmöglichkeit in Deutschland. Sie sind ein Instrument, mit dem die Einheit Deutschlands bewerkstelligt werden kann, aber auch ein Instrument, mit dem letztlich jede der Siegermächte die Einheit Deutschlands verhindern kann. Aus der Ambivalenz der Vier-Mächte-Rechte ergibt sich für die Bundesrepublik Deutschland die Gefahr, sich "zwischen zwei Stühle zu setzen": die Konstellation, daß mit dem Instrument der Vier-Mächte-Rechte die Wiedervereinigung nicht erreicht wird, das diskriminierende Feindstaatenregime aber gleichzeitig sich weiter verfestigt, ist unverkennbar. Ziel einer "Vier-Mächte-Politik" der Bundesrepublik nach drei Jahrzehnten Deutschlandvertrag darf deshalb nicht die generelle Abstinenz, sondern muß die bewußte Stärkung des Elements der Treuhand sein und eine "frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland". A u f der Grundlage des Art. 7 Deutschlandvertrag muß die Ausübung der VierMächte-Rechte "deutschlandpolitisch" eingebunden werden. Deutschlandpolitik darf nicht nur auf die Vier-Mächte-Rechte, auf den sog. "Vorteil, nicht ganz souverän zu sein", reduziert werden. Einen Vorteil, nicht ganz souverän zu sein, gibt es in den von souveränen Staaten geprägten zwischenstaatlichen Beziehungen nicht. Deshalb sollte sich die Bundesrepublik Deutschland auch davor hüten, den Sieger-"Rechten" eine vertragliche Grundlage zu verschaffen, die nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts weiterhin nicht existiert.

DIE REGELUNG DER DEUTSCHEN REPARATIONEN NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Von Helmut Rumpf

I. Einleitung

Begriff und Grundsatz der Reparation Reparation - darunter werden im politischen und völkerrechtlichen Sprachgebrauch ursprünglich Kriegsentschädigungen verstanden, die den Besiegten von dem oder den Siegern nach dem Ende des Krieges abverlangt werden 1 . Wie sehr der Begriff zwischen Recht und Politik schillert, darauf deuten schon die dafür gebräuchlichen Synonyme: Entschädigung, Ersatzleistung, Wiedergutmachung, Tribut. Zwischen Entschädigung als Rechtsbegriff und Tribut als politisch-polemischer Bezeichnung, die seitens der nationalen Opposition in der Weimarer Epoche für die Reparationsleistungen nach dem Versailler Friedensvertrag gebraucht wurde, besteht im Deutschen eine spezifische, historisch erklärbare Spannung. Daß zwischen den englischen, französischen und italienischen Synonymen - reparation, compensation, indemnification bzw. réparation, dédommagement, indemnisation bzw. riparazione oder risarcimento - kein vergleichbarer Bedeutungsunterschied spürbar ist, liegt wohl an der andersartigen geschichtlichen Erfahrung. Ungeachtet der spezifischen deutschen Terminologie verbindet und vermischt sich im Begriff der Kriegsreparationen der Gedanke der Wiedergutmachung für ein völkerrechtliches Delikt 2 mit verschiedenen politischen, 1 Vgl. I. Seidl-Hohenveldern, Art. Kriegsentschädigung, Strupp-Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 2. Bd., 1961, S. 337-343. Ders., Art. Reparations und Art. Reparations after World War II, Encyclopedia of Public International Law, Instalment 4, 1982, p. 178, 180 ff.

2

Dazu I. von Münch, Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft, Frankfurt a.M. 1963, besonders S. 149 ff. IC Ipsen, Völkerrechtliche Verantwortlichkeit und Völkerstrafrecht, E. Menzel, K. Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl 1979, S. 343 ff.

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sprich machtpolitischen Interessen. Ob man jedoch solche Reparationen rechtssystematisch als Unterfall der Wiedergutmachung von Völker-Unrecht, von Staatenverantwortlichkeit, behandeln soll, erscheint angesichts der außergewöhnlichen Umstände eines vorangegangenen Krieges höchst fraglich. Jedenfalls werden sie im wissenschaftlichen Schrifttum im Kapitel der allgemeinen Wiedergutmachung völkerrechtlicher Delikte nur am Rande oder gar nicht behandelt. Ist doch der Krieg mehr und etwas anderes als eine einmalige Verletzung der Gebietshoheit, einer vertraglichen oder gewohnheitsrechtlichen Verpflichtung, der diplomatischen Immunität oder des Ausländerrechts. Auch standen sich nach einer Kriegsentscheidung die Kontrahenten gewöhnlich nicht als Partner gegenüber, die zu einem schiedsgerichtlichen Ausgleich ihrer Ansprüche bereit waren 3 . Die historischen Vorgänge von Reparationsregelungen nach einem Kriege überschreiten aber auch bei weitem den Rahmen des Artikels 3 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, wonach "die Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung verletzen sollte ... gegebenen Falles zum Schadenersatz verpflichtet" ist. I m Oppenheim-Lauterpacht liest man in der 7. Ausgabe von 1952: "Treaties of Peace often provide for the payment by the vanquished Power to the victor of a sum of money. The causes of such stipulations are various, and from the legal point of view immaterial. It may be a desire to enrich the victor, or to punish the vanquished, or to achieve both these ends; or it may be merely the recoupment of the victor for the expenses of the war. Such payments have usually in the past been described as 'indemnities', and history affords many instances of them ...". Die Reparationen Deutschlands nach dem ersten Weltkrieg seien keine solchen "indemnities" gewesen, da sie mit dem Kriegsschuldartikel (231) des Versailler Vertrages begründet worden waren 4 . Vom Versailler Vertrag datiert die entscheidende Wendung zum diskriminierenden Reparationsbegriff, die Verdrängung der moralischrechtlich indifferenten indemnities als Kriegskosten- und -schädenersatz durch den rechtlich-moralisch gefärbten Gedanken der pauschalen Wieder3 Im Rahmen der "State Responsibility" in der besonderen Rubrik "war claims" werden Kriegsreparationen behandelt, z.B. bei W. W. Bishop, Jr., International Law, Cases and Materials, 3rd. Ed., Boston 1971, p. 795 ff. Dort heißt es u.a.: "The international law relating to war claims appears to be one of the least satisfactory parts of the law of state responsibility and international claims... the parties are more likely to be guided by consideration of politics, of who won and who lost, or by the 'moral climate of opinion' incident to the termination of the hostilities, than they are by any general rules of international law...". Im Vordergrund steht die Entschädigungsregel des Art. 3 der Haager Landkriegsordnung von 1907. Bei Oppenheim-Lauterpacht, International Law, 7th Ed. 1952 wird das Thema Reparationen im Abschnitt Compensation des Bandes II, Disputes, War and Neutrality, eigentlich nur gestreift, S. 594. 4 Oppenheim-Lauterpacht, a.a.O., S. 594/5.

Regelung der deutschen Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg

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gutmachung des Völker-Unrechts der Aggression. Der Begriff der Reparation hat deutsche Völkerrechtler nach dem zweiten Weltkrieg stark beschäftigt, da von ihm einerseits die rechtliche Beurteilung der von den Siegermächten unter diesem Titel durchgeführten Maßnahmen, andererseits die Begründung der Ersatzansprüche der dadurch geschädigten deutschen Privatpersonen abhing. Eine der frühesten ausführlichen Erörterungen ist in der von Senator G.W. Harmssen herausgegebenen Denkschrift "Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard" (Bremen, 1947)5 enthalten, deren Anlage I "Die Reparationsfrage im Völkerrecht" behandelt. Ihr Ziel war, für die Verrechtlichung der Reparationspolitik zu werben. Dabei wurde die Reparation von Beute, Kontributionen und Tributen als "rechtsgrundlosen" Eingriffen unterschieden und die Reparationsforderung als "ein Schadenersatzanspruch aus unerlaubter Handlung im Verhältnis zwischen Staaten" definiert. Bei der Kriegsentschädigung unterschied man zwischen Kriegskosten, die die Führung des Krieges erforderten, und Kriegsschäden, d.h. Verlusten, die Privatleute an ihrer Person und ihrem Vermögen durch den Krieg erlitten hatten 6 . Herbert Krüger definierte 1953 in einem Gutachten: "Die Reparation ist Schadenersatz wegen eines völkerrechtlichen Delikts" 7 . Demgegenüber ist nach Bernhard Wolff "Der Begriff der Reparation ... ein neuartiger und komplexer Begriff, der vielfache Motivierungen und Deutungen zuläßt: Reparation im engeren Sinne (Wiedergutmachung, Schadenersatz) und Reparation im weiteren Sinne (Straf- und Sühnemaßnahmen, Kriegsentschädigung, Mittel und Fortsetzung des Wirtschaftskrieges)". Immerhin zählt auch Wolff die Reparation in die Kategorie der Völkerrechtsbegriffe 8 . Die vielfach bemühten historischen Präzedenzfälle von Friedensverträgen bestätigen allerdings keine so klare begriffliche Unterscheidung nach Epochen, wie gerne behauptet wird, da das politische und das rechtliche Element nie so scharf getrennt und auch früheren Jahrhunderten Gesichtspunkte der Wiedergutmachung nicht fremd waren. So bleiben die begrifflichen Grenzen flüssig, der Begriff mehr von geschichtlicher Erfahrung als von rechtlicher Logik geprägt. Was den delikts- und entschädigungsrechtlichen Aspekt von Reparationen nach einem Kriege betrifft, gilt auch für sie der schon bei Grotius als naturrechtlich qualifizierte allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach "ein Völker5

Harmssen-Denkschrift (1947), Anlage I, S. 13.

6

a.a.O., S. 7. Vgl. Seidl-Hohenveldern, a.a.O.

7

H. Krüger, Wesen, Grund und Höhe des Reparationsentschädigungsanspruchs, Hamburg 1953, S. 40.

g

B. Wolff, Min. Dir. a.D. im Bundesfinanzministerium, Zur Abgeltung der Reparationsschäden (Rechtsgutachten Wolff), Bonn o J. (1964), S. 15-17-133.

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rechtssubjekt, dem ein völkerrechtlicher Unrechtstatbestand zugerechnet wird, verpflichtet (ist), den entstandenen Schaden wieder gutzumachen" 9 . Aus der internationalen Rechtsprechung führt man dafür vor allem das Urteil des ständigen Internationalen Gerichtshofs (CPJ) im Falle Chorzów (betr. Enteignung deutschen Vermögens durch Polen) vom Juli 1927 an 1 0 , in dem es heißt: "C'est un principe du droit international que la violation d'un engagement entraine Γ obligation de réparer dans une forme adéquate... la réparation doit, autant que possible, effacer toutes les conséquences de l'acte illicite et rétablir Pétat qui aurait vraisemblablement existé si ledit acte n'avait pas éte commis...". Die Anwendung dieses ganz abstrakten Rechtsgrundsatzes in der Praxis bedarf für jede Art von Wiedergutmachung im Völkerrecht der Konkretisierung durch spezielle Rechtsnormen, d.h. in erster Linie durch einen Vertrag, eventuell auch unmittelbar durch Schieds- oder Gerichtsurteil. "Ob überhaupt Schadenersatz und in welchem Ausmaß er einzutreten hat, kann nur der Wiedergutmachungsvertrag oder das durch Vertrag eingesetzte Schiedsgericht nach seinem Ermessen bestimmen", schrieb Kelsen in seinem bekannten Aufsatz "Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht" von 1932 11 . Der abstrakte Satz sei mangels inhaltlicher Konkretisierung nicht geeignet, eine Rechtspflicht zu begründen. Auch nach Paul Guggenheim "bedarf es somit zwischen dem verletzenden Pflichtsubjekt und dem verletzten Rechtssubjekt noch eines Vertrages", der den Inhalt der Wiedergutmachung festlegt, damit sie zustande kommt. "Die Wiedergutmachung ist nämlich keine durch das allgemeine Völkergewohnheitsrecht statuierte Folge des Unrechtsakts, sondern eine durch einen besonderen Vertrag zu vereinbarende Ersatzpflicht". Nach einer Gegenmeinung läßt sich auch der Inhalt (Naturalrestitution) aus Gewohnheitsrecht ableiten 12 . Wie immer diese Streitfrage für die Staatenverantwortlichkeit im Frieden zu beantworten ist, gewiß ist, daß die Reparationsfrage nach einem Kriege nur durch Vertrag zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern oder durch Diktat des Siegers geregelt werden kann. Schieds- oder gerichtliche Entscheidung wird wohl nur eine theoretische Möglichkeit bleiben.

9 A. Verdross, Völkerrecht, 2. Aufl. 1950, S. 302. H. Grotius, Die Jure Belli ac Pacis, 1625, II. Buch, 17. Kapitel § 1. 1 0 CPJ, Serie A , 9, S. 21, A 17, S. 47. 1 1 H. Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Ztschr. f. öff. Recht, Bd. X I I , 1933, S. 481 ff, 556. 12 P. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 1951, S. 568. Dagegen Verdross, a.a.O., S. 303; A. Schüle, Art. Wiedergutmachung, Strupp-Schlochauer, Wörterbuch d. V R , Bd. 3,1962, S. 843.

Regelung der deutschen Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg

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II. Etappen der Realisierung des Reparationsanspruchs der Sieger

1. Reparationen durch Besatzungsrecht a) Vier-Mächte-Abkommen Die Reparationsansprüche der Sieger des zweiten Weltkrieges gegen Deutschland wurden in zwei Stufen mit zwei rechtlichen Grundformen realisiert: 1.

Einseitige Befehle und Gesetze der Besatzungsmächte und deren unmittelbare Durchführung in der Anfangszeit der Besatzung, die z.T. noch bis zur Aufhebung des Besatzungsregimes 1955 weiterwirkten;

2.

Vertragliche Regelungen ab 1949 mit der Bundesrepublik Deutschland.

Voraussetzung und formale Rechtfertigung der Methoden der ersten Phase, also der einseitigen Feststellung der Ansprüche und ihrer Befriedigung, kurz das Reparationsdiktat, war die vollständige Auflösimg der Reichsstaatsgewalt mit der Folge, daß auf deutscher Seite kein handlungsfähiger Partner bestand, der für das in Anspruch genommene deutsche Reich hätte sprechen und verhandeln können. Die Leitmotive und Richtlinien der alliierten Reparationspolitik wurden in den Drei- und Vier-Mächte-Proklamationen und -Abkommen niedergelegt. Dabei zeigte sich schon früh die typische Verquickung deliktrechtlicher und machtpolitischer Absichten und Beweggründe: neben dem echten Verlangen nach Schadensersatz für die Siegerstaaten und ihre Bürger stand der Wille, das deutsche Volk auf Dauer wirtschaftlich und militärisch zu schwächen, zur materiellen und moralischen Ohnmacht zu verdammen, einen gefährlichen Rivalen, Konkurrenten und Friedensstörer auszuschließen (Morgenthau); eine Politik, die im Rechtsgutachten Wolffs als Fortsetzung des Wirtschaftskrieges gekennzeichnet wird 1 3 . In der Jalta-Erklärung vom 11. Februar 1945 hatten Churchill, Roosevelt und Stalin eine erste Entscheidung zur alliierten Reparationspolitik bekanntgegeben und es "für Recht befunden, daß Deutschland in größtmöglichem Umfang verpflichtet wird, Ersatz in Waren zu leisten". Eine Reparationskommission mit Sitz in Moskau sollte Ausmaß und Methode der Kompensation beraten. Im Jalta-Protokoll vom gleichen Tage wurden die Arten der Reparationen festgelegt, die zu entnehmen waren: nämlich Sachwerte (Betriebsanlagen, Maschinen, Schiffe, Eisenbahnmaterial usw.), aber auch 1 3

Vgl. Anm. 8, S. 17.

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Aktien, deutsches Auslandsvermögen, jährliche Warenlieferungen aus der laufenden Produktion und Ausbeutung deutscher Arbeitskräfte. Dabei wurde erläutert, die Entnahmen von Sachwerten dienten hauptsächlich dazu, das Kriegspotential Deutschlands zu zerstören. Die Einzelheiten waren von der Reparationskommission in einem Reparationsplan auszuarbeiten 14 . Nicht einigen konnten sich die "großen Drei" über die Gesamtsumme der Reparationen, die Stalin und Roosevelt auf 20 Mrd. Dollar festsetzen wollten, von denen die Sowjet-Union 50 % erhalten sollte. Der die Reparationen behandelnde Abschnitt I V des sogenannten Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 sah eine Verteilung der Gebiete und Vermögenswerte vor, aus denen die alliierten Reparationsansprüche befriedigt werden sollten. Die moralische Begründung kam in der Motivierung mit den Verlusten und Leiden zum Ausdruck, die Deutschland den Vereinten Nationen verursacht hat "und wofür das deutsche Volk der Verantwortung nicht entgehen kann". In der Aufteilung der dem Zugriff unterworfenen Werte in die später so genannte "Westmasse" und "Ostmasse" auf die beiden Gläubigergruppen der Westmächte und der Sowjet-Union zeichnete sich die Teilung Deutschlands auch für Zwecke der Reparationen ab, eine Aufteilung, die der an anderer Stelle (Abschnitt III, Ziffer 14) verkündeten Absicht zuwiderlief, daß Deutschland während der Besetzung als eine wirtschaftliche Einheit (a single economic unit) behandelt werden sollte. Nach dieser Aufteilung sollte sich die Sowjet-Union aus ihrer Zone und aus dem deutschen Vermögen in den von ihr besetzten Ländern Osteuropas von Finnland bis Österreich befriedigen, die westlichen Verbündeten aus ihren Zonen und dem im westlichen Bereich gelegenen deutschen Auslandsvermögen. I m Potsdamer Abkommen waren der UdSSR außerdem 25 % der in den Westzonen zu demontierenden Industrieanlagen zugesprochen worden, davon 15 % im Austausch gegen Nahrungsmittel und Rohstoffe, 10 % ohne Gegenleistung 15 . Nachdem die Sowjet-Union mit ihren Gegenleistungen in Verzug geraten war, stellte die US-Militärregierung die Lieferung von Demontagegütern 1946 ein. I m Pariser Reparationsabkommen vom 14. Januar 1946 16 (LARA) wurde der westliche Reparationsanteil unter sämtliche Alliierte mit Ausnahme der Sowjet-Union und Polens, das von dieser aus ihrem Anteil zu befriedigen war, aufgeteilt. Dies Abkommen, das eine bis Ende der sechziger Jahre bestehende Behörde, die Interalliierte Reparationsagentur mit Sitz in Brüs14 Texte nach I. von Münch (Hrsg.), Dokumente des geteilten Deutschlands, 2. Aufl., Stuttgart 1976, S. 5-16. 1 5 Text: v. Münch, a.a.O., S. 32 ff. Vgl. Böhmer-Duden-Janssen, Deutsches Vermögen im Ausland, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz, Bd. 1,1951, S. 10 ff.

Regelung der deutschen Reparationen nach dem zweiten Weltkrieg

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sei, ins Leben rief, hat in der deutschen und alliierten Reparationspolitik, z.B. durch seine Erwähnung im Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen, eine erhebliche Rolle gespielt, obwohl Deutschland kein Vertragspartner war. Außer den drei westlichen Hauptmächten und den ehemals von Deutschland besetzten westlichen Ländern gehörten Albanien, Ägypten, Australien, Kanada, Neuseeland, Indien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Südafrika zu den Vertragspartnern. Die deutschen Reparationen wurden in die Kategorien A und Β eingeteilt. Β umfaßte alle Industrieausrüstungen und andere Produktionsanlagen, Handels- und Binnenschiffe; A alle übrigen Reparationsgüter, d.h. vor allem das private deutsche Auslandsvermögen. Die Vertragspartner erhielten feste Anteile in Prozenten der beiden Kategorien (Art. 1 A ) . Die Agentur führte für jeden Signatarstaat ein Reparationskonto, das mit den empfangenen Werten belastet wurde (Art. 1F). Sie verpflichteten sich, das in ihrem Hoheitsbereich einbehaltene deutsche Feindeigentum nicht wieder in deutsches Eigentum oder unter deutsche Kontrolle fallen zu lassen (Rückerwerbsverbot Art. 6).

b) Die Reparationsobjekte Die Objekte, auf die sich die alliierten Vereinbarungen über die von Deutschland geforderten Reparationen bezogen, umfaßten Sach- und Geldwerte, Mobilien und Immobilien, von Industrieausrüstungen über rollendes und schwimmendes Material bis zu Patenten, Urheberrechten und Warenzeichen. Sie betrafen deutsches Vermögen im In- und Ausland, öffentliches und privates. Lieferungen aus laufender Produktion verlangte und nahm vor allem die Sowjet-Union aus ihrer Zone. Die Westmächte hatten zwar unter Berufung auf die Erfahrungen nach dem ersten Weltkrieg erklärt, darauf verzichten zu wollen, die britische und französische Besatzungsmacht entnahmen aber dennoch aus ihren Zonen in den ersten 2 Jahren Güter der laufenden Produktion, vor allem Holz und Kohle. Die Harmssen-Denkschrift spricht von Kohleexporten im Wert von 200 Mio. Dollar, Holzexporten im Wert von 1 Mrd. R M 1 7 . Die nachhaltigsten Wirkungen, auch auf die öffentliche Meinung im Inund Ausland, hatten zwei Maßnahmen: die Demontage und die Enteignung des deutschen Auslandsvermögens. Während die Demontagen in den westlichen Zonen 1951 zum Abschluß gekommen waren, nachdem Proteste in Deutschland und in den USA (Kongress) schon vorher eine Kürzung der Listen der abzugebenden Industrien erzwungen hatten, wurde um deutsches 1 7

Harmssen-Denkschrift, 1947, Anlage X I I , S. 16/17.

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Auslandsvermögen noch bis in die siebziger Jahre diplomatisch und prozessual gerungen. Schon in Jaita und Potsdam war ein Gedanke nicht mehr ausgesprochen worden, den der Morgenthau-Plan vom September 1944 enthielt: Reparationen "durch die Übertragung deutscher Gebietsteile und darin gelegenen deutschen Eigentums industrieller Art an die während des Krieges von Deutschland besetzten Länder und internationalen Organisationen nach einem vorher aufzustellenden Verteilungsplan" 18 . I n allen Ausdrucksformen enthüllte die alliierte Reparationspolitik die typische Mischung von Macht-, d.h. hier Entmachtungspolitik und dem Streben nach - wenn auch einseitiger - Gutmachimg. Ihre Rechtsgrundlagen sind und bleiben daher bis heute problematisch.

c) Kampf um die Demontage Die Demontagen wurden nach den von Besatzungsmächten einseitig festgelegten Listen vollzogen. Erste Grundlage war der "Plan for Reparation and the level of post-war German economy" des allierten Kontrollrats vom 28. März 1946, der die leitenden Grundsätze der Reparationspolitik aufführte: a) Vernichtung des deutschen Kriegspotentials und industrielle Abrüstung Deutschlands, b) Reparationen an Länder, die durch die deutsche Aggression geschädigt worden sind, c) Entwicklung der Landwirtschaft und der Friedensindustrie, d) Erhaltung eines durchschnittlichen Lebensstandards in Deutschland, der den durchschnittlichen Lebensstandard der europäischen Länder (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und der UdSSR) nicht übersteigt, e) Belassung existenznotwendiger Lebensmittel nach Auszahlung der Reparationen. Der Plan unterschied verbotene und beschränkte Industrie und läßt deutlich die Pluralität der Zwecke dieser Reparationspolitik erkennen 19 . I n den westlichen Zonen wurden mehrere Industriepläne erlassen und wiederholt einschränkend revidiert, nachdem die amerikanische Regierung erkannt hatte, daß die Ausführung der ursprünglichen Pläne mit dem Programm für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft unvereinbar war und am Ende zu Lasten des amerikanischen Steuerzahlers gehen würde. 18 Morgenthau, Jr., Germany is our Problem, New York und London 1945, S. 1-4 u. ff zitiert G J. Roos, Zur Konfiskation privater deutscher Auslandsvermögen, 1956, S. 47. Siehe auch G.W. Harmssen, A m Abend der Demontage, Bremen 1951, Anhang, S. 161; H. Morgenthau, Das Morgenthau-Tagebuch. Dokumente des Anti-Germanismus. Ausw. u. zeitgesch. Hinweise: H. Schild. Leoni am Starnberger See 1970, S. 178 ff. 1 9 Vgl. Harmssen-Denkschrift, 1947, S. 93 und Anlage I V , S. 7 ff.

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Die I A R A , die anfangs mit 1.800 verfügbaren Objekten gerechnet hatte, von denen sie wertmäßig drei Viertel an ihre Mitglieder verteilen wollte (Rest an UdSSR), konnte 1950 667 Werke und Werksteile im Gesamtwert von R M (1938) 708.500.000 registrieren, die ihr zur Verteilung überlassen worden waren. Den Kürzungen der Liste hatte sie letztlich vergebens widersprochen, erkannte aber doch an, daß die Lieferung "has made a substantial contribution to the post-war economic recovery of Member Govern* u

20

ments ... . Deutscherseits haben Regierungen und Parlamente der Länder, Gewerkschaften und Parteien, nach 1949 auch Bundestag und Bundesregierung mehrfach gegen das Zerstörungswerk protestiert 21 . I m Petersberg-Abkommen vom 22. November 1949 wurden der Bundesregierung in Anbetracht ihrer Bereitschaft, der OEEC, dem Europarat und der internationalen Ruhrbehörde beizutreten, weitere erhebliche Abstriche vom Demontageplan der drei westlichen Besatzungsmächte zugesichert - als Vorstufe zur völligen Einstellung 22 .

d) Besatzungsgesetze Die Abkommen der drei und später vier Mächte sowie das I A R A Abkommen waren für Deutschland und das deutsche Volk res inter alios acta. Ihre Wirkung auf das besetzte Land und Volk entfalteten sie im direkten Zugriff, in Befehlen und Gesetzen der vier Besatzungsmächte, die vom Kontrollrat für Deutschland als Ganzes, von den Militärregierungen für die einzelnen Zonen erlassen wurden. Das deutsche Auslandsvermögen, das großen Teils schon während des Krieges von den Feindstaaten beschlagnahmt worden war, unterlag danach deren nationaler Gesetzgebung. Von den reparationsrechtlichen Besatzungsnormen sind am heftigsten und am längsten diskutiert worden: das Kontrollratsgesetz Nr. 5 vom 30. Oktober 1945 und das Gesetz der alliierten Hohen Kommission Nr. 63 vom 31. August 1951, das erstere für ganz Deutschland, das letztere für den Bereich der Bundesrepublik erlassen. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 5 wurden alle Rechte, Ansprüche und finanziellen Anteile auf bzw. an jeglichem Eigentum außerhalb Deutsch20 19.

Vgl. Jahresbericht der I A R A 1951, bei Böhmer-Duden-Janssen, 3. Bd., 1955, S. 12 ff, 18-

2 1

Vgl. K. Adenauer, Erinnerungen 1945-1953,1965, S. 120 ff.

2 2

Text bei v. Münch, Dokumente, Bd. 1,1976, S. 226.

23

Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 1 vom 29.10.1945, S. 3. Böhmer-Duden-Janssen, a.a.O., 3. Bd., 1951, S. 55.

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lands, das sich im Besitz oder Verwahrung deutscher Staatsangehöriger in oder außerhalb Deutschlands befand, auf eine durch das gleiche Gesetz gebildete "Kommission für deutsches Eigentum im Ausland" übertragen (Art. I I und I I I i.V.m. Art. I). Da die Enteignungsbestimmungen der Artikel I I und I I I des Gesetzes keine Anwendung fanden auf deutsches Auslandsvermögen, das bereits von einem der Siegerstaaten durch seine nationale Gesetzgebung erfaßt war (Art. IX), zielte es auf das deutsche Vermögen im neutralen Ausland. Begründet wurde es in der Präambel nicht mit Gutmachung von Unrecht, sondern als Maßnahme "zur Förderung des Weltfriedens und der allgemeinen Sicherheit durch Ausschaltung des deutschen Kriegspotentials" (with the intention thereby of promoting international peace and collective security by the elimination of German war potentials). Obwohl dies Argument auch in den von 1946 bis 1948 von den drei Mächten geschlossenen Abkommen mit der Schweiz, Schweden, Spanien, Portugal, den sogenannten "safe-haven-Abkommen" zur Enteignimg des deutschen Eigentums in diesen Ländern, gebraucht wurde 2 4 , erscheint das Kontrollratsgesetz Nr. 5 später nur im Zusammenhang mit der Reparationsregelung. M i t der Aufhebung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik 1955 verlor es im Bundesgebiet "seine Wirksamkeit", wurde aber als VierMächte-Gesetz nicht aufgehoben 25 . Die vier Mächte hatten sich mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 5 über die Haager Landkriegsordnung ebenso hinweggesetzt wie über den längst zu Völkergewohnheitsrecht erstarkten Grundsatz, wonach Enteignungsakte keine exterritoriale Wirkung entfalten. Sie glaubten sich dazu befugt, weil sie Inhaber der "supreme authority" in Deutschland waren, sich stellvertretend für die deutsche Regierung aufführten. Von deutschen Juristen wurde das Gesetz als völkerrechtswidrig, als ein rechtliches scandalum kritisiert, und F A . Mann nannte die Abkommen zur Enteignung des deutschen Vermögens in neutralen Ländern "anstößig", da "die Alliierten die Abkommen geschlossen haben, obwohl ein offensichtlicher Interessenkonflikt besteht: fußend auf dem Recht des Kontrollrats zur Verfügung über deutsches Aus24 Washingtoner Abkommen mit der Schweiz vom 25.5.1946, mit Schweden vom 18.7.1946, mit Portugal vom 21.2.1947 und mit Spanien vom 10.5.1948. Der Titel des spanischen Abkommens lautet: "Accord regarding the elimination of the economic potential situated in Spain capable of constituting a danger to peace, and the liquidation of balances and payments claims between the Governments of ... and Germany". Die Abkommen mit Schweden und Portugal enthalten ähnliche Hinweise im Text ("renewed German aggression", "international security and peace"). Die Schweiz lehnte die alliierte Motivierung ab und sprach nur vom Beitrag zur "pacification and reconstruction of Europe". Veröffentlicht: Schweiz: US-Treaties and other International Agreements, Vol.13, P a r t i , 1962, p. 1118. Schweden: UN-Treaty-Series, Vol. 125, 1952, No 1674, p. 119. Portugal: Böhmer-Duden-Janssen, a.a.O., Bd. 3, 1952, S. 447. Spanien: UN-Treaty-Series, Vol. 140,1952, No 1887, p. 129. Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 23.10.1954, V I . Teil, Art. 2, BGBl. 1955, II, S. 439.

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landsvermögen gerierten sie sich formell als Regierung Deutschlands, verfolgten aber materiell ihre eigenen Interessen, die den Interessen Deutschlands diametral entgegengesetzt sind ... m26 . Das AHK-Gesetz Nr. 63 vom 31.8.1951, nach Auflösung des Kontrollrats erlassen, sollte der "Klarstellung der Rechtslage in bezug auf deutsches Auslandsvermögen und andere im Wege der Reparationen oder Rückerstattung erfaßte Vermögensgegenstände" dienen. Es ersetzte für den Bereich der drei westlichen Besatzungszonen, also der Bundesrepublik, das Kontrollratsgesetz Nr. 5 2 7 , aber nur insoweit es sich nicht auf deutsches Auslandsvermögen bezog, das auf die Sowjet-Union und ihre Satelliten übergegangen oder in der Schweiz, Portugal und der Türkei noch nicht liquidiert worden war. Es bewirkte zwar keine neue Enteignung, schnitt aber der Bundesregierung und den Eigentümern Einwendungen und Klagen gegen die alliierten Maßnahmen und gegen die neuen Berechtigten ab.

e) Fragwürdige Statistik Der gesamte Wert der von den Siegermächten im unmittelbaren Zugriff, ohne Vertrag mit einer deutschen Regierung, unter dem Titel Reparationen oder Abrüstung entzogenen deutschen Vermögenswerte ist bisher nicht festgestellt worden und wohl auch nie mehr genau zu ermitteln. I m letzten Jahresbericht der I A R A von 1961 werden die von ihr registrierten und verteilten Werte auf rund 520 Mio. US-Dollar nach dem Kurs von 1938 beziffert, eine schon deshalb zu niedrige Schätzung, weil die Demontagegüter und die Auslandsguthaben nach den Richtlinien der I A R A unter ihrem wahren Wert veranschlagt wurden. Außerdem sind die von der Sowjet-Union ihrer Zone entnommenen Industrie-Anlagen und Güter der laufenden Produktion in der IARA-Statistik nicht berücksicht.

2. Vertragliche

Regelungen mit der Bundesrepublik

a) Vorgriff statt Regelung Von deutscher Seite, Regierung, Parteien wie Völkerrechtswissenschaft, wurde in den einseitigen Besatzungsmaßnahmen überwiegend keine RegeF A . Mann, Deutsches Vermögen im Ausland, NJW 1947/8, S. 608. Dazu G J . Roos, a.a.O., S. 126 ff. H. Drost, Die Rechtslage des deutschen Auslandsvermögens, Archiv d. Völkerrechts, Bd. 2,1950, S. 298 ff. 27 Amtsblatt der A H K Nr. 64 vom 5. September 1951, S. 1107, Böhmer-Duden-Janssen,

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lung, sondern ein Vorgriff auf die künftige Auseinandersetzung gesehen. Vielfach wurde betont, daß eine völkerrechtliche Pflicht zur Reparationsleistung nur auf Grund eines Vertrages entstehen könne. Der (anonyme) Völkerrechtsexperte der Harmssen-Denkschrift von 1947 äußerte sich besonders ausführlich zu den Erfordernissen, die seiner Ansicht nach erfüllt sein müßten, um die Reparationsfrage "auf den Boden des Rechts zurückzuführen". Auch Verfahren und Vollstreckung müßten nach rechtlichen Normen vor sich gehen: "1. Der Schuldner muß gehört werden. 2. Unparteiische Richter (z.B. die Vereinten Nationen) müssen urteilen. 3. Ein Urteilsspruch muß erfolgen. Die^ Vollstreckung darf nicht dem Gutdünken der Gläubiger überlassen bleiben ^ Eine derartige Übertragung allgemeiner und zivilrechtlicher Rechtsgrundsätze auf die Reparationsproblematik wurde nicht von allen Autoritäten der Völkerrechtslehre verlangt. So meinte Erich Kaufmann, daß unter den außergewöhnlichen Umständen den Besatzungsmächten zugestanden werden müsse, "die möglichst schnelle Verwirklichung der von Deutschland anerkannten Reparationsschuld nach der bedingungslosen Kapitulation" zu verlangen, wenn auch "in der Kumulation der Rolle des Gläubigers und Gerichtsvollziehers mit der des treuhänderischen Verwalters eine Spannung und eine Anomalie liegt". Aber: "Einen Vertrag in dieser Lage zu fordern, wo ein handlungs- und vertragsfähiges koordiniertes Rechtssubjekt Deutschland fehlte, ist nicht sinnvoll" 29 . Die vertraglichen Regelungen mit reparationsrechtlichen Bestimmungen, zu denen es wenige Jahre nach Schaffung der Bundesrepublik kam, entsprechen denn auch nicht den erwähnten rigorosen rechtsgrundsätzlichen Anforderungen. Schon das Petersberg-Abkommen vom 22. November 1949 enthielt eine vertragliche Abmachung über Demontagen, worin zwar keine Zustimmimg zu diesen, aber eine Einigung über die Änderung, d.h. Minderung des Demontageplans lag. Es war zwar noch kein Vertrag zwischen Gleichen, aber auch kein bloßes Diktat mehr.

b) Das Londoner Schuldenabkommen Anfang der fünfziger Jahre kam es aber zu wichtigen reparationsrechtlichen Regelungen, an denen die neue deutsche Demokratie als zumindest formal gleichberechtigter Verhandlungs- und Vertragspartner beteiligt war: a.a.O., S. 58. 2 8

29

a.a.O., S. 11 und Anlage I, S. 12 ff.

E. Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, Stuttgart 1948, S. 45. Ders., Zur Abgeltung der Reparationsschäden, 1964, S. 26.

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159



das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 (LSA) und der Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. M a i 1952 i.d.F. vom 23. Oktober 1954, der sogenannte Überleitungsvertrag 3 1 . Beide Verträge erhalten einen Reparationsaufschub, wenn auch in verschiedenem sachlichen Zusammenhang und mit verschiedener Vertragspartnerschaft. Das Londoner Schuldenabkommen, eines der kompliziertesten Vertragswerke der deutschen Nachkriegsgeschichte, ist eigentlich kein Reparationsvertrag, sondern ein Abkommen zur Regelung der Vorkriegsauslandsschulden. Es unterscheidet "zu regelnde Schulden" (Art. 4) und "nicht unter das Abkommen fallende Forderungen" (Art. 5). Z u regeln waren vertragliche und nicht-vertragliche Geldverbindlichkeiten aus der Zeit vor dem 8. M a i 1945. Es handelte sich um privatrechtliche Schulden des Reiches, der Reichsbahn, Reichspost, der Länder und Gemeinden und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie um private Auslandsschulden. Das LSA enthält vorformulierte Regelungen (vereinbarte Empfehlungen), die erst durch Parteivereinbarung rechtlich zustande kommen. Wichtige Komplexe sind die Bedingungen der Dawes- und Young-Anleihen von 1924 und 1930, worin sich die Fortwirkung der Reparationsregelung des ersten Weltkriegs zeigt. Denn diese Anleihen hatte das deutsche Reich aufnehmen müssen, um die Reparationen auf Grund des Versailler Vertrags zahlen zu können. Man sprach daher von einer Kommerzialisierung der Reparationsschuld.

c) Der Young-Prozeß Der 1979/80 vor dem Schiedsgerichtshof nach dem Londoner Schuldenabkommen ausgetragene sogenannte Young-Prozeß hat diesen Aspekt der Londoner Schuldenregelung wieder aktualisiert 32 . Das Verfahren entstand aus einem Streit um die Währungssicherungsklausel, die in Anlage I Abschnitt A Punkt 2 Buchstabe e) des LSA zu Gunsten der Young-Anleihe enthalten ist. Sie sieht eine Neuberechnung der fälligen Raten der YoungAnleihe für den Fall vor, daß "sich der am 1. August 1952 für eine Emissionswährung maßgebende Wechselkurs später um 5 v.H. oder mehr ändern" sollte. Die nach diesem Zeitpunkt fälligen Raten waren zwar nach wie vor in 3 0 BGBl. 1953, II, S. 331; UNTS, Bd. 333, S. 3; Verträge der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Serie A, Bd. 3,1956, S. 85 ff. 3 1

32

BGBl. 1955, II, S. 405 ff.

Schiedsgerichtshof und Gemischte Kommission für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden, Entscheidungen und Gutachten, Bd. 6, 1980, Bekanntmachung der Deutschen

160

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der Währung des Emissionslandes zu leisten, "jedoch auf der Grundlage der Währung mit der geringsten Abwertung (im Verhältnis zu dem Wechselkurs vom 1. August 1952) zu berechnen und zu dem im Zeitpunkt der Fälligkeit der betreffenden Zahlung maßgebenden Wechselkurs wieder in die Emissionswährung umzurechnen". Nach den Aufwertungen der D M 1961 und 1969, die jeweils eine Änderung der amtlich festgelegten Paritäten der Emissionswährungen bedingten, wurden die auf Schuldverschreibungen in anderen Emissionswährungen zahlbaren Beträge von der Bundesschuldenverwaltung nicht angepaßt, da die Bundesregierung der Auffassung war, daß die Währungssicherungsklausel bei Aufwertungen nicht anwendbar ist. Die Regierungen Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens, der Schweiz und der USA vertraten die entgegengesetzte Auslegung der Klausel, da sie in der Aufwertung der D M eine indirekte Abwertung der anderen Emissionswährungen sahen. Nach vergeblichen Verhandlungen mit der Bundesregierung riefen sie im M a i 1971 den in Art. 28 LSA vorgesehenen Schiedsgerichtshof an, der die Klage mit Spruch vom 16. Mai 1980 abwies 33 . Der Streitwert wurde auf 500 M i o D M geschätzt.

d) Griechische Neutralitätsschäden aus dem ersten Weltkrieg Griechenland war es gelungen, unerledigte Ansprüche aus Neutralitätsschäden des ersten Weltkrieges im LSA als Merkposten in einem speziellen pactum de negotiando unterzubringen. Es handelte sich um Ansprüche von Privatpersonen aus Entscheidungen des nach dem ersten Weltkrieg errichteten deutsch-griechischen Schiedsgerichts, die Schäden durch Versenkung griechischer Handelsschiffe, Bombardierung griechischer Warenlager etc. betrafen. Ziffer 11 der Anlage I des LSA sah Besprechungen (discussions) zwischen einer deutschen und einer griechischen Delegation über diese Ansprüche vor, deren Ergebnis in ein Regierungsabkommen gemäß Art. 19 ("Ergänzende Abkommen") aufgenommen werden sollte. Die Bundesregierung lehnte die Forderungen in einem mehrjährigen Notenwechsel ab, da sie in den Dawes- und Young-Annuitäten aufgegangen und im übrigen als Regierungsforderungen aus dem ersten Weltkrieg gemäß Art. 5 LSA zurückgestellt worden seien (vgl. unten e) Moratorium). In einem auf Klage der griechischen Regierung vom März 1968 durchgeführten Prozeß vor dem Schuldenschiedsgerichtshof erkannte dieser, daß die Bundesregierung der Bundesbank im Bundesanzeiger Nr. 100 vom 31.5.1980, S. 4. 3 3 Der Schiedsgerichtshof entschied in der satzungsgemäßen Zusammensetzung von je einem Richter der drei Mächte, drei deutschen Richtern und einem finnischen Richter (Eric Castrén) als Vorsitzendem mit vier zu drei Stimmen zugunsten der Bundesrepublik Deutschland.

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Verhandlungspflicht des erwähnten pactum de negotiando mit der bloßen Wiederholung ihres ablehnenden Standpunkts in einem Notenwechsel nicht genügt habe. Sinnvolle Verhandlungen müßten einen Kompromiß anstreben. Die Forderungen wurden für sui generis erklärt, die Frage, ob sie privater oder staatlicher Natur seien, also nicht entschieden. I n Ausführung dieser Entscheidung vom 26.1.1972 verhandelten eine deutsche und eine griechische Regierungsdelegation von Mai 1972 bis M a i 1974 und brachten einen Vertrag zustande, nach dem die Bundesrepublik an Griechenland für Neutralitätsschäden aus dem ersten Weltkrieg D M 47 M i o zahlte 34 . Die erste griechische Forderung hatte 252 Mio. US-Dollar betragen. I n ihrer Klage konnte sich die griechische Regierung darauf berufen, daß die Bundesrepublik mit den USA in zeitlichem Zusammenhang mit der Londoner Schuldenkonferenz eine Vereinbarung über die Tilgung amerikanischer Ansprüche aus Neutralitätsverletzungen im ersten Weltkrieg getroffen hatte, die von einer deutsch-amerikanischen Mixed Claims Commission zwischen 1922 und 1933 anerkannt worden waren. Sie waren infolge des Hoover-Moratoriums für deutsche Reparationen von 1931 nicht voll befriedigt worden und wurden von der amerikanischen Regierung nach dem 2. Weltkrieg angemahnt. Im Vertrag vom 27.2.1953 verpflichtete sich die Bundesrepublik zur Zahlung einer von ursprünglich 152,3 Mio. US-Dollar auf 97,5 Mio. US-Dollar herabgesetzten Schuldsumme, deren letzte Rate 1978 fällig gewesen ist 3 5 .

e) Das Moratorium Abgesehen von dieser speziellen Erblast des ersten Weltkrieges stehen unter reparationsrechtlichem Gesichtspunkt die "nicht unter das Abkommen fallenden Forderungen" im Vordergrund, die in Artikel 5 umschrieben werden. Diese Bestimmung betrifft fünf Gruppen von Forderungen von verschiedenen Staaten und ihren Staatsangehörigen, deren Prüfung mit verschiedenen Formulierungen "zurückgestellt", also nicht durch Verzicht erledigt werden. A n erster Stelle stehen die "aus dem ersten Weltkrieg herrührenden Regierungsforderungen gegen Deutschland", deren Prüfung "bis zu einer endgültigen allgemeinen Regelung dieser Angelegenheit zurückgestellt" wird (Art. 5, Abs. 1). Die Prüfung "der aus dem zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen" der ehemaligen Kriegsgegner und von Deutschland 3 4 Vertrag vom 13.6.1974, BGBl. 1975, II, S. 1085. Dazu Entscheidungen des Schiedsgerichtshofs, Bd. 5, 1971/72 und Min. Rat Dr. J. Knapp, Die Entschädigung griechischer Neutralitätsgeschädigter im Ersten Weltkrieg usw. in Weitpapier-Mitteilungen, Teil I V , Nr. 31, 28. Jahrg., 3.8.1974, S. 738 ff.

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besetzten Staaten und ihrer Staatsangehörigen "wird bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt" (Abs. 2). Die Forderungen der Neutralen und am Krieg unbeteiligten Staaten und ihrer Staatsangehörigen, die während des zweiten Weltkrieges entstanden, werden prinzipiell zurückgestellt, bis sie im Zusammenhang mit der Regelung der Forderungen der ehemaligen Kriegsgegner geprüft werden können (Abs. 3). A m schlechtesten kommen die Staaten und ihre Staatsangehörigen weg, "die vor dem 1. September 1939 mit dem Reich verbündet waren" (Abs. 4). Sie werden auf ihre Friedensverträge mit den Alliierten verwiesen. Dort aber mußten Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn in fast gleichlautenden Klauseln sich im eigenen Namen und im Namen ihrer Staatsangehörigen "aller Ansprüche gegen Deutschland und deutsche Staatsangehörige, die am 8. M a i 1945 ausstanden" und nicht bereits vor dem 1. September 1939 erworben waren, begeben 36 . Österreich sprach im Staatsvertrag vom 15. M a i 1955 einen entsprechenden, allerdings auf den Zeitpunkt des Anschlusses (13. März 1938) bezogenen Verzicht auf Forderungen gegenüber Deutschland aus (Art. 23 Abs. 3). Dafür werden von Österreich "keine Reparationen verlangt, die sich aus dem Bestehen eines Kriegszustandes in Europa nach dem 1. September 1939 ergeben" (Art. 21). Die Reparationsverzichte der sogenannten Satelliten Deutschlands erstrecken sich allerdings nicht auf die Rückerstattung privaten Vermögens und Wiedergutmachung für Verfolgte des Nationalsozialismus. Der im Staatsvertrag gegenüber Österreich erklärte Reparationsverzicht sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, welche hohen Tribute die österreichische Wirtschaft der UdSSR bringen mußte. Der fünfte und letzte Absatz des Art. 5 des LSA, der selten beachtet wird, betrifft die "Regelung der Schulden der Stadt Berlin" und ihrer öffentlichen Versorgungsbetriebe. Sie wird bis zu dem Zeitpunkt zurückgestellt, in dem die Bundesregierung, der Senat und die Regierungen der drei Schutzmächte Verhandlungen darüber "für tunlich" ansehen (Art. 5 Abs. 5). Das Schuldenmoratorium des LSA war primär wirtschaftspolitisch motiviert: Die drei Westmächte, die erheblich zum Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft beigetragen hatten, wollten deren Leistungsfähigkeit vor Überbeanspruchung bewahren. Sie räumten auch der Bezahlung der Vorkriegsschulden und der Nachkriegswirtschaft Vorrang ein.

3 5

36

BGBl. 1953, II, S. 487.

Friedensverträge vom 10. Februar 1947: Italien Art. 78, Abs. 4, Rumänien Art. 28, Abs. 4, Ungarn Art. 30, Bulgarien Art. 26.

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f) Friedensvertrag und Wiedervereinigung Die "endgültige Regelung der Reparationsfrage", bis zu der das LSA die Prüfung der verschiedenen Reparationsforderungen zurückstellt, ist nach deutscher amtlicher und wissenschaftlicher Meinung der ausstehende Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland, obwohl dieser Ausdruck dort nicht gebraucht wird. Im Überleitungsvertrag heißt es dagegen: "Die Frage der Reparationen wird durch den Friedensvertrag zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern oder vorher durch diese Frage betreffende Abkommen geregelt werden. Die drei Mächte verpflichten sich, zu keiner Zeit Forderungen auf Reparationen aus der laufenden Produktion der Bundesrepublik geltend zu machen" 37 . Auch hier wird der Friedensvertrag nicht als ausschließliche Regelungsmöglichkeit anvisiert. Von beiden Moratoriumsbestimmungen kommt dem Art. 5 LSA für die Bundesrepublik der größere Wert deshalb zu, weil an diesem Abkommen nicht nur die drei ehemaligen Besatzungsmächte, sondern dreißig (30) weitere Staaten beteiligt sind. Er war und ist der wichtigste Damm gegen eine Überflutung der Bundesrepublik mit Reparationsforderungen. Wie die Pariser Verträge unterstellte auch das LSA die rechtliche Identität der Bundesrepublik mit Deutschland als Ganzem. Die Bundesrepublik bekannte sich zu den Schulden des Reiches, wie aus dem vorangegangenen Briefwechsel des Bundeskanzlers mit den drei Hohen Kommissaren vom 6. März 1951, der als Anhang A beigefügt wurde, hervorgeht, nicht als Schuldübernahme, sondern in unmittelbarer Haftung. Die Bundesregierung erwartet aber, "daß bei der Feststellung der Art und des Ausmaßes, in welchem die Bundesrepublik diese Verpflichtungen erfüllt, der allgemeinen Lage der Bundesrepublik und insbesondere den Wirkungen der territorialen Beschränkung ihrer Herrschaftsgewalt und ihrer Zahlungsfähigkeit Rechnung getragen wird". Der Zahlungsplan sollte nur "vorläufigen Charakter" haben und der Revision unterliegen, "sobald Deutschland wiedervereinigt und eine endgültige Friedensregelung möglich ist" 3 8 . Diesem Gedanken trägt Artikel 25 des LSA Rechnung, wonach: "Bei der Wiedervereinigung Deutschlands werden die Parteien dieses Abkommen einer Nachprüfung unterziehen ...". Dabei sollten bestimmte Schulden, wie schon in einigen Anlagen vorgesehen, angepaßt und das Abkommen auf die Schulden von Personen ausgedehnt werden, "die in dem mit der Bundesrepublik Deutschland wiedervereinigten Gebiet ansässig sind...". Alleinhaftung und Alleinvertre-

3 7

Überleitungsvertrag, Teil V I , Art. 1, Abs. 1, BGBl. 1955, II, S. 439.

3 8

BGBl. 1953, II, S. 473.

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tung bestanden in der Deutschlandkonzeption der LSA noch ungetrennt

-3Q

.

g) Der Überleitungsvertrag Der "Reparationen" (Reparation, Réparations) überschriebene sechste Teil des Überleitungsvertrages erschöpft seine Bedeutung keineswegs im Aufschub der allgemeinen Reparationsregelung. Sein praktisches Schwergewicht liegt vielmehr in der Festschreibung zuvor durchgeführter Konfiskationen der Besatzungsmächte und im Ausschluß diplomatischer Einwendungen und des Rechtsweges gegen diese Maßnahmen, gegen die dafür verantwortlichen Personen, Organisationen und Regierungen und gegen die neuen Eigentümer (Art. 2 u. 3). Art. 3 Abs. 1 lautet: "Die Bundesrepublik wird in Zukunft keine Einwendungen gegen die Maßnahmen erheben, die gegen das deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind oder werden sollten, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke der Reparation oder Restitution oder auf Grund des Kriegszustandes oder auf Grund von Abkommen, die die Drei Mächte mit anderen alliierten Staaten oder ehemaligen Bundesgenossen Deutschlands geschlossen haben oder schließen werden." Die Verantwortung für die Entschädigung der früheren Eigentümer wurde der Bundesrepublik aufgebürdet (Art. 5). Art. 5: "Die Bundesrepublik wird Vorsorge treffen (shall ensure) (veillera ä ce que), daß die früheren Eigentümer der Werte, die auf Grund der in Artikel 2 und 3 dieses Teiles bezeichneten Maßnahmen beschlagnahmt worden sind, entschädigt werden."

h) Streit um die interne Entschädigung U m diese Bestimmungen wurden von 1952 bis 1954 und bis 1976 heftige parlamentarische, gerichtliche und publizistische Kämpfe, begleitet von einem wahren Gutachtenkrieg, ausgefochten. Sie gehörten zu denjenigen Bestimmungen der Bonner/Pariser Verträge, denen Verstoß gegen das Grundgesetz vorgeworfen wurde, der schließlich durch eine Grundgesetzergänzung (Art. 79 Abs. 1 Satz 2 und Art. 142a) ausgeräumt werden mußte. Die früheren Eigentümer hatten in der Studiengesellschaft für privatrechtliche Auslandsinteressen e.V. (Bremen) und in der Notgemeinschaft der reparationsgeschädigten Industrie eine einfluß- und kenntnisreiche Lobby, die nach dem Inkrafttreten der Verträge ihren Kampf um die Reparationsentschädigung gegen den Bundesfinanzminister fortsetzte. Da kreuzte etwa 39 Vgl. hierzu H. Rumpf, Die Deutsche Frage und die Reparationen, ZaöRV, Bd. 33,1973, S. 344 ff. Ders., Vom Niemandsland zum deutschen Kernstaat, 1979, S. 127 ff. G. Zieger, Das Thema der Reparationen im Hinblick auf die besondere Lage Deutschlands, Recht der inter-

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Erich Kaufmann, der den VI. Teil des Überleitungsvertrages für die deutsche Seite ausgehandelt hatte, mit dem Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium a.D. Bernhard Wolff die Klingen der Gelehrsamkeit. Die These Erich Kaufmanns und anderer Gutachter, wie Herbert Krüger, Hermann Jahrreis, Ignaz Seidl-Hohenveldern, H.P. Ipsen und Georg Erler, war es, daß die privaten deutschen Eigentümer den deutschen Staat durch die erzwungene Hinnahme der Enteignung von einer echten Wiedergutmachungspflicht entlastet und damit einen Aufopferungsanspruch auf volle oder wenigstens angemessene Entschädigung im Sinne von Art. 14 G G erhalten hätten. Wolff und das B M F sahen in den Konfiskationen mehr politische als rechtliche Kriegsfolgemaßnahmen, für die Entschädigung nach den sozialen Grundsätzen des Lastenausgleichs angemessen war. Bundesregierung und Bundesgesetzgeber haben diesen Standpunkt beibehalten und im Reparationsschädengesetz vom 12. Februar 1969 verwirklicht, das außerdem juristische Personen von der Entschädigung gänzlich ausschloß 40 . Dem Streit lagen verschiedene Reparationsbegriffe zu Grunde 4 1 . Die Forderung nach angemessener oder gar voller Entschädigung der Reparationsgeschädigten stützt sich auf die Annahme einer Rechtspflicht der Bundesrepublik zur Leistung von Reparationen an die Siegerstaaten, die teils aus allgemeinem Völkerrecht, teils aus der obersten Rechtsgewalt der Drei Mächte, teils aus einer "Anerkennung" ihrer einseitigen Maßnahmen durch die Bundesrepublik und die Übernahme der Entschädigungspflicht im VI. Teil des Überleitungsvertrages begründet wurde. Die privaten Eigentümer, deren Vermögen dafür in Anspruch genommen worden war, hätten dieses daher für den deutschen Staat aufgeopfert, ihn entlastet und seien entsprechend nach Enteignungsgrundsätzen zu entschädigen. Zur Unterstützung dieser These wurde der rechtliche Charakter der Reparationen hervorgehoben. Für die Bundesregierung und eine Minderheit der Gutachter dominierte dagegen das politische Element der unter dem Titel der Reparationen vorgenommenen Eingriffe, das es nicht nur rechtfertigte, sondern sogar gebot, sie als entschädigungsrechtliche Tatbestände mit Vertreibungs-, Bombennationalen Wirtschaft, Jan. 1980, Heft 1, S. 10 ff. 40 w BGBl. 1969,1,S. 105 ff. 41 Von den zahlreichen kontroversen Stellungnahmen seien erwähnt: E. Kaufmann, Reparationen und deutsches Auslandsvermögen, Bulletin der Bundesregierung Nr. 138 vom 19.9.1952, S. 1269. Ders., Die Reparationsschäden, Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 88,1963, S. 1 ff. Ders., Zur Abgeltung der Reparationsschäden, Heidelberg 1964. H. Krüger, Wesen, Grund und Höhe des Reparationsschädigungsanspruchs, Hamburg 1953. H. Jahrreis, Die Rechtspflicht der Bundesrepublik Deutschland zur Entschädigung für Reparations- usw. Eingriffe ... in Privatvermögen, 1950. G. Erler, Reparationsdemontagen und das Recht, Göttingen 1958. B. Wolff, Zur Abgeltung der Reparationsschäden, Bonn 1964, Amtliche Begründung des Reparationsschädengesetzes, Bundestagsdrucksache I V , 1456.

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und Rückerstattungsschäden in eine Kategorie zu stellen. Die alliierten Maßnahmen seien niemals, auch nicht im Überleitungsvertrag, als Recht anerkannt, sondern nur notgedrungen hingenommen worden. Auch mit dem Verzicht auf Klagen und diplomatische Einwände habe die Bundesrepublik diese Maßnahmen nicht als völkerrechtsgemäß anerkannt. Das Bundesverfassungsgericht schloß sich in der Entscheidung vom 13.1. 1976 über eine Verfassungsbeschwerde zweier Industrieunternehmen gegen das Reparationsschädengesetz von 1969, die als unbegründet verworfen wurde, dieser Auffassung an (E 41, S. 126 ff.). I n der Bewältigung der außergewöhnlichen Probleme des Staatsbankrotts des Reiches ist der Bundesgesetzgeber nicht an die Grundsätze des Art. 14 GG gebunden. Über die Regelung des sozialen Ausgleichs der allgemeinen Kriegs- und Kriegsfolgeschäden hinausgehende Entschädigungsansprüche bestehen nach dieser Entscheidung nicht. Der Gleichheitsgrundsatz verbiete, eine relativ kleine Gruppe Kriegsgeschädigter zu bevorzugen. In der Begründung wird einigen Thesen der Beschwerdeführer widersprochen, die seit Jahren diskutiert worden waren: Die alliierten Reparationsmaßnahmen waren keine Ausübimg normaler deutscher Staatsgewalt und widersprachen offensichtlich dem deutschen Interesse. Zur Begründung einer Reparationspflicht bedarf es im konkreten Fall einer vertraglichen Verpflichtung zwischen den beteiligten Staaten oder wenigstens einer Anerkennung der Reparationsforderungen der Gegenseite durch den verantwortlichen Staat. Der Friedensvertrag sei aber im Überleitungsvertrag vorbehalten. "Die Reparationseingriffe dienten nicht ausschließlich (nicht einmal in erster Linie) dazu, die Kriegsgegner Deutschlands für ihre Verluste zu entschädigen, sondern mindestens ebenso sehr dem militärischen und politischen Ziel, das wirtschaftliche Kriegspotential Deutschlands ein für alle M a l zu zerstören ,.." 42 .

3. Das Ringen um das deutsche Auslandsvermögen Artikel 4 des sechsten Teils des Überleitungsvertrages eröffnete der Bundesregierung beschränkte Verhandlungsmöglichkeiten, Reste des verlorenen Auslandsvermögens zurückzugewinnen. Erlaubt waren einmal Verhandlungen mit ehemaligen Kriegsgegnern, die nicht Mitglieder der Interalliierten Reparationsagentur waren, über deutsche Auslandswerte, die noch nicht übertragen oder liquidiert worden waren, oder über deren Liquidationserlöse

42 B V e r f g Ε 41, 126 ff, 155, 159. Im Ergebnis ebenso: B G H Z, 52, 371, Urteil vom 13.10.1969.

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noch nicht verfügt worden war (Abs. 1). Vereinbarungen mit IARA-Staaten waren über gewisse aufgezählte Vermögenswerte zulässig: solche, die diese nach dem LARA-Abkommen freigeben konnten, ferner auf Reichsmark lautende in Deutschland ausgegebene Wertpapiere, Ruhegelder und Renten (Art. 4 Abs. 2). Die auf Grund der sogenannten safe-haven-Abkommen mit den drei Mächten durchgeführten Konfiskationen in Portugal, Spanien, Schweden und der Schweiz durften als solche nicht angefochten werden. Der Überleitungsvertrag erlaubte aber Vereinbarungen mit diesen Staaten "in implementation", über Art und Umfang der den früheren deutschen Eigentümern zu zahlenden Entschädigung (Art. 4 Abs. 3). Über andere die deutschen Auslandswerte betreffende Fragen durfte die Bundesregierung nach Mitteilung an die Drei Mächte mit jedem Land Vereinbarungen schließen, es sei denn, daß die Drei Mächte dem ausdrücklich widersprechen. Die Problematik betraf deutsche Auslandsvermögenswerte, die sich 1960 auf 75 Länder verteilten, darunter etliche ehemalige Kolonien der Siegermächte, die sich ungeachtet ihrer sonstigen Diskontinuitätspolitik an die von der früheren Kolonialmacht verhängten Beschlagnahmen und Enteignungen gebunden hielten. Über den Gesamtwert gibt es keine allgemein anerkannten Zahlen. In der Harmssen-Denkschrift ist 1947 von annähernd 4 Mrd. Dollar oder rund 10 Mrd. R M in Vorkriegspreisen die Rede, ohne das Volksvermögen in den abgetrennten deutschen Ostgebieten. Eine halbamtliche deutsche Schätzung spricht 1958 von "mindestens 20 Mrd. D M auf der Basis der Vorkriegsparität zum Dollar" 4 3 . I n der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts bestand von 1953 bis 1963 ein besonderes Referat "Deutsches Auslandsvermögen", das für diese Verhandlungen bestimmt war und danach im Referat "Kriegsfolgen" aufging. Oft wurde dem deutschen Begehren das Rückerwerbsverbot des IARA-Abkommens entgegengehalten, das im Artikel 6 enthalten ist, wonach: "Each signatory Government shall under such procedures as it may choose, hold or dispose of German enemy assets within its jurisdiction in manners disigned to preclude their return to German ownership or control...". Dennoch gelangen der Bundesregierung schon ab 1952 eine Reihe von vertraglichen Regelungen nicht nur mit den erwähnten ehemaligen Neutralen, sondern auch mit ehemaligen Feindstaaten oder ihren (aus der Entkolonisierung hervorgegangenen) Rechtsnachfolgern. Für die ehemaligen deutschen privaten Eigentümer konnte allerdings nur eine Teilentschädigung erlangt werden, weil die Vertragspartner mit Kriegsschäden ihrer Staatsangehörigen aufrechneten, deren Ansprüche nach den internationalen 43 Harmssen-Denkschrift, S. 70 und Anhang X I I , S. 6. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 140 vom 5.8.1958, S. 1467.

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Abkommen aus den deutschen Werten zu befriedigen waren, und einen Anteil an die Alliierten abzuführen hatten. Von einigen deutschen Geschädigten gegen diese Regelungen angestrengte Rechtsverfahren bis in die höchsten Instanzen ( B G H und BVerfG) blieben ohne Erfolg. Staaten, die wie die Nationen Lateinamerikas oder die Türkei dem Druck der Kriegsgegner Deutschlands nur spät und widerwillig nachgegeben hatten, zeigten sich auch relativ früh bereit, Beschlagnahmen aufzuheben, Liquidationserlöse z.T. zurückzuerstatten. Dabei wurde Kulturvermögen (Schulen, Kirchen und archäologische Institute) überall bevorzugt freigegeben. Die Verträge mit den Neutralen (Schweiz, Schweden, Portugal, Spanien), die sich erst nach Sperrung ihrer Guthaben in den Ländern der drei Westmächte zur Konfiskation und teilweisen Liquidation der deutschen Vermögen entschlossen hatten, gestalteten sich wegen der gebotenen Beteiligung der Besatzungsmächte als besonders schwierig. Ein früher Erfolg, von deutscher Seite als Vorbild hingestellt, war der Vermögensvertrag mit der Schweiz, der schon Mitte 1958 abgewickelt war 4 4 . Nach diesem Modellabkommen zahlte die Bundesrepublik 125,5 Mio. sfr durch Schweizer Vermittlung an die drei Mächte, die dafür auf alle Rechte aus dem Washingtoner Abkommen mit der Schweiz von 1946 verzichteten. Die Eigentümer hatten einen Ablösungsbetrag in Höhe eines Drittels ihres Vermögens beizusteuern, wobei Kleinvermögen bis zu 10.000 sfr freigestellt wurden. M i t einem Mißerfolg endeten die Bemühungen der Bundesregierung um Freigabe des deutschen Privatvermögens in den USA. Die Regierung Eisenhower hatte bis Ende 1960, wenn auch noch unverbindlich, die Freigabe der Kleinvermögen bis zu 10.000 US-Dollar angeboten, worauf die Bundesregierung nicht einging, weil sie mehr wollte und den Regierungswechsel zu Kennedy abzuwarten gedachte. Die neue Administration brach dann die Gespräche über das Thema deutsches Vermögen in den USA endgültig ab 4 5 .

4. Reparation und Wiedergutmachung a) Wiedergutmachung Das deutsche Wort für Reparation ist Wiedergutmachung. Wiedergut4 4 4 5

BGBl. 1953, II, S. 15; mit Schweden, BGBl. 1956, II, S. 811.

Vgl. W. Grewe, Rückblenden 1976-1951, 1979, S. 535 ff. Dazu M . Domke, The War Claims Act of 1962, AJIL, Vol. 57, 1963, p. 354 ff. Das deutsche USA-Vermögen wurde 1947 auf 600 Mio. Dollar geschätzt.

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machung ist in der hergebrachten völkerrechtlichen Terminologie der weiteste Begriff für den Ausgleich von begangenem Völkerunrecht. Er umfaßt die Wiederherstellung des früheren Zustandes (Naturalrestitution), den Schadenersatz in Geld und die moralische Genugtuung (Entschuldigung). Der völkerrechtliche Wiedergutmachungsanspruch ist ein Staatenanspruch, kein Individualanspruch. Die rassenpolitische Ideologie und die Verfolgungspolitik des Nationalsozialismus haben nach dem Sturz des Hitler-Regimes zu speziellen Maßnahmen der Entschädigung Veranlassung gegeben, für die sich der Ausdruck "Wiedergutmachung" i.S. von Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts eingebürgert hat. Diese Wiedergutmachung ist primär eine Einrichtung des deutschen Rechts. Sie beruht auf dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) vom 29.6.1956 (BGBl. I, S. 562) i.d.F. des BEG-Schlußgesetzes vom 14.9.1965 (BGBl. I, S. 1315). Sein Erlaß war Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung aus Teil I V des Überleitungsvertrages, also eine der Bedingungen zur Ablösimg des Besatzungsregimes. Da die Besatzungsmächte die Entschädigung für typisch nationalsozialistisches Umecht in ihrem Programm hatten und die ersten gesetzgeberischen Maßnahmen zugunsten der Verfolgten des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Rückerstattung von Vermögen selbst getroffen hatten, war die Wiedergutmachung von NS-Unrecht von Anfang an auch ein internationales Problem. Ein solches bestand aber schon, weil nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen auch die Bevölkerung der von deutschen Truppen besetzten Länder Ost-, West-, Nord- und Südeuropas betroffen hatten. Der Überleitungsvertrag, in dem die drei Mächte die Bundesrepublik zur Fortführung wesentlicher Programme ihrer Besatzungspolitik verpflichteten, enthält demgemäß auch Bestimmungen über Innere Rückerstattung, d.h. "die Rückerstattung feststellbarer Vermögenswerte an Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Teil III), Entschädigung von Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung, ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung verfolgt wurden und hierdurch Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder ihrem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben..." (Teil I V ) und über "Äußere Restitutionen", d.h. die Rückgabe von Wertgegenständen, z.B. Schmuck, antiken Möbeln etc., und Kulturgütern, die von deutschen Truppen oder Behörden in den von Deutschland besetzten Gebieten requiriert, gestohlen oder sonstwie zwangsweise entzogen worden waren (Teil V). Weitere Bestimmungen betreffen verschleppte Personen und ausländische Flüchtlinge (VII. Teil), den Ausschluß von "Ansprüchen irgendwelcher Art" gegen Staaten der Vereinten Nationen i.S. Erklärung vom 1.1.1942 und ihre Staatsangehörigen wegen Kriegsmaßnahmen (IX. Teil). Zur Durchführung dieser Programme sind Besatzungsgesetze festgeschrieben, Mindestbeträge oder -sätze festgestellt,

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gerichtliche oder quasi-gerichtliche Organisationen geschaffen worden. So das Oberste Rückerstattungsgericht (Anhang zum III. Teil Überleitungsvertrag), das noch heute amtiert, die Schiedskommission für Güter, Rechte und Interessen, die 1969 aufgelöst wurde. Von den erwähnten Teilen des Überleitungsvertrages fallen nur der V. (Äußere Restitution) und der VI. (Reparation) unter den hergebrachten völkerrechtlichen Reparationsbegriff, die anderen stellen eine fortgesetzte Intervention in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik dar. Daß für die Volkswirtschaft der Bundesrepublik und für ihre Rechtsordnung ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen im Überleitungsvertrag geregelten Sachgebieten besteht, läßt das "Reparationsschädengesetz" schon in seiner amtlichen Bezeichnung erkennen: Gesetz zur Abgeltung von Reparations·, Restitutions-, Zerstörungs- und Rückerstattungsschäden vom 12. Februar 1969. Für Zwecke der Entschädigung der betroffenen deutschen natürlichen - Personen sind diese Tatbestände einer einheitlichen Regelung unterworfen worden.

b) Finanzielle Leistungen ins Ausland Das Bundesentschädigungsgesetz gewährt Individualansprüche für Verfolgungsschäden aus Gründen der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, der Rasse oder des Glaubens oder der Weltanschauung (§ 1) durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen (§2). Das Gesetz enthält Antragsfristen (absolute Schlußfrist 31.12.1969) sowie Aufenthalts- und Stichtagsvoraussetzungen, die Hunderttausende von Emigranten aus Deutschland in westlichen Ländern und Israel antragsberechtigt machten 46 . A u f Grund dieser Bestimmungen wurden bis zum 1.1.1984 56,2 Mrd. D M gezahlt, davon 40 % nach Israel und 40 % ins übrige Ausland 4 7 . Obwohl der Bundeskanzler in der Regierungserklärung vom 17. M a i 1974 festgestellt hatte, daß die Bundesregierung die Wiedergutmachungs- und Kriegsfolgengesetzgebung als abgeschlossen betrachte, verlangte eine von allen drei Parteien getragene Entschließung des Deutschen Bundestages vom 14. Dezember 1979 (Drucksache 8/3511) eine sogenannte "Abschlußgeste Wiedergutmachung" zum Ausgleich von Härten in der bisherigen Gesetzgebung. Zugunsten der jüdischen "Claims Conference", der jüdischen Gemeinden in Deutschland und des Zentralrates der Juden wurden insgesamt 46 BEG, § 4. Dazu H. Giessler, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium der Finanzen, Bd. I V , I. Teil, 47 München 1981, S. 50 ff. Amtliche Mitteilung des Bundesfinanzministeriums.

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440 Mio. D M bereitgestellt und auf die Haushalte 1980-1983 verteilt (Drucksache 8/3982 vom 8.5.1980). Der Betrag, der in den obigen Zahlen enthalten ist, floß in entsprechenden Anteilen auch ins Ausland.

c) Wiedergutmachungsglobalabkommen Ansprüche fremder Staaten und ihrer Staatsangehörigen für von der deutschen Besatzung erlittenes Unrecht sind nach überlieferten völkerrechtlichen Grundsätzen Bestandteile der allgemeinen Reparationsregelung und daher gemäß Art. 5 LSA zurückgestellt. Dessen ungeachtet schloß die Bundesrepublik in den Jahren von 1959 bis 1964 mit elf westeuropäischen Staaten und mit Österreich Wiedergutmachungspauschalabkommen mit einer Gesamtleistung von rund 1 Mrd. D M . Den Vertragspartnern wurden Pauschalsummen überwiesen, aus denen sie diejenigen ihrer Staatsangehörigen zu entschädigen hatten, die durch nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen Schäden an Leben, Körper oder Gesundheit oder einen Freiheitsschaden erlitten hatten. Österreich erhielt einen Zuschuß zu eigenen Wiedergutmachungsleistungen. Eine "Schlußklausel" soll sichern, daß derartige Forderungen damit abschließend geregelt sind. Die Verträge wurden von der Gegenseite nicht zuletzt deshalb gefordert, weil der begünstigte Personenkreis wegen der im Entschädigungsrecht der Bundesrepublik geltenden Stichtags- und Wohnsitzvoraussetzungen von der innerdeutschen Regelung ausgeschlossen war. Dank der Unterscheidung zwischen Reparationen und Wiedergutmachung, obwohl beide Ausdrücke im LSA nicht vorkommen, gelten die Westverträge für pauschale Wiedergutmachung nicht als Durchbrechung des LSA. Anlage V I I I enthält eine vereinbarte Auslegung, wonach Ansprüche aus Rechtsvorschriften der Bundesrepublik und aus vor der Unterzeichnung der LSA geschlossenen Verträgen nicht beeinträchtigt werden. Darunter aber verstand man die deutschen Vorschriften zur Entschädigung von NSUnrecht und das Israel-Abkommen und machte daraus eine generelle Ausnahme für die Wiedergutmachung von NS-Unrecht 48 . Ein heikles Problem warfen die Forderungen der Regierungen Belgiens, Frankreichs und Luxemburgs auf, die in den 70er Jahren Entschädigung für solche ihrer Staatsangehörigen verlangten, die zwangsweise zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden waren (Zwangsrekrutierte, Enroulés de force). Obwohl es sich als Völkerrechtsdelikt um eine klassische Reparationsfrage handelte und die Wiedergutmachung typischen NS-Unrechts in den 48

Vgl. H. Rumpf, a.a.O. (Anm. 39), S. 135-139. Dort Liste der Empfängerstaaten und

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Globalverträgen mit den drei Staaten von 1959/60 geregelt worden war, deklarierten die Interessenverbände ihre Ansprüche als solche der Wiedergutmachung. A m Ende wurden nur die französischen Forderungen auf Grund einer Absprache des Bundeskanzlers Schmidt und Präsident Giscard d'Estaings vom September 1978 als "Leistungen im Interesse der deutsch-französischen Verständigung" mit 250 M i o D M pauschal befriedigt, wofür Frankreich einer Grenzkorrektur (Rückgabe des Mundatwaldes) zustimmte 49 .

d) Der Israelvertrag Eine Reparationsregelung eigener Art und ohne Präzedenz ist der Israelvertrag vom 10. September 1952: wegen der ihn motivierenden Massenverbrechen und weil der Anspruchsteller und Leistungsempfänger zur Zeit, als das Unrecht begangen wurde, noch nicht bestand. Die Bundesrepublik leistete eine globale Entschädigung von 3 Mrd. D M in Form von Warenlieferungen und Dienstleistungen an den Staat Israel zum Ausgleich der diesem entstandenen Kosten für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und den ehemals unter deutscher Herrschaft stehenden Gebieten. Daneben erhielt die "Conference on Jewish Material Claims against Germany" auf Grund eines mit ihr geschlossenen Abkommens vom gleichen Tage den Betrag von 450 Mio. D M "zur Unterstützung, Eingliederung und Absiedlung jüdischer Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in verschiedenen Ländern" 50 . Neben die Individualentschädigung auf Grund des B E G (siehe oben) trat also die Kollektiventschädigung für Israel, die auch in den folgenden Jahren unter verschiedenen Bezeichnungen (Wirtschaftshilfe) mit Hundertmillionenbeträgen fortgesetzt wurde.

e) Reparationen für Osteuropa? I m Potsdamer Abkommen waren die Sowjet-Union und Polen auf die sogenannte "Ostmasse" verwiesen worden, Jugoslawien und die Tschechoslowakei sollten an der "Westmasse" partizipieren. Vertragliche Gesamtregelungen der Reparationsfrage zwischen den ehemaligen Feindstaaten, verbündeten und besetzten Ländern Osteuropas und der Bundesrepublik Deutschland gibt es bis heute nicht, auch nicht in Form eines vereinbarten RegelungsaufBeträge. 4 9

Vertrag vom 31.3.1981, In Kraft 10.6.84, BGBl. II, S. 608.

BGBl. 1953, II, S. 36 ff. Dazu die Wiedergutmachung usw. hrsg. vom Bundesministerium der Finanzen (Anm. 46), Bd. III, mit Beiträgen von E. Féaux de la Croix und H. Rumpf.

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schubes. Allerdings hat die Sowjet-Union in dem "Protokoll über den Erlaß der deutschen Reparationszahlungen usw." vom 22. August 1953 parallel zum Abschluß des LSA die D D R ab 1.1.1954 von weiteren derartigen Leistungen befreit. Die Regierung der UdSSR handelte dabei im Einvernehmen mit der polnischen Regierung. Der Erlaß bezog sich nach seiner Formulierung auf ganz Deutschland, was die polnische Regierung in den Gesprächen über den Warschauer Vertrag 1970 bestätigte. Es handelt sich also um einen echten Verzicht, nicht nur um ein Moratorium. Andererseits haben verschiedene Ostblockregierungen seither und bis in die jüngste Zeit (1984) Wiedergutmachungsansprüche erhoben, die in die Hunderte von Millionen gehen. Sie machen sich dabei die Unterscheidung zwischen Reparationen und Wiedergutmachung von NS-Unrecht zu Nutze und erklären, auf individuelle Ansprüche ihrer Bürger auf Entschädigung für KZ-Haft, Zwangsarbeit, Deportagen usw. nicht verzichtet zu haben. Das LSA betrachten sie als res inter alios gesta, auf die man sich ihnen gegenüber nicht berufen könne. Die Bundesrepublik aber ist nach Art. 8 LSA gehindert, Gläubigerstaaten unterschiedlich zu behandeln. Dessen ungeachtet hat die Bundesrepublik Regelungen gefunden, die es ermöglichen sollten, aus außenpolitischen Gründen gewisse Forderungen osteuropäischer Staaten zu erfüllen, ohne offen gegen das LSA zu verstoßen. Jugoslawien erhielt auf Grund verschiedener Abkommen (Protokoll vom 16. Oktober 1956) insgesamt 300 Mio. D M , aufgeteilt in 240 Mio. D M Wirtschaftsbeitrag als Kredit für 99 Jahre, 60 Mio. D M zur Abgeltung jugoslawischer Ansprüche aus der Kriegs- und Vorkriegszeit und für nicht realisierbare Restitution 51 . Ein Kapitel für sich bilden die Abkommen über die Entschädigung von Opfern pseudomedizinischer Menschenversuche, die in NS-Konzentrationslagern angestellt worden waren. Zwischen 1961 und 1972 wurden mit vier osteuropäischen Staaten Pauschalabkommen geschlossen, in denen diesen Globalsummen zur Verteilung an ihre durch pseudomedizinische Versuche geschädigten Staatsbürger versprochen wurden. Auf Grund dieser Vereinbarungen erhielten: Jugoslawien

DM

8,00 M i o

Ungarn

DM

6,25 M i o

CSSR

DM

7,50 M i o

Polen

DM100,00 M i o 5 2

5 1

Bundesanzeiger vom 15.1.1957, Nr. 9, S. 1 ff.

5 2

Vgl. H. Rumpf, Vom Niemandsland zum deutschen Kernstaat, 1979, S. 136.

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Jugoslawien und Polen erhielten in der Folgezeit erneut hohe Beträge, die unter verschiedenen Begründungen und Betitelungen Wiedergutmachungsforderungen "ablösen" sollten, ohne die Bundesrepublik in rechtlich verbindlicher Form freizustellen. In zwei Abkommen vom Dezember 1972 und Juni 1974 wurde Jugoslawien Kapitalhilfe von insgesamt 1 Mrd. D M zu niedrigem Zinssatz (2 1/2 %) auf 30 Jahre bei 8-10 tilgungsfreien Jahren gegeben 5 3 . Polen erhielt 1975 einen Finanz-Kredit in Höhe von 1 Mrd. D M zu 2,5 % Zinsen sowie 1,3 Mrd. D M zur Abgeltung von pauschal geschätzten Ansprüchen polnischer Staatsbürger aus der deutschen Rentenversicherung. Als "Gegenleistung" versprach die Volksrepublik Polen die Ausreisegenehmigung für 120-125.000 Volksdeutsche, die nach deutscher Auffassimg noch die gesamtdeutsche Staatsangehörigkeit besaßen 54 . M i t der CSSR kam es bisher zu keiner Regelung. Der "Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik" vom 11. Dezember 1973 stellt in Art. 2 Abs. 3 lediglich fest, daß er "keine Rechtsgrundlage für materielle Ansprüche der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und ihrer natürlichen und juristischen Personen" bildet. Die Regierung der CSSR erklärte in der ihrem Parlament vorgelegten Begründung, ihre Reparationsund Wiedergutmachungsansprüche, die sie auf mindestens 315 Mrd. tschechischer Kronen bezifferte, blieben davon unberührt 55 . I n den Verhandlungen über solche Formen der Ost-Wiedergutmachung blieb ein wesentliches Argument deutscherseits unausgesprochen: die ungeheuren Gebiets- und Vermögensverluste Deutschlands und der deutschen Vertriebenen durch die Annektionspolitik Polens und der UdSSR, mit denen aufzurechnen wäre.

5. Rückblick auf 40 Jahre Die Regelung der Reparationsfrage nach dem zweiten Weltkrieg ist Stückwerk geblieben. Die Gesamtabrechnung mußte unterbleiben, da ein Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland nicht zustande kam. Ob die mehrfach vorbehaltene endgültige Regelung allerdings vom deutschen Standpunkt wünschenswert wäre, muß nach den Erfahrungen mit dem Versailler Vertrag von 1919 und den bis in die Gegenwart nicht aufhörenden Forderungen 5 3

Vgl. H. Rumpf, Die Wiedergutmachung (Anm. 46), Bd. III, S. 244.

5 4

Ders., a.a.O., S. 245 ff.

5 5

BGBl. II, 1974, S. 989, 991.

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ehemaliger Kriegsgegner bezweifelt werden. Ein erzwungener oder unter Druck unterzeichneter Vertrag kann in der Sache ebenso hart sein wie die einseitigen Maßnahmen der Sieger. In Anbetracht der Verantwortung des NS-Regimes für den Krieg, für maßlose Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist die Wiedergutmachungspflicht Deutschlands auch von entschiedenen Kritikern der alliierten Politik grundsätzlich nicht bezweifelt worden. In Würdigung aller Umstände ist das deutsche Volk sogar verhältnismäßig glimpflich davongekommen. So zeigten denn auch Bundesregierung, Bundestag und die Parteien nach dem zweiten Weltkrieg eine größere Bereitschaft zur Wiedergutmachung im weitesten Sinne als nach dem ersten Weltkrieg. Aus dem Bundestag kamen wiederholt Resolutionen und Anträge, bestimmte Entschädigungsleistungen zu erhöhen und zu verbesern. Druck, ausgeübt von Interessenverbänden mit Beziehungen in die Gesellschaft der Bundesrepublik, wie von der jüdischen Claims Conference, war immer wieder erfolgreich mit dem Appell an das schlechte deutsche Gewissen. Der allgemeine Wohlstand ließ andererseits den deutschen Steuerzahler die Belastung wenig spüren. Dennoch hat die Regelung der Reparationsfrage nach dem zweiten Weltkrieg nicht dazu beigetragen, die Reparation als Rechtsinstitut des Völkerrechts im öffentlichen Bewußtsein zu beglaubigen. Die auf den Krieg folgende Reparation ist ebenso wie das sogenannte Völkerstrafrecht einseitig dem Besiegten auferlegt, mit nationalpolitischen Zielen vermengte Sühne geblieben. So wenig Kriegsverbrechen der Gegenseite an Deutschen drüben geahndet wurden, so wenig wurden Schäden aus völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen (Bombenkrieg) in die Waagschale der Abrechnung geworfen. Der Sieger amnestiert sich selbst, für den Besiegten gibt es keine Verjährung. Jegliche individuellen und Regierungsansprüche gegen die Kriegsgegner Deutschlands, 1942 Vereinte Nationen genannt, ihre Regierungen und deren Beauftragte wegen im Krieg und während der Besetzung Deutschlands getroffener Maßnahmen und begangener Handlungen und Unterlassungen sind durch Teil I X des Überleitungsvertrages ausgeschlossen, wenn auch unter dem Vorbehalt eines Friedensvertrages mit dem ganzen Deutschland. Darin liegt das Anerkenntnis der Einseitigkeit der bisherigen Regelung. So sehr die Möglichkeit einer gegenseitigen Aufrechnung dem Ideal der Gerechtigkeit entspräche, die praktische politische Vernunft spricht dagegen und dafür, es bei der unvollkommenen "vorläufigen" Regelung zu belassen.

DIE DEUTSCHLANDFRAGE AUF DER GIPFELKONFERENZ UND DER AUSSENMINISTERKONFERENZ IN GENF 1955 Von Mechthild Lindemann

Zum ersten Mal nach fast genau zehn Jahren trafen die Regierungschefs der Westmächte - US-Präsident Dwight D. Eisenhower sowie die Ministerpräsidenten Frankreichs und Großbritanniens, Edgar Faure und Anthony Eden - am 18. Juli 1955 mit ihrem sowjetischen Amtskollegen Nikolaj Aleksandrovic Bulganin in Genf zusammen. Gespannt verfolgte die Weltöffentlichkeit die "Bemühungen zur Beseitigung" der zwischen den Großmächten "bestehende(n) Konfliktherde" 1 . Von der Konferenz auf höchster Ebene wurde eine spürbare Entspannung zwischen den Mächten erwartet. In der Bundesrepublik verband man mit dem Gipfeltreffen Hoffnungen eigener Art. Nachdem am 5. Mai die Ratifizierung der Pariser Verträge endgültig abgeschlossen und Westdeutschland damit in die Souveränität entlassen worden war, mußte sich nun zeigen, ob die von Bundeskanzler Konrad Adenauer, aber auch den Westmächten selbst vertretene These zutraf, daß die Zustimmung zu den Westverträgen die Aussichten auf die Wiedervereinigung nicht nur nicht behindern, sondern sie im Gegenteil fördern würde. Wenngleich die Westmächte unter dem Druck dieser an sie gestellten Erwartungen am 10. Mai 1955 selbst die Initiative zu den Viermächtegesprächen ergriffen hatten, wurden intern die Erfolgsaussichten eher skeptisch beurteilt. In den im Verlaufe des Vorjahres immer wieder dokumentierten Entspannungsbemühungen der Sowjetunion glaubte man zwar, Anzeichen innerer Schwäche zu erkennen, die die östliche Großmacht dazu veranlassen würden, größere Konzessionsbereitschaft als bisher an den Tag zu legen 2 ; für Die Bemühungen der Bundesrepublik um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands durch Gesamtdeutsche Wahlen. Dokumente und Akten. II. Teil: November 1953 - Dezember 1955. Bonn 1958, S. 196: Note der Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreiches und der Vereinigten Staaten an die sowjetische Regierung, 10.5.55. 2

Solche Anzeichen sah man in den Machtkämpfen im Kreml und den wirtschaftlichen

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günstiger hätte man es allerdings gehalten, mit dem Vierertreffen zu warten, bis die Pariser Verträge zumindest ansatzweise realisiert waren, d.h. die Wiederbewaffnung Westdeutschlands in die Wege geleitet worden war 3 . So hatte man, um eine mögliche Enttäuschung der Öffentlichkeit bei Ergebnislosigkeit des Vierertreffens auffangen zu können, der Konferenz der Regierungschefs von vornherein nur die begrenzte Aufgabe gestellt, die anstehenden Probleme zu benennen, während konkrete Lösungsvorschläge einer Reihe nachfolgender Gespräche vorbehalten bleiben sollten 4 . Die Interessen beider Seiten trafen sich in Fragen der europäischen Sicherheit und der Abrüstung, die auch von sowjetischer Seite in ihrer Antwort auf die westliche Einladung am 26.5. eigens erwähnt worden waren 5 . Unklar blieb jedoch, wie sich die Kremlführung zu einer Diskussion über die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands stellen würde. Zwar schien sie in der TASS-Meldung vom 15. Januar dem auf der erfolglosen Berliner Außenministerkonferenz 1954 vorgelegten Deutschland-Plan Edens zugestimmt zu haben, indem auch sie das Prinzip freier gesamtdeutscher Wahlen unter internationaler Aufsicht als ersten Schritt zur Wiedervereinigung propagiert hatte 6 , und im Falle Österreichs hatte sie sich zur Unterzeichnung des Staatsvertrages, mithin zum Rückzug aus ihren bisherigen Positionen, bereit gefunden. In Bezug auf Deutschland war indessen wiederholt erklärt worden, daß Gespräche über eine Wiedervereinigung mit der Ratifizierung der Pariser Verträge hinfällig würden 7 - was den Westmächten Anlaß gegeSchwierigkeiten der UdSSR, die sie dazu nötigen würden, auf Entspannung mit dem Westen zu drängen, um Gelder aus dem Rüstungssektor für die Landwirtschaft und andere Industriezweige freizubekommen. Vor allem Adenauer war ein Verfechter dieser These. S. hierzu K. Adenauer, Erinnerungen 1953-1955. Frankfurt (Main)/Hamburg 1968, S. 440f.; H.-P. Schwarz (Hrsg.), Entspannung und Wiedervereinigung. Deutschlandpolitische Vorstellungen Konrad Adenauers 1955-1958. Stuttgart/Zürich 1979, S. 17f. 3 Die Beamten in den Außenministerien in Washington, London und Bonn verfochten einhellig diese Meinung, insbesondere die Amerikaner. So versuchte sich noch Anfang Mai der Präsident dem Gipfeltreffen zu entziehen, indem er vorschlug, den Vizepräsidenten zu entsenden. D. D. Eisenhower, Die Jahre im Weißen Haus 1953-1956. Düsseldorf/Wien 1964, S. 550553; H. Macmillan, Tides of Fortune 1945-1955. London/Melbourne/Toronto 1969, S. 591. 4 Die Bemühungen ... (wie Anm. 1), S. 196f. Dies war vor allem auf amerikanischen Wunsch hin erfolgt, da man in Washington aufgrund des Erwartungsdrucks eine "Konferenz-Psychose" befürchtete, die die Verhandelnden zu "ungewollten Konzessionen" bewegen könnte. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes ( = PA), Abt. III, 212-19, Bd. 13: 305.212-19.974/55: Aufzeichnung Georg v. Lilienfelds, 12.5.55. Die Idee, die Gipfelkonferenz als Auftakt für weitere Viermächtegespräche zu betrachten, stammte vom britischen Außenminister. Macmillan, Tides (wie Anm. 3), S. 586-591. 5 Die Bemühungen ... (wie Anm. 1), S. 197-199. 6

7

Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion. Bd. II. Berlin(Ost) 1963, S. 107.

U.a. in der TASS-Meldung vom 15. Januar, ibid., S. 109 und in der Rede des sowjetischen Außenministers Vjaceslav M . Molotov vor dem Obersten Sowjet am 8. Februar. H. v. Siegler (Hrsg.), Dokumentation zur Deutschlandfrage. Bd. I. Bonn/Wien/Zürich o J., Nr. 82, S 282284.

Die Deutschlandfrage in Genf 1955

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ben hatte, dieses Thema in ihrer Einladung an die Sowjetunion gar nicht erst zu erwähnen 8 . Die praktische Deutschlandpolitik der Sowjetunion nach dem 5. M a i zielte offenkundig darauf ab, ihren früheren Aussagen Nachdruck zu verleihen. M i t der Einbeziehung der D D R in den am 14. M a i gegründeten Warschauer Pakt und der Einladung an Adenauer vom 7. Juni, zu Unterredungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nach Moskau zu kommen, war zumindest signalisiert, daß die Sowjetregierung künftig mit zwei deutschen Staaten Politik zu machen gedachte. Die Rückkehr zu der schon im Verlaufe des Jahres 1954 mehrfach erhobenen Forderung, daß die beiden deutschen Regierungen alle aufkommenden Fragen unter sich regeln sollten, unterstrich diese Tendenz zur Beibehaltung des Status quo in Deutschland 9 . Den Westmächten mußte es trotz des offensichtlichen Desinteresses der Sowjetunion an der Deutschlandfrage darum gehen, über dieses Thema mit dem östlichen Verhandlungspartner ins Gespräch zu kommen. Angesichts ihrer aus den Pariser Verträgen erwachsenden Verpflichtung, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen, durften sie sich nicht ausschließlich auf die Bereiche Abrüstung und Sicherheit lenken lassen. Die zu erwartenden Schwierigkeiten hoffte man zu umgehen, indem man die Themen "Deutschland" und "europäische Sicherheit" miteinander verknüpfte - ein Gedanke, der um so näher lag, als der sowjetische Außenminister Vjaceslav Michajlovic Molotov diese Verbindung durch die Vorlage eines Entwurfs für einen europäischen Sicherheitspakt auf der Außenministerkonferenz des Vorjahres bereits hergestellt hatte. Zudem sahen die Verantwortlichen einen logischen Zusammenhang insofern, als die Teilung Deutschlands als Hauptursache der Spannungen in Europa galt. Das Junktim zwischen Deutscher Frage und Sicherheitsproblem, das sich während der Konferenzvorbereitung als die Lösung für einen erfolgreichen Gesprächsansatz mit den Sowjets herauskristallisierte, sollte zur Grundlage der westlichen Verhandlungstaktik und führung nicht nur auf den beiden Genfer Konferenzen des Jahres 1955 werden, sondern noch weit darüber hinaus bis hin zur Vorlage des amerikanischen Außenministers Christian Herter auf der Genfer Außenministerkonferenz 1959 wirksam sein.

g Man befürchtete anderenfalls eine Ablehnung seitens der Sowjetunion. Public Record Office ( = PRO), Foreign Office ( = FO) 371/118 209: W G 1071/479: Bericht der zweiten Sitzung der Londoner Arbeitsgruppe, 27.4.55. Vgl. die Reden des Ministerpräsidenten der D D R , Otto Grotewohl, vom 7. Mai sowie des Ersten Sekretärs des Z K der SED, Walter Ulbricht, vom 1. Juni 1955; ebenso die Rede Bulganins auf der Warschauer Konferenz, 11.5. und die TASS-Meldung vom 12. Juli.

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I.

Der erste Anstoß zu einer engen Verknüpfung der als unerläßlich betrachteten Themen "Wiedervereinigung Deutschlands" und "europäische Sicherheit" wurde im Laufe der noch vor der Einladung an Moskau vom 27.4. bis 5.5.1955 in London tagenden Konferenz der westlichen Experten gegeben. I n der dritten Sitzung am 28. April äußerte der hinzugezogene Vertreter der Bonner Regierung, Herbert Blankenhorn, daß das - von sowjetischer Seite seit der Berliner Außenministerkonferenz angestrebte - europäische Sicherheitssystem nicht Zustandekommen dürfe, falls Deutschland geteilt bleibe und eine Beteiligung beider deutscher Staaten daran vorgesehen sei 1 0 . Hinter diesem deutschen Vorstoß standen verschiedene Überlegungen. So hielt man es "zwar nicht moralisch, aber politisch" für verständlich, daß Moskau für die Preisgabe Ostdeutschlands - die als Resultat freier Wahlen zu erwarten war - "eine Garantie oder einen Ausgleich in Form von Zugeständnissen hinsichtlich des Status Gesamtdeutschlands" unter militärischem Aspekt forderte 11 . Stärker aber verbarg sich hinter der Herstellung des Junktims zwischen Deutschland und Sicherheitsfrage die Absicht der Bundesregierung, "eine Einigung auf der Grundlage des status quo mit Anerkennung der ' D D R ' und der Oder-Neisse-Linie" ebenso zu verhindern "wie eine Einigung auf Kosten der Pariser Verträge" 12 . Meldungen aus Frankreich sowie Äußerungen aus amerikanischen Regierungskreisen hatten nämlich Anlaß zu der Befürchtung gegeben, daß die Westmächte auf der bevorstehenden Viermächtekonferenz Konzessionen in eine der beiden Richtungen machen könnten. Aus Paris wußte Botschafter Wilhelm Hausenstein zu berichten, daß die französische Regierung für die kommenden Vierergespräche in erster Linie Abrüstung und Entspannung im Visier habe, "wenn dies auch die Anerkennung des Status quo bedeuten sollte". M i t diesem sei man, was Deutschland angehe, an der Seine ohnehin ganz zufrieden. Wenn Bonn also von dieser Seite "eine aktive Politik der Wiedervereinigung erwarte", so sei das "ein verhängnisvoller Irrtum" 1 3 . Eine solche Haltung war für Bundeskanzler Adenauer ebenso unerwünscht wie Wiedervereinigungsbemühungen, die über das Ziel hinausschießen und die Realisierung der Pariser Verträge in Frage stellen würden. 1 0 PRO FO 371/118 209: W G 1071/480: Protokoll der 3. Sitzung der Experten, 28.4.55. Deutsche Version: Bundesarchiv Koblenz ( = BA), Nachlaß ( = NL) Blankenhorn, Bd. 45b, Bl. 49. 1 1 PA, Abt. VII: 700-80.05/0, Bd. 1: 202-202.03: 4073/55: Aufz. Rudolf Fechters vom 31.3.55. 1 2

PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1: 350.212-19.884/55: Aufz. v. 16.4.55.

1 3

BA, N L Blankenhorn, Bd. 41b, Bl. 139f.: Memorandum Hausensteins vom 30.355.

Die Deutschlandfrage in Genf 1955

181

So war der Bonner Regierungschef durch interne Äußerungen des USAußenministers John Förster Dulles auf den Plan gerufen worden, "die deutschen Divisionen seien bei der E V G und W E U niemals als Selbstzweck gedacht gewesen, man könne daher mit den Russen im Interesse der Wiedervereinigung darüber sprechen" 14 . Die rasche Richtigkeitstellung dieser Aussage auf deutsche Nachfrage hin enthob Adenauer freilich nicht aller Sorgen, schien doch mit der sich abzeichnenden Lösimg des Österreich-Problems neue Gefahr im Verzug. Aus dem lauten Nachdenken Präsident Eisenhowers über einen neutralen Staatengürtel in Europa 1 5 sowie Sondierungen des Pentagon über Möglichkeiten einer Umgruppierung der amerikanischen Truppen in Westeuropa 16 glaubte er entnehmen zu können, daß sich "1) das Verlangen der Vereinigten Staaten, die Satellitenstaaten frei zu bekommen und 2) das Verlangen der Russen, Deutschland zu neutralisieren", treffen könnten und somit der Bundesrepublik - bzw. Gesamtdeutschland- die Bündnislosigkeit drohe. Die sofortige Rückberufung der Botschafter aus Washington, London und Paris zu Gesprächen in Bühlerhöhe 1 7 diente ebenso wie die überstürzte Einbringung des Freiwilligengesetzes noch im M a i dem Ziel, solche Ideen "ein für alle Male tot zu machen" 18 . Denn nach wie vor blieb der Kanzler davon überzeugt, daß ein neutralisiertes Deutschland in den sowjetischen Machtbereich abgleiten würde 1 9 . Indessen ließ die Position der Verbündeten die Befürchtungen Adenauers als unbegründet erscheinen. Trotz der Äußerungen aus der amerikanischen Hauptstadt war man dort ebenso wenig wie in London und Paris an einem neutralen Deutschland interessiert 20 . Die Alliierten fürchteten vielmehr, daß in der 14 1 5 1 6

Ibid., Bd. 40, Bl. 61: Albrecht von Kessel, Gesandter in Washington, an das A A , 10.2.55. Keesing's Archiv der Gegenwart ( = K A G ) 1955,5178B (1.). Meldung des "Spiegel", 9 (1955), H. 25, S 27f.

1 7

BA, N L Blankenhorn, Bd. 41b, Bl. 57: Protokoll der Besprechung in Bühlerhöhe, 25.5.55.

1 8

Ibid., Bl. 59-62.

19

Ibid., Bl. 59f.; Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 434ff. Ausführlich zur Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers unter besonderer Berücksichtigung seines Sowjetunionbildes: K. Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954-1963. In: R. Morsey/K Repgen (Hrsg.), Adenauer-Studien. Bd. III. Mainz 1974, S. 3-91; Schwarz, Entspannung (wie Anm. 2); B. Bandulet, Adenauer zwischen West und Ost. Alternativen der deutschen Außenpolitik. München 1970; neuerdings C. Kleßmann, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1955-1963. In: J. Foschepoth (Hrsg.): Adenauer und die Deutsche Frage. Göttingen 1988, S. 61-79.

20

Zur Frage des Interesses der USA und der UdSSR an einer Neutralitätslösung für Deutschland besonders A. Hillgruber, Alliierte Pläne für eine "Neutralisierung" Deutschlands 1945-1955. Opladen 1987, S. 26ff. Die Briten hatten ähnlich wie Adenauer die Befürchtung, daß aufgrund des dann zu erwartenden Truppenrückzugs anglo-amerikanischer Truppen vom Kontinent eine für den Westen prekäre Sicherheitslage in Europa entstünde, und waren daher strikt gegen die Aufgabe ihrer Stützpunkte in Deutschland. PRO F O 371/118 206: W G 1071/379: Aufe. des Leiters des Western Department, Patrick F. Hancock, vom 1.4.55: PRO F O 371/118 208: W G 1071/430: Memorandum Frederick A. Warners, März 1955. Daß auch die Franzosen Neutralitätsideen ablehnten, war dem Kanzler aus seinem Gespräch mit

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Bundesrepublik die Österreich-Lösung zunehmend an Attraktivität gewinnen könnte und die Deutschen schließlich die Wiedervereinigung über die Westbindung stellen würden 2 1 . Die Schlußfolgerungen, die sie daraus ziehen zu müssen glaubten, waren freilich unterschiedlich. Während der Leiter der französischen Expertendelegation, Francois Seydoux, dazu tendierte, von dem bisher vertretenen Standpunkt abzurücken, daß das wiedervereinigte Deutschland das Recht haben müsse, seine Bündnisse frei zu wählen 22 , ging dieser Schritt Briten und Amerikanern zu weit. In Verbindung mit der Forderung nach Wiedervereinigung durch freie gesamtdeutsche Wahlen erschien ihnen dies gerade als effektivste Gegenposition gegen sowjetische Neutralisierungsvorschläge 23. Außerdem konnten solche Versuche, die Souveränität einer gesamtdeutschen Regierung zu beschneiden, unliebsame Reaktionen in Bonn hervorrufen. Man mußte - so sahen es zumindest die Beamten im State Department und im Foreign Office - die eigenen Interessen gegenüber Deutschland dadurch wahren, daß man sich ernsthaft um eine Wiedervereinigung bemühte. Anderenfalls bestünde die Gefahr, daß die Westdeutschen ihre Wiederbewaffnung - die sie bis zum Abschluß der Viermächteverhandlungen ohnehin nur "im ersten Gang" betreiben würden 2 4 - weiter aufschieben und am Ende den Verlockungen sowjetischer Angebote erliegen würden 2 5 . Von daher wollte man - soweit wurde sich die Arbeitsgruppe einig - beträchtlich über das hinausgehen, was in Berlin zur Deutschlandfrage vorgelegt worden war. Man habe diesmal keine "Propaganda-Übung, sondern... einen konstruktiven Versuch, eine Übereinkunft zu erzielen", vor sich, bemerkte der Stellvertre-

Außenminister Antoine Pinay vom 29.4. bekannt, und während der Unterredung in Bühlerhöhe wußten auch die Botschafter Blankenhorn und Vollrath v. Maltzan Ähnliches zu berichten. BA N L Blankenhorn, Bd. 45b, Bl. 6; ibid., Bd. 41b, Bl. 62.

21

So beispielsweise die Briten, die mutmaßten, daß die Deutschen "aus den Pariser Verträgen aussteigen" wollten, und "nichts Eiligeres zu tun hätten, als mit den Russen über [die] Wiedervereinigung zu verhandeln". H. Krone, Aufzeichnungen zur Deutschland- und Ostpolitik 1954-1969. In: Morsey/Repgen: Adenauer - Studien (wie Anm. 19), S, 137: Aufz. vom 22.4.55. 2 2 PRO FO 371/118 211: W G 1071/516 "A": Harrisons Erläuterungen zum Abschlußbericht der Londoner Arbeitsgruppe, 5.5.55. 23 Ibid. Freilich legten auch die Amerikaner in späteren Unterredungen mit den Briten starke Bedenken gegen das Prinzip der freien Bündniswahl an den Tag, so etwa der Leiter der Deutschlandabteilung im State Department, Jaques J. Reinstein, im Gespräch mit dem britischen Botschafter Roger Makins. PRO FO 371/118 217: W G 1071/687: Makins an Harrison, 11.6. 2 4 PRO FO 371/118 202: W G 1071/246: Memorandum der Botschaft Washington, 5.3.55. 2 5 PRO FO 371/118 204: W G 1071/291: Entwurf der Ergebnisse einer Diskussion des Permanent Undersecretary's Committee, März 1955. Hillgruber, Alliierte Pläne ... (wie Anm. 20), S. 24, zitiert eine entsprechende Aussage Edens vom 26.3. - Auch die Amerikaner teilten diese Befürchtung.

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λ/:

tende Unterstaatssekretär im Foreign Office, Geoffrey W. Harrison . Der Spielraum, der bezüglich des Deutschlandproblems vorhanden war, war dabei indessen sehr eng: zwar sollte mit Blick auf die Deutschen, die mehr als eine Neuauflage der Berliner Konferenz erwarteten 27 , der EdenPlan vom Vorjahr nicht unverändert wieder vorgelegt werden, aber seine Hauptprinzipien - freie Wahlen und Entscheidungsfreiheit der gesamtdeutschen Regierung - mußten aus westlicher Sicht doch erhalten bleiben 2 8 . M i t einer Zustimmung der Sowjets zu einer Wiedervereinigung Deutschlands unter solchen Voraussetzungen war aber auch nach der TASS-Meldung vom 15. Januar kaum zu rechnen, und der zu erwartenden Gegenforderung nach Neutralisierung Deutschlands, d.h. der Aufgabe der Pariser Verträge, wollte man ebensowenig nachkommen. Wie sollte man aber, wenn in der Deutschlandfrage kein Ergebnis erzielt würde, noch die Entspannungshoffnungen der eigenen Bevölkerung, deren Wunsch nach Sicherheitsvereinbarungen befriedigen? A n dieser Frage schieden sich erneut die Geister. Während die Franzosen dazu neigten, bei einem Scheitern in der Deutschlandfrage eine Sicherheitsabsprache mit der Sowjetunion auf Status-quo-Basis zu treffen 29 , lehnten die Angloamerikaner dies ab. Die Amerikaner konnten sich als Verfechter des "rollback", der Freiheit auch für die Satellitenstaaten, mit dem Status quo nicht zufriedengeben; darüber hinaus war für sie wie für die Briten ein europäisches Sicherheitssystem auf der Grundlage des geteilten Deutschland undenkbar. Die nach Wiedervereinigung strebenden Deutschen würden dieses immer wieder destabilisieren 30 . M i t der Formel "Wiedervereinigung durch die Pariser Verträge und europäische Sicherheit" legten die Delegationsleiter der USA, Großbritanniens und Frankreichs, Jacob D. Beam, Geoffrey W. Harrison und Francois Seydoux, in ihrer Sitzung am 29.4. die einheitliche westliche Zielsetzung für Genf schließlich fest 31 . Zum einen hatten sie damit der Verhand2 6 PRO FO 371/118 209: W G 1071/479: Bericht von der 2. Sitzung der Londoner Expertengruppe, 27.4.

PRO FO 371/118 209: W G 1071/457: Hochkommissar Frederick Hoyer-Millar an das FO, 25.4. OQ * * PRO FO 371/118 211: W G 1071/516G: Abschlußbericht der Londoner Arbeitsgruppe, 5.5. Der Bericht liegt neuerdings auch veröffentlicht vor Documents Diplomatiques Frangais ( = D D F ) 1955, Annexes, tome 1. Paris 1987. Réunions des Ministres des Affaires Étrangéres de la France, du Royaume-Uni, des État-Unis, de l'U.R,S.S. et de la République féderale d'Allemagne (Janvier - Juin 1955), S. 113-124. 2 9

30

PRO FO 371/118 211: W G 1071/516 "A".

PRO FO 371/118 198: W G 1071/113: Unterstaatssekretär Ivone Kirkpatrick an den brit. Botschafter in Paris, Gladwyn Jebb, 3.2.55; PRO FO 371/118 206: W G 1071/379: Briefentwurf des FO vom 1.4., vgl. auch den Abschlußbericht der Londoner Arbeitsgruppe (wie Anm. 28), S. 11. 3 1 PRO FO 371/118 210: W G 1071/514.

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lungsposition den aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage notwendigen Rahmen gegeben, zum anderen ließen es auch taktische Erwägungen gegenüber der Sowjetunion ratsam erscheinen, den Regierungen das von Blankenhorn vorgeschlagene Junktim zwischen Deutscher Frage und europäischer Sicherheit weiterzuempfehlen 32 . Man konnte so das seit Berlin immer wieder bekundete Interesse der Sowjetregierung an einem Sicherheitsabkommen ausnutzen, indem man ihr dieses bis zur Wiederherstellung Gesamtdeutschlands verweigerte. Auch schienen Angebote in der Sicherheitsfrage logisch: Über Offerten im militärischen Bereich würde den Sowjets die Furcht vor einer Bedrohung durch Deutschland und den Westen genommen und zugleich ihre Begründung für die Aufrechterhaltung ihrer militärischen Präsenz bis an die Elbe untergraben 33 . Gingen sie darauf nicht ein, hätte man zumindest den Hoffnungen im Westen Genüge getan und sowohl Entspannungsbereitschaft als auch einen Wiedervereinigungsversuch demonstriert.

IL

Nachdem die Sowjetunion die Einladung zu den Viermächtegesprächen angenommen und man sich auf Genf als Konferenzort sowie den 18. Juli als Konferenzbeginn geeinigt hatte 3 4 , wurden westlicherseits die Vorbereitungen auf interalliierter Ebene forciert, die man bis dahin - sehr gegen den Willen Adenauers 35 - hatte ruhen lassen. Drei Arbeitsgruppen wurden eingerichtet: I n Washington berieten vom 8. bis 14. Juni die britischen, amerikanischen und französischen Experten. Ursprünglich mit Fragen der Abrüstung befaßt - weshalb im Gegensatz zu den beiden anderen Expertentagungen keine deutsche Delegation beteiligt w a r 3 6 - steckten sie die Grundpositionen der westlichen Alliierten zu den verschiedenen Themen 32 33

Abschlußbericht... (wie Anm. 28), S. 8.

Ibid. Zu den deutschen Überlegungen in dieser Richtung: Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 440-443. 34 Vgl. den Notenwechsel zwischen den Westmächten und der Sowjetunion: Die Bemühungen35 ... (wie Anm. 1), S. 197-200. Dieser hatte sich während der Außenministerbesprechung in Paris am 8. Mai dafür eingesetzt, die Londoner Expertengruppe zu einer ständigen Einrichtung zu machen. Dabei war er vor allem am Votum Dulles' gescheitert, der für die Einrichtung alliierter Arbeitsgruppen erst nach der Konkretisierung des Konferenztermins eingetreten war. BA N L Blankenhorn, Bd. 41b, Bl. 78; D D F 1955, Annexes 1, S. 107. 3 6 PA, Abt. III, 212-19, Bd. 13: 3.212-19.279/55: Aufz. des Leiters der Länderabteilung im A A , Wolfgang von Welck, 28.5. Zunächst war erwogen worden, auch hier zumindest zeitweilig deutsche Vertreter hinzuzuziehen, ibid. und 636/55: Heinz Krekeler, Botschafter in Washing-

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ab, die in Genf zur Sprache kommen sollten, und unterbreiteten erste Vorschläge für die Eröffnungsreden der Regierungschefs. Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe waren Gegenstand der Beratungen der Außenminister in New York am 16. und 17. Juni, bei denen auch 07

Adenauer zugegen war . Hier wurden auch letzte Überlegungen für das bevorstehende Gespräch mit Molotov in San Francisco angestellt. I n Bonn trafen im Juni die mit der Revision des Eden-Plans beauftragten Delegationen der Westmächte und der Bundesrepublik zusammen. I n Paris ging es - ebenfalls mit deutscher Teilnahme - vom 8. bis 16. Juli um das Problem der europäischen Sicherheit. Auch dieses Expertentreffen mündete in Gespräche der Außenminister, die hier endgültig die Marschroute für Genf absteckten. Die Bonner Regierung, die bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht selbst präsent sein wollte, um nicht der dann zu erwartenden Forderung der D D R nach gleichem Recht Vorschub zu leisten 38 , war somit zumindest an der Ausarbeitung der westlichen Positionen und der Konferenzstrategie maßgeblich beteiligt. Durch die Entsendung einer Beobachterdelegation unter der schon in Berlin bewährten Führung des mittlerweile zum Botschafter bei der N A T O avancierten Blankenhorn und seines Nachfolgers in der Leitung der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Wilhelm G. Grewe, sollte sie darüber hinaus die Möglichkeit erhalten, auch in Genf über die Konsultation mit den Alliierten und gegebenenfalls sogar im Konferenzraum noch eigene Wünsche einzubringen 9 . Die drei Arbeitsgruppen hatten neben der Benennung weiterer Themen für das Gipfeltreffen in erster Linie die Aufgabe, das Junktim zwischen Deutscher Frage und Sicherheitsproblem mit konkreten Inhalten zu füllen. Dabei mußte sich - wenngleich das Deutschlandproblem im Mittelpunkt der Konferenz mit der Sowjetunion stehen sollte - das Augenmerk der Spezialisten hauptsächlich auf die Sicherheitsfrage richten. In Bezug auf Deutschland hatte man mit dem Eden-Plan bereits eine feste Verhandlungsposition. A n ton, an das A A , 1.6. 37 Zu den Hintergründen seiner USA-Reise: Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 442ff. 38 So der Instruktionsentwurf für die deutsche Delegation zur Londoner Arbeitsgruppe: BA,39N L Blankenhorn, Bd. 45b, Bl. 61. Ibid., Bl. 61f. Die Westmächte hatten sich ebenfalls für die Entsendung einer deutschen Beobachterdelegation in den Konferenzraum stark gemacht, um Vorwürfen vorzubeugen, daß sie sich nicht ausreichend für die Wiedervereinigung eingesetzt hätten. PRO FO 371/118 210: W G 1071/511: Christopher Steel, britischer Vertreter bei der N A T O in Paris, an das FO, 8.5., über seine Unterredung mit Adenauer vom selben Tag, vgl. auch die Gespräche des Bundeskanzlers mit den Außenministern Dulles und Macmillan am 7. bzw. 8.5.: BA, N L Blankenhorn, Bd. 41b, Bl. 112f., 123.

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dem Entwurf des jetzigen britischen Premiers ließen sich, so bestätigte die Bonner Arbeitsgruppe frühere Vermutungen, einige Formulierungen präzisieren, aber keine wesentlichen Veränderungen vornehmen, da er den Interessen der Alliierten wie der Bundesrepublik voll entsprach. Zudem konnte ein deutliches Abrücken vom Eden-Papier als der erklärten Verhandlungsgrundlage des Westens seit Berlin lediglich den Sowjets Vorschub dafür leisten, von ihrer Bereitschaft zu einer Diskussion über die westlichen Wiedervereinigungsvorschläge Abstand zu nehmen 40 . Zur Sicherheitsfrage aber fehlte bislang ein gemeinsam erarbeiteter Plan der Westmächte. Da zu erwarten stand, daß die Sowjets ihre Sicherheits- und Abrüstungsvorschläge vom 10. Mai - d.h. die Forderungen nach einem kollektiven europäischen Sicherheitspakt, der Auflösung ausländischer Stützpunkte in Europa und Rückzug aller Truppen auf das eigene Territorium 4 1 erneut vorlegen würden, mußten die westlichen Verbündeten eigene Vorstellungen als Entgegnung darauf entwickeln. Selbst wenn man sich angesichts der begrenzten Aufgaben der Gipfelkonferenz einer ausführlichen Diskussion über Sicherheit und Rüstungsbeschränkimg vermutlich würde entziehen können, sah es der Westen doch als unabdingbar an, zumindest in groben Zügen westliche Sicherheitsvorlagen skizzieren zu können, um die sowjetische Verhandlungsbereitschaft nicht bereits vor den folgenden eigentlichen Gesprächen auf Außenministerebene bzw. im UN-Abrüstungsausschuß zunichte zu machen. Erst in diesen Beratungen würden Einzelheiten zur Sprache gebracht werden 42 . Aus diesem Grund fanden detaillierte Pläne zu Sicherheitsfragen, etwa dem Problem entmilitarisierter Zonen in Europa, wie sie unter strengster Geheimhaltung in Bonn sowie in bilateralen angloamerikanischen Gesprächen in Washington entwickelt wurden, noch keinen Eingang in die Konferenzvorbereitung durch die Experten, und sie wurden auch nicht in vollem Umfang ausgetauscht43. Die mit Abrüstung bzw. der europäischen Sicherheit befaßten Arbeitsgruppen in Washington und Paris sahen ihre Aufgabe ledig40 Ibid., Bd. 48a, Bl. 107: Bericht der Bonner Arbeitsgruppe. Zu den tatsächlichen Veränderungen am Eden-Plan s. dort Annex A, Bl. 122-125. 4 1 PRO FO 371/118 231: W G 1071/956G: Bericht der Pariser Arbeitsgruppe, S. lf. Text des Sicherheitsvorschlags: Documents on International Affairs ( = D I A ) 1955. London/New YorkVToronto 1958, S. 110-121. 4 á PRO FO 371/118 220: W G 1071/743G, S. 20f.; D D F 1955, Annexes 1, S. 186f.: Bericht vom Treffen der drei westlichen Außenminister mit Adenauer am 17. Juni; PRO F O 371/118 232: W G 1071/971: Bericht über das Treffen Macmillans mit Dulles am 14.7. 43 Seit Ende Mai berieten Briten und Amerikaner in Washington verschiedene Sicherheitsprojekte. Mit einigen Grundzügen dieser Pläne wurde der Bundeskanzler bei seinem Besuch in Chequers bei Eden am 19. Juni vertraut gemacht, nachdem er seinerseits den in Bonn entwickelten Vorschlag General Adolf Heusingers zu entmilitarisierten Zonen vorgestellt hatte. A. Eden, Memoiren 1945-1957. Köln/Berlin 1960, S. 338; Adenauer, Erinnerungen (wie

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lieh darin, sehr allgemeine Richtlinien zu diesen Themen insoweit festzulegen, wie dies im Zusammenhang mit der Deutschlandfrage als notwendig erschien. Die Kremlführung würde nämlich, so vermutete man, auf das Ansinnen, einem durch freie Wahlen wiederhergestellten Gesamtdeutschland die eigene Entscheidung zu Bündnissen mit anderen Staaten zuzugestehen, ablehnend reagieren und dies mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit begründen. Dem sollten die westlichen Regierungschefs gemäß der Empfehlung der Experten entgegenhalten, daß die Pariser Verträge bereits einen Großteil der notwendigen Sicherheitsgarantien für die östliche Seite enthielten: eine Gewaltverzichtserklärung, die Begrenzung, Offenlegung und Kontrolle der Rüstungen, Maßnahmen zur Verhinderung militärischer Alleingänge der Mitgliedstaaten 44 . Darüber hinaus konnte hervorgehoben werden, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands durchaus keine Verstärkung des militärischen Potentials des Westens bedeuten müsse, indem man die Rüstunesgrenze für die Bundesrepublik auch für Gesamtdeutschland akzeptierte 5 . Schließlich würde man Bereitschaft signalisieren, über weitere Sicherheitsmaßnahmen wie gegenseitige militärische Inspektion oder eine Festlegung der Rüstungsstärken nachzudenken 46 . Ob ein solch vages Entgegenkommen in militärischen Fragen eine erfolgreiche Lösung des zentralen politischen Problems der Viermächtekonferenz, der Deutschlandfrage, fördern würde, erschien nach der eine knappe Woche vor Beginn des Gipfeltreffens abgegebenen Erklärung der amtlichen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS eher zweifelhaft. Ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO, wie es den Westmächten vorschwebte, war nach der TASS-Meldung vom 12. Juli für Moskau völlig unakzeptabel: ebenso unannehmbar nämlich, wie dies ein gesamtdeutscher Staat im Warschauer Pakt für die westlichen Verbündeten wäre 4 7 . Obwohl die Sowjetunion damit unmißverständlich in der Deutschlandfrage Anm. 2), S. 452-454. 44 Bericht der Pariser Arbeitsgruppe (wie Anm. 41), S. 11. Darauf wies Adenauer selbst in der Unterredung mit seinen Amtskollegen am 17. Juni in New York hin: D D F 1955, Annexes 1, S. 187. Er griff damit einen Gedanken des FDP-Abgeordneten Martin Euler aus dessen Rede vom 6. Mai auf, der auch Gegenstand von Diskussionen im A A gewesen war. Die dortigen Experten hatten allerdings eine Beibehaltung von drei Divisionen im Osten Deutschlands befürwortet. PA, Abt. V I I , 700-80.05/0, Bd. 1: 202-202.03: 4073/55: Aufz. Fechters v. 31.3. 46 Bericht der Pariser Arbeitsgruppe (wie Anm. 41), S. l l f .

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auf Gegenkurs gegangen war, glaubten im Westen durchaus nicht, wie Pressechef Felix von Eckardt in der Rückschau meinte, "nur Phantasten an einen Erfolg der Konferenzen mit den Russen" 48 . Zwar erwarteten die westlichen Beteiligten "keine spektakulären Ergebnisse" 49 , schon gar nicht von dem zeitlich und auch in seinen Aufgaben streng begrenzten Treffen der Regierungschefs. Im Zuge der anvisierten weiteren Viermächtegespräche wurde aber selbst im keineswegs zur Euphorie neigenden Bonn durchaus auch eine Lösung des Deutschlandproblems für möglich gehalten - allerdings unter der Prämisse einer innenpolitisch motivierten Schwäche Moskaus . Zunächst galt es aber lediglich, Aufschluß über die Haltung der Kremlführung in den europäischen Fragen zu gewinnen und sie für weitere Konferenzen offen zu halten, "in deren Verlauf die Sowjetunion diplomatisch zu tragbaren Lösungen in der Deutschlandfrage gedrängt werden sollte" 51 .

III.

Das Zusammentreffen der Regierungschefs im Genfer Palais des Nations ließ freilich Zweifel daran aufkommen, daß weitere Gespräche der Vier Mächte eine Lösung der Deutschen Frage im Sinne einer Wiedervereinigung bringen könnten 5 2 . Bereits in den Eröffnungsreden deutete sich die Unvereinbarkeit der Standpunkte beider Seiten an. Unter den Augen der bundesdeutschen Beobachterdelegation wie auch des im nahegelegenen Mürren weilenden Bundeskanzlers machten Eisenhower, Faure und Eden das Deutschlandproblem zu ihrem Kernthema und bezeichneten übereinstim4 7

Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 99, S. 304ff.

4 8

F. v. Eckardt, Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen. Düsseldorf/Wien 1967, S. 365. 49 R. Griffith (Hrsg.), Ike's Letters to a Friend 1941-1958. Kansas 1984, S. 146: Eisenhower an Everett Ε. ("Swede") Hazlett, 4.6. Sogar Adenauer war der Ansicht, daß die Aussicht auf ein Ende des Rüstungswettlaufs und die Schaffung eines Systems kollektiver Sicherheit die Sowjetunion durchaus zu einem Kurswechsel in ihrer Deutschlandpolitik bringen könnte. Gotto, Deutschland- und Ostpolitik (wie Anm. 19), S. 8. Auch Briten und Amerikaner sahen Erfolgschancen, wie beispielsweise das Positionspapier des State Department "Einschätzung der Aussichten, daß die USA ihre Ziele erreichen", zeigt. W. W. Rostow, Open Skies. Eisenhower's Proposal of July 21, 1955. Austin 1982. Appendix M , S. 185f. Lediglich ausgesprochene Sowjetunionexperten wie der US-Botschafter in Moskau, Charles E. Bohlen, waren der Ansicht, daß die Hoffnungen auf Wiedervereinigung mit der Eingliederung beider Teile Deutschlands in die jeweiligen Militärbündnisse vollkommen müßig waren. C. E. Bohlen, Witness to History 1919 -1969. London 1973, S. 376. 5 1

52

PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 2: Bericht über die Genfer Konferenz 18. - 23. Juli 1955, S. 1.

Veröffentlichte Dokumente hierzu vor allem: The Geneva Conference of Heads of Government, July 18 - 23.1955. Washington D.C. 1955; D I A 955 (wie Anm. 41), S. 2-49; Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 100, S. 306-352.

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mend die Wiedervereinigung durch freie Wahlen als ersten Schritt zur Beseitigung der Spannungen in Europa. Dabei, so machten sie deutlich, sollten sowjetische Sicherheitsinteressen durchaus Berücksichtigung finden, wobei alle drei betonten, daß es sich bei N A T O und W E U um reine Defensivbündnisse handele, die keineswegs eine Bedrohimg darstellen könnten. Darüber hinaus stellten sie für den Fall einer Wiederherstellung Gesamtdeutschlands Möglichkeiten einer Rüstungsbegrenzung - für alle Staaten oder aber zumindest für das wiedervereinigte Deutschland 53 der Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation, etwa in Form eines Fünfmächtepakts , sowie schließlich der Schaffung von entmilitarisierten Zonen in den Raum 5 5 . Ihr sowjetischer Amtskollege war dagegen, wie zuletzt nach Molotovs Äußerungen in San Francisco erwartet worden war 5 6 , von Anfang an bemüht, Fragen der Rüstungsbegrenzung und der europäischen Sicherheit ganz in den Vordergrund zu rücken. Deutschland rangierte in seiner Rede erst an dritter Position, und die Wiedervereinigung wurde der Schaffung eines europäischen Sicherheitssystems ausdrücklich nachgeordnet. Das "Haupthindernis" für die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands, so wiederholte Bulganin die bereits bekannte sowjetische Position, sei die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zu den "Militärgruppierungen der Westmächte". Indessen bestritt er die Lösungsbedürftigkeit des Problems nicht. Sie müsse "schrittweise" erfolgen, falls es "unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht gelingen sollte, ein sofortiges Abkommen über die Wiedervereinigung Deutschlands zu erzielen" 5 7 . Nachdem der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR hiermit bereits angedeutet hatte, daß er die Deutschlandfrage dilatorisch zu behandeln beabsichtigte, einigten sich die Außenminister am folgenden Tag überraschend schnell auf eine Tagesordnung, auf der "Deutschland" an erster Stelle vor den Themen "Europäische Sicherheit", "Abrüstung" und "Entwicklung von Kontakten zwischen Ost und West" erschien 58 . A m Nachmittag des 19. Juli aber wurde offenkundig, daß die Sowjets sich nicht auf eine ausführliche 53 Einige Aufregung verursachte dabei Ministerpräsident Edgar Faure, der entgegen allen Absprachen konkrete Vorschläge zu Rüstungsstärken sowie zur Begrenzung des deutschen Potentials vorlegte und sich deshalb kritische Worte seitens der Amerikaner wie der deutschen Delegation gefallen lassen mußte. Bericht... (wie Anm. 51), S. 10f.; BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 95: Bericht Blankenborns über sein Gespräch mit Faure, 20.7.; Text der Rede des frz. Regierungschefs: E A 10 (1955), H. 16, S. 8100-8104. 5 4 Vorschlag Edens, ibid., S. 8105. 5 5

Vorschlag Edens, ibid.

5 6

Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 454-457.

5 7

E A 10 (1955), H. 16, S. 8108.

58

Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 100 (6.), S. 328.

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Diskussion des ersten Tagesordnungspunktes einlassen wollten: sie gingen in dieser Frage auf Konfrontationskurs zur westlichen Position. Unmißverständlich erklärte Bulganin, daß er diese für völlig unakzeptabel halte, denn "eine Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland in NATO" müsse er "absolut ablehnen". Auch könne man nicht mehr über die Tatsache hinwegsehen, "daß es heute zwei deutsche Staaten und zwei deutsche Parlamente gebe" - eine Tatsache, die offensichtlich durch die Anwesenheit einer Beobachterdelegation aus der D D R unterstrichen werden sollte. Freie gesamtdeutsche Wahlen, so Bulganin weiter, könne es in seiner Sicht erst geben, wenn eine Annäherung der beiden deutschen Staaten stattgefunden habe. A n dieser Haltung würden auch keine westlichen Sicherheitsvorschläge etwas ändern: "Sicherheitsgarantien", bemerkte der sowjetische Regierungschef, "seien für schwache Staaten gut, aber nicht für die Sowjetunion". Er plädierte weiterhin für einen Sicherheitspakt unter Beteiligung beider Deutschlands, die dann später vereinigt werden könnten 59 . Auch die konkreten Angebote Edens bezüglich einer Festsetzung der Truppenstärken in Deutschland und den Nachbarstaaten sowie eines Kontroll- und Inspektionssystems60 vermochten Bulganin nicht zu einem konstruktiven Gespräch über die Wiedervereinigung zu bewegen. Die dargelegte russische Einstellung sei eine "wohldurchdachte" - mithin irreversible 61 . Wenngleich sich die Kremlführung am Abend während eines Dinners der britischen Delegation bemühte, den Eindruck der Unnachgiebigkeit durch die Erklärung abzumildern, man könne aus innenpolitischen Gründen keiner sofortigen Wiedervereinigung Deutschlands zustimmen, was sich langfristig aber vielleicht ändere 62 , so war dies wohl eher ein taktisches Manöver. Als sich nämlich am folgenden Morgen die Außenminister John Foster Dulles, Harold Macmillan und insbesondere Antoine Pinay 6 3 erneut zu Verfechtern des Junktims zwischen Deutschland- und Sicherheitsproblem machten, war von der sowjetischen Konzilianz des Vorabends nichts mehr zu spüren. Die Minister hörten aus dem Munde Molotovs lediglich eine Neuauflage der 59 BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 146f.: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 19.7.; sehr allgemeine Wiedergabe der Rede Bulganins auch bei Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 100 (8.), S. 328-330. 6 0 BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 147. 6 1

Ibid., Bl. 148.

PRO, Cabinet Office ( = CAB) 133/141: Bericht über die Genfer Konferenz der Regierungschefs, S. 136: Bericht Edens über sein Dinner-Gespräch mit Bulganin und Chruscev; vgl. Eden, Memoiren (wie Anm. 43), S. 346. 63 Letzterer nämlich analysierte und widerlegte ausführlich die sowjetische Argumentation unter dem Sicherheitsaspekt. Er war darüber hinaus der einzige, der ausdrücklich auf den Kernpunkt des westlichen Deutschlandplans, die Frage freier gesamtdeutscher Wahlen, einging. PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1: 2174/55: Auszug aus dem frz. Bericht über die Außenministersitzung vom 20.7.

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191

offiziellen Bulganinschen Argumentation vom Vortage 6 4 . Die Hoffnung, daß die Sowjets über Sicherheitsabsprachen zu einer entgegenkommenderen Haltung in Bezug auf Deutschland bewegt werden könnten, hatte also getrogen. "Die Russen", so resümierte Blankenhorn in einem Bericht für das Auswärtige A m t und das Gesamtdeutsche Ministerium, "erstreben offensichtlich eine Entspannung und Stabilisierung auf der Basis des Status quo, wobei sie nicht die geringsten Neigungen verraten, ihren territorialen Herrschaftsbereich an irgendeinem Punkte zu revidieren" 6 5 . Trotz dieser für die Westmächte wie die Bundesrepublik enttäuschenden wenn auch nicht völlig überraschenden - Entwicklung glaubte man doch, nicht mit leeren Händen nach Hause fahren zu müssen. Bezogen auf die Abrüstung als einer vom Deutschland- und Sicherheitsproblem getrennten Frage sei eine "weitere Annäherung der Standpunkte nicht ausgeschlossen", erklärte Harrison in einer Unterredung mit Blankenhorn. Gleichzeitig warf der Brite die Frage nach der Möglichkeit einer "kleinen Lösung" für Deutschland auf, für die man sich für Erleichterungen im Verkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands einsetzen würde, "um wenigstens gewisse Verbesserungen der Lebensbedingungen für (die) ostdeutsche Bevölkerung zu erreichen . Dieses Problem sollte auf der Konferenz freilich nicht mehr thematisiert werden, weil Adenauer dies - im Gegensatz zum Auswärtigen A m t - strikt abgelehnt hatte 6 7 . Unterdessen erfüllte Blankenhorn das offensichtliche Bestreben der Briten, zumindest Teilerfolge in der Abrüstungsfrage und eventuell auch Deutschland zu erzielen, mit Sorge. Sollten nämlich die Sowjets in ihrem Drängen auf ein Sicherheitssystem und Abrüstung erfolgreich sein, nähmen sie, so der bundesdeutsche Delegationsleiter, "dem Westen und auch Deutschland ... den einzigen Preis, der für die Wiedervereinigung mit einiger Aussicht auf Erfolg angeboten werden könnte". Und wer wolle im Falle öst-westlicher Sicherheitsabsprachen noch "energisch gegen Sowjetrußland angehen, wenn es den Status Quo, das heißt die Teilung 6 4

PRO FO 371/118 234: W G 1071/997: Macmillan an FO, 20.5.

6 5

PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1:1954/55: Tel vom 20.7.

66 67

BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 148: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 19.7.

Ibid., Bl. 151: In seiner umgehenden Antwort vom 20.7. stimmte von Welck "allen defacto-Erleichterungen" zu, "sofern diese Maßnahmen im de-facto-Rahmen bleiben und nicht als Schritt zur Anerkennung der Pankow-Regierung ausgelegt werden können". Adenauer dagegen hielt die Gefahr, daß derartige Absprachen als Einverständnis mit dem Status quo ausgelegt werden könnten, für zu groß. PRO FO 371/118 236: W G 1071/1040: Memorandum Kirkpatricks über ein Gespräch mit Blankenhorn, 21.7. - Im deutschen Abschlußbericht wird die "kleine Lösung" zwar erwähnt, von den Vorgängen im Zusammenhang damit ist aber nicht die Rede. Bericht... (wie Anm. 51), S. 13.

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¿o

Deutschlands, aufrecht erhält?" . Tatsächlichen Anlaß zur Beunruhigung für die Bonner Vertreter gab es allerdings kaum. Lediglich Edens am 21. Juli zum Komplex "Abrüstung" vorgelegter Vorschlag einer gegenseitigen militärischen Inspektion in einem noch festzulegenden Streifen diesseits und jenseits des "Eisernen Vorhangs" 69 rief die bundesdeutsche Delegation auf den Plan, der die deutlich vom schlechten Gewissen geplagten Briten den Vorstoß ihres Premiers zunächst verheimlicht hatten 7 0 . Eden hatte nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sein Entwurf unabhängig von Erfolgen in der Diskussion über Deutschland in die Tat umgesetzt werden könne und nichts mit den damit zusammenhängenden Projekten zur Rüstungsbegrenzung zu tun habe 7 1 . Blankenhorn wie auch das Auswärtige Amt erblickten darin die Gefahr einer Verfestigung des Status quo, zumindest aber einer Aushöhlung des Junktims, und wandten sich energisch dagegen 72 . Im Grunde aber hielten die Briten ebenso wie die beiden anderen Bündnispartner an der Untrennbarkeit von Wiedervereinigung und Sicherheit fest, so daß man in Bonn und Mürren mit den "völlig im deutschen Sinne verlaufenden Verhandlungen" sehr zufrieden 73

war . So zögerten die Alliierten auch nicht, während des zähen, viertägigen Ringens um die Direktive an die Außenminister, deren Konferenz über die Detailfragen für Oktober vorgesehen war, ein Scheitern des Gipfeltreffens ins Auge zu fassen 74 . Anlaß war die von ihnen erhobene und von den Sowjets zunächst abgelehnte Mindestforderung nach "gleichzeitige(r) Behandlung und Lösung der Probleme". Sie bedeutete bereits ein recht weitgehendes Zugeständnis an den östlichen Verhandlungspartner: eine Sicherheitslösung war damit nicht mehr ausdrücklich an die Vorbedingung einer Wiedervereinigung Deutschlands geknüpft 75 . Während sich die Regierungschefs nach einem ersten Disput über diese Frage ihren publikumswirksamen Sicherheits- und Abrüstungsvorschlägen zuwandten, wurden die Außenminister angewiesen, selbst über die Direktive zu beratschlagen. fA 6 9

70 7 1

BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 98f: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 20.7. D I A 1955 (wie Anm. 41), S. 41. BA, N L Blankenhorn, Bd. 49a, Bl. 45: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 23.7. D I A 1955 (wie Anm. 41), S. 43.

7 2 BA, N L Blankenhorn, Bd. 49a, B1.45: PRO FO 371/118 235: W G 1071/1032: HoyerMillar an das FO, 22.7., über eine Unterredung mit von Welck und Hallstein. 7 3

74

PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1: 1984/55: Blankenhorn an das A A , 22.7.

BA, N L Blankenborn, Bd. 49b, Bl. 90 und 65: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 20. bzw. 21.7. über seine Unterredungen mit Kirkpatrick und Dulles; Eisenhower, Jahre (wie Anm. 75 3), S. 573. H. Buchheim: Deutschlandpolitik 1949 -1972. Der politisch-diplomatische Prozeß. Stutt-

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Die Außenministersitzungen zeigten noch einmal deutlich, wie unterschiedlich die Interessenlage der Westmächte und der Sowjetunion in Bezug auf Deutschland war. Erstere behielten, wie dem von Dulles am 21. Juli vorgelegten Entwurf für eine Direktive zu entnehmen war, ihren Standpunkt bei, daß die Deutsche und die Sicherheitsfrage nur gemeinsam beraten und gelöst werden könnten 7 6 . Dem stellte Molotov am folgenden Tag den Versuch entgegen, diese Verbindung dadurch aufzubrechen, daß er das Thema "Abrüstung" zwischen den beiden genannten einfügte , wodurch die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands erneut als eine "drittklassige" zurückgedrängt zu werden drohte 7 8 . Seine westlichen Amtskollegen wiesen diesen Vorschlag daher zurück mit der Begründung, daß die Abrüstung ein Thema für die zuständige UN-Kommission sei 7 9 . Ihr zweiter Entwurf beschränkte sich erneut auf die Erwähnung der Punkte "Deutschland" und "Europäische Sicherheit", wobei auch diese Reihenfolge gewählt wurde 8 0 . Der sowjetische Außenminister konterte mit einem Zusatzantrag, in dem er für die Beratungen über Deutschland eine Beteiligung "von Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik zum Zwecke der Konsultierung" forderte 8 . Die darauf entbrennende Kontroverse um die Reihenfolge, die Erwähnimg der Abrüstungsfrage und die sowjetische Forderung nach Hinzuziehung deutscher Delegationen zog sich durch zwei Außenministersitzungen am Nachmittag des 22., die dazwischenliegende Zusammenkunft der Regierungschefs sowie deren Treffen am Vormittag des letzten Konferenztages. Erst am Nachmittag des 23. Juli einigte man sich schließlich auf eine gemeinsame Formulierung, die ausdrücklich die Billigung Adenauers gefunden hatte 8 2 . Die Sowjets hatten der Drohung mit dem Scheitern des Treffens nachgegeben 83 , immerhin aber durchsetzen können, daß das Thema gart 1984, S. 76. 76 Bericht... (wie Anm. 51), S. 22f.: der westliche Vorschlag ist hier falsch datiert; sowohl in den britischen Akten als auch im Nachlaß Blankenborns findet er sich unter dem 21.7. Offensichtlich ist er mit dem S. 20f. zitierten Entwurf vom 22. Juli vertauscht worden. Vgl. BA, N L Blankenhorn, Bd. 49b, Bl. 46-49 und Bd. 49a, Bl. 47^9: Blankenhorn an den Bundeskanzler, 21. bzw. 23.7. 7 7 Wortlaut dieses Entwurfs: PRO FO 371/118 240: W G 1071/1103. So von Eckardt in einer Pressekonferenz am 20.7. bezüglich der sowjetischen Haltung zur Deutschlandproblematik. PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1:1955/55: Blankenhorn an A A , 20.7. 7 9

Bericht... (wie Anm. 51), S. 22.

8 0

Ibid., S. 20f.

8 1

bid., S. 21.

82

Adenauer hatte lediglich insistiert, daß der Zusammenhang der Punkte "Deutschland" und "Europäische Sicherheit" zum Ausdruck kommen müsse. BA, N L Blankenhorn, Bd. 49a, Bl. 61: Blankenhorn an Hallstein, 22.7. Ibid., PRO CAB 133/141: Konferenzbericht, S. 119. Demgegenüber behauptet Viktor N.

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"Abrüstung" erwähnt wurde; ebenso, daß bei den Beratungen über Deutschland zumindest "die Teilnahme oder ... die Konsultation anderer interessierter Parteien" erwirkt werden konnte. Indessen hatten die Westmächte erfolgreich die Zustimmung zu einer Formel verweigert, die beide deutsche Staaten als gleichrangig darstellte. Auch die Aufrechterhaltung des Junktims war weitestgehend gelungen, wenn auch der ursprüngliche Vorrang der Wiedervereinigung zumindest formal aufgegeben war. Der erste Punkt für die Außenministerbesprechungen lautete "Europäische Sicherheit und Deutschland" 8 4 . Die Westmächte waren ebenso wie die Bundesrepublik mit diesem Ergebnis recht zufrieden 85 . Ein Scheitern der Gipfelkonferenz war vermieden und "verfahrensmäßig und taktisch günstige Ausgangspositionen" für die Außenministerkonferenz waren geschaffen worden. In diese setzte man in Bonn besondere Erwartungen, würde sie sich doch an erster Stelle "erneut und wesentlich eindringlicher mit der deutschen Frage" befassen 86 . "Mit raschen und durchgreifenden Erfolgen" bei der Wiederherstellung Gesamtdeutschlands rechnete jedoch auch in der Bundeshauptstadt niemand ernsthaft, weder für den für September vorgesehenen Adenauerbesuch in Moskau noch für die Außenministerbegegnung 7 Das Gipfeltreffen hatte gezeigt, daß die Sowjetunion weit davon entfernt war, sich gegen Zugeständnisse in der Sicherheitsfrage auf ein Nachgeben bezüglich der Wiedervereinigung zu verständigen. Sie hatte in der Tat - wie sich herausstellen sollte, letztmalig mit ihrer Unterschrift unter die Direktive noch einmal die Viermächteverantwortung für Deutschland anerkannt und eine Wiederherstellung Gesamtdeutschlands durch freie Wahlen in Aussicht gestellt. In seinem Schlußwort hatte Bulganin jedoch nachdrücklich die bei der Eröffnung angedeutete "Zwei-Staaten-Theorie" wiederholt 88 und damit zum Ausdruck gebracht, daß sein Entgegenkommen bei der Formulierung der Direktive nicht gleichbedeutend mit einem Aufweichen seines Standpunktes bezüglich Deutschlands und der Sicherheitsfrage war. Durch ihren anschließenden Besuch in Ostberlin unterstrichen Bulganin und der Parteichef der KPdSU, Nikita SergeeBelezki: Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten in der Nachkriegszeit 1945-1976, S. 175, die Sowjets hätten die Westmächte mit der Drohung, die Konferenz zu verlassen, zum Einlenken veranlaßt. 84 Text der Direktive: Die Bemühungen... (wie Anm. 1), S. 207-209. Für Eden war sie "hinlänglich brauchbar, sofern der Wille bestand, nach ihr zu arbeiten". Eden, Memoiren (wie Anm. 43), S. 351. 85 Offizielle Stellungnahme der Bundesrepublik vom 28.7.: B. Meissner (Hrsg.), Moskau Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955 1973. Dokumentation. Köln 1975, Nr. 6, S. 76f. 8 6 Bericht... (wie Anm. 51), S. 29. 8 7 PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 1: 305.212-19E: 1588/55: Grewe an alle diplomatischen Vertretungen.

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vic Chruscev, demonstrativ, daß sie den ostdeutschen Staat nicht aufzugeben gedachten und einer "'Einverleibung* der DDR" in das westliche System ihre Zustimmung verweigern würden 8 9 . Man könne, so Chruscev auf einer Großkundgebung am 26. Juli, "die deutsche Frage nicht auf Kosten der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik lösen" 90 . M i t dieser neuen Begründung für die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands war die Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik, die sich seit M a i abgezeichnet hatte, vollzogen 9 . Angesichts der deutlichen sowjetischen Stellungnahme gegen eine Wiedervereinigung auf absehbare Zeit mußte das Junktim zwischen Deutschlandfrage und europäischer Sicherheit als Methode zur Erhöhung der sowjetischen Konzessionsbereitschaft für die Westmächte zunehmend an Bedeutung verlieren. Zwar glaubte ausgerechnet der vor dem Gipfeltreffen so skeptische Dulles noch, daß "es sich als gangbar erweisen" würde, "den Sowjets eine Sicherheitsregelung irgendeiner A r t anzubieten, die in Kraft treten würde, wenn Deutschland wiedervereint und in der N A T O und in der W E U ist, was allen berechtigten Sicherheitsanliegen entsprechen sollte" 92 ; sein offensichtlich auf einer Fehldeutung der sowjetischen Entspannungsbemühungen beruhender Optimismus: "Die deutsche Wiedervereinigung liegt in der Luft" 9 3 wurde allerdings von keinem der europäischen Verbündeten geteilt, am wenigsten von Adenauer selbst. In Bonn betrachtete man vielmehr die atmosphärischen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis, den "Geist von Genf', mit kritischer Distanz, sah man doch erneut die Gefahr, daß für die Alliierten die in Genf eingeleitete Entspannung zunehmend in den Vordergrund trat 9 4 . Dabei drohte die Wie88 89

Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 100 (22.), S. 3491.

So die sowjetische Historiographie: Belezki, Politik (wie Anm. 83); P. A. Nikolaev, Politika Sovetskogo Sojuza ν germanskom voprose 1945 -1964. Moskau 1966, S. 228. 9 0 Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. III. Berlin (Ost) 1956, Nr. 76, S. 226. 91 Meissner, Moskau - Bonn (wie Anm. 89), S. 14; R. Fritsch-Bournazel, Die Sowjetunion und die deutsche Teilung. Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945 - 1979. Opladen 1979, S. 58. Dagegen setzt H. Wassmund, Kontinuität im Wandel. Bestimmungsfaktoren sowjetischer Deutschlandpolitik in der Nach-Stalin-Zeit. Köln/Wien 1974, S. 90, den Zeitpunkt des Umschwungs bereits mit dem Regierungswechsel Malenkov - Bulganin im Februar 1955 an. 92 Dulles an Adenauer, 27.7., in: Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 462. Ibid., S. 463: Pressekonferenz vom 26.7. Dulles war offenbar der Ansicht, daß die Sowjets die Entspannung aus innenpolitischen Gründen so dringend brauchten, daß sie unter dem Druck der Erwartungen der westlichen Öffentlichkeit schließlich nachgeben würden, zumal ihnen mit dem "Geist von Genf" "ihr Lieblingsargument für das Festhalten an Ostdeutschland aus Sicherheitsgründen genommen" sei. Dulles an Adenauer, 15.8., ibid., S. 472. 94 Adenauer hegte hier besonderen, allerdings keineswegs begründeten Argwohn gegen die Briten, die die Kremlführung für das Frühjahr 1956 nach London eingeladen hatten, und aus deren Kreisen ihm Äußerungen zu Ohren gekommen waren, "daß es sich nicht verlohne, um dieses Rumpfdeutschlands willen eine Verständigung mit Sowjetrußland zu opfern". Ibid.,

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dervereinigungsfrage ins Hintertreffen zu geraten oder aber zum Hindernis im Entspannungsprozeß zu werden. Die sich aus dieser Situation ergebenden Notwendigkeiten wurden im Auswärtigen A m t deutlich erkannt: "Die deutsche Politik wird in den kommenden Monaten darauf hinwirken müssen, bei den Westmächten das Bewußtsein lebendig zu halten, daß die Wiedervereinigung Deutschlands ein unerläßliches Element der auch vom deutschen Volk ersehnten umfassenden Befriedung der Welt ist. Sie wird dabei sehr behutsam vorgehen müssen, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, als habe sie ein besonderes Interesse daran, eine internationale Entspannung zu verhindern" 95 .

IV.

Die Westmächte zeigten jedoch trotz des wenig ermutigenden Verlaufs der Gipfelkonferenz keinerlei Anzeichen, in ihren Bemühungen um die Deutsche Frage nachzulassen. Mit ihrer vollen Rückendeckung und dem Einverständnis zu einem Meinungsaustausch mit der Sowjetführung über das Wiedervereinigungsproblem reiste der Bundeskanzler am 8. September nach Moskau 9 6 . Dabei rechnete niemand mit aufsehenerregenden sowjetischen Angeboten zur Wiederherstellung Gesamtdeutschlands. Obwohl sich diese Annahme als richtig erwies, schlug das Ergebnis der deutsch-sowjetischen Verhandlungen doch Wellen bei den westlichen Verbündeten: I m Austausch für die Freilassung der noch in der UdSSR befindlichen deutschen Kriegsgefangenen stimmte der bundesdeutsche Regierungschef der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion zu. Daß ausgerechnet Adenauer, der Verfechter eines harten Kurses gegenüber den Sowjets, nachgegeben hatte, verwirrte die westlichen Beobachter zutiefst. Man argwöhnte, daß der Kanzler weitere Absprachen getroffen habe, von denen er die Alliierten nicht in Kenntnis gesetzt hatte. US-Botschafter Charles E. Bohlen und sein französischer Kollege Louis Joxe sahen in den Abmachungen eine "Anerkennung des Status quo und der Teilung S. 466. 9 5 9 6

Bericht... (wie Anm. 51), S. 30.

Zu Adenauers Moskaureise: Meissner, Moskau - Bonn (wie Anm. 85), S. 15-19 sowie die Dokumentation S. 81-126; R. Salzmann, Adenauers Moskaureise in sowjetischer Sicht. In: D. Blumenwitz u.a. (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Bd. II. Stuttgart 1976, S. 131-159; M. Schulze-Vorberg, Die Moskaureise 1955, ibid., Bd. I, S. 651-664; J. Foschepoth, Adenauers Moskaureise 1955. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1986, H. 22, S. 30-46; sowie die Erinnerungen der Beteiligten: Adenauer, Erinnerungen (wie Anm. 2), S. 476-540; W. G. Grewe, Rückblenden 1976-1951. Berlin 1979, S. 229-251; Eckardt, Unordentliches Leben (wie Anm. 48), S. 383-414.

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Deutschlands" sowie eine Unterminierung der westlichen Position für die Genfer Außenministerkonferenz 97 . I n der Tat konnten auch die Rechtsvorbehalte bezüglich der Nichtanerkennung der D D R sowie des territorialen Besitzstandes der beiden Vertragspartner, die die bundesdeutsche Delegation eingelegt hatte 9 8 , den Eindruck einer Verfestigung des Status quo kaum auffangen. In einem geschickten Schachzug unterstrich die Kremlführung ihre Zwei-StaatenTheorie: Unmittelbar im Anschluß an die Adenauer-Visite erschien eine DDR-Delegation in der sowjetischen Hauptstadt, um ein Abkommen mit der UdSSR abzuschließen, in welchem der D D R die volle Souveränität zuerkannt wurde 9 9 . Die Regierung in Ost-Berlin erklärte fortan mit neuem Selbstbewußtsein, daß die Wiedervereinigung Deutschlands nur unter Beibehaltung der "politischen, sozialen und kulturellen Errungenschaften" der D D R möglich wäre 1 0 0 . Wenn auch nach diesen neuen Entwicklungen in der Deutschlandfrage für die Genfer Außenministerkonferenz eine noch unnachgiebigere Haltung der So^etunion zu erwarten war, sahen die Westmächte keinen Anlaß, von ihrer Verhandlungskonzeption abzugehen. Sie erblickten ihre Aufgabe vielmehr darin, ihr Programm, den mit Sicherheitsvorschlägen gekoppelten Eden-Plan, in eine noch ausgefeiltere Form zu bringen. So war ein Unterkomitee der Bonner Arbeitsgruppe vom 11. bis 26. Juü und vom 16. September bis 12. Oktober damit befaßt, ein Wahlgesetz sowie Bestimmungen für die Wahlüberwachung, wie sie in der westlichen Vorlage vorgesehen waren, auszuarbeiten 101 . In der Sachverständigengruppe, die vom 19. bis 24. September in Washington und vom 10. bis 21. Oktober in Paris zusammentraf, wurde daneben auf amerikanischen Vorschlag über Möglichkeiten diskutiert, konkrete Daten für die Umsetzung des Eden-Plans festzuschreiben, was aber nur für die Vorbereitung gesamtdeutscher Wahlen bis hin zur Festsetzung eines Wahltermins möglich erschien 102 . Französischerseits wurde ein Entwurf eingebracht, der den westlichen Deutschlandplan in seinen einzelnen Etappen mit konkreten Sicherheitsvorschlägen verbinden sollte. Einerseits würde ihn dies für die Sowjets attraktiver gestalten, indem sie für jeden 9 7 PRO, Premier Minister's Files ( = P R E M ) 11/906: William Hayter, brit. Botschafter in Moskau, an FO, 12.9. u. 14.9. 98 Meissner, Moskau - Bonn (wie Anm. 85), Nr. 38, S. 124. 99 Text des SchluBkommuniqués der Verhandlungen vom 17.-20.9. sowie des Vertrages in: Dokumente ... der D D R (wie Anm. 90), Nr. 93f., S. 278-283. 100

So das Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front am 15.9. E A 10 (1955), H. 19, S. 8286. 1 0 1 Bericht des Unterkomitees: PRO FO 371/118 249: W G 1071/1264. PRO FO 371/118 243: W G 1071/1149: Warner an Charles H. Johnston, Botschaft Bonn, 4.8. und W G 1071/1151: Antwort Johnstons vom 9.8.

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Schritt in Richtung Wiedervereinigung durch ein Zugeständnis an ihr Sicherheitsbedürfnis entschädigt würden; andererseits entsprach dies auch eigenen Interessen, da man so militärische Vorleistungen vermeiden könnte, falls die praktische Umsetzung des Deutschlandprogramms ins Stocken geriet 1 0 3 . Dies stieß auf heftigen Widerstand bei den Amerikanern, die jegliche Sicherheitszugeständnisse an die Sowjets von einer vollzogenen Wiedervereinigung sowie erfolgtem NATO-Beitritt Gesamtdeutschlands und Unterzeichnimg des Sicherheitspaktes abhängig machen wollten 1 0 4 . Da jedoch auch die britischen und deutschen Experten darin eine Zumutung für die Sowjets sahen, einigte man sich zuletzt auf einen Plan, in dem nur die letzten Stufen des Sicherheitsvertrages nach dem deutschen NATO-Beitritt in Kraft treten würden 1 0 5 . Schließlich wurde eine flexiblere Handhabung des EdenPlans durch Modifikation der Vorschläge zur Wahldurchführung ins Auge gefaßt, um in Genf in jedem Falle einen aufrichtigen Versuch zur Wiederherstellung Gesamtdeutschlands demonstrieren zu können 1 0 6 . Diesem Ziel entsprechend brachten die Außenminister in ihrer sich an die Expertentagung anschließenden Sitzung am 24. Oktober den zweiten Eden-Plan betreffend die Inspektionszonen beiderseits der Blockgrenze, den die Briten im August im UN-Abrüstungsausschuß erneut vorgelegt hatten, vom Tisch. Die Bedenken, die deutscherseits schon während des Gipfeltreffens gegen diesen Plan vorgebracht worden waren: Verfestigung des Status quo mit einer gewissen Anerkennung der DDR, Aufgabe des Junktims zwischen Wiedervereinigung und Sicherheitsfrage, wurden in einem Schreiben Adenauers an Eden vom 24. 10. nochmals nachdrücklich in Erinnerung gebracht 1 0 7 . Da die Amerikaner wie die Franzosen den deutschen Standpunkt teilten 1 0 8 , wurde der diesbezügliche Absatz des westlichen Sicherheitsvorschlags dahingehend modifiziert, daß die Inspektionszone beiderseits der

1U:> Grewe, Rückblenden (wie Anm. 96), S. 268; PRO FO 371/118 249: W G 1071/1260: brit. Kommentar zu den US-Vorschlägen, 12.10. 104 Ibid.: W G 1071/1267: Samuel Hood an Johnston, 13.10.; Grewe, Rückblenden (wie Anm. 96), S. 266. 1 0 5 Text des westlichen Sicherheitsvorschlages in: Die Außenministerkonferenz in Genf vom 27. Oktober bis 16. November 1955. Dokumente und Materialien. Bonn 1955, S. 356f. 1 0 6 PRO FO 371/118 249: W G 1071/1263: Hoyer-Millar an FO, 14.10. Gedacht wurde an getrennte Wahlen in beiden Teilen Deutschlands, die Ausarbeitung des Wahlgesetzes nicht durch die Vier Mächte, sondern Experten aus beiden Teilen Deutschlands, und das Aufgeben der Forderung nach einer Überwachungskommission. 107 K. Adenauer, Erinnerungen 1955-1959. Stuttgart 1967, S. 36f., zum Briefwechsel mit Eden.

108

Grewe, Rückblenden (wie Anm. 96), S. 266f. Bereits unmittelbar nach der Gipfelkonferenz hatte der politische Direktor im Quai dOrsay, Roland de Margerie, in einem Gespräch mit Botschafter Gladwyn Jebb seinem Mißfallen über Edens Vorschlag Ausdruck verliehen. PRO FO 371/118 241: W G 1071/1122: Jebb an FO, 28.7.

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Linie zwischen einem wiedervereinigten Deutschland und Osteuropa liegen sollte 1 0 9 . Bei allen Bemühungen, das westliche Wiedervereinigungsprogramm an sich und in Verbindung mit den Sicherheitsvorschlägen für den östlichen Verhandlungspartner so annehmbar wie möglich zu gestalten, konnte doch niemand mehr verhehlen, daß das Junktim in dieser Hinsicht seine Funktion verloren hatte. Die "Aussichten auf eine wirkliche Verhandlungsbereitschaft der Sowjets erschienen schon als stark dezimiert 1 1 0 . Den Preis für ein europäisches Sicherheitssystem, den der Westen verlangte, ein wiedervereinigtes Deutschland in der N A T O und der W E U , würden sie nicht zahlen. Man unterliege einer Selbsttäuschung, schrieb der britische Botschafter in Moskau, William Hayter, am 4.10. an Macmillan, wenn man angesichts der neuen sowjetischen Deutschlandpolitik noch an einen Erfolg dieser Konzeption glaube. Die Sowjetregierung wünsche ein Sicherheitssystem nicht aus Furcht vor einem Angriff, sondern als "Schritt hin zur Auflösung der N A T O und dem anschließenden Rückzug der US-Streitkräfte aus Europa". Daher würde die Kremlführung kaum ein System "attraktiv finden..., das die N A T O aufrechterhält, US-Truppen in Europa beläßt und darüber hinaus die Einbindung Ostdeutschlands in den westlichen Block vorsieht". Angesichts der daraus folgenden Erkenntnis, daß "die deutsche Einheit weder jetzt, noch in der näheren Zukunft, erreichbar sei, konnte die Beibehaltung der westlichen Position für Genf nach Ansicht des Botschafters nur eine Funktion haben: als "nützliche Übung im Hinblick auf die westliche öffentliche Meinung" 1 1 1 .

V.

A m 27. Oktober schließlich eröffnete der Franzose Pinay mit einigen verbindlichen Worten die Genfer Außenministerkonferenz 112 . Die 17 Sitzungen, die bis zum 16. November abgehalten wurden und von denen sich zehn mit der Deutschen Frage beschäftigten, zeigten, daß die Verhandlungspartner die Zeit seit dem Gipfel genutzt hatten, um die eigenen Standpunkte zu den strittigen Fragen "Deutschland" und "Europäische Sicherheit" zu festigen. Das Ministertreffen diente, so sahen es wohl beide Seiten, in erster Linie einer 109 1 1 0 Die

Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 356. W. G. Grewe, Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit. Stuttgart 1960, S. 225.

1 1 1

112

PRO P R E M 11/899.

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 9-13. Sammlung offizieller Konferenzdokumente: The Geneva Meeting of Foreign Ministers, October 27 - November 16, 1955. Washington D.C. 1955. Vgl. auch: Siegler, Dokumentation (wie Anm. 7), Nr. 108, S. 396-508; D I A 1955 (wie Anm. 41), S. 50-89.

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endgültigen Absteckung der jeweiligen Positionen. Im Osten rechnete man kaum damit, daß es gelingen würde, "nennenswerte Fortschritte" bei dem Versuch, "die D D R von den Westmächten anerkannt zu sehen, zu erzielen" 1 1 3 - selbst wenn jene erneut eine Delegation entsandt hatte. Ebenso wenig hielten die westlichen Vertreter ein aus ihrer Sicht positives Ergebnis für möglich. So wurde in der zweiten Sitzung am 28.10. der "Entwurf eines Vertrages mit besonderen Garantien bei Wiedervereinigung Deutschlands" zusammen mit dem revidierten Eden-Plan weniger im Glauben an seine Annahme durch die sowjetische Seite vorgelegt als in der Absicht, die "Sowjets zu einer klaren Stellungnahme (zu) zwingen". Diese hätten nämlich, so Grewe in seinem Kommentar zu den westlichen Vorlagen, "niemals zugegeben, daß sie auf die Teilung Deutschlands hinarbeiten". Angesichts der auch terminlich präzisen Vorstellungen der Westmächte - Macmillan hatte von der Möglichkeit einer Abhaltung freier Wahlen in Deutschland im folgenden Jahr gesprochen 114 - müßte Molotov nun Farbe bekennen und sein "positives Programm der Wiedervereinigung darlegen", falls er den Vorschlag seiner Gesprächspartner ablehne 115 . Der sowjetische Außenminister beschränkte sich indessen darauf, den ersten Punkt der Tagesordnung zunächst zu spalten und sich im wesentlichen dem Sicherheitsbereich zuzuwenden, der in der Direktive an erster Stelle stand. Seine diesbezüglichen, am 28.10. vorgetragenen Vorstellungen waren, so Dulles, "nur wenig mehr als eine Wiedergabe der stereotypen Sätze der alten Berliner Vorschläge" 116 . Sie erwiesen sich als mit dem Bulganinschen Entwurf vom 21. Juli identisch und waren aufgrund ihrer Zielsetzung, die N A T O und die W E U aufzulösen, für die Westmächte unannehmbar 117 . Mehr Interesse bei den westlichen Außenministern vermochte daher Molotovs Beurteilung ihrer Vorlagen zu wecken, wobei der sowjetische Außenminister nur auf den Sicherheitsplan Bezug nahm. Grundsätzlich begrüßte er die westliche Initiative, die in Einzelpunkten weiter beraten werden könnte. Mit seiner Bemängelung der Tatsache, daß dabei "nur eine solche Möglichkeit für die Wiedervereinigung Deutschlands vorgesehen" sei, "bei der ganz Deutschland den Weg der Militarisierung gehen müßte, wobei schon vorher beschlossen ist, daß ein solches Deutschland unbedingt Mit113 BA, Bestand des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen ( = B M F G ) , Bd. 1406: Bohlmann (Berlin) an das Gesamtdeutsche Ministerium, 25.10., über Äußerungen führender SED-Mitglieder. 114 1 1 5 Die

Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 27. BA, N L Blankenhorn, Bd. 55b, Bl. 205.

1 1 6

117

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 54: Rede Dulles' vom 29.10.

Dies gilt auch für die kürzere Version eines solchen Paktes vom 31.10. Texte in: ibid., S. 362-366. Bulgarin-Vorschlag: E. Jäckel (Hrsg.), Die deutsche Frage 1952-1956. Notenwechsel und Konferenzdokumente der vier Mächte. Frankfurt (Main)/Berlin 1957, Nr. 54, S. 114.

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11R

glied des Nordatlantikpakts sein muß" , brachte er seine Amtskollegen in einige Verlegenheit. In der Tat ging man - und dies war auch wiederholt öffentlich erklärt worden - von diesem Fall aus 1 1 9 . Dulles betonte in seiner Replik jedoch nachdrücklich die Entscheidungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung. Einzige Voraussetzung für den Sicherheitsvertrag sei die Wiedervereinigung Deutschlands. Allerdings würde die "Verpflichtung, gegen einen Angriff einzuschreiten", erst mit dem deutschen NATO-Beitritt wirksam, da eine solche Zusicherung im Falle der Neutralität oder gar der Bindung Gesamtdeutschlands an den Warschauer Pakt ohnehin sinnlos •120 sei Indessen waren die fundamentalen Differenzen zum ersten Tagesordnungspunkt in keiner Weise zu beheben, so daß "beide Seiten auf dieser Konferenz völlig aneinander vorbei" redeten und sich die Diskussionen .

.

191

"schon nach einer Woche... völlig festgefahren" hatten . Während die Westmächte die Inkraftsetzung ihres Sicherheitsvertrags von der grundsätzlichen Entscheidung für die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands und der Durchführung freier Wahlen abhängig machten, sah der sowjetische Gegenentwurf nur die vage umrissene Möglichkeit einer Wiedervereinigung im Rahmen eines Sicherheitssystems vor, an dem die beiden deutschen Staaten zunächst getrennt teilnehmen sollten. Eine Anerkennung der D D R und ihre gleichberechtigte Behandlung mit der Bundesrepublik blieb für die westlichen Außenminister inakzeptabel. So wiesen sie das Ansinnen zurück, die in Genf anwesenden Delegationen aus beiden Teilen Deutschlands zur Wiedervereinigungsfrage zu hören 1 2 2 . Der kurz darauf von Molotov vorgelegte, auf einem Plan der DDR-Regierung fußende Entwurf zur Errichtung eines Gesamtdeutschen Rates 1 2 3 wurde ebenfalls abgelehnt, ging doch auch er von der Beibehaltung beider deutscher Staaten bis zu einer Wiedervereinigung in unbestimmter Zukunft aus. Generell, so die westliche Argumenta118 119

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 39.

Man befürchtete eine negative Reaktion der Öffentlichkeit, da die westliche Presse diese Kritik Molotovs als berechtigt aufgegriffen hatte. PRO FO 371/118 253: W G 1071/1339: Warner-Memorandum vom 31.10.; PRO P R E M 11/899: Macmillan an Eden, 3.11. 120 Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 45f.; Punkt 8 des Vertragsentwurfs, ibid., S. 357.

121

H. Blankenhorn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs 1949 bis 1979. Frankfurt (Main)/Berlin/Wien 1980, S. 236: 2.11.55.; Grewe, Rückblenden (wie Anm. 96), S. 269.

122

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 79: erste Rede Molotovs am 31.10. Der Antrag kam für die Westmächte überraschend spät, da sie schon zu Konferenzbeginn damit gerechnet hatten. PA, Abt. III, 212-19E, Bd. 2: 4989/55: Bericht über die Genfer Konferenz der Außenminister, S. 7. 123 Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 367f. Die SED-Führung hatte offenbar gehofft, diesen Plan selbst vortragen zu können. BA, BMGF, Bd. 1406: Bohlmann an das Gesamtdeutsche Ministerium, 25.10.

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tion, könne man nicht "frei gewählte Bundestagsabgeordnete und ernannte Volkskammermitglieder in einer Körperschaft vereinigen". Ein solches "nicht-repräsentative(s)" Organ könne "keine repräsentative Entscheidung hervorbringen" 124 . Vorbedingung für die Bildung gesamtdeutscher Institutionen blieben in westlicher Sicht freie Wahlen. M i t dem Ziel, den bisherigen fruchtlosen Debatten ein Ende zu bereiten, legten die Westmächte am 4. November den "Entwurf eines Beschlusses der Konferenz" vor, im September 1956 Wahlen in ganz Deutschland durchzuführen 1 2 5 . Molotov konnte sich nun einer Entscheidung nicht mehr entziehen: entweder stimmte er einer Vorlage zu, in der immerhin von der "Beratung mit deutschen Sachverständigen" über das Wahlgesetz die Rede war, oder es drohte der Gesprächsabbruch. Der sowjetische Außenminister zog sich zunächst zur Konsultation nach Moskau zurück. Die Stellungnahme, die er nach seiner Rückkehr in die Schweiz vier Tage später abgab, machte deutlich, daß die Sowjets bereit waren, das Risiko eines Scheiterns der Konferenz einzugehen. In äußerst scharfer Form ging Molotov darin mit dem westlichen Deutschlandentwurf ins Gericht. Er trage "keinen konstruktiven Charakter", sei "unpraktisch" und berücksichtige nicht "die reale Lage der Dinge": die Existenz zweier deutscher Staaten nämlich. Freie gesamtdeutsche Wahlen wurden nun völlig abgelehnt, da sie "zur Verletzung der ureigenen Interessen der Werktätigen der D D R " führen könnt e n 1 2 6 . Die Sowjetunion, so gab ihr Außenminister unumwunden zu, habe in Berlin solchen Wahlen noch prinzipiell zugestimmt. M i t dem Beitritt Bonns zu N A T O und W E U hatte ein solches Zugeständnis in sowjetischer Sicht jedoch seinen Sinn verloren. Eine Verbesserung des Status quo zu Gunsten Moskaus war auf diesem Wege kaum noch aussichtsreich. Ebenso wenig war man allerdings bereit, eine Verschlechterung der eigenen Position durch Preisgabe der D D R hinzunehmen. Λ γη

Molotovs "höchst aggressive, unversöhnliche und rückschrittliche Rede" brachte die Konferenz an den Rand des Abbruchs. Die westlichen Außenminister beendeten zunächst die Sitzung und warfen den Sowjets in einer deutlich formulierten Presseerklärung vor, die Wiedervereinigung Deutschlands nicht aus Sicherheitsgründen abzulehnen, sondern vielmehr darauf aus zu sein, ganz Deutschland zu bolschewisieren 128 . Mit der Begründung, daß sich 124 125

Bericht Außenministerkonferenz (wie Anm. 122), S. 14.

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 369. Ibid., S. 162-171; vgl. auch die Sonderveröffentlichung mit dem Untertitel "Molotow trommelt für Pankow": Die Rede Molotows auf der Genfer Außenministerkonferenz am 8. November 1955. Kommentiert von Hans Ludwig. Bonn 1956. 127 * Macmillan, Tides (wie Anm. 3), S. 647. 1 2 6

128

Bericht Außenministerkonferenz (wie Anm. 122), S. 17f.

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die sowjetische Delegation durch diese scharfe Replik möglicherweise doch veranlaßt sähe, ihre Taktik zu ändern, plädierten Dulles und Macmillan am Vormittag des 9. November für eine Fortsetzung der Konferenz mit den beiden anderen Tagesordnungspunkten. Sie setzten sich damit gegen den eilends zu Beratungen angereisten Bundesaußenminister Heinrich von Brentano durch, der die Auffassung vertrat, daß dadurch "nur (die) Schuldfrage verwischt würde" 1 2 9 . In der Tat schien Molotov sich in die Defensive gedrängt zu sehen. I n der Nachmittagssitzung des selben Tages verwahrte er sich gegen den Vorwurf, ganz Deutschland unter kommunistische Herrschaft bringen zu wollen. Man habe ihn mißverstanden. Seine Verteidigung der sowjetischen Haltung brachte indessen keine neuen Argumente. Die nach dem westlichen Antrag auf Vertagung des Tagesordnungspunktes 1 rasch eingebrachten Vorschläge einer 50 %igen - statt der bisher angestrebten völligen - Truppenreduzierung in Deutschland sowie einer Sicherheitsvereinbarung der beiden Militärblöcke 1 3 0 sollten offenbar dazu dienen, doch noch Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren. Die westlichen Delegationen wiesen die Entwürfe jedoch unter Hinweis auf die Vertagung des Themas zunächst zurück und lehnten sie schließlich bei ihrer Wiedervorlage am 15. November ab mit der Begründung, "daß neue Vorschläge in der Sicherheitsfrage nicht in Betracht kämen, da Außenminister Molotov die Direktive in der Deutschlandfrage mißachtet habe" 1 3 1 . Ebenso fruchtlos blieb ein Versuch der sowjetischen Seite, durch eine gemeinsame Entschließung der vier Außenminister zumindest ein gewisses Maß an Übereinstimmung bezüglich des ersten Tagesordnungspunktes festzuschreiben 132 . Dulles, Macmillan und Pinay waren zu einer Unterzeichnung dieses Papiers nicht bereit. Der Eindruck, daß die Positionen beider Seiten in dieser Frage stark kontrovers bzw. unvereinbar waren, sollte nicht mehr durch "den Schein des 'Geistes von Genf" überdeckt werden133. Die Außenministerkonferenz erbrachte schließlich auch in den beiden übrigen Bereichen kein Resultat, wenngleich eine gewisse Annäherung in der Abrüstungsfrage zu verzeichnen war. Das knappe SchluBkommuniqué, "das nicht inhaltloser hätte sein können" 1 3 4 , sprach daher lediglich davon, daß "eine freimütige und umfassende Erörterung" stattgefunden habe und "auf 129 130

BA, N L Blankenhorn, Bd. 56, Bl. 35f.: Brentano an den Bundeskanzler, 9.11.55.

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 370; vgl. auch die beiden Reden Molotovs131 vom 15.11., ibid., S. 192-194 und 198f. Bericht Außenministerkonferenz (wie Anm. 122), S. 20. 1 3 2 Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 371. 133 Bericht Außenministerkonferenz (wie Anm. 122), S. 21.

134

Grewe, Rückblenden (wie Anm. 96), S. 270.

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ι «

diplomatischem Wege" weiterverhandelt werden sollte . Von der Anberaumung eines weiteren Außenministertreffens hatte man westlicherseits Abstand genommen, obwohl Macmillan darin ein probates Mittel erblickt hätte, "die Gefahr zweiseitiger deutsch-sowjetischer Verhandlungen zu mindern" 1 3 6 . Dulles, Pinay und Brentano sahen angesichts der klaren sowjetischen Haltung freilich keinen Sinn mehr darin, das offensichtlich fehlgeschlagene Konzept des Briten weiter zu verfolgen. Der Versuch, die Sowjets in einer Reihe von Konferenzen allmählich zu einer Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands zu bewegen, endete mit einem "vollen Mißerfolg" 1 3 7 . Der "Geist von Genf' hatte den "Härtetest" (Eisenhower) nicht bestanden. VI.

Die beiden Genfer Konferenzen hatten somit faktisch zwar keinerlei Fortschritte bei der Lösung der anstehenden Fragen gebracht, aber immerhin zur Klärung der Fronten beigetragen. Herrschte vor dem Gipfeltreffen im Westen noch Unsicherheit über die sowjetische Deutschlandpolitik, so war diese mit dem Übergang Moskaus zur "Zwei-Staaten-Theorie" beendet. Es war nunmehr deutlich geworden, daß bei allen Entspannungsbestrebungen der neuen Kremlführung nicht damit zu rechnen war, daß sie ihre Machtposition im Osten Deutschlands räumen würde. Ihre innenpolitische Schwäche war nicht so groß, als daß sie sich auf die "bedingungslose Kapitulation" hätte einlassen müssen, die ein vermutlich wirtschaftlich, im schlimmsten und durchaus nicht unwahrscheinlichen Fall aber auch militärisch an den Westen gebundenes, wiedervereinigtes Deutschland für sie bedeutet hätte 1 3 8 . Für sie war "die Wiedervereinigung eine rein politische Frage, für die der Preis nicht auf dem Gebiet der Sicherheitsgarantie" lag 1 3 9 . Als Verhandlungskonzeption gegenüber der Sowjetunion mußte das Junktim zwischen Deutschland- und Sicherheitsfrage mit dieser Erkenntnis für die Westmächte seine Bedeutung verlieren. Bereits auf der zweiten Genfer Konferenz konnte auf diesem Wege allenfalls noch der taktische Erfolg verbucht werden, für die Öffentlichkeit den Nachweis erbracht zu haben, daß die Sicherheitsbedenken der Sowjets nur vorgeschoben waren. 135 136 137 138

Die Außenministerkonferenz (wie Anm. 105), S. 393. BA, N L Blankenhorn, Bd. 56, Bl. 36: Brentano an den Bundeskanzler, 9.11. Brentano an Eckardt, 15.11.: Eckardt, Unordentliches Leben (wie Anm. 48), S. 419.

Istorija mezdunarodnych otnosenij i vnesnej politiki SSSR. Bd. III: 1945-1963 gg. Moskau 1964, S. 377.

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Hatte man sich dabei noch "in einer wirklich überzeugenden und eindrucksvollen Weise das deutsche Anliegen zu eigen gemacht" 40 > so sollte dieses vor den Sicherheits- und Abrüstungsinteressen Washingtons, Londons und Paris' mehr und mehr ins Hintertreffen geraten. Während verbal am Zusammenhang der Wiedervereinigung mit den Sicherheitsproblemen Europas festgehalten wurde, neigten vor allem Frankreich und Großbritannien dazu, den Dialog mit der Sowjetunion über dieses Thema unabhängig vom Deutschlandproblem fortzuführen, mithin den Status quo, der auf absehbare Zeit ohnehin nicht zu eigenen Gunsten zu verändern war, hinzunehmen. Während man sich von dieser Seite bemühte, das Junktim als Hemmschuh in den Entspannungsbestrebungen zu beseitigen, wurde es von Adenauer eingesetzt, um eine Festschreibung des Status quo zu verhindern und die Verbündeten immer wieder an ihre Verpflichtung auf die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands zu erinnern. Daß er so den Status quo einerseits in Frage stellte, andererseits durch weitgehende Passivität bezüglich einer Überwindung der Teilung, ja sogar Ablehnung entsprechender westlicher Initiativen in der Folgezeit mit zu seiner Verfestigung beitrug, war für ihn kein Widerspruch. Wiedervereinigung, wie der Bundeskanzler sie sich vorstellte, d.h. im westlichen Bündnis, war offensichtlich unter gegebenen Umständen unmöglich. Politische Verhältnisse aber konnten sich ändern. Unter diesem Aspekt erhielt das Junktim gegenüber den Verbündeten die Funktion, die Deutsche Frage wach- und offenzuhalten.

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14

Blankenhorn, Verständnis (wie Anm. 121), S. 236: 2.11.55. Brentano an Eckardt, 15.11.: Eckardt, Unordentliches Leben (wie Anm. 48), S. 419.