Der 17. Juni 1953 in Sachsen 9783412315382, 3412063991, 9783412063993


124 59 44MB

German Pages [658] Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Der 17. Juni 1953 in Sachsen
 9783412315382, 3412063991, 9783412063993

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Heidi Roth Der 17. Juni 1953 in Sachsen

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke und Clemens Vollnhals

Band 11

Heidi Roth

Der 17. Juni 1953 in Sachsen Mit einem einleitenden Kapitel von Karl Wilhelm Fricke

§ 1999 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 in Sachsen / Heidi Roth. Mit einem einleitenden Kapitel von Karl Wilhelm Fricke. Köln ; Weimar : Böhlau, 1999 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung ; Bd. 11) ISBN 3-412-06399-1

UmschLagabbildung: Demonstration am 17. Juni 1953, ca. 15:00 Uhr auf dem Theaterplatz in Dresden Foto: Herbert Franke, Berlin © 1999 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier Satz: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., Dresden Druck und Bindearbeiten: WB-Druck, Rieden Printed in Germany ISBN 3-412-06399-1

Inhalt Vorbemerkung I.

Zur Geschichte und historischen Deutung des Aufstands vom 17. Juni 1953 (Karl Wilhelm Fricke) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

II.

III.

Die Vorgeschichte Moskauer Mitverantwortung für die Politik der SED Die Politik des Neuen Kurses und der 17. Juni Der Verlauf des Juni-Aufstands Losungen und Forderungen Das Eingreifen der Sowjetarmee und der „bewaffneten Organe" der DDR Die Strafverfolgung der Aufständischen Die Reaktion der Politbürokratie Die nationale Dimension des Juni-Aufstands Internationale Aspekte des Juni-Aufstands Der 17. Juni als politisches Trauma

9

13 16 29 36 44 50 55 60 72 79 86 92

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

101

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

101 104 112 117 123 129 132 135 158 178

Die Fehleinschätzung des Stadtoberhaupts von Leipzig Erste Arbeitsniederlegungen in Leipzig und Vororten Auf den Straßen der Messestadt Die versuchte Gefangenenbefreiung Die Besetzung der Leipziger FDJ-Zentrale Demonstranten vor dem „Volkshaus" Weitere Zwischenfalle in Leipzig Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig Zum Schießbefehl in Leipzig

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

183

1. 2.

183

3. 4. 5. 6.

Warnung vor „Westberliner Agenten" „Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden Otto Buchwitz im Sachsenwerk Demonstrationen und Aktionen in der Dresdener Innenstadt Die Konfrontation von Demonstranten und sowjetischem Militär Eine „illegale Delegiertenkonferenz" im Sachsenwerk

186 199 204 213 218

7. 8. IV.

V.

Demonstrationen und Streiks im Bezirk Dresden Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

222 228

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

245

1. Görlitz als Schwerpunkt des 17. Juni 2. Demographische und politische Voraussetzungen 3. Frühe Warnung vor „Provokationen" 4. Vom Streik zur Demonstration 5. Die Kundgebung auf dem Obermarkt 6. Die Erstürmung der SED-Kreisleitung 7. Schüsse vor der Staatssicherheit 8. Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung 9. Das Görlitzer Stadtkomitee 10. Die Verhängung des Belagerungszustandes 11. Der Aufstand im Görlitzer Umland 12. „Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky 13. Ausnahmezustand in Görlitz und Umgebung 14. Trotz Kriegsrechts weiter Streiks und Proteste

245 246 251 255 258 266 269 273 281 286 290 297 308 315

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

321

1. 2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9.

Die Arbeiterschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt im Vorfeld des 17. Juni Zur spezifischen Problemsituation im Bezirk Karl-Marx-Stadt Proteste gegen die Zwangsumsiedlung Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre von Karl-Marx-Stadt zur Verhinderung von Massenprotesten Der Verlauf des 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt Streiks im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach der Verhängung des Ausnahmezustandes Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut und das Verhalten der Belegschaft am 17. Juni Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der SAG Wismut Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung

321 323 326

334 343 348 364 376 382

VI.

VII.

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

395

1. 2. 3. 4. 5. 6.

395 410 414 433 442 465

Die Legende vom faschistischen Putschversuch Neue Losungen und organisierte Demonstrationen Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit" Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern" 1. 2. 3. 4. 5.

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit sogenannten Rädelsführern Fragwürdige Ermittlungsverfahren bei Staatssicherheit und Volkspolizei Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten Die öffentliche Diffamierung der Juni-Verurteilten Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

483 483 503 512 547 552

VIII. Schlußbetrachtung

587

IX.

Anhang

625

Archiwerzeichnis Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Personenregister Ortsregister

625 626 640 645 651

Vorbemerkung Dieses Buch unternimmt den Versuch einer historiographischen Rekonstruktion des 17. Juni 1953 in Sachsen. Als alte Industrieregion, als Traditionsland der deutschen Arbeiterbewegung, als wichtigstes Experimentierfeld der kommunistischen Staatspartei und (mit dem Uranabbau der Wismut) als strategisches Terrain der Sowjetunion war das Land neben Berlin Brennpunkt des Aufstandes. Sein Verlauf im Süden der DDR kann erst heute, nachdem die demokratische Revolution von 1989 das Kapitel SED-Diktatur geschlossen und ihre archivalischen Arkana geöffnet hat, authentisch beschrieben und frei von politischen Verzerrungen bewertet werden. Bis zum Schluß hatten die Herrschenden und ihre Historiker an dem Konstrukt eines von Faschisten und westlichen Agenten ferngesteuerten Putsches festgehalten. Das Buch versteht sich mithin ebenso als Beitrag zur Geschichte der DDR wie zur sächsischen Landesgeschichte. Dabei wird das Bild des Kampfes gegen das Ulbricht-Regime nicht nur um lokale und regionale Fakten zu bereichern und zu vertiefen sein. Der Forschungsstand zur Aufstandsgeschichte fordert auch dazu heraus, im Vergleich des örtlichen, betrieblichen und regionalen Geschehens neue Fragestellungen zu verfolgen. So wird bei der Schilderung der Verlaufsgeschichte des 17. Juni in den drei sächsischen Bezirken Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt, einschließlich der sowjetischen Aktiengesellschaft Wismut, nach den Ursachen und Hintergründen der unterschiedlichen Entwicklungen dort gefragt; z.B., weshalb es in dem alten Industrierevier Chemnitz kaum zu öffentlichem Protest kam, während nicht weit davon Abertausende gegen die kommunistische Herrschaft auf die Straße gingen. Die Klärung der Geschehnisse in Sachsen dürfte schließlich einer auf die gesamte DDR bezogenen vergleichenden Betrachtung des 17. Juni 1953 ebenso Anstöße und Anregungen geben können wie deren angemessener historischer Beschreibung, die bekanntlich zwischen „Arbeiteraufstand" und „Volkserhebung" changiert. Im Mittelpunkt stehen die Akteure und Opfer der damaligen Ereignisse, die Menschen, die damals in Dresden, Görlitz oder Leipzig, aber auch in vielen Dörfern und Gemeinden Sachsens die Initiative zu Arbeitsniederlegungen, zu eindrucksvollen Demonstrationen oder zu Aktionen wie der Befreiung politischer Häftlinge ergriffen und sich dafür, als „Provokateure" und „Agenten" diffamiert und kriminalisiert, vor Gerichten und in Zuchthäusern wiederfanden. Es treten zahlreiche Personen und Personengruppen auf, die bisher in keinem Geschichtsbuch verzeichnet sind: couragierte Arbeiter, Streikführer, Streikleitungen, Betriebsbelegschaften, die in ihrer Stadt die Initiative ergriffen. Historiographische Genauigkeit, aber auch der Respekt vor ihrem Mut und ihrem Schicksal gebietet es, diese Menschen aus der Anonymität zu holen. Einige der „Rädelsführer" werden etwas ausführlicher vorgestellt, um zu zeigen, wer diese Frauen und Männer gewesen sind, die 1953, „ohne die schreck-

10

Vorbemerkung

liehe Gefahr zu verkennen, in der Not das Nötigste getan" 1 haben. Aber auch die demonstrierenden Massen rücken ins Blickfeld, weil zu klären ist, wie friedliche Demonstrationen an verschiedenen Orten in gewalttätige Aktionen umschlagen konnten. Und es wird gezeigt, wie einzelne Personengruppen, ohne Vorbereitung und Anleitung, aus der Situation heraus, zu Handlungsträgern wurden. Im Vordergrund steht der öffentliche Protest gegen die SED-Diktatur, Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen, die Erstürmung öffentlicher Gebäude und die Befreiung politischer Häftlinge, während andere Protestformen, wie Austritte aus Parteien und Massenorganisationen, Verweigerungen von Beitragszahlungen in der SED, im FDGB, Kritik in Versammlungen und Aussprachen oder Verweigerungen von organisierten Treuebekenntnissen für Ulbricht und andere Funktionäre, lediglich exemplarisch dargestellt werden. So rücken die Betriebsbelegschaften in den Vordergrund der Darstellung, die tatsächlich auch den bestimmenden Einfluß in jenen Junitagen ausübten, während Verwaltungen, Hochschulen, Schulen oder kulturelle Einrichtungen am 17. Juni weniger aktiv waren und sich oft erst nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes mit dessen Trägern und Zielen identifizierten. Die Aktionen der Aufständischen können natürlich nicht losgelöst von dem Gebaren der leitenden Kader der SED-Bezirks-, Kreis- und Betriebsparteileitungen und der staatlichen Organe betrachtet werden, die sich auf der anderen Seite der Barrikade befanden und zur Eindämmung und Unterdrückung der Protestbewegung beitrugen. Auch diejenigen, die im Auftrag der Berliner SED-Führung den Führungsanspruch in ihrem Herrschaftsbereich zu stabilisieren halfen, haben Namen und Verantwortung. Für den Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Volk und Führung war es bedeutsam, ob der jeweilige 1. Sekretär der SED den Befehl zum Schießen auf Demonstranten gab, wie im Falle des Leipziger Parteichefs Paul Fröhlich, oder ob der 1. Sekretär der SED die Anwendung von Waffen gegen Demonstranten ablehnte und von der Staatssicherheit die Einstellung des Schußwaffengebrauchs verlangte wie in Görlitz. Während der Leipziger SED-Bezirkschef bereits mit seiner Wortwahl für die Demonstranten und Streikenden (Kreaturen, Gesindel, lumpenproletarische Elemente) seine Verachtung und seine harte Linie gegenüber aufständischen Leipzigern dokumentierte, brachte der Görlitzer SED-Chef immerhin ein bestimmtes Maß an Verständnis für „seine" Görlitzer auf, als er der Geheimpolizei die Vorgänge in seiner Stadt schilderte; Begriffe wie „Verbrecher" vielen dabei nicht. Zunächst wird der Verlauf der Ereignisse zwischen dem 16. und dem 21. Juni in den drei Bezirken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt ausführlich geschildert. Ein eigenes Kapitel ist dem Geschehen im Stadt- und Landkreis Görlitz und im Kreis Niesky gewidmet, weil die Ausbreitung der öffentlichen 1

Joseph Rovan, „Was wir den Aufständischen vom 17. Juni schulden. Das Scheitern des Widerstandes kann den moralischen Triumph nicht mindern". In: FAZ vom 18. Juni 1953, S. 36.

Vorbemerkung

11

Proteste hier besonders intensiv war und in keinem anderen Kreis der DDR so dramatisch verlief. Namentlich die Massenkundgebung von 2 0 0 0 0 bis 3 0 0 0 0 Görlitzern auf dem Obermarkt veranschaulicht die schrittweise Entfaltung einer spontan entstandenen Protestkundgebung zu einem politischen Aufstand unter der Leitung eines überbetrieblichen Streikkomitees. Sichtbar werden erste konzeptionelle Ansätze zur gesellschaftlichen Veränderung nach der zeitweiligen Entmachtung der örtlichen SED- und Staatsfunktionäre. Die Darstellung dieser eindrucksvollen Kundgebung basiert hauptsächlich auf Tonbandaufzeichnungen, die an diesem Tage im Auftrag der überbetrieblichen Streikleitung angefertigt und später von der Staatssicherheit beschlagnahmt und transkribiert wurden. Wie kaum eine andere Quelle vermittelt dieses Tonbandprotokoll einen Eindruck von der Atmosphäre, den Wünschen und Hoffnungen der Bewohner dieser Stadt. Der Aufstand, seine gewaltsame Niederschlagung und die danach verordnete Geschichtsfälschung veränderten das Leben der Zeitgenossen. Weil dieser Schock in der DDR eine 53er Generation konstituiert haben dürfte, spürt diese Untersuchung auch den Langzeitwirkungen des 17. Juni nach. Es geht dabei vor allem um die Dokumentation der Folgen des Aufstandes für die Bevölkerung und der unnachsichtigen Verfolgung und Verleumdung seiner führenden Gestalten. Der Befund zeigt, daß die gewaltsame Beendigung der Erhebung einzelne Biographien, Familienschicksale, aber auch das Zusammenleben in dörflichen Gemeinschaften und in Betrieben nachhaltig beeinflußte. Der weiterführenden Forschung stünde gleichwohl noch eine Fülle weiterer aussagekräftiger Quellen zur Verfügung. Aber auch für die SED selbst sollte der 17. Juni 1953 zu einem bleibenden Trauma werden. Das Buch beschreibt deshalb auch die sofort einsetzende Hexenjagd innerhalb der Partei und die Disziplinierung der eigenen Gefolgschaft. Die Dichte der Überlieferung zum 17. Juni 1953 überraschte in den vergangenen Jahren manchen Historiker. Von den SED-Funktionären selbst wurden offenbar keine Dokumente vernichtet. Das hinderte die Partei aber nicht daran, die besseren Stücke davon auch den eigenen Parteihistorikern vorzuenthalten. Für diese Studie wurden alle relevanten Bestände in den sächsischen Staatsarchiven ausgewertet. Dabei standen zunächst die Überlieferungen der SED-Bezirksleitungen, der SED-Gebietsparteileitung Wismut sowie der SEDKreisleitungen im Mittelpunkt. Zur Beantwortung bestimmter Fragen mußten auch die Akten von Wohnpartei-, Ortspartei- und Betriebsparteiorganisationen der SED herangezogen werden. Hinzu kamen Unterlagen des ZK und des Politbüros der SED. Außerdem waren die Bestände der Räte der Bezirke und der Bezirkstage aus dem Jahre 1953 zu sichten, betriebliche Unterlagen, soweit sie in den Bestand der ehemaligen SED-Bezirksarchive eingegangen sind, ferner das Unternehmensarchiv der Wismut-GmbH sowie die Archive der Universität Leipzig und der Technischen Universität Dresden. Für die drei sächsischen Bezirke und die Wismut standen die Akten der Bezirksbehörden Deutsche

12

Vorbemerkung

Volkspolizei und des Gebietskommandos Wismut zur Verfügung; besonders ergiebig waren die Polizei-Bestände für den Bezirk Leipzig. Die Sachakten der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit sind nur für die Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt überliefert, die der Bezirksverwaltung Dresden wurden in den achtziger Jahren vernichtet. Die von der Geheimpolizei angelegten personenbezogenen Unterlagen konnten für alle drei Bezirke herangezogen werden. Eine weitere wichtige Quelle sind die Bestände der Bezirksstaatsanwaltschaften und der Bezirksgerichte, die entweder in die Staatsarchive übernommen wurden oder von den Außenstellen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in Dresden, Leipzig und Chemnitz verwahrt werden. Auch ehemalige Akteure oder deren Angehörige stellten Materialien zur Verfügung. Besonders ergiebig waren die Gespräche mit Zeitzeugen, in denen noch immer die Langzeitwirkung des 17. Juni 1953 zu verspüren war, und zwar bei den Aufständischen ebenso wie bei denen, die auf der anderen Seite der Barrikaden standen. An dieser Stelle kann nicht all den vielen Helfern gedankt werden, die meine Forschungen über Jahre hinweg begleitet haben. Viel bedeutet es mir, daß Karl Wilhelm Fricke sich intensiv mit meiner Studie befaßt und sogar ein einleitendes Kapitel beigesteuert hat. Wenige haben soviel zur Erforschung des 17. Juni 1953 beigetragen und so früh und so hartnäckig darauf bestanden, daß Mut, Würde und geschichtliches Verdienst der Aufständischen nicht von einer parteilichen Historie verdunkelt werden dürfen.

Dresden, im September 1999

Heidi Roth

I.

Zur Geschichte und historischen Deutung des Aufstands vom 17. Juni 1953 Von Karl Wilhelm Fricke

Solange die SED in der Deutschen Demokratischen Republik die Macht ausüben konnte, beanspruchte ihre Führung auch das Deutungsmonopol in der Geschichtswissenschaft. Aus diesem Grunde durfte im „sozialistischen Staat deutscher Nation" zeit seiner Existenz die historische Wahrheit über den Aufstand in Ostberlin und in nahezu allen wichtigen Industrierevieren Mittelund Ostdeutschlands, der mit dem Datum des 17. Juni 1953 verbunden ist, niemals öffentlich ausgesprochen oder niedergeschrieben werden. Streiks, Demonstrationen und Unruhen, wie sie seinerzeit in weit über fünfhundert Städten und Gemeinden zwischen Ostsee und Thüringer Wald zu verzeichnen waren, konnten zwar nicht geleugnet werden, aber sie wurden als von westlicher Seite inszeniert erklärt. „Die Unruhen, zu denen es gekommen ist, sind das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen." 1 Diese Legende ließ die Regierung der DDR bereits in ihrer ersten offiziellen Erklärung zu den Ereignissen am Nachmittag des 17. Juni 1953 über den Rundfunk verbreiten. Tags darauf war sie in den Zeitungen nachzulesen. Ihre Fortsetzung erfuhr sie in Entschließungen des Zentralkomitees der SED vom 21. Juni und 26. Juli 1953, in denen das dramatische Geschehen als „faschistische Provokation", als „von langer Hand vorbereiteter Tag X" oder gar als „faschistischer Putschversuch" im „demokratischen Sektor" von Berlin dargestellt wurde. „Gleichzeitig traten die in einigen anderen Städten der DDR seit langem organisierten Agentengruppen in Tätigkeit und organisierten faschistische Unruhen." 2 Weder zu diesem Zeitpunkt noch später lagen für derlei Behauptungen Beweise vor. Im Prinzip beharrte die Politbürokratie der SED auf ihrer Version trotz offenkundiger Unglaubwürdigkeit bis zur Endzeit der DDR. Allenfalls marginal wurden „ökonomische Schwierigkeiten" und „fehlerhafte Maßnahmen" als ursächlich zur Erklärung der Ereignisse mit herangezogen, ohne daß in der Hauptsache Agitation und Propaganda der SED und speziell die offizielle Geschichtswissenschaft auf die Putsch-Legende verzichtet hätten. Dabei hatte die Staatssicherheit schon unmittelbar nach dem Aufstand intensive Anstrengungen unternommen, der SED Beweismaterial, wonach Juni-Aufständische im westlichen Auftrage gehandelt hätten, zu propagandisti-

1 2

Zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift, S. 48. Vgl. „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei". Beschluß des ZK der SED vom 21. Juni 1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 4 3 6 - 4 4 5 ; vgl. auch „Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei". Entschließung des ZK der SED vom 26.7.1954, ebd., S. 4 4 9 - 4 7 8 .

14

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

scher Nutzanwendung zu beschaffen. In einem Fernschreiben vom 23. Juni 1953, das allen Leitern von Bezirksverwaltungen des MfS sowie von Untersuchungsabteilungen auf zentraler und bezirklicher Ebene zuging, übermittelte Erich Mielke, damals 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, eigens „Richtlinien über die Abwicklung und Durchführung von Untersuchungsverfahren gegen Personen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen am 16. und 17.6.1953 sowie in den darauffolgenden Tagen festgenommen wurden." 3 Unter Punkt 1 hieß es unumwunden: „Unverzüglich sind den Bezirksleitungen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Unterlagen über Ergebnisse geführter Untersuchungen zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Insbesondere solche Unterlagen, aus denen sich Tatbestände ergeben, die einwandfrei beweisen, daß Provokateure im Auftrage Westberliner oder westdeutscher Dienststellen sowie verbrecherischer Organisationen gehandelt und Unruhen, Terrorakte, Brandstiftungen, Tätlichkeiten und Überfälle in den Bezirken durchgeführt haben. Erwägungen der Konspiration sind in diesen Fällen zurückzustellen, auch dann, wenn Gefahr besteht, daß unbekannte Mittäter gewarnt werden." SED und Staatssicherheit müssen sich damals in arger Beweisnot empfunden haben. Was in den dramatischen Stunden des Aufstands und in den ersten Tagen danach vom Standpunkt der Herrschenden aus gesehen politisch noch verständlich gewesen sein mochte, namentlich auf dem psychologischen Hintergrund einer vom Kalten Krieg seinerzeit im Osten wie übrigens auch im Westen grassierenden Agentenpsychose, war spätestens zur Täuschung und Selbsttäuschung geworden, als Ernst Wollweber, seinerzeit Staatssekretär für Staatssicherheit, intern auf einer Dienstkonferenz am 11./12. November 1953 die ernüchternde Wahrheit aussprechen mußte, „daß es uns bis jetzt noch nicht gelungen ist, nach dem Auftrag des Politbüros die Hintermänner und die. Organisatoren des Putsches vom 17. Juni festzustellen. Es ist uns bisher nicht gelungen, diesen Auftrag zu erfüllen." 4 Der Auftrag sollte nie erfüllt werden können, weil es Hintermänner und Organisatoren des 17. Juni nur in der Vorstellungswelt des Politbüros gegeben hat. Selbst als das in aller Eindeutigkeit erwiesen war, hielten die Herrschenden an ihrer Putsch-Legende fest, wohlgemerkt wider besseres Wissen. Als die Akademie der Wissenschaften der DDR dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Aufstand ein aufwendiges Geschichtswerk herausbrachte, fälschten damals maßgebende DDR-Historiker den 17. Juni noch immer in einen „konterrevolutionären Putschversuch" um. Zwar leugneten sie innere Schwierigkeiten und politische Fehler nicht mehr, „insbesondere die administrativ veranlaßte Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens zehn Prozent", aber sonst geriet ihre Lesart zu einem Schreckensszenarium. „Direkt angeleitet und unterstützt 3 4

Fernschreiben Nr. 794 vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU ZA AS Nr. 3 5 6 / 5 7 , Bd. 1, Bl. 58). Referat von Ernst Wollweber auf der zentralen Dienstkonferenz im Staatssekretariat für Staatssicherheit (Auszug) (BStU ZA Dst 102272).

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

15

durch aus Westberlin eingeschleuste Provokateure, dirigiert durch die Massenmedien der .Frontstadt' Westberlin, tobte der konterrevolutionäre Mob in einer Reihe von Städten, drang in Parteibüros und andere Dienststellen ein, zerstörte dort Einrichtungen, mißhandelte und ermordete Bürger, die sich ihm entgegenstellten." 5 Schon rein semantisch sagt die Sequenz viel über den geistigen Zuschnitt ihrer Autoren aus. Eher grotesk mutete es an, wenn in einer vom Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR im fahre 1987 herausgegebenen Monographie der Juni-Aufstand ebenfalls als geplanter „Tag X" charakterisiert und allen Ernstes behauptet wurde, schwarz auf weiß gedruckt: „Mord- und Terrorbanden, die in der BRD und Westberlin für Diversions- und Bürgerkriegsaktionen ausgebildet worden waren, wurden in Berlin und andere Städte der DDR eingeschleust. Bewaffnete Banden wurden mit Flugzeugen über der DDR abgesetzt. Über die Verbindungsstraßen nach Westberlin versuchten Fahrzeuge, die Putschisten mit Waffen und anderen Gerätschaften zu versorgen." 6 Nichts davon entsprach der Wahrheit, daß aber solche notorischen Geschichtslügen selbst im vierten Jahrzehnt des DDRSozialismus noch kolportiert wurden, läßt ermessen, wie wenig sich der 17. Juni in das ideologisch deformierte Weltbild der SED hat einpassen lassen. Daß es zu der historischen Erfahrung eines spontanen Aufstands in Ostberlin und weiten Teilen der DDR ausgerechnet im „Karl-Marx-Jahr" 7 1953 gekommen war, gehört zu den tragikomischen Pointen, die die Geschichte zuweilen bereit hält. Die vorliegende Monographie von Heidi Roth behandelt anhand einer ungewöhnlichen Fülle von Fakten und Details aus erstmals erforschtem Quellenmaterial die Geschichte des Juni-Aufstands in Sachsen, das zum Zeitpunkt des 17. Juni 1953 in die Bezirke Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt gegliedert war. Ihrer Darstellung ist dieses einleitende Kapitel vorangestellt, dessen Autor sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte der „ersten Volkserhebung im Stalinismus" 8 beschäftigt hat. Sie dient dem Versuch einer Zusammenschau, die zum einen zu den folgenden Ausführungen hinführt, zum anderen aber den überregionalen Bezug herstellt und das Geschehen in seine nationalen und internationalen Rahmenbedingungen und Zusammenhänge stellt. Die Zusage, diese Einleitung zu schreiben, fiel dem Autor um so leichter, als er von den jahrelangen Recherchen der Leipziger Historikerin, die ihre politische und wissenschaftliche Sozialisation in der DDR erfahren hat, außerordentlich beeindruckt ist.

5 6 7 8

Deutsche Geschichte in 10 Kapiteln, S. 447. Autorenkollektiv unter Leitung von Siegfried Wietstruck, Entwicklung des Arbeiterund-Bauern-Staates der D D R 1949-1961, S. 199f. Aus Anlaß des 135. Geburtstages und des 70. Todestages hatte das ZK der SED das Jahr 1953 zum „Karl-Marx-Jahr" erklärt. Vgl. Hagen, D D R - Juni 53.

16 1.

Geschichte und historische Deutung des Aufstands Die Vorgeschichte

Wenn es einen Sinn haben kann, die vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ursachen des Juni-Aufstands auf einen generellen Begriff zu bringen, so muß letztlich auf die tiefgreifenden Strukturveränderungen verwiesen werden, denen Herrschaft und Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur im Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der späteren Deutschen Demokratischen Republik unterzogen worden waren. Im wesentlichen lagen sie in der planmäßigen, zielbewußten Errichtung eines politischen Regimes begründet, das - dem Schein nach ein Mehr-Parteien-System - frühzeitig auf eine Diktatur der SED hinauslief. Die Tendenz, im Vollzug dieser Entwicklung alle politischen Freiheiten und bürgerlichen Grundrechte auszuhöhlen oder aufzuheben, war bereits in den ersten Nachkriegsjahren hervorgetreten. Sie wurde nach Gründung der DDR um so mehr bewußt, je weniger sich die Herrschenden bereitfanden, ihre Politik an den Maximen und Grundsätzen einer wahrhaft antifaschistischen und demokratischen Ordnung zu orientieren und sich den Normen der von ihnen selbst in Kraft gesetzten Verfassung zu unterwerfen. Das wurde schon bei Gründung des zweiten deutschen Staates augenfällig, als sich die Herrschenden weigerten, der neuen Macht zu demokratischer Legitimation durch freie Wahlen zu verhelfen. Zwar sah die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 in Artikel 51 ausdrücklich vor, daß die Volkskammer als oberste Volksvertretung der Republik „in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes" 9 zu wählen sei, tatsächlich aber wurde die an sich zwingende Bestimmung von Anfang an mißachtet. 1949 hatte die SED die beiden „bürgerlichen" Parteien CDU und LDPD, die seit vier Jahren in der SBZ/DDR existierten, noch mit der Zusicherung hinhalten können, die an sich fälligen Wahlen zur Volkskammer nach Verschiebung um ein Jahr nach dem Verhältniswahlrecht abzuhalten. Beide Parteien stimmten unter dieser Voraussetzung der Verschiebung sogar zu, aber als sich abzuzeichnen begann, daß die SED ihr Versprechen 1950 nicht einhalten würde, wurde jedes noch so schüchtern und zögerlich bekundete Opponieren durch Reglementierung und Zensur in Presse und Rundfunk mundtot gemacht oder durch justitiellen Terror unterdrückt. Die Einflußmöglichkeiten von CDU und LDPD waren bereits so weit verkümmert, daß sie nicht mehr die politische Kraft fanden, sich dieser Mißachtung der Verfassung mit Erfolg entgegenzustemmen. Vereinzelte Versuche in den Fraktionen von CDU und LDPD, ein Wahlgesetz im Sinne der Verfassung durchzusetzen, wurden brutal unterbunden. Günter Stempel, seinerzeit Generalsekretär der LDPD und Mitglied der Provisorischen Volkskammer, wurde am 8. August 1950 eben deswegen ver-

9

Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949, Artikel 51 Absatz 2 (GBl., S. 5).

Die Vorgeschichte

17

haftet - genau einen Tag vor der Verabschiedung des Wahlgesetzes, gegen das er in seiner Fraktion wegen des zutiefst undemokratischen Einheitslistenwahlprinzips plädiert hatte. 1 0 Nach dieser Verhaftung wagte in der Provisorischen Volkskammer niemand mehr mit Nein zu stimmen. Stempel wurde von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Er kehrte nach knapp sechs Jahren in die Freiheit zurück. Als am 15. Oktober 1950 erstmals Wahlen zur Volkskammer durchgeführt wurden, zusammen mit Wahlen zu den Landtagen und zu den Kommunalvertretungen, wurde dem Wahlvolk eine Kandidaten-Einheitsliste der Nationalen Front zu alternativloser Zustimmung präsentiert. Da die Verteilung der Mandate in den Volksvertretungen aller Ebenen auf die seit Gründung der DDR unter Führung der SED in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Blockparteien und Massenorganisationen nach einem vor der Wahl festgelegten Schlüssel erfolgt war, blieb den Wählern von Anfang an jedweder Einfluß auf die Zusammensetzung der Volksvertretungen vorenthalten. Mit Recht ist diese Vorgehensweise als „bewußte Mißachtung der Demokratie durch die SED-Führung, die zur Bedingung für die Konstituierung der DDR wurde" 1 1 , charakterisiert worden. Von vornherein hatte sich die SED zusammen mit den von ihr gesteuerten Massenorganisationen die absolute Mehrheit der Mandate gesichert. Die SED hatte insoweit nie eine parlamentarische Opposition zu fürchten - weder in der Volkskammer noch in den Landtagen bzw. später, seit 1952, in den Bezirkstagen noch in den Vertretungskörperschaften auf Kreisund Gemeindeebene. Gesichert durch die Präsenz der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, übte die SED nicht nur real die Macht aus - sie schuf sich per Einheitslistenwahl auch formal Mehrheiten in den Parlamenten, um ihre Politik dem demokratischen Schein nach „legal" abzusichern. Freilich war sich das Wahlvolk dieses Defizits stets bewußt. Nicht von ungefähr kam es, daß die Forderung nach freien Wahlen zur bestimmenden Idee des Aufstands vom 17. Juni 1953 geworden ist. Der Geburtsmakel der DDR, ihr Mangel an demokratischer Legitimation, war nur das besondere Symptom eines allgemeinen Sachverhalts. Nicht nur das Wahlrecht, auch andere Grundrechte, individuelle wie soziale, wurden ungeachtet ihrer formalen Garantie durch die Verfassung ihres realen Inhalts entleert oder rigoros mißachtet. Mit Blick auf den 17. Juni sollten sich vor allem die schon in den Jahren zuvor vollzogene Gleichschaltung der Gewerkschaften durch die SED im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund und die Liquidierung unabhängiger Betriebsräte durch Schaffung abhängiger Betriebsgewerkschaftsleitungen fatal auswirken. Als Arbeiter am 17. Juni von dem in Artikel 14 der Verfassung gewährleisteten Streikrecht Gebrauch machten, wurden sie dafür disziplinarisch gemaßregelt oder strafrechtlich verfolgt.

10 11

Fricke, Dimensionen von Opposition und Widerstand, S. 38. Laufer, Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 23.

18

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Frühzeitig wurde in der DDR auch die Mißachtung von Recht und Gesetz durch politische Instrumentalisierung der Strafjustiz offenbar. Sie war die Konsequenz eines Herrschaftssystems, in dem Recht und Gesetz als „der juristische Ausdruck der historischen Gesetzmäßigkeit beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus" 1 2 begriffen wurden und eben dadurch zu einer bloßen „Methode in der Führung des Klassenkampfes" verkommen sollten. Allerdings blieb es nicht bei theoretischen Maximen, ihre praktische Umsetzung erfolgte ohne Verzug. Nach Artikel 126 der Verfassung vom 7. Oktober 1949 sollte die ordentliche Gerichtsbarkeit durch den Obersten Gerichtshof der Republik und die Gerichte der Länder ausgeübt werden. Da bei Gründung der DDR nur Gerichte der Länder in Gestalt von Amtsgerichten, Landgerichten und Oberlandesgerichten (in Ostberlin Kammergericht) existierten, mußte ein Oberster Gerichtshof erst geschaffen werden. Das geschah durch Gesetz vom 8. Dezember 1949, das bereits eine Woche später in Kraft trat, 13 und mit dem zugleich die Oberste Staatsanwaltschaft der DDR unter Leitung des Generalstaatsanwalts etabliert wurde. Der nächste Schachzug ließ nicht auf sich warten. Durch eine am 27. September 1951 erlassene Verordnung über Maßnahmen zur Vereinfachung der Justiz 14 wurden die Landesstaatsanwälte dem Generalstaatsanwalt der Republik unterstellt und die gesamte Staatsanwaltschaft in den Rang einer eigenständigen Behörde erhoben, mithin der Weisungs- und Kontrollbefugnis des Justizministers der DDR bzw. der Justizminister der Länder entzogen. Mit der Errichtung des Obersten Gerichts, das seine Tätigkeit am 1. April 1950 aufnahm, war in der DDR die in der Nachkriegszeit geschaffene Gerichtsverfassung und -Organisation erstmals erheblich verändert worden. Darüber hinaus war ihm eine entscheidende Funktion bei der Durchsetzung der neuen Gesetzlichkeit und bei der Politisierung der Jurisdiktion zugedacht. Seine Zuständigkeit erstreckte sich einerseits auf die Verhandlung und Entscheidung in erster und letzter Instanz in allen Strafsachen, in denen der Generalstaatsanwalt „wegen ihrer überragenden Bedeutung" Anklage vor dem Obersten Gericht erhob - und sie umfaßte andererseits die Verhandlung und Entscheidung über die Kassation rechtskräftiger Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen. Da der Generalstaatsanwalt der DDR ermächtigt war, jedes bei den Staatsanwaltschaften der Länder schwebende Strafverfahren an sich zu ziehen und vor dem Obersten Gericht zur Anklage zu bringen, war ihm praktisch jederzeit die Möglichkeit gegeben, politisch relevante Strafsachen selber in die Hand zu nehmen und einer Entscheidung im Sinne der SED zuzuführen. Ausschlaggebendes Kalkül war für die Politbürokratie das Bestreben, den vielfach noch

12 13 14

Kienner, Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit, S. 49. Vgl. Gesetz über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 8.12.1949 (GBl., S. 111). GBl. 1951, S. 877.

Die Vorgeschichte

19

mit „bürgerlichen", im Sinne der SED also politisch unzuverlässigen Juristen besetzten Oberlandesgerichten die Kassationsbefugnis zu entziehen und ihre Entscheidungen gegebenenfalls zu korrigieren. Überfüllte Gefangnisse und Zuchthäuser in der DDR der frühen fünfziger Jahre waren die Folge dieser Politisierung und Zentralisierung in der Justiz. Im Kontext dazu stand eine weitere, nicht unerhebliche Verschiebung im Gefüge der Macht. Die erste Regierungsumbildung vier Monate nach Gründung des zweiten deutschen Staates sah die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vor. 15 Binnen weniger Jahre wurde das MfS, das von Anfang an „Schild und Schwert der Partei" sein sollte, auf- und ausgebaut zum wichtigsten, im Volk meistverhaßten Überwachungs- und Unterdrückungsapparat der SED zur Durchsetzung und Sicherung ihrer Diktatur. Was war vor diesem historischen Hintergrund erklärlicher, als daß sich am 17. Juni der Zorn der Aufständischen in einigen Brennpunkten des Geschehens im Sturm auf Gefangnisse und auf Dienststellen der Staatssicherheit entlud? Längst waren die Parteilichkeit in der Strafjustiz und die Repression durch das MfS zu signifikanten Indizien dafür geworden, daß die DDR unterwegs zur „Volksdemokratie" war. „Das Regime der Volksdemokratie" übte nach parteiverbindlicher Sprachregelung „die Funktionen der Diktatur des Proletariats zur Unterdrückung und Liquidierung der kapitalistischen Elemente und zur Organisierung einer sozialistischen Wirtschaft aus." 16 Zwar vermied es die SED aus taktischen Gründen lange Zeit, ihre Herrschaft als Volksdemokratie zu definieren, stattdessen sprach sie von einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung" in der DDR, aber sechs Wochen vor dem Juni-Aufstand, am 5. Mai 1953, ging Walter Ulbricht in einer Rede zum Gedenken an Karl Marx erstmalig zu einer anderen Sprachregelung über: „Der Staat der Deutschen Demokratischen Republik führt erfolgreich die Funktionen der Diktatur des Proletariats aus. Das heißt, er löst die Grundaufgabe der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus - den Aufbau der wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen des Sozialismus sowie die Unterdrückung der volksfeindlichen Kräfte - und organisiert den Schutz der Heimat." 17 Fortan sollten die Machtverhältnisse keineswegs mehr scheindemokratisch verklärt werden. Die ideologische Rechtfertigung dafür hatte Ulbricht schon auf der 2. Parteikonferenz der SED artikuliert. Sie tagte vom 9. bis 12. Juli 1952 in Ostberlin und diente der Politbürokratie zur Verkündung einer neuen Generallinie und Politik des Inhalts, „daß der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der Deutschen Demokratischen Republik geworden ist." 18 Die radi-

15 16 17 18

Vgl. Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 8 . 2 . 1 9 5 0 (GBl., S. 95). Oelßner, Der Marxismus der Gegenwart, S. 217f. Ulbricht, Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates, S. 325f. „Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus". Beschluß der 2. Parteikonferenz ( 9 . - 1 2 . 7 . 1 9 5 2 ) . In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 73; die folgenden Zitate ebd.

20

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

kale Umsetzung dieser Linie in staatliche und gesellschaftliche Realität ließ für die DDR eine tiefe existentielle Krise heraufziehen. Zur Klärung der Machtfrage dekretierte die 2. Parteikonferenz in ihrer Grundsatzentschließung als Kernthese: „Das Hauptinstrument bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus ist die Staatsmacht. Deshalb gilt es, die volksdemokratischen Grundlagen der Staatsmacht ständig zu festigen. Die führende Rolle hat die Arbeiterklasse, die das Bündnis mit den werktätigen Bauern, der Intelligenz und anderen Schichten der Werktätigen geschlossen hat." Damit war der Anspruch der SED auf das Monopol der Macht in Staat und Gesellschaft unmißverständlich erhoben worden. Weiter hieß es nicht weniger unmißverständlich: „Es ist zu beachten, daß die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen." Der Wechsel zu einem harten Kurs in der DDR war evident. Der Stalinismus war durch die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz im Staat der SED programmatisch sanktioniert worden. Sein Schlußwort ließ Ulbricht in dem emphatischen Ausruf enden: „Wir werden siegen, weil uns der große Stalin führt." 1 9 Konsequent ging die SED nach der 2. Parteikonferenz dazu über, den Staatsaufbau der DDR den Erfordernissen ihrer Herrschaft gemäß umzustrukturieren. Vorläufig noch ohne formelle Verfassungsänderung setzte sie die Zentralisierung der Staatsmacht durch Liquidierung der fünf mittel- und ostdeutschen Länder durch. An ihre Stelle traten vierzehn Verwaltungsbezirke, deren Vertretungskörperschaften - die Bezirkstage - formell der Volkskammer unterstellt waren. Die Vorsitzenden der Räte der Bezirke waren an die Weisungen des Ministerrates der DDR gebunden. Selbstverständlich wurden auch die ohnehin schon zentralistischen Kommandostrukturen der Staatssicherheit und der Volkspolizei dem zentralistischen Staatsaufbau angepaßt. Ostberlin bildete de facto einen fünfzehnten Bezirk, ohne daß de jure allerdings seine Unterordnung unter den Vier-Mächte-Status verändert wurde. Die Diktatur der SED hatte den ihr zweckdienlichen Aufbau erhalten. Analog dazu schlug die Zentralisierung der Staatsmacht auf die Gerichtsverfassung durch. Nachdem zuvor schon die Gerichte im Verordnungswege 2 0 neu gegliedert worden waren, indem die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte aufgelöst und durch Kreis- bzw. Bezirksgerichte in den Kreisen und Bezirken der DDR (in Ostberlin Stadtbezirksgerichte und Stadtgericht) ersetzt wurden, erhielt das Gerichtswesen nicht nur eine dem staatlichen Verwaltungsaufbau angepaßte dreistufige Gliederung mit dem Obersten Gericht als höchste und letzte Instanz, sondern sie hob zugleich die bis dahin formal noch gewährleistete Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt auf. Durch ein am 2. Oktober 1952 beschlossenes neues Gerichtsverfassungsgesetz 21 ist diese Entwicklung, die mit der Bildung des Obersten Gerichts eingeleitet worden war, weiter vor19 20 21

Protokoll der Verhandlungen der 2. Parteikonferenz der SED, S. 464. Verordnung über die Neugliederung der Gerichte vom 2 8 . 8 . 1 9 5 2 (GBl., S. 791). Vgl. GBl. 1952, S. 983.

Die Vorgeschichte

21

angetrieben worden. Das Gesetz faßte die Bestimmungen über Sitz, Besetzung, Gliederung und Zuständigkeit des Obersten Gerichts neu und erbrachte vor allem zwei folgenreiche Veränderungen: Erstens wurde dem Obersten Gericht neben seiner bisherigen Zuständigkeit nun auch die Funktion einer zweiten Instanz für die Verhandlung und Entscheidung über Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Bezirksgerichte in Straf- und Zivilsachen zugeordnet. Zweitens sah das Gesetz ein aus allen seinen Mitgliedern bestehendes Plenum des Obersten Gerichts vor, das fortan nicht nur über grundsätzliche Rechtsfragen und über die Kassation eines Urteils des Obersten Gerichts entscheiden konnte, sondern auch das Recht erhielt, zwecks einheitlicher und das hieß: parteilicher - Anwendung und Auslegung der Gesetze im Zusammenhang mit einer Entscheidung sogenannte Richtlinien mit bindender Wirkung für alle Gerichte zu erlassen. Damit war das Oberste Gericht mit Machtbefugnissen ausgestattet, die der SED eine rigorose Instrumentalisierung der Rechtsprechung ermöglichen sollte. Zwangsläufig führten die Politisierung und Radikalisierung der Strafjustiz zu einem sprunghaften Ansteigen von Verhaftungen und Verurteilungen in der DDR. „Waren im Juli 1952 ca. 37 000 Personen in Haft, so stieg ihre Zahl bis Mai 1953 auf ca. 67 000 Personen. Es sind bisher keine Zahlen gefunden worden, um für diese Zeit exakte Angaben über den Anteil der aus politischen Gründen in Haft Sitzenden machen zu können. Doch läßt sich begründet schätzen, daß ihr Anteil im Mai 1953 bei ca. 4 5 - 5 0 Prozent gelegen haben muß, unter ihnen sehr viele Bauern, sonstige Gewerbetreibende und selbständige kleine Produzenten, die mit dem Ziel ihrer Enteignung in Haft genommen und verurteilt wurden." 2 2 Eine weitere Folge waren Verletzungen der Gesetzlichkeit in den frühen fünfziger Jahren. Der politische Überbau der zweiten Diktatur war geschaffen. Sein Fundament war schon vor Gründung der DDR in einer tiefgreifenden Umstrukturierung der ökonomischen Basis gelegt worden - vornehmlich durch Maßnahmen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführt oder, soweit die SED sie initiiert hatte, von ihr sanktioniert worden waren. Es genügt, hier Stichwörter zu nennen: Enteignung aller privaten Banken und Versicherungen, „demokratische Bodenreform" durch Enteignung allen Agrarbesitzes ab 100 Hektar, Verstaatlichung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien. Dem allmählichen Übergang zur Zentralverwaltungswirtschaft, zur Planwirtschaft sowjetischen Typs, stand prinzipiell nichts mehr im Wege. Letztlich fand die bis dahin vollzogene Umgestaltung in den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz ihre machtpolitisch folgerichtige Bekräftigung. In ihrer Wirtschaftspolitik orientierte sich die SED auf den vorrangigen Ausbau der Schwerindustrie in der DDR zum Nachteil der Leicht- und Lebensmittelindustrie. Diese wurde bewußt vernachlässigt. Die daraus sich ergebenden Engpässe und Mängel in der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln 22

Werkentin, Zur Dimension politischer Inhaftierungen in der DDR, S. 141.

22

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

und Konsumgütern waren absehbar. Nicht nur Butter, Fette und Öle verknappten sich im Warenangebot, sondern auch Zucker, Obst, Gemüse und Kartoffeln waren nur noch schwer zu haben. Die Nahrungsgüterversorgung wurde zusätzlich durch die ebenfalls von der 2. Parteikonferenz beschlossene Kollektivierung der Landwirtschaft durch Bildung von LPG in der DDR spürbar beeinträchtigt. „Die Gründung und der Ausbau landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften dient der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus auf dem Lande", hieß es in einer Rundverfügung des Justizministeriums vom 5. März 1953, um jeden Widerstand auf dem Lande zu brechen; „Solchen Großbauern, die Verbrechen begehen, die sich gegen den demokratischen Aufbau richten, die die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik verletzen, müssen daher harte Strafen auferlegt werden. Bei der Behandlung ist zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen über eine Vermögenseinziehung vorliegen." 23 Das Stichwort war gegeben. Tausende „devastierter" Landwirtschaftsbetriebe wurden im Zuge dieses „Klassenkampfes im Dorf" zu Gunsten von LPG enteignet. Störungen in der landwirtschaftlichen Produktion und damit Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung waren unausweichlich. „Die gesamte Versorgungslage erzeugte im Frühjahr 1953 erhebliche Spannungen in der Bevölkerung und brachte ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit mit sich. Der Komplex eingeleiteter restriktiver Maßnahmen der SEDund Staatsführung wirkte sich für jede Familie spürbar in sinkendem Realeinkommen bei steigenden Preisen aus." 2 4 Erhebliche ökonomische Einschränkungen und finanzielle Lasten wurden der Bevölkerung in der DDR zudem im Zuge der Militarisierung des Landes auferlegt. Ihre Forcierung war der Führung der SED von Stalin „empfohlen" worden, als sie, vertreten durch Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, vom 1. bis 7. April 1952 zu Geheimberatungen in Moskau weilte. Allerdings wurde sie durch die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz seitens der SED uneingeschränkt bekräftigt. Die Spitze der Staatspartei machte sich auch in dieser Hinsicht die politischen Auflagen der Besatzungsmacht voll zu eigen. „Im Frühsommer empfahl die Sowjetische Kontrollkommission der DDR-Führung, für den Aufbau nationaler Streitkräfte vorerst 1,5 Mrd. Mark zu veranschlagen. Die im Fünfjahresplan nicht vorgesehenen Ausgaben sollten nach den sowjetischen Vorstellungen aus Einsparungen bei der Sozialversicherung und -fürsorge in Höhe von 420 Mio. Mark, durch Mehreinnahmen mittels Erhöhung der Besitz- und Einkommenssteuern in einem Volumen von 350 Mio. Mark und durch die Reduzierung des Konsums der Bevölkerung in Höhe von 380 Mio. Mark finanziert werden." 2 5 Neben dieser finanziellen Hypothek erwuchsen der DDR daraus auch personelle Schwierigkeiten. Immerhin beliefen sich die als Kasernierte Volkspolizei getarnten Streitkräfte der DDR, deren Auf- und Ausbau aus bereits bestehenden Sonderformationen der Polizei die 23 24 25

Zitiert in Unrecht als System, Bd. II, S. 159. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR., S. 41. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Zu militärpolitischen Aspekten, S. 362.

Die Vorgeschichte

23

Regierung am 1. Juli 1952 beschlossen hatte, im Dezember desselben Jahres bereits auf eine Gesamtstärke von 90 250 Mann. „Mit einem riesigen Aufwand zur Kaderwerbung 1952/53 gelang es, bis Mitte 1953 einen militärischen Personalbestand von ca. 113 000 Mann zu erreichen." 2 6 Die jungen Menschen unter der Fahne verkörperten natürlich wertvolle, gut ausgebildete Arbeitskräfte, die der Volkswirtschaft entzogen waren. Alles in allem hatte die DDR vom Sommer 1952 bis zum Sommer 1953 über 2 Milliarden Mark allein für die Aufrüstung aufzubringen. Dazu kamen die von ihr zu leistenden Besatzungskosten für die in der DDR stationierten Sowjettruppen, die sich 1952/53 auf je 1,95 Mrd.Mark beliefen. 27 Die Auswirkungen dieser durchaus zu Recht als Militarisierung umschriebenen Politik, die auch die durch Verordnung vom 7. August 1952 verfügte Gründung einer „Gesellschaft für Sport und Technik" zur vormilitärischen Ertüchtigung und Erziehung der jungen Generation einschloß, waren desaströs. In der Bevölkerung mußte sie um so mehr Ablehnung und Aversion hervorrufen, als acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nicht einmal alle Soldaten der Wehrmacht aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren. Losungen wie „Butter statt Kanonen" oder „Wir brauchen keine Volksarmee", die in Demonstrationen während des Juni-Aufstands allenthalben aufkamen, hatten ihre Ursachen in genau dieser Stimmung. Ein weiterer Umstand fiel ökonomisch gravierend ins Gewicht. Schon mit Gründung der DDR hatte eine bis dahin für undenkbar gehaltene Flucht- und Abwanderungsbewegung eingesetzt, die (in abgerundeten Zahlen) 1950 197 800, 1951 165 600 und 1952 182 400 Menschen „in den Westen" führte. 2 8 Schließlich stieg die Zahl der Flüchtlinge im ersten Halbjahr 1953 auf nicht weniger als 226 000, darunter Zehntausende von Bauern, die lieber ihre Höfe in der DDR aufgaben, als sie unter den gegebenen Bedingungen zu bewirtschaften. In den Wochen unmittelbar vor dem 17. Juni gab es Tage, an denen sich in den Notaufnahmelagern in Westberlin bis zu dreitausend Menschen als Flüchtlinge aus der DDR registrieren ließen. Die Verkehrswege nach Berlin und innerhalb Berlins waren zwar seit 1952 zunehmend Erschwernissen und schikanösen Kontrollen ausgesetzt 2 9 , aber sie waren noch nicht blockiert - im Gegensatz zu den möglichen Fluchtwegen über die „grüne Grenze", die Deutschland damals zwischen Lübeck und Hof teilte, denn die Demarkationslinie zwischen den beiden deutschen Staaten war bereits nach Erlaß zweier Verordnungen des DDR-Ministerrates vom 26. Mai und 9. Juni 1952 hermetisch abgeriegelt worden. Damals entstanden eine Sperrzone unmittelbar entlang der „Staatsgrenze" der DDR zur Bundesrepublik und ein 500 Meter tiefer Schutzstreifen, ergänzt durch ein fünf Kilo-

26 27 28 29

Ebd., S. 364. Ebd., S. 367. Vgl. dazu Die Flucht aus der Sowjetzone, S. 15. Vgl. dazu Creuzberger, Abschirmungspolitik, S. 12ff.

24

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

meter tiefes Sperrgebiet im DDR-Hinterland. Die im Laufe der Zeit hier installierten „Grenzsicherungsanlagen" und ihre „Modernisierung" durch Minen und Selbstschußgeräte forderten in der Zeit der Teilung Hunderte von Toten. Da die Sperrmaßnahmen an der Demarkationslinie mit der Enteignung und Ausweisung Tausender von Grenzlandbewohnern verbunden war, die buchstäblich von einem Tag auf den anderen ihre Häuser und Höfe verlassen mußten und ins Innere der DDR zwangsumgesiedelt wurden 3 0 , blieb eine generelle Verschlechterung der politischen Atmosphäre nicht aus. Zu einer politischen Belastung wurde schließlich auch die immer massivere Repression gegenüber der Evangelischen Kirche und ihrer Jugendarbeit. Oberschüler, die sich zur „Jungen Gemeinde" bekannten, wurden von der Schule verwiesen, Lehrer, die die „Junge Gemeinde" unterstützten, wurden aus dem Schuldienst entlassen, Studenten wurden rigoros relegiert, weil sie sich in der Evangelischen Studentengemeinde engagiert hatten. Es kam zu Verurteilungen evangelischer Geistlicher und Laien wegen „Boykotthetze". Den Höhepunkt erreichte die von der SED gesteuerte und von der FDJ entfachte Kampagne, als das Ministerium des Innern durch eine Stellungnahme vom 28. April die „Junge Gemeinde" zur „illegalen Organisation" erklärte, ohne indes formal ein Verbot auszusprechen. 31 Alles in allem war die Zeit zwischen der 2. Parteikonferenz der SED und dem Aufstand vom 17. Juni in der DDR durch Stagnation und Krise geprägt. Zu bedenken sind, wie immer wieder hervorzuheben ist, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen „die Werktätigen" wie die Rentner in der DDR damals leben mußten. Als die SED den Aufbau des Sozialismus proklamierte, belief sich das monatliche Durchschnittseinkommen eines Produktionsarbeiters auf 313 Mark. 32 Demgegenüber kassierten die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros unbeschadet ihrer sonstigen Privilegien damals im Monat bereits 1 950 Mark, also ziemlich genau das Sechsfache dessen, was ein Industriearbeiter in seiner Lohntüte fand. 3 3 Erbärmlich geradezu nahmen sich mit durchschnittlich 65 Mark im Monat die Alters-, Invaliden- und Unfallrenten aus. Und mit monatlich 55 Mark glichen die Witwenrenten Almosen. 34 Wichtige Grundnahrungsmittel waren damals in der DDR rationiert, es gab noch Lebensmittelkarten wie sie in ganz Deutschland während der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit gang und gäbe waren. Gewiß, es wurde nicht unbedingt gehungert, aber die nach Berufs- und Bevölkerungsgruppen gestaffelten Rationen waren knapp und karg. Der Einkauf zusätzlicher Lebensmittel in den Verkaufsgeschäften der „HO", der staatlichen Handelsorganisation, konnte für 30 31 32 33 34

Vgl. dazu Bennewitz/Potratz, Zwangsaussiedlungen. Vgl. dazu Henkys, Die Opposition der Jungen Gemeinde', S. 149ff.; Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 83ff. Vgl. lahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, S. 2 2 6 . Laut Beschluß des Sekretariats des ZK der SED vom 13.11.1950, zitiert in Schroeder, Der SED-Staat, S. 538. Zahlen laut Beschluß des ZK der SED vom 21.6.1953 „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei". In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 443.

Die Vorgeschichte

25

Arbeiter und Rentner wegen überhöhter Preise kein Ausgleich sein. Ein Pfund Margarine kostete 4 Mark, ein Pfund Schmalz kam auf 9.50 Mark, ein Pfund Schmorfleisch war für 6 Mark zu haben, ein Pfund Wurst belief sich je nach Qualität auf 6 Mark (Braunschweiger) bis 9.50 Mark (Salami) 3 5 . Eine Rentnerin mit 55 Mark im Monat konnte sich Fleisch oder Schmalz zu diesen Preisen kaum erlauben - ganz abgesehen davon, daß selbst in der „HO" Lebensmittel keineswegs immer ohne weiteres zu haben waren, denn seit Herbst 1952 hatten sich die Mängel und Lücken im alltäglichen Warenangebot zu einer Versorgungskrise ausgewachsen. Die Regierung sah sich genötigt, am 20. April 1953 Preiserhöhungen für Fleisch und Wurst, für Süßwaren und andere Lebensmittel anzuordnen, um auch auf diesem Wege die Nachfrage zu drosseln. 3 6 Elf Tage zuvor, durch Verordnung vom 9. April 1953, waren bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Empfang von Lebensmittelkarten überhaupt ausgeschlossen worden: Kleinunternehmer, selbständige Gewerbetreibende, Hausvermieter und andere „nicht in der Produktion Tätige." Von einem Grundgefühl der Zuversicht oder von einer Aufbruchsstimmung, wie sie der Aufbau des Sozialismus eigentlich beim „befreiten Proletariat" hätte vermuten lassen müssen, war im Alltag der Menschen nichts zu spüren. Statt dessen breiteten sich mehr und mehr Mißstimmung, Unmut und Unzufriedenheit aus, und es war nicht verwunderlich, daß sich seit Spätherbst 1952 punktuell Streiks in Betrieben der DDR häuften - gleich dem Wetterleuchten eines aufziehenden politischen Gewitters, das sich dann am 17. Juni 1953 entlud. Z u m Beispiel war es bereits im Dezember 1952 in Magdeburger Betrieben des Schwermaschinenbaus aus Protest gegen Unstimmigkeiten bei der Auszahlung von Jahresendprämien zu „feindlichen Aktionen" der Arbeiter und zu „Arbeitsniederlegungen" gekommen, mit denen sich die SED offiziell auseinandersetzen mußte. „Wir haben dort festgestellt, daß die Ursache der Arbeitsniederlegungen nicht etwa allein die Jahresabschlußprämie war, sondern daß es eine Fortsetzung der Zusammenballung einer Reihe von Mißständen war, die über Jahre hinweg die Partei nicht beachtet hat, wo sie nicht geholfen hat. Es waren Mißstände in der sozialen Betreuung, Mißstände bei den Lohn- und Gehaltsfragen, Mißstände also, für die die Partei einzig und allein verantwortlich sein muß." 3 7 Das ZK der SED war über die Konflikte so beunruhigt, daß es eigens einen Beschluß zu den Streiks in Magdeburg faßte. „Es herrschte ein Unwesen in der Einteilung der Schichten, in der Aushandlung der Normen und Prämien, in der Arbeitsbummelei, in der mangelnden Ausnutzung der wichtigsten Maschinen

35 36

37

Preise nach Mohr, Die Lohnsteuer- und Preissenkung, S. 342 ff. Vgl. Elli Schmidt, „Über die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus, über die Schädlingstätigkeit der Feinde des Volkes und über die Versorgung unserer Bevölkerung". In: N D vom 2 5 . 4 . 1 9 5 3 , S. 3. „Nur die enge Verbindung mit den Massen sichert die führende Rolle der Partei". In: Neuer Weg Nr. 4 / 1 9 5 3 , zitiert in Spittmann/Fricke, 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 201 f.

26

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

und Aggregate. Der Mangel an politischer Wachsamkeit zeigt sich darin, daß trotz einiger ernster Hinweise und Signale die Bezirks- und Kreisleitung nicht rechtzeitg die Konzentration feindlicher und unzuverlässiger Elemente in den Großbetrieben verhinderte." 38 Worte, die für die politische Atmosphäre bezeichnend waren. Punktuell waren seit Frühjahr 1953 in zahlreichen „volkseigenen" Betrieben offene Auseinandersetzungen in Protestversammlungen und demonstrative Kurzstreiks zu registrieren gewesen. Selbst die parteieigenen Zeitungen konnten sie nicht ignorieren. Voller Empörung berichtete die Hallenser Bezirkszeitung davon, wie sich im Kraftwerk des Hydrierwerkes Zeitz ein Arbeiter am 16. April in einer Versammlung mit den Worten an die Belegschaft gewandt hatte: „Kollegen, was sich jetzt bei uns tut, ist für uns als Arbeiter beschämend. Siebzig Jahre nach dem Tode von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbedingungen debattieren. Wenn Karl Marx dieses ahnte, würde er sich im Grabe umdrehen. Es gibt hier nur einen Verbesserungsvorschlag, und der heißt: Zurück zur Vernunft!" 3 9 Ein anderer Arbeiter drückte sein Empfinden in derselben Versammlung schlicht so aus: „Wir wollen leben wie die Menschen, weiter wollen wir nichts!" 4 0 Eben solche Stimmungen waren es, aus denen die Vehemenz der Arbeiterproteste am 17. Juni und in den Tagen danach gespeist wurden. Eine letzte, in gewisser Weise ausschlaggebende Zuspitzung erfuhr die Situation in der DDR durch „eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um mindestens 10 Prozent" 41 , wie sie durch einen Beschluß des Ministerrates vom 28. Mai 1953 eingeleitet werden sollte. Mit der Verordnung war ein auf der 13. Plenartagung (13./14. Mai 1953) gefaßter Beschluß des Zentralkomitees der SED allgemeinverbindlich gemacht worden. Ausgehend von einer „völlig unbefriedigenden Bestimmung der Arbeitsnormen in unseren sozialistischen Betrieben aller Wirtschaftszweige", hatte das zwischen den Parteitagen höchste beschließende Gremium der SED „Maßnahmen" verfügt mit dem Ziel, „die Arbeitsnormen auf ein normales Maß zu bringen und eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um durchschnittlich mindestens 10 Prozent bis zum 1. Juni 1953 sicherzustellen." 42 Die auf diese Weise von oben, gleichsam administrativ angeordnete Erhöhung der Arbeitsnormen kam dem Eingeständnis der Politbürokratie

38

39 40 41 42

„Die Umgestaltung Magdeburgs zu einer sozialistischen Großstadt und die Aufgaben der Partei". Beschluß des ZK der SED vom 19.5.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 421. Zitiert in Lotti Koffmane, „Über Erscheinungen des Opportunismus in der Parteileitung des Hydrierwerkes Zeitz". In: Freiheit vom 2 9 . 5 . 1 9 5 3 . Ebd. Beschluß des Ministerrates über die Erhöhung der Arbeitsnormen vom 2 8 . 5 . 1 9 5 3 (GBl. 1953, S. 781). „Über die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die Durchführung strengster Sparsamkeit". Beschluß des ZK der SED vom 14.5.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 411 f.

Die Vorgeschichte

27

gleich, daß eine seit Monaten auf Baustellen und in Industriebetrieben von der SED gemeinsam mit dem FDGB organisierte Kampagne zur Propagierung „freiwilliger Normenerhöhungen" gescheitert war. Da die Normenerhöhung Lohneinbußen zwischen 20 und 40 Prozent zur Folge haben mußte, weil bis dahin die Löhne durch Übererfüllung der Normen über Prämien hatten aufgebessert werden können, stiegen Unzufriedenheit und Unruhe auf Baustellen und in Betrieben bis zum Siedepunkt. Die latente Krise reifte zum offenen Konflikt, zumal den Menschen nicht nur die Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse bewußt geworden waren, sondern ihre verhaltene Wut auch von politischer und juristischer Willkür gespeist wurde. Nicht nur wurden mündliche Äußerungen oder schriftliche Bekundungen kritischer oder oppositioneller Meinungen hart bestraft. Arbeiter und Ingenieure, die Betriebsunfälle verursacht hatten, wurden wegen vermeintlicher Sabotage zu drakonischen Strafen verurteilt. Für Bagatelldelikte, belanglose Schwarzmarktgeschäfte und geringfügige Diebstähle wurden mehrjährige Zuchthausstrafen nach einer fragwürdigen „Wirtschaftsstrafverordnung" oder nach dem nicht minder fragwürdigen „Gesetz zum Schutze des Volkseigentums" verhängt. Als Sündenböcke, die für die Mangelwirtschaft und die Versorgungsnöte verantwortlich gemacht wurden, ließ die Politbürokratie im Dezember 1952 den Minister für Handel und Versorgung, Dr. Karl Hamann (LDPD) sowie seinen Staatssekretär Paul Baender (SED) verhaften. Die Hysterie der veröffentlichten Meinung überschlug sich, als schließlich im Januar 1953 auch der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Georg Dertinger (CDU), wegen „Verschwörung" in Haft genommen wurde. Sie wurden später, nach dem Juni-Aufstand, in Geheimprozessen wegen „Staatsverbrechen" zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt 43 - und ihre Verurteilung war symptomatisch für die proklamierte „Verschärfung des Klassenkampfes". Auch die SED selber trieb in eine schwere inneren Krise. Die Politbürokratie hatte sie selber herausbeschworen, als sie auf dem III. Parteitag (20.-24. Juli 1950) eine politische Generalüberprüfung aller Mitglieder und Kandidaten beschließen ließ, um ihre Umschmelzung zur „Partei neuen Typus" zu vollenden. Sie war stalinistischem Stil gemäß mit einer Säuberung der Partei durch Streichung der Mitgliedschaft oder durch Ausschluß verbunden. Betroffen waren davon sowohl die „Kader" der SED als auch die einfachen Genossen. Zwischen dem 15. Januar und dem 30. Juni 1951 wurde jedes Mitglied und jeder Kandidat einer individuellen Befragung unterzogen, wozu eigens über 6 0 0 0 Uberprüfungskommissionen gebildet worden waren. Sie entschieden über die Aushändigung neuer „Parteidokumente", das heißt, Mitgliedsbücher bzw. Kandidatenkarten. Zweck der innerparteilichen Kampagne, die naturgemäß weithin Mißtrauen und Verunsicherung in die Reihen der SED trug, war einerseits die Aktivierung und Mobilisierung des Parteivolks, andererseits die

43

Zu den Urteilen gegen Karl Hamann, Paul Baender und andere bzw. gegen Georg Dertinger und andere vgl. Beckert, Die erste und letzte Instanz, S. 114ff. bzw. 144ff.

28

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Entfernung „parteifremder und feindlicher oder moralisch unsauberer Elemente" aus der SED. „Im Gesamtergebnis der Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten ergibt sich, daß parteifeindliche, parteifremde, karrieristische und korrupte Elemente aus der Partei entfernt wurden." 4 4 Nach parteioffiziellen Angaben 4 5 fielen der Säuberungsaktion 150 696 Mitglieder oder Kandidaten zum Opfer. Was die Zahlen nicht zu erkennen gaben, waren die Folgen für die Betroffenen. Wer aus der Partei „entfernt" worden war, hatte mit Berufsverboten, sozialer Ächtung oder schlimmstenfalls mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen. Umgekehrt legten sich tiefes Mißtrauen und angstvoller Argwohn wie Mehltau über die SED - die innerparteiliche Atmosphäre unter Genossinnen und Genossen blieb auf Jahre hinaus vergiftet. Krisen und Konflikte im Vorfeld des Juni-Aufstands erreichten auch die Spitze der Partei. Noch war der Machtkampf, der im Politbüro der SED zwischen Walter Ulbricht einerseits, Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt andererseits ausgetragen wurde, nicht offen zutage getreten, wohl aber die Ausschaltung Franz Dahlems, der als Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK für Kaderfragen bis dahin einer der einflußreichsten Genossen in der SED gewesen war. Er fiel auf dem 13. Plenum des ZK den Intrigen Ulbrichts zum Opfer. Als dessen potentieller Widersacher wurde Dahlem unter dem Vorwand gestürzt, er habe in der Zeit seines Exils in Frankreich „gegenüber den Versuchen imperialistischer Agenten, in die Partei einzudringen, völlige Blindheit bewiesen". 4 6 Nach einer strengen Rüge wurde er aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen und verlor so auch seinen Sitz im Politbüro und im Sekretariat des ZK. Ursprünglich sollte Dahlem offenbar als Mitangeklagter in einen politischen Schauprozeß 4 7 einbezogen werden. Als Hauptangeklagter war nach allem, was darüber bekannt wurde, Paul Merker vorgesehen. Auch über ihn war auf dem 13. Plenum endgültig der Stab gebrochen worden. Altkommunist wie Dahlem, seit 1949 Mitglied des Politbüros und Staatssekretär im Ministerium für Landund Forstwirtschaft, war Merker zusammen mit anderen, weniger prominenten Genossen zwar schon durch Politbürobeschluß vom 31. August 1950 aller Funktionen entbunden und aus der SED ausgeschlossen 48 , zudem in die Provinz nach Luckenwalde „verbannt" worden, aber hier wurde er am 3. Dezem-

44

45 46

47 48

„Die Ergebnisse und Lehren aus der Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten und die sich daraus ergebenden Aufgaben", Entschließung des ZK der SED vom 20. Oktober 1951. In: Dokumente der SED, Bd. III, S. 589ff. Vgl. Otto Schön, „Zum Ergebnis der Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten". In: N D vom 7.5.1952. Vgl. dazu „Über die Auswertung des Beschlusses des Zentralkomitees zu den .Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky'". Beschluß des ZK der SED vom 14.5.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 3 9 4 - 4 0 9 . Vgl. dazu Weber, Schauprozeßvorbereitungen in der DDR, S. 479ff. Vgl. „Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zur Verbindung von Funktionären der SED mit amerikanischen Agenten". In: N D vom 1.9.1950.

Moskauer Mitverantwortung für die Politik der SED

29

ber 1952 festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt Berlin I (Hohenschönhausen) verbracht, die „deutsche Lubjanka". Was war geschehen? Wenige Tage zuvor war Merker im Prager Schauprozeß gegen Rudolf Slansky und andere - zu Unrecht - früherer Verbindungen zu dem Hauptangeklagten sowie zu Bedrich Geminder, einem weiteren Angeklagten, bezichtigt worden. Grund genug für die SED-Führung, ihn vor Gericht zu stellen. "Die Entlarvung und Unschädlichmachung von Agenten wie Merker ist für die Partei heute von größter Wichtigkeit", rechtfertigte Hermann Matern, Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission, die Verhaftung im Politbüro. „In der Periode des sozialistischen Aufbaus kann die Partei keine Abweichung, keine doppelten Meinungen in ihren Reihen dulden." 4 9 Daß im Zentralkomitee mit dem Verdikt über Paul Merker auch der „Fall" Franz Dahlem hochgespielt wurde, ließ Schlimmes befürchten. Rund zweieinhalb Jahre später, am 30. März 1955, wurde Merker in einem Geheimprozeß vom 1. Strafsenat des Obersten Gerichts zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt 5 0 , am 27. Januar 1956 jedoch überraschend auf freien Fuß gesetzt. Der ursprüngliche Plan, ihn zum Hauptangeklagten eines Schauprozesses zu machen, war an seiner mangelnden Geständnisbereitschaft, an seinem Widerstand in der Untersuchungshaft gescheitert - und indem sich die Vorbereitungen des Prozesses hinauszögerten, entfielen nach und nach, zumal unter dem Einfluß der Machtkämpfe und des Kurswechsels in Moskau nach dem Tode Stalins, auch die politischen Voraussetzungen eines Schauprozesses gegen Franz Dahlem. Indes machten die Auseinandersetzungen um die beiden Alt-Genossen die Krise in der Spitze der SED in den Monaten und Wochen vor dem Juni-Aufstand kenntlich. Von dem zu dieser Zeit schon schwelenden Konflikt mit der sogenannten Zaisser/Herrnstadt-Gruppe drang allerdings noch nichts an die Öffentlichkeit.

2.

Moskauer Mitverantwortung für die Politik der S E D

Die radikalen Eingriffe in die sozialökonomischen und politischen Strukturen der SBZ in der Nachkriegszeit waren, wie sich unter den seinerzeit gegebenen Machtverhältnissen von selbst versteht, von der Führung der KPD/SED nicht allein zu verantworten gewesen, wenngleich sie nicht nur Erfüllungsgehilfe oder Willensvollstrecker „ihrer" Besatzungsmacht war. In der strategischen Zielsetzung und im Willen zur Macht waren sich die deutschen Kommunisten und ihre sowjetischen Genossen grundsätzlich einig, auch wenn letztere in der Uniform der Roten Armee als Repräsentanten der Besatzungsmacht auftraten. Die Schlüsselfiguren der SED hatten ihre politische Prägung ohnehin während der Zeit ihres sowjetischen Exils erfahren - ihre Loyalität gegenüber J.W. Stalin war über jeden Zweifel erhaben. 49 50

Zitiert in Kießling, Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane, S. 7. Vgl. Beckert, Die erste und letzte Instanz, S. 194ff.

30

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Umgekehrt war Stalins politisches Denken in der Nachkriegszeit grundsätzlich von der Absicht bestimmt, dem von der Roten Armee besetzten Teil Deutschlands das Sowjetsystem aufzuzwingen. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte er seine Entschlossenheit dazu geäußert. „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit. Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann." 51 Die sowjetische Besatzungspolitik im Nachkriegsdeutschland hat den historischen Beweis dafür geliefert. Der Diktator im Kreml ist bis zu seinem Tode seiner Maxime treu geblieben. Gewiß bestand auch für Stalin das ursprüngliche Kriegsziel darin, gemeinsam mit den westlichen Alliierten den Nationalsozialismus zu vernichten sowie Deutschlands Militärmacht und Rüstungspotential zu zerschlagen - das war die historische Konsequenz aus dem Überfall Adolf Hitlers auf die Sowjetunion - , aber er verband diese Zielsetzung nach der deutschen Kapitulation vom 8. Mai 1945 mit der Installierung einer kommunistischen Herrschaft und leitete frühzeitig die ersten Schritte auf dem Wege zu einer „Revolution von oben" ein. Die von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland in der Nachkriegszeit durchgesetzten Umwälzungen an der sozialökonomischen Basis und im politischen Überbau schienen im übrigen durch die Entnazifizierung und Entmilitarisierung in Staat und Gesellschaft, wie sie die Alliierten der AntiHitler-Koalition intendiert hatten, als durchaus gerechtfertigt. Demgegenüber wichen die ursprünglichen Hoffnungen, die in der SBZ wie in den drei westlichen Besatzungszonen in die neue „antifaschistisch-demokratische Ordnung" gesetzt wurden, frühzeitig herber Enttäuschung. Schon bald warf der Gegensatz zwischen Propaganda und Realität kritische Fragen auf. Hatte die am 11. Juni 1945 unter dem Protektorat der Besatzungsmacht wiederbegründete KPD in ihrem Aktionsprogramm nicht ausdrücklich bekundet, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre? War sie nicht „für den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk" 52 eingetreten? Und hatte nicht die unmittelbar darauf folgende Zulassung demokratischer Parteien, nämlich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands durch die SMAD die Erwartung bestärken müssen, auch in Mittel- und Ostdeutschland besäße die parlamentarische Demokratie mit einem Mehr-Parteien-System eine Zukunft? Selbst nach der mehr oder minder erzwungenen Verschmelzung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands schien politischer Optimismus noch nicht gänzlich unbegründet, zumal in den „Grundsätzen und Zielen" der SED noch einmal ausdrücklich unterstrichen worden war: „Die 51 52

Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 146. Aufruf des ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11.6.1945, zitiert in Die SED, S. 530ff.

Moskauer Mitverantwortung für die Politik der SED

31

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands erstrebt den demokratischen Weg zum Sozialismus." 53 Indes war schon bald nicht mehr zu übersehen, daß der politische Neuaufbau in der SBZ unter dem Vorbehalt einer planmäßigen kommunistischen Machteroberung stand. Der politischen Ausschaltung der Sozialdemokratie als eigenständige Kraft in der SBZ durch Schaffung der SED und der Verfolgung oppositioneller Sozialdemokraten 5 4 folgte die Gleichschaltung der bürgerlichen Parteien im Wege der Blockpolitik, aber diese Entwicklung wurde unter wohlwollender Duldung oder mit aktiver Unterstützung der SMAD vollzogen, häufig auch durch ihr unmittelbares Eingreifen in innere Belange der Blockparteien. Die schon in der frühen Nachkriegszeit einsetzenden Verhaftungen vermeintlicher oder tatsächlicher politischer Gegner durch die sowjetische Geheimpolizei, durch „die Organe" des N K W D / M W D und des NKGB/MGB, sowie die nach mehreren Zehntausend zählenden Verurteilungen von „Klassenfeinden" aller Art durch die sowjetischen Militärtribunale erstickte alle Keime einer demokratischen Mit- und Selbstbestimmung. Von parlamentarischer Opposition, dem Lebenselixier jeder Demokratie, konnte schon in den 1946 gewählten Landtagen der fünf Länder in der SBZ keine Rede sein. Schließlich zerstoben mit der Transformation der SED zur stalinistischen Kaderpartei auch alle Illusionen von einem „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" 55 , wie ihn Anton Ackermann, ein führender KPDIdeologe aus der Moskauer Emigration, 1946 propagiert hatte. Zwei Jahre später mußte die SED, von Stalin vor dem Hintergrund des Konflikts mit Josip Broz Tito massiv unter ideologischen Druck gesetzt, ihren „falschen .Theorien' über einen .besonderen deutschen Weg zum Sozialismus"' 5 6 offiziell abschwören. 1949, im Geburtsjahr des „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden", war die Diktatur der SED, gestützt auf die Bajonette der Sowjetarmee, bereits weithin durchgesetzt. Die politische Interessenkongruenz, die von Anbeginn zwischen den deutschen und den sowjetischen Kommunisten gegeben war, hatte diese Politik ermöglicht. Auch die endgültige Entscheidung über die Gründung der DDR fiel in Moskau, nämlich als sich Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner in der Zeit vom 16. bis 28. September 1949 zu damals geheim gehaltenen Beratungen mit führenden Mitgliedern des Politbüros der KPdSU (B) im Kreml aufhielten. 57 Ohne Stalins Segen wäre die DDR nie aus der Taufe gehoben worden, was frei-

53 54 55 56

57

„Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands". In: Dokumente der SED, Bd. I, S. 7ff. Vgl. dazu Bouvier, Ausgeschaltet. Vgl. Ackermann, „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?". In: Einheit, Nr. 1 / 1 9 4 6 , S. 22ff. Vgl. „Die theoretische und praktische Bedeutung der Entschließung des Informationsbüros über die Lage in der KP Jugoslawiens und die Lehren für die SED." Entschließung des PV vom 16.9.1948. In: Dokumente der SED, Bd. II, S. lOOff. Vgl. Voßke, Otto Grotewohl, S. 241.

32

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

lieh nichts daran änderte, daß er sich ebenso wie die ihm nachfolgenden Führer der Sowjetunion stets allein von seinen imperialen Interessen leiten ließ. Auf der 2. Parteikonferenz war eine vorläufige Zäsur gezogen, die trotz aller gegenteiligen Bekundungen der SED erkennen ließ, daß der Aufbau des Sozialismus in der DDR die Spaltung Deutschlands unausweichlich vertiefen mußte. „Mit der Verkündung des Beschlusses zum Aufbau des Sozialismus machte die SED-Führung deutlich, daß eine Wiedervereinigung nur dann denkbar wäre, wenn ein sozialistisches Gesamtdeutschland entstehen würde" 5 8 Es konnte unter den seinerzeitigen Machtverhältnissen nicht anders sein, als daß die SED diesen Schritt nur im Einvernehmen mit der sowjetischen Führung hatte gehen können - was im übrigen dokumentarisch belegt ist. Nachdem die Führungsspitze der SED, verkörpert durch Ulbricht, Pieck und Grotewohl, bereits vom 1. bis 7. April 1952 wieder einmal zu Geheimgesprächen mit Stalin und anderen Sowjetführern in Moskau geweilt hatte, um die Situation in der DDR und die Politik der SED zu erörtern, richtete das Politbüro des ZK der SED am 2. Juli 1952 einen Brief an den „teuren Genossen Josef Wissarionowitsch Stalin", in dem es das Politbüros des ZK der KPdSU (B) zum Entwurf des Referats auf der 2. Parteikonferenz und „zu einigen grundlegenden Fragen" um eine Stellungnahme bat. 59 Es lohnt sich, die Kernsätze dieses Schreibens zu zitieren: „In der Wirtschaft wurde und wird die sozialistische Planwirtschaft entwickelt. Die ökonomische Grundlage sind die Betriebe sozialistischen Charakters (volkseigene und Genossenschaftsbetriebe), die Ende 1952 [sie!] 81 Prozent der Industrieproduktion erzeugen. In der Landwirtschaft sind die Bedingungen herangereift für die Schaffung von Produktionsgenossenschaften [...] Es sind damit die entscheidenden Voraussetzungen für den Übergang zum Aufbau des Sozialismus und die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der Landwirtschaft geschaffen." Damit war Politik der SED, wie sie auf der 2. Parteikonferenz inauguriert wurde, umrissen und vorweggenommen - und das Politbüro des ZK der KPdSU (B) war nicht nur in vollem Umfang darüber informiert, es hat durch Beschluß vom 8. Juli 1952 unmittelbar vor der 2. Parteikonferenz auch ausdrücklich seine Zustimmung erteilt. 60 Insoweit waren Stalin und die sowjetische Parteiführung politischformal mitverantwortlich für die fatalen Folgen, die der in Moskau sanktionierte Kurs nach sich zog, bis hin zum Aufstand des 17. Juni. Zweifellos hat Stalins Nachkriegspolitik in Europa auch die Politik der WestIntegration Konrad Adenauers provoziert. Rückblickend war die historische 58 59 60

Mitter, Der ,Tag X' und die .Innere Staatsgründung' der DDR, S. 35. Brief des Politbüros vom 2.7.1952, zitiert in DA, Nr. 7 / 1 9 9 1 , S. 698f.; das folgende Zitat ebd. Vgl. dazu den Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU (B) vom Mai 1953 „Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik", mit dem ein knappes Jahr nach der 2. Parteikonferenz eine Politik des Neuen Kurses eingeleitet werden sollte; Wortlaut zitiert in Stöckigt, Ein Dokument von großer historischer Bedeutung, S. 6 4 8 - 6 5 4 .

Moskauer Mitverantwortung für die Politik der SED

33

Möglichkeit, Deutschland als einheitlichen Staat zu erhalten, schon mit der Gründung beider deutscher Staaten für lange Zeit verwirkt. Demgegenüber desavouierte der offen proklamierte Übergang zum Sozialismus in der DDR die mit der vieldiskutierten Stalin-Note vom 10. März 1952 eingeleitete Politik als taktischen Versuch, die politische, wirtschaftliche und militärische WestIntegration der Bundesrepublik Deutschland zu konterkarieren. Die hermetische Abriegelung und Befestigung der Demarkationslinie zwischen beiden deutschen Staaten auf östlicher Seite, die von der Führung der SED gewollt, letztlich aber von der Sowjetischen Kontrollkommission befohlen worden war, unterstrich die Entschlossenheit der deutschen wie der sowjetischen Kommunisten, die Diktatur der SED zu sichern. Ein einheitliches Deutschland war für sie ausschließlich als sozialistischer Staat denkbar oder, mit den Worten der SED: „Der Sturz des Bonner Vasallenregimes ist die Voraussetzung für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands." 6 1 Auch das hatte die 2. Parteikonferenz beschlossen. Den Preis dafür hatte die Bevölkerung in der DDR zu zahlen. Sie wurde von den Verantwortlichen der SED im Schutze der sowjetischen Besatzungsmacht in den „Okkupationssozialismus" getrieben. Die Symptome einer politischen und ökonomisch-sozialen Krise, die, wie dargelegt, seit Herbst 1952 deutlich zutage traten, blieben allerdings auch den Sowjets nicht verborgen. Nachdem J.W. Stalin am 5. März 1953 gestorben war, wurden im Poker um die Macht die Karten in Moskau neu gemischt. Nicht alle Erben im Kreml sahen sich in der Kontinuität seines imperialen Denkens. Die nun einsetzenden Diadochenkämpfe schlugen auch auf die Deutschlandpolitik durch. Die Führung der SED bekam die Auswirkungen unmittelbar zu spüren. Wenige Wochen nach dem Tode Stalins hatte sie sich angesichts der sich dramatisch verschärfenden Versorgungskrise in der DDR mit dem Ersuchen um wirtschaftliche Unterstützung an „die Freunde" gewandt, aber außer der Aussetzung von Exportverpflichtungen und Reparationszahlungen der DDR wurde ihr aus Moskau keinerlei materielle oder finanzielle Hilfe zuteil. Statt dessen bedeuteten die neuen Männer in Moskau den deutschen Genossen, den harten Kurs zu mildern, aber Ulbricht schlug den Rat in den Wind. Erneut wurde Walter Ulbricht, als Generalsekretär der SED die politische Schlüsselfigur in der DDR, wie so häufig begleitet von Grotewohl und Oelßner, zum Rapport in den Kreml einbestellt. In geheimer Mission hielten sich die drei vom 2. bis 4. Juni 1953 in Moskau auf, wo es zu zwei Begegnungen mit L. P. Berija, N. A. Bulganin, N. S. Chruschtschow, L. M. Kaganowitsch, G. M. Malenkow, A. I. Mikojan und W. M. Molotow kam. Anwesend waren außerdem W. S. Semjonow, der am 29. Mai 1953 als Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland ernannt worden war, und Marschall A. M. Gretschko, der neue Oberkommandierende der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in 61

„Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus", Beschluß der 2. Parteikonferenz (9.-12.7.1952). In: Dokumente der SED, Bd. 4, S. 71.

34

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Deutschland. Den Vertretern der SED wurde kurzerhand eröffnet, daß sie in ihrer Politik einen prinzipiellen Kurswechsel zu vollziehen hätten. Der Aufbau des Sozialismus schien sozusagen vertagt zu werden. Die ökonomische und politische Krise im Staat der SED war in Moskau als so ernst eingeschätzt worden, daß sie Ende Mai 1953 Gegenstand einer Beratung im Präsidium 62 des ZK der KPdSU gewesen war. Das Ergebnis war ein förmlicher Beschluß „Über Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik." 63 Dieses damals selbstverständlich geheim gehaltene Dokument wurde der Delegation aus Ostberlin am ersten Tag mit dem Ersuchen einer schriftlichen Stellungnahme übergeben. Was die Genossen aus Ostberlin zu lesen bekamen, eine kritische Einschätzung der deutschen Situation, war wenig ermutigend. Schonungslos entwarfen die sowjetischen Kommunisten ein ungeschminktes Bild der Lage. Nichts wurde beschönigt. „Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ist in der Deutschen Demokratischen Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden. Unter den breiten Massen der Bevölkerung, darunter auch unter den Arbeitern, Bauern und der Intelligenz, ist eine ernst zu nehmende Unzufriedenheit zu verzeichnen in bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR durchgeführt werden. Das kommt am deutlichsten in der massenhaften Flucht der Einwohner der DDR nach Westdeutschland zum Ausdruck." Weder verschleierten die sowjetischen Kommunisten die Ursachen der Krise noch leugneten sie allerdings auch ihre Mitverantwortung. „Als Hauptursache der entstandenen Lage ist anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen." Natürlich war diese Analyse unzulänglich. Die der DDR aufgebürdeten Reparationsleistungen, die in Gestalt von Lieferungen aus der laufenden Produktion hatten aufgebracht werden müssen, waren zum Beispiel ebenso wenig erwähnt worden wie die von ihr aufzubringenden Besatzungskosten und vor allem die horrenden Kosten für die forcierte Militarisierung. Dennoch war das Resümee eindeutig: „Die politische und ideologische Arbeit, geführt unter der Lenkung der SED, entspricht nicht den Aufgaben der Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik. Insbesondere wurden ernste Fehler in bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflusses der 62 63

Auf dem XIX. Parteitag der KPdSU (B) im Oktober 1952 war das Politbüro des ZK aufgrund eines neuen Statuts in „Präsidium des ZK" umbenannt worden. Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU (B) vom Mai 1953 „Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik"; zitiert in Stöckigt, Ein Dokument von großer historischer Bedeutung, S. 651 ff.; die folgenden Zitate ebd.

Moskauer Mitverantwortung für die Politik der SED

35

Kirche unter den breiten Massen der Bevölkerung, in groben Administrierungsmaßnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden." Über die Reaktion der drei Spitzenfunktionäre aus Ostberlin hat Rudolf Herrnstadt, seinerzeit Kandidat des Politbüros u n d Chefredakteur des „Neuen Deutschland", in seinen geheimen, 1990 postum veröffentlichten Aufzeichnungen genau berichtet. Er referierte dabei den Bericht, den Oelßner nach der Rückkehr aus Moskau im Politbüro der SED erstattet hatte. „Die deutschen Genossen [...] hätten in ihrer Überraschung zunächst schüchtern widersprochen. Das aber hätte nur neue Erregung bei den sowjetischen Genossen hervorgerufen, die erklärten: Wir wollen nicht die Schuldfrage stellen, wir sind ebenso schuld wie Ihr - aber Ihr müßt einsehen u n d die Politik muß korrigiert werden. Die deutsche Delegation sei ersucht worden, bis zur nächsten Sitzung ihre Stellungnahme zum sowjetischen Dokument schriftlich auszuarbeiten. [...] Am Abend hätten die deutschen Genossen über der Ausarbeitung der Stellungnahme gesessen. Sie seien von der Notwendigkeit der Änderung innerlich noch nicht voll überzeugt gewesen. Am wenigsten Genosse Ulbricht". 6 4 In einer zweiten Z u s a m m e n k u n f t wurde die Stellungnahme als oberflächlich und formal verworfen. „Alle sowjetischen Genossen hätten das deutsche Dokument als unzulänglich zurückgewiesen. Besonders aggressiv habe sich Berija gebärdet, der Ulbricht das Dokument über den Tisch weg mit den Worten zugeworfen habe: ,Das ist ein schlecher Aufguß unseres Dokuments!' Die deutschen Genossen hätten zusagen müssen, ein zweites Dokument auszuarbeiten." 6 5 Das geschah. Bedrückt und verunsichert kehrte die dreiköpfige Delegation nach Ostberlin zurück. Hier wurde unverzüglich das Politbüro der SED zu Krisensitzungen einberufen. Es trat am 5. und 6. Juni 1953 zu vielstündigen Beratungen zusammen, in denen die Auseinandersetzungen im Kreml und der Beschluß des Präsidiums der KPdSU ausgewertet und erörtert wurden. Botschafter Semjonow nahm als H o h e r Kommissar aktiv daran teil. Natürlich war das Politbüro von dem radikalen Wechsel zum Neuen Kurs ebenso überrascht wie die Delegation in Moskau, aber wie gewohnt wurde auch diesmal der sowjetische „Ratschlag" übernommen. „Der sowjetische .Ratschlag' war nichts anderes als ein Befehl: Alle nahmen das Dokument in Bausch und Bogen a n . " 6 6 Im Ergebnis faßte das Politbüro der SED seinen Beschluß zu einer ausdrücklich auch so genannten Politik des Neuen Kurses. In seiner Konsequenz schien er auf eine Revision der auf der 2. Parteikonferenz gefaßten Beschlüsse hinauszulaufen. „Es handelt sich offensichtlich um einen Kurswechsel in einigen entscheidenden Fragen", war Oelßners Meinung, „der nicht nur die D D R betrifft. Was die sowjetischen Genossen vorschlagen, ist vollkommen richtig."67

64 65 66 67

Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument, S. 58. Ebd., S. 59. Vgl. dazu auch Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt, S. 174. Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument, S. 59f.

36

Geschichte

und historische Deutung des

Aufstands

Die Schilderung veranschaulicht einerseits den ungenierten Zugriff der Kreml-Herren auf die Entscheidungsfindung der SED auch nach Stalins Tod und andererseits deren unbedingte Gefügigkeit, den Gehorsam gegenüber Moskau. Umgekehrt ist allerdings auch daraus zu folgern, welche Mitverantwortung für den Ausbruch des Juni-Aufstands Moskau zukommt. Fraglos hat der schroffe Wechsel zum Neuen Kurs, der der Politbürokratie der SED aufgenötigt worden war, ohne ihr die Zeit zu einer ideologischen Vorbereitung der Partei zu lassen, den 17. Juni wesentlich mitprovoziert.

3.

Die Politik des N e u e n Kurses u n d der 17. Juni

Die Politik des Neuen Kurses wurde am 9. Juni 1953 in einem Kommunique des Politbüros publik gemacht. Darin wurde - gegen Ulbrichts Rat - die Politik der Partei vorbehaltlos und mit ungewöhnlicher Offenheit als fehlerhaft kritisiert und ihre Folgen einschließlich der Republikflucht zur Sprache gebracht. Zahlreiche Beschlüsse von Partei und Regierung wurden zurückgenommen. Ausdrücklich räumte das Politbüro ein, „daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurde, die ihren Ausdruck in Verordnungen und Anforderungen gefunden haben, wie z. B. der Verordnung über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steuererhebung usw. Die Interessen solcher Bevölkerungsteile wie der Einzelbauern, der Einzelhändler, der Handwerker, der Intelligenz wurden vernachlässigt. Bei der Durchführung der erwähnten Verordnungen und Anordnungen sind außerdem ernste Fehler in den Bezirken, Kreisen und Orten begangen worden. Eine Folge war, daß zahlreiche Personen die Republik verlassen haben." 6 8 Zwei Tage später, durch Beschluß des Ministerrates vom 11. Juni 1953, wurde der Neue Kurs offiziell zur Regierungspolitik erhoben. Durch Ministerratsbeschluß wurde gleichsam rechtsverbindlich, was das Politbüro „empfohlen" hatte. Zu den Regierungsmaßnahmen, „durch welche die auf den verschiedenen Gebieten begangenen Fehler der Regierung und der staatlichen Verwaltungungsorgane korrigiert werden" sollten, zählten die Rücknahme der Preiserhöhungen, die Ausgabe von Lebensmittelkarten „wie früher", die Aussetzung aller Zwangsmaßnahmen bei der Eintreibung von Steuern, die Rückgabe „devastierter Betriebe", und „republikflüchtige Personen" sollten bei Rückkehr in die DDR in ihre Rechte wieder eingesetzt werden. 6 9 Einen Tag zuvor, am 10. Juni, war es bereits zu einer Spitzenbegegnung von Regierung und evangelischer Kirche gekommen, an der Ministerpräsident Otto Grotewohl, Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser, Volksbildungsminister 68 69

Kommunique des Politbüros vom 9. 6.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 428. Kommunique des Ministerrates der DDR vom 11.6.1953. In: ND vom 12.6.1953.

Die Politik des Neuen Kurses und der 17. Juni

37

Paul Wandel und andere Funktionsträger auf der einen Seite, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Otto Dibelius, Propst Heinrich Grüber und die mittel- und ostdeutschen evangelischen Landesbischöfe auf der anderen Seite teilnahmen, um über eine Entspannung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der DDR zu beraten. Alle administrativen Einschränkungen und politischen Repressionen, die seit der 2. Parteikonferenz der SED die kirchliche Arbeit belastet hatten, sollten zurückgenommen werden. 7 0 Rudolf Herrnstadt, damals Chefredakteur des „Neuen Deutschland" und Kandidat des Politbüros, der übrigens den Wortlaut des Kommuniques über den Neuen Kurs entworfen hatte, faßte seine Intentionen auf einer Sondersitzung des Politbüros am 13. Juni in der Erkenntnis zusammen, „daß der Kurs auf beschleunigten Aufbau des Sozialismus in der DDR, wie er in den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz festgelegt wurde, falsch ist, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Der Versuch, den falschen Kurs durchzuführen, hat zu beträchtlichen Schwierigkeiten geführt und das Band zwischen Partei und Massen gelockert. Das Verlassen des falschen Kurses und das Beschreiten des richtigen Kurses wird einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR herbeiführen, die Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung entschieden verbessern und die Verbindung der Partei mit den Massen enger gestalten als je zuvor." 71 Es war eine Illusion. Der Neue Kurs vermochte die dramatische Zuspitzung der Krise nicht mehr abzuwenden. Eher verschärfte er sie, weil die Partei, „die immer Recht hat", erstmals gravierende Fehler eingeräumt und so die Genossinnen und Genossen um ihre Selbstsicherheit gebracht hatte. Sie reagierten irritiert und wollten nicht glauben, daß widerrufen und verworfen wurde, woran sie selber bis dahin geglaubt hatten und wofür sie eingetreten waren. Der politische Mißerfolg des Neuen Kurses war im übrigen aus einem besonderen Grunde quasi vorprogrammiert. Während den Bauern, den Kleinunternehmern, Gewerbetreibenden und Handwerkern Zugeständnisse gemacht wurden, sah sich gerade die Arbeiterschaft, „die herrschende Klasse", durch den Neuen Kurs um ihre Erwartungen und Hoffnungen getrogen. Ausgerechnet die administrative Erhöhung der Arbeitsnormen, die die arbeitenden Menschen aufgebracht hatte, wurde nicht zurückgenommen. Den vielzitierten Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, lieferte schließlich die „Tribüne", denn als die Arbeiter auf Baustellen und in Betrieben am 16. Juni 1953 in dem Gewerkschaftsblatt einen Leitartikel von Otto Lehmann, Sekretär beim Bundesvorstand des FDGB, zu Gesicht bekamen, mußten sie dessen Kernsätze geradezu als Provokation empfinden. „Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Kommuniques des Politbüros und des Ministerrates von 9. bzw. 11. Juni 1953 wird in einigen Fällen die Frage gestellt,

70 71

Vgl. dazu Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 122ff. Zitiert in Müller-Enbergs: „Wir faulen in den Sozialismus", S. 53.

38

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

inwieweit die Beschlüsse über die Erhöhung der Arbeitsnormen noch richtig sind und aufrechterhalten bleiben. Die Beschlüsse über die Erhöhung sind in vollem Umfang richtig." 72 Nach allem Unmut, der sich in den vorausgegangenen Wochen und Monaten aufgestaut hatte, zumal in der Auseinandersetzung um die Erhöhung der Arbeitsnormen, rief dieser Artikel Widerspruch und Empörung hervor. Otto Nuschke, seinerzeit Vorsitzender der DDR-CDU und stellvertretender Ministerpräsident, brachte seine Wirkung auf den Punkt: „Das ist der Zünder gewesen für die Erregungswelle". 73 In der Tat, das zeigte sich binnen weniger Stunden, hatte der Artikel wesentlich dazu beigetragen, daß die bis dahin allenthalben in Ostberlin und der Provinz punktuell aufflackernden Arbeitsniederlegungen und Proteste in Massenstreiks und Massenaktion umschlugen und vierundzwanzig Stunden später zum Aufstand eskalierten. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang, daß auf der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain schon am 15. Juni die Arbeit niedergelegt worden war, und zwar nicht spontan, sondern geplant. Der Beschluß dazu war auf einer Dampferfahrt auf der Spree zum Müggelsee zwei Tage zuvor gefaßt worden, die ursprünglich als geselliger Ausflug für mehrere hundert Bauarbeiter organisiert worden war. Verteilt auf zwei Schiffe der „weißen Flotte" mit den sinnigen Namen „Seid bereit" und „Triumph" erreichten sie das Ausflugsziel die Gaststätte „Rübezahl". Hier fiel die Entscheidung für einen Streik. Nachdem ein Gewerkschaftsfunktionär eine humoristische Ansprache gehalten und ein Bauleiter für die protokollarische Begrüßung gesorgt hatte, stieg der Brigadeleiter Alfred Metzdorf in guter Stimmung auf den Tisch und rief alle Teilnehmer dazu auf, Montag früh - also am 15. Juni - in den Streik zu treten. Der fröhliche Betriebsausflug war zur hochpolitischen Streikversammlung mutiert. „Die Heimfahrt diente der weiteren Verabredung mit Leuten vom Block 40 und anderen Baustellen. Das Losungswort am Montag sollte lauten: .Aktion Dampferfahrt'. Die Stimmung stieg mit dem Uhrzeiger und mit dem Bierkonsum. Es gab heftigen Wortwechsel, auch Streit mit SEDisten." 74 Die Dampferfahrt war für die Geschichte des Streikausbruchs in der Stalinallee und damit des 17. Juni insofern erheblich, als am Morgen des 15. Juni am Friedrichshain tatsächlich gestreikt wurde. Die Kollegen verfertigten auf einer Versammlung der Baustelle Krankenhaus eine Entschließung mit der Forderung nach Senkung der Normen. Sie sollte Grotewohl überreicht werden. Der BGL-Vorsitzende Max Fettling sowie ein Kollege konnten den Text tatsächlich auch im Büro des Ministerpräsidenten übergeben, während der Streik weiterging. „Je zwei Vertreter von Block 40 Stalinallee und von der Baustelle Staatsoper nahmen an der Versammlung teil und brachten Durchschläge des verab72 73 74

Otto Lehmann, „Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen". In: Tribüne vom 16.6.1953. Otto Nuschke am 17.6.1953 in einem RIAS-Interview; zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift, S. 45. Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 41.

Die Politik des Neuen Kurses und der 17. Juni

39

schiedeten Textes auf die eigenen Baustellen, um darüber zu beraten und ebenfalls in Streik zu treten. Die .Aktion Dampferfahrt' funktionierte." 7 5 Durch Kuriere und telefonisch wurden Nachbarbaustellen informiert. In der Frühe des 16. Juni erschien auf der Baustellen des Krankenhauses Friedrichshain kein Geringerer als der Vorsitzende der IG Bau-Holz im FDGB, Franz Jahn, aber statt sich mit den Bauarbeitern zu solidarisieren, erklärte er den Kollegen, „daß an dem Beschluß des Ministerrates der DDR zur Erhöhung der Normen nicht zu rütteln sei." 76 Als die Maurer und Zimmerleute in Ostberlin auf ihren Großbaustellen im Friedrichshain und in der Stalinallee davon erfuhren und den Leitartikel in der „Tribüne" zu lesen bekamen, reagierten sie wie selbstverständlich mit dem Entschluß, aus Protest die Arbeit niederzulegen. Daß die Initiative dazu gerade von den Bauarbeitern ausging, war kein Zufall. Auf einer Parteiaktivtagung hatten sich die in einer besonderen Grundorganisation zusammengeschlossenen Genossen der SED unter den Bauarbeitern in der Stalinallee und auf anderen Baustellen in Ostberlin verpflichtet, „ihre Brigaden bis zum 1. Mai für eine durchschnittliche Normenerhöhung von 15 Prozent zu gewinnen." Mit dem Wirksamwerden dieser Verpflichtung zum 1. Juni stellte sich heraus, daß sie „für einen Facharbeiter die Schrumpfung seines wöchentlichen Prämienlohnes von 168 DM Ost auf 72 DM Ost" zur Folge hatten. „Der Wochenlohn weiblicher Bauhilfsarbeiter verringerte sich von 52,80 DM Ost auf 46 DM Ost." Erneut wurde eine Resolution entworfen und beschlossen, sie in der Zentrale des FDGB zu überreichen, im Gewerkschaftshaus in der Wallstraße in Berlin-Mitte. Wie beschlossen, so geschehen. Auf dem Marsch dorthin schwoll der Zug der Bauarbeiter von der Stalinallee zu einer mächtigen Demonstration an. Hunderte von Maurern und Zimmerleuten anderer Baustellen solidarisierten sich mit ihren Kollegen. Als die Arbeiter die Zentrale des FDGB verriegelt und verschlossen fanden, zogen sie weiter zum „Haus der Ministerien" in der Leipziger Straße. Die unterwegs immer wieder aus vielen Kehlen skandierten Sprechchöre „Kollegen, reiht euch ein - wir wollen keine Sklaven sein" entsprachen genau der Stimmungslage. Das alles geschah am späten Vormittag des 16. Juni. 77 Bis gegen Mittag hatte sich eine nach Tausenden zählende, erregte Menschenmenge angesammelt. Längst hatten sich den aufgebrachten Bauarbeitern Aberhunderte von Berlinern angeschlossen. Die Sprechchöre schwollen lautstark an. „Nieder mit den Normen" - das war eine der ersten Losungen, aber sie politisierten sich zusehends. „Rücktritt der Regierung", hieß es zuletzt, und: „Freie Wahlen". Spontan wurden Reden gehalten. Während vor dem „Haus der Ministerien" Fritz Selbmann, damals Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, und der spätere Regimekritiker Robert Havemann, damals noch ein linientreuer Stalinist, vergeblich versuchten, zu den Demonstranten zu sprechen, heizte sich die 75 76 77

Ebd., S. 41 f. Zitiert in ebd., S. 42; die folgenden Zitate ebd. Vgl. dazu auch Hagen, DDR - Juni 53, S. 35ff.; vgl. auch Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 5 5 ff.

40

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Stimmung auf. Die Demonstranten verlangten nach Ulbricht und Grotewohl, die sie im „Haus der Ministerien" vermuteten. Tatsächlich waren sie hier nicht anwesend, sondern berieten sich in diesen Stunden wie an jedem Dienstag in der turnusmäßigen Sitzung des Politbüros der SED im „Haus der Einheit" in der Wilhelm-Pieck-Straße. Das höchste Führungsgremium der SED trat an diesem 16. Juni bereits zu seiner siebten Sitzung seit Monatsbeginn zusammen. Die ihm vorliegende Tagesordnung umfaßte fünf Punkte: „1. Protokollbestätigung. 2. Geburtstage der Genossen Matern, Zaisser und Ulbricht. 3. Zur Frage der Arbeitsnormen. 4. Zur Lage in Berlin. 5. Veröffentlichung einer Erklärung des Genossen Pieck." 78 Am späten Vormittag wurden die führenden Genossen über den sich formierenden Demonstrationszug in Kenntnis gesetzt, woraufhin sie die Sitzung vorübergehend unterbrachen. Obwohl auf dem Laufenden gehalten, begriffen sie offenbar den Ernst der Situation nicht. Erst als Heinz Brandt, damals Sekretär für Agitation in der Bezirksleitung der SED, der unterwegs in Ostberlin Augenzeuge der Demonstration geworden war, zur Sitzung des Politbüros geeilt kam und Hans fendretzky, damals 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED und Kandidat des Politbüros, sowie Rudolf Herrnstadt aus der Sitzung hatte herausrufen lassen, erst als sie so erfuhren, was sich auf den Straßen des „demokratischen Sektors" von Berlin mittlerweile abspielte - erst da, nach langem Zögern, besann sich das Politbüro zur Vernunft und beschloß am frühen Nachmittag endlich doch die Rücknahme der Normenerhöhung. Der Beschluß war umständlich und gewunden formuliert. Das Politbüro bekräftigte „anläßlich von Anfragen der Arbeiter einer Reihe von Betrieben und Baustellen zur Frage der Erhöhung der Arbeitsnormen" seine Auffassung, „daß die Initiative der fortgeschrittensten Arbeiter, die freiwillig zur Erhöhung der Arbeitsnormen übergegangen sind, ein wichtiger Schritt auf dem Wege zum Aufbau eines neuen Lebens ist", aber es ließ auch dies verlauten: „Das Politbüro hält es zugleich für völlig falsch, die Erhöhung der Arbeitsnormen in den Betrieben der volkseigenen Industrie um 10 Prozent auf administrativem Wege durchzuführen." Die Erhöhung der Arbeitsnormen dürfe und könne „nicht mit administrativen Methoden durchgeführt werden, sondern einzig und allein auf der Grundlage der Überzeugung und der Freiwilligkeit." 79 Die Hoffnung, das Geschehen auf diese Weise unter Kontrolle zu halten, war trügerisch. Das galt auch für die weitere Vorgehensweise, zu der es unter Punkt 4 in dem von Grotewohl unterzeichneten Protokoll hieß: „Für heute abend 20.00 Uhr wird eine Sitzung des Berliner Parteiaktivs einberufen, an der alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros teilnehmen und die Genossen Grotewohl und Ulbricht sprechen sollen." 80 78 79 80

Protokoll Nr. 3 6 / 5 3 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 16.6.1953, SAPMO-Barch, DY 3 0 / 1 I V / 2 / 2 / 2 9 0 , Bl. 1. „Erklärung des Politbüros zur Normenfrage". Beschluß des Politbüros vom 16.6.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 4 3 2 . Ebd.

Die Politik des Neuen Kurses und der 17. Juni

41

Obwohl Heinz Brandt nach dem Beschluß des Politbüros unverzüglich in die Leipziger Straße geeilt war und bei den hier inzwischen zu mehreren Tausend versammelten Arbeitern und Demonstranten eindringlich zu vermitteln versuchte, drang er mit seiner Botschaft nicht durch. Statt dessen kam die Losung des Generalstreiks auf. Daran änderte sich auch in den folgenden Stunden nichts. Obwohl die Rücknahme der Normenerhöhung fortgesetzt über Lautsprecherwagen in den Straßen verlautbart wurde, obwohl der Politbüro-Beschluß am Nachmittag und frühen Abend immer wieder auch über den (Ost-)Berliner Rundfunk verbreitet wurde, blieb jede beschwichtigende und beruhigende Wirkung aus. Dagegen ist über den Westberliner Sender RIAS ein Aufruf zum Generalstreik nicht verbreitet worden. Die Leitung des Senders hatte dazu ein striktes Verbot erlassen. Allerdings ist die Aufforderung zum Generalstreik als Meldung im Nachrichtendienst des Senders mehrfach aufgetaucht. Um 16.30 Uhr strahlte der RIAS den ersten ausführlichen Bericht über die Vorgänge in Ostberlin aus. Der Bericht, der im Wortlaut dokumentiert ist, vermeldete korrekt, daß der Hauptteil der Streikenden und Demonstranten gegen 15 Uhr die Versammlung vor dem Regierungsgebäude verlassen hätte und durch die Leipziger Straße in Richtung Alexanderplatz abgezogen sei. „In Sprechchören wurde immer wieder die Forderung auf freie Wahlen gestellt, während einzelne zum Generalstreik aufriefen." 8 1 Als am Nachmittag im RIAS-Funkhaus an der Kufsteiner Straße im Bezirk Schöneberg, damals amerikanischer Sektor, eine mehrköpfige Delegation von Bauarbeitern aus der Stalinallee mit einem Resolutionsentwurf erschien mit der Aufforderung, „der RIAS solle zum Aufstand in der Zone aufrufen", lehnte Egon Bahr, damals Chefredakteur des RIAS, dies selbstverständlich ab. „Ich sehe sie noch vor meinem Schreibtisch mit den leuchtenden Augen des revolutionären Feuers. Ich fragte, ob es irgendwelche Vorbereitungen gäbe, irgendwelche Verbindungen zu anderen Städten, irgendeine Organisation. Sie verneinten; das spiele keine Rolle, dem Aufruf würden die Massen folgen. Aber ich wußte, daß es ohne Organisation keine Revolution geben kann. Außerdem: Mit welchem Recht durften wir Menschen zu Taten aufrufen, die erfolglos bleiben müßten und denen wir danach nicht würden helfen können? Es war zudem zweifelhaft, ob die Amerikaner zustimmten; denn in einer solchen Situation konnten wir nicht hinter ihrem Rücken handeln." 8 2 Wahrscheinlich ist Bahrs Erinnerung in diesem Punkt irrig, insoweit die Ostberliner Bauleute nicht zum „Aufstand", sondern zum „Generalstreik" hatten aufrufen wollen, aber wie auch immer, sie zeigten sich enttäuscht. „Wir hatten sie etwas beruhigt, indem wir mit ihnen zusammen ihre Forderungen formulierten, fünf oder sechs Punkte aufschrieben und ihnen zusagten, wir würden diese Forderung(en) des Streikkomitees senden." 8 3 Das ist tatsächlich auch geschehen, wie Manfred Rexin präzise recherchiert hat: „Die amerikani81 82 83

Zitiert in Der Aufstand der Arbeiterschaft im Ostsektor von Berlin, S. 3. Bahr, Zu meiner Zeit, S. 78. Ebd.

42

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

sehe Leitung des Senders und die verantwortlichen Deutschen entschieden, ihre Besucher nicht selbst zu den Hörern sprechen zu lassen, sondern ihr Erscheinen und ihre Forderungen zum Gegenstand ausführlicher Nachrichtensendungen zu machen, deren erste um 16.30 Uhr ausgestrahlt wurde. Die vorbereitete Programmplanung wurde durch aktuelle Sendungen ersetzt. Ewing 84 wies nach telefonischer Rücksprache mit der Hohen Kommission in Mehlem bei Bonn gegen 18 Uhr die Redakteure an, das Wort .Generalstreik' konsequent zu vermeiden. Was nun in allen Nachrichtensendungen zitiert wurde, waren die vier Hauptforderungen aus einem Resolutionsentwurf, den die Abgesandten der streikenden Bauarbeiter mitgebracht hatten." 8 5 Bahr dürfte die Rolle des RIAS am 17. Juni im übrigen überschätzen und neuer Legendenbildung Vorschub leisten, wenn er über die Ausbreitung des Aufstands in der DDR nicht ohne Eitelkeit schreibt: „Überall waren die Forderungen, die wir in meinem Zimmer mit der Streikleitung aus der Stalinallee formuliert hatten, und zwar auch in dieser Reihenfolge, übernommen worden. Gerade weil es keine Organisation gegeben hatte, war unbestreitbar: Der RIAS war, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, zum Katalysator des Aufstandes geworden. Ohne den RIAS hätte es den Aufstand so nicht gegeben." 86 Zumindest muß das Wörtchen „so" in Bahrs Resümee dick unterstrichen und daran erinnert werden, daß erstens dieselben Forderungen bereits erhoben worden waren, noch ehe sie der RIAS propagiert hatte, und daß sie zweitens außerhalb Berlins keineswegs in derselben Reihenfolge verfochten, sondern mit anderer Priorität erhoben und vielfach um spezifische Forderungen der Region ergänzt wurden. Allerdings trafen die Forderungen, wie sie in den Nachrichten des RIAS aufgegriffen worden waren, auch in Sachsen und anderen Teilen des Landes auf eine streikbereite Stimmung der Arbeiter. Sie war hier nicht anders als in Ostberlin. Im Gegensatz zu späteren Behauptungen in der Agitation der SED, der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, hätte zu den „Drahtziehern" des Juni-Aufstands gehört, hat er tatsächlich zur Besonnenheit gemahnt. Er war am 16. Juni gar nicht in Berlin, sondern in Bonn. Von dort übermittelte er dem RIAS einen auf Tonband aufgezeichneten kurzen Aufruf, der erst am späten Abend gesendet wurde. Es war ein von Verantwortungsbewußtsein getragener Aufruf zur Ruhe, der eben deshalb Enttäuschung auslöste: „Die Demonstrationen der Bevölkerung in Ostberlin können niemanden überraschen, der die unhaltbaren Zustände des sowjetzonalen Regimes kennt. Trotzdem richte ich an jeden einzelnen Ostberliner und an jeden Bewohner der Sowjetzone die Mahnung, sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und 84 85 86

Görden Ewing war zu dieser Zeit stellvertretender amerikanischer Direktor von RIAS Berlin. Rexin, Der 16. und 17. Juni 1953 in West-Berlin, S. 990. Bahr, Zu meiner Zeit, S. 80.

Die Politik des Neuen

Kurses

und der 17. Juni

43

seine Umgebung in Gefahr bringen [...]. Wir wissen den Sinn und den Mut Eurer Demonstrationen zu würdigen; wir bitten Euch aber, im Vertrauen auf unsere Solidarität Besonnenheit zu wahren." 8 7 Anders als die führenden Männer der SED hatte Jakob Kaiser, der erst im Laufe des folgenden Tages von Bonn nach Westberlin geflogen kam, die politische Brisanz der Situation in Berlin sofort erfaßt. Am Abend dieses unruhigen 16. Juni, als die Demonstrationen in Ostberlin weithin abgeebbt waren, als allenthalben nur noch in Gruppen im Zentrum der für den nächsten Tag erwartete Generalstreik diskutiert wurde, trat wie beschlossen das für 20 Uhr einberufene Berliner Parteiaktiv der SED im Friedrichstadtpalast zu einer „Großkundgebung mit dem Politbüro" zusammen. Von den beiden Hauptrednern nahm Otto Grotewohl vor etwa dreitausend Funktionären und Aktivisten der Partei als erster das Wort, um die Politik des Neuen Kurses zu propagieren und die Aufhebung des Normenbeschlusses zu begründen. Der Ministerpräsident zeigte sich am Rednerpult selbstkritisch: „Die Methode des Administrierens, der polizeilichen Eingriffe und die Schärfe der Justiz ist falsch und erstickt schöpferische Kräfte eines Volkes. Das zeigte uns die darauf einsetzende Wirkung: die Einschränkung der allgemeinen Versorgung, die Einengung und zerstörende Wirkung auf Einzelhändler und Mittelstand, die Flucht der Bauern nach dem Westen Deutschlands und das berechtigte Anwachsen der Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft". 88 Grotewohl, ein geübter Redner, fügte etwas blauäugig hinzu: „Wenn sich Menschen von uns abwenden, wenn neben der staatlichen und der wirtschaftlichen Spaltung noch die menschlichen Beziehungen zwischen den Deutschen zerrissen werden, dann ist diese Politik falsch. Daraus muß man unerschrocken und entschieden alle Schlußfolgerungen ziehen. Die Vorhut der deutschen Arbeiterklasse hat sich von den Massen gelöst". Danach ergriff Ulbricht das Wort, der Mann, der für die entstandene Lage in der Hauptsache verantwortlich war. Auch er gestand „ernste Fehler" ein, „eine Reihe fehlerhafter Maßnahmen", 8 9 verlor indes kein Wort über seinen möglichen Rücktritt. Vielmehr sprach er davon, daß es „nach wie vor richtig" wäre, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, aber es sei eben falsch, „auf administrativem Wege Normenerhöhungen zu verfügen." Das stimmte mit dem einschlägigen Politbürobeschluß überein. Auf die Ereignisse des Tages eingehend, ereiferte sich der Parteichef über „eine Gruppe von Bauarbeitern und Elemen-

87 88

89

Erklärung des Herrn Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, Denkschrift, S. 79. Otto Grotewohl vor dem Parteiaktiv der SED-BL Groß-Berlin am Abend des 16.6.1953, zitiert nach einer Originaltonaufzeichnung in der Dokumentation „17. Juni 1953. Der Aufstand" von Karl Wilhelm Fricke, Teil I, gesendet im Deutschlandfunk am 16.6.1993. N D fälschte den Satz am Tage danach folgendermaßen um: „Die Vorhut der deutschen Arbeiterklasse muß sich noch fester mit den Massen vereinigen." Zitiert in Hagen, DDR - Juni 53, S. 55; die folgenden Zitate ebd.

44

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

ten, Provokateuren, die aus Westberlin gekommen sind", und meinte wörtlich: „Es soll niemand glauben, daß die Partei des werktätigen Volkes durch solche Geschichten die Nerven verliert! (Beifall) Es wurden Fehler gemacht, jawohl. Die Erklärung des Politbüros wird morgen in der Presse veröffentlicht. Die entsprechenden Maßnahmen sind angeordnet. Und jetzt steht die Frage, daß wir die Lektion, die wir heute bekommen haben, uns richtig zu Gemüte führen und die Schlußfolgerungen ziehen: Morgen tiefer in die Massen! (Beifall) [...], wir gehen über zur Mobilisierung der gesamten Partei bis zum letzten Mitglied (Beifall). Wir gehen über dazu, daß alle Parteiorganisationen in den Betrieben, in den Wohngebieten, in den Institutionen morgen früh beizeiten ihre Arbeit beginnen und daß man überall auch aufpaßt: Wo sind die Westberliner Provokateure? (Bravo-Rufe, Beifall)." Eine für Ulbricht typische Rede, aber weder er selber noch die Spitze der Partei überhaupt ahnten an diesem schicksalsschweren Abend offenbar, welche Erschütterung dem Regime der SED bevorstand. Das Drama eines Aufstands hatte begonnen, aber Grotewohl und Ulbricht wußten die Zeichen an der Wand nicht zu deuten. Sie glaubten die Krise der DDR unter Kontrolle zu haben.

4.

Der Verlauf des Juni-Aufstands

Zu dem Geschehen während der Tage um den 17. Juni 1953 in Sachsen hat Heidi Roth in der vorliegenden Monographie mit Akribie eine fundierte Darstellung erarbeitet. Ihre Untersuchung bestätigt, daß unbeschadet vereinzelter Warnstreiks der Aufstand in Sachsen nicht ohne das Fanal aus Berlin denkbar gewesen wäre - ein historischer Sachverhalt, dem auch die Juni-Erfahrung in den Städten und Bezirken Cottbus, Frankfurt/Oder, Gera, Halle, Magdeburg, Potsdam und Rostock entspricht. Verschiedentlich traten die Arbeiter unter ausdrücklichem Bekenntnis zur Solidarität mit ihren Berliner Kollegen in den Streik. Nach offiziellen Angaben Grotewohls sollte am 17. Juni 1953 in 272 Städten und Ortschaften der DDR gestreikt worden sein. Nach Öffnung der Archive zeigte sich jedoch, daß diese Zahl bewußt gefälscht worden war. Nach jüngsten Forschungen sind im einzelnen Streiks, Demonstrationen, Gewalttätigkeiten und Unruhen in mindestens 563 Städten und Ortschaften nachgewiesen nicht gerechnet eine Reihe von Ereignisorten, die anhand der Archivalien nicht mehr identifiziert werden können. 90 Die Zahl veranschaulicht, daß der Aufstand die DDR „in weitaus stärkerem Maße als bislang angenommen erfaßt" 91 hatte. In Ostberlin begann der 17. Juni 1953, ein schwüler, gewittriger Regentag, mit Belegschaftsversammlungen in zahlreichen Betrieben und auf Baustellen.

90 91

Vgl. Kowalczuk/Mitter, Orte des Widerstandes, S. 335-343 Ebd., S. 335.

Der Verlauf des Juni-Aufstands

45

Die Frühschicht hatte die Arbeit häufig erst gar nicht mehr aufgenommen. Der Streik auf den Großbaustellen der Stalinallee und die Demonstration der Bauarbeiter vor dem „Haus der Ministerien" tags zuvor hatte die Arbeiter in höchstem Maße aufgebracht und zu offenem Protest angestachelt, so daß die Losung des Generalstreiks allenthalben bereitwillig aufgenommen wurde. Die Arbeiter begriffen spontan und instinktiv, daß sie eine politische Kraft sind, wenn sie ihren Willen in gemeinsame Aktion umsetzen. Hitzige Diskussionen bestimmten das Bild in den frühen Morgenstunden. Vergeblich versuchten Partei- und Gewerkschaftsagitatoren, die Streikenden zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen und die Eskalation zum Aufstand zu bremsen. Trotz strömenden Regens rückten die Arbeiter zu Tausenden in das Ostberliner Zentrum, zum Strausberger Platz. Aus den industriellen Außenbezirken zogen streikende und demonstrierende Arbeiter heran, allein aus Hennigsdorf im Norden Berlins an die zwölftausend, zumeist Facharbeiter aus dem dortigen VEB Stahl- und Walzwerk und dem VEB Lokomotiv- und Eisenbahnwaggonbau „Hans Beimler", ferner Bauarbeiter der verschiedenen BauUnionen. Ihr Weg führte sie durch mehrere Westberliner Stadtbezirke, u. a. durch den „roten Wedding", damals zum französischen Sektor gehörig, zum damaligen Marx-Engels-Platz. Berlin war zum Brennpunkt des Aufstands geworden, aber bis zu den Mittagsstunden des 17. Juni hatte die Streikstimmung auch die wichtigsten Industriereviere der mittel- und ostdeutschen Regionen erfaßt. Vor allem der RIAS, der Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin, aber ebenso der Nordwestdeutsche Rundfunk und andere „Westsender", wie die Menschen in der DDR damals sagten, trugen die Nachricht vom Streik in Ostberlin in alle Teile der Republik. Reisende aus Ostberlin brachten sie mit in die Bezirke und Kreise, in den Nacht- und Morgenstunden wurde die Losung vom Generalstreik auch durch das interne Betriebsfernsprechnetz der „Reichsbahn" weiterverbreitet, zumeist verbunden mit einem Aufruf zu Solidaritätsaktionen. Wie unmittelbar Solidarität mit den Streikenden in Ostberlin geübt wurde, ließ ein Transparent in der Messestadt Leipzig mit dem Bekenntnis erkennen: „Wir erklären uns solidarisch mit Berlin". 92 Streikstimmung und Streikbereitschaft dehnten sich so auf weite Industrieregionen zwischen Ostsee und Thüringer Wald aus. In Ostberlin waren um die Mittagsstunde nahezu alle „volkseigenen" Großbetriebe bestreikt. Arbeitsniederlegungen waren auch aus Brandenburg/ Havel, Hennigsdorf, Kirchmöser und Ludwigsfelde, aus Potsdam und Rathenow, aus Cottbus, hernach, um wenige Stunden zeitversetzt, auch aus Rostock, aus Magdeburg und Gommern, aus Halle und Merseburg, Bitterfeld und Wolfen zu registrieren, vor allem aber auch aus Leipzig und Delitzsch, aus Dresden, Niesky, Görlitz, aus Erfurt, Gotha, Jena und Gera. Die Aufzählung benennt lediglich die Städte, in denen es am 17. Juni zu umfangreichen Streiks 92

Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. II, S. 113.

46

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

und außerbetrieblichen Demonstrationen, zu leidenschaftlichen Kundgebungen, zu Massenaktionen und Aufruhr kam. 9 3 Mit vollem Recht hat Arnulf Baring hervorgehoben, daß es häufig Industriestädte mit hochqualifizierter Facharbeiterschaft waren, einstige Zentren der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung, deren Streikerfahrungen aus den Jahren vor 1933 bei älteren Arbeitern und Gewerkschaftern noch in lebendiger Erinnerung geblieben waren. „Am 17. Juni jedenfalls haben die stärksten Erhebungen im Gebiet von Halle/Merseburg stattgefunden, einem Gebiet, in dem die KPD in der Weimarer Republik bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus die stärkste Partei war. Andere Zentren des Aufstandes, wie Magdeburg oder Leipzig, waren vor 1933 Hochburgen der Sozialdemokratie" 94 - eine für die SED frustrierende Erfahrung, zumal im Karl-Marx-Jahr 1953. In Ostberlin war das Politbüro der SED für den 17. Juni um 10 Uhr zu einer Sondersitzung einberufen worden, aber als die Mitglieder und Kandidaten in ihren schwarzen Dienstlimousinen vor dem „Haus der Einheit" in Berlin-Mitte vorgefahren waren, wurde ihnen ein Telefonanruf Semjonows ausgerichtet, wonach das Politbüro „sofort nach Karlshorst kommen" sollte, jenem Stadtteil im Südosten Berlins, der seit 1945 in einem mehrere Straßen umfassenden Sperrgebiet die Dienststellen der Sowjetischen Militäradministration und der Geheimpolizei sowie später der Sowjetischen Kontrollkommission beherbergte und wo auch der Hohe Kommissar ein Domizil besaß. Die Politbüro-Sitzung im „Berliner Kreml" begann nach einiger Verzögerung. Außer Semjonow, der sie wiederholt verließ - vermutlich um in Moskau telefonisch zu berichten oder Weisungen von dort entgegenzunehmen oder um Informationen aus dem Hauptquartier der Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland in Wünsdorf einzuholen - , nahm auch P.W. Judin daran teil, sein politischer Berater. Nach kurzer Beratung wurde beschlossen, einige der anwesenden Spitzenfunktionäre der SED sofort in jene Bezirke zu entsenden, in denen es zu größeren Streiks oder Demonstrationen gekommen war. Sie sollten dort die politische Leitung übernehmen, andere sollten in Ostberlin verbleiben. „Ulbricht machte die Personalvorschläge, die akzeptiert wurden. In die Republik sollten u. a. Matern, Oelßner, Elli Schmidt fahren. Für die politische Leitung in der Stadt Berlin sollten Ebert und Jendretzky verantwortlich sein. In Karlshorst bleiben sollten außer Grotewohl und Ulbricht Zaisser und ich" notierte Herrnstadt später in seinen Aufzeichnungen. „Es mag 12 Uhr gewesen sein, als Gen. Semjonow wieder einmal erschien und berichtete: .Moskau hat die Verhängung des Ausnahmezustands ab 1 Uhr Mittag angeordnet. Jetzt ist der Spuk sehr schnell vorbei. Ein paar Minuten nach 1 Uhr ist die ganze Sache erledigt." 95 In der Tat verhängte Generalmajor P. T. Dibrowa, „Militärkommandant des sowjetischen Sektors von Berlin", durch Befehl ab 13 Uhr den Ausnahmezustand. „Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und 93 94 95

Vgl. dazu vor allem Hagen, D D R - Juni 53; Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Baring, Der 17. Juni 1953, 4. Auflage, S. 49f. Herrnstadt, Das Herrnstadt-Dokument, S. 83.

Der Verlauf des Juni-Aufstands

47

sonstige Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen und Plätzen wie auch in öffentlichen Gebäuden verboten." 9 6 So tönte es in vielzähliger Wiederholung aus Lautsprecherwagen, so war es aus dem Rundfunk zu hören und tags darauf in jeder Zeitung zu lesen. Für die Zeit zwischen 21 Uhr und 5 Uhr wurde Ausgangssperre verhängt. „Diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen, werden nach den Kriegsgesetzen bestraft." Zu diesem Zeitpunkt glich das Zentrum von Ostberlin bereits einer besetzten Stadt. Auf dem Alexanderplatz waren schon gegen 9 Uhr die ersten sowjetischen Schützenpanzerwagen eingetroffen, gegen 12 Uhr waren schwere Panzer vom Typ T 34 aufgezogen, ebenso Unter den Linden, in der Leipziger Straße und am Potsdamer Platz. Sie waren schon in der Nacht zuvor in ihre Bereitstellungsräume im Vorfeld Berlins eingerückt. Kurz nach 11 Uhr peitschten die ersten Schüsse auf. Um diese Zeit hatten Demonstranten die auf dem Brandenburger Tor gehißte rote Fahne heruntergeholt. Es waren die Stunden, in denen Demonstranten zu Hunderten, zu Tausenden auch aus Westberlin, Jugendliche und Studenten, vielfach auch „Republikflüchtige" aus den Notaufnahmelagern in Westberlin, über die Sektorengrenze nach Ostberlin strömten. Nichts hinderte sie, ein „antifaschistischer Schutzwall" quer durch Berlin war noch unbekannt. Sie solidarisierten sich mit den Streikenden, demonstrierten gegen das Regime, und viele waren wohl auch von purer Neugier und Sensationslust getrieben. In den späten Vormittagsstunden kam es verschiedentlich zu Ausschreitungen im Zentrum. Fahnen und Transparente wurden zerfetzt, an der Sektorengrenze Grenzmarkierungen niedergerissen, vereinzelt waren Plünderungen zu beobachten. Typisch waren sie mitnichten. Mehrere Aufklärungslokale der Nationalen Front und Zeitungskioske gingen in Flammen auf, vereinzelt auch Autos, am Potsdamer Platz wurden das Columbushaus und das „Haus Vaterland" in Brand gesteckt. Der öffentliche Nahverkehr kam zum Stillstand. Nach dem Ausfall der S-Bahn ruhten bald auch U-Bahn und Straßenbahn. Während Zehntausende Demonstranten durch die Straßen der Innenstadt drängten, wurden verstärkt Sowjettruppen nach Ostberlin geworfen, Panzer, Schützenpanzerwagen, Gefechtsfahrzeuge mit Panzerabwehrkanonen bezogen an Verkehrsknotenpunkten und in Hauptstraßen, zumal unweit von Sektorengrenzübergängen, Stellung. Am frühen Nachmittag herrschte in der Ostberliner Innenstadt praktisch Belagerungszustand. Dennoch dauerten die Unruhen bis hinein in den späten Nachmittag fort. Die bei weitem überforderte Volkspolizei, die sich den Aufständischen in Sperrketten vergeblich entgegengestellt hatte, wurde zurückgezogen. Sowjetsoldaten beherrschten das Stadtbild und setzten den Ausnahmezustand durch. Nach 21 Uhr waren in Ostberlin Straßen und Plätze wie leergefegt. Die Ausgangssperre wirkte sich aus. Dank dem Eingreifen der Sowjetarmee war der

96

Zitiert nach einem Faksimile bei Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 84; das folgende Zitat ebd.

48

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Aufstand im „demokratischen Sektor" zu dieser Stunde schon zusammengebrochen. Befragt, ob seine Regierung mit dem Einsatz sowjetischer Panzer gegen Streikende und Demonstranten einverstanden wäre, erwiderte Otto Nuschke, damals stellvertretender Ministerpräsident und Vorsitzender der DDR-CDU, in einem Rundfunkinterview wörtlich: „Selbstverständlich, weil sie ein Interesse daran hat, daß Ruhe und Ordnung zurückkehrt. Wenn das nicht mit polizeilichen Mitteln möglich ist, dann muß eben selbstverständlich die Besatzungsmacht, jede Besatzungsmacht, ihre Machtmittel einsetzen. Das ist ganz selbstverständlich." 97 Vielerorts kam es auch am 18. Juni und in den Tagen danach noch zu Streiks. Im Bezirk Rostock erlebten Adalbert Hengst, der als Mitglied des Sekretariats des ZK für Wirtschaftsfragen zuständig war, und Bernd Weinberger, Minister für Transportmittel- und Landmaschinenbau, wie am 18. Juni in der Warnow-Werft die Streiks der Werftarbeiter „vor Ort" begannen. Zufällig hatten sie sich dienstlich in Rostock aufgehalten. Wie in einem Fernschreiben der MfS-Bezirksverwaltung Rostock vom 2. Juli 1953 festgehalten wurde, ruhte in diesem Schiffbaugroßbetrieb mit damals 8 0 0 0 Mann Belegschaft die Arbeit ab morgens 7 Uhr. 98 Auch die Arbeiter der Spätschicht und der Nachtschicht hatten die Arbeit gar nicht erst aufgenommen. „Zu bemerken ist, in Bezug auf die 2. und 3. Schicht, daß sie am Betreten des Werkes durch KVP und durch die Freunde gehindert wurden, die die Werkseingänge besetzt hielten, um größere Ausschreitungen zu vermeiden. Im Bezug auf die Gründe des Streikes in der Warnow-Werft wurde festgestellt, daß ausschlaggebend für die Auslösung der Arbeitsniederlegung die Ereignisse des 17.6. in Berlin gewesen sind." Hengst hatte hier eine Delegation der Belegschaft empfangen und über ihre Forderungen verhandelt, wobei er insbesondere in der Frage der Normenerhöhung Zugeständnisse und Zusicherungen gemachte hatte. Bei aller Spontaneität und Vielfalt der Geschehnisabläufe läßt eine Analyse der Streiks und Demonstrationen vom 17. Juni ziemlich genau ein- und dasselbe aktionistische Grundmuster erkennen: Der soziale Protest gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen, gegen die ökonomische Ausbeutung schlug früher oder später in politischen Protest um. Wo die Arbeiter die Betriebe verließen und auf die Straße gingen, rissen sie stets Menschen anderer Bevölkerungsschichten, Jugendliche und Studenten zumal, in den Sog der Erhebung. Generell schlugen die von den Streikenden ursprünglich erhobenen ökonomischen und sozialen Forderungen spontan in prinzipiell politische Forderungen um. Nicht mehr „Nieder mit den Arbeitsnormen" lautete die Losung der Demonstranten wie zu Anfang des Aufstands, sondern Forderungen wie „Freiheit für politische Gefangene", „Rücktritt der Regierung" und „Freie Wahlen" bestimmten das Meinungs- und Stimmungsbild. Auf mehreren spontanen Kund97 98

Otto Nuschke in einem RIAS-Interview am 17.6.1953, zitiert in Der Volksaufstand vom 17. luni 1953, Denkschrift, S. 45. Lagebericht des Leiters der BV Rostock vom 2.7.1953 (BStU Rep. 2 Nr. 395, Bl. 96); das folgende Zitat ebd.

Der Verlauf des

Juni-Aufstands

49

gebungen, zum Beispiel in Jena und Halle, Merseburg und Görlitz, sangen die Demonstranten das Deutschlandlied. Ähnlich wie in Ostberlin kam es auch in zahlreichen mittel- und ostdeutschen Städten neben häufig turbulenten Betriebsversammlungen zu Demonstrationszügen und Kundgebungen auf öffentlichen Plätzen, ebenso zu Unruhen und vereinzelt zu Gewalttätigkeiten. Parteibüros der SED, Verwaltungsgebäude und Dienststellen der Volkspolizei und der Staatssicherheit wurden von aufgebrachten Demonstranten gestürmt, zeitweilig besetzt und nicht selten demoliert. Mobiliar und Akten flogen auf die Straße. Einem internen Bericht der Volkspolizei zufolge geschah dies am 17. Juni in insgesamt 140 öffentlichen G e b ä u d e n . " Und nirgendwo fehlte die Solidarisierung mit politischen Gefangenen, die Forderung nach ihrer Freilassung, die in mindestens sieben Städten zur aktiven Befreiung führte. In Bitterfeld, Gommern, Görlitz, Halle, Jena, Magdeburg und Merseburg drangen Aufständische in Gefängnisse ein und befreiten insgesamt nicht weniger als 1317 Gefangene. 100 Vereinzelt kam es zu Gewalttätigkeiten und körperlichen Mißhandlungen von Parteisekretären, Bürgermeistern, Volkspolizisten, MfS-Mitarbeitern und mutmaßlichen Spitzeln. Solche Ausschreitungen und Prügelszenen - auch sie waren keineswegs typisch - sind aus Görlitz und Oberneundorf bei Görlitz, aus Halle, Jena, Niesky, Thale und Weida bekannt geworden. Lynchjustiz hat es nur in einem einzigen Fall gegeben. In Rathenow wurde ein Mann namens Wilhelm Hagedorn, der vormals bei der Volkspolizei Strafsachen nach Befehl Nr. 201 der SMAD bearbeitet hatte - also politische Strafsachen - und der nun Betriebsschutzleiter tätig war, von jugendlichen Demonstranten als mutmaßlicher Denunziant angeprangert, krankenhausreif geprügelt und in die Havel geworfen. Obwohl er sich mit Hilfe eines Volkspolizisten und eines russischen Soldaten vor dem Ertrinken hatte retten können, starb er schwerverletzt noch am 17. Juni im Krankenhaus. 101 Sonstige Fälle vollendeter Lynchjustiz sind nicht zu registrieren gewesen - sie hätten den Aufstand auch moralisch und politisch nur diskreditiert. Und genauso wie Ostberlin wurden andere Städte und Regionen der DDR unter Kriegsrecht gestellt. Zumeist wurde der Ausnahmezustand in den frühen Nachmittagsstunden verhängt - über den Bezirk Leipzig zum Beispiel um 16 Uhr. Die Stadt Magdeburg stand seit 14 Uhr unter Kriegsrecht. Hier wie anderwärts war sowjetisches Militär schon Stunden zuvor präsent. Während in Dresden zum Beispiel der Ausnahmezustand um 14 Uhr verkündet wurde, waren bereits gegen 10 Uhr die wichtigsten Zentren der Stadt von sowjetischen Truppen unter Kontrolle genommen - die Elbbrücken, die Bahnhöfe, das Hauptpostamt, das Telegrafenamt, die Staatsbank, das Polizeipräsidium und die Parteizentrale des Bezirks. 99 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 2 7 8 . 100 Vgl. ebd., S. 154. 101 Vgl. Hildebrandt, Als die Fesseln fielen, S. 127ff.; vgl. dazu ferner Zimmermann, Ein beseitigter Grabstein, S. llOff.

50

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Der Aufstand wurde zwar mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht kurzfristig niedergeworfen, aber deshalb traten Ruhe und Ordnung nicht unverzüglich ein. Die Arbeit wurde keineswegs überall sofort wieder aufgenommen. In einer Reihe von Betrieben brachen sogar erst am 18. Juni und in den folgenden zwei, drei Tagen noch Streiks aus. Insofern kann der Aufstand nicht auf den 17. Juni eingegrenzt werden.

5.

Losungen und Forderungen

Im engeren Sinne war der Juni-Aufstand eine Erhebung ohne konkrete Programmatik. Wer das konstatiert, muß allerdings auch danach fragen, wie sie denn in der Kürze der Zeit hätten artikuliert und formuliert werden können. Und von wem? In seiner Spontaneität hatte ihm jede programmatische Vorbereitung gefehlt, ebenso wie die organisatorische Planung, und nach seinem kurzfristigen Zusammenbruch war auch jede überregionale Koordination etwa zur Abstimmung von politischen Forderungen ausgeschlossen. Eine zentral gesteuerte Verbreitung programmatischer Zielsetzungen oder gar deren Diskussion war unmöglich. Daraus das Fehlen mobilisierender Ideen zu folgern, wäre allerdings abwegig. Sie spiegelten sich vielmehr konturenhaft in den Losungen und Parolen der Streikenden und Demonstranten wider, in den Reden, die auf Betriebsversammlungen und Kundgebungen gehalten wurden. Auch die hastig zu Papier gebrachten Resolutionen, die verschiedentlich von Streikkomitees aufgestellt wurden, ließen durchaus ein programmatisches Profil erkennen, das bei aller Verschiedenheit in den einzelnen Brennpunkten des Aufstands prinzipielle Übereinstimmung aufwies. Es konnte nicht anderes sein, denn die Arbeiter hatten sich republikweit gegen gleiche Mißstände zur Wehr gesetzt, sie hatten zudem die politischen, das heißt, die systembedingten Ursachen dieser Mißstände erfaßt. Deshalb erfuhren die ursprünglich wirtschaftlich und sozial bestimmten Forderungen der Aufständischen frühzeitig ihre Politisierung, in Ostberlin wie in den Bezirken, die weithin identische Grundforderungen hervorbrachte: Auszahlung der Löhne nach den alten Normen, Senkung der Lebenshaltungskosten, keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher, Freiheit für politische Gefangene und freie Wahlen. In Ostberlin wurden diese Forderungen schon am Vormittag des 16. Juni artikuliert, von Bauarbeitern aus der Stalinallee sowie auf der spontanen Kundgebung vor dem „Haus der Ministerien" am selben Tag. Es ist später viel darüber spekuliert worden, inwieweit die Losungen in Ostberlin von Westberlin aus inspiriert worden sind. Die in gewissem Sinne mobilisierende Rolle des RIAS ist bereits analysiert worden. Zudem gab es tatsächlich auch eiligst verfertigte Flugblätter, die kurzfristig in den Osten geschafft und verteilt worden waren, aber entscheidend bleibt der Zeitpunkt. Das Ostbüro des DGB in Westberlin solidarisierte sich mit den Ostberliner

Losungen und Forderungen

51

Bauarbeitern, als sie bereits in den Streik getreten waren, es griff ihre Losungen auf und ließ in der Nacht vom 16. zum 17. Juni die „Streiksonderausgabe" einer kleinen Zeitung drucken, die in Anspielung auf die „Tribüne", das Blatt des FDGB, „Die kleine Tribüne" genannt und die in Ostberlin nicht zum ersten Mal „illegal" verteilt wurde. Sie enthielt der Sache nach denselben Forderungskatalog, der jedoch um die Losungen „Rücktritt der Regierung" und „Zulassung freier gewerkschaftlicher Betätigung unter Aufhebung des FDGB-Apparates" angereichert worden war. „Das war mehr als ein Streikprogramm", hat dazu der Historiker Gerhard Beier festgestellt, „und zwar eindeutig in politisierender und radikalisierender Weise". 102 Dem muß nicht widersprochen werden, aber erlaubt sei der Hinweis, daß der zwar gut gemeinte, aber eher dilettantische Versuch, auf diese Weise die Stimmung in Ostberlin anzuheizen, für den Verlauf des Aufstands gänzlich belanglos blieb. Der Aufbruch der Massen hatte längst seine eigene Dynamik hervorgebracht. Analog dürfte dies auch für handzettelartige Flugblätter gelten, die damals die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit drucken und verteilen ließ - übrigens nicht anonym oder im Namen der Aufständischen, sondern mit Name und Anschrift der KgU, sinnigerweise gerichtet an „Arbeiter und Hausfrauen". Die darin aufgestellten sechs Forderungen „1. Auszahlung der Löhne bereits bei der nächsten Lohnfortzahlung nach den alten Normen! 2. Sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten! 3. Keine Maßregelung von Streikenden und Streikführern! 4. Fort mit Ulbricht und Grotewohl durch freie und geheime Wahlen! 5. Freilassung der politischen Gefangenen! 6. Auflösung der verbrecherischen Organisation des Staatssicherheitsdienstes!" 103 waren zwar in Westberlin zu Papier gebracht worden, aber sie stützten sich dennoch auf Forderungen, die ihre Ursprünge in Ostberlin hatten; und sie sollten in ihrer Einwirkung auf das Geschehen nicht überschätzt werden. Die Vorstellung, ein paar Tausend Handzettel könnten binnen weniger Stunden in Ostberlin einen Aufstand auslösen, ist allzu grotesk, als daß sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen wäre. Aus historischer Sicht mag die solidarische und logistische Hilfe, die den Aufständischen in Ostberlin seitens des RIAS oder der in Westberlin ansässigen Widerstandsorganisatioen zuteil geworden war, nicht unproblematisch erscheinen. Aus der Stimmungslage im damals geteilten Berlin des Kalten Krieges war sie absolut verständlich und selbstverständlich. Indes hieße es Ursache und Wirkung verkennen, würden die Streiks und ihre Eskalation zum Aufstand kausal darauf zurückgeführt werden. Unzweifelhaft wurden in den Sendungen des RIAS oder auf den erwähnten Flugschriften und Handzetteln des DGB und der KgU genuine Forderungen der Arbeiter in Ostberlin und der DDR wiedergegeben, die sie unabhängig davon vertreten hätten und vertreten haben. In den RIAS-Sendungen und den Propagandamaterialien aus Westberlin waren schließlich nur ureigene Forderungen der Aufbegehrenden wiedergegeben worden. 102 Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 16. 103 Zitiert nach einem Faksimile in Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 63.

52

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Die Erfahrungen in Ostberlin bestätigten sich am 17. Juni in allen Streikund Aufstandsregionen der DDR. Im Gesamtdeutschen Institut, das bis 1990 in Bonn bestand, war das Original eines von einem Streikkomitee der Bauarbeiter in Strausberg offenbar in aller Eile entworfenen Flugblattes überliefert worden, auf dem folgende zwölf Forderungen erhoben wurden: „1. Volle Sicherheit für die Sprecher des Streiks. 2. Rede- und Pressefreiheit. 3. Weg mit den Normen. 4. Ein Lohn, der den Preisen in der DDR entspricht. Revidierung des gesamten Preisniveaus für Lebensmittel und Gebrauchsgüter. 5. Freie Wahlen für ganz Deutschland. 6. Weg mit der Zonengrenze. 7. Abzug aller Besatzungstruppen. 8. Weg mit der Kasernierten Volkspolizei. 9. Sofortige Wiedereinführung der 75prozentigen Ermäßigung bei Arbeiterrückfahrkarten. 10. Freilassung aller politischen Häftlinge, auch die zu Strafen über drei Jahren verurteilt worden sind. 11. Rückführung sämtlicher Kriegsgefangenen. 12. Fortfall der Volkskontrollen." 104 Dieser politisch schon weiter entwickelte Forderungskatalog ließ gerade durch seine Spezifik die Handschrift ostdeutscher Arbeiter erkennen. Seine Mangel an innerer Systematik und folgerichtiger Logik dürfte sich aus der Spontaneität erklären, in der er zusammengestellt wurde. Eine längerfristige und planmäßige Vorbereitung hätte eine sorgfaltigere, in sich logischere und daher überzeugendere Formulierung und Prioritätenfolge hervorgebracht. Gleichwohl entstanden, wo die Streikenden aus verschiedenen Betrieben die Zeit fanden, sich zu organisieren und eigene Vertretungen zu bilden, Resolutionen von programmatischem Charakter - zum Beispiel in Bitterfeld. Hier hatte sich überbetrieblich ein Zentrales Streikkomitee aus Arbeitern und Kumpeln aus der Farbenfabrik Wolfen und der Filmfabrik Wolfen, dem Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld, aus Reichsbahnbetrieben, von Baustellen der Industrieregion und aus den benachbarten Braunkohlegruben gebildet, unter dessen Leitung die Stadtverwaltung, das Volkspolizeikreisamt, die Kreisdienststelle des MfS und das Gefängnis besetzt worden waren. Es tagte im Rathaus. Von dort wurde ein Telegramm an die Regierung der DDR in Ostberlin formuliert, in dem neun Forderungen gleichsam zu einem Programm verdichtet waren. Ihr Wortlaut faßte im Kern die politischen Ideen des 17. Juni zusammen: „Wir Werktätigen des Kreises Bitterfeld fordern von Ihnen: 1. Rücktritt der sogenannten Deutschen Demokratischen Regierung, die sich durch Wahlmanöver an die Macht gebracht hat, 2. Bildung einer provisorischen Regierung aus den fortschrittlichen Werktätigen, 3. Zulassung sämtlicher großen demokratischen Parteien Westdeutschlands, 4. Freie geheime, direkte Wahlen in vier Monaten, 5. Freilassung sämtlicher politischer Gefangenen (direkt politischer, sogenannter Wirtschaftsverbrecher und konfessionell Verfolgter), 6. sofortige Abschaffung der Zonengrenze und Zurückziehung der Vopo, 7. sofortige Normalisierung der sozialen Lebensstandards, 8. sofortige

104 Archiv des Gesamtdeutschen Archivs Bonn, zitiert in Holzweißig, Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, S. 63

Losungen und Forderungen

53

Auflösung der sogenannten Nationalarmee, 9. keine Repressalien gegen einen Streikenden." 105 Gewiß waren auch diese Forderungen naiv und laienhaft formuliert und politisch illusionär, wenig durchdacht, aber sie trafen eine Grundstimmung der Zeit, sie reflektierten Gedanken und Empfindungen, die viele Menschen in der DDR damals bewegt haben. Ein zweites Telegramm war an den Sowjetischen Hochkommissar gerichtet. 106 Es enthielt die Forderung nach Aufhebung des Aufnahmezustands in Ostberlin und aller gegen die Arbeiter gerichteten Zwangsmaßnahmen. Im Unterschied zu anderen Brennpunkten des Aufstands in der Provinz kam es in Bitterfeld kaum zu Ausschreitungen. Als in den Nachmittagsstunden des 17. Juni sowjetische Panzer einrückten, erteilte das Streikkomitee Weisung, den Befehlen der Besatzungsmacht zu folgen und keinen Widerstand zu leisten. Wie spontan sich politische Losungen aus der Stimmung in den Betrieben entzünden konnten, hat Heinz Brandt als Zeitzeuge geschildert. In seiner Funktion als Sekretär für Agitation in der SED-Bezirksleitung war er für den frühen Morgen des 17. Juni für den VEB Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh eingeteilt, einem Maschinenbau-Großbetrieb, wo die Belegschaft die Arbeit an diesem Tage erst gar nicht aufgenommen hatte. Mit Hilfe des Betriebsparteisekretärs ließ Brandt die Arbeiter im großen Saal des Kulturhauses zusammenrufen, sprach zu ihnen und schlug die Bildung eines Betriebsausschusses vor - eine Idee, die ihm spontan, angesichts Angesicht der aufgebrachten Arbeiter gekommen war. „Dieser Vorschlag wurde ohne Diskussion angenommen und unmittelbar verwirklicht. Zum Ausschußvorsitzenden wurde ein älterer, erfahrener sozialdemokratischer Arbeiter gewählt. In der Diskussion, die der Wahl des Betriebsausschusses folgte, sprachen etwa zwanzig Arbeiter. Das war eine elementare, leidenschaftliche Auseinandersetzung, eine historische Abrechnung mit dem SED-Regime. All das, was sich bisher gestaut hatte, nie offen in Versammlungen ausgesprochen worden war, brach sich jetzt Bahn. Aus eigenem Erleben, in der drastischen, ungekünstelten Sprache des erregten Menschen, der von seinen persönlichen Erfahrungen ausgeht, wurden zahllose empörende Beispiele von Rechtswillkür angeführt. Namen von Arbeitskollegen aus dem Betrieb wurden genannt, die verhaftet, verurteilt, mißhandelt worden waren, deren Angehörige nichts mehr von ihnen gehört hatten." 1 0 7 In einer Entschließung wurde der gewählte Arbeiterausschuß ermächtigt, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in anderen Betrieben in Verbindung zusetzen. Was hier geschehen war, das war ein geradezu schulbeispielhafter, doch keineswegs singulärer Vorgang, der die Hoffnungen ermessen läßt, die für kurze Zeit die Aufständischen erfüllt haben. Natürlich hatte der 105 Zitiert in Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 227f. 106 Zitiert in Joachim G. Leithäuser, Der Aufstand im Juni. Ein dokumentarischer Bericht. In: Der Monat Nr. 6 0 - 6 1 / 1 9 5 3 (Sonderdruck), S. 42. 107 Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, S. 240f.

54

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Betriebsausschuß keinen Bestand, seine Mitglieder und der durch Zuruf gewählte Vorsitzende wurden später verhaftet und verurteilt, Brandt seiner Parteifunktion enthoben. Was für Ostberliner Betriebe typisch war, konnte auch in anderen Regionen beobachtet werden - in Leipzig zum Beispiel. Schon bei den ersten Demonstrationen und Versammlungen im Vorortbereich waren eminent politische Losungen zu registrieren, wie selbst aus Berichten des MfS und der Bezirksleitung der SED hervorgeht. Nachgewiesen sind die Losungen „Weg mit der HO", „Senkung der Normen und der HO-Preise", „Wir fordern ein besseres Leben", „Nieder mit der Regierung", „Sturz der Regierung", „Nieder mit der VP", „Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen" und „Freie Wahlen". 108 Auch gleich zu Beginn der Kundgebung auf dem damaligen Karl-MarxPlatz kamen die Losungen „Freie Wahlen!" und „Nieder mit der Regierung". Auf Leipziger Straßenbahnen waren Transparente mit den Aufschriften „Wir wollen freie Wahlen!" „Nieder mit Ulbricht", „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille" zu sehen. Ebenfalls in der Messestadt waren immer wieder Sprechchöre wie „Nieder mit der Regierung" und „Gebt die politischen Gefangenen frei" zu vernehmen. 109 „Freie Wahlen" und „Nieder mit der Regierung" wurde auch in Städten und Gemeinden des Leipziger Umlandes gefordert. Ein Aufstand ohne Programmatik? Nicht anders in Dresden. 110 Aus der Betriebsversammlung im VEB ABUS sind folgende Forderungen überliefert: „1. Rücktritt der Regierung, 2. Freie und geheime Wahlen, 3. Freilassung der politischen Gefangenen, 4. Senkung der HO-Preise, 5. Aufhebung der Verschlechterung in der Sozialfürsorge." Ähnlich lauteten die Forderungen der Sachsenwerker, auch wenn sie politisch von unterschiedlichem Gewicht waren: „Rücktritt der Regierung", „Abschaffung der Normenerhöhung", „Versammlungsfreiheit", „Wahrung des Briefgeheimnisses", „Abschaffung der ausbeutenden HO-Geschäfte" und „Freilassung sämtlicher politischer Gefangener". Ein gleiches Bild bot der Aufstand in Görlitz. 111 Als sich auf dem damaligen Leninplatz (heute Obermarkt) zwischen 11.30 und 13 Uhr Tausende von Demonstranten zu einer Protestkundgebung versammelt hatten, waren die gleichen Losungen zu hören. Neben anderen ergriff der Schlosser Hermann Gierich das Wort. „Wann wird die Oder-Neiße-Grenze aufgehoben? Wann wird die KVP aufgelöst? Wann tritt die Regierung zurück? Wann finden freie Wahlen statt? Wann werden die HO-Preise beseitigt?" 112 Auch in der Grenzstadt schloß die Demonstration mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes.

108 109 110 111 112

Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. II, S. 106. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., Kap. III, S. 189, S. 193. Vgl. ebd., Kap. IV, 5. Ebd., S. 2 6 0 .

Das Eingreifen der Sowjetarmee

55

Losungen und Forderungen wie in Sachsen kamen auch in Sachsen-Anhalt auf. „Wir wollen freie und geheime Wahlen" und „Wir erklären uns mit den Bauarbeitern von Berlin solidarisch" war auf mitgeführten Transparenten in Halle zu lesen. 113 Auch in Magdeburg bestand der Kern der hier erhobenen Forderungen ursprünglich in dem Verlangen nach Rücknahme der Normenerhöhung, aber danach gingen die Forderungen weit darüber hinaus: „Nieder mit der Hunger-Regierung", „Wir haben keinen Stalin, wir brauchen auch keinen Ulbricht mehr", „Wir Bauarbeiter sind keine Sklaven, wir fordern ein freies Berlin", „Wir brauchen keine Volksarmee, gebt uns mehr Butter", „Senken der HO-Preise um 40 Prozent", „Freie Wahlen", „Auflösung des FDGB-Apparates", „Keine Bestrafung der Streikenden". 114 Augenscheinlich spiegelten sich in diesen Losungen Einflüsse, die auf Forderungen in Ostberlin zurückzuführen waren. Beispiele für ähnliche oder gleichlautende Forderungen und Losungen ließen sich aus Thüringen beibringen, ebenso aus den Bezirken Cottbus und Potsdam. Eine vergleichende Analyse ergibt ungeachtet aller Spontaneität und Mannigfaltigkeit inhaltliche Analogien, die klare politische Zielsetzungen der Aufbegehrenden dokumentieren. Interessant ist zudem das Fehlen jedweder sozialistischer Losungen.

6.

Das Eingreifen der Sowjetarmee und der „bewaffneten Organe" der DDR

Noch in der Nacht vom 16. zum 17. Juni wurden Truppenteile der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland (GSBT) im Raum Berlin in Marsch gesetzt. „Hier erwartete man mögliche Unruhen und befürchtete wohl auch ein Eingreifen der Alliierten in Westberlin. Das erklärt, warum in den Nacht- und Morgenstunden des 17. Juni sowjetische Truppen aus dem Raum Königs Wusterhausen die in Berlin-Karlshorst stationierte Panzerdivision verstärkten und Einheiten der Sowjetarmee, noch bevor sich Demonstranten auf den Straßen Berlins zeigten, innerhalb des Stadtgebiets Bereitstellungsräume bezogen." 115 So konnten hernach frühzeitig Panzer, Schützenpanzerwagen und Mannschaftsfahrzeuge an die Ostberliner Brennpunkte des Aufstands eingesetzt werden, als die Menschen am 17. Juni auf die Straße gegangen waren. In den einzelnen DDR-Bezirken vollzog sich der Einsatz sowjetischer Truppen ähnlich, wenn auch zeitversetzt, weil hier die Massen zumeist später als in Ostberlin, zum Teil erst am 18. Juni, in Aktion traten. Von den zur damaligen Zeit in der DDR stationierten Sowjettruppen in einer Stärke von schätzungsweise 500000 Mann waren „für die Herbeiführung einer festen öffentlichen Ordnung" 116 in jenen dramatischen Tagen und 113 114 115 116

Vgl. Klein, Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle, S. 36. Ribbe, Der 17. Juni in der DDR, S. 16. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 372. Arlt, Sowjetische (russische) Truppen in Deutschland, S. 603; das folgende Zitat ebd.

56

Geschichte

und historische Deutung des

Aufstands

Wochen sechzehn Divisionen im Einsatz. „Nach anfänglichem Abwarten des Oberkommandos und unterschiedlichem Vorgehen der Truppenkommandeure in den einzelnen Regionen der DDR kam es mit der Eskalation des Aufstands in der zweiten Tageshälfte des 17. Juni und in den Folgetagen zu einer massiven Intervention der GSBT. Allein in Berlin waren 3 Divisionen mit insgesamt 500 Panzern eingesetzt, weitere 13 Divisionen hatten in nahezu vollem Bestand ihre Kasernen verlassen, um in zahlreichen Städten gegen die Aufständischen und Demonstranten einzuschreiten und eine Ausweitung des Aufstands zu unterbinden. Nachdem allein mit der geballten Präsenz von Truppen und Panzern keine abschreckende Wirkung erzielt wurde und die Aufständischen teilweise über Demonstrationen hinaus zu aktiven Handlungen wie Erstürmung von Gefängnissen, Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit, Kreisleitungen der SED oder Abrechnung mit Vertretern der DDR-Staatsmacht übergingen, setzten die Besatzungstruppen ihre Waffen ein." Die Truppen zogen auf Markt- und Rathausplätzen auf, sie nahmen Verkehrsknotenpunkte, Bahnhöfe und Brücken unter Kontrolle, sicherten öffentliche Gebäude, Rathäuser, Banken, Post- und Telegrafenämter, Dienststellen von Partei, Polizei und Staatssicherheit, sie riegelten Zufahrtsstraßen Grenzübergänge und Häfen ab, und sie besetzten Betriebsgelände, zumal Betriebe Sowjetischer Aktiengesellschaften, um sie gegen Sabotagehandlungen zu sichern, aber auch, um die streikenden Arbeiter einzuschüchtern und die unverzügliche Wiederaufnahme der Produktion - häufig buchstäblich unter Waffen - zu erzwingen. Die Sowjets handelten freilich auch in diesem Fall stets mit Billigung ihrer deutschen Genossen. Anhand zahlreicher Beispiele ist erwiesen, daß Funktionäre der SED durch Drohung mit sowjetischen Repressionen die Arbeiter zur Beendigung der Streiks genötigt haben. Fritz Selbmann zum Beispiel hielt es mit seinem sozialistischen Gewissen durchaus für vereinbar, daß er am Vormittag des 18. Juni vor den Stahl- und Walzwerkern von Riesa und Gröditz, eigener Bekundung zufolge, in zwei Reden erklärt hat: „Wenn nicht sofort die Arbeit aufgenommen wird, werden militärische Maßnahmen angewendet." 117 Ähnliche „Überzeugungsarbeit" wurde in zahlreichen von sowjetischen Truppen gesicherten oder besetzten Betrieben geleistet. Nachdem über Ostberlin bereits ab 13 Uhr der Ausnahmezustand verhängt worden war, folgten binnen Stunden weite Teile der Republik. In Magdeburg zum Beispiel herrschte ab 14 Uhr Ausnahmezustand, in Dresden ebenfalls ab 14 Uhr, in Leipzig ab 16 Uhr, in Halle erst ab 19, in Rostock ab 22 Uhr. Schließlich standen 13 der 14 Bezirksstädte und 51 Kreisstädte unter sowjetischem Kriegsrecht - acht Jahre nach Kriegsende! Da flächendeckend der Ausnahmezustand über ganze Regionen erklärt wurde, waren insgesamt 167 von 217 Stadt- und Landkreisen davon betroffen. Als einzige Bezirksstadt blieb Suhl vor dem Ausnahmezustand bewahrt.

117 Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. III, S. 233.

Das Eingreifen der Sowjetarmee

57

Regional unterschiedlich dauerte der Ausnahmezustand zwischen wenigen Tagen und dreieinhalb Wochen an. Für Ostberlin und Leipzig, den beiden am längsten unter Kriegsrecht stehenden Städten, wurde der Ausnahmezustand erst am 11. Juli 1953 aufgehoben. Da dem Aufstand in seiner Spontaneität jedwede Leitung, Koordination und Organisation fehlte und im übrigen kaum Widerstand geleistet wurde von Steinwürfen gegen Panzer oder vereinzelter Beschädigung von Panzerantennen abgesehen - , hatten die sowjetischen Truppen leichtes Spiel bei der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Aktiver Widerstand gegen die Sowjettruppen wäre ohnehin von selbstmörderischer Sinnlosigkeit gewesen. Der Chef der Garnison und Militärkommandant von Halle hatte in seinem den Ausnahmezustand proklamierenden Befehl ausdrücklich gedroht: „Im Falle von Widerstand wird von der Waffe Gebrauch gemacht." 1 1 8 Wo sich wie in Bitterfeld und Görlitz überbetriebliche Streikkomitees gebildet hatten, haben sie vor Widerstand gegen die Besatzungstruppen ausdrücklich gewarnt. Die SED hatte es allein „den Freunden" zu verdanken, daß ihre durch den Aufstand bedrohte Macht gesichert werden konnte. Die Politbürokratie hat das ursprünglich auch uneingeschränkt anerkannt und gewürdigt. „Es gelang am 17. und 18.6. in der Regel erst nach dem Eingreifen der sowjetischen Einheiten, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen und die Arbeitsaufnahme zu erreichen", stellte das ZK der SED in einer Analyse bilanzierend fest. „Das entschlossene Vorgehen der sowjetischen Einheiten zerschlug die faschistische Provokation und brachte die Menschen von der Straße." 119 Es sollte nicht lange dauern, bis die SED diese Wahrheit durch Legenden zu überlagern versuchte. Exemplarisch dafür war etwa die Version, die Erich Honecker in seiner Autobiografie zum Zusammenbruch des 17. Juni anbot: „Als die Arbeiter sahen, daß die konterrevolutionären Provokateure wie die Faschisten hausten, distanzierten sie sich sehr rasch von ihnen. In vielen Betrieben traten sie den Aufwieglern entschlossen entgegen. Die bewaffneten Organe der DDR schritten ein, an ihrer Seite Einheiten der in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte. Das war ausschlaggebend für den raschen Zusammenbruch des Putschversuches." 1 2 0 In dieser Version war die Wirklichkeit des 17. Juni auf den Kopf gestellt. Die sowjetischen Truppen griffen generell ein, wo sich die Volkspolizeikräfte - und zwar zunächst nur die Schutzpolizei - dem Druck der Aufständischen nicht gewachsen zeigten, wo sie vor ihren Aggressionen häufig sogar zurückgewichen waren. Offenbar hatte die politische und militärische Führung auch nicht mit einem Übergreifen der Protestbewegung auf die Provinz gerechnet, weshalb versäumt worden war, rechtzeitig Einheiten der Kasernierten Volkspolizei zu mobilisieren - was allerdings auch auf andere Gründe, etwa 118 Befehl des Militärkommandanten Volksaufstand vom 17. Juni 1953. 119 Zitiert in Hagen, D D R - Juni 53, 120 Honecker, Aus meinem Leben, S.

der Stadt Halle/Saale vom 17.6.1953, zitiert in Der Denkschrift, S. 5 0 S. 122. 185.

58

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

auf „das große Mißtrauen der Staats- und Parteiführung der DDR wie auch der sowjetischen Behörden in der DDR gegenüber der KVP" zurückzuführen gewesen sein mag. „Es ist allgemein nachweisbar, daß diese Streitmacht noch nicht als politisch und militärisch zuverlässiges Machtorgan des Staates angesehen wurde. Die KVP war weder für den inneren Einsatz befähigt, d. h. ausgebildet, noch ausgerüstet. Zudem gab es durchaus berechtigte Befürchtungen, daß Einheiten den Einsatz gegen die Bevölkerung verweigern bzw. sich sogar mit den Protestierenden solidarisieren könnten." 121 Konkret wäre das auch an der hohen Desertionsrate in der KVP anschaulich zu machen. „Letztlich entschied die sowjetische Militärkommandantur in Berlin-Karlshorst über den Zeitpunkt des Eingreifens der KVP allen Anzeichen nach erst, als die Verhängung des Ausnahmezustandes in den Krisengebieten beschlossen und der Einsatzbefehl an die sowjetischen Einheiten verfügt worden war." 1 2 2 Aufs Ganze gesehen zeigten sich die sowjetischen Truppen im Gebrauch der Waffe gleichwohl verhältnismäßig zurückhaltend. Militärische Gewalt wurde eher demonstriert als exekutiert. „Die sowjetischen Soldaten waren in der Regel bemüht, nicht mehr Gewalt anzuwenden, als zur Erfüllung ihres Auftrags unbedingt nötig war." 1 2 3 Das galt auch für Sachsen: „Im Vergleich zu anderen Bezirkshauptstädten, so auch zu Leipzig, hielten sich die sowjetischen Einheiten in Dresden mit dem Einsatz militärischer Mittel und mit der Anwendung des Kriegsrechts sehr zurück." 124 Mit brutaler Härte gingen die Sowjettruppen außer in Ostberlin speziell in Magdeburg und Halle vor. Ein Blutbad wurde jedoch auch hier vermieden. So kamen VP und die KVP vielfach erst bei Sperr- und Sicherungseinsätzen zum Zuge, als der Ausnahmezustand wirksam geworden war; Sicherungskräfte der Staatssicherheit waren offenbar überhaupt nicht in die unmittelbare Niederschlagung des Aufstands einbezogen - auch nicht das als Elitetruppe geltende Wachregiment Berlin 125 des MfS. Nicht selten reagierte die VP irritiert und unsicher. Wenn später, in einem Kommunique des Ministerrats vom 25. Juni, den Angehörigen der Volkspolizei und der Staatssicherheit bescheinigt wurde, „im Einsatz gegen die faschistischen Provokateure" ihre Pflicht „mit Mut, Entschlossenheit und ohne Schwankungen" erfüllt zu haben, wenn ihre „hohe politische Moral" und „ihr tapferes, unerschrockenes und aufopferndes Verhalten" belobigt wurden, 1 2 6 so entsprach das eher einem propagandistisch-erzieherischen Bedürfnis als der realen Erfahrung am 17. Juni. Tatsächlich hatten sich vielerorts VP-Angehörige und MfS-Mitarbeiter von Aufständischen entwaffnen lassen. In Einzelfällen haben sich Angehörige der VP mit Streikenden solidarisiert. 121 122 123 124 125 126

Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 373. Ebd., S. 375. Hagen, D D R - Juni 53, S. 108. Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. III, S. 2 0 9 . Der Traditionsname „Feliks Dzierzynski" wurde dem Wachregiment 1957 verliehen. Kommunique der Sitzung des Ministerrats der DDR. In: N D vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 .

Das Eingreifen der Sowjetarmee

59

Nach unvollständigen, wohl nie mehr zu vervollständigen Recherchen kamen durch sowjetischen Waffeneinsatz am 17. Juni in der DDR mindestens 24 Menschen zu Tode, Männer, Frauen und Jugendliche, zum Teil Unbeteiligte, die eher durch Zufall in Unruhen geraten waren. Durch Schußwaffengebrauch der Volkspolizei starben mindestens 27 Menschen - zusammen also mindestens 51 Menschen, die während des Aufstands erschossen wurden. Viele Namen sind registriert. In Ostberlin kamen Richard Kugler, ein Heranwachsender von 15 Jahren, und Wolfgang Rohling sowie drei namentlich nicht erfaßte Personen bei den Unruhen durch Schußverletzungen ums Leben. Sie starben in Ostberliner Krankenhäusern an ihren Wunden. Ein Schüler wurde von den Ketten eines zurücksetzenden T 34 zermalmt. In Westberliner Krankenhäusern verstarben weitere neun Personen, die während des Aufstandes in Ostberlin schwer verwundet worden waren. Nachstehend die Namen: Gerhard Schulze, Horst Bernhagen, Oskar Pohl, Hardy Kugler, Rudi Schwander, Werner Sendsitzki, Edgar Krawetzke und Gerhard Santura. 127 In Leipzig wurden sieben Demonstranten oder unbeteiligte Passanten durch die VP getötet. Den ersten Toten gab es vor dem Gebäudekomplex des Volkspolizeikreisamtes in der seinerzeitigen Dimitroffstraße, wo der 19jährige Gießer Dieter Teich aus Wiederitzsch bei Leipzig erschossen wurde. 1 2 8 In der Messestadt erschossen wurden ferner Joachim Bauer, ein 20jähriger Maurer aus Brodau, und Gerhard Dubielzig, ein 19jähriger Schlosserlehrling aus dem Reichsbahnausbesserungswerk Delitzsch. Beide waren mitnichten „faschistische Provokateure" oder „Agenten", sondern eher im Sinne der SED „fortschrittliche" Menschen. 1 2 9 Erschossen wurde ferner der 44jährige Johannes Köhler aus Leipzig. Er starb nach einem lebensgefahrlichen Bauchschuß am 18. Juni. 130 Erich Kunze, ein VP-Offizier, wurde in der Nacht vom 18. zum 19. Juni von einer sowjetischen Patrouille angeschossen und tödlich verletzt, als er sich mit mehreren Genossen auf einer Dienstfahrt von Leipzig nach Delitzsch befand. 1 3 1 Das hinderte den damaligen DDR-Innenminister Willi Stoph nicht, ihn den Opfern der „Putschisten" zuzurechnen. In Halle waren sieben Tote unter den Aufständischen zu beklagen, unter ihnen der 24jährige Kesselschmied Manfred Steue, der 41jährige Gewerkschafter Kurt Crato, der 23jährige Rundfunkmechaniker Rudolf Krause und der 26jährige Gerhard Schmidt, die von der VP erschossen wurden, als sie sich aktiv am Sturm auf die Haftanstalt Halle II beteiligt haben sollen. 132 In Magdeburg wurden die 16jährige Landarbeiterin Dora Borgmann, der 17jährige FDJ-Instrukteur Horst Prietz und der 47jährige Kellner Kurt Fritsch 127 128 129 130 131 132

Vgl. Juni-Aufstand. Dokumente und Berichte, S. 2. Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. II, S. 120. Ebd., S. 139. Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 182. Vgl. dazu Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 345.

60

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

durch Schüsse oder Querschläger getötet allerdings beim Waffengebrauch durch Sowjetsoldaten, nicht der Volkspolizei. 133 Bleibt zu protokollieren, daß die Regierung der DDR auch im Zusammenhang mit den Opfern des 17. Juni nicht den Mut zur Wahrheit besessen hat. In einem Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrates am 25. Juni 1953 wurde mitgeteilt, daß „vier Volkspolizisten ermordet" worden wären, „unbeteiligte Zivilpersonen wurden zwei getötet, aus den Reihen von Demonstranten wurden 19 getötet." 1 3 4 Die Zahlen waren gefälscht. Gefälschte Zahlen wurden auch auf westlicher Seite kolportiert. Gelegentlich in der Publizistik bis heute zitierte Zahlenangaben, wonach 267 demonstrierende Arbeiter und 116 Funktionäre des SED-Regimes sowie 18 sowjetische Soldten während des Aufstands ums Leben gekommen, ferner 92 Menschen standrechtlich erschossen und 14 Menschen später zum Tode verurteilt und hingerichtet worden seien 135 , haben sich als unzutreffend erwiesen. Nicht bekannt ist, ob Soldaten der Sowjetarmee bei ihrem Einsatz am 17. Juni zu Tode kamen. Generell war ihnen bei ihrem Einsatz gegen Streikende und Demonstranten Gehorsam und politische Zuverlässigkeit zu bescheinigen. Für Berichte, wonach russische Offiziere und Soldaten wegen Befehlsverweigerung am 17. Juni oder danach füsiliert wurden 1 3 6 , konnten überzeugende Belege bis heute nicht beigebracht werden. Manfred Hagen, der die standrechtliche Erschießung von 18 Rotarmisten des 73. Schützenregiments wegen Befehlsverweigerung bei ihrem Einsatz in Magdeburg registriert hat, stützt sich auf die Aussage eines nach Westen geflüchteten Sowjetmajors, die anderweitig nicht bestätigt wurde. 1 3 7

7.

Die S t r a f v e r f o l g u n g d e r A u f s t ä n d i s c h e n

Von der Verhängung des Kriegsrechts bis zum Zusammentritt von Standgerichten der Besatzungstruppen war die Zeit nicht lang. Die Strafverfolgung von Streikenden und Demonstranten des 17. Juni setzte unmittelbar ein. Mindestens achtzehn „Konterrevolutionäre" und „Rädelsführer" wurden standrechtlich erschossen. Wieviel Juni-Aufständische von sowjetischen Militärtribunalen zu Zwangsarbeit verurteilt wurden, wird sich erst ermitteln lassen, wenn die Archive in Moskau uneingeschränkt zugänglich sind. In Ostberlin wurde der aus Westberlin stammende 36jährige arbeitslose Maler Willy Göttling, der Frau und zwei Kinder hinterließ, „zum Tode durch Erschießen verurteilt", wie der Chef der Garnison, Generalmajor R T. Dibrowa,

133 134 135 136 137

Vgl. Dietrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 2 9 4 . Kommunique der Sitzung des Ministerrats der DDR. In: N D vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 . Es geschah im (uni 1953. Fakten und Daten, S. 42. Vgl. „Die Doppelhelden des 17. Juni". In: Neue Deutsche Hefte, Nr. 174/1982, S. 437. Hagen, D D R - Juni 53, S. 120.

Die Strafverfolgung der Aufständischen

61

am 18. Juni 1953 bekanntgab. 1 3 8 Wie er in die Unruhen in Ostberlin verwickelt worden war, ließ sich bis heute nicht klären. Dibrowas Behauptung, der Verurteilte sei „im Auftrage eines ausländischen Aufklärungsdienstes" als einer der „aktivsten Organisatoren der Provokationen und der Unruhen im sowjetischen Sektor von Berlin" hervorgetreten und habe „an den gegen die Machtorgane und die Bevölkerung gerichteten banditenhaften Ausschreitungen teilgenommen", war allerdings unbegründet. In Jena fiel der 26jährige Kraftfahrzeugschlosser Alfred Diener der sowjetischen Militärjustiz zum Opfer. Er wurde am 18. Juni 1953 durch ein Militärtribunal des Truppenteils Nr. 07335 zum Tode verurteilt und unverzüglich erschossen. Aus der schriftlichen Urteilsbegründung geht hervor, daß er für „konterrevolutionäre Handlungen" bestraft wurde, die sich gegen die SED und nicht etwa gegen die Okkupationsmacht gerichtet hatten. „Am 17. Juni 1953 wurde in Jena, Deutsche Demokratische Republik, ein konterrevolutionärer Aufstand organisiert. Einer der Organisatoren dieses Aufstandes ist der Angeklagte Diener, Alfred, der an der Spitze von einigen Aufrührern in die Räume der Kreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands eindrang. Diener betrat persönlich den Arbeitsraum des Sekretärs der Kreisleitung der Partei und forderte von dem Letztgenannten, daß dieser durch das geöffnete Fenster eine Ansprache vor den Aufständischen hält. Als der Sekretär die Forderung des Diener ablehnte, wandte sich Diener sofort an die Masse der sich auf der Straße befindlichen Aufrührer und rief sie zu einem Pogrom auf. Nach dem konterrevolutionären Aufruf des Diener stürzte sich der Haufen der Aufrührer in die Räume der Kreisleitung der Partei und veranstaltete ein Pogrom darin. Dabei wurden dem Sekretär der Kreisleitung schwere körperliche Verletzungen zugefügt." 1 3 9 Das Urteil gründete sich im wesentlichen auf Artikel 58 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der RSFSR, der den Tatbestand des bewaffneten Aufstands und des Eindringens von bewaffneten Banden in das Sowjetgebiet in konterrevolutionärer Absicht unter Strafe stellte, es dokumentierte insoweit die absurd verfehlte Anwendung durch die sowjetische Militärjustiz in der DDR. In Magdeburg starben am 18. Juni 1953 zwei zum Tode verurteilte Teilnehmer des Juni-Aufstands. Ihre Verurteilung wurde durch den sowjetischen Militärkommandanten der Stadt Magdeburg öffentlich mitgeteilt: „Ich mache hiermit bekannt, daß die Einwohner der Stadt Magdeburg, Dartsch, Alfred, und Stauch 1 4 0 , Herbert, wegen der aktiven provokatorischen Handlungen am 17. Juni 1953, die gegen die festgelegte Ordnung gerichtet waren, als auch gegen die Teilnahme an den banditenhaften Handlungen vom Gericht des Mili-

138 Zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, Denkschrift, S. 62; die folgenden Zitate ebd. 139 Urteil des Militärtribunals der Truppeneinheit 0 7 3 3 5 vom 18.6.1953, zitiert in MenschenRechte; vgl. dazu auch Döbert, Der Schrei nach Freiheit, S. 2ff. 140 Im Original fälschlich „Strauch", K.W.F.

62

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

tärtribunals durch Erschießen verurteilt worden sind." 141 Die Bekanntmachung schloß mit der Feststellung, daß beide Urteile am 18. Juni 1953 vollstreckt worden seien. Alfred Dartsch wurde beschuldigt, einen Volkspolizisten erschossen zu haben. Näheres ist nicht bekannt. Dagegen liegt das gegen den 36jährigen Gewerbetreibenden Herbert Stauch ergangene Urteil vor. Es dokumentiert nicht nur sowjetische Justizwillkür, sondern zugleich den politischen Mut des Opfers: „Stauch, Mitglied der CDU-Partei, war an der konterrevolutionären Kundgebung vom 17. Juni 1953 gegen das Besatzungsregime und die örtlichen Machtorgane aktiv beteiligt. Als Mitglied der vierköpfigen Delegation, gewählt von der Menschenmasse, drang er ins Polizeipräsidium ein, wo er die Gewährung der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten für die Rebellen, die Freilassung der Staatsverbrecher, sowie die Regierungsablösung forderte." 1 4 2 Insgesamt sind wie gesagt 18 Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Juni-Aufständische registriert worden, die zwischen dem 17. und dem 22. Juni 1953 vollstreckt wurden 1 4 3 - außer wie dargelegt in Ostberlin, Jena und Magdeburg kam es zu standrechtlichen Erschießungen auch in Apolda, wo am 20. Juni der 17jährige Axel Schläger füsiliert wurde. In Bitterfeld wurde der Zimmermann Hermann Stieler standrechtlich erschossen. In Gotha wurde am 22. Juni der Volkspolizei-Unterleutnant Günter Schwarzer erschossen. In Leipzig wurden der 17jährige Lehrling Peter Heider, der 24jährige Walter Schädlich und der 25jährige Arbeiter Heinz Sonntag durch sowjetische Standgerichte verurteilt und hingerichtet. In Leipzig wurde ferner der 42jährige Eberhard von Cancrin aus Geithain „durch die Freunde" erschossen, wie das MfS in einem Bericht formulierte, 1 4 4 in Stralsund wurden am 19. Juni die SeepolizeiAngehörigen Ernst Markgraff und Hans Wojkowsky erschossen. Auch in Ostberlin sollen sowjetische Pelotons drei Volkspolizisten füsiliert haben. Ihre Namen blieben unbekannt. Das SMT Görlitz verhängte gegen zwei junge Görlitzer die Todesstrafe, gegen Herbert Tschirner und Stefan Weingärtner. Beide Todesurteile wurden später in Freiheitsstrafen von 20 bzw. 25 Jahren umgewandelt. 1 4 5 Neben der Todesstrafe verhängten sowjetische Militärgerichte in der DDR im Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand zahlreiche auf Zwangsarbeit lautende Strafurteile. Zwar ist die Zahl der Verurteilten nicht zu recherchieren gewesen, aber daß Hunderte von ihnen in die Zwangsarbeitslager von Workuta

141 Bekanntmachung des Militärkommandanten der Stadt Magdeburg, zitiert in Fricke, Todesstrafe für Magdeburger Provokateur. In: DA, Nr. 5 / 1 9 9 3 , S. 529. 142 Urteil des Militärtribunals der Truppeneinheit 92401 vom 18.6.1953 (Archiv HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, Personalakte Herbert Stauch, PA Nr. 241). 143 Vgl. Voiksaufstands-Teilnehmer immer noch nicht rehabilitiert, Situationsbericht des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen vom 14.6.1967. 144 Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. II, S. 155. 145 Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. IV, S. 311 f.

Die Strafverfolgung der Aufständischen

63

verbracht wurden, steht außer Zweifel. Einer von ihnen war der HochfrequenzIngenieur Siegfried Berger, Jahrgang 1918. Sein „konterrevolutionäres Verbrechen" hatte darin bestanden, am frühen Morgen des 17. Juni im VEB Funkwerk Berlin-Köpenick während einer Betriebsversammlung als Wortführer seiner Kollegen zum Streik und zu einer Demonstration aufgerufen zu haben. Mit weniger als zwei Dutzend Nein-Stimmen hatten sich die rund 2 000 versammelten Funkwerker dafür entschieden und waren zu einem Marsch ins Zentrum von Berlin aufgebrochen, der schließlich - nach Verhängung des Ausnahmezustandes - von der Volkspolizei mit Waffengewalt gestoppt wurde. In den Morgenstunden des 20. Juni wurde Berger als „faschistischer Provokateur" festgenommen und nach zehn Tagen Untersuchungshaft beim Staatssicherheitsdienst der sowjetischen Geheimpolizei in Berlin-Karlshorst überstellt. Nach knapp zwei Dutzend Verhören wurde er als „Schumacher-Agent" nach zweitägiger Verhandlung am 2. Oktober 1953 von dem sowjetischen Militärtribunal der Militäreinheit Nr. 48240 in „nichtöffentlicher Gerichtssitzung am Ort der Haft" zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt - wie stets in vergleichbaren Fällen wegen Verbrechens nach Artikel 5 8 - 2 und 5 8 - 1 0 des Strafgesetzbuches der RSFSR. 1 4 6 Knapp acht Monate danach wurde er in ein Straflager in der Region Workuta verbracht, von wo er am 10. Oktober 1955 heimgekehrt ist. Strafprozesse gegen Juni-Aufständische vor sowjetischen Militärgerichten fanden nur verhältnismäßig kurze Zeit statt. Nach Wiederherstellung dessen, was die sowjetischen Stadtkommandanten in ihren Befehlen über den Ausnahmezustand „die festgelegte Ordnung" genannt hatten, setzten Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst mit ihrem Kesseltreiben ein. Die ersten Festnahmeaktionen wurden bereits in der Nacht vom 17. zum 18. Juni ausgelöst. Der Apparat der Staatssicherheit wurde durch folgendes „Blitz"-Fernschreiben des MfS Berlin an alle Bezirksverwaltungen auf Touren gebracht: „Die besondere Lage erfordert ein energisches Handeln, deshalb Hetzer, Saboteure, Rädelsführer und Provokateure und andere Elemente, die sich besonders hervortun, sofort festnehmen. Täglich die Zahl der Festgenommenen melden. Mielke." 147 Offenbar wollte der damals noch zweite Mann im MfS das Versagen der Staatssicherheit am 17. Juni durch operativen Übereifer kompensieren. Schon wenige Tage nach dem Aufstand fanden die ersten Strafprozesse statt. Tausende sogenannter Provokateure und Rädelsführer waren zu diesem Zeitpunkt vorläufig festgenommen - zu rund zwei Dritteln übrigens rekrutierten sie sich aus Arbeitern - , und eine schier schrankenlose Rachejustiz schien um sich zu greifen. Ganz so exzessiv, wie nach der ersten Verhaftungswelle zu befürchten gewesen war, sollte sich die Strafverfolgung indes nicht gestalten. Die Solidarisierung vieler Arbeiter mit ihren in Haft genommenen Kollegen

146 Vgl. Urteil des Militärtribunals der Militäreinheit Nr. 4 8 2 4 0 vom 2.10.1953, zitiert in Berger, Ich nehme das Urteil nicht an, S. 87ff. 147 Fernschreiben Nr. 529 vom 18.6.1953 (BStU Rep. 2 Nr. 395, Bl. 132).

64

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

verhinderte das Schlimmste. In seiner bereits zitierten Entschließung vom 21. Juni 1953 hatte das ZK der SED die Notwendigkeit unterstrichen, „mit größter Sorgsamkeit zu unterscheiden zwischen den ehrlichen, um ihre Interessen besorgten Werktätigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten - und den Provokateuren selber. Ehrliche Arbeiter, die zeitweilig irregingen, haben deswegen nicht aufgehört, ehrliche Arbeiter zu sein, und sind als solche zu achten." Das verstand sich auch als grundsätzliche Orientierung für die Strafgerichte, die häufig darauf zurückgriffen, um ihre Entscheidungen zu begründen. „Der Angeklagte nahm am 17. Juni 1953 an einer in der Betriebsversammlung beschlossenen Demonstration gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen teil. Die Demonstration begann um 13 Uhr in Wilhelmsruh über Pankow, Schönhauser Allee zum Nordbahnhof. Hier wurde der Demonstrationszug aufgelöst mit der Begründung, daß in Stadtmitte Unruhen ausgebrochen seien und dort geschossen würde. Der Angeklagte wollte sich nun zum Potsdamer Platz begeben, da er gehört hatte, daß von dort die S-Bahn wieder fahren sollte. Unterwegs trank er mit einigen Kollegen noch einige Biere. An der Ecke Behrenstraße, wo sich einige Menschen angesammelt hatten, rief er mit seinen Kollegen diffamierende Äußerungen gegen hohe Funktionäre unserer Regierung aus. Hierauf wurde er festgenommen." 148 Die Anklage lautete auf Landfriedensbruch. Das Verfahren gegen den Schlosser, der immer einer ordnungsgemäßen Arbeit nachgegangen war, wurde mit folgender Begründung eingestellt: „Der Angeklagte hat inzwischen seinen Irrtum eingesehen und weiß, daß er sich strafbar gemacht hat. Er gehört nicht zu den von den Kriegshetzern gekauften Provokateuren, die die Unruhen in Berlin bewußt organisiert haben, sondern ist einer der ehrlichen Arbeiter, von denen die Erklärung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 21. Juni 1953 sagt, daß sie, wenn sie auch zeitweilig irregingen, nicht aufgehört haben, ehrliche Arbeiter zu sein und als solche zu achten sind. Der Angeklagte ist zwar auch schuldig, denn ohne die Teilnahme aller dieser Arbeiter hätte es gar nicht zu den Ereignissen in Berlin kommen können, aber das Gericht hat von dem Angeklagten den Einruck, daß er aus seinen Fehlern lernen wird und in Zukunft in seiner Arbeit zeigen wird, daß er Fehler gutmachen wird." Das Urteil macht exemplarisch, wie politische Orientierungen in die juristische Argumentation der Strafgerichte einflössen. Für den justizpolitischen Kurs des Regimes war es insoweit typisch, als es Nachsicht gegenüber „irregeleiteten" Arbeitern reflektierte. Gegen vermeintliche oder tatsächliche „Rädelsführer" wurde das Strafrecht indes mit hemmungsloser Härte angewandt. Zu welchen im Grunde ungeheuerlichen Entscheidungen die DDR-Strafjustiz nach dem 17. Juni fähig sein konnte, weil sie politisch gewollt waren, demonstrierte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle/Saale durch ein Todesurteil, das bereits am 22. Juni 1953 erging - fünf Tage nach dem Juni-

148 Beschluß des Stadtgerichts Berlin vom 24.6.1953. In: Neue Justiz, Nr. 1 2 - 1 3 / 1 9 5 3 , S. 422; das folgende Zitat ebd.

Die Strafverfolgung der Aufständischen

65

Aufstand. Weil sie sich in der Saalestadt aktiv an den „Ausschreitungen" des 17. Juni beteiligt haben sollte, wurde eine Frau dem Henker überantwortet, von der nicht einmal gewiß war, wie ihr richtiger Name lautete. Die Hallenser Richter verurteilten sie als Erna Dorn geborene Kaminski alias Brüser alias Scheffler alias Gewald. Ihre Geschichte dürfte sich kaum jemals mehr entwirren lassen, aber sie ist untrennbar mit dem Juni-Aufstand in Halle verbunden. Tatsache ist, daß die Verurteilte, geboren 1911 in Tilsit, zuletzt in Halle ansässig, am 21. Mai 1953 vom selben Bezirksgericht als vermeintliche „Kommissarin" der Gestapo wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Konzentrationslager Ravensbrück mit 15 Jahren Zuchthaus bestraft worden war. 1 4 9 Schon dieses Urteil strotzte vor juristischen Ungereimtheiten und ungelösten Widersprüchen. Sie verbüßte ihre Strafe in der Haftanstalt II in Halle. Aus diesem Frauen-Gefängnis wurde sie zusammen mit anderen Häftlingen am Nachmittag des 17. Juni 1953 von Aufständischen befreit. Nachdem sie sich in der Evangelischen Stadtmission hatte Zivilkleider beschaffen können, begab sie sich auf den Hallmarkt, wo sie vor den dort versammelten Demonstranten wie andere auch das Wort ergriffen haben soll: „Am Hallmarkt angekommen, sprach sie zu der anwesenden Menge und bedankte sich bei ihr für ihre .Befreiung'", heißt es im Urteil. „Weiterhin sagte sie, daß sie in Erfahrung gebracht habe, daß die Regierung der DDR gestürzt sei und daß nun endlich der Tag der Befreiung gekommen sei. Diese provokatorischen und hetzerischen faschistischen Tiraden schloß sie mit den Rufen: ,Es lebe die Freiheit. Es lebe die Revolution. Nieder mit der Regierung der DDR'." In seiner politischen Zielsetzung war das Urteil eindeutig: Zur Charakterisierung des Juni-Aufstands als „faschistischer Putschversuch" war eine „Rädelsführerin" mit belasteter NS-Vergangenheit gefragt - und eben dazu wurde „Erna Dorn" hochstilisiert. Das Urteil wurde, nachdem es für rechtskräftig erklärt war, durch Enthauptung vollstreckt. Aber: „Wer am 1. Oktober 1953 in Dresden hingerichtet wurde, ließ sich bis heute nicht aufklären. Alle Indizien zeugen von einer Frau, die geistig verwirrt war, aber zugleich die großen Themen der Zeit (NS-Vergangenheit, Ost-West-Konflikt, SpionageHysterie) jeweils ohne Rücksicht auf die persönlichen Folgen in ihre Biographie einbaute." 1 5 0 Obwohl die SED in den von ihr kontrollierten Medien eine hemmungslose Agitation und Propaganda um die vermeintliche „SS-Kommandeuse des Frauen-KZ Ravensbrück" vor und nach dem Hallenser Prozeß entfachen ließ, wurde die Hauptverhandlung an einem einzigen Tag unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchgepeitscht. Warum verzichteten die Herrschenden auf einen öffentlichkeitswirksamen Schauprozeß, der sich für die SED geradezu angeboten hätte, wenn der Fall so eindeutig gewesen wäre, wie er in der Agitation dargestellt wurde? 149 Zitiert in Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 183ff., der den Fall ausführlich recherchiert hat; das folgende Zitat ebd. 150 Ebd., S. 198.

66

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Der Hallenser Prozeß war für die Strafverfolgung der Juni-Aufständischen auch insofern signifikant, als der Termin genau dem Stichtag entsprach, zu dem nach einer mehrtägigen Phase der Untätigkeit beim Ostberliner Stadtgericht wie an den Bezirksgerichten der DDR die Strafprozesse gegen JuniAufständische kampagneartig einsetzten. In Ostberlin begann die Verfolgung mit der Anklage des Westberliner Studenten Wolfgang Gottschling. Politisch engagiert in der FDP, hatte er sich am 17. Juni nach Ostberlin begeben, um sich hier über das Geschehen zu informieren. In der Friedrichstraße war er festgenommen worden. Das Stadtgericht Berlin unter Vorsitz von Götz Berger verurteilte Wolfgang Gottschling am 22. Juni 1953 als „Rädelsführer" zu sechs Jahren Zuchthaus. „Er hetzte zu Brandstiftung, Raub und Mord." 1 5 1 Die Hauptverhandlung wurde als Schauprozeß inszeniert, obwohl die Beweislage so dürftig war, daß Gottschlings Verteidiger sogar auf Freispruch plädierte gegen den Staatsanwalt, der sechs Jahre Zuchthaus beantragt hatte 1 5 2 . Das Gericht, seiner Parteilichkeit bewußt, entsprach dem. Es wollte ein Exempel statuieren. Gottschling, obwohl völlig unschuldig, mußte die Hälfte seiner Strafe verbüßen. Zur Steuerung und Kontrolle der justitiellen Entscheidungen wurde unter Vorsitz von Hilde Benjamin, damals noch Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, in Ostberlin ein Operativstab gebildet, dem durch Instrukteure bei den Gerichten vor Ort alle anhängigen Entscheidungen vor ihrer Verkündung unterbreitet wurden. Nach kritischer Kenntnisnahme durch Benjamin wurde den Instrukteuren fernmündlich mitgeteilt, welche Weisung sie an die zuständigen Richter weiterzugeben hatten. „Es erging kein wichtiges Strafurteil ohne eine solche Weisung". 1 5 3 Waren es solche irritierenden Wahrnehmungen, die ein Interview inspirierten, mit dem Justizminister Max Fechner (SED) mäßigend auf die Strafjustiz hatte einwirken wollen? Vermutlich konsterniert von der hohen Zahl der unmittelbar nach dem Aufstand einsetzenden Festnahmen - immerhin waren bis zum 30. Juni republikweit 6 171 Festnahmen im Zusammenhang mit der Erhebung vorgenommen worden 1 5 4 - , müssen den ehemaligen Sozialdemokraten Skrupel überkommen haben. Gemeinsam mit seinem Pressereferenten veranlaßte er die Veröffentlichung einer Stellungnahme in Form eines Interviews, das dem Zentralorgan des ZK der SED druckfertig, mit Fragen und Antworten, zugeleitet worden war. „Neues Deutschland" druckte den Text am 30. Juni 1953 unter der Schlagzeile „Alle Inhaftierten kommen vor ein ordentliches Gericht". Der entscheidende Passus: „Es dürfen nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten. Andere

151 So der Text zu einem Bild des Verurteilten in: Dokumentation der Zeit Nr. 5 1 / 1 9 5 3 , Sp. 2813 152 Vgl. Wolff, Verlorene Prozesse, S. 13 ff. 153 Aussage des ehemaligen Abteilungsleiters im DDR-Justizministerium Dr. Rudolf Reinartz vom 9.11.1953, zitiert in Unrecht als System, Bd. II, S. 78. 154 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 3 0 0 .

Die Strafverfolgung der Aufständischen

67

Personen werden nicht bestraft. Dies trifft auch für Angehörige der Streikleitung zu. Selbst Rädelsführer dürfen nicht auf bloßen Verdacht oder schweren Verdacht hin bestraft werden. Kann ihnen ein Verbrechen nicht nachgewiesen werden, sind keine Beweise vorhanden, erfolgt keine Bestrafung." 1 5 5 Strafrechtliche Konsequenzen drohte Fechner lediglich bei Brandstiftung, Raub, Mord und anderen „gefährlichen Verbrechen" an - was selbstverständlich war. Zwei Tage nach Erscheinen des von vielen Zeitungen in der DDR nachgedruckten Interviews folgte eine „Berichtigung", die Fechners Stellungnahme politisch noch zuspitzte: „Es dürfen nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten. Andere Personen werden nicht bestraft. Dies trifft auch für die Angehörigen der Streikleitung zu. Das Streikrecht ist verfassungsmäßig garantiert. Die Angehörigen der Streikleitung werden für ihre Tätigkeit als Mitglieder der Streikleitung nicht bestraft." 1 5 6 Fechner bezahlte sein ominöses Interview mit seinem Sturz als Justizminister und einer Verurteilung nach Artikel 6 Absatz 2 der DDR-Verfassung. Gleichwohl mag er bei Staatsanwaltschaften und Strafgerichten zunächst das Bewußtsein für ein differenziertes Vorgehen geschärft haben. Das spiegelt sich auch in einem von Hilde Benjamin, inzwischen Ministerin der Justiz, und Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer am 5. März 1954 vorgelegten Bericht über „die Aburteilung der Provokateure des Putsches vom 17.6.1953" wider, der für den Zeitraum bis Ende Januar 1954 folgende Angaben enthielt: „Von den 1526 Angeklagten, die verurteilt wurden, erhielten 2 Angeklagte die Todesstrafe, 3 Angeklagte lebenslänglich Zuchthaus, 13 Angeklagte Strafen von 10-15 Jahren, 99 Angeklagte Strafen von 5 - 1 0 Jahren, 824 Angeklagte Strafen von 1 - 5 Jahren und 546 Angeklagte Strafen bis zu einem Jahr." 157 39 Angeklagte wurden offenbar, ohne daß dies ausdrücklich vermerkt wurde, freigesprochen. Weitere 123 Strafverfahren waren zum Zeitpunkt des Berichts noch anhängig, aber die Dauer der Untersuchungshaft läßt vermuten, daß sie mit einer Verurteilung endeten. Die Gesamtzahl aller im Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand von DDR-Gerichten Verurteilten belief sich danach auf etwa 1600. Von den beiden erwähnten Todesurteilen, die durch DDR-Gerichte verhängt wurden, erging wie dargelegt eines im Fall „Erna Dorn", das andere wurde gegen den Gärtner Ernst Jennrich aus Magdeburg ausgesprochen. 1 5 8 Er hatte sich am 17. Juni in der Elbestadt an Demonstrationen „etlicher Tausend Menschen" und an Unruhen vor dem Zuchthaus Magdeburg-Sudenburg beteiligt. „Zuerst wurde das Tor eingeschlagen, danach wurden Akten auf den Fuß-

155 „Alle Inhaftierten kommen vor ein ordentliches Gericht", Interview mit dem Minister der Justiz, Max Fechner, über die mit dem 17. luni in Zusammenhang stehenden Verhaftungen. In: N D vom 30.6.1953. 156 „Berichtigung". In: N D vom 2.7.1953. 157 Zitiert in Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 146f. 158 Vgl. dazu Fricke, Todesurteil für Magdeburger .Provokateur', S. 527ff.; die folgenden Zitate ebd.

68

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

boden gelegt, unter das Torweg [sie!], und in Brand gesteckt. In diesem Moment fielen einige Schüsse, vermutlich aus dem Gerichtsgebäude.[...] Hierbei wurde ein Angehöriger vom MfS (Oberfeldwebel Hans Waldbach) erschossen. Nachdem die Tür der Wache in Brand gesteckt wurde und die Wache demoliert worden war, fielen weitere Schüsse, wobei noch der VP-Angehörige (Gerhard) Händler, Strafvollzug Sudenburg, und der VP-Angehörige (Georg) Gaidzik, SK (Sonderkommando) der BDVP erschossen wurden. Sämtliche drei Genossen befanden sich innerhalb des Objektes. Der Genosse vom MfS schaute in den Spion an der Tür, worauf dann von den Provokateuren ein wohlgezielter Schuß den Genossen durch Kopfschuß traf. Während dessen kamen die Freunde der Roten Armee und besetzten mit einem Panzerwagen das Tor der Strafvollzugsanstalt." Das Zuchthaus Magdeburg-Sudenburg wurde folglich nicht erstürmt - erstürmt wurde die Untersuchungshaftanstalt der VP in Magdeburg, wobei 211 Häftlinge befreit wurden. Ernst Jennrich wurde am 2. Juli 1953 in Untersuchungshaft genommen. Nach der Beweisaufnahme vor Gericht konnte ihm zwar die Beteiligung an den Tumulten vor dem Zuchthaus, nicht jedoch ein Mord nachgewiesen werden, wie der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in seinem erstinstanzlichen Urteil vom 25. August 1953 ausdrücklich feststellte. „Bei der Prüfung einer so schwerwiegenden Frage, ob der Angeklagte der Mörder ist oder nicht, müssen die nach Ansicht des Gerichts bestehenden Widersprüche und die daraus resultierenden Zweifel zu Gunsten des Angeklagten ausgelegt werden. Die Beweiskette ist deshalb nicht lückenlos geschlossen, um ihn als der Tat überführt anzusehen." Durch Protest des Staatsanwalts angefochten, wurde das Urteil vom Obersten Gericht aufgehoben. In zweiter Instanz erkannte das Bezirksgericht trotz unveränderter Beweislage am 6. Oktober 1953 auf Todesstrafe. Es entschied auf Weisung aus Ostberlin. Am 20. März 1954 wurde Ernst Jennrich, 42 Jahre alt, Vater von vier Kindern, in Dresden durch Enthauptung hingerichtet. Lebenslängliche Zuchthausstrafen wegen aktiver Beteiligung an Auseinandersetzungen mit Funktionsträgern des Regimes wurden gegen Lothar Markwirth (Bezirksgericht Dresden), Gerhard Römer (Bezirksgericht Magdeburg) und Kurt Unbehauen (Bezirksgericht Gera) verhängt. 1 5 9 Dreizehn Angeklagte erhielten zehn bis 15 Jahre Zuchthaus, unter ihnen der Dresdner Sozialdemokrat Wilhelm Grothaus, dessen Schicksal Heidi Roth besonders herausgearbeitet hat. 1 6 0 Ein spätes Nachspiel vor dem Strafgericht hatte auch die legendäre Dampferfahrt am 13. Juni 1953 auf dem Müggelsee. Obwohl sie sich bereits seit dem 18. bzw. 19. und 20. Juni 1953 in Untersuchungshaft befunden hatten, wurden vier damalige „Rädelsführer", Maurer und Bauarbeiter sie alle, erst am 26. Mai 1954 vom Stadtgericht Berlin zu Zuchthausstrafen zwischen vier und zehn Jahren verurteilt: Max Fettling, Karl Foth, Otto Lembke und Berthold Stanicke.

159 Vgl. dazu Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, S. 70ff. 160 Vgl. die vorliegende Monographie, Kap. III, S. 192-211; Kap. VII, S. 5 3 7 - 5 4 9 .

Die Strafverfolgung der Aufständischen

69

Aus der Sicht des Gerichts stellte sich die Rolle der vier Angeklagten beim Zustandekommen des seinerzeitigen Streikbeschlusses auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain wie folgt dar: „Außer bezahlten und beauftragten Agenten sind auch eine Reihe verantwortungsloser und der Arbeiter-und-Bauernmacht feindlich gesinnter Bürger der DDR den Hetzparolen und -Weisungen des RIAS und der Westpresse gefolgt und haben durch Gerüchte Unruhe in die Bevölkerung getragen. Sie nutzten dabei geschickt eine gewisse und zum Teil berechtigte Unzufriedenheit vor allem unter den Bauarbeitern, die auf Grund der Normenfestsetzung entstanden war, aus, und es gelang ihnen, zum Teil für eine kurze Zeit eine Reihe von Arbeitern irrezuführen. Die Angeklagten sind auf Grund ihrer feindlichen Einstellung zur Deutschen Demokratischen Republik den Parolen der westlichen Kriegstreiber und ihrer Agenten gefolgt und haben wesentlich dazu beigetragen, daß es auf den entscheidenden Baustellen in Berlin zu Arbeitsniederlegungen der Bauarbeiter kam." 1 6 1 Die juristische Aufarbeitung des Juni-Aufstands fand ihren Höhepunkt in einem Schauprozeß vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts, der gezielt auf den ersten Jahrestag der Erhebung hin inszeniert worden war. Das Urteil wurde am 14. Juni 1954 verkündet. 1 6 2 Der Prozeß, der sich über vier Tage erstreckte, führte vier Angeklagte als „Hintermänner" des Juni-Aufstands vor. Sie waren durch List aus Westberlin entführt worden: Dr. Werner Silgradt, Werner Mangelsdorf, Hans Füldner und Horst Gassa. Die politische Regie hatte ihnen die Rolle von Kronzeugen dafür zugedacht, daß der 17. Juni als „Tag X" von westlichen Geheimdiensten inszeniert worden sei. „Das vorliegende Verfahren hat den Beweis für den großen Umfang und die Intensität erbracht, mit der der faschistische Putsch am 17. Juni von den Kriegstreibern organisiert wurde und der geplante neue Tag X vorbereitet wird." So die Urteilsbegründung. Gerade diesen Beweis war das Gericht schuldig geblieben, obwohl es sich unredlich genug bemüht hatte. Seine überlangen Ausführungen über den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, als dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hauptangeklagte Silgradt tätig gewesen war, machten das ebenso anschaulich wie die „Enthüllungen" über das „Komitee 17. Juni", bei dem der Angeklagte Werner Mangelsdorf, einer der „Rädelsführer" des Juni-Aufstands in Gommern, nach seiner Flucht nach Westberlin mitgewirkt hatte. Auch über das Ostbüro der FDP in Westberlin, bei dem die Angeklagten Füldner und Gassa angestellt gewesen waren, verbreitete das Oberste Gericht Behauptungen jenseits der Wahrheit. „Nachdem in konzentrierter Art und in Form einer Verschwörung der Tag X vor dem 17. Juni 1953 von allen verbrecherischen Organisationen unter Leitung des Kaiser-Ministeriums durch verstärkte Zer-

161 Urteil des Stadtgerichts Berlin vom 26.5.1954, zitiert in Unrecht als System, S. 128. 162 Urteil des Obersten Gerichts vom 14.6.1954 (Az.: 1 Zst (I) 7/54; Archiv K.W. F.); die folgenden Zitate ebd.

70

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

setzungsarbeit, insbesondere durch die Ausdehnung der Spionagetätigkeit sowie durch die Schaffung eines weit verzweigten Agentennetzes in der Deutschen Demokratischen Republik vorbereitet worden war, erfolgte die Auslösung des Putsches durch Einsatz von Provokateuren im demokratischen Sektor von Groß-Berlin und in den Bezirken der Deutschen Demokratischen Republik." Von dieser Qualität war die gesamte Beweisführung. Das Gericht war nicht imstande, auch nur einen einzigen Emissär aus Westberlin konkret zu benennen, der an der Vorbereitung oder Auslösung des Aufstands beteiligt gewesen wäre. Ein Beweis, daß der Aufstand von westlichen Agentenzentralen geplant, vorbereitet und gesteuert worden war, ist auch sonst in keinem einzigen Strafprozeß erbracht worden. Er existierte nicht. Das Oberste Gericht aber warf im Prozeß gegen Werner Silgradt, Werner Mangelsdorf und andere Zuchthausstrafen nach Artikel 6 Absatz 2 der Verfassung von fünf bis fünfzehn Jahren aus. Den fatalen Schlußpunkt der „justitiellen Bewältigung" des Juni-Aufstands setzte das Oberste Gericht am 24. Mai 1955 mit einem Geheimprozeß. Als Angeklagter fand sich Max Fechner vor dem 1. Strafsenat, der Mann, der in den frühen fünfziger Jahren als Justizminister das Seine dazu getan hatte, die Strafjustiz der DDR zu einem politischen Herrschaftsinstrument umzufunktionieren. Nun wurde er selber ihr Opfer. 163 Zum Verhängnis war ihm sein Interview zur Straffreiheit für Streikende vom 17. Juni geworden. Knapp zwei Wochen nach seinem Erscheinen war er am 14. Juli 1953 vor das Politbüro der SED zitiert worden, um Rede und Antwort zu stehen. Danach beschloß die Führung der Partei (!) laut Protokoll: „1. Max Fechner wird wegen partei- und staatsfeindlichen Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen. 2. Fechner wird seiner Funktion als Justizminister enthoben und in Untersuchungshaft genommen." 1 6 4 Tags daraufließ Ministerpräsident Otto Grotewohl mitteilen, er habe „Herrn Max Fechner wegen republikfeindlicher Tätigkeit von seinem Amte als Minister der Justiz enthoben" 1 6 5 . Auf seiner 15. Tagung sanktionierte das Zentralkomitee der SED den Polibürobeschluß. Fechner wurde als „Feind der Partei und des Staates" 166 sowohl aus dem ZK wie aus den Reihen der SED ausgeschlossen. Als dieser Beschluß im Plenum des ZK gefaßt wurde, war der Ex-Minister bereits in Untersuchungshaft beim MfS. Die Ermittlungen führten jedoch nicht zu dem erstrebten Ergebnis. Trotz Isolationshaft, trotz Schlafentzugs durch Nachtvernehmungen mit Schlafverbot tagsüber, trotz Vorenthalt jeder persönlichen oder postalischen Verbindung dauerte es fast zwei Jahre, bis Fechner für den Prozeß „reif" war. Das einzige, was der Untersuchungsführer erreichte, 163 164 165 166

Vgl. dazu Fricke, Justiz im Auftrag der Partei, S. 26ff. Zitiert in Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 136. „Max Fechner seines Amtes enthoben". In: N D vom 16.7.1963. Kommunique der 15. Tagung des ZK der SED. In: Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei, S. 103.

Die Strafverfolgung der Aufständischen

71

war Fechners Distanzierung von seinem Interview, insoweit es sich „schädlich gegen die Interessen der Werktätigen in der Deutschen Demokratischen Republik" ausgewirkt „und damit den Feinden der Deutschen Demokratischen Republik von Nutzen" gewesen sein sollte 167 . Seine „falsche Einschätzung der faschistischen Provokation am 16.6. und 17.6.1953", so räumte Fechner ein, entspringe „sicher einer opportunistischen Einstellung." Gerichtsverwertbares Belastungsmaterial gegen einen „Staatsverbrecher" war das nicht. Dennoch wurde Anklage erhoben. Um dem Beschuldigten, dem ausdrücklich „schwerer Verrat an den nationalen Interessen des deutschen Volkes" attestiert wurde, auch in das Zwielicht moralischer Verfehlungen zu rücken, erstreckte sich die Anklage zusätzlich auf „Unzucht zwischen Männern". Und es fanden sich Richter, die gegen den ehemaligen Justizminister und Mitbegründer der SED auf dieser Grundlage ein Urteil fällten. Aus der schriftlichen Urteilsbegründung, in deren Mittelpunkt Fechners Interview stand, wird die folgende Passage deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil sie für die Geschichte des 17. Juni selbst aufschlußreich ist: „Dieses Interview führte in allen Bezirken der Deutschen Demokratischen Republik zu Unsicherheit in der Rechtsprechung. Die sachverständigen Zeugen Grube und Böhme haben bekundet, daß Richter und Staatsanwälte den Maßstab für die Beurteilung der von ihnen zu bearbeitenden Strafsachen verloren. Auf diese Weise war es möglich, daß eine Reihe von übelsten Provokateuren aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, daß Strafverfahren unberechtigterweise eingestellt wurden oder mit einem Freispruch endeten, und daß innerhalb der Bevölkerung erhebliche Unruhe entstand, wenn Provokateure verurteilt wurden. Diese Unsicherheit trug der Angeklagte insbesondere mit der Bemerkung in die Rechtsprechung, daß Angehörige der Streikleitung und selbst Rädelsführer nur dann bestraft werden dürften, wenn sie schwere Verbrechen begangen haben. Dabei unterließ [es] der Angeklagte, daraufhinzuweisen, daß der Versuch, die Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik umzustürzen, eines der schwersten Verbrechen ist, und beschränkte sich nur auf die Aufzählung krimineller Verbrechen wie Mord, Raub und Brandstiftung. Dies entsprach vollkommen der Argumentation der Hintermänner des Putschversuches, um ihre vorgeschobenen Posten in der Deutschen Demokratischen Republik zu sichern und für neue republikfeindliche Verbrechen in Reserve zu halten. Nur dem sofortigen Eingreifen des Operativstabes, der Instrukteure in die Bezirke der Deutschen Demokratischen Republik entsandte, war zu verdanken, daß die Hauptmasse der Provokateure sich der Strafverfolgung nicht entziehen konnte. Andererseits hatte das Interview des Angeklagten zur Folge, daß es in einzelnen Betrieben zur erneuten Beunruhigung der Werktätigen kam, weil nicht alle im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 verhafteten Personen freigelassen wurden. Der Ange-

167 Vernehmungsprotokoll Max Fechner, zitiert bei Beckert/Fricke, Auf Weisung des Politbüros. Deutschlandfunk-Dokumentation vom 9.1.1992, S. l l f . (Manuskript).

72

Geschichte

und historische Deutung des

Aufstands

klagte leistete mit diesem Interview den Putschisten des 17. Juni 1953 direkte Hilfe." 168 Die Strafe für Fechner belief sich auf acht Jahre Zuchthaus. Interessanterweise wurde seine Verurteilung in der DDR niemals offiziell bekanntgegeben. Unter dem Einfluß des „politischen Tauwetters" nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der 3. Parteikonferenz der SED wurde am 19. April 1956 seine Freilassung und die Gewährung einer Rente von 1200 Mark beschlossen, gut zwei Jahre später seine Parteimitgliedschaft wiederhergestellt. Von einem gerichtlichen Freispruch oder einer juristischen Rehabilitierung ist bis zu seinem Tode nichts bekannt geworden.

8.

Die Reaktion der Politbürokratie

Ihren Schock über den 17. Juni hatte die Nomenklatura der SED erst überwunden, als mit der Verkündung des Ausnahmezustands die Machtfrage wieder geklärt war. Der bürokratisch-organisatorische Apparat der Partei schien tagelang wie paralysiert. Die Erstarrung der Partei war freilich durch die Politbürokratie selbst mit hervorgerufen. Die zentralistische Weisungen gewohnten, nie eigenverantwortlich handelnden Kader der mittleren Parteiebene, also die Leitungen in den Bezirks- und Kreisleitungen, blieben zeitweilig ohne politische Orientierung. Die innerparteilichen Informationsstrukturen versagten, als es darum ging, die Kader in der Provinz über die Vorgänge in Ostberlin zu unterrichten. Die Bezirksleitungen der SED selbst reagierten am 17. Juni nicht zuletzt deshalb so unentschlossen, weil sich ihre 1. Sekretäre am 16. Juni in Ostberlin befanden. Nicht ahnend, was an diesem Tage geschah, hatte Ulbricht sie zu einer Beratung über den Neuen Kurs in die Zentrale zitiert. Hier nun erlebten sie die Eskalation der Streiks zur Demonstration. Als sie unter dem Eindruck ihrer Erlebnisse in Ostberlin in ihre Bezirke zurückgekehrt waren, bildeten sie eilends Krisenstäbe, die teils am 17. Juni, teils erst am 18. Juni zusammentraten, um im Zusammenwirken mit den Bezirksdienststellen der VP und des MfS die Sicherheitslage in der Region zu beraten und notwendige Entscheidungen vorzubereiten. Eine Direktive vom 17. Juni, die offenbar in panischer Hektik im Politbüro erörtert worden war, wies die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen an, „die Führung so zu organisieren, daß das Sekretariat der Bezirksleitung genau informiert ist über alle Ereignisse in den Großbetrieben und Städten." Das Dokument, in dem bezeichnenderweise von „westlicher Agententätigkeit" noch keine Rede war, bezweckte die Mobilisierung der „gesamten Partei", und zwar auf folgende Weise: „1. In den Betrieben darf nicht zugelassen werden, daß Vertreter aus Berlin oder andere feindliche Agitatoren zugelassen [sie!] werden. Sogenannte Delegierte aus Berlin sind zu verhaften. 2. Uberall sind das 168 Urteil des Obersten Gerichts vom 24.5.1955 (AZ.: 1 Zst (I) 2/55; Archiv K.W.F.)

Die Reaktion der Politbürokratie

73

Aktiv der Partei und der FDJ sowie die Schüler von Partei- und FDJ-Schulen zu mobilisieren. Sie sind politisch zu instruieren und organisiert in Gruppen in den Betrieben und Wohngebieten einzusetzen. 3. Die Gruppen der Parteifunktionäre informieren ständig die Leitung, damit auf feindliche Argumente sofort geantwortet werden kann. 4. Aus Betrieben, wo die Belegschaft ein hohes Bewußtsein hat, sind Delegationen in solche Betriebe zu entsenden, wo schlechte Stimmungen sind, um die Belegschaften zu überzeugen, damit keine Arbeitsniederlegungen erfolgen. 5. Überall, wo sich Demonstrationsgruppen bilden, sind organisiert Gruppen von Funktionären einzusetzen für die Aufklärungsarbeit und für die Verhinderung von Demonstrationen. 6. Durch die Kräfte der Partei, der Polizei und des Betriebsschutzes sind alle Sicherungsmaßnahmen zu treffen, um Sabotageakte in den Betrieben zu verhindern. 7. In den Fällen, wo Arbeitsniederlegungen erfolgt sind, darf der Betrieb nicht geschlossen werden, sondern es ist eine individuelle Aufklärungsarbeit durchzuführen, daß die Arbeiter die Arbeit wieder aufnehmen." 1 6 9 Das Fußvolk der Partei, die Genossen an der Basis, faßten erst allmählich wieder Tritt, nachdem die Führung der SED, unter dem Schutz sowjetischer Waffen gleichsam neu ermutigt, zur politischen Gegenoffensive übergegangen war. Auf seiner 14. Plenartagung am 21. Juni, vier Tage nach dem Aufstand, fand das Zentralkomitee zu einer ersten Einschätzung nicht nur der Lage in der DDR, sondern auch der innerparteilichen Situation. Es beschloß unter anderem, „daß die Funktionäre auf allen Ebenen, die Funktionäre des zentralen Apparates, in den Bezirken und Kreisen mit dem morgigen Tage in die Betriebe gehen", zu Partei- und Belegschaftsversammlungen, „auf denen unsere Funktionäre die Fragen der Arbeiter und der anderen Werktätigen offen und kühn beantworten und den konsequenten Kampf aufnehmen für die Interessen der Arbeiterschaft, für das Wohl aller Werktätigen, für die Erklärung und Durchführung des neuen Kurses, für die Überwindung unrichtiger Auffassungen ehrlicher Arbeiter, aber gegen die Provokateure." 1 7 0 Ein politisch aufschlußreiches Indiz mußte darin erblickt werden, daß Otto Grotewohl, neben Wilhelm Pieck damals noch Parteivorsitzender der SED, im Plenum des ZK das Hauptreferat hielt und das Schlußwort sprach. Ulbricht, der sich nur in der Diskussion zu Wort meldete, schien als Generalsekretär der SED bereits abgeschrieben. Obwohl in den streikbeteiligten Betrieben noch viel Unruhe unter der Belegschaft war, unterzog sich die Parteiprominenz der unbequemen Pflicht und suchte die offene und offensive Auseinandersetzung - wenn natürlich auch abgeschirmt durch ihre Leibwächter. Walter Ulbricht sprach am 23. Juni zu den Arbeitern im VEB Großdrehmaschinenbau „7. Oktober" in Berlin-Weißensee, zwei Tage später in den nach ihm benannten Leuna-Werken „Walter Ulbricht", damals noch ein SAG-Betrieb. 169 Direktive an alle 1. Sekretäre der BL, zitiert in Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 115. 170 „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Beschluß des ZK der SED vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 . In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 436ff.

74

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Otto Grotewohl erschien im VEB Braunkohlenkombinat Böhlen - hier war er Namenspate. Fred Oelßner hatte am selben Tag im VEB Waggonbau Ammendorf sein „Meeting". Rudolf Herrnstadt stellte sich in dem SAG-Betrieb Siemens Plania in Ostberlin der Diskussion. Erich Honecker absolvierte seinen Agitationseinsatz am 24. Juni im VEB LOWA „Karl Marx" in Potsdam-Babelsberg, einem Werk für Lokomotiv- und Waggonbau, wo am 17. und 18. Juni gestreikt worden war - und so weiter. Insgesamt 29 solcher Betriebsmeetings fanden mit Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros bzw. des Zentralkomitees statt. „Ihre Verteilung zeigte die Schwerpunkte der Unruhen. Fast die Hälfte, nämlich 14 Diskussionen, wurden in Berlin veranstaltet, allein fünf in Baubetrieben, vier davon auf der Stalinallee. Sechs weitere Großdiskussionen wurden in Sachsen, vier in Sachen-Anhalt veranstaltet." 171 Die Nomenklatura hatte die Flucht nach vorn angetreten, aber ein durchschlagender politischer Erfolg war ihr versagt, allzu tief war die Glaubwürdigkeitskrise, in die sie geraten war. Selbst in Berichten und Kommentaren der Parteizeitungen spiegelte sich wider, wie wenig überzeugend die Aktion war. Der Schriftsteller Kurt Barthel („Kuba"), Kandidat des ZK, der zu den Bauarbeitern in der Stalinallee gegangen war, aber mußte sich im Zentralorgan der Partei offen tadeln lassen: „Manche Fragen beantwortete er überhaupt nicht. Besonders aber muß man kritisieren, daß er die Neigung zeigte, ,heiße Fragen' zu verwischen." 172 Der Parteibarde kam damit nicht besser davon als Honecker, der zwar „gut die augenblickliche Situation und den neuen Kurs in der Politik der Partei erläutert" habe, aber „nun sollte sich doch daran eine breite Diskussion anschließen, in der die Kumpel sprechen sollten, in der ihnen auf ihre offenen Fragen offene Antworten gegeben werden sollten. Wohlgemerkt: sollten. Dazu kam es aber nicht. Die langjährige Praxis der Schlafpillenverteilung wurde hier weiterhin mit einer Beharrlichkeit gepflegt, daß es einem die Gummischuhe auszog" mit der Folge, „daß einige Arbeiter einschliefen und andere mit dem Ruf .Alles alter Käse' die Versammlung verließen." 173 Das war allenthalben die Realität. Unlogisch handelte die Politbürokratie gleichwohl nicht, wenn sie zu den Arbeitern in die Betriebe ging, denn mit der Niederwerfung des Aufstands hatte sich der Widerstand der Arbeiter von der Straße zurück in die Betriebe und auf die Baustellen verlagert, von wo er ausgegangen war. Trotz der Verfolgung der Aufbegehrenden, die inzwischen massiv eingesetzt hatte, kam es in verschiedenen Städten und Regionen unterschiedlich selbst Wochen nach dem 17. Juni zu Streiks und Unruhen. Sie zogen sich bis weit in den Monat Juli hinein - zum Beispiel in den Jenaer Zeiss-Werken, in der Farbenfabrik Wolfen und in den Buna-Werken in Merseburg.

171 Baring, Der 17. Juni 1953, S. 117f. 172 „Kuba bei den Bauarbeitern". In: N D vom 2 8 . 6 . 1 9 5 3 . 173 Zitiert in Fricke, Erich Honecker und der 17. Juni, S. 115.

Die Reaktion der Politbürokratie

75

Die erste Forderung der Streikenden, offen auf Belegschaftsversammmlungen gestellt, galt nun der Freilassung ihrer als Streikführer verhafteten Kollegen - was die inzwischen zu ihrer arroganten Selbstgewißheit zurückgekehrte Agitation der SED besonders empörte. „Die Losung: .Heraus mit den politischen Gefangenen' ist eine Losung der faschistischen Strolche", las man im „Neuen Deutschland" vom 28. Juni. Und die „Freiheit" begegnete der Solidarität in gespielter Naivität: "In einigen Belegschaftsversammlungen wurde die Forderung nach Freilassung der am 17. Juni Verhafteten gestellt", berichtete das Hallenser Parteiblatt am 1. Juli 1953 aus dem Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld. „In einer Abteilung verfaßte man dazu sogar eine Entschließung. Anscheinend nehmen die Kollegen doch an, daß die Verhafteten schuldlos sitzen, und bringen damit ihr Solidaritätsgefühl zum Ausdruck. Aber kann man annehmen, daß unsere Staatsorgane Unschuldige verhaften?" Welch eine heuchlerische Frage nach dem parteioffiziellen Eingeständnis von ungerechtfertigten Verhaftungen und Verletzungen der Gesetzlichkeit im Zuge des Neuen Kurses. Parallel zu ihrer externen Gegenoffensive eröffnete die Politbürokratie eine interne Kampagne zur Säuberung und Disziplinierung der Partei. Dessen bedurfte es freilich dringend, denn die SED, und zwar sowohl die Kader wie die Masse ihrer zu diesem Zeitpunkt 1,2 Millionen zählenden Mitglieder und Kandidaten, waren vom 17. Juni wie ein Blitz aus blauem Himmel getroffen worden. „Schonungslos müssen wir feststellen: Die Provokationen am 17. Juni haben die Partei überrascht." 1 7 4 Dieses Eingeständnis Walter Ulbrichts im Plenum des Zentralkomitees traf den Kern der Wahrheit. Die Genossen hatten mit fassungslosem Staunen erlebt, was für sie bis dahin undenkbar war: Streiks, spontane Massenaktionen, Demonstrationen. Selbst Kundgebungen, die nicht von der Partei befohlen worden waren, Undenkbares also, hatte es gegeben. Die Mitgliedschaft der SED, die schon von den Beschlüssen über den Neuen Kurs überrascht und konsterniert war, zeigte sich weithin verunsichert und politisch irritiert. In vielen Parteiorganisationen in den bestreikten Betrieben und auf Baustellen verhielten sich die Genossen weithin passiv. Sie waren höchst selten gewillt, sich „Provokateuren" entgegenzustellen. Da ihnen bewußt war, daß die Forderungen der Streikenden ihre Berechtigung hatten, wagten sie ihnen zunächst nicht entschieden entgegenzutreten, sie haben sich gar nicht so selten sogar mit ihnen solidarisiert. Nach ihrer Haltung ließ sich die Mitgliedschaft der SED am 17. Juni grob in drei Gruppen unterscheiden: „Die wohl größte Gruppe war gelähmt, verhielt sich in jeder Hinsicht passiv, .kapitulierte' vor den Demonstranten und Aufständischen. Diese Gruppe versuchte nicht aufzufallen, wartete den Verlauf der Ereignisse ab, unterstützte weder die Demonstranten noch die eigene Parteiführung, entzog sich aber zugleich oftmals nicht den innerbetrieblichen Streikaktionen. Eine zweite Gruppe stellte sich gegen die Streikenden und trat für den Kurs des Politbüro sein. Sie betätig174 Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und der Neue Kurs der Partei, S. 70.

76

Geschichte

und historische Deutung des

Aufstands

te sich als Streikbrecher, bewachte öffentliche Gebäude, unterstützte die Einheiten der KVP und des MfS. Die dritte Gruppe schließlich bekannte sich ganz offen zu den Aufständischen." 175 Die allgemeine Verunsicherung und die ideologisch-politische Krise, die der Aufstand über die SED gebracht hatte, ist damals von der Politbürokratie selbst bemerkenswert offen eingestanden worden. „Viele Parteiorganisationen haben in den Tagen der faschistischen Provokationen nicht die notwendige Aktivität und Standhaftigkeit bewiesen. Sie vermochten es infolge der schwachen politischen Bildung ihrer Mitglieder nicht, rasch das Wesen der faschistischen Provokationen zu begreifen und die Werktätigen zur entschlossenen Abwehr der Provokateure zu mobilisieren. In einer Reihe von Fällen haben sich Parteimitglieder selbst im Schlepptau der Provokateure befunden und an den von den Provokateuren organisierten Kundgebungen und Demonstrationen teilgenommen. Andere Parteimitglieder wieder sind in Panik verfallen, auf die Positionen des Kapitulantentums und des Opportunismus gegenüber den Parteifeinden und faschistischen Provokateuren abgeglitten (Kreissekretär Weichold 176 , Mitglied des Sekretariats des ZK der SED Hengst, Minister Weinberger)," 177 - so das Zentralkomitee auf dem 14. Plenum in seiner Entschließung. Schon die Sprache verriet, wie wenig die SED dazugelernt hatte. Die drei in diesem Kontext beim Namen genannten Funktionäre wurden als Sündenböcke gebrandmarkt und gemaßregelt. Karl Weichold, der 1. Sekretär der Kreisleitung Görlitz-Stadt, wurde aus der SED ausgeschlossen. Ihm war, wie anderweitig dargestellt, sein behutsames, umsichtiges Verhalten am 17. Juni in der geteilten Stadt an der Neiße zum Verhängnis geworden. 178 Ähnlich erging es zahlreichen 1. Kreissekretären keineswegs nur in den drei sächsischen Bezirken. Nicht anders widerfuhr es Adalbert Hengst. Frühere Verdienste zählten nichts mehr. Gerade weil er, einst Absolvent der Parteihochschule „Karl Marx", als Leiter der Abteilung Wirtschaft im Apparat des ZK zu den Spitzenkadern gezählt hatte, wurde sein Verhalten auf der Warnow-Werft in Rostock um so unnachsichtiger geahndet. Er wurde „wegen Kapitulation und faktischer Unterstützung von Provokateuren aus der Partei ausgeschlossen". 179 Allerdings blieb ihm eine ähnliche Verurteilung wie Max Fechner erspart. Auch Bernd Weinberger verlor selbstverständlich seinen Ministerposten, aber er kam mit „einer strengen Rüge wegen Kapitulation vor den feindlichen Unruhestiftern" 180 davon. 1957 ist er verstorben.

175 Kowalczuk, Politische Handlungsträger beim sozialistischen Aufbau, S. 209. 176 Im Original fälschlich „Weichhold" geschrieben (K. W. F.). 177 Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei, Entschließung des ZK der SED vom 26.7.1954, S. 469. 178 Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. IV, S. 266-271. 179 Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 14.7.1953. In: ND vom 19.7.1953. 180 Ebd.

Die Reaktion der Politbürokratie

77

Eine „kaderpolitische" Säuberung ihres bürokratisch-organisatorischen Apparates suchte die SED in den Monaten nach dem 17. Juni mit unerbittlicher Konsequenz heim. Noch immer reagierte die Staatspartei auf stalinistische Weise. Neben Ulbricht zeigten sich Hermann Matern, der Chef der Zentralen Parteikontrollkommission, und der auf dem 15. Plenum des ZK gewählte neue Kaderchef der SED, Karl Schirdewan, von besonderer Härte und Intransigenz. Durch die Zusammenfassung zuverlässiger Genossen zu Parteiaktivs als dem „militanten Kern" der Partei erreichte Ulbricht jene politisch-ideologische Disziplinierung und organisatorische Straffung, die die Einsatzbereitschaft und Kampfkraft der SED in der Tat stärkten. Mit dem 16. Plenum des Zentralkomitees (17.-19. September 1953) hatte die Partei fürs erste ihren inneren Konsolidierungsprozeß abgeschlossen. Die Partei riskierte schon wieder die Ankündigung neuer Normenerhöhungen. Gleichwohl gingen die Säuberungen weiter. „Von den 1952 amtierenden Mitgliedern der SED-Bezirksleitungen schieden bis 1954 über 60 Prozent aus, von den 1. und 2. Kreissekretären sogar über 70 Prozent." 1 8 1 Auf dem IV. Parteitag (30. März - 6. April 1954) hatte sich die SED wieder einigermaßen gefangen. Zusätzlich kompliziert worden war die Lage in der SED durch einen im Politbüro und im Zentralkomitee offen ausgebrochenen Machtkampf zwischen Walter Ulbricht einerseits, Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt andererseits. Formal entzündete sich der Konflikt als Kritik an dem selbstherrlichen Führungsstil Ulbrichts, an seiner Mißachtung der Kollektivität in der politischen Entscheidungsfindung. Wortführer war nicht zufällig Herrnstadt: Er sah sich als potentiellen Parteichef. In mehreren Kontroversen im Politbüro nach dem 14. Plenum des ZK fand sich der kinnbärtige Generalsekretär ziemlich allein gelassen. Von den seinerzeit neun Mitgliedern und sechs Kandidaten des Politbüros haben lediglich Hermann Matern und (nach zeitweiligem Zögern) Erich Honecker, damals Vorsitzender der FDJ, eindeutig zu dem umstrittenen Parteichef gehalten. Von den anderen Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros haben einige zögernd und unentschlossen abgewartet, andere die „Zaisser/Herrnstadt-Gruppe" - die als Gruppe oder Fraktion im eigentlichen Sinne nie existiert hat - zunächst unterstützt, zumindest mit ihr sympathisiert, danach aber eine zaudernde bis schwankende Haltung eingenommen. Indes zielte diese Kritik nur vordergründig auf Ulbrichts Eigenmächtigkeit und Arroganz, sondern auch auf die von niemandem sonst so vehement wie von Ulbricht verfochtene politische Generallinie vom Aufbau des Sozialismus, deren Bankrott mit dem Neuen Kurs offenkundig geworden war. Sie lief auch insofern zwangsläufig auf einen Machtkampf hinaus, als nach dem 17. Juni eigentlich die Konsequenz nur in seiner Entfernung aus der Spitze der Partei und in der Säuberung der Politbürokratie von seinen Anhängern auf allen Ebenen hätte bestehen können. Sein Sturz schien greifbar nahe - sein politisches Schicksal bereits besiegelt. 181 Weber, Die D D R 1 9 4 5 - 1 9 9 0 , 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 41 f.

78

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Fraglos wäre eine solche Verlagerung der inneren Machtverhältnisse ohne Einverständnis aus Moskau nicht denkbar gewesen, aber infolge des Juni-Aufstands waren die Bedingungen, unter denen die „Zaisser/Herrnstadt-Gruppe" die Entmachtung Ulbrichts im Einvernehmen mit der Führung der KPdSU (B) hätte erwirken können, obsolet geworden. Schon aus politisch-psychologischen Gründen erschien im Kreml die Entfernung Ulbrichts aus der Spitze der SED zu diesem Zeitpunkt untunlich. „Ulbrichts Absetzung war eine Hauptforderung der Aufständischen gewesen. Im Kreml hatte sich nach anfanglichem Zögern die Meinung durchgesetzt, ein Nachgeben gegenüber dieser Forderung bedeutet erheblichen Prestigeverlust, könne von den Aufständischen als Zugeständnis aus Schwäche ausgelegt und zu neuen Unruhen mit noch weitergehenden Forderungen führen." 1 8 2 Erschwerend fiel ins Gewicht, daß Zaisser und Herrnstadt mit dem Sturz und der Verhaftung L. P. Berijas ihre Stütze in Moskau verloren hatten, insoweit also plötzlich im Kampf um die Führung auf aussichtsloser Position standen. „So ergab sich ein historisches Paradoxon", schrieb Heinz Brandt später. „Eben der moralisch-politische Bankrott des Ulbricht-Systems - durch das Flammenzeichen der Volkserhebung erhellt führte in dialektischer Wechselwirkung auch dessen Rettung herbei: Er rettete Walter Ulbricht vor dem neuen Kurs, rettete damit seine politische Existenz. Aus den Trümmern seiner Politik, die ihn nach menschlichem Ermessen hätten begraben müssen, stieg er - ein seltsamer Phönix aus der Asche - zu gefestigter Macht empor." 183 Speziell Zaisser war in den Auseinandersetzungen im Politbüro und im Zentralkomitee, die zeitlich zwischen dem 14. und dem 15. Plenum des ZK tobten, also zwischen dem 21. Juni und dem 26. Juli 1953, auch insofern geschwächt, als Ulbricht sich durch die Ereignisse des 17. Juni nun auch des Argumentes bedienen konnte, er, der Minister für Staatssicherheit, habe seine Unfähigkeit bewiesen. Ulbrichts Position, die durch den Neuen Kurs und den Aufstand schwer angeschlagen war, wurde gefestigt. Er blieb die Nummer eins der SED, wenn er fortan auch nicht mehr als Generalsekretär, sondern bescheidener als Erster Sekretär des ZK firmierte. Seine Selbstbehauptung an der Spitze der SED hatte zur Folge, daß die Politik des Neuen Kurses allmählich Schritt um Schritt auf wohlkalkulierte Zugeständnisse verkürzt wurde. Schon das 15. Plenum des ZK der SED, das nach dreitägiger Beratung am 26. Juli 1953 beendet wurde, ließ erkennen, daß die Führung der SED nicht bereit war, ihre Strategie und Taktik prinzipiell zu revidieren. „Es war auch richtig, daß unsere Partei Deutschland auf den Weg des Sozialismus führte und in der Deutschen Demokratischen Republik mit der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus begann", las man in einer Entschließung 184 . „Diese Generallinie der Partei war und bleibt richtig." Der Neue Kurs der SED war Geschichte. 182 Stern, Ulbricht, S. 182. 183 Brandt Ein Traum, der nicht entführbar ist, S. 244. 184 „Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei", Entschließung des ZK der SED vom 26. Juli 1954, S. 467.

Die nationale Dimension des Juni-Aufstands 9.

79

D i e n a t i o n a l e D i m e n s i o n des Juni-Aufstands

Je größer die zeitliche Distanz zum Juni-Aufstand wurde, desto üppiger wucherten die Legenden, die sich um das Ereignis rankten. Zwar verfiel die Legende vom „faschistischen Putsch-Versuch" zusehends, obschon sie die Historiker im Parteiauftrag immer wieder zu erneuern versuchten, aber eine andere Legende behauptete sich dafür um so zählebiger, zumindest partiell. Die Rede ist von Versuchen, die Erhebung auf einen bloß ökonomischen und sozialen Massenprotest zu verkürzen und speziell seine nationale Dimension zu verdrängen oder zu bestreiten. Bei Historikern im Staat der SED konnte das nicht überraschen, aber auch westwärts von Elbe und Werra mehrten sich im Laufe der Jahre die Stimmen derer, die die nationale Dimension des 17. Juni nicht mehr wahrhaben wollten. „Es ist himmelschreiend geklittert worden über den 17. Juni", schrieb selbst ein so aufgeklärter Geist wie Erich Loest, der sieben Jahre als politischer Gefangener in Bautzen zubringen mußte, „aber die kühnsten Bocksprünge brachten die fertig, die ihn zum ,Tag der deutschen Einheit' hinbogen. Für keinen, der sich in die Wirren dieses Tages verstrickte, war die Einheit des Vaterlandes das bestimmende Moment, niemand kämpfte für sie." 1 8 5 Niemand kämpfte für sie? Zeitzeugen und Zeitzeugnisse widerlegen diese Meinung gründlich. Man muß die Erhebung des 17. Juni nicht unbedingt zu einem „Aufstand für Deutschland" 1 8 6 stilisieren, um seinen nationalen Aspekt hervorzuheben. Außer Frage steht jedoch, daß seine bestimmende Idee das Verlangen der Massen nach freien Wahlen gewesen ist. Wer aber wollte dieses aus der Spontaneität des Aufstands geborene Verlangen losgelöst von der Idee der deutschen Einheit betrachten? In jener Zeit verstanden sich freie Wahlen wie selbstverständlich als gesamtdeutsche Wahlen. Wer damals für freie Wahlen eintrat, erhoffte sich durch sie die Einheit Deutschlands in Freiheit. „Wenn aber auch unterschiedliche Auffassungen über die Modalitäten oder über die unmittelbare Realisierbarkeit der Wiedervereinigung bestanden haben mögen, so haben doch nationale bzw. wiedervereinigungsorientierte Grundhaltungen den JuniAufstand unbestreitbar entscheidend mitbestimmt." 1 8 7 In den siebziger und achtziger Jahren erst sollte diese Erkenntnis in den Hintergrund rücken. Dabei wären historische Belege für entsprechende Forderungen während des Juni-Aufstands vielzählig beizubringen. Charakteristisch war etwa eine dokumentierte Entschließung, in der sich am 17. Juni das Streikkomitee einer Baustelle in der Ostberliner Stalinallee nach sozialen Forderungen für „Freie

185 Loest, Durch die Erde ein Riß, S. 2 0 9 . In einer Diskussion des Senders „SachsenRadio" in Dresden 1991 hat der Schriftsteller seine Auffassung zum 17. Juni revidiert und zurückgenommen. 186 Vgl. Strauss, Aufstand für Deutschland. 187 Jänicke, Der Dritte Weg, S. 44.

80

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Wahlen für ganz Deutschland" 1 8 8 aussprach. Die Bauarbeiter waren damit genauso eingestellt wie ihre Kollegen im VEB Bergmann-Borsig in BerlinWilhelmsruh, über deren Begehren Heinz Brandt, wie anderen Orts zitiert, aus unmittelbarem Erleben berichtete. Die in einer Belegschaftsversammlung bekräftigte politische Hauptforderung lautete auf „Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen." 1 8 9 Ähnlich die Stimmungslage am 17. Juni im Funkwerk Berlin-Köpenick. „Vor Beginn des Marsches zu den Ministerien", so gab Siegfried Berger, der Vorsitzende des Streikkomitees, später gleichsam für die Geschichtsschreibung zu Protokoll, „hatte ich folgende drei Forderungen und Ziele unseres Streikes aufgestellt und volle Zustimmung erhalten: 1. Rücktritt der Regierung. 2. Freie und geheime Wahlen. 3. Die Wiedervereinigung." 1 9 0 Auch in dem ebenfalls schon zitierten Forderungskatalog eines Streikkomitees, das Bauarbeiter am 17. Juni in Strausberg bei Berlin gebildet hatten, hieß eine der Forderungen unzweideutig „Freie Wahlen für ganz Deutschland." 1 9 1 Es fügte sich in dieses Bild, daß Demonstranten in Ostberlin durch die Leipziger Straße und, vom damaligen Marx-Engels-Platz kommend, durch die Straße Unter den Linden zum Brandenburger Tor gezogen sind mit der Nationalhymne auf den Lippen. „So sang man ,Brüder, zur Sonne, zur Freiheit', aber ebenso das Deutschlandlied" 1 9 2 , hat sich Heinz Brandt erinnert. Und Fritz Schenk, der den 17. Juni in Ostberlin als Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission miterlebte, hat nach seiner Flucht in den Westen Gleiches bekundet: „Statt ,Weg mit den Normen' hörte man fast nur noch ,Weg mit Ulbricht!' Auch der Ruf nach freien Wahlen verstummte nicht mehr, und bald sangen Tausende die dritte Strophe des Deutschlandliedes: .Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland". 1 9 3 Das waren durchaus typische und, wie sich noch zeigen sollte, keineswegs auf Ostberlin beschränkte Wahrnehmungen. Als am 17. Juni gegen 11 Uhr ein mächtiger Protestzug das Brandenburger Tor passierte, was 1953 im politisch und administrativ zwar schon geteilten, aber noch nicht durch Mauer und Stacheldraht zertrennten Berlin möglich war, wurde die rote Fahne vom Brandenburger Tor geholt. 1 9 4 Es geschah spontan, keine „Agentenzentrale" hatte den Handstreich ersonnen, und nicht „bezahlte Provokateure" waren es, sondern junge Menschen, die damals von der revolutionären Euphorie des Aufstands ergriffen wurden: Ein 22jähriger LkwFahrer aus Ostberlin, Horst Ballentin, hatte die Krone des Brandenburger Tores als erster erklommen. Der zweite, der mit ihm hinaufkletterte, war der

188 189 190 191 192 193 194

Zitiert in Hillmann, Selbstkritik des Kommunismus, S. 169f. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, S. 241. Berger, Ich nehme das Urteil nicht an, S. 18. Zitiert in Holzweißig, Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR, S. 63. Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, S. 242. Schenk, Im Vorzimmer der Diktatur, S. 207. Vgl. dazu Spittmann, Der 17. Juni im Wandel der Legenden, S. 124.

Die nationale Dimension des Juni-Aufstands

81

damals 21jährige Ralf S. aus Steglitz, er kam also aus Westberlin, er war Mitglied der sozialdemokratischen Jugendorganisation „Die Falken". Beim zweiten Versuch hatten sie es geschafft. Wütende Demonstranten zerfetzten und verbrannten die rote Fahne, nachdem sie auf das Pflaster heruntergewedelt war. Später erstiegen sie erneut das Brandenburger Tor, um eine inzwischen beschaffte Berliner „Bärenflagge" zu hissen. „Als ich zum dritten Mal auf dem Berliner Tor war, pfiffen Kugeln an mir vorbei und gingen durchs Holz und auch durch die Fahne. Bis zur Hälfte hatte ich die Fahne hochgezogen, nun mußte ich zurück." 1 9 5 Nachmittags erstiegen mehrere Demonstranten erneut das Brandenburger Tor, um zwei Fahnen in den Farben Schwarz-Rot-Gold anzubringen. Als erneut Schüsse fielen, konnten sie ihr Vorhaben nicht zu Ende führen. Um sie in Sicherheit zu bringen, fertigte der 24jährige DiplomVolkswirt Werner Klaer, Ostberliner und Absolvent der Humboldt-Universität, aus Gerüstlatten ein primitives Holzgestänge, an dem sie sich auf westlicher Seite von Berlins Wahrzeichen herunterhangeln konnten. Der Handstreich war zu einem lebensgefährlichen Risiko geworden. Bekenntnisse zur nationalen Einheit waren in Verlauf des Aufstands auch und gerade in Sachsen in häufig bewegender Weise auszumachen. Heidi Roth hat das akribisch herausgearbeitet. Vor dem Hauptbahnhof in Leipzig, wo sich am frühen Nachmittag des 17. Juni Hunderte von Menschen angesammelt hatten, wurde das Deutschlandlied gesungen. 1 9 6 Und in Dresden? Als sich von Niedersedlitz her ein Demonstrationszug streikender Arbeiter aus dem VEB ABUS und dem VEB Sachsenwerk sowie von Bauarbeitern der Bau-Union in die Innenstadt bewegte, waren Sprechchöre wie „Wir fordern freie Wahlen" und „Einheit Deutschlands" nicht selten zu hören. 1 9 7 Da war es auch kein Zufall, wenn Hunderte von Sachsenwerkern und Bauarbeitern zuvor schon die Nationalhymne gesungen hatten. „Die Agenten nahmen die Spitze des Zuges ein", las man später in einem Situationsbericht, „und sangen das Deutschlandlied, während die überrumpelten Arbeiter mit der .Internationale' auf den Lippen folgten." 1 9 8 Ebenso wurde in Görlitz zum Abschluß einer Kundgebung auf dem damaligen Leninplatz (heute Obermarkt) unter „Hurra-Rufen" und „Beifallsstürmen" von Tausenden von Demonstranten das Deutschlandlied angestimmt 1 9 9 - und ebenso fehlte hier nicht die Forderung nach freien Wahlen in ganz Deutschland. Streiks und Demonstrationen in den Industrie- und Chemieregionen um Bitterfeld, Wolfen, Halle und Merseburg wiesen in ihrer politischen Tendenz denselben Verlauf aus. Auch hier fand sich neben wirtschaftlichen und sozialen Forderungen unter den politischen Losungen das Verlangen nach freien Wah195 196 197 198 199

Zitiert in Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 341. Vgl. Roth in dieser Monographie, Kap. II, S. 122f. Ebd., Kap. III, S. 2 0 5 . Ebd., Kap. III, S. 190. Ebd., Kap. IV, S. 2 6 4 .

82

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

len. So forderten die Streikenden in der Filmfabrik Wolfen neben dem Sturz der Regierung und dem Verbot der SED ausdrücklich die „Einheit Deutschlands" und „geheime und freie Wahlen für ganz Deutschland." 2 0 0 Nicht anders die Situation in Halle. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon der Ausnahmezustand verkündet worden war, versammelten sich hier am 17. Juni ab 18 Uhr nach Schätzungen der Volkspolizei 25 000, nach Augenzeugen mindestens 40 000 Menschen. „Es sprachen ein Mitglied der Zentralen Streikleitung sowie je ein Arbeiter aus Buna, der Waggonfabrik Ammendorf und aus Leuna. Hauptforderung war der Rücktritt sämtlicher Mitglieder der Regierung. [...] Die Forderung nach Bildung einer provisorischen Regierung wurde aufgestellt, welche bis zu .freien und geheimen Wahlen' die Regierungsgeschäfte führen sollte. [...] Die Kundgebung löste sich friedlich auf, als sowjetische Panzer die bereits postierten Truppen unterstützten und auf die den Hallmarkt umgebenden Straßen fuhren. Als die Demonstranten den Hallmarkt verließen, sangen sie das Deutschlandlied." 2 0 1 Solche Beispiele sind zu Dutzenden belegt - etwa auch aus Merseburg, wohin am 17. Juni Tausende von Leuna-Werkern gezogen waren. Ein Augenzeuge: „Auf einem Platz im Zentrum der Stadt, dem früheren Nulandplatz, versammelten sich alle, um ein gemeinsames Streikkomitee zu bilden. Eine euphorische Stimmung hatte alle ergriffen. Das Deutschlandlied klang auf und niemand verband in dieser Stunde mit seinem Text nationale Überheblichkeiten. An Einigkeit, Recht und Freiheit dachten die meisten beim Singen, auch wenn sie den Text nicht so im Gedächtnis hatten. Es war wie ein Rausch, der die Menge erfaßt hatte, in der sich Wildfremde umarmten, Frauen weinten und Parteigenossen sich verstohlen ihrer Abzeichen entledigten." 2 0 2 Mit dem Ungeist des Nationalismus hatte das wahrlich nichts zu tun - was die Demonstranten hier wie anderswo erfüllte, war die Sehnsucht nach einem geeinten Deutschland, das ihnen ein Leben in Freiheit verhieß. Auch in Jena bot sich das gleiche Bild. Hier „zogen die Demonstranten zum Holzmarkt - eine vieltausendköpfige Menge. Viele Menschen haben geweint. Sie sangen dort das Deutschlandlied", berichtete Kurt Unbehauen, der am 17. Juni in Jena zugegen war. 2 0 3 „Und gegen Mittag erschienen Panzer von Ohrdruf kommend in der Stadt. Die Demonstranten stellten noch eine Straßenbahn quer über die Straße, um sie aufzuhalten. Die Panzer haben sie beiseite geschoben. Steine flogen auf die Panzer, aber es half alles nichts mehr. Der Aufstand war zu Ende, die Menschen hatten ja auch Angst". Der Zeitzeuge wurde später wegen Beteiligung am Juni-Aufstand zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. In Jena waren die Arbeiter des VEB Carl Zeiss und des VEB Schott, zwei Unternehmen von Weltruf, in den Streik getreten. Wie überall an diesem 17. Juni schlugen ihre sozialen Forderungen in politische Forderungen 200 201 202 203

Zitiert in Klein, Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle, Bd. 2, S. 15. Ebd. Bd. 1, S.12. Zitiert in Fricke, 17. Juni 1953. Der Aufstand, S. 41 Ebd., S. 44; das folgende Zitat ebd.

Die nationale Dimension des Juni-Aufstands

83

um: „Sturz der Regierung", „Freie Wahlen", „Weg mit der HO", „Weg mit der Volkspolizei" 204 . Hier in Jena wirkten nicht nur starke sozialdemokratische Traditionen nach, hier war auch der nationale Aspekt besonders ausgeprägt. Noch am 7. Juli 1953 erhob die Abteilung Mikro-Oberflächen-Behandlung im Zeiss-Werk einen Katalog von 33 Forderungen. Forderung Nummer eins: „Freie, geheime Wahlen für die Einheit Deutschlands." 2 0 5 Es wäre müßig, hier Beispiel um Beispiel aneinanderzureihen. Der Befund bliebe stets derselbe: Die nationale Dimension des 17. Juni ist ernsthaft nicht zu leugnen. Während in Ostberlin und in den mittel- und ostdeutschen Regionen die Ereignisse am 17. Juni ihren dramatischen Verlauf nahmen, waren die Reaktionen in Westberlin und in Bonn von fassungsloser Überraschung, politischer Ratlosigkeit und Beschwichtigung bestimmt. „Immer deutlicher zeigte sich im Laufe des 17. Juni, daß die westalliierten Kontrollbehörden ebenso wie die westdeutschen und Westberliner Politiker entschlossen waren, alles zu vermeiden, was als Einmischung aufgefaßt werden konnte." 2 0 6 Zumal in Westberlin waren die Menschen von dem Geschehen in Ostberlin tief aufgewühlt. Tausende hatten teilnehmend miterlebt, was sich jenseits der Sektorengrenze zugetragen hatte. Gerade deshalb aber sollte ein Übergreifen von Demonstrationen auf Westberlin ebenso verhindert werden wie Solidaritätsaktionen für Ostberlin. Ruhe hatte die erste Bürgerpflicht zu sein. „So ließ alliierte und deutsche Polizei Westberliner Verkehrsmittel schon einige Stationen vor den Sektorengrenzen halten und sperrte die Zufahrtsstraßen zur Sektorengrenze, um den Zustrom von Westberlinern abzufangen. Britische Militärpolizei zog an dem - im britischen Sektor gelegenen - sowjetischen Ehrenmal auf und sicherte es gegen Übergriffe der Bevölkerung. Die französische Militärverwaltung versuchte - allerdings vergeblich - , die demonstrierende Belegschaft des am Nordrand Berlins gelegenen Stahlwerks Hennigsdorf, die auf dem Wege ins Stadtzentrum den französischen Sektor passieren mußte, am Durchmarsch zu hindern. Ernst Reuter, der auf einer Tagung in Wien gewesen war und der die amerikanische Militärverwaltung um einen Platz in einem Militärflugzeug bat, um schnell zurück nach Berlin gelangen zu können, erhielt eine Absage. Eine Ansprache auf russisch an die Soldaten der Roten Armee, die Reuter vorbereitet und auf Band gesprochen hatte, durfte nicht gesendet werden, obwohl sie lediglich die Aufforderung enthielt, nicht auf unbewaffnete deutsche Arbeiter zu schießen." 2 0 7 Arnulf Barings Schilderung der Situation ist nichts hinzuzufügen. Das Berliner Abgeordnetenhaus trat am späten Abend des 17. Juni zu einer kurzen Sondersitzung zusammen, um zu dem Geschehen des Tages Stellung zu nehmen. In Anwesenheit zahlreicher Bundestagsabgeordneter sprachen für die SPD Joachim Lipschitz, für die CDU Ernst Lemmer und für die FDP Carl 204 205 206 207

Vgl. dazu Karmrodt, Der 17. Juni 1953 in Jena, S. 8. Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 133. Baring, Der 17. Juni 1953, S. 102. Ebd., S. 103.

84

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Hubert Schwennicke. Als Amtierender Regierender Bürgermeister nahm Dr. Conrad das Wort. Eine Sternstunde des Berliner Parlamentarismus war die Sitzung nicht. Die Bundesregierung in Bonn wurde von dem Aufstand der Massen genauso überrascht wie der Berliner Senat. Immerhin nahm Konrad Adenauer schon am 17. Juni im Bundestag Stellung. In einer Regierungserklärung charakterisierte er den Aufstand als „eine große Bekundung des Freiheitswillens des deutschen Volkes in der Sowjetzone und in Berlin" 208 und versicherte die Aufständischen „innerster Verbundenheit", mahnte sie freilich zugleich auch zur Besonnenheit. „Wir hoffen, daß sie sich nicht durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen, die ihr Leben und die Freiheit gefährden könnten." Im Rückgriff auf eine zehn Tage zuvor im Bundestag zur Deutschlandpolitik von allen demokratischen Fraktionen verabschiedete Entschließung bekräftigte der Kanzler die fünf Grundsätze, die nach seiner Überzeugung den Weg zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit eröffnen konnten: „Abhaltung freier Wahlen in ganz Deutschland", „Bildung einer freien Regierung in ganz Deutschland", „Abschluß eines mit dieser Regierung frei zu vereinbarenden Friedensvertrages", „Regelung aller noch offenen territorialen Fragen in diesem Friedensvertrag" und „Sicherung der Handlungsfreiheit für ein gesamtdeutsches Parlament und eine gesamtdeutsche Regierung im Rahmen der Grundsätze und der Ziele der Vereinten Nationen." Dem Inhalt nach entsprachen diese Grundsätze weithin den am 17. Juni zur nationalen Frage erhobenen Forderungen. Fast wäre der Kanzler übrigens Opfer einer fatalen Desinformation geworden, wie sich aus folgender Episode ablesen läßt. Da auch die westlichen Geheimdienste vom Aufstand des 17. Juni überrascht worden waren, taten sie sich mit seiner politischen Einschätzung schwer. Ihre Konfusion ging so weit, daß sie intern über die Ursachen des Aufstandes Spekulationen von erstaunlicher Ahnungslosigkeit zu Papier brachten. In einer Analyse der durch den 17. Juni entstandenen „politischen Gesamtlage", die in der Organisation Gehlen verfaßt wurde, las man „über die Vorgänge in Ost-Berlin und in der Zone" nichts anderes als „dass es sich um von östlicher Seite inszenierte Aktionen mit dem Ziel handelt, die Wiedervereinigung im grossdeutschen Rahmen zu Gunsten anderer wichtiger aussen- oder innenpolitischer Absichten ins Rollen zu bringen. Als erste Phase wurde vermutlich die Ausschaltung des diesen Absichten entgegenwirkenden Momentes in Gestalt der bisherigen ostzonalen Politiker ins Auge gefasst. Die Aktion ging jedoch über den gewünschten Rahmen durch das Eingreifen unvermuteter Widerstandskräfte hinaus." 2 0 9 Die Organisation Gehlen informierte ihre 2 0 8 Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag am 17.6.1953, zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift, S. 79; die folgenden Zitate ebd. 2 0 9 Rundschreiben „An A" [Außenstellen, K.W.F.] vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU ZA U. 1 5 / 5 4 , Bd. 8, Bl. 20).

Die nationale Dimension

des

Juni-Aufstands

85

Außenstellen über ihre „Theorie" durch Rundschreiben drei Tage nach dem Aufstand, dadurch ist sie schriftlich überliefert, aber sie muß die Bundesregierung schon am 17. Juni erreicht haben - es sei denn, sie ließ sich vom Inlandsgeheimdienst täuschen. Denn auch der 1954 in die DDR übergelaufene, 1956 nach Bonn zurückgekehrte Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, hatte die Auffassung vertreten, „daß es sich bei der ursprünglichen Demonstration (am 17. Juni) um ein von den Russen geschmiedetes Komplott gehandelt habe mit dem Ziel, die SED loszuwerden." 210 Offenbar war Adenauer kurzzeitig von dieser abstrusen These überzeugt gewesen, denn wie Egon Bahr in seinen Erinnerungen festgehalten hat, wurde er am Morgen des 17. Juni im Funkhaus des RIAS von der Nachrichtenabteilung von der „unglaublichen Äußerung Adenauers" unterrichtet, „das Ganze sei eine Provokation der Sowjets." Der Chefredakteur reagierte richtig: „Ich untersagte, diesen Unsinn zu melden; wir wollten den Bundeskanzler nicht so blamieren. Etwas später trafen sich die Chefredakteure der Zeitungen, Agenturen und Rundfunkstationen beim Bundesbevollmächtigten Heinrich Vockel, um die Lage zu erörtern. Der hatte die Äußerung Adenauers auch schon bekommen und bat mich, beim Chef des Kanzleramts, Staatssekretär Globke, anzurufen. Vielleicht sei ich überzeugender als er in der Schilderung der Lage." 211 In seiner oben zitierten Regierungserklärung zum 17. Juni hat sich Adenauer daher behutsam einschränkend ausgedrückt mit der Formulierung, „wie auch die Demonstrationen der Ostberliner Bauarbeiter in ihren Anfängen beurteilt werden mögen." 212 So blieb er davor bewahrt, sich durch eine Fehlspekulation der Organisation Gehlen öffentlich zu blamieren. Ohne das Wissen um die nationale Dimension wäre es aus der Distanz der Vergangenheit im übrigen schwer zu verstehen, warum der 17. Juni rund sieben Wochen danach zum "Tag der deutschen Einheit" erklärt wurde - durch Gesetz vom 4. August 1953, das im Deutschen Bundestag einmütig beschlossen wurde. Nur die Abgeordneten der KPD votierten dagegen. Die Begründung war der Präambel selbst zu entnehmen: „Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden." 213 War es die jahrzehntelange Dauer der deutschen Teilung, die das allmählich in Vergessenheit geraten ließ?

210 Zitiert in Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 119. 211 Bahr, Zu meiner Zeit, S. 79. 212 Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag am 17.6.1953, zitiert in Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift, S. 79. 213 BGBl. I, S. 778.

86

10.

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Internationale Aspekte des Juni-Aufstands

Generalstreikähnliche Zustände, spontane Massendemonstrationen und Unruhen in Ostberlin, wo der sowjetische Militärkommandant am 17. Juni Kriegsrecht in Kraft gesetzt hatte, konnten schon deshalb nicht ohne internationale Auswirkungen bleiben, weil die drei westalliierten Mächte, unter deren Oberhoheit Westberlin stand, bei ihren Entscheidungen eigene Sicherheitsinteressen im Sinn hatten. Zwar hatten sie keine Veranlassung, auch über ihre Sektoren den Ausnahmezustand zu verhängen, aber sie trafen in Abstimmung mit ihren Hohen Kommissaren Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sicherten die Sektorengrenzen gegenüber Ostberlin und suchten Demonstrationen und Menschenansammlungen in ihrer Nähe zu unterbinden. An bestimmten Kontrollpunkten standen sich zeitweilig sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber, nur wenige Meter voneinander entfernt, zwischen ihnen nur die Sektorengrenze. Eine Abstimmung dieser Maßnahmen mit dem sowjetischen Stadtkommandanten, die Semjonow verlangt hatte, lehnten sie selbstverständlich ab. Vielmehr richteten sie gemeinsam mit den drei Alliierten Hochkommissionen am 19. Juni einen Protest an den sowjetischen Hochkommissar. „Wir fordern Sie auf, keine weiteren Hinrichtungen im Gefolge der Urteile der Militärregierung vorzunehmen und den Sowjettruppen und der Volkspolizei den Gebrauch von Feuerwaffen zu verbieten. Wir wünschen, daß in Berlin so rasch wie möglich wieder freier Verkehr geschaffen wird, damit die Bevölkerung normale Lebensmittelzufuhren empfangen kann. Jede Haltung, die dem Geiste dieser Forderungen widersprechen würde, könnte nur zu einer Verschlechterung der Lage führen". 2 1 4 Es versteht sich von selbst, daß die Lage in Berlin und der DDR auch von den drei westalliierten Regierungen sorgfältig eingeschätzt wurde, im Austausch zumal mit der Bundesregierung, aber die internationalen Auswirkungen des 17. Juni tangierten vor allem die Machthaber in Moskau. Sie waren für den Ausbruch des 17. Juni politisch mitverantwortlich - nicht nur grundsätzlich, insoweit sie den Aufbau des Sozialismus in der DDR mitgetragen und forciert hatten. Sie hatten mit der überstürzten Nötigung der SED-Führung zum Neuen Kurs auch die Krise in der DDR zugespitzt und so den Aufstand mit herbeigeführt. Dabei ist infolge des 17. Juni möglicherweise sogar eine Wende in der sowjetischen Deutschlandpolitik blockiert worden. Der Beschluß des Politbüros über den Neuen Kurs hatte sie in einer Passage des Kommuniques schon signalisiert: „Das Politbüro hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands konkret erleichtern." 215 Da politische Entscheidungen der SED niemals ohne Mos214 Zitiert in Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 136 215 Kommunique des Politbüros vom 9 . 6 . 1 9 5 3 , S. 4 2 8 .

Internationale Aspekte des Juni-Aufstands

87

kauer Zustimmung denkbar waren, konnte diese Passage durchaus als Indiz für einen Kurswechsel der sowjetischen Deutschlandpolitik nach Stalins Tod interpretiert werden. Durch einen Leitartikel der „Täglichen Rundschau", der Zeitung der sowjetischen Besatzungsmacht für Deutschland, ist diese Folgerung damals bekräftigt und erhärtet, insoweit darin der deutschlandpolitische Aspekt des Neuen Kurses besonders herausgestrichen wurde: „Diese Beschlüsse haben große internationale Bedeutung. Sie sind auf das große Ziel der Wiedervereinigung des deutschen Volkes in einem geeinten nationalen deutschen Staat ausgerichtet." 216 Das schien Hoffnungen zu begründen, wonach sich der Neue Kurs nicht lediglich als ein taktisches Manöver verstand, sondern als eine veränderte Strategie in der sowjetischen Deutschlandpolitik. Wurden diese Hoffnungen durch die Ereignisse des 17. luni zunichte gemacht? Die Frage muß vor dem Hintergrund der Diadochenkämpfe gestellt werden, die nach Stalins Tod im Kreml ausgetragen wurden und die allerdings durch den Juni-Aufstand in Ostberlin und der DDR ihre dramatische Verschärfung erfahren haben dürften. Ihr Resultat war einer Mitteilung zu entnehmen, die die Telegrafen-Agentur der Sowjetunion am 9. Juli 1953 verbreitete. Die verblüffte Weltöffentlichkeit erfuhr daraus, daß G. M. Malenkow im Plenum des ZK der KPdSU, das vom 3. bis 5. Juli 1953 im Kreml getagt hatte, einen Bericht „über die verbrecherischen partei- und staatsfeindlichen Handlungen L. P. Berijas" erstattet habe, „die auf Unterminierung des Sowjetstaates im Interesse des ausländischen Kapitals gerichtet waren", verbunden mit dem Verdikt, Berija „als Feind der Kommunistischen Partei und des Sowjetvolkes aus dem ZK der KPdSU und aus den Reihen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auszuschließen." 217 Zugleich war damit seine Amtsenthebung als 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR und als Innenminister der UdSSR verbunden. Die Entscheidung, „die Angelegenheit der verbrecherischen Handlungen L. P. Berijas dem Obersten Gerichtshof der UdSSR zur Behandlung zu übergeben", setzte am 24. Dezember 1953 den Schlußpunkt mit der Mitteilung, daß gegen Berija und sechs Mitangeklagte auf Todesstrafe erkannt und das Urteil unverzüglich vollstreckt worden war 2 1 8 Welcher Zusammenhang ist indes mit dem Aufstand vom 17. Juni gegeben? Nach allem, was die Forschung heute weiß, hat Berija im Interesse einer internationalen Entspannung eine Freigabe der DDR favorisiert. Im Mai und im Juni 1953 kam es im Präsidium des Ministerrates der UdSSR sowie im Präsidium (Politbüro) des ZK der KPdSU zu mehreren heftigen Kontroversen um die Deutschlandpolitik. 219 Auslösendes Moment waren die desaströsen

216 „Wichtige Beschlüsse". In: Tägliche Rundschau vom 13.6.1953. 217 Mitteilung über ein Plenum des ZK der KPdSU. In: Tägliche Rundschau vom 11.7.1953; vgl. ferner: Aus dem Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR, ebd. 218 Vgl. dazu Leonhard, Kreml ohne Stalin, 4. Auflage, S. 80. 219 Vgl. Wettig, Zum Stand der Forschung über Berijas Deutschland-Politik im Frühjahr 1953, S. 674ff.; vgl. auch Reiman, Berija, Malenkov und die deutsche Einheit. In: DA Nr. 3 / 1 9 9 9 , S. 456ff.

88

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Auswirkungen, die die in der DDR betriebene Politik des forcierten Aufbaus des Sozialismus hervorgerufen hatte und deren Revision mit den Beschlüssen über den Neuen Kurs eingeleitet werden sollte. Z u m Eklat kam es in Moskau offenbar am 27. Mai, als Berija mit schonungsloser Offenheit gegenüber Außenminister W. M. Molotow äußerte: „Die D D R ? Was ist diese DDR denn schon? Sie ist nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch die sowjetischen Truppen am Leben gehalten, auch wenn wir sie .Deutsche Demokratische Republik' nennen." 2 2 0 Aller Wahrscheinlichkeit nach sind seine Überlegungen darauf hinausgelaufen, „daß die DDR aufgegeben, Deutschland vereinigt und unter einer bürgerlichen Regierung zu einem .friedliebenden' Staat umgewandelt wird." 2 2 1 Berijas Konzeption hatte dabei offenbar die Unterstützung Malenkows gefunden, denn in mehreren Entwürfen zu einer Rede, die er vor dem Plenum des Zentralkomitees im Frühjahr 1953 hatte halten wollen - die Entwürfe liegen im Archiv vor - , gab er auf die Frage, wie Deutschland unter den gegebenen internationalen Bedingungen vereinigt werden könnte, eine ebenso realistische wie eindeutige Antwort: „Bei den heutigen Bedingungen kann die nationale Vereinigung Deutschlands nicht durch seine Umgestaltung in ein Land der Diktatur des Proletariats in der Form einer Volksdemokratie erreicht werden, sondern nur auf der Basis seiner Umwandlung in einen friedliebenden bürgerlich-demokratischen Staat." 2 2 2 Malenkow hat diese Rede nie gehalten, aber seine Entwürfe dazu veranschaulichen, wie weit nicht nur Berijas, sondern auch seine deutschlandpolitischen Überlegungen gediehen waren. In der SED sind sie intern immerhin schon sechs Wochen nach dem JuniAufstand angesprochen worden, als Walter Ulbricht in seiner Abrechnung mit der sogenannten Zaisser/Herrnstadt-Fraktion auf deren Verbindung zu Berija hinwies. Ein solcher Zusammenhang lag nahe, da Zaisser als Minister für Staatssicherheit in enger Abhängigkeit zu Berija stand, denn in jener Zeit war der Apparat der DDR-Staatssicherheit auf allen Ebenen noch von der sowjetischen Geheimpolizei gesteuert und kontrolliert worden. Aus diesem Gesichtswinkel lag es nahe, mit Zaisser auch Berija dafür verantwortlich zu machen, die Gefahr eines Aufstands in der DDR nicht vorausgesehen oder diesen nicht verhindert zu haben. Als sich Ulbricht auf dem 15. Plenum des ZK „einige Hinweise auf die partei- und staatsfeindliche Tätigkeit Berijas in der Sowjetunion" erlaubte, warf er ihm nicht nur „verbrecherische Machinationen" vor, sondern nahm unmittelbar Bezug auf die Moskauer Deutschlandpolitik: „Er verfolgte eine kapitulantenhafte Poltik, die zur Restaurierung des Kapitalismus hätte führen müssen. Zum Beispiel trat er gegen den Aufbau des Sozialismus in Deutschland auf und wandte sich gegen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, d. h. er war für die Restauration des Kapitalismus in der

2 2 0 Zitiert in Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit, S. 244f. 221 Reiman, Berija, Malenkov und die deutsche Einheit, S. 457. 2 2 2 Zitiert in ebd., S. 458.

Internationale Aspekte des Juni-Aufstands

89

Deutschen Demokratischen R e p u b l i k . " 2 2 3 Ulbricht ist acht Jahre später, auf dem 14. Plenum des Z K ( 2 3 . - 2 6 . November 1 9 6 1 ) , noch einmal auf die Auseinandersetzungen in Moskau zurückgekommen. Ulbricht belastete nun auch G. M. Malenkow, der zu diesem Zeitpunkt von N. S. Chruschtschow bereits entmachtet worden war: „Er vertrat eine Politik des Zurückweichens und der Kapitulation vor den imperialistischen Kräften der westdeutschen Bundesrepublik. Bei Berija und Malenkow war die Ablehnung der Leninschen Parteinormen und der Prinzipien der Sowjetdemokratie verbunden mit einer Kapitulationspolitik gegenüber dem Imperialismus. Berija war empört, als ich 1 9 5 3 gegen seine Politik in der deutschen Frage a u f t r a t . " 2 2 4 Inzwischen, seit Öffnung der Archive, zeigt sich, wie gut Ulbricht damals informiert war. Heute scheint kaum mehr zweifelhaft, daß es nach dem Tode Stalins Planspiele der sowjetischen Deutschlandpolitik gegeben hat, die für eine kurze Zeit die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands unter den Bedingungen der bewaffneten Neutralität in Erwägung gezogen haben. Nach dem Juni-Aufstand ließen die Machthaber in Moskau die Pläne fallen. Berija und Malenkow mußten nicht zuletzt deshalb scheitern, weil ihre Verwirklichung Emanzipationsbestrebungen auch in Polen, in der Tschechoslowakai und in Ungarn bestärkt hätte. Hier waren politische und psychologische Folgen des Juni-Aufstands besonders zu gewärtigen. Sie waren zwar nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber sie waren voraussehbar, nachdem zum ersten Mal Hunderttausende von Arbeitern in der D D R vor aller Welt den historischen Beweis erbracht hatten, daß auch unter den Bedingungen einer stalinistischen Diktatur eine revolutionäre Massenbewegung, ein spontaner Volksaufstand Realität werden konnte. In Jugoslawien wurde das seinerzeit offen zur Sprache gebracht. Kein geringerer als Edvard Kardelj, ein führender Theoretiker des jugoslawischen Kommunismus, qualifizierte den 17. Juni elf Tage danach in einem Leitartikel der Parteizeitung „ B o r b a " seiner historischen Bedeutung für die Entwicklung im Sozialismus nach als „das wichtigste Ereignis nach dem jugoslawischen Widerstand vom Jahre 1 9 4 8 . " Kardelj schrieb den Streiks und Demonstrationen vorbehaltlos „den Charakter einer echten revolutionären Massenaktion der Arbeiterklasse" zu - „und das gegen ein System, das sich .sozialistisch' und .proletarisch' nennt. Die Triebkraft dieser Ereignisse ist im Grunde nicht das nationale Moment; es ist also nicht nur ein Problem der Deutschen gegen eine fremde Besatzung. Nein, es handelt sich hier vor allem um den Klassenprotest des deutschen Arbeiters gegen die staatskapitalistischen Verhältnisse, die ihm von der Besatzung im Namen eines .sozialistischen Messianismus' als .sozialistisch' und .proletarisch' aufgezwungen wurden, die er aber nicht als .proleta-

2 2 3 Ulbricht, Die Politik der Partei, ihre Erfolge und Fehler. In: Das 15. Plenum des Z K der SED, Ost-Berlin 1 9 5 3 , S. 7 9 (parteiinternes Material). 2 2 4 Walter Ulbricht, „Der X X I I . Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik." In: ND vom 2 8 . 1 1 . 1 9 6 1 .

90

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

risch' noch als .sozialistisch' anerkennt. Und gerade darin liegt die historische Bedeutung dieser Ereignisse." 225 Analysen des Juni-Aufstands, die teils in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, teils im Ministerium für Öffentliche Sicherheit in Warschau erarbeitet wurden, belegen im Detail, wie sehr die Führung in Warschau von den Ereignissen in der DDR beunruhigt war. „Zwar behauptete die propagandistische Interpretation nach außen stets, daß ausschließlich westliche Provokationen die Unruhen ausgelöst hätten, aber man war sich zumindest teilweise bewußt, daß auch innere Gründe für den Ausbruch der Unruhen bestanden nicht zuletzt, weil ähnliche Umstände auch in Polen vorlagen. Man befürchtete, daß derartige gesellschaftliche Proteste auch in Polen stattfinden könnten. Immerhin war in Polen ebenfalls eine Aktion zur Erhöhung der Arbeitsnormen durchgeführt worden, wie sie in der DDR bekanntlich der Auslöser der Proteste gewesen war, und sie fiel in Polen mit ca. 20 Prozent sogar drastischer aus als dort. Außerdem befürchtete man, daß die DDR-Ereignisse ungünstige Reaktionen bei den in Polen lebenden Deutschen hervorrufen könnten, die der polnischen Bevölkerung von der kommunistischen Propaganda unabhängige Informationen aus deutschsprachigen Sendern weitergeben konnten. Man rechnete zudem damit, daß sich die Bevölkerung des westlichen Teils von Polen, d.h. der ehemaligen deutschen Ostgebiete, noch unsicherer fühlte: alle politischen Komplikationen in Deutschland konnten bei der polnischen Bevölkerung in diesen Gebieten nervöse Reaktionen auslösen." 2 2 6 Die polnischen Kommunisten hatten den Juni-Aufstand sofort als politisches Warnsignal verstanden. Auch über die Ursachen des 17. Juni machten sie sich keine Illusionen. Als exemplarisch mag eine Äußerung von Roman Zambrowski, Sekretär des ZK der PVAP und Mitglied des Staatsrates, zitiert sein, der auf einer Sitzung des Wojewodschaftskomitees Kattowitz (damals „Stalinogrod") der PVAP am 23. Juni 1953 zwar von einer westlichen Provokation sprach, gleichzeitig aber anmerkte, „daß die Fehler, die von der Führung unserer Schwesterpartei in der DDR gemacht worden sind, jener [Provokation; K.W.F.] zweifelsohne ein Grundlage zur Verfügung stellten. Konkret nannte er als Fehler der SED die Aufgabe des Ziels der Wiedervereinigung, einen beschleunigten Kurs beim Aufbau des Sozialismus, Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Arbeiter sowie eine übermäßige Erhöhung der Arbeitsnormen." 227 Genau sechs Tage nach dem 17. Juni war das eine erstaunlich realistische, den Kern der Sache treffende Einschätzung. Die politische Signalwirkung, die vom 17. Juni auf das gesamte „sozialistische Lager" ausging, war damit frühzeitig angesprochen. Die Geschichte lieferte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten vielfache Beweise dafür, daß die 2 2 5 Karelj, 5 Jahre danach. 2 2 6 Malkiewicz/Ruchniewich, Das polnische Echo auf den Juni-Aufstand, Manuskript (1996), Bl. 4. 227 Ebd., Bl. 6.

Internationale Aspekte des funi-Aufstands

91

Völker im Osten die Signale aufgenommen hatten - übrigens frühzeitig auch in der Sowjetunion selbst. Zwar hatte es in sowjetischen Zwangsarbeitslagern schon vorher vereinzelt Streiks und Unruhen gegeben, aber zu einem umfassenden Massenstreik kam es erstmals, als die Gefangenen in Schacht 7 des Zwangsarbeitslager Workuta am 22. Juli 1953 die Arbeit niedergelegt hatten. 2 2 8 Sie wählten ein Streikkomitee und verlangten einen Vertreter der Sowjetregierung oder des Politbüros der KPdSU zu sprechen, um ihm ihre Forderungen vorzutragen. Der Streik weitete sich auf zehn weitere Gruben aus, darunter die Grube 29. Als Verhandlungen mit einer Untersuchungskommission aus Moskau sowie mit dem Leiter der Workuta-Lager, General P. P. Derewjanko, scheiterten, im Schlacht 29 eine öffentliche Kundgebung mit Wahl einer eigenen Lagerleitung durchgeführt wurde, wurde er am 1. August 1953 von Sicherheitstruppen umstellt und, da sich die Rebellen nicht ergaben, unter dem Feuer von Maschinengewehren gestürmt. Mindestens 64 Tote bedeckten den Lagerplatz. Anderen Quellen zufolge sogar erheblich mehr. Der Aufstand in Workuta stand insoweit in einem konkreten Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand, als verurteilte Aufständische aus der DDR, die hierher verschleppt worden waren, die Nachricht von den Geschehnissen des 17. Juni mitgebracht hatten. Drei Jahre später schritten Arbeiter in Polen zur Aktion. In einer Maschinenfabrik, die den Namen Stalins trug - Zaklady imienia Stalina-Poznan (ZISPO) - , legten rund 15000 Belegschaftsmitglieder am 28. Juni 1956 die Arbeit nieder, nachdem ihnen auf einer Betriebsversammlung am Tage zuvor eine Erhöhung der Arbeitsnormen verkündet worden war. Was folgte, glich in verblüffender Weise einem Aktions muster des 17. Juni in der DDR. Die Arbeiter der ZISPO sammelten sich frühmorgens zu einem Protestmarsch durch die Innenstadt. „Unterwegs schlössen sich dem Demonstrationszug auch Angehörige anderer Betriebe und Studenten an, so daß die Menge auf etwa 3 0 0 0 0 Personen anwuchs. Es kam zu einem allgemeinen Streik. Die Demonstration war friedlich, die ersten Schüsse fielen erst Stunden später" 2 2 9 - nämlich nachdem Unruhen ausgebrochen waren, nachdem es zu Plünderungen gekommen war, nachdem Gefangene befreit und das Gericht sowie das Dienstgebäude der Staatssicherheit erstürmt worden waren. Nach zwei Tagen waren „Ruhe und Ordnung" mit Waffengewalt wiederhergestellt - allerdings nicht durch Truppen der Sowjetarmee, sondern der polnischen Armee. Nach amtlichen Angaben waren 53 Tote zu beklagen. Der Posener Aufstand leitete in Polen einen Emanzipationsprozeß ein, der knapp vier Monate später Wladyslaw Gomulka in die Führung der PVAP brachte. Das Schicksal Polens begann sich zu wenden.

228 Vgl. dazu Stettner „Archipel GULag": Stalins Zwangslager, S. 345ff; vgl. auch Bartsch, Revolution und Gegenrevolution, S.36ff. 229 Kenes, Oppositionsbewegungen in Polen 1956-1976, S. 212.

92

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Wenige Monate später schon konnten der Juni-Aufstand in der DDR und die Unruhen in Polen wie Präludien zum Volksaufstand in Ungarn gedeutet werden. Auch hier begann das blutige Geschehen mit einer Demonstration am 23. Oktober 1956. Es war ursprünglich eine Studenten-Demonstration, der sich alsbald Arbeiter und andere Schichten anschlössen, wie dreieinhalb Jahre zuvor in Berlin und vier Monate zuvor in Posen. Immerhin dauerte es zehn Tage, bis die Erhebung niedergerungen war. Am 4. November 1956 griffen fünf sowjetische Divisionen die ungarische Hauptstadt an. Der ungarische Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Am 11. November verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über das ganze Land. Nach Monaten erst, in der zweiten Aprilhälfte 1957, begann sich das öffentliche Leben in Ungarn zu normalisieren. Die Verfolgung der Aufständischen dauerte noch lange danach an. Historisch hatten die Sowjets und die ungarischen Kommunisten dennoch einen Pyrrhus-Sieg davongetragen. Die Liberalisierung des Landes und seine Selbstemanzipation waren letztlich unaufhaltsam. Auch der „Prager Frühling", der am 21. August 1968 durch die militärische Intervention von fünf Warschauer Pakt-Staaten erdrückt wurde, gehört insoweit in diesen Kontext, als er dem Versuch gleichkam, vom politisch-ideologischen Überbau her eine kalkulierte Erneuerung der politisch-gesellschaftlichen Basis herbeizuführen. In gewisser Weise war das ursprünglich auch 1953 mit der Politik des Neuen Kurses in der DDR beabsichtigt worden. Aus dieser Perspektive gesehen gleicht der Aufstand in der DDR dem ersten Schritt auf einem historischen Weg, der in den späten achtziger Jahren im Zusammenbruch des „sozialistischen Weltsystems" münden sollte. Freilich vergingen bis dahin Jahrzehnte - in der DDR konnte sich die Diktatur der SED zunächst einmal für eine relativ lange Zeit konsolidieren. Eine vorläufige Bewältigung des Aufstands vom 17. Juni 1953 hatten die Machthaber mit dem 13. August 1961 erreicht, dem Stichtag für den Bau der Berliner Mauer. Aber mit der äußeren Sicherung ihres Staates hatten sie nicht auch seine innere Stabilität erreicht. Das wurde am 9. November 1989 offenbar, als eben diese Mauer die Menschen in Ostberlin in ihrem Drang nach Freiheit nicht mehr aufzuhalten vermochte und im Gefolge auch die „Staatsgrenze" zwischen beiden Teilen Deutschlands fiel.

11.

Der 17. Juni als politisches Trauma

Die Herrschenden in der DDR waren sich der latenten Gefahr einer neuen Erhebung seit den Tagen des Aufstandes 1953 bewußt. Der politische Schock des 17. Juni hat sie zeit ihrer Diktatur traumatisiert. Freilich waren ihre Ängste begründet. Zwischen dem Aufstand '53 und dem Aufbruch der Massen im revolutionären Herbst '89 besteht durchaus ein historischer Zusammenhang. In der Endzeit der DDR bestätigte sich einmal mehr, was während der Erhebung sechsunddreißig fahre zuvor erstmals geschichtsnotorisch geworden war:

Der 17. Juni als politisches Trauma

93

daß auch kommunistische Diktaturen gegen revolutionäre Massenaktionen und spontane Aufstände nicht gefeit waren. Im Weltbild der Herrschenden, das längst zum Feindbild verkommen war, hatte diese Erkenntnis keinen Platz. Deshalb verschloß sich die Politbürokratie auch der Einsicht in die reale Kausalität des 17. Juni. Auch die für die innere Sicherheit des Regimes Verantwortlichen, die es eigentlich besser wissen konnten, blieben bei ihrem Vorurteil vom obskuren Wirken westlicher Geheimdienstzentralen, die den Aufstand inszeniert hätten. Aus Akten der Staatssicherheit ist erkennbar, wie speziell Erich Mielke und Ernst Wollweber wider alle Einsicht an dieser fixen Idee festhielten. Möglicherweise mochten ja der amerikanische Geheimdienst oder die Organisation Gehlen sogar versucht haben, auf das Geschehen am 17. Juni Einfluß zu nehmen. „Nirgends in der Welt geschieht irgend etwas auf der politischen Szene, ohne daß die Geheimdienste, die westlichen wie die östlichen, ihre Finger darin haben. Auch im Berlin des Jahres 1953 waren sie sicher nicht fern. Aber es ist eine Naivität zu glauben, daß diese Finger die Weltgeschichte bewegen. Der Ausbruch des JuniAufstandes kam überraschend für alle." 2 3 0 Robert Havemann schrieb dies, ein authentischer Zeitzeuge, der am 17. Juni in Ostberlin vor dem „Haus der Ministerien" den rebellierenden Bauarbeitern Auge in Auge gegenübergestanden hatte. Indes ist nichts bewiesen. Weil sich die Planung und Steuerung des Aufstands durch westliche Geheimdienste nicht beweisen ließ, rettete sich Wollweber zu der Hilfskonstruktion, „daß ein Feind nicht immer verbunden sein muß als Agent mit irgendeiner Zentrale oder Filiale. Deshalb bleibt er doch ein Feind, und diese Feinde, die schafft und dirigiert der RIAS [...] Wir dürfen nicht verkennen, daß der RIAS die besondere Rolle spielt, ganze feindliche Gruppen fernzulenken, durch seine Propaganda und Instruktionen." 2 3 1 Natürlich war auch diese Behauptung aus der Luft gegriffen, denn der RIAS hat niemals „ganze feindliche Gruppen fernzulenken" versucht, eine solche Vorstellung wäre absolut abwegig, aber sie enthob die Staatssicherheit der Notwendigkeit einer sachlichen Beweisführung. Sie hatte im übrigen durchaus andere Vorstellungen vom Wirken westlicher Agenten als lediglich deren „Fernlenkung" über den RIAS. Gerade Mielke, zur Zeit des Aufstands immerhin der zweite Mann im MfS, war von Anfang an seiner eigenen Agentenhysterie erlegen. Nichts scheint er für unmöglich gehalten zu haben. Ein „Blitz"-Fernschreiben vom 19. Juni 1953, das in der Bezirksverwaltung Rostock des MfS archiviert wurde, das aber allen MfS-Bezirksverwaltungen zugegangen sein dürfte, exemplifiziert das auf eigene Weise. Mielkes Horror-Telegramm hatte folgenden Wortlaut: „Durch Flugzeuge unbekannter Nation [sie!] wurden im Gebiet von Sanger-

2 3 0 Havemann, Fragen Antworten Fragen, S. 143. 231 Ernst Wollweber in seinem Schlußwort auf einer zentralen Dienstkonferenz des Staatssekretariats für Staatssicherheit am 11./12.11.1953 in Ostberlin (BStU ZA Dst. 102272, Anlage Nr. 3 zu GVS Tgb.Nr. 4 0 2 6 / 5 3 , Bl. 5).

94

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

hausen technisch und mit Waffen ausgerüstete Fallschirmjäger abgeworfen [sie!]. Da mit Abspringen weiterer Banditen zu rechnen [ist], besondere Wachsamkeit und Streifen in Gebieten, die von Fluglinien benutzt werden, entfalten. Entschlossene, erfolgversprechende Maßnahmen zur Ergreifung bereits Abgesprungener als auch eventuell noch Abspringender entwaffnen [sie!]. Einsatz von Informatoren organisieren. Mit WVP-VP-GP 2 3 2 sind ohne genaue Angaben der Gründe Beobachtungen und Streifen zu organisieren." 2 3 3 Wie Mielke zu seiner Fehlinformation gelangte, war aus den Akten nicht ersichtlich, aber sie geisterte durch die parteigetreue Geschichtsagitation bis zur Endzeit der DDR. 2 3 4 Der Apparat der Staatssicherheit, der am 17. Juni 1953 völlig versagt hatte, ging unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes zu flächendeckender „Aufklärungsarbeit" über. Nachdem das MfS, ausgelöst durch das anderweitig bereits zitierte „Blitz"-Fernschreiben Nr. 529, umfangreiche Festnahmen unter Streikenden und Demonstranten vorgenommen hatte, sollten aufgrund des „Blitz"-Fernschreiben Nr. 531, das am 18. Juni um 13.50 Uhr an alle Bezirksverwaltungen, die Verwaltung „Wismut" und die Verwaltung GroßBerlin des MfS abgesetzt worden war, die folgenden sechs Fragen (nachstehend dem Originaltext entsprechend wiedergegeben) „sofort chiffriert" an das MfS beantwortet werden: „1.) wieviel festgenomme in der ddr und berlin. 2.) wo wurden festnahmen getaetigt. 3.) wieviel tote, (untergliedert in: angehoerige des ministeriums angehoerige der Volkspolizei demonstranten.) 4.) wieviel verwundete - leicht- und schwerverletzte (untergliedert in: angehoerige des ministeriums, angehoerige der Volkspolizei, demonstranten.) 5.) bei demonstranten untergliedern in berufe (arbeiter, angestellte, Professoren usw.) 6.) wo wurden demonstrationen, ansammlungen, kundgebungen usw. zerschlagen? anzugeben ist: der genaue ort gebaeude der partei, der Verwaltung, dienststeilen des mfst. [sie!], dienststellen der polizei, ho, konsum usw." 235 2 3 2 Die Abkürzungen bedeuten wahrscheinlich „Wasser-Volkspolizei, Volkspolizei, Grenzpolizei". 2 3 3 Lageberichte über die Situation in Städten des Bezirkes Rostock am 17.6.1953 (BStU Rep. 2 Nr. 395, Bl. 130). 2 3 4 Vgl. dazu Kapitel I, Fußnote 6. 2 3 5 Fernschreiben Nr. 531 des MfS vom 18.5.1953 (BStU Rep. 2 Nr. 395, Bl. 134).

Der 17. Juni als politisches Trauma

95

Der Zweck dieser Umfrage war evident. Das MfS brauchte einen Überblick über die nach dem Eingreifen der Sowjettruppen am 17. Juni entstandene Lage als Basis für eigene operative Entscheidungen. Der Ausnahmezustand konnte nicht endlos lange dauern - die innere Sicherung des Regimes mußte wieder Sache der Staatssicherheit und der Volkspolizei werden. Ein am 23. Juni, sechsTage nach dem Aufstand, allen Leitern der Bezirksverwaltungen und allen Abteilungsleitern der für Ermittlungen in politischen Strafsachen zuständigen Abteilung IX der Bezirksverwaltungen übermitteltes Fernschreiben Mielkes mit speziellen „Richtlinien über die Abwicklung und Durchführung von Untersuchungsverfahren gegen Personen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen am 16. und 17.6.1953 sowie in den darauffolgenden Tagen festgenommen wurden" 2 3 6 , ist schon zitiert worden. Hier soll noch einmal darauf zurückgekommen sein, weil mit diesen Richtlinien die Untersuchungsorgane des MfS angewiesen wurden, vordringlich „solche Unterlagen" zu erarbeiten, „die einwandfrei beweisen, daß Provokateure im Auftrage Westberliner oder westdeutscher Dienststellen sowie verbrecherischer Organisationen gehandelt" hätten. Die politische Lektion, die der Politbürokratie der SED mit dem Aufstand 17. Juni 1953 erteilt wurde, geriet zum Trauma ihrer Diktatur. Die Herrschenden haben es nie verwunden. Sie zogen daraus sicherheitspolitische Konsequenzen, aus denen zu folgern war, daß sie nicht nur neue Streiks und Demonstrationen, sondern auch einen neuen Aufstand künftig durchaus für möglich hielten, trotz der Niederlage, die den mittel- und ostdeutschen Arbeitern zunächst einmal beigebracht worden war. Eine ihrer unmittelbaren Folgerungen bestand für die Parteispitze in der Schaffung von „Kampfgruppen der Arbeiterklasse", einer Art Partei-Miliz, die politisch der SED, logistisch der Volkspolizei unterstellt war. In volkseigenen Großbetrieben und Staatsgütern, in Maschinen-TraktorenStationen, Verwaltungen und Institutionen sollten sie als „bewaffnetes Organ der Arbeiterklasse" den Schutz der Betriebe gewährleisten. „Arbeiterwehren" oder „Sabotage-Schutz-Kommandos" waren auf betrieblicher Ebene vereinzelt schon in den frühen fünfziger Jahren ins Leben gerufen, im Zusammenwirken mit dem Betriebsschutz der Volkspolizei, aber erst nach dem 17. Juni 1953 war ihr planmäßiger, zentral organisierter, finanziell aufwendiger Auf- und Ausbau forciert worden. „Die neuzuschaffenden Formationen sollten einerseits für den Fall zur Verfügung stehen, daß sich in den Betrieben Arbeitsniederlegungen, Protestzüge oder Werkbesetzungen in naher oder ferner Zukunft wiederholten, um unverzüglich gegen ihre auf diese Weise demonstrierenden Kollegen vorgehen zu können. Diese interne Schutzfunktion wurde durch die Aufgaben ergänzt, mit solchen Gruppierungen die Industrieanlagen auch nach außen hin zu sichern." 2 3 7 Führende Funktionäre der SED haben die den Kampfgruppen 2 3 6 Fernschreiben Nr. 7 9 4 des MfS vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU ZA AS Nr. 3 5 6 L / 5 7 , Bd. 1, Bl. 5 8 - 6 2 ) . 237 Wagner, Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, S. 2 8 3 .

96

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

zugedachte Sicherungsfunktion gegen Streiks und innere Unruhen nie verhehlt. Erich Honecker, vor seiner Zeit als Generalsekretär langjähriger Sekretär des ZK für Sicherheitsfragen, hat nicht zufällig drei Monate nach dem Volksaufstand in Ungarn, auf dem 30. Plenum des Zentralkomitees (30. Januar - 1. Februar 1957), ausdrücklich darauf abgehoben: „Wir tragen eine große Verantwortung dafür, daß die bewaffneten Kräfte unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht, die Nationale Volksarmee, die Deutsche Volkspolizei und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, zu jeder Zeit in der Lage sind, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften die Ruhe und Ordnung sicherzustellen und eventuelle Provokationen im Keime zu ersticken, zu unterdrücken und zu zerschlagen." 238 Die Warnung vor politischen Massenaktionen in der DDR war unmißverständlich. Warum Honecker in diesem Kontext die Staatssicherheitsorgane unerwähnt ließ, ist unerfindlich, denn gerade ihr Apparat war nach dem 17. Juni 1953 ungeachtet seiner Eingliederung als Staatssekretariat in das Ministerium des Innern konzeptionell erneuert und personell verstärkt worden. So stieg, bezogen jeweils auf den Stichtag 31. Dezember, der Bestand hauptamtlicher Mitarbeiter in der Staatssicherheit von 1953 mit 10 700 auf 1954 mit 12 823 und 1955 mit 14 869 Mitarbeitern, wobei in diesen Zahlen die Angehörigen des Wachregiments Berlin nicht enthalten sind. 239 Wollweber, dem nach dem Sturz Wilhelm Zaissers die Leitung übertragen worden war, stellte sich dabei auch und gerade die Aufgabe, das durch den Juni-Aufstand beschädigte Image der Staatssicherheit durch Erfolge um jeden Preis aufzubessern. Sein Konzept lief darauf hinaus, „daß der Kampf gegen Provokateure, gegen Saboteure, Diversanten, Putschisten und die Organisatoren der Zersetzung offensiv geführt wird, mit konzentrierten Schlägen gegen die Feinde" 240 , was im Hinblick auf die operative Arbeit nichts anderes hieß als „den Kampf gegen den .inneren Klassenfeind' systematisch mit dem geheimpolizeilichen Angriff auf Institutionen und Organisationen außerhalb der DDR zu kombinieren, die aus der Sicht der SED als .Agentenzentralen' zu gelten hatten" 241 . In den ominösen „Agentenzentralen" planten und organisierten Wollwebers Vorstellung zufolge die „Drahtzieher" des 17. Juni längst wieder neue Proteststreiks und Massenaktionen, weshalb er und auch Mielke selbst vor Entführungen vermeintlicher oder tatsächlicher „Rädelsführer" und „Hintermänner" des 17. Juni aus Westberlin keineswegs zurückschreckten. Wie stark die Herrschenden im Staat der SED und speziell die Staatssicherheit vom 17. Juni traumatisiert gewesen sein müssen, illustrierten auch ihre

2 3 8 „Aus dem Bericht des Politbüros auf der 30. Tagung des ZK der SED". Berichterstatter: Erich Honecker. In: N D vom 2.2.1957. 2 3 9 Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 98. 2 4 0 Referat von Ernst Wollweber auf der Zentralen Dienstkonferenz des SfS am 11./12.11. 1953, zitiert in Fricke/Engelmann, Konzentrierte Schläge, S. 274. 241 Ebd., S. 37.

Der 17. Juni als politisches Trauma

97

Ängste vor neuen Aktionen gerade dann, wenn sich das Datum des JuniAufstand jeweils jährte. Erstmals ordnete Mielke am 28. Mai 1954 durch eine spezielle Dienstanweisung 2 4 2 gezielt vorbeugende Gegenmaßnahmen an, die Aktion „Bollwerk". Nach „vorliegenden Informationen", ließ er darin einleitend wissen, bereite „der Gegner neue Provokationen und Störversuche mit der Absicht vor, auch am 17. Juni 1954 Unruhen zu erzeugen." Geplant von „den gleichen Hintermännern des faschistischen Putschversuches", würden „alle feindlichen Maßnahmen" vom „Bonner Kaiser-Ministerium gelenkt." An der „Ausarbeitung der feindlichen Pläne" seien „wieder" der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, aber auch die Ostbüros von SPD und DGB sowie das in Westberlin aus geflüchteten Streikführern neu gebildete „sogenannte Komitee 17. Juni" beteiligt. Im Grunde lief die Aktion „Bollwerk" auf eine Mobilmachung aller Diensteinheiten der Staatssicherheit unter Leitung eines in der Ostberliner Staatssicherheits-Zentrale ad hoc gebildeten Einsatzstabes („Stabschef: Gen. Generalleutnant Mielke") hinaus, die am 14. Juni 1954 um 8 Uhr beginnen und durch Sonderanweisung beendet werden sollte. Die Aktion „Bollwerk" sollte in engem Zusammenwirken mit der SED ablaufen. „Der Kontakt mit den örtlichen Parteiorganen ist zu verstärken. Die Partei ist ständig über die Stimmung in der Bevölkerung zu informieren und bei gefährlichen Anzeichen zu signalisieren" [sie!]. Im Detail reichten die vorbeugenden Sicherungsmaßnahmen in Mielkes Szenarium von der verstärkten IM-Überwachung in Betrieben, vor allem in solchen, die am 17. Juni 1953 bestreikt worden waren, über die Zusammenarbeit mit der VP bis zu noch schärferer Überwachung der Demarkationslinie und der Grenzgebiete um Westberlin: „Die Organe der Staatssicherheit, die innerhalb der KVP, Grenzpolizei und VP arbeiten, sind besonders anzuhalten, auf das Eindringen von Agenten und Verbreitung feindlicher Parolen zu achten, da anzunehmen ist, dass der Feind bei ernsten Situationen die unzuverlässigen Personen in den Reihen der VP benutzen wird, feindliche Pläne durchzuführen. [...] Besonderes Augenmerk ist den Waffen- und Munitionslagern zu widmen." Die Dienstanweisung dokumentierte nicht zuletzt das Mißtrauen der Staatssicherheit gegenüber den anderen „bewaffneten Organen" der DDR. Natürlich geschah am 17. Juni 1954 in Ostberlin und der DDR überhaupt nichts Dramatisches, so daß die Staatssicherheit in einem „Auswertungsbericht" beruhigt und beruhigend feststellen konnte, daß es zwar vor und während der Aktion „Bollwerk" nicht an Hinweisen gefehlt hätte, „daß der Gegner und seine Agentenzentralen in West-Berlin und West-Deutschland sowie auch verbrecherische Elemente in der DDR versuchten, die Erinnerung an den faschistischen Putsch vom 17. Juni 1953 beim deutschen Volke wieder wachzurufen sowie ihn - wenigstens teilweise - im Maßstab einzelner weniger

242 Dienstanweisung des Mdl/SfS Nr. 3 5 / 5 4 vom 28.5.1954 (BStU ZA AS Nr. 175/56, Bd. I, Bl. 36-44).

98

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

Orte und Betriebe zu wiederholen." Aber: „Zu einer Wiederholung des faschistischen Putsches kam es nicht und konnte es nicht kommen, weil das deutsche Volk, insbesondere in der DDR, aus dem faschistischen Abenteuer von 1953 die richtigen Lehren gezogen hatte und zum anderen, weil die Wachsamkeit der Organe der DDR auf Grund der Erfahrungen aus dem faschistischen Putsch bedeutsam gesteigert worden war." 2 4 3 Zumindest in den fünfziger Jahren hat die Staatssicherheit ähnliche Mobilisierungsaktionen durchgeführt, wenn immer das Datum des 17. Juni in Sicht kam. Das Trauma des Aufstandes hatte sich bei den Herrschenden bis zum Sturz Erich Honeckers verfestigt: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?" Mielke fragte dies laut Wortprotokoll am 31. August 1989 in einer Dienstbesprechung im Kreise von Generälen und Obristen der Staatssicherheit. Die Frage war signifikant. Was aber antwortete dem Minister für Staatssicherheit einer seiner Paladine? „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da!" 2 4 4 Dieselbe Unfähigkeit, die die „Tschekisten" der DDR bewiesen, als sie 1953 die Symptome der revolutionären Krise nicht zu diagnostizieren vermocht hatten, war wiederum zu konstatieren. War es die Arroganz der Macht, die sie vor der Realität blind gemacht hatte? Sechs Wochen nach jener vielzitierten Äußerung Erich Mielkes war Honecker als Staatsund Parteichef entmachtet, die Herrschaft der SED de facto zusammengebrochen. Die Staatssicherheit hatte die Zeichen des Aufbruchs '89 so wenig zu deuten gewußt wie die Signale vor dem Juni-Aufstand '53. Ist es historisch legitim, Parallelen zwischen dem Aufstand und der demokratischen Revolution in der DDR sechsunddreißig Jahre später zu ziehen? Zumindest lassen sich frappierende Analogien zwischen dem Aufstand vom 17. Juni 1953 und der Revolution im Herbst 1989 aufzeigen. Zum Beispiel waren die Brennpunkte des Aufstandsgeschehens und der demokratischen Revolution weithin deckungsgleich 245 : Neben Berlin als politischem Zentrum zeichnete sich 1989 ein deutliches Nord-Süd-Gefälle ab, was die Häufigkeit und Stärke von Demonstrationen anbelangte. In einer Reihe von Städten, die 1953 durch Streiks und Demonstrationen aufgefallen waren, kam es auch 1989 zu Großdemonstrationen und Massenkundgebungen. Beispielhaft zu nennen sind Leipzig vor allem, aber auch Dresden, Görlitz und Bautzen, Chemnitz und Plauen, Erfurt, Jena und Apolda, Halle und Merseburg, Magdeburg, Cottbus und Potsdam, Rostock und Stralsund. Das war kein historischer Zufall, sondern Ausdruck der politischen Bewußtheit der Menschen in diesen Städten.

243 Auswertungsbericht über die Aktion „Bollwerk" vom 14.7.1954 (ohne Unterschrift) (BStU ZA AS Nr. 1 7 5 / 5 6 , Bd. I, Bl. 49). 244 Zitiert in Mitter/Wolle, Ich liebe euch doch alle!, S. 125. 245 Vgl. die Karte „Der Juni-Aufstand 1953". In: Kraushaar, Die Protest-Chronik 1 9 4 9 1959, Bd. II, S. 829, und die Karte „Gesamtverteilung der Demonstrationen von August 1989 bis April 1990". In: Lindner, Die demokratische Revolution in der DDR, S. 92.

Der 17. Juni als politisches Trauma

99

Ohne Zweifel gab es wesentliche Unterschiede zwischen den revoluionären Bewegungen '53 und '89. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Der JuniAufstand hatte seinen Ausgang in Baustellen und Betrieben genommen, er wurde in seinem frühen Stadium von der Arbeiterschaft getragen. Die Arbeiter waren die treibende Kraft, die der Juni-Erhebung zu ihrer Dynamik verhalfen. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium wurden andere soziale Schichten und Gruppen, zumal junge Menschen, von der Strömung mitgerissen. Der revolutionäre Prozeß sechsunddreißig fahre später ging nicht von der Arbeiterschaft in den Betrieben aus, zu Streiks kam es nicht, sondern er wurde von vornherein von Menschen aus allen Schichten und Gruppen getragen, initiiert von Bürger- und Menschenrechtsinitiativen, die sich lange Zeit unter dem Schutzdach der evangelischen Kirche gefunden und gesammelt hatten und sich schließlich zu gewaltfreien Demonstrationen zusammenfanden. Zu Unruhen, Aufruhr und Gewalttaten, wie sie der Juni-Aufstand gesehen hat, ist es während des Umbruchs im Herbst 1989 nicht gekommen. Gefängnisse wurden nicht gestürmt - wohl aber bildeten sich nach Art der Runden Tische Gefangenen-Komitees. Die Dienststellen der Staatssicherheit in den Bezirken wurden von Bürgerrechtlern und Demonstranten gewaltfrei besetzt. Auch in ihrer nationalen Dimension weisen Juni-Aufstand und HerbstRevolution bezeichnende Ähnlichkeiten auf. Die auf die Wiedervereinigung zielenden Forderungen von 1953 fanden 1989 ihre Entsprechung in dem alsbaldigen Umschlagen der auf den Straßen skandierten Losung „Wir sind das Volk" in die Losung „Wir sind ein Volk". Wenn es richtig ist, daß der Aufstand vom 17. Juni 1953 „ein erstes Fanal, etwas noch nie Dagewesenes, Keimform des Neuen" 2 4 6 war, das Menetekel eines historischen Prozesses, mit dem sich die Selbstemanzipation der Staaten des Sowjetblocks einschließlich der DDR ankündigte, so war die demokratische Revolution im Herbst 1989 die Vollendung, der Schlußpunkt dieser Umwälzung, die in Deutschland in der Wiedervereinigung mündete. Herbert Wehner hatte diese Vision schon wenige Tage nach dem Juni-Aufstand. Als Sprecher der SPD-Fraktion schloß er am 1. Juli 1953 eine leidenschaftliche Rede im Deutschen Bundestag mit einem Wort von Karl Marx, das dieser auf die Juni-Kämpfer von Paris des Jahres 1848 gemünzt hatte: „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt. Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte lehren." 2 4 7 Sechsunddreißig Jahre später hatte die Geschichte ihre Lehre erteilt. Hätte die Sowjetarmee schon 1953 ihre Soldaten in den Kasernen in der DDR gehalten, wie sie das 1989 tat, wäre die Diktatur der SED bereits damals zusammengebrochen. Denn schon am 17. Juni 1953 ging es um die Macht, wie Wilhelm Zaisser seinerzeit offen ausgesprochen hat. 246 Brandt, Zum Stellenwert des 17. Juni im Geschichtskalender. In: Die Neue Gesellschaft, Nr. 7/1971, zitiert in Spittmann/Fricke (Hg.), 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 20. 247 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 278. Sitzung, Stenographische Berichte, Band 17, Spalte 13877.

100

Geschichte und historische Deutung des Aufstands

„Die Lage ist außerordentlich ernst", räsonierte er: „Es geht jetzt darum, wir oder sie." 2 4 8 In historischer Retrospektive hat die demokratische Revolution im Herbst 1989 friedlich vollendet, was im Sommer 1953 einen revolutionären Anfang genommen hatte, aber mit Waffengewalt unterdrückt wurde. „Die glorreiche Revolution vom 9. November 1989 in der DDR vollendete die Ziele des 17. Juni, insbesondere freie Wahlen und deutsche Einheit. Mit dem Verlust der Schutzmacht im Osten brach das Regime der SED und der Stasi zusammen ein später Sieg, den die jugendlichen Teilnehmer des Juniaufstandes im Greisenalter erleben durften - zu spät, um die Verluste von 40 Jahren moderner Entwicklung kurzfristig ausgleichen zu können." 2 4 9 Ein später Sieg, aber zu spät? Für die Zukunft der Freiheit ist es nie zu spät in der Geschichte.

2 4 8 Zit. in Müller-Enbergs, „Wir faulen in den Sozialismus", S. 54. 2 4 9 Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 49.

II.

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

1.

Die Fehleinschätzung des Stadtoberhaupts von Leipzig

Nach der Niederschlagung des Juni-Aufstandes mußte sich der Oberbürgermeister der Messestadt, Erich Uhlich 1 , vor der versammelten SED-Bezirksleitung heftige Kritik vom 1. Sekretär, Paul Fröhlich, gefallen lassen. Dieser warf ihm „falsches Heldentum" vor, weil Uhlich am 17. Juni versucht hatte, die streikenden Bauarbeiter in der Windmühlenstraße zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen und zu den Demonstranten am Karl-Marx-Platz zu sprechen, anstatt im Rathaus Vorkehrungen gegen einen möglichen Angriff zu treffen. 2 Uhlich hatte freilich nur einen Parteiauftrag der SED-Kreisleitung LeipzigStadt ausgeführt 3 - ohne Erfolg - , und zu Übergriffen der Demonstranten gegen das Rathaus war es überhaupt nicht gekommen. Der Oberbürgermeister wurde am Vormittag dieses 17. Juni nach eigenen späteren Aussagen von den Ereignissen völlig überrascht. Er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen, weshalb Leipziger Bauarbeiter auf der Straße statt auf ihren Baustellen waren. „Ich erhielt also einen Auftrag, die Bauarbeiter in der Windmühlenstraße aufzuhalten, damit sie nicht demonstrieren", berichtete er der SED-Bezirksleitung am 7. Juli 1953. „Dabei stellte ich fest, daß ich selbst die Lage nicht richtig einschätzte. Man kann nicht sagen, daß ich mit einer klaren Vorstellung zu den Bauarbeitern hingefahren bin. An der Windmühlenstraße standen schon die Arbeiter mit dem Transparent zum Abmarsch. Ich habe sofort versucht, die Bauarbeiter wieder hinter die Umfassungsmauer zu bringen und mit ihnen zu diskutieren sowie ihre Forderungen entgegenzunehmen, sie zu fragen, was los ist, weshalb sie streikten, obwohl sie die Partei und die Gewerkschaft nicht aufgerufen hatten. Ich fragte also: ,Was macht ihr?' Ich sagte ihnen, daß das eine wilde Aktion ist. Von den Genossen war dort keine Spur, war niemand zu sehen". 4 Wie andere SED-Funktionäre glaubte Erich Uhlich zeitweise, die Leipziger Arbeiter würden spontan gegen die bevorstehende Hinrichtung des amerikanischen Ehepaars Julius und Ethel Rosenberg

1

2 3 4

Erich Uhlich wurde am 13.12.1915 in Rabenstein bei Chemnitz geboren. Seine Eltern arbeiteten als Handschuhmacher. Er erlernte nach Abschluß der Volksschule das Buchdruckerhandwerk. Er gehörte vor 1945 der SPD an, arbeitete nach 1945 u. a. als kommunalpolitischer Mitarbeiter, bevor er 1948 1. SED-Kreissekretär von Chemnitz wurde. Seit Oktober 1951 war er Oberbürgermeister von Leipzig, ein Jahr später wurde er Mitglied der SED-BL Leipzig; vgl. Personalakte Uhlich (Stadtarchiv Leipzig, StVuR [1], Nr. 1596). Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 7.7.1953 (SächStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 57f.). Vgl. SED-KL Leipzig, An die SKK Leipzig vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 , Bl. 5 5 ) . SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 55f.).

102

Der 17, Juni im Bezirk Leipzig

wegen Spionage für die Sowjetunion protestieren. 5 Es dauerte eine Weile, ehe der Oberbürgermeister von Leipzig begriff, was in seiner Stadt geschah. Schon zu früher Stunde, gegen 6 Uhr morgens, entstanden in der Großmarkthalle erste Unruhen. Private Großhändler, die im Zuge der Politik des Neuen Kurses eben ihren Gewerbeschein zurückerhalten hatten, beschwerten sich lautstark über die schlechte Belieferung durch die Deutsche Handelszentrale. Außerdem waren ihnen noch immer nicht ihre früheren Stände in der Markthalle zurückgegeben worden; die Rückgabe des Gewerbescheines nützte ihnen so wenig. Deshalb griffen sie zur Selbsthilfe: Groß- und Einzelhändler verbarrikadierten gemeinsam die Zugänge zur Halle mit Kisten und Brettern und hinderten die Lebensmittelwagen von H O und Konsum an der Ausfahrt. 6 Gegen 8 Uhr wurde der 2. Sekretär der SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt, Fritz Beier, darüber informiert. Er ließ den protestierenden Händlern sofort „eine einwandfreie Belieferung mit Gemüse" zusagen. 7 Offenbar reichte das zunächst aus, um die Situation zu beruhigen. 8 Doch lange hielt diese Entspannung nicht vor, denn bereits eine Stunde später traf die Nachricht ein, daß „in Schkeuditz ein Streik der Bauarbeiter ausgebrochen sei". Noch beunruhigender war die Meldung eine halbe Stunde später. Demnach waren die Schkeuditzer Bauarbeiter inzwischen mit ihren Leipziger Kollegen auf der Baustelle Windmühlenstraße in Verbindung getreten und hatten den „Streik für alle Baustellen in Leipzig beschlossen". Während Beier es verstand, den „Klassengegner" in Gestalt einiger unzufriedener Gemüsehändler zu beruhigen, war er auf Streikaktionen der „führenden Klasse" nicht eingestellt. Deshalb begab er sich sofort zum Gebäude der SEDBezirks- und Kreisleitung im Leipziger Süden, um sich Anweisungen von oben zu holen. Die Bezirksleitung war freilich mehr oder weniger führungslos, denn der 1. Sekretär, Paul Fröhlich, und zwei weitere Sekretäre waren am frühen Morgen nach Berlin gerufen worden. Eine Genossin mußte an diesem dramatischen Tag die Führung übernehmen. Statt sich an den Ort des Geschehens zu begeben, berieten die Parteifunktionäre hinter verschlossenen Türen und lie-

5

6 7 8

Das amerikanische Ehepaar Rosenberg war wegen Spionage für die Sowjetunion zum Tode verurteilt worden. Anfang Juni 1953 fanden in der D D R Protestdemonstrationen gegen die drohende Hinrichtung statt, die jedoch kurz nach dem 17. Juni 1953 erfolgte. Wegen der Ereignisse am 17. Juni untersagte Fröhlich in Leipzig die Beflaggung auf Halbmast zum Zeichen der Trauer um die Hingerichteten. Vgl. SED-BL Leipzig, Telefonische Durchsage von Fröhlich (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Berichte der Leitung, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 8). Vgl. SED-KL Leipzig, An die SKK Leipzig vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). Später wurde in SED-Berichten festgehalten, daß Großhändler an Brennpunkten des Streiks, z. B. bei den Bauarbeitern der Windmühlenstraße, wieder aufgetaucht seien, um die Stimmung „anzuheizen". Mehr noch: Die SED-KL kam im Laufe des Tages zu der Auffassung, daß die Vorfälle in der Großmarkthalle in enger Verbindung mit den weiteren Ereignissen des 17. Juni gestanden hätten. Vgl. SED-KL Leipzig, An die SKK Leipzig vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) ; im folgenden ebd.

Die Fehleinschätzung des Stadtoberhaupts von Leipzig

103

ßen nicht einmal den ratsuchenden 2. SED-Stadtsekretär vor. Sie ließen ihm lediglich mitteilen, daß sie „eine wichtige Sitzung" hätten und er „noch Bescheid bekäme". Seit 7.45 Uhr saß die 2. Sekretärin der SED-Bezirksleitung Luise Bäuml mit dem Leiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Oberst Rümmler, dem Chef der Volkspolizei Leipzig VP-Inspekteur Hans Hugo Winkelmann und dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Karl Adolphs zusammen. Über den Inhalt ihrer Beratung ist nichts bekannt, es gibt lediglich Hinweise darauf, daß die Leipziger Spitzenfunktionäre einen zentralen Einsatzstab im Sekretariat der SED-Bezirksleitung einrichteten. 9 Zuvor hatte der Polizeichef seine Abteilungsleiter zusammengerufen und bereits eine Polizei-Einsatzleitung gebildet. Dort gingen alle Meldungen über Arbeitsniederlegungen und Versammlungen im Bezirk ein. Um 10.45 Uhr löste diese Einsatzleitung fernmündlich „erhöhte Alarmbereitschaft" für alle Volkspolizisten und Angehörigen des Betriebsschutzes aus. Außerdem erging der Befehl, die Alarmzüge und Gruppen mit Pistolen und Polizeiknüppeln zu bewaffnen. 10 In allen Kreisämtern der Volkspolizei wurden ebenfalls Einsatzleitungen gebildet. So existierten neben dem Operativstab der Bezirksbehörde der Volkspolizei PolizeiEinsatzleitungen im Bezirk und in den Kreisen sowie der zentrale Einsatzstab in der SED-Bezirksleitung. In den ersten Stunden dieses dramatischen Tages bestand ihre Aufgabe fast ausschließlich darin, alle Informationen über das Geschehen in der Stadt und im Bezirk zu sammeln. Die Einsatzleitung des Volkspolizeikreisamtes Leipzig hielt beispielsweise alle Meldungen über Streiks und Demonstrationen im Stadtgebiet fest und markierte die Schwerpunkte auf dem Stadtplan, „um laufend über die Lage orientiert zu sein". 11 Nach dem Aufstand wurde kritisiert, daß es in diesen entscheidenden Stunden in Leipzig „keine zentrale Stelle gab, die den ganzen Einsatz leitete". 12 Offenbar gab es in und zwischen den neu installierten Gremien erhebliche Verständigungs- und Kompetenzprobleme. Die Zusammenarbeit zwischen der Einsatzleitung und der Volkspolizeileitung der Bezirksbehörde war „nicht gut" 13 , die Einsatzleitung wußte nicht, was der Operativstab tat und umgekehrt. Auch zwischen den SED-Leitungen und staatlichen Stellen klappte die Abstimmung kaum. Am wenigsten kooperativ war offensichtlich die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Der Operativstab der Volkspolizei klagte jedenfalls über die fehlende Abstimmung mit der Leitung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, die beide im gleichen Gebäudekomplex am Dittrichring untergebracht waren. Die Volkspolizei mußte laufend alle Meldungen an das MfS weitergeben, ohne von dort Informationen und Rückmel9 10 11 12 13

Vgl. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16. Juni 1953 1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 161). Vgl. ebd. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Ereignismeldungen vom 17.6.1953, vom 22.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/246). BDVP Leipzig, Offiziersversammlung vom 11.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/10, Bl. 73). BDVP Leipzig, Aktennotiz, o.D. (SächsStAL, BDVP, 24/43).

104

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

düngen zu erhalten. 14 Überhaupt warteten die meisten Funktionäre und staatlichen Leiter zunächst auf Anweisungen ihrer vorgesetzten Dienststelle. Sie waren nicht in der Lage oder willens, eigene Entscheidungen zu treffen. Bis auf den Oberbürgermeister, der sich dann dafür vom SED-Chef des Bezirkes Leipzig tadeln lassen mußte, mischte sich kein leitender Kader unter das Volk.

2.

Erste Arbeitsniederlegungen in Leipzig und Vororten

Eigentlich ist die Überraschung der Leipziger Funktionäre über Streiks und Proteste am Vormittag des 17. Juni nicht recht nachvollziehbar. Denn bereits an den Vortagen legten auch im Bezirk Leipzig Arbeiter mehrerer großer Betriebe kurzzeitig ihre Arbeit nieder, so etwa am 15. Juni im VEB Sanar Roßwein im Kreis Döbeln oder am 16. Juni im VEB Megu Leipzig. Sie protestierten damit gegen die Beibehaltung der Normenerhöhung. Bereits hier wurden sofort die Leitungen der Volkspolizei und des MfS, die Staatsanwaltschaft, die SED-Bezirksleitung und die Vertreter der sowjetischen Kontrolloffiziere verständigt. In eilig einberufenen Versammlungen wurden laut Polizeiberichterstattung die Streikenden „von der Richtigkeit der Normenerhöhung überzeugt". 15 Die Ankündigung über die Zurücknahme der Normenerhöhung am Abend des 16. Juni in Berlin muß die Funktionäre, die noch wenige Stunden vorher die Richtigkeit der Maßnahme verteidigt hatten, völlig desorientiert und kopflos gemacht haben. Vielleicht ahnten sie auch, daß sie mit ihrer „Überzeugungsarbeit" für die Beibehaltung der veränderten Normen nun jeglichen Einfluß auf die Arbeiter in den Betrieben verloren hatten. Diese wußten freilich spätestens seit dem Morgen des 17. Juni, daß sie mit ihren betrieblichen Protestaktionen nicht mehr alleine standen. Bereits in der Nacht vom 16. zum 17. Juni gab es erste Anzeichen dafür, daß das Signal der Ostberliner Bauarbeiter in Leipzig angekommen war und aufgenommen wurde. Die ersten Meldungen über Streiks und spontane Versammlungen kamen aus dem VEB Ifa-Getriebewerk Liebertwolkwitz. Der Betrieb an der südöstlichen Stadtgrenze Leipzigs stellte hauptsächlich Getriebe für Kraftfahrzeuge her. Er beschäftigte damals 984 Mitarbeiter, darunter 196 SED-Mitglieder. 16 Zum Getriebewerk gehörte auch das Werk III in der Arthur-Hoffmann-Straße in Leipzig mit 620 Beschäftigten. Der Betriebsschutz des Werkes in Liebertwolkwitz teilte der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in der Nacht vom 16. zum 17. Juni mit, seit 23.30 Uhr hätten Beschäftigte der Nachtschicht ihre Arbeit niedergelegt. 17 Vier junge 14 15 16 17

Vgl. ebd. BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 16.6.1953, 8.00 Uhr bis 17.6.1953, 8.00 Uhr, vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 93). Vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6. 1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: IfA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 5 - 7 ) .

Erste Arbeitsniederlegungen in Leipzig und Vororten

105

Arbeiter zwischen 18 und 22 fahren forderten ihre Kollegen zum Streik auf. 18 Plakate über freiwillige Normenerhöhungen wurden heruntergerissen. 19 Über die ungewöhnlichen Vorkommnisse informiert, eilte der Betriebsleiter sofort in den Betrieb. Gegen 2 Uhr morgens fand eine kurze Versammlung zu Fragen der Normen statt. Der Betriebsleiter konnte zunächst erreichen, daß die Arbeiter wieder an ihre Maschinen gingen. Am nächsten Morgen schickte die Staatssicherheit drei Mitarbeiter in den Betrieb, um eine „negative" Beeinflussung der Frühschicht zu verhindern. 20 Es war vergeblich. Die Arbeiter der Frühschicht nahmen ihre Arbeit gar nicht erst auf, die Nachtschicht blieb auch gleich im Werk. Die Getriebewerker verlangten Informationen über die Ostberliner Ereignisse vom Vortag und führten „Reden über mangelndes Vertrauen zur Regierung". 21 Die Betriebsleitung und die Betriebsorganisationen der SED und der Gewerkschaft beriefen deshalb eine Versammlung ein, die recht stürmisch verlief. Lediglich fünf SED-Mitglieder unterstützten die Funktionäre in ihrem Bemühen, einen Streik zu verhindern. Selbst die Mitteilung, daß die Normenerhöhung rückgängig gemacht werde, brachte die Arbeiter nicht wieder an den Arbeitsplatz zurück. Aus der Versammlung heraus kamen Rufe nach einem Vertreter der IG Metall, der gegen 9.30 Uhr erschien. Er wurde direkt in den Versammlungsraum geführt, ohne daß er sich vorher mit der Betriebsgewerkschafts- und Parteileitung verständigen konnte. Der junge Arbeiter, der das eingefädelt hatte, wurde später festgenommen. Über den Inhalt der Debatte mit dem Emissär ist nichts bekannt; die Betriebsparteiorganiation notierte über diese Zusammenkunft lediglich, der Gewerkschaftsfunktionär habe sich bemüht, „die Belegschaft über die Ereignisse in Berlin aufzuklären". 2 2 Im MfS-Bericht ist festgehalten: „Trotz aller Aufklärung seitens der Betriebsleitung, Partei, BGL, IG Metall gelang es nicht, die Arbeiter zu beru-

18

19 20

21 22

Drei der jugendlichen Arbeiter wurden nach dem 17. Juni verhaftet, einer davon als „Haupträdelsführer". In seiner Kurzbeurteilung durch die SED-BPO stand: „Seine Eltern sind beide Mitglieder der SED, er ist seit seiner Beschäftigung in unserem Betrieb bis zu diesem Tage noch durch keine Diskussion in Erscheinung getreten"; vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: IfA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 5). Die Werkleitung und der Betriebsschutz informierten umgehend den Operativstab der BDVP über die Vorfälle in der Nachtschicht. Um 6.30 Uhr wurde die SED-KL LeipzigLand über das Geschehen im Betrieb in Kenntnis gesetzt. Die Genossen hätten der SED-BPO zugesagt, in 30 Minuten im Betrieb zu erscheinen. Sie kamen aber nicht und meldeten sich auch nicht telefonisch, so daß die BGL bei der IG Metall um Unterstützung nachsuchte; vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 2 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . Ebd. Vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6. 1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 2 (SächsStAL, SED IV/4/09/427).

106

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

higen. Gegen 11.30 Uhr verließen die Arbeiter den Betrieb und formierten sich zur Demonstration." 2 3 Als die Betriebssirene der benachbarten Ziegelei ertönte, kam aus der Versammlung heraus der Ruf: „Wir demonstrieren!" 2 4 Der Gewerkschaftsfunktionär der IG Metall und einige Parteimitglieder bemühten sich noch, auf die Arbeiter einzureden und ihren Auszug aus dem Betrieb zu verhindern. Die Belegschaft sei, nach der Darstellung der Parteileitung, aber „so verhetzt gewesen", daß sie nicht auf die „ermahnenden Worte der Genossen" gehört habe. 2 5 Die Mehrzahl der SED-Mitglieder beteiligte sich nicht am Streik. Nach späterer Darstellung der Parteileitung blieben sie im Betrieb und übernahmen dessen „Schutz". Laut MfS blieben von der Frühschicht 30 Genossen im Werk. 2 6 Nach dem Verlassen ihres Betriebes marschierten die Getriebewerker durch Liebertwolkwitz, wo sich die Mehrzahl der Belegschaft der MTS-Spezialwerkstatt und der Treuhandbetrieb Schuzag Klinkerwerke sofort anschloß. Nach der Niederschlagung des Aufstandes versuchte der SED-Parteisekretär der Klinkerwerke diesen spontanen Anschluß an die Demonstration damit zu erklären, daß das Getriebewerk „als vorbildlicher volkseigener Betrieb auch durch die Leipziger Volkszeitung bekannt war". 2 7 Deshalb habe sich seine Belegschaft „wie auch bei jeder früheren Demonstration" ohne Bedenken eingereiht. Anschließend zogen die Demonstranten diszipliniert ins benachbarte Holzhausen, um die dortigen Betriebe zum Streik zu bewegen. Während des Marsches wurden Losungen gerufen wie „Nieder mit der Regierung!", „Nieder mit der VP", „Weg mit der HO", „Wir fordern ein besseres Leben". 2 8 In Holzhausen schlössen sich die Belegschaften des VEB Spriowerk und des VEB EKM, Mitteldeutscher Feuerungsbau an. En passant wurde beim Bürgermeister die Fahne und ein Transparent heruntergerissen, und gegen 14 Uhr war die Demonstration zu Ende. 2 9 Ein Teil der Belegschaften kehrte in die Betriebe zurück und wählte Streikleitungen. So fand etwa in der MTS-Spezialwerkstatt eine dreistündige Belegschaftsversammlung statt, die eine siebenköpfige Streikleitung bildete, um die Verbindung zu anderen Betrieben aufrechtzuerhalten und den Schutz des Werkes zu übernehmen. Die Versammelten forderten freie Wahlen, den Sturz der Regierung, die Senkung der Normen und

23 24 25 26 27 28 29

BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: IfA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6. 1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 5). Vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6. 1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 2 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . Ebd., S. 3. Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: IfA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 5). Schuzag-Klinkerwerke Liebertwolkwitz, Bericht über den 17. und 18.6.1953, vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht, Betr.: IfA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 2 , Bl. 6). Vgl. SED-BPO des VEB Getriebewerkes, Analyse über die Vorkommnisse am 17.6. 1953 im VEB Getriebewerk, vom 18.8.1953, S. 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) .

Erste Arbeitsniederlegungen in Leipzig und Vororten

107

der HO-Preise und die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. 30 Ein Teil der Streikenden hatte sich jedoch auf den Marsch nach Leipzig begeben, und so traf um 13.30 Uhr in der Einsatzleitung der Leipziger Volkspolizei die Meldung ein, es bewege sich „ein großer Demonstrationszug von Liebertwolkwitz in Richtung Probstheida". 31 Es gibt in den Berichten der Staatssicherheit auch Hinweise darauf, daß ein Kreisstreikkomitee existiert hat, das am 17. Juni Verbindung zu den betrieblichen Streikleitungen hatte und für den nächsten Tag weitere Aktionen plante. 32 Auch ein Teil der Getriebewerker kehrte nach der Demonstration in den Betrieb zurück, wählte eine Streikleitung, bestehend aus vier jungen Arbeitern zwischen 18 und 22 Jahren, und teilte sechs junge Kollegen als Streikposten ein. Sie versuchten das Telefon des Betriebsschutzes zu besetzen, um sich so mit anderen Betrieben verständigen zu können, Mitglieder der Betriebsparteiorganisation und der Betriebsschutz verhinderten dieses Vorhaben jedoch. Die Streikposten harrten auch nach Feierabend im Betrieb aus, aber gegen Mitternacht wurden vier von ihnen festgenommen. Die Getriebewerker setzten sich nicht nur mit den ortsansässigen Betrieben in Liebertwolkwitz und Holzhausen, sondern auch mit ihren Leipziger Kollegen im Werk III in Verbindung. 33 Die Leipziger Betriebsleitung wußte bereits von den ungewöhnlichen Vorgängen in Liebertwolkwitz und beobachtete das Geschehen in ihrem Werk sehr aufmerksam. Zunächst deutete nichts auf Streiks oder Unruhen hin. Gegen 10 Uhr erschien eine Delegation aus Liebertwolkwitz im Sekretariat der SED-Betriebsparteileitung und forderte die Leipziger zum Streik auf. Inzwischen hatte auch ein Stadtbote die „neuesten Nachrichten" aus Liebertwolkwitz in das Leipziger Werk überbracht. Daraufhin legten bereits einige Abteilungen die Arbeit nieder. Die Betriebsparteileitung benachrichtigte die SED-Stadtbezirksleitung, die umgehend einen Funktionär in den Betrieb schickte. Gegen 12.15 Uhr wurde eine kurze Versammlung einberufen. Der kaufmännische Direktor eröffnete die Veranstaltung mit der Frage, weshalb die Maschinen abgestellt worden seien. Aber aus der Belegschaft kam die Gegenfrage, weshalb denn das Werk I streike. Dazu teilte die Versammlungsleitung mit, daß der Gewerkschaftsfunktionär Feuer nach Liebertwolkwitz unterwegs sei, um genauere Informationen einzuholen; solange sollten die Arbeiter wieder an ihre Maschinen gehen. Doch die Leipziger Arbeiter wollten sich sofort mit ihren Kollegen aus Liebertwolkwitz solidarisieren

30 31 32 33

Vgl. SED-BPO der MTS-Spezialwerkstatt Liebertwolkwitz, Bericht über 17.6.1953, vom 18.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 7 ) . VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldungen vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 67). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht, Betr.: IiA-Getriebe-Werk Liebertwolkwitz, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 2 , Bl. 6) Den Ablauf der Ereignisse vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Zeugenvernehmung des kaufmännischen Direktors des IfA-Getriebe-Werkes III, vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 2 , Bl. 1 2 - 1 5 ) ; das folgende Zitat ebd., B1.13.

108

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

und ebenfalls streiken. In einer Abstimmung entschieden sich 80 Prozent der Versammlungsteilnehmer dafür, die Arbeit sofort ruhen zu lassen. Noch während der Abstimmung kam der Gewerkschaftsfunktionär mit der Nachricht aus Liebertwolkwitz zurück, daß dort bereits demonstriert würde. Daraufhin verließen die Leipziger Getriebewerker sofort ihre Fabrik und strömten auf die Straße. Sogar der Gewerkschaftsfunktionär ließ sich zu einer Beteiligung an der Demonstration überreden - unter der Bedingung, daß Ausschreitungen vermieden würden. Die Leipziger Getriebewerker marschierten in Richtung Karl-Marx-Platz, wobei der Gewerkschaftsfunktionär und ein Meister für einen geordneten Zug sorgten. Nach Ankunft der Demonstranten auf dem Platz löste der Gewerkschaftsfunktionär den Zug mit der Maßgabe für die Arbeiter auf, am nächsten Tag wieder wie gewohnt im Betrieb zu erscheinen. 34 Etwa zur gleichen Zeit wie die Getriebewerker aus Liebertwolkwitz traten 350 Bauarbeiter der Leipziger Bauunion, die in Schkeuditz auf der Baustelle des VEB Nagema eingesetzt waren, in den Streik. Die SED-Kreisleitung Leipzig-Land konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen in diesem zehn Kilometer nordöstlich von Leipzig gelegenen Vorort. Deshalb überließ sie die Lösung der Probleme in Liebertwolkwitz ganz der Gewerkschaft, obwohl die Parteileitung des Getriebewerkes schon früh um Hilfe gebeten hatte. Die Vermutung liegt nahe, daß sich die SED-Kreisleitung deswegen für ein sofortiges Eingreifen in Schkeuditz entschieden hatte, weil dort Bauarbeiter am Streik beteiligt waren. Die Arbeiter der Leipziger Bauunion galten als besonders unsichere Kantonisten, wogegen die Getriebewerker noch nie mit „negativen Aktionen" aufgefallen waren. Im Gegenteil, in der SED-Bezirkspresse war bis dahin immer überschwenglich über deren beispielhafte Initiativen im sozialistischen Wettbewerb berichtet worden. 3 5 Sicherlich befürchteten die SEDFunktionäre auch, daß durch Arbeitsniederlegungen auf Baustellen das Woh34

Auf Anforderung der SED-Parteileitung verhaftete die Volkspolizei am 17. Juni gegen 24 Uhr die ersten vier Betriebsangehörigen, darunter die drei jugendlichen Arbeiter, die bereits in der Nachtschicht zum Streik aufgerufen hatten. Das war nur der Anfang: Nach einer Übersicht der BDVP sind insgesamt 18 Betriebsangehörige festgenommen worden, fünf davon befanden sich Anfang Juli noch in Haft; vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . Die Getriebewerker aus Liebertwolkwitz und Leipzig setzten auch am 18. Juni ihren Streik fort. Ein Großteil aller drei Schichten erschien am Morgen des 18. Juni zwischen 6 und 7 Uhr im Werk, ohne die Arbeit aufzunehmen. Erneut versuchten Werkdirektor und SED-Funktionäre, die Arbeiter zur Beendigung des Streiks zu bewegen, auch ihre Hinweise auf den Ausnahmezustand blieben wirkungslos. Gegen 9 Uhr verließ ein Teil der Belegschaft erneut das Betriebsgelände, um zu demonstrieren. Zwischen 10 und 11 Uhr rollten sowjetische Panzer in den Betrieb. Der sowjetische Kommandant ließ die streikende Belegschaft über die Werkleitung zur sofortigen Arbeitsaufnahme aufrufen. Der größte Teil kam diesem Befehl nach. Am nächsten Tag arbeiteten alle wieder. Das sowjetische Militär zog am darauffolgenden Tag ab. Aber noch Tage danach waren sowjetische Panzerspähwagen vor dem Betrieb postiert. Den Ablauf der Ereignisse vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Zeugenvernehmung des kaufmännischen Direktors des IfA-Getriebe-Werkes III, vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 2 , Bl. 12-15).

35

Vgl. u.a. „Leipziger Betriebe Sieger im Wettbewerb". In: LVZ vom 10.6.1953, S. 1.

Erste Arbeitsniederlegungen

in Leipzig und Vororten

109

nungsbauprogramm der Stadt Leipzig weiter ins Hintertreffen geriet. Z u d e m waren die Bauarbeiter mitten in einem Industriebetrieb tätig, so daß sich ein Streik sehr schnell ausweiteten konnte. Die Schkeuditzer Bauarbeiter besetzten sofort sämtliche Telefone der Bauleitung. 3 6 Gegen 8 Uhr hielten sie eine Versammlung ab, in der sie sich spontan mit den Berliner Bauarbeitern solidarisch erklärten. Danach unterbreitete Johannes Naumann, Jahrgang 1915, eine Resolution, in der die Abschaffung der Normen, die Herstellung des Lebensstandards der Vorkriegszeit, freie und geheime Wahlen auf demokratischer Grundlage sowie Straffreiheit für Streikredner gefordert wurden. Die Bauarbeiter stimmten diesem Katalog „mit großem Beifall" 37 zu. Inzwischen waren auch der Arbeitsdirektor und der Direktor der Bauunion erschienen. 3 8 Den beiden Direktoren wurde ein Ultimatum in Form von vier Fragen gestellt, die mit ja zu beantworten waren; andernfalls werde demonstriert. Es ging um die Abschaffung des Leistungslohns, um die Zusicherung des Lebensstandards von 1938, um Lohnerhöhungen und um den Rücktritt der Regierung. Während der Arbeitsdirektor den Versammelten „diese Fragen auseinanderlegen wollte", wie einem Bericht der Betriebsorganisation der SED zu entnehmen ist, „empörte sich die Menge". Danach marschierten die Bauarbeiter vor das Werk VEB Nagema, dessen Belegschaft noch arbeitete. Eine Bauarbeiter-Delegation begab sich zum Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung, der zusagte, seine Belegschaft von den Forderungen der Bauarbeiter zu unterrichten und ebenfalls eine Versammlung zu organisieren. Doch durch den ungewöhnlichen Lärm auf dem Hof waren die Nagema-Beschäftigten selbst auf die Vorgänge aufmerksam geworden. Die Aufforderung der Bauarbeiter, die Arbeit sofort einzustellen, hatte Erfolg. Nach MfS-Berichten schloß sich der „größte Teil" 3 9 der Belegschaft des Industriebetriebes an. Vor der Werkhalle kam es zu einer gemeinsamen Kundgebung von Bau- und Industriearbeitern. Neben zwei Bauarbeitern trat auch ein Betriebsschlosser des Industriebetriebes auf. Der Werkdirektor lehnte es hingegen ab, zur Belegschaft zu sprechen; er nahm an, sie werde sich „von ganz alleine" wieder beruhigen. 4 0 Auf dieser Kundgebung wurden weitere Forderungen gestellt. So verlangte etwa Alfred Bergt (der später als „Wortführer" verhaftet und vom MfS an die „Freunde" - die Russen - übergeben wurde) von der Bauunion unter dem Beifall der Kundgebungsteilnehmer: „Nieder mit der Regierung! Weg mit dem 36 37 38 39 40

Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Streik in Nagema Schkeuditz, vom 18.6. 1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 69). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Streik in der Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 4 - 6 ) . SED-BPO VEB Bau-Union Leipzig, Betr.: 17. Juni 1953, Bericht an die BPKK Leipzig, vom 21.10.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 7 ) ; die folgenden Zitate ebd. Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Streik in der Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 4). Vgl. SED-KL Leipzig-Land, OPL Schkeuditz, Analyse über die Ereignisse vom 17.6. 1953, o . D . (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 9 ) .

110

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Kopf, dem wir das zu verdanken haben". 4 1 Der Sprecher der Nagema, Johannes Naumann, rief schließlich zu einer Protestkundgebung in Schkeuditz auf. Auch dieser Vorschlag wurde mit großem Beifall aufgenommen. Die Demonstranten formierten sich in Vierer- und Fünferreihen und machten sich auf den Weg in die Stadt. Unterwegs riefen Sprechchöre Losungen, die Bergt formuliert hatte. Die Demonstranten führten fünf oder sechs größere Transparente mit sich, die während der Kundgebung im Werkgelände hergestellt worden waren. Aus Pappe und auf Holzleisten genagelt, trugen sie die Forderungen der Resolution. 42 Auf dem Wege nach Schkeuditz ermunterten die Protestierenden weitere Betriebe, sich anzuschließen. Die Staatssicherheit vermerkte später, das sei teilweise „unter Anwendung von Gewalt" geschehen. 4 3 Jedenfalls unterzeichneten 26 Schkeuditzer Betriebe und Einrichtungen am 17. Juni die Solidaritätserklärung der Bauarbeiter an ihre Berliner Kollegen. 44 Darunter waren die Sternbrauerei, der VEB Stadtpelz, die Bahnmeisterei Schkeuditz, die Berufsschule Schkeuditz und die Rauchwarengenossenschaft. Auf dem „Platz des Friedens" vereinigten sich um die Mittagszeit etwa 5 000 Menschen zu einer Protestkundgebung. Bergt gab seiner Freude über „die größte spontane Kundgebung in Schkeuditz nach 1945" 4 5 Ausdruck und verlas die Resolution der Bauarbeiter. Aus der Menge heraus kam die Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen. Nach der Kundgebung zogen knapp 2 000 Demonstranten durch die Stadt in Richtung Leipzig bis zur Landesheilanstalt im angrenzenden Altscherbitz und kehrten danach wieder in die Betriebe zurück. Ein Teil von ihnen könnte den Marsch in die Bezirkshauptstadt fortgesetzt haben. Denn Berichte besagen, daß Schkeuditzer Demonstranten nach Leipzig marschiert seien, „um immer mehr Betriebe in Bewegung zu bringen, um wie eine Lawine von allen Seiten in die Stadt einzubrechen". 4 6 Auch die Schkeuditzer verhielten sich, wie SED- und Polizeiberichte später festhielten, sehr friedlich. Es kam zu keinerlei Ausschreitungen oder Sach41

42 43 44

45 46

Bergt beging an diesem 17. Juni seinen 46. Geburtstag. Er war von Beruf Werkzeugschlosser und damals als Bauhilfsarbeiter beschäftigt. Er gehörte vor 1933 der SPD an, nach 1945 war er Mitglied der SPD und der SED. 1951 wurde er wegen „sowjetfeindlicher Einstellung" aus der SED entfernt; vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Streik in der Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 ) ; das Folgende vgl. ebd. und BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Streik in Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 70). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Protokoll der Vernehmung eines Zeugen, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 43). BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Streik in der Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 6.) Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bauunion Leipzig, Baustelle Nagema Schkeuditz, Solidaritätserklärung an die Bauarbeiter der Stalin-Allee und der Bauunion Berlin, 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 12). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Streik in der Nagema Schkeuditz, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1 9 5 5 / 6 4 , Bl. 18). FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18. 6. 1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 1 (SAPMO-BArch,DY 34, A 301).

Erste Arbeitsniederlegungen in Leipzig und Vororten

111

beschädigungen. Lediglich am SED-Parteiheim entfernten sie ein Transparent über Normenerhöhungen. Die Volkspolizei sicherte während der Demonstration unter den Augen des 1. SED-Kreissekretär Leipzig-Land den reibungslosen Verkehr. Während die Schkeuditzer Demonstration begann, leiteten die Funktionäre der Ortsparteileitung Schkeuditz und der SED-Kreisleitung Leipzig-Land bereits Gegenmaßnahmen ein. 47 Sie forderten alle Parteisekretäre der Schwerpunktbetriebe auf, sofort Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, beispielsweise sollten die Parteiaktivs den Schutz der Betriebe selbst übernehmen. Die SED-Kreisleitung entsandte Instrukteure in alle größeren Orte und Betriebe und informierte die Kreisleitung der Partei in Leipzig-Stadt, um auf eine mögliche Ausbreitung der Aktion aufmerksam zu machen. Auch die beiden Direktoren der Bauunion hatten inzwischen begriffen, daß es sich bei den Demonstrationen nicht um eine Einzelaktion der Schkeuditzer Bauarbeiter handelte; sondern auch Gefahr für die Baustellen der Stadt Leipzig drohte. 4 8 Deshalb veranlaßten sie, daß alle SED-Mitglieder aus der Leipziger Verwaltung auf die Baustellen geschickt wurden. Doch die Schkeuditzer Bauarbeiter nahmen zu den Leipziger Baustellen schneller Kontakt auf als die SED-Funktionäre. Sie benutzten dazu die von ihnen besetzten Telefone. In späteren Berichten taucht auch immer wieder ein Motorradfahrer auf, der die Schkeuditzer und Leipziger Bauarbeiter zu Solidaritätsdemonstrationen mit den Berlinern aufgefordert habe. 4 9 Es handelt sich dabei offenbar um den 31jährigen Maurer Herbert Panster aus Dölzig (Landkreis Leipzig), der sich unmittelbar nach dem 17. Juni durch seine Flucht nach Westberlin einer Verhaftung entziehen konnte. 5 0 Er fuhr alle Baustellen an, um den Streikbeschluß mitzuteilen 51 , und erreichte damit, daß fast alle innerstädtischen Baustellen um die gleiche Zeit - gegen 10 Uhr - in den Ausstand traten. Die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt beauftragte alle Stadtbezirksleitungen, sofort den Kontakt mit den Parteisekretären der Schwerpunktbetriebe aufzunehmen. Diese sollten „einen festen Kern von Genossen schaffen", um eine „breite Überzeugungsarbeit unter den Kollegen" zu entwickeln mit dem Ziel, Streiks und Demonstrationen zu verhindern. 5 2 Das schien zunächst aufzugehen, denn bis um die Mittagszeit war lediglich bekannt, daß in Leipzig - außer

47 48 49 50 51

52

Vgl. SED-BL Leipzig, Meldung aus der OPL Schkeuditz vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 0 ) . Vgl. SED-BPO VEB Bau-Union Leipzig, Betr.: 17.6.1953, Bericht an die BPKK Leipzig, vom 21.10.1953 (SächsStAL, SED, I V / 2 / 4 / 3 4 7 ) . Vgl. ebd. Vgl. ebd. Später wird es über die Baustelle Windmühlenstraße heißen, daß sie eine der „wichtigsten Feindzentralen" gewesen sei und „besondere Mängel auf sozialem Gebiet" vorgeherrscht hätten; vgl. SED-KL Leipzig, Analyse über Entstehung und Auswirkungen des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 in der Stadt Leipzig, o. D. (SächsStAL, SED IV/5/01/479). SED-KL Leipzig-Stadt, An die SKK Leipzig, Übersicht über die Entwicklung des Putsches am 17. Juni 1953, o . D . , S. 2 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) .

112

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

den Bauarbeitern von sieben städtischen Baustellen - nur zwei Betriebe streikten, das Ifa-Getriebewerk III und der VEB Wertpapierdruckerei Leipzig. 53

3.

Auf d e n S t r a ß e n d e r M e s s e s t a d t

Während sich die Streikbewegung annähernd rekonstruieren läßt, da umfangreiche Statistiken und Berichte vorliegen, ist das bei der Schilderung des Geschehens auf den Straßen und Plätzen der Messestadt nicht so einfach: Es gab keinen einheitlichen Demonstrationszug, weil es am 17. Juni keine koordinierende Kraft gab, die eine solche spontane Massendemonstration gelenkt hätte. Was für den Historiker nachträglich ein Problem ist, nämlich alle Schauplätze in der Stadt, das ständige Auf und Ab der Demonstranten und eine von Menschen überquellende Innenstadt zu überblicken, das war für die Ausbreitung der Proteste ein großer Vorteil: Leipzig als Großstadt mit einem bevölkerten Stadtkern, zahlreichen Passagen, Durchgängen und Hinterhöfen in der Innenstadt, einer Universität, anderen Hochschulen und zahlreichen Institutionen im Zentrum, bedeutenden Großbetrieben in den einzelnen Stadtbezirken und mit einer Vielzahl von Baustellen in und um Leipzig war ein ideales Pflaster für derartige „unerwünschte" Demonstrationen. Für die Polizeikräfte war die Situation ganz besonders unübersichtlich und schwer beherrschbar, weil an den verschiedenen Ecken der Stadt gleichzeitig größere Gruppen von Menschen auftauchten und wieder abzogen; ein „Katz- und Maus-Spiel" zwischen Polizei und Demonstranten. Leipzig konnte auch nicht einfach hermetisch abgeriegelt werden, wie etwa einzelne Wismut-Territorien. Das hätte eine längere militärische Vorbereitung und außerdem besser und anders geschultes Einsatzpersonal erfordert. Das hektische Geschehen in der Innenstadt an diesem 17. Juni ist nach mehr als vier Jahrzehnten nicht leicht nachzuzeichnen. Es liegen zwar umfangreiche Informations- und Lageberichte vor, die Auskunft über die wichtigsten Aktionen geben können. Sie stammen hauptsächlich von SED-Funktionären, der Polizeiführung und der Leitung des MfS. Doch je unübersichtlicher die Situation in der Stadt wurde, desto schwieriger wurde es auch für Staatssicherheit, Polizei und Partei, den Überblick zu behalten. Auch Zeitzeugen können natürlich keinen Gesamtüberblick geben, da sie nur Ausschnitte und Momentaufnahmen überliefern. Private Fotos, damals illegal aufgenommen, sind eine Ergänzung zu den schriftlichen und mündlichen Überlieferungen. Ton- und Filmaufnahmen, wie für Berlin und Görlitz auswertbar, sind dagegen nicht vorhanden, so daß nicht einmal ein Versuch gemacht werden kann, die Stimmung der Menschen in der Stadt aus ihren Gesichtern oder Gesängen abzulesen. Bewohner und Passanten der Innenstadt erlebten an diesem 17. Juni 1953 über Stunden hinweg - zwischen 11 und 16 Uhr - ein ständiges Auf- und 53

Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3.7.1953 (SächsStAL BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 220, 226).

Auf den Straßen der Messestadt

113

Abmarschieren von Menschen. Die Demonstranten kamen aus allen Richtungen der Stadt und aus den Vororten um Leipzig, zogen sich danach an ihren Ausgangspunkt zurück oder beteiligten sich an verschiedenen Stellen der Stadt an Aktionen gegen die Staatsgewalt. Bereits in den Vormittagsstunden bewegten sich mehrere kleine Demonstrationszüge auf das Zentrum zu. Die erste Meldung über Demonstrationen in der Messestadt ging um 10.55 Uhr im Volkspolizeikreisamt ein. 5 4 Wenig später konnten die Polizisten von ihrer Dienststelle in der Harkortstraße aus die Demonstranten bereits mit eigenen Augen sehen. Es waren zunächst Bauarbeiter der Baustelle Oberpostdirektion. Sie trugen ein Transparent mit der Aufschrift „Solidarität für Berlin" und „Butter statt Kanonen" und marschierten am Gebäude der SED-Bezirksleitung und der Gewerkschaften vorbei, ohne die Häuser anzugreifen oder Losungen herunterzureißen. Die Spitzenfunktionäre der SED ließen sich nicht sehen, setzten ihre Krisensitzung fort und machten keinen Versuch, diese ersten Demonstranten aufzuhalten. Die Verantwortlichen der SED-Stadtleitung und der Volkspolizei Leipzig hatten sich darauf verständigt, gegen Demonstranten, die sich „in geordneten Bahnen bewegten", nichts zu unternehmen. Sie sollten auf den Karl-Marx-Platz gelenkt und dort vom Oberbürgermeister und Instrukteuren der SED durch Reden von weiteren „ungenehmigten Aktionen" abgehalten werden. 5 5 Die Bauarbeiter wählten von sich aus dieses Ziel, sicherlich auch deshalb, weil dieser zentrale Platz traditionell Endpunkt von Aufmärschen und Kundgebungen war. Während die Funktionäre der SED, der Oberbürgermeister und andere staatliche Leiter und auch die Polizei im Kreisamt Leipzig die vorüberziehenden Bauarbeiter argwöhnisch beobachteten und sich keinen rechten Reim auf diesen Aufmarsch machen konnten, trafen bereits aus anderen Stadtbezirken ähnliche Nachrichten über Streiks und Demonstrationen ein. Nach Polizeiberichten zeigten sich ab 10.35 Uhr an verschiedenen Stellen der Stadt die ersten kleinen Gruppen von Personen, die gegen 11.30 Uhr den Karl-Marx-Platz erreichten. Wenig später registrierte die Polizei die ersten Ansammlungen vor öffentlichen Gebäuden, so vor dem HO-Kaufhaus in der Petersstraße, vor der Geschäftsstelle der Volkspolizei in der Harkortstraße und vor der Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße. Nachdem es dem Oberbürgermeister und Agitatoren der Partei nicht gelungen war, die Bauarbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze zu bringen, und die Polizei nicht eingriff, weitete sich die Protestbewegung schnell aus. Die Tatsache, daß sich Demonstranten zunächst völlig frei in Leipzig bewegen konnten, verstärkte bei den Leipzigern das Gefühl, daß die SED-Herrschaft am Ende sei. Es kam auch hier die Hoffnung auf, daß sich die sowjetische Besatzungsmacht nicht einmischen 54

55

Die Schilderung der Demonstrationen basiert hauptsächlich auf Material der Einsatzleitung der VPKA Leipzig mit dem Titel „Ereignismeldungen vom 1 7 . 6 . 1 9 5 3 " (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 6 3 - 6 9 ) . VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldungen sowie Auswertung derselben vom 17. und 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 64).

114

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

werde. Gerüchte über die Flucht von Ulbricht und ähnliche Falschmeldungen nährten die Fehleinschätzung vom fast errungenen Sieg und Illusionen über einen bereits entschiedenen Machtkampf zwischen Volk und Führung. Die Demonstranten spürten in den ersten Stunden des 17. Juni offenbar die Unsicherheit und Unentschlossenheit der Leipziger Polizei, doch sie kannten die Gründe dafür nicht. Die Polizisten waren an den Vortagen in Schulungen auf den Neuen Kurs eingeschworen worden. Sie sollten sich von nun an „streng an die Verordnungen und Verfügungen halten" und „auf keinen Fall Verärgerungen der Menschen hervorrufen". 5 6 Der Chef der Volkspolizei im Bezirk Leipzig hatte an seine Polizisten appelliert, wie wichtig das „Vertrauen der Bevölkerung zur Volkspolizei" sei; sie habe „in den letzten Jahren [...] nicht immer dazu beigetragen, dieses zu festigen". Er hatte kritisiert, daß wahllos Verhaftungen durchgeführt worden seien, und angekündigt, in Zukunft werde jeder zur Rechenschaft gezogen, „der eine ungerechtfertigte Festnahme vornimmt". Die Volkspolizisten müßten wissen, „daß sie tatsächlich für das Volk da sind." 57 Wenige Stunden nach diesen Unterweisungen standen sie tatsächlich dem Volk gegenüber. Sollten sie „für das Volk da sein", wie gerade von ihnen gefordert, oder sollten sie Partei und Regierung schützen? Die Entscheidung schien zunächst vertagt zu sein. Weil die Polizei nicht eingriff, wuchs die Zahl der Demonstranten sprunghaft. Den Bauarbeitern, die aus dem Süden kamen, schlössen sich schnell Passanten und Anwohner der Innenstadt an, so daß dieser Zug, als er das Zentrum passierte, bereits auf 250 bis 300 Menschen angewachsen war. Auch der Zug der Bauarbeiter aus der Windmühlenstraße scliwoll rasch an. Es reihten sich weitere Bauarbeiter ein, die auf umliegenden Baustellen der Universität, an der Ringbebauung und in der Petersstraße tätig waren. Anwohner, insbesondere aus dem nahegelegenen Seeburgviertel, schlössen sich an. (Interne Analysen der SED bezeichneten Bewohner dieser Gegend später als „lumpenproletarische Elemente". 58 ) Unter den Demonstranten waren viele Jugendliche. Die Berichterstatter wollen „insbesondere [...] Oberschüler, die zur Jungen Gemeinde gehörten bzw. ihr nahestanden" bzw. „sehr stark mit der Jungen Gemeinde sympathisierten", ausgemacht haben. 5 9 Diese ersten Marschkolonnen dürften jedoch noch deutlich von den Bauarbeitern bestimmt gewesen sein. Die Demonstranten erreichten erstmals gegen 11.30 Uhr, von verschiedenen Seiten kommend, den Karl-Marx-Platz. 60 Auch hier scheiterten die ParteiAgitatoren und der Oberbürgermeister mit ihren Aufträgen, den Demonstrationszug aufzulösen. Erich Uhlich berichtete über die Demonstranten: „Sie 56 57 58 59 60

BDVP Leipzig, Niederschrift über die Abteilungsleiterbesprechung am 15.6.1953 (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 1 0 , Bl. 70); die folgenden Zitate ebd. Ebd., Bl. 70f. SED-KL Leipzig-Stadt, An die SKK Leipzig, Übersicht über die Entwicklung des Putsches am 17.6.1953, o . D . , S. 2 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . Ebd. Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldungen sowie Auswertung derselben vom 17. und 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 64).

Auf den Straßen der Messestadt

115

trugen das Transparent mit ,Wir erklären uns solidarisch mit Berlin'. Ich wußte selbst noch nicht, was in Berlin los gewesen ist und konnte mir diese Aufschrift nicht erklären. So hatte ich auch nicht den richtigen Ansatzpunkt [...], um zu ihnen zu sprechen, um damit die Dinge wieder dahin zu bringen, wohin sie gehören. Das war nicht möglich. Man ließ uns nicht soweit kommen." 6 1 Die Agitatoren ernteten Hohn und Gelächter, wurden aber nicht tätlich angegriffen. Es wird auch berichtet, daß die Demonstranten eine schwarz-rot-goldene und eine rote Fahne mitführten und das Lied „Brüder zur Sonne zur Freiheit" sangen. Es sollen auch die ersten Rufe „Freie Wahlen! Nieder mit der Regierung!" laut geworden sein. 62 Die Demonstranten brachten den Verkehr der Straßenbahnen zeitweise zum Erliegen. Zum Erstaunen von Passanten fuhren bereits in den Vormittagsstunden Leipziger Straßenbahnen mit Aufschriften wie: „Wir wollen freie Wahlen", „Nieder mit Ulbricht" oder „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille" durch die Hauptmagistralen in die Außenbezirke und zurück, ohne daß die Polizei sie an der Weiterfahrt gehindert hätte. 6 3 Nur ein Angehöriger der Universität, Prof. Jupp Schleifstein, Direktor des Franz-MehringInstituts, rühmte sich später, er habe das Personal einer Straßenbahn gezwungen, die Aufschriften zu entfernen. 6 4 Was um die Mittagszeit auf dem Karl-Marx-Platz im einzelnen geschah - ob Demonstranten Reden hielten oder Anweisungen über die nächsten Ziele gaben - , läßt sich nicht mehr klären. Ein Zeitzeuge, damals Student an der Universität und am 17. Juni früh zur Prüfung unterwegs, schilderte seine Eindrücke vom Tage so: „Die Straßen waren gefüllt voller Menschen, d.h. in der Mitte zogen eingehängt sechs, acht, zehn Leute, eine Reihe hinter den anderen und riefen, sie waren in Euphorie, die riefen .Freiheit, Wir wollen freie Wahlen' usw. Also die zogen da mit, das waren echt, ich meine, 100 000 waren da auf die Beine gekommen [...]. Der war ja voll der Karl-Marx-Platz, voller Menschen. Das brodelte nur so, und die hatten aber auch eine gewisse Disziplin, die traten sich nicht tot, die hatten eine Elastizität, die Wellen gingen dann immer in die einzelnen Zentren, das schwappte dann mal dort hin, mal zum Pavillon der Nationalen Front, dann zum Parteigebäude." 6 5 Demonstrationszüge erreichten mehrmals den Karl-Marx-Platz. Dabei kam es auch zum Sturm auf das riesige Stalinstandbild. Darüber berichtet der bereits zitierte Student: „Im Volksmund hieß es der Kassierer, er stand so gönnerhaft mit der einen Hand am Gürtel und die andere so ausgestreckt, das ist der Kassierer, und unter dem Jubel schreiender, der Tausenden dieser Menschenmassen, zogen dann die Leute, sie hatten irgendwie glaube ich den Strick 61 62 63 64 65

SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 ) . VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Bericht vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 01/479). Das berichtete ein Zeitzeuge; vgl. Interview, Privatarchiv K.W. Fricke. SED-BL Leipzig, Parteiaktivkonferenz vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4/347). Ebd.

116

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

obendrum gelegt und zogen und dann schwankte dieser Stalin so. Das kam natürlich an, das wurde euphorisch und dann kippte dieser Koloß um. Das war ein echter Denkmalssturz." In dem Brief eines Leipzigers, der der Staatssicherheit in die Hände fiel, stand zu lesen: „Sogar der große Stalin auf dem Augustusplatz mußte nochmals sein Sterbchen machen." 6 6 Andere Zeitzeugen berichten ähnliches, behaupten jedoch, daß der Stalin auf seinem Sockel nur schwankte, aber nicht umfiel. Erstaunlicherweise findet dieser versuchte oder tatsächliche Denkmalsturz in keiner offiziellen Berichterstattung Erwähnung. Nach dem Passieren des Karl-Marx-Platzes könnte sich der Marschzug erneut geteilt haben; die einen marschierten wieder in Richtung Süden, die anderen gen Norden. Im Polizeibericht wird ein Demonstrationszug erwähnt, der gegen 13 Uhr aus Richtung Karl-Marx-Platz zum Peterssteinweg marschierte und in Sprechchören rief: „Nieder mit der Regierung - gebt die politischen Gefangenen frei." 6 7 Diese Demonstranten zogen vor die Untersuchungshaftanstalt, um die politischen Gefangenen zu befreien. Zur gleichen Zeit bewegte sich ein größerer Demonstrationszug in die entgegengesetzte Richtung, nach Norden. Sein Ziel war das Funkhaus in der Springerstraße. Zunächst ging es über die Grimmaische Straße, den Platz des Friedens, über den Brühl in die Dr.-Kurt-Fischer-Straße. Auf diesem Wege stießen immer mehr Passanten und Angestellte aus allen möglichen Institutionen hinzu, so daß das Bild der Marschkolonne nicht länger von Arbeitern in Maurer- und anderer Berufskleidung dominiert wurde. Danach vermehrten sich in den Einsatzleitungen der Polizei und des MfS die Meldungen über Aufmärsche, Demonstrationen und Aktionen an mehreren Stellen der Stadt. Schon ab Mittag wurde das Geschehen auf den Leipziger Straßen immer stärker durch Angriffe von einzelnen Demonstrationsgruppen auf öffentliche Gebäude bestimmt. Inzwischen trafen auch in der BDVP Informationen aus den Polizeiämtern der Kreise des Bezirkes Leipzig und von Angehörigen des Betriebsschutzes über Unruhen im gesamten Bezirk ein. Seit Mittag überschlugen sich in den Einsatzleitungen der Polizei solche Meldungen. Allein zwischen 12 und 13.10 Uhr trafen dort 16 Meldungen von verschiedenen Unruheherden innerhalb der Stadt Leipzig ein. 6 8 Dann endete die „topographische Aufzeichnung", „da sämtliche verfügbaren Kräfte des VPKA Leipzig zur aktiven Verteidigung des VPKA, der Staatsanwaltschaft und der UHA eingesetzt werden mußten". 6 9

66 67 68

69

BV für Staatssicherheit Leipzig, Stimmungsbericht Nr. 3 6 / 3 3 vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 260, Bl. 44). BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 17.6.1953, 8 . 0 0 Uhr bis 18.6.1953, 8.00 Uhr, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 95). Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldungen sowie Auswertung derselben v. 17. und 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 64-66). Ebd., Bl. 66.

Die versuchte

4.

Gefangenenbefreiung

117

Die versuchte Gefangenenbefreiung

Bereits seit mehreren Tagen hatten sich immer wieder Menschen vor dem Gebäudekomplex der Staatsanwaltschaft, des Bezirksgerichts und der Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße/Dimitroffstraße versammelt, die auf die Freilassung ihrer Angehörigen aus der Haft hofften. 7 0 Bis zum 16. Juni waren tatsächlich insgesamt 381 Personen auf Grund des Beschlusses des Ministerrates zur Realisierung des Neuen Kurses aus den Haftanstalten des Bezirkes entlassen worden. Am 16. Juni etwa gegen 10.30 Uhr versammelten sich vor der Untersuchungshaftanstalt II in der Beethovenstraße ungefähr 100 Menschen. Nach Augenzeugenberichten waren viele Frauen darunter. Daraufhin ermittelte die Kriminalpolizei und kam zu der Erkenntnis, es bestünden „keine Anhaltspunkte für Provokationen", da es sich um Angehörige oder Neugierige handele. Bis 15.50 Uhr hatte sich die Ansammlung aufgelöst, ohne daß es zu einem Zwischenfall gekommen war. Auch am 17. Juni fanden in Leipzig bis Mittag Entlassungen von Häftlingen statt. Vor dem Eingang zum Gefängnis in der Beethovenstraße hielten sich seit 10 Uhr wiederum etwa 150 Leute auf, die in Sprechchören die Freilassung von politischen Häftlingen forderten. Nach Polizeiberichten seien dabei die Worte gefallen: „Hier müssen wir auch etwas organisieren". 71 Wie am Vortag war eine Gruppe von Kriminalisten eingesetzt, die wenig später eine Verstärkung der Ansammlung meldete. Daraufhin schickte die Volkspolizei Leipzig zusätzliche Kräfte zur Bewachung der Eingänge des Amtsgerichts. Gegen 12.30 Uhr ging eine Meldung bei der Staatssicherheit ein, wonach sich ca. 300 Personen vor dem Gebäude der Untersuchungshaftanstalt II aufhielten und eine Delegation zur Anstaltsleitung entsandt werden solle, um eine schnellere Entlassung zu erreichen. In diesem Zusammenhang notierte das MfS: „Die eingesetzten Agit. Prop. geraten in Bedrängnis." 7 2 Um 13.10 Uhr erreichte die Einsatzleitung im Volkspolizeikreisamt Leipzig die Meldung, „daß ca. 1 500 bis 2 000 Demonstranten sich aus Richtung Karl-Marx-Platz mit der Parole .Gebt die politischen Gefangenen frei' und .Nieder mit der Regierung' durch den Peterssteinweg nach der Beethovenstraße bewegen". 7 3 Die Menge führte zwei schwarz-rot-goldene Fahnen mit. Ein Fahnenträger, er sei - einem Polizeibericht zufolge - „stark angetrunken" gewesen, habe auf die Polizisten eingeredet und sie aufgefordert: „Legt die Waffen hin, ihr seid die acht Jahre genau so betrogen worden wie wir!" Zwei Jugendliche brachten ein Plakat mit der 70 71 72 73

Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 16.6.1953, 8.00 Uhr bis 17.6.1953, 8.00 Uhr, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 92); das folgende Zitat ebd. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/246, Bl. 64). BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz über Meldungen des Einsatzstabes, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 17). VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/246, Bl. 66).

118

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Aufschrift „Nieder mit der Regierung" am Eingangsgitter an. Das große Transparent am Gebäude der Staatsanwaltschaft mit der Aufschrift: „Alles für den Frieden" blieb unangetastet. 7 4 Die Aufforderung der Demonstranten, die Waffen niederzulegen und eine Delegation einzulassen, fand bei der Polizei keinen Widerhall. Die Situation spitzte sich zu, als die Demonstranten an mehreren Stellen versuchten, in den Gebäudekomplex Harkortstraße/Beethovenstraße/Peterssteinweg einzudringen. Um 12.50 Uhr wurde die Dienststelle des Volkspolizeikreisamtes geschlossen und verbarrikadiert. Doch schon zuvor waren die ersten Demonstranten in genau dem Moment in das Haus eingedrungen, als ein Gefangener über die Harkortstraße entlassen wurde - und nicht, wie angeordnet, über die Beethovenstraße. In der Harkortstraße kam es im Gebäude des Paß- und Meldewesens zu einer Schlägerei, dabei gab die Polizei die ersten Warnschüsse ab. Daraufhin konzentrierten die Demonstranten ihre Aktionen wieder auf die Beethovenstraße. Das Kreisamt der Polizei schickte deshalb Verstärkung dorthin. Um 14.15 Uhr notierte die Polizei-Einsatzleitung: „Demonstranten sind in den Hof der Untersuchungshaftanstalt Beethovenstraße eingedrungen und versuchen, das Gebäude zu stürmen und die Gefangenen zu befreien." 7 5 In der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit ging eine Mitteilung der Bezirksstaatsanwaltschaft ein, „daß Tausende von Menschen" vor deren Gebäude stünden und die Mitarbeiter sich deshalb mit Gewehren der Gesellschaft für Sport und Technik bewaffnet hätten. 7 6 Genau um 15.27 Uhr gelang es Demonstranten, mit Hilfe von Rammböcken und Brechstangen in das Gebäude der Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße einzudringen. Sie zerschlugen Fensterscheiben und warfen Akten aus dem Fenster. Die Staatssicherheit erhielt die Meldung, Akten der Bezirksjustizverwaltung würden auf der Straße verbrannt. Die SED-Bezirksleitung teilte dem ZK sogar mit, es sei „einigen Häftlingen" gelungen, „durch die Fenster im Erdgeschoß" zu fliehen. 7 7 Doch das entsprach nicht den Tatsachen. Nachdem Demonstranten das Tor zum Hof des Überfallkommandos aufgedrückt hatten, gab die Polizei erneut Warnschüsse ab. Auch dieses Mal zogen sich die Demonstranten vorübergehend zurück. Danach wurde die Präsenz der Polizei vor dem Komplex Beethovenstraße verstärkt. 227 Volkspolizisten mußten mehrere Eingänge in der Harkortstraße, in der Beethovenstraße und in der Dimitroffstraße gleichzeitig sichern. Zusätzlich kamen jetzt Hilferufe von mehreren Schauplätzen der Stadt, aus der FDJ-Bezirksleitung in der Ritterstraße etwa oder vom Gewerkschaftshaus in der Karl-Liebknecht-Straße. Nachdem 74 75 76 77

Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Bericht vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 66). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz über Meldungen des Einsatzstabes, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 4 , Bl. 40). SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 121 vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588).

Die versuchte Gefangenenbefreiung

119

die Einsatzleitung der Leipziger Polizei erkannte hatte, daß sie mit eigenen Kräften die Situation nicht mehr beherrschte, forderte sie Unterstützung durch die KVP an. 7 8 Seit 10 Uhr hatte sie bereits mehrere Vorstöße unternommen. Aber erst gegen 14 Uhr traf ein KVP-Offizier in Zivil bei der Einsatzleitung ein, „ohne besondere Vollmachten" zu haben. 7 9 Gegen 16.15 Uhr kamen die ersten Einheiten der Kasernierten Volkspolizei in Leipzig an. Sie waren bewaffnet, führten aber keine Munition mit. Die Staatssicherheit hielt sich in den ersten Stunden des 17. Juni bei den öffentlichen Auseinandersetzungen zurück, was von der Leipziger Polizeileitung später stark kritisiert wurde. 8 0 Ein Vertreter des MfS erschien erst, nachdem die Demonstranten versucht hatten, das Volkspolizeikreisamt zu stürmen. Er soll „nach kurzer Zeit" das Amt wieder verlassen haben. „Seit dieser Zeit war ein Vertreter der Verwaltung für Staatssicherheit in der Einsatzleitung nicht wieder anwesend", beschwerte sich der Leiter des Leipziger Polizeiamtes. 81 Der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei hatte bereits um 7.30 Uhr früh mit dem sowjetischen Militärkommandanten des Bezirkes Rücksprache genommen und „Vereinbarungen über Art und Weise des Vorgehens und der Benachrichtigung getroffen". 82 Darüber ist lediglich bekannt, daß ein Verbindungsoffizier der Volkspolizei zum Militärkommandanten eingesetzt wurde, der ständig zu berichten hatte. Gegen 14 Uhr trafen die ersten drei Lastwagen mit sowjetischen Soldaten in der Dimitroffstraße/Beethovenstraße ein. 83 Ihr Auftauchen verhinderte eine mögliche Gefangenenbefreiung. Zu diesem Zeitpunkt waren die Polizeikräfte schon nicht mehr Herr der Lage, weil sie ständig zwischen den zahlreichen Brennpunkten in der Stadt hin und her manövrierten und zu keinem schlüssigen Konzept für den Umgang mit den Demonstranten fanden. Es gab bis zum Nachmittag lediglich den Befehl, daß keine Dienststelle in die Hände der Demonstranten fallen dürfe. 8 4 Als die sowjetischen Soldaten in der Dimitroffstraße auftauchten, wichen die Menschen zunächst nicht zurück. Unter dem Schutz der Sowjets forderte ein Offizier des Volkspolizeikreisamtes die Demonstranten auf, die Straße zu räumen. Dem wurde zunächst nicht Folge geleistet. Erst als der sowjetische Offizier befahl, eine „Salve Warnschüsse" abzugeben, verließen die Menschen

78 79 80 81 82 83 84

VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 67). Über Probleme beim Einsatz der KVP informiert ausführlich Diedrich, Bewaffnete Gewalt, S. 9 6 - 1 3 8 . Vgl. ebd. Vgl. ebd. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 160). Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Ereignismeldung ab 1 7 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 66). BDVP Leipzig, Blitz-Fernschreiben, An alle VPKA u.VPÄ (B) z. Hd. der Amtsleiter, vom 17.6.1953, 10.45 Uhr (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 4 2 , Bl. 3).

120

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

„fluchtartig" die Dimitroffstraße. 8 5 Auch in der Beethovenstraße wichen die Demonstranten zurück. Gegen 14.30 Uhr zogen die sowjetischen Soldaten ab. Wenig später tauchten die Demonstranten aber erneut auf und versuchten wiederum, das Amtsgericht zu stürmen. Gegen 15.15 Uhr wurde ein Zug der Schutzpolizei eingesetzt, und der ging dieses Mal mit Waffengewalt gegen die Demonstranten vor. 8 6 Der Einsatz war nach einer halben Stunde beendet. Er kostete einem jungen Mann das Leben. Die Einsatzleitung der BDVP setzte gegen Mitternacht eine „Spitzenmeldung" an den Operativstab der Hauptverwaltung der Volkspolizei in Berlin unter der Überschrift „Unbekannte männliche Person während der Ereignisse am 17.6.1953 in Leipzig erschossen" ab. 8 7 Mitgeteilt wurde unter anderem: „Der Betroffene war vermutlich Teilnehmer der Zusammenrottung, durch Schußwaffe getötet, Brustdurchschuß, vermutlich Herzdurchschuß." Das geschah beim Angriff auf das Volkspolizeikreisamt in der Dimitroffstraße und am Dimitroffplatz. Die „unbekannte Person" war der 19jährige Dieter Teich aus Wiederitzsch bei Leipzig, von Beruf Gießer und als Hilfsarbeiter bei der Leipziger Straßenbahn beschäftigt. 8 8 Nach Zeitzeugenberichten wurde der tödliche Schuß von einem deutschen Polizisten abgegeben. 8 9 Während Polizeiberichte diese Angaben bestätigen, gehen die Angaben über den konkreten Ort des Geschehens auseinander. Die Polizei gibt den Dimitroffplatz/Dimitroffstraße an, dagegen bekunden Zeitzeugen, daß Dieter Teich vor der Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße erschossen wurde. Offensichtlich waren die am Einsatz beteiligten Polizisten nach den ersten tödlichen Schüssen selber überrascht und in ihrer weiteren Entschlußkraft vorübergehend gelähmt. So überließen sie den Toten für ein bis zwei Stunden den Demonstranten. Diese reagierten umgehend und ungemein eindrucksvoll. Als sie merkten, daß der junge Mann nicht mehr lebte, wurde er von ihnen auf eine Krankentrage gelegt, die sie sich aus einem vorbeifahrenden Krankenauto besorgt hatten. Unter großer Anteilnahme der Passanten trugen Demonstranten das erste Leipziger Opfer des 17. Juni in einem Schweigemarsch durch die Stadt zum Hauptbahnhof. Unterwegs wurde der Tote mit Blumen bedeckt, im Jargon der Polizeimeldung: „Auf dem Wege bis zum Hauptbahnhof wurden unter provozierenden Rufen gegen die Volkspolizei Blumen auf den Toten geworfen." 9 0 Alles geschah unter den Augen und mit Duldung der Polizei und der sowjetischen Truppen. Die Träger des toten Dieter Teich wechselten mehr85 86 87 88 89

90

Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Ereignismeldung ab 1 7 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 66). Vgl. ebd. BDVP Leipzig, Einsatzleitung, An die HVDVP - Operativstab - Berlin, Spitzenmeldung, o.D. (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 344). Vgl. BDVP Leipzig, Aktennotiz „Todesfälle, die im Bezirk bekannt wurden", vom 18.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 3 3 5 - 3 6 1 ) . Reinhard Ziegler, „Wie starb der junge Dieter Teich - drei Männer erinnern sich." Augenzeugen schildern die Ereignisse in der Leipziger Beethovenstraße. In: LVZ vom 17./18. 6. 1995, S. 4. BDVP Leipzig, Einsatzleitung, An die HVDVP - Operativstab - Berlin, Spitzenmeldung, o . D . (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 344).

Die versuchte

Gefangenenbefreiung

121

fach; es wurden selbst Passanten in diese Totenehrung einbezogen, die zufällig am Weg standen oder am Hauptbahnhof aus der Straßenbahn gestiegen waren. Zwei gerade aus Vororten Leipzigs kommende junge Arbeiter - ein Monteur und ein Bauarbeiter - beteiligten sich ebenfalls an dieser Totenehrung. Später wurden sie „zur Klärung der Sache informatisch [sie!] befragt". 9 1 Ihre tätige Anteilnahme war für die Beteiligten ziemlich riskant, traten sie damit doch aus der Anonymität heraus und identifizierten sich sichtbar mit den Aufständischen. Ein Mann, der den Toten wenige Minuten mit durch die Innenstadt getragen hatte, berichtet darüber, daß er anschließend sofort nach Hause zu seiner schwangeren Frau fuhr und noch Monate danach in Angst lebte, zur Rechenschaft gezogen zu werden. 9 2 Erst am Hauptbahnhof forderten Soldaten - sehr wahrscheinlich sowjetische Offiziere - die Demonstranten auf, die „unbekannte Leiche" vor der Polizeiwache im Hauptbahnhof abzulegen. Das geschah gegen 17 Uhr. Auf Anordnung der Transportpolizei wurde sie beschlagnahmt, die vier Träger wurden vorübergehend festgenommen. Unmittelbar danach traf die Mordkommission ein. Noch bevor die Leipziger Demonstranten den toten Dieter Teich vor der Polizeiwache am Hauptbahnhof abgelegt hatten, gab es bereits ein zweites Todesopfer. Um 16.20 Uhr wurde die 64jährige Rentnerin Elisabeth Bröcker tot in die Universitätsklinik Liebigstraße eingeliefert. 93 Sie wurde in der Nähe des HO-Kaufhauses in der Petersstraße erschossen, wo bereits gegen Mittag eine Delegation von Demonstranten, vorwiegend Bauarbeiter der benachbarten Baustelle, die sofortige Schließung des Kaufhauses verlangt hatten. Der Betriebsschutz verwehrte ihnen den Zugang zum Kaufhaus. 9 4 Seitdem gab es dort ständig größere Menschenansammlungen, über die Petersstraße marschierten fast ununterbrochen Demonstranten zum Markt. Auch der Zug mit dem toten Dieter Teich müßte hier vorübergekommen sein. Als es in den Nachmittagsstunden an dieser Stelle ebenfalls zum Einsatz von Schußwaffen kam, erlitt Elisabeth Bröcker einen tödlichen Brustdurchschuß. Die Polizei vermerkte: „Die Bröcker dürfte sich wahrscheinlich aus Neugierde während der Zeit der Ereignisse dort aufgehalten haben." 9 5 So waren auf Leipzigs Straßen bereits vor der Verhängung des Ausnahmezustandes zwei Menschen ums Leben 91 92

93 94

95

BDVP Leipzig, Abt. K, A K / M U K , Betr.: Leichensache, 17.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 337). Der Mann hatte bemerkt, daß er fotografiert worden war, nur wußte er nicht, daß der Fotograf Lothar Noll war, der als Amateur vor der Staatsanwaltschaft Aufnahmen machte und mit dem Film nach Westberlin floh. Seine Bilder wurden Jahrzehnte später eine wichtige Quelle für die Leipziger Ereignisse. Vgl. BDVP Leipzig, Aktennotiz „Todesfälle, die im Bezirk bekannt wurden", vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . Vgl. BDVP Leipzig, An den Chef der Deutschen Volkspolizei, Gen. Generalinsp. Maron, Betr.: Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 163). BDVP Leipzig, Aktennotiz „Todesfälle, die im Bezirk bekannt wurden", vom 18.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) .

122

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

gekommen. Während der Tod von Elisabeth Bröcker und die noch folgenden Todesfälle nie offiziell eingestanden wurden, konnte die Erschießung von Dieter Teich nicht völlig verschwiegen werden, weil es nach dem spektakulären Leichenzug durch die Leipziger Innenstadt zu viele Zeugen gab. Am 19. Juni war auf Seite 1 der „Leipziger Volkszeitung" zu den Ereignissen in Leipzig zu lesen: „Als alle Mittel versagten und die faschistischen Banden unseren Volkspolizisten die Waffen zu entreißen versuchten, mußte sich unsere Volkspolizei zur Wehr setzen, und es fiel einer der Angreifer als Opfer der zynischen Verbrechen der Agenten und Provokateure." 9 6 Seit Mittag kam es auch vor anderen Gebäuden der Innenstadt zu größeren Menschenansammlungen, zu Angriffen auf exponierte Einrichtungen und zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei: vor der FDJBezirksleitung in der Ritterstraße, am Pavillon der Nationalen Front auf dem Leipziger Markt, vor dem Druckhaus der Leipziger Volkszeitung, am Hauptbahnhofs-Vorplatz und vor dem Gewerkschaftshaus in der Karl-LiebknechtStraße. Als die Meldungen und Hilferufe aus diesen Einrichtungen in der Einsatzleitung der Leipziger Polizei eingingen, waren fast alle verfügbaren Polizeikräfte mit der Sicherung ihrer eigenen Dienstgebäude beschäftigt und warteten selbst auf Unterstützung durch die Kasernierte Volkspolizei und die sowjetischen Truppen. Nur in wenigen Fällen konnte die Polizei den Hilfeersuchen der besorgten Funktionäre nachkommen, ihr Einsatz blieb zunächst wirkungslos. Mehr noch: Der schnelle Rückzug der Volkspolizei und Szenen, die die Polizei der Lächerlichkeit preisgaben, setzten bei den Demonstranten die Angstschwelle gegenüber der bewaffneten Staatsmacht erheblich herab. Die ständige Bewegung von Einsatzkräften der Volkspolizei zwischen den verschiedenen Schwerpunkten dürften die Demonstranten, die die Hilflosigkeit der bewaffneten Polizeikräfte spürten, mutiger und auch unvorsichtiger gemacht haben. Sie zogen immer wieder vor die ihnen besonders verhaßten Gebäude und griffen diese mehrfach an, so das Gewerkschaftshaus, die FDJ-Bezirksleitung und die Gebäude um die Beethoven-, Harkort- und Dimitroffstraße. Auch nach der Bekanntgabe des Ausnahmezustandes um 16 Uhr erlebten diese Plätze und Straßen noch heftige Auseinandersetzungen, an denen jetzt vorwiegend kleinere Gruppen von Jugendlichen beteiligt waren. Erst das massive Aufziehen von sowjetischen Militärfahrzeugen beendete die Straßenschlachten zwischen Leipziger Demonstranten und Polizisten. Später berichtete die Bezirksbehörde der Volkspolizei vom „mutigen Verhalten" besonders der Offiziere, von denen etliche verletzt worden seien. 97 Bei der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit waren den ganzen Nachmittag Meldungen über die Unruhen in der Stadt eingegangen: „14.15 Uhr, z.Zt. wird die LVZ gestürmt."; „15.15 Uhr - vor Hauptbahnhof singen Men96 97

„Die Ereignisse in Leipzig". In: LVZ vom 19.6.1953, S. 1. Vgl. BDVP Leipzig, An den Chef der Deutschen Volkspolizei, Gen. Generalinsp. Maron, Betr.: Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 171f.).

Die Besetzung der Leipziger FD]-Zentrale

123

sehen - ca. 600 - das Deutschlandlied."; „16.35 Uhr, LVZ meldet: Demonstranten in den Maschinenraum der LVZ eingedrungen und versuchen, die Maschinen zu demolieren. Bitte sofort Hilfe schicken." 9 8 Aus den Unterlagen der Staatssicherheit geht leider nicht hervor, wie das MfS auf diese Hilferufe reagierte. Es liegt lediglich eine Aktennotiz des Chefs der Bezirksverwaltung über eine Anordnung aus Berlin vor: „Gen. Gutsche teilte mit, daß bei der Verteidigung unserer Häuser rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen ist. Unter keinen Umständen darf ein Objekt aufgegeben werden. Die ärgsten Rädelsführer und Hetzer sind von Operativgruppen festzunehmen, auch dort unter Anwendung - wenn nicht anders möglich - der Schußwaffe." 9 9 Immerhin geht aus den Überlieferungen des MfS hervor, daß die Bezirksverwaltung ihre Mitarbeiter an „die Brennpunkte der Provokationen" entsandte, „um Rädelsführer- bzw. Haupträdelsführer wenn möglich namentlich festzustellen." 1 0 0 Ein solcher Brennpunkt war die FDJ-Bezirksleitung.

5.

D i e B e s e t z u n g d e r Leipziger F D J - Z e n t r a l e

Da am Leipziger FDJ-Gebäude in der Ritterstraße an diesem 17. Juni besonders viele Transparente mit „fortschrittlichen Losungen" hingen, verwundert es nicht, daß das unweit des Karl-Marx-Platzes gelegene Haus mehrfach Ziel von Demonstrationen wurde. Seit ca. 12.30 Uhr hatte sich dort eine größere Ansammlung meist junger Menschen gebildet. Eine halbe Stunde später ging bei der Volkspolizei Leipzig ein erster Hilferuf der Jugendfunktionäre ein. Die Meldung besagte, „daß jugendliche Demonstranten in die Kreisleitung eingedrungen sind und Fahnen und Losungen abgerissen haben und die dort beschäftigten Funktionäre verprügelt wurden." 1 0 1 Dabei hatte der 17. Juni in der Leipziger FDJ-Zentrale wie immer begonnen. In einer Routinesitzung des Sekretariats diskutierten die Jugendfunktionäre aus Leipzig-Stadt „wichtige Fragen: Sport- und Kulturfest" 1 0 2 , das anläßlich des 60. Geburtstages von Walter Ulbricht mit einem großen Aufwand vorbereitet wurde. 1 0 3 Die Diskussion wurde auch dann noch fortgesetzt, als eine erste Information über Demonstra-

98 BV für Staatssicherheit Leipzig, Meldungen der Einsatzleitung, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 4 , Bl. 38, Bl. 41, Bl. 43). 9 9 BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz vom 17.6.1953, ohne Angabe der Uhrzeit (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 2). 100 BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz: Einsatz des U-Mitarbeiters, Nr. 22 am 17.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, KS, 1 4 / 6 9 , Bl. 145). 101 VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) . 102 Vgl. FDJ-BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7.1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 127). 103 Vgl. Roth, DDR-Lesebuch, S. 219ff.

124

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

tionen im Stadtgebiet Leipzig einlief. 104 Die FDJ-Kreisleitung Leipzig-Land dagegen brach ihre Sitzung nach den ersten Meldungen über Demonstrationen ab. Schon seit 9 Uhr morgens hatte im Erdgeschoß des FDJ-Gebäudes eine Schulung von 80 bis 100 Funktionären der Politabteilungen der MaschinenTraktoren-Stationen (MTS) aus dem Bezirk begonnen. Sie wurde von dem Mitglied der SED-Bezirksleitung Lindau geleitet. Zu dieser Sitzung stieß gegen Mittag ein weiteres Mitglied der SED-Bezirksleitung kurzzeitig hinzu, aber nicht etwa, um über die Berliner Ereignisse vom Vortag oder über die beginnenden Demonstrationen in Leipzig zu informieren. Sie spielten offenbar überhaupt keine Rolle, niemand wollte davon hören oder gehört haben. Zu der morgendlichen Beratung in der SED-Bezirksleitung war die FDJ nicht geladen worden. Nur die 2. Sekretärin der FDJ-Bezirksleitung Lisa Lindner hatte in der Nacht zuvor über die Vorgänge in Berlin gehört, aber sie sprach zunächst nicht darüber, vielleicht weil sie alles für eine „RIAS-Ente" hielt. Erst als gegen 11.30 Uhr der 1. Sekretär der FDf-Bezirksleitung Peter Franke erschien, informierte sie ihn. Während dieses Gesprächs traf die Mitteilung über Demonstrationen in der Leipziger Innenstadt ein. Ein Telefonat mit der SED-Bezirksleitung brachte weder Aufklärung, noch erfolgte eine Anweisung zur Verteidigung des Hauses. Die SED-Leitung forderte von den FDJ-Funktionären lediglich Berichte darüber an, was in der Leipziger Innenstadt vor sich ging. Also wurde ein FDJ-Funktionär mit dem Auto ins Stadtgebiet geschickt, um die Lage auf den Straßen und Plätzen zu erkunden. Er kam mit der beruhigenden Mitteilung zurück, es seien „keine ernsten Ausschreitungen" zu beobachten und „die Demonstration ohne Zwischenfälle und ohne Auftreten der Volkspolizei" verlaufen. 105 Einige FDf-Funktionäre sollen sogar seelenruhig in die Mittagspause gegangen sein, obwohl bereits wenige Meter von ihnen entfernt Demonstranten über den Karl-Marx-Platz und die Goethestraße marschierten. 106 Gegen 12.30 Uhr hörte der 1. FDJ-Bezirkssekretär die Sprechchöre der herannahenden Demonstranten. Um diese Zeit hielten sich nur noch wenige Mitarbeiter im Gebäude auf. Der FDJ-Chef telefonierte mehrmals mit der SED-Bezirksleitung, um über die neue Situation zu informieren. Außerdem schloß er wichtige Unterlagen in den Tresor ein. Wenige Minuten später erhielt der Politleiter der Maschinen-Traktoren-Station von der SED-Bezirksleitung die Anweisung, daß sie „ruhigbleiben und sich nicht provozieren lassen sollten". Hilfe wurde in Aussicht gestellt. Inzwischen lehnten einige Demonstranten zwei Leitern an das FDJ-Haus, die sie von einem Maler aus der gegenüber-

104 Vgl. FDI-BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7. 1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 127); im folgenden vgl. ebd. 105 Ebd. 106 Vor der Bezirksparteikontrollkommission wurde darüber berichtet, daß die anwesenden MTS-Funktionäre beim Aufmarsch der Demonstranten über die Fenster in den Hof geflüchtet seien; vgl. ebd., Bl. 130.

Die Besetzung der Leipziger FDJ-Zentrale

125

liegenden Universität erhalten hatten. 1 0 7 Losungen und Transparente wurden zerstört, einige jugendliche Demonstranten stiegen durch die Fenster ein, andere gelangten über das Erdgeschoß in das Innere des unverschlossenen Gebäudes. Ein Mitarbeiter des Rates der Stadt, der von der SED-Kreisleitung LeipzigStadt den Auftrag erhalten hatte, den Demonstrationszug zu begleiten, schilderte später seine Eindrücke vor dem FDJ-Gebäude: „Während dieses Vorgangs schauten aus der 2. Etage mehrere FDJlerinnen heraus und amüsierten sich über die sich unten ansammelnden Menschen, was selbstverständlich die Empörung noch mehr steigern mußte." 1 0 8 Während dieses ersten Angriffes schlössen sich die Funktionäre der FDJ-Bezirksleitung in ihren Zimmern in den oberen Etagen ein und hofften darauf, nicht entdeckt zu werden. Als sich die Situation zuspitzte, erhielt der Politleiter von der Bezirksleitung den Rat, heimlich das Gebäude zu verlassen, doch er lehnte ab. Spätere Anrufe aus der SED-Zentrale wiederholten die am Vormittag gegebene Empfehlung, sich nicht provozieren zu lassen. Diesen Parteiauftrag beherzigte der Politleiter, der überdies damit zu tun hatte, mehrere FDJ-Mädchen, von ihnen einige schwanger, zu beruhigen. Er organisierte auch keinen Schutz des Hauses, was ohnehin völlig aussichtslos gewesen wäre, da selbst die bewaffneten Polizisten vor dem Gebäude machtlos waren. Das zeigte sich, als ein Zug von 30 Polizisten 109 , Angehörige der Bezirksbehörde der Volkspolizei und der Wacheinheit, ausrücken wollten, um den bedrängten FDJ-Funktionären zu Hilfe zu kommen. 1 1 0 Während die Polizisten versuchten, das Haus von Demonstranten zu räumen, stürzte man vor dem Gebäude ihren Bereitschaftswagen um und entwaffnete einige Polizisten. Alle Volkspolizisten beherzigten den Auftrag, „auf keinen Fall von der Waffe Gebrauch zu machen". 1 1 1 Nach einigen „Schlägereien" im Haus eröffnete der Einsatzleiter des Polizeikommandos den FDJ-Funktionären, daß das Gebäude von ihm nicht gesichert werden könne. Die Polizisten zogen sich zurück und überließen die FDJ-Funktionäre sich selbst. Zu diesem Zeitpunkt rieten die Genossen der SED-Bezirksleitung immer noch dazu, Ruhe zu bewahren und auf weitere Hilfe zu warten. Inzwischen hatten sich aber etwa 3 000 bis 4 000 Demonstranten angesammelt. Die vorwiegend jugendlichen Demonstranten vertrieben ein zweites Volkspolizei-Kommando bereits vor dem Gebäude, einige von ihnen kaperten den Mannschaftswagen, entfernten das Kennzeichen und fuhren damit los. Ein MfS-Mitarbeiter schwang sich unerkannt auf den Wagen und gab später zu Protokoll, der rebellische Trupp 107 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Aktennotiz: Schilderung eines Agitators, der am 17. Juni eingesetzt war, o. D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 8 ) . 108 Ebd. 109 In einem anderen Bericht wird die Stärke dieses Kommandos mit „ca. 15 Mann" angegeben; vgl. Aktennotiz des MfS vom 17.6.1953, 14.30 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 21). 110 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 17.6.1953, 8 . 0 0 Uhr bis 18.6.1953, 8 . 0 0 Uhr, vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 95). 111 FDJ BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7.1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 127).

126

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

sei durch die Innenstadt und schließlich zum Bahnhof gefahren. Am Volkspolizeirevier der Transportpolizei, das kurz zuvor von Demonstranten gestürmt worden war, habe man dann erbeutete Waffen aufgeladen. Es sollen 28 Dienstpistolen mit 80 Schuß Munition gewesen sein. Danach fuhr das Polizeiauto in Richtung Modelwitz, doch am Bahnhof hatte der Mitarbeiter der Staatssicherheit seine Vorgesetzten informieren können. Motorisierte MfSMitarbeiter verfolgten den Wagen und griffen zu, als er eine Reifenpanne hatte. Die Insassen wurden festgenommen und später von einem sowjetischen Militärtribunal abgeurteilt. Der MfS-Mann erhielt für sein „vorbildliches Verhalten" zehn Tage Sonderurlaub. 113 In der Zwischenzeit hatte sich das zweite Polizeikommando vor dem FDJGebäude zurückgezogen, weil die Polizisten „gegenüber der meuternden Masse machtlos" waren, wie der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit gegen 14.30 Uhr mitgeteilt wurde. 114 Zu diesem Zeitpunkt räumten Demonstranten bereits das eroberte FDJ-Gebäude aus. Sie warfen Gegenstände, Akten und Bilder von Marx, Engels, Lenin, Stalin und „den führenden SED-Genossen" auf die Straße und verbrannten sie.115 Dadurch entstand eine solche Rauchentwicklung, daß die Feuerwehr anrückte, um den vermeintlichen Brand im Haus zu löschen. Aber auch sie hielt sich weitgehend aus dem Geschehen heraus, „da das Feuer keinen ernsten Charakter trug und nur Bücher auf der Straße verbrannt wurden", wie es später in Berichten hieß. 116 Funktionäre der FDJ berichteten drei Wochen später der Bezirksparteikontrollkommission, daß sie von einem Feuerwehr-Offizier mit den Worten „Genosse, das machen wir nicht, das sind auch Arbeiter" gerügt worden seien, als sie einen „Banditen die Treppe hinunter geworfen" hätten. 117 Noch immer hielten sich der 1. FDJ-Bezirkssekretär und einige seiner Mitarbeiter in ihren verschlossenen Dienstzimmern auf. Gegen 15 Uhr wurde das Zimmer des 1. Sekretärs aufgebrochen, die Bilder von Stalin und Pieck zerschlagen. Der Anweisung gemäß setzten sich die sechs Funktionäre, ein Volkspolizist und mehrere Mitarbeiterinnen der Bezirksleitung, die sich in diesem Zimmer befanden, nicht zur Wehr. Der Volkspolizist hatte seine Waffe im Fenster hinter der Gardine abgelegt. Den Funktionären passierte nichts. Sie konnten sich frei im Haus bewegen. Jetzt trafen auch sowjetische Offiziere ein, die Hilfe versprachen und dann wieder verschwanden. Anschließend informier112 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Personenbezogene Unterlagen, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, AU 1 9 2 / 5 5 , Bl. 3). 113 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz über den Einsatz des U-Mitarbeiters, Nr. 22 am 17.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, KS, 1 4 / 6 9 , Bl. 146). 114 Aktennotiz des MfS vom 17.6.1953, 14.30 Uhr (BStU; Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 21). 115 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz vom 17.6.1953, 14.30 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 21). 116 VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 6 , Bl. 67, Bl. 133). 117 FDJ-BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7.1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 ) .

Die Besetzung der Leipziger FDJ-Zentrale

127

te der 1. FDJ-Bezirkssekretär die Einsatzleitung des MfS: „Das Haus ist vollständig demoliert. Vor dem Haus brennt es - die Akten der FDJ. Es sind immer noch fremde Leute im Haus. Drei Offiziere der Sowjetarmee waren da und haben sich alles angesehen." 1 1 8 Später wurde diese Meldung dahingehend korrigiert, daß im Gebäude selbst nichts beschädigt worden sei. Demonstranten hätten Weisung erteilt, kein Inventar zu zerstören, weil das noch gebraucht würde. 1 1 9 Die Besetzung des FDJ-Hauses dauerte mehrere Stunden. Noch vor der Verhängung des Ausnahmezustandes fuhren zwei sowjetische Panzer in die Ritterstraße ein. Unter dem Ruf „Die Iwans kommen" verließen die Demonstranten sofort das Gebäude und die Straße. Die Panzer fuhren weiter, die Demonstranten tauchten abermals auf, aber sie gelangten nicht wieder in das Gebäude. Inzwischen war ab 16 Uhr der Ausnahmezustand über den Bezirk und die Messestadt verhängt worden. Eine Stunde später berichtete die SEDBezirksleitung an das ZK in Berlin, daß sich „die feindlichen Elemente, die sich in unverminderter Zahl im Stadtgebiet aufhalten, weiterhin auf einzelne Institutionen in der Stadtmitte konzentrieren" 1 2 0 , darunter auch auf die FDJBezirksleitung. Inzwischen hatten die Funktionäre dort die „Verteidigung und den Wachdienst organisiert". 1 2 1 Gegen 18 Uhr fuhr erneut ein sowjetischer Panzer vor. Eine Stunde später war die Ritterstraße menschenleer, und die Hausherren des FDJ-Gebäudes, unterstützt von einigen Dutzend FDJ-Mitgliedern aus dem Kreisverband Leipzig, von der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und dem Institut für Lehrerbildung, begannen damit, die Spuren des Aufstandes in der Ritterstraße zu beseitigen. Das Haus der FDJ wurde „fest verbarrikadiert und starke Wachgruppen eingeteilt". 122 Der Sturm auf die FDJ-Bezirksleitung trug wesentlich zur Radikalisierung des Geschehens auf den Straßen von Leipzig bei. Dazu kam, daß der Anteil von älteren und besonnenen Demonstrationsteilnehmern im Laufe des Tages abnahm und Jugendliche immer mehr das Bild auf den Leipziger Straßen bestimmten. Nach der ersten Räumung des FDJ-Gebäudes zog ein Teil der vorwiegend jugendlichen Demonstranten zum Markt, in den engen Durchgangsstraßen hinterließen sie mit eingeschlagenen Schaufenstern und umgekippten Autos ihre Spuren. 1 2 3 Am Markt zündeten sie den Pavillon der Nationalen Front an. Ehe die Feuerwehr an das Gebäude herankam, war es ausgebrannt.

118 Einsatzleitung, Aktennotiz vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 40). 119 Vgl. FDJ-BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7.1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 129). 120 SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 121 vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 121 FDJ-BL Leipzig, SED-PO, Protokoll über die Besprechung mit der BPKK am 11.7.1953, 10.00 Uhr in der FDJ-BL (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 128). 122 Ebd. 123 Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben v. 17. u. 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) .

128

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Es wird erzählt, man habe bei dieser Aktion ein Klavier auf den Markt gestellt, auf dem sowjetische Weisen gespielt worden seien. 124 SED-Chef Paul Fröhlich war über die Vorfälle in der Ritterstraße und insbesondere über das Verhalten seines Politleiters entsetzt. Er warf ihm „Feigheit" vor und verwehrte ihm im ersten Groll die Teilnahme an einer Sekretariatssitzung. Der MTS-Funktionär rechtfertigte sich mit der mehrfachen telefonischen Anweisung aus der SED-Bezirkszentrale, Ruhe zu bewahren. Fröhlich wies das scharf zurück: „Gibt es da noch telefonische Anweisungen? Da gibt es nur noch die Argumentation mit dem Stuhlbein! Eine andere Haltung kann man in diesem Moment nicht einnehmen, denn die Banditen waren daran und darauf, alles zu zerstören [...]. Deswegen gibt es bei solchen Fragen kein philosophisches Diskutieren [...], sondern da entscheidet, wie der alte Blücher sagt, das .Druff'." 1 2 5 Die Tumulte um die FDJ-Zentrale hatten auch Konsequenzen für die Universität. Rektorat und SED-Parteileitung der Universität lagen nämlich gegenüber, und sowohl die Universitätsmitarbeiter als auch die SED-Funktionäre beobachteten das Geschehen vor dem FDJ-Haus lediglich „durchs Schlüsselloch". 126 Sie hatten ihre Türen verbarrikadiert und waren froh, daß sie von den Demonstranten links liegengelassen wurden. Auch sie hielten sich streng an die Parteianweisung, sich nicht provozieren zu lassen und Ruhe zu bewahren, und dachten gar nicht daran, den FDJ-Funktionären zu Hilfe zu kommen. Der Rektor der Universität, Georg Mayer, näherte sich um die Mittagszeit im Dienstwagen dem Ort der Auseinandersetzung. Aus Sorge um das Fahrzeug, wie er sagte, ließ er seinen Fahrer sofort wieder umkehren und sich in seine Wohnung im Norden von Leipzig fahren. 1 2 7 Das sollte ein Nachspiel haben. SED-Chef Fröhlich warf auch dem Rektor Feigheit und Kapitulantentum vor dem „Feind" vor, und die Bezirksleitung bereitete bereits eine Parteiauseinandersetzung vor, die Nichtwiederwahl als Rektor eingeschlossen. Da das Politbüro im Herbst 1953 jedoch auf der Wiederwahl Meyers als Rektor der Leipziger Universität bestand, weil er von den „bürgerlichen" Professoren anerkannt war und für deren Einbeziehung in den sozialistischen Aufbau der

124 Information aus Gesprächen der Autorin mit mehreren Zeitzeugen zum Verlauf des 17. Juni 1953 in Leipzig. 125 SED-BL Leipzig, Sitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 101). Wegen seines „kapitulantenhaften Verhaltens" wurde der MTS-Politleiter noch im Juli von seiner Funktion abgelöst und aus der SED-BL ausgeschlossen. Er bekam eine „strenge Rüge". Vier Funktionäre der FDJ-BL erhielten „eine ernste Belehrung" vor dem Sekretariat der SED-BL; Begründung: „Sie ließen die Mitarbeiter in den entscheidenden Stunden der faschistischen Provokation ohne Führung und waren kopflos und verwirrt." Vgl. SED-BL, BPKK, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 ) . 126 SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 4 7 , Bl. 34). 127 Vgl. Protokoll der Leitungssitzung der Parteileitung der Karl-Marx-Universität Leipzig vom 14.9.1953, S. 5 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 7 ) .

Demonstranten vor dem „Volkshaus"

129

Hochschule gebraucht wurde, blieb Georg Mayer unbehelligt im Amt. 1 2 8 Die schweren Vorwürfe wurden von heute auf morgen fallengelassen.

6.

D e m o n s t r a n t e n vor d e m „Volkshaus"

Das Gewerkschaftshaus in der Karl-Liebknecht-Straße - bis zum Machtantritt Hitlers als „Volkshaus" ein öffentliches Haus für politische Arbeit, für Freizeit und Entspannung - war nach der Wiedereröffnung Anfang der fünfziger Jahre als Ernst-Thälmann-Haus die Zentrale der Einheitsgewerkschaften. Seither diente es nicht mehr als Begegnungsstätte für einfache Gewerkschaftsmitglieder, sondern als Domizil der Funktionäre des FDGB-Bezirksvorstandes Leipzig und der Industriegewerkschaften; „Bonzenhaus" hieß es jetzt im Volksmund. Nach den Beschlüssen über die administrative Normenerhöhung war der Groll auf die Gewerkschaftsnomenklatur natürlich besonders groß. Am 17. Juni 1953 waren die Leipziger Gewerkschaftsfunktionäre noch ahnungsloser als die Staats- und Parteispitzen. Noch am Morgen dieses Tages entdeckten sie „keinerlei Anzeichen und Hinweise" auf mögliche Unruhen. 1 2 9 Weder der FDGB-Bundesvorstand noch die SED-Bezirksleitung hatten die Leipziger Gewerkschaftsfunktionäre über die Vorgänge in Berlin informiert. Zur „Krisensitzung" in die Bezirksleitung der Partei waren sie zunächst nicht eingeladen. Einige von ihnen hatten im Radio von Demonstrationen in der Stalinallee gehört, doch sie hielten dies für eine „örtliche Angelegenheit ohne weitere Bedeutung". Also begann der Tag im Ernst-Thälmann-Haus wie immer. Der größte Teil der Funktionäre befand sich in den Betrieben, Kreisen oder Gebieten des Bezirkes. Sie waren mit Kassenrevisionen beschäftigt oder nahmen etwa an einer Aktivtagung in Oschatz teil. 1 3 0 Der Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Fritz Stein wurde erst gegen Mittag in die SED-Bezirksleitung bestellt, obwohl sich dort die führenden Kader der SED, des Rates des Bezirkes, der Staatssicherheit und der Polizei bereits seit den Morgenstunden eingefunden und einen zentralen Einsatzstab gebildet hatten. Am Vormittag trafen die ersten fragenden Anrufe aus den Betrieben und Einrichtungen im Gewerkschaftshaus ein, was die Demonstrationen und Streiks zu bedeuten hätten. Einige Anrufer erklärten auch, die Betriebe seien über Telefon von der SED und den Gewerkschaften zu solchen Aktionen aufgefordert worden. Die Gewerkschaftsfunktionäre waren nun restlos überfordert. Aber schon wenig später konnten sie sich selbst davon überzeugen, daß sich auch auf Leipzigs Straßen ungewöhnliche Vorgänge abspielten. Am Ge128 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 1 5 . 1 0 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/3/148). 129 FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18.6.1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 3 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301); das folgende Zitat ebd. 130 Vgl. ebd., S. 7; im folgenden vgl. ebd., S. 3f.

130

Der 17. funi im Bezirk Leipzig

werkschaftsgebäude zogen die ersten Demonstranten vorbei; es waren die erwähnten Arbeiter von der Baustelle Oberpostdirektion. Als die Gewerkschaftler diese Demonstranten sahen, glaubten sie zunächst noch an organisierte und genehmigte Aufmärsche. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß ihre Gewerkschaftsmitglieder aus eigenem Antrieb über die Straßen zogen. Aus Betrieben und Kreisen erhielten die Funktionäre immer mehr Anfragen, ob die Streiks und Demonstrationen denn von der Partei und den Gewerkschaften selber angeregt worden seien. Einige Betriebsgewerkschaftsleitungen baten bereits um Unterstützung bei der Aufklärung ihrer Belegschaften über die Vorgänge in Berlin. Funktionäre der Industriegewerkschaften wurden in die Schwerpunktbetriebe geschickt, ohne über irgendwelche Sprachregelungen oder Leitfäden für ihre Argumentationen zu verfügen. In einzelnen Fällen kam es sogar dazu, daß die Funktionäre sich mit den Streikenden solidarisierten und deren Forderungskataloge unterzeichneten oder weiterleiteten - so im Falle des 1. Vorsitzenden des Kreisvorstandes der IG Bau-Holz Heinz Hagemann. 131 Er unterschrieb die Forderungen der Bauarbeiter aus der Windmühlenstraße und versprach, sie der Industriegewerkschaft und dem Bundesvorstand des FDGB zuzuleiten. Um die Mittagszeit des 17. Juni waren im „Volkshaus" etwa 40 Funktionäre anwesend, als sich kurz nach 13 Uhr ein weiterer Demonstrationszug, es waren ca. 1 500 bis 2 000 Mann, aus Richtung Innenstadt näherte. Im Volkshaus fand gerade eine Besprechung statt, die der Stellvertretende Vorsitzende des Bezirksvorstandes, Heinz Pinkert, einberufen hatte, weil sich die Meldungen über Unruhen in Betrieben und in der Stadt zu häufen begannen. Die Gewerkschafter waren eben übereingekommen, die Demonstranten „abzulenken, zu zerstreuen und ihr Eindringen in das Haus zu verhindern." 132 Zehn bis 15 Funktionäre gingen deshalb vor das Haus, um mit den Ankommenden zu diskutieren. Einige Demonstranten forderten von den Vertretern der Gewerkschaft: „Fünf Minuten habt ihr Zeit, bis dahin sind alle Transparente und Fahnen runter. Demonstriert mit. Das Rathaus, der Bahnhof, der Sender ist besetzt, wehrt euch nicht und verhindert Blutvergießen; die Regierung ist gestürzt, wir wollen Freiheit!" 133 Als die Funktionäre darauf nicht eingehen wollten, kam es zu tumultartigen Szenen. Sie wurden mit Ausdrücken wie „Arbeiterverräter, Schweine, Hunde" beschimpft. Es kam zu Rempeleien, Parteiabzeichen wurden abgerissen, schließlich drängten die Demonstranten auf den Eingang zu. Auch Oberbürgermeister Uhlich wurde Zeuge dieser Auseinandersetzungen; offenbar hatte er den Demonstrationszug immer noch

131 Heinz Hagemann, Jahrgang 1918, gelernter Maurer, wurde verhaftet und später wieder freigelassen. Gegen ihn und den 1. Vorsitzenden des Bezirksvorstandes IG Bau-Holz wurden später von der BPKK Leipzig Parteiverfahren eingeleitet; vgl. SED-BL Leipzig, BPKK, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 5 8 ) . 132 FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18.6.1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 3 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301). 133 Vgl. SED-BL Leipzig, BPKK, o. D. (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 5 8 ) .

Demonstranten vor dem „Volkshaus"

131

begleitet. Ihm sei an dieser Stelle die Erkenntnis gekommen, so sagte er später, daß es sich um eine „faschistische Provokation" handele. 1 3 4 Er wurde, so berichtete er, „von einer Menge von 50 Gangstern abgeriegelt". Die Gewerkschaftsfunktionäre bekamen nun Angst, sie waren gegen die vielen Demonstranten machtlos, und es gelang ihnen, sich ins Gebäude zurückzuziehen und die Türen zu schließen. 1 3 5 Das veranlaßte die Demonstranten ihrerseits, mit Gewalt in das Haus einzudringen. Türscheiben gingen zu Bruch, das Tor wurde eingedrückt, die ersten Demonstranten gelangten in das Gebäude. Hier ging die Diskussion weiter, offenbar ohne befriedigendes Ergebnis für die Protestierenden. Losungen wurden entfernt, Stühle zerschlagen. Doch plötzlich lief die Nachricht um: „Am Dimitroff-Platz wird geschossen", und die Demonstranten, die offensichtlich die ersten Warnschüsse von der nahegelegenen Beethoven- bzw. Harkortstraße gehört hatten, zogen sich zurück. Diese mittäglichen Auseinandersetzungen dauerten etwa 45 Minuten. Als die erste Gefahr für das Gewerkschaftshaus vorüber war, erschien eine Einheit der Volkspolizei mit 40 Mann, wenig später wurden 30 davon wieder abgezogen. Mit den verbliebenen Polizisten bereiteten sich die Gewerkschaftsfunktionäre auf die Verteidigung des Hauses vor. Zwischen 15 und 16 Uhr kam es zu weiteren Angriffen, die mit Unterbrechungen bis gegen 18.30 Uhr andauerten. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes war auch der Vorsitzende des Bezirksvorstandes des FDGB aus der SED-Bezirksleitung zurückgekehrt. Gegen 17.50 Uhr gab er folgende Mitteilung an die Staatssicherheit durch: „Neuer Sturm auf Ernst-ThälmannHaus. Der erste wurde zurückgeschlagen, ca. 2 000 Menschen, von der Schußwaffe wurde und wird durch die VP Gebrauch gemacht." 1 3 6 Nur acht Minuten später folgte eine weitere Lagemeldung: „Ernst-Thälmann-Haus kann nicht mehr gehalten werden." Daraufhin wurden „starke Einsatzkräfte der BDVP, der Wacheinheit, Tanklöschfahrzeuge und Genossen der KVP" geschickt, die „den vor dem Gebäude liegenden Platz sowie die angrenzenden Straßen säuberten und die zu Tausenden zählenden Demonstranten und Provokateure verstreuten", so jedenfalls später der Chef der Volkspolizei des Bezirkes Leipzig gegenüber seinem Vorgesetzten. 137 Insgesamt kamen zu diesem Zeitpunkt 110 Volkspolizisten und Angehörige der KVP und zwei Tanklöschfahrzeuge zum Einsatz. 138 Anfangs waren es hauptsächlich Arbeiter, die in das „Volkshaus" wollten. Bei den Auseinandersetzungen in den späten Nachmittags134 SED-BL Leipzig, Bezirksleitungssitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 57). 135 Vgl. FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18.6.1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 4 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301); das folgende Zitat ebd. 136 BV für Staatssicherheit Leipzig, Einsatzleitung, Aktennotiz vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 44); die folgenden Zitate ebd. 137 BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, o. D. (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 165). 138 Vgl. BDVP Leipzig, Lagebericht vom 18.6.1953, 4.00 Uhr (SächsStAL, BDVP, 24/42).

132

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

stunden überwogen aber auch hier Jugendliche. Insgesamt betrug der entstandene Sachschaden am Gebäude etwa 5 500,- Mark. 1 3 9 Die Gewerkschaftsfunktionäre hatten sich gegenüber den Demonstranten offensichtlich sehr unterschiedlich verhalten. Der Bezirksvorstand berichtete dem FDGB-Bundesvorstand über „hervorragende Bewährung". Funktionäre der IG Metall hätten „mächtig zugeschlagen". Andere Mitarbeiter seien „feige" gewesen und „einfach abgehauen". Besonders entrüstet war der FDGB-Bezirksvorstand darüber, daß der Kreissekretär der IG Bau/Holz, Hagemann, sich von den Bauarbeitern der Windmühlenstraße habe „zwingen" lassen, einen Forderungskatalog nach Berlin weiterzuleiten; damit habe er sich „schändlich" verhalten. 140 Einen Monat nach dem Ereignis war die Leitung des FDGB-Bezirksvorstandes recht zufrieden mit dem Verhalten ihrer Funktionäre, obwohl sie „erstmalig im Leben vor einem aktiven politischen Kampf unter Einsatz der Person" 141 gestanden hätten, wie betont wurde. Weshalb ihnen der FDGBBundesvorstand und die SED-Bezirksleitung nach den Ereignissen in Berlin aber keinerlei Informationen hatte zukommen lassen, beschäftigte die Leipziger Gewerkschafter noch lange. SED-Chef Paul Fröhlich ging darauf freilich nie ein, statt dessen kritisierte er die Gewerkschaftsfunktionäre dafür, daß sie „selbst nicht aktiv unter Einsatz ihres Lebens das Ernst-Thälmann-Haus verteidigt" hätten. 142 Einige Zeit später wurde der Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Leipzig abgelöst.

7.

Weitere Zwischenfälle in Leipzig

Wieviele Menschen am Nachmittag des 17. Juni in Leipzigs Innenstadt auf den Beinen waren, wird sich niemals ermitteln lassen. 100000, wie vermutet wurde, dürften es kaum gewesen sein. Die SED-Bezirksleitung schätzte in ihrer Berichterstattung, daß etwa 40 000 Menschen auf den Leipziger Straßen und Plätzen unterwegs gewesen seien. 143 Noch problematischer als die absoluten Zahlen, die alle auf Schätzungen beruhen, sind Versuche, die Zusammensetzung der Demonstrationszüge zu bestimmen. Solche Versuche gibt es auch nur für Leipzig. Nach den oben genannten Angaben der SED-Bezirksleitung 139 Vgl. FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18.6.1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 5 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301). 140 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig, Bericht zur Lage vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 34, 15/515h, 310). 141 FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. u. 18.6.1953 im Bezirk Leipzig, vom 17.7.1953, S. 8 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301). 142 SED-BL Leipzig, Bezirksleitungssitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 97). 143 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o. D., S. 7 (SächsStAL, SED W/2/ 12/588).

Weitere Zwischenfälle in Leipzig

133

seien die Hälfte der Demonstranten Arbeiter gewesen, des weiteren 1 0 0 0 0 Kleinbürger, 1 0 0 0 0 Hausfrauen, vor allem aus Arbeiterfamilien; dazu kämen ca. 2 000 bis 3 0 0 0 Kinder bzw. Schüler. Auf welcher Grundlage diese Schätzung erfolgte, ist unklar. Bei ihrer Zuordnung zu bestimmten sozialen Schichten legte die Parteiführung ziemlich kühne Kriterien an: die Bekleidung der Demonstrationsteilnehmer beispielsweise. „Gut angezogene Leute" im Demonstrationszug wurden zu „Berliner Agenten" gestempelt, modisch gekleidete Jugendliche - mit karierten Hemden, Ringelsocken und Bürstenschnitt zu „eingeschleusten" bzw. „von Westberlin bezahlten Trupps" gemacht, vor allem, wenn sie auf „chromblitzenden Fahrrädern" den Zug begleiteten. 144 Fotos zeigen tatsächlich jugendliche Radfahrer, die sich etwa auf dem Marktplatz aufhielten und das Treiben beobachteten. Sie waren zum Teil noch sehr jung, auch Kinder waren darunter, die von den turbulenten Ereignissen in der Stadt angezogen wurden; in einigen Schulen war sogar der Unterricht ausgefallen. Der „Bürstenschnitt als Symbol für amerikanischen Lebensstil" ist auf den Bildern, die Ausschnitte des Geschehens auf dem Markt oder am Dimitroffplatz zeigen, allerdings nicht zu entdeckten. Auch in Romanen über den 17. Juni figurieren Jugendliche auf Fahrrädern. 1 4 5 Alles konzentrierte sich an diesem Tag auf den Stadtkern von Leipzig. Aus verschiedenen Richtungen kamen immer häufiger streikende Betriebsbelegschaften aus den Außenbezirken in die Innenstadt und in der Regel dann bis zum Karl-Marx-Platz. Es hatte an diesem Tage das Gerücht kursiert, um 15 Uhr fände dort eine große Kundgebung statt, aber dazu kam es nicht. Auch der Hauptbahnhof-Vorplatz wurde zu einem solchen Treffpunkt von Demonstranten aus den unterschiedlichsten Richtungen der Stadt. Außerdem liefen auf dem Hauptbahnhof die Schichtzüge in die Tagebauanlagen und großen Werke in Borna-Espenhain und Böhlen aus bzw. kamen von dort zurück. Gegen 12 Uhr wurde für die Transportpolizei auf dem Hauptbahnhof Alarmstufe 3 ausgelöst. 146 Dabei wurden die Transportpolizisten mit Schußwaffen ausgerüstet. Es kam zu mehreren Zwischenfällen. Der spektakulärste ereignete sich gegen 14.30 Uhr: Das Volkspolizeikreisamt wurde von der Transportpolizei des Hauptbahnhofes darüber informiert, daß Demonstranten die Wache gestürmt und Waffen entwendet hätten. 1 4 7 Tatsächlich waren 60 bis 80 Personen vor der Wache erschienen, hatten Fensterscheiben und Transparente zerstört. Eine Meldung an das MfS sprach sogar von 350 bis 4 0 0

144 Vgl. SED-KL Leipzig, An die SKK, Übersicht über die Entwicklung des Putsches am 17.6.1953, vom 24.6.1953, S. 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). 145 Auch Hans Mayer spricht in „Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik" (S. 85f.) von „westdeutschen .Flitzern' mit ihren unverkennbaren schönen Fahrrädern", die er auf Leipziger Straßen gesehen habe, „bevor sie irgendwohin wieder verschwanden". 146 Vgl. Volkspolizeiamt Leipzig (T), Dienstliche Meldung, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, AU 2 0 1 / 5 5 , Bl. 5). 147 Vgl. ebd.

134

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Personen, die die Wache gestürmt hätten. 1 4 8 Als die Demonstranten in den Wachraum eindrangen, gab der Amtsleiter Befehl, die Waffen in den Panzerschrank einzuschließen. Doch als die Polizisten gerade dabei waren, ihre Waffen abzugeben, rissen ihnen die Eindringlinge die Pistolen aus der Hand. Sie durchsuchten die Amtsräume und nahmen Bilder und Losungen von der Wand. Ein ehemaliger Angehöriger der Volkspolizei, der 40jährige Herbert Kaiser, soll der Anführer gewesen. 149 Nach seiner Verhaftung und einem Verhör durch die Staatssicherheit wurde er den „Freunden" übergeben. Das Urteil des sowjetischen Militärtribunals lautete auf „Todesstrafe". 150 Die Transportpolizisten sollen bei diesem Angriff auf die Dienststelle ihre Schulterstücke aus Angst vor der Übermacht der eingedrungenen Demonstranten selbst entfernt haben. Sie hatten. Erst sowjetische Soldaten hätten die Eindringlinge vertrieben. In der Polizei-Berichterstattung bleibt offen, was mit den erbeuteten Waffen geschah. Später wurden sie jedenfalls wieder vollzählig eingesammelt. Deshalb erschienen sie auch nicht in der Statistik über Waffenverluste. 151 Auch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes über den Bezirk sammelten sich zwischen 16 und 21 Uhr immer wieder Gruppen vorwiegend jugendlicher Demonstranten in der Leipziger Innenstadt, so auch vor der Deutschen Notenbank, vor der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit und der Bezirksdirektion der Volkspolizei am Dittrichring. Zunächst kamen Wasserwerfer und Feuerlöschfahrzeuge zum Einsatz. Gegen 18 Uhr unternahmen Demonstranten am Dittrichring einen Angriff auf die Garage des Gebäudekomplexes von Staatssicherheit und Volkspolizei. 152 Ohne Zögern machten hier die Sicherheitskräfte von der Schußwaffe Gebrauch. 1 5 3 Dabei erlitt der 44jährige Johannes Köhler aus Leipzig einen lebensgefährlichen Bauchschuß. Am nächsten Tag starb er an den Folgen dieser Verletzung. „Köhler war Ange-

148 Ebd. 149 Kaiser hatte bis 1951 als Angehöriger der Leipziger Transportpolizei Dienst auf dem Hauptbahnhof getan. Zuletzt arbeitete er als Transportarbeiter in der Deutschen Handelszentrale. 150 BV für Staatssicherheit Leipzig, Abt. IX, Aktennotiz vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 251, Bl. 23). Bisher konnte nicht ermittelt werden, ob das Urteil vollstreckt wurde. 151 Es hat in Leipzig einen weiteren, jedoch erfolglosen Versuch der Demonstranten gegeben, Waffen zu erbeuten, als am Nachmittag ein Gruppenposten in einem nördlichen Stadtbezirk die Waffen abgeben sollte. Im Bezirk Leipzig wurde insgesamt der Verlust von sechs Waffen gemeldet. Die BDVP gab an: „Die Waffenverluste traten ein, indem einzelne Volkspolizisten von der Menge überfallen, niedergeschlagen und ihnen dabei die Waffen geraubt wurden." Vgl. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 171). 152 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Berichte der Einsatzleitung, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 1) 153 Vgl. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 165).

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

135

höriger der NSDAP", vermerkte die Bezirksbehörde der Volkspolizei. 154 Mehrere Jugendliche wurden sofort festgenommen, dabei auch ein 18jähriges Mädchen, weil es an der Torausfahrt der Verwaltung für Staatssicherheit stehengeblieben war. 1 5 5 Der letzte massive Einsatz der Sicherheitskräfte fand kurz nach 19 Uhr statt. Dabei wurden Feuerlöschfahrzeuge zur Vertreibung der Protestierenden eingesetzt. Um 21.35 Uhr traf die letzte Meldung über Demonstrationen bei der Einsatzleitung der Leipziger Volkspolizei ein: Etwa 150 Personen, vorwiegend Jugendliche, bewegten sich in der Demmeringstraße im Westen der Stadt auf ein Kaufhaus zu. Da vermutet wurde, die Jugendlichen wollten Brände legen, wurden zwei Gruppen der KVP zu deren „Bekämpfung" eingesetzt. 156

8.

D a s A u f b e g e h r e n im Bezirk Leipzig

Leipzig war neben dem Bezirk Halle damals der zweite Bezirk, in dem es in allen Kreisen Protestaktionen, Streiks, Demonstrationen, größere Unruhen oder andere außergewöhnliche Vorfälle gab. 157 In 48 Orten des Bezirkes kam es nach einer unvollständigen Zusammenstellung von Kowalczuk und Mitter zwischen dem 17. und 21. Juni 1953 zu Demonstrationen, öffentlichen Kundgebungen, Streiks oder Gewalttätigkeiten gegen offizielle Personen oder Einrichtungen. 1 5 8 In der MfS-, Polizei- und SED-Berichterstattung wurden darüber hinaus für den 17. Juni 1953 Demonstrationen und Aufmärsche auch aus den Kreisstädten Delitzsch und Schmölln sowie aus der Kleinstadt Düben im Kreis Eilenburg gemeldet. 1 5 9 Daß gerade in diesen Orten größere öffentliche Aktionen zustande kamen, war in der geographischen Lage, in der Struktur und in der Geschichte dieser Regionen begründet. Die nach Leipzig heftigsten Auseinandersetzungen erlebte Delitzsch. Dieser Kreis gehörte bis zur Verwaltungsreform im Juli 1952 zum Land Sachsen-Anhalt und wechselte danach zum Bezirk Leipzig. Er war primär landwirtschaftlich strukturiert. Im August 1952 bewirtschafteten 414 sogenannte Großbauern knapp die Hälfte der landwirt-

154 BDVP Leipzig, Aktennotiz „Todesfälle, die im Bezirk bekannt wurden", vom 18.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . 155 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Meldung des Einsatzstabes vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 1). 156 Vgl. VPKA Leipzig, Betr.: Ereignismeldung sowie Auswertung derselben vom 17. u. 18.6.1953, vom 2.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 , Bl. 67). 157 Vgl. Diedrich, Bewaffnete Gewalt, S. 291 f. 158 Vgl. Kowalczuk/Mitter, Orte des Widerstands, S. 3 3 8 . 159 Darüber war in DDR-Publikationen festgehalten: „In einigen Kreisen des Bezirkes hatte die konterrevolutionäre Wühltätigkeit gleichfalls Arbeitsniederlegungen bzw. Exzesse zur Folge." In diesem Zusammenhang wurden Delitzsch, Rackwitz und Schmölln genannt; vgl. Organisator des Aufbaus, S. 2 0 4 .

136

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

schaftlichen Nutzfläche des Kreises (im Bezirk Leipzig: 34 Prozent). 1 6 0 Nach der 2. Parteikonferenz der SED mit ihrer Ausrichtung auf die Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften lag demzufolge der Schwerpunkt des „Klassenkampfes" in der „Überwindung" der sogenannten großbäuerlichen Wirtschaften. Im Vorfeld des 17. Juni waren mehrere Bauern wegen angeblicher „Wirtschaftsvergehen" festgenommen worden, andere hatten ihre Höfe in Richtung Westdeutschland verlassen, darunter auch einige, die keine Steuerschulden oder Rückstände in der Sollablieferung hatten. Sie befürchteten eine bevorstehende Enteignung. 161 Bis Mai 1953 flüchteten 33 „großbäuerliche" Familien nach Westdeutschland. 162 Auf der anderen Seite war in diesem Kreis auch das erste „vollgenossenschaftliche Dorf" des Bezirkes Leipzig entstanden. 163 Trotzdem ging den Verantwortlichen in der Bezirksstadt die „Liquidierung der Großbauern" noch nicht schnell genug. Im Mai 1953 monierte die Volkspolizei, daß die „Großbauern" durch den verantwortlichen Dezernenten des Rates der Stadt Delitzsch, das CDU-Mitglied Nickisch, gegenüber den „werktätigen Bauern" bevorteilt würden. 1 6 4 Der Delitzscher Funktionär wurde daraufhin festgenommen. Im Kreis gab es einige Großbetriebe, darunter das RAW Delitzsch und das Leichtmetallwerk Rackwitz. Beide Betriebe waren mehrfach als „Wettbewerbssieger" aus dem sozialistischen Wettbewerb hervorgegangen. 165 Gerade sie gehörten, ähnlich wie in Leipzig, zu den Betrieben, die am 17. Juni und in den folgenden Tagen die Arbeit niederlegten. Für das rasche Übergreifen der öffentlichen Protestbewegung am 17. Juni auf die Stadt Delitzsch war zweifellos ihre Lage inmitten der Aufstandsgebiete Halle, Bitterfeld und Leipzig ausschlaggebend. Delitzsch liegt an der Bahnstrecke Leipzig-Bitterfeld-Berlin, so daß auch Informationen von Reisenden aus Berlin frühzeitig möglich waren. Auch die rasche Verbreitung von Meldungen, wonach das Ende der DDR bevorstünde, hat in bestimmter Weise dazu beigetragen. In den Tagen vor dem 17. Juni tauchten, wie überall in der DDR, die unterschiedlichsten Gerüchte über die Regierung und die Perspektive der DDR auf. In Kleinstädten und besonders in ländlichen Gebieten machten sie schneller die Runde und verunsicherten noch mehr als in Großstädten offenbar die „kleinen" und „mittleren" Funktionäre, zumal diese auch persönliche Drohungen erhalten hatten. So wurde beispielsweise darüber diskutiert, daß der Neue Kurs auf außenpoliti-

160 Vgl. ebd., S. 148, S. 173. 161 Vgl. BDVP Leipzig, Analyse des Operativstabes der BDVP Leipzig - Monat Mai 1953, vom 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 2 0 - 2 2 ) ; vgl. Rat des Kreises Delitzsch, Analyse über republikflüchtige Bauern nach verschiedenen Größengruppen, vom 4 . 5 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 0 5 4 ) . 162 Vgl. SED-KL Delitzsch, Sekretariatssitzung vom 5 . / 6 . 5 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/4/04/054). 163 Vgl. Organisator des Aufbaus, S. 168. 164 Vgl. BDVP Leipzig, Analyse des Operativstabes der BDVP Leipzig - Monat Mai 1953, vom 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 21). 165 Vgl. Organisator des Aufbaus, S. 97f.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

137

sehen Zwang durch die Westalliierten zustande gekommen sei, in 50 Tagen eine „Westregierung" erscheinen werde und die sowjetischen Truppen abziehen müßten. Aber auch solche Gerüchte wie „Der Präsident ist interniert, und Ulbricht ist mit dem Geldsack abgehauen" kursierten. 1 6 6 Wenige Stunden vor dem 17. Juni wurde in einem Polizeibericht über die „Stimmung unter der Bevölkerung" vermerkt, es seien überall Forderungen aufgetaucht, wonach die SED in allen Orten „öffentliche Versammlungen" durchführen müßte, „um somit die Gerüchte zu widerlegen". 167 Die Delitzscher erfuhren bereits um die Mittagszeit von den Streiks und Demonstrationen in Halle, Bitterfeld, Wolfen und Leipzig. Die Nachrichten wurden von zurückkehrenden Arbeitern, die Zeugen bzw. Akteure der Unruhen in diesen Städten waren, überbracht. Torsten Diedrich nimmt an, daß Arbeitergruppen per Bahn und LKW in die naheliegenden größeren Orte darunter auch Delitzsch - „entsandt" worden seien, „um den Gedanken der Arbeitererhebung weiterzutragen". 1 6 8 Das läßt sich mit den regionalen Quellen weder bestätigen noch widerlegen. Eher ist anzunehmen, daß es sich bei diesen „Arbeitergruppen" um von der Frühschicht zurückkehrende Pendler aus dem Kreis gehandelt hat. Etwa 3 000 Bewohner des Kreises Delitzsch arbeiteten damals in den großen Chemiebetrieben, in der Braunkohlenindustrie und auf Baustellen in Bitterfeld und Wolfen sowie in Leipzig. 169 Vernehmungen einzelner sogenannter Provokateure durch die Staatssicherheit bestätigen die Annahme, daß zurückkehrende Einwohner des Kreises zu den Initiatoren der Delitzscher Demonstrationen zählten. 1 7 0 In Delitzsch begannen die öffentlichen Proteste am 17. Juni gegen 14 Uhr. Die ersten auswärts tätigen Arbeiter waren um 13.45 Uhr mit dem Zug aus Bitterfeld nach Delitzsch zurückgekehrt und zunächst vor das Gebäude der SED-Kreisleitung, unweit vom Bahnhof, gezogen. Dazu heißt es in der Polizeiberichterstattung: „Gegen 13.55 Uhr wurde vom Amtsleiter des VPKA Delitzsch gemeldet, daß durch provokatorische Massen versucht wird, die Kreisleitung zu stürmen. Es handelt sich vermutlich um Arbeiter, die mit dem Zug aus Richtung Bitterfeld gekommen sind. Abwehrmaßnahmen wurden sofort eingeleitet und erfolgreich beendet". 1 7 1 Bis zu diesem Zeitpunkt arbeiteten die Belegschaften der einheimischen Industriebetriebe noch. Unmittelbar nach Ankunft der ersten Arbeiter aus 166 SED-KL Delitzsch, Aktennotiz, o.D. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) . 167 BDVP Leipzig, Bericht vom 16.6.1953, 8.00 Uhr, bis 17.6.1953, 8.00 Uhr, vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 94). 168 Diedrich, Bewaffnete Gewalt, S. 127. 169 Vgl. SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 2 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). 170 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Vernehmung eines Beschuldigten, vom 23.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AU 134/55, Bl. 13). 171 BDVP Leipzig, Bericht vom 17.6.1953, 8.00 Uhr bis 18.6.1953, 8.00 Uhr, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 95).

138

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

Bitterfeld legten zunächst Bauarbeiter der Bauunion Bitterfeld, beschäftigt auf der Baustelle der Zuckerfabrik in Delitzsch, ihre Arbeit nieder. Ein Viertel der Bauarbeiter des Kreisbaubetriebes Delitzsch schloß sich an. Nach Parteiberichten soll es dagegen erst am 18. Juni im RAW Delitzsch und im Leichtmetallwerk Rackwitz zu Arbeitsniederlegungen gekommen sein. 172 Die Bezirksbehörde der Volkspolizei Leipzig berichtete demgegenüber, daß Arbeiter des RAW Delitzsch am 17. Juni gegen 14 Uhr in den Streik traten und sich mit den aus Bitterfeld eintreffenden Arbeitern zu einem Demonstrationszug zusammenschlössen. 173 Weiterhin waren laut diesem Bericht Arbeiter des Bahnhofs beteiligt, die vom Arbeitsschutzinspektor beim Rat des Landkreises zur Arbeitsniederlegung aufgefordert worden waren. Es gab an diesem Nachmittag mehrere Versuche, in das Parteihaus einzudringen. Der erste Angriff gelang, weil die Demonstranten das „Überraschungsmoment" 174 ausnutzten, wie Mitarbeiter der Kreisleitung später feststellten. Die Versammelten warfen zunächst mit Steinen die Fensterscheiben ein, drangen dann in das Gebäude ein und zerstörten Bilder und Telefonleitungen. Die SED-Kreisleitung beschrieb das Verhalten jener Demonstranten als „ziemlich selbstbewußt und siegessicher". Um 15.10 Uhr meldete die Kreisleitung der SED-Bezirksleitung, ihr Gebäude sei „durch den Einsatz der sowjetischen Freunde" wieder frei. Sowjetische Soldaten hatten die Demonstranten mit Warnschüssen vertrieben. Außer sowjetischem Militär waren 20 Delitzscher Volkspolizisten und eine Gruppe von Kriminalisten eingesetzt. 175 Zum weiteren Schutz des Parteigebäudes „mobilisierte" die Kreisleitung 100 SEDMitglieder aus Betrieben. 176 Ab wann diese Leute zum Einsatz gekommen sind, läßt sich nicht mehr feststellen. Nach 17 Uhr wurde die Kreisleitung erneut angegriffen. Es kam zu Tätlichkeiten zwischen den Volkspolizisten und einigen Demonstranten. Am 2. Juli wurde deswegen ein Schlosser aus Delitzsch, der in der Filmfabrik Wolfen beschäftigt war, zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. 177 Die Funktionäre der Kreisleitung machten später für die Unruhen allein die auswärtig arbeitenden Arbeiter als „Initiatoren und Anpeitscher" verantwortlich. 178 Das war eine gängige Methode der örtlichen Parteifunktionäre, um die 172 Vgl. SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 5 (SächsStAL, SED IV/4/ 04/345). 173 Vgl. BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/42, Bl. 166). 174 SED-KL Delitzsch, Taktik und Methoden des Feindes, 20.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED IV/4/04/345); die folgenden Zitate ebd. 175 Vgl. BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 4 2 , Bl. 166). 176 Vgl. SED-KL Delitzsch, Meldung an die SED-Bezirksleitung vom 17.6.1953, 15.10 Uhr (SächsStAL, SED IV/2/12/591). 177 BV für Staatssicherheit Leipzig, Vernehmung eines Beschuldigten, vom 23.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AU 134/55, Bl. 13, 29). 178 Vgl. SED-KL Delitzsch, Bericht: Taktik und Methoden des Feindes, vom 20.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) .

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

139

Schuld für die „faschistischen Provokationen" auf andere abzuwälzen und so Kritik der übergeordneten Parteileitungen an ihrer eigenen Arbeit zu begegnen. Die Delitzscher Demonstranten versuchten nach diesen zwei Angriffen auf den Sitz der Kreisleitung, die Haftanstalt zu stürmen und die Gefangenen zu befreien. Gegen 17.40 Uhr umlagerten etwa 500 Demonstranten das Volkspolizeikreisamt und verlangten die Freilassung der Häftlinge. Funktionäre und Offiziere der Volkspolizei forderten über Stadtfunk von den Demonstranten, den Aufmarsch aufzulösen. Die Polizei setzte Löschfahrzeuge ein. Doch alle diese Maßnahmen waren erfolglos. Die Demonstranten drangen in den Vorhof des Polizeiamtes ein. Das Amt war zu diesem Zeitpunkt mit 60 Polizisten besetzt. Als die Menge das Amt stürmen wollte, um die Gefangenen zu befreien, befahl der Chef der Volkspolizei, Kommandeur Meyer, zu schießen 1 7 9 , obwohl auch er - wie er auf einer Parteiaktivtagung später ausdrücklich feststellte den Befehl erhalten hatte, nicht von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. 1 8 0 Der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei Leipzig lobte ihn jedenfalls nachträglich für „seinen kämpferischen Geist". 181 Durch den Einsatz von Schußwaffen starben zwei junge Männer aus dem Kreis Delitzsch, drei Personen wurden verletzt. 182 Die Toten waren Gerhard Dubielzig, ein 19 jähriger Schlosserlehrling aus dem RAW-Delitzsch, und Joachim Bauer, ein 20jähriger Maurer aus Brodau im Kreis Delitzsch. Beide erlitten vor dem Volkspolizeigebäude tödliche Kopfschüsse. Bei den Verletzten handelte es sich um junge Delitzscher im Alter vom 14, 25 und 32 Jahren. 1 8 3 Tote und Verletzte (Knie- und Schulterdurchschuß) wurden ins Krankenhaus Delitzsch eingeliefert. Der behandelnde Arzt Dr. Czarrasz ging davon aus, daß diese Wunden bei den Verletzten und Toten auf „gezielte Schüsse" zurückzuführen seien; diese Auffassung wollte er auch in seinem Gutachten für die Betroffenen bzw. deren Angehörige festhalten. Seine Sprechstundenhilfe informierte über ihren Mann umgehend die SED-Kreisleitung Delitzsch von seinem Vorhaben. 1 8 4 Die Bezirksleitung der SED meldete wenige Stunden später dem ZK: „In Delitzsch zwei Provokateure erschossen." 1 8 5 Dabei waren beide Jugendliche 179 Vgl. SED-KL Delitzsch, Parteiaktivkonferenz vom 24.6.1953, S. 6 (SächsStAL, SED IV/4/04/034). 180 Vgl. ebd. 181 BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 169). 182 Vgl. BDVP Leipzig,Operativstab, Bericht vom 17.6.1953, 8.00 Uhr, bis 18.6.1953, 8.00 Uhr, v o m 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 96). 183 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Delitzsch, Betr.: Verletzte und Tote bei Ausschreitungen in Delitzsch am 17.6.1953, o . D . (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 21). 184 Vgl. An die KL der SED Delitzsch, Betrifft: Mitteilung über das Verhalten der am 17.6. 1953 vor dem Kreispolizeiamt durch die Abwehr der Volkspolizei verletzten Personen im Krankenhaus Delitzsch, vom 23.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) . 185 SED-BL Leipzig, Informationsbericht vom 18.6.1953, 0.45 Uhr (SächsStAL, SED IV/2/12/588).

140

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

völlig ungeeignet, die Legende von „faschistischem Gesindel, Agenten und Provokateuren" unter der Bevölkerung glaubhaft zu machen. Gerhard Dubielzig z.B. war der Sohn eines alten KPD-Mitgliedes aus dem Leichtmetallwerk Rackwitz. Beide waren Mitglied der FDJ, Joachim Bauer hatte seinen FDJ-Ausweis bei sich, als er starb. 186 In Delitzsch und Umgebung verbreitete sich die Kunde vom Tod der beiden Jugendlichen sehr schnell, was offenbar den Widerstand steigerte. Im Nachbarort Sausedlitz wurden am Nachmittag ein neuer Bürgermeister und eine neue Gemeindevertretung eingesetzt. 187 An dieser Aktion war auch der Vorsitzende des Ortsausschusses der Nationalen Front, Mitglied der DBD, beteiligt. In den Abendstunden kam es in Zschortau, in Löbnitz und Krostitz zu „feindlichen Aktionen", sie wurden jedoch „niedergeschlagen". 188 In Zschortau beispielsweise drangen 150 Personen in das Volksgut ein. Ein Feuerwehrmann wurde bewußtlos geschlagen. 189 Insgesamt wurden in zehn Orten des Kreises Delitzsch Transparente und Bilder entfernt. 190 Es handelte sich zumeist um Dörfer, die unmittelbar an den Kreis Bitterfeld angrenzten bzw. an der Bahnstrecke Leipzig-Bitterfeld lagen. Gegen 23.00 Uhr waren die Auseinandersetzungen zunächst im gesamten Kreisgebiet durch das Eingreifen der Sowjetarmee beendet. 191 Die SED-Bezirksleitung Leipzig rechnete für den kommenden Tag mit weiteren Unruhen im Kreis Delitzsch. Noch in der Nacht vom 17. zum 18. Juni gab sie „Richtlinien für die Diskussion mit den Arbeitern" heraus. 192 Am 18. Juni waren seit 5 Uhr morgens 50 Agitatoren in den vier großen Delitzscher Betrieben (RAW, Leichtmetallwerk, Ziehwerk und Süßwarenfabrik) mit diesem Papier unterwegs. Die Kreisleitung Delitzsch stellte jedoch fest, dieser Einsatz habe keinen „durchschlagenden Erfolg" gehabt. Drei Betriebe legten für zwei bis acht Stunden die Arbeit nieder. Forderungen nach einer „anderen Regierung" kamen auf. 186 In Delitzsch soll es auch zu einer standrechtlichen Erschießung gekommen sein. Dabei soll es sich um einen gewissen Hartmann aus Delitzsch gehandelt haben. Dafür gibt es in den deutschen Quellen keinen Beleg. Das besagt aber gar nichts, weil sich auch für drei junge Leipziger, die standrechtlich erschossen wurden, in den deutschen Archiven keine Hinweise finden; vgl. Hildebrandt, Der 17. Juni, S. 216. Lediglich auf einer Liste des MfS Delitzsch mit Namen von Verhafteten tauchte der Name Werner Hartmann auf; Kreisdienststelle Delitzsch, Betr.: Verhaftungen, 20.6.1953, 19.00 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 73). 187 Vgl. SED-BL Leipzig, Informationsbericht über DBD, vom 21.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . 188 SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 20.6.1953, S. 17 (SächsStAL, SED, 1 V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) . 189 Vgl. SED-KL Delitzsch, Aktennotiz vom 21.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . 190 Vgl. SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 9 (SächsStAL, SED, IV/4/04/345). 191 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 17.6.1953, 8.00 Uhr, bis 18.6.1953, 8.00 Uhr, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 96). 192 Vgl. SED-KL Delitzsch, Aktennotiz vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

141

Vor allem der Tod der beiden jungen Leute aus dem Kreis führte in vielen Betrieben und Einrichtungen zu heftigen Diskussionen und zu weiteren Arbeitsniederlegungen. Es sei eine „ausgesprochen feindliche Stimmung gegen die Volkspolizei" 193 zu verspüren gewesen. Trotz Ausnahmezustand fanden auf Verlangen der Belegschaften im RAW Delitzsch, im VEB Leichtmetallwerk Rackwitz und im VEB Ziehwerk Delitzsch Versammlungen statt, die „parteiund regierungsfeindliche Resolutionen" verabschiedeten. 1 9 4 Im Rackwitzer Leichtmetallwerk legten 1800 Mitarbeiter für acht Stunden die Arbeit nieder. Sie führten eine Versammlung durch, setzten die BGL ab und wählten einen neuen Vorsitzenden. Unter seiner Leitung wurde eine Resolution ausgearbeitet, über die abgestimmt wurde. Alle Belegschaftsmitglieder, einschließlich der SED-Angehörigen, billigten das Dokument. Eine Delegation erhielt den Auftrag, das Papier dem ZK zu überbringen. An der Spitze dieser Abordnung stand ein SED-Mitglied, das zugleich in der Betriebspartei- und Gewerkschaftsleitung war. 1 9 5 Auch der sowjetische Kommandant soll sich, nach Aussagen des Werkleiters, für die Fahrt nach Berlin ausgesprochen haben. 1 9 6 Die Delegation wurde in Berlin empfangen und anschließend verhaftet. 1 9 7 Am 22. Juni war das Schicksal der Delegation noch ungeklärt, weshalb die Betriebsparteileitung Aufklärung über ihren Verbleib forderte. 1 9 8 Außerdem wählten die Rackwitzer Metaller am Morgen des 18. Juni eine Abordnung aus sechs Personen, die die Lage im benachbarten RAW klären sollte. Im RAW Delitzsch streikten an diesem Vormittag etwa 2 0 0 0 Personen für zwei Stunden, darunter 600 Parteimitglieder. 199 Nach Berichten der SEDKreisleitung legten besonders die jugendlichen Belegschaftsmitglieder „ein herausforderndes Verhalten an den Tag" und „rotteten sich" in der Lehrwerkstatt zusammen. 2 0 0 Die Lehrlinge errichteten einen „Gedenksockel" für den getöteten Schlosserlehrling Dubielzig, an dem die Werksangehörigen schweigend vorbeizogen. 2 0 1 Bilder von „führenden Genossen" wurden abgehängt und Delitzscher Parteifunktionäre aus dem Betriebsgelände vertrieben.

193 SED-KL Delitzsch, Information vom 18.6.1953, 14.14 Uhr (SächsStAL, SED IV/2/ 12/591). 194 SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 5 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) . 195 Vgl. SED-KL Delitzsch, Sitzung der PKK, vom 29.7.1953 (SächsStAL, SED IV/4/ 04/130). 196 Vgl. ebd. 197 Vgl. SED-BPO Leichtmetallwerk Rackwitz, Protokoll: Leitungssitzung vom 22.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 7 / 0 2 9 / 7 ) . 198 Vgl. ebd. 199 Vgl. SED-BPO, RAW Delitzsch, Parteiaktivkonferenz, o.D. (SächsStAL, SED IV/7/ 034/2). 200 SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 8 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). 201 Vgl. SED-KL Delitzsch, Ergänzungsbericht zum Situationsbericht, vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) .

142

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

Das in beiden Betrieben kurzzeitig erschienene sowjetische Militär führte zu einer weiteren Zuspitzung der Konfrontation. 2 0 2 Die Belegschaften forderten einen sofortigen Rückzug aus ihren Betrieben und die Klärung des Schicksals von Verhafteten. Im Gegenzug mußten sie versprechen, für Ruhe und Sicherheit zu sorgen und die Verantwortung für den Betrieb zu übernehmen. Die sowjetischen Soldaten verließen daraufhin das RAW und das Leichtmetallwerk in Rackwitz 203 , sowjetisches Militär blieb allerdings noch Tage am Delitzscher Bahnhof stationiert. Es überwachte die aus Bitterfeld ankommenden Züge, um Einflüsse von außen zu unterbinden. 2 0 4 Auch im Ziehwerk Delitzsch legte die Belegschaft am 18. Juni für sieben Stunden die Arbeit nieder. Der Parteisekretär des Betriebes erklärte später vor den Parteiaktivisten des Kreises Delitzsch, die „Diskussion" zur Beendigung des Streiks sei dadurch erschwert worden, daß „einer der Erschossenen, Dubielzig, der Sohn eines Arbeiters und guten Genossen aus unserem Werk war". 2 0 5 In Delitzsch und Umgebung wurden nachts Schilder mit der Aufschrift „Wir fordern Bestrafung der Polizeimörder" angebracht. 206 Insgesamt herrschte am 18. Juni in der Stadt eine „steigende Erregung", wie die SED-Kreisleitung die Empörung der Bevölkerung über den Tod der beiden Jugendlichen umschrieb. 207 In allen Schulen machte sich eine „gewisse Unruhe" wegen der beiden Todesfälle bemerkbar. 2 0 8 Eine 11. Klasse der Oberschule Delitzsch verweigerte sogar die schriftliche Prüfungsarbeit wegen „Erregung über die Vorgänge des gestrigen Tages", was die Kreisleitung auf den Einfluß der Jungen Gemeinde zurückführte. 2 0 9 Die Staatssicherheit hielt über die Vorgänge an der Oberschule Delitzsch fest: Drei Klassen, mit 100 Schülern, führten einen Schülerstreik durch. Sie zitiert einen Schüler, der die Prüfungsarbeit mit folgender Begründung ablehnte: „Es kann von mir nicht verlangt werden, daß ich heute die Prüfungsarbeit schreibe, denn ich habe gesehen, wie die Volkspolizei auf junge Menschen geschossen hat und dabei zwei davon erschossen wurden. Ich war immer für den Fortschritt, doch was ich gestern gesehen habe, dadurch ist mein Vertrauen geschwunden." 210 Als Reaktion auf diesen Vorfall notierte das 202 Vgl. SED-KL Delitzsch, Situationsbericht vom 18.6.1953, 14.14 Uhr (SächsStAL, SED IV/2/12/591). 203 Vgl. ebd. 204 Vgl. SED-KL Delitzsch, Ergänzungsbericht zum Situationsbericht, vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). 205 SED-KL Delitzsch, Parteiaktivkonferenz vom 24.6.1953 (SächsStAL, SED IV/4/04/034). 206 Vgl. SED-BL Leipzig, Feindtätigkeit, Berichterstattung an ZK, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 151). 207 SED-KL Delitzsch, Analyse des Kreises Delitzsch über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953, S. 11 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). 208 Ebd., S. 15. 209 Vgl. ebd. 210 BV für Staatssicherheit Leipzig, Fernschreiben über Vorkommnisse, vom 18.6.1953 (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 18); das folgende Zitat ebd.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

143

MfS: „Nach der Verweigerung der Prüfungsarbeit sollte der Rädelsführer die Schulklasse verlassen. Beim Verlassen forderte er die anderen Schüler zum Mitgehen auf, und seine Klasse verließ das Schulgebäude unter lautem Brüllen und Randalieren." In einigen Delitzscher Betrieben, so etwa im RAW und im Süßwarenwerk, sammelten die Belegschaften für Kranzspenden. Am 20. Juni erhielt der Leiter der Kreisdienststelle für Staatssicherheit, Apel aus Leipzig, die Mitteilung, daß im RAW Sammellisten unter der Überschrift „Für den unschuldig Gefallenen" herumgingen. 2 1 1 Das MfS sollte sich „über die Partei dieser Angelegenheit annehmen". Die Staatssicherheit war entsetzt über die angeblich „unrichtige Überschrift" und vor allem besorgt, daß die Sammellisten mit Unterschriften nach Westberlin oder Westdeutschland gehen könnten. Obwohl die SED-Kreisleitung Delitzsch daraufhin solche Geldsammlungen verbot, konnte sie nicht verhindern, daß im RAW 500,- Mark zusammenkamen. 2 1 2 In den folgenden Tagen und Wochen kam es in den Dörfern des Kreises Delitzsch zu „Auflösungserscheinungen" von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Von 38 LPG wollten sich drei auflösen, in sechs weiteren traten Mitglieder aus. 2 1 3 In der LPG Schenkenberg gab es bis Ende Juni 1953 immerhin 30 solcher Austrittserklärungen. 214 Auch in Bad Düben, einer Kleinstadt an der Mulde im Kreis Eilenburg, spielten aus Bitterfeld und Wolfen heimkehrende Arbeitspendler eine Rolle bei der am Nachmittag des 17. Juni beginnenden Demonstration. Um 16 Uhr meldete die MfS-Kreisdienststelle Eilenburg an die Einsatzleitung in Leipzig: „Im Kreis Eilenburg bis z. Zt. keine besonderen Vorkommnisse. Jetzt aber kommen die Arbeiter von Bitterfeld und Wolfen in LKW und Omnibussen und sind dabei, sich zu einer Demonstration zu formieren." 2 1 5 Der MfS-Chef in Eilenburg schickte daraufhin zwei Mitarbeiter nach Bad Düben. Sie konnten lediglich beobachten und „Rädelsführer" feststellen. Unmittelbar vor dem Eintreffen der Schichtomnibusse hatten sich bereits etwa 2 0 0 Menschen, vor allem Jugendliche, auf dem „Platz der Jugend" versammelt. 216 Die in Düben ansässigen Klein- und Mittelbetriebe arbeiteten zu diesem Zeitpunkt noch. Die heimkehrenden Arbeiter und die Jugendlichen

211 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz: „Werksangehörige des RAW Delitzsch", vom 20.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 79); die folgenden Zitate ebd. 212 Vgl. SED-BL Leipzig, Feindtätigkeit, Berichterstattung an ZK, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 151). 213 Vgl. SED-KL Delitzsch, Informationsbericht vom 26.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/591). 214 Vgl. SED-KL Delitzsch, Informationsbericht von Anfang Juli 1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/591). 215 BV für Staatssicherheit Leipzig, Anruf des Genossen Schubert, Kreisdienststelle Eilenburg am 17.6.1953, 16.00 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 28). 216 Vgl. SED-KL Eilenburg, Bericht über die Vorkommnisse im Kreis am 17. 6. 1953, o. D. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 1 3 2 ) .

144

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

standen zunächst in kleinen Gruppen zusammen. Laut MfS-Berichterstattung „hetzten" sie gegen die Regierung der DDR und die Volkspolizei. 217 SED-Agitatoren versuchten vergeblich, diese Diskussionsgruppen aufzulösen. Später marschierten die Demonstranten zum Marktplatz vor das Rathaus. Dort wurde die „Friedenssäule", eine große Propagandatafel der Nationalen Front, 10 m x 3 m groß, mit „Losungen der Regierung und Partei", zerstört. 218 Danach marschierte der etwa 300 Personen umfassende Zug zum VEB WEMA, um die dort Beschäftigten zum Streik aufzufordern. Ein Teil der Demonstranten kehrte in die Stadt zurück und tauchte vor den Räumen der Ortsparteiorganisation auf. Sie besetzten das Gebäude der Partei, zerstörten Bilder und Einrichtungsgegenstände und durchschnitten die Telefonleitungen. 219 Auch zu Tätlichkeiten gegenüber anwesenden Funktionären soll es gekommen sein. In der SED-Ortsparteiorganisation Bad Düben war bereits im Laufe des Nachmittags der 2. Sekretär der Kreisleitung Eilenburg, Kühn, mit zehn Agitatoren eingetroffen, um auftragsgemäß die heimkehrenden Arbeiter von Demonstrationen abzuhalten. Bald merkten die Genossen, daß die Orientierung, den „faschistischen Provokationen mit Agitatorengruppen zu begegnen, [...] sich nach kurzer Zeit als vollkommen unzulänglich" erwies. 2 2 0 Gegen 16.30 Uhr gab die Bezirksleitung die veränderte Taktik an die SED-Kreisleitung Eilenburg durch: „Nicht mehr diskutieren, sondern die Provokateure mit dem Gummiknüppel zusammenschlagen." 221 Als das Gebäude der Ortsparteileitung Düben angegriffen wurde, „türmten" drei Genossen der SED-Kreisleitung, darunter der 2. Sekretär und der Vorsitzende der Kreisparteikontrollkommission „unter Gelächter der Demonstranten" durch ein Fenster. 222 Die Polizisten des Polizeireviers Düben beobachteten die Vorgänge vor dem Parteilokal von ihrer Dienststelle aus, ohne einzugreifen. Das Revier hatte in der Zwischenzeit Verstärkung erhalten, denn das VPKA Eilenburg entsandte nach dem Eintreffen der ersten Arbeiter aus Bitterfeld und Wolfen ein Kommando von zehn Polizisten nach Bad Düben mit dem Auftrag, das Polizeirevier Bad Düben zu sichern. 223 Gegen 16.30 Uhr tauchten die ersten Demonstranten vor der Polizeidienststelle auf. Das Revier war inzwischen verschlossen worden. Die Demonstranten forderten die Polizisten auf, Uniform und Waffen abzulegen, und sicherten ihnen freien Abzug zu. Es kam zu einem 217 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Betrifft: Vorfälle in Bad Düben, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 36f.). 218 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Vernehmung eines Beschuldigten, o.D. (BStU, AU 165/55, Bl. 62). 219 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Zeugen-Vernehmung vom 19.6.1953 (BStU, ASt. Leipzig, AU, 165/55, Bl. 103, 104). 2 2 0 SED-KL Eilenburg, Parteiaktiv vom 15.8.1953, S. 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 0 2 5 ) . 221 SED-KL Eilenburg, Parteiaktiv der Stadtverwaltung Bad Düben vom 16.12.1953, S. 8 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 0 2 6 ) . 2 2 2 Vgl. ebd. 223 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Zeugen-Vernehmung vom 19.6. 1953 (BStU, ASt. Leipzig, AU, 165/55, Bl. 103); die folgende Darstellung zum Polizeirevier Bad Düben - soweit nicht anders vermerkt - vgl. ebd., Bl. 103 f.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

145

längeren Gespräch zwischen einem Oberkommissar der Volkspolizei und einem „Wortführer" der Demonstranten. Letzterer unterbreitete den Vorschlag, eine Delegation einzulassen, die Verhandlungen zur friedlichen Übergabe des Polizeireviers führen wollte. An der Spitze der Delegation stand ein 30jähriger Einwohner aus Bad Düben, der als Dreher im Kombinat Bitterfeld beschäftigt war und bereits dort am Aufstand teilgenommen hatte. 224 Während dieser Verhandlungen tauchte ein sowjetischer Offizier auf, der in das Polizeirevier eingelassen wurde. Es ist zu vermuten, daß er die Meldung über die Verhängung des Ausnahmezustandes überbrachte. Das nutzten zwei Mitglieder der Delegation, um in die Wachstube des Revier zu gelangen, darunter der Vorsitzende der Delegation. In der Dienststelle wiederholte er den Vorschlag, die Polizisten sollten sich nach dem Vorbild ihrer Bitterfelder Kollegen mit den Demonstrierenden solidarisch erklären und sich den Protesten anschließen. Den sowjetischen Offizier forderte er mit Hilfe eines Dolmetschers auf, den Polizisten die Waffen abzunehmen. Nach Aussagen des Leiters des Polizeikommandos sei der sowjetische Offizier nicht in der Lage gewesen, sich mit den beiden Eindringlingen „auseinanderzusetzen". Er habe nur darauf bestanden, die Straße zu räumen. Auch die Polizisten setzten keinen Widerstand entgegen, sondern verhandelten mit den Demonstranten. 2 2 5 Erst als der sowjetische Militärkommandant des Kreises Eilenburg erschien und die Festnahme des Anführers veranlaßte, löste sich die Demonstration auf. Die Auseinandersetzungen dauerten mehrere Stunden. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei berichtete nach Berlin, daß um 20.50 Uhr die „randalierenden Eindringlinge auseinandergejagt wurden". 2 2 6 Dabei seien die Soldaten „energisch" vorgegangen. Die sowjetische Kommandantur und das Kommando der Volkspolizei verhafteten elf Personen. Der größte Teil der Festgenommenen war in der Bitterfelder Industrie beschäftigt und im Raum Bad Düben zu Hause. 2 2 7 Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle Eilenburg, die sich von Anfang an unter die Demonstranten gemischt hatten, um die „Wortführer" und „Haupträdelsführer" festzustellen, veranlaßten die Festnahmen. 228 Sechs Einwohner aus Bad Düben wurden später vom Bezirksgericht Leipzig zu Zuchthausstrafen zwischen anderthalb und sechs Jahren bzw. Gefängnis verurteilt, darunter auch der Vorsitzende der gewählten Delegation, der in das Polizeirevier eingedrungen war. 2 2 9

2 2 4 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Vernehmung eines Beschuldigten, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, AU 1 6 5 / 5 5 , Bl. 70). 2 2 5 Vgl. BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 167). 2 2 6 Ebd. 227 Vgl. SED-KL Eilenburg, Bericht über die Vorkommnisse im Kreis am 17.6.1953, o. D., S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 1 3 2 ) . 2 2 8 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Zeugen-Vernehmung vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, ASt. Leipzig, AU, 1 6 5 / 5 5 , Bl. 116). 2 2 9 Vgl. Gerichtsakte (BStU, Ast. Leipzig. AU 1 6 5 / 5 5 , Bd. 2, Bl. 85).

146

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

Am 18. Juni führten alle Betriebe in Bad Düben „kurze Streikversammlungen" durch und legten die Arbeit nieder. 230 In den Diskussionen spielten die zwei Delitzscher Todesfälle und die Verhaftungen von Einwohnern aus Bad Düben eine wesentliche Rolle. Die Hauptforderungen der Streikenden lauteten: Senkung der HO-Preise, Erhöhung der Löhne, unpolitische Gewerkschaften und Mitbestimmungsrecht der BGL. In dem VEB WEMA nahm ein Instrukteur der SED-Bezirksleitung an der Belegschaftsversammlung teil. Er versprach der Streikleitung, bis 18 Uhr Antwort auf ihre Forderungen zu geben. Das brachte ihm die heftige Kritik seiner Auftraggeber ein, denn es war die Anweisung erteilt worden, Streikleitungen, die nach der Verhängung des Ausnahmezustandes gebildet worden waren, verhaften zu lassen. Außerdem hätte er die „provokatorischen Forderungen ablehnen müssen". 231 In den Betrieben des Ortes wurden zunächst keine weiteren Festnahmen durchgeführt. In den volkseigenen Betrieben nahmen die Belegschaften am 19. und in den Privatbetrieben am 20. Juni ihre Arbeit wieder auf. 2 3 2 Die geforderte Verhaftung von Streikleitungen erwies sich in dieser sächsischen Kleinstadt als problematisch. Niemand wollte zum „Verräter" an seinem Kollegen, Nachbarn oder Bekannten werden, weil natürlich in einem solchen kleinstädtischen, fast ländlichen Milieu, wo „jeder jeden kannte", das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Aufeinanderangewiesensein stärker als in einer Großstadt ausgeprägt waren. Die SED-Kader aus der Kreisstadt Eilenburg hatten mit der aufgetragenen Entlarvung der angeblichen Provokateure und Rädelsführer ihre Not. Bis zum Ende des Jahres war es der Kreisleitung Eilenburg und der Kreisdienststelle für Staatssicherheit nicht gelungen, in den Dübener Betrieben die „Anführer" zu entlarven. 233 Bis dahin konnte auch nicht geklärt werden, wer die Bilder und Losungen abgerissen und wer zum Streik aufgerufen hatte. Der 1. Kreissekretär der SED erklärte eine derartige Verweigerungshaltung wie folgt: „In Bad Düben führt die LDP, der Bürgermeister Heide." 2 3 4 Jener Bürgermeister war pikanterweise wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstandes noch von derselben SED-Kreisleitung gelobt worden, weil er sich den Demonstranten mutig entgegengestellt hatte, als sie in das Rathaus eindringen wollten. In der Kreisstadt Eilenburg kam es am Nachmittag des 17. Juni im SAGBetrieb ECW zur Festnahme von sechs Mitarbeitern, obwohl Streiks oder Demonstrationen nicht stattfanden. Der SAG-Betrieb beschäftigte etwa 1800 Mitarbeiter und produzierte hauptsächlich Zelluloid. Im Vorfeld des 17. Juni war die administrative Normenerhöhung „in Form eines Befehls" der sowjetischen 2 3 0 Vgl. SED-KL Eilenburg, Bericht über die Vorkommnisse im Kreis am 17.6.1953, o. D., S. 2 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 1 3 2 ) . 231 SED-KL Eilenburg, Parteiaktiv vom 15.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 0 2 5 ) . 2 3 2 Vgl. SED-KL Eilenburg, Bericht über die Vorkommnisse im Kreis am 17.6.1953, o. D., S. 2 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 1 3 2 ) . 2 3 3 Vgl. SED-KL Eilenburg, Parteiaktivkonferenz der Stadtverwaltung Bad Düben vom 16.12.1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 0 2 6 ) . 234 Ebd.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

147

Generaldirektion erfolgt. Am 17. Juni gegen 9 Uhr hatte die Parteileitung Informationen aus Wolfen und Bitterfeld über Unruhen erhalten, da der Kaderleiter des SAG-Betriebes aus Wolfen angerufen worden war. 2 3 5 Dieser teilte mit, daß die Arbeiter des Betriebes „Photoplenka" in Wolfen streikten und sich bereits auf dem Weg nach Bitterfeld befänden. Im ECW gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine Anzeichen für ähnliche Vorgänge. Offenbar sprachen sich die Nachrichten aus Bitterfeld und Wolfen danach schnell unter der Belegschaft herum, denn gegen 11.30 Uhr erschienen drei Schlosser in der Telefonzentrale des Betriebes und wollten mit Bitterfeld und Wolfen telefonieren, was ihnen gestattet wurde. Eine Verbindung sei auch zustande gekommen, jedoch hätten sie keine Auskunft erhalten. So kehrten sie an ihre Arbeitsplätze zurück. Nach dem Mittagessen verlangten zwei Laboranten des Werkes die Einberufung einer Belegschaftsversammlung, die Aufklärung über die Vorgänge in Berlin und Leipzig bringen sollte. Von Reisenden aus beiden Städten waren Meldungen von Streiks und Demonstrationen übermittelt worden. Die Versammlung fand jedoch nicht statt. Vielmehr zogen sowjetische Panzer im Betriebsgelände auf. In den Nachmittagsstunden wurden sechs Mitarbeiter des SAG-Betriebes verhaftet, darunter die zwei Laboranten, die eine Belegschaftsversammlung gefordert, und die drei Schlosser, die sich telefonisch mit Bitterfeld in Verbindung gesetzt hatten. Die Festnahmen führten wiederum dazu, daß für den nächsten Tag um 13 Uhr ein Streik geplant wurde und dazu in einzelnen Abteilungen Unterschriften gesammelt wurden. 2 3 6 Die Staatssicherheit sollte später den deutschen Direktor, Dr. Löblein, für die Streikbereitschaft der ECW-Belegschaft mitverantwortlich machen. Der Direktor, ein Hauptingenieur, und der Hauptbuchhalter des Werkes forderten am 18. Juni vom sowjetischen Direktor den sofortigen Abzug der Panzer aus dem Werk und die Freilassung der inhaftierten Werksangehörigen. Bei dieser Unterredung waren auch der sowjetische Kommandant von Eilenburg, sein Dolmetscher und der Dienststellenleiter des MfS anwesend. Nach der Unterredung notierte das MfS: „Die Delegation wurde überzeugt, daß es besser ist zu arbeiten als zu streiken. Die anwesenden Personen versprachen, daß sie sofort in den Betrieb gehen und dafür argumentieren, daß weitergearbeitet wird. Durch diese Tatsache wurde der Streikbewegung der Kopf genommen, und wir haben erreicht, daß die Produktion weiterging. Wenn wir den Dr. Löblein bei der Stellung seiner Forderungen sofort verhaftet hätten, wäre bestimmt der Streik ausgelöst worden. Durch das Vorgehen von uns hatten wir der Streikbewegung die Spitze genommen. Die aufgetretenen Wortführer für die Streikbewegung werden operativ von der Dienst-

235 Vgl. SED-KL Eilenburg, Bericht über die Vorkommnisse im Kreis am 17.6.1953, o. D., S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 6 / 1 3 2 ) ; im folgenden vgl. ebd., S. lf. 236 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Berichterstattung über Vorkommnisse am 17.-19.6.1953, vom 1.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 240/01, Bl. 9).

148

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

stelle aus bearbeitet." 237 Innerhalb von 30 Stunden wurden sogar die sechs verhafteten ECW-Mitarbeiter auf freien Fuß gesetzt. 238 Während in Delitzsch, Bad Düben und Eilenburg nachweislich heimkehrende Arbeiter aus Bitterfeld und Wolfen großen Einfluß auf den Verlauf des 17. Juni hatten, löste in Schmölln die Belegschaft des größten Betriebes die Demonstrationen in der Stadt aus. Der Kreis Schmölln, im Süden des Bezirkes Leipzig und an der Grenze zum Bezirk Gera gelegen, war erst im Juli 1952 gebildet worden. Bis dahin gehörte dieses Territorium zum thüringischen Kreis Altenburg. Seit der Installierung der entsprechenden SED-Strukturen und staatlichen Einrichtungen gab es zwischen dem 1. SED-Kreissekretär Eugen Müller und dem Leiter der MfS-Kreisdienststelle Oberleutnant Brock Auseinandersetzungen über die Kompetenzen von Partei und MfS. 239 Beide Funktionäre stritten sich u.a. darum, wem beispielsweise „Anzeichen gegnerischer Tätigkeit" zuerst zu melden seien. 240 In Schmölln waren kleine und mittlere Betriebe der Leichtindustrie, u.a. der Knopf-, Schuh- und Textilindustrie, und der Eisengießerei angesiedelt. Schmölln konnte auf lange sozialdemokratische Traditionen zurückblicken. Das MfS sprach von einer „SPD-Hochburg". 241 Die Staatssicherheit Leipzig beschrieb die politische Situation, die sich am 17. Juni zeigte, später wie folgt: „Die Konzentration von verschiedenen sozialdemokratischen Mitgliedern ist z.T. aggressiv in Erscheinung getreten [...]. Zu bemerken ist noch, daß der Kreis Schmölln und besonders die Städte, stark bürgerlich verseucht sind, was sich beispielsweise darin kennzeichnet, daß es noch verhältnismäßig viel kleinere Privatbetriebe gibt, sogenannte 50 bis 100 Mann-Betriebe, die durchsetzt sind mit faschistischen Elementen, ehemaligen SPD-Mitgliedern und solchen Menschen, die bereits in der Volkspolizei oder Verwaltungsorganen tätig waren und ausgestoßen wurden. Des weiteren ist die Arbeiterschaft im Kreis Schmölln nicht kämpferisch, sondern neigt zum Versöhnlertum, welches schon in der Kreisleitung der SED seinen Anfang zeigt." 242 Am 17. Juni 16.30 Uhr erhielt der Einsatzstab in Leipzig einen Anruf des MfS-Dienststellenleiters aus Schmölln. Dieser informierte über Demonstranten, die Losungen „Nieder mit der Regierung" auf dem Marktplatz schrien. 243 Besonders der Betrieb PWS sei beteiligt. Im VEB PWS (Präzisionswerkzeugfabrik Schmölln) mit 1032 Beschäftigten begann die 2. Schicht um 14 Uhr 237 Ebd. 2 3 8 Vgl. SED-BPO ECW-Eilenburg, Informationsbericht über den 17.6.1953, o . D . (SächsStAL, SED IV/7.054/18). 2 3 9 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Schmölln, Betr.: Müller, Eugen, 1. Kreissekretär der SED in Schmölln, vom 5 . 3 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 9 9 / 0 3 , Bl. 5 - 1 0 ) . 2 4 0 Vgl. ebd., Bl. 8. 241 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Überprüfung und Anleitung der Kreisdienststelle Schmölln am 2 5 . 9 . 1 9 5 3 , o . D . (BStU. Ast. Leipzig, Leitung, 9 9 / 0 3 , Bl. 64). 242 Ebd. 243 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz vom 17.6.1953, 16.35 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 33).

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

149

nicht mit ihrer Arbeit. Nach Mitteilungen der Staatssicherheit wurden zu Schichtbeginn in der Schleiferei „Pfiffe" laut, worauf die Arbeiter den Betrieb verließen und zunächst zum VEB Schuhfabrik und zum VEB Nohoma marschierten. 2 4 4 Die Belegschaften dieser Betriebe folgten der Streikaufforderung der Werkzeugmacher und zogen zum Marktplatz. Dort fanden sich innerhalb kurzer Zeit etwa 800 Menschen ein. 2 4 5 Ein Belegschaftsmitglied des PWS sprach vom Aufgang des Rathauses zu den Versammelten und forderte zur Fortsetzung des Streiks und zu Demonstrationen durch Schmölln auf. Die Versammelten skandierten in Sprechchören „Freie Wahlen" und „Nieder mit der Regierung" 2 4 6 . Die Versammlung verlief friedlich, Zerstörungen und Angriffe auf öffentliche Gebäude kamen nicht vor. Auch in Schmölln versuchten Parteiagitatoren und Vertreter vom Rat des Kreises vergeblich, die Versammelten zum freiwilligen Rückzug zu drängen. Der sowjetische Kommandant verhängte deshalb um 16.35 Uhr den Ausnahmezustand. 2 4 7 Durch den Stadtfunk wurde die Einwohnerschaft darüber informiert. Offensichtlich gingen die Menschen auf dem Marktplatz zunächst nicht auseinander. Nach Berichten der Staatssicherheit wurden dann von der Volkspolizei und sowjetischen Offizieren Warnschüsse abgegeben und der Marktplatz geräumt. 2 4 8 In den Polizeiunterlagen wird die Räumung des Marktplatzes etwas anders dargestellt. Demnach habe der sowjetische Kommandant nach der Verhängung des Ausnahmezustandes die Polizisten aufgefordert, den Marktplatz zu räumen. Die Polizisten hätten sich jedoch „zurückhaltend" benommen. Zehn Schmöllner Polizisten seien „nicht zu bewegen" gewesen, den Befehl auszuführen. Die anderen seien nur „zögernd vorgefahren". Im Bericht der Leipziger Polizeibehörde heißt es dazu: „Die eingesetzten VP-Angehörigen versuchten, mit Diskussionen auf die randalierende Masse einzuwirken, dies führte zu keinem Erfolg." 2 4 9 Diese Haltung der Schmöllner Polizei gegenüber den Demonstranten habe dann dazu geführt, daß der „Kommandant persönlich den Platz" mit Warnschüssen aus der Pistole und mit Maschinengewehrsalven räumte. 2 5 0 Der Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes Schmölln wurde später wegen „ungenügender Entschlußkraft" 2 5 1 gerügt; kein anderer Amtsleiter innerhalb der Polizei des Bezirkes Leipzig war so negativ bewertet worden. 244 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung der Kreisdienststelle Schmölln, o. D. (BStU. Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 9 / 0 2 , Bl. 52). 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 17.6.1953, 8. 0 0 Uhr, bis 18.6.1953, 8.00 Uhr, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 260, Bl. 97). 247 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz vom 17.6.1953, 16.35 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 33). 248 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung der Kreisdienststelle Schmölln, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 9 / 0 2 , Bl. 52). 249 BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 4 2 , Bl. 167). 250 Vgl. SED-KL Schmölln, Informationen, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . 251 BDVP Leipzig, An den Chef der DVP, Gen. Generalinsp. Maron, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP Leipzig, 2 4 / 4 2 , Bl. 169).

150

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

Vom benachbarten Altenburg trafen später drei Lastwagen mit sowjetischen Soldaten ein. In der Nacht vom 17. zum 18. Juni erhielt die MfS-Kreisdienststelle Schmölln vom sowjetischen Kommandanten die Anweisung, sechs „Rädelsführer" aus dem PWS festzunehmen. 252 MfS-Mitarbeiter und Kripoangehörige überführten die Verhafteten nach Altenburg. Der sowjetische Stadtkommandant verhängte den Ausnahmezustand über den Kreis Schmölln unmittelbar nach Verkündung des Ausnahmezustandes über den Bezirk Leipzig. In einem um 17 Uhr datierten Informationsbericht der SED-Bezirksleitung an das ZK wurde dieser Befehl aus Schmölln bereits erwähnt, während das bis dahin für keinen anderen Kreis des Bezirkes bekannt war. Verwunderlich ist auch, daß die 2. Sekretärin der Bezirksleitung, die den Bericht für das ZK unterschrieben hatte, den um 16.20 Uhr bekanntgemachten Ausnahmebefehl über den Bezirk Leipzig überhaupt nicht erwähnte und lediglich den über Schmölln vermeldete. 253 Das schnelle Handeln des Schmöllner Kreiskommandanten könnte mit der geographischen Lage des Kreises, seiner Nähe zu jenen Thüringer WismutTerritorien zusammenhängen, in denen es an diesem Tage gleichfalls zu Unruhen gekommen war. Ronneburg als einer der Schwerpunkte der WismutProteste liegt nur wenige Kilometer von Schmölln entfernt. Laut interner SED-Analysen soll es in den anderen Kreisen des Bezirkes Leipzig am 17. und 18. Juni zu keinen Ansammlungen und Demonstrationen gekommen sein. 254 Auch die Berichte der MfS-Kreisdienststellen bestätigen das. 2 5 5 Die Kreisdienststellen Torgau und Würzen erstatteten sogar am 18. Juni fernmündlich explizit „Fehlmeldung". Auch im Kreis Geithain fanden nach übereinstimmenden Meldungen von SED, MfS und Volkspolizei keine Arbeitsniederlegungen und „Radaukundgebungen" statt. 256 In den übrigen Kreisen war es am 18. Juni zu Streiks gekommen, doch darüber wird an anderer Stelle zu berichten sein. Tatsächlich hat es im übrigen Territorium keine vergleichbaren Aktionen wie in Delitzsch, Düben, Schmölln oder gar in Leipzig und seinen Vororten gegeben, wo es gleichzeitig zu Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen gekommen ist. Lediglich in Altenburg versammelten sich am 17. Juni nach der Verhängung des Ausnahmezustandes etwa 50 Personen, vor allem Jugendliche, auf dem Marktplatz bzw. vor dem Kino „Capitol" und sangen Lieder, „deren 252 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung der Kreisdienststelle Schmölln vom 18.6.1953, 1.10 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 239, Bl. 23). 2 5 3 SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 121, vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 2 5 4 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruchs des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 1 - 4 0 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 2 5 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Lagebericht der Kreisdienststellen vom 18.6.1953 (BStU, ASt.Leipzig, Leitung, 260, Bl. 6f.); das folgende Zitat ebd., Bl. 6. 2 5 6 Vgl. SED-KL Geithain, Informationsbericht vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/591).

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

151

Inhalt noch nicht feststeht", wie die Staatssicherheit meldete. 2 5 7 Die Kreisdienststelle Altenburg verständigte gegen 21.30 Uhr den Chef der Bezirksverwaltung Leipzig und teilte mit, daß die sowjetische Kommandantur informiert wurde, aber bis jetzt „nichts unternommen" habe. Zu Arbeitsniederlegungen kam es an diesem Tag aber nicht. Der Verlauf des 17. Juni im Kreis Borna ist auf Grund seiner industriellen Struktur und der Zusammensetzung seiner Belegschaften in den wichtigsten Großbetrieben von besonderem Interesse. In diesem industriellen Ballungsgebiet waren große Braunkohlentagebaue, Kraftwerke und zwei große Kombinate - der VEB „Otto Grotewohl", Böhlen (Kohle, Energie, Chemie, mit 16 000 Belegschaftsmitgliedern) und das SAG-Werk Espenhain - angesiedelt. Des weiteren war die Nähe zum Aufstandsschwerpunkt Leipzig und die Tatsache von Bedeutung, daß viele Arbeiter und Angestellte der Großbetriebe und Tagebaue in Leipzig wohnten und täglich mit Schichtzügen zur Arbeit nach Borna, Espenhain und Böhlen kamen. Eine weitere Besonderheit in der Zusammensetzung der Belegschaften ist beachtenswert: Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder und ehemaliger Angehörigen der Wehrmacht war hier - als Ergebnis der Entnazifizierung und der Zwangseingliederung der Entnazifizierten vor allem in den Bergbau - überdurchschnittlich groß. Es gab damals nur wenige Kreise in der DDR, in denen seit 1945 derartige soziale Umschichtungen stattgefunden hatten wie hier. 2 5 8 Etwa 2 000 ehemalige NSDAP-Mitglieder und ehemalige nationalsozialistische Beamte aus Leipzig und Borna wurden beispielsweise nach dem Kriege in das SAG-Werk in Espenhain dienstverpflichtet. 2 5 9 Viele verfügten über einen Hochschulabschluß oder kamen aus der Verwaltung. In Schnellkursen wurden sie zu Maschinen- und Baggerführern ausgebildet und bildeten später den Kern einer neuen Belegschaft. Um so erstaunlicher ist, daß es ausgerechnet hier am 17. Juni 1953 mehr oder weniger ruhig blieb. Man könnte zunächst vermuten, daß durch die soziale Besserstellung der Belegschaften der Großbetriebe, besonders durch ihre Sonderversorgung, keine solche Proteststimmung wie in Leipzig und anderen Städten und Kreisen herrschte. Doch das ist aufgrund der Situation vor und nach dem 17. Juni zu kurzschlüssig: Auch hier gab es seit längerer Zeit Anzeichen für wachsende Unzufriedenheit der Belegschaften. Seit Anfang der fünfziger Jahre schwelte in den drei Werken des Kombinats „Otto Grotewohl" ein Lohnkonflikt, der sich aus der Existenz von drei verschiedenen Tarifen

257 BV für Staatssicherheit Leipzig, Lagebericht der Kreisdienststelle Altenburg vom 17.6.1953 gegen 21.30 Uhr (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 4 , Bl. 25); das folgende Zitat ebd. 2 5 8 Auf diesen Umstand verwies auch der 1. SED-Kreissekretär auf einer Parteiaktivtagung; vgl. SED-KL Borna, Parteiaktivtagung vom 12.8.1953, S. 1 (SächsStAL, SED IV/4/02/021). 2 5 9 Vgl. Hofmann, Die Kohlearbeiter. S. 91 ff.

152

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

ergab. 2 6 0 Außerdem waren die Arbeiter darüber empört, daß sich freigestellte Funktionäre am „Tag des Bergmanns" hohe Prämien zuschanzten. Bereits im Februar 1952 wurde bei einer Überprüfung des Lohngefüges im Kombinat Böhlen festgestellt, daß Lohnpolitik auf Kosten der Arbeiter und kleinen Angestellten durchgeführt werde und ein großer Verwaltungsapparat den Lohnfonds belaste. 261 Im Juni 1953 gingen immer noch Kumpel mit 200,- Mark im Monat nach Hause. 2 6 2 In den beiden Kombinaten Böhlen und Espenhain gab es im Frühjahr 1953 auf Grund betriebsbedingter Störungen (Kettenrisse, schlechte Gleisanlagen, Stromabschaltungen u.ä.) größere Produktionsausfälle und Sachschäden, was sich auf die Normenerfüllung und damit auf den Verdienst negativ auswirkte. Andererseits sollten auch die Kumpel ihre Normen weiter erhöhen. In einer Analyse des Operativstabes der Bezirksbehörde der Volkspolizei Leipzig zur „Stimmung unter der Bevölkerung" vom 3. Juni ist dazu vermerkt: „So können die Kumpels ihre Leistungen noch so sehr steigern, was sie einen Tag aufholen, geht ihnen am nächsten Tag wieder verloren." 2 6 3 Auch die zahlreichen Festnahmen von Arbeitskollegen wegen „fahrlässigem Umgang mit Volkseigentum" und die erfolgten oder drohenden Verurteilungen zu Zuchthausstrafen nach dem „Gesetz zum Schutze des Volkseigentums" vor allem in den Tagebauen und Brikettfabriken erregten zunehmend den Unmut der Belegschaften. 264 Es wurden beispielsweise Leute zu Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie unbrauchbares Abraumholz als Feuerholz mit nach Hause genommen oder einen Arbeitsunfall verursacht hatten. Immer wieder war es zu heftigen Diskussionen gekommen, ohne daß sich etwas änderte. Bereits am 5. Mai waren deshalb E-Lok-Fahrer in den Streik getreten, um einen Kollegen freizubekommen, der in der Nachtschicht einen Unfall mit hohem Sachschaden verursacht hatte und sofort abgeführt worden war. 2 6 5 In einer Resolution, die 34 Unterschriften trägt, heiß es dazu: „In Zukunft werden die Gewaltmaßnahmen gegen uns würdig beantwortet, bis wir merken, daß auch für unsere Lage Verständnis entgegengebracht wird." 2 6 6 Sie hatten keinen Erfolg und mußten die Arbeit nach einer Stunde wieder aufnehmen. Der Kreisstaatsanwalt erläuterte am nächsten Tag die „demokratische Gesetz-

2 6 0 Vgl. SED-KL Böhlen, Bericht über die Überprüfung der Parteiarbeit der Betriebsgruppe des Benzinwerks Böhlen, S. 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 3 / 6 0 ) . 261 Vgl. SED-Landesleitung Sachsen, Abschlußanalyse über den Einsatz der Instrukteurbrigade zur Überprüfung des SAG-Betriebes Benzinwerk Böhlen, o. D., S. 7 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 3 / 6 0 ) . 2 6 2 Vgl. SED-KL Borna, Parteiaktivtagung, Juni 1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 0 2 1 ) . 2 6 3 BDVP Leipzig, Operativstab, Analyse vom 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 13f.); das Zitat ebd., Bl. 13. 2 6 4 Vgl. SED-KL Borna, Sekretariatssitzung vom 5.3.1953 (SächsStAL, SED I V / 4 / 02/036). 2 6 5 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Analyse vom 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 14). 2 6 6 Resolution der E-Lok-Führer der Schicht Koch, o. D. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 3 / 6 0 ) .

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

153

lichkeit" und „überzeugte die Lokführer von der Richtigkeit der getroffenen Maßnahmen", wie die Polizei behauptete. 2 6 7 Im Mai/Juni nahm die „Verbreitung von Hetzmaterial" vor allem in den Großbetrieben zu. Die Polizeiberichterstatter vermerkten zahlreiche „Schmierereien" in den Betrieben von Böhlen, Espenhain und Lippendorf. Nach der Ankündigung des Neuen Kurses berichtete die SED-Kreisleitung über anhaltende „Feindargumentationen", die sich gegen die „führenden Genossen der Partei und Regierung" richteten. 2 6 8 Die Kreisleitung, die MfS-Kreisdienststelle (16 Mitarbeiter), das Volkspolizeikreisamt und der Betriebsschutz trafen am 17. Juni in Borna „besondere Sicherheitsvorkehrungen", indem sie die Bewachung von Betrieben und öffentlichen Gebäuden verstärkten. Die SAG-Betriebe wurden ständig von bewaffneten sowjetischen Soldaten bewacht; am 17. Juni wurde diese militärische Präsenz noch verstärkt. Zeitzeugen erinnern sich daran, daß an diesem Tage in Espenhain „bald an jedem Tor ein Posten mit MP [...], in jedem Korridor in der Verwaltung [...] zwei Posten, einer hinten, einer vorne mit 'ner MP [stand e n ] " . 2 6 9 Besonders Kraftwerke und Schaltwarten des Kombinats wurden durch Volkspolizei und Parteiagitatoren „verstärkt besetzt", nachdem ein Anruf in der Telefonzentrale angekommen war, daß für 19.30 Uhr der Generalstreik auszurufen sei. Bei Nichtbefolgung dieses Befehls wurde die Telefonistin angeblich mit Mord bedroht. 2 7 0 „Unzuverlässige Personen", die an wichtigen Stellen der Betriebe eingesetzt waren, wurden sofort von ihren „verantwortlichen Posten" entfernt, wie beispielsweise ein Schaltwärter im Tagebau. 271 Selbst angemeldete Delegationen durften an diesem Tage die Großbetriebe nicht betreten, wie zwei Gruppen aus Senftenberg und aus Freiberg, die den Tagebau im Kombinat Böhlen besichtigen wollten. Nach Rücksprache mit dem Chef der MfS-Bezirksverwaltung wurde der Betriebsmitarbeiter „angewiesen, diese Delegation höflichst zurückzuweisen" 2 7 2 Die SED-Kreisleitung Borna meldete der Bezirksleitung am 17. Juni, daß in den Großbetrieben des Kreises „keine Befürchtungen auf Arbeitsniederlegungen" bestünden und die „ganze Lage im Kreis zu beherrschen sei", wenn nicht „von Leipzig her in die Werke Böhlen und Espenhain ernste negative Einflüsse

267 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Analyse vom 3.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 14). 268 Vgl. SED-KL Borna, Durchsage an die BL am 16.6.1953, 7.00 Uhr (SächsStAL, SED IV4/02/125). 269 Zitiert in Hofmann, Die Kohlearbeiter, S. 105. 270 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Situationsbericht vom 17.6.1953 bis 22.00 aus dem Kreis Borna (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 4 , BL 27). 271 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Analyse über die Schwerpunkte der Feindtätigkeit im Kreis Borna seitdem 17.6.1953, vom 29.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 19/02, Bl. 72). 272 BV für Staatssicherheit Leipzig, Situationsbericht vom 17.6.1953 bis 22.00 aus dem Kreis Borna (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 4 , Bl. 27).

154

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

getragen werden". 2 7 3 Sie versicherte zugleich, daß die Partei im Kreis „bei eventuellen Anzeichen ausreichende Kräfte zur Verfügung hat, um so schnell wie möglich die Lage wieder zu normalisieren". 274 Etwas vorsichtiger war die Kreisdienststelle des MfS. Sie setzte kurz vor Mitternacht ein Fernschreiben nach Leipzig ab, das im wesentlichen die Angaben der Kreisleitung bestätigte, jedoch keine generelle Entwarnung signalisierte: „Die Lage im Kreisgebiet Borna kann vorläufig noch als verhältnismäßig ruhig bezeichnet werden. Aus dem Stadtgebiet Borna sowie aus den übrigen größeren Städten des Kreises liegen noch keine besonderen Unruhemeldungen vor [...]. Zu Ausschreitungen ist es im gesamten Kreis Borna bis 22.00 Uhr nicht gekommen." 2 7 5 Aus einigen Betrieben wurden von den MfS-Betriebsmitarbeitern „besondere Vorkommnisse" gemeldet: Im Kombinat Böhlen und im Kombinat Espenhain sei es zu Arbeitsniederlegungen gekommen. Die MfS-Mitarbeiter berichteten auch darüber, daß die „Hetzer und Gerüchte-Verbreiter [...] Nachrichten und Hetzparolen aus Leipzig mitgebracht haben". Wie sich später herausstellte, war auch die Staatssicherheit nicht umfassend informiert. Sie hatte sich offenbar zu sehr auf die Großbetriebe und die Städte konzentriert, so daß sie das Geschehen in den Klein- und Mittelbetrieben und in den Dörfern des Kreises vernachlässigt hatte. Zunächst schienen die Maßnahmen zur Verhinderung von „Unruheherden" in den Großbetrieben ihr Ziel zu erreichen. Später stellte sich jedoch heraus, daß es am 17. Juni dennoch in einzelnen Abteilungen oder Werken der beiden Kombinate zu kurzen Arbeitsniederlegungen, zu Versammlungen, auf denen politische und soziale Forderungen gestellt und Streik angedroht wurde, gekommen ist. 276 Im Kombinat Espenhain trat, als 13.30 Uhr der Arbeiterzug aus Leipzig eintraf, wie vermutet, „eine zugespitzte Situation" ein. 277 Kurz nach Schichtbeginn fand in der Brikettfabrik II in der „Roten Ecke" eine Gewerkschaftsversammlung statt, die bereits längere Zeit geplant war. Auf die-

273 SED-KL Borna, An die SED-BL, Informationsbericht vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/4/02/125). 274 Ebd. 2 7 5 BV für Staatssicherheit Leipzig, Situationsbericht vom 17.6.1953 bis 2 2 . 0 0 aus dem Kreis Borna (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 27); die folgenden Zitate ebd., Bl. 28. 276 So fand z. B. in der Schwelerei des VEB Böhlen eine Versammlung statt, die eine Resolution über den Sturz der Regierung, die Freilassung aller politischen Häftlinge und die Abschaffung der KVP annahm. Auch hier war ein Leipziger der „Wortführer". Im Labor West des gleichen Betriebes berief der Gewerkschaftsgruppenorganisator eine Versammlung ein und gab bekannt, daß sich ab sofort die Gewerkschaft von der Partei getrennt habe. Auch er kam aus Leipzig. Im SAG-Kombinat Espenhain trat die Abteilung Schleiferei am Morgen des 17. Juni in einen Sitzstreik, in der Brikettfabrik II wurde in einer Gewerkschaftsversammlung u. a. Forderungen zum Sturz der Regierung gestellt. Vgl. Kreisdienststelle des MfS Borna, Analyse über die Schwerpunkte der Feindtätigkeit im Kreis Borna seit dem 17.6.1953, vom 2 9 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 1 9 / 0 2 , Bl. 6 9 - 7 2 ) . 277 SED-KL Borna, KPKK vom 2 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 0 6 ) .

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

155

ser Versammlung trat der 38jährige Brikettpresser Armin Blohme 2 7 8 aus Leipzig auf und verlangte den Sturz der Regierung, Solidarität mit den streikenden Berlinern, Freilassung sämtlicher politisch inhaftierter Personen, Absetzung des Werkleiters und Senkung der HO-Preise. 2 7 9 Es wurde eine Resolution verabschiedet, die etwa 100 Mitarbeiter unterschrieben. Nach Angaben der SEDKreisleitung und der Staatssicherheit waren zwei Leipziger, die in der Brikettfabrik Espenhain als Brikettpresser und Schleifer arbeiteten, die „Rädelsführer". Neben Blohme wurde der 31jährige Erwin Mahleur genannt. Im MfS-Bericht ist vermerkt: „Eine Arbeitsniederlegung konnte verhindert werden." 2 8 0 Bei dieser Aktion, so erinnern sich Zeitzeugen, soll auch der 42jährige Eberhard von Cancrin aus Geithain hervorgetreten sein. 281 Dieser war als „Dienstverpflichteter" nach Espenhain gekommen und als Mühlenwärter im Kohlenbunker der Brikettfabrik beschäftigt. Er und sieben weitere Belegschaftsmitglieder, darunter vier Leipziger, wurden am 17. Juni von sowjetischen Wachmannschaften abgeführt. Während die anderen bis Anfang Juli wieder zu ihren Familien zurückkehren konnten, kam Eberhard von Cancrin zu Tode. Die näheren Umstände seines Todes sind ebenso unbekannt wie jene, die zur Festnahme geführt hatten. Er wurde in den MfS-Berichten nicht als „Wortführer" genannt. Nach Darstellung der Leipzig Polizeibehörde sei Cancrin „im Zuge der Ereignisse des 17. Juni 1953 innerhalb des Bezirkes Leipzig erschossen" worden. 2 8 2 Die Polizei machte keine weiteren Angaben zu Todesort und -hergang. Die SED-Kreisleitung Borna berichtete darüber, daß von Cancrin zunächst beim MfS einsaß und später von der Kreisdienststelle Borna „wegen Aufwieglung und Aufruhr [...] den sowjetischen Dienststellen übergeben" wurde. 2 8 3 Ein Bericht der Kreisdienststelle bestätigte diese Angabe. 2 8 4 In einem Bericht der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit wurde kurz und knapp festgehalten, daß von Cancrin „durch die Freunde erschossen" wurde. 2 8 5 Nach einer Zusammenstellung der Todesfälle durch die Arbeitsgemeinschaft 13. August soll Eberhard von Cancrin standrechtlich erschossen

2 7 8 Vgl. SED-KL Borna, Tatsachenmaterial über faschistische und andere reaktionäre Kräfte, vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) . 2 7 9 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Liquidierung von Agenten des 17.6.1953, o.D., (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 9 / 0 2 , Bl. 86). 2 8 0 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Analyse über die Schwerpunkte der Feindtätigkeit im Kreis Borna seit dem 17.6.1953, vom 2 9 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 1 9 / 0 2 , Bl. 71). 281 Vgl. Hofmann, Die Kohlearbeiter, S. 104f.; im folgenden vgl. ebd. 2 8 2 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K/MUK, Leichensache, vom 6 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 375). 2 8 3 Vgl. SED-KL Borna, Tatsachenmaterial über faschistische und andere reaktionäre Kräfte vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 4 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) . 2 8 4 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Liquidierung von Agenten des 17.6.1953, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 9 / 0 2 , Bl. 86). 2 8 5 BV für Staatssicherheit Leipzig, Überprüfung und Anleitung der Kreisdienststelle Borna am 18. und 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, 1 9 / 0 2 , Bl. 101).

156

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

worden sein. 286 Ein Zeitzeuge erinnert sich daran, daß er auf der Hochhalde bei Mölbis erschossen worden sei. 287 Im VEB „Otto Grotewohl" wurden ebenfalls am 17./18. Juni mehrere Verhaftungen vorgenommen. 2 8 8 Auch hier soll ein Leipziger als „Aufwiegler" der Belegschaft hervorgetreten sein. 289 Es handelte sich um Paul Pfretzschner, Jahrgang 1895, der ebenfalls als „Dienstverpflichteter" im damaligen SAGBetrieb Böhlen angefangen hatte und als Parteiloser bis in eine mittlere Leitungsfunktion aufgestiegen war. Am 17. Juni hatte er das Entfernen sämtlicher Pieck- und Grotewohl-Bilder, den Rücktritt der Regierung, eine neue Regierung ohne Beteiligung von Vertretern des ZK der SED und die Freilassung aller politischen Häftlinge verlangt. 290 Die SED-Bezirksleitung informierte am 17. Juni gegen Mittag das ZK darüber, daß im Labor des Kombinates „Otto Grotewohl" in Böhlen vor allem „unter der Intelligenz zum Generalstreik gehetzt" werde. 291 In ihrer „Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6. 1953 im Bezirk Leipzig" bescheinigte dagegen die Bezirksleitung der technischen Intelligenz des Kombinates Böhlen „ein gutes Verhalten", weil etwa 600 Angehörige der technischen Intelligenz einen „reibungslosen Arbeitsablauf des Kombinats" organisiert hätten. 2 9 2 In den Böhlener und Espenhainer Großbetrieben kam es auch an den Folgetagen nicht zu größeren Streikaktionen oder anderen öffentlichen Protesten. Dagegen streikten in Groitzsch, einem Zentrum der Schuhindustrie, am 18. Juni mindestens sieben Betriebe, darunter sechs Privatbetriebe. 293 Während es in der Kreisstadt Borna und in den anderen acht Städten am 17. Juni und in den folgenden Tagen nach außen ruhig blieb, gingen Einwohner der Gemeinde Pötzschau auf die Straße. 2 9 4 Zunächst hatten die SED- und 2 8 6 Vgl. Hildebrandt, 17. Juni 1953, S. 4. 287 Vgl. Hofmann, Die Kohlearbeiter, S. 104. 2 8 8 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Liquidierung von Agenten des 17.6.1953, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 19/02, Bl. 86). 2 8 9 Vgl. SED-KL Borna, Tatsachenmaterial über faschistische und andere reaktionäre Kräfte vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) . 2 9 0 Vgl. SED-BPO Böhlen, Berichte, o . D . (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 3 / 6 2 ) . 291 SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 118 vom 17.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 292 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 35 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 293 Vgl. BVfür Staatssicherheit Leipzig, Lagebericht der Kreisdienststellen vom 18.6.1953 (BStU, ASt. Leipzig, Leitung, 260, Bl. 6); vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Borna, Analyse über die Schwerpunkte der Feindtätigkeit im Kreis Borna seit dem 17. 6. 1953, vom 29.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 19/02, Bl. 73). 2 9 4 In der Aufstellung über die Orte, in denen es zu Streiks, Demonstrationen bzw. größeren Unruhen und Vorfällen kam, die Diedrich im Anhang seiner Monografie veröffentlichte, ist Pötzschau nicht erwähnt; vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR, S. 291 f. Auch in der Zusammenstellung der Orte des Widerstandes von Kowalczuk und Mitter findet der Ort keine Erwähnung; vgl. Kowalczuk/Mitter, Orte des Widerstandes, S. 338.

Das Aufbegehren im Bezirk Leipzig

157

MfS-Mitarbeiter dies offensichtlich nicht bemerkt, weil sie zu sehr mit der Absicherung der Großbetriebe beschäftigt waren. In einschlägigen Eilmeldungen und Informationsberichten nach Leipzig wurde die Aktion der Dorfbewohner am 17. Juni mit keinem Wort erwähnt, während sonst jedes Gerücht und jedes Anzeichen von Unruhe weitergeleitet wurde. In diesem Ort versammelten sich nach 21 Uhr etwa 200 Einwohner vor dem Gemeindeamt, um dieses zu stürmen. 2 9 5 Der Zorn der Versammelten galt dem Bürgermeister, den sie „wüst beschimpften" und bedrohten. Ein Bild von Wilhelm Pieck wurde zerrissen und die Telefonleitung durchgeschnitten. Offenbar stand der Bürgermeister ohne Unterstützung da, denn - so vermerkte die Kreisleitung - die Ortsparteileitung der SED habe ihn auch mit der „fadenscheinigen Begründung im Stich gelassen, daß sie weiteren Schutz aus dem Ort holen wollte". 2 9 6 Der sowjetische Kommandant griff ein und forderte die Volkspolizei zum Schutz des Gemeindeamtes auf. Außerdem wurden sowjetische Soldaten „zur Zerstreuung dieser Ansammlung" eingesetzt. Auf Anweisung des Militärkommandanten wurden zunächst drei Personen als „Urheber dieser Provokation" verhaftet. Es handelte sich um einen selbständigen Gärtner und zwei Bauern aus dem Ort. Später wurden weitere 16 Einwohner festgenommen, darunter auch eine Frau. 2 9 7 Von den 19 inhaftierten Pötzschauern betrieben 14 eine Bauernwirtschaft, drei waren Arbeiter, dazu kamen der selbständige Gärtner und die Hausfrau. Vom Alter her waren alle Altersgruppen zwischen 25 und 71 Jahren vertreten. Unter den Inhaftierten waren auch Verwandte: zwei Brüder - beide Baggerfahrer in Espenhain - sowie ein Vater mit Sohn. Außer zwei Festgenommenen, die der LDP angehörten, waren alle parteilos. Im „Tatsachenmaterial über faschistische und andere reaktionäre Kräfte", das am 25. Juni von der SED-Kreisleitung Borna zusammengestellt wurde und auch die Namen jener Pötzschauer Einwohner enthielt, war als Eingangssatz zu lesen: „Mit dem Stand der bisherigen Untersuchung wurde nicht festgestellt, daß von den Inhaftierten eine militärische Ausbildung in Westberlin erfolgte". Nach dieser Zusammenstellung wurden bis zum 25. Juni insgesamt 37 Einwohner aus dem Kreis Borna bzw. Arbeiter, die im Kreis arbeiteten, verhaftet. Die Mehrzahl war parteilos, nur fünf gehörten einer Partei an: drei der SED und zwei der LDP.

295 Vgl. SED-KL Borna, An die BL der SED, Bericht vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED IV/4/02/125). 296 Ebd.; die folgenden Zitate ebd. 297 SED-KL Borna, Tatsachenmaterial über faschistische und andere reaktionäre Kräfte vom 25.6.1953, S. 1 ff (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) ; die folgenden Zitate ebd., S. 1.

158 9.

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

Um die quantitativen Aussagen über bestreikte Betriebe und Streikende einordnen zu können, müssen einige Daten zur Struktur der Industrie beachtet werden. Nach einer Zusammenstellung der Staatssicherheit gab es im Juni 1953 im Bezirk Leipzig 2 233 Industriebetriebe mit 2 6 6 2 2 0 Beschäftigten, darunter sieben SAG-Betriebe mit etwa 25120 Beschäftigten (tatsächlich waren es nur sechs SAG), 290 VEB (zentral geleitet) mit 168300 Beschäftigten und 143 VEB (örtlich geleitet) mit 9 400 Beschäftigten. 298 1 793 Betriebe waren Privatbetriebe bzw. Genossenschaftliche Betriebe, diese beschäftigten 63 400 Mitarbeiter. Zu den wichtigsten Industriezweigen zählten Maschinenbau (mit 20,8 Prozent Anteil an der Gesamtproduktion), Leicht- und Lebensmittelindustrie (mit 18,8 Prozent), Chemie (mit 17,7 Prozent) und Bergbau (mit 15,5 Prozent). Die exakte Anzahl der bestreikten Betriebe und der Streikenden läßt sich wohl nie ermitteln, da in den einschlägigen Berichten der SED wie der Sicherheitsorgane recht unterschiedliche Zahlen-, Zeitangaben und Bezugsgrößen existieren. 299 Schwierigkeiten entstehen auch dadurch, daß in manchen Statistiken alle Streiktage zusammengefaßt ausgewiesen werden, in anderen nur einzelne Tage. Ungenauigkeiten entstehen weiterhin aus der Tatsache, daß einige Betriebe aus mehreren Betriebsteilen bestanden. Es gibt sogar recht widersprüchliche Aussagen für einzelne Werke; so tauchen in den einschlägigen Berichten Meldungen über streikende Betriebe auf, die später wieder zurückgenommen wurden. Trotz dieser kaum zu behebenden Schwierigkeiten lassen sich aber durchaus einige zusammenfassende Aussagen über die quantitative Ausdehnung der Streikbewegung im Bezirk Leipzig machen: 1. Die bisherigen Angaben über Streikende und bestreikte Betriebe sind zu niedrig angesetzt. 2. An der Spitze der Streikenden in der Industrie standen die SAG-Betriebe und die großen volkseigenen Betriebe des Maschinenbaus. 3. Es waren Betriebe aller Eigentumsformen am Streik beteiligt. Auch zahlreiche mittlere und kleine Betriebe in Treuhand oder Privatbesitz, zum größten Teil aus der Leichtindustrie, beteiligten sich an den Arbeitsniederlegungen. 4. Am exaktesten läßt sich die Beteiligung von SAG-Betrieben nachweisen, weil es sich nur um wenige Betriebe handelte. Sie spielten eine heraus-

2 9 8 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über die durchgeführte Kontrolle in der BV, Abt. III, vom 1.9.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 29). 2 9 9 Nach SED-Unterlagen haben am 17. luni in LeipzigStadt 81 Betriebe gestreikt. In den Polizeiunterlagen, die auch Torsten Diedrich ausgewertet hat, wird lediglich von 25 bzw. 2 8 Betrieben ausgegangen. Eine Erklärung für diese sehr großen Unterschiede liegt darin, daß die BDVP offenbar nur jene Betriebe erfaßte, in denen es zu Verhaftungen kam.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

159

ragende Rolle bei der Initiierung und Ausdehnung der Streikbewegung im Bezirk. In den letztgenannten Betrieben, die zu diesem Zeitpunkt noch sowjetisches Eigentum waren, unterstand die Belegschaft direkt der Besatzungsmacht - verkörpert durch sowjetische Generaldirektoren. Die Beschäftigten waren im Kern qualifizierte Stammbelegschaften, die sich durch einen hohen Anteil von Facharbeitern und Spezialisten auszeichneten. In den Arbeits- und Lebensbedingungen waren die Beschäftigten dieser Betriebe gegenüber anderen privilegiert: die Arbeiter der SAG waren die Spitzenverdiener unter der Industriearbeiterschaft der DDR. In der SAG „S.M. Kirow" beispielsweise erhielten Produktionsarbeiter im IV. Quartal 1952 einen monatlichen Bruttolohn von 415,- Mark, in der SAG Bleichen 3 6 0 , - Mark. Zum gleichen Zeitpunkt betrug der durchschnittliche monatliche Bruttolohn aller in der Volkswirtschaft Beschäftigten 2 8 9 , - Mark. 3 0 0 Es gibt mehrfache Hinweise darauf, daß die Entscheidungen der „sowjetischen Freunde" von den zuständigen betrieblichen und territorialen SED-Parteiorganisationen nicht immer akzeptiert wurden. In den SAG-Betrieben war zudem eine spezifische Konfliktlage entstanden. Die deutschen Betriebsleitungen standen im Zusammenhang mit der Planerfüllung und der Einführung höherer Normen unter zusätzlichem Druck durch die örtlichen Parteileitungen und durch „die Freunde". Planerfüllung galt als Gradmesser für die Haltung zur Sowjetunion. Betriebsfunktionäre und Belegschaften lebten mit der ständigen Gefahr, daß ihnen bei Planschulden sowjetfeindliche Einstellungen und Handlungen unterstellt wurden. Die deutschen Leitungsorgane und insbesondere die Parteileitungen der SED gaben diesen Druck auf ihre Belegschaften weiter, um Planerfüllung um jeden Preis zu realisieren. Von den sechs SAG-Betrieben des Bezirkes streikten fünf: der SAG Transmasch (vorm. Schumann & Co.) mit 70 Prozent der Gesamtbelegschaft, die SAG Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg mit 33 Prozent, die SAG Bleichert mit 22 Prozent und die SAG Transmasch „S.M. Kirow" mit ca. 15 Prozent. 3 0 1 Für die SAG Espenhain (Brikettfabrik) existieren keine Angaben über die Zahl der Streikenden. Streikandrohungen bzw. konkrete Planungen gab es außerdem in der SAG ECW Eilenburg. 3 0 2 Die vier SAG-Betriebe in Leipzig-Stadt und Böhlitz-Ehrenberg (Leipzig-Land) bestimmten das Streikgeschehen. Von 14 263 Mitarbeitern dieser Betriebe wurden immerhin 52 Betriebsangehörige „als Rädelsführer" in Haft genommen. 48 weitere Betriebe des Bezirkes Leipzig, darunter zwölf Privatbetriebe, arbeiteten zu diesem Zeitpunkt als Haupt-, Unter- und Zulieferanten für Repa-

3 0 0 Vgl. Roth, Die SAG-Betriebe, S. 531 ff. 301 Die Angaben über die prozentuale Beteiligung der Belegschaften der SAG-Betriebe in BDVP Leipzig, VPKA, Abt. Betriebsschutz, Aufstellung über Streik, o. D. (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) . 3 0 2 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , 2 0 8 - 2 4 5 ) .

160

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

rationen an die Sowjetunion. 303 Mindestens ein Viertel dieser Betriebe legte am 17. Juni oder an den folgenden Tagen die Arbeit nieder, darunter so wichtige Betriebe wie VEB Maschinenfabrik „John Scheer" Meuselwitz, VEB ABUS Getriebewerk (vormals Gebr. Wetzel) Leipzig, VEB ABUS Leipziger Stahlbau und Verzinkerei, RFT Fernmeldewerk Leipzig, RFT Funkwerk Leipzig, VEB Elektrogußwerk Leipzig, VEB Megu Böhlitz-Ehrenberg oder die private Eisengießerei Klug in Taucha. 304 Ferner läßt sich nachweisen, daß vor allem die zentralgeleiteten volkseigenen Betriebe an der Streikbewegung beteiligt waren. Von diesen 290 Betrieben im Bezirk streikte mindestens ein Drittel. An der Spitze stand der größte volkseigene Betrieb des Bezirkes: der VEB Leipziger Eisen- und Stahlwerke (LES) mit etwa 4 7 0 0 Beschäftigten - hier streikten in den Zweigwerken in Lindenau und Mölkau jeweils 25 Prozent der Belegschaft. Desweiteren streikten der VEB BBG (3 624 Beschäftigte, von denen am 18. Juni 90 Prozent streikten), RFT Fernmeldewerk Leipzig (2160, davon 20 Prozent Streikende), VEB ABUS, Leipziger Stahl und Verzinkerei (ca. 1700 Beschäftigte, keine Angaben zum Anteil der Streikenden), VEB Megu, Böhlitz-Ehrenberg (1625 Gesamtbeschäftigte, davon ca. 11 Prozent Streikende), VEB Guß „Hermann Matern" Döbeln (1600 Beschäftigte), der VEB Textima Altenburg (1458 Beschäftigte). In vielen Betrieben des Bezirkes Leipzig, die in keiner Streikstatistik auftauchten, fanden am 17. oder 18. Juni Versammlungen statt. Zumeist diskutierten die Belegschaften das Geschehen in Ostberlin und in anderen Städten. Die ungenügende Information und Aufklärung seitens der DDR-Medien führte dazu, daß auch hier Streikbereitschaft signalisiert wurde. Aus den unterschiedlichsten Gründen kam es meist allerdings nicht zu längeren Arbeitsniederlegungen. Wenn sich mittlere und kleine Betriebe aller Eigentumsformen am Streik beteiligten, dann schlössen sie sich in der Regel in den Städten, so in Leipzig und seinen Vororten, in Schmölln, Delitzsch, Bad Düben und Groitzsch, größeren volkseigenen Betrieben an. Oftmals übernahmen sie auch deren Forderungen. So begann der VEB „Bella-Luxusschuh" (1120 Beschäftigte) in Groitzsch am 18. Juni mit dem Streik, dem sofort im Ort mindestens fünf kleine private Schuhfabriken und eine private Werkzeugfabrik folgten. Alle Privatbetriebe unterstützten die sozialen und politischen Forderungen des großen volkseigenen Betriebes. 305 Es gab aber auch Privatbetriebe bzw. Treuhandbetriebe, in denen die Belegschaften mit ihrem Streik die Wiedereinsetzung des

3 0 3 Vgl. Rat des Bezirkes Leipzig, Abt. Reparationen, Verzeichnis der im Bezirk Leipzig liegenden Reparations-, Haupt-, Unter- und Zulieferanten, vom 1 3 . 5 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BT/RdB 4314). 3 0 4 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , 2 0 8 - 2 4 5 ) . 3 0 5 Vgl. Ebd., Bl. 2 3 9 - 2 4 1 .

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

161

ehemaligen Eigentümers erreichen wollten, wie in der Eisengießerei Klug in Taucha. 3 0 6 Nach Industriezweigen differenziert gehörten die meisten streikenden Betriebe zum Maschinenbau, gefolgt von der Textilindustrie. In der Textilindustrie waren vorwiegend Frauen beschäftigt. Hatten sich die Frauen aus Angst um den Arbeitsplatz bisher mit öffentlichen Protesten zurückgehalten, artikulierten sie in diesen Juni-Tagen um so nachdrücklicher ihre Forderungen auf den Straßen und in Betrieben, und sie waren - zwar in der Minderheit auch in Streikleitungen vertreten. Sie mahnten nicht etwa nur, wie der Bezirksvorstand des FDGB später behauptete, soziale Verbesserungen wie die gerechtere Einstufung in die Lohngruppen an, sondern erhoben gleichfalls politische Forderungen. So verlangten die Leipziger Baumwollspinner(innen) in einer Resolution an die Regierung am 18. Juni die Absetzung der Regierung, freie gesamtdeutsche Wahlen, Freilassung der inhaftierten Demonstranten und Verbesserung des Lebensstandards. Auch der VEB Leipziger Wollkämmerei und der VEB Thalysia beteiligten sich an der Arbeitsniederlegung mit ähnlichen Forderungen. 3 0 7 Nach dem Anteil der Streikenden an den Gesamtbeschäftigten der einzelnen Industriezweige standen die Textilarbeiter sogar an der Spitze, gefolgt von Metallern. In der IG Textil-Bekleidung-Leder streikten von 1 6 0 0 0 Beschäftigten der VEB 9 0 0 0 , in der IG Metall von 43 0 0 0 Beschäftigten 11000. 3 0 8 Ein dritter Schwerpunkt war die Bauindustrie. Nach einer SED-internen Analyse streikten 12 Prozent der insgesamt 11000 Bauarbeiter der Stadt Leipzig 309 eine Angabe, die viel zu niedrig angesetzt sein dürfte. Der Bezirk Leipzig wurde im „Kampfplan des Sekretariats des Zentralvorstandes der IG BauHolz" als „einer der Hauptschwerpunkte im Kampf gegen faschistische, provokatorische Elemente" charakterisiert. 310 Vor allem in Leipzig und Schkeuditz gehörten die Bauarbeiter zu den Initiatoren von Streiks und Aufmärschen. Sie waren vor allem bei der Bauunion Leipzig und im VEB Bau (K) beschäftigt (Daneben gab es noch sogenannte Kreisbauhöfe bzw. -betriebe). Beide Baubetriebe hatten 1953 zur Realisierung des „Beschlusses der DDR-Regierung für das Nationale Aufbauprogramm der 3 0 6 Bezirksvorstand der IG Textil-Bekleidung-Leder, Situationsbericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1. Eine Kopie dieses Berichtes wurde der Autorin von der Tochter des damaligen Eigentümers der Eisengießerei zur Verfügung gestellt. 307 Vgl. SED-KL Leipzig, Analyse über Entwicklung und Auswirkung des faschistischen Abenteuers am 17.6.1953 in der Stadt Leipzig vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV5/01/479). 3 0 8 Vgl. FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Bericht zur Lage, o. D. (SAPMO-BArch, DY 34, 15/515h, 310). 3 0 9 Vgl. SED-KL Leipzig, Analyse über Entwicklung und Auswirkung des faschistischen Abenteuers am 17.6.1953 in der Stadt Leipzig, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). 310 Bezirksvorstand der IG Bau-Holz, Bericht über eingeleitete Maßnahmen zur Entlarvung der Provokateure und der faschistischen Untergrundorganisation in der IG BauHolz des Bezirkes, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 4 7 ) .

162

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Stadt Leipzig" mehrere innerstädtische Schwerpunktbaustellen im Wohnungsbau eingerichtet, beispielsweise die Ringbebauung am Georgiring, in der Windmühlenstraße und zur Schließung der Baulücken in der Straße der III. Weltfestspiele. 311 Daneben waren Bauarbeiter auf Baustellen zur Errichtung der Deutschen Hochschule für Körperkultur, an der Universität Leipzig (Zahnklinik, Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, Hygieneinstitut u.a.) und am HOWarenhaus in der Petersstraße beschäftigt. Auch auf Baustellen in den Außenbezirken der Stadt und im Landkreis Leipzig waren die Beschäftigten der Bauunion und des VEB Bau tätig. Da die Baustellen über die ganze Stadt Leipzig verteilt waren, ist sicherlich ein Gesamtüberblick über die Streikbewegung schwieriger als für Industriebetriebe mit einem bzw. höchstens drei Werkteilen (Betriebsteilen). Aus diesem Grunde dürfte die Anzahl der Streikenden größer gewesen sein. Hinzu kam noch der ständig wechselnde Einsatz der Arbeiter zwischen den Baustellen und die große Fluktuation im Baugewerbe. Zur Bauunion Leipzig gehörten 30 Bau- und Verwaltungsstellen im Stadtkreis Leipzig, darunter acht sogenannte Schwerpunktbaustellen. Von diesen Schwerpunktbaustellen waren mindestens sechs am 17. und 18. Juni in den Streik getreten, darunter die Baustelle Oberpostdirektion, die Baustelle am HO-Warenhaus Petersstraße und die Baustelle Ringbebauung am Georgiring. Auch „ein wesentlicher Teil" der SED-Angehörigen unter den Bauarbeitern, so die SED-Analyse, nahm an den Arbeitsniederlegungen und den Demonstrationen teil. Letzteres traf ebenso auf die industriellen Großbetriebe zu. Lediglich ein Viertel der Parteimitglieder in bestreikten Betrieben beteiligte sich nicht an den Arbeitsniederlegungen. 312 Auch auf sogenannten Außenbaustellen außerhalb des Bezirkes nahmen Mitarbeiter der Leipziger Bauunion an den Streiks teil, u. a. in der Filmfabrik Wolfen, in Bad Lausick und auch in Oranienburg. Zum VEB Bau gehörten 449 Mitarbeiter, darunter 82 SED-Mitglieder. Fünf Baustellen streikten am 17. und 18. Juni, u. a. Bauarbeiter der Windmühlenstraße und zweier Universitätsbaustellen. 313 Am 18. Juni schlössen sich mehrere Enttrümmerungsbaustellen in der Innenstadt der Streikbewegung an. Nach dem 17. Juni konzentrierten sich die Auseinandersetzungen auf die Baustellen Oberpostdirektion und Windmühlenstraße. 23 Leipziger Bauarbeiter wurden zunächst in Haft genommen. 3 1 4 Territoriale Schwerpunkte der Streikbewegung im Bezirk Leipzig waren: Leipzig-Stadt, der Landkreis Leipzig (mit Schkeuditz, Böhlitz-Ehrenberg, Borsdorf, Engelsdorf, Eythra, Holzhausen, Liebertwolkwitz, Taucha, Kulkwitz, Markkleeberg, Markranstädt, Mölkau), die Kreise Altenburg (mit Altenburg 311 Vgl. Bericht über die Kontrolle der Erfüllung des nationalen Aufbauprogramms der . Stadt Leipzig und des Kreises Borna, o. D. (SächsStAL, BT/RdB 4123). 312 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruchs des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o. D., S. 18 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 313 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 236f.). 314 Vgl. ebd.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

163

und Meuselwitz), Borna (Borna und Groitzsch), Delitzsch (mit Delitzsch und Rackwitz), Döbeln (mit Roßwein und Hartha), Eilenburg (mit Eilenburg, Bad Düben), Schmölln (mit Gößnitz und Schmölln). Für die übrigen Kreise existieren sehr widersprüchliche und unvollständige Aussagen über die Ausdehnung der Arbeitsniederlegungen. Streiks gab es offenbar überall, denn die SED-Bezirksleitung ging davon aus, daß in diesen Kreisen „nur einzelne Betriebe", und da wiederum „nur ein Teil der Arbeiter" die Arbeit niedergelegt hatten. 3 1 5 Genauere Hinweise gibt es durch die „Lageberichte" der Kreisdienststellen für Staatssicherheit. Demnach kam es im Kreis Geithain zur Arbeitsniederlegung von 350 Bauarbeitern der Bauunion in Bad Lausick. 316 Im Kreis Grimma legten mindestens zwei Betriebe am 18. Juni die Arbeit nieder, der VEB Spinnerei Naunhof und der VEB Nagema. 317 Im Kreis Würzen kam es am 17. und 18. Juni zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen. 318 Der Kreisdienststelle des MfS Würzen war davon zunächst nichts bekannt. Die Leipziger Bezirksleitung der SED meldete am 17. Juni um 20 Uhr an das ZK: „Die Tätigkeit des Klassenfeindes erstreckt sich im Bezirk Leipzig vor allem auf den Kreis Leipzig-Land, d.h. auf die Randgebiete von Leipzig." 319 Am nächsten Tag wurde die Lage im Kreis Leipzig-Land in der abgelaufenen Nacht und in den Morgenstunden als die „ernsteste Situation" im Bezirk überhaupt bezeichnet. Insbesondere die Vorgänge im Ifa Getriebewerk Liebertwolkwitz, in der SAG Deutsche Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg und im RAW Engelsdorf erregten bei den „Kadern" Besorgnis. Die Streiks in den Betrieben im Landkreis Leipzig und in den übrigen Landkreisen begannen in der Mehrzahl erst am 18. Juni und hielten, wie auch in einigen Leipziger Betrieben, in zahlreichen Werken bis zum 19. Juni an. In einem Betrieb, dem VEB Textima Altenburg, kam es nochmals am 22. Juni zu einem kurzfristigen Streik. Am besten läßt sich die Streikbewegung für die Stadt Leipzig analysieren. Hier legten, nach SED-Berichten, am 17. Juni und in den folgenden Tagen 81 Betriebe mit insgesamt 26 993 Beschäftigten (von 168 815 Gesamtbeschäftigten) die Arbeit nieder. 3 2 0 Der FDGB-Bezirksvorstand Leipzig ging von 29 500 Leipziger Streikenden aus. 3 2 1 Die Streikbeteiligung in diesen Betrieben war sehr unterschiedlich; sie reichte von einzelnen Abteilungen bis zum Gesamtbetrieb (VEB ABUS, Leipziger Stahlbau und Verzinkerei). Die SED-

315 SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruchs des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 9 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) . 316 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Lagebericht der Kreisdienststellen vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 0 , Bl. 7). 317 Vgl. ebd. 318 Vgl. SED-BL Leipzig, Informationsberichte, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) . 319 Ebd.; im folgenden vgl. ebd. 3 2 0 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Tabellarische Übersicht, o . D . (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 321 Vgl. FDGB, Bezirksvorstand Leipzig, Analyse über die Ereignisse am 17. und 18.6. 1953 im Bezirk Leipzig vom 17.7.1953, S. 2 (SAPMO-BArch, DY 34, A 301).

164

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Kreisleitung Leipzig-Stadt nahm in ihrer Berichterstattung an die Bezirksleitung an, daß am 17. und 18. Juni über die Hälfte der Beschäftigten der bestreikten Betriebe an der Arbeitsniederlegung teilgenommen hatte. 3 2 2 In den Berichten der Leitung der Polizei des Bezirkes wird eine prozentuale Beteiligung zwischen 20 und 100 Prozent Belegschaftsstärke ausgewiesen. 323 Es gibt auch eine detaillierte Aufstellung über die Ausdehnung des Streiks in den 14 Stadtbezirken von Leipzig, die deutliche Unterschiede und bestimmte Schwerpunkte erkennen läßt. 324 Es hat in allen Stadtbezirken streikende Betriebe gegeben, ihre Anzahl schwankte jedoch zwischen einem Betrieb (Stadtbezirk 1) und 16 Betrieben (Stadtbezirk 13). Der Stadtbezirk 1, im unmittelbaren Zentrum der Stadt mit wenigen Industriebetrieben, dafür aber einer Konzentration von öffentlichen und kulturellen Einrichtungen gelegen, meldete nur einen Betrieb mit 343 Streikenden. Es handelte sich dabei um die Bauarbeiter des VEB Bau Leipzig, der seine Verwaltung in diesem Stadtbezirk hatte. Eine Analyse der statistischen Angaben in Bezug auf den Anteil der Streikenden an den Gesamtbeschäftigten des jeweiligen Stadtbezirkes ergibt folgendes Bild: Im Stadtbezirk 5, dem Gebiet um den Bayrischen Bahnhof, war die prozentuale Streikbeteiligung mit 1,3 Prozent der Gesamtbeschäftigten am geringsten, während der Anteil der Streikenden im Stadtbezirk 8 am größten war. Letztgenannter Stadtbezirk umfaßte ein traditionelles Leipziger Industriegebiet um Plagwitz/Lindenau mit zahlreichen Groß- und SAG-Betrieben. Hier streikte von 25 600 Beschäftigten fast die Hälfte. Auch nach der Anzahl von Ausfallstunden durch Streik stand dieser Stadtbezirk an der Spitze. Die 12 670 Streikenden kamen aus 14 Betrieben. In der SAG Transmasch (vormals Schumann & Co) legten am 17. Juni 70 Prozent der 1412 Beschäftigten die Arbeit nieder. 325 Auch die SAG „S.M. Kirow" war hier angesiedelt. Laut Polizeiberichterstattung streikten dort am 17. Juni von 14 bis 20 Uhr 552 Werksangehörige (von 4 580 Beschäftigten) und am 18. Juni von 6 bis 11 Uhr wiederum 400. Im VEB BBG Leipzig traten am 18. Juni von 10 bis 17 Uhr 90 Prozent der Belegschaft in den Ausstand. Der VEB ABUS, Leipziger Stahlbau und Verzinkerei mit 1700 Belegschaftsmitglieder trat nach der Wahl eines sechsköpfigen Streikkomitees mit seiner gesamten Belegschaft am 17. Juni ab der 2. Schicht in den Streik. 326

3 2 2 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Information an die BL vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). 3 2 3 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 18.6.1953, 8 . 0 0 Uhr bis 19.6.1953, 8.00 Uhr, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 98). 324 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Tabellarische Übersicht, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) ; die folgenden statistischen Angaben ebd. 3 2 5 Vgl. ebd. 3 2 6 Vgl. VPKA, Abt. Betriebsschutz, Aufstellung über Streik, vom 19.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) .

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

165

Der Stadtbezirk 3 meldete, daß von 7 880 Gesamtbeschäftigten 2 094 und damit 26,6 Prozent die Arbeit niedergelegt hatten. 327 Das war jener Stadtbezirk im Süden der Stadt, wo die SED-Stadtbezirksleitung im Vorfeld der Juni-Ereignisse für 80 Prozent der SED-Betriebsparteileitungen eine „Mißbilligung wegen Nichtdurchführung von Beschlüssen" ausgesprochen hatte. 3 2 8 Der dritte Schwerpunkt der Streikbewegung war der Stadtbezirk 12 (Nordosten) mit 16 streikenden Betrieben und 3 055 Teilnehmern, hier betrug der Streikanteil 23,5 Prozent. In diesem Stadtbezirk waren das Hauptwerk der SAG Bleichert beheimatet und die Volkseigene Handelszentrale Schrott angesiedelt, ein Betrieb, dessen Mitarbeiter am 17. Juni um 12.30 Uhr in den Streik eingetreten waren und auf dem Wege in die Innenstadt Bauarbeiter und Arbeiter des LVB Gleisbau zur Einstellung der Arbeit aufgefordert hatten. Dieser Betrieb sollte später bei der planmäßigen „Entlarvung der Provokateure" eine besondere Rolle spielen. 329 Zu diesem Stadtbezirk gehörte der VEB Adler Reparaturwerkstatt; in diesem Betrieb (150 Beschäftigte) hatte der Betriebsleiter den Streikenden mehrere Autos zur Verfügung gestellt, um andere Betriebe anfahren und zum Streik auffordern zu können. Die SED-Stadtbezirksleitung behauptete später, diese Wagen seien mit „Agenten und Provokateuren" besetzt gewesen. 330 Für einige Betriebe liegen umfangreiche Unterlagen zum Geschehen am 17. Juni und in den folgenden Tagen und Wochen vor allem deshalb vor, weil die Staatssicherheit eine „Analyse der Schwerpunkte des 17. Juni 1953" anlegte. 331 Auf diese Betriebe konzentrierte sie die Arbeit bis ins Jahr 1954 und darüber hinaus. Die Staatssicherheit ging von mindestens 18 derartigen Schwerpunkten aus, dazu gehörten beispielsweise die SAG Bleichert, SAG Transmasch (vorm. Schumann & Co.), SAG Leipziger Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg, SAG Transmasch „S. M. Kirow", VEB BBG, VEB Megu BöhlitzEhrenberg, VEB LES, VEB Braunkohlenwerk Kulkwitz, VEB Bauunion und VEB Bau (K). Nachfolgend wird das Geschehen in einzelnen Betrieben, in denen einige Besonderheiten nachweisbar sind, etwas ausführlicher geschildert; dazu gehörten vier Betriebe der Stadt und des Landkreises Leipzig, darunter SAG und VEB, und zwei aus dem Kreis Altenburg. Der Betrieb SAG-Bleichert wurde vor allem deshalb für die Darstellung ausgewählt, weil es der größte Industriebetrieb des Bezirkes war und bisher als vorbildlicher Betrieb gegolten hatte. 327 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Tabellarische Übersicht, o . D . (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 328 Vgl. SED-KL Leipzig, Analyse über die Entstehung und Auswirkung des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 in der Stadt Leipzig, o . D . (SächsStAL, SED IV/5/01/479). 329 Vgl. Kap. VII, S. 581-583. 330 SED-KL Leipzig, Analyse über die Entstehung und Auswirkung des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 in der Stadt Leipzig, o. D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 331 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Analyse der Schwerpunkte des 17.6.1953 in der Industrie vom 8.9.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 159/03, Bl. 142- 152).

166

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Die Vorgänge im VEB BBG sind auch deshalb von besonderem Interesse, weil am 18. Juni eine Delegation des Betriebes mit Leipziger Gewerkschaftsfunktionären verhandelte. Darüber liegen Tonbandprotokolle vor, 3 3 2 die eindeutige Aussagen über Diskussionen und Forderungen von Belegschaften nach der Verhängung des Ausnahmezustandes ermöglichen. Die Ereignisse im SAG Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg und im RAW Engelsdorf werden deshalb thematisiert, weil die jeweiligen staatlichen Leitungen unterschiedliche Positionen einnahmen, die sich auf den Verlauf des 17. Juni auswirkten. Das Geschehen in den beiden größten Betrieben von Meuselwitz und Altenburg hebt sich deshalb ab, weil dort die Arbeitsniederlegungen bis Montag, den 22. Juni, andauerten 3 3 3 , während in anderen Betrieben des Bezirkes an diesem Tage bereits wieder gearbeitet wurde. Am Beispiel der SAG Bleichert wird deutlich, wie die „verantwortlichen Genossen" innerhalb weniger Tage und Stunden ihre politischen Einschätzungen „der führenden Arbeiterklasse" grundlegend veränderten. Unmittelbar vor dem 17. Juni war der Betrieb mit 30 000 Mark Prämie als Sieger im sozialistischen Wettbewerb ausgezeichnet worden. Nach dem Aufstand galt er als „Schlupfwinkel aller möglichen Elemente, ehemaliger Offiziere, besonders Ritterkreuzträger, gestrandeter Funktionäre der SED, der Reaktion und Opposition innerhalb der Arbeiterklasse". 3 3 4 Der Betriebsparteisekretär stellte unter dem Eindruck des Geschehens am 17. Juni und in den folgenden Tagen fest, daß die SED-Bezirksleitung „wieder einmal die Rolle eines der größten Leipziger Betriebe verkannt" habe. 3 3 5 Selbst auf die eigenen Genossen (von den 6 7 7 3 Belegschaftsmitgliedern gehörten knapp 10 Prozent zur SED) sei kein Verlaß gewesen. Nur 15 Prozent aller SED-Angehörigen ständen „entschlossen auf dem Boden der Partei", 5 Prozent seien als „negative Elemente" und alle anderen als „schwankende Genossen" zu bezeichnen. In der Nacht vom 16. zum 17. Juni hatte eine Brigade der SED-Bezirksleitung auch bei Bleichert die „wirkliche Massenstimmung" erkunden wollen. Dabei erfuhren sie, daß diese Stimmung nicht so positiv war, wie bisher angenommen. 3 3 6 Sie verließ den Betrieb, um den „Stimmungsbericht" für das ZK abzufassen, ohne mit dem Parteisekretär Absprachen zu treffen. Dieser erfuhr am 17. Juni um 7 Uhr vom Streik in Ostberlin und gegen 10 Uhr per Telefon von den Ereignissen in Wolfen. Von der SED-Kreisleitung erhielt er den Rat,

3 3 2 Aussprache der Delegation der Belegschaft des Betriebes BBG mit den Vertretern des FDGB, Bezirksvorstand, und der IG Metall am 18.6.1953 (BStU, A.IM 6 9 0 / 5 7 , Bl. 104-111). 3 3 3 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr bis 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr, vom 23.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 108). 3 3 4 SED-BL Leipzig, Bezirksleitungssitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 , Bl. 70). 3 3 5 SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 71). 3 3 6 Vgl. SED-BPO Bleichert, Parteiaktivtagung vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 , Bl. 253).

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

167

nichts zu unternehmen. Die erste Schicht arbeitete bis Schichtschluß ohne größere Unterbrechungen. Als dann Demonstranten aus anderen streikenden Betrieben vor dem Werk erschienen, begann auch in dieser SAG der 17. Juni. Der Parteisekretär ließ von sich aus den Betriebsfunk und die Telefonzentrale „sichern". Nach seiner Aussage habe er durch den Betriebsfunk der Belegschaft mitteilen lassen, „daß faschistische Provokateure einen Streik ausgelöst haben und daß wir uns als ehrliche Menschen nicht zu denen rechnen. Wir gestatten denen, die sich zu dem Verbrechervolk bekennen, das Werk zu verlassen." 3 3 7 Doch auch damit konnte er „seine Leute" nicht aufhalten. Bis zum 18. Juni um 6 Uhr ruhte die Arbeit. Obwohl die Betriebsparteileitung noch in der Nacht vom 17. zum 18. Juni der Staatssicherheit eine Liste von „Provokateuren" übergeben hatte, waren bis zum 20. Juni, im Gegensatz zu anderen Leipziger Betrieben, noch keine sogenannten Rädelsführer verhaftet. 3 3 8 Vielleicht ermutigte das die Belegschaft dazu, den Streik weiterzuführen bzw. erneut zu beginnen. Die SED-Kreisleitung Leipzig erhielt vom Betriebsschutz Informationen, wonach am 20. Juni um 11 Uhr wiederum mit Arbeitsniederlegungen begonnen werden sollte. 339 Daraufhin führte die Volkspolizei, nicht das MfS, Ermittlungen im Betrieb durch, denn der Parteisekretär war vor allem mit der Staatssicherheit unzufrieden. Nachdem bis zum Morgen des 20. Juni immer noch keiner der Gemeldeten in Haft war und die Streikabsichten bekannt geworden waren, schaltete der Parteisekretär den sowjetischen Generaldirektor und schließlich den sowjetischen Stadtkommandanten ein. Letzterer habe dann befohlen: „Wenn die Leute nicht in 30 Minuten verhaftet sind, werde ich sie erschießen lassen". 3 4 0 Wenig später nahmen die „sowjetischen Freunde" in Anwesenheit von Angehörigen des VPKA zwei Belegschaftsmitglieder fest, einen 39jährigen Schmied und einen 21jährigen Werbeleiter. Letzterer hatte auf rotem Fahnentuch die Aufschrift „Nieder mit der Regierung" angebracht. In den nächsten Tagen wurden weitere 20 Belegschaftsmitglieder festgenommen. Zur Vorbeugung gegen weitere Streikabsichten wurden vier sowjetische Panzerwagen im Werk stationiert. 341 Auch der VEB BBG (vormals Rudolf Sack KG) gehörte zu jenen Leipziger Betrieben, auf die sich die SED-Funktionäre in ihrer politischen Arbeit konzentrierten. Die Beschäftigten waren von der Bezirksleitung ausgewählt worden, zum 60. Geburtstag Ulbrichts zusätzlich eine Rübenrodemaschine als „Geburtstagsgeschenk" zu produzieren. Die Herstellung dieses Geschenks geriet in Gefahr, denn auch die Belegschaft des VEB BBG streikte am 17. Juni und forderte die Absetzung der Regierung.

337 338 339 340 341

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Informationsberichte, o.D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 8 ) . SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 73). Vgl. VPKA Leipzig, Abt. Betriebsschutz, Bericht über vermutl. Vorkommnisse der Streikvorbereitung im SAG-Betrieb Bleichert vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) .

168

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Obwohl dieser Betrieb mit etwa 3 600 Beschäftigten zu den größten Betrieben des Bezirkes gehörte und auch durch seine Produktion landwirtschaftlicher Maschinen nach der Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften besondere Bedeutung erlangte, war im Juni 1953 noch kein MfS-Betriebssachbearbeiter eingesetzt, um die Belegschaft zu überwachen. 3 4 2 Nach dem 17. Juni wurde das schleunigst nachgeholt, um eine angebliche „sozialdemokratische Agentengruppe" zu entlarven, die auch in der Betriebsleitung ihre Vertreter habe. 3 4 3 Zunächst konzentrierte sich die Staatssicherheit darauf, Verbindungen zum ehemaligen Besitzer Sack nach Westdeutschland auszuspionieren, weil sich im BBG angeblich eine „alte Sack-Clique" konzentrierte. In diesen Kreis wollte das MfS „durch Werbung von geeigneten Gl einbrechen". 3 4 4 Arbeiter des VEB BBG hatten den Betriebsparteisekretär Kohla in der Nacht vom 16. zum 17. Juni darauf angesprochen, ob er etwas vom „versuchten Regierungssturz in Berlin" wüßte. 3 4 5 Der Parteisekretär erkundigte sich umgehend bei der SED-Kreisleitung und erhielt die Antwort, er solle der Nachtschicht erklären, „daß sie einer RIAS-Lüge zum Opfer gefallen seien", was er auftragsgemäß der Belegschaft mitteilte. Am 17. Juni sah es zunächst so aus, als ob sich die Belegschaft des VEB BBG nicht an den öffentlichen Protesten Leipziger Betriebe beteilige. Selbst als eine Delegation des VEB LES, Werk II, erschien und dazu aufrief, die Arbeit niederzulegen, fanden lediglich Versammlungen statt. Die SED-Stadtbezirksleitung berichtete später, daß diese „noch nicht den offenen Charakter des Putsches trugen". 3 4 6 Die Betriebsparteiorganisation war deshalb völlig überrascht, als am Morgen des 18. Juni einige Abteilungen spontan die Arbeit niederlegten. Daraufhin berief die Werkleitung für 8 Uhr eine Belegschaftsversammlung in der Thälmann-Halle ein, damit sich die Kollegen „aussprechen konnten". In dieser Versammlung ergriffen mehrere Mitarbeiter das Wort, auch der Schlosser Engelbert Saballa, Jahrgang 1909 und im Jahre 1952 als Aktivist ausgezeichnet, und auch Albert Marschner, Jahrgang 1897, SED-Mitglied. Beide sollten später als angebliche Agenten des amerikanischen Geheimdienstes „entlarvt" werden.

3 4 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht: Tätigkeit der Brigade Mothes, Ziermann und Jäger im Betrieb VEB-BBG, vom 27.10.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 56). 343 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Instrukteurbericht über Entlarvung von Provokateuren bei VEB BBG vom 2 6 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) . 3 4 4 BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht: Tätigkeit der Brigade Mothes, Ziermann und Jäger im Betrieb VEB-BBG, vom 27.10.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 57). 345 SED-KL, An die SKK, Übersicht über die Entwicklung des Putsches am 17. 6. 1953, vom 24.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) ; das folgende Zitat ebd. 3 4 6 SED-Stadtbezirksleitung, Betrifft: Faschistischer Putschversuch am 17.6.1953 vom 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) ; das folgende Zitat ebd.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

169

Der Diskussionsbeitrag von Albert Marschner liegt als abgeschriebenes Tonbandprotokoll vor. 347 Zu Beginn berief er sich auf die Verfassung der DDR, die das Recht auf Meinungsfreiheit garantiere. Anschließend erinnerte er an die sozialen Härten, die mit Beschlüssen der SED und ihrer Regierung entstanden seien, und an die überfüllten Zuchthäuser. „Kollegen, ich kann nicht immer nur Materialismus predigen. Der Sozialismus muß auch ein Herz haben, und das ist verlorengegangen bei diesen Leuten", wandte er sich an die Versammelten. Er setzte sich dann mit der „frechen" Behauptung der DDR-Medien auseinander, daß Agenten die Demonstrationen vom Vortag ausgelöst hätten. „Nein, wir brauchen keine Agenten. Die Agenten haben diese Leute selber geschaffen, indem viele tausend Menschen, die flüchten mußten, die Bauern und die Gewerbetreibenden, die Haus und Hof verlassen mußten, hingegangen sind und gesagt haben, wie es hier aussieht. Das sind die Agenten, die ihr selber großgezogen habt." Seine Schlußfolgerung lautete: „Eine Regierung, die Tausende von Menschen ins Elend stürzt, die wäre im Westen nicht möglich, die wäre nämlich weg [...]. Ich schließe mich voll und ganz an, wir verlangen, daß die Regierung abtritt." Die Versammelten - es sollen 3 0 0 0 gewesen sein - wählten eine Delegation von zehn Mitgliedern, darunter Saballa und Marschner, und verabschiedeten mit nur sechs Gegenstimmen eine Resolution. Sie enthielt folgende Forderungen: „1. Aufhebung des Ausnahmezustandes. 2. Rückzug der bewaffneten Streitkräfte. 3. Freilassung der am 17. Juni aus Anlaß der Demonstration Verhafteten, ausgenommen diejenigen, die sich an den Plünderungen beteiligt haben. 4. Die IG Metall zu beauftragen, für die Abhaltung baldiger freier Wahlen alle Kraft einzusetzen. 5. Die Ausfallzeiten, die durch die Belegschaftsversammlung am 18. Juni entstanden sind, aus dem Streikfonds des FDGB abzugelten, einschließlich der Zeit bis zur Wiederaufnahme der Arbeit." 3 4 8 Die Delegation erhielt den Auftrag, diese Resolution der Gewerkschaft zu übergeben. Über die Verhandlungen mit den Funktionären der IG Metall sollten sie der Versammlung Bericht erstatten, solange wollte die Belegschaft im Betrieb bleiben. Auch das Protokoll der Besprechung im Gewerkschaftshaus ist überliefert. 3 4 9 Es nahmen u.a. daran teil: die zehn Delegationsmitglieder, der Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Fritz Stein, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Karl Adolphs und Vertreter der IG Metall. Die Gewerkschaftsfunk347 Diskussionsbeitrag Marschner, Streikversammlung am 18.6.1953 im Betrieb LBHBBG (BStU, Ast. Leipzig, AOP, 2 1 1 / 5 5 , Bl. 16f.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 16. 348 Aussprache der Delegation der Belegschaft des Betriebes BBG mit den Vertretern des FDGB, Bezirksvorstand und der IG Metall am 18.6.1953 (BStU, A.IM 6 9 0 / 5 7 , Bl. 105). 349 Aussprache der Delegation der Belegschaft des Betriebes BBG mit den Vertretern des FDGB, Bezirksvorstand und der IG Metall am 18.6.1953 (BStU, A.IM 6 9 0 / 5 7 , Bl. 105ff.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 106.

170

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

tionäre konzentrierten ihre Argumentation auf die Gewaltakte von Jugendlichen an und vor öffentlichen Gebäuden in Leipzig, um die Demonstrationen vom Vortag zu diffamieren. Die Vertreter des Betriebes verurteilten eindeutig die Ausschreitungen gegen Personen, die Zerstörungen von Sachwerten und die Plünderungen. „Wenn Rüpel geplündert haben, so hat das nichts mit den Demonstrationen der Arbeiter zu tun", war ihre Meinung. Sie machten eindeutig klar, daß es ihnen nicht darum gehe, mit ihrem Streik derartige Erscheinungen zu verteidigen oder gar „faschistische Tendenzen in den Betrieb zu tragen". Vielmehr wollten sie das, „was sie angefangen haben aufzubauen, mit allen Mitteln verteidigen." Die anwesenden Gewerkschaftsfunktionäre mußten sich auch sehr kritische Worte über ihre Arbeit anhören. Redner des BBG brachten die Hoffnung zum Ausdruck, daß „jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo die Gewerkschaft endlich einmal die Interessen der Arbeiterschaft vertritt. Die ganzen Jahre über habt Ihr mitgemacht, Ihr wart gebunden an die Partei, wir sehen das ein. Aber jetzt müßt Ihr anständig und sauber sein. Ihr müßt machen, was wir wollen." Die Delegation machte unmißverständlich klar, daß sie „im Auftrag von 3 500 Kollegen" hier seien und „die Arbeit erst dann wieder aufnehmen" würden, „wenn die Panzer und bewaffneten Soldaten von den Straßen verschwinden. Wenn Ihr uns das Versprechen gebt, daß diese Maßnahmen sofort in Angriff genommen werden, so kommen wir unserer Arbeit nach, eher nicht [...]. Wir sehen ein, daß wir auf unsere Forderungen jetzt nicht sofort Antwort bekommen können. Wenn aber innerhalb von 24 Stunden die Panzer nicht von den Straßen verschwunden sind, so legen wir unsere Arbeit wieder nieder." 350 Die anwesenden Gewerkschaftsfunktionäre versprachen daraufhin, wegen des Ausnahmezustandes „sofort mit der Militärkommandantur Rücksprache zu nehmen". Im Gegenzug sollten die „Werktätigen des BBG den Schutz ihres Betriebes übernehmen [...]. Sie sollten dabei den anderen Betrieben Mitteilung geben, daß sie ihrem Beispiel folgten." Sie erhielten den Rat, „die besten Kollegen" für den Schutz des Betriebes einzuteilen. Zum Schluß gab der Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Fritz Stein der Delegation „auf den Weg", bei einer Neuwahl der Gewerkschaftsleitung solche Kollegen zu wählen, „die es verdienen, als BGL tätig zu sein". Als die Delegation in den Betrieb zurückgekehrt war, traf sich die Belegschaft erneut zu einer Versammlung, um das Verhandlungsergebnis zu erfahren. Es wurde dabei festgelegt, daß die Zehner-Delegation während des Streiks „über den Betrieb bestimmen" werde und „alle Funktionäre, die Betriebs-, Parteileitung und BGL, nur Kollegen und weiter nichts" seien. 351 Die Nachmittagsversammlung war gegen 15 Uhr zu Ende, danach nahm die Belegschaft die Arbeit wieder auf. Am nächsten Tag wurden die Mitglieder der Delegation

350 Ebd., Bl. 110; die folgenden Zitate ebd., Bl. 111. 351 BV für Staatssicherheit Leipzig, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 15.9.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AU, 2 7 / 5 4 , Gerichtsakte, Bl. 53).

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

171

aber als „illegale Streikleitung" verhaftet. 352 Nach zehn Tagen wurden sie zunächst, wie das MfS vermerkte, „auf Grund falscher Anweisungen (FechnerKurs)" 3 5 3 wieder aus der Haft entlassen. Einer von ihnen, Engelbert Saballa, wollte nach seiner Entlassung gegen den Vorsitzenden des Betriebsfriedensrates ein gerichtliches Verfahren wegen Beleidigung und Verleumdung anstreben, weil dieser ihn als „Faschistenknecht" bezeichnet hatte. Dazu kam es nicht mehr, statt dessen kam Saballa wiederum ins Zuchthaus und wurde am 10. November 1953 vom Bezirksgericht Leipzig „wegen Kriegshetze und Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen und wegen Propaganda für den Faschismus und Militarismus sowie wegen Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte, die den Frieden des deutschen Volkes gefährden", zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. 354 Die ursprüngliche Begründung zur Einleitung eines Untersuchungsverfahrens wegen „Verbindung mit einer amerikanischen Agentenzentrale" 355 wurde fallengelassen. Die SAG Kugellagerfabrik in Böhlitz-Ehrenberg (Landkreis Leipzig) beschäftigte 1771 Arbeiter und Angestellte, von ihnen gehörten 215 der SED an. 3 5 6 Der 17. Juni begann auch hier recht ungewöhnlich. An jenem Morgen forderte eine Delegation von sechs Mitarbeitern von der Betriebsparteileitung, eine Versammlung einzuberufen, um über Forderungen nach Rücktritt der Regierung, freien Wahlen, 40prozentiger Senkung der HO-Preise und vollständiger Abschaffung der Normen zu diskutieren. 357 Der Parteisekretär und die leitenden Wirtschaftsfunktionäre stimmten der Einberufung einer Versammlung zu, sie lehnten jedoch die erhobenen Forderungen ab und verwiesen auf den Neuen Kurs. Die Delegation suchte danach das SAG Kirow-Werk in Leipzig auf. Sie kamen von dort mit der Aufforderung zurück, sich den streikenden und demonstrierenden Kirow-Werkern anzuschließen, was von der Versammlung durch „lebhafte Zustimmung" aufgenommen wurde. Die Direktion und die BGL sollten sich anschließen und an der Spitze der Belegschaft demonstrieren. Der Arbeitsdirektor Fritz Müller, ein langjähriges SED-Mitglied und unter den Nationalsozialisten zu sechs Jahren Konzentrationslager verurteilt, versuchte, die erregte Belegschaft von einer Demonstration abzuhalten. Als ihm das nicht gelang, bedrohte er die Arbeiterschaft damit, „im Falle einer Teilnahme an der Demonstration dem Betriebsschutz den Auftrag 3 5 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Notiz vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, A.1M 6 9 0 / 5 7 , Bl. 104). 353 BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Analyse der Schwerpunkte des 17.6.1953 in der Industrie, vom 8.9.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 159/03, Bl. 152). 3 5 4 Urteil, la Ks 3 6 3 / 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU, 2 7 / 5 4 , Gerichtsakte, Bl. 139). 3 5 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Verfügung über die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens vom 1 9 . 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU, 2 7 / 5 4 , Gerichtsakte, Bl. 14). 3 5 6 Vgl. SED-KL Leipzig-Land, Ortsparteileitung Böhlitz-Ehrenberg, Berichterstattung über 17.6.1953, o . D . (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 9 / 4 2 8 ) . 357 Vgl. SED-BL Leipzig, An den Genossen Stepanow, Betr.: Teilnahme von Mitgliedern unserer Partei an der Demonstration am 17.6.1953, vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 0 ) ; das Folgende, auch die Zitate, ebd.

172

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

zu geben, auf die Belegschaft zu schießen". Das löste einen erregten Tumult aus. Die Mehrzahl der Betriebsangehörigen verließ trotzdem das Werksgelände, um sich den öffentlichen Protesten anzuschließen. Der deutsche Hauptdirektor Heinz Thiemicke suchte daraufhin den sowjetischen Generaldirektor Kulkow auf, schilderte die Situation und bat um Unterstützung. Während die Besprechung beim Generaldirektor stattfand, erhielt dieser die telefonische Mitteilung über die Verhängung des Ausnahmezustandes in Leipzig. Er habe empfohlen, „der Demonstration nachzugehen und die Belegschaft vom Tun abzuhalten". Diesem Rat folgten vier Angehörigen der Werkleitung. Sie liefen den Demonstranten nach, setzten sich an die Spitze des Zuges und versuchten angeblich, die Betriebsangehörigen zur Rückkehr in den Betrieb zu veranlassen. Sie marschierten mit bis zum Lindenauer Markt, und immer in der ersten Reihe. Nach eigenen Aussagen kam dem 1. Werkdirektor unterwegs der Gedanke, „daß hier etwas nicht in Ordnung ist". Er eilte später in den Betrieb nach BöhlitzEhrenberg zurück, ging zum Parteisekretär und erbat seinen Rat. Die anderen Wirtschaftsfunktionäre kehrten nach der Demonstration nicht wieder in den Betrieb zurück, sondern erst am Morgen des 18. Juni. An diesem Tag nahm ein Drittel der Belegschaft die Arbeit gar nicht erst auf, sie setzte den Streik bis 13.30 Uhr fort. 3 5 8 Die SED-Bezirksleitung informierte um 12.10 Uhr das MfS, daß sie gemeinsam mit einem „starken Kommando der Volkspolizei auf Anweisung von Minister Heinrich Rau vier Leute verhaften" solle. 359 Es handelte sich um zwei Angestellte und zwei Arbeiter im Alter zwischen 24 und 40 fahren. Später kamen weitere neun Belegschaftsmitglieder hinzu, die alle zum Streikkomitee gehört hatten. 3 6 0

358 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 209). In Böhlitz-Ehrenberg streikten außerdem folgende Betriebe: der VEB Megu am 16. Juni von 6.10 bis 10 Uhr und am 17. Juni von 14 bis 20 Uhr (ebd., Bl. 215f.); EKM Dieselmotorenwerk am 18. Juni von 7.45 bis 15 Uhr. Im Dieselmotorenwerk verabschiedete die BGL eine Resolution gegen die DDR-Regierung. Die Streikleitung, bestehend aus 16 Betriebsangehörigen, beschlagnahmte Kraftfahrzeuge und Telefone im Betrieb. 21 Personen, darunter zwei Frauen, wurden von den 4 2 0 Belegschaftsmitgliedern später festgenommen (ebd., Bl. 221 f.). Nach der Niederschlagung des Aufstandes begründete die BGL ihre Aktion damit, daß sie sich keine andere Regierungsform wünsche, aber sie verlange Fachleute in der Regierung, Dummköpfe hätten dort nichts zu suchen. Die Resolution sollte an den Minister für Schwermaschinenbau, den Hohen Kommissar der UdSSR in Karlshorst, die Sowjetische Kommandantur in Leipzig und das Staatliche Rundfunkkomitee gehen (vgl. SED-KL Leipzig-Land, Information zu Böhlitz-Ehrenberg vom 20.6.1953 [SächsStAL, SED I V / 0 9 / 4 2 8 ] ) . 3 5 9 BV für Staatssicherheit, Telefonische Durchsage der BL vom 18.6.1953, 12.10 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 258, Bl. 18). 3 6 0 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Analyse der Schwerpunkte des 17.6.1953 in der Industrie vom 8 . 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 147). Die Verhafteten gehörten den Altersgruppen zwischen 24 und 4 0 Jahren an. Das Durchschnittsalter betrug 38,7 Jahre. Von zehn Verhafteten arbeiteten zwei als Technologen, zwei als Einrichter, einer als Kraftfahrer, die anderen als Facharbeiter im Betrieb.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

173

Gegen die vier Angehörigen der Werkleitung wurden bereits unmittelbar danach Parteiverfahren eingeleitet. Am 18. Juni beantragte Arbeitsdirektor Müller bei der Parteileitung seines Betriebes selbst die Durchführung eines Parteiverfahrens gegen sich. In seinem Antrag erklärte er, daß er seine Handlung „als einen Verrat an der Partei (betrachte), der unter den gegebenen Umständen in bezug auf die Schwere der Lage besonders hart zu verurteilen ist". 361 Die SED-Kreisleitung Leipzig-Land schlug für ihn Parteiausschluß und Entbindung von der staatlichen Funktion vor. 3 6 2 Auch die Staatssicherheit „bearbeitete diesen Personenkreis" durch mehrere Geheime Informanten, um „belastendes Material zu erhalten" für ihre Entlarvung. 3 6 3 Ende des Jahres 1953 waren alle vier staatlichen Leiter der Kugellagerfabrik noch im Amt. Offenbar hatte sich der sowjetische Generaldirektor für die „hochqualifizierten Fachkräfte" eingesetzt. In Vorbereitung der Umwandlung der SAG-Betriebe in volkseigene Betriebe am Jahresende schlug die SED-Bezirksleitung die Ablösung des technischen Direktors vor, obwohl er ein sehr guter Fachmann sei. 3 6 4 Das RAW „Einheit" in Engelsdorf - der Betrieb gehörte zum Reichsbahnamt Leipzig - arbeitete am 17. Juni bis Mittag ohne Unterbrechung. 3 6 5 Danach legten mehrere Abteilungen nach und nach die Arbeit nieder. Mitarbeiter der Wagenwerkstatt riefen zu einer Versammlung auf. Auch hier forderte die Belegschaft Rechenschaft über die Vorgänge in Berlin und Leipzig. Es kam zur Bildung einer Streikleitung und zur Annahme einer Resolution, an deren Spitze die Forderung nach Rücktritt der Regierung, freien und geheimen Wahlen und Freilassung aller politischen Häftlinge und Strafgefangenen standen. Am Zustandekommen dieses Dokuments soll der parteilose Tischler Seidel maßgeblich beteiligt gewesen sein. Die SED-Kreisleitung Leipzig-Land zeigte ihn später deshalb „als Rädelsführer" bei der Staatssicherheit an. 3 6 6 Die Resolution wurde „im Auftrag der Mehrheit der Belegschaft" verabschiedet. 367 Sie sollte sofort im Rundfunk der DDR bekanntgeben werden, andernfalls wollte die Belegschaft des RAW in den Streik treten. Den Überbringern der Resolution - eigens dafür wurde eine Delegation gewählt - sollten „keinerlei

361 Müller, Fritz, An die Parteileitung der BPO Leipziger Kugellager vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 , Bl. 329f.). 3 6 2 Vgl. SED-BL Leipzig, An den Genossen Stepanow, Betr.: Teilnahme von Mitgliedern unserer Partei an der Demonstration am 1 7 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SächsStAL, SED IV/2/12/590). 363 BV für Staatssicherheit Leipzig, Analyse der Schwerpunkte des 17.6.1953 in der Industrie vom 8 . 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 147). 3 6 4 Vgl. SED-BL Leipzig, Bericht an das Sekretariat über die Kader der Leitungen der SAG, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 6 / 4 3 0 ) . 3 6 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Pörschmann, Herbert, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, A.IM, 6 0 3 / 8 3 , Bd. 1, Bl. 30); vgl. SED-KL Leipzig, Informationen und Berichte, o . D . (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 3 6 6 Vgl. SED-KL Leipzig-Land, Liste der Rädelsführer, welche dem MfS gemeldet wurden, vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 0 ) . 367 Vgl. Deutsche Reichsbahn, RAW „Einheit" Leipzig-Engelsdorf, Resolution, 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 3 0 / 0 2 , Bl. 41); das folgende Zitat ebd.

174

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Nachteile entstehen" dürfen. Zu ihnen gehörten auch der Werkleiter und Kandidat der SED-Bezirksleitung Herbert Pörschmann, zwei Mitglieder der Betriebsgewerkschaftsleitung und der Verfasser der Resolution. Pörschmann ließ sich in diese Delegation wählen, obwohl er - nach eigenen Aussagen vor dem MfS - gegen die Resolution gestimmt hatte. Er verlangte dafür von der Belegschaft, daß die Arbeit umgehend aufgenommen werde. Die Staatssicherheit schenkte ihm Glauben. Im „Sachstandsbericht" hielt sie fest: „Der Werkleiter war sich darüber im klaren, dadurch erst die Belegschaft wieder zur Arbeit zu bewegen." 368 Pörschmann informierte auch sofort die Bezirksleitung der Partei, aber dort fand seine Aktion kein Verständnis. Der 1. SED-Bezirkschef Paul Fröhlich wies die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit deshalb an, „den Pörschmann festzunehmen". 3 6 9 Die Delegation erreichte jedenfalls das Funkhaus und übergab dem Studio Leipzig die Resolution. Die Mitarbeiter des Rundfunks erklärten der Delegation, die Resolution aus „technischen Gründen" nicht senden zu können. 370 Weil damit die Gefahr einer Arbeitsniederlegung bestand, setzte die SED-Kreisleitung sofort Betriebsparteischüler als Agitatoren im RAW ein. Am Morgen des 18. Juni ging bei der Einsatzleitung der Leipziger Polizei die Meldung aus dem RAW Engelsdorf ein, daß etwa 3 000 Arbeiter „eine drohende Haltung einnehmen" würden. 371 Einige Abteilungen setzten den Streik tatsächlich fort. Infolge der „Isolierung der Streikleitung von der Belegschaft" blieb ein Streik der Gesamtbelegschaft aus. 372 Gegen Mittag arbeitete das RAW wieder. Am Nachmittag kam es erneut in zwei Abteilungen - so die Parteiinformation - zu „Zusammenrottungen". Durch das „Eingreifen der sowjetischen Freunde" wurde die „Ordnung im Betrieb wieder hergestellt". 373 In der Nacht vom 18. zum 19. Juni nahm die Staatssicherheit acht Betriebsangehörige des RAW, darunter Werkdirektor Pörschmann, als „Provokateure" fest. Pörschmann wurde jedoch bereits am 27. Juni aus der Haft entlassen, „da ihm keine feindliche Tätigkeit nachgewiesen werden konnte". 374 Anfang September wurde er allerdings als Werkdirektor abgelöst und im Oktober aus der SED ausgeschlossen. 375 Die Bezirksparteikontrollkommission ging dabei davon aus, daß Pörschmann die „feindlichen Maßnahmen der Provokateure unterstützte, indem er sich an die 3 6 8 BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Pörschmann, Herbert, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, A.IM, 6 0 3 / 8 3 , Bd. 1, Bl. 30). 3 6 9 BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung des Genossen Fröhlich vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 1). 370 BV für Staatssicherheit Leipzig, Sachstandsbericht, vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, A.IM, 6 0 3 / 8 3 , Bd. 1, Bl. 30). 371 Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzleitung, Ereignismeldungen sowie Auswertung derselben vom 17. und 18.6.1953, vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 4 6 ) . 372 Vgl. Reichsbahnamt Leipzig, Polit.-abteilung, Bericht an die Politabteilung der Rbd Halle vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED, I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 373 Ebd. 374 BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Pörschmann, Herbert, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, KK 5 8 3 8 / 6 0 ) . 375 Von 1955 bis 1978 arbeitete er als IM „Technik" für die Staatssicherheit; vgl. ebd.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

175

Spitze einer von den Provokateuren gebildeten Delegation stellte [...]. Dadurch wurde Pörschmann zum Verräter an der Arbeiterklasse und hat somit das Recht verwirkt, Mitglied der Partei zu sein." 376 Im Kreis Altenburg kam es am 18. Juni zu ersten Arbeitsniederlegungen. In den Streik traten Teile der Belegschaft des VEB Maschinenfabrik „lohn Scheer" Meuselwitz. Zur Maschinenfabrik gehörten fünf Werke, die auch spezielle Dreh- und Schleifmaschinen herstellten. 1 365 Belegschaftsangehörige, darunter 316 SED-Mitglieder, waren vorwiegend für Export- und Reparationsaufträge tätig. 377 Bereits am 11. Juni war es in einer Abteilung zu einem kurzen Streik gekommen, nachdem die Werkleitung per Aushang die Kennziffern für die Normenerhöhung bekanntgegeben hatte. 3 7 8 Am 17. Juni diskutierten die Maschinenbauer ebenfalls über die Ostberliner Ereignisse und erklärten sich solidarisch mit den Bauarbeitern. Sofort wurden Agitatoren eingesetzt. Diese notierten hinterher: „Die Arbeit geht zwar in Ruhe weiter, aber es gärt in der Masse und treten Stimmungen hinsichtlich eines Generalstreiks auf." 3 7 9 Am anderen Morgen legten in den Werken I und II Angehörige der Frühschicht die Arbeit nieder und wählten eine Delegation, die der zentralen Partei- und Gewerkschaftsleitung die Forderungen nach sofortiger Senkung der HOPreise, freien und geheimen Wahlen und Wiedereinsetzung der Bauern in ihre Höfe überbringen sollte. 3 8 0 Die Arbeitsniederlegungen blieben auf die Werke I und II beschränkt. Ein Versuch der Streikenden, die übrigen Betriebsteile einzubeziehen, scheiterte daran, daß die Parteileitung alle Betriebstelefone besetzt hatte, um Kontaktaufnahmen mit den anderen Werken zu verhindern. 3 8 1 Nachdem die Betriebsparteileitung die sofortige Weiterleitung der Forderungen zugesichert hatte, wurde die Arbeit gegen 13 Uhr zunächst wieder aufgenommen. Die SED-Kreisleitung Altenburg ordnete danach, auf der Grundlage der Weisung von Walter Ulbricht, die Verhaftung der Streikleitung - zehn Betriebsangehörige - an. Daraufhin legten am 22. Juni früh 6 Uhr von 600 Werksangehörigen (Werk I) 400 die Arbeit nieder. 3 8 2 Bereits um 8 Uhr informierte die MfS-Kreisdienststelle Altenburg die Bezirksverwaltung über

376 SED-BL Leipzig, BPKK, Durchgeführte und bestätigte Parteiverfahren im Zusammenhang mit dem 17.6.1953, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 5 8 ) . 377 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, o. D. (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . 378 Vgl. ZK der SED, Brigade Zylla Altenburg, Analyse über die Lage in der Parteiorganisation des VEB WMW Maschinenfabrik „John Scheer" vom 7 . 9 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 6 4 , Bl. 101). 379 SED-BPO, VEB Maschinenfabrik „John Scheer", Aktennotiz, o . D . (SAPMO, BA, I V / 2 / 5 / 1 2 9 3 , Bl. 2 9 3 ) . 3 8 0 Vgl. SED KL Altenburg, Informationsbericht vom 18.6.1953, 6.55 Uhr (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . 381 Vgl. SED-KL Altenburg, KPKK, Bericht über VEB Textima Altenburg, vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 1 / 0 8 8 ) ; im folgenden vgl. ebd. 3 8 2 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , 8.00 Uhr bis 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 108).

176

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

die Beendigung des Streiks: „Dies geschah auf Einwirken der VP [...]. Die Freunde befinden sich schon dort." 3 8 3 In der Meuselwitzer Maschinenfabrik soll es in diesen Tagen, ebenso wie in der Altenburger Textima, Initiativen zur Gründung einer neuen SPD gegeben haben. Ehemalige SPD-Mitglieder hätten bereits Fragebögen erhalten. SEDBezirksleitung und Staatssicherheit verfolgten bis Jahresende 1953 derartige „Spuren" ohne nachweisbare Ergebnisse. Das MfS mußte eingestehen, daß die „getätigten Ermittlungen und Zeugenvernehmungen [...] keine Hinweise für das Vorhandensein einer illegalen SPD-Gruppe (ergaben), jedoch muß festgestellt werden, daß in diesem Betrieb bei einer Stärke der BPO von 325 Genossen 86 früher der SPD angehörten". 3 8 4 Das benachbarte Altenburg wurde später Schwerpunkt in der Auseinandersetzung der SED-Führung mit dem „Sozialdemokratismus". Noch Ende Januar 1954 wurde auf einer Kreisparteiaktivtagung der Beschluß gefaßt: „Räuchert die Agentennester des Ostbüros im Kreis Altenburg aus!" 3 8 5 Die Textima Altenburg bildete den Ausgangspunkt für derartige Maßnahmen. Dieser Altenburger Betrieb bestand aus zwei Werken mit insgesamt 1 566 Belegschaftsmitgliedern, darunter 382 Angehörige der SED. 3 8 6 Die produzierten Nähmaschinen wurden zu 80 Prozent exportiert oder als Reparationsleistungen in die Sowjetunion geliefert. Ein großer Teil der Belegschaft hatte bereits 20 bis 30 Jahre vor der Enteignung 1946 hier gearbeitet. Die Ereignisse am 17. Juni in der Textima Altenburg unterscheiden sich kaum von denen in anderen Betrieben. Es hat ähnliche Forderungen wie in den meisten Betrieben gegeben. Auch hier dominierte das Verlangen nach Rücktritt der Regierung, Neuwahlen und Verbesserungen der Lebenslage. Mit Arbeitsniederlegungen sollte dem Nachdruck verliehen werden. Auch eine Streikleitung aus neun Mitgliedern, darunter zwei Frauen, wurde gebildet. Das Geschehen in der Textima war insofern für die SED und die Staatssicherheit höchst besorgniserregend, weil am 18./19. Juni in diesem Betrieb 54 SEDMitglieder ihren Mitgliedsausweis demonstrativ abgegeben hatten, darunter 20 ehemalige SPD-Mitglieder und zwei KPD-Mitglieder, die restlichen hatten vor 1933 keiner Partei angehört. 387 Die meisten Austritte entfielen auf die Dreherei im Werk I, wo von 22 Mitgliedern 18 die SED verließen. Dazu kamen zahlreiche Austritte aus der FDJ und aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. (Im Kreis Altenburg traten etwa 200 DSF-Mitglieder im 3 8 3 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Altenburg, Information vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , 8.00 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 3 9 , Bl. 109f.). 3 8 4 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Altenburg, Bericht über SPD-Konzentrierung in den Betrieben und Stadtgebiet von Altenburg vom 27.10.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 115, Bl. 39f.). 3 8 5 SED KL Altenburg, Kreisparteiaktivtagung vom 27.1.1954, S. 1 - 1 4 (SächsStAL, SED IV/4/01/019). 3 8 6 Vgl. SED-KL Altenburg, KPKK, Bericht über VEB Textima Altenburg vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 1 / 0 8 8 ) . 387 Vgl. ebd., S. 2.

Die Streikbewegung im Bezirk Leipzig

177

Zusammenhang mit der militärischen Niederschlagung des Aufstandes aus dieser Gesellschaft aus.) Eine derartige Häufung von Austritten aus der SED gab es nach bisherigem Kenntnisstand am 17./18. Juni in keinem anderen Betrieb der DDR. Lediglich in der Döbelner Zuckerfabrik taten 31 SED-Mitglieder denselben Schritt. 3 8 8 Die Situation in der Textima Altenburg verschärfte sich, als am 19. Juni auf Anweisung der SED-Führung aus Berlin „aus Anlaß der Niederschlagung des faschistischen Putschversuches alle öffentlichen Gebäude, Betriebe und Schulen sowie die Fahrzeuge der Straßenbahnen beflaggt und mit neuen Losungen wie ,Es lebe unser Präsident W. Pieck', ,Es lebe das ZK der SED', ,Mit der Regierung O. Grotewohl für ein besseres Leben', .Nieder mit den faschistischen Provokateuren', ,Dank den sowjetischen Soldaten' zu versehen" waren. 3 8 9 Als an diesem Morgen die Fahne im Altenburger Werk II gehißt werden sollte, stellte sich eine Delegation von 20 Mitarbeitern, darunter auch SED-Mitglieder, dem mit der Forderung entgegen, die Fahne „zu Ehren der Opfer auf Halbmast" zu setzen. 3 9 0 Die SED-Kreisleitung meldete daraufhin an die Bezirksleitung: „Die Delegation war der Meinung, daß keinerlei Ursachen vorliegen, einen Sieg zu feiern, sie betrauern im Gegenteil ihre Brüder in Berlin und anderen Städten, die von der Volkspolizei und den Sowjettruppen niedergeschossen wurden." 3 9 1 Die SED-Kreisleitung Altenburg diskutierte daraufhin mit der Betriebsparteiorganisation, doch nach zwei Stunden konnten von 30 Genossen nur zwei für die Beflaggung des Betriebes gewonnen werden. Auch die sofort eingesetzten 22 Agitatoren der Kreisparteischule konnten nicht verhindern, daß in diesem Werk 75 Arbeiter für kurze Zeit die Arbeit niederlegten, um die Fahnenhissung zu verhindern. Immerhin erreichten sie damit, daß die Fahne erst nach Feierabend aufgezogen werden konnte. 3 9 2 Am gleichen Tage wurden auf Anweisung eines Meisters (SED) aus der Abteilung Montage des Werkes II Transparente, Bilder, Plakate und die Friedensecke zerstört. Die Kreisparteikontrollkommission konstatierte einige Tage später: „Hier mußte man feststellen, daß sich unsere Genossen vom Rias und von den Provokateuren beeinflussen ließen." 3 9 3

3 8 8 Vgl. SED-BL Leipzig, Aktennotiz, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 7 ) . 3 8 9 SED-BL Leipzig, Aktennotiz vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) . 3 9 0 Vgl. SED-KL Altenburg, Informationen aus Altenburg vom 19.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . 391 Ebd. 3 9 2 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse des Betriebes und der SED-PO Textima Altenburg über die Ereignisse und die politische Arbeit seit dem 9. Juni und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 6 4 , Bl. 82). Ein ähnlicher Vorgang ereignete sich im VEB Betonwerk Bad Lausick, Kreis Grimma, wo der BGL-Vorsitzende mit der gleichen Begründung die Fahne auf Halbmast setzte; vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 4 7 ) . 393 SED-KL Altenburg, KPKK, Bericht über VEB Textima Altenburg vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 1 / 0 8 8 ) .

178

Der 17. Juni im Bezirk

Leipzig

Am 20. Juni sollten zwölf Agitatoren vom benachbarten Teerverarbeitungswerk Rositz im Werk II der Textima die Nähmaschinenwerker zur „Einsicht bringen" und übergaben einen „Offenen Brief". 394 Parallel dazu verhaftete die Staatssicherheit sechs Betriebsangehörige aus dem Werk II, die in den Diskussionen und Aktionen als „Rädelsführer" aufgefallen waren, unter ihnen ein 42 Jahre altes SED-Mitglied, drei junge Frauen im Alter von 21 bzw. 22 Jahren und ein 51jähriges ehemaliges Parteimitglied, das im Februar 1953 wegen „Doppelzüngelei" aus der SED ausgeschlossen worden war. 395 Nach diesen Festnahmen drohte die Belegschaft mit erneutem Streik für den 22. Juni. An diesem Tage fand tatsächlich im gesamten Werk I, mit Ausnahme der Verwaltung, eine fast dreistündige Arbeitsunterbrechung und eine Versammlung statt, die die Freilassung der inhaftierten Kollegen verlangte. 396 Eine ZK-Brigade suchte deswegen wochenlang nach den Drahtziehern der Proteste und kam schließlich zu der unbewiesenen Behauptung: „Der Ablauf der Ereignisse im Juni und danach in der Textima zeigt klar, daß im Betrieb eine illegale Zentrale des Ostbüros sitzt, deren Leiter selbst nicht offen in Erscheinung getreten sind, und demzufolge noch im Betrieb sind." 397

10.

Z u m Schießbefehl in Leipzig

Noch bevor die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand über den Bezirk Leipzig verhängt hatte, griffen Leipziger Volkspolizisten erstmals zu ihren Waffen. Wenn die zeitlichen Abläufe auf Leipzigs Straßen unter dem Aspekt des Umschlagens von friedlichen Demonstrationen in gewaltsame Aktionen analysiert werden, ergibt sich die Schlußfolgerung, daß sich dieser Prozeß erst allmählich entwickelte. In dem Moment, als Versuche der Demonstranten scheiterten, Polizisten und Funktionäre auf ihre Seite zu bringen, gaben sie ihre vorwiegend friedliche Haltung auf und wollten mit Gewalt ihre Ziele wie beispielsweise die Befreiung der politischen Häftlinge in der Untersuchungshaftanstalt erreichen. In der Regel waren es zunächst einige Akteure, die mit Angriffen auf Personen und mit unsinnigen Sachbeschädigungen - gemeint sind dabei nicht zerstörte Transparente, Losungen, Bildersturm u. ä. - begannen. Sie gehörten meist nicht zu Betriebsbelegschaften, die mehr oder weniger geschlossen unterwegs waren, sondern hatten sich als Einzelpersonen den

394 Vgl. ebd., S. 2. 395 Vgl. BDVP, Abt. K, Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 238f.). 3 9 6 SED-KL Altenburg, KPKK, Bericht über VEB Textima Altenburg vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 1 / 0 8 8 ) . 397 SED-BL, Analyse des Betriebes und der SED-PO Textima Altenburg über die Ereignisse und die politische Arbeit seit dem 9. Juni und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen, o. D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 6 4 , Bl. 84).

Zum Schießbefehl in Leipzig

179

Demonstrationszügen angeschlossen. Die Masse der Demonstranten lehnte Gewalttätigkeiten ab, konnte sie jedoch nicht verhindern. Je mehr die Demonstranten ihre Ohnmacht verspürten, Veränderungen friedlich durchzusetzen, nahm die Gewaltbereitschaft auch unter ihnen zu, so daß sich manche mitreißen ließen. Das war vor allem in dem Augenblick der Fall, als die Volkspolizisten die Forderungen und Aktionen der Leipziger mit den Waffen beantworteten. Als in den Auseinandersetzungen vor der Untersuchungshaftanstalt die Gefahr bestand, daß Demonstranten in Dienststellen eindringen könnten, schössen Schutzpolizisten erstmals mit scharfer Munition. Zunächst hatte das Verhalten der Leipziger Volkspolizei Anlaß zu der Hoffnung gegeben, alles würde friedlich verlaufen. Zwar erhielten die Einsatzkräfte bereits in den Vormittagsstunden Munition, doch die Schußwaffen blieben vorerst noch unberührt. Der Gebrauch der Waffe war zwar nicht erlaubt, die Polizei hatte aber den Befehl, ihre Dienststellen „unter keinen Umständen" den Demonstranten zu überlassen. Noch immer galt die Parole: „Nicht provozieren lassen". Kein Polizist griff ein, als Demonstranten am Vormittag durch die Innenstadt zogen, sich am Karl-Marx-Platz versammelten und den Oberbürgermeister auspfiffen. Meldungen, daß Ostberliner Polizisten auf die Seite der Aufständischen gegangen seien, 3 9 8 nährten die Hoffnungen auf Solidarisierung der Leipziger Polizei mit den Protestierenden. Der Umschlag im Verhalten der örtlichen Staatsmacht vom Beobachten und Registrieren ungewöhnlicher Vorgänge zur gewaltsamen Niederschlagung der Proteste vollzog sich nicht schlagartig und nicht überall gleichzeitig. Während die Polizisten beispielsweise vor der Untersuchungshaftanstalt bereits auf Menschen schössen, zogen sich die Einsatzkommandos vor der FDJ-Bezirksleitung zurück, ohne die Waffen zu gebrauchen. Kurz nach 17 Uhr wies der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei alle Amtsleiter, Politstellvertreter und Parteisekretäre der VPKÄ und des Betriebsschutzes an, „gegen Ruhestörer und Verbrecher mit den härtesten Mitteln" vorzugehen. 399 Das schloß de facto den Einsatz der Schußwaffe ein, ohne diesen ausdrücklich zu erwähnen. Auch die neueren Forschungen zum 17. Juni 1953 haben bisher keinen zentralen Einsatzbefehl des Ministeriums des Inneren für den Schußwaffengebrauch der Deutschen Volkspolizei nachweisen können. Offenbar hat es ihn nicht gegeben. Laut Aussage eines Inspekteurs der Hauptverwaltung der Volkspolizei wäre es durchaus möglich gewesen, „Schießbefehl von Berlin aus zu erteilen". 400 Doch da zahlreiche Kreise und Bezirke von den Ereignissen nicht berührt wurden, wie er meinte, sollte man vor Ort selbst entscheiden, „zu welchen Mitteln man greifen mußte". 398 Vgl. Aus Bericht des VPKA und Teilberichten der Reviere, vom 26.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 399 BDVP Leipzig, SSD-Fernschreiben vom 17.6.1953, 17.25 Uhr (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 34). 400 BDVP-Dresden, Niederschrift über die Tagung der Politstellvertreter am 23.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 81); das folgende Zitat ebd.

180

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

Fröhlich war am frühen Nachmittag aus Berlin zurückgekehrt. Welche Order er dort erhalten hatte, läßt sich nicht sagen. Es gibt auch noch andere offene Fragen: War sein Befehl, auf Demonstranten schießen zu lassen, mit dem sowjetischen Kommandanten abgestimmt? Weshalb verhängte der sowjetische Stadtkommandant erst um 16 Uhr den Ausnahmezustand über den Bezirk Leipzig? Das Ausmaß und die frühe politische Ausrichtung der Bürgerproteste ließen spätestens seit Mittag das Scheitern jener Strategie deutlich werden, „die Demonstranten in die Seitenstraßen abzudrängen" und sie dort „zu zerstreuen". 4 0 1 Auch die Befriedung der Konfliktherde mit eigenen Polizeikräften war bereits seit Mittag ausgeschlossen. Trotzdem wartete die sowjetische Kommandantur noch ab, und erst nach den ersten Todesopfern in Leipzig - bis 16 Uhr waren bereits mindestens zwei tote Demonstranten bzw. Passanten zu beklagen - übernahmen die sowjetischen Kontrolloffiziere die oberste Staatsgewalt in der Messestadt und im Bezirk. Für Leipzig ist nachweisbar, daß der Befehl zum Schießen mündlich erteilt wurde. Bezirksparteichef Fröhlich und der Bezirkschef der Volkspolizei Winkelmann rechtfertigten nach der Niederschlagung des Aufstandes nicht nur den Schußwaffeneinsatz, sondern kritisierten sehr heftig die anfängliche Zurückhaltung der Leipziger Polizeikräfte und aller Partei- und Staatsfunktionäre gegenüber den „Provokateuren" und machten deren passive Haltung für die Ausdehnung der Aufstandsbewegung verantwortlich. 4 0 2 Winkelmann brüstete sich auf einer Parteiaktivtagung seiner Behörde, an der auch Fröhlich teilnahm: „Ich hatte keinen Schießbefehl, trotzdem habe ich die Anweisung zum Schießen gegeben." 4 0 3 Im Bezirk Leipzig wurden rund 1 500 Schuß von den Polizeikräften (ohne KVP, MfS, sowjetische Organe) abgegeben. 4 0 4 An anderer Stelle wird berichtet, daß die eingesetzten Volkspolizisten (ohne KVP und Staatssicherheit) rund 3 200 Schuß durch Karabiner und Pistolen „auf die Provokateure und Angreifer" inklusive Warnschüsse abgaben. 4 0 5 Das ZK der SED sprach der Leipziger Volkspolizei ausdrücklich „Anerkennung" für ihr Verhalten am 17. Juni aus. 4 0 6 6 0 0 00 Mark wurden als Prämien zur Verfügung gestellt. Bis zum 22. Juli wurden neun Volkspolizisten befördert, 159 erhielten Prämien, weitere 159 wurden belobigt, und fünf konnten sich kostenlos an der Ostsee erholen. 4 0 7

401 Vgl. SED-KL Leipzig, An die SKK, Übersicht über die Entwicklung des Putsches am 17.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 4 0 2 Vgl. u.a. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/3/147). 4 0 3 BDVP Leipzig, Parteiaktivtagung vom 1.8.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 5 ) . 4 0 4 Vgl. BDVP Leipzig, Offiziersversammlung vom 11.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 1 0 ) . 4 0 5 Vgl. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 171). 4 0 6 Vgl. BDVP Leipzig, Offiziersversammlung vom 11.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 1 0 ) . 407 Vgl. BDVP Leipzig, Parteiaktivtagung vom 2 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 5 ) .

Zum Schießbefehl in Leipzig

181

Während die Waffenstatistik im internen Kreis präsentiert wurde, konnte die Leitung der Volkspolizei noch keine genauen Angaben über die Zahl der Toten und Verletzten auf Seiten der „Aufrührer" machen. Sie ging davon aus, „daß sie in Leipzig höher zu sein scheint als in anderen Städten". 4 0 8 Bis zum 29. Juni registrierte sie für den Bezirk Leipzig: einen getöteten Offizier, sieben Tote auf „Seiten der Demonstranten, Angreifer und Zivilisten", 35 verletzte Volkspolizisten - fast ausschließlich verletzt durch Steinwürfe und Knüppel und rund 60 verletzte Demonstranten, von denen die Mehrzahl mit schweren Schußverletzungen im Krankenhaus lag. Sicherlich kann davon ausgegangen werden, daß die Zahl der Verletzten auf Seiten der Demonstranten weitaus höher war, da sich ambulant behandelte Verletzte - aus Angst vor Verfolgung - nicht gemeldet bzw. offenbart haben d ü r f t e n . Angesichts des Munitionsverbrauchs nur allein der Volkspolizei ist es erstaunlich, daß die Verluste an Menschenleben nicht noch höher ausfielen, zumal immer in größere Menschenansammlungen geschossen wurde. Die Getöteten waren, bis auf die 65jährige Rentnerin, Arbeiter oder Lehrlinge. In den Leipziger Betrieben kursierte deshalb das Wort von der Polizei als „Arbeitermörder". Diesem Vorwurf begegnete der Chef der Volkspolizei mit der zynischen Aussage: „Ich habe schon Meldungen, die besagen, wir sind Arbeitermörder. Aber wenn wir auch schießen, wenn sie unsere Regierung stürzen wollen, werden wir auch auf Arbeiter schießen, die einen Schlosserkittel tragen und in Wirklichkeit Agenten sind [...]. Und wenn bei der faschistischen Provokation »Arbeiter' erschossen wurden, so ist das in Ordnung, denn es sind Provokateure, die unsere Regierung stürzen wollten." 4 0 9 In diesem Freund-Feind-Denken ging man auch mit den Toten und ihren Angehörigen um. Die Leichen der sieben getöteten Demonstranten bzw. Passanten wurden beschlagnahmt und in einer geheimen Aktion unter militärischem Schutz im Leipziger Krematorium am 20. Juni von 2.15 bis 7.30 Uhr verbrannt. 4 1 0 Um die Besetzung des Südfriedhofs, wo sich das Krematorium befand, durch bewaffnete sowjetische Soldaten in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, wurde behauptet, daß sich „Gelbhemden und radfahrende verdächtige Jugendliche diesen Friedhof als Treffpunkt" ausgewählt hätten. 411 Bis zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht alle Familien über den Tod ihrer Angehörigen benachrichtigt. Im Falle des jüngsten Opfers, des 15jährigen Lehrlings Paul Ochsenbauer, erfuhren die Eltern und Geschwister erst am 1. Juli davon. 412 Der Polizei war der Tod des jungen Mannes bekannt, da er gleichfalls am

408 Vgl. BDVP Leipzig, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, vom 29.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 171 f.). 409 BDVP Leipzig, Parteiaktivtagung vom 1.8.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 5 ) . 410 Vgl. BDVP Leipzig, Aktennotiz der Abt. K - Dezernat AK - MUK vom 20.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 376). 411 SED-KL Leipzig, An den 1. Sekretär des SB, 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/475). 412 Vgl. VPKA Leipzig, Aktennotiz der Abt. K vom 1.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/42).

182

Der 17. Juni im Bezirk Leipzig

20. Juni unter seinem Namen verbrannt worden war. Die beschlagnahmten Urnen wurden erst nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes für Leipzig für den 15. Juli zur Bestattung freigegeben, wobei die Trauerfeiern durch die Kriminalpolizei bzw. die Staatssicherheit überwacht wurden. Ein Jahr später gab es eine polizeiliche „Streng vertrauliche Anweisung", wonach die Angehörigen der zu Tode gekommenen Personen vom 16. bis 18. Juni 1954 und während der Volkswahlen besonders zu beobachten seien. 413 Während der Tod der meisten Opfer nicht an die Öffentlichkeit dringen durfte und die Erschossenen als „Provokateure" diffamiert oder - wie die Rentnerin - als „Neugierige" bezeichnet wurden, schlachtete die SED den Tod des VP-Offiziers Erich Kunze als Märtyrertod propagandistisch aus. Der 28jährige vierfache Familienvater aus dem vogtländischen Adorf wurde von einer sowjetischen Patrouille in der Nacht vom 18. zum 19. Juni in Leipzig angeschossen. Er verstarb wenige Stunden später an seinen schweren Hirnverletzungen. Kunze befand sich mit drei weiteren Volkspolizisten mit einem Dienstfahrzeug - einem offenen Kübelwagen F 9 - auf einer Fahrt nach Delitzsch, als der Wagen in der Nähe des Leipziger Nordplatzes von zwei sowjetischen Soldaten mit Maschinenpistolen ohne Vorwarnung beschossen wurde. 4 1 4 Den Angehörigen und der Öffentlichkeit wurde sein Tod so dargestellt, wie es der Innenminister Willi Stoph auf der I. Zentralen Arbeitskonferenz der Deutschen Volkspolizei im Juli 1953 behauptete - und dabei auch den Namen von Erich Kunze nannte - wonach die getöteten Volkspolizisten ihr Leben im Kampf gegen die Putschisten geopfert hatten. 4 1 5

413 Das Schreiben der Abt. K des VPKA vom 15.6.1953 war überschrieben: „Mitteilung über Personen, die anlässig [sie!] des Tages X zu Schaden kamen". Dann werden die vier toten Demonstranten aufgeführt und gefordert, daß sich die Abt. S für sie interessiert. Der makabere Irrtum wurde lediglich mit dem Zusatz „Berichtigung" korrigiert. Dort heißt es: „Nicht die zu 1 bis 4 aufgeführten Personen sind unter Kontrolle zu nehmen, sondern deren Angehörige, die sich besonders aggressiv benommen haben." Vgl. BDVP Leipzig (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 379). 414 Vgl. BDVP Leipzig, Abt. K, AK/MUK, Leichensache Kunze. Die Unterlagen befinden sich nicht in dem Bestand der BDVP, der 1993 ins Staatsarchiv überführt wurde. Eine Ablichtung wurde freundlicherweise vom Polizeipräsidium Leipzig zur Verfügung gestellt. 415 Vgl. Geschichte der Deutschen Volkspolizei, S. 226.

III. Der 17. Juni im Bezirk Dresden 1.

Warnung vor „Westberliner Agenten"

Kurz vor Mitternacht klingelte in der SED-Bezirksleitung Dresden das Telefon. Das Sekretariat des ZK wollte den 1. Sekretär Hans Riesner sprechen, der jedoch weilte gerade im Urlaub in Ungarn. Der diensthabende Parteifunktionär erhielt den Auftrag, den „Apparat der Bezirksleitung mit je einem verantwortlichen Sekretär bzw. Abteilungsleiter zu besetzen". 1 Drei Stunden später war klar, aus welchem Grund die führenden Genossen in so früher Stunde zum „Telefondienst" vergattert worden waren: „Die 1. und 2. Sekretäre sind zu verständigen, daß damit zu rechnen ist, daß im Laufe der Nacht oder den frühen Morgenstunden bestimmte Kräfte aus Berlin in den Betrieben versuchen werden, Unruhe zu stiften in Zusammenhang mit der Frage der Normen. Es erscheint notwendig, die Partei vorzubereiten, damit sie nicht überrascht werden kann." 2 Wenig später wurden der 2. Sekretär, Max Brosselt, der Sekretär für Wirtschaft, Rätzer, sowie der Chef der Bezirksparteikontrollkommission, Arthur Ullrich, nach Berlin beordert. Bevor sie ihre Fahrt antraten, ließ Brosselt alle SED-Kreissekretäre über die Botschaft aus Berlin unterrichten. Als Vertreter während seiner Abwesenheit beauftragte er den Sekretär für Agitation und Propaganda, Heinz Wolf.3 Der amtierende Dresdener Parteichef informierte auch die Spitzenfunktionäre des Staatsapparates und teilte dem Vorsitzenden des FDGB-Bezirksvorstandes, Tschirner, mit, daß „bestimmte Vorkommnisse zu erwarten" seien. 4 Schon vor Mitternacht war der Chef der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Oberstleutnant Harnisch, von „der befreundeten Dienststelle" in Kenntnis gesetzt worden, daß „auf Grund verstärkter Feindtätigkeit Sicherheitsmaßnahmen zu treffen sind". 5 Seine Nachfrage in der Berliner MfS-Zentrale blieb allerdings zunächst unbeantwortet. Harnisch informierte seinerseits alle Kreisdienststellenleiter, daß sie sich auf „verstärkte Feindtätigkeit in Form von Gerüchten und Provokationen" einstellen sollten. Er wies sie an, „erkennbare Agenten und Saboteure nach Rücksprache dingfest [zu] machen". Gegen 5 Uhr, kurz bevor die Frühschicht in vielen Industriebetrieben begann, teilte er mit, es sei damit zu rechnen, „daß aus Westberlin Provokateure in den Betrieben erscheinen, die gegen die Normen-Erhöhung Provokationen durchführen". 1 2 3 4 5

Telefonische Durchsage vom ZK der SED am 16.6.1953,23.20 Uhr (SächsHStA, IV/2/12/008). Telefonische Durchsage vom ZK der SED am 17.6.1953, 3.00 Uhr (SächsHStA, IV/2/12/008). SED-BL Dresden, Aktennotiz vom 15.10.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 ) . Vgl. SED-BL Dresden, Parteiaktivtagung vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, I V / 2 / 2 / 0 0 1 , Bl. 68). Bericht, Betr.: Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 7).

SED SED

SED und

184

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

Die Staatssicherheit sollte sich deshalb sofort mit den Parteisekretären in Verbindung setzen, um die Partei in den Betrieben entsprechend zu „mobilisieren". Wann dies in Dresden geschah, läßt sich nicht nachweisen. Das Verhalten der Parteisekretäre in den Betrieben läßt jedoch vermuten, daß sie zu Beginn der Frühschicht noch nicht informiert waren. Der Leiter der Dresdener Volkspolizei erhielt ebenfalls am frühen Morgen des 17. Juni eine Meldung, in der es hieß, daß im „demokratischen Sektor Berlins und verschiedenen Bezirken Unruhen unter der Bevölkerung aufgetreten sind, die durch westliche nazistische Provokateure hervorgerufen wurden". 6 Der Bezirkspolizeichef ließ daraufhin „erhöhte Alarmbereitschaft" auslösen 7 , die jedoch ausgerechnet für den Betriebsschutz sowie den Strafvollzug nicht galt bzw. wieder rückgängig gemacht wurde. Da der Alarmplan nach der Bezirksbildung nicht aktualisiert worden war, konnten überhaupt nur zehn Prozent der Angehörigen der Volkspolizei in der Bezirksbehörde alarmiert werden. Kurz nach 6 Uhr fand die erste Abteilungsleiterbesprechung statt, die jedoch keine weiteren Hinweise auf die Berliner Ereignisse ergab. 8 Selbst dem Chef der Polizei waren die näheren Umstände, die zur Alarmauslösung geführt hatten, nicht bekannt. In seinem Verantwortungsbereich schien es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ruhig zu sein. Zwei Stunden später wurden die Abteilungsleiter erneut zusammengerufen, fetzt gab der Polizeichef den Befehl, „alle einsatzfähigen Genossen mit Pistole und Polizeiknüppel auszurüsten". Alle Amtsleiter sollten sofort Verbindung mit der Partei aufnehmen, um die Bewachung und Sicherung lebenswichtiger Betriebe abzusprechen. Gebäude der SED und der FDJ sollten mit eigenen Kräften gesichert werden. Des weiteren ordnete er die Bildung und Bewaffnung von zwei Einsatzzügen der BDVP an. 9 Während dieser Beratung traf eine erste Information aus Görlitz ein, die erahnen ließ, daß dieser Tag auch in Dresden nicht ruhig verlaufen würde. Das Volkspolizeikreisamt Görlitz meldete, daß in zwei großen Industriebetrieben „etwas los sei". Umgehend wurde in der Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden eine Einsatzleitung gebildet, zu der alle Abteilungsleiter sowie der Chef der Behörde gehörten. Der Chef der Polizei des Bezirkes wies alle Leiter der Volkspolizeikreisämter an, „die Dienststellen der VP unter allen Umständen, notfalls mit Waffengewalt, zu verteidigen. Dabei sollten jedoch vorher Warnschüsse abgegeben werden". 10 Erst gegen Mittag kam von der Hauptverwaltung der Volkspolizei aus Berlin eine 6 7 8 9

10

BDVP Dresden, Einsatzleitung, Bericht vom 20.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 74). Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben Operativstab, 17.6.1953, 4.45 Uhr (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 2). Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 90); das folgende Zitat ebd. In Leipzig erfolgte die Bewaffnung erst gegen 11 Uhr, sie nahm ungewöhnlich lange Zeit in Anspruch. Auch entsprechende Anweisungen über den Selbstschutz von SEDund FDJ-Einrichtungen lassen sich für Leipzig nicht nachweisen. BDVP Dresden, Blitzfernschreiben vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 7).

Warnung vor „Westberliner Agenten"

185

ähnliche Anweisung, wonach „keine VP-Dienststellen in die Hand des Gegners fallen dürfen". 1 1 Alle Volkspolizeikreisämter erhielten den Befehl, zusätzlich zu den Einsatzzügen der Schutzpolizei Reservezüge zusammenzustellen, diese zu bewaffnen und in Bereitschaft zu halten. 1 2 Die Kommunikation zwischen den Spitzenfunktionären war offensichtlich in Dresden besser als in Leipzig: Sämtliche Meldungen, die in der BDVP eintrafen, gingen sofort an die leitenden Kader der SED-Bezirksleitung, der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit und an die sowjetischen Kontrolloffiziere weiter. Gegen Mittag wurde ein Verbindungsoffizier zu den sowjetischen Kontrolloffizieren bestimmt. Nach wie vor unterschätzten freilich auch die Dresdener Funktionäre die explosive Stimmung in den Betrieben, denn sie gingen weiterhin davon aus, daß „Provokationen in Form von Protestkundgebungen, Arbeitsniederlegungen u. ä." durch den Einsatz von „Agitatoren der Partei, der Nationalen Front, der FDJ und übrigen Massenorganisationen" 1 3 unterbunden werden könnten. Tatsächlich wurden SED- und FDGB-Emissäre, die in den Vormittagsstunden in die Betriebe geschickt wurden und auf Versammlungen das Wort ergriffen, in der Regel ausgepfiffen. Zunächst schien es, als ob sich im Bezirk Dresden alles auf Görlitz konzentrierte. Die Hauptverwaltung der Volkspolizei wurde gegen 10.30 Uhr über die dortige Lage informiert. Wenig später kam die Anweisung aus Berlin, demzufolge „alle VP-Angehörigen der administrativen Abteilungen der BDVP und der VPKÄ sofort auf die Straße" geschickt werden sollten, um „Kontrollen und Streifendienste" durchzuführen. „Die Politstellvertreter sollten" - so hieß es „jede Maßnahme ergreifen, um die Genossen über die Lage aufzuklären und die Genossen zur Brechung des Widerstandes zu überzeugen". 1 4 Wie dieser „Widerstand" aussehen würde, blieb zunächst noch unklar. Daß an diesem Tage nicht „Westberliner Agenten", sondern Dresdener Arbeiter bekämpft werden sollten, ahnte wohl noch keiner der Dresdener Spitzenfunktionäre.

11 12 13 14

BDVP Dresden, Niederschrift über die Tagung der Politstellvertreter am 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 80). Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 92). Ebd., Bl. 91. Anweisung von der HVDVP Berlin vom 17.6.1953, 10.30 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 3).

186 2.

Der 17. Juni im Bezirk Dresden „Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

Die SAG Sachsenwerk Niedersedlitz war der größte Industriebetrieb in Dresden. In ihrem Hauptwerk waren damals 5 465 Mitarbeiter 15 , darunter etwa 900 Genossen 16 , beschäftigt. Die Sachsenwerker stellten u.a. Turbogeneratoren, Walz- und Chemieantriebe, Gleichstrom- und Drehstromkranmotoren her. Im Rahmen des ersten Fünfjahrplanes wurde das Sachsenwerk erweitert, seit 1951 waren mehrere Anbauten erfolgt. Im Juni 1953 errichteten Bauarbeiter der Bauunion Dresden ein neues Produktionsgebäude. Sie arbeiteten auch an jenem 17. Juni im Betrieb und beteiligten sich sofort an den Protestaktionen der Industriearbeiter. Die Sachsenwerker verdienten damals durchschnittlich 404 Mark pro Monat 17 - für damalige Verhältnisse kein schlechter Lohn. Das Werk gehörte zu den Vorzeigebetrieben in der DDR; es profilierte sich im sozialistischen Wettbewerb und in anderen aktivistischen Initiativen. Im Dresdener Maiumzug 1953 waren die Sachsenwerker unter der Losung marschiert: „Zu Ehren des 1. Mai 2161 freiwillige Verpflichtungen zur Normerhöhung". 18 Doch ausgerechnet im ersten Halbjahr 1953, in dem der bevorstehende 60. Geburtstag Ulbrichts neue Initiativen auslösen sollte, war im Sachsenwerk die Beteiligung am Wettbewerb rapide gesunken. So blieben auch die Prämien aus, die das Haushaltsbudget der Beschäftigten in den vergangenen Jahren etwas aufgebessert hatten. Der Beschluß über die administrative Normerhöhung nach festgesetzten Kennziffern ließ weitere Lohneinbußen erwarten. Bis zum 17. Juni waren die neuen Normen im Sachsenwerk allerdings noch nicht eingeführt. Das galt auch für andere Großbetriebe der Stadt wie beispielsweise den VEB ABUS. Hingegen waren die administrativen Normenerhöhungen bereits im IfaKarosseriewerk Dresden, im Kamera-Werk Niedersedlitz und im VEM Anlagenbau Dresden wirksam. 19 Seit einiger Zeit war auch im Sachsenwerk Unruhe zu spüren, die zum Teil durch betriebsorganisatorische Probleme verursacht war. So führten unregelmäßige Materiallieferungen zu Beginn des Monats zu Feierschichten, während am Monatsende viele Überstunden geleistet werden mußten. 20 Dies war sicherlich kein Einzelfall, sondern für die wirtschaftliche Lage in der DDR in diesen Monaten eher typisch. In einem SAG-Betrieb, der Großmaschinen für die Sowjetunion herstellte, konnten Produktionsstockungen und Nichterfüllung 15 16 17 18 19

20

Vgl. Belegschaftsstand 1952 bis 1958, o. D. (SächsHStA, Akte Elektromaschinenbau 184). Vgl. SED-BL Dresden, Sachsenwerk Niedersedlitz (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 7 2 ) . Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 13. Ebd., S. 91. Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, 1. Bericht über die Durchführung des Beschlusses der 13. Tagung des ZK der SED über die allgemeine Normenerhöhung, vom 11.6.1953, S. 4 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 2 / 0 1 1 ) . Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 13.

Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

187

der Pläne allerdings dazu führen, daß die Mitarbeiter einer „antisowjetischen Haltung" bezichtigt wurden. Im Sachsenwerk soll es außerdem „Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschen und der sowjetischen Werkleitung" gegeben haben. 21 Auch von Unstimmigkeiten im Verhältnis zwischen dem Parteisekretär Manfred Leuteritz und dem deutschen Werkleiter Heinz Noack war die Rede. Wie üblich, schob einer die Schuld auf den anderen: Während die sowjetische Direktion die deutsche Betriebsleitung für die Mängel verantwortlich machte, gab diese den Druck wiederum auf die Belegschaft weiter. Dennoch schien es im Sachsenwerk bis zum 17. Juni nach außen ruhig zu sein. Über kurzfristige Arbeitsniederlegungen, wie es sie in anderen Industriebetrieben der DDR gab, ist hier nichts bekannt. 2 2 Am Morgen des 17. Juni erfuhren die Sachsenwerker jedoch schneller als die Arbeiter vieler anderer Betriebe und auf besondere Weise von den Streiks und Demonstrationen, die tags zuvor in Berlin stattgefunden hatten. Am 16. Juni hatten nämlich 30 „Genossen" der SED-Betriebsparteischule des Sachsenwerkes im Rahmen einer Exkursion die Stalinallee besucht. 23 In der Prachtstraße des Sozialismus die fortschrittlichen Arbeitsmethoden der Bauarbeiter studieren zu können, um ihnen nachzueifern, kam für sie einer Auszeichnung gleich. An diesem Tage erlebten die Dresdener Parteischüler die vorbildlichen Bauarbeiter jedoch - höchst ungewöhnlich - als Streikende und Demonstranten. In ihren Betrieb zurückgekehrt, hatten die Berlin-Touristen natürlich nichts Eiligeres zu tun, als ihren Kollegen darüber zu berichten. Auf diese Weise erfuhr auch der Parteisekretär von den Berliner Ereignissen. Er soll „das Erzählte zwar für aufregend, aber nicht für weltbewegend" gehalten haben, wie sich ehemalige Sachsenwerker erinnern. 24 Die Berichte könnten ihn jedoch zu einer Ansprache an die Belegschaft veranlaßt haben. 2 5 Über den Betriebsfunk äußerte er sich zu den Normenerhöhungen und erklärte u. a., „daß in dieser Frage Überspitzungen auch in unserem Betrieb vorgekommen" seien. Er forderte, die Normenerhöhung auf freiwilliger Basis durchzuführen und in den einzelnen Abteilungen Normaktive zu gründen. Seine Ansprache lief darauf hinaus, daß sich „die Partei schon immer für eine gerechte Lösung eingesetzt" habe. Diese „Argumentation" brachte die Sachsenwerker freilich erst recht in Rage. Nach dem Vorbild der Ostberliner Bauarbeiter legten sie die Arbeit nieder. 26 Als erste versammelten sich die Beschäftigten der Mittelmaschinenfabrik auf dem Hof vor 21 22 23

24 25

26

Vgl. SED-BL Dresden, Sachsenwerk Niedersedlitz, o . D . , S. 2 (SächsHStA, SED IV/2/4/072). Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 14. Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 5 ) . Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 15. Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 235); die folgenden Zitate ebd. Im folgenden vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 16.

188

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

dem Kohlenbunker, andere Abteilungen folgten. Auch die Bauarbeiter der Dresdener Bauunion unterbrachen daraufhin ihre Arbeit und mischten sich unter die Sachsenwerker. Nach Auffassung des Betriebsschutzes ist die Versammlung durch „Flüsterparolen" bekannt gemacht worden. 2 7 Zeitzeugen berichten, ein SchichtDispatcher habe die Zusammenkunft auf dem Hof organisiert und in allen Werkteilen zum Treff auf dem Hof aufgerufen. 2 8 Sicher ist, daß auch im Sachsenwerk diese Versammlung spontan und sehr schnell zustandekam, so daß die Betriebsfunktionäre von der Eigeninitiative ihrer Belegschaft überrascht wurden. Sie entrüsteten sich darüber, daß die Arbeiter ihre Aktion nicht angemeldet hätten. So berichtete der Chef des Betriebsschutzes später: „Bis zu diesem Zeitpunkt des Zusammenlaufen war weder der Betriebsgruppe [der SED, H. R.] noch der Werkleitung und dem Betriebsschutz bekannt geworden, was eigentlich beabsichtigt war. Der Leiter des Betriebsschutzes erhielt erst Kenntnis, daß etwas im Gange war, als die ersten Gruppen aus den Werkhallen nach dem Hof strömten". 2 9 Über den Verlauf der Zusammenkunft gibt es verschiedene Versionen, insbesondere, was die Reihenfolge der Redner und deren Forderungen betrifft. Verständlicherweise wurde in der spontanen Aktion kein Protokoll angefertigt. Spätere Schilderungen fielen je nach der Absicht der Berichtenden sehr unterschiedlich aus. So bemühten sich beispielsweise die Gewerkschaftsfunktionäre des Sachsenwerkes nach der Niederschlagung des Aufstandes offenbar darum, möglichst wenig konkretes Wissen über die maßgeblichen Akteure und ihre Aktionen preiszugeben, waren sie doch täglich mit ihnen zusammen und zudem selbst beteiligt. Auch wenn die Erinnerungen von Augenzeugen an Details nach mehr als 40 Jahren lückenhaft und oft auch widersprüchlich erscheinen, so sind sie doch - trotz dieser Einschränkung - für die Rekonstruktion der Ereignisse im Sachsenwerk unverzichtbar. 3 0 An diesem Morgen des 17. Juni versammelten sich innerhalb kurzer Zeit etwa 1 0 0 0 bis 2 0 0 0 Sachsenwerker und Bauarbeiter. Zunächst herrschte ein heilloses Durcheinander. Der Betriebsschutz interpretierte es später dahingehend, „daß keiner richtig wußte, weshalb sie auf den Hof gekommen waren". 3 1 Alle schrien durcheinander, daß es nicht mehr so weiter gehen könne; die Normenerhöhungen müßten zurückgenommen werden, ein Regierungsver-

27 28 29

30 31

Ebd. Vgl. ebd., S. 19. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 235). In der Regel wird bei Zeitzeugenaussagen im folgenden auf die Dokumentation von Hundhausen zurückgegriffen, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 235).

„ Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

189

treter sollte Rede und Antwort stehen. 3 2 Die Sachsenwerker diskutierten in Gruppen und stellten unterschiedliche Forderungen. „Die einen wollten Aufklärung über die Vorgänge in Berlin, ein anderer Teil verlangte Herabsetzung der Normen, und wieder andere forderten Rücktritt der Regierung und Freilassung der politischen Gefangenen", so hieß es im polizeilichen Abschlußbericht. 3 3 Die Funktionäre der Abteilungsparteiorganisation behaupteten dagegen, die erste Versammlung sei eine „rein innerbetriebliche Protestkundgebung" gewesen und erst später seien durch die „Streikführer der ABUS übergreifende regierungsfeindliche Forderungen" gestellt worden. 3 4 Dahinter steckte offenbar auch die Absicht, die eigene Betriebsbelegschaft zu entlasten, indem die Initiative anderen Betrieben zugeschoben wurde. Denn auch Beschäftigte der ABUS behaupteten nach der Niederschlagung des Aufstandes, daß sie von den Sachsenwerkern zu der sogenannten „Provokation" verleitet worden seien. Inzwischen hatten die Funktionäre der Partei-, Gewerkschafts- und Werkleitung ihren ersten Schock überwunden. Sie begaben sich gleichfalls auf den Hof, um die Diskutierenden wieder zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. So versuchte der stellvertretende BGL-Vorsitzende, Fritz Diener, die Maßnahmen der Regierung zu erklären und zu Ruhe und Besonnenheit aufzurufen. 3 5 Er war im Betrieb ein angesehener Kollege, aber an diesem Morgen wurde auch er unterbrochen. Die Versammelten verlangten nach dem 1. Parteisekretär, Manfred Leuteritz. Von einem Lastwagen aus, mit einer Zeitung in der Hand 3 6 , gab Leuteritz bekannt, daß die Normenerhöhung von der SEDFührung widerrufen worden sei. 37 Er war überzeugt, daß die Arbeiter ausschließlich wegen der N o r m e n e r h ö h u n g die Arbeit niederlegen wollten. Außerdem „argumentierte" er, niemand sei zu höheren Normen gezwungen worden. 3 8 Als Kritik an der Betriebsgewerkschaftsleitung laut wurde, schlug er vor, in Ruhe eine Delegiertenkonferenz für die Neuwahl der Gewerkschaftsleitung einzuberufen. 3 9 Doch auch dieser Vorschlag konnte die aufge-

32 33 34 35

36 37

38 39

Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 17. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 98). APO-Leitungssitzungen Sachsenwerk in Auswertung des 17.6.1953, o. D. (SächsHStA, SED, I V / 7 / 4 6 3 / 0 3 2 ) . Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 235). Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 17. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 235). Vgl. APO-Leitungssitzungen Sachsenwerk in Auswertung des 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, SED, I V / 7 / 4 6 3 / 0 3 2 ) . VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 236).

190

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

brachten Arbeiter nicht beruhigen. Zurufe und Unmutsäußerungen überschlugen sich. Nun sollte der Werkleiter, Nationalpreisträger Heinz Noack, sein Glück versuchen und die Belegschaft wieder an die Arbeit zurückbringen. Auch er sprach lediglich über die Normen, die aufgrund eines „Gesetzes der Regierung" erhöht worden seien. Die Werkleitung habe diese Gesetze befolgen und durchführen müssen. Das wiederum veranlaßte die Versammelten zu Rufen wie „Nieder mit der Regierung", „Freie Wahlen", „Bestrafung der Regierung". 4 0 Nun waren die Betriebsfunktionäre mit ihrem Latein am Ende. Der Werkleiter soll deshalb vorgeschlagen haben, einen Vertreter der Regierung in das Sachsenwerk zu bitten. 41 Anderen Hinweisen zufolge kam die Forderung aus der Menge. 42 Obwohl die Situation an diesem Morgen sehr unübersichtlich und die Stimmung explosiv war, kam es auf dem Werkgelände nicht zu Ausschreitungen und Übergriffen auf unbeliebte Funktionäre oder SED-Mitglieder. Die versammelten Sachsenwerker ließen, wie Zeitzeugen bestätigen, auch keine Beleidigungen von „einfachen" Genossen zu. Lediglich ein Gewerkschaftsfunktionär, der versuchte, die Sachsenwerker von der Arbeitsniederlegung abzuhalten, soll eine Ohrfeige bekommen haben. 4 3 Mit dem Versprechen der Werkleitung, einen Regierungsvertreter anzufordern, gab sich ein Teil der Belegschaft zunächst zufrieden und kehrte wieder in die Hallen zurück. Einige nahmen die Arbeit wieder auf, andere blieben unschlüssig im Hof und folgten dann dem Ruf aus der Menge: „Wir marschieren". 4 4 Ein Arbeitsnormer soll dazu aufgerufen haben. 4 5 Gegen 10 Uhr formierten sich mehrere hundert Sachsenwerker und Bauarbeiter zu einem Demonstrationszug und verließen den Betrieb. Über diesen Protestmarsch schrieben die Funktionäre des FDGB-Bezirksvorstandes später: „Die Agenten nahmen die Spitze des Zuges ein und sangen das Deutschlandlied, während die überrumpelten Arbeiter mit der .Internationale' auf den Lippen folgten". 46 Der Betriebsschutz unternahm nichts, um die Marschierenden aufzuhalten. Als die Arbeiter das Werktor öffneten, so erzählen ehemalige Sachsenwerker, 47 sei ein Schutzmann zusammengebrochen - nicht, weil Gewalt angewendet worden sei, sondern weil er einen Schock erlitt. Die Betriebs40

41 42 43 44

45 46 47

VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 5 ) . Vgl. ebd. Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Berichterstattung der Instrukteure über die Lage in den Betrieben vom 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 1 0 ) . Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 18. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 5 ) . Vgl. AGL-Protokolle 1951 bis 1954 (SächsHStA, Akte Elektromaschinenbau, Nr.132). FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 2 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 2 / 0 1 0 ) . Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 18f.; Zitate ebd., S. 19.

„ Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

191

Parteileitung soll „einen alten Genossen" mit einem Wehrmachtskarabiner ans Tor geschickt haben, um die Demonstranten aufzuhalten. Er sei mit den Worten: „Das ist nichts mehr für Dich", gutmütig beiseite geschoben worden. Auch der einarmige Gewerkschaftsfunktionär Fritz Diener versuchte vergeblich, die Marschkolonne aufzuhalten. Der Parteisekretär und weitere Funktionäre beobachteten den Ausmarsch ihrer Belegschaft „hinter zugezogenen Vorhängen". 4 8 Sie waren noch immer wie gelähmt. Von den übergeordneten Leitungen blieben Anweisungen aus, wie sie sich in einem solchen Fall verhalten sollten. Deshalb flehten sie die SED-Bezirksleitung an, einen führenden Funktionär in das Sachsenwerk zu schicken. Später geriet der SED-Parteisekretär Leuteritz dafür in die Kritik. Fritz Selbmann erklärte vor den Parteiaktivisten des Bezirkes: „Wenn ich mir den Genossen Leuteritz von Niedersedlitz ansehe und seine Fragen gehört habe und seine Hilferufe, Gen. Buchwitz soll kommen, zu einer Zeit, als es um nichts mehr ging, als die Provokateure zu verhaften [...]. In einer Situation, wo die Arbeiter noch schwanken, trifft man andere Maßnahmen als dort, wo der Feind schon offen aufgetreten ist." 4 9 Der Chef des Betriebsschutzes hatte seit Beginn der Versammlung Maßnahmen eingeleitet, um die Betriebswache gegen eventuelle Übergriffe zu sichern. Die Wachmänner kontrollierten alle ein- und ausgehenden Personen, überwachten das Geschehen auf dem Hof und verstärkten den Schutz für die sowjetische Direktion und die „leitenden Kader". Zur Überwachung der Sachsenwerker und zur ständigen Information setzte der Betriebsschutz einen Motorrad- und einen Fahrradfahrer ein, die den Demonstranten nachfuhren. Alle Beobachtungen wurden sofort dem Betriebssachbearbeiter der Staatssicherheit übermittelt und dienten später dazu, die „Rädelsführer" und „Provokateure" zu verhaften. Außerdem informierte der Betriebsschutz ständig den Operativstab im Volkspolizeikreisamt Dresden und die Abteilung Betriebsschutz der Bezirksbehörde der Volkspolizei. 50 Von dort kam die Zusicherung, daß „die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet" würden. Ein Teil der Sachsenwerker marschierte unterdessen in Richtung Bahnhof Niedersedlitz, um das ABUS-Werk und andere Betriebe im Stadtbezirk zum Streik aufzufordern. 5 1 Die Demonstranten sollen zu diesem Zeitpunkt ein Pappschild - an einer Zaunlatte befestigt - mit der Aufschrift „Generalstreik" getragen haben. Der Betriebsschutz behauptete später, „über die Hälfte der demonstrierenden Sachsenwerker" habe sich am Bahnhof Niedersedlitz entfernt und sei „vermutlich nach Hause" gegangen. Der restliche Zug habe sich

48 49 50

51

Ebd., S. 18. SED-BL Dresden, Parteiaktivtagung vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 2 / 0 0 1 , Bl. 73). Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 6 ) . Vgl. ebd., Bl. 235; die folgenden Zitate ebd., Bl. 2 3 6 .

192

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

geteilt, die einen seien Richtung Heidenau marschiert, um die dort ansässigen Betriebe zum Streik aufzurufen, die anderen stadtwärts zum VEB ABUS. Der Zug zum VEB „Sächsischer Brücken- und Stahlhochbau", genannt ABUS, war für den weiteren Tagesablauf bedeutsam. 52 Dieser Betrieb lag anderthalb Kilometer östlich vom Sachsenwerk und beschäftigte damals im Hauptwerk 1467 Mitarbeiter. Produziert wurde hauptsächlich für Reparationen an die Sowjetunion. Die Belegschaft arbeitete an diesem 17. Juni bis gegen 10 Uhr „ohne besondere Vorkommnisse"; es gab keine Anzeichen für einen Streik. Als die ankommenden Sachsenwerker „ABUS raus!" riefen, liefen die Angestellten der Verwaltung, der Konstruktionsabteilung 53 und Arbeiter aus der Produktion auf den Hof. Da das Betriebstor verschlossen war, erkletterte ein Maschinenschlosser aus dem Sachsenwerk das Tor und rief den ABUS-Leuten zu: „Brüder, schließt Euch an!" 5 4 Danach wurde das Tor aufgedrückt. Ein Teil der Sachsenwerker kam nun auf den Hof des Betriebes. Funktionäre des VEB ABUS wurden attackiert. In dieser Situation soll Wilhelm Grothaus, ein kaufmännischer Angestellter aus der Konstruktionsabteilung der ABUS, zum ersten Male aufgetreten sein. Er ermahnte die einströmenden betriebsfremden Demonstranten zur Besonnenheit, da die Sachsenwerker bereits den Gewerkschaftsvorsitzenden Ernst Behnk und den 2. Parteisekretär Alfred Müller bedrängten. Grothaus, früher Sozialist und Verfolgter des NSRegimes, gab in den späteren Vernehmungen an, daß er nach der Ankunft der Sachsenwerker und angesichts des Tumults auf dem Hof den stellvertretenden Chefkonstrukteur Karl Mangane zur Betriebsgewerkschaftsleitung geschickt habe, „weil dies die zuständige Stelle für derartige Dinge, wie Streik und Demonstrationen" gewesen sei. 55 Doch die Gewerkschaftsleitung lehnte es ab, sich der Aufforderung der Sachsenwerker anzuschließen und schlug statt dessen die Einberufung einer Versammlung vor. Ein kleiner Teil der Belegschaft zog trotzdem sofort mit den Sachsenwerkern los, bevor die Versammlung stattfand. 5 6 Die Mehrzahl der ABUS-Beschäftigten blieb abwartend auf dem Hof.

52

53

54 55 56

Die folgende Schilderung des Zuges beruht auf der Darstellung von Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 21 und Handakten Grothaus, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 382/53). Die Abt. Konstruktion war verwaltungstechnisch aus dem ABUS ausgegliedert und unterstand dem KMP Leipzig. Das ist deshalb wichtig, weil bei der „Delegiertenversammlung" am 18. Juni dieser fünfte Betrieb genannt wurde. Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 21. Handakten Grothaus, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 ) . Hundhausen beschreibt diesen ersten Demonstrationszug aus der ABUS wie folgt: Sachsenwerker und vorwiegend junge Arbeiter der ABUS hätten bereits kurz vor 11 Uhr das Werk gemeinsam verlassen. Der Zug bewegte sich in Richtung Innenstadt. Es hätten sich noch andere Betriebe und Anwohner angeschlossen. Er sei schnell auf „mehrere tausend Menschen" angeschwollen. Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 32 ff.

Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

193

Die Gewerkschaftsleitung rief unterdessen über den Betriebsfunk zur Versammlung in die große Montagehalle auf. Der BGL-Vorsitzende Behnk, ein Parteifunktionär der Kreisleitung oder der Bezirksleitung, und der Personalleiter Alex Aide versuchten anfangs, die ABUS-Belegschaft von einer Arbeitsniederlegung abzuhalten. Sie mahnten zu Ruhe und Ordnung, damit die Regierung die Politik des Neuen Kurses verwirklichen und über berechtigte Forderungen nachdenken könne. Die Versammelten, darunter auch Sachsenwerker, pfiffen die Redner aus und forderten den Rücktritt der Regierung. Um die Versammlung „in geordnete Bahnen" zu lenken, bot sich Grothaus nach eigenen Aussagen an, zu sprechen und „Vorschläge zur Einsetzung einer Kommission" 57 zu machen. Anderen Aussagen zufolge soll Grothaus von dem kaufmännischen Angestellten des Betriebes Fritz Saalfrank als Redner vorgeschlagen worden sein. Dieser kündigte ihn jedenfalls an, und Grothaus kam zu Wort. Als er sprach, trat Ruhe ein. Grothaus war offenbar ein guter Redner und fand die richtigen Worte. Über seinen Auftritt berichteten Zeitzeugen: „Grothaus sprach wie ein Pastor, formulierte klar und gut, analysierte die Ursachen des ganzen Ärgers und nannte die Probleme beim Namen. Die Menge jubelte ihm zu! Er nannte fünf Forderungen, die von der Belegschaft lautstark akzeptiert wurden." 5 8 Diese waren: „1. Rücktritt der Regierung, 2. freie und geheime Wahlen, 3. Freilassung der politischen Gefangenen, 4. Senkung der HO-Preise und 5. Aufhebung der Verschlechterung in der Sozialfürsorge". Es gibt Hinweise darauf, daß diese Forderungen schon zuvor von einem Sachsenwerker formuliert worden waren. 5 9 Andere behaupten, daß sie aus der Versammlung kamen und Grothaus sie lediglich aufgriff. Entscheidend für den weiteren Verlauf des Tages war jedoch der Vorschlag von Wilhelm Grothaus, einen „Ausschuß" von zehn Belegschaftsangehörigen zu wählen, welcher die gestellten Forderungen „überprüfen und in einer Resolution zusammenfassen sollte". 60 Diese sollte dann der Regierung übergeben werden. Grothaus selbst schilderte die Veranstaltung in der ABUS Jahre danach in einem Interview für den WDR so: „Ich bin auf eine große Drehbank gestiegen und habe zu den Versammelten, etwa 1600 Arbeitern, gesprochen, und dann war's auch still. Die Arbeiter kannten mich ja alle und wußten auch, was ich wollte, mehr oder weniger. Ich habe dann den Arbeitern gesagt, daß nicht so entscheidend sei die Ursache des Kampfes in Berlin, die Frage der Normenerhöhung, sondern daß wir diesen Kampf, der in Berlin noch das Gesicht eines Gewerkschaftskampfes trage, umgestalten müßten in einen politischen Kampf, und daß unsere Forderung nicht darauf hinauslaufen könne, eine Beseitigung

57 58 59 60

Handakten Grothaus, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 18.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 35). Vgl. ebd., S. 22. Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, LAU-239/53, Bl. 198). Handakte Grothaus, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53).

194

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

der Normenerhöhungen zu verlangen, sondern daß die entscheidenden Forderungen die seien, die grundsätzlich entscheidenden Forderungen: Beseitigung der Regierung, Sturz des kommunistischen Systems, Freilassung aller politischen Gefangenen, freie und geheime Wahlen und dann die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Die ganze Versammlung hat meinen Ausführungen unter großem Beifall zugestimmt, und auch in der Abstimmung zeigte sich, daß die ganze Belegschaft [...] restlos hinter diesen Forderungen stand." 61 In diesem Interview berichtete er auch darüber, daß er in der Nacht zum 17. Juni, alarmiert durch die ersten RIAS-Nachrichten am Vorabend, in seiner Wohnung zusammen mit Freunden aus Gründen der Solidarität mit den Berliner Demonstranten „vorsorglich ein Streikkomitee" gebildet habe, um in Dresden die Proteste zu organisieren. Bereits danach sei ihm allerdings ein Aufstand wenig erfolgversprechend erschienen, weil er mit dem Eingreifen der Sowjets gerechnet und keinerlei Hilfe aus dem „Westen" erwartete habe. Außerdem habe er „in der Kürze der Zeit eine regelrechte Organisierung eines Aufstandes [für] unmöglich" gehalten. Seine Überlegung, es dennoch zu versuchen, begründete er so: „Ich habe aber dann zusammenfassend gesagt, daß es nicht so entscheidend sei, und daß für uns die Frage gar nicht zur Erörterung stünde, ob dieser Kampf gewonnen würde oder nicht. Er würde in jedem Falle gewonnen werden. Und wenn der Erfolg auch nur der sei, daß wir der [...] ganzen Öffentlichkeit in der Welt zeigen würden, was in Wirklichkeit hinter diesem ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Welt verborgen war, und das, selbst wenn nicht mehr erreicht würde, lohne den Kampf und den Einsatz." 62 Diese Darstellung einer vorbereiteten Aktion wird in den schriftlichen Quellen nicht bestätigt. Alle Befragten waren davon überzeugt, daß die ABUSBelegschaft erst durch die Sachsenwerker zum öffentlichen Protest angeregt wurde und die Arbeit vorher normal verlaufen sei. Nachweisbar ist außerdem, daß erst in der Versammlung aus der Menge heraus ein Gremium gewählt wurde, das die weiteren Aktionen leiten und koordinieren sollte. Die meisten gewählten Mitglieder kannten sich vorher nicht. Das Gremium nannte sich auf Vorschlag von Grothaus „Kommission" oder „Prüfungsausschuß" und wurde später von der SED, von der Staatssicherheit und vor dem Bezirksgericht als Streikleitung bezeichnet. Alle verhafteten Kommissionsmitglieder lehnten in den MfS-Vernehmungen diesen Begriff zunächst ab, 6 3 obwohl das Gremium durchaus solche Funktionen wahrgenommen hatte. Die Wahl des Ausschusses war auf Zuruf erfolgt. Über die Vorschläge wurde einzeln abgestimmt, die Betreffenden mußten einverstanden sein. Mindestens

61

62 63

Das Manuskript des Interviews mit Grothaus, geführt von E. von Hornstein und gesendet am 17.6.1966 im WDR unter dem Titel „Der Fall Grothaus", wurde der Autorin freundlicherweise von K.W. Fricke zur Verfügung gestellt. Die zitierte Passage stammt aus dem Manuskript-Text, S. 20. Ebd., S 19. Vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Häftlings Saalfrank, Fritz, vom 18.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 6 3 ) .

„ Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

195

eine Empfehlung wurde nicht angenommen. Gewählt wurden: Wilhelm Grothaus, Fritz Saalfrank, Erich Berthold, Herbert Müller, Udo Imme, Ingeborg Neumann, Josef Piesche, Werner Hentschel, Lothar Krausch, Aster, Struck. Wilhelm Grothaus, Jahrgang 1893, war bereits 1940 bis 1944 und 1945 kurzzeitig bei der Fa. Kelle & Hildebrand (später: VEB ABUS) tätig gewesen. Seit Dezember 1950 arbeitete er in der ABUS als Korrespondent und Kalkulator, seit Februar 1953 als kaufmännischer Sachbearbeiter in der Konstruktionsabteilung. Von 1918 bis 1932 gehörte er der SPD an, ab 1932 der KPD. In der NS-Zeit betätigte er sich an deren illegaler Arbeit. Als Mitglied der Schumann-Gruppe wurde er 1944 verhaftet, ihn erwartete das Todesurteil. In der Bombennacht vom 16. zum 17. Februar 1945 konnte er jedoch aus dem Zuchthaus am Münchner Platz fliehen und sich retten. Nach dem Ende des Krieges trat er in die KPD/SED ein und war Mitglied der W N . Im Juli 1945 nach Dresden zurückgekehrt, übte er unterschiedliche Funktionen in der Stadtverwaltung und später in der Landesregierung Sachsens aus. 1950 zog er sich eine Parteistrafe (Rüge) zu und wurde fristlos aus der Sächsischen Landesregierung entlassen. Danach durfte er keine Funktionen mehr ausüben. 6 4 Fritz Saalfrank, Jahrgang 1909, arbeitete von 1946 bis 1952 als Montagearbeiter in der ABUS und war danach kaufmännischer Sachbearbeiter. Saalfrank hatte seit 1931 der NSDAP angehört; er war SA-Obergruppenführer gewesen und hatte verschiedene Parteiauszeichnungen erhalten. Seit 1951 war er Mitglied des FDGB. 6 5 Erich Berthold, Jahrgang 1902, arbeitete von 1949 bis August 1952 als Dreher und danach als Technologe bei der ABUS. Von 1933 bis 1945 gehörte er der NSDAP und der SA an. Im Zweiten Weltkrieg war er Hauptfeldwebel, kam 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1948 entlassen wurde. 1951 bis 1953 übte er die Funktion des Vorsitzenden einer Abteilungsgewerkschaftsleitung aus, im Juni 1953 war er Gewerkschaftsvertrauensmann. 66 Herbert Müller, Jahrgang 1925, war seit 1951 im Betrieb als Maschinenschlosser und zuletzt als technischer Angestellter beschäftigt. Er war Mitglied des FDGB, der DSF und der Betriebssportgemeinschaft. 67 Udo Imme, Jahrgang 1929, arbeitete seit seinem Studienabschluß (1952) als Konstrukteur und später als Montageingenieur bei ABUS. Er war im FDGB, in

64

65 66 67

Vgl. u.a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wilhelm Grothaus vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 40); zur ausführlichen Biofraphie von Grothaus vgl. Russig, Wilhelm Grothaus. Vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Häftlings Fritz Saalfrank vom 3.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 75f.). Vgl. u.a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Erich Berthold vom 24.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 152a). Vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Herbert Müller vom 19.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 92).

196

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

der KdT und in der DSF organisiert. Seit Februar 1953 war er Mitglied der Abteilungsgewerkschaftsleitung und Gewerkschaftsgruppenorganisator. 68 Ingeborg Neumann, Jahrgang 1925, arbeitete erst seit Januar 1953 im Betrieb und war als technische Sachbearbeiterin tätig. Von 1940 bis 1945 war sie im BDM und 1944/45 in der NSDAP. 1947 trat sie in die SED ein. 69 Josef Piesche, Jahrgang 1898, war seit 1952 als Maschinenschlosser und Vorarbeiter im VEB ABUS tätig. Von 1943 bis 1945 verbüßte er eine Strafe nach dem Heimtückegesetz. Seit 1951 war er Mitglied des FDGB, seit Februar 1953 Unfallschutzfunktionär. Piesche wurde am 19. Juni als Mitglied der Kommission verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, „am 17. Juni 1953 die Belegschaft des ABUS-Werkes durch provokatorische Hetzreden zum Streik und Aufruhr angestiftet und sich damit eines Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der DDR sowie Kontrollratsdirektive Artikel 38 III A III schuldig gemacht" zu haben. 7 0 Im Gegensatz zu den vorgenannten sechs Mitgliedern der Kommission wurde jedoch gegen Piesche keine Anklage vor dem Bezirksgericht erhoben. 71 Werner Hentschel, Jahrgang 1903, kaufmännischer Angestellter, gehörte seit 1949 dem Betrieb ABUS an. Er arbeitete als Buchhalter. Hentschel war in der NS-Zeit SA-Mann gewesen. Nach 1945 trat er in den FDGB und in die DSF ein. 72 Wie Piesche wurde auch er nicht angeklagt. Lothar Krausch wurde in einem „Sachstandsbericht über die Streikleitung im ABUS-Werk Niedersedlitz" des MfS vom 4.7.1953 beschuldigt, auf der Belegschaftsversammlung die Redner der SED und der BGL „niedergeschrieen" und die Angehörigen seiner Konstruktionsabteilung persönlich zum Streik und zur Demonstration aufgefordert zu haben. 7 3 Auch er wurde nicht angeklagt. Zu Aster und Struck, der Betriebsmaler war, können keine weiteren Angaben gemacht werden, da sie nicht verhaftet wurden und demzufolge keine personenbezogenen Unterlagen existieren. Von Aster wissen wir, daß er SEDMitglied war. Damit umfaßte die Kommission nachweislich elf, nicht - wie vorgeschlagen zehn Mitglieder. 74 Von den sechs angeklagten Kommissionsmitgliedern waren fünf als technische bzw. kaufmännische Angestellte, einer als Ingenieur im 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. u.a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Udo Imme vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 127). Vgl. u. a.Vernehmungsprotokoll der Beschuldigten Ingeborg Neumann vom 24.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 175f.). Vgl. Kreisgericht Dresden, Haftbefehl: Josef Piesche, vom 19.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, 1A, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 5). Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Anklageschrift Grothaus und 5 andere, vom 9.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 9). Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Werner Hentschel, o.D. (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 19). Vgl. Sachstandsbericht über die Streikleitung im ABUS-Werk Niedersedlitz vom 4.7.1953, S. 5 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53). Das könnte eventuell damit zusammenhängen, daß die Forderung aus der Menge kam, auch eine Frau in das Gremium aufzunehmen.

Unruhe" im SAG-Betrieb Sachsenwerk und im VEB ABUS Dresden

197

Betrieb tätig. Drei gewählte Mitglieder - Wilhelm Grothaus, Ingeborg Neumann und Aster - gehörten der SED an, drei weitere - Lothar Krausch, Udo Imme und Erich Berthold - waren Funktionäre der Gewerkschaft im Betrieb. Nach der Wahl des „Prüfungsausschusses" forderte Grothaus die Versammelten auf, Ruhe und Ordnung zu wahren. 7 5 Die Arbeit sollte zunächst wieder aufgenommen werden, bis andere Anweisungen seitens der Kommission erfolgten. Das wurde allerdings nur teilweise befolgt. Die erste Sitzung des gewählten Ausschusses fand gegen Mittag statt. Sie soll etwa anderthalb Stunden gedauert haben. 7 6 Nach übereinstimmenden Aussagen von Mitgliedern der Kommission wurde zunächst Grothaus zum Vorsitzenden gewählt. 77 Grothaus selbst war der Meinung, er sei von der Belegschaft einstimmig zum Vorsitzenden gewählt worden. 7 8 Danach diskutierten die Kommissionsmitglieder über die Resolution, die an die Regierung geschickt werden sollte. Während dieser Diskussion erschienen vier Mitglieder der Betriebsleitung, u. a. der Betriebsleiter Herbert Soldner, der während der Versammlung noch nicht im Betrieb gewesen war, und der Personalchef Alex Aide. Beide waren ausdrücklich eingeladen worden und sollten die Werkleitung in der Kommission vertreten, während die Parteileitung und die BGL von der Beratung ausgeschlossen wurden. Die Vertreter der Werkleitung erklärten sich mit den aufgestellten Forderungen weitestgehend einverstanden, der Rücktrittsforderung an die Regierung wollten sie sich nicht anschließen. Soldner schlug statt dessen vor, eine Forderung nach Frieden sowie zur deutschen Einheit aufzunehmen und an die Spitze zu stellen. 79 Dies wiederum soll Grothaus mit der Begründung abgelehnt haben, die Erfüllung der anderen Forderungen trage dazu bei, dieses Ziel zu realisieren. 80 Die Abstimmung über die Resolution kam allerdings nicht zustande, da während der Sitzung ein Kraftfahrer im Bibliothekszimmer erschien, der vermutlich aus den Zeiß-IkonWerken kam und zum Streik und zur Demonstration in die Innenstadt Dres-

75 76 77 78 79

80

Vgl. u. a. Zeugenaussage von Karl Mangane, Protokoll der Hauptverhandlung vom 22.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 217). Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED, IV/2/12/010). Vgl. u.a. Saalfrank-Vernehmung vom 18.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 64). Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 19.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 35). Das bestätigte Soldner in seiner Zeugenaussage im Prozeß gegen Grothaus und andere; vgl. Handakten Grothaus, Protokoll der Hauptverhandlung, vom 22.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 216). Russig behauptet dagegen, ohne es zu belegen, daß dieser Dialog zwischen Grothaus und Soldner in der Nachmittagsversammlung im Sachsenwerk stattgefunden hätte. Soldner nahm aber gar nicht an dieser Veranstaltung teil. Nach übereinstimmenden Aussagen von Mitgliedern des Ausschusses und von Soldner selbst kam es in der Bibliothek des VEB ABUS zu diesem Dialog; vgl. ebd.

198

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

dens aufforderte. 81 Schon alle Dresdener Betriebe befänden sich im Streik, berichtete er. Die Kommission faßte daher den Beschluß, die Arbeit niederzulegen und sich der Demonstration nach der Innenstadt anzuschließen. Neun Mitglieder stimmten für Arbeitsniederlegung und Demonstration, zwei waren dagegen. Nach späteren Aussagen von Grothaus handelte es sich hier noch nicht um einen generellen Streikbeschluß, sondern lediglich über eine Arbeitsniederlegung, um die Beteiligung an der Demonstration zu ermöglichen. Das klingt insofern logisch, als die ABUS-Belegschaft nach der Versammlung im Sachsenwerk aufgefordert wurde, am 18. Juni früh um 7 Uhr die Arbeit wieder aufzunehmen. Auch die Nachtschicht sollte am 17. Juni wieder arbeiten. Die Kommission beschloß, sich am anderen Morgen erneut zu treffen, um über die Fortsetzung der Proteste zur Durchsetzung ihrer Forderungen zu beraten. 8 2 Vertreter der Werkleitung äußerten Bedenken hinsichtlich der Demonstration, da dadurch ein „großer Arbeitsausfall" entstünde. Werkleiter Soldner setzte sich für die „Sicherung" des Betriebes während der Demonstration ein. Außerdem bat er darum, nichts zu zerstören und vor allem die Küche und die Lohnbuchhaltung arbeitsfähig zu halten. Die Kommission versprach dafür Sorge zu tragen. Übrigens gab es auch eine Kontaktaufnahme des ABUS-Prüfungsausschusses zum Werk II, Hamburger Straße. 83 Saalfrank und Grothaus gaben telefonisch die Anregung zur Wahl eines Komitees, woraufhin fünf Mitarbeiter gewählt wurden, die das Werk II vertreten sollten. Ursprünglich beabsichtigte die Kommission, gegen Mittag mit der Belegschaft in die Stadt zu marschieren. Dann aber kehrten zwei Kommissionsmitglieder, die zu Beginn der Sitzung den Auftrag erhalten hatten, die Lage im Sachsenwerk zu erkunden, mit der Nachricht zurück, daß dort ein Ministe sprechen werde. Der Zeitpunkt stehe jedoch noch nicht fest. Anschließend teilte die Kommission die Beschlüsse ihrer ersten Sitzung, die Arbeit niederzulegen und um 14 Uhr zu demonstrieren, der Belegschaft mit. Ein Teil wartete bereits auf dem Hof, andere waren in ihre Abteilungen zurückgekehrt. Grothaus hielt noch eine kurze Rede. Er betonte, daß die Beteiligung an der Demonstration freiwillig sei und keine Plakate oder ähnliches mitgeführt werden sollten. Vor dem Auszug aus dem Betrieb ermahnte er die ABUSBelegschaft: „Wir wollen als deutsche Arbeiter diszipliniert streiken!" 84 Zwei

81

82 83

84

Soweit nicht anders vermerkt, beruht die folgende Darstellung auf Aussagen von Grothaus; vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wilhelm Grothaus vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 41) Diese Festlegung nannten fast alle „Beschuldigten", unabhängig voneinander, in ihren Vernehmungen vor dem MfS. Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Bericht über Anruf des Gen. Herbert Maschke, o.D., 20.15 Uhr (BStU, Ast.Dresden, AU, 239/53, Bl. 49). Auch Hundhausen bestätigt, auf der Grundlage von Zeitzeugenaussagen, die Wahl dieses Gremiums und nennt vier Mitglieder namentlich. Auch hier dominierten die technischen Angestellten; vgl. Hundhausen, Der 17. luni 1953 im Sachsenwerk, S. 42. Ebd., S. 24.

Otto Buchwitz im Sachsenwerk

199

Kommissionsmitglieder blieben im Werk, um den Schutz und die Sicherheit des Betriebes zu gewährleisten. Ungefähr 1000 Angehörige der ABUS-Belegschaft zogen, die gewählte Kommission an der Spitze, gegen 14 Uhr zum benachbarten Sachsenwerk. Zeitzeugen erinnerten sich, „ein großgewachsener Schmied mit Lederschürze" und der technische Direktor Walter Hoyer hätten den Zug angeführt. 85 Hoyer selbst bestätigte in einer Zeugenbefragung seine Teilnahme an der Kundgebung im Sachsenwerk. 86 Unterwegs erfuhren die Demonstranten, Otto Buchwitz habe bereits mit seiner Rede begonnen. Ein Kommissionsmitglied, Fritz Saalfrank, fuhr mit dem Fahrrad voraus, um den Einlaß seiner Leute im Sachsenwerk vorzubereiten.

3.

O t t o Buchwitz im Sachsenwerk

Über die Zahl derer, die sich im Hof und im Eingangsbereich des Sachsenwerkes versammelten, um an der Veranstaltung mit Buchwitz teilzunehmen, gibt es unterschiedliche Angaben. Zeitzeugen, auch Buchwitz, sprachen von 2 000 bis 3 000 Teilnehmern. 87 Grothaus nannte dagegen Jahre später eine Zahl von 5 000 bis 6 000 Demonstranten. 8 8 Sicher ist, daß außer den Sachsenwerkern und den hinzugekommenen ABUS-Leuten auch Beschäftigte anderer Betriebe, darunter des benachbarten Plattenwerkes Meißen, Werk Niedersedlitz, anwesend waren. Möglicherweise waren auch Vertreter des Glühlampenwerkes Dresden dabei. Zeitzeugen erinnern sich auch daran, daß die leitende Betriebsschwester die DRK-Helfer - wie bei anderen Großveranstaltungen - mit Sanitätstaschen ausrüstete und aufforderte, „vorsorglich auf den Hof zu gehen und gegebenenfalls einen Demonstrationszug zu begleiten". 89 Als die ABUS-Belegschaft im Werk ankam, hatte Buchwitz bereits mit seiner Ansprache begonnen. Er berichtete später, der sowjetische Generaldirektor habe ihm vorgeschlagen, er solle sich über den Betriebsfunk an die Belegschaft wenden. Er habe dies jedoch abgelehnt, weil „man in dieser Situation nicht den Anschein erwecken sollte, daß wir Angst vor den Streikenden hätten, das würde von vornherein einen schlechten Eindruck machen". 9 0 85 86 87

88 89 90

Ebd. Vgl. Handakte Grothaus, Protokoll der Hauptverhandlung, vom 2 2 . 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 217). Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 25; Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 20). Manuskript des Interviews mit Grothaus, S. 20. Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 46; das folgende Zitat ebd., S. 24. Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 19f.).

200

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Bevor Buchwitz ans Mikrofon trat, hatte er sein Vorgehen mit der Betriebsparteileitung, der Gewerkschaftsleitung und einigen Vertretern der Werkleitung abgesprochen. Dazu sagte er später: „Wir beratschlagten darüber, was nun das Nächste sei, was getan werden müßte, um Beruhigung herbeizuführen. Zuletzt war allgemeine Zustimmung, eine Versammlung der Streikenden auf dem Hof des Fabrikgeländes einzuberufen, und daß ich dort beruhigend auf die Streikenden einwirken sollte." 9 1 Der Gewerkschaftsfunktionär Fritz Diener leitete die Versammlung. Wie damals bei Reden von SED-Funktionären üblich, begann Buchwitz mit einem Blick auf die internationale Lage und ihre Auswirkungen für Deutschland. Danach kam er auf „einige fehlerhafte Verordnungen der DDR-Regierung" und die eingeleitete Kurskorrektur zu sprechen. Seine Strategie schien aufzugehen: Die Sachsenwerker hätten ihn, so berichtete er später, „ca. 15 bis 2 0 Minuten [...] absolut ruhig" angehört. Die „ersten protestierenden Zwischenrufe" setzten erst ein, als er anhob: „Die ganze Welt blickt auf Deutschland, Deutschland ist zur Zeit der Brennpunkt geworden, an welchem sich ein neuer Krieg entzünden könne. In dieser Situation könnten wir Vorgänge, wie die in dem Werk, am allerwenigsten gebrauchen, dies hieße die Politik Adenauers und der Amerikaner unterstützen". 9 2 Zu diesem Zeitpunkt waren die Demonstranten aus dem V E B ABUS noch nicht angelangt. Nach Buchwitz' Darstellung mußte er seine Rede unterbrechen. Am Toreingang sei „ein großer Tumult" entstanden, der, wie er später erfahren habe, dadurch entstanden sei, daß sich die ABUS-Belegschaft Zugang zum Sachsenwerk verschaffen wollte. Da der Betriebsschutz die Ankommenden nicht habe hineinlassen wollen, habe er - Buchwitz - dafür gesorgt, daß das Haupttor wurde und die Demonstranten einmarschieren konnten. Diese Version wird auch durch Berichte des Betriebsschutzes bestätigt. 9 3 Buchwitz setzte daraufhin seine Ansprache fort, um die neuen Verordnungen der Regierung zu erläutern. Doch die „Unruhe und die Zwischenrufe" wurden „zunehmend heftiger", so daß er seine Ausführungen nur noch unter „Toben, Pfeifen und Zwischenrufen" fortsetzen konnte. 9 4 Am Schluß habe er an die Streikenden appelliert, zur Arbeit zurückzukehren, und ihnen zugerufen: „Ich habe in meinem langen Leben viele Erfahrungen gesammelt, und es war doch immer so, daß Arbeiter, ehe sie in den Streik traten, sich zusammensetzten, ihre Forderungen formulierten, dieselben einreichten, und erst dann, wenn die zuständige Stelle ablehnend geantwortet hatte, zu ernsteren Maßnahmen griffen [...]. Ich ersuchte die Streikenden, doch in ihren Abtei-

91 92 93

94

Ebd., Bl. 19. Ebd., Bl. 2 0 ; im folgenden vgl. ebd., Bl. 2 0 f . Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, B D V P / 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 6 ) . Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 1 7 . 6 . 1 9 5 3 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 2 1 ) .

Otto Buchwitz im Sachsenwerk

201

lungen erst einmal festzulegen, was sie eigentlich wollten, was ihr Ziel sei, und alsdann eine Delegation zu wählen, welche die Forderungen weiterleitet." Auch dieser Appell ging in Johlen und Pfeifen unter. Die Aufforderung, eine Delegation zu wählen, muß das Stichwort für Grothaus gewesen sein. Er bat Fritz Diener, den er gar nicht kannte, ihm das Wort zu erteilen. 9 5 Nach Buchwitz Darstellung trat ein „unbekannter Mann" zu ihm aufs Podium. 9 6 Dieser Unbekannte - es war Wilhelm Grothaus - habe sich zunächst kurz vorgestellt: „Ich bin ein alter Genosse. Ich war Mitglied des NKFD". Diese Worte hätten, so Buchwitz, tatsächlich „Eindruck auf die Streikenden" gemacht. Es gibt aber auch Zeitzeugen, die berichten, die Sachsenwerker seien bei dieser Vorstellung zunächst nicht so erfreut gewesen, weil sie befürchteten, daß ein weiterer Parteifunktionär aufgeboten werde, um sie zu „überzeugen". 9 7 Als Grothaus rief: „Heute ist seit langer Zeit zum ersten Mal wieder Gelegenheit, seine Meinung frei und offen zum Ausdruck zu bringen" 9 8 , wußten sie, daß er auf ihrer Seite stand. Danach berichtete er über die Beschlüsse in seinem Betrieb und über die dort aufgestellten Forderungen, die er jeweils kurz begründete. Buchwitz gab übrigens zu Protokoll, daß Grothaus zwar „sofortiger Rücktritt der Regierung", nicht aber ihren „Sturz" gefordert habe, wie es im MfS-Sachstandsbericht vom 4. Juli 1 9 5 3 " und in der späteren Anklageschrift nachzulesen war. Seine Rede sei, so gestand Buchwitz ein, „sehr geschickt" gewesen. Nun kam die Aufforderung aus der Menge, gemeinsam nach Dresden zu marschieren. Saalfrank habe den Versammelten zugerufen: „Laßt uns einmal freiwillig unsere Meinung kundtun, nachdem wir oft zwangsweise marschieren mußten". Zeitzeugen berichten, daß Grothaus zu einem Demonstrationszug in die Stadt und zu einer Kundgebung auf dem Postplatz aufgerufen habe, 1 0 0 was er verständlicherweise in den Vernehmungen bei der Staatssicherheit bestritt. Internen Berichten zufolge soll Grothaus zur Besonnenheit gemahnt haben: „Wenn wir jetzt demonstrieren, um der Bevölkerung zu zeigen, daß wir nicht mehr länger gewillt sind, den auf uns lastenden Druck zu ertragen, so muß das diszipliniert geschehen." 1 0 1

95 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 43). 96 Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 20.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 22). 97 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 29. 98 Sachsenwerk Niedersedlitz, Sinngemäße Wiedergabe der Hetzrede des Grothaus am 17.6.1953 zwischen 15.00 und 16.00 Uhr auf dem Werkhof im Sachsenwerk N. S., vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU, 2 3 9 / 5 3 , Bl. 18). 99 Vgl. Sachstandsbericht über die Streikleitung im ABUS-Werk Niedersedlitz vom 4.7.1953, S. 5 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 3 8 2 / 5 3 ) . 100 Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 29. 101 Sachsenwerk Niedersedlitz, Sinngemäße Wiedergabe der Hetzrede des Grothaus am 17.6.1953 zwischen 15.00 und 16.00 Uhr auf dem Werkhof im Sachsenwerk N. S., vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU, 2 3 9 / 5 3 , Bl. 18).

202

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Buchwitz konnte sich nicht mehr daran erinnern, wer den Vorschlag gemacht hatte, gemeinsam in die Stadt zu marschieren. Er berichtete eingehend über seinen Versuch, die Leute von diesem Vorhaben abzubringen: „Uns ist vor einigen Stunden die Mitteilung gemacht worden, daß in Berlin und Dresden sowie einigen anderen Städten der Ausnahmezustand verhängt wurde, und ich mache darauf aufmerksam, welche Folgen es haben kann, wenn Sie jetzt zur Demonstration nach Dresden marschieren." 1 0 2 Seine Worte seien in „ungeheurem Tumult" untergegangen: 1 0 3 „Wir marschieren trotzdem, die VP wird nicht auf uns schießen!" Buchwitz wandte noch ein: „Nicht unsere Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, die VP wird gegen Euch nicht vorgehen." Auf die Frage, wer denn dann schießen werde, habe er, Buchwitz, geantwortet: „Es dürfte Euch bekannt sein, ganz Deutschland ist besetzt von Besatzungstruppen." Auch das sei mit „starkem fohlen" quittiert worden. Zeitzeugen erinnern sich, Buchwitz habe in diesem Zusammenhang auf die besondere Situation des Sachsenwerkes als SAG-Betrieb verwiesen. Streiken sei sinnlos, weil das „Sachsenwerk als SAG-Betrieb dem Kontrollratsgesetz unterstehe, russische Truppen alarmiert seien und Panzer marschbereit stünden". 1 0 4 Doch auch dieser Hinweis konnte die Anwesenden nicht einschüchtern. Die Drohung mit den „Freunden" steigerte nur noch die Empörung. Ein Maschinenschlosser des Sachsenwerkes soll ausgerufen haben: „Wenn geschossen werden soll, wir haben keine Angst vor Kugeln." 1 0 5 Buchwitz will ihnen noch auf den Weg gegeben haben: „Ich möchte euch gewarnt haben, Kollegen. Mögen morgen nicht Frauen oder Mütter zu mir kommen, .Buchwitz hilf, unsere Männer oder Jungen sind eingesperrt'". 1 0 6 Auch das verfehlte sein Ziel. Aus der Menge kam der Ruf: „Das interessiert uns gar nicht, abtreten". 1 0 7 Buchwitz schloß seine Ausführungen daraufhin, wie er später erklärte, mit den Worten: „Wenn Euch das nicht interessiert, dann habe ich hier nichts mehr zu sagen". 1 0 8 Außer Buchwitz und Grothaus waren als Redner auch einige Sachsenwerker aufgetreten, um ihre Forderungen nach Rücktritt der Regierung, Abschaffung der Normenerhöhung, Versammlungsfreiheit, Wahrung des Briefgeheimnisses, Abschaffung der ausbeutenden HO-Geschäfte und Freilassung sämtlicher politischer Gefangenen vorzubringen. 1 0 9 102 Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 22f.). 103 Ebd., Bl. 23. 104 Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 26. 105 Ebd., S. 27. 106 Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 23). 107 Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 6 ) . 108 Ebd. 109 Vgl. ebd.

Otto Buchwitz im

Sachsenwerk

203

Schließlich wurde eine Kommission der Sachsenwerker gewählt. Der Vorschlag dazu stammte wiederum von Grothaus. Er wollte damit eine „Vereinheitlichung der beiden Betriebe" durch einen „gemeinsamen Ausschuß und eine gemeinsame Bearbeitung der Forderungen auf einer breiten Basis" erreichen. 110 Von den zehn Vertretern des Sachsenwerkes sind lediglich sechs namentlich bekannt: 111 Es handelte sich dabei um den stellvertretenden BGLVorsitzenden Fritz Diener, den AGL-Vorsitzenden Richard Siegel, den Arbeiter Helmut Schieke, die Arbeiterin und zweifache Aktivistin Gertrud Tauber, den Leiter des Öllagers Fritz Fiebig und den Außenmonteur Herbert Große. Buchwitz lehnte es ab, mit den gewählten Vertretern beider Betriebe an Ort und Stelle zu verhandeln. Statt dessen schlug er vor, die Diskussion im Gewerkschaftszimmer fortzusetzen. Grothaus ging auf diesen Vorschlag ein. Er und weitere Mitglieder beider Kommissionen trafen sich mit Buchwitz. Allerdings kam es zu keiner Diskussion, denn Buchwitz forderte die Anwesenden auf: „Formuliert Euere Forderungen, ich werde morgen früh 8.00 Uhr wieder hier sein. Nur möchte ich Euch heute schon sagen, für solche Forderungen .Rücktritt der Regierung, sofortige Wahlen, Schließung der HO-Geschäfte' bin ich nicht zu haben [...]. Ich wünsche aber, daß derjenige morgen mit dabei ist, der heute diese Forderungen formuliert hat." 112 Damit war Grothaus gemeint, der sein Kommen zusicherte. Buchwitz sollte seinerseits dafür sorgen, daß die Kommissionen beider Betriebe zu Verhandlungen mit der Regierung nach Berlin fahren könnten, was dieser allerdings angesichts des Ausnahmezustandes für ausgeschlossen hielt. Er versprach jedoch, daß er am nächsten Tag die Forderungen der Arbeiter per Fernschreiben nach Berlin übermitteln würde. Buchwitz wurde noch aufgefordert, den Demonstrationszug zu begleiten, was er ebenfalls ablehnte. Die Versammlung im Sachsenwerk war für den alten Parteifunktionär Buchwitz eine bittere Enttäuschung. Die Schuld dafür gab er hauptsächlich Grothaus. Der wiederum berichtete Jahre später darüber, daß es zwischen ihm und Buchwitz anschließend noch zu einem Wortwechsel gekommen sei, wofür es allerdings keine Zeugen gibt. Buchwitz erwähnte die Auseinandersetzung selbst nicht. Grothaus schilderte den Vorfall wie folgt: „Nach der Rede, als ich gesprochen hatte, kam Buchwitz und sagte zu mir: J a , hör mal, das, was Du machst, ist Verrat an der Arbeiterklasse!' Da habe ich gesagt: .Verrat an der Arbeiterklasse wäre das, wenn ich jetzt nicht mitmachen würde, wenn ich jetzt die Arbeiter, die in allen Städten aufgestanden sind, im Stich lassen würde. Das wäre Verrat an der Arbeiterklasse, aber Kampf gegen den Kommunismus, das ist kein Verrat an der Arbeiterklasse.' Ich sagte: ,Du siehst doch, die ganze 110 Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wilhelm Grothaus vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 , Bl. 36). 111 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 30. 112 Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 23).

204

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

Arbeiterschaft will ja nicht, die will ja gar nichts vom Kommunismus wissen. Die Demonstration läuft, die halt ich nicht auf, da kann kommen, was will.'" 113 Grothaus berichtete in diesem Zusammenhang auch, daß Buchwitz fast weinend vom Rednerpult abgetreten sei und damit seinem Ruf als „Tränendrüse der Partei" alle Ehre gemacht habe. Der Parteifunktionär fuhr nach dieser mißglückten Mission sofort in die SED-Bezirksleitung, um über die Vorgänge im Sachsenwerk zu berichten. Dort erkundigte er sich nach Grothaus, dem die Arbeiterschaft begeistert zugejubelt hatte. Wochen später konnte bzw. wollte er sich allerdings nicht mehr an Einzelheiten im Sachsenwerk erinnern. Er kam auch nicht zur Hauptverhandlung gegen „Grothaus und andere" und gab lediglich seine Version vom Geschehen im Sachsenwerk für die Untersuchungsorgane zu Protokoll. 114 Grothaus verließ gleichfalls das Sachsenwerk und kehrte anschließend in seinen Betrieb ABUS zurück. Dort verhandelte er u. a. mit dem Betriebsschutz und teilte in Absprache mit dem Betriebsleiter Soldner vier Kommissionsmitglieder für den Schutz des Betriebes ein. 115 Während dieser Zeit kam Fritz Saalfrank aus der Stadt zurück und berichtete, daß sich der Demonstrationszug der ABUS und des Sachsenwerkes aufgelöst habe und der Postplatz von den Sowjets besetzt sei. Danach fuhr Grothaus mit der Straßenbahn nach Hause. In der Nacht vom 17. zum 18. Juni wurden zunächst er und fünf weitere Kommissionsmitglieder festgenommen, am 19. Juni zwei weitere. 116

4.

Demonstrationen und Aktionen in der Dresdener Innenstadt

Die Rekonstruktion der Dresdener Demonstrationen ist - wie für die meisten Großstädte - sehr kompliziert. Auch hier gab es mehrere Züge, die aus verschiedenen Richtungen zu unterschiedlichen Zeiten ins Stadtzentrum aufbrachen. Die Demonstranten aus den industriellen Vororten waren oft stundenlang unterwegs, bis sie hier eintrafen. Manche gaben bereits vorher auf, andere stießen unterwegs hinzu. Manche Demonstrationszüge wurden bereits vor Erreichen des Zentrums aufgelöst - vor allem jene, die nach der Verhängung des Ausnahmebefehls in Richtung Stadt aufgebrochen waren. In den offiziellen schriftlichen Überlieferungen werden für Dresden wenige zeitliche Angaben gemacht. Berichte von Zeitzeugen können diese Lücken kaum schließen, weil auch sie nach so vielen Jahren keine exakten Zeitangaben mehr machen kön113 Manuskript des Interviews mit Grothaus, S. 21. 114 Vgl. Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 20.6.1953 (BStÜ, Ast. Dresden, AU 239/53, Bl. 19-24). 115 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Wilhelm Grothaus vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 45). 116 Mit Grothaus wurden Saalfrank, Hentschel, Piesche, Neumann und Imme verhaftet, danach Berthold und Müller; zum Datum der Festnahme vgl. die jeweilige Akte der Strafsache (alle Staatsanwaltschaft Dresden, la,Ks 345/53, AZ 382/53).

Demonstrationen und Aktionen in der Dresdener Innenstadt

205

nen. So ist beispielsweise nicht immer klar zwischen den Berichten über den ersten Demonstrationszug aus Niedersedlitz und den zweiten, der nach der Veranstaltung mit Buchwitz stattfand, zu unterscheiden. Manche Befragte können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie am 17. oder 18. Juni Zeugen von „Menschenansammlungen" in der Innenstadt waren. Bereits in den Vormittagsstunden - gegen 11 Uhr - formierte sich ein erster Demonstrationszug aus Niedersedlitz in Richtung Innenstadt und nach Heidenau-Pirna. 1 1 7 Dabei handelte es sich vor allem um die Betriebsangehörigen der ABUS, um Arbeiter des Sachsenwerkes und Bauarbeiter der Bauunion, die im Sachsenwerk beschäftigt waren.Vorwiegend sollen es Jugendliche gewesen sein, darunter auch die FDJ-Funktionäre vom Sachsenwerk. Ihr Marsch führte sie über die Bahnhofstraße und die Pirnaer Landstraße. Auf der Bahnhofstraße standen viele Leute auf dem Fußweg oder schauten aus den Fenstern ihrer Wohnungen und winkten den Marschierenden zu. Einige Geschäftsinhaber machten ihre Läden zu, um sich den Demonstranten anzuschließen. Die Sprechchöre glichen denen, die auch in anderen Städten gerufen wurden, z. B.: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille", „Von Ulbricht, Pieck und Grotewohl haben wir die Schnauze voll", „Ulbricht, Pieck und Grotewohl, wir fressen nur noch Sauerkohl", „Nieder mit der Zone", „Wir fordern freie Wahlen". 118 Auf „primitiven Schildern" standen Losungen wie „Streik", „Generalstreik", „Freiheit", „Ulbricht an den Galgen", „Nieder mit der Regierung", „Einheit Deutschlands". Auch eine Puppe sei mitgeführt worden, die am Galgen hing und Ulbricht darstellen sollte. 119 Diesem ersten Zug aus Niedersedlitz könnte auch Buchwitz auf seiner Fahrt nach dem Sachsenwerk begegnet sein. Er berichtete darüber, daß er „starke Gruppen von Menschen" getroffen habe, und an einigen Stellen seien Plakate mit der Aufschrift „Generalstreik" aufgestellt worden. 1 2 0 Als der Zug Altleuben erreichte, schlössen sich vom dortigen Operettentheater Ensemblemitglieder an, unter ihnen auch der damals beliebte Dresdener Operettenstar Georg Wörtge. Die Künstler sollen jedoch nur eine kurze Strecke mitgegangen sein. Der Marsch ging weiter an der Leubener Kirche vorbei, durch die Lilienthalstraße bis zur Kreuzung Hennigsdorfer Straße. Auf diesem Wege hielten die Demonstranten immer wieder vor Betrieben an, um deren Belegschaften zum Mitmachen zu bewegen. An der Berthold-Haupt-

117 Soweit nicht anders vermerkt, beruht die folgende Schilderung dieses Demonstrationszuges auf Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 32-38. 118 Ebd., S. 32. 119 Vgl. ebd. 120 Vgl. Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953, vom 20.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 19).

206

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Druckerei forderten sie die Drucker zum Anschluß auf, was einige von ihnen taten. 121 Der Pförtner soll geschlagen worden sein, weil er das Tor schließen wollte. Ein ähnlicher Vorfall wird von Zeiß-Ikon berichtet. Unterwegs schlössen sich offenbar auch LKW-Fahrer an. Sie nahmen pflastermüde Demonstranten auf, so soll z. B. im Betrieb „Stanzila" ein Lastwagen mit 15 Personen vorgefahren sein. 122 Der FDGB-Bezirksvorstand behauptete später, diese LKW-Besatzung habe sich als „zentrale Leitung der SPD Berlin" ausgegeben. 123 Der Betriebsschutz wurde überrannt, die Transparente abgerissen und die Werksirene in Gang gesetzt. Daraufhin schalteten die Arbeiter ihre Maschinen ab, kamen auf den Hof und marschierten mit. Unter der Unterführung Dobritz erreichte der Demonstrationszug den Straßenbahnhof Reick. Auch hier soll sich ein Teil der Belegschaft angeschlossen haben. Straßenbahnen wurden angehalten und die Fahrgäste aufgefordert, sich am Protestmarsch in die Innenstadt zu beteiligen. In Dobritz soll erstmals ein PKW aufgetaucht sein, dessen Insassen sich als Streikleitung ausgaben. 124 Sie hätten - so hieß es - die Führung bis zum Ende der Stübelallee übernommen, indem sie mit dem Megaphon Sprechchöre anstimmten. Unterwegs wurde auch an der Hutfabrik Niedersedlitz, der Gardinenfabrik Dobritz und der Berufsschule Mügelner Straße angehalten. 125 Untersuchungen der SED gingen später davon aus, daß sich im Stadtbezirk 3 - dazu gehörte das Industriezentrum Niedersedlitz - sieben bis zehn weitere Betriebe dem Marsch der ABUSLeute und den Sachsenwerkern angeschlossen hätten. 126 Über das Verhalten von Demonstranten und Belegschaft beim Gaswerk Reick gibt es unterschiedliche Aussagen. Zeitzeugen erinnern sich, daß Demonstranten und Vertreter des Gaswerkes übereingekommen seien, nur ein kleiner Teil der Gaswerker solle sich dem Zug anschließen, um die Versorgung der Bevölkerung nicht zu gefährden. 127 Die Betriebsparteileitung des Gaswerkes behauptete später, daß sich die Belegschaft von jugendlichen Demonstranten, die am Gaswerk Fahnen herunterrissen und ein Schild zerstörten, distanziert und niemand sich den Demonstranten angeschlossen habe. 1 2 8 121 Vgl. SED-BL, Aufstellung über Streik-Betriebe in Dresden-Stadt am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 5 / 0 4 2 bzw. I V / 2 / 3 / 0 0 6 ) . 122 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 2 (SächsHStA, SED, IV/2/12/010). 123 Ebd. 124 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 35. 125 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 105). 126 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bd. 1, Bl. 12). 127 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 36. 128 Vgl. SED-BL Dresden, Berichte über den 17. Juni 1953, o . D . (SächsHStA, I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . In der ZK-Analyse wurde das Gaswerk Reick als Streikbetrieb aufgeführt [vgl. ZK der SED, Abt. LOPM, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 1 6 . - 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 0 . 7 . 1 9 5 3

Demonstrationen und Aktionen in der Dresdener Innenstadt

207

Der Zug führte weiter über die Winterbergstraße und die Zwinglistraße. Dort wollen Zeitzeugen auch den PKW des sowjetischen Generaldirektors der SAG Sachsenwerke, Chailow gesehen haben. Das könnte zutreffen, denn der Generaldirektor befand sich vermutlich auf dem Weg zur Kommandantur, um Verhaltensregeln für den Ausnahmezustand zu erhalten. Die Marschkolonne bewegte sich weiter in Richtung Stübelallee. Unterwegs sollen Demonstranten zwei Personenautos beschlagnahmt und die Insassen „aus den Autos geholt" haben. 1 2 9 Mit diesen Autos seien sie dann vor der Marschkolonne hergefahren. Einige Arbeiter begleiteten den Marschzug mit dem Fahrrad. Obwohl der lange Weg in die Innenstadt an diesem heißen Sommertag recht beschwerlich und anstrengend war, soll die Stimmung gut gewesen sein. Dafür sorgten offenbar die Mitglieder des Dresdener Kabaretts „Die vier Brummers". 1 3 0 Der lange Anmarschweg gestattete den Dresdener Spitzenfunktionären indes, sich auf die Ankunft der Demonstranten vorzubereiten. Die SED-Kreisleitung Dresden erhielt bereits um 11 Uhr Kenntnis vom Aufbruch der Demonstranten aus Niedersedlitz. Das 4. Volkspolizeirevier meldete der Einsatzleitung der BDVP Dresden, daß sich ein Demonstrationszug in Richtung Stadtmitte bewege. 131 Die Meldung enthielt den Hinweis, daß auf dem Theaterplatz eine Protestkundgebung stattfinden solle. Auf Grund dieser Mitteilung wandte sich die Einsatzleitung an die zuständigen sowjetischen Offiziere. Von dort wurde mitgeteilt, daß der Ausnahmezustand gegen 14 Uhr verhängt werden solle. Zwei Offiziere der BDVP wurden zur Kommandantur bestellt, um den Befehl Nr. 1 abzuholen. Er sollte im Stadtfunk verlesen werden. Ein Volkspolizei-Offizier erhielt von den Sowjets den Auftrag, dem Demonstrationszug entgegenzufahren und den Wortlaut des Ausnahmebefehls bekanntzugeben. In Begleitung sowjetischer Armeeangehöriger führte ein Offizier diesen Auftrag durch. Über Megaphon forderte er die Marschkolonne auf, sich sofort aufzulösen. Die Demonstranten ignorierten diese Anweisung zunächst und marschierten weiter in Richtung Theaterplatz. 1 3 2 Aus diesem Grunde beabsichtigte die Polizei-Einsatzleitung, Strahlrohre der Feuerwehr gegen die Demonstranten einzusetzen. Die Sowjets und die SED-Bezirksleitung waren dagegen. Statt dessen sollten sowjetische Soldaten, Angehörige der Kasernierten Volkspolizei, der Bezirksbehörde der Volkspolizei und des Volkspolizeikreisamtes

129 130 131 132

(SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 10)], während in einer „Analyse über die Lage in der Grundstoffindustrie", ebenfalls angefertigt vom ZK der SED, festgehalten wurde, daß im Gaswerk Dresden-Reick und im Kraftwerk Dimitroff in Leipzig die Werkleitungen mit den Demonstranten, die eine Stillegung der Werke forderten, verhandelten und dies verhinderten (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 2 6 8 ) . Hundhausen, Der 17. luni 1953 im Sachsenwerk, S. 36. Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 141. Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 100). Auch Zeitzeugen bestätigen diese Version; vgl. Hundhausen, Der 17. luni 1953 im Sachsenwerk, S. 3 6 f.

208

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

die ankommenden Demonstranten „zerstreuen" und „keine Ansammlungen von Menschen zulassen". 133 Allein die Bezirksbehörde der Volkspolizei setzte zu diesem Zwecke vier Züge ein. Dazu kamen ein Zug der Wacheinheit, zwei Züge Hundeführerlehrgang, Einsatzreserven vom VPKA Dresden, sowjetische Soldaten und Kräfte der Kasernierten Volkspolizei. Nach Polizeiberichten trafen diese Polizei- und Armeekräfte gegen 16 Uhr auf dem Theaterplatz ein. Gegen halb vier soll der Gardeoberstleutnant Bogdanow den Ausnahmebefehl, der auch seine Unterschrift trug, verlesen haben. 1 3 4 Nach Darstellungen sowjetischer Offiziere waren sowjetische Militärangehörige bereits seit dem Vormittag in der Stadt präsent. Doch dazu später! Seit dem frühen Nachmittag strömte „eine große Menschenmenge" auf den Post- und den Theaterplatz. 135 Der erste Zug aus Niedersedlitz müßte zwischen 13 und 15 Uhr den Postplatz erreicht haben. 1 3 6 Jener Demonstrationszug, der sich um die Mittagszeit aus Niedersedlitz zunächst nach Heidenau begeben hatte, marschierte später gleichfalls ins Stadtinnere. Auch kleine Gruppen von Bauarbeitern, die in der Innenstadt beschäftigt waren, kamen am frühen Nachmittag auf dem Post- bzw. Theaterplatz an. Ein Zug von Demonstranten aus Neustadt erreichte gleichfalls sein Ziel, bevor die Zugangswege zu den zentralen Plätzen abgesperrt wurden. Es könnten Angehörige des Funkwerkes gewesen sein. Zeitzeugen erinnern sich, daß sie bei ihrer Ankunft auf dem Postplatz „nur Menschen, Menschen" sahen. 137 Gegen 15 Uhr - um diese Zeit sollte eine Kundgebung auf dem Post- bzw. Theaterplatz abgehalten werden - drängten sich bereits mehrere Tausend Menschen auf diesen Plätzen. Demonstranten hatten Straßenbahnen angehalten, viele Fahrgäste stiegen aus und mischten sich unter die Protestierenden. Die Volkspolizei ging später davon aus, daß sich ungefähr 2 000 Personen zwischen Postplatz und Theaterplatz bewegt hätten. Die Menschen hätten in Gruppen zusammengestanden und erregt diskutiert. Später sollen auch Volkspolizisten und Sowjetsoldaten beteiligt gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt war die Strecke zwischen Post- und Theaterplatz noch nicht abgeriegelt, so daß sich die Demonstranten unmittelbar am Denkmal von König Johann trafen. Zeitzeugen berichten über die Situation auf dem Theaterplatz, daß die Ankommenden „führungslos" auf weitere Marschkolonnen, Informationen und Anordnungen warteten. 138 Solche Anweisungen blieben jedoch aus. Lediglich ein „junger Mann im FDJ-Hemd" soll eine Streikrede 133 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 100). 134 Vgl. Hagen, D D R - Juni 53, S. 143. 135 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, An die HVPVP, Fernschreiben, Betr.: Lagebericht, vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 20). 136 Stefan Brant ging davon aus, daß die Sachsenwerker bereits 13.30 Uhr „zur Stelle" waren, d.h. den Postplatz erreichten; vgl. Brant, Der Aufstand, S. 214. 137 Vgl. Hagen, D D R - Juni 53, S. 142f. 138 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 38, das folgende Zitat ebd.

Demonstrationen

gehalten

haben.

Anweisung,

Die

und Aktionen

Einsatzkräfte

in der Dresdener

erhielten v o n

„nicht mit Waffengewalt v o r z u g e h e n ,

der

Innenstadt

Kommandantur

s o n d e r n die L e u t e

209

die zum

W e i t e r g e h e n a u f z u f o r d e r n . " 1 3 9 Einheiten d e r S o w j e t a r m e e „ z e r s t r e u t e n " die V e r s a m m e l t e n . 1 4 0 Eine K u n d g e b u n g im eigentlichen Sinne ist so nicht zustandegekommen.

141

W ä h r e n d d e r T h e a t e r p l a t z „mit U n t e r s t ü t z u n g d e r F r e u n d e g e r ä u m t " wurde, „stauten s i c h " - so die Volkspolizei s p ä t e r - „die M e n s c h e n auf d e m Postp l a t z " . 1 4 2 D e m o n s t r a n t e n „ b e m ä c h t i g t e n sich d e r L a u t s p r e c h e r a n l a g e " , wie d e r F D G B - B e z i r k s v o r s t a n d s p ä t e r festhielt. Sie hätten z u n ä c h s t den Ausnahm e z u s t a n d v e r k ü n d e t u n d d a n n zu einer D e m o n s t r a t i o n a u f g e f o r d e r t . 1 4 3 Dies bestätigen a u c h B e r i c h t e v o n Z e i t z e u g e n . 1 4 4 Einige D e m o n s t r a n t e n wollten das T e l e g r a f e n a m t s t ü r m e n , d a s bereits v o n A n g e h ö r i g e n d e r S o w j e t a r m e e und d e r K a s e r n i e r t e n Volkspolizei besetzt war. Die Offiziere h ä t t e n G e w e h r e a u f die M e n g e g e r i c h t e t . 1 4 5 Es gibt Darstellungen, w o n a c h ein T 3 4 - P a n z e r die Einfahrt z u m F e r n m e l d e a m t b l o c k i e r t e . 1 4 6 „Jugendliche R o w d y s " sollen mit Stein e n g e w o r f e n h a b e n u n d g e g e n die Polizisten u n d die sowjetischen S o l d a t e n

139 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden o. D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 100). 140 BDVP Dresden, Einsatzleitung, Bericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 76). 141 Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Behauptungen von Russig, daß Grothaus noch „im Tagesverlauf [...] auf der Woge der Massenbegeisterung [...] im demokratischen Auswahlverfahren auch zum Führer der Gesamtstreikleitung der Elbestadt erhoben" wurde (Russig, Wilhelm Grothaus, S. 7 0 ) bzw. „während einer größeren Kundgebung Wilhelm Grothaus - in Abwesenheit! - zum Führer der Gesamtstreikleitung" vorgeschlagen wurde (Russig, Der Volksaufstand, S. 193) höchst unwahrscheinlich. Leider belegt Russig diese entscheidenden Aussagen in beiden Publikationen nicht quellenmäßig. Das wäre besonders wichtig gewesen, denn in den von der Autorin ausgewerteten umfangreichen Quellenbeständen gibt es keinen Hinweis auf diese Wahl Grothaus' zum Führer der Gesamtstreikleitung. Auch die Zeitzeugen, die von Hundhausen befragt wurden, darunter zahlreiche Sachsenwerker, erinnern sich nicht an ein solches Ereignis. Mitangeklagte von Grothaus, die unter dem Druck der Staatssicherheits-Vernehmungen Grothaus als „Hauptprovokateur" belasteten, machen dazu keine Aussagen. Fritz Saalfrank, den die Autorin kurz vor seinem Tode dazu befragt hat, widerspricht gleichfalls dieser Darstellung. Er berichtete darüber, daß Grothaus im VEB ABUS auf seinen Bericht gewartet habe. Selbst Grothaus erwähnt in seinem Interwiev für den WDR eine derartige Wahl nicht. Dagegen spricht auch die Tatsache, daß am nächsten Tage eine Zusammenkunft von mehreren Betrieben stattfinden sollte, der Grothaus offenbar eine entscheidende Bedeutung beimaß; vgl. u. a. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Grothaus, Wilhelm, vom 2.7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 382/53, Bl. 45). 142 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 101). 143 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED, IV/2/12/010). 144 Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 142. 145 Vgl. ebd., S. 144. 146 Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 214.

210

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

vorgegangen sein. 147 Ein Arbeiter soll einem KVP-Offizier die Faust ins Gesicht geschlagen haben. Daraufhin seien drei Demonstranten festgenommen worden. Nach Darstellung der Polizei sahen sich die „Sicherungskräfte gezwungen, Warnschüsse abzugeben, um eine Erstürmung des Telegrafenamtes zu verhindern". Es gibt etliche Zeitzeugen, denen dieser versuchte Sturm auf das Telegrafenamt und die anschließenden Schüsse über die Köpfe der Menschen hinweg noch in Erinnerung geblieben sind. 148 Nach diesem mißglückten Versuch, das Telegrafenamt zu stürmen, sollen Demonstranten zur Erstürmung des HO-Kaufhauses in der Nähe des Postplatzes aufgerufen haben. 149 Aber auch dort waren bereits Angehörige der KVP und der Sowjetarmee postiert. Damit kein „neuer Zustrom" von Demonstranten auf den Platz erfolgen konnte, wurden gegen 16 Uhr alle Zufahrtsstraßen zum Postplatz gesperrt, der Verkehr wurde umgeleitet. Trotzdem bewegten sich immer noch Tausende zwischen Post- und Theaterplatz hin und her. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 15 000 und 20 000. 1 5 0 Einige Gruppen versuchten, die Absperrungen zu überwinden. Der zweite Zug aus Niedersedlitz machte sich nach der Versammlung nach 15 Uhr auf den Weg in die Innenstadt. Die Demonstranten wußten bereits von Buchwitz, daß der Ausnahmezustand verkündet war. Sogar der Betriebsschutz berichtete, am Ende der Versammlung seien über den Betriebsfunk die „Bedingungen des Ausnahmezustandes" bekanntgegeben worden. 151 Dennoch machten sich die im Sachsenwerk Versammelten auf den Weg, ohne von irgend jemand daran gehindert zu werden. Etwa 700 Personen sollen „einige hundert Meter" vom Betrieb entfernt durch ein Kommando der sowjetischen Armee „aufgelöst" worden sein. 152 Zu diesem Zeitpunkt fuhren die Straßenbahnen die Endhaltestelle Bahnhof Niedersedlitz nicht mehr an; sie endeten bereits an der Wendeschleife Klettestraße. Vermutlich machte sich ein Teil jener Niedersedlitzer wenig später erneut in Richtung Stadt auf, um an der angekündigten Kundgebung teilzunehmen. Das läßt sich aus den Vernehmungen verhafteter Kommissionsmitglieder des VEB ABUS schließen. 153

147 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 101); das folgende Zitat ebd. 148 Vgl. Hagen, D D R - Juni 53, S. 144. 149 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 101). 150 BDVP Dresden, Operativstab, Blitz-Fernschreiben, An die HVDVP Berlin, vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 10) nennt 15 000; Hagen, D D R - Juni 53, S. 143 spricht von 2 0 0 0 0 Demonstranten. 151 Vgl. VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP; Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 2 3 6 ) . 152 Ebd. 153 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokolle der Beschuldigten vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, 2 3 9 / 5 3 ) .

Demonstrationen und Aktionen in der Dresdener Innenstadt

211

Nach Schilderungen von Zeitzeugen teilte sich die aus dem Sachsenwerk ausziehende Marschkolonne. 1 5 4 Die einen zogen durch die Hennigsdorfer Straße, die anderen marschierten über die Stephensonstraße und über die Pirnaer Landstraße/Bodenbacher Straße zum Zentrum. Beide Marschkolonnen trafen sich schließlich in der Zwinglistraße/Karcher Allee wieder. Grothaus beteiligte sich nicht an diesem Marsch in die Innenstadt, weil er nach der Diskussion mit Buchwitz von beiden Kommissionen den Auftrag erhalten hatte, den Bericht bzw. die Resolution, die am nächsten Tag Buchwitz zur Weiterleitung nach Berlin übergeben werden sollte, zu verfassen. 1 5 5 Er kam auch der Bitte, in einem „anderen Betrieb" zu sprechen, nicht nach. Daher erteilte er Ingeborg Neumann, Mitglied der Kommission des VEB ABUS, den Auftrag, die fünf Forderungen für diesen Betrieb aufzuschreiben. Drei weitere Kommissionsmitglieder, Imme, Müller und Berthold, sollten in der ABUS die Besetzung und den Schutz des Betriebes für die Nacht organisieren, was sie - in Abstimmung mit dem Werkleiter Soldner - auch taten. Lediglich Saalfrank erhielt von Grothaus den Auftrag, den Zug zu begleiten und ihm später Bericht zu erstatten. Fritz Saalfrank, der den Marschierenden auf dem Fahrrad nachfuhr, erreichte seine Kollegen auf der Stübelallee, gerade als der Zug am Fucikplatz aufgelöst wurde. Zwei weitere Kommissionsmitglieder, Ingeborg Neumann und Josef Piesche, beteiligten sich an der Demonstration bis zum Fucikplatz. Ingeborg Neumann fuhr dann nach Hause, als am Fucikplatz die Verhängung des Ausnahmezustandes bekanntgemacht wurde. Josef Piesche war am frühen Nachmittag verspätet am Sachsenwerk eingetroffen, so daß er nicht mehr in den Betrieb hineinkam, um Buchwitz zu hören. So ging er zunächst nach Hause. Später fuhr er mit der Straßenbahn in die Innenstadt, um die Demonstranten aus seinem Betrieb einzuholen. Am Fucikplatz traf er seine Arbeitskollegen und marschierte mit ihnen bis zur Moritzstraße. Er berichtete, daß dort sowjetische Soldaten, die die Straße sperrten, den Zug in kleinere Gruppen auflösten. 1 5 6 Einzelne Demonstranten, darunter auch Piesche, gelangten noch zum Postplatz. Da auch hier Militär postiert war, kehrten er und andere ABUS-Beschäftigte um und verließen die Innenstadt. Ein Teil der heimkehrenden Sachsenwerker ging noch einmal in den Betrieb zurück. Der Betriebsschutz kontrollierte inzwischen „scharf", die Heimkehrenden sollen sich „ziemlich kleinlaut" verhalten haben. 1 5 7 Das Verhalten der Dresdener Demonstranten glich im wesentlichen dem in anderen Großstädten. Zeitzeugen schilderten die Stimmung während des Marsches folgendermaßen: „Die Bevölkerung nahm überall regen Anteil und wink154 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 39. 155 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokolle der Beschuldigten vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, 2 3 9 / 5 3 ) . 156 Sachstandsbericht vom 4.7.1953 und Vernehmungsprotokoll Piesche vom 19.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 345/53, AZ 3 8 2 / 5 3 ) . 157 VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 24.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 236).

212

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

te den Vorbeimarschierenden zu". 1 5 8 In Erinnerung blieb ihnen besonders, daß Mütter mit Kindern und ältere Leute weinend am Straßenrand standen. Die demonstrierenden Arbeiter und Angestellten verhielten sich im allgemeinen friedlich und wandten zunächst keine Gewalt gegenüber den Angehörigen der Volkspolizei an. So berichtete beispielsweise das 4. Volkspolizeirevier: „Eine große Menge Demonstranten", die sich vor der Dienststelle versammelt hatte, verlangte die „Aushändigung der Waffen". Daraufhin hätten die Polizisten einer „Delegation von drei Mann" das Gebäude geöffnet, um nach Inhaftierten zu suchen. Da diese keine gefunden habe, sei sie, „ohne Schaden anzurichten", wieder abgezogen. 159 Anderen Berichten zufolge haben sich auch Polizisten und KVP-Soldaten den Demonstranten angeschlossen. 160 So erinnern sich Zeitzeugen, daß einige Polizisten eines Polizeireviers an der Kreuzung Reicker Straße/Lohrmannstraße mitgelaufen seien. In amtlichen Berichten wird diese Verbrüderung nicht bestätigt. Über die Erstürmung und Besetzung von Partei- und Gewerkschaftshäusern sowie anderen öffentlichen Gebäuden und Haftanstalten in Dresden-Stadt ist nichts bekannt. Diese Einrichtungen wurden bereits in den Vormittagsstunden von sowjetischem Militär gesichert, die Demonstranten kaum in die Nähe ließen. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes wurde der „Schutz" noch verstärkt. So scheiterte der Versuch, die Untersuchungshaftanstalt Dresden I zu stürmen. Nach Polizeiberichten wollten ca. 600 „Provokateure und Mitläufer" am 17. Juni gegen 23 Uhr diese Haftanstalt stürmen. Sie kamen freilich nicht einmal bis vor das Gebäude. Bereits einen Kilometer entfernt „unterbanden" Angehörige der sowjetische Armee und der Kasernierten Volkspolizei ihre Absicht. 161

158 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 35. 159 BDVP Dresden, Operativstab, Bericht über die im Bezirk Dresden stattgefundenen Provokationen und Demonstrationen vom 22.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 49). 160 Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 142. 161 BDVP-Dresden, Abt. Strafvollzug, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden, vom 8.7.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 308).

Die Konfrontation von Demonstranten und sowjetischem Militär 5.

213

Die K o n f r o n t a t i o n von D e m o n s t r a n t e n u n d sowjetischem Militär

In Dresden kamen am 17. Juni Einheiten des 92. Karpaten-Rotbanner-Schützenregiments unter Führung des beauftragten Kommandeurs, Oberstleutnant Durnow, und seines Stabschefs, Major Bondarenko, zum Einsatz. Insgesamt waren 478 Angehörige dieses Regiments für die Stadt Dresden eingeteilt. Durch einen Bericht des Kommandeurs „An den Chef der Inneren Truppen des Ministerium des Inneren in Deutschland" 162 wissen wir, daß sowjetisches Militär in Dresden bereits vor Verkündung des Ausnahmezustandes auf den Straßen und Plätzen der Stadt präsent war. Der Chef der Garnison Dresden, Generalmajor Schmyrow, ordnete am Vormittag an, daß Einsatzkräfte des Schützenregiments im „Raum der Ausschreitungen [...] alle Maßnahmen zur Herstellung der Ordnung" treffen sollten. Der „Hauptteil" des Regiments, 250 Mann unter Befehl des Stabschefs, Major Bondarenko, sollte Kundgebungen und Demonstrationen auf den Hauptplätzen der Stadt Dresden verhindern. Die andere Gruppe von 100 Mann stand unter dem Befehl des Stellvertreters des Kommandeurs, Major Kladtschenko, und erhielt den Befehl, die lebenswichtigen Zentren der Stadt zu sichern. 78 Angehörige des Regiments waren für Patrouillen in den Hauptstraßen der Stadt eingeteilt. Der Einsatzbefehl lautete, „bei Feststellung einer Verletzung der öffentlichen Ordnung entschlossene Maßnahmen zu ihrer Wiederherstellung zu treffen und Kundgebungen, Meetings, Demonstrationen und regierungsfeindliche und andere Auftritte nicht zuzulassen". Bereits um 10 Uhr soll Major Bondarenko mit seiner Gruppe auf dem „Platz der Einheit" eingetroffen sein. 163 Er befahl den Offizieren und Soldaten, die Waffen in Gefechtslage zu nehmen, das Feuer aber nur dann zu eröffnen, wenn von Seiten der „Aufrührer" das Feuer eröffnet werde. Bei Widerstand sollten zunächst Bajonette und Kolben eingesetzt werden. Nach dem Einsatz berichteten Oberstleutnant Durnow und der Stabschef des Regiments, Major Bondarenko, daß diese Anordnung „anfangs Erfolg [hatte], aber als die Anführer erkannt hatten, daß die Truppen nicht auf sie schießen würden, begannen sie aktiver zu werden". Gegen 11 Uhr kam auf Befehl des Chefs der Garnison ein Kradschützenbataillon hinzu. Gegen 10 Uhr besetzte Major Kladtschenko mit seiner Gruppe die wichtigsten Zentren der Stadt, u. a. Brücken über die Elbe, das Hauptpostamt, das Telegrafenamt, die Staatsbank, das Polizeipräsidium, das Gebäude der SEDBezirksleitung, die Bahnhöfe. Bereits ab 10 Uhr sollen Demonstrationen über

162 Titel der übersetzten Quelle: An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern in Deutschland, o.D. (Dokument aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau), gefunden von Michail Semirjaga, ins Deutsche übersetzt von H. KießlichKöcher (Dresden), der der Autorin die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung stellte; zum i.f. dargestellten Ablauf aus Sicht des Kommandeurs vgl. ebd.; die folgenden Zitate ebd., S. 4. 163 Ebd., S. 6.

214

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

die Brücken unterbunden worden sein. Durch Fahrzeug- und Fußpatrouillen wurden Demonstranten „auseinandergejagt" und eine Zusammenballung auf den zentralen Plätzen verhindert. Panzer patrouillierten auf den Hauptstraßen der Stadt. Kradschützen schlössen die Demonstranten ein, und die Infanterie jagte die einzelnen Demonstrationsgruppen auseinander. Die Demonstranten sollen nun Widerstand gegenüber den sowjetischen Soldaten und Offizieren geleistet haben, beispielsweise sollen sie mit Steinen oder Stöcken vorgegangen sein und „Nagelbretter" vor die Fahrzeuge geworfen haben. Probleme entstanden für die Sowjets offenbar auch dadurch, daß sich Demonstranten an Plätzen sammelten, wo Radioübertragungen stattfanden, „weil sie wußten, daß die sowjetischen Truppen keine Personen verjagen würden, die Radioübertragungen hörten". 1 6 4 Nach sowjetischen Angaben kam es gegen Mittag zu ersten größeren Ansammlungen von Menschen in der Innenstadt 165 - so auf dem Postplatz, dem Platz der Einheit und dem Fucikplatz. Gegen 13 Uhr sollen sich auf dem Postplatz etwa 3 000 bis 4 000 Menschen versammelt haben. Demonstranten umringten das Hauptpostamt, das Telegrafenamt, die Gebäude des Polizeipräsidiums und der SED-Bezirksleitung. Eine Stunde später registrierte die sowjetische Einsatzleitung, daß versucht wurde, mit „Kundgebungen zu beginnen". Transparente wurden ausgerollt und Aufrufe in deutscher Sprache verlesen. „Die Provokateure traten innerhalb der Menge auf, wo sie die Möglichkeit hatten, sich gut zu verstecken. Sie kletterten in Gebäude und produzierten verschiedenes Geschrei und Aufrufe. Um 16 Uhr gelang es den Aufrührern für einige Minuten, auf dem Postplatz und dem Platz der Einheit Kundgebungen zu eröffnen, aber diese durchzuführen gelang nicht", notierte später die sowjetische Einsatzleitung. Gegen 18 Uhr soll die „gesamte Bevölkerung durch Dolmetscher" darüber informiert worden sein, daß der Ausnahmezustand verhängt war. 166 „Diese Maßnahme wirkte noch mehr auf die Demonstranten und Aufrührer. Gegen 21 Uhr war jede Bewegung unterbunden." Lediglich einzelne Personen seien danach noch bis 22 Uhr angetroffen worden. Über das Aufeinandertreffen von Demonstranten und sowjetischem Militär, auch über das Verhalten sowjetischer Offiziere und Soldaten gegenüber den Aufständischen, ist insgesamt wenig bekannt. Interessanterweise können sich Zeitzeugen aus den beiden Industriebetrieben ABUS und Sachsenwerk noch an Einzelheiten der unfreiwilligen „Begegnung" mit der sowjetischen Armee erinnern. 167 Sie bestätigen allerdings nicht die Aussagen, die Manfred Hagen Anfang der neunziger Jahre von Dresdener Zeitzeugen erhielt, denen zufolge sowjetische Panzer in die Demonstranten gerast seien. 168 Die ehemaligen ABUS-Angehörigen und Sachsenwerker erinnern sich eher an ein vorsichtiges 164 165 166 167 168

Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 3. Ebd. S. 6f. Vgl. Hundhausen, Der 17. Junil953 im Sachsenwerk, S. 37ff. Vgl. Hagen, D D R - Juni 53, S. 142.

Die Konfrontation von Demonstranten und sowjetischem Militär

215

Agieren der Sowjets an diesem 17. Juni. Beide Versionen könnten zutreffen, da die damaligen Akteure nur ihre subjektiven Wahrnehmungen wiedergaben, die auf unterschiedlichen Beobachtungen an verschiedenen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Kontaktpersonen beruhen. Der Chef der Garnison, Generalmajor Schmyrow, und der Militärkommandant der Stadt Dresden, Gardeoberstleutnant Bogdanow, unterzeichneten den Befehl Nr. 1, der ab 14 Uhr über die Stadt Dresden den Ausnahmezustand verhängte. 169 Die parallelen Unterschriften von Garnisonschef und Stadtkommandanten fanden sich auch unter anderen Ausnahmebefehlen, so etwa für KarlMarx-Stadt. Wie schon erwähnt, verlief das erste Aufeinandertreffen von Demonstranten und Sowjets noch relativ friedlich. Zeitzeugen aus den Niedersedlitzer Industriebetrieben berichteten, daß es gegen 15 Uhr im Italienischen Dörfchen, wo russische Panzer, Feuerwehrfahrzeuge und junge Offiziersanwärter der Offiziershochschule eingetroffen waren, zu folgendem Zwischenfall gekommen sei: „Russen" einer Panzerbesatzung hätten mit Demonstranten diskutiert. Als einige Demonstranten festgenommen worden seien, habe das zu „großer Aufregung und drohenden Gebärden der Streikenden" geführt. Daraufhin seien die Festgenommenen wieder freigelassen worden. 1 7 0 Auch in der Nähe des Stübelplatzes trafen die Demonstranten aus Niedersedlitz auf sowjetische Soldaten. Auf der Grunaer Straße kamen den Marschierenden etwa fünf bis zehn sowjetische Kradbesatzungen entgegen. Ein Teil der Demonstranten warf die mitgeführten Plakate weg, andere brachten sich in Sicherheit. Auch an dieser Stelle soll es noch Diskussionen zwischen Demonstranten und einem sowjetischen Offizier gegeben haben. In diesem Gespräch soll der Offizier bedeutet haben, er hoffe auf „ein friedliches Ende". 171 Danach seien die Sowjets abgefahren, während die Demonstranten ihren Marsch fortsetzten. Auch die Demonstranten des Nachmittagszuges aus Niedersedlitz wurden mehrfach mit sowjetischem Militär konfrontiert. Zunächst wurde ihr Zug unmittelbar nach dem Ausmarsch aus dem Sachsenwerk aufgelöst. Allzu bedrohlich müssen die Demonstranten das Auftreten der Sowjets allerdings nicht empfunden haben, denn sie formierten sich später erneut zu einem Marschzug. Als sie in der Stadt ankamen, waren die Zufahrtsstraßen zum Post- und Theaterplatz abgesperrt, so daß die Marschkolonne nicht mehr durchkam. Einige Demonstranten aus Niedersedlitz versuchten es dennoch. Die Spitze des Zuges wurde aber hinter dem Pirnaischen Platz von den „Russen [...] auf den Fußweg abgedrängt". Vergeblich redete ein Offizier auf russisch auf die Leute ein, während er von Demonstranten beschimpft und ausgepfiffen wurde. Daraufhin soll er einen Befehl an „seine Leute" gegeben haben, die schließlich die 169 Vgl. Chef der Garnison Dresden, Nr. 1/Stadt Dresden (SächsHStA, BDVP 23/18, Bl. 6). 170 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 38. 171 Ebd., S. 37; die folgenden Zitate ebd., S. 39f.

216

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Maschinenpistolen entsichert hätten. In dieser Situation, so wird berichtet, sollen ältere Demonstranten die „Internationale"angestimmt haben. Das wiederum habe „die Russen [...] so beeindruckt", daß sie die Hände vom Abzug nahmen und die Motoren abstellten. Schließlich sollen die sowjetischen Soldaten den Weg in Richtung Postplatz freigemacht haben. Der Offizier habe sie nur noch aufgefordert, nach Hause zu gehen. Die Sachsenwerker berichteten auch über Begebenheiten, die sie auf dem Heimweg beobachteten. So sahen sie, wie aus der Gaststätte „Gambrinus" Bilder herausgeworfen und Volkspolizisten die Mützen vom Kopf geschlagen wurden. Am damaligen „Platz der Einheit" (heute: Albertplatz) habe „ein zorniger russischer Soldat" den Sachsenwerkern zugerufen: „Ihr seid Faschisten, die man erschießen müßte". 172 Im Vergleich zu anderen Bezirkshauptstädten, auch zu Leipzig, hielten sich die sowjetischen Einheiten in Dresden offenbar mit dem Einsatz militärischer Mittel und der Anwendung des Kriegsrechts eher zurück. 173 So verhinderten die befehlshabenden Offiziere zunächst, daß die Polizei mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorging. Den Sowjets kam es darauf an, die Menschenansammlungen bereits vor dem Erreichen der zentralen Plätze zu zerstreuen. Selbst als das nicht gelang und sich größere Menschenansammlungen auf dem Theater- und Postplatz bildeten, fielen zunächst noch keine Schüsse. Erst als das Telegrafenamt gestürmt werden sollte, setzten die Sowjets Waffen ein und gaben Warnschüsse ab. Noch bis in die späten Abendstunden des 17. Juni registrierte die Dresdener Polizei „größere Menschenansammlungen" in der Innenstadt. Auch sie wurden „zerstreut" und einige Demonstranten, vor allem Jugendliche, festgenommen. Gegen 21 Uhr war „die Ruhe und Ordnung" im Stadtgebiet wieder hergestellt, wie die Polizei-Einsatzleitung vermerkte. 174 Danach kontrollierte Militär die Einhaltung der Sperrstunde und das nächtliche Ausgehverbot. Etwa 200 „aufgegriffene Personen" wurden der Volkspolizei „zugeführt" und überprüft. Während dies geschah, trafen in der SED-Bezirksleitung Dresden Elli Schmidt, Kandidatin des Politbüros, und Fritz Selbmann, Minister für Erzbergbau und Hüttenwesen, ein. Danach wurde ein „Kampfstab" mit „leitenden Kadern" der SED, des MfS, der BDVP/KVP und des Bezirksrates gebildet, „um alle Maßnahmen zu koordinieren, Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern". 175 Er hatte seinen Sitz in der SED-Bezirksleitung. Zunächst leitete die Einsatzleitung der Bezirksbehörde der Volkspolizei in Abstimmung mit sowjetischen Offizieren militärische Maßnahmen für die 172 Ebd., S. 40. 173 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 100). 174 Vgl. ebd., Bl. 101. 175 SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17.6. bis 19.6.1953, vom 20.6.1953, S. 4 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) .

Die Konfrontation von Demonstranten und sowjetischem Militär

217

Nacht und den nächsten Tag ein: 1 7 6 Im gesamten Bezirk wurden alle lebenswichtigen Objekte durch sowjetisches Militär, Kasernierte Volkspolizei und Volkspolizei besetzt. Das betraf auch alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte, Bahnhöfe und Brücken. Für die ganze Stadt wurde „erhöhte Streifentätigkeit" angeordnet. Um weitere Demonstrationen oder Ansammlungen in der Innenstadt zu verhindern, wurde in der Stadt Dresden um halb fünf Uhr morgens „ein Sperrgürtel, bestehend aus drei Kontrollpunkten", gelegt. In allen Betrieben, wo sich nach Arbeitsbeginn am 18. Juni „Unruhen" bemerkbar machten, sollten „die sowjetischen Freunde" das Tor abriegeln, damit die Protestierenden die Betriebe nicht verlassen konnten. Der Fahndungsbevollmächtigte des Bezirkes wies die Ämter an, „die Fahndung nach den entwichenen Häftlingen mit besonderem Nachdruck durchzuführen". Dabei ging es insbesondere um die befreiten Görlitzer Häftlinge. Die Kriminalpolizei der Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden bildete „Vernehmungsgruppen, um dem hohen Anfall der zugeführten Personen" zu bearbeiten. Es sollte damit erreicht werden, „daß schon früh 6 Uhr ein großer Teil der Personen nach Überprüfung entlassen werden konnte, um einen größeren Arbeitsausfall zu vermeiden". Nach Polizeiberichten verlief die Nacht vom 17. zum 18. Juni „ohne besondere Ereignisse". 177 Doch zu Arbeitsbeginn am Morgen des 18. Juni zeigte sich in Betrieben erneut die Bereitschaft, zu streiken und zu demonstrieren. Als im Sachsenwerk Niedersedlitz, im Sachsenwerk Radeberg und im Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden Versammlungen durchgeführt wurden, besetzten sowjetische Militäreinheiten die Betriebe. Ehemalige Sachsenwerker erinnern sich daran, daß bereits nach 7 Uhr sowjetisches Militär vom Bahnhof Niedersedlitz her „anrückte". 1 7 8 Überall standen Panzer, Schützenpanzerwagen, Kradbesatzungen mit bewaffneten Soldaten. Die Leitung der Volkspolizei des Bezirkes berichtete später darüber, daß beim „Erscheinen der sowjetischen Freunde und durch entsprechendes Einwirken der Parteileitungen [...] die Arbeit wieder aufgenommen wurde. Schwierigkeiten entstanden lediglich im Trafowerk, wo erst nach Abgabe von Warnschüssen der sowjetischen Freunde die Werktätigen ihren Arbeitsplatz aufnahmen". 1 7 9 Trotz dieser umfangreichen Sicherungsmaßnahmen bildete sich gegen Abend des 18. Juni auf dem Postplatz erneut eine Ansammlung von „größeren Gruppen". Einer Aufforderung seitens des sowjetischen Militärs, den Platz zu räumen, kamen die Versammelten zunächst nicht nach. Daraufhin wurde, laut Polizeibericht, durch die Angehörigen der sowjetischen Armee „scharf geschos-

176 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 104); die folgenden Zitate ebd. 177 Vgl. ebd. 178 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 42 f. 179 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 104f.).

218

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

sen". Drei Jugendliche wurden verletzt und in das Krankenhaus Friedrichstadt eingeliefert. 180 Danach war der Platz innerhalb kurzer Zeit völlig leer. Am 18. Juni gegen 20.30 Uhr wurde der Sperrgürtel wieder aufgehoben. 181 Jetzt konzentrierten sich die polizeilichen Maßnahmen auf die „Überwachung des öffentlichen Verkehrsraumes und der Schwerpunktbetriebe".

6.

Eine „illegale Delegiertenkonferenz" im Sachsenwerk

Angesichts der geschilderten militärischen Maßnahmen gegen die Fortsetzung bzw. neue Wellen von Protesten in den Betrieben ist es schon erstaunlich, was am 18. Juni in einigen Dresdener Betrieben in Anwesenheit der „Freunde" alles passierte. Und wiederum war das Sachsenwerk Niedersedlitz Aktionsschwerpunkt. Im Sachsenwerk hatte die Belegschaft zu Beginn der Frühschicht versucht, erneut eine Versammlung auf dem Hof zu organisieren. 182 Damit sollte vor allem die Freilassung der Verhafteten erreicht werden. Während Hunderte von Angehörigen des Werkes in Gruppen herumstanden und diskutierten, blieb das große Eingangstor geschlossen; ein Panzer stand drohend davor. Sachsenwerker erinnern sich daran, daß Frauen von „innen am Tor hingen", die Panzerbesatzung beschimpften und anspuckten. Ab und zu sollen „Russen" in den Hof gekommen sein, um sich einzelne „Schreihälse" zu greifen und vorübergehend festzunehmen. Ein Jeep soll im Hof seine Runden gedreht haben und wurde aus den Fenstern beworfen worden sein. Seine Besatzung gab mehrmals Warnschüsse ab. Auch in einzelnen Abteilungen sollen patrouillierende „Russen" die Belegschaft zum Arbeiten angehalten haben. Die Panzer wurden am 19. Juni wieder abgezogen; allerdings hielten sich sowjetische Soldaten noch mehrere Tage in der Nähe des Werkes auf. Im gleichen Betrieb trafen sich am Vormittag des 18. Juni Vertreter von Dresdener Betrieben unbehelligt mehrere Stunden im Klubhaus. Es war jene Zusammenkunft, die Buchwitz den gewählten Ausschüssen des VEB ABUS und des SAG Sachsenwerkes nach seinem mißglückten Auftritt vorgeschlagen hatte - mit dem Ziel, eine Resolution an die Regierung zu verabschieden. Buchwitz beabsichtigte selbst, an dieser Versammlung teilzunehmen, suchte aber, bevor er am Morgen des 18. Juni zum Sachsenwerk fuhr, nochmals die SED-Bezirksleitung auf. Dort wurde ihm „erklärt", er solle nicht ins Werk fahren, weil die „Besatzungsmacht [...] keinerlei Verhandlungen mehr dulde". 183 Die SED-Bezirksleitung war demzufolge über die „illegale Delegiertenkonfe-

180 181 182 183

Vgl. ebd., Bl. 105. Vgl. ebd. Vgl. im folgenden Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 44ff. Buchwitz, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953 vom 20. 6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 24).

Eine „ illegale Delegiertenkonferenz " im Sachsenwerk

219

renz" informiert, wie sie die Zusammenkunft später bezeichnete, 1 8 4 ohne daß sie oder die Staatssicherheit eingriffen. So konnten die Delegierten mehrerer Dresdener Betriebe in einem SAG-Betrieb etwa vier Stunden diskutieren, ohne daß jemand die Zusammenkunft gewaltsam auflöste. Als Buchwitz nicht erschien, schickten die im Klubhaus Versammelten sogar ein Auto, um ihn oder einen Vertreter abzuholen. Unterdessen fanden sich um 8 Uhr - sowjetische Soldaten waren schon vor Ort - Delegierte von vier bzw. fünf Dresdener Betrieben im Sachsenwerk ein, um ebenfalls an der Diskussion mit Buchwitz teilzunehmen. Vertreten waren: SAG-Sachsenwerk, VEB ABUS, VEB Plattenwerk Meißen, Werk Niedersedlitz, VEB Glühlampenwerk Dresden und KMB Leipzig, Konstruktionsabteilung Niedersedlitz (in der ABUS angesiedelt, jedoch verwaltungstechnisch selbständig). Über die Teilnehmerzahlen gibt es unterschiedliche Angaben, sie schwanken zwischen 18 bis 20 1 8 5 und „mehr als 60 Personen." 1 8 6 Vom ABUS-Hauptwerk waren drei Kommissionsmitglieder anwesend, Lothar Krausch, Erich Berthold, und Herbert Müller 187 , vom ABUS, Werk II, die Kommissionsmitglieder Werner Fiebig und Christoph Jacobi. 188 Vom Sachsenwerk waren acht Delegierte im Klubhaus, darunter Fritz Diener, der die Zusammenkunft leitete. 189 Als Gäste nahmen teil: Ein namentlich nicht bekanntes Mitglied der SED-Betriebsparteileitung, Heinz Schulz, Mitglied des Sekretariats des Zentralvorstandes der IG Metall, und Kurt Kluge, ehemaliges SPD-Mitglied, Gewerkschaftsinstrukteur der IG Metall, Gebietsleitung Dresden-Stadt. Schulz war am Vortag von Berlin nach Dresden gekommen mit dem Auftrag, „im Bezirksvorstand Dresden Hilfe und Anleitung zu geben und die Organisation zu festigen". Konkretere Aufträge brachte er nicht mit. Kluge sollte „den Betrieben von Dresden-Stadt Kenntnis geben, daß Anzeichen dafür vorhanden wären, daß angeblich Personen, die Provokateure sind oder ähnliches, mit gefälschten Ausweisen von Ministerien hier auftauchen, um Verwirrung in den Betrieben zu schaffen". 1 9 0 Darüber sollte er die BGL-Vorsitzenden, die Parteisekretäre und Werkleiter informieren. In dieser Mission war er am 17. auch in das Sachsenwerk gekommen und hatte die Versammlung mit Buchwitz erlebt. Die beiden Gewerkschaftsfunktionäre trafen erst nach Beginn der Beratung im Sachsenwerk ein, als die 184 Vgl. u. a. SED-Bezirksleitung Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbau, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 13 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 . 185 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Schulz, Heinz, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 10). 186 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 46. 187 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokolle der Beschuldigten vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, 2 3 9 / 5 3 ) . 188 Vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 43. 189 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Schulz, Heinz, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 10); das folgende Zitat ebd., Bl. 8; vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 46. 190 Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Kluge, Kurt, vom 19.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 21).

220

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Diskussion über die fünf Forderungen bereits im Gange war. Sie beteiligten sich an der Diskussion und der Formulierung der Resolution, die sie dann schließlich weiterleiteten. Beide Gewerkschaftsfunktionäre wurden später von der Staatssicherheit festgenommen und verhört. 1 9 1 In der Diskussion ging es um jene fünf Forderungen, die am Vortag im VEB ABUS und im SAG Sachsenwerk gestellt worden waren. Die anwesenden Gewerkschaftsfunktionäre aus Dresden und Berlin lehnten die Forderungen nicht generell ab, sie bemühten sich nach eigenen Aussagen lediglich „um geschickte Formulierungen". 1 9 2 In der Diskussion schlug der anwesende Vertreter der SED-Betriebsparteileitung des Sachsenwerkes vor, in die Resolution ein Vertrauensbekenntnis zur Regierung der DDR aufzunehmen. 1 9 3 Dieses Ansinnen wurde jedoch abgelehnt. Über die Forderungen wurde einzeln abgestimmt. Jeweils ein Vertreter der fünf Betriebe unterschrieb die Resolution. Auch die Unterschriften von Lothar Krausch 1 9 4 für die Konstruktionsabteilung des ABUS und von Erich Berthold für das Hauptwerk des ABUS standen auf dem Papier. Die Beratung dauerte bis gegen 12.30 Uhr. 1 9 5 Die Resolution hatte folgenden Inhalt: „Die Delegierten der Betriebe fordern von der Regierung: 1. schnellste Durchführung geheimer, freier, direkter, gesamtdeutscher Wahlen; 2. daß die in der Vergangenheit begangenen Fehler von den verantwortlichen Regierungsmitgliedern untersucht, die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen, das Ergebnis öffentlich bekanntgegeben und die Schuldigen entsprechend ihrer wirklichen Qualifikation eingesetzt werden, 3. unverzügliche Untersuchungen der gefällten Urteile über politische Vergehen in der Vergangenheit. Sofortige Freilassung der Verhafteten, die in Erregung ihre politische Meinung kundgetan haben; demgegenüber strengste Bestrafung derjenigen, die vorsätzlich Volkseigentum vernichtet haben; 4. sofortige Aufhebung der gesamten Einschränkungen auf dem Gebiet der Sozialfürsorge; Wiederherbeiführung des alten Standes; 5. bedeutende Herabsetzung der Preise von den in ausreichendem Maße vorhandenen Waren in der Staatlichen Handelsorganisation; 6. schnellste Realisierung der versprochenen Lohnerhöhung der Lohngruppen 1 - 4 ; 7. daß die unterzeichneten Delegationsmitglieder der Betriebe keinerlei Schaden persönlicher und materieller Art von Seiten der Staatsorgane und der einzelnen Werkleitungen erleiden." 1 9 6 191 Vgl. Vernehmungsprotokolle, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 21); vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./19.6.1953 im Bezirk Dresden, vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 , Bl. 54). 192 Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Kluge, Kurt, vom 19.6.1953 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 23). 193 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Schulz, Heinz, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 12). 194 Vgl. An die Regierung der DDR (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 141). Dagegen schreibt Hundhausen, daß L. Krausch nichts von einer „illegalen Konferenz" im Sachsenwerk gewußt hätte; vgl. Hundhausen, Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk, S. 48. 195 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Kluge, Kurt, vom 19.6.1953 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 24). 196 An die Regierung der DDR (BStU, Ast. Dresden, AU, 2 3 9 / 5 3 , Bl. 141).

Eine „illegale Delegiertenkonferenz" im Sachsenwerk

221

Ein Exemplar der angenommenen Resolution leitete Kluge an die Gebietsleitung der IG Metall Dresden-Stadt weiter; 197 ein weiteres nahm Schulz nach Berlin mit und übergab es am Abend des 18. Juni dem Zentralvorstand der IG Metall. Ein drittes Exemplar sollte der Werkleiter des Sachsenwerkes an die Regierung der DDR weiterreichen. Neben der Diskussion und Verabschiedung der Resolution spielte offenbar die Verhaftung von Kommissions- und anderen Belegschaftsmitgliedern aus dem Sachsenwerk und der ABUS eine große Rolle. In diesem Zusammenhang wählten die Delegierten eine „Sonderkommission", die den Auftrag erhielt, die Kollegen aus der Haft freizubekommen. 198 In dieser Kommission war nachweislich Lothar Krausch vertreten. Er verhandelte im Auftrag dieses Gremiums noch am gleichen Tage mit dem Volkspolizeikreisamt Dresden und mit dem Bürgermeister der Stadt Dresden, Wagner. Die „Delegierten" kehrten danach in ihre Betriebe zurück und informierten ihre Belegschaften über die Ergebnisse ihrer Beratung. Die Vertreter des VEB ABUS gingen zunächst zur Betriebs- und zur Parteileitung, legten die Resolution vor und forderten die Freilassung der verhafteten Kollegen. Betriebsleiter Soldner versprach, sich für die Festgenommenen einzusetzen. Danach fand erneut eine Versammlung statt, auf der zunächst die Resolution verlesen wurde. Die Verhaftung von sechs Kommissionsmitgliedern spielte in der Diskussion über das weitere Vorgehen eine zentrale Rolle. Die Belegschaft wollte die Arbeit nicht aufnehmen, bevor die Kollegen freigelassen wurden. Auch in anderen Betrieben von Dresden und Umgebung hatte sich die Festnahme von Sachsenwerkern und ABUS-Beschäftigten schnell herumgesprochen. In den SED-Berichten ist von „starken Beunruhigungen" die Rede. 199 In einigen Betrieben war das der Auslöser für neue Streiks. Zunächst fanden am 18. Juni in Dresdener Betrieben Versammlungen statt, die Resolutionen mit „provokatorischem Inhalt" annahmen, wie es der Bezirksvorstand des FDGB später ausdrückte. 200 So verabschiedeten beispielsweise die Belegschaften im VEB Feinstmaschinenbau Niedersedlitz, im VEB Kohinoor Dresden, im RFT Funkwerk Dresden und Bauarbeiter des Kreisbaubetriebes Dresden-Land, Baustelle Industriegelände, Resolutionen an die Regierung oder den Präsidenten der Volkskammer. Nach wie vor standen Forderungen nach Rücktritt der Regierung, nach Gewährleistung demokratischer Grundrechte und nach Durchführung gesamtdeutscher Wahlen an der 197 VP-Amt (B) Sachsenwerk Niedersedlitz, An die BDVP, Betr.: Einsatz anläßlich der faschistischen Provokation vom 17.-19.6.1953, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 13). 198 Sachstandsbericht über die Streikleitung im ABUS-Werk Niedersedlitz-Dresden vom 4 . 7 . 1 9 5 3 , S. 5f. (Staatsanwaltschaft Dresden, la, Ks 3 4 5 / 5 3 , AZ 3 8 2 / 5 3 ) . 199 Vgl. u. a. SED-Bezirksleitung Dresden, Meldung an das ZK, Betr.: Lage in den Bezirken, vom 20.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 0 , Bl. 85). 2 0 0 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./ 19.6.1953 im Bezirk Dresden, vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED 1 V / 2 / 3 / 2 0 7 , Bl. 53); im folgenden vgl. ebd., Bl. 51.

222

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Spitze umfangreicher Forderungskataloge. Einige dieser Resolutionen enthielten ultimative Terminfestlegungen. So endete das Dokument des RFT Funkwerks mit folgender Formulierung: „Wir fordern von der Regierung bis zum 19.6.1953, 7 Uhr, die Erklärung über die Maßnahmen, die die Regierung im Zusammenhang mit der Abgabe dieser Resolution eingeleitet hat. Sollte bis zu diesem Zeitpunkt eine positive Stellungnahme nicht vorliegen, tritt der Betrieb in einen zweistündigen Warnstreik." 201

7.

Demonstrationen und Streiks im Bezirk Dresden

Im Bezirk Dresden fanden am 17. Juni in mindestens acht Städten und Gemeinden öffentliche Protestdemonstrationen oder Aufmärsche statt: in Bautzen, Dresden, Görlitz, Kollm, Niesky, Pirna, Riesa und Zodel. Am 18. Juni demonstrierten nochmals Einwohner von Bautzen, Dresden, Rothenburg (Kreis Niesky) und Gröditz (Kreis Riesa). Über die Zahl der Demonstranten liegen sehr widersprüchliche Angaben vor. Dabei ist davon auszugehen, daß die ersten Polizeischätzungen den tatsächlichen Zahlen am nächsten kamen, während die der SED-Bezirksleitung weitaus niedriger waren; offenbar wollte sie die Proteste in ihrem Territorium herunterspielen. Die ersten Meldungen über Demonstrationen erfolgten bereits am Abend des 17. Juni. In einem Blitzfernschreiben teilte der Operativstab der BDVP nach Berlin mit, daß in Dresden 15 000, in Görlitz 25 000 bis 30 000, in Riesa ca. 600 bis 800 und in Pirna ca. 3 000 Menschen demonstriert hatten. 202 Am 23. Juni berichtete die gleiche Behörde ihrer vorgesetzten Dienststelle, daß sich im Bezirk Dresden am 17. Juni insgesamt 43 200 Personen an Demonstrationen beteiligten. Für Dresden-Stadt wurden jetzt 6 000 Teilnehmer angegeben, für Niesky 1 200, für Pirna 2 000 und für Görlitz 34 OOO.203 Für den 18. Juni meldete der Polizeibericht insgesamt 1850 Demonstranten für den Bezirk Dresden. In Rothenburg sollen sich 350 Demonstranten, in

201 FS Nr. 85 vom 18.6.1953 „Funkwerk D S D N mit der Bitte um sofortige Weiterleitung an den Präsidenten der DDR". In: Handakte Grothaus (Staatsanwaltschaft Dresden, Ks 3 4 5 / 5 3 , 1 3 8 2 / 5 3 , Bl. 32). 2 0 2 BDVP Dresden, Leitung, Blitzfernschreiben vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP 2 3 / 186, Bl. 10). Die gleiche Behörde machte dem Oberstleutnant Garaschtschenko am 22. Juni andere Angaben über die Ausdehnung von Demonstrationen im Bezirk. Demnach hätten etwa 8 0 0 0 bis 9 0 0 0 Werktätige im Bezirk demonstriert, davon in Dresden 5 000, in Dresden-Niedersedlitz 1 0 0 0 , in Niesky etwa 8 0 0 und in Riesa etwa 2 000; vgl. BDVP Dresden, An den Genossen Oberstleutnant Garaschtschenko, Bericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 49). 2 0 3 Vgl. BDVP Dresden, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegungen am 17. und 18.6. 1953 im Bereich der BDVP Dresden vom 23.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 62).

Demonstrationen und Streiks im Bezirk Dresden

223

Gröditz 1 500 und auf dem Postplatz in Dresden ca. 200 Personen zusammengefunden haben. 2 0 4 An die Sowjetischen Kontrolloffiziere gab die Leitung der Volkspolizei des Bezirkes zunächst die Zahl von 38 700 Demonstranten für den Bezirk weiter 2 0 5 , während in einer späteren Meldung nur noch von etwa 8 000 bis 9 000 Demonstranten die Rede war. 2 0 6 Die SED-Bezirksleitung wies in einer ersten „Analyse" für Dresden-Stadt 4 000 bis 5 000 und für Görlitz 9 000 Demonstranten aus. 2 0 7 In der zweiten „Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung" vom 8. Juli nannte sie kaum Zahlen über Protestmärsche in ihrem Territorium. Berichtet wurde lediglich von 3 0 0 0 0 demonstrierenden Görlitzern. 2 0 8 Das ZK der SED übernahm in seiner „Analyse" die ersten Angaben aus dem Bezirk Dresden, in denen von 4 000 bis 5 000 Demonstranten für Dresden und 9 000 für Görlitz ausgegangen wurde. 2 0 9 Auch die Überlieferungen zur Streikbewegung im Bezirk Dresden sind sehr lückenhaft und widersprüchlich, das betrifft die statistischen Angaben, die Ausdehnung auf die Kreise und die Erfassung der einzelnen Streikbetriebe. Eine Meldung der Volkspolizei-Bezirksbehörde an die Sowjetischen Kontrolloffiziere vom 18. Juni enthielt Aussagen über die Anzahl der Streikenden im Bezirk Dresden, ohne jedoch Angaben über die unterschiedliche Dauer der Arbeitsniederlegungen zu berücksichtigen. Demnach legten insgesamt 30 900 Betriebsangehörige die Arbeit nieder, darunter in Görlitz ca. 12 000, in Dresden 6 500, in Riesa 6 200. Der Rest verteilte sich auf die Kreise Zittau, Niesky und Pirna. 2 1 0 Tage später meldete die gleiche Behörde, daß am 17. Juni insgesamt 22 562 Personen im Bezirk Dresden streikten. 211 Einige Großbe2 0 4 Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben vom 19.6.1953, 4 . 0 0 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 20). Diese Angaben verwendet auch Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 2 8 8 . 2 0 5 Vgl. BDVP Dresden, Meldung an die SKK, Stand vom 18.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 19). 2 0 6 Vgl. BDVP Dresden, An den Genossen Oberstleutnant Garaschtschenko, Bericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 49). 2 0 7 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17.6. bis 19.6. 1953 vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , S. 2 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; vgl. ZK der SED, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 1 6 . - 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 0 . 7 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 10). 2 0 8 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 13 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 2 0 9 Vgl. ZK der SED, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 1 6 . - 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 0 . 7 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 3 0 , I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 10). 210 Vgl. BDVP Dresden, Meldung an die SKK, Stand vom 18.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 19). 211 Vgl. BDVP Dresden, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegung am 17. und 18.6. 1953 im Bereich der BDVP, vom 2 3 . « . 1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 59). Diese Angaben übernahm auch Torsten Diedrich; vgl. Diedrich, Der 17. Juni, Anhang, S. 2 8 8 .

224

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

triebe waren ausdrücklich noch nicht in dieser Statistik, jedoch in der namentlichen Aufstellung enthalten, u. a. der VEB ABUS, Zeiß-Ikon und das Kamerawerk Niedersedlitz. Offenbar wurden auch nur jene Betriebe erfaßt, die streikten, und nicht die, die „nur" aufgrund von Versammlungen die Arbeit unterbrachen. Unter diesem Aspekt wird schon deutlich, daß die Anzahl der Streikenden zu niedrig angesetzt ist. An der Spitze stand nach dieser Aufstellung Görlitz mit 12 950 Streikenden, gefolgt von Dresden mit 4 400 und Niesky mit 2 600. Die restlichen Streikenden entfielen auf die Kreise Pirna (1 200), Zittau (600), Löbau (555), Meißen (150) und Freital (107). Für den 18. Juni wies der Bericht eine Beteiligung von 27415 Personen an Arbeitsniederlegungen aus. Wiederum stand Görlitz mit 11850 Streikenden an der Spitze, gefolgt von Riesa mit 5 750, Dresden mit 4 870, Zittau mit 2 250 und Niesky mit 2 245. Der Rest entfiel auf die Kreise Pirna und Freital. Auch hier waren Streikende einiger Betriebe noch nicht in die Statistik einbezogen. Aus der Aufstellung der streikenden Betriebe wird deutlich, daß einige Betriebsbelegschaften ihren Streik fortsetzten, so u. a. in Dresden die Niedersedlitzer Betriebe SAG Sachsenwerk, VEB ABUS, die volkseigenen Betriebe aus dem Stadtbezirk IV Schleifscheibe und Feinstmaschinenbau und aus dem Stadtbezirk IX das RFT-Funkwerk. Es kamen aber auch Betriebe hinzu, die an diesem Tage erstmals streikten, wie z. B. VEB Chemische Fabrik von Heyden (Dresden-Land), der VEB Transformatorenund Röntgenwerk und EKM Turbine Dresden. 212 Obwohl in wichtigen Großbetrieben des Bezirkes am Morgen des 18. Juni Panzer auffuhren und sowjetische Offiziere die Belegschaften über die Werkdirektoren auffordern ließen, die Arbeitsniederlegungen zu beenden, nahm ein Teil der Streikenden die Arbeit zunächst nicht wieder auf. Die Sowjets verhielten sich in dieser Situation recht unterschiedlich. In einzelnen Betrieben ließen sich sowjetische Offiziere auf Diskussionen mit den Streikleitungen ein. So fand im EKM Turbinenfabrik Dresden eine fünfstündige Auseinandersetzung zwischen der gewählten Streikleitung, dem 1. SED-Sekretär des Stadtbezirkes und einem sowjetischen Offizier statt. Im Anschluß daran wurden mehrere Mitglieder der Streikleitung festgenommen. 213 In anderen Betrieben, wie in Görlitz, Niesky und Zittau, forderten die Sowjets ultimativ die Wiederaufnahme der Arbeit und drohten bei Zuwiderhandlungen sogar mit Erschießungen. Bis zum 23. Juni versuchten einzelne Betriebsbelegschaften immer wieder, die Arbeitsniederlegungen fortzusetzen oder erneut zu beginnen. Auslöser war dabei oft die Verhaftung von Kollegen. Mit Streiks bzw. Streikdrohungen sollte ihre sofortige Freilassung erreicht werden, was allerdings in den wenigsten Fällen zum Erfolg führte. Vor allem in kleineren Betrieben waren derartige Aktionen schnell zum Scheitern verurteilt. „Durch das sofortige Einschreiten der operativen Kräfte (Freunde, KVP und VP)" wurden diese Versuche unter212 Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben an die HVDVP vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 20). 213 Vgl. SED-BL Dresden, Situationsbericht, o.D. (SächsHStA, SED, IV/2/4/061).

Demonstrationen und Streiks im Bezirk Dresden

225

bunden, wie die BDVP feststellte. 214 Die letzten Streiks im Juni, die quellenmäßig belegbar sind, fanden am 23. Juni auf zwei Baustellen der Bauunion in Reichenbach (Kreis Görlitz) und Berzdorf (Kreis Görlitz) mit je 300 Personen statt. 215 Die Angaben über die Anzahl der Kreise des Bezirkes Dresden, in denen gestreikt wurde, gehen gleichfalls auseinander. Die Leitung der Volkspolizei des Bezirkes Dresden ging von dreizehn bzw. vierzehn Stadt- und Landkreisen mit Arbeitsniederlegungen aus. 2 1 6 Lediglich die Kreise Bischofswerda, Dippoldiswalde und Kamenz waren in den Polizeiberichten nicht unter den „Streik-Kreisen" ausgewiesen. Die SED-Berichterstattung ist in sich sehr widersprüchlich. Die Bezirksleitung informierte das ZK über Arbeitsniederlegungen in nur acht Stadt- und Landkreisen: in Dresden Stadt und Land, in Görlitz Stadt und Land, in Niesky, Zittau, Löbau und Riesa. 217 Sie behauptete, daß es in den Kreisen Kamenz, Bischofswerda, Dippoldiswalde, Großenhain, Freital und Bautzen keine Arbeitsniederlegungen gegeben habe. Drei Kreise wurden bei dieser Einteilung in streikende und nichtStreikende Kreise von der Parteiberichterstattung überhaupt nicht erfaßt: Meißen, Pirna und Sebnitz. Die „Analysen" der einzelnen SED-Kreisleitungen bestätigen die Angaben der SED-Bezirksleitung lediglich für die Kreise Bischofswerda 218 , Dippoldiswalde 219 , Freital 2 2 0 , Großenhain 2 2 1 und Kamenz. 2 2 2 Aus den Kreisen Bautzen, Meißen, Pirna und Sebnitz sind Meldungen über Streiks in einzelnen Betrieben überliefert. 2 2 3 Doch auch für die „streikfreien" Kreise meldeten die SED-Kreisleitungen „Feindarbeit". Die Rede war von „größeren Diskussionen", „Störversuchen", 214 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 , Bl. 106). 215 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Informationen und Berichte, o.D. (SächsHStA, BT/RdB, 420). 216 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, FS, An die HVDVP, Operativstab, vom 23.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 59ff.). 217 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 16f. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 218 Vgl. SED-KL Bischofswerda, Bericht an die SED-BL vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 39-41). 219 Vgl. SED-KL Dippoldiswalde, Analyse über die Vorkommnisse und die Situation im Kreis Dippoldiswalde vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 32-36). 220 Vgl. SED-KL Freital, Analyse über den Ausbruch, die Entstehung und die Entwicklung der faschistischen Provokation im Kreisgebiet Freital vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 36-39). 221 Vgl. SED-KL Großenhain, Analyse vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 13-17). 222 Vgl. SED-KL Kamenz, Bericht an die SED-BL vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 1-3). 223 Es handelte sich dabei um „telefonische Durchsagen", die in den SED-Unterlagen an verschiedenen Stellen vermerkt wurden; vgl. u. a. Aktennotizen im Bestand der SEDBezirksleitung Dresden, Abt. Staatliche Organe über Mitteilungen aus Kreisen (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ; I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) ; die folgenden Zitate ebd.

226

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

„versuchten Provokationen" und „Ansätzen von Provokationen, die im Keim erstickt wurden". Nach der „Analyse" der SED-Bezirksleitung Dresden streikten im Bezirk am 17. Juni und an den folgenden Tagen „teilweise bzw. vollständig" 113 Betriebe (ohne Stahlwerk Riesa). 224 Dadurch entstanden insgesamt 515 606 Ausfallstunden. Die SED ging davon aus, daß in Dresden-Stadt insgesamt 26 Betriebe (von ca. 1 200) mit 19 545 Beschäftigten am Streik beteiligt waren und 28 306 Ausfallstunden entstanden, in Görlitz-Stadt 39 Betriebe mit 16192 Beschäftigten und 205 638 Ausfallstunden, in Dresden-Land sieben Betriebe mit 3 790 Beschäftigten, in Riesa (ohne Stahlwerk) sechs Betriebe mit 6169 Beschäftigten und 48 440 Ausfallstunden. Dazu kamen 37400 Ausfallstunden im Stahlwerk Gröditz. In Zittau legten drei Betriebe mit 4 053 Beschäftigten die Arbeit nieder, es entstanden 19 203 Ausfallstunden, in Löbau waren sieben Betriebe (3 523 Beschäftigte) am Streik beteiligt und verursachten 5 023 Ausfallstunden. Nach Eigentumsformen waren 69 VEB (Z) mit insgesamt 51342 Beschäftigten, 38 VEB (K) mit 10 389 Beschäftigten, sechs Privatbetriebe und sonstige mit 900 Beschäftigten im Streik. Die SED-Bezirksleitung schätzte den wertmäßigen Produktionsausfall durch Arbeitsniederlegungen im Bezirk auf insgesamt 1632 220,- Mark, für Dresden-Stadt lag er bei 528156,- Mark, für Riesa (wiederum ohne Stahlwerk Riesa) bei 309 820,- Mark, für Görlitz-Stadt bei 192 735,- Mark und für Niesky bei 62 841,- Mark. Die gewerkschaftliche Berichterstattung nannte die Zahl von neun Kreisen des Bezirkes, in denen keine Streiks stattgefunden hatten, ohne diese namentlich festzuhalten. In diesen Kreisen sei es lediglich zu „heftigen Diskussionen in den Betrieben gekommen". 2 2 5 Der Bezirksvorstand des FDGB schlüsselte die streikenden Betriebe nach Industriezweigen und Eigentumsformen auf. 2 2 6 Nach dieser Übersicht legten am 17. Juni 32 Betriebe die Arbeit nieder, knapp die Hälfte, 15 Betriebe, entfielen auf die IG Metall, neun auf die Textil-Bekleidung-Leder, zwei auf die IG Bau-Holz. Am 18. Juni streikten 42 Betriebe, darunter vierzehn aus dem Bereich der IG Metall, sieben aus der IG TextilBekleidung-Leder und sechs aus der IG Bau-Holz. Am 19. Juni waren unter den fünf Betrieben, die als Streikbetriebe erfaßt wurden, drei aus der IG TextilBekleidung-Leder und zwei aus der IG Metall. Die Gewerkschaften gaben an, daß es im Bezirk Dresden in den Betrieben der IG Bergbau, Energie, Eisen224 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 16 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Die Angaben zu Gröditz vgl. SEDKL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 , Bl. 5 9 - 6 3 ) . Eine Aufstellung der Ausfallstunden im Stahlwerk Riesa existiert dagegen nicht. 2 2 5 FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 1 7 . / 1 8 . / 1 9 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk Dresden vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 , BL 51). 2 2 6 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20. 6.1953, S. 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 1 0 ) .

Demonstrationen und Streiks im Bezirk Dresden

227

bahn, Transport, Post, Nahrung und Genuß, Land und Forst und dem Sektor Verwaltung keine Streiks gegeben habe. Das trifft auf keinen Fall zu. Obwohl die einzelnen Angaben über die Ausdehnung der Streikbewegung deutlich voneinander abweichen, können daraus bestimmte Trends abgeleitet werden. Übereinstimmend machen die statistischen Angaben deutlich, daß die Zahl der streikenden Betriebe und der Streikteilnehmer am 18. Juni im Bezirk Dresden gegenüber dem Vortag anwuchs. Das trifft auch auf die Städte Dresden, die Kreise Freital, Riesa und Zittau zu, nicht aber auf die Kreise Görlitz und Niesky. Auch im Bezirk Dresden bewirkte die Verhängung des Ausnahmezustandes allein nicht, daß die Streikenden ihre Arbeit wieder aufnahmen. Im Gegenteil führte diese Maßnahme, begleitet von Verhaftungen von Kollegen, dazu, daß die Streikbereitschaft und -initiative einen neuen Schub erfuhr. Jetzt wurde u. a. auch für die Aufhebung des Ausnahmezustandes, für den Abzug sowjetischer Panzer aus den Betrieben und den Städten und für die sofortige Freilassung der Inhaftierten gestreikt. Deshalb stellten die sowjetischen Kommandanten einiger Kreise ultimative Forderungen zur sofortigen Arbeitsaufnahme, unterlegt mit deutlichen Drohungen bei Zuwiderhandlungen. Solche Befehle sind bisher für Görlitz, Niesky, Riesa und Zittau nachweisbar. Und trotzdem hielten die Arbeitsniederlegungen in manchen Betrieben mehrere Tage an, in Ausnahmefällen bis zum 23. Juni. An der Spitze der Streikbetriebe standen in den Städten des Bezirkes die großen volkseigenen Betriebe und ein SAG-Betrieb. Neben den Initiativbetrieben in Niedersedlitz - SAG Sachsenwerke und VEB ABUS - waren das u. a.: Stahl- und Walzwerk Gröditz (4 692 Beschäftigte), Stahl- und Walzwerk Riesa ( 8 3 8 3 Beschäftigte), VEB LOWA Görlitz (5 744 Beschäftigte), LOWA Niesky (3 679 Beschäftigte), IFA-Werk Phänomen Zittau (4021 Beschäftigte), EKM Görlitz (2 229 Beschäftigte), VEM Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden (3 181 Beschäftigte). Diese Betriebe gehörten ausnahmslos zu den sogenannten „Schwerpunktbetrieben" des Bezirkes Dresden. 2 2 7 Von den 25 bzw. 26 (einschließlich SAG Sachsenwerk) derartigen Schwerpunktbetrieben streikten nachweislich 15 Betriebe. 228 Damit hängt auch zusammen, daß die wertmäßig ausgewiesenen Produktionsausfälle infolge Arbeitsniederlegungen in jenen Städten und Kreisen besonders hoch geschätzt wurden, in denen mehrere große Betriebe in den Streik einbezogen waren, wie in Dresden-Stadt, Riesa und Görlitz. Bedenkt man dabei, daß das Stahl- und Walzwerk Riesa noch nicht in jener Statistik erfaßt war, dann könnte sich die Reihenfolge zugunsten von Riesa verändern. Die angegebenen Zahlen über Ausfallstunden lassen Schlußfolgerungen auf die 227 Vgl. SED-BL Dresden, Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes I. Quartal 1953 im Bezirk Dresden, vom 24.4.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 0 0 6 , Bl. 416). 228 Berichterstattung über streikende Betriebe (BDVP Dresden, Operativstab, Berichte vom 23.6.1953, Bl. 59ff.).

228

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Dauer und die prozentuale Beteiligung der Belegschaften an den Arbeitsniederlegungen zu. Hier stand Görlitz an der Spitze, gefolgt von Riesa (wiederum ohne Stahlwerk Riesa) und Dresden-Stadt. Territoriale Schwerpunkte in den Juni-Auseinandersetzungen bildeten: Görlitz-Stadt, Dresden-Stadt und Niesky. In diesen drei Städten hat es am 17. Juni und an den Folgetagen größere Demonstrationen und umfangreiche Streiks gegeben. Auch der Kreis Riesa mit den Streiks in den beiden großen Stahl- und Walzwerken Gröditz und Riesa (mit ca. 13 000 Gesamtbeschäftigten) und der Kreis Zittau mit den IFA-Werken Phänomen (ca. 4 000 Beschäftigte) hätten sich zu Schwerpunkten entwickeln können, wenn es den Belegschaften dieser Betriebe gelungen wäre, ihren Protest auf die Straßen zu tragen. Entsprechende Versuche wurden hier jedoch durch das Eingreifen sowjetischer Truppen sehr schnell unterbunden.

8.

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

Für die nachstehend dargestellten Arbeitsniederlegungen des Bezirkes Dresden wurden Kreise bzw. Betriebe ausgesucht, in denen Besonderheiten auftraten, wie im VEB Chemische Fabrik von Heyden in Radebeul (Landkreis Dresden), andere, weil sie zu den Schwerpunktbetrieben des Bezirkes Dresden gehörten, wie die Stahl- und Walzwerke in Gröditz und Riesa und die IFAWerke in Zittau und Seifhennersdorf. Das Geschehen im Kreis Bautzen bzw. in Bautzen-Stadt, das nicht zu den Schwerpunkten der Proteste zu rechnen ist, wurde deshalb in die Betrachtung einbezogen, weil sich die Frage stellen könnte, wie in dieser Stadt, die durch ihre Strafvollzugsanstalten für politische Häftlinge bekannt wurde, der 17. Juni 1953 verlief. Außerdem war Bautzen das Zentrum der Sorben in der DDR, und über deren Teilnahme am Juni-Aufstand ist kaum etwas bekannt. Die Ereignisse im Stadt- und Landkreis Görlitz und im Kreis Niesky werden anschließend in einem eigenen Kapitel behandelt, weil sie nicht nur die Schwerpunkte im Bezirk Dresden waren, sondern in diesen Städten auch Aktionen abliefen, die nur dort anzutreffen waren. Während in Leipzig Streiks und Demonstrationen am 17. Juni etwa zeitgleich im Stadt- und im Landkreis begannen, war der Parteiberichterstattung zufolge in Dresden-Land am 17. Juni „alles ruhig gewesen". Erst am 18. Juni seien „auf Grund der Vorgänge in Dresden, Meißen und Weinböhla [...] die Provokateure in Erscheinung getreten". 2 2 9 Diese Aussage stimmt so nicht, denn bereits am 17. Juni kam es auch im Landkreis Dresden zu ersten Aktionen. Der territoriale Schwerpunkt lag in Radebeul. Am 17. Juni suchten Delegationen des VEB Planeta andere Werke auf, z. B. den VEB Emailleguß, VEB 229 SED-KL Dresden-Land, Bericht über die Situation im Kreisgebiet Dresden-Land vom 17.6.1953 bis 20.6.1953, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 43).

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

229

Rapido, VEB Hochspannungs- und Armaturenwerk und den VEB Radebeuler Schuhfabrik, und forderten zum Streik auf. 230 Und sie hatten Erfolg mit ihrer Mission. Der Streik in der Radebeuler Schuhfabrik (1600 Belegschaftsmitglieder) dauerte bis zum Vormittag des 19. Juni. Der 1. SED-Kreissekretär und zehn Genossen hielten sich zu diesem Zeitpunkt im Betrieb auf. 231 Im Emaillewerk Radebeul forderte die Belegschaft noch am 24. Juni sofortige „Rechenschaft von der Regierung und vom FDGB", ansonsten wollten sie am folgenden Tag erneut streiken. 232 Die größten Sorgen bereitete offenbar den verantwortlichen Funktionären das Geschehen im VEB Chemische Fabrik von Heyden in Radebeul. Während die Streiks in den Betrieben des Bezirkes Dresden - wie auch anderswo - in der Regel von Arbeitern volkseigener Großbetriebe bzw. SAG-Betrieben ausgelöst wurden, initiierten hier Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz die Proteste. 233 Der Betrieb mit 1063 Beschäftigten, darunter 180 Mitglieder der SED, legte am 18. Juni um 11 Uhr auf „Veranlassung der technischen Intelligenz" geschlossen die Arbeit nieder. 234 Dem Werkdirektor teilten die Chemiker in einer Entschließung mit, daß sie „mit großem Bedauern von den blutigen Vorgängen in Berlin Kenntnis genommen und mit Entrüstung erfahren [haben], daß gegen die für demokratische, in der Verfassung verbürgten Rechte demonstrierenden Werktätigen und die Bevölkerung Berlins mit der Schußwaffe vorgegangen wurde". 2 3 5 Dieses Dokument unterschrieben 32 Chemiker, darunter viele promovierte Mitarbeiter. Danach fand eine Versammlung statt, einberufen von den Chemikern des VEB Heyden und der Silikonchemie. 236 Sie forderten die Belegschaft aus „Sympathie und Trauer für die gefallenen und verletzten deutschen Arbeiter" zum Streik auf. Nationalpreisträger Dr. Müller, der als Sprecher hervortrat, mahnte die Solidarität im Gedenken an „in Berlin geflossenes Arbeiterblut" an. Dafür erhielt er „tosenden Beifall". Außerdem verlas er eine Resolution mit folgenden Forderungen:

230 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20.6.1953, S. 3 (SächsHStA, SED IV/2/12/010). 231 Vgl. SED-KL Dresden-Land, Berichte vom 19.6.1953, 9.55 Uhr (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 232 Ebd. 233 Vgl. SED-BPO VEB Chemische Fabrik v. Heyden, Meldung an die SED-KL vom 18.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 234 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Situationsbericht vom 18.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 420). 235 An den Werkdirektor, Radebeul, 18.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 236 FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20.6.1953, S. 5 (SächsHStA, SED IV/2/12/010); die folgenden Zitate ebd.

230

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

„1. Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes, 2. Presse- und Redefreiheit für jedermann, 3. Freilassung aller politischen Gefangenen, 4. freie gesamtdeutsche Wahlen, 5. wenn einer verhaftet wird, wird weitergestreikt." 237 Über diese Forderungen wurde abgestimmt: Nur 20 von ca. 1 000 anwesenden Betriebsangehörigen stimmten gegen die Resolution. Ihre Zustimmung gaben auch der Werkleiter Hundig, der Arbeitsdirektor Eichler und der Kulturdirektor Zeußer. 2 3 8 Auch leitende Angestellte, die Angehörige der SED waren, stimmten den Forderungen zu, darunter der Leiter einer Forschungsgruppe, Dr. Wunderlich. 239 Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Dresden-Land, Bohn, eilte sofort in den Betrieb. Als er die Belegschaft nicht vom Streik abhalten konnte, erklärte er, daß er „wieder weiter müsse". Er habe „die Dinge dem Selbstlauf" überlassen, kritisierte später der Bezirksvorstand des FDGB. 240 Es ist zu vermuten, daß er sich Hilfe bei der sowjetischen Kreiskommandantur holte, denn relativ schnell griffen sowjetische Soldaten ein, um die Ausdehnung des Streiks zu verhindern. Ab 11 Uhr sperrten sie das Gebiet um Radebeul ab. 241 Trotzdem griff der Streik vom VEB Heyden auf weitere Radebeuler Betriebe über, u. a. auf das dortige Arzneimittelwerk. Auch die Bauarbeiter des Radebeuler Kreisbaubetriebes „planten einen Sympathiestreik". Ob es dazu kam, ist aus den Quellen nicht zu entnehmen. Die Belegschaft des VEB von Heyden nahm am 19. Juni die Arbeit wieder auf. Am Morgen des 20. drohte erneut eine Arbeitsniederlegung. Offenbar sollte damit die Freilassung des Initiators der Arbeitsniederlegung, des Nationalpreisträgers Müller, erzwungen werden. Nachdem weitere „militärische Mittel" angekündigt worden waren, ging die Belegschaft wieder an die Arbeit. 242 Danach traten mehrere Mitarbeiter des Betriebes aus der DSF und dem FDGB aus. Während die SED-Führung in anderen Betrieben eher mit Verhaftungen von Streikführern und Streikenden agieren konnte, ohne die weitere Produk237 Rat des Bezirkes Dresden, Situationsmeldung vom 18.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 420). 238 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20.6.1953, S. 6 (SächsHStA, SED IV/2/12/010). 239 Vgl. SED-BL Dresden, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle vom 28.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/4/061, Bd. 1, Bl. 14). 240 Vgl. SED-BL Dresden, Einschätzung über das Verhalten der Genossen am 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bd. 1, Bl. 14). 241 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Situationsmeldung vom 18.6.1953 (SächsHStA, BT/ RdB, 420); vgl. SED-BL Dresden, Parteiaktivtagung vom 21.6.1953 (SächsHStA, SED, IV/2/2/001); das folgende Zitat ebd. 242 SED-KL Dresden-Land, Information an die BL, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/009).

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

231

tion ernsthaft zu gefährden, war sie in jenem Betrieb mit einem großen Anteil hochqualifizierter Fachkräfte, die auch noch zu den Initiatoren der Proteste gehörten, zu vorsichtigerem Vorgehen gezwungen. Die Kritik richtete sich deshalb vor allem gegen die Betriebsparteiorganisation. Die SED-Kreisleitung Dresden-Land resümierte, „daß die Parteiorganisation überhaupt keinen Einfluß auf die Intelligenz ausübte". 2 4 3 Im VEB Heyden zeigten einige Genossen nach Meinung der SED-Kreisleitung zwar „eine positive Haltung", es sei ihnen aber nicht gelungen, „die Belegschaft in ihre Hand zu bekommen". Die Stahl- und Walzwerke in Gröditz und Riesa waren für die Erfüllung des ersten Fünfjahrplanes besonders bedeutsam. Sie gehörten im 1. Quartal 1953 zu den Schwerpunktbetrieben, die ihre Pläne erfüllten bzw. sogar übererfüllten. 2 4 4 Das traf nur auf knapp die Hälfte dieser Betriebe des Bezirkes zu. Das Stahl- und Walzwerk Riesa mit 8 383 Beschäftigten war der größte Betrieb des Bezirkes Dresden. Beide Werke produzierten hauptsächlich für Reparationen in die Sowjetunion. Vielleicht war das auch der Grund dafür, daß bereits am 17. Juni ab 14 Uhr diese beiden Betriebe mit Volkspolizei besetzt wurden. 2 4 5 Am 17. Juni um 17 Uhr berichtete die SED-Kreisleitung Riesa noch „voller Stolz" an die SED-Bezirksleitung Dresden, daß in ihrem Kreis Ruhe herrsche. 2 4 6 Wenige Minuten später legten Arbeiter im Stahlwerk Gröditz ihre Arbeit nieder. Das war nun gerade der Betrieb, in dem nach Meinung der Kreisleitung der SED die „beste Parteiarbeit" im Kreis geleistet wurde. 2 4 7 Ab 17.30 Uhr ging der „Klamauk" in Gröditz los, wie der 1. SED-Kreissekretär Saupe vor den Dresdener SED-Parteiaktivisten den Beginn des 17. Juni beschrieb. 2 4 8 Ausgehend von einer Abteilung, die die Werksirenen in Gang setzte, schlössen sich umgehend andere an. 2 4 9 Die Beschäftigten versammelten sich auf dem Hof. Außerhalb des Werksgeländes hatten sich bereits zahlreiche Gröditzer eingefunden. Die versammelten Stahlwerker kamen der 243 SED-KL Dresden-Land, Bericht über die Situation im Kreisgebiet Dresden-Land vom 17.6.1953 bis 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) ; die folgenden Zitate ebd. 2 4 4 Vgl. SED-BL Dresden, Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes I. Quartal 1953 im Bezirk Dresden, vom 24.4.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 0 0 6 , Bl. 416). 245 Vgl. SED-BL Dresden, Meldung aus Riesa, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Auch Brant berichtet, daß bereits in der Nacht vom 16. zum 17. Juni 150 Angehörige der VP und des MfS das Stahl- und Walzwerk Riesa besetzten; vgl. Brant, Der Aufstand, S. 219. 2 4 6 Vgl. SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 59). Brant geht dagegen davon aus, daß die Riesaer Stahlwerker bereits am 16. Juni nachmittags die Arbeit niederlegten; vgl. Brant, Der Aufstand, S. 219f. 247 Vgl. SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 59). 2 4 8 SED-BL Dresden, Parteiaktivtagung vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 2 / 0 0 1 , Bl. 6 4 ) . 2 4 9 Vgl. SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 59f.).

232

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

Aufforderung der herbeigeeilten Funktionäre, sofort auseinanderzugehen und die Arbeit aufzunehmen, nicht nach. Sie führten statt dessen eine Versammlung durch und wählten eine Delegation. Neben den üblichen Forderungen verlangten die Stahlwerker die Abschaffung der durchgängigen Arbeitswoche und einen freien Sonntag. 250 Die Zusammenkunft wurde gegen 21 Uhr unfreiwillig „abgebrochen", danach nahm die Nachtschicht teilweise die Arbeit wieder auf. 251 Am nächsten Morgen ruhte die Arbeit bis gegen Mittag im gesamten Stahlwerk. Ein Initiativausschuß wurde gewählt, der die Interessen der Streikenden vertreten sollte. Delegationen der Stahlwerker zogen zu anderen Betrieben, u.a. zum Zellstoffwerk und zum Polsterwerk, um „Sympathiestreiks" zu organisieren. 252 Belegschaftsangehörige beider Betriebe und Bauarbeiter der Bauunion Gröditz schlössen sich den Stahlwerkern an. 2 5 3 Die Gröditzer Stahlwerker sollen auch Kontakt zu ihren Kollegen in Riesa aufgenommen haben. 2 5 4 Die Gröditzer Stahlwerker gingen am Vormittag des 18. Juni auf die Straße. Gegen 7 Uhr früh teilte die SED-Bezirksleitung Dresden dem ZK mit, daß sich 600 bis 800 Arbeiter aus dem Stahlwerk Gröditz auf den Hauptausgang zubewegten. 255 Später wurde von einer „Massendemonstration, an der sich ungefähr 3 000 Personen beteiligten", gesprochen. 256 In Riesa besetzten in den Nachmittagsstunden des 17. Juni sowjetische Panzer die Brücken und die Plätze in der Innenstadt. 257 Noch blieb im Stahl- und Walzwerk Riesa nach außen hin alles ruhig. Die Parteileitung des Betriebes war bis 17 Uhr der Meinung, „daß sie sich auf die Genossen der Betriebsparteiorganisation verlassen könnte". 2 5 8 Eine Stunde später wollten die Stahlwerker mit dem Werkleiter und dem SED-Parteisekretär über ihre Forderungen verhandeln. 2 5 9 Da bereits der Ausnahmezustand verhängt war, lehnten beide die

250 Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben an die HVDVP vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 20). 251 Vgl. SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/009, Bl. 60). 252 KV Riesa - Kollege Schupke, Information aus Riese, o. D. (SächsHStA, SED IV/1/12/08). 253 Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben an die HVDVP vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 20). 254 SED-KL Riesa, Monatsbericht der KPKK vom 17.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/4/032). 255 Vgl. SED-BL Dresden, Meldung an das ZK vom 18.6.1953, 7.20 Uhr (SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/5/535). 256 SED-KL Riesa, Monatsbericht der KPKK vom 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 3 2 . Bd. 5). 257 Vgl. SED-BL Dresden, Meldung aus Riesa (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 258 SED-BPO Stahlwerke Riesa, Bericht an die SED-BL, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/12/006). 259 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 20.6.1953, S. 5 (SächsHStA, SED IV/2/12/010).

Ausgewählte

Streikinitiativen

in Betrieben

des

Bezirkes

233

Diskussion mit der Belegschaft ab. Sie kamen der Aufforderung erst nach, als drei sowjetische Panzer ins Werk eingefahren waren. Als der Werkleiter Friedemann unter dem Schutz der Sowjets den Arbeitern „Aufklärung" geben wollte, hätten ihn die Arbeiter angespuckt und aufgefordert, daß er „lieber mal am Hochofen mitarbeiten solle als Reden zu halten". 2 6 0 Er war offensichtlich nicht sehr beliebt bei der Belegschaft, denn sie forderte seine Absetzung und die Wiedereinsetzung des ehemaligen Werkleiters Pfrötzschner. Während dieser Diskussionen wurde im Betriebsfunk bekanntgegeben, daß das Werk durch Angehörige der Sowjetarmee „geschützt" werde. Daraufhin legten die Beschäftigten sofort die Arbeit nieder. In der „Analyse" der SED-Kreisleitung wurde behauptet, daß ca. 20 Mann, bewaffnet mit Eisenstäben, durch den Betrieb gezogen seien und die Kollegen an der Weiterarbeit gehindert hätten. 261 Auch in der Nachtschicht vom 17. zum 18. Juni war „großer Tumult" im Stahlwerk, wie die SED-Kreisleitung meldete. 262 Ein Teil der Belegschaft verweigerte die Arbeit. Am anderen Morgen erschienen zwar alle Stahlwerker zur Schicht, doch sie nahmen die Arbeit nicht auf und schauten demonstrativ aus den Fenstern. Das ganze Werk „ruhte". Nun wurden offensichtlich auch die Dresdener Spitzenfunktionäre unruhig. Fritz Selbmann, der erst in der Nacht vom 17. zum 18. Juni in Dresden eingetroffen war, kam am Vormittag des 18. Juni nach Riesa und Gröditz. Über seinen Auftritt 263 berichtete er später: „Ich habe erst in Riesa und dann in Gröditz eine Rede gehalten und gesagt: ,Wenn nicht sofort die Arbeit aufgenommen wird, werden militärische Maßnahmen angewendet'." 264 Seine Ausführungen vor den Riesaer Stahlwerkern sind überliefert. 265 Selbmann begann damit, daß er der Belegschaft, „auf die die Partei immer so stolz gewesen" sei, erklärte, sie habe sich von „faschistischen Provokateuren mißbrauchen [lassen] zur Niederlegung der Arbeit". Damit hätten sie „bewußt oder unbewußt die Geschäfte der Todfeinde des deutschen Volkes besorgt". Er lehnte es kategorisch ab, Delegationen zu empfangen. Mit ihren Forderungen wolle er sich „befassen", obwohl sich darunter auch solche befänden, die faschistischen Charakter trügen und den Hetzsendungen des RIAS entnommen seien. Er gestand auch ein, daß Forderungen gestellt wurden, „die ohne Zweifel berechtigt sind und erfüllt werden können und erfüllt werden". Dafür wolle er sich

260 SED-KL Riesa, Informationen vom 18.6.1953 (SächsHStA, SED W/2/12/008). 261 Vgl. SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 61). 262 SED-BPO Stahlwerke Riesa, Bericht an die SED-BL, o . D . (SächsHStA, SED IV/2/12/006). 263 Brant geht davon aus, daß Selbmann über den Werkfunk gesprochen hat; vgl. Brant, Der Aufstand, S. 220. 264 Selbmann, Fritz, Rede auf dem Parteiaktiv vom 21.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/2/001, Bl. 74). 265 Vgl. Selbmann, Fritz, Riesa - 18. Juni 1953 (SAPMO-BArch, NY 4113/8, Bl. 122 ff.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 122.

234

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

einsetzen. Die Voraussetzung sei allerdings, daß die Arbeit sofort wieder aufgenommen wird und „keine Stunde mehr ruht". Bei Fortsetzung des Streiks warnte er vor der Anwendung des Ausnahmebefehls: „Ich mache deshalb darauf aufmerksam, daß jede weitere Provokation im Werk, jeder weitere Versuch, auch nur ein Aggregat gegen den Willen der Werkleitung stillzulegen, oder jede Propaganda der zum Teil formulierten provokatorischen und vom RIAS diktierten Forderungen dazu führt, daß mit militärischer Gewalt im Betrieb eingegriffen und die Schuldigen unnachsichtlich [sie!] zur Bestrafung geführt werden [...], daß jeder Verstoß gegen Befehle auf der Grundlage des Ausnahmezustandes von den Militärgerichten abgeurteilt und mit dem Tode bestraft wird." Am Schluß forderte er auf, nach Schichtschluß das Werk - in Gruppen von nicht mehr als drei Mann - zu verlassen. Schließlich rief er ihnen zu: „Tut alles, um den Schandfleck, den Ihr dem Namen Riesa gemacht habt, um den Schandfleck, den Ihr der Arbeiterklasse zugefügt habt, zu beseitigen, damit wir wieder stolz sein können auf die Belegschaft des Stahl- und Walzwerkes Riesa." 266 Es ist nicht überliefert, wie die Stahlwerker von Riesa und Gröditz auf seinen Auftritt reagierten. Festgehalten ist lediglich: Um 13 Uhr nahmen die Belegschaften von Riesa und Gröditz „durch das konsequente Verhalten unserer sowjetischen Freunde" die Arbeit wieder auf. 267 Wie das „konsequente Verhalten der Freunde" konkret aussah, blieben die SED-Berichterstatter schuldig. Zu vermuten ist, daß die zahlreichen Verhaftungen vor Ort und die Drohungen mit dem Ausnahmebefehl die Aufgabe des Widerstandes erzwangen. Bis zum 20. Juni wurden 43 Riesaer Stahlwerker abgeführt, 42 Arbeiter und ein hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär. Es gibt aber auch Berichte darüber, daß die Riesaer Stahlwerker erst nach dem Rückzug der sowjetischen Panzer wieder zu arbeiten begannen. 2 6 8 Am 19. Juni verlief die Arbeit in beiden Stahlwerken „ohne besondere Vorkommnisse", aber bereits am 20. Juni trat im Stahl- und Walzwerk Riesa erneut eine heikle Situation ein. Im Betrieb wurde ein Flugblatt mit dem Leitartikel des „Neuen Deutschland" verteilt. Zu ihrer Überraschung mußten die Stahlwerker lesen, daß ihr Betrieb nicht am Streik beteiligt gewesen sei. 269 Das war selbst für die Kreisleitung Riesa äußerst unangenehm, weil damit natürlich der Wahrheitsgehalt aller Meldungen über die sogenannten faschisti2 6 6 Ebd., Bl. 124. 267 SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 61). 2 6 8 Vgl. Der Aufstand im Juni. Ein dokumentarischer Bericht II. In: Der Monat, Heft 61, 1953, S. 59. 2 6 9 FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 5 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 1 0 ) . Dem ZK der SED war zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, daß in beiden Stahl- und Walzwerken gestreikt wurde. Das geht aus vorliegenden Materialien hervor; vgl. u.a ZK der SED, Abt. Grundstoffindustrie, Die Lage in der Metallurgie, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 , I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 2 7 3 ) .

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

235

sehen Provokationen von vornherein angezweifelt wurde. Nach Meinung der SED-Kreisleitung nahm die Bevölkerung diesen Artikel „schweigend zur Kenntnis". 270 Nach Berichten der SED-Kreisleitung sollen die Proteste der Riesaer Stahlwerker „von der großen Mehrheit der Bevölkerung schärfstens verurteilt" worden sein. Auch in Gröditz hätten die Ereignisse im Stahlwerk „keinen großen Widerhall in der Bevölkerung" gefunden. 271 Demnach sollen Forderungen aus der Bevölkerung und von Angehörigen aus Betrieben, die nicht streikten, laut geworden sein, „daß zukünftig bei der Verteilung von Mangelwaren anders verfahren wird". Bereits im Vorfeld hatten Belegschaften von Betrieben und Bewohner aus Riesa, Gröditz und Umgebung die „Schwerpunktversorgung" in den beiden Betrieben kritisiert, weil manche Stahlwerker, wenn mehrere Familienmitglieder dort beschäftigt waren, „gar nicht alles kaufen konnten". Manche verschenkten ihre Verkaufsausweise zum Bezug von Mangelwaren, andere machten mit dem Weiterverkauf von Mangelwaren ein Geschäft. 272 Der Kreis Zittau war ein ausgesprochener Industriekreis südöstlich von Dresden, bestimmt durch die Ansiedlung mehrerer großer Textilbetriebe, darunter die Mechanische Weberei Zittau, des weiteren Betrieben der Fahrzeugindustrie und des Braunkohlenwerkes/Kraftwerkes Hirschfelde. Der größte Arbeitgeber des Kreises war das IFA-Werk Phänomen Zittau mit insgesamt etwa 4 000 Beschäftigten. Dazu gehörte das Werk I in Zittau und das Werk II in Seifhennersdorf. Sie stellten Nutzfahrzeuge her. Der Betrieb wies im I. Quartal 1953 von allen Schwerpunktbetrieben des Bezirkes Dresden mit 59 Prozent die schlechteste Planerfüllung aus. 273 Das hatte auch zur Folge, daß monatliche Lohnausfälle zwischen 40 und 80 Mark entstanden. 274 In Berichten der Gewerkschaft wurde vor dem 17. Juni 1953 mehrfach darauf hingewiesen, daß der Kreis Zittau in der Versorgung gegenüber anderen Kreisen stark benachteiligt werde. 2 7 5 Bewohner aus der Region müßten in andere Kreise fahren, um Mangelwaren zu kaufen. Wie in vielen anderen Betrieben der DDR, so fanden auch in den Zittauer Werken spontane Versammlungen statt. Auch hier erklärten die Versammelten ihre Solidarität mit den Berliner Bauarbeitern und deren Forderungen. Die Belegschaft des IFA-Werkes II in Seifhennersdorf verabschiedete, initiiert von der Betriebsgewerkschaftleitung, um die Mittagszeit einstimmig eine Resolu2 7 0 SED-KL Riesa, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 61). 271 Ebd. 2 7 2 SED-KL Riesa, Parteiinformationen, o . D . (Sächs.HStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 2 7 3 Vgl. SED-BL Dresden, Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes I. Quartal 1953 im Bezirk Dresden, vom 24.4.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 0 0 6 , Bl. 416). 274 Vgl. SED-BL Dresden, 2. Zwischenbericht über den Einsatz der Brigade der BPKK über die Verhältnisse im VEB Phänomen Zittau, vom 21.9.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 7 2 , Bl. 16). 2 7 5 Vgl. IG Textil-Bekleidung-Leder, Arbeitsgebiet Zittau, Analyse über die Ereignisse vor und nach dem 17. Juni, vom 4 . 7 . 1 9 5 3 , S. 2 (SächsHStA, SED I V / 4 / 1 6 / 1 0 6 ) .

236

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

tion an die Regierung der DDR und forderte freie, geheime, demokratische Wahlen, Senkung der HO-Preise auf ein menschenwürdiges Niveau, einheitliche Einstufung der Lebensmittelkarten für die gesamte Bevölkerung und Reduzierung der hohen Gehälter auf ein gewisses Minimum. 276 Eine Betriebsdelegation wurde nach Berlin entsandt, um sich an Ort und Stelle über die Ereignisse zu informieren, „da dem demokratischen Rundfunk kein Glauben mehr geschenkt wird". 277 Am 17. Juni um 16 Uhr wurde der Ausnahmezustand über den Kreis Zittau verhängt. 278 Am Morgen des 18. Juni nahm nur die Hälfte der Belegschaft in Seifhennersdorf die Arbeit auf. Ab 12.45 Uhr wurde wieder voll gearbeitet, zuvor wurden drei „Saboteure" festgenommen. 279 Die Resolution war damit aber noch nicht vom Tisch. Am 19. Juni begab sich eine Delegation des Betriebes zur IG Metall in Zittau, um die Unterstützung der Gewerkschaften für die Resolution anzumahnen. 2 8 0 Über den Zeitpunkt von Streiks im Zittauer IFA-Werk gibt es unterschiedliche Aussagen. In den Polizeiberichten wurde festgehalten, daß bereits am 17. Juni 30 Prozent der Belegschaft des IFA-Werkes I gestreikt hätte. 281 Meldungen aus Zittau bestätigen das. Sie berichten darüber, daß es unmittelbar nach Verhängung des Ausnahmezustandes im Werk I zum Streik gekommen sei und sofort Volkspolizei im Werk eingesetzt wurde. 2 8 2 Nach Angaben des FDGB-Bezirksvorstandes Dresden soll die Streikbewegung erst am 18. Juni auf den Kreis Zittau übergegriffen haben. 2 8 3 Genannt wurden drei streikende Betriebe: das Phänomenwerk, RFT und LOWA Zittau. Es ist davon auszugehen, daß es tatsächlich bereits am 17. Juni im IFA-Werk Zittau „Unruhen" in Form von Versammlungen und Kurzstreiks gegeben hat. Berichtet wurde, daß es den „Provokateuren" gelungen sei, eine Versammlung durchzuführen und die Belegschaft zum Streik und zu Demonstrationen aufzufordern. Demonstrationen konnten verhindert werden. 2 8 4 Transparente für den Marsch zu anderen Betrieben sollen schon in der Malerwerkstatt gefertigt worden sein. Berichtet wurde, daß der Betriebsschutz bereits die Werktore 276 Vgl. Aushang „An die Regierung der DDR", o.D. (SächsHStA, SED IV/4/16/106). 277 Anruf des Rates des Bezirkes vom 18.6.1953, 11.50 Uhr (SächsHStA, SED IV/2/13/006). 278 Vgl. SED-BL Dresden, Meldungen aus Zittau (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 279 SED-BL Dresden, Aktennotiz vom 18.6.1953, 15.15 Uhr (SächsHStA, SED IV/2/13/006) 280 Vgl. IG Textil-Bekleidung-Leder, Arbeitsgebiet Zittau, Analyse über die Ereignisse vor und nach dem 17. Juni, vom 4.7.1953, S. l f f . (SächsHStA, SED IV/4/16/106). 281 BDVP Dresden, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegung am 17. und 18.6.1953 im Bereich der BDVP Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 59). 282 SED-BL Dresden, KV Zittau, Kollege Pohlink, o.D. (SächsHSt.A, SED IV/2/12/008). 283 FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./19.6.1953 im Bezirk Dresden, vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED IV/2/3/207, Bl. 51). 284 SED-BL Dresden, 2. Zwischenbericht über den Einsatz der Brigade der BPKK über die Verhältnisse im VEB Phänomen Zittau, vom 21.9.1953 (SächsHStA, SED IV/2/4/072, Bl. 16); das Folgende ebd., Bl. 22.

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

237

geöffnet hatte, um den Auszug aus dem Betrieb zu ermöglichen. Auf Anordnung des Werkleiters wurden sie allerdings wieder geschlossen. Ein Zeitzeuge erinnert sich daran, daß während dieser Protestversammlung ein Mann entwaffnet und bedroht wurde, „den die Versammlungsteilnehmer als .eingeschleusten' Polizisten erkannt zu haben glaubten. Der Betriebsleiter konnte die erregte Menge beruhigen, der Mann wurde ,in der Betriebssanitätsstelle festgesetzt - man könnte auch sagen: in Sicherheit gebracht"'. 2 8 5 In der Nacht vom 18. zum 19. luni wurden sechs Betriebsangehörige festgenommen. 2 8 6 Daraufhin traten am Morgen des 19. Juni die Früh- und die Normalschicht in den Streik. Umgehend wurde die SED-Kreisleitung informiert. Sie wiederum beriet sich mit einem Offizier der KVP, der als „Berater" für den Kreis eingesetzt war. Auf seine Anregung hin eilten die Spitzenfunktionäre des Kreises der 1. SED-Kreissekretär Härting, der Ratsvorsitzende Rebber, der MfSDienststellenleiter Schrödter, der Chef der VP Fleck, der Bürgermeister - in Begleitung von KVP-Offizieren in das Werk. Zuvor gab es eine Absprache mit dem sowjetischen Kommandanten. Es war festgelegt worden, daß keine Betriebsversammlung stattfinden sollte, nur Aussprachen in einzelnen Abteilungen, beginnend mit einer „zuverlässigen" Abteilung. Das Konzept ging nicht auf, denn „fast alle Beschäftigten" fanden sich ein. Der 1. SED-Kreissekretär sprach als erster und forderte zur Wiederaufnahme der Arbeit auf. 2 8 7 Er erklärte, daß die Forderung nach Freilassung der inhaftierten Kollegen nicht erfüllt werden könne, da erst Untersuchungen durchgeführt werden müßten. Das akzeptierten die Versammelten nicht, sie bestanden auf der sofortigen Freilassung ihrer Kollegen. Die Chefs der Staatssicherheit und der Polizei lehnten vor der Belegschaft gleichfalls die sofortige Freilassung ab, weil die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen seien. Daraufhin kam aus der Menge der Vorschlag, die Inhaftierten in den Betrieb zu bringen und die Untersuchungen und Verhandlungen vor der Belegschaft durchzuführen. Das fand den Beifall und die Unterstützung der Versammelten, nicht den der Spitzenfunktionäre. Ihnen waren offenbar die Argumente ausgegangen, so daß der SED-Kreissekretär vorschlug, die Versammlung abzubrechen. Der BGL-Vorsitzende Schieber, der die Versammlung leitete, ließ jedoch weiter diskutieren. Nach mehrmaliger Aufforderung kam er schließlich der Anweisung nach. Zuvor „beauftragte (er) den Genossen Härting, sich dafür einzusetzen, daß die Inhaftierten in den Betrieb gebracht werden und die Untersuchung und Verhandlung im Betrieb stattfinden soll". 2 8 8 Das lehnte der SED-Kreissekretär mit der Begründung ab, dies überschreite seine Kompetenzen. Die Diskussion ging weiter, bis schließlich der Kreissekretär zustimmte, 285 Zit. in Hagen, DDR - Juni 53, S. 229. 286 SED-KL Zittau, Erklärung zu den Vorkommnissen am 19. Juni 1953 im IFA-Werk Phänomen Zittau und zum Verhalten des Genossen Härting, vom 11.8.1953, S. 1 (SächsHStA, SED I V / 4 / 1 6 / 1 0 6 ) . 287 Ebd., S. 2. 288 Ebd., S. 3; die folgenden Zitate ebd.

238

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

„sich dafür einzusetzen, daß die Inhaftierten freigelassen werden und wieder im Betrieb erscheinen." Die Belegschaft begab sich an die Arbeitsplätze, ohne die Arbeit aufzunehmen. Die ratlosen Spitzenfunktionäre suchten den sowjetischen Kommandanten auf. Er hatte inzwischen mit Dresden telefoniert und den Befehl erhalten: „Der Betrieb Phänomen wird blockiert von sowjetischen Streitkräften und KVP. Niemand darf den Betrieb verlassen. Niemand darf den Betrieb betreten. Die Arbeit ist sofort wieder aufzunehmen. Wer sich diesem Befehl widersetzt, wird verhaftet." Dieser Befehl war sofort im Werk bekanntzumachen. Danach wurde die Arbeit aufgenommen, nachdem der Betrieb von Militär umstellt und die Belegschaft „mit vorgehaltener Waffe an ihre Arbeitsplätze getrieben" worden war, wie Zeitzeugen berichteten. 289 In den folgenden Wochen kam es zu deutlichen Zeichen des Widerstandes im IFA-Werk Zittau. Im Betrieb wurde für die Angehörigen der Inhaftierten gesammelt. Beitragszahlungen für den FDGB wurden verweigert. Eine KfZReparaturkolonne wollte geschlossen aus der Gewerkschaft austreten, etwa 300 Betriebsangehörige kündigten ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft auf. Indes war die SED-Bezirksleitung mit anderen „Schwerpunkten", z. B. Görlitz, Niesky und Dresden, beschäftigt, so daß die Auseinandersetzungen mit den Zittauer „Provokateuren" zunächst vernachlässigt wurden. Erst im September kamen eine Brigade der Bezirksparteikontrollkommission Dresden und eine der Zentralen Parteikontrollkommission zur „Überprüfung im Phänomen-Werk Zittau" zum Einsatz. 290 Sie drängten auf die „Entlarvung der Rädelsführer und Provokateure". In diesem Zusammenhang wurde der 1. SED-Kreissekretär von Zittau abgelöst, der BGL-Vorsitzende des IFA-Werkes verhaftet, u. a. weil er den drei Transparentmalern zur Flucht verholfen bzw. ihre Fluchtabsichten nicht gemeldet hatte. Vier Angehörige des Betriebsschutzes wurden entlassen. Die Untersuchungen waren Anfang Oktober noch nicht abgeschlossen. Jetzt wollte die SED die Überprüfungen im Werk II fortsetzen, um Verbindungen zwischen Werk I und II während der „faschistischen Provokation" nachzuweisen. Der Landkreis Bautzen war mit 693 qkm Fläche der größte Kreis und nach der Anzahl seiner Wohnbevölkerung der drittgrößte Landkreis des Bezirkes Dresden. 291 Bautzen ist im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 vor allem dadurch bekannt geworden, daß nach der Niederschlagung des Aufstandes viele angebliche Provokateure und Rädelsführer in dortige Gefängnisse eingewiesen wurden. Noch in der Nacht vom 17. zum 18. Juni wurde der Ostflügel im Hauptgebäude des Zuchthauses „Gelbes Elend" geräumt, um die ersten Verhafteten unterzubringen, darunter auch viele, die in Görlitz und Umgebung an Demonstrationen, Streiks, Amtsenthebungen u. ä. teilgenommen hatten. 2 8 9 Vgl. Hagen, D D R - Juni 53, S. 122. 2 9 0 SED-BL Dresden, Berichte über den Einsatz der Brigade der BPKK über die Verhältnisse im VEB Phänomen Zittau (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 7 2 , Bl. 4 9 - 5 5 ) . 291 Vgl. Statistisches Jahrbuch der D D R 1956, S. 14.

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

239

Diese Häftlinge waren besonderen Schikanen ihrer Bewacher ausgesetzt. So erinnert sich ein ehemaliger Bautzen-Häftling, daß sie am Suppenkübel niederknien und sagen mußten: „Ich bitte die Deutsche Demokratische Republik, den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, um einen Schlag Suppe!" 2 9 2 Über den Verlauf des 17. Juni in Bautzen und Umgebung ist dagegen wenig bekannt geworden. 2 9 3 In neueren Untersuchungen wird die Stadt lediglich unter den „Unruheorten" (Diedrich) bzw. den „Orten des Widerstandes" (Kowalczuk/Mitter) genannt, ohne näheres darüber zu erfahren. In den staatlichen Akten sind wenige und in sich widersprüchliche Angaben überliefert. Laut „Analyse" der SED-Bezirksleitung Dresden fanden im Kreis Bautzen keine „Ausschreitungen" statt. 2 9 4 Die SED-Bezirksfunktionäre lobten ausdrücklich die Kreisleitung Bautzen, weil sie „rechtzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen" habe. Pikanterweise wurde später auch der 1. SEDKreissekretär von Bautzen, Herbert Schmidt, im Zusammenhang mit dem 17. Juni von seiner Funktion abgelöst. Auch in Polizeiberichten wurde der Kreis Bautzen unter jenen Kreisen erfaßt, in denen es am 17. Juni und in den Folgetagen zu keinen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen gekommen • 295

sei. Der 1. Kreissekretär hatte am 17. Juni vor Schichtbeginn alle Betriebsparteisekretäre zu sich bestellt. Bis 8 Uhr waren 30 Parteisekretäre seinem Ruf gefolgt. 296 Zunächst meldeten die Bautzener Funktionäre „gute Arbeitsmoral" aus ihren Betrieben nach Dresden. 2 9 7 Später behauptete die SED-Kreisleitung, daß in ihrem Territorium „kein einziger Betrieb gestreikt" 2 9 8 habe. Die Tatsachen waren andere. Selbst in internen Partei-Unterlagen finden sich mehrere Hinweise darauf, daß der 17. Juni hier ähnlich wie in anderen Städten begann. Belegschaften von großen volkseigenen Betrieben, u. a. in der LOWA Bautzen (3 272 Beschäftigte), im Hebegangwerke, im VEB Festala (mitunter auch Infesta genannt), diskutierten zu Beginn der Frühschicht über die Berliner Ereignisse vom Vortag und signalisierten ihre Solidarität mit den streikenden Ostberliner Bauarbeitern. 2 9 9 Die SED-Kreisleitung Bautzen schickte 2 9 2 Zitiert in: Das Gelbe Elend, S. 105. 2 9 3 Selbst Brant weiß darüber sehr wenig zu berichten. Er geht davon aus, daß in Bautzen weniger passierte als in Görlitz, obwohl der „Wille zur Aktion" auch dort da war. Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 231. 2 9 4 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 17 (SächsHStA, SED 1 V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; das folgende Zitat ebd., S. 5. 2 9 5 BDVP Dresden, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegungen am 17. und 1 8 . 6 . 1 9 5 3 im Bereich der BDVP, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, 2 3 / 1 8 , Bl. 5 9 - 6 4 ) . 2 9 6 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 297 SED-KL Bautzen, Mitteilung an die BL, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 2 9 8 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 2 9 9 Ebd.

240

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

daraufhin Instrukteure bzw. Agitatoren in die wichtigsten Betriebe mit dem Auftrag, die Belegschaften vom Streik und von Demonstrationen abzuhalten. Trotzdem kam es in mehreren Betrieben und auf einer Baustelle zu Versammlungen und kurzfristigen Arbeitsniederlegungen. Nach Angaben des Bezirksvorstandes des FDGB waren es im VEB Festala hauptsächlich Angestellte, die zum Streik aufriefen. 3 0 0 Die Partei-Kreisleitung bezeichnete diese Angestellten später als „faschistische und deklassierte Elemente". 301 Im VEB Festala wurde eine Streikleitung (Kommission) bestimmt. 302 Ihr gehörten u. a. der stellvertretende Werkstättenleiter Hoppe (SED), vier BGL-Mitglieder (Raffelt, Henniger, Barinek und Buda) und ein Mitglied der LDP (Kirste) an. Als Schriftführerin fungierte Frau Kirste. Vier Kommissionsmitglieder wurden später verhaftet. Dieses Gremium sollte eine Entschließung mit den Forderungen der Belegschaft ausarbeiten. Es war vorgesehen, anschließend in Bautzen zu demonstrieren. Ähnliches spielte sich auch im Hebegangwerk ab. 3 0 3 Auch 100 Bauarbeiter der Bau-Union Bautzen legten auf einer Baustelle die Arbeit nieder. 3 0 4 25 „ausgesuchte zuverlässige Genossen" der LOWA leisteten dort „Überzeugungsarbeit". Nach einer Stunde Diskussion konnten, so die SEDKreisleitung, die Bauarbeiter überzeugt werden, daß „Streik ein großes politisches Verbrechen" sei. Die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Doch selbst in der LOWA muß es zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen gekommen sein. Was sich konkret in diesem Betrieb abspielte, das verraten die Akten nicht. Nachweisbar ist lediglich, daß in der LOWA und anderen Betrieben des Kreises Lastkraftwagen bereitstanden, zuverlässige Genossen eingeteilt waren, um bei Bedarf mit Kleinkalibergewehren gegen „Provokationen" vorzugehen. Nach Äußerungen von Ulbricht hat die „Parteiorganisation in der LOWA Bautzen [...] eine gute politische Massenarbeit geleistet. Trotz des Druckes feindlicher Elemente von außen stand die Belegschaft treu zur Partei und erfüllte die Aufgaben der Produktion." 3 0 5 Offensichtlich reichte diese „gute Massenarbeit" dennoch nicht aus, denn Volkspolizisten besetzten im Laufe des Nachmittags das Werk. 306 Nach Meldung des mit der Führung beauftragten Kommandeurs des 92. Regiments der Inneren Truppen der UdSSR 3 0 7 soll gegen 12 Uhr im 3 0 0 FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 1 7 . / 1 8 . / 1 9 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk Dresden, vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 , Bl. 64). 301 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 3 0 2 SED-BL Dresden, Bericht der BPKK vom 2 8 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 8). 3 0 3 Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 231. 3 0 4 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 3 0 5 Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und der Neue Kurs, S. 84. 3 0 6 Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 231. 307 Vgl. An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Inneren in Deutschland. Titel der übersetzten Quelle: An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern in Deutschland, o.D. (Dokument aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

241

Betrieb „IFA-Phänomen" Bautzen ein „Provokateur namens Schramm den Versuch unternommen haben, einen Streik zu organisieren". Arbeiter des Werkes hätten sich geweigert und vom Parteisekretär die Verhaftung von Schramm gefordert. Er wurde daraufhin festgenommen. In den Vormittagsstunden sammelten sich mehrmals Gruppen von Demonstranten vor dem Rathaus in Bautzen. SED-Berichte gingen später davon aus, daß „Kolonnen jugendlicher Radfahrer bis zu 100 Mann [...] in Bautzen" zu sehen gewesen seien. 3 0 8 Am Nachmittag des 17. Juni war die SED-Kreisleitung von der Bezirksleitung darüber informiert worden, daß „sich die Lage verschärft habe und besondere Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen" seien. 3 0 9 Konkrete Informationen über die Situation im benachbarten Görlitz erhielt die Kreisleitung allerdings nicht. Unter Leitung des 1. Kreissekretärs wurde ein Kampfstab gebildet. Neben Funktionären der Partei gehörten zu diesem Stab: die Chefs der Staatssicherheit und der Volkspolizei, Kunze und Gäbler, die Kommandanten der in Bautzen stationierten Einheiten VP Grenze und VP Luft, Kettel und Freyer. Der Kampfstab erhielt „hervorragende Unterstützung und Beratung" durch den sowjetischen Militärkommandanten. Dieser hatte um 16.30 Uhr den Ausnahmezustand für Bautzen ausgerufen. 3 1 0 Nach der Verhängung des Kriegsrechts patrouillierten russische Panzer vom Typ T 34 durch die Stadt. Jugendliche ließen sich offenbar von diesen Panzern weniger abschrecken als jene Einwohner, die den Zweiten Weltkrieg noch nicht vergessen hatten. Einwohner aus Bautzen erzählten, daß Schüler auf dem Kornmarkt die Panzer mit Flaschen und Steinen bewarfen und „Russen raus" riefen.311 Jugendliche fuhren auf Fahrrädern durch die Straßen und riefen die Bevölkerung zu einer abendlichen Kundgebung auf. Um 20 Uhr sammelten sich dann Demonstranten auf dem „Platz der Roten Armee". Der sowjetische Bericht geht von „bis zu 600 jugendlichen Personen" aus. 3 1 2 Auch hier wurde die „Ansammlung" von den „Freunden" aufgelöst. Etwa 60 Personen wurden verhaftet, darunter auch Rudolf Rothe. Er soll Propaganda gegen die Sowjetarmee verbreitet haben und der Organisator der Ansammlung gewesen sein.

308 309 310 311 312

in Moskau), gefunden von Michail Semirjaga, ins Deutsche übersetzt von H. KießlichKöcher (Dresden), der die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung stellte. SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17.6. bis 19.6.1953, vom 19.6.1953, S. 4 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . SED-BL Dresden, Berichte, o.D. (SächsHStA, SED I V / 1 / 1 2 / 0 0 8 ) . Nach Erzählungen von Frau Hassert, Bautzen. Vgl. An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Inneren in Deutschland. Titel der übersetzten Quelle: An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern in Deutschland, o.D. (Dokument aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau), gefunden von Michail Semirjaga, ins Deutsche übersetzt von H. KießlichKöcher (Dresden), der die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung stellte.

242

Der 17. Juni im Bezirk Dresden

Meldungen, die am Vormittag des 17. Juni in Görlitz auftauchten, wonach Bereitschaften der KVP aus Bautzen ihre Waffen niedergelegt und sich mit Arbeitern solidarisiert hätten, waren offenbar ein Gerücht oder entstammten dem Wunschdenken der Aufständischen. Denn am Nachmittag wurden mehrere dieser Kompanien aus Bautzen nach Görlitz geschickt, um das dortige Aufstandsgeschehen zu unterdrücken. 313 Zeitzeugen berichten über Menschenansammlungen vor den Haftanstalten. Auch ein ehemaliger Bautzen-Häftling erinnert sich, daß sie im „Gelben Elend" am 17. Juni „laute Rufe und Schüsse" von außerhalb gehört hätten, die sie sich nicht erklären konnten. 314 Es ist unwahrscheinlich, daß es sich bei diesen Ansammlungen um Versuche gehandelt hat, politische Häftlinge zu befreien. Die Sicherheitsvorkehrungen waren an diesem Tage noch verschärft worden. Die besondere Aufmerksamkeit des Kampfstabes galt den Strafanstalten. Für die Nacht wurde festgelegt, einen „Kordon" zu ziehen und motorisierte Streifen ständig im Kreis fahren zu lassen. 315 Auch in den einschlägigen Polizeiberichten gibt es keinerlei Hinweise auf Versuche oder Aktionen zur Befreiung von Bautzen-Häftlingen. Erwähnt wurde dagegen ein Befehl zur verstärkten Sicherung der Haftanstalten in Bautzen, nachdem in Görlitz die Gefangenen befreit werden konnten. 316 Auch die „Analyse" der SED-Kreisleitung bestätigte die besonderen Sicherheitsmaßnahmen für die Zuchthäuser. 317 In den folgenden Tagen unternahmen auch in dieser Region immer wieder einzelne Betriebsbelegschaften oder Einwohner Versuche, die Arbeitsniederlegungen auszuweiten, untereinander Kontakt aufzunehmen bzw. auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren. Die militärischen Maßnahmen wurden deshalb verstärkt. Am Abend des 17. Juni besetzten Rotarmisten und KVP-Angehörige einige Betriebe, darunter die Lowa und den VEB Festala. Vor Betrieben fuhren Panzer auf, Streikleitungen wurden verhaftet. Dennoch fanden sich am 18. Juni, um 20.30 Uhr, erneut etwa 800 Demonstranten, darunter bis zu 150 Radfahrer, auf dem „Platz der Roten Armee" ein. Die Ansammlung wurde sofort von der 9. Schützenkompanie im Bestand von 20 Mann unter dem Kommando von Oberleutnant Sawilow „auseinandergejagt". Mit einem „überschweren Maschinengewehr" wurde in die Luft geschossen, worauf die Demonstranten auseinanderliefen. 318 Im SED-Bericht liest sich das so: 313 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni, S. 131. 314 Zitiert in Das Gelbe Elend, S. 105. 315 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 316 BDVP Dresden, Abt. Strafvollzug, Bericht über die Vorkommnise am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 3 0 3 ) . 317 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 318 Vgl. An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Inneren in Deutschland. Titel der übersetzten Quelle: An den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern in Deutschland, o.D. (Dokument aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau), gefunden von Michail Semirjaga, ins Deutsche übersetzt von H. KießlichKöcher (Dresden), der die Übersetzung freundlicherweise zur Verfügung stellte.

Ausgewählte Streikinitiativen in Betrieben des Bezirkes

243

„Unsere sowjetischen Freunde erschienen am 17. Juni mit einer Vierlingskanone. Sie traten hart und energisch auf. Sie drehten ein wenig die Rohre, dann sagten sie ,Dawai, dawai'. Dann war der Platz leer." 319 Am 18. Juni sei die Versammlung auf diesem Platz „noch größer gewesen". Jetzt schössen die „Freunde einige Salven mit der Vierlingskanone in die Luft und fuhren durch die Straßen noch mit einigen anderen Geräten. Innerhalb von einer halben Stunde war absolute Ruhe. Einige jugendlichen Banden wurden festgenommen. Am 19. Juni ließ es der Kampfstab gar nicht erst dazu kommen, sondern fing schon sehr zeitig an, alle jugendlichen Provokateure auf dem Platz der Roten Armee - sowie sie erschienen - durch Angehörige des Kreispolizeiamtes und Angehörige der Grenzpolizei mit Hunden festzunehmen. Es kam praktisch zu gar keiner Ansammlung, und die sowjetischen Truppen brauchten nicht einzugreifen." Bei der Suche nach den Ursachen, weshalb sich in Bautzen die Ansätze bzw. Versuche von Streiks und Demonstrationen weniger entfalten konnten als in anderen Städten des Bezirkes, stößt man - neben der großen Konzentration von Sicherheitskräften in der Stadt, wo mehrere Tausend politischer Häftlinge aus der gesamten DDR einsaßen - auch auf spezifische Aktivitäten der SEDKreisleitung Bautzen. Mit der Existenz der beiden Haftanstalten war natürlich auch eine besondere demographische Struktur der Bevölkerung verbunden. Ein Teil der Einwohner, die Angehörigen des Strafvollzugs und ihre Familien, lebte von diesen Einrichtungen und gehörte sicherlich nicht unbedingt zu denen, die gegen das SED-System revoltierten. Auch das Verhalten der Bautzener „leitenden Kader" weist einige Besonderheiten auf. Sie organisierten in den Betrieben, bestehend „aus zuverlässigen Genossinnen und Genossen und aus klassenbewußten Arbeitern", motorisierte Bereitschaften, die „im Notfall zur Unterstützung der Truppen der Sowjetarmee und der Volkspolizei bei der Zerschlagung angekündigter Demonstrationen" eingesetzt werden sollten. 320 Drohten in Görlitz, Niesky und Zittau beispielsweise die jeweiligen sowjetischen Stadtkommandanten Betriebsbelegschaften mit Erschießungen im Falle der Fortführung der Streiks, waren es hier SED-Spitzenfunktionäre. In besagter „Analyse" der SED-Kreisleitung ist darüber festgehalten: „Die Genossen bekamen die Anweisung, sofort gegen die Provokateure vorzugehen [...]. Es wurde angekündigt, daß die Provokateure und Streikanstifter auf der Stelle erschossen werden. In den Betrieben trat sofort Ruhe ein. Es wurde hart durchgegriffen und nicht zurückgewichen." Das sah so aus, daß am 19. Juni, 13.30 Uhr, zunächst eine telefonische Durchsage des 1. SED-Kreissekretärs an alle Parteisekretäre und BGL-Vorsitzenden mit folgendem Inhalt erging: „Genosse Herbert Schmidt läßt Euch mitteilen, daß alle Parteiorganisationen mit der BGL und allen klassenbewußten 319 SED-KL Bautzen, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) ; das folgende Zitat ebd. 320 Ebd.

244

Der 17. Juni im Bezirk

Dresden

Arbeitern und anständigen Bürgern für Ruhe und Ordnung in den Betrieben zu sorgen haben. Diejenigen, die zum Streik oder zu Provokationen auffordern, werden auf der Stelle erschossen! Sollte es jedoch in den Betrieben zu Arbeitsniederlegungen kommen, darf keiner den Betrieb verlassen. Auf Ansammlungen und Demonstranten wird scharf geschossen." 321 Danach wurde diese „Bekanntmachung" in fünf Betrieben, darunter im Betonwerk Bautzen, im Kalksandsteinwerk, angeschlagen und zeigte offensichtlich Wirkung. 322 Unter diesen Bedingungen ist es verständlich, daß ab 20. Juni „Ruhe" in Bautzen herrschte. Ob dieses rigorose Vorgehen auch damit zusammenhing, daß ausgerechnet Paul Fröhlich, der am 17. Juni 1953 in Leipzig den Schießbefehl erteilte, 1949/1950 1. SED-Kreissekretär in Bautzen war 3 2 3 und gewissermaßen seine Handschrift hinterlassen hatte, ist nicht auszumachen. Möglich wäre es schon. Wenn den Einschätzungen des ZK der SED Glauben geschenkt werden kann, dann könnte ein weiterer Grund der „relativen Ruhe" in Bautzen auch darin zu suchen sein, daß sich die Masse der SED-Mitglieder in den Bautzener Großbetrieben anders als in anderen Städten verhielt, wie z.B. in Leipzig, Dresden oder Görlitz, wo SED-Angehörige mehrheitlich an der Seite ihrer Kollegen am Streik teilnahmen. Die verantwortlichen Funktionäre in Bautzen bekamen mit den eigenen Kräften die Situation sehr schnell unter „Kontrolle", wie es in der SED-Sprache hieß. Bautzen war auch der Sitz der Domowina und der Mittelpunkt des kulturellen und politischen Lebens der Sorben. Etwa 25 000 Angehörige dieser nationalen Minderheit lebten damals im Kreis Bautzen. Über ihre Haltung am und zum 17. Juni ist nichts bekannt. Die SED-Bezirksleitung Dresden hielt lediglich fest: „Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß in den überwiegend sorbisch bewohnten Gebieten keine Provokationen oder Streiks zu verzeichnen sind." 324 Vielleicht gab es im Prinzip überhaupt keine Unterschiede in Vergleich zur deutschen Bevölkerung. Es könnte aber auch so gewesen sein, daß es die Sorben in einer deutschen Umwelt noch schwerer hatten, in einer derartigen Situation, mehr oder weniger unvorbereitet, Positionen zu beziehen und deshalb am 17. Juni zunächst Zurückhaltung an den Tag legten. Wir wissen es nicht.

321 SED-BL Dresden, Betrifft: Anweisung des 1. Sekretärs der KL Bautzen, am 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 102). 322 Abschrift „Bekanntmachung" (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 101). 323 Nachlaß Paul Fröhlich (SächsStAL, V / 6 / 5 / 4 2 ) . 324 SED-BL Dresden, Aktennotiz vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/009).

IV.

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

1.

Görlitz als S c h w e r p u n k t des 17. Juni

Görlitz erschien nach der gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung bereits in den einschlägigen Berichten von SED, Polizei und MfS als ein „Schwerpunkt der faschistischen Provokation". So hielt die SED-Bezirksleitung Dresden in ihrer Analyse vom 8. Juli fest: „Am stärksten wirkten sich die Provokationen in Görlitz aus." 1 Dieser Bewertung schloß sich auch das ZK der SED an. Es bezeichnete Görlitz als den „größten Schwerpunkt im Bezirk Dresden". 2 Das höchste Parteigremium gestand ein, daß hier „die Provokateure weitgehend die Macht vorübergehend an sich rissen und sogar eine .Heimwehr' bildeten". Die Verantwortung wies die SED-Führung, weit entfernt von einer realistischen Analyse, den leitenden Görlitzer Funktionären zu. So war es nur konsequent, in den folgenden Monaten das Führungspersonal der SED-Kreisleitung Görlitz-Stadt auszutauschen und zahlreiche Parteiverfahren einzuleiten, die in zwei Fällen zum Parteiausschluß führten. 3 Weshalb gerade in dieser Grenzstadt zum Osten, weit weg von Berlin - dem Ausgangspunkt des Aufstandes - die spontane Protestbewegung innerhalb weniger Stunden zu einem politischen Aufstand eskalierte, wird in der Literatur meist nicht thematisiert. Nur Manfred Hagen berührt knapp die Ursachen, weshalb sich Görlitz „aus den Bewegungen in der DDR" heraushebt. Er vermutet - das wird die weitere Analyse zeigen - zu Recht, daß neben der breiten sozialen Basis des Aufstandes und noch vorhandener Opposition in den gleichgeschalteten Parteien für den „weitreichenden Erfolg der Görlitzer Bewegung" vor allem verantwortlich war, daß die Menschen hier schon vergleichsweise früh - bereits um die Mittagszeit - zu einer eindrucksvollen Massenkundgebung zusammenströmten. 4 Möglicherweise hat auch die demographische und politische Struktur der Stadt nach 1945 eine Rolle gespielt. Daß tatsächlich nirgendwo sonst die Erhebung gegen die Diktatur der SED am 17. Juni 1953 so rasch - wenn auch nur für wenige Stunden - erfolgreich war, wie im Raum Görlitz, bedarf deshalb einer plausiblen Erklärung. 5

1

2

3

4 5

SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7. 1953, S. 2 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . ZK der SED, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16.-22.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 10); das folgende Zitat ebd. Bis zum 12.10.1953 wurden insgesamt 26 Parteistrafen im Apparat der SED-KL Görlitz-Stadt ausgesprochen, darunter waren zwei Parteiausschlüsse, vier strenge Rügen und fünf Rügen, vgl. Analyse über Parteistrafen aufgrund des 17.6.1953 im Apparat der KL (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 119-120). Hagen, DDR - Juni 53, S. 158f.; Zitat ebd., S. 158. Das war zugleich auch ein Auftrag, den die Görlitzer Stadtverwaltung, die Stadtverordneten und die Zeitzeugen, darunter mehrere Akteure und Opfer des 17. Juni, erteilten,

246 2.

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

Demographische und politische Voraussetzungen

Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Karl Weichold hatte schon vor dem 17. Juni mehrfach die Bezirksleitung der SED und auch das ZK auf die schwierige Lage in der Stadt aufmerksam gemacht. 6 Er hatte Walter Ulbricht zweimal persönlich über die besonderen Probleme in dieser Region informiert, doch ohne Erfolg. Im Gegenteil, nach den im ersten Halbjahr 1953 von der SEDund Staatsführung beschlossenen Sparmaßnahmen verschärfte sich die Situation dramatisch. Sie wirkten sich wegen der besonderen demographischen Struktur in Görlitz noch katastrophaler aus als in der DDR insgesamt. Dabei hatte Görlitz am Ende des 2. Weltkrieges zunächst günstigere Bedingungen vorzuweisen als viele andere Städte in der SBZ. Es hatte den Krieg fast ohne materielle Schäden überstanden. Noch im Jahre 1953 erinnerten prächtige Renaissancebauten an den einstigen Reichtum der Stadt und ihrer Bürger. Jetzt waren viele von diesen historischen Gebäuden Sitz der neuen Machthaber. Im Rathaus mit seiner berühmten Rathaustreppe residierte seit 1950 der SED-Oberbürgermeister Willi Ehrlich. Im Schönhof, einer der ältesten Renaissancebauten Deutschlands, saß die FDJ-Leitung der Stadt und des Kreises. Im alten Ständehaus saßen die leitenden Funktionäre der Stadt und des Kreises. In den acht Jahren seit Kriegsende hatte sich allerdings viel verändert. Aus einer reichen und blühenden Stadt, die seit Jahrhunderten starken Einfluß auf das geistige und wirtschaftliche Leben Mittel- und Ostdeutschlands ausübte und als das Tor nach Schlesien galt, war, so hatte es das Potsdamer Abkommen besiegelt, eine geteilte Stadt und eine Grenzstadt geworden. Ihre Einwohner erlebten zunächst nach 1945 eine beispiellose Welle von Vertreibung vornehmlich aus Schlesien. Viele Flüchtlinge blieben gleich in Görlitz, weil sie hofften, schon bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Etwa 40 Prozent aller Einwohner kamen aus den ehemaligen Ostgebieten, die meisten von ihnen jedoch aus dem östlich der Neiße liegenden Teil der Stadt. 7 Manche konnten jenseits des Flusses ihre Häuser sehen, die größtenteils leer standen und allmählich verfielen. Bis zum 6. Juli 1950 hatte die Görlitzer Bevölkerung noch gehofft, daß die Teilung ihrer Stadt nicht andauern würde. Als Otto Grotewohl seine Unterschrift unter die „Deklaration über die Markierung der Oder-Neiße-Friedensgrenze" setzte, waren diese Hoffnungen zerstoben. Die „Friedensgrenze" zu Polen war in den fünfziger Jahren strenger bewacht als die Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Es gab nicht einmal einen kleinen Grenzverkehr; illegale Grenzübertritte wurden bei Entdeckung streng-

6 7

als sie am 40. Jahrestag des Aufstandes eine Gedenktafel auf dem Postplatz enthüllten, vgl. auch „Gedenktafel am Postplatz von OB und Landrat enthüllt". In: SZ vom 18.6.1993. Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des Genossen Weichold, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 144-145). Vgl. VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 29.1.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 100).

Demographische und politische Voraussetzungen

247

stens geahndet. 8 Die scharfen Grenzsicherungsmaßnahmen gegenüber dem „polnischen Brudervolk" trugen auch dazu bei, daß die Görlitzer den Versprechungen der SED-Führung und der DDR-Regierung auf Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten noch weniger glaubten als die übrige DDRBevölkerung. Im Juni 1953 keimte im Zusammenhang mit dem Neuen Kurs dann wieder Hoffnung auf, daß die Teilung der Stadt aufgehoben und die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Heimat möglich würde. Die Stadt Görlitz dehnte sich auf über 25 qkm aus. 9 Sie war zudem mit 3 852 Einwohner je qkm das am dichtesten besiedelte Territorium im Bezirk Dresden, gefolgt von Dresden mit 2 226 Einwohnern je qkm. Abgesehen von Berlin wohnten die Menschen in der DDR nur in Leipzig noch enger auf einem Raum. In Görlitz verfügte jeder Einwohner nur über etwa 8 qm Wohnraum, eine Wohnsituation, die sich durch den Zustrom der Vertriebenen in die Stadt verschärft hatte. Die Zusagen der Regierung, die Wohnverhältnisse zu verbessern, waren nicht eingelöst worden. Beispielsweise hatte der Ministerrat der DDR in einer Sitzung, die in Görlitz stattgefunden hatte, den Bau von 350 neuen Wohnungen versprochen. 10 Bis zum Juni 1953 war allerdings nicht eine fertiggestellt worden. Von den rund 100000 Görlitzern waren 3 5 0 0 0 Arbeiter und Angestellte. Ebenso viele übten keinen Beruf mehr aus, darunter 23 000 Görlitzer, die von Rente, Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung lebten, und 12000 Hausfrauen ohne eigenes Einkommen. 11 Nur 4 000 Görlitzer waren Ende des Jahres 1952 noch selbständig. Ihre Zahl sollte 1953 nach dem Willen der SED-Führung weiter reduziert werden. Allein zwischen Juli 1952 und März 1953 waren in Görlitz zwölf Industriebetriebe in Volkseigentum überführt worden, weil ihre Besitzer illegal die DDR verlassen hatten. Vier weitere waren unter die Verwaltung der Stadt gestellt worden, weil DDR-Gerichte ihre Eigentümer zu Zuchthausstrafen und Vermögensentzug verurteilt hatten. Außerdem hatte der Staat zwei Handelsbetriebe und 27 Mietwohngrundstücke enteignet und 215 Häuser unter die Verwaltung der Stadt gestellt. Darüber hinaus waren im gleichen Zeitraum „bewegliche Vermögen" im Werte von 104 319,- Mark eingezogen worden, darunter Möbel und Teppiche im Werte von 20 000 Mark. Letztere hatte die Stadt bereits an FDJ-Einrichtungen, Jugendheime und Altersheime verteilt. 12 Im Frühjahr 1953 war die Görlitzer Polizei gerade damit beschäftigt, die 92 noch verbliebenen Großhändler „zu überprüfen", um ihnen Handlungen gegen die DDR nachzuweisen und sie zu „liquidieren". 13 8 9 10 11 12 13

Vgl. ebd., Bl. 101. Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1956, S. 19. Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 144). Vgl. VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 29.1.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 100). Vgl. Rat der Stadt Görlitz, Sitzung vom 18.3.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 2563). Vgl. VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 29.1.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 102).

248

Der 17. ]uni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Die Arbeitslosigkeit lag mit etwa 2 500 registrierten Arbeitslosen, darunter 300 Jugendlichen, im DDR-Vergleich relativ hoch, was auch auf die soziale Zusammensetzung der Vertriebenen zurückzuführen war: Diese Gruppe war von Frauen, Jugendlichen und Schwerbeschädigten geprägt. Die SED-Führung hatte auf dem III. Parteitag der SED (Juli 1950) ausdrücklich versprochen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. 14 Geplant war, im Görlitzer Maschinenbau die Zahl der Beschäftigten auf 6 000 zu erhöhen. Nach dem 17. Juni 1953 wurde dieses Versprechen „als Irrtum von Ulbricht" interpretiert. 15 Außerdem sollte in der Görlitzer Region eine neue Baumwollspinnerei mit 3 000 Arbeitsplätzen entstehen, um die hohe Frauenarbeitslosigkeit abzubauen. Doch dieses Werk entstand dann in Forst in der Lausitz. Auch eine geplante neue Textilfabrik wurde nicht gebaut. Mit diesen versprochenen Projekten hatten die örtlichen Partei- und Staatsfunktionäre gerechnet und ständig argumentiert. Gegen sie richtete sich dann folgerichtig auch der Unmut der unzufriedenen Bürger vor Ort. 1953 waren 3 797 Görlitzer auf Sozialhilfe angewiesen. Ab April stellte die Stadt für etwa 1200 Sozialhilfeempfänger und ihre Angehörigen die Zahlungen ein, ohne daß diesen Menschen Arbeit zu vermitteln war. Selbst der SEDOberbürgermeister wies Ende März in einer Ratssitzung nachdrücklich auf die verheerenden politischen Konsequenzen dieser Kürzungen hin, die er deshalb als „untragbar" bezeichnete. 16 Ähnlich dachten auch seine Mitarbeiter und die Funktionäre der SED-Kreisleitung. Eine Intervention des Bürgermeisters beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden blieb indes ohne Erfolg. Auch bei den Rentnern wurde gespart. Seit Ende 1949 hatte jeder Görlitzer, der über 85 Jahre war, zum Geburtstag eine städtische Beihilfe von 25 Mark erhalten, im März 1953 hatte die Stadt diese Zuwendung gestrichen. 17 Nicht nur Rentner und Sozialhilfeempfänger sahen in der Flucht nach dem „Westen" einen Ausweg aus ihrer Lage. Seit Oktober 1952 war die Zahl der sogenannten Republikflüchtigen im Stadt- und Kreisgebiet Görlitz deutlich angestiegen. Registrierte die Volkspolizei Görlitz im Oktober 52 Fälle von „Republikflucht", stieg die Zahl im Dezember auf 133, im Februar 1953 bereits auf 184, im März auf 198 und im April auf 192. 18 Unter den 936 Bewohnern, die von Anfang November 1952 bis Ende April 1953 die Stadt Görlitz und den Landkreis in Richtung Westen verließen, waren reichlich ein Drittel Rentner, Hausfrauen und Beschäftigungslose. 19 Die Wohnbevölkerung von Görlitz schrumpfte allmählich unter die 100 000-Einwohner-Grenze. 14

15 16 17 18 19

An die Versprechungen des III. Parteitages erinnerte Weichold die SED-BL Dresden in den Auseinandersetzungen um seine Person; vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des Genossen Weichold (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 144). Vgl. ebd. Vgl. Sitzung des Kreistages Görlitz, März 1953 (SächsHStA, BT/RdB, 2563). Vgl. Sitzung des Kreistages Görlitz vom 25.3.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 2563). Vgl. SED-BL Dresden, Angaben zur Republikflucht, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/ 13/004, Bl. 44-46). Ebd.

Demographische und politische Voraussetzungen

249

Neben dem großen Anteil von Vertriebenen an der Görlitzer Bevölkerung und den daraus folgenden sozialen Wirkungen wiesen auch die politischen Bedingungen einige Besonderheiten auf. So waren die evangelische und die katholische Kirche in der Bevölkerung fest verankert. Das spiegelte sich beispielsweise im Kirchgang und am Zulauf zur Jungen Gemeinde wider. Görlitzer Funktionäre beschwerten sich immer wieder darüber, daß die Kirchen voll seien, während die Teilnahme an Propagandaaufmärschen und Parteiveranstaltungen zu wünschen übrig lasse. So hielt das Volkspolizeikreisamt im Januar 1953 fest: „Die zentralen Feierstunden, wie Feier zum Jahrestag der DSF, Leninfeier usw., sind äußerst schlecht besucht, während-zu dieser Zeit sich die Menschen in die Kirchen drängen." 2 0 Die Kader der SED beobachteten das mit Unbehagen. Ihre Bemühungen, „fortschrittliche" Pfarrer auf ihre Seite zu bringen, schlugen in Görlitz fehl. So stellte die Görlitzer Polizeiführung enttäuscht fest: „Es gibt unter 22 Pfarrern nicht einen fortschrittlichen Geistlichen." Die Junge Gemeinde entwickelte in Görlitz nach Polizeibeobachtungen „eine äußerste Aktivität". Selbst Funktionäre der FDJ nahmen an der Jugendarbeit der Kirchengemeinden teil. Die Görlitzer Polizei beklagte vor allem, daß sie wenig über diese Arbeit wußte, weil sie in den kirchlichen Räumen stattfand, während die Mitglieder der Jungen Gemeinde sehr gut über die FDJ unterrichtet waren. Deshalb würde „eine neue Überwachung mit Hilfe der Partei organisiert". Im Frühjahr 1953 versuchte die SED mit einer „Kampagne zur Liquidierung der Jungen Gemeinde als Tarnorganisation des amerikanischen Geheimdienstes" den Einfluß von Religion und Kirche auf die Jugend „planmäßig" und mit Repressivmaßnahmen einzudämmen. 21 In Görlitz-Stadt und im Landkreis mußten im Mai/Anfang Juni sechs Oberschüler von ihnen stand einer unmittelbar vor dem Abitur - die Schule verlassen. 22 Vier Lehrer wurden gekündigt, zwei an Grundschulen versetzt. Nicht nur in der Institution Kirche sahen die Machthaber einen Gegner und Feind, der in einer Zeit der „Verschärfung des Klassenkampfes" besiegt werden mußte. Auch die Sozialstruktur der Bevölkerung stand im Visier, da „Görlitz auch heute noch ein guter Boden für alle möglichen bürgerlichen Tendenzen" sei; für die Funktionäre war dabei „der Sozialdemokratismus das ernsteste Problem". 23 Gerade ehemals sozialdemokratische Mitglieder der SED wurden mit besonderem Mißtrauen beobachtet, war doch vor 1933 die SPD in Görlitz sehr einflußreich, während die KPD auch wegen ihrer geringen Mitglieder-

20 21 22

23

VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 29.1.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 101); die folgenden Zitate ebd. Vgl. dazu grundsätzlich: Wentker, Kirchenkampf in der DDR, S. 95ff.; Kaufmann, Agenten mit dem Kugelkreuz. Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Auswirkungen der Maßnahmen im Bezirk Dresden auf Grund der Anordnung des Ministeriums für Volksbildung über die Überprüfung der Oberschulen, vom 15.6.1953, S. 1 - 3 (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 29.1.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 100).

250

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

stärke nur sehr wenig Einfluß ausüben konnte. 24 Die Bezirksleitung Dresden sprach von einer „sehr starken rechten sozialdemokratischen Tradition" in der Görlitzer SED, die seit der Vereinigung beider Parteien noch nicht überwunden worden sei. 25 50 Prozent ihrer Mitglieder waren über 50 Jahre alt (in der BPO Dresden: 47,8 Prozent) und hatten an den Kämpfen der Weimarer Republik teilgenommen. 26 Um die örtlichen sozialdemokratischen Traditionen zu unterdrücken, setzte die SED zahlreiche ehemals kommunistische Funktionäre im Partei- und Staatsapparat, die nicht aus Görlitz kamen, ein. Sowohl der Görlitzer Oberbürgermeister Willi Ehrlich als auch der 1. SED-Kreissekretär Karl Weichold stammten aus Leipzig und waren vor 1945 KPD-Mitglieder. Auch einige Bürgermeister in Landgemeinden und mehrere Betriebsdirektoren waren mit „Parteiauftrag" von außerhalb gekommen. Auch die „Blockparteien" galten als Gegner im „Klassenkampf", wenngleich es vor dem 17. Juni keine sichtbaren Anzeichen dafür gab, daß Funktionäre und Mitglieder dieser Parteien Widerstand gegen die SED geleistet hätten. Am 17. Juni und in den Tagen danach wurde hingegen deutlich, daß sich hier CDUund LDP-Funktionäre noch ein gewisses Widerstandspotential gegenüber der SED-Diktatur und auch gegenüber ihren eigenen Parteiführungen in Berlin bewahrt hatten. Unter den „Haupträdelsführern" des 17. Juni waren zahlreiche Funktionäre und Mitglieder dieser bürgerlichen Parteien vertreten. Um den Einfluß der „bürgerlichen Ideologie" und des „Sozialdemokratismus" einzudämmen, setzten die SED-Funktionäre ihre Hoffnungen auf die Arbeiter in den großen volkseigenen Betrieben. 27 Görlitz verfügte mit dem Waggon- und Schwermaschinenbau, mit der Feinmechanik/Optik und mit der Textilbranche über eine sowohl für die Region als auch für den ersten Fünfjahrplan bedeutsame Industrie. 28 Mit der LOWA Görlitz war ein Großbetrieb des Lokomotiv- und Waggonbaus angesiedelt, der in zwei Werken insgesamt 4 000 Menschen beschäftigte. Die LOWA-Belegschaft produzierte hauptsächlich internationale Kurswagen der 1. und 2. Klasse, die im Rahmen von Reparationslieferungen in die Sowjetunion gingen. Wegen der häufigen Änderungswünsche des sowjetischen Auftraggebers kam es allein im ersten Halbjahr 1953 in der LOWA 19 mal zu kurzfristigen Korrekturen des Produktionsplanes. 29 Solche Planänderungen schlugen sich in Lohneinbußen für die Belegschaft nieder. Hinzu kamen weitere typische Probleme der Mangelwirt24 25 26

27 28 29

Vgl. ebd. Vgl. ebd.; vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, Einschätzung des Sekretariats vom 15.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 2 6 2 ) . Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Vgl. VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 2 9 . 1 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 100). Vgl. BDVP Dresden, Blitzfernschreiben, An die HVDVP, Operativstab, vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 12). Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des G e n o s s e n Weichold, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 144).

Frühe Warnung vor „Provokationen"

251

schaft: lange Warte- und Stillstandszeiten wegen Materialmangels etwa und ein Überschuß an Arbeitskräften. 3 0 Eine ganze Abteilung in der LOWA hatte zehn Monate hintereinander Wartegeld bezogen. Dann gab es wieder Perioden, in denen reichlich Überstunden anfielen, die aber seit Frühjahr 1953 nicht mehr ohne weiteres bezahlt werden konnten. Der VEB EKM Maschinenbau Görlitz beschäftigte rund 2 150 Menschen, und auch sie produzierten zum größten Teil für Reparationslieferungen an die Sowjetunion. Richteten sich die Hoffnungen der Görlitzer Funktionäre einerseits auf die großen volkseigenen Betriebe, so klagten sie andererseits schon vor dem 17. Juni darüber, daß der „Sozialdemokratismus" gerade dort anzutreffen sei. Alle Schwierigkeiten wurden diesem Umstand angelastet, so beispielsweise die ungenügende Planerfüllung in einigen Betrieben. Auch die „Maschinenausfälle" in der LOWA und im EKM führte die Volkspolizei auf den „dort herrschendem Sozialdemokratismus" zurück. 31 Selbst für einen Baggerausfall im Braunkohlenwerk Berzdorf oder für Motorschäden in volkseigenen Betrieben infolge von Stromschwankungen wurde der „Sozialdemokratismus" verantwortlich gemacht.

3.

F r ü h e W a r n u n g vor „ P r o v o k a t i o n e n "

Am 16. Juni hatten die „führenden" Genossen der Kreisleitung Görlitz bis spät abends im Parteihaus gesessen und sich die Köpfe „heiß geredet". 3 2 Die SEDFunktionäre hatten allerdings nicht über die aktuelle politische Situation angesichts der Aktionen der Ostberliner Bauarbeiter beraten. Wie so oft beschäftigten sie sich mit sich selbst, denn in der Kreisleitung war es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem 1. Sekretär Karl Weichold und seiner Stellvertreterin gekommen, die jede weitere Zusammenarbeit mit ihm abgelehnt hatte. 3 3 Da der Streit nicht beendet werden konnte, war für den nächsten Tag eine weitere Beratung anberaumt worden. Wie für alle Kreissekretäre des Bezirkes Dresden war auch für den 1. SEDSekretär von Görlitz die Nacht vom 16. zum 17. Juni bereits gegen 3.30 Uhr zu Ende: Auf Anweisung aus Dresden mußte ihn der Betriebsschutz aus dem Bett holen. 3 4 Als er im Parteihaus eintraf, erhielt er per Telefon aus der SEDBezirkszentrale die Mitteilung, „daß damit zu rechnen ist, daß [...] bestimmte 30 31 32 33

34

Vgl. VPKA Görlitz, Betr.: Verschärfung des Klassenkampfes im Bereich des VPKA Görlitz, vom 2 9 . 1 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 1 0 0 - 1 0 2 ) . Ebd. Vgl. SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 145). Protokoll der Kreisdienststelle für Staatssicherheit Görlitz, Betr.: Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, Ehrlich, Willi, und 1. Sekretär der Partei, Gen. Weichold, vom 21.6. 1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 21 f.). Vgl. SED-BL Dresden, Beschlüsse des Sekretariats in der Angelegenheit Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 127).

252

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Kräfte aus Berlin in den Betrieben versuchen werden, Unruhe zu stiften in Zusammenhang mit der Frage der Normen". 3 5 Er solle wachsam sein, wenn „Westberliner Agenten" mit „Arbeiterzügen" kämen und in den Betrieben zu Streiks aufriefen. Um „Unruhen" in Görlitz zu verhindern, solle er dafür sorgen, daß Betriebsleiter und Parteisekretäre mögliche Provokationen abwehrten. Daraufhin bestellte der 1. Kreissekretär den Dienststellenleiter des MfS, Oberleutnant Niesner, den Leiter des VPKA, VP-Kommandeur Gröschel, und den Oberbürgermeister, Willi Ehrlich, für 5.45 Uhr zu sich. 36 Den Parteisekretär der LOWA wies er telefonisch an, „Schwerpunktabteilungen" im Betrieb zu besetzen. Zwischen 5.45 und 6 Uhr trafen die Görlitzer Spitzenfunktionäre im Parteihaus ein. Sie brachten ihrerseits die telefonischen Anweisungen ihrer Vorgesetzten aus Dresden mit, von denen sie gleichfalls auf „Westberliner Provokateure" vorbereitet worden waren. Gegen 6 Uhr begann die einstündige Besprechung, in deren Ergebnis man festlegte, Instrukteure in die beiden wichtigsten Betriebe - in die LOWA und zum VEB Maschinenbau (EKM) - zu entsenden. Ganz offensichtlich glaubten sie zu diesem Zeitpunkt nicht daran, daß die angekündigten „Westberliner Agenten" ausgerechnet ins ferne Görlitz kommen könnten, um Unruhe zu stiften. Weichold sagte später vor der SEDBezirksparteikontrollkommission aus, daß sie „den ganzen Ernst der Lage" nicht erfaßt hätten. 37 „Wir haben nicht daran gedacht, daß überhaupt solche Ausschreitungen vorkommen könnten", verteidigte sich Weichold. Die vier Spitzenfunktionäre hatten lediglich die Parteisekretäre von weiteren Großbetrieben telefonisch angewiesen, die sogenannten Schwerpunktabteilungen mit Parteifunktionären zu besetzen und die Kreisleitung ständig über das Geschehen zu informieren, um „Provokationen" vorzubeugen. Völlig ahnungslos waren auch jene sechs Dresdner Parteiinstrukteure, die seit mehreren Tagen in Görlitz weilten, um die „Stimmung und Meinungen" der Görlitzer zum Neuen Kurs zu erkunden. Sie frühstückten in aller Ruhe in einem Görlitzer Hotel, während sich die wirkliche Massenstimmung bereits in den Betrieben und auf den Straßen zeigte. 38 Die Funktionäre der SED-Kreisleitung setzten ihre am Vorabend abgebrochene Beratung fort. Dabei informierte der Kreissekretär die Anwesenden auch über die Berliner Ereignisse. Kurz nach Beginn der Beratung traf eine erste alarmierende Meldung aus der LOWA ein: Der Parteisekretär teilte mit, daß die Arbeiter einer Abteilung des Werkes I zusammenständen, ihre Sympathie für den Berliner Streik zum Ausdruck brächten und eine Abteilungs-

35 36 37 38

SED-BL Dresden, Telefonische Durchsage vom ZK am 17.6.1953, 3.00 Uhr (SächsHStA, SED IV/2/12/008). BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Weichold, Karl, vom 26.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 131). SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 143); das folgende Zitat ebd., BI. 146. Ebd., Bl. 160.

Frühe Warnung vor „Provokationen"

253

Versammlung durchführen wollten. 39 Er ließ jedoch wissen, „daß die Betriebsparteiorganisation die Sache schaukeln würde". 4 0 Kurz darauf kam eine weitere Entwarnung. Die Arbeiter hätten ihre Arbeit wieder aufgenommen. Die Freude darüber währte nicht lange, denn wenig später erschien der LOWAParteisekretär persönlich, um mitzuteilen, daß im Betrieb „der Teufel los sei". 41 Inzwischen hatten die Beschäftigten ihre Arbeit niedergelegt, und die Streikenden marschierten bereits in Richtung Hauptwerk. Die Sitzung,im Parteihaus wurde daraufhin gegen 9.45 Uhr abgebrochen. Von nun an überschlugen sich die Meldungen aus den Parteibüros der Betriebe. Auch der Parteisekretär der LOWA II, dem Hauptwerk des Görlitzer Waggonbaus, berichtete, daß die Arbeiter streikten und zum Stadtzentrum marschieren wollten. Der 1. Kreissekretär begab sich sofort an den Ort des Geschehens. Doch bevor er und seine Instrukteure in den Betrieben eintrafen, um die Belegschaften von „unbedachten Aktionen" abzuhalten, 42 war ein Teil der Streikenden bereits auf der Straße. Weichold ging zu Fuß zum Werk II der LOWA. Bereits auf dem Weg bot sich ihm ein ungewohntes Bild: Plakate riefen zum Sturz der Regierung auf. Unterwegs traf er den Dienststellenleiter des MfS, der ebenfalls auf dem Weg zum Werk II der LOWA war. Als beide dort angekommen waren, trafen sie lediglich noch auf „diskutierende Gruppen" von Arbeitern, darunter auch auf eine „ganze Reihe von Genossen". 4 3 Nicht einmal diese ließen sich vom Streik abhalten. Die beiden Spitzenfunktionäre erfuhren, daß die Belegschaften der beiden LOWA-Werke bereits zum VEB EKM unterwegs seien. Der Kreissekretär wollte sich selbst überzeugen, wie es im Werk I aussah. Als er dort eintraf, war die Belegschaft tatsächlich bereits zur Demonstration aufgebrochen. Junge Arbeiter hatten die Initiative zum Streik ergriffen und alle Betriebsangehörigen aufgefordert, sich mit den Berliner Arbeitern solidarisch zu erklären. Sie forderten zunächst Preissenkungen, höhere Löhne und die Abschaffung der Normen. 4 4 Weichold folgte den Demonstranten zum VEB EKM. Bei seiner Ankunft - es war inzwischen gegen 10 Uhr - schöpfte er zunächst wieder Hoffnung, denn am Eingang standen noch „Menschenmassen", die „heftig diskutierten", in ihrer Mitte der Oberbürgermeister. Er war nach der Sitzung im

39 40 41 42 43 44

Vgl. ebd., Bl. 146. Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 23). SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 146). Ebd. Vgl. ebd. Vgl. u.a. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18). Auch die Schilderungen der Zeitzeugen stimmen mit den Darstellungen der Machthaber überein; vgl. u. a. „Vom Tribunal zum Tode verurteilt", Herbert Tschirner war am 17. Juni Ingenieur im Konstruktionsbüro VEB Lokomotiv- und Waggonbau in Görlitz. In: Die Tageszeitung vom 17.6. 1993, S.12.

254

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Parteihaus in seine Wohnung gefahren, um in Ruhe zu frühstücken. 45 Dort hatten ihn seine aufgeregten Mitarbeiter schließlich gefunden und ins EKM geschickt. Das Stadtoberhaupt und der Görlitzer SED-Chef versuchten dann auch in diesem Betrieb, „die Arbeiter zurück in den Werkraum zu bringen, um im Werk selbst eine Belegschaftsversammlung abhalten zu können". 4 6 Das gelang ihnen sogar, so daß der Oberbürgermeister sich schon verabschieden wollte, in der Annahme - wie er später vor der Staatssicherheit aussagte daß der SED-Betriebsparteisekretär die Situation allein meistern werde. Auch der 1. Kreissekretär nahm an, daß die Lage beherrschbar sei, und verließ die Versammlung. Der Betriebsparteisekretär des VEB EKM bat jedoch den Oberbürgermeister, zu den Streikenden zu sprechen. Er und der Parteisekretär mußten sich dabei offenbar lautstarke Mißfallensäußerungen gefallen lassen. Beifall ernteten dagegen zwei Arbeiter aus der LOWA und dem EKM mit ihren Forderungen nach Rücktritt der Regierung, nach freien und geheimen Wahlen sowie nach Absetzung der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre und des Personalleiters. 47 Nach dem Ende der Versammlung diskutierten die Versammelten in kleineren Gruppen weiter und verließen nach und nach den Betrieb. Die streikenden Waggon- und Maschinenbauer zogen anschließend vor weitere Görlitzer Betriebe, u. a. zur KEMA, zu Feinoptik und zur Süßwarenfabrik, um die Belegschaften zu Arbeitsniederlegung und Demonstration aufzufordern. Sie hatten Erfolg, der Großteil der Görlitzer Betriebsbelegschaften schloß sich den Demonstrierenden sofort an. Später behauptete die Polizei zwar, daß das nicht freiwillig geschehen sei, vielmehr sei „die Masse der Demonstranten" in die Betriebe eingedrungen, hätte die Maschinen ausgeschaltet und die Arbeiter zur Arbeitsniederlegung „gezwungen". Allerdings mußten die Berichterstatter zugeben, daß sich die Belegschaften - bis auf wenige Ausnahmen - den Streikenden angeschlossen hätten. „Besonders kamen die Jugendlichen mit vollem Eifer dieser Aufforderung nach", stellte die Volkspolizei Dresden fest. Sie nahm an, daß 80 Prozent der Streikenden auch an den Demonstrationen am 17. Juni teilnahmen. 48

45 46 47 48

Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU, 285/53, Bl. 23). Ebd., Bl. 24; das folgende Zitat ebd. Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 95); die folgenden Zitate ebd. Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Betr.: Berichterstattung über die Arbeitsniederlegung am 17. und 18.6.1953 im Bereich der BDVP Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 60).

Vom Streik zur Demonstration

4.

255

Vom Streik z u r D e m o n s t r a t i o n

Obwohl sich Oberbürgermeister und 1. SED-Kreissekretär an Ort und Stelle davon überzeugen konnten, daß die Belegschaften der LOWA und des VEB EKM, darunter auch „ihre Genossen", die Arbeit niedergelegt und sich zu einem Marschblock in Richtung Stadt formierten hatten, verkannten sie die Situation nach wie vor. Immer noch erwogen sie, mit Ansprachen an die Görlitzer die Aktionen einzudämmen und weitere Unruhen zu vermeiden. Das spricht dafür, daß sie einerseits ihre Möglichkeiten weit überschätzten und andererseits die Unzufriedenheit der Görlitzer und ihren Willen, Veränderungen durchzusetzen, gewaltig unterschätzten. Alle eingehenden Meldungen lassen erkennen, daß die Dresdner und Görlitzer Funktionäre über die ersten Streiks in der Stadt zwar besorgt waren, doch offenbar mehr um ihre eigene Sicherheit fürchteten, als daß sie eine Ausdehnung der Protestbewegung in der Bevölkerung erwarteten. Das läßt sich zumindest aus den ersten Reaktionen der Polizei schließen: Die Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden informierte die Hauptverwaltung der Volkspolizei in Berlin um 10.25 Uhr darüber, daß nach den beginnenden Demonstrationen in Görlitz die „Abteilung K [...] zum Schutze der Funktionäre eingesetzt" wurde und das „MfS sich einschaltete". 49 Um 10 Uhr wies der Leiter der MfS-Dienststelle Görlitz alle operativen Mitarbeiter an, in den ihnen zugeteilten Betrieben auf „Saboteure, Provokateure und Agenten zu achten". 5 0 Sie sollten jede Beobachtung ihrer Dienststelle melden und nach „Erledigung des Auftrages" unmittelbar dorthin zurückkehren. Letzteres war dann nicht mehr möglich, weil die Demonstranten bereits vor dem Gebäude der Staatssicherheit aufmarschiert waren, ehe die operativen Mitarbeiter mit ihren Meldungen eintrafen. Zudem kamen die MfSAngehörigen erst in die Betriebe, als der Streik bereits im vollem Gange war, und entdeckten dort nicht die erwarteten „Westberliner Provokateure", sondern demonstrierende Arbeiter, Angestellte, Angehörige der Intelligenz, Hausfrauen, vielleicht auch Nachbarn, Verwandte und Bekannte aus Görlitz. Darauf waren sie nicht eingestellt. Auch die führenden Funktionäre verhielten sich, wie es der 1. Kreissekretär später ausdrückte, ziemlich „kopflos" und „wie gelähmt über diesen ungeheuren Ausbruch", als auch sie begriffen, daß es den Görlitzern nicht mehr nur um Normen, niedrigere HO-Preise oder höhere Renten ging, sondern um politische Veränderungen. 51 Zwischen 10.30 und 11 Uhr legten die Görlitzer Spitzenfunktionäre fest, „daß auf dem Leninplatz [zuvor und heute: Obermarkt] die Demonstranten 49 50 51

BDVP Dresden, Blitz-Fernschreiben an die HVDVP vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 3). Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 7). Vgl. SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 150).

256

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

abgefangen werden und [...] der 1. Sekretär sprechen soll". 52 Dieser Plan war mit dem Chef des MfS und dem Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes abgesprochen. 5 3 Außerdem war vereinbart worden, daß die Volkspolizei die Demonstranten „nach dem Leninplatz schleusen sollte". 54 Doch aus dem Auftritt des Kreissekretärs wurde nichts, weil sich bis zur Mittagszeit die Situation in Görlitz dramatisch veränderte und die Demonstranten den Ablauf des Geschehens diktierten. Kurz nachdem Weichold in seinem Amtssitz eingetroffen war, erschien der sowjetische Militärkommandant der Stadt, Gardeoberst Klepikow, in der SEDKreisleitung. Zuvor hatte ihn Weichold von den Vorgängen in Görlitzer Betrieben kurz informiert. 5 5 Inzwischen hatte sich in der ganzen Stadt wie ein Lauffeuer die Kunde von den Arbeitsniederlegungen in den Großbetrieben und von den Demonstrationen verbreitet. Schon während der Vormittagsstunden hatten sich Tausende von Menschen auf den Straßen und Plätzen von Görlitz versammelt, ohne daß Polizei oder Staatssicherheit eingeschritten wären. Den demonstrierenden Betriebsbelegschaften schlössen sich Bewohner der angrenzenden Straßen, Geschäftsleute, Verkäuferinnen aus Geschäften und auch Besucher von Görlitz an. Auf ihrem Weg zum Stadtzentrum rissen die Demonstranten Plakate mit „fortschrittlichen" Losungen herunter und forderten in Sprechchören Preissenkungen in der HO, höhere Löhne, die Abschaffung der Normen und die Erhöhung der Renten. Die Rufe „Fort mit der SED" oder „Revision der OderNeiße-Grenze" gipfelten bereits in der Forderung nach Absetzung der Regierung. Es sind darüber hinaus nur wenige Einzelheiten über den Marsch der Demonstranten aus den Betrieben in Richtung Innenstadt überliefert. Einige Akteure von damals schildern, wie Betriebsangehörige beim Marsch und auf dem Markt „ein bißchen Ordnung" gemacht haben, damit sie nicht „wie eine Hammelherde herumtrampelten". 5 6 Günter Särchen, damals als katholischer Laie in der Jugendseelsorge in Görlitz angestellt, fuhr an diesem Vormittag mit einem Auto, einem „VW", durch die Stadt. In Görlitz war dieses Auto der „Katholischen" stadtbekannt. Als Särchen dem Zug der Arbeiter begegnete, baten sie ihn, eine Nachricht in einen Betrieb in einen anderen Stadtteil zu überbringen. Er hat später seine Begegnung mit den demonstrierenden Arbeitern so geschildert: „Die mich aus dem Zug heraus um die Überbringung 52 53 54 55 56

Ebd., Bl. 157. Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 7). BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 95). Vgl. SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 146); die folgenden Zitate ebd. „Vom Tribunal zum Tode verurteilt", Herbert Tschirner war am 17. Juni Ingenieur im Konstruktionsbüro VEB Lokomotiv- und Waggonbau in Görlitz. In: Die Tageszeitung vom 17.6.1993.

Vom Streik zur Demonstration

257

dieser Nachricht baten, kannten mich nicht, ich kannte sie nicht. Der VW genügte." 57 Die Beschreibung der Stimmung in diesen Vormittagsstunden fällt bei den Zeitzeugen recht unterschiedlich aus, je nach ihrer Haltung zu diesem Tag und seinen Ereignissen. Während später die einen von „geordnet und diszipliniert verlaufenden Demonstrationen" und von „freudig gestimmten Menschen" sprachen 5 8 , schildern andere „chaotische Zustände" und „furchtbare Szenen", die sich beim Vorbeimarsch des großen Demonstrationszuges, der am Vormittag in Richtung Rathaus zog, abspielten. So seien Leute aus den Geschäften auf die Straße „geholt worden" zum Mitmarschieren. 59 Andere erinnern sich an Prügelszenen vor dem Gerichtsgebäude und vor den Haftanstalten. 60 Beides wird es an diesem Tage in Görlitz gegeben haben: friedlich protestierende und auch gewalttätige Demonstranten. Nach allem, was wir heute wissen, wurde bis kurz vor 12 Uhr kaum Gewalt gegen Personen und Einrichtungen ausgeübt. Lediglich Transparente oder Losungen wurden entfernt und zerschlagen. Das bestätigen auch die einschlägigen Unterlagen der SED, des MfS und der Volkspolizei. 61 Danach wurden in Görlitz innerhalb von etwa zwei Stunden die folgende Gebäude - als Symbole der Macht - von Gruppen von Demonstranten gestürmt, ohne daß die Machthaber größeren Widerstand entgegengesetzt hätten: die Kreisleitungen der SED und der FDJ, die Kreisdienststelle des MfS und das Kreisgericht, die Kreisregistrierstelle der KVP, das Kaufhaus der HO, der Sitz der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und der Nationalen Front, das Arbeitsamt, das Rathaus, die Untersuchungshaft- und die Strafvollzugsanstalt, der Bahnhof und die Redaktion der „Sächsischen Zeitung". Die meisten Aktionen verliefen etwa zeitgleich. Um 11.50 Uhr meldete der Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes Görlitz den Sturm und die Besetzung der ersten „Objekte". Gegen 14.30 Uhr waren alle Gebäude in der Hand der Demonstranten. Auch in Görlitz brachten sich einige Leute, die offenbar die Rache der aufgebrachten Görlitzer befürchteten, möglichst rasch in Sicherheit. So versteckten sich Richter und Staatsanwälte, darunter die Parteisekretärin des Kreisgerichts Görlitz, im Keller des Gebäudes, nicht ohne sich zuvor noch Mut angetrunken zu haben. 6 2 Vor der Kreisparteikontrollkommission entschuldigten sie sich später damit, daß sie vom Keller aus „Beobachtungen" hätten 57 58 59 60 61 62

Vgl. Särchen, Ich freue mich, S. 2 8 9 - 2 9 4 . Sebastian Beutler, „Der 17. Juni 1953 - eine deutsche Zäsur. Daß so etwas in Görlitz möglich ist!" In: Görlitzer Nachrichten vom 19./20.6.1993. Vgl. z. B. Ebhardt, Frieda, Aufzeichnungen meiner gesellschaftspolitischen Tätigkeit, o. D. (SächsHStA, SED V 5/417). Vgl. auch Berichte von Zeitzeugen, die Schüler des Gymnasiums Augustum in Görlitz im Rahmen von Projektarbeiten festhielten. Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 9 2 - 9 7 ) . SED KL Görlitz-Stadt, Einschätzung des Sekretariats vom 14.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 65).

258

Der 17. Juni in den Kreisen

Görlitz

und

Niesky

machen wollten. Der Oberbürgermeister Ehrlich und der 1. SED-Kreissekretär Weichold brachten tatsächlich mehr Mut auf als viele ihrer Amtskollegen in anderen Städten der DDR: Sie suchten den Dialog mit den Demonstranten, während der Chef der MfS-Kreisdienststelle die Öffentlichkeit mied und sich mit seinen Kollegen in Sicherheit brachte.

5.

Die K u n d g e b u n g auf d e m O b e r m a r k t 6 3

Wie in anderen Städten der DDR, so suchten auch die Görlitzer Aufständischen am 17. Juni von sich aus den zentralen Platz ihrer Stadt auf, um sich zu einer Protestkundgebung zu versammeln. Der Obermarkt hatte in seiner Geschichte unzählige organisierte Aufmärsche und Kundgebungen erlebt, zuletzt anläßlich des Todes von Stalin und zum 1. Mai. Doch niemals waren freiwillig so viele Menschen dorthin geströmt und hatten sich geduldig kurze und längere Reden angehört. Diese Kundgebung wurde über den Stadtfunk übertragen und auf Tonband aufgenommen. Nach der Niederschlagung des Aufstandes beschlagnahmte die Staatssicherheit drei Bänder und ließ sie transkribieren. 64 Aus keiner anderen Stadt der DDR liegt eine solche Quelle vor, die die Vorgänge des 17. Juni auf einem öffentlichen Platz, und hier vor allem die Dialoge zwischen den verschiedenen Protagonisten der Demonstration, plastisch werden läßt sowie die allmähliche Entstehung einer zielgerichteten politischen Bewegung nachvollziehbar macht. Im übrigen vermittelt dieses Dokument einen Eindruck von der Atmosphäre und von der Stimmung jener machtvollen Demonstration der Görlitzer, denn auch die Reaktionen auf Wortmeldungen sind akribisch festgehalten. Darüber hinaus läßt sich der Ablauf der Kundgebung auch an Aussagen des Oberbürgermeisters vor dem MfS 65 , Polizeiberichten 66 , Gerichtsakten von mehreren Verfahren gegen Görlitzer und Nieskyer „Provokateure" 67 und Zeitzeugenbefragungen rekonstruieren. Durch Kombination dieser Quellen ist es in Einzelfällen sogar möglich, einzelne Sprecher zu identifizieren, obwohl sie in der Tonbandtranskription nicht namentlich genannt werden. 6 8 Die Stadt war um die Mittagszeit bereits in der Hand der Demonstranten. Wie schon oben erwähnt, zogen große Teile der Streikenden in den Vormittagsstunden ins Zentrum, um den Oberbürgermeister zur Rede zu stellen. Unter63 64 65 66 67 68

Ausführlich zu dieser Kundgebung vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Görlitz, S. 4 6 - 5 6 . Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 181-192). Vgl. Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, A U - 2 8 5 / 5 3 , Bl. 2 3 - 2 8 ) . Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 ) . Die Gerichtsakten wurden eingesehen bei Staatsanwaltschaft Dresden, Abt. 8. Zum Zeitpunkt der Verschriftlichung verfügte das MfS offenbar noch nicht über alle Informationen zu den sogenannten „Haupträdelsführern" und wußte z. B. nicht, wer der „Rothaarige" aus der LOWA war.

Die Kundgebung

auf dem

Obermarkt

259

wegs schlössen sich mehrere tausend aus allen Schichten der Bevölkerung an. Die Straßen in der Innenstadt quollen regelrecht über. „Eine Lawine wälzte sich zum Leninplatz", vermerkte später ein Gewerkschaftsbericht. 69 Ganz Görlitz schien auf den Beinen zu sein. Oberbürgermeister Ehrlich war nach seinem erfolglosen Auftritt im EKM zum Obermarkt geeilt, um sich - wie abgesprochen - an „seine Bürger" zu wenden und sie zur „Vernunft zu bringen". 70 Als Ehrlich am Rathaus eintraf, begrüßte ihn ein Teil der Versammelten, vor allem Frauen, mit „Beifallsrufen" und „Klatschen". Als er sich aber einen Weg durch die Menge bahnen wollte, so erinnerte sich der Oberbürgermeister, begannen „die Beschimpfungen". Als er über die Versammlung im EKM berichtete, wurde er als Lügner tituliert. Weil er sich persönlich bedroht fühlte, wollte er auf einen öffentlichen Auftritt verzichten und sich ins Rathaus zurückziehen. Doch daran hinderten ihn die Versammelten. Er stieg schließlich auf einen an der Westseite des Platzes stehenden Lieferwagen, um sich Gehör zu verschaffen. Aber auch das war nicht ohne weiteres möglich. Inzwischen hatten einige Demonstranten die Anlage des Stadtfunks besetzt. Diese Anlage, damals Eigentum der Stadt, gehörte früher der Firma Hellwig, die ein Radiogeschäft am Obermarkt betrieb. Der Geschäftsinhaber Arthur Hellwig und sein Elektroinstallateur Horst Helmut Konzog setzten den Stadtfunk an diesem Tag in Betrieb, um die Kundgebung zu übertragen. 71 Dafür kamen sie ins Gefängnis. Der Geschäftsinhaber wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, sein Angestellter zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und vier Monaten. Nachdem die Einwohner über den Stadtfunk von der Kundgebung erfahren hatten, drängten ununterbrochen Menschen auf den Obermarkt. Dicht an dicht standen die Görlitzer mehr als eine Stunde auf diesem Platz, von etwa 11.30 Uhr bis gegen 13 Uhr. Die überbetriebliche Streikleitung, bestehend aus Betriebsangehörigen der LOWA und anderer Betriebe, betraute einen Architekten namens Cammentz mit der Leitung der Kundgebung. 72 Ein Tisch diente als Rednertribüne. Zu Beginn gab ein „rothaariger LOWA-Arbeiter im Schlosseranzug", wie Ehrlich vor dem MfS aussagte, seiner Freude Ausdruck, daß es endlich gelungen sei, den Oberbürgermeister Ehrlich zu zwingen, vor den Massen zur „verbrecherischen Politik der SED und der Regierung der DDR" Stellung zu nehmen. 7 3 Der Oberbürgermeister trat vor das Mikrofon. Der

69 70 71 72 73

Situationsbericht des Bezirksvorstandes des FDGB Dresden vom 20.6.1953, S. 2 (SächsHStA, SED IV/2/12/010). Vgl. Aussage des Oberbürgermeisters Ehrlich vor dem MfS Görlitz vom 24.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 285/53); die folgenden Zitate ebd. Vgl. Bezirksgericht Dresden, 1. Strafsenat, Brief an die KL der SED Stadt Görlitz, o. D. (SächsHStA, SED IV/2/13/017). Görlitz: 17. Juni 1953, Bulletin vom 16. Juni 1959, S. 1055. Vgl. Aussage des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BstU, Ast. Dresden, AU 285/53, Bl. 24).

260

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

„Rothaarige" - es war der Schlosser Hermann Gierich aus der LOWA 74 - richtete an das Stadtoberhaupt unter anderem folgende Fragen: „Wann wird die Oder-Neiße-Grenze aufgehoben? Wann wird die KVP aufgelöst? Wann tritt die Regierung zurück? Wann finden freie Wahlen statt? Wann werden die HOPreise beseitigt?" 7 5 Der Oberbürgermeister lehnte dazu jede Stellungnahme ab. 7 6 Er wollte eine Rede halten zu den „ernsten Fehlern der Partei in der Vergangenheit" und zu den Beschlüssen des Politbüros vom 9. Juni. Doch diese agitatorischen Floskeln wollten die Demonstranten in dieser Stunde nicht hören, und sie quittierten seine Worte mit Pfui-Rufen und Geschrei, fetzt trat der Architekt Cammentz in Aktion und sprach, von Beifall unterbrochen: „Liebe Einwohner der Stadt Görlitz! Wir wollen nur eins wissen, - von den vergangenen Fehlern wollen wir gar nichts mehr wissen - , sie wollen wir vergessen [Beifall] Wir wollen nur noch eins wissen, daß wir freie Menschen sind, und das soll unser Bürgermeister nun mal bestätigen, daß, wenn hier die Polizei eingreift, daß wir dann unseren Schutz als Arbeiter haben." Der Oberbürgermeister sprach sich gegen einen Einsatz der Polizei aus. Offenbar glaubten die Zuhörer nicht so recht an seine Worte. Einige beschimpften und bedrängten ihn. Als er seine Absicht äußerte, „unsere Arbeit weiterzuführen", quittierten die Versammelten das mit Empörung und Rufen: „Abtreten!" Deshalb wandte sich der Architekt Cammentz erneut an die Einwohner von Görlitz mit der Bitte zu entscheiden, ob der Oberbürgermeister die „Arbeit weiterführen" solle. Als Antwort dokumentiert die Tonbandtranskription: „Nein! Empörung". Dieses öffentliche Votum gegen die Weiterführung der Amtsgeschäfte des Stadtoberhauptes durch Ehrlich war gewissermaßen der erste Akt der Kundgebung, spontan, kurz und schmerzlos: die öffentliche Abwahl des Oberbürgermeisters. Alles war improvisiert. Niemand hatte bis dahin nachgedacht, was danach kommen sollte. So forderte der Sprecher die Versammelten auf, zu sagen „was man will". Diese Aufforderung kam offenbar zu plötzlich und überraschend. Keiner wollte als erster sprechen, waren doch die meisten ungeübt, vor so großem Publikum und unvorbereitet ihre Meinung ins Mikrofon zu sagen. Deshalb wurde ein Görlitzer zum Sprechen aufgefordert, der „das Eis brechen" sollte. Es könnte jener „alte Latt" gewesen sein, von dessen begeisternder Rede bereits Brant berichtet. 77 Das Protokoll vermerkte nach dieser 74

75 76

77

Auf diesen „Rothaarigen" verwies Ehrlich mehrmals in seinen Aussagen vor dem MfS, ohne ihn identifizieren zu können. Kurt läger teilte der Autorin mit, daß es sich dabei um Hermann Gierich gehandelt habe. Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 24). Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED 1 V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 183); die folgenden Zitate ebd. Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 227. Über Max Latt ist bisher relativ wenig bekannt, da er rechtzeitig in den Westen fliehen konnte und so den „Untersuchungsorganen" entkam. Wir wissen nur soviel: Er trat 1904 bereits in die Sozialdemokratie ein und kam über diese Mitgliedschaft 1946 in die SED. Danach blieb er offenbar seinen sozialdemokra-

Die Kundgebung auf dem Obermarkt

261

Rede: „Ovationen". Auch Zeitzeugen erinnern sich daran, daß der Auftritt von Max Latt mit besonders stürmischer Begeisterung aufgenommen wurde. Der Redner wandte sich an die Versammelten mit den Worten: „Liebe Einwohner von der Stadt Görlitz, wir wollen hier keine großen Debatten schwingen oder uns gegenseitig reizen, es hat ja keinen Zweck. Bereits acht fahre haben wir diesen Reiz an uns. Wir wollen das nicht. Ich verlange nur eins, als in Arbeit stehender Mensch: Daß wir uns einig sind, daß wir alle einig sind über das, was geschieht. Und was geschehen ist, daran können wir nichts mehr ändern. Wir können nur noch heute weiter sehen, daß bei uns mal wieder ein Licht aufblüht, daß wir freie deutsche Bürger sind." 78 An dieser Stelle wurde seine Rede durch stürmischen Beifall unterbrochen. Dann fuhrt er fort und teilte mit, daß es an diesem Tage in „jeder Stadt" der DDR zugehe wie in Görlitz. In Berlin, Leipzig und Dresden seien die Menschen „sogar noch weiter als wir". Er beendete seinen Auftritt mit den Worten: „Ich hoffe, daß wir in dieser Stunde alle an uns gemeinsam und an unsere Familien denken, daß wir wieder als Menschen denken können." Die weitere Debatte auf dem Obermarkt wurde zunächst durch eine Meldung unterbrochen, wonach sich Funktionäre in „der großen HO" am Demianiplatz in der Fernsprechzentrale eingeschlossen hätten und Polizei mit Gummiknüppeln gegen Demonstranten vorginge. Diese Mitteilung rief Empörung und Wut hervor. Das Protokoll vermerkte mehrfach: „Tumult". Deshalb wurde der eben abgewählte Oberbürgermeister beauftragt, in Begleitung einer Delegation zum Demianiplatz zu fahren und das Eingreifen der Polizei gegen Demonstranten zu unterbinden. Der Taxibesitzer Spelt übernahm den Transport von Ehrlich und seiner Begleitung, was ihm später fünf Jahre Zuchthaus einbringen sollte. 79 Als Ehrlich zum Taxi ging, wollten einige Demonstranten gegen ihn vorgehen. Ein Sprecher bat deshalb die Versammelten darum, „daß wir uns im Gebot dieser Stunde gegenseitig unterstützen und niemals vergessen, daß wir Deutsche sind und keine Betrüger". 80 Bereits mehrfach hatte der Sprecher angemahnt, „mit dem Oberbürgermeister als Arbeiter zu verhandeln"

78

79

80

tischen Traditionen treu und zählte zu jenen, die von den SED-Funktionären und von der Polizei argwöhnisch beobachtet wurden. Im Jahre 1953 arbeitete er zeitweise im VEB Sachsendruck in Görlitz. Nach seiner Flucht war er in Bonn im Universitätsverlag tätig. Über eine Enkeltochter, die zu diesem Zeitpunkt an der Leipziger Universität studierte, übergab er einen Brief an die SED, der der BV für Staatssicherheit Leipzig übergeben wurde, dort aber nicht mehr auffindbar ist; vgl. Informationen aus Zeitzeugeninterviews. Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 22.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 184); die folgenden Zitate ebd. Vgl. alle Zitate in Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 25) und Tippmann, Hans, Ehemalige Häftlinge - „ 17. Juni 1953" Zuchthaus Waldheim in Sachsen, vom 10.8.1993 (Maschinenschriftliche Zusammenstellung, Kopie im Besitz der Autorin). Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 22.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 185); die folgenden Zitate ebd., Bl. 184.

262

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

und an die aufgebrachten Görlitzer appelliert, „Ruhe zu bewahren" und geschlossen aufzutreten. Das hatte offenbar Erfolg, die Versammelten ließen sich nicht zur Lynchjustiz hinreißen. Während die Kundgebung fortgesetzt wurde, fuhr Ehrlich mit dem Taxi zum Demianiplatz. Ihn begleiteten einige „junge Leute", über die der Bürgermeister beim MfS aussagte, daß sie sich „durch Intelligenz, scheinbare Zurückhaltung, aber auch tiefen Haß" auszeichneten, sie waren „sorgfältig gekleidet, hatten ausgesprochen gute Manieren und waren daran interessiert, die reibungslose Übergabe der Stadt zu organisieren". 8 1 Auch „einige Banditen" seien dabei gewesen, „die von sich selbst erklärten, daß sie alte SS-Leute seien, die jetzt wieder ihre Rechte einnehmen wollten". 8 2 Als der Oberbürgermeister und seine Begleitung am Warenhaus ankamen, war dort alles ruhig. Die Polizeitruppe mit Gummiknüppeln hatte bereits die Flucht ergriffen. Als er in der Fernsprechzentrale keine Funktionäre antraf, wurde der Oberbürgermeister auf eigenen Wunsch ins Rathaus zurückgefahren. Als Ehrlich mit seinen Bewachern im Rathaus eintraf, war dieses bereits besetzt und einige Abteilungen gestürmt worden. Vor seinem Dienstzimmer standen junge Arbeiter, die Zerstörungen und Verwüstungen verhindert hatten. Alles war gewaltlos vor sich gegangen, vielleicht auch, weil die Mitarbeiter des Rates keinen Widerstand geleistet hatten. Die meisten städtischen Angestellten saßen ratlos in ihren Zimmern; einige nahmen selbst an der Demonstration vor dem Rathaus teil, was für sie noch ein Nachspiel haben sollte. Die SED-Bezirksleitung Dresden kritisierte später vor allem, daß zuvor keine Sicherheitsmaßnahmen getroffen und die vorhandenen Feuerwehrschläuche zur Abwehr der Demonstranten nicht angeschlossen worden seien. 83 Zur gleichen Zeit setzten die Görlitzer Demonstranten ihre Diskussion auf dem Obermarkt fort. Einige Redner brachten einfach nur ihre Freude über diesen Tag und ihre Hoffnung auf die Zukunft zum Ausdruck. So erklärte ein Görlitzer: „Sehen Sie, ich bin freiwillig auf diesen Tisch gekommen aus der Begeisterung heraus, die ich miterleben durfte. Ich könnte natürlich damit rechnen, daß beim Nachhauseweg plötzlich meine Familie ohne mich da steht. Deshalb fordere ich alle auf, daß nicht wieder Rechtsbrüche in der Form vorkommen, wie sie bislang da gewesen sind." 8 4 Andere erinnerten nochmals daran, welches Unrecht und welche Bedrückungen sie in den letzten Jahren erleben mußten. Manche forderten Rache und Vergeltung. Einig war man sich jedoch darin, daß diese Demonstration „ein Ausdruck dafür sein soll, was wirk-

81 82 83

84

Alle Zitate in Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 25). Vgl. ebd. Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 9 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 22.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 186).

Die Kundgebung auf dem Obermarkt

263

lieh freie Meinung ist". 85 So erklärte ein Redner unter „starkem Beifall": „Ich bin der Auffassung, daß heute alle diese Menschen, die hier versammelt sind, ob der Arbeiter aus der Fabrik, der seinen Hammer niedergelegt hat, ob der Bürger oder der Intellektuelle, der wartet, was ist und was werden soll, davon überzeugt und mitmarschiert ist, daß heute die freie Meinung seinen Durchbruch bekommen hat." Zwischendurch forderte die Kundgebungsleitung immer wieder ein gewaltloses und geordnetes Vorgehen und den „Zusammenhalt aller Görlitzer". Ausdrücklich sprach sich ein Redner dagegen aus, die Volkspolizei, „die heute noch die Uniform trägt und die die Zeit geprägt hat, nun anzugreifen". Hin und wieder griff die überbetriebliche Streikleitung in die Debatte ein, um dem weiteren Ablauf des Aufstandes eine Richtung zu geben. Offenbar beriet sie zwischendurch und teilte ihre Entschlüsse sofort den Versammelten mit. Diese wiederum brachten ihre Wünsche ein und korrigierten oder präzisierten auch Vorschläge der Streikleitung. Ungeachtet des improvisierten Charakters der Kundgebung gelang es der überbetrieblichen Streikleitung, gemeinsam mit den Demonstranten wichtige Entscheidungen zu treffen. So gab ein Sprecher kurz nach 12 Uhr bekannt: „Wir stehen nun alle da und warten auf den entscheidenden Punkt, der sich nun hier entwickelt [...]. Wir haben ein Programm beschlossen, daß bereits um 3.00 Uhr eine Demonstration durch sämtliche Straßen stattfindet, und wer sich anschließen will, hat um 3.00 Uhr sich am Obermarkt einzufinden. Wir wollen jetzt alle nach Hause gehen. Wir wollen nicht in die Betriebe gehen. Wir legen die Arbeit nieder." 86 Die Menschen stimmten begeistert zu. Damit war gewissermaßen der Streik von der Öffentlichkeit abgesegnet. In diesem Zusammenhang beruhigte ein nicht zu identifizierender Redner, wonach „keiner Angst zu haben" brauchte, „daß euch was passiert". Alle sollten freiwillig kommen, und „jeder, der es für richtig befindet", solle sich „um 3.00 Uhr zur Demonstration hier einfinden". Danach erklärte er die Kundgebung das erste Mal für beendet. Jetzt wollte man sich „zum Essen begeben". Doch das mußte noch einige Zeit warten. Denn plötzlich ertönte ein Zuruf aus der Menge: „Wir werden jetzt die politischen Häftlinge befreien." 87 Auch auf diese Forderung reagierten die Kundgebungsteilnehmer mit Bravorufen und Beifall. Doch zunächst wurden andere Fragen diskutiert. Ein Sprecher der überbetrieblichen Streikleitung schlug vor, gemeinsam eine Kommission oder ein Komitee zu gründen, „wo wir uns alle hinwenden können, wenn irgend etwas passiert [...]. Wir wollen keinen Streit miteinander, aber wir wollen, daß alles rechtmäßig verläuft." Auch dieser Gedanke wurde mit Bravorufen und Beifall aufgenommen. Des weiteren schlug ein Redner vor, eine Polizeitruppe aufzustellen. Die Volkspolizisten forderte man auf, „ihre Koppel abzulegen [...] wie in Großberlin, und zu uns [zu] kommen und den Schutz für unser Volk und für unse85 86 87

Ebd., Bl. 185; die folgenden Zitate ebd. Ebd., Bl. 186; die folgenden Zitate ebd. Ebd., Bl. 186; das folgende Zitat ebd.

264

Der 17. Juni in den Kreisen

Görlitz

und

Niesky

re Gefangenen" zu gewährleisten. 88 Dieser Appell an die Polizisten wurde mit „Beifallsstürmen" bedacht. Aus der Menge kamen mehrfach Rufe: „Hochheben, Hochheben". Gemeint waren die Koppel, die einige VP-Angehörige als Zeichen ihrer Solidarität ablegten. Auch den Beschluß, die politischen Gefangenen zu befreien, begannen die Aufständischen umzusetzen. Nach den Vorstellungen der überbetrieblichen Streikleitung sollte das am Nachmittag geschehen, wenn sich die Demonstranten wieder auf dem Obermarkt treffen würden. Damit waren die Versammelten nicht einverstanden, sie forderten, die politischen Häftlinge „sofort herauszuholen", ein Vorschlag, der schnell laute Zustimmung fand. Ein Sprecher erklärte deshalb: „Wir gehen gemeinsam und darum singen wir alle gemeinsam - Es lebe Groß-Deutschland! - das Deutschlandlied". „Hurra-Rufe" und „Beifallsstürme" folgten dieser Aufforderung. 89 Laut Zeitzeugenberichten wurde die dritte Strophe: „Einigkeit und Recht und Freiheit" angestimmt, und alle stimmten ein. 90 Danach wurde das Mikrofon abgeschaltet. Offenbar berieten sich die Sprecher der Kundgebung noch einmal, bevor es losgehen sollte. Vielleicht hatten sie sich daran erinnert, daß ihr Vorschlag, eine Kommission oder ein Komitee zu gründen, noch im Raum stand. Nach einer kurzen Unterbrechung teilte die Streikleitung mit: „Liebe Einwohner von Görlitz! Hallo Kollegen! Wir haben eben beschlossen, ein Komitee zu gründen im ,Spatenbräu' Görlitz, um halb zwei. Wer irgendwie ein Anliegen hat, hat sich dort bei uns zu melden. Wir werden dann gleich gemeinsam die Sache bearbeiten." 91 In diesem Moment folgte wiederum ein Zuruf aus der Menge, der den weiteren Ablauf erneut durcheinanderbrachte, da jemand mitteilte, die politischen Häftlinge seien bereits weggebracht worden. Gemeint waren wohl die Häftlinge in der MfSKreisdienststelle. Um sich Gewißheit zu verschaffen, wollten die Demonstranten gemeinsam dorthin marschieren. Der gemeinsame Abmarsch zur Kreisdienststelle für Staatssicherheit in der Thälmannstraße verzögerte sich erneut, weil weitere Einwohner das Bedürfnis hatten, noch zu Wort zu kommen. Ihren Reden sind die Hoffnungen, aber auch die Illusionen zu entnehmen, die sich mit diesem 17. Juni verknüpften. Doch nicht alle Redner fanden die Zustimmung der Versammelten, so wurden die Ausführungen eines BGLVertreters der LOWA mit Pfui-Rufen quittiert. Dagegen waren nachfolgende Worte, die wiederum vom „alten Latt" stammen könnten, offenbar den Görlitzern aus den Herzen gesprochen. Der Redner dankte zunächst „dem Komitee und vor allem den Arbeitern der LOWA, die veranlaßt haben, daß nun endlich der Durchbruch erfolgt ist, auf den 88 89 90 91

Ebd., Bl. 188; die folgenden Zitate ebd. Obwohl sonst jede Bemerkung oder jede Reaktion in der Transkription akribisch festgehalten ist, vermerkte das MfS an dieser Stelle lediglich: „Gesang des Liedes". Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 226. Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 189).

Die Kundgebung auf dem Obermarkt

265

80 Prozent der Bevölkerung schon lange gewartet hat [...]. Es ist das Erfreuliche, daß dieser Aufstand aus der Arbeiterschaft hervorgeht, und es ist erfreulich, daß nun endlich der Tag [da ist], der uns tatsächlich wieder in andere Verhältnisse bringen wird. Vor allen Dingen, liebe Rentner von Görlitz und von unserem Deutschland, Sie sind doch erfreut, daß sie wieder in andere Verhältnisse kommen werden, und die heutige Errungenschaft wird uns eine Freude sein, wieder mitzuarbeiten an einem neuen Geschehen, an einer neuen Regierung. Es leben die Arbeiter von der LOWA! [...]. Kolleginnen und Kollegen! Sollte tatsächlich Polizei eingesetzt werden, so schließt Euch zusammen und merkt Euch den, der einen Gummiknüppel hebt, merkt Euch den! Denkt an den berühmten Schwur: Seid ein einig Volk von Brüdern und haltet zusammen in Gefahr. Denn wir sind nur in der Masse einig, ein einzelner schafft nichts!" 9 2 Die Kundgebungsleitung diskutierte jetzt die Frage, wie und wo das Komitee gebildet werden sollte. Ihren Entschluß, daß sich 20 Mann, Freiwillige aus verschiedenen Betrieben, im „Spatenbräu" melden sollten, teilten sie zunächst den Versammelten mit. Doch aus der Menge kam der Vorschlag, sofort und an Ort und Stelle bzw. im Hotel „Schwarzenberg" das Komitee zu gründen. So geschah es offenbar auch. Und immer noch wollten einige Leute zu Wort kommen, etwa ein Görlitzer Rentner, der erstmals radikale Töne anschlug. Er forderte „den Strick für diese Bande" und „so eine Pest mit Wurzeln auszurotten." 9 3 Zuletzt rief er alle Rentner und Rentnerinnen auf, „für Freiheit und Recht des deutschen Volkes" zu demonstrieren. 9 4 Unter Beifallsbekundungen teilte der Sprecher des Streikkomitees mit, daß die Demonstration jetzt geschlossen sei, ein Komitee gegründet und um 3 Uhr eine Demonstration durch die ganze Stadt führen werde. Jetzt sollte es von hier aus zur Thälmannstraße gehen. Wie bereits einige Male zuvor, wurde der soeben beschlossene Zeitplan erneut verändert, weil neue Informationen aus anderen Teilen der Stadt eingingen. So wurde berichtet, daß Arbeiter von Telefunken und Schüler in ihren Schulen eingeschlossen seien. Sie sollten zuerst befreit werden; erst danach wollte man die politischen Häftlinge herausholen. Andere schlugen vor, zuerst in die Thälmannstraße zu gehen. Die unterschiedlichen Vorschläge könnten dann dazu geführt haben, daß sich mehrere Demonstrationsgruppen mit unterschiedlichen Zielen in Bewegung setzten. Das würde auch erklären, weshalb es gleichzeitig zum Sturm auf mehrere Görlitzer Einrichtungen gekommen ist. Auch in diesem Durcheinander verloren die Sprecher der Kundgebung wichtige Entscheidungen nicht aus dem Blick. Sie sorgten zum einen noch dafür, daß vor dem Abmarsch die Anlage des Stadtfunks gesichert wurde. Dafür stellten sich Freiwillige zur Verfügung. Des weiteren gaben sie den Beschluß bekannt, das Rathaus zu besetzen, „damit

92 93 94

Ebd. Ebd., Bl. 190. Ebd., Bl. 191.

266

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

diese Herren nicht wieder abhauen können". 9 5 Außerdem sollte der Oberbürgermeister zur Thälmannstraße mitgenommen werden. Jetzt erst merkte man, daß er nicht wieder zurückgekehrt war. Das veranlaßte den Sprecher zu der selbstkritischen Bemerkung: „Das haben wir selbst zu verschulden. Unser Bürgermeister war hier gewesen. Wir hätten ihn nur festhalten brauchen [sie!]!" Gegen 13 Uhr löste sich die Kundgebung dann endgültig auf. Ein Teil der Demonstranten marschierte zur Kreisdienststelle des MfS in die Thälmannstraße, ein anderer zur Strafvollzugsanstalt auf den Postplatz, wieder andere Demonstranten zu den angeblich besetzten Schulen und Betrieben. Andere schließlich gingen nach Hause, um Mittag zu essen. 14.30 Uhr wollte man sich wieder treffen, um „über die weiteren Dinge zu verhandeln". 9 6 Über die nächsten Stunden, bis zur Bekanntgabe der Verhängung des Ausnahmezustandes über Görlitz, liegen ausführliche Berichte über die Erstürmung der SED-Kreisleitung, der MfS-Kreisdienststelle und des Frauengefängnisses vor. 97 Dagegen gibt es verständlicherweise nur wenige Informationen darüber, was die überbetriebliche Streikleitung, die die Kundgebung am Obermarkt geleitet und wichtige Beschlüsse erreicht hatte, und was das am Ende der Kundgebung gebildete Komitee im einzelnen in der Zeit zwischen dem Abschluß der Mittagskundgebung und der geplanten Nachmittagsveranstaltung unternahmen. Unverkennbar jedoch verstand sich das Görlitzer Stadtkomitee als provisorische Stadtverwaltung. Es leitete im Rathaus erste Maßnahmen zur Normalisierung des Lebens ein; Vertreter der überbetrieblichen Streikleitung und des Stadtkomitees beteiligten sich am Sturm auf die MfS-Kreisdienststelle und an der Befreiung politischer Häftlinge.

6.

Die E r s t ü r m u n g d e r S E D - K r e i s l e i t u n g

Nachdem der 1. SED-Kreissekretär, Karl Weichold, vorzeitig die Versammlung im VEB EKM verlassen hatte, fuhr er zunächst zur sowjetischen Kommandantur, um diese über die ungewöhnlichen Vorgänge in Görlitz zu informieren. Danach begab er sich zu seinem Dienstsitz. Dort ging „alles durcheinander", wie der Kreissekretär später schilderte. 98 Zunächst erschien der sowjetische Stadtkommandant, Gardeoberst Klepikow, mit seinem Dolmetscher, um mit Dresden zu telefonieren, da er von seiner Dienststelle aus keine Verbindung bekommen hatte. Nach eigenen Aussagen beschäftigte sich der Kreissekretär ausschließlich mit seinem Gast, ohne etwas zur Sicherung des Parteihauses zu 95 96 97

98

Ebd., Bl. 192; das folgende Zitat ebd. Ebd., Bl. 191. Vgl. Berichte über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-Barch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 7ff.); BDVP Dresden, Strafvollzug, Betr.: Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden, Abteilung Strafvollzug, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 375ff.). SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 146).

Die Erstürmung der SED-Kreisleitung

267

unternehmen. Offenbar verließ er sich auch darauf, daß der Kommandant entsprechende Maßnahmen einleiten würde. Kurz nach 12 Uhr teilte man Weichold mit, daß Demonstranten dazu übergegangen seien, Büros und Gebäude in der Stadt zu stürmen. Ein Major der KVP-Kreisregistrierstelle, einer Einrichtung, die wegen der Kampagne zur „freiwilligen" Verpflichtung zur KVP besonders bei fugendlichen verhaßt war, überbrachte die neuesten Nachrichten. Weichold ordnete deshalb an, die Fensterläden des SED-Gebäudes zu schließen und die Akten zu sichern. Von dem immer noch anwesenden sowjetischen Oberst erhielt der Kreissekretär auch jetzt noch keine Anordnungen oder Vorschläge zum weiteren Vorgehen. Er sei jedoch davon überzeugt gewesen, daß Klepikow in Dresden Verstärkung angefordert hatte. Aus diesem Grunde will Weichold auch nichts unternommen haben, um das Gebäude der Kreisleitung zu verteidigen. Andere Funktionäre seines Hauses, so seine Stellvertreterin und der 1. Sekretär von Görlitz-Land, wollten ihren Arbeitsplatz in die Kaserne der Grenzpolizei verlagern, um in der „Illegalität" weiterzuarbeiten." Die 2. Sekretärin informierte die SED-Bezirksleitung über diese Absicht, die dann „eine solche Dummheit" verhinderte. 1 0 0 Absprachen über gemeinsame Schutzmaßnahmen beider Parteibüros wurden nicht getroffen. Als der Stadtkommandant das Parteigebäude verlassen hatte, bat der Kreissekretär die Volkspolizei um den Schutz seiner Einrichtung. Das Volkspolizeikreisamt Görlitz sicherte zu, die Feuerwehr zu schicken. Auch sechs Grenzpolizisten sollten in die Kreisleitung beordert werden. Weder Feuerwehr noch Grenzpolizei trafen ein. Nach einer Anordnung der SED-Bezirksleitung und der Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden sollten die Gebäude der SED und der FDJ ohnedies „von Kräften der Partei und FDJ gesichert werden". 1 0 1 Die Polizei sollte indes nach dieser Anordnung die „Bewachung und Sicherung der lebenswichtigen Objekte und Betriebe" übernehmen. Im Parteihaus befanden sich zu dieser Zeit etwa 50 Personen. Drei Angehörige des Betriebsschutzes bewachten wie üblich das Objekt. Kurz zuvor hatte ihr Leiter mehrere Wachleute nach Hause geschickt, weil die Alarmstufe III abgeblasen worden war. Der Betriebsschutz verfügte an diesem Tage über fünf Pistolen mit 2 0 Schuß Munition. Sie blieben unter Verschluß. Nur der Kreissekretär nahm sich zunächst eine Pistole mit vier Schuß Munition, die er kurz darauf dem Major der Kreisregistrierabteilung übergeben haben will, weil er diesen, wie er später aussagte, als Uniformträger „für am meisten gefährdet" 1 0 2 hielt. Über seine drei Wachleute sagte der Kreissekretär, daß es „alles alte Ge-

99 Vgl. SED-KL Görlitz-Land, Stellungnahme des Sekretariats vom 8.10.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 , Bl. 21). 100 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 153). 101 BDVP Dresden, Leitung, Blitzfernschreiben, An die Genossen Amtsleiter der VPKÄ und VPÄ (B) des Bezirkes Dresden, vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 4). 102 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 153).

268

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

nossen" waren, die „keinesfalls von der Waffe Gebrauch gemacht" hätten. 1 0 3 Es gibt Hinweise darauf, daß sich Studenten der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Görlitz zum Schutz der SED-Kreisleitung angeboten haben. Dafür wurden sie später von der Regierung der DDR mit einer Geldprämie von 500 Mark ausgezeichnet. 1 0 4 Doch Weichold soll dieses Angebot ausgeschlagen haben. 1 0 5 Die SED-Funktionäre beobachteten zunächst vom Balkon aus, wie sich die Demonstranten in „losen G r u p p e n " näherten. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Parteihaus wie üblich unverschlossen, wer jedoch hinein wollte, mußte sich beim Betriebsschutz anmelden. Als Weichold die Demonstranten sah, ließ er das Tor schließen. Er selbst wollte vom Balkon aus zu den Demonstranten sprechen, gab aber dieses Vorhaben auf, als er „diese Schwärme der Demonstranten" sah. 1 0 6 Unmittelbar danach verlangten sie Einlaß. Der Kreissekretär schlug vor, mit drei Vertretern zu verhandeln. Diesen Vorschlag beantworteten die Demonstranten mit „verstärkten Schlägen an die Tore, Einschlagen der Fenster". 1 0 7 Weichold und seine Stellvertreterin befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Wachzimmer und hielten von innen die Holzfensterläden zu. Das veranlaßte die Versammelten, sich mit Gewalt Einlaß zu verschaffen. Bei einem Angriff mit einem „Rammbalken" zog sich Weichold, wie er selbst aussagte, eine „stark blutende Stirnverletzung" zu. Wenig später drangen die Demonstranten durch das Fenster des Wachzimmers und die aufgestoßene Eingangstür in die SED-Kreisleitung ein. Es sollen zwischen 400 und 600 Personen gewesen sein, die sich im gesamten Parteigebäude verteilten. Die „Eindringlinge" verhielten sich friedlich. Personen wurden nicht angegriffen, lediglich Bilder, Losungen und Büsten heruntergerissen und demoliert. Der Kreissekretär sicherte die Zugänge zum Sekretariat, zur Kaderregistratur und Dokumentenabteilung, ohne daß er daran gehindert wurde. Der Panzerschrank mit den Akten blieb unberührt. Auch hier wurden die Mitarbeiter nicht geschlagen oder bedroht. Ein Instrukteur der SED-Bezirksleitung diskutierte mit einer „Traube von Menschen". Es sollen überwiegend Personen in der Altersgruppe zwischen 40 und 45 Jahren gewesen sein. Die Demonstranten wollten hauptsächlich die Gefangenen befreien, die sie auf Grund von Gerüchten auch im Keller der Görlitzer SED-Zentrale vermuteten. Als sie keine Häftlinge fanden, verließen sie freiwillig das Parteigebäude. Den Parteichef nahmen sie als Geisel mit. Er folgte ihnen ohne Gegenwehr, weil er auf dem Obermarkt zu den Demonstranten sprechen wollte. Auf ihrem Wege kamen sie an der Kaserne der Grenzpolizei vorbei. Die Grenzpolizisten 103 Ebd., Bl. 151. 104 Schreiben des Staatssekretärs G. Harig an den Rektor der TU Dresden vom 29.7.1953 (TU Dresden, Universitätsarchiv, Bestand Rektorat, 1/586 b). 105 Vgl. SED-BL Dresden, Feststellungen der BPKK zu dem Verhalten des Genossen Karl Weichold, 1. Kreissekretär Görlitz-Stadt und Mitglied der BL am 17.6.1953, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 129). 106 Vgl. SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 146). 107 Ebd., Bl. 147; die folgenden Zitate ebd.

Schüsse vor der Staatssicherheit

269

standen mit schußbereiten Gewehren hinter dem Drahtzaun. Jugendliche und Kinder aus dem Demonstrationszug versuchten, den Zaun zu übersteigen. Der 1. Kreissekretär will sie davon abgehalten haben mit dem Hinweis, daß sowjetische Soldaten, die sich offenbar auch dort aufhielten, scharf schießen könnten. Daraufhin zogen die Demonstranten weiter. Es kamen mehr und mehr Gruppen von Demonstranten hinzu, sie brachten neue Informationen aus der Stadt und von der Kundgebung mit. Aus diesem Grunde wurde auch das Marschziel verändert. Die Demonstranten mit dem Kreissekretär an der Spitze zogen nicht zum Obermarkt, sondern zur Kreisdienststelle für Staatssicherheit, um Gefangene zu befreien. Daß sie den Kreissekretär gewissermaßen als „Schutzschild" mitnahmen, könnte - wie im nachhinein deutlich wurde Görlitz vor einem möglichen Blutbad gerettet haben.

7.

S c h ü s s e v o r d e r Staatssicherheit 1 0 8

Im Juni 1953 waren insgesamt 24 hauptamtliche Mitarbeiter bei der Staatssicherheit in Görlitz beschäftigt: der Dienststellenleiter, Oberleutnant Niesner, 109 zwölf operative Mitarbeiter, ein Sachbearbeiter der Abt. XI im Range eines Unterleutnants, drei weibliche Schreibkräfte, drei Wachleute, zwei Kraftfahrer und ein Hausmeisterehepaar. Z u m Zeitpunkt der Erstürmung der Staatssicherheit hielten sich sieben männliche und zwei weibliche Mitarbeiter im Gebäude auf, nämlich der Dienststellenleiter, drei operative und ein Mitarbeiter der Abt. XI, ein Wachmann, ein Kraftfahrer, eine Sekretärin und die Frau des Hausmeisters, die zugleich als Putzfrau tätig war. Um 10 Uhr, zu Dienstbeginn, unterwies Oberleutnant Niesner seine operativen Mitarbeiter in die Tagessituation. Gegen 5 Uhr morgens hatte er ein Fernschreiben des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung Dresden, Oberstleutnant Harnisch, erhalten: „Es liegt Veranlassung vor anzunehmen, daß aus Westberlin Provokateure in den Betrieben erscheinen, die gegen die Normenerhöhung Provokationen durchführen. Sofort Verbindung mit Parteisekretären aufnehmen und die Genossen in Betrieben mobilisieren, um der Agenten habhaft zu werden. Festgestellte Provokateure festnehmen, Mitteilung in jedem Falle an Chef geben." 1 1 0 Mit diesem Auftrag schickte er acht operative Mitarbeiter in die Betriebe und einen auf die Straße. Doch die angekündigten sogenannten „Agenten und Provokateure" waren keine Westberliner, sondern 108 Die nachfolgende Schilderung der Ereignisse vor dem Gebäude der Kreisdienststelle für Staatssicherheit Görlitz, beruht, wenn nicht anders belegt, auf Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o. D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 7-11). 109 Nach Auskunft der BstU, Ast. Dresden war Niesner im Juni 1953 nicht Dienststellenleiter. In allen von der Autorin ausgewerteten Dokumenten von MfS, VP, SED wird er jedoch als Dienststellenleiter genannt. 110 Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 10).

270

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

Tausende von Görlitzern, Arbeiter und Angestellte, Rentner, Hausfrauen, Jugendliche und Kinder, die nicht warteten, bis die MfS-Spitzel in den Betrieben und auf den Straßen „ihre Beobachtungen" machten, sondern die an diesem 17. Juni sogar freiwillig zum verhaßten MfS-Quartier kamen. Auf einen solchen Auftritt waren die „Genossen" nicht vorbereitet. Deshalb bat der Görlitzer Dienststellenleiter seinen Dresdner Vorgesetzten um Hilfe. Der Chef der Bezirksverwaltung verwies an das Volkspolizeikreisamt Görlitz. Von dort war indes keine Unterstützung zu erwarten, denn die Görlitzer Volkspolizisten waren um diese Zeit ebenfalls schon in Bedrängnis geraten. Als die ersten Demonstranten gegen 11 Uhr vor der Kreisdienststelle des MfS erschienen waren, wollte die Staatssicherheit die Aufständischen keinesfalls einlassen. Sie verbarrikadierten sich, die Fenster wurden mit Jalousien verschlossen und die Eingangstüren mit Tischen und Schränken gesichert. Niesner ließ Waffen (drei Karabiner und vier Pistolen) und Munition an seine Mitarbeiter verteilen. Im Gebäude lagerten zu diesem Zeitpunkt 130 Schuß Munition. Die Demonstranten forderten zunächst: „Gebt die politischen Gefangenen frei!" 111 Da sich die „Helden des MfS" nicht sehen ließen und zunächst nicht reagierten, griffen die Versammelten zur Selbsthilfe. Sie umstellten das Gebäude, zerstörten den Schutz eines Zellenfensters und befreiten von außen einen Gefangenen. Es handelte sich um einen KVP-Angehörigen, der am Vortag dort eingeliefert worden war. Er soll nach seiner Befreiung die Demonstranten daraufhingewiesen haben, daß sich noch weitere Gefangene im Keller befänden. Deshalb verlangten die Versammelten immer wieder, die politischen Gefangenen freizulassen. Als sie schließlich den Zaun überstiegen und gegen die Eingangstür drückten, wurden aus den Fenstern - mit Deckung durch die Jalousien - Schüsse abgegeben. Der Einsatz von Schußwaffen war zu diesem Zeitpunkt nicht durch die vorgesetzte Dienststelle, die MfS-Bezirksverwaltung Dresden, abgesichert. Von dort erhielt Görlitz lediglich die Anweisung: „Nicht durch Schießen provozieren, aber es kommt keiner in die Dienststelle." Diese Anordnung ist mehrfach und nachdringlich erfolgt, ergänzt durch Ratschläge, „die Massen zu beruhigen", und durch die Zusage, Polizei zur Hilfe zu senden. Die Angehörigen der sowjetischen Kommandantur, ebenfalls in der Thälmannstraße zwei Häuser entfernt stationiert, schritten zunächst nicht ein, sondern beobachteten lediglich die Vorgänge aus nächster Nähe. Das hat die Görlitzer wohl in der Hoffnung bestärkt, daß die Sowjettruppen nicht eingreifen würden. Derartige Vermutungen waren weit verbreitet. Selbst das Stadtkomitee war davon überzeugt, daß die Sowjets die Auseinandersetzungen als innere Angelegenheit der DDR betrachteten. 112 Als die Gruppe von Demonstranten mit dem „ersten Genossen" der Kreisleitung, Weichold, eine halbe Stunde später vor der Görlitzer Staatssicherheitszentrale eintraf, drohte die Situation zu eskalieren. Aus den oberen Fenstern 111 Ebd., Bl. 8; die folgenden Zitate ebd. 112 Aussage des Oberbürgermeisters Ehrlich vor dem MfS Görlitz vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BstU, Ast. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 36).

Schüsse vor der Staatssicherheit

271

wurde immer noch geschossen. Um diese Zeit sollen sich etwa 2 000 bis 4 000 Menschen vor dem Gebäude befunden haben. Weichold rief dem Leiter der Dienststelle zu: „Hier ist der 1. Kreissekretär der SED, Weichold, legt die Waffen nieder, schießt nicht, seid vernünftig und laßt eine Delegation hinein, es ist sowieso alles vorbei". 113 Außerdem forderte er dazu auf, die Gefangenen auf seine Verantwortung freizugeben und die Waffen niederzulegen, denn „das Volk wünsche es" und der Einsatz von Schußwaffen hätte keinen Zweck. 114 Der Erwiderung des Dienststellenleiters, daß sich keine Gefangenen im Gebäude befänden, schenkte selbst der SED-Kreissekretär keinen Glauben, und er antwortete: „Das kann nicht stimmen." Die umstehenden Demonstranten, die diesen Dialog verfolgen konnten, wollten sich nun selbst überzeugen. Weichold habe sie, nach späteren Aussagen von Mitarbeitern des MfS, dabei „unterstützt" und sich „zum Sprecher der Masse" gemacht. 115 Auch auf die Situation, daß der 1. SED-Kreissekretär - und damit der Parteivorgesetzte mit den Demonstranten erschien und Einlaß forderte, waren die MfS-Mitarbeiter nicht eingestellt. Niesner rief sofort Oberstleutant Harnisch an, um das weitere Vorgehen abzusprechen. Der Chef der Bezirksverwaltung war mit dem Einlaß einer Delegation von fünf Personen einverstanden, „da sich keine Häftlinge mehr im Keller befanden". 1 1 6 Die Demonstranten bestanden jedoch auf einer Abordnung von zehn Mann. Das wurde schließlich akzeptiert. Bevor sie die Delegation einließen, überzeugten sich die MfS-Mitarbeiter, daß auch tatsächlich der 1. SED-Sekretär vor ihrer Türe stand und Einlaß begehrte. Bei diesem Anblick wird ihnen der Schreck in die Glieder gefahren sein, denn sie sahen Weichold mit verbundenem Kopf an der Eingangstür stehen. (Er war auf dem Wege zur Thälmannstraße von Demonstranten verbunden worden.) 1 1 7 Weichold beruhigte sie, indem er erklärte, daß die Demonstranten niemandem etwas tun würden, ihm hätte auch keiner etwas getan. Während Weichold und einige Demonstranten mit Niesner verhandelten, wurde aus dem Gebäude immer noch geschossen. Wenig später wurde die „Delegation", darunter auch der 1. SED-Kreissekretär, in das Gebäude eingelassen, um im Keller nach Gefangenen zu suchen. Danach wurde die Eingangstür wieder verschlossen. Inzwischen war es gegen 13 Uhr. Im Beisein von Niesner und einem Wachmann durchsuchte die Abordnung den Keller. Niesner schloß sämtliche Haftzellen auf, die tatsächlich leer waren. Nachdem sie keine Gefangenen entdeckt hatten, suchten die Eingelassenen nach einem unterirdischen Gang zur Kommandantur und nach 113 Ebd., Bl. 9. 114 SED-BL Dresden, Befragung der MfS-Mitarbeiter zur Angelegenheit Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 140); das folgende Zitat ebd., Bl. 141. 115 SED-BL Dresden, BPKK, Angelegenheit Weichold, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 130). 116 Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 9). 117 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Weichold, Karl vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 136).

272

Der 17. Juni in den Kreisen

Görlitz

und

Niesky

Folterkammern. Davon war in der ganzen Stadt die Rede. Das negative Durchsuchungsergebnis teilten sie den Demonstranten mit, diese nahmen es offenbar wiederum mit Skepsis auf. Noch während die Delegation den Keller inspizierte, stürmten Demonstranten das Gebäude. Laut MfS-Bericht wurden Scheiben zertrümmert, Jalousien mit Äxten zerschlagen und in der Werkstatt des Hausmeisters, der zu diesem Zeitpunkt in der Stadt war, ein Brand gelegt. Die Feuerwehr rückte an. Ein Arbeiter zog den Zündschlüssel vom Löschfahrzeug. Immer noch wurden aus den hinteren Fenstern oder vom Balkon Schüsse abgegeben, die jedoch keinen Demonstranten trafen. Der Schütze, Oberfeldwebel Henkel, wurde von den Demonstranten erkannt, als er sich offenbar aus dem Staube machen wollte. Er wurde dafür „handfest" zur Rechenschaft gezogen. Dabei erlitt er leichte Verletzungen und kam wenig später mit blutender Nase ins Krankenhaus. 118 Die Demonstranten ließen sich durch die Schüsse nicht von ihrem Vorhaben abbringen, in die Kreisdienststelle einzudringen. Nach etwa 30 Minuten waren die ersten Demonstranten, zwischen 60 und 80 Personen, im Gebäude. Die Masse stand noch vor dem Gebäude und rief im Chor: „Wir wollen eine neue Regierung". 119 Wie MfS-Mitarbeiter nach der Niederschlagung des Aufstandes aussagten, soll der Kreissekretär „vor sich hin" geantwortet haben: „Ja, ja, Ihr werdet eine neue Regierung kriegen." Die eingedrungenen Demonstranten, zumeist Jugendliche, stürmten zunächst in die oberen Räume. Sie nahmen den MfS-Mitarbeitern die Waffen ab, schlugen auf einige von ihnen ein, demolierten Einrichtungen und warfen Akten auf die Straße. Auch nachdem die Demonstranten in die Görlitzer MfSZentrale eingedrungen waren, wurden immer noch Warnschüsse abgegeben. Der Kreissekretär forderte die MfS-Angehörigen nochmals auf, den Widerstand einzustellen, da es überall in der DDR so aussehe. Inzwischen waren drei sowjetische Offiziere der benachbarten Kommandantur erschienen, darunter ein Kapitän Ziplenko, die jedoch lediglich im Erdgeschoß einen Posten mit einer Maschinenpistole einrichteten. 120 Sie schritten selbst dann nicht ein, als die Demonstranten die Einrichtung demolierten und plünderten. Der sowjetische Stadtkommandant soll sich später darauf berufen haben, daß zu diesem Zeitpunkt für die Kommandantur „Schießverbot" bestand. 121 Die Görlitzer Demonstranten muß die Zurückhaltung der sowjetischen Soldaten beim Sturm 118 In der Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der IG Bau-Steine-Erden zum „Der 17. Juni 1953" wird ein Bild mit dem verletzten Henkel gezeigt. Fälschlicherweise wurde er in der Bildunterschrift als Chef der Staatssicherheit in Görlitz bezeichnet; vgl. auch Katalog der Ausstellung, S. 15. 119 SED-BL Dresden, Befragung der MfS-Mitarbeiter, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 142); die folgenden Zitate ebd. 120 Vgl. Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Weichold, Karl vor dem MfS Dresden vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 13); vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 9). 121 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 10).

Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung

273

auf das MfS in ihrer Hoffnung bestärkt haben, die Sowjetarmee werde tatsächlich nicht eingreifen. Die Besetzer der Görlitzer MfS-Zentrale verhielten sich gegenüber den sowjetischen Offizieren offenbar friedlich. Zeitzeugen berichten darüber, daß die Demonstranten „ein dort vorgefundenes Stalin-Porträt den vor der Sowjetkommandantur stehenden Posten höflich überreichten". 1 2 2 Es gab trotzdem eine „Fehlmeldung" nach Berlin, wonach auch die sowjetische Kommandantur in Görlitz gestürmt worden sei. 1 2 3 Die Belagerung und Besetzung der Kreisdienststelle für Staatssicherheit Görlitz dauerte von ca. 11 Uhr bis gegen 14.30 Uhr. Dann erschien ein Komm a n d o von 18 bis 2 0 sowjetischen Soldaten, das „das Haus von oben bis unten durchgekämmt und die Aufrührer versprengt" 1 2 4 hat. Offenbar hatte der sowjetische Stadtkommandant aus Dresden neue Befehle bekommen, nachdem um 14 Uhr der Ausnahmezustand über den Bezirk verhängt worden war. 1 2 5 Auch Görlitz wurde zu diesem Zeitpunkt unter Kriegsrecht gestellt.

8.

Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung126

Nach Unterlagen des Mdl wurden am 17. Juni in der D D R insgesamt neun Haftanstalten gestürmt und dabei 1 317 Häftlinge befreit. 1 2 7 Anderen Quellen zufolge soll die Zahl der gestürmten Haftanstalten zwischen 16 und 18 gelegen haben.128 Allein in Görlitz kam es zur Besetzung zweier Gefängnisse, dabei gelangten 416 Personen in Freiheit. 1 2 9 Hinzu kam die erwähnte Befreiung des KVPAngehörigen aus dem Haftkeller des MfS. Sicher ist, daß in keiner anderen Stadt der DDR so viele Häftlinge vorübergehend die Freiheit erlangten wie in Görlitz. Die Stadt besaß eine Untersuchungshaftanstalt, die sich in der Nähe des Rathauses befand. Hier waren am 17. Juni 52 Personen inhaftiert, die zumeist Anklagen wegen Vergehen gegen das Volkseigentum oder wegen Steuerschulden zu erwarten hatten. Außerdem befand sich am Postplatz eine Straf-

122 Zitiert in Hagen, DDR - Juni 53, S.119. 123 Vgl. Kowalczuk/Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden", S. 59. 124 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 9). 125 BDVP Dresden, Operativstab, Blitz-Fernschreiben, An die HVDVP, vom 17.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 7). 126 Nachfolgende Schilderung der Ereignisse beruht hauptsächlich, wenn nicht anders vermerkt, auf BDVP Dresden, Strafvollzug, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Abt. Strafvollzug, vom 8.7.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 303-308). 127 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni, S. 278. 128 Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 159. 129 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Blitz-Fernschreiben, An die HVDVP, vom 17. Juni 1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 10).

274

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

vollzugsanstalt für weibliche Häftlinge. Dort waren 364 Frauen inhaftiert, darunter viele, die wegen geringfügiger Delikte nach dem „Gesetz zum Schutze des Volkseigentums" zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt waren. 1 3 0 Die scheinbar so sicheren Gefängnisse wurden in Görlitz regelrecht im ersten Sturm genommen. An diesem Tage gab es zunächst keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen für die Görlitzer Haftanstalten. Der um 4.45 Uhr von der Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden für alle Volkspolizeikreisämter per Blitzfernschreiben ausgelöste Alarm hatte zwar zunächst den Strafvollzug mit einbezogen, zwischen 6.30 und 7.10 Uhr gab es jedoch hier Entwarnung. Die Bewacher der Haftanstalten sollten vorläufig wie immer ihren Routinedienst versehen. Die Erklärung für diese Entscheidung fand die Leitung der Volkspolizei im nachhinein in dem Umstand, daß „sich um diese Zeit in Dresden ein vollkommen normales Leben abspielte und seitens der Hauptabteilung Strafvollzug im Mdl keine Hinweise auf vermutete Unruhen gegeben wurden". 131 Bis gegen 11.20 Uhr ahnten die Angehörigen der Abteilung Strafvollzug in der Bezirksbehörde Dresden nichts. Mitten in eine Abteilungsleiterbesprechung beim Chef der Volkspolizei des Bezirkes platzte der Anruf aus Görlitz, in dem vom Sturm auf die Untersuchungshaftanstalt und von der Befreiung der Gefangenen berichtet wurde. Die leitenden Polizisten waren völlig überrascht und ratlos. Der Abteilungsleiter Strafvollzug offenbarte später: „In diesem Moment war mir noch nicht klar, wieso, weshalb und von wem diese Dienststelle gestürmt sein könnte." Nachdem sich die Offiziere einigermaßen gesammelt hatten, erteilten sie dem Leiter der Strafvollzugsanstalt Görlitz, VP-Rat Heinz Kerinnes, den „Befehl zum Einschluß aller Gefangenen". Alle Zellenschlüssel sollten im Panzerschrank aufbewahrt werden, und der Panzerschrankschlüssel sollte nicht in andere Hände gelangen, notfalls sollte er „durch Einwurf in die Toiletten" vernichtet werden. Gleichzeitig wurde auch der Schießbefehl erteilt. Jetzt galt für alle Dienststellen des Strafvollzugs im Bezirk Dresden die höchste Alarmstufe. Der Polizeichef wies an, „die Objekte mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt, zu verteidigen". Außerdem erhielt der Amtsleiter des Polizeikreisamtes Görlitz die Anweisung, sofort Verstärkung in die Strafvollzugsanstalt zu entsenden. Das Wachbataillon Dresden setzte eine Kompanie nach Görlitz in Marsch, die jedoch erst eintraf, als alle Gefangenen in Freiheit waren. Obwohl der Chef des Volkspolizeikreisamtes Görlitz, Görschel, am frühen Morgen an der Krisensitzung in der SED-Kreisleitung teilgenommen und von „möglichen Unruhen" Kenntnis erhalten hatte, ging das Leben im Görlitzer Strafvollzug zunächst seinen gewohnten Gang. Seit 7 Uhr hielten die Partei-

130 Vgl. BDVP Dresden, Einsatzleitung, 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 74f.). 131 Nachfolgende Schilderung der Ereignisse beruht hauptsächlich, wenn nicht anders vermerkt, auf BDVP Dresden, Strafvollzug, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Abt. Strafvollzug, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 303); die folgenden Zitate ebd.

Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung

275

kader der Polizei turnusmäßig ihre Parteileitungssitzung ab, bei der auch der Leiter der Untersuchungshaftanstalt, VP-Meister Dörich, anwesend war. Die Untersuchungshaftanstalt war an jenem Vormittag mit drei Polizisten besetzt, die anderen waren zur Politschulung abgeordnet oder hatten frei. Als gegen 9.45 Uhr in der Haftanstalt „ungewöhnlicher Lärm" 1 3 2 von der Straße zu vernehmen war, ließ der Leiter vorsorglich die Eingangstüren verriegeln, die Freistunde der Häftlinge abbrechen und sie in die Zellen einschließen. Vom Operativstab des VPKA Görlitz erhielt er auf seine Nachfrage hin die Weisung abzuwarten. Kurze Zeit später erschienen die ersten Görlitzer vor der Anstalt und verlangten, die politischen Gefangenen freizugeben. Der Anstaltsleiter diskutierte mit den Demonstranten, die zu erkennen gaben, daß sie notfalls gewaltsam eindringen würden. Erste Steine schlugen an die Fenster und die Eingangstür. Daraufhin rief der Leiter erneut den Operativstab des Volkspolizeikreisamtes an und bat um Hilfe. Inzwischen war es kurz vor halb zwölf. Die Görlitzer Volkspolizei war zu diesem Zeitpunkt vollkommen überfordert, erhielt sie doch gleichzeitig auch noch von der MfS-Kreisdienststelle und dem Kreisgericht dringende Hilferufe. Eine Einsatzgruppe von 16 Polizisten sollte zunächst das Kreisgericht bewachen. Als die Meldung vom Sturm auf die Untersuchungshaftanstalt kam, wurden 13 Polizisten dieser Truppe per LKW zum Gefängnis geschickt. Doch sie kamen dort nicht an. Bereits auf dem Wege wurde der LKW von Demonstranten angehalten, ein VP-Angehöriger entwaffnet u n d der Fahrer „durch Stockschlag auf dem K o p f verletzt, „so daß die übrigen Genossen der Situation nicht mehr gewachsen waren und sich zurückzogen", 1 3 3 wie der Polizeibericht die Kapitulation des Kommandos vor den Demonstranten vornehm umschrieb. Das Wachpersonal der Untersuchungshaftanstalt hatte inzwischen aus Dresden den Befehl erhalten, das „Objekt" unter allen Umständen, also auch mit Waffengewalt, zu halten. Anders als in Leipzig, wo die Polizisten in den frühen Nachmittagsstunden den Ansturm auf die Untersuchungshaftanstalt mit dem Einsatz von Schußwaffen unterbanden und das erste Todesopfer auf Seiten der Demonstranten zu beklagen war, setzten die Görlitzer Polizisten hier keine Waffen ein. Sie schlössen ihre Waffen ein, stellten sich hinter der Scherengittertür auf und diskutierten mit den Versammelten. Diese forderten nachdrücklich die Freilassung der Untersuchungsgefangenen, und sie verstärkten den Druck auf die Eingangstür. Sie sollen mit Äxten und Beilen bewaffnet gewesen sein. Der Anstaltsleiter schlug deshalb vor, eine Kommission von fünf Personen einzulassen, die eine Ü b e r p r ü f u n g der Haftgründe vornehmen sollte. Er gab Befehl, die Tür zum Einlaß der Kommission zu öffnen. Später bezeichnete die BDVP diesen Befehl als „blödsinnige Maßnahme", weil damit „die Randalierer weiter eindrangen und in das Zellenhaus gelangten". 1 3 4

132 Ebd., Bl. 304. 133 Ebd. 134 Ebd.

276

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Die Kommission fand jedoch nur ein leeres Gefängnis vor, alle waren bereits geflüchtet. Denn in der Zwischenzeit waren etwa 80 Demonstranten, unter Anwendung verschiedener Werkzeuge, darunter Brechstangen und Schweißapparate, ebenfalls eingedrungen. Das war etwa um halb eins. Die Zellen der unteren Etagen wurden gewaltsam geöffnet, die oberen schloß der Anstaltsleiter selbst auf, ohne daß es zu nennenswertem Widerstand durch das Anstaltspersonal gekommen war. 52 Menschen kamen in Freiheit. 135 Auch das Hab und Gut der Untersuchungshäftlinge wurde ihnen zum größten Teil zurückgegeben. Nach dem gemeinsamen Abzug von Demonstranten und befreiten Häftlingen verließ das gesamte Anstaltspersonal das Gebäude. Das Gefängnis blieb offen, Waffen und Akten wurden zurückgelassen. Erst nachdem sowjetische Truppen und deutsche Sicherheitskräfte in Görlitz eingerückt waren, meldeten sich die Angehörigen des Wachpersonals in Zivilkleidung beim Volkspolizeikreisamt zurück. 136 Später kritisierte die Bezirksbehörde der Volkspolizei die Vollzugsbeamten, weil ihnen „Entschlußkraft und Wille zur Verteidigung der Anstalt" gefehlt hätten und „Panikstimmung" ausgebrochen sei. Besonders der Anstaltsleiter sei nicht entschieden genug aufgetreten. 137 Auch die Bewacher der Strafvollzugsanstalt Görlitz befanden sich an jenem Vormittag bei einer Schulung. Gegen 11 Uhr fragte das Volkspolizeikreisamt nach, ob sich bereits Demonstranten vor der Anstalt befänden. 1 3 8 Im Dienst waren zu diesem Zeitpunkt insgesamt 44 Vollzugsbeamte und Verwaltungskräfte, darunter zehn Männer. Der Unterricht wurde erst in dem Moment unterbrochen, als Lärm vom „Platz der Befreiung" (heute Postplatz) wahrgenommen wurde. Ein VP-Meister gab daraufhin Anweisung, daß sich alle Volkspolizisten in der Anstalt versammeln sollten. Die Männer wurden zur Sicherung der Eingangstür, die Frauen im sogenannten Verwahrhaus eingesetzt. Zwischen 11.30 und 12 Uhr erschien die erste Gruppe von Demonstranten - es sollen zwischen 20 und 40 Personen gewesen sein - im Hof zwischen Kreisgericht und Haftanstalt. Als dann auf der Kundgebung auf dem Obermarkt beschlossen wurde, die politischen Gefangenen zu befreien, marschierten Demonstranten nicht nur zur MfS-Dienststelle, sondern auch zur Strafvollzugsanstalt. Innerhalb kurzer Zeit standen etwa 2 500 Demonstranten auf

135 Einer von ihnen, der ehemalige Geschäftsinhaber Weinert aus der Berliner Straße, sprach wenig später auf den Obermarkt zu den versammelten Görlitzern. Er war neun Wochen eingesperrt gewesen, ihm hatten sie vier Jahre Zuchthaus „versprochen", weil er sich angeblich am Volkseigentum vergriffen habe; vgl. wie BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 22.6. 1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 190). 136 Vgl. BDVP Dresden, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden, vom 8.7.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 305). 137 Ebd. 138 Vgl. Vernehmung des Anstaltsleiters, VP-Rat Heinz Kerinnis, vor der Kreisdienststelle des MfS Görlitz, vom 20.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 285/53, Bl. 16); die folgenden Zitate ebd.

Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung

277

der Straße vor der Haftanstalt und forderten die Freilassung der politischen Gefangenen. Der Chef der Anstalt, VP-Rat Heinz Kerinnis, und die VP-Kommissarin Edith Stritzke, versuchten vergeblich, die Menge abzuhalten. Sie standen am offenen Fenster und versuchten die Versammelten davon zu überzeugen, daß es in der Anstalt „keine politischen Gefangenen gibt". Vom Operativstab des VPKA Görlitz hatten sie die Weisung erhalten, bei „Einbruchsgefahr Wasser einzusetzen und Warnschüsse abzugeben". Daraufhin legten die Polizisten einen Wasserschlauch durch die Pforte, um ihn auf die Menge zu halten. Weil der Druck der Demonstranten auf das Eingangstor immer stärker wurde, gab der Anstaltsleiter mehrere Warnschüsse ab. Dadurch wurden die Demonstranten immer aggressiver. Sie griffen gleichfalls zu Gewalt und sie warfen mit Steinen, dabei trafen sie auch den „Strahlrohrführer" am Kopf. Dieser ließ daraufhin offenbar von seinem Vorhaben ab, die Eindringenden mit Wasser aufzuhalten. Mit Äxten, Schmiedehämmern und Brechstangen attackierten die Demonstranten die Eingangstür. Inzwischen war es 13 Uhr. Die Demonstranten drangen in die Anstalt ein, verlangten Einlaß und Einsicht in die Gefangenenakten. Der Anstaltsleiter verweigerte dies. Er wollte den Versammelten weismachen, daß die „Schlüssel verloren gegangen" 139 seien. Eine Eskalation der Situation blieb jedoch aus, da kurz darauf eine Delegation von drei Mann mit einem Schreiben des Oberbürgermeisters Ehrlich erschien, wonach den Überbringern dieses Schriftstückes Akteneinsicht zur Freilassung der politischen Gefangenen zu gewähren sei und sie berechtigt seien, Entlassungen vorzunehmen. 1 4 0 Dieses amtliche Schreiben wirkte „Wunder", der Anstaltsleiter ließ die Delegation ein. Zuvor schloß er seine Dienstwaffe weg. Bereits nach dem beginnenden Sturm auf die Strafvollzugsanstalt und den Forderungen nach Freilassung der politischen Häftlinge hatte die Leitung der Anstalt mit dem Oberbürgermeister telefoniert, um seine Meinung zu erfahren. Nach dessen Darstellung habe die Anstaltsleitung die Auffassung vertreten, daß es sinnvoll sei, die Forderung der Demonstranten zu erfüllen, um Blutvergießen zu verhindern. 141 Dafür wollte der Chef der Anstalt die Verantwortung jedoch nicht selbst übernehmen und verlangte nach einer Entscheidung durch 139 Ebd., Bl. 17. 140 Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 129, geht davon aus, daß dieses Papier des Oberbürgermeisters in der Untersuchungshaftanstalt und nicht in der Strafvollzugsanstalt vorgelegt wurde. Seine Einschätzung beruht offensichtlich auf einer falschen Darstellung des Abschlußberichtes der BDVP. Doch nach Schilderung des OB und nach dem hier zugrundeliegenden Sonderbericht „Strafvollzug" vom 8.7.1953 wurde diese Vollmacht für die StVA ausgestellt und auch dort vorgezeigt. Auch bei Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, und seiner Analyse des Urteils gegen den Rechtsanwalt Brüll gibt es mehrere Anhaltspunkte, daß es sich um die StVA Görlitz gehandelt haben muß. Das ist auch insofern anzunehmen, weil die Urteile als Ausgangspunkt für die Arbeit der Kommission genommen werden sollten und in der UHA in der Regel keine Verurteilten einsaßen. 141 Vgl. Aussagen des Oberbürgermeisters vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 285/53, Bl. 27); die folgenden Zitate ebd.

278

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

übergeordnete Dienststellen oder den Oberbürgermeister. Dieser war freilich selbst in arger Bedrängnis. Das Rathaus war inzwischen seit Mittag besetzt. Demonstranten bzw. Delegationen und Mitglieder des Stadtkomitees verhandelten über ihre Forderungen, vor allem auch über die Freilassung der politischen Gefangenen. Sie erklärten sich bereit, dafür zu sorgen, daß nur „Politische" und keine Kriminellen in Freiheit kämen. Zu diesem Zwecke verlangten sie besagte Vollmacht. Das Dokument fertigte die Stenotypistin des Oberbürgermeisters auf einen Briefbogen des Rates der Stadt aus. Es berechtigte drei namentlich genannte Personen, „nach sorgfältiger und gewissenhafter Überprüfung und unter voller eigener Verantwortung, die Freilassung der politischen Gefangenen der Haftanstalt Görlitz zu veranlassen". Der Oberbürgermeister erinnerte sich in seiner Aussage daran, daß der Kaufmann Rudolf Strohmeyer und Willi Renner der Kommission angehörten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes entschuldigte sich der Oberbürgermeister vor der SED und der Staatssicherheit damit, daß er „als Staatsfunktionär" seine Unterschrift nicht hätte leisten wollen, ihm sei jedoch gedroht worden, deshalb habe er unterschrieben. Von der Vollmacht war eine Durchschrift angefertigt worden, die auch die Namen und weitere Angaben zu den Überbringern enthielt. Nach dieser Durchschrift fahndete das MfS später vergeblich. Nach Darstellung des Bürgermeisters sollte diese Zweitschrift als Grundlage zur Bestrafung der „Rädelsführer" dienen, sie sei jedoch „auf unerklärliche Weise verschwunden" 142 und nie wieder aufgetaucht. Offenbar glaubte selbst die Staatssicherheit dem Oberbürgermeister diese Version nicht, denn nachdem sie ihn befragt hatte, vermerkte die Kreisdienststelle Görlitz: „Zu erwähnen ist noch, daß der OB Ehrlich, als er von uns nach dem Verbleib der Durchschrift der Bescheinigung (gefragt wurde), im nervösen Tone erklärte, den Durchschlag muß man ebenfalls mitgenommen haben oder hat ihn die Stenotypistin noch, der ist jedenfalls auf unerklärliche Weise verschwunden. OB Ehrlich machte bei gesamter Befragung, die einige Stunden dauerte, einen nervösen und zerfahrenen Eindruck. Es wurde mit ihm vereinbart, daß wir jeden Tag zu ihm kommen werden, um uns von ihm weiteres wichtiges Material, in bezug auf Personen, die Feindtätigkeit ausgeübt haben, zu erhalten." 143 Folgt man Ehrlichs Aussagen, so verließ die Kommission mit dem Schriftstück gegen 13 Uhr das Rathaus. Der Oberbürgermeister sagte später aus, daß er wenige Minuten nach Übergabe der Vollmacht selbst in der Haftanstalt angerufen und mitgeteilt habe, daß das von ihm ausgestellte Papier ungültig sei und keinesfalls befolgt werden dürfe. Die telefonische Rücknahme der Vollmacht des Oberbürgermeisters traf zu einem Zeitpunkt ein, als die Befreiungsaktion bereits im Gange war. 144 142 Ebd., Bl. 28. 143 MfS Görlitz, Schreiben an das MfS, BV Dresden, Leitung, Betr.: Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 285/53, Bl. 21). 144 Vgl. Vernehmung des Anstaltsleiters Kerinnis und der VP-Kommissarin Stritzke vor dem MfS Görlitz vom 20.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 285/53, Bl. 17-20).

Besetzung der Haftanstalten und Gefangenenbefreiung

279

Denn während noch eine Gruppe von Demonstranten mit dem Anstaltsleiter verhandelte, war eine andere bereits in das „Verwahrhaus" eingedrungen. Die Aktion leitete ein „wegen starker bürgerlicher reaktionärer Tendenzen" 1 4 5 vom Dienst suspendierter Hauptwachmeister. Nachdem eine größere Gruppe von Demonstranten in den Zellentrakt eingedrungen war, wurden mehrere Zellentüren aufgebrochen und die übrigen Zellen aufgeschlossen. Daran beteiligte sich auch der Görlitzer Sportlehrer Günter Assmann, der später zu acht fahren Zuchthaus verurteilt und mit Berufsverbot belegt wurde. 1 4 6 Alle inhaftierten Frauen kamen frei. Die Wachmeisterinnen leisteten keinen Widerstand, sie gaben ihre Gummiknüppel ab, legten ihre Uniformen ab, zogen sich Zivilkleidung an und „verschwanden". Die Kommission begab sich mit dem Anstaltsleiter in die Geschäftsstelle, wo die Strafakten untergebracht waren. Inzwischen war es gegen 14 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt war das gesamte Gebäude von Demonstranten und befreiten Häftlingen besetzt. Es herrschte ein heilloses Durcheinander: Die „Besetzer" begehrten gleichzeitig Auskunft über Schlüssel, Schießbefehl und Wassereinsatz. Es kam zu Handgreiflichkeiten, die sich gegen den Anstaltsleiter richteten. Befreite Gefangene verlangten ihre Papiere. Der dienstentpflichtete Hauptwachmeister versuchte, den Häftlingen ihr persönliches Eigentum zurückzugeben, wobei er von drei Wachmeisterinnen unterstützt wurde. Doch die Werteffekten und die Personalausweise konnten nicht ausgeteilt werden, da die VP-Kommissarin die Herausgabe verweigerte und auf die enorme Unordnung verwies. So blieben alle Personaldokumente in der Anstalt zurück. Mit den Demonstranten kam auch der 52jährige Görlitzer Rechtsanwalt und Notar Carl-Albert Brüll in die Strafvollzugsanstalt. Er war nicht Mitglied jener Delegation, die mit einem Schreiben von Ehrlich in die Anstalt eingelassen worden war. Brüll hatte sich bis 12.30 Uhr dienstlich außerhalb von Görlitz aufgehalten. Bei seiner Rückkehr hörte er über den Stadtfunk die Übertragung der Kundgebung. Vor dem Gerichtsgebäude sah er dann, daß einige befreite Häftlinge das Gefängnis verließen. Später wurde er von einem Berufskollegen, Dr. Schön, zum Eintritt in die Haftanstalt aufgefordert. Brüll war dem Wachpersonal durch seine berufliche Tätigkeit bekannt. Er unterstützte die Sortierung der Akten nach „Politischen" oder „Kriminellen" und setzte sich außerdem dafür ein, daß die Akten nicht verschleppt oder vernichtet wurden. Danach half er noch einem Strafvollzugsangehörigen, der sich seiner Dienstkleidung entledigt hatte, die Haftanstalt unbehelligt zu verlassen. Brüll lieh ihm seine Jacke. Außerdem nahm er auf dessen Wunsch vorübergehend einen Schlüsselbund in Verwahrung, „ohne irgendeiner Dienststeile davon Mitteilung zu machen". 147 Dieser Schlüsselbund wurde acht Tage später bei der Verhaftung des Rechtsanwalts gefunden. Das Bezirksgericht Dresden verur145 Ebd., Bl. 18. 146 BDVP Dresden, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 305). 147 Vgl. Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, S. 78.

280

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

teilte Carl-Albert Brüll am 12. August 1953 zu fünf Jahren Zuchthaus wegen „Aufruhr" und „Gefangenenbefreiung". 1 4 8 In dem Durcheinander entkamen natürlich auch Kriminelle. Es ist anzunehmen, daß sie zuerst das Weite suchten, da bekannt war, daß die Kommission lediglich „Politische" freilassen wollte. 149 Wann die Kommission ihre Arbeit einstellte, läßt sich nicht genau ermitteln. Als sowjetische Soldaten gegen 16 Uhr das Frauengefängnis besetzten, war das Geschäftszimmer leer, und die Akten lagen verstreut herum. Später stellte sich heraus, daß lediglich eine Strafakte fehlte. Die drei Kommissionsmitglieder konnten fliehen und sich damit einer Verhaftung entziehen. Das Bezirksgericht Dresden verurteilte Strohmeyer am 3. Dezember 1953 in Abwesenheit zu zehn Jahren Zuchthaus. 1 5 0 Sein Vermögen wurde eingezogen. Über das Vorgehen der sowjetischen Soldaten in der Strafvollzugsanstalt ist nichts bekannt, außer der offiziellen Feststellung, daß sie das Gebäude von Demonstranten „säuberten". Festnahmen wurden offenbar zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgenommen. Als die Sowjets eintrafen, war der als Hauptprovokateur bezeichnete ehemalige VP-Hauptmann noch im Gebäude. Zwischen ihm und dem Anstaltsleiter kam es zu verbalen Auseinandersetzungen. Der Anstaltsleiter machte dem entlassenen Hauptwachmeister während dieser Aktion ständig Vorwürfe: „Sie sind ein Verräter. So was tut ein Genosse nicht." 151 Dieses Vorgehen brachte dem Leiter des Strafvollzugs später die Kritik seiner Vorgesetzten und seine Entlassung aus der Polizei ein. Im Polizeibericht heißt es dazu: „Anstatt diesen Verräter einzusperren, führte er mit ihm unfruchtbare Diskussionen." So konnte der „Verräter", wie ihn die Polizeidirektion bezeichnete, nicht festgenommen werden, sondern fliehen. Überhaupt wurde „dieses Diskutieren" kritisiert. Im Bericht der Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden, Abteilung Strafvollzug, ist festgehalten: „Statt gleich am Anfang durch einen Ausfall zwei oder drei Rädelsführer von den zehn bis 15 Personen, die sich vor der Anstalt befanden, festzunehmen, diskutierte man so lange vom Fenster aus, bis sich eine große Menschenmenge angesammelt

148 Vgl. ebd. In der Urteilsbegründung heißt es dazu, daß „der Angeklagte [...] eine führende Rolle in der dem Tatbestand des § 115 StGB erfüllenden Handlung einnahm [...]. Der Angeklagte, der aufgrund seiner Berufsstellung in besonderem Maße zur Wahrnehmung dieser Ordnung berufen war, hat sich in völlig unverantwortlicher Weise auf die Seite der Feinde dieser Ordnung geschlagen und damit die .Neutralität' verlassen, in der er bis dahin sein politisches Heil gesehen hatte. Seine erste offene Parteinahme galt der Partei derer, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Brand eines neuen Weltkrieges zu schüren, und die dieses Ziel mit dem 17. Juni 1953 in Szene gesetzten Provokationen zu verwirklichen suchten." Zitiert ebd., S. 79. 149 Vgl. Vernehmung der Zeuginnen Gasde und Stritzke im VPKA Görlitz, o. D. (Staatsanwaltschaft Dresden, Ks 5 0 0 / 5 3 , 1 / 5 1 3 / 5 3 , Bl. 13). 150 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Urteil in der Strafsache gegen Rudolf Erich Strohmeyer, vom 3 . 1 2 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Ks 5 0 0 / 5 3 , 1 / 5 1 3 / 5 3 , Bl. 28ff.). 151 BDVP Dresden, Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk der BDVP Dresden, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 307); die folgenden Zitate ebd.

Das Görlitzer Stadtkomitee

281

hatte." Außerdem wurde Kerinnes vorgeworfen, daß er „den Provokateuren Einlaß gewährte in die Haftanstalt und den Hauptprovokateur entwischen ließ". Nach den Juni-Ereignissen wurde der Leiter der Strafvollzugsanstalt, VPRat Heinz Kerinnes, „wegen kapitulantenhaften Verhaltens" abgesetzt, aus der Volkspolizei entlassen und aus der SED ausgeschlossen. 152 Görlitzer Bürger befreiten nicht nur die Gefangenen, sondern besorgten ihnen auch Kleidung und Geld für die Heimfahrt bzw. Flucht. So wurden befreite Häftlinge im „Haus des Handwerks" eingekleidet und „mit Fahrkarten nach Berlin ausgerüstet". 1 5 3 Auch Privatpersonen unterstützten befreite Häftlinge, beispielsweise gab der Fotografenmeister Lothar Markwirth aus Niesky einer fremden Frau 10 Mark für eine Fahrkarte nach Hause. 1 5 4 Auch Jugendliche, die zur „Jungen Gemeinde" gehörten, kümmerten sich um die Befreiten. Für einen Teil der Görlitzer Gefangenen währte ihr Aufenthalt in Freiheit nicht lange. Bereits am 17. Juni, 22.35 Uhr, meldete der Operativstab der Volkspolizei Dresden nach Berlin, daß 38 befreite Görlitzer Häftlinge wieder festgenommen worden seien. 1 5 5 In der gleichen Nacht wies der Fahndungsbevollmächtigte der Volkspolizei Dresden alle Volkspolizeikreisämter an, „die Fahndung nach den entwichenen Häftlingen mit besonderem Nachdruck durchzuführen". 1 5 6 Am 19. Juni früh 4 Uhr befanden sich 215 befreite Häftlinge wieder in Gewahrsam. 1 5 7

9.

Das Görlitzer Stadtkomitee

Das Stadtkomitee wurde, soweit es der Tonbandmitschnitt erkennen läßt, unmittelbar nach Abschluß der Mittagskundgebung gebildet. 158 Offenbar fanden sich sofort 2 0 Freiwillige. Des weiteren erfolgte ein Hinweis darauf, daß das soeben gebildete Gremium auf der geplanten Nachmittagskundgebung von Delegierten aus Betrieben und Institutionen gewählt werden solle und sein Programm vorstellen wolle. Doch die Zusammensetzung des Komitees wurde 152 Vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, Bericht an die BPKK vom 14.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bl. 69). Nach den Unterlagen der BDVP war Kerinnes, gelernter Steindrucker, in der Nazizeit Feldwebel, seit 1946 in der Justiz beschäftigt; vgl. Vernehmung des Anstaltsleiters Kerinnes vor dem MfS Görlitz vom 20.6.1953 (BstU, Ast. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 16). 153 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Blitzfernschreiben an die HVDVP vom 17.6.1953, 22.35 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 10). 154 Vgl. Sachstandsbericht zum Untersuchungsvorgang Markwirth, Lothar, vom 11.7.1953 (BstU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bd. la, Bl. 60f.). 155 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Blitzfernschreiben an die HVDVP vom 17.6.1953, 22.35 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 10). 156 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 104). 157 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Fernschreiben an die HVDVP vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 20). 158 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz), vom 22.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 190).

282

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

nicht über den Stadtfunk bekanntgegeben. Das könnte eine Sicherheitsmaßnahme gewesen sein, um im Falle einer Niederschlagung des Aufstandes der Staatssicherheit keine Namen zu liefern. Dies würde auch erklären, weshalb sich die Redner nicht namentlich vorstellten. Dem Stadtkomitee gehörten an: 1 5 9 der frei praktizierende Arzt Dr. Hütter, der freie Architekt Cammentz, Rechtsanwalt Dr. Schön, der Besitzer eines Radiogeschäftes Arthur Hellwig, der Zeltplanenfabrikant Rudolf Erich Strohmeyer jr., Werner Herbig, Dozent an der Volkshochschule, der LOWA-Autoschlosser Hermann Gierich sowie Max Latt, außerdem der Sohn des nach Westdeutschland geflüchteten Kofferfabrikanten Wirschin und Willi Renner, ein gebürtiger Görlitzer, der jetzt als Mitarbeiter der Deutschen Handelszentrale in Berlin arbeitete und sich am 17. Juni zu Besuch in seiner Heimatstadt aufhielt. Renner sollte die Leitung der Polizei übernehmen. Zum Stadtkomitee zählte weiter ein namentlich nicht genannter Rentner. Der Oberbürgermeister wußte über ihn lediglich, daß er früher Angestellter im Wohnungsausschuß war. Auch ein Oberschüler soll im Komitee vertreten gewesen sein. Das Komitee stellte bereits eine Bürger- oder Arbeiterwehr auf, die mit Armbinde versehen, aber unbewaffnet im Stadtgebiet von Görlitz Ordnungsdienste leisten sollte. In einer Analyse der SED-Bezirksleitung Dresden heißt es dazu: „In Görlitz wurde zur Schaffung einer faschistischen Heimwehr aufgerufen, die sich das Ziel gesteckt hatte, die Oder-Neiße-Grenze zu beseitigen." 1 6 0 Das Stadtkomitee wollte eng mit den Bürgern von Görlitz zusammenarbeiten. Deshalb war den Görlitzern kurz vor Abschluß der Kundgebung mitgeteilt worden, daß sich alle Einwohner, mit ihren Anliegen an das Komitee wenden sollten. In dem Durcheinander der Kundgebung waren mehrere „Tagungsorte" im Gespräch: zunächst die Gaststätte „Spatenbräu", später das Hotel „Schwarzenberg". Auch im „Görlitzer Hof" wurde das Komitee gesucht. So gab der 1. SED-Kreissekretär Weichold an, daß er und der MfS-Mitarbeiter Henkel nach der Erstürmung der MfS-Dienststelle in das Lokal „Spatenbräu" zu einem „Komitee" gebracht werden sollten. 161 Da diese Gaststätte geschlossen war, ging es zum „Görlitzer Hof". Über seine Beobachtungen im „Görlitzer Hof" gab Weichold in seiner Vernehmung zu Protokoll: „Anwesend waren etwa zehn Personen, die bei den Massen Autorität besaßen, welche dann mit uns allein im Zimmer blieben." Ob es sich um Angehörige des Stadtkomitees gehandelt hat, wußte Weichold nicht. Nachweisbar ist dagegen, daß sich die Mitglieder des Stadtkomitees nach Abschluß der Mittagskundgebung zunächst 159 Nachfolgende Namensnennungen weichen leicht von der Darstellung „Der 17. Juni 1953 in Görlitz" ab, da sich nach Erscheinen dieser Dokumentation mehrere Zeitzeugen meldeten, die präzisere Auskünfte erteilten. Das betrifft z.B. Günther Assmann, der zu dem Zeitpunkt, als das Komitee gewählt wurde, noch Unterricht hatte. 160 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7. 1953, S. 13 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 161 BV für Staatssicherheit Dresden, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Weichold, Karl, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, A U - 2 8 5 / 5 3 , Bd. 1, Bl. 13).

Das Görlitzer Stadtkomitee

283

gemeinsam mit den Demonstranten zu den Brennpunkten der Auseinandersetzungen in Görlitz begaben. So nahmen Werner Herbig und Hermann Gierich an der Besetzung der MfS-Kreisdienststelle teil. 162 Einige Mitglieder des Komitees, darunter Dr. Schön, Cammentz, Max Latt und Hermann Gierich, begaben sich ins Rathaus, um mit dem abgesetzten Oberbürgermeister zu verhandeln. 1 6 3 Drei Mitglieder des Komitees gingen von hier aus zum Frauengefängnis, nachdem sie eine Vollmacht zur Entlassung der politischen Häftlinge erhalten hatten. Die Tür zum Görlitzer Rathaus blieb während der Mittagskundgebung offen, so daß die Eindringlinge keinen Widerstand überwinden mußten. Zunächst wurde die Abteilung Volksbildung besetzt. Später wurde der Rat der Stadt „als Geisel" in ein Zimmer eingesperrt. 1 6 4 Zum Entsetzen der SEDBezirksleitung Dresden sah die Parteiorganisation der Stadtverwaltung tatenlos zu, wie der Rat der Stadt außer Gefecht gesetzt wurde. Die Genossen hätten sich auf „Beratungen mit den Delegationen der Provokateure" 1 6 5 beschränkt. Als Oberbürgermeister Ehrlich ins Rathaus zurückgekehrt war und die ausweglose Situation wahrnahm, wollte er die SED-Kreisleitung, das Volkspolizeikreisamt und die sowjetische Kommandantur telefonisch um Unterstützung bitten. 1 6 6 Doch es kam lediglich die Verbindung mit der Telefonzentrale der Kreisleitung zustande. Dort teilte ihm eine Mitarbeiterin mit, daß niemand mehr im Haus sei. So war der Oberbürgermeister auf sich allein gestellt. Hilfe war weder von außen noch von innen zu erwarten. Er mußte sich auf Verhandlungen mit dem Komitee über die Übergabe der Verwaltung einlassen. An diesen Beratungen nahmen - ständig oder teilweise - von Seiten des Rates noch fünf weibliche Ratsmitglieder teil. Es liegen dazu lediglich die Aussagen des Bürgermeisters vor, die er am 21. Juni vor der Staatssicherheit machte, wo er sich rechtfertigen und vom Vorwurf der Kapitulation befreien wollte. Nach seiner Darstellung habe er das Ansinnen des Stadtkomitees, ihn abzusetzen, in der Annahme abgelehnt, daß in der übrigen DDR an diesem Tage Ruhe geherrscht habe. So habe er dem Stadtkomitee erklärt: „Die Regierung der DDR besteht, ich bin gewählter Oberbürgermeister. Nur die Regierung oder die Stadtverordnetenversammlung kann mich abberufen." Er sagte auch aus, daß ohne „Unterrich-

162 Vgl. u. a. Bezirksgericht Dresden, 1. Senat für Rehabilitierung, Beschluß vom 6.5.1992, S. 4 (Kopie wurde der Autorin von Werner Herbig zur Verfügung gestellt). 163 Vgl. Aussage des Oberbürgermeisters vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BstU, Ast. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bl. 26f.). 164 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 9 (SächsHStA, SED 1 V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 165 Ebd. 166 Vgl. Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bd. 1, Bl. 26ff.); die folgenden Zitate ebd.

284

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

tung des Rates des Bezirkes, des Militärkommandanten [...] an eine Übergabe nicht gedacht werden" könne. Sein Wunsch, zum Militärkommandanten zu gehen und das Anliegen vorzutragen, sei „kategorisch abgelehnt" worden. Danach habe er „alle Beteiligten" aufgefordert, sich „ihrer Verantwortung bewußt [zu] sein und sich darüber im klaren [zu] sein, daß sie für die Handlungen des heutigen Tages zur Rechenschaft gezogen werden." Ehrlich gab zu, daß er sich „unter den gegebenen Bedingungen" bereit erklärt hatte, mit den Delegierten „über Maßnahmen zur Beendigung der Unruhen und zur Normalisierung des Lebens zu beraten". In diesen Verhandlungen seien dann einige Fragen wie die sofortige Verteilung von Lebensmitteln besprochen worden. Er mußte auch zugeben, daß über die Forderung nach Freilassung der politischen Gefangenen verhandelt worden war und er eine Vollmacht ausgestellt hatte. Über die Mitglieder des Komitees, die ihm bei den Verhandlungen gegenübersaßen, machte Ehrlich später nur wenig konkrete Angaben: Er wies darauf hin, daß er der Staatssicherheit bereits eine Liste mit „Rädelsführern" übergeben habe, die an den Aktionen im Rathaus beteiligt gewesen seien. 167 Bei der Vernehmung konnte er sich nur noch an den Zeltplanenfabrikanten Strohmeyer erinnern, weil dieser „besonders aggressiv" aufgetreten sei und sich auch damit gebrüstet habe, bereits an der Befreiung der Untersuchungshäftlinge beteiligt gewesen zu sein. Ganz offensichtlich war Strohmeyer ihm deshalb im Gedächtnis geblieben, weil er sich - im Gegensatz zu den anderen Beteiligten - weigerte, ihn mit Oberbürgermeister bzw. „Herr Ehrlich" anzusprechen, und behauptete, zu Ehrlich könne man bestenfalls „Unehrlich" sagen. Strohmeyer soll ihm auch mitgeteilt haben, daß die DDR-Regierung nicht mehr bestehe, die ganze Sowjetzone in Aufruhr sei, die sowjetische Besatzungsmacht nicht eingreifen und die Vorgänge als innere Angelegenheit betrachten würde. Auf die Frage des Oberbürgermeisters, wie er sich die weitere Entwicklung vorstelle, habe er geantwortet, daß „alle notwendigen Anweisungen dem RIAS zu entnehmen" seien. Daraufhin sei es innerhalb des Komitees zu einer Kontroverse gekommen, in der ein LOWA-Arbeiter (Elektroschweißer) erklärt habe, „als erstes solche Elemente wie Strohmeyer aus dem Kreis auszuschließen, da sie nicht die Arbeiterinteressen vertreten". 168 Neben diesen Verhandlungen mit Ehrlich kümmerten sich das Stadtkomitee und die Bürgerwehr unter Leitung von Willi Renner in den Stunden zwischen 13 und 15 Uhr um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, vor allem um die Verhinderung von Plünderungen, und man beriet sich mit Görlitzer Bürgern und Betriebsdelegationen. Einzelne Betriebsabordnungen suchten das Komitee auf. So kamen drei leitende Angestellte des Konsum Görlitz - alle drei waren Mitglieder der SED - , um mit dem Stadtkomitee zu verhandeln. 169 167 Dieses Papier konnte nicht ermittelt werden. Die einschlägigen Unterlagen der Dresdner BV für Staatssicherheit wurden bereits vor 1989 vernichtet. 168 Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bd. 1, Bl. 26). 169 Vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, Bericht an die BPKK Dresden vom 14.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bl. 68); die folgenden Zitate ebd.

Das Görlitzer

Stadtkomitee

285

Die Hoffnung Ehrlichs, daß er von Seiten der Görlitzer Arbeiterschaft noch Hilfe und Unterstützung zur Verteidigung seiner Machtpositionen erwarten könne, keimte zwischenzeitlich wieder auf. Als mitten in den Verhandlungen mit dem Stadtkomitee eine Delegation des VEB Schlachthof erschien, hoffte er auf Beistand. 170 Seine Schilderung dieser Begegnung ist insofern interessant, als sie erneut die völlige Verkennung der aktuellen Situation durch das bereits abgesetzte Görlitzer Stadtoberhaupt demonstriert. Der Oberbürgermeister empfing die Delegierten des Schlachthofes, während er noch mit dem Stadtkomitee verhandelte. Es war zu einem Zeitpunkt, als Ehrlich die erste Durchsage der sowjetischen Kommandantur erhalten hatte, daß die Verhängung des Belagerungszustandes über die Stadt zu erwarten sei. Das dürfte kurz nach 14 Uhr gewesen sein, als in Dresden der Ausnahmezustand über den Bezirk verhängt worden war und der Görlitzer Stadtkommandant einen adäquaten Befehl vorbereitete. Ehrlich wurde von der Delegation des Schlachthofes vor das Rathaus gerufen mit der Zusage, daß ihm nichts geschehen werde. Er hielt diese Delegation nicht für „Provokateure und verhetzte Arbeiter", sondern für „eine gutwillige Delegation". Zudem habe ihm die Ankündigung des Belagerungszustandes „neue Kraft gegeben". Er will der Schlachthof-Delegation erklärt haben, daß „sie Opfer von Lügnern und Provokateuren geworden sind, und sie sollten sofort zurückgehen und in den Betrieb gehen". Ferner verkündete er stolz, daß „von unseren sowjetischen Freunden der Belagerungszustand verhängt worden [sei] und sowjetische Truppen im Anmarsch" seien, „um die Ruhe und Ordnung wiederherzustellen". Wenn der Oberbürgermeister nun erwartet hatte, daß die Versammelten sich ängstlich zurückziehen würden, so trat gerade das Gegenteil ein. „Diese Mitteilung versetzte alle vor dem Rathaus Anwesenden in höchste Wut. Ich versuchte, in großen Sprüngen ins Rathaus zurückzugelangen, wurde jedoch dabei von einigen Fleischern gepackt, geschlagen und dabei die Rathaustreppe herunter geworfen. Unten landete ich in dem schmalen Raum neben der Rathaustür." Ein anderer Fleischer verhinderte schließlich weitere Übergriffe auf den Oberbürgermeister. Diese Szene spielte sich vor einer großen Öffentlichkeit ab, denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich in der Innenstadt wiederum Tausende von Görlitzern eingefunden, um an der Kundgebung und an der anschließenden Demonstration durch die Stadt teilzunehmen. Die Angaben schwanken zwischen 3 0 0 0 0 und 4 0 0 0 0 Menschen. 171 Unter diesen Menschen waren viele, die aus den umliegenden Orten und den Betrieben des Landkreises gekommen waren, teilweise zu Fuß oder mit dem Taxi, da der Busverkehr bereits unterbrochen war. Nach Zeitzeugenberichten fanden gar nicht alle Platz, viele verfolgten die Kundgebung über den Stadtfunk auf dem Post- und dem Wilhelmplatz. 172 170 Vgl. Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vor dem MfS Görlitz vom 21.6.1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 285/53, Bd. 1, Bl. 28). 171 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegungen am 17. und 18.6.1953 im Bereich der BDVP Dresden, vom 23.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 60). 172 Vgl. Görlitz: 17. Juni 1953. Bulletin vom 16.6.1959.

286

10.

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

Die Verhängung des Belagerungszustandes

Gegen 14.30 Uhr fanden sich Tausende von Görlitzern und Bewohnern des Umlandes auf dem Obermarkt und in den angrenzenden Straßen ein und warteten auf den Beginn der Nachmittagskundgebung. Die erste Ansage, die per Stadtfunk an sie erging, dürfte so niemand erwartet haben. Kurz vor Beginn der geplanten Kundgebung wurde mehrmals verkündet: „Achtung! Achtung! Bevölkerung von Görlitz, hört her! Der sowjetische Kommandant setzt in Anbetracht der Unruhen die Stadt Görlitz in Belagerungszustand und empfiehlt den Menschen, umgehend auseinander zu gehen. Sämtliche Ansammlungen sind verboten. Verhandlungen können nur im Rathaus mit Delegierten bzw. mit Vertretern geführt werden." 173 Die folgende Durchsage lautete: „Achtung! Achtung! Bevölkerung von Görlitz! Das Stadtkomitee im Rathaus Görlitz gibt bekannt: Die Versammlung, die um halb drei Uhr stattfinden soll, findet nicht statt. Es wird in Anbetracht des Umstandes geraten, daß die Bevölkerung sowie die Arbeiter sich wieder in ihre Betriebe begeben und dann ein Komitee bzw. eine Delegation bilden und diese dann auf das Rathaus kommt und sich zu weiteren Verhandlungen mit dem Bürgermeister bereit erklärt." Danach wiederholte ein Sprecher die Anordnung des sowjetischen Stadtkommandanten. Doch dieses Mal wurde den Görlitzern nicht mehr „empfohlen", sondern „befohlen" auseinanderzugehen. Und wieder verlas ein Sprecher eine angebliche Bekanntmachung des Stadtkomitees, das sich zu diesem Zeitpunkt beim Oberbürgermeister im Rathaus befand. Auch diese Mitteilung war bereits kategorisch, dieses Mal „riet" es nicht, sondern informierte, daß den Arbeitern und der Bevölkerung „befohlen wird", in die Betriebe zu gehen. Danach folgte eine merkwürdige Durchsage, angeblich auch vom Stadtkomitee: „Wir haben soeben mit dem Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, dem Genossen [Hervorhebung: H.R.] Ehrlich, eine Unterredung gehabt und haben folgendes vereinbart: Um 18.00 Uhr sollen sich aus allen Betrieben je zwei Mann in das Zimmer 104 begeben, die das Vertrauen der Arbeiterschaft genießen und mit den heutigen Verhältnissen in keiner Weise belastet sind. Ich spreche hier zu ihnen als unpolitischer Mensch und möchte ihnen den Befehl 1 verlesen, der uns soeben übergeben worden ist." Merkwürdig erschien vor allem die Anrede des Oberbürgermeisters mit „Genosse". Danach erfolgte die Verlesung des Befehls Nr. 1, unterzeichnet vom Chef der Garnison der Stadt Görlitz, Generalmajor Schmyrew, und dem Militärkommandanten der Stadt Görlitz, Gardeoberst Klepikow. „Ab 15.00 Uhr 174 des 17. Juni 1953 wird in der Stadt Görlitz der Belagerungszustand bis zu 173 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz) vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 181); die folgenden Zitate ebd. 174 Im schriftlichen Befehl wird der Beginn des Ausnahmezustandes mit 14.00 Uhr angeben. Vgl. Befehl Nr. 1, An die Streitkräfte der Garnison Görlitz, Görlitz, den 17. Juni 1953, In: SZ, Ausgabe Görlitz, vom 18.6.1953, S. 1.

Die Verhängung des Belagerungszustandes

287

einem besonderen Befehl verhängt. Kategorisch verboten sind: Demonstrationen, Versammlungen und Kundgebungen sowie andere Ansammlungen. Die Tätigkeit der Kinos, Theater und Gaststätten wird ab 21.00 Uhr eingestellt. Der Straßenverkehr ist der Bevölkerung nur in der Zeit von 6.00 bis 21.00 Uhr gestattet. Nach dieser Zeit ist das Betreten der Straßen verboten. Die Übertreter dieses Befehls und der Verordnungen werden nach den Gesetzen des Ausnahmezustandes streng bestraft." 1 7 5 Über den Stadtfunk wurden die Görlitzer aufgefordert, Ruhe zu wahren und keine übereilten Handlungen zu begehen. „Seien sie versichert, daß in der heutigen Besprechung um 18.00 Uhr alles getan wird, damit endlich das Volk zu seinem Recht kommt", verkündete ein Sprecher. Die Ereignisse zwischen 14.30 und 18 Uhr lassen sich schwer rekonstruieren. In den überlieferten Berichten der SED, der Polizei und des MfS finden sich keinerlei Hinweise auf die Nachmittagskundgebung, dagegen gibt es Berichte, die über die Niederschlagung des Volksaufstandes Auskunft geben. Schilderungen auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten gehen davon aus, daß sich die versammelten Görlitzer durch die Verkündung des Ausnahmezustandes zunächst nicht von der Kundgebung abbringen ließen. Stefan Brant beschreibt die Nachmittagskundgebung mit „mehr als 35 0 0 0 Einwohnern" sehr ausführlich. 176 Er geht davon aus, daß die Nachricht über den Ausfall der Kundgebung - über den Stadtfunk verbreitet - fingiert war. Die Urheber vermutet er unter den SED-Funktionären. (In den SED-Unterlagen existieren dafür keine Hinweise. Auch nach der Niederschlagung des Aufstandes brüstete sich kein Funktionär mit dieser Tat.) Brant berichtet, daß die Görlitzer Arbeiter deshalb mit Lautsprecherwagen der Feuerwehr durch die Stadt gefahren seien, um die Information zu verbreiten, daß es bei dem geplanten Treff um 15 Uhr auf dem Obermarkt bleibe. Zeitzeugen erwähnten ebenfalls einen Lautsprecherwagen, der durch Görlitz fuhr. 1 7 7 Brant schildert auch Einzelheiten der Kundgebung. Er zitiert in diesem Zusammenhang aus Reden. Ein Vergleich mit dem Tonbandmitschnitt der Mittagskundgebung ergibt, daß es sich dabei auch um dort gehaltene Reden gehandelt haben könnte. Es ist jedoch unbestritten, daß die nachmittägliche Massenkundgebung trotz des Verbots nach dem Befehl Nr. 1 zunächst begann. Denn Bewohner des Umlandes, so der später zu „lebenslänglich" verurteilte Lothar Markwirth aus Niesky und der zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte Kurt Jäger aus Zodel, berichteten in ihren Gerichtsverfahren darüber, daß sie am Nachmittag die Kundgebung in Görlitz miterlebten und danach in ihre Heimatorte fuhren, um den Geist von Görlitz zu verbreiten. Verwechslungen mit der Mittagskundgebung sind ausgeschlossen, da sich beide erst nach dem Mittag nach Görlitz 175 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Abschrift, Betr.: Sichergestellte Magnetophonbänder (Görlitz) vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 182); die folgenden Zitate ebd. 176 Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 2 2 6 f . 177 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Ermittlungsverfahren über Markwirth und 15 Andere, o . D . (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bd. la, Bl. 184f.).

288

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

begaben. Auch andere Zeitzeugen aus Görlitz erwähnen die Kundgebung am Nachmittag. 1 7 8 Auf dieser Kundgebung müssen mehrere Redner gesprochen haben. Beispielsweise kam eine Frau zu Wort, die im Mai aus Westdeutschland zurückgekehrt war und nun die Herausgabe ihres Kindes forderte; Sie soll die „Massen aufgeputscht" haben. 1 7 9 Auch der Architekt Cammentz, Max Latt und Hermann Gierich ergriffen erneut das Wort. Cammentz gab bekannt, daß die Betriebe die neuen Stadtverordneten bestimmt hätten. Er soll auch den Nachfolger Ehrlichs als Oberbürgermeister, den Arzt Dr. Hütter, vorgestellt haben. Er selbst sei zum Stellvertreter bestimmt worden 1 8 0 . Offenbar quittierten die Versammelten ihre Zustimmung durch Beifallsbekundungen. Brant zitiert aus der Rede des „alten Latt" die nachfolgende Passage: „Görlitzer, ich bin der alte Latt. Seit 1904 habe ich der Sozialdemokratischen Partei angehört. Drei Revolutionen habe ich nun in meinem Leben mitgemacht. Die von 1918, die von 1945 und heute die Revolution vom 17. Juni 1953. Görlitzer, ich muß offen bekennen, das ist die größte Freude meines Lebens, daß ich diesen Tag erleben durfte. Acht fahre lang waren wir gefesselt und geknebelt, acht Jahre lang durften wir nicht so sprechen, wie wir dachten. Nun ist alles vorbei. Die Stunde der Freiheit hat geschlagen. Wir brauchen keine Wahl mehr, denn wer Augen hat zu sehen und wer Ohren hat zu hören, der weiß, wie heute die Bevölkerung der Zone denkt und sich entschieden hat. Die Wahl ist einstimmig ausgefallen und die SED und ihre Funktionäre sollen sich aus dem Staube machen, bevor sie der gerechte Zorn der 18 Millionen trifft. Görlitzer, es lebe die Juni-Revolution von 1953." 181 Der „alte Latt" soll auch die Bildung eines Initiativkomitees zur Gründung der SPD auf der Kundgebung am Obermarkt bekanntgegeben haben. 1 8 2 Da im Protokoll der Mittagskundgebung darauf keine Hinweise vorhanden sind, müßten die Vorbereitungen zur Neugründung der SPD danach erfolgt sein. An anderer Stelle wurde davon gesprochen, daß sich in Görlitz „zwei Komitees der SPD" gebildet hätten. 1 8 3 In einem Bericht des Sekretärs des Rates des Bezirkes Dresden werden weitere Einzelheiten über die Situation nach der Bekanntgabe des Ausnahmebefehls mitgeteilt. 184 Demnach habe sich die Delegation des Schlachthofes, die 178 Vgl. Zeitzeugeninterviews der Autorin. 179 Vgl. MfS Görlitz, Aussagen des Oberbürgermeisters Ehrlich zum 17.6.1953 vom 21.6. 1953 (BStU, ASt. Dresden, AU 2 8 5 / 5 3 , Bd. 1, Bl. 2 8 ) . 180 In einer anderen Quelle wird ein gewisser Schindler als stellvertretende Bürgermeister genannt; vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Berichte über Vorkommnisse in den Städten und Kreisen des Bezirkes Dresden, Juni/Juli 1953 (SächsHStA, BT/RdB, 4 2 0 ) . 181 Zitiert in Brant, Der Aufstand, S. 227. 182 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, vom 2 8 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 10). 183 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 13 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 184 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Görlitz-Stadt vom 19.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 2 9 - 3 3 ) ; die folgenden Zitate ebd., Bl. 32.

Die Verhängung des Belagerungszustandes

289

mit Ehrlich verhandelte, „aus dem Staube gemacht", nachdem das Vorrücken von Polizeikräften und sowjetischen Truppen angekündigt worden war. Eine „neue Gruppe von Rowdys" sei nunmehr aufgetreten. Der Oberbürgermeister sei wieder auf den Obermarkt gegangen, um von dort aus zu sprechen. Ob er diese Absicht verwirklichen konnte, ist nicht bekannt. Als bereits KVP und sowjetische Einheiten anfangs durch Görlitz fuhren, war Ehrlich jedenfalls noch in der Hand des Stadtkomitees. „Rowdys" hätten ihn gezwungen, wieder mit zum Rathaus zu gehen. Das muß gegen 16 Uhr gewesen sein, denn um diese Zeit trafen die ersten militärischen Formationen von außerhalb in der Stadt ein. 1 8 5 Bis 16.15 Uhr hielten die Aufständischen das Görlitzer Rathaus besetzt. Erst eine aus Löbau eintreffende KVP-Einheit beendete diese Besetzung. Als der Oberbürgermeister mit seinen Begleitern vor dem Rathaus erschien, wurde ihm der Zutritt verweigert. Er wurde an die Kommandantur verwiesen. In Begleitung von „Aufrührern" ging er dorthin. Die Kommandantur „befreite" den Oberbürgermeister aus seiner Lage. Unter dem Schutz sowjetischer Soldaten zog er danach wieder ins Rathaus ein. Gegen 18 Uhr trafen weitere sowjetische Einheiten in Görlitz ein. Bis zu diesem Zeitpunkt hielten sich noch Tausende von Demonstranten auf den Straßen und Plätzen auf. Sie verließen erst nach dem Eingreifen der sowjetischen Truppen den Obermarkt. Danach seien „alle Ansammlungen in der Stadt" zerstreut worden. Die Polizei-Einsatzleitung Dresden vermerkte: „Durch das Eintreffen der Sowjetarmee und der KVP wurde der Lenin-Platz in Görlitz von den Demonstranten geräumt und die Gebäude (Kreisleitung und MfS) von den vorgenannten Einheiten besetzt. Das Gebäude der Kreisleitung, des Ministeriums für Staatssicherheit, der Stadtfunk, der Bahnhof und das Gebäude des Rates des Kreises wurden gesäubert und besetzt." 1 8 6 Entlang der Grenze zu Polen wurden Patrouillen eingesetzt. 187 Offenbar befürchteten die Verantwortlichen, daß es zu einer gemeinsamen Aktion von Deutschen und Polen kommen könne. Denn in der Stadt Görlitz und auch in den Grenzdörfern des Landkreises kursierten den Tag über Meldungen, wonach jenseits der Neiße auf polnischer Seite gleichfalls Aufstände im Gange seien. 1 8 8 Sicherlich schlössen die militärischen Führer das nicht völlig aus. Um eine Kontaktaufnahme der Görlitzer mit den Bewohnern auf polnischer Seite zu verhindern, wurden die Grenzsperren und Sicherungsmaßnahmen verstärkt. Gegen 20.20 Uhr meldete das VPKA Görlitz, daß sich die „Lage in der Stadt [...] im allgemeinen etwas beruhigt" 1 8 9 habe. 185 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 97). 186 BDVP Dresden, Einsatzleitung, Bericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 77). 187 Rat des Kreises Görlitz, Aktennotiz, o. D. (SächsHStA, BT/RdB, 4 2 0 ) . 188 Dieses Gerücht erwähnt auch Günter Särchen in seinen Erinnerungen; vgl. Särchen, Ich freue mich, S. 2. 189 BDVP Dresden, Einsatzleitung, Bericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 77).

290

11.

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

Der Aufstand im Görlitzer Umland

In den meisten Ortschaften des Landkreises Görlitz blieb es bis zum Nachmittag des 17. Juni noch verhältnismäßig ruhig. Auf den Feldern und in den Ställen wurde zunächst wie immer gearbeitet. Arbeitspendler aus den umliegenden Dörfern fuhren wie gewohnt zur Frühschicht in die LOWA oder in andere Betriebe nach Görlitz. In Omnibussen und Zügen gab es an diesem Morgen nur ein Thema: Der Streik der Ostberliner Bauarbeiter vom Vortag. 190 Noch ahnte keiner, daß sich wenige Stunden später in Görlitz Aktionen abspielen würden, die die Berliner Ereignisse übertreffen sollten. Schnell verbreitete sich im Umland die Nachricht, daß die Belegschaften der Görlitzer Betriebe streikten und demonstrierten. 191 Einige Dorfbewohner fuhren deshalb in den Mittagsstunden in die Kreisstadt, um sich davon zu überzeugen und dabei zu sein. Da zu diesem Zeitpunkt der Busverkehr bereits ruhte, kamen sie mit dem Motorrad, mit dem eigenen PKW oder mit dem Taxi, manche auch zu Fuß. Unterwegs begegneten ihnen andere Dorfbewohner, die zu Fuß - aus Görlitz kommend - in ihre Dörfer marschierten. Manche verließen fluchtartig die Stadt, um dem „grausamen" Geschehen auszuweichen, wie z. B. die SED-Kreistagsabgeordnete und Vorsitzende der Ständigen Kommission Handel und Versorgung, Frieda Ebhardt aus Ludwigsdorf. Anders war es bei jenen Dorfbewohnern, die an den Protesten in Görlitz teilgenommen hatten. Sie brachten die Nachricht aus erster Hand in ihre Heimatdörfer mit. Allein die Aufzählung jener Orte und Gemeinden, in denen es an diesem Nachmittag oder Abend des 17. Juni 1953 zu öffentlichen Protesten kam, gibt einen Eindruck von der schnellen Ausbreitung des Aufstandes in der Görlitzer Region. Nachweislich hat es in folgenden Dörfern und Gemeinden Aktionen der verschiedensten Art gegeben, und sicherlich ist die Aufzählung nicht vollzählig. 192 In Arnsdorf streikten einige Abteilungen des Granitwerkes, etwa 20 Bauern marschierten zum Granitwerk, um die Belegschaft zu einer Demonstration aufzufordern. In Berzdorf wurde die Grube bestreikt und ein neunköpfiges Streikkomitee gebildet, dem auch der Werkdirektor Dr. Erlbeck angehörte. In Deschka besetzten Einwohner das Gemeindeamt und die LPG, in 190 Vgl. Zeitzeugenberichte aus Görlitz und Umgebung, u. a. „Ein Görlitzer berichtet: 17. Juni 1953 - Mein Todesurteil". In: Oelser Heimatkreisblatt, Nr. 6 / 6 0 , S. 2. 191 Vgl. ausführlich Roth, Der 17. Juni in Görlitz, S. 8 3 ff. 192 Die Nennung dieser Orte erfolgte in nachfolgenden Materialien: BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 ) ; FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Statistik/Berichterstattung, Situationsbericht über die faschistischen Provokationen vom 17.-19.6.1953, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 1 0 ) ; FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Sekretariat, Analyse über die Ereignisse vom 1 7 . / 1 8 . / 1 9 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk Dresden, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 ) ; SED-KL Görlitz-Land, Sekretariat, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers im Kreis Görlitz-Land, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) ; SED-BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, o. D. (SächsHStA, SED, I V / 2 / 4 / 0 6 0 ) .

Der Aufstand im Görlitzer Umland

291

Deutsch-Ossig Angehörige der LOWA Görlitz das Elma-Werk. Ebersbacher stürmten das Gemeindeamt. In Groß Krauscha verbrannten Einwohner Parteiakten der SED, Arbeiter der Bauunion nahmen eine Resolution gegen die Regierung an. In Jauernick wurde das Gemeindeamt gestürmt. In Königshain streikte die Belegschaft des Granitwerkes. Kunnersdorfer Einwohner stürmten das Gemeindeamt und zerstörten dort und in der Schule Bilder, Losungen und Transparente. In Ludwigsdorf wurden ebenfalls das Gemeindeamt und das Dienstzimmer des Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei besetzt, die Belegschaft des Kalkwerkes streikte. Auch in Reichenbach wurde das Gemeindeamt gestürmt, wogegen der Versuch, Sendeanlagen zu besetzen, scheiterte. Darüber hinaus verfaßte die Belegschaft der Bauunion Reichenbach eine gegen die Regierung gerichtete Resolution ebenso wie ihre Kollegen in Hagenwerder, mit denen sie in Verbindung standen. Die Einwohner von Schönau stürmten das Gemeindeamt, die LPG und das Dienstzimmer des Abschnittsbevollmächtigten. Zentendorfer Einwohner unternahmen den Versuch, die Dienststelle der Grenzpolizei zu stürmen, die VP zu entwaffnen und Grenzpfahle zu beseitigen. Die Volkspolizei setzte hier Schußwaffen ein. In Zodel stürmten Einwohner das Gemeindeamt und die LPG. Öffentliche Proteste gab es auch in Gerbigsdorf, Pfaffendorf, Schlauroth und Sohland. In einem Ort des Landkreises soll sich - ebenso wie in Görlitz-Stadt - ein Vorbereitungskomitee zur Gründung der SPD formiert haben. Den Aktionen der Einwohner von Ebersbach, Ludwigsdorf und Zodel wurde in der späteren Berichterstattung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. 1 9 3 In diesen Orten war ein ähnliches Vorgehen der Einwohner wie in Görlitz zu beobachten. Es kam innerhalb weniger Stunden zur Absetzung der örtlichen Staatsfunktionäre und zur Einsetzung neuer Bürgermeister und Gemeindevertretungen. Diese Machtveränderungen in den Landgemeinden vollzogen sich, zumindest nach Darstellung der SED und der Volkspolizei, radikaler als in Görlitz und meist unter Anwendung von Gewalt gegen Personen. So wurden die Bürgermeister von Ludwigsdorf und Zodel tätlich angegriffen. In den Dörfern und Gemeinden kannten die Einwohner ihre „Oberhäupter" in der Regel über Jahre persönlich, die wenigsten waren beliebt. Einige waren „Zugereiste", sie waren mit Parteiauftrag in der Aktion „Industriearbeiter aufs Land" hergekommen und hatten sich insbesondere bei der Gewinnung von Bauern für die LPG „verdient" gemacht. Am 17. Juni sahen nun viele Dorfbewohner die Möglichkeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei kann es vorgekommen sein, daß persönliche Differenzen gleich mit ausgetragen wurden. In der Gemeinde Ebersbach begannen die Auseinandersetzungen am 17. Juni damit, daß ein CDU-Mitglied eine Gemeindevertretersitzung ein-

193 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP Dresden, 23/18, Bl. 97).

292

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

berief. 1 9 4 Zu Beginn dieser Sitzung, an der auch der SED-Bürgermeister teilnahm, beantragte ein anderer CDU-Gemeindevertreter die Auflösung der SED und die Neuwahl des Bürgermeisters. Ohne Widerstand räumte der Bürgermeister seinen Platz. 1 9 5 Danach wählte die Gemeindevertretung ein Komitee aus neun Einwohnern, darunter war kein SED-Mitglied, lediglich ein aus der SED Ausgeschlossener. Die Gemeindevertretung beauftragte das Gremium mit der Weiterführung der Amtsgeschäfte. Das gewählte Komitee bestand bis zum Morgen des 18. Juni. Besonders groß war offenbar die Ablehnung des Bürgermeisters und seiner Ehefrau durch die Bevölkerung in Ludwigsdorf. Das Bürgermeister-Ehepaar Ebhardt war 1951 mit Parteiauftrag in der Aktion „Industriearbeiter aufs Land" von Leipzig nach Ludwigsdorf gekommen. 1 9 6 Aus ihrer Leipziger Zeit kannten die Ebhardts den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Görlitz-Stadt, Karl Weichold. Sie hatten sich dort in den zwanziger Jahren im kommunistischen Arbeitersportverein kennengelernt. Ende 1951 übernahm zunächst Frau Ebhardt das Bürgermeisteramt in Ludwigsdorf - sie war zu diesem Zeitpunkt im Bezirk Dresden die einzige weibliche Amtsinhaberin. Im Mai 1953 wurde ihr Mann ihr Nachfolger. Die Ortschaft Ludwigsdorf lag zwölf Kilometer von Görlitz entfernt und hatte damals rund 1 8 0 0 Einwohner, die meisten Vertriebene. Die beiden Leipziger SED-Funktionäre waren besonders ehrgeizig, was das Tempo der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft" betraf. 1 9 7 Dadurch hatten sie sich viele Feinde gemacht. Auch das Kalkwerk Ludwigsdorf wurde von einem Genossen der SED geleitet, der mit Parteiauftrag aus Zwickau gekommen war. Zur SED-Wohnparteiorganisation Ludwigsdorf und zur Betriebsparteiorganisation des Kalkwerkes gehörten zusammen etwa 100 Genossen. Auf „Kriegsfuß" stand die Bürgermeisterfrau mit dem evangelischen Gemeindepfarrer Gräfe, der nach ihrer Meinung der „größte Gegner" der politischen Arbeit in ihrer Gemeinde war. Er habe zwar im „Friedensrat" der Gemeinde „zum Schein" mitgearbeitet. Doch am 17. Juni sei er der „größte Hetzer" gewesen. Die nachfolgende Schilderung des Geschehens im Ge194 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 15). 195 Ebd. 196 Vgl. Ebhardt, Frieda, Aufzeichnungen meiner gesellschaftlich-politischen Tätigkeit, o. D. (SächsHStA, SED V 5 / 4 1 7 ) . Dieser Erinnerungsbericht wird im Leipziger Staatsarchiv aufbewahrt, weil das Ehepaar Ebhardt im Jahre 1 9 5 9 wieder nach Leipzig zurückkehrte. Auch alle anderen Aussagen und Zitate über Ludwigsdorf basieren auf dieser Quelle, wenn nicht anders vermerkt. 197 Bereits im April 1 9 5 2 war unter ihrer Mitwirkung eine L P G „Glückauf Wismut" gebildet worden, sie bestand aus sieben Gehöften mit über 1 0 0 ha. Daneben arbeiteten noch zwei sogenannte Großbauern, die ihr Soll ordnungsgemäß erfüllten. Als Abgeordnete des Kreistages sorgten die Ebhardts auch im Landkreis dafür, die „Sollrückstände einzutreiben". Ein Ludwigsdorfer Großbauer saß in Görlitz in Untersuchungshaft. Er gehörte zu denen, die am 17. Juni von Görlitzer Demonstranten befreit wurden.

Der Aufstand im Görlitzer Umland

293

meindeamt Ludwigsdorf beruht, neben den SED-Unterlagen, insbesondere auf einem ausführlichen Lebensbericht jener Bürgermeisterfrau. 1 9 8 Das Bürgermeister-Ehepaar wohnte im 1. Stock des Gemeindeamtes. Gegen 14.30 Uhr begehrten 2 0 bis 30 „Männer mit Knüppeln, Schlapphüte ins Gesicht gezogen", Einlaß in die Wohnung und später ins Bürgermeisteramt. Frau Ebhardt informierte „die Eindringlinge" über den Belagerungszustand und mögliche Folgen. Daraufhin sei ein Teil der Männer abgezogen; ein Landarbeiter, ein ehemaliger Umsiedler, habe sie die Treppe herunter gestoßen, sie mußte ärztlich versorgt werden. Im Gemeindeamt drangen zur gleichen Zeit Einwohner ein und forderten Ebhardt auf, sein Amt niederzulegen. Für seine Nachfolge war der stellvertretende Bürgermeister - ein Mitglied der DBD - vorgesehen. Außerdem sollte er die Soll-Kartei herausgeben. In dieser Kartei waren die Pflichtablieferungen für jeden landwirtschaftlichen Betrieb vermerkt. Der Bürgermeister soll darauf geantwortet haben: „Da müßt Ihr mir schon die Pfoten abhacken, ich bin gewählter Funktionär der Gemeinde, und Ihr seid nicht die Menschen, die das Recht haben, mich abzusetzen." Daraufhin sei ihm ein Pieck-Bild auf den Kopf geschlagen worden. Außerdem wurde das Bürgermeister-Ehepaar von den aufgebrachten Einwohnern aufgefordert, erst einmal das Arbeiten zu lernen. Man wollte sie aufs Rübenfeld „jagen". Der Zorn der Ludwigsdorfer Einwohner galt außerdem dem jungen LPGVorsitzenden, der sehr wenig von der Landwirtschaft und noch weniger von der Führung eines landwirtschaftlichen Großbetriebes verstand. Unter seiner Leitung waren die Felder heruntergekommen. Sie trafen ihn in der LPG nicht an, denn er hatte sich bereits „gut versteckt". Daraufhin zogen die protestierenden Ludwigsdorfer zum Kalkwerk. Die Belegschaft des Kalkwerkes hatte am 17. und 18. Juni vollzählig die Arbeit niedergelegt 199 , auch die Angehörigen der SED-Betriebsparteiorganisation. Sie beteiligten sich am Streik, anstatt „die Lumpen zusammenzuschlagen und in die Kalkschächte oder Mühle zu werfen", erzürnte sich die Bürgermeisterfrau noch Jahre später. Während dieser Aktionen in Ludwigsdorf kamen Angehörige des Rates des Kreises mit dem PKW an. Sie verließen den Ort fluchtartig, nachdem ihr Auto hätte umgekippt werden sollen. Das Bürgermeister-Ehepaar ging an diesem Abend mit einer Axt und einem Beil zu Bett. Gegen 21 Uhr „donnerte" es erneut an der Wohnungstür. Mit der bereitgelegten Axt in der Hand öffnete der Bürgermeister schließlich. Vor der Tür standen Grenzsoldaten aus der Löbauer Kaserne. Sie forderten den Bürgermeister auf, mitzukommen und die „Provokateure" zu verhaften. Gemeinsam mit dem LPG-Vorsitzenden und dem Abschnittsbevollmächtigten der Poli198 Vgl. Ebhardt, Aufzeichnungen meiner gesellschaftlich-politischen Tätigkeit (SächsHStA, SED V 5/417). 199 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegung am 17. und 18.6.1953 im Bereich der BDVP, vom 23.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 60).

294

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

zei fuhren sie in die Gasthöfe des Ortes, wo die „Provokateure" zuvor ihre „Freudengelage" gefeiert hätten. In dieser Nacht wurden sieben Ludwigsdorfer festgenommen. Ein weiterer Einwohner - angeblich der „Haupträdelsführer" - konnte sich durch Flucht einer Verhaftung entziehen. Es handelte sich um ein SED-Mitglied. 200 Das Bezirksgericht Dresden verhängte im Juli/August 1953 Zuchthausstrafen bis zu zehn Jahren für mehrere Ludwigsdorfer. Frieda Ebhardt dagegen erhielt eine mehrwöchige Genesungskur nach Bad Brambach verschrieben. Auch in Zodel - einem Dorf mit etwa 1100 Einwohnern - war der SEDBürgermeister Schneider besonders unbeliebt. 201 Zu seiner Funktionsübernahme 1950 hatte er „versprochen", die Bauern in Zodel „umzuerziehen". 202 Mit Vorliebe drohte er damit, Leute einsperren zu lassen. Dabei wurde er vom Sekretär der Ortsparteiorganisation unterstützt, der in einer Aussprache geäußert hatte, wenn er an der Regierung wäre, würde er „viele Zuchthäuser bauen lassen". Das führte bei den Dorfbewohnern verständlicherweise zu großer Verbitterung. Auch hier sollte der LPG-Vorsitzende wegen fachlicher Unfähigkeit ersetzt werden. Am 17. Juni sah man die Chance, diese Leute zu entfernen. Einige Einwohner der Gemeinde Zodel waren gegen Mittag des 17. Juni nach Görlitz gefahren, nachdem sie von den Protestaktionen gehört hatten. Unter ihnen waren auch der Leiter der Bäuerlichen Handelsgenossenschaft in Zodel, Kurt Jäger, und der Landwirt Willi Michel. Sie nahmen an der Nachmittagskundgebung auf dem Obermarkt teil. Auf dem Heimweg erfuhren sie von der Absetzung des Bürgermeisters in Ludwigsdorf und der Wahl eines neuen Gemeindeoberhauptes. Das Vorgehen der Görlitzer und Ludwigsdorfer ermutigte sie, ihren unbeliebten SED-Bürgermeister und den unfähigen LPG-Vorsitzenden gleichfalls loszuwerden. Kurt Jäger und Willi Michel ergriffen die Initiative zur Durchführung eines Demonstrationszuges durch den Ort. Kurt Jäger, Sohn einer angesehenen Landwirtsfamilie, seit 1950 Leiter der BHG, und Willi Michel, privater Landwirt, Vorsitzender der VdgB-Ortsgruppe und als DBD-Mitglied im Gemeinde200 Vgl. SED-BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, o. D. (SächsHStA, SED 1V/2/4/060, Bl. 15). 201 Die nachfolgende Schilderung der Ereignisse in Zodel beruht u. a. auf dem Interview mit Kurt Jäger. Schriftliche Quellen: SED-KL Görlitz-Land, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers im Kreis Görlitz-Land, vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/009); SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; Bezirksvorstand Dresden, Sekretariat, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./ 19.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/3/207); Rat des Kreises Görlitz, Außerordentliche Ratssitzung vom 20.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 142); Staatsanwaltschaft Dresden, Abt. 8, Unterlagen zum Strafverfahren gegen Jäger und andere, unter AZ: 1/341/53. 202 Vgl. DBD Ortsgruppe Zodel, Brief an den Kreisvorstand der DBD Niesky vom 23.6. 1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Abt. 8, Unterlagen zum Strafverfahren gegen läger und andere, AZ; 1/341/53); das folgende Zitat ebd.

Der Aufstand im Görlitzer Umland

295

rat, waren im Dorf hoch angesehen. Deshalb gewannen sie schnell weitere Einwohner für das Vorhaben, in Zodel eine Demonstration zu organisieren und in einem Akt der politischen Willensbildung eine neue Gemeindevertretung zu wählen. Auch zahlreiche Einwohner der Gemeinde, die in Görlitz arbeiteten und am Nachmittag zurückgekehrt waren, machten sofort mit. Gegen 18 Uhr versammelten sich über 700 Einwohner vor dem Gasthaus, um durch den Ort zu marschieren und anschließend auf einer Kundgebung eine neue Gemeindevertretung zu wählen. Der Bürgermeister wollte dieses Vorhaben durch die Bekanntgabe der Verhängung des Ausnahmezustandes verhindern. Doch die Versammelten ließen sich nicht einschüchtern. Ihr Zorn auf den Bürgermeister war nur noch größer geworden, weil er sich jetzt hinter dem Ausnahmezustand versteckte. Sie zwangen den Bürgermeister, an der Demonstration teilzunehmen und sogar an der Spitze des Zuges zu marschieren. Die Demonstranten forderten in Sprechchören die Absetzung des Bürgermeisters, des Schulleiters und der Gemeindevertretung. Darüber hinaus skandierten sie auch allgemeine politische Forderungen: „Wir fordern: eine freie Regierung, die Beseitigung der SED, freie Wahlen, Schlesien zurück, die Absetzung des Abgabesolls, die Gleichstellung aller Bauern, die Rückkehr des Großbauern Enckevort, den Wegfall des Russischunterrichts und der Gesellschaftskunde in den Schulen". 2 0 3 Im Verlauf des Marsches durch ihr Dorf suchten sie weitere Funktionäre auf und zwangen sie zum Mitmarschieren. So gingen der Bürgermeister, der LPG-Vorsitzende, der Schulleiter, der Vorsitzende der DSF und die Pionierleiterin unfreiwillig mit. Sie wurden zwischenzeitlich mit zwei roten Fahnen zusammengebunden und zum Gespött der Einwohner durchs Dorf geschleppt. Der DSF-Vorsitzende mußte ein Stalinbild vor sich her tragen. Im Laufe der Proteste kam es zu einzelnen Gewalttätigkeiten gegen die Funktionäre und zu Sachbeschädigungen. So wurden in den Räumen der LPG, im Schulgebäude und im Gemeinderat Bilder „führender Persönlichkeiten" und „fortschrittliche Losungen" abgerissen, ein Parteibuch der SED und Akten vernichtet. Aus der Wohnung eines FDJ-Funktionärs wurden drei Kleinkalibergewehre geholt und zerschlagen. Auch ein Schaukasten der SED wurde zerstört. In den SED-Berichten wurde festgehalten, daß die Demonstranten Telefonmasten umgestürzt und die Leitungen durchgeschnitten hätten, so daß die Telefonverbindung nach Görlitz gestört war. 2 0 4 Den Aussagen von Beteiligten zufolge stimmt das nicht. Als die Demonstranten wieder am Ausgangspunkt ihres Marsches angekommen waren, wurde ein Tisch aus dem Gasthof geholt, und der Bürgermeister mußte auf ihn steigen und vor den Versammelten Rechenschaft ablegen. Als er 203 Vgl. u.a. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Anklageschrift vom 3.7.1953, (in: Haftsache AZ I 3 4 1 / 5 3 ) (Staatsanwaltschaft Dresden, Verfahren gegen Michel und andere, AZ I 341/53, Bl. 15). 204 Vgl. SED-KL Görlitz-Land, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers im Kreis Görlitz-Land, vom 20.6.1953, S. 5a (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) .

296

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

erneut auf die Widerrechtlichkeit der Veranstaltung hinwies, wurde er vom Tisch gestoßen. Da er verletzt war, kümmerten sich Kurt Jäger und zwei weitere Einwohner um ihn. Danach verkündeten Kurt Jäger und Willi Michel unter dem Beifall der Versammelten, daß der Bürgermeister und die Gemeindevertretung abgesetzt seien. Gegen 21 Uhr gingen die öffentlichen Protestaktionen in Zodel mit der Wahl eines neuen Gemeinderates zu Ende, dem die Landwirte Erich Altmann, Oswald und Willi Michel und der private Fuhrunternehmer Hermann Wübbe angehörten. Letzterer sollte zukünftig auch die LPG leiten. Danach fand im Gasthof eine konstituierende Sitzung des Gemeinderates statt. Auf dieser Sitzung wurde Oswald Michel, CDU-Mitglied, zum neuen Bürgermeister gewählt. Der neue Gemeinderat fertigte ein Beschlußprotokoll an. Dieses Dokument sollte am nächsten Tag dem Rat des Kreises und dem Kreisgericht zur Registrierung übergeben werden. Noch in der Nacht erschienen Einheiten der KVP und verhafteten zunächst Kurt Jäger, Willi Michel und Hermann Wübbe. Willi und Oswald Michel standen bereits seit Jahren unter polizeilicher Beobachtung. Es hatte schon mehrere Versuche der Funktionäre der SED-Ortsgruppe gegeben, den „reaktionären Großbauern" Willi Michel abzusetzen, um seinen Einfluß im Dorf auszuschalten. Offensichtlich waren sie der Kampagne zur sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft und des Dorfes im Wege. Persönliche Differenzen spielten gleichfalls eine Rolle. 205 Nach dem 17. Juni fand sich ein Grund mehr, gegen Michel und andere vorzugehen und sie für Jahre „auszuschalten". Insgesamt wurden 28 Einwohner festgenommen, davon zehn nach kurzer Zeit wieder entlassen. Mehrere Zodeler erhielten langjährige Zuchthausstrafen. 206 Die SED-Kreisleitung Görlitz-Land behauptete später, in Zodel seien insbesondere Großbauern „maßgeblich" an den „Provokationen" beteiligt gewesen. 207 Doch hier wie in Görlitz nahmen alle Schichten der Bevölkerung - Arbeiter, Landarbeiter, Bauern, Angestellte, Handwerker und Intellektuelle - an den Protesten teil. Besonders empört waren die Herrschenden darüber, daß sich „alle Lehrer" beteiligten, obwohl sie „nicht gezwungen wurden, an der Demonstration teilzunehmen, sondern dem Aufruf der faschistischen Provokateure freiwillig gefolgt sind". 2 0 8 Sie sahen sogar zu, „wie ihr Schulleiter von den faschistischen Provokateuren mißhandelt wurde", entrüstete sich der Rat des Kreises Görlitz. Erfreut waren die Funktionäre darüber, daß der Pfarrer aus Zodel - im Gegensatz zu seinem Amtsbruder aus Ludwigsdorf - während dieser „Provokationen" zu Hause geblieben sei. 2 0 5 Vgl. ebd., S. 2f. 2 0 6 Eine ausführliche Schilderung des Gerichtsverfahren gegen Michel und fünf weitere bei: Roth, Im Parteiauftrag, S. 7 6 - 1 3 5 . 207 Vgl. SED-KL Görlitz-Land, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers im Kreis Görlitz-Land, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 11 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 2 0 8 Rat des Kreises Görlitz, Außerordentliche Ratstagung vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BT/RdB, 1421).

Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky

12.

297

„Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky 2 0 9

Auch in der benachbarten Kreisstadt Niesky kam es zu größeren öffentlichen Protesten, die in der „Sächsischen Zeitung" als „ungeheuerliche Ausschreitungen" diffamiert wurden. 210 Manfred Hagen charakterisierte die Vorgänge in der Stadt als „eine bürgerkriegsähnliche Situation". 211 Niesky, eine Kleinstadt mit damals rund 8 000 Einwohnern, verfügte über zwei Schwerpunktbetriebe, den VEB LOWA und den VEB Stahlbau Niesky. Sie waren die größten Arbeitgeber der Region und beschäftigten zusammen etwa 4 0 0 0 Personen. Die Belegschaft kam zum größten Teil aus ländlichen Gegenden. Ebenso wie in Görlitz setzten sich am frühen Morgen des 17. Juni in Niesky die „Spitzenfunktionäre" zusammen, um über die diffusen Ankündigungen ihrer vorgesetzten Dresdner Dienststellen wegen etwaiger „Unruhen" zu beraten. Hier rief der Dienststellenleiter des MfS, Oberleutnant Schulze, den 1. SED-Kreissekretär und den Leiter des VPKA, Wachta, zu sich. 212 Der MfSChef eilte danach persönlich zur LOWA Niesky und sprach mit der Betriebsparteiorganisation, der Betriebsgewerkschaftsleitung, der Betriebsleitung und dem Betriebsschutz über „durchzuführende Sicherheitsmaßnahmen". Seit dem Morgen des 17. Juni zeigten sich auch im Kreis Niesky erste Anzeichen für öffentliche Proteste. 213 In der SED-Kreisleitung traf die Meldung ein, daß gegen 7.30 Uhr Bauarbeiter der Baustelle Flugplatzbau Bremenhain (700 Beschäftigte) in Gruppen zusammenstünden und in den Streik treten wollten. 214 Deshalb fuhren der MfS-Chef und der 2. SED-Sekretär gegen 8 Uhr nach Bremenhain. Der Parteifunktionär war völlig ahnungslos. Er war nicht einmal über die Ferngespräche aus Dresden informiert. Er hatte lediglich den Auftrag erhalten, mit der Betriebsparteiorganisation und den Bauarbeitern „Beratungen zur Beseitigung angeblicher Mißstände" durchzuführen. 215 In Bremenhain haben beide Funktionäre auch mit Arbeitern diskutiert. Sie waren davon überzeugt, „daß keine ernsthaften Ausschreitungen zu befürchten

209 Vgl. dazu ausführlich Roth, Der 17. Juni in Görlitz, S. 91 ff. 210 „Was die Vorgänge in Niesky uns zeigen, Der 17. Juni - das Werk faschistischer Provokateure". In: SZ vom 21.7.1953, S. 2. 211 Hagen, DDR - Juni 53, S. 82. 212 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 11). 213 Brant geht davon aus, daß bereits seit früh in der LOWA, im Stahlbau, im VEB Schulmöbelfabrik und der Konsumgenossenschaft gestreikt wurde; vgl. Brant, Der Aufstand, S. 232f. 214 Vgl. SED-KL Niesky, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers in Niesky und Kreisgebiet, vom 20.6.1953 (SAPMOBArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 61). 215 Vgl. SED-BL Dresden, Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratung mit dem Kreissekretariat Niesky über das Verhalten am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 6 0 , Bl. 23).

298

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

sind". 216 Deshalb meldete der MfS-Chef seinem Dresdner Vorgesetzten: „Es besteht auf Grund der Informationen keine Gefahr." Trotzdem entsandte die SED-Kreisleitung Niesky Instrukteure in die anderen Betriebe. Ebenfalls sollen keine Anzeichen für eine „ernsthafte Gefahr" erkennbar gewesen sein, als der 1. SED-Kreissekretär auf einer Versammlung der Belegschaft in der LOWA die Herabsetzung der Normen auf den Stand vom April 1953 bekannt gab. Für 10 Uhr registrierte der Polizeibericht in der LOWA erneut „eine gewisse Unruhe". 217 Jetzt diskutierten die Arbeiter in kleineren Gruppen. SEDAgitatoren mischten sich darunter, doch sie konnten die „Zusammenballung" nicht verhindern. 218 Gemeint war jene Zusammenkunft von etwa 600 bis 800 Betriebsangehörigen, die sich gegen 11 Uhr auf der Schiebebühne eingefunden hatten. Sie beschlossen, die Arbeit niederzulegen. Die Betriebs- und Parteileitung sowie die Agitatoren versuchten, die Menge am Verlassen des Betriebes zu hindern. Das funktionierte angeblich so lange, bis jemand rief: „Was steht ihr hier noch, in Görlitz demonstriert man!" 2 1 9 Nach Darstellung der Polizei handelte es sich bei dem Rufer um einen Röntgeningenieur aus Leipzig, der angeblich von Berlin über Görlitz nach Niesky gekommen war. 2 2 0 Nun schien er also da zu sein, der „Berliner Agent", auch wenn er aus Leipzig kam. Durch seinen Zwischenruf sei der ganze Betrieb „praktisch zum Stillstand gekommen". 221 Aus MfS-Unterlagen der Bezirksverwaltung Leipzig ist bekannt, daß es sich um den 24jährigen Elektromechaniker Heinz Sachsenröder gehandelt hat, der seit 1952 beim Deutschen Amt für Meß- und Warenprüfung Halle als Röntgenprüfer beschäftigt und seit Monaten in der LOWA-Niesky tätig war. 2 2 2 An jenem 17. Juni wollte er nach zwei Wochen Urlaub seinen Dienst wieder antreten. Deshalb fuhr er mit dem Frühzug von Leipzig nach Niesky, traf gegen Mittag ein und begab sich in die LOWA. Dort diskutierten die Beschäftigten bereits über Streik und Demonstrationen. Sachsenröder hielt vor den Versammelten eine kurze Rede, er informierte sie über die Streiks in Berlin, Leipzig und den Leuna-Werken und forderte freie Wahlen in der DDR. Bereits am Nachmittag fuhr er wieder nach Leipzig zurück, wurde später verhaftet und im Oktober zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wurde vor allem vorgewor216 Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 11). 217 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 101). 218 Vgl. SED-BL Dresden, Informationsbericht vom 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 13/006). 219 Vgl. SED-KL Niesky, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers in Niesky und Kreisgebiet, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 60). 2 2 0 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 101). 221 Ebd., Bl. 102. 2 2 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Aktion 17.6.1953 bis 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (BstU, Ast. Leipzig, Leitung, 251, Bl. 14); vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Sachsenröder, Heinz (BstU, Ast. Leipzig, AU 1 5 3 / 5 5 , Bl. 10); die folgenden Zitate ebd.

Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky

299

fen, „tendenziöse Gerüchte über andere Städte der DDR" verbreitet zu haben, „die den Frieden des deutschen Volkes gefährdeten". Da er als „Spezialkraft" dringend gebraucht wurde, revidierte das Oberste Gericht die Strafe und verkürzte sie auf zwei Jahre. Kurz nach 15 Uhr verließen die Beschäftigten der LOWA - Angehörige der ersten und zweiten Schicht - den Betrieb und marschierten zunächst zum VEB Stahlbau, dessen Belegschaft bis dahin gearbeitet hatte und sich gerade in einer von der Parteileitung einberufenen Versammlung befand. Die LOWA-Belegschaft forderte die Stahlbauer zum Anschluß auf. Gemeinsam marschierten sie zum Stadtzentrum. Auch hier wurden Losungen und Transparente heruntergerissen, so am Rathaus und am Kreisgericht. Beim Anmarsch der Demonstranten verließen einige Mitarbeiter das Rathaus „fluchtartig über den Zaun". 2 2 3 Später begab sich eine vierköpfige Delegation von LOWA-Arbeitern zum Vorsitzenden des Rates des Kreises. Sie trug betriebliche „Fehler und Mängel" vor, beispielsweise ging es um Kündigungen von Betriebsangehörigen und um die Neuwahl der Betriebsgewerkschaftsleitung. 224 Außerdem forderte die Delegation, den Betriebsleiter Kurze abzusetzen - er sollte auf Verlangen der Arbeiter eingesperrt werden - und den früheren Betriebsleiter Hoffmann aus Berlin zurückzuholen. Der Ratsvorsitzende sicherte der Delegation zu, er werde sofort mit der Leitung der LOWA darüber sprechen. Im Gegenzug sollte die LOWA-Delegation für die „Wiederherstellung der Ordnung" in der Stadt eintreten. Gegen Abend erschienen nochmals „einige Jugendliche" vor dem Rathaus, sie hätten „Fenster eingeschlagen und Wandzeitungen heruntergerissen". 2 2 5 Um 19.15 Uhr wies der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Dresden Rudi Jahn den Rat in Niesky zur Zurückdrängung der jugendlichen Demonstranten an: „Wasser einsetzen, keinesfalls in Gebäude eindringen lassen. Nicht schießen!" 2 2 6 In der Version der SED-Kreisleitung Niesky begann der Marsch der LOWAArbeiter und Stahlbauer anfanglich nur unter „wirtschaftlichen Losungen". Den „Beweis" sah sie darin, daß die „Spitze der Demonstration" bereits am Parteigebäude vorbeigezogen sei, bevor „die Mitte des Zuges" die Richtung geändert, nach der Kreisleitung gedrängt und alle anderen Demonstranten mit-

223 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 7 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 224 Vgl. Meldung des Kreises Niesky vom 17.6.1953, 18.50 Uhr (SächsHStA, BT/RdB Dresden, 420); vgl. SED-BL Dresden, Informationsbericht vom 17.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 225 Ebd. 226 Rat des Bezirkes Dresden, Anweisung des Vorsitzenden des Rates des Kreises Niesky, o . D . (SächsHStA, BT/RdB, 420).

300

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

gezogen hätte. 2 2 7 Vor der Kreisleitung wurden Losungen wie: „Stürzt die Regierung" und „Beseitigung der Oder-Neiße-Grenze" skandiert. 2 2 8 Als die Demonstranten vor dem SED-Gebäude am Zinzendorf-Platz standen, versuchte der 1. Kreissekretär - ein junger Mann, der Monate zuvor erst von der Parteihochschule „Karl Marx" gekommen war - , nach seiner späteren Schilderung „die Masse zu beruhigen", doch er sei „ausgegrölt und schließlich tätlich angegriffen" worden. Er habe sich zur Wehr gesetzt, habe dann aber vor dem „brutalen Vorgehen" flüchten müssen. 2 2 9 Er brachte sich im Volkspolizeikreisamt in Sicherheit. 250 Auch andere Funktionäre dachten zuerst an ihre eigene Sicherheit, weniger an die Partei, wofür sie später von der Bezirksparteikontrollkommission getadelt wurden. Ein Mitglied des SED-Kreissekretariats und ein Angehöriger des Betriebsschutzes flüchteten bereits beim Angriff der Demonstranten auf das Gebäude in „die Kellerräume [...] und von da in den Hof, wo es ruhig war". 2 3 1 Dafür mußten sie sich später vor der Bezirksparteikontrollkommission verantworten. Das Volkspolizeikreisamt hatte inzwischen sechs Polizisten zum Schutz der Kreisleitung entsandt. 2 3 2 Das versetzte die Versammelten offenbar noch stärker in Erregung. Sie bewarfen die Volkspolizisten mit Steinen und anderen Gegenständen und gingen zum Sturm auf die örtliche Parteizentrale über. „Einige entschlossene Genossen" 2 3 3 setzten sich zur Wehr, der Betriebsschutz hielt sich zurück. Die Demonstranten drangen in das Gebäude ein, rissen Transparente, Fahnen, Embleme und Bilder herunter und verbrannten sie auf der Straße. Dabei blieb lediglich das Emblem der Sowjetunion verschont. Niesky ging aber nicht wegen der streikenden Arbeiter und der Angriffe von Demonstranten auf das SED-Gebäude in die Aufstandsgeschichte ein, denn solche Aktionen fanden in zahlreichen Städten statt. Die kleine Stadt an der polnischen Grenze zog durch den spektakulären Sturm auf die Kreisdienststelle für Staatssicherheit und die kurzzeitige „Unterbringung" von MfS-Mitarbeitern im Hundezwinger das besondere Interesse der Historiker auf sich.

227 Vgl. SED-KL Niesky, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers in Niesky und Kreisgebiet, vom 20.6.1953 (SAPMOBArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 62). 228 Ebd., Bl. 63. 229 Ebd., Bl. 62. 230 Vgl. SED-BL Dresden, Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratung mit dem Kreissekretariat Niesky über das Verhalten am 17.6.1953, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 6 0 , Bl. 23). 231 BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, vom 28.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 6). 232 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 102). 233 BL Dresden, BPKK, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfalle, vom 28.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 6).

Ungeheuerliche Ausschreitungen " in Niesky

301

Die MfS-Kreisdienststelle Niesky war damals in einem Haus untergebracht, das fünf Eingänge hatte und dessen Garten mit einem sehr niedrigen Zaun umgeben war. In der Dienststelle waren damals 17 Personen tätig, außer dem Dienststellenleiter Oberleutnant Schulze acht operative Mitarbeiter, drei Wachleute, ein Kraftfahrer, zwei Schreibkräfte, ein Hausmeister und eine Reinigungskraft. 2 3 4 Am Morgen des 17. Juni befanden sich insgesamt zwölf Mitarbeiter im Dienst und zum Zeitpunkt des Sturmes zehn im Haus. Bis Mittag glaubten die Staatssicherheits-Leute offenbar nicht daran, daß ihre Dienststelle in irgendeiner Weise gefährdet sein könnte. Der Chef des Hauses schickte noch am frühen Nachmittag die Reinigungskraft außer Haus, um Bockwürste und Bier zu holen. 2 3 5 Zu diesem Zeitpunkt waren bereits „Ausschreitungen" gegen die Kreisdienststelle für Staatssicherheit in Görlitz gemeldet worden. 2 3 6 Gegen 13.55 Uhr traf ein Fernschreiben der Bezirksverwaltung Dresden ein, das die MfS-Mitarbeiter ermahnte, „die Sicherheit der Dienststelle [...] unbedingt zu gewährleisten". Besondere Vorkommnisse sollten sofort der Bezirksverwaltung gemeldet werden. Daraufhin schoben die MfS-Mitarbeiter die „Scherengitter vor die Fenster und Türen". Die Akten wurden in Panzerschränke eingeschlossen. Der Dienststellenleiter verteilte Waffen: acht Pistolen und 45 Schuß Munition. Drei Pistolen blieben im Panzerschrank der Wache und wurden später durch die Demonstranten erbeutet. Gegen 16 Uhr kam die Reinigungskraft mit dem bestellten Imbiß in die Dienststelle zurück. Doch um diese Zeit war den Genossen der Appetit wohl schon vergangen. Denn die ersten Demonstranten waren vor dem Gebäude erschienen, und es wurden immer mehr. Bald standen mindestens 1 2 0 0 Menschen vor der Dienststelle, darunter die Streikenden der LOWA, des Stahlbaus und viele Frauen und Jugendliche. Jetzt erkannte der MfS-Chef des Kreises, daß Gefahr drohte. Auftragsgemäß informierte er die Bezirksverwaltung über die neue Lage. Daraufhin habe er von dort den Befehl erhalten: „Gut aufpassen und Dienststelle unter allen Umständen und mit allen Mitteln verteidigen!" 2 3 7 Beim Herannahen der Demonstranten verteilten sich die Mitarbeiter „zur Verteidigung" im Gebäude, besser: sie „verbarrikadierten" sich in den oberen Stockwerken. Im Laufe der mehrstündigen Auseinandersetzung - sie dauerte bis 19 Uhr - erteilte der Dienststellenleiter keinen Schießbefehl, wofür er sich später zu verantworten hatte. Angehörige des MfS machten im Rück234 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 14). Nach Auskunft der BstU, Ast. Dresden war Schulze im Juni 1953 nicht Dienststellenleiter in Niesky. In allen von der Autorin ausgewerteten Dokumenten von MfS, VP, SED wird er jedoch als Dienststellenleiter genannt. 235 Vgl. Aussage einer Zeugin in der Strafsache gegen Markwirth und 15 Andere vom 13.7. 1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Abt. 8, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 199). 236 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 11); die folgenden Zitate ebd. 237 Ebd., Bl. 12.

302

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

blick drei unterschiedliche Angaben über die Anweisungen ihres Chefs. „Wer hereinkommt, wird umgelegt" über „Nur im Notfall wird geschossen" bis zur Aussage „Es wird nur auf Befehl geschossen". 238 Bereits das verweist auf ein erhebliches Durcheinander in der Dienststelle. Als die Demonstranten die Zäune von allen vier Seiten überstiegen hatten und sich auf dem Grundstück befanden, forderten sie die Insassen des Hauses auf, die Waffen niederzulegen und sich ihnen anzuschließen. Diese lehnten unter Berufung auf „einen dienstlichen Auftrag" 2 3 9 ab. Statt sich den Demonstranten anzuschließen, hielten die MfS-Mitarbeiter ihre Waffenläufe aus den Fenstern und drohten mit dem Schußwaffeneinsatz, falls das Haus gestürmt werde sollte. Offenbar sollten die Demonstranten zunächst abgeschreckt werden. Zeitweilig funktionierte diese Abschreckung, und die Angreifer zogen sich vorübergehend zurück. Immer wieder erscholl der Ruf: „Gebt die politischen Gefangenen frei!". Nach einiger Zeit wurde einem Einwohner von Niesky der Zutritt in das Gebäude gewährt, um nach politischen Häftlingen zu suchen. Wenn sich welche dort befunden hatten, dann waren sie bereits weggebracht worden, denn die Zellen waren leer. Wie in Görlitz glaubten auch die Nieskyer diese Meldung nicht und wollten sich selbst überzeugen. Sie griffen das Gebäude mit Stangen, Holzscheiten, Deichseln und Radspeichen an, die sie sich aus der benachbarten Stellmacherei beschafft hatten. Schließlich gelangten sie in den Keller, in die Garage und in das untere Stockwerk. Die Demonstranten forderten den Dienststellenleiter auf, den Widerstand aufzugeben und das Gebäude zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt kam auch der später als „Haupträdelsführer" bezeichnete Lothar Markwirth, selbständiger Fotografenmeister in Niesky und Rothenburg, zum Ort des Geschehens. Er machte zunächst zwei Aufnahmen vom Sturm auf die Kreisdienststelle. 240 Dann griff er in das Geschehen ein und beteiligte sich an dem Vorhaben, die MfS-Mitarbeiter buchstäblich auszuräuchern. Das geschah zu dem Zeitpunkt, als die Forderung der Demonstranten nach Einstellung des Widerstandes abgelehnt worden war. Die Demonstranten drangen in die Kellerräume ein und legten dort Feuer. Sie zündeten in einer Stehzelle Putzwatte an und breiteten einen alten Gummimantel darüber, so daß sich starker Rauch bildete, ohne daß Gefahr für das Gebäude und das Leben von Menschen bestanden hätte. Verängstigt riefen die MfS-Angehörigen das Volkspolizeikreisamt Niesky um Hilfe, das kurz danach ein Kommando von 18 bis 20 mit Karabinern ausgerüsteten Polizisten schickte. Der Befehl der VP-Einsatzleitung lautete, von der Schußwaffe keinen Gebrauch zu machen. 241 Die Polizisten bahnten sich

238 Ebd., Bl. 13. 239 Ebd., Bl. 12. 240 Der Film wurde bei seiner Verhaftung gefunden und vom MfS beschlagnahmt und entwickel; Untersuchungsvorgang Nr. 88 über Markwirth und 15 Andere, o. D. (BStU, Ast. Dresden, AU, 237/39, Bl. 28). 241 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o. D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 103).

Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky

303

den Weg durch die Menge, um die „Anführer" abzudrängen. Statt dessen drängten die Demonstranten die Volkspolizisten „an die Wand". Das MfS kritisierte dieses Vorgehen der Polizei später als „untaktisch". Der Einsatzleiter forderte die Versammelten auf, das Gelände des MfS zu verlassen, andernfalls würde geschossen. Jetzt griffen die Demonstranten auch die Polizisten an, die daraufhin Warnschüsse abgaben. Als die Demonstranten merkten, daß es sich nur um Platzpatronen handelte, gingen sie erneut zum Angriff über, fetzt zogen sich die Polizisten zurück. Drei verloren den Anschluß an die Gruppe und wurden entwaffnet. Daraufhin setzten sich alle Polizisten ab. In einer Meldung hieß es, sie seien über die Felder „getürmt". 242 Ein Teil der „johlenden Menschenmenge" folgte den fliehenden Polizisten bis zum Polizeikreisamt. Hier versuchten sie, in das Polizeigebäude einzudringen. Ein Grenzpolizei-Kommando von 15 Mann traf vor dem Amt ein. Sie gaben sofort Warnschüsse aus ihren Maschinenpistolen ab und vereitelten den Sturm auf das VPKA Niesky 2 4 3 Bei dieser Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizisten wurden ein Schnellfeuergewehr und ein Karabiner entwendet. Später behauptete das MfS im „Sachstandsbericht", daß die „faschistischen Rowdys" die abgenommenen Waffen benutzt und auf die Volkspolizisten geschossen hätten. 2 4 4 In den Polizeiunterlagen gibt es keine Hinweise darauf, daß Demonstranten die Waffen eingesetzt hätten. Das Gewehr fand sich nicht wieder, der Karabiner wurde zerschlagen aufgefunden. 2 4 5 Als das Feuer im MfS-Gebäude eine starke Rauchentwicklung verursachte, wurde die Feuerwehr von Niesky verständigt. 246 Auch sie wurde überwältigt und kam nicht zum Einsatz. Am Ort verblieben einige Gerätschaften, so eine Feuerwehrspritze. Diese wollten die Belagerer des Gebäudes benutzen, um die MfS-Leute mit Wasser aus dem Haus zu treiben. Doch der Motor sprang nicht an. Auch ein KVP-Grenzkommando von zehn Mann aus Niesky erschien vor dem MfS-Gebäude. Sie hätten sich „in die Diskussion mit den Anführern eingelassen" und sind „dadurch auch abgedrängt worden". Die Demonstranten, die vor dem MfS-Gebäude verblieben waren, nahmen die Flucht der Polizisten mit Genugtuung und Gelächter auf. 247 Die günstigen Umstände ermutigten sie dazu, ihren Angriff auf die Kreisdienststelle zu vollenden. Der Sturm erfolgte von allen Seiten, wobei die Gitter und Fenster mit Brechstangen und Balken aufgebrochen wurden. Nach reichlich zwei Stunden 242 SED-BL Dresden, Informationen des 1. Kreissekretärs der DBD, o. D. (SächsHStA, SED W/2/12/008). 243 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o. D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 103). 244 Vgl. Ermittlungsverfahren über Markwirth und 15 Andere, Sachstandsbericht, vom 1.7.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 237/54, Bd. la, Bl. 194). 245 Ebd. 246 Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o. D. (SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/12/109, Bl. 12); das folgende Zitat ebd. 247 Ermittlungsverfahren über Markwirth und 15 Andere, Sachstandsbericht, vom 1.7. 1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 237/54, Bd. la, Bl. 194); das folgende Zitat ebd.

304

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

gaben die Staatssicherheits-Leute ihren Widerstand auf. Das Gebäude stand jetzt offen. Demonstranten drangen in alle Zimmer ein. Im „Sachstandsbericht" des MfS heißt es dazu: „Nachdem von den faschistischen Banditen die Dienststelle des MfS in Niesky gestürmt wurde, begannen die verbrecherischen Elemente mit der sinnlosen Zerstörung der gesamten Inneneinrichtung." Im Garten wurden die MfS-Mitarbeiter entwaffnet, einem Oberfeldwebel wurden der Karabiner und die Pistole abgenommen. Einige Mitarbeiter wurden geschlagen, ein Oberfeldwebel wurde verletzt. 248 Demonstranten, darunter Lothar Markwirth, sperrten den unverletzten Dienststellenleiter und drei seiner Mitarbeiter in den Hundezwinger ein. Demonstranten bespuckten und beschimpften die Eingesperrten. Markwirth hielt ihnen die Pistole mit den Worten hin: „Das ist Eure Stärke gewesen!" Zum Schluß wurde ihnen eine Schüssel mit Hundefutter vorgesetzt. Am Abend des 17. Juni meldete die SED-Bezirksleitung Dresden dem ZK der SED über die Vorgänge in Niesky: „In der Staatssicherheit ist alles demoliert. Die Genossen [...] sind in den Hundezwinger eingesperrt worden, dort sollten sie ein rotes Fahnentuch auffressen. Markwirth hat sie mit der Pistole bedroht." 2 4 9 Markwirth und andere forderten die Schlüssel zu den Panzerschränken. 250 Als sie nicht herausgegeben wurden, brachen einige Demonstranten Panzerschränke auf. Dabei erbeuteten sie drei Pistolen und Schriftverkehr aus den fahren 1950 bis 1952. Die operativen Vorgänge waren allerdings im Panzerschrank des Dienststellenleiters, der unberührt blieb. In diesem Durcheinander nutzte der SED-Parteisekretär der Dienststelle, der in Niesky wenig bekannt war, die Gelegenheit und „mischte sich unter die Aufrührer", um später vom Ort aus telefonisch das Volkspolizeikreisamt zu verständigen. Gegen 19 Uhr erhielt das KVP-Grenzkommando Niesky, das etwa 200 m vom MfS entfernt stationiert war, den Befehl, „das MfS-Niesky zu entlasten". 251 Daraufhin rückten zehn Mann aus. Um diese Zeit standen noch 400 bis 500 Demonstranten im Garten und auf der Straße. Als das Grenzkommando am Ort des Geschehens erschien, wurde es von Lothar Markwirth aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Er stellte ein Ultimatum von fünf Minuten. Danach forderte er die Anwesenden auf, die Grenzer zu entwaffnen. Diese zogen sich zurück. Der verantwortliche Kommandoführer mußte sich später mit dem Vorwurf auseinandersetzen, nicht von der Schußwaffe Ge248 Nach seinen Aussagen wurde er geschlagen und ihm wurden Haare ausgerissen. Er erlitt Blutergüsse am Kopf, auf dem Rücken und im Knie. Danach war er zwei Wochen dienstunfähig; vgl. MfS Niesky, Erklärung von Hilbricht vom 1.7.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 237/54, Bd. 1, Bl. 27); das folgende Zitat ebd. 249 SED-BL Dresden, Meldung an das ZK der SED (SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/ 5/535). 250 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17. Juni 1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/12/109, Bl. 13); das folgende Zitat ebd. 251 Erklärung der Grenzpolizei, Kommando Grenzbereitschaft Niesky, o. D. (BstU, Ast. Dresden, Untersuchungsvorgang Nr. 8 8 / 5 3 über Markwirth und 15 Andere, AU 237/54, Bl. 166).

Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky

305

brauch gemacht zu haben. Er rechtfertigte sein Verhalten nachträglich: „Wenn es auch möglich gewesen wäre, einige der Schreier niederzuschießen, so hätte doch die Masse nicht mit Panik, sondern mit Angriff reagiert." 252 Eine reichliche Stunde später kam ein Kommando der KVP von Zittau und beendete die Besetzung des MfS-Gebäudes. 253 Gegen 21 Uhr trafen 50 weitere Grenzpolizisten aus Bautzen ein, um die Straßen von Demonstranten zu säubern. 2 5 4 Nach Angaben der Staatssicherheit sind Einsatzkräfte der sowjetischen Kommandantur, die über das VPKA verständigt worden waren, „nicht erschienen". 255 Die SED-Bezirksleitung erklärte dazu nachträglich, daß an diesem 17. Juni in Niesky „für den Verkehr mit der sowjetischen Kommandantur kein Dolmetscher aufzutreiben" war. Im Volkspolizeikreisamt waren an diesem Tage jedoch zwei Dolmetscher anwesend. Auch in einigen Ortschaften des Kreises Niesky kam es zu kleineren und größeren öffentlichen Protestaktionen. Die SED-Kreisleitung Niesky interpretierte diese Vorgänge so: Nach der „Niederschlagung der Streikbewegung in den Betrieben" wurde versucht, „die Aktion auf dem Lande fortzuführen". 2 5 6 An einigen dieser Proteste in den Dörfern und Gemeinden waren LOWAArbeiter aus Niesky beteiligt. In der Gemeinde Geheege wurde das Bürgermeisteramt gestürmt. Der stellvertretende Bürgermeister rief zu einer Versammlung auf, die einen neuen Bürgermeister wählen sollte. 257 In der Gemeinde Klein-Krauscha sangen die Lehrlinge des VEG das Deutschland- und das Schlesierlied. 258 In den Berichten bezeichneten die Leitungen der SED und der Polizei des Bezirkes Dresden Wiesa, Kollm und Rothenburg als „Schwerpunkte" der Aufstandsbewegung im Landkreis Niesky. In der Gemeinde Wiesa setzten in den Abendstunden des 17. Juni Einwohner gewaltsam den Bürgermeister Lange ab. 2 5 9 Zwei LOWA-

252 Ebd., Bl. 167. 253 Vgl. Bericht über die Vorkommnisse am 17. Juni 1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o. D. (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 1 2 / 1 0 9 , Bl. 13). Die BDVP Dresden berichtete dagegen in ihrem Abschlußbericht, daß das Kommando von der Grenzpolizei aus Bautzen gekommen sei. 254 Vgl. SED-BL Dresden, Meldung an das ZK der SED vom 17.6.1953, 20.25 Uhr (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 ) . 255 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 103). 256 SED-KL Niesky, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers in Niesky und Kreisgebiet, vom 20.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 64). 257 Vgl. SED-BL Dresden, Anruf des Rates des Bezirkes, vom 18.6.1953, 11.30 Uhr (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 258 Vgl. SED-BL Dresden, Durchsage des Rates des Bezirkes vom 18.6.1953, 2.40 Uhr (SächsHStA, SED, I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 259 Vgl. ebd.

306

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und Niesky

Arbeiter standen an der Spitze dieser Protestaktion. 260 Im gleichen Ort wurde die LPG angegriffen, die Schweineställe wurden zerstört. 261 In der Gemeinde Kollm fand am 17. Juni eine Demonstration statt, an der etwa ein Viertel der Einwohner teilnahm. Der Organisator dieser Protestaktion war der Ortsgruppenvorsitzende der CDU, der ehemalige selbständige Bäckermeister Gottfried Diener. 262 Diener hatte am 17. Juni bis 15.30 Uhr in Niesky gearbeitet, legte danach die Arbeit nieder und sah sich die Vorgänge an der SED-Kreisleitung an. 2 6 3 Er war entschlossen, in seinem Ort eine Demonstration zu initiieren - mit dem Ziel, den Bürgermeister abzulösen. Dieser war seit 1945 im Amt, seither hatte es ständig Auseinandersetzungen gegeben. Eine Beschwerde an die Kreisverwaltung Niesky war erfolglos geblieben. Deshalb ging man am 17. Juni zur Selbsthilfe über. Diener rief die Einwohner für 20 Uhr zur Demonstration gegen den Bürgermeister auf. Er hob hervor, daß die Aktion nicht gegen die DDR-Regierung oder gegen die Sowjetmacht gerichtet sei. Diener unterrichtete sogar den Abschnittsbevollmächtigten von der geplanten Demonstration, welcher keinerlei Anstalten unternahm, das Vorhaben zu verhindern. Um die verabredete Zeit fanden sich zunächst etwa 30 Einwohner vor der Gaststätte Mitschke ein. Von hier aus zog man durchs Dorf. Gottfried Diener führte den Zug an. Weitere Menschen kamen hinzu, so daß von 550 Einwohnern des Ortes etwa 250 bis 300 teilnahmen. Der Gastwirt Alwin Mitschke sagte später in einer Vernehmung aus, daß er „eigentlich noch nie soviel Menschen im Dorf auf den Beinen gesehen" habe. 2 6 4 Sie zogen an der Wohnung des Bürgermeisters vorbei und forderten ihn auf, sich anzuschließen, was er jedoch ablehnte. Später hielt Diener eine kurze Rede und forderte unter dem Jubel der Menge zur Veränderung der Verhältnisse und zu „Freiheit,

2 6 0 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Niesky vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsHStA, BT/RdB, 1421). 261 Vgl. SED-KL Niesky, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch und die Entwicklung des faschistischen Abenteuers in Niesky und Kreisgebiet, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 65). 2 6 2 Diener betrieb bis 3 1 . 5 . 1 9 5 3 eine private Bäckerei in Kollm und arbeitete ab 1.6.1953 als Sachbearbeiter in der Konsumgenossenschaft in Niesky, weil ihm als Privatem ständig Steine in den Weg gelegt worden waren. Er besaß großes Vertrauen im Dorf, weil er sich sehr aktiv für die Einwohner des Ortes einsetzte. Unter seiner Führung stieg die Mitgliederzahl der CDU-Ortsgruppe seit ihrer Gründung im Jahre 1950 von drei auf 6 0 Mitglieder (1952). Er unterstützte auch die Bildung einer starken CDU-Betriebsgruppe in der Braunkohlengrube „Gute Hoffnung" im Jahre 1951. Bis Anfang 1953 war er stellvertretender Bürgermeister. Gottfried Diener betätigte sich außerdem im Gemeindekirchenrat und in der Nationalen Front und leitete die Sozialkommission des Ortes; vgl. „Die Union", Jg. 1950 bis 1953. 2 6 3 Vgl. u.a. VPKA Niesky, Schlußbericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (BstU, Ast. Dresden, 6166, Bl. 7); eine Kopie des Dokuments wurde der Autorin von Herrn Diener zur Verfügung gestellt; vgl. auch Interview mit Gottfried Diener. 2 6 4 Vgl. VPKA Niesky, Vernehmung eines Zeugen vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BstU, Ast. Dresden, 6166, Bl. 2 6 )

Ungeheuerliche Ausschreitungen" in Niesky

307

Wohlstand und Gerechtigkeit" auf. 2 6 5 Eine erneute Aufforderung an den Bürgermeister, herauszukommen und Rechenschaft abzulegen, blieb unerfüllt. Er hatte sich inzwischen „im Gemeindeamt verbarrikadiert". 266 Daraufhin fragte Diener die Anwesenden, ob sie „diesen Feigling" noch als Bürgermeister haben wollten. 267 Selbstverständlich stimmten die Demonstranten für seinen Rücktritt. Diener teilte den Versammelten mit, daß er in der nächsten Blocksitzung die Absetzung des Bürgermeisters beantragen werde. Danach löste sich die Versammlung auf. Einige Teilnehmer der Demonstration entfernten noch das Bürgermeisterschild und eine Losung zum 1. Mai vor dem Polizeibüro. Personen kamen nicht zu Schaden. Noch in der Nacht wurde ein Polizeikommando von 15 Mann in Kollm eingesetzt. 268 Vier Einwohner wurden in Haft genommen, unter ihnen auch der Kreisvorsitzende der CDU. 2 6 9 Gottfried Diener wurde einen Tag später verhaftet und am 20. Juli vom Bezirksgericht Dresden als „Rädelsführer" wegen Landfriedensbruchs zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. 270 Der Rat des Bezirkes machte später den Gemeindepfarrer Lucka für die „Unruhen" verantwortlich. 271 Er sei bereits in seinem Wohnort Groß-Radisch „offen für den Sturz der Regierung eingetreten." 272 Über die Vorgänge in Niesky habe er sich gefreut. In Rothenburg organisierten Arbeiter der Bauunion Süd-Bremenhain am 18. Juni eine Kundgebung, die vor die Kommandantur der Grenzpolizei führte und die Freilassung von drei Inhaftierten verlangte. Dabei sei die Grenzkommandantur, die zu diesem Zeitpunkt mit neun VP-Angehörigen besetzt war, „gestürmt" worden. 2 7 3 Der Rat des Bezirkes bezeichnete einen „gewissen Wagenknecht" als „Rädelsführer". 274 Der 50jährige Alfred Wagenknecht war selbständiger Fuhrunternehmer, der auch die Milchfuhren der Bauern des Ortes durchführte. Auch er war am 17. Juni um die Mittagszeit in Görlitz und nahm mit seinem LKW einen befreiten Untersuchungshäftling mit. Vier Tage 265 VPKA Niesky, Vernehmung von Gottfried Diener, vom 19.6.1953 (BstU, Ast. Dresden, 6166, Bl. 3). 266 Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Niesky vom 24.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 1421). 267 Vgl. VPKA Niesky, Vernehmung von Gottfried Diener vom 19.5.1953 (BstU, Ast. Dresden, 6166, BL 4). 268 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 103). 269 Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Niesky vom 24.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB, 1421). 270 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Strafsache gegen Gottfried Diener vom 20.6.1953 (BstU, Ast. Dresden, 6166, Bl. 19). Eine Kopie des Dokuments wurde der Autorin von Herrn Diener zur Verfügung gestellt. 271 Vgl. SED-BL Dresden, Information des Rates des Bezirkes vom 18.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 ) . 272 Vgl. FDJ-KL Niesky, Informationsbericht vom 18.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 12/008). 273 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o . D . (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 106). 274 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Niesky vom 24.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB, 1421).

308

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

später lebte Wagenknecht nicht mehr. Er wurde am 20. Juni „wegen Verbrechen nach dem Gesetz zum Schutze des Friedens festgenommen" und in die VP-Haftanstalt Niesky eingeliefert. Am Abend des 21. Juni sei er in seiner Zelle erhängt aufgefunden worden. 275 Am 24. Juni wurde er in seinem Heimatort beigesetzt; die Einwohner wollten aus diesem Anlaß eine Demonstration durchführen. 276 Das vereitelten die Sicherheitskräfte zwar, doch konnten sie nicht verhindern, daß bei der Überführung seiner Leiche in den Heimatort zehn Minuten lang die Glocken geläutet wurden. 277 Wagenknechts Angehörige und Einwohner des Ortes hegten ernste Zweifel an der Selbstmordversion, und selbst die SED-Kreisleitung Niesky vermerkte in einem Informationsbericht unter der Rubrik „Feindliche Argumente": „In Rothenburg und den umliegenden Gemeinden tritt noch stark das Argument auf, daß der von den Staatsorganen festgesetzte Provokateur Wagenknecht aus Rothenburg, der in der Zelle Selbstmord beging, erschlagen worden wäre. Die Genossen in diesen Gemeinden haben nicht die Kraft, diesem Argument wirksam zu begegnen." 278

13.

Ausnahmezustand in Görlitz und Umgebung

„Entscheidend für die Niederschlagung der Arbeitererhebung in Görlitz war letztendlich wie in vielen anderen Orten der DDR der Einsatz sowjetischer Militäreinheiten." 279 So und ähnlich lauten die meisten Urteile über die Ursachen des Scheitern des 17. Juni 1953. Während sich die Bekanntgabe des Belagerungszustandes für den Stadt- und Landkreis Görlitz auf Grund von Tonbandmitschnitten genau terminieren läßt, gibt es für den Kreis Niesky darüber nur annähernde Angaben. Der Ausnahmezustand über diesen Kreis wurde erst nach der Räumung der MfS-Kreisdienststelle gegen 21 Uhr verhängt. Ungeachtet der Androhung strenger Bestrafung bei jeglichen Zuwiderhandlungen stellten die Bewohner von Görlitz und Umgebung ihren Widerstand auch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes nicht sofort ein. Der Protest verlagerte sich aus dem öffentlichen Raum mehr in die Betriebe und Institutionen. Für jene Funktionäre und Machtträger, die an diesem 17. Juni 1953 am Rande einer Niederlage des Systems gestanden hatten und teilweise schon vorübergehend entmachtet waren, bedeutete das militärische Eingreifen der Sowjetunion die Erlösung aus einer peinlichen Situation. Und das nicht nur im übertragenen Sinne, wenn man etwa an die Ereignisse in der MfS-Kreisdienststelle Niesky und die vorübergehende Gefangenschaft einiger Mitarbeiter im Hundezwinger denkt. Doch scheinen sie diese Peinlichkeiten rasch verdrängt 275 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Lageberichte, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/47). 276 Vgl. Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Niesky vom 24.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB, 1421). 277 Vgl. SED-KL Niesky, Bericht vom 24.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 278 SED-KL Niesky, Informationsbericht vom 8.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 4 / 1 1 / 1 0 4 ) . 279 Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 132.

Ausnahmezustand in Görlitz und Umgebung

309

zu haben. Nach dem Aufmarsch militärischer Formationen traten die öffentlich diskreditierten Funktionäre auch in Görlitz und Niesky wieder „mutig" hervor. Mehrere Stunden lang hatten sie um ihre Machtpositionen und um ihr Leben gefürchtet und auf den Einsatz von Militär gegen die Aufständischen gewartet. Aus Görlitz wird berichtet, daß Parteifunktionäre und MfS-Mitarbeiter in die Kaserne der Grenzpolizei flüchteten und sich Filme vorführen ließen, während sowjetisches Militär und bewaffnete Kräfte der DDR ihre Herrschaft wiederherstellten. 280 In den SED- und Polizeiberichten sind nur wenige Aussagen über die zahlenmäßige Stärke und das Vorgehen des sowjetischen Militärs überliefert. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei Dresden vermerkte, daß die Garnison Dresden Verstärkung nach Görlitz schickte. Gemeinsam mit den Einheiten der KVP hätten die „Freunde" ab 18 Uhr „alle Ansammlungen" in der Stadt zerstreut.281 Wie das geschah, bleibt unklar. Den gleichen Angaben zufolge feuerte die sowjetische Armee an diesem 17. Juni in Görlitz nur Warnschüsse ab, und zwar „sechs Feuerstöße". 282 Über Zusammenstöße zwischen Militär und Zivilbevölkerung auf den Plätzen und Straßen von Görlitz nach der Verhängung des Ausnahmezustandes existieren keine verwertbaren Aussagen. In Niesky griffen die Sowjets an diesem Tage überhaupt nicht ein. In der Literatur finden sich ebenfalls nur spärliche Angaben über den Einsatz der sowjetischen Truppen in Görlitz und Umgebung. Auch Torsten Diedrich, der den militärischen Einsatz gegen die Demonstranten von Görlitz und Niesky beschreibt, kann relativ wenig über das Auftreten der sowjetischen Einheiten vor Ort berichten; die Auswertung russischer Quellen war ihm bisher nicht möglich. Er schreibt über den Einsatz sowjetischer Militäreinheiten in Görlitz: „Diese setzten nach Verhängung des Ausnahmezustandes die endgültige Kontrolle über die Stadt und die Umgebung durch. Sie zerschlugen auch die politische Bewegung in Görlitz, indem sie gemeinsam mit Polizei- und KVP-Kräften sofort nach den Köpfen des Aufstandes fahndeten, diese verhafteten bzw. zur Flucht und zum Untertauchen zwangen. Damit scheiterte auch der Aufstand in Görlitz." 2 8 3 Das traf im Prinzip für jede größere Stadt zu, in der es zu Demonstrationen gekommen war. Ferner steht fest, daß Truppen der Kasernierten und der Volkspolizei zum Einsatz kamen, wobei zeitweilig Irritationen über die Marschbefehle auftraten. 284 Diedrich geht davon aus, daß in Görlitz zuerst die Grenzpolizei zu Hilfe gerufen wurde. 285 Gegen 11 Uhr unterrichtete das Volkspolizeikreisamt Görlitz die dortige Grenzbereitschaft über Aktionen in der Stadt, worauf der 2 8 0 Vgl. ebd. 281 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o. D. (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 97). 2 8 2 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Fernschreiben vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 21). 283 Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 132. 2 8 4 Ebd., S. 158. 2 8 5 Ebd., S. 131; das folgende Zitat ebd.

310

Der 17. ¡uni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Kommandeur die Alarmbereitschaft herstellte. Der Einsatzleiter befahl den Grenzern, „zur Rundumverteidigung überzugehen und ein Vordringen der Protestierenden zu verhindern. Wenn notwendig, sei die Waffe in Anwendung zu bringen, zuerst mit Warnschüssen, im Notfall jedoch durch gezielten Schuß". Es kam offenbar zu keiner Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Grenzern und unbewaffneten Demonstranten. Am Nachmittag gelangte auf Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten von Görlitz die Grenzpolizeibereitschaft erneut zum Einsatz. Sie erhielt Verstärkung durch mehrere Kompanien der Volkspolizeibereitschaft Bautzen und der Volkspolizeischule Löbau. Der Einsatz der KVP verzögerte sich in Görlitz um Stunden, weil eindeutige Weisungen aus Berlin ausblieben. Um 12 Uhr, als die Meldungen aus Görlitz für die BDVP Dresden immer bedrohlicher wurden, veranlaßte die Einsatzleitung erste Schritte, um die Görlitzer Polizeikräfte zu unterstützen. Sie setzte eine Kompanie des Wachbataillons in Marsch, die gegen 15 Uhr in Görlitz eintraf. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei versuchte in mehreren Anläufen, die KVP zur Verstärkung nach Görlitz zu entsenden, aber das war, wie auch aus anderen Städten bekannt, aufgrund der Befehlsstruktur eine komplizierte Angelegenheit. Die BDVP Dresden erteilte den Amtsleitern der Volkspolizeikreisämter von Zittau und Löbau den Befehl, sich sofort mit den Standortältesten der KVP in Verbindung zu setzen, um die Entsendung von Kasernierter Volkspolizei nach Görlitz zu erreichen. 286 Die Verantwortlichen der KVP-Standorte Zittau und Löbau ließen jedoch mitteilen, daß sie ohne den Befehl des Standortältesten von Dresden nicht ausrücken dürften. Der Chef der BDVP Dresden setzte sich daraufhin mit diesem in Verbindung und erhielt von ihm die Mitteilung, ohne Befehl aus Berlin sei kein Ausrücken der KVP möglich. Nun wandte sich der Bezirks-Polizeichef an den verantwortlichen sowjetischen Offizier, Oberstleutnant Garaschtschenko. Dieser soll befohlen haben, dem Standortältesten von Löbau mitzuteilen, „daß er auf Anordnung des Hohen Kommissars der UdSSR mit seinen Kräften nach Görlitz auszurücken hat, andernfalls er die volle Verantwortung für alle Ereignisse in Görlitz trägt". 287 Der Befehlshaber von Löbau verweigerte jedoch nach wie vor die Entsendung seiner Truppen. Er ließ den Chef der Dresdener Polizeibehörde erneut wissen, „daß er auf den Befehl von Berlin warte". Erst nachdem sich der Bezirkschef der Volkspolizei mit seiner Hauptverwaltung in Berlin in Verbindung gesetzt hatte, wurde der Befehl zum Ausrücken der KVP nach Görlitz erteilt. Gegen 16.15 Uhr traf die erste Einheit in Görlitz ein, sie kam mit 400 Mann von Löbau und „säuberte" das Rathaus von Demonstranten. 2 8 8 Nach Polizeiangaben sind am 17. Juni insgesamt 700 Angehörige der KVP in Görlitz eingesetzt worden. 2 8 9 286 Vgl. BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 93f.). 287 Ebd., Bl. 93; das folgende Zitat ebd., Bl. 94. 288 Vgl. ebd., Bl. 97. 289 Vgl. BDVP Dresden, Einsatzleitung, Bericht vom 20.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 75).

Ausnahmezustand in Görlitz und Umgebung

311

Dieses Kompetenzgewirr bewirkte, daß die bewaffneten Formationen von außerhalb relativ spät in Görlitz eintrafen und die Aufständischen zumindest einen Zeitgewinn verbuchen konnten, der sie zwar nicht vor der militärischen Niederschlagung des Aufstandes bewahrte, ihnen jedoch die Bildung einer politisch ausgerichteten Bewegung zur Zerschlagung der alten Machtverhältnisse und zur Errichtung einer neuen Stadtverwaltung ermöglichte. Bei Stefan Brant finden sich einige Aussagen zur Besetzung der Stadt Görlitz durch sowjetische Truppen. 2 9 0 Zunächst seien „Straßenpanzer" (offenbar Schützenpanzerwagen) und später zehn T 34 durch die Straßen von Görlitz patrouilliert. In der Nacht seien dann sowjetische Streifen mit umgehängter Maschinenpistole durch Görlitz „getrottet". Die Sowjets hätten jeden Zwischenfall vermieden und seien „bemerkenswert nachsichtig" gewesen. „Die armen Kerle wußten überhaupt nicht, was ihnen geschah, als sie aus den Manöverwäldern herausgeholt und nun hier eingesetzt wurden. So sahen sie auch aus." 291 Es vergingen immerhin mehr als zwei Stunden zwischen der Bekanntgabe des Ausnahmebefehls und dem militärischen Eingreifen sowjetischer Truppen. Manfred Hagen berichtet, daß Einheiten der Sowjetarmee gegen 17 Uhr im Inneren der Stadt auftauchten, zunächst leichte Vorausabteilungen, „wohl Panzerspähwagen", danach „stärkere Kräfte" von mehreren Seiten. 292 Von Bautzen her sei die dort stationierte sowjetische Division in Marsch gesetzt worden. Hagen geht davon aus, daß im Laufe des Abends und der Nacht vom 17. zum 18. Juni der Raum Görlitz „die nach Berlin massivste Truppenkonzentration während der gesamten Erhebung" erlebte. Er führt diese besondere Präsenz „wohl auf die Sorge um die Sicherheit der heiklen Grenze und vielleicht auch um die Ruhe im benachbarten Polen" zurück. 2 9 3 Doch könnte es auch damit zusammenhängen, daß der Aufstand in Görlitz besonders erfolgreich war und knapp ein Drittel der Bewohner sich daran beteiligt hatten. Die starke Militärkonzentration in Görlitz dürfte auch ein Grund dafür gewesen sein, daß sowjetische Truppen an jenem 17. Juni erst nach Beginn der Sperrstunde nach Niesky kamen und bald wieder abzogen. Nach Brant fuhren acht Panzer vom Typ T 34 nach 21 Uhr in Niesky ein und seien später wieder in Richtung Görlitz verschwunden. 294 In der Nacht seien „Sowjets mit umgehängter Maschinenpistole durch die leeren Straßen patrouilliert". Es gab in Görlitz und Umgebung keine standrechtlichen Erschießungen wie etwa in Leipzig. Das sowjetische Militärgericht verurteilte am 19. Juni zwei 290 291 292 293

Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 229; die folgenden Zitate ebd. Särchen, Ich freue mich, S. 3. Vgl. Hagen, Juni - 53, S. 159. In Görlitz und in den Dörfern entlang der polnischen Grenze kursierte an diesem Tage und noch Wochen danach die Nachricht, daß „Partisanenkämpfe in Polen mit dem Ziel der Befreiung Schlesiens" stattfinden würden. Die täglichen Geräusche des in der Nähe von Görlitz gelegenen polnischen Truppenübungsplatzes seien als Gefechtslärm der Partisanenverbände interpretiert worden. Vgl. Rat der Stadt Görlitz, Situationsbericht Nr. 4, Woche vom 18.-24.7.1953, o. D. (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 25). 294 Vgl. Brant, Der Aufstand, S. 233; das folgende Zitat ebd.

312

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

junge Görlitzer Bürger zum Tode: den 20jährigen Stefan Weingärtner und den 24jährigen Herbert Tschirner. Stefan Weingärtner war damals als Autoschlosser tätig. 295 Als er und seine Kollegen erfuhren, daß die Arbeiter der LOWA demonstrierten, schlössen sie sich sofort an. Bewaffnet mit Schraubenschlüsseln und Blechscheren reihten sie sich in den Zug ein, der zum Obermarkt zog. Stefan Weingärtner war auch an der Besetzung der MfS-Kreisdienststelle beteiligt. Er gehörte zur ersten Gruppe, die in das Gebäude eingestiegen war. Später brachten er und andere Jugendliche den verletzten 1. Kreissekretär Weichold und den MfS-Mitarbeiter Henkel zum Arzt und zum „Görlitzer Hof". Weingärtner wurde am Nachmittag des 17. Juni auf dem Obermarkt von einem sowjetischen Offizier festgenommen, zum Oberbürgermeister und später zur Kommandantur gebracht. Ein Sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn am 19. Juni als „einen der aktivsten Provokateure und Haupträdelsführer beim Putsch am 17. Juni in Görlitz" zum Tode. 2 9 6 Im Oktober 1953 wandelte das Tribunal das Urteil in 25 Jahre Arbeitslager um. 2 9 7 Das Militärtribunal verurteilte ihn gemäß Artikel 5 8 - 2 des Strafgesetzbuches „wegen aktiver Beteiligung an der gegenrevolutionären Demonstration, welche auf den Sturz der DDR gerichtet" war. Durch Gnadenentscheid des Präsidenten der DDR wurde das Urteil im Oktober 1956 auf zehn Jahre herabgesetzt. 298 Ende Januar 1963 konnte Stefan Weingärtner nach fast zehnjähriger Haft die Strafvollzugsanstalt Torgau verlassen. 299 Herbert Tschirner war Ingenieur im Konstruktionsbüro der LOWA, Werk I, und hatte sich an den Protestaktionen seines Betriebes beteiligt. Am Nachmittag wählten ihn seine Arbeitskollegen in das Streikkomitee. 300 Durch einen puren Zufall marschierte er zeitweise an der Spitze des Demonstrationszuges. Offenbar war er auf jenen Bildern zu sehen, die MfS-Mitarbeiter und Angehörige der Kriminalpolizei machten und später als Beweismittel verwendeten. Tschirner hatte bereits zuvor in Versammlungen gelegentlich „eine Lippe riskiert" und Kritik an den Zuständen in der DDR geäußert, war aber in Ruhe gelassen worden, weil er, so vermutete er, in der DDR ein bekannter Judosportler war. 301 Doch nach dem 17. Juni spielten solche „Privilegien" keine 295 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Görlitz, Verantwortliche Vernehmung von Stefan Weingärtner am 17.6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 3 2 0 3 / 6 3 , Bl. 9-13). Die Kopien der Unterlagen wurden der Autorin von Weingärtners Schwester zur Verfügung gestellt. 296 StVA Torgau, Beurteilungsblatt Weingärtner, Stefan (BStU, Zentralarchiv, MfS-HA IX, 3687, Bl. 166). 297 Vgl. Auszug aus der Urteilsverkündung des SMT vom 5.10.1953 (BStU, Gefangenenakte, 1/477/56, Bl. 3); das folgend Zitat ebd. 298 StVA Torgau, Beurteilungsblatt Weingärtner, Stefan (BStU, Zentralarchiv, MfS-HA IX, 3687, Bl. 166). 299 Vgl. StVA Torgau, Gefangenenakten Weingärtner, Stefan, o. D. (BStU, Gefangenenakte, 1/477/56, Bl. 122). 300 „Wie war das damals?" BVZ-Gespräch mit Augenzeugen des Volksaufstandes von 1953. In: Badische Volkszeitung vom 16.6.1967. 301 „Ein Görlitzer berichtet: 17. Juni 1953 - Mein Todesurteil". In: Oelser Heimatkreisblatt, Nr. 6 / 8 0 , S. 2.

Ausnahmezustand

in Görlitz und Umgebung

313

Rolle mehr. Noch am Abend des 17. Juni wurde er als „Anführer" von sowjetischen Soldaten und MfS-Mitarbeitern mit gezogener Pistole aus dem Bett geholt, nach Radebeul bei Dresden gebracht und bereits am 19. Juni von einem sowjetischen Militärgericht in einer zehnminütigen Verhandlung „als amerikanischer Geheimdienstmann" zum Tode verurteilt. Die Begründung lautete: Rädelsführer, konterrevolutionäres Verbrechen und Spionage für die USA. 3 0 2 Dieser Vorwurf entbehrte jeglicher Grundlage. Ein Arbeitskollege hatte ihn denunziert. 3 0 3 Man brauchte solche Agentenvorwürfe, um die These vom angeblichen faschistischen Putsch unter Anleitung von amerikanischen und westdeutschen Agentenzentralen zu stützen. Zwei Monate wartete Tschirner auf die Vollstreckung des Todesurteils. Zu Hause hoffte seine Verlobte vergebens darauf, daß er zurückkehren würde, denn sie wollten noch im Sommer heiraten. Dennoch hatte er im Gegensatz zu anderen in der DDR zum Tode Verurteilten „Glück im Unglück": Ende August 1953 wurde sein Todesurteil in 20 Jahre Arbeitslager umgewandelt. Nach zehn Jahren und drei Monaten Haft kaufte ihn die Bundesregierung frei. 3 0 4 Erstaunlicherweise waren - trotz des massiven Aufgebots von Militär - in Görlitz und Umgebung keine Toten und Schwerverletzten zu beklagen. Das ist zum einen dem umsichtigen Verhalten der Aufständischen unter Führung der überbetrieblichen Streikleitung und des Stadtkomitees zu danken, die sich um die friedliche und gewaltlose Veränderung der Verhältnisse bemühten. Die in Görlitz und Niesky von Demonstranten erbeuteten Waffen wurden vernichtet oder nicht gebraucht. Zum anderen unterblieben offenbar Ausschreitungen gegen die sowjetische Kommandantur in Görlitz, so daß sie sich zunächst zurückhielt. Zudem lehnte die sowjetische Kommandantur in Dresden Überlegungen der deutschen Sicherheitskräfte ab, mit Waffengewalt vorzugehen. 3 0 5 Nach Maßgabe der sowjetischen Behörden sollte am 17. Juni Blutvergießen möglichst vermieden werden. 3 0 6 Trotzdem wurden an anderen Orten Menschen getötet oder schwer verletzt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes erhielten jene Funktionäre, die mit Waffengewalt gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen waren, Lob und Anerkennung für „vorbildliches Verhalten". 3 0 7 Dagegen bestrafte die SEDFührung „kapitulantenhaftes Verhalten vor dem Feind". So wurde der 1. SEDKreissekretär von Görlitz, Karl Weichold, von seinen Vernehmern und von der 302 „Vom Tribunal zum Tode verurteilt." In: Die Tageszeitung vom 17.6.1993, S. 12. 303 „Wie war das damals?" BVZ-Gespräch mit Augenzeugen des Volksaufstandes von 1953. In: Badische Volkszeitung vom 16.6.1967. 304 Vgl. Entlassungsschein Tschirner, Herbert, vom 19.9.1963, Bescheinigung nach §10 Abs. 4 des Häftlingsgesetzes, Heidelberg, vom 30.10.1964. Eine Kopie wurde der Autorin freundlicherweise von Werner Heibig, Arbeitskreis 17. Juni, überlassen. 305 BDVP Dresden, Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953, o. D. (SächsHStA, BDVP, 23/18). 306 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 168ff. 307 SED-BL Dresden, Angelegenheit des Genossen Weichold, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/4/060, Bl. 153); das folgende Zitat ebd.

314

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Bezirksparteikontrollkommission heftig attackiert, weil er die Mitarbeiter des MfS zur Beendigung des Widerstandes aufgerufen hatte. Die Genossen kritisierten auch seine ersten Stellungnahmen zu seinem Verhalten vor der MfSKreisdienststelle Görlitz. Weichold war auch im nachhinein davon überzeugt, daß seine Anweisung, nicht auf Frauen und Kinder schießen zu lassen, richtig gewesen war. Der 1. SED-Bezirkssekretär, Hans Riesner, hielt ihm vor: „Der Widerstand, der da war, den hast Du aufgelöst." Der Sekretär für Wirtschaft, Rätzer, fügte hinzu: „Was hättest Du tun müssen. Als Partei, als der Sekretär der Partei, der die Genossen der Staatssicherheit unterstellt sind, mußtest Du ganz anders handeln. Du mußtest den Genossen Mut zusprechen. Du mußtest die Genossen schützen und wenn Du selbst dabei zugrunde gehst." 3 0 8 Wolf, Sekretär für Propaganda und Agitation, später selbst diszipliniert, beschimpfte ihn: „Du sagst [...], es waren Kinder und Jugendliche darunter. Das waren ja die Verbrecher. Ihr seid zu feige gewesen, einen Schuß loszulassen. Ein Schuß hätte vielleicht mehr gewirkt als alles andere." 3 0 9 Der 2. SED-Sekretär Brosselt hielt Weichold sogar das „Beispiel Leipzig" vor: „In Leipzig sind nicht mehr als 25 Schüsse gefallen. Nicht mehr, aber mit Resultat." 310 In einer abschließenden „Feststellung der BPKK" zum Verhalten von Karl Weichold wurde ihm der Vorwurf gemacht, daß er sich vor der MfS-Kreisdienststelle zum „Sprecher der Provokateure machte" und am 17. Juni „den Provokateuren Hilfe und Unterstützung leistete". 311 „Das Verwerfliche" in Weicholds Verhalten vor dem MfS-Gebäude sah die Parteikontrollkommission insbesondere darin, „daß er die Autorität der Partei als 1. Kreissekretär gegenüber den Genossen, die die Absicht hatten, sich zu verteidigen, einsetzte, um sie davon abzubringen [...]. Sein ganzes Verhalten an diesem Tage schädigte nicht nur das Ansehen der Partei, sondern schwächte und lähmte die Kampf- und Schlagkraft der Partei". 312 Weichold wurde aus der SED ausgeschlossen und verlor alle seine Ämter und Funktionen. Auch der spektakuläre Sturm auf die Kreisdienststelle für Staatssicherheit in Niesky verlief ohne Blutvergießen. Nach Meinung der Bezirkszentralen des MfS und der SED hatten die Polizisten und MfS-Mitarbeiter dort versagt, weil sie vor den unbewaffneten Demonstranten die Flucht ergriffen bzw. den Angriff nicht mit Waffengewalt verhindert hatten. 313 Der Chef der MfS-Kreisdienststelle Niesky, Oberleutnant Schulze, wurde wegen „versöhnlerischen Verhaltens" abgelöst. Ihm wurde vorgeworfen, die Anweisung aus Dresden, die Dienststelle „mit allen Mitteln zu verteidigen", mißachtet und das Gebäude 308 309 310 311

Ebd., Bl. 155. Ebd. Ebd., Bl. 156. SED-BL Dresden, Feststellungen der BPKK zu dem Verhalten des Genossen Karl Weichold am 17.6., vom 20.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 130). 312 Vgl. SED-BL Dresden, Beschlüsse zum Verfahren Weichold, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 128). 313 Bericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 in den Kreisdienststellen Görlitz und Niesky, o. D. (SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/12/109, Bl. 13); das folgende Zitat ebd.

Trotz Kriegsrechts weiter Streiks und Proteste

315

„den Aufrührern ohne einen Schuß" überlassen zu haben. „Bei ernstlichem Widerstand mit der Schußwaffe hätte die Dienststelle gegen die Aufrührer gehalten werden können. Von den ca. 1 2 0 0 Personen, welche vor der Dienststelle erschienen, waren die meisten Frauen und Kinder." Allerdings muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 zwei Einwohner der Kreise Niesky und Görlitz, die als sogenannte Rädelsführer verhaftet worden waren, den Tod fanden. Über den angeblichen Selbstmord von Alfred Wagenknecht wurde bereits berichtet. Das zweite Opfer war der 57jährige Oskar Jurke. Er kam auf dem Transport von der Strafanstalt Görlitz in die Untersuchungshaftanstalt Dresden auf mysteriöse Weise „durch Ersticken" zu Tode. Das Obduktionsprotokoll hielt fest: „Tod durch Kohlenmonoxydvergiftung". 314 Die Schuldigen wurden nicht gefunden. Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung wurde 1996 eingestellt.

14.

Trotz Kriegsrechts w e i t e r Streiks u n d P r o t e s t e

Es ist bisher wenig über die Streiks in den Görlitzer Betrieben, vor allem über die Streikleitungen oder -kommissionen, bekannt. Die Quellenlage ist auch jetzt noch sehr dürftig. 3 1 5 In entsprechenden Lageberichten vermeldete die Volkspolizei, daß immerhin in vier Görlitzer Betrieben am 17. Juni Streikleitungen gebildet wurden - nämlich in der LOWA, im VEB EKM, im VEB Polygraph und bei VEB Feinoptik. 316 Die Aufzählung ist offensichtlich unvollständig. Betriebliche Forderungskataloge oder Resolutionen sind kaum überliefert. Das könnte damit zusammenhängen, daß die Betriebsbelegschaften am Morgen des 17. Juni sofort nach Streikbeginn in die Innenstadt marschierten. 80 Prozent der streikenden Görlitzer haben sich nach einem Polizeibericht an den Demonstrationen beteiligt. 317 An den Aktionen in der Innenstadt, vor allem bei der Koordinierung der Mittagskundgebung, waren Angehörige 314 Staatsanwaltschaft Dresden, Einstellungsverfügung zu Ermittlungsverfahren 811 Js 3 5 0 7 2 / 9 4 vom 2 5 . 1 . 1 9 9 6 , vom 9 . 2 . 1 9 9 6 , S.l (Kopie im Archiv der Autorin). Dieses Ermittlungsverfahren beantragte im Jahre 1994 Kurt Jäger. Auch stellte er der Autorin dieses Dokument zur Verfügung. 315 Lediglich über die Vorgänge im Betrieb Energieverteilung Görlitz (EVGö) liegen ausführliche Informationen von Instrukteuren des ZK der SED vor, die nach der 15. ZKTagung über die „Entlarvung der Provokateure des 17.6.1953" Anfang September Bericht erstatteten; vgl. Bericht der Instrukteure Nerger und Queißer über die im Betrieb EVGö eingeleiteten Maßnahmen zur Entlarvung der Provokateure, o. D. (SAMPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 6 2 ) . 316 Vgl. BDVP Dresden, Fernschreiben, Lagebericht über die Vorkommnisse am 17.6. 1953, vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 20). 317 BDVP Dresden, Operativstab, Betr.: Berichterstattung über die Arbeitsniederlegung am 17. und 1 8 . 6 . 1 9 5 3 im Bereich der BDVP Dresden, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 60).

316

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

großer Görlitzer Betriebe beteiligt, allen voran das überbetriebliche Streikkomitee. Wie dieses überbetriebliche Gremium entstand, ist ungeklärt. Zu vermuten ist, daß seine Bildung spontan am Obermarkt erfolgte, indem sich Vertreter der wichtigsten Betriebe zusammenfanden. Angehörige dieser überbetrieblichen Streikleitung leiteten und koordinierten die Kundgebung. Hier fielen die wichtigsten Entscheidungen und hier wurden die Forderungen zur Veränderung der politischen Verhältnisse artikuliert. Meldungen und Berichte von Partei- und Staatsorganen erweckten den Eindruck, daß anfangs soziale, später vor allem politische Forderungen die betrieblichen Proteste bestimmten. Nach der Niederschlagung des Aufstands seien wiederum soziale und dabei vordergründig betriebliche Veränderungen angemahnt worden. 318 Wenn es diesen Übergang von sozialen zu politischen Forderungen tatsächlich gegeben hat, dann war er fließend. Das bestätigen auch Zeitzeugen. So berichtete Herbert Tschirner, 319 daß Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhungen und die Solidarisierung mit den Berliner Bauarbeitern den Ausgangspunkt für den Streikbeschluß in der LOWA gebildet hätten, doch bereits während des Marsches zu den anderen Betrieben und zum Marktplatz seien diese Forderungen durch den Ruf nach höheren Löhnen und Preissenkungen in der HO ergänzt worden. Auf dem Obermarkt habe man dann erstmals gesamtdeutsche Wahlen gefordert. Es gibt auch Berichte über die Versammlung im EKM, wonach bereits dort politische Forderungen, etwa die nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen, dominierten. Der 1. Kreissekretär berichtete, daß er bereits am Morgen auf seinem Wege zur LOWA Plakate gesehen habe, auf denen der Sturz der Regierung gefordert worden sei. 320 Sicherlich hat die Forderung nach Rücknahme der Normenerhöhungen analog zu Berlin eine Rolle gespielt, obwohl - nach einer Übersicht des FDGBBezirksvorstandes Dresden - bis zum 11. Juni noch in keinem Görlitzer Betrieb die vom Ministerrat der DDR per Verordnung angeordnete Normenerhöhung um mindestens zehn Prozent realisiert worden war und demnach die Konsequenzen für die Lohntüten der nach Leistungslohn arbeitenden Beschäftigten noch nicht spürbar waren. 321 Dagegen mußte die LOWA Niesky bereits nach neuen Normen arbeiten. Nachdem die zwei wichtigsten Görlitzer Betriebe - beide Werke der LOWA und der VEB EKM - am Morgen des 17. Juni den Streik initiiert hatten, schlössen sich innerhalb weniger Stunden außer dem Betrieb RFT Görlitz sämtliche

318 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./ 19./6.1953 im Bezirk Dresden vom 20.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 ) . 319 „Vom Tribunal zum Tode verurteilt." In: Die Tageszeitung vom 17.6.1993, S. 12. 320 Vgl. SED-BL, Angelegenheit des Genossen Weichold, o.D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 146). 321 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, I. Bericht über die Durchführung des Beschlusses der 13. Tagung des ZK der SED über die allgemeine Normenerhöhung vom 11.6. 1953, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/12/011).

Trotz Kriegsrechts weiter Streiks und Proteste

317

Betriebe in der Stadt an. 3 2 2 Diese schnelle Ausweitung der Streikbewegung veranlaßte den FDGB-Bezirksvorstand Dresden später zu der Behauptung, daß „die Arbeit des Klassengegners organisiert" gewesen und die „streikenden Arbeiter von Provokateuren verführt" worden seien. Allein die Tatsache, daß diese „verführten Arbeiter" auch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes am folgenden Tag und mehrere Betriebsbelegschaften noch bis zum 19. Juni ihre betrieblichen Proteste fortsetzten, führt diese Konstruktion allerdings ad absurdum. Am 17. Juni streikten nach einer Polizeistatistik im Stadt- und Landkreis Görlitz 12 950 und im Kreis Niesky 2 600 Beschäftigte. 323 Unter den 34 000 Görlitzer Demonstranten seien 10 3 5 0 Streikende gewesen. Drei Betriebe legten am 17. Juni geschlossen die Arbeit nieder: die LOWA, Feinoptik Görlitz und das Kalkwerk Ludwigsdorf. In der KEMA Görlitz und in der Grube Berzdorf beteiligten sich 90 Prozent der Belegschaft, im VEB Polygraph Görlitz 85 Prozent und im EKM Görlitz 75 Prozent. In der Textima Görlitz, im Granitwerk Arnsdorf und im RAW Schlauroth streikten jeweils 60 Prozent der Betriebsbelegschaft, und im Volltuchwerk Görlitz war es die Hälfte. Im Kreis Niesky legten an diesem Tage zwei Betriebe die Arbeit nieder, die LOWA und der Stahlbau. Am 18. Juni befanden sich immerhin noch 11850 Personen aus GörlitzStadt und dem Landkreis im Streik, also 1100 weniger als am Vortag. 3 2 4 Wieder waren es drei Betriebe, die geschlossen die Arbeit verweigerten. Diesmal streikte die Gesamtbelegschaft des VEB Volltuch Görlitz, des VEB Feinoptik Görlitz und im Kalkwerk Ludwigsdorf. Für den Kreis Niesky wurde die Zahl der Streikenden mit 2 245 angegeben. Die Anzahl der bestreikten Betriebe war auf sechs angestiegen. Auch hier befanden sich drei geschlossen im Streik, der Flugplatz Bremenhain, die Basalt-Werke Sproitz und die Tonwerke Weidmannshain. Noch eine weitere Zahl belegt den besonderen Umfang der Streikbewegung in Görlitz und Umgebung: Am 17. und 18. Juni streikten im gesamten Bezirk Dresden 49 977 Personen, in den Kreisen Görlitz-Stadt, Görlitz-Land und Niesky waren es allein 27 6 45. 3 2 5 Damit betrug der Anteil der Streikenden aus diesen drei Kreisen an der Gesamtzahl der Streikenden im Bezirk Dresden mehr als die Hälfte. Eine Aufstellung der SED-Bezirksleitung Dresden über die Ausfallstunden durch Arbeitsniederlegungen macht das besondere Ausmaß der Streiks in Görlitz-Stadt auf andere Weise deutlich. Für

322 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Dresden, Analyse über die Ereignisse vom 17./18./ 19./6.1953 im Bezirk Dresden vom 16.7.1953 (SächsHStA, SED IV/2/3/207, Bl. 52); die folgenden Zitate ebd. 323 Vgl. BDVP Dresden, Operativstab, Berichterstattung über die Arbeitsniederlegungen am 17. und 18.6.1953 im Bereich der BDVP Dresden, o.D. (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 59f.). 324 Ebd., Bl. 62. 325 Vgl. ebd., Bl. 59f.

318

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

den gesamten Bezirk wurden 515 606 Ausfallstunden angegeben, darunter für Görlitz-Stadt 205 638. 3 2 6 Über Demonstrationen wurde in Polizeiberichten für den 18. Juni folgendes festgehalten: 327 In der LOWA und im EKM Görlitz versammelten sich „Menschenmassen" auf dem Werkshof. „Geringe Menschenansammlungen" wurden auf der Berliner- und Salomonstraße gesichtet. Durch das Eingreifen der Sowjetarmee und der KVP seien diese Ansammlungen „zerstreut" worden. Im Kreis Niesky zogen an diesem Tage 350 Demonstranten von Bremenhain nach Rothenburg. Aus der LOWA Niesky wurden ebenfalls „Menschenansammlungen" gemeldet. „Trotz mehrmaliger Aufforderung konnten die Menschenansammlungen nicht zerstreut werden." Über die Stimmung der Bevölkerung wurde am 19. Juni in einem Polizeibericht behauptet: „Die Bevölkerung hat sich beruhigt [...] Alle Betriebe arbeiten wieder." 3 2 8 Die einschlägigen Meldungen der SED weisen dagegen aus, daß auch am Morgen des 19. Juni im Stadt- und Landkreis Görlitz noch einige Betriebe streikten. 329 Es bleibt festzuhalten: Trotz Ausnahmezustands und starker Präsenz militärischer Macht setzen große Teile der Belegschaften ihren Streik fort. Sie beendeten ihn erst, als die sowjetischen Stadtkommandanten den Streikenden mit Erschießungen drohten. 3 3 0 Das war am 18. Juni in Niesky der Fall: Am Morgen erschienen in der LOWA alle drei Schichten gleichzeitig, ohne die Arbeit aufzunehmen. Die Beschäftigten versammelten sich wieder vor der Schiebebühne und forderten die Freilassung von sechs verhafteten Kollegen. SED-Agitatoren und der Einsatz des Betriebsfunks konnten nicht erreichen, daß die Arbeiter an ihre Maschinen gingen. Um 10.50 Uhr erließ der sowjetische Stadtkommandant einen „letzten Befehl": „Alle Arbeiter und Arbeiterinnen nehmen in fünf Minuten die Arbeit wieder auf. Saboteure haben sofort den Betrieb zu verlassen, andernfalls werden sie von der Kommandantur aus dem Betrieb entfernt." Die Streikenden ließen sich zunächst nicht einschüchtern. Trotz dieser Drohung vermerkte das Protokoll um 11.30 Uhr: „Situation sehr ernst, die ersten Schüsse sind gefallen. Warnschüsse! Der Kommandant ist mit einem Panzerspähwagen dort. Kleinere Gruppen von Arbeitern verlassen das Werk und gehen nach Hause." Um 16 Uhr hatte die 326 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 17 (SächsHStA, SED IV/2/12/008). Im Vergleich: Für Leipzig-Stadt nannte die SED-BL 170 000 Ausfallstunden; vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruchs des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o. D. (SÄCHSHSTA, SED IV/2/12/588); die folgenden Zitate ebd. 327 BDVP Dresden, Operativstab, Fernschreiben vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 21). 328 BDVP Dresden, Einsatzleitung, Berichterstattung vom 20.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/18, Bl. 78). 329 Vgl. SED-BL Dresden, Stand der streikenden Betriebe vom 19.6.1953, 9.30 Uhr (SächsHStA, SED I V / 2 / 5 / 0 4 2 , Bl. 209). 330 Vgl. SED-BL Dresden, Information über LOWA-Niesky, o. D. (SächsHStA, SED IV/2/ 12/08, Bl. 88); die folgenden Zitate ebd.

Trotz Kriegsrechts weiter Streiks und Proteste

319

Nachmittagsschicht (Arbeitsbeginn: 15 Uhr) die Arbeit noch nicht aufgenommen. „Um 17.15 Uhr haben sich die Freunde zurückgezogen. Es wird gearbeitet", wurde in einer Information aus Niesky vermerkt. Einzelheiten über die Vorfälle in der Zeit zwischen dem sowjetischen Ultimatum und der Arbeitsaufnahme reichlich sechs Stunden später schildert ein Zeitzeuge folgendermaßen: Die Sowjetsoldaten besetzten den Betrieb mit Panzern, nachdem ihre Anordnung zur sofortigen Wiederaufnahme der Arbeit nicht befolgt worden war. Auch danach sind die LOWA-Arbeiter zusammengeblieben. Sie sangen demonstrativ das Lied: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". „Erst nachdem die Besatzungstruppen von der Waffe Gebrauch machten, zerstreuten sich die Massen, fanden sich aber sofort wieder zusammen und gingen nun nicht mehr auseinander, bis die Forderungen nach Abzug der Besatzungstruppen erfüllt war, und auch dann wurde weiter gestreikt. Am anderen Morgen wurde verkündet, daß jeder, der die Arbeit verweigert, dem Kriegsgericht übergeben und hart bestraft wird." 3 3 1 Diese Drohung erreichte schließlich ihr Ziel: Am 19. Juni arbeiteten im Kreis Niesky wieder alle Betriebe vollzählig. Eine Ausnahme machten Arbeiter des Bauplatzes „Flughafen" in Bremenhain, dort arbeiteten anfangs erst 14 Prozent der Belegschaft. In der LOWA waren an diesem Tage lediglich 70 bis 85 Prozent der Belegschaft anwesend. 3 3 2 Am 19. Juni trat in Görlitz eine ähnliche Situation ein. Zu Beginn der Frühschicht setzten Teile der Belegschaft der LOWA, des EKM und des Kalkwerkes Ludwigsdorf ihren Streik fort. Um 11.30 Uhr war dann folgende Durchsage in den Betrieben zu hören: „Es ist von der Kommandantur der Schießbefehl herausgegeben worden für diejenigen, die die Arbeit nicht wieder aufnehmen, d. h. also gegen die Anstifter in den Betrieben." 3 3 3 Es wurde ein Ultimatum von zehn Minuten gestellt. Diese Drohung bewirkte, daß alle Betriebe in Görlitz ab Mittag wieder arbeiteten. 3 3 4 Während die aktuellen Informationen der SED und der Volkspolizei den Umfang der Streikbewegung, die Fortsetzung der Arbeitsniederlegungen nach der Verhängung des Ausnahmezustandes und die erzwungene Beendigung der Streiks mittels sowjetischer Drohungen noch erkennen lassen, fehlen derartige Aussagen in den späteren sogenannten „Analysen" des ZK der SED und der SED-Bezirksleitung Dresden gänzlich. In der „Analyse" der SED-Bezirksleitung wurde lediglich mitgeteilt, daß in Görlitz-Stadt allein 39 Betriebe mit 16192 Beschäftigten die Arbeit niedergelegt hätten. 3 3 5 Es folgten Angaben über die Ausfallstunden. 331 Die Union vom 16./17.6.1990, S. 3. 332 Vgl. SED-BL Dresden, Information über LOWA-Niesky, o. D. (SächsHStA, SED IV/2/ 12/08, Bl. 88). 333 Rat des Kreises Görlitz, Aktennotiz, vom 19.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 420). 334 SED-BL Dresden, Stand der streikenden Betriebe vom 19.6.1953, 9.30 Uhr (SächsHStA, SED I V / 2 / 5 / 0 4 2 , Bl. 209). 335 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7. 1953, S. 2 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) .

320

Der 17. Juni in den Kreisen Görlitz und

Niesky

Am 19. Juni konnten die SED- und Polizeiberichterstatter sichtlich erleichtert vermerken, daß auch in dieser Region „äußere Ruhe und Ordnung" eingetreten seien. 336 Doch in den Betrieben, insbesondere in jenen, in denen die Arbeitsaufnahme auf Befehl der sowjetischen Kommandantur erzwungen worden war, war noch Wochen und oft Monate danach Unruhe zu verzeichnen. Am 19. Juni 1953 erschien der Sekretär des Rates des Bezirkes, Hofmann, in Görlitz und leitete Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung ein. So sollten sofort 13 t Kunsthonig, 10,6 t Haferflocken, 10 t Grieß und 6 t Weizenmehl produziert und ausgeliefert werden. Die Bereitstellung eines Teils dieser Waren wurde „durch Vorgriff auf das dritte Quartal" ermöglicht. 337 Natürlich versprachen sich die Verantwortlichen davon einen Umschwung in der Stimmung der Bevölkerung. Offenbar konnten und wollten sie auch jetzt nicht begreifen, daß es am 17. Juni nicht nur und nicht einmal vordergründig um die Verbesserung der Versorgungslage gegangen war. Oberbürgermeister Ehrlich entrüstete sich später in einem „Situationsbericht" an den Rat des Bezirkes, daß die verbesserte Warenbereitstellung mit „einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit hingenommen wird". 3 3 8 Noch mehr ärgerte es die Funktionäre, daß die Görlitzer die bessere Versorgung „als Erfolg der Provokationen" des 17. Juni betrachteten. 339 In dieser Atmosphäre war es nahezu unmöglich, die Bevölkerung für die Denunziation von „Provokateuren und Rädelsführern" zu gewinnen.

336 Vgl. u. a. SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17. bis 19.6.1953, vom 19.6.1953, S. 3 (SächsHStA, SED IV/2/12/009); BDVP Dresden, Operativstab, Fernschreiben, Lagebericht vom 19.6.1953 (SächsHStA, BDVP, 23/186, Bl. 21). 337 Rat des Bezirkes Dresden, Bericht über Görlitz-Stadt vom 19.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441). 338 Rat der Stadt Görlitz, Situationsbericht Nr. 3 vom 17.7.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 26). 339 Rat der Stadt Görlitz, Situationsbericht Nr. 2 vom 10.7.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 27).

V.

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

1.

Die Arbeiterschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt im Vorfeld des 17. Juni

Karl-Marx-Stadt war mit 2,3 Mio. Einwohnern der bevölkerungsreichste und am dichtesten besiedelte Bezirk der DDR. 1 Im Jahre 1953 waren 818 730 Bewohner als Arbeiter und Angestellte tätig, soviel wie in keinem anderen Territorium der DDR. 2 Davon arbeitete reichlich die Hälfte in der Industrie, die von traditionellen Zweigen wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der Textil- und Bekleidungsindustrie geprägt war. Neben Karl-Marx-Stadt selbst kannte der Landkreis zwei weitere industrielle Ballungsgebiete: Limbach-Oberfrohna und Burgstädt. Daneben waren vor allem die Kreise Aue, Auerbach, Freiberg, Plauen, Werdau und Zwickau Zentren des Maschinenbaus und der Textilindustrie. Hier war damals auch der größte Teil der Betriebe der SAG Wismut angesiedelt, somit auch der Erzbergbau stark vertreten. So hätten die Konzentration von Menschen auf engstem Raum, die Dominanz der Industriearbeiterschaft und die Streitbarkeit der Wismut-Belegschaft eigentlich erwarten lassen, daß der Bezirk Karl-Marx-Stadt am 17. Juni 1953 mit an der Spitze der Aufstandsbewegung in der DDR zu finden sei. Erst kurz zuvor, am 10. Mai war auf Beschluß des Politbüros des ZK der SED der Stadt Chemnitz - dem „Roten Chemnitz" 3 - der Name von Karl Marx „verliehen" worden. 4 Damit sollte „ein neuer Abschnitt in ihrer Geschichte" beginnen. 5 Die Umbenennung sollte symbolisieren, daß die Stadt „nicht mehr die Stadt der Hartmann, Zimmermann und anderer Ausbeuter, sondern heute die Stadt ist, in der die Werktätigen Herren ihrer Betriebe sind". Die Einwohnerschaft war aus diesem Anlaß zu einer Großkundgebung auf dem damaligen Stalinplatz aufgerufen worden, um ihre Bereitschaft zu zeigen, „den Frieden bis zum Äußersten zu verteidigen, den Kampf für die friedliche Wiedervereinigung unseres Vaterlandes zu verstärken und damit die Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin zu verwirklichen," wie es im Aufruf der Nationalen Front hieß. Etwa 60 000 Einwohner fanden sich ein. 6 Es hätte nun ganz und gar nicht in das Bild der SED-Führung gepaßt, wenn nach dieser Namensverleihung die angeblichen Herren der Betriebe den Aufstand gegen die SED geprobt hätten. Nach dem 17. Juni vermittelte die Partei 1 2 3 4 5 6

Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1956, S. 14ff. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. Handbuch der DDR, S. 123. Vgl. ZK der SED, Mitteilung an die BL der SED vom 23.3.1953 (SächsStAC, SED IV/ 2/3/751). Nationale Front des demokratischen Deutschland, Aufruf der Einwohnerschaft, o. D., S. lf. (SächsStAC, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 5279); die folgenden Zitate ebd., S. 2. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht vom Mai 1953 (SächsHStA, BDVP KarlMarx-Stadt, 2 5 / 3 4 ) .

322

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

daher den Eindruck, die Bevölkerung dieses Territoriums habe „fest an der Seite der SED" gestanden, als in anderen Bezirken Massenproteste stattfanden. Am 26. Juni dankte die SED-Bezirksleitung den Bewohnern des Bezirkes Karl-Marx-Stadt überschwenglich für die „Standhaftigkeit und Treue": „Die Kumpel in Zwickau und Freiberg, die Arbeiterschaft von Karl-Marx-Stadt sowie vielen anderen Städten und Orten unseres Bezirkes bewiesen in jenen Tagen durch ihre hervorragende Produktion, daß die faschistischen Abenteurer nicht mit ihnen rechnen können. Die Werktätigen unseres Bezirkes erteilten dem Gegner eine vernichtende Abfuhr." 7 Der Chef der Volkspolizei KarlMarx-Stadt, VP-Inspekteur Schwager, frohlockte: „Das Verhalten der gesamten Bevölkerung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt hat bewiesen, daß dieser Bezirk mit Recht den Namen des größten Sohnes des deutschen Volkes trägt." 8 Ulbricht behauptete am 30. Juli, daß „die Werktätigen von Karl-Marx-Stadt die Ehre der deutschen Arbeiterklasse gewahrt haben, daß sie fest zur Deutschen Demokratischen Republik gestanden haben, daß sie fest überzeugt sind, daß der einzige Weg, um zu einem besseren Leben zu kommen, die Stärkung der Staatsmacht der DDR ist, die Durchführung der Generallinie". 9 Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit konstatierte lediglich nüchtern, es sei „für den Bezirk Karl-Marx-Stadt charakteristisch" gewesen, „daß es im wesentlichen ruhig blieb und es keine Ausschreitungen oder Provokationen größerer Art" gab. 10 Ähnlich registrierte das ZK der SED für den Bezirk Karl-Marx-Stadt „keine wesentlichen Provokationen, Arbeitsniederlegungen oder Demonstrationen". 11 Bemerkenswert ist die Situationsbeschreibung durch den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, der bereits am 19. Juni feststellte: „Im Verhältnis zur Gesamtsituation [Hervorhebung H.R.] kann die Lage im Bezirk Karl-MarxStadt als ruhig bezeichnet werden." 1 2 Von hier aus muß das Geschehen im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt beurteilt werden. Hier gab es in jenen Juni-Tagen tatsächlich keine Aktionen oder öffentliche Proteste, die denen in den beiden anderen sächsischen Bezirken vergleichbar gewesen wären, obwohl die Krisensymptome im Vorfeld und die Bereitschaft zum Widerstand gegen die SED-Politik ebenso ausgeprägt waren. Allein die Feststellung, daß der Bezirk Karl-Marx-Stadt am weitesten von Berlin entfernt war, reicht als Erklärung für dieses Phänomen kaum aus. 13 7 8 9 10

11

12 13

Zitiert in Chronik der Aktivisten-, Wettbewerbs- und Neuererbewegung, S. 118. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 155). SED-BL Karl-Marx-Stadt, Parteiaktivtagung vom 3 0 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 2 / 4 , Bl. 85). BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen vom 1 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk Karl-MarxStadt, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz XX-301, Bl. 1). ZK der SED, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 1 6 . - 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, IV/ 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 19). Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Situationsbericht über die Lage im Bezirk KarlMarx-Stadt vom 19.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 133.

Zur spezifischen Problemsituation im Bezirk Karl-Marx-Stadt

2.

323

Z u r s p e z i f i s c h e n P r o b l e m s i t u a t i o n im Bezirk K a r l - M a r x - S t a d t

Der Monat Juni begann im Bezirk Karl-Marx-Stadt mit vereinzelten Streikaktivitäten in jenen Betrieben, in denen die Werktätigen angeblich das Sagen hatten. So legten Belegschaften aus Protest gegen die erhöhten Normen in Karl-Marx-Stadt und Umgebung für mehrere Stunden die Arbeit nieder, so im VEB Schleifmaschinenwerk, im VEB Nagema und im VEB Spinnereimaschinenbau. 1 4 Diese Arbeitsniederlegungen dauerten in Karl-Marx-Stadt länger als in Leipzig oder Dresden an, vereinzelt erstreckten sie sich bereits über eine ganze Schicht. Daraufhin setzten sich Funktionäre der SED-Bezirksleitung, der Staatssicherheit und der Volkspolizei zusammen, um über die Situation zu beraten. Die Spitzenfunktionäre sahen die Gründe in der „ungenügenden Vorbereitung und ideologischen Aufklärung der Arbeiter sowie in den kategorisch angeordneten Normenerhöhungen seitens der Meister bzw. Betriebsleitungen". Noch vor dem 16. Juni wurden staatliche Leiter fristlos entlassen, die für die Schwierigkeiten in der Normenfrage verantwortlich gemacht wurden. So mußten beispielsweise Anfang Juni in der 1. Chemnitzer Maschinenfabrik Nagema sowohl der Direktor für Arbeit als auch der Abteilungsleiter der Abteilung Arbeitsnormung ihren Hut nehmen. 1 5 Außerdem wurde die Staatssicherheit mit der „alleinigen Ermittlung und Bearbeitung" in den Streikbetrieben beauftragt. 1 6 Daraufhin aktivierte die Staatssicherheit bereits vor dem 17. Juni ihre Arbeit mit den Geheimen Informanten und Geheimen Mitarbeitern in den Betrieben und installierte außerdem sogenannte „Hilfsinformatoren". 1 7 Bevor das MfS Ermittlungsergebnisse vorweisen konnte, verzeichnete es weitere „Vorkommnisse". Am 15. Juni weigerte sich die Belegschaft des VEB Buntsockenwerkes Krumhermersdorf, Kreis Zschopau, die Arbeit aufzunehmen. 1 8 In diesem Betrieb hatten Betriebsgewerkschafts- und Betriebsleitung am Wochenende über die angeordneten Normenerhöhungen beraten, was bereits am Sonntag zur Belegschaft durchgedrungen war. Gewerkschaftsfunktionäre des Kreises Zschopau, die sofort in den Betrieb geschickt wurden, vermuteten eine Absprache im Ort: „Wir sind der Meinung, daß am Sonntag über diese Frage der Normenerhöhung in den Familienkreisen diskutiert [...] und am Montag auf Grund der Diskussionen die Arbeit nicht aufgenommen wor14 15

16 17 18

Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, SSD-Fernschreiben vom 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 2); das folgende Zitat ebd. Vgl. Rat des Stadtkreises Chemnitz, Situationsbericht über die Erhöhung der Arbeitsnormen lt. Ministerratsbeschluß vom 2 8 . 5 . 1 9 5 3 , vom 16.6.1953, S. 2 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 47). BDVP Karl-Marx-Stadt, SSD-Fernschreiben vom 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP KarlMarx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 2). Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Tel. Durchsage der Dienststelle Zschopau am 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-303, Bl. 69). IG Textil-Bekleidung-Leder, Betr.: Arbeitsniederlegung im Buntsockenwerk III, Krumhermersdorf, o . D . , S. lf. (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) .

324

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

den ist." 19 Entrüstet waren sie auch darüber, daß sich Gewerkschaftler aus dem Betrieb an die Spitze der Streikenden gestellt hatten. Im Laufe des Tages kamen weitere Funktionäre aus dem Kreis und Bezirk nach Krumhermersdorf, um an einer Belegschaftsversammlung teilzunehmen. Sie mußten sich scharfe Kritik der Arbeiter gefallen lassen, die von „Lohnraub" und von „schlimmeren Zuständen als bei den Kapitalisten" sprachen. Ein Arbeiter erklärte öffentlich, er würde sich nicht wundern, wenn die Polizei käme und sie „an die Arbeit treibe", 2 0 in diesem Staat sei „alles möglich". Danach beschloß die Staatssicherheit, zwei Hilfsinformatoren aus dem Kreise der Maschinenarbeiter zu gewinnen, um die Rädelsführer zu ermitteln. 21 Offenbar gelang es nicht, die Streiks vor dem 17. Juni geheim zu halten. In einem Brief nach Westberlin, den die Staatssicherheit abfing, hieß es: „In KarlMarx-Stadt haben schon vor 14 Tagen einige Schwerpunktbetriebe bis zu viereinhalb Stunden gestreikt. Der Stein ist im Rollen." 22 Wegen der Sonderversorgung der SAG Wismut war die soziale Situation im Bezirk Karl-Marx-Stadt günstiger als in anderen Territorien. Viele Familien arbeiteten inzwischen für die SAG Wismut und kamen so in den Genuß der besseren Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs. Andere besserten ihre Lage dadurch auf, daß sie Wismut-Beschäftigten Mangelwaren abkauften oder tauschten. Spezifische soziale und politische Belastungen waren für die Bewohner der Region zum einen mit der Ansiedlung des Industriezweiges Erzbergbau verbunden, da die Belegschaft der SAG Wismut, nur eingeschränkt mobil, dabei jedoch sozial privilegiert war. Zum anderen war die Grenzlage des Bezirkes problematisch. Von den 26 Land- und Stadtkreisen des Bezirkes waren zehn Grenzkreise, acht mit einer Grenze zur Tschechoslowakei und zwei - Plauen und Oelsnitz - mit einer zur Bundesrepublik. Der Bezirk wurde durch seine Grenzlage einerseits besonders gefördert, andererseits entstanden damit spezifische Belastungen und Konflikte. Namentlich die Privilegierung der Wismut-Beschäftigten entfachte in der Bevölkerung Sozialneid. In jenen Krisenmonaten hatte er sich weiter verschärft, vor allem deshalb, weil die Wismut-Kumpel Butter und andere Mangelwaren vergeudeten und einen schwunghaften Schwarzhandel betrieben, als für die übrigen Bewohner die Versorgung mit Lebensmitteln bereits immer schlechter wurde. 2 3 Die ungleichmäßige Verteilung von Lebensmitteln innerhalb eines Territoriums verstärkte die traditionelle Abneigung der Einheimischen gegenüber den meist fremden Bergleuten.

19 20 21 22 23

Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Tel. Durchsage der Dienststelle Zschopau am 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-303, Bl. 6 9 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Stimmungsbericht über Provokationen und Ausnahmezustand in Berlin, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 118). Vgl. Roth/Diedrich, „Wir sind Kumpel", S. 2 3 3 .

Zur spezifischen Problemsituation im Bezirk Karl-Marx-Stadt

325

Die Bewegungsfreiheit innerhalb des Bezirkes war durch Wismut-Sperrbezirke, in der Amtssprache „Kreise mit besonderer Ordnung", eingeschränkt. Die einheimische Bevölkerung bezeichnete damals das Wismut-Territorium mit seinen Schlagbäumen, die von sowjetischen Soldaten und DDR-Sicherheitskräften bewacht wurden und nur mit amtlicher Genehmigung zu passieren waren, als „dritte Zone in Deutschland". 24 Selbst Angehörige von WismutBeschäftigten konnten ihre Verwandten nur mit Passierschein besuchen, den sie zuvor beantragen mußten. Der Alltag der Einwohner wurde durch die Sonderregelungen der Wismut-Territorien erheblich erschwert. So waren bei Arztbesuchen und anderen Erledigungen in den Wismut-Kreisen umständliche bürokratische Hürden zu überwinden. Selbst Leichenwagen wurden am Weiterfahren gehindert, wenn sie keine gültige Genehmigung für die Sperrkreise hatten. 25 Auch Kinderferiengruppen wurde der Zugang verweigert, Kultur- und Sportveranstaltungen waren vom Sonderstatus der Wismut-Kreise betroffen. So berichtete der Trainer einer Fußballmannschaft, daß er für die Erteilung von Einreisegenehmigungen in das Wismut-Sperrgebiet zwei volle Tage brauchte, da seine Spieler aus verschiedenen Wohnorten kamen und er demzufolge die Genehmigungen in mehreren Meldestellen beantragen mußte. 2 6 Deshalb forderten Bewohner jener Region, „in der DDR die Einheit" zu schaffen, bevor die Einheit Deutschlands versprochen werde. 27 Hinzu kam, daß die DDR das Grenzregime an der Westgrenze seit Mai 1952 verschärft hatte. 2 8 So erhielten Bewohner der West-Sperrgebiete keine Interzonenpässe mehr. Bürgern der Bundesrepublik wurde die Einreise in diese Territorien gänzlich verweigert, nicht einmal bei Todesfällen konnten sie ihre Verwandten besuchen. Mit „besonderen Vergünstigungen" sollten die Bewohner der Grenzgebiete ruhig gehalten werden. 2 9 So erhielten seit Juni 1952 Arbeiter und Angestellte in volkseigenen Betrieben und in Behörden 15 Prozent Lohn- und Gehaltszuschlag, Rentner 10 Mark Zuschlag. Lohn- und Gehaltsempfänger sowie Rentner bekamen eine Zusatz-Lebensmittelkarte. Für Bauern in den Sperrzonen wurde das Ablieferungssoll erheblich gemindert. Für die landwirtschaftlichen Betriebe, die infolge der verschärften Grenzmaßnahmen einen Teil der Bodenfläche nicht mehr bewirtschaften durften, traten Änderungen im Ablieferungsplan und in der Besteuerung ein. Auch die Steuer für Handwerker und Angehörige freier Berufe wurde um 10 oder 15 Prozent 24 25 26 27 28 29

Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht des Operativstabes vom 23.7.1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 3 8 , Bl. 14). Vgl. Karisch, Allein bezahlt?, S. 139. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht des Operativstabes vom 15.9.1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 3 8 , Bl. 68). Ebd. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Polizei-VO über die Einführung einer besonderen Ordnung an der D-Linie, o.D. (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 25/41, Bl. 63). Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Anordnung über die Vergünstigungen für die an der Grenze zwischen der DDR und den Westzonen wohnende Bevölkerung, o.D. (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 25/41, Bl. 18f.).

326

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

gesenkt. Kinder, die in der Sperrzone wohnten, waren in allen Lehranstalten vom Schulgeld befreit. Zur gleichen Zeit, als diese Vergünstigungen in Kraft traten, wurden Hunderte von Grenzbewohnern, die zuvor von Kommissionen als „kriminell belastet oder staatsfeindlich" eingestuft wurden, in der „Aktion X" zwangsausgesiedelt. 30 Aus den Kreisen Plauen und Oelsnitz betraf das zunächst 548 Einwohner, die insgesamt 1 082 ha Land zurücklassen mußten. 31 Mit der Ausdehnung der SAG Wismut drohte weiteren Bewohnern des Bezirkes der Verlust der Heimat. Unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 begann in Johanngeorgenstadt die Zwangsumsiedlung von Teilen der einheimischen Bevölkerung. Die betroffenen Erzgebirgler wehrten sich im Gegensatz zu anderen Betroffenen in den Räumungsgebieten Freital/Gittersee (Bezirk Dresden) und im Raum Gera. 3 2 Johanngeorgenstädter demonstrierten bereits am 15. Juni 1953 gegen die beginnende Vertreibung. Damit waren sie offenbar republikweit die ersten, die gegen die Politik der SED auf die Straße gingen, bevor dann am 16. Juni und in den Folgetagen öffentliche Protestmärsche in Ostberlin und vielen Städten der DDR folgten. Für den Verlauf des 17. Juni 1953 im Bezirk Karl-Marx-Stadt blieb das nicht ohne Folgen. Die Funktionäre aus dieser Region und die sowjetischen Kommandanten stellten sich früher auf Massenproteste ein, weshalb hier eher als in der übrigen DDR Abwehrmaßnahmen eingeleitet wurden.

3.

Proteste gegen die Zwangsumsiedlung

Johanngeorgenstadt, die kleine Bergarbeiterstadt im Erzgebirge, hatte sich infolge der Ansiedlung und Ausdehnung der SAG Wismut innerhalb kurzer Zeit zu einer mittleren Stadt entwickelt: 1946 waren hier 6 559 Einwohner gemeldet, 1950 bereits 32 870 3 3 1954 stand die 300-Jahrfeier von Johanngeorgenstadt an, aber die Vorfreude wurde erheblich getrübt, da einem Teil der alteingesessenen Einwohner die Zwangsumsiedlung und damit der Verlust der Heimat drohte. Seit Mitte 1951 existierten geheime Pläne, die Altstadt zu räumen, offiziell wurde die „Deformation" durch die Ausdehnung des Wismut-Gebietes als Grund angegeben. 34 Der tatsächliche Grund war aber der, daß unter einem 30 31 32

33 34

Vgl. Polizeidirektion Plauen, Bericht zur Aktion „X" bis zum 5 . 6 . 1 9 5 2 , 13.00 Uhr (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 1 , Bl. 22f.). Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Berichterstattung über durchgeführte Maßnahmen an der D-Linie vom 20.12.1952 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 1 , Bl. 2 5 5 ) . Vgl. Bericht über den Stand der im sächsischen Erzbergbaugebiet durchzuführenden Maßnahmen, Stand 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , S. 2f. (SächsHStA, B T / R d B Karl-Marx-Stadt, Nr. 2 0 3 8 ) . Vgl. Statistisches Jahrbuch der D D R 1955, Berlin 1956, S. 17. Vgl. Brief des Sonderkommissars an das Ministerium für Arbeit und Aufbau der D D R vom 29.11.1951, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2 0 3 8 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Proteste gegen die Zwangsumsiedlung

327

Stadtteil geringe Uranvorkommen entdeckt worden waren. Am 29. November 1951 informierte der Sonderkommissar für Siedlungsfragen im sächsischen Erzbergbau, Kirsten, den Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Aufbau, Wilhelm Mayer, daß 5 600 Menschen im zweiten Halbjahr 1952 „umgesetzt" werden sollten, wovon aus „produktionstechnischen Gründen" 4 500 in Johanngeorgenstadt bleiben müßten. Für sie war der Aufbau eines „neuen Johanngeorgenstadt" vorgesehen. Rentner und Personen, „die nicht in wichtigen Produktionsbetrieben arbeiten", sollten außerhalb Johanngeorgenstadts angesiedelt werden, so im Thüringer Rudolstadt und in Bad Blankenburg. Dort hatte der Sonderkommissar 1953 216 Wohnungen beschlagnahmt. Umziehen sollten demnach gerade jene bodenständigen Johanngeorgenstädter, während die Zugezogenen, die Wismut-Arbeiter, in der Erzgebirgsstadt bleiben durften. In ihrer „neuen Heimat" waren die Johanngeorgenstädter allerdings unerwünscht. So wandte sich der Ratsvorsitzende des Bezirkes Gera, Poser, mit einer Beschwerde an Ministerpräsident Grotewohl: „Wir halten eine Konzentration der umzusiedelnden Familien [...] für bedenklich, da uns inoffiziell bekannt wurde, daß es sich vorwiegend um Kleingewerbetreibende, Einzelhändler, also um kleinbürgerliche Kräfte handelt. Keinesfalls sind wir damit einverstanden, daß eine so große Anzahl von Familien von Johanngeorgenstadt nach Blankenburg kommt, von denen wir nicht vorher wissen, wer sie sind, um politische Unannehmlichkeiten von vornherein auszuschalten." 3 5 Gleichzeitig war die Aussiedlung „deklassierter Elemente" aus dem gesamten Stadtgebiet vorgesehen: Johanngeorgenstadt sollte nach Plänen der SED die erste sozialistische Bergarbeiterstadt der DDR werden. 3 6 Die ersten Dokumente sahen eine „Umsetzung" der Altstadtbewohner zwischen dem 1. August und dem 15. November 1952 vor. 37 Dazu existierten ein detailliertes Programm für den Bau neuer Wohnungen und Folgeeinrichtungen, wie Schulen, Sportplätzen, Polizeistation, sogar einer neuen Kirche, in einer neuen Stadt, die etwa drei bis vier Kilometer von der alten entfernt lag. 38 Die Termine des Umzugs wurden ständig verändert, weil die Baubetriebe die festgesetzten Fristen nicht einhalten konnten. Die betroffenen Personen durften von den Aussiedlungsplänen zunächst nichts erfahren. Die staatlichen Behörden in Johanngeorgenstadt sahen sogar seelenruhig zu, wie jene Hausbesitzer, deren Umsiedlung bereits beschlossene Sache war, Verschönerungs- oder Werterhaltungs- und Reparaturbauten durchführten. Obwohl trotz strengster Geheimhaltung die Umsiedlungspläne nicht verborgen blieben, wurden sie lange Zeit als „Gerüchte" abgetan. 35 36 37 38

Rat des Bezirkes Gera, An den Ministerpräsidenten der D D R vom 22. Juli 1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2 0 3 8 ) . Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Sekretariatssitzung vom 11.11.1952 (SächsStAC, SED IV/2/3/9). Vgl. Brief des Sonderkommissars Kirsten an das Ministerium für Arbeit und Aufbau der D D R vom 29.11.1951, S. lf. (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2 0 3 8 ) . Vgl. Büro des Sonderkommissars für Siedlungsfragen im sächs. Erzbergbaugebiet, Vermerk vom 28.11.1951, S. 1 - 3 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2 0 3 8 ) .

328

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Weil sie von den staatlichen Stellen keine Unterstützung erhielten, wandten sich Bewohner der alten Stadt am 16. Oktober 1952 an den Staatspräsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, mit der Bitte, die geplanten Maßnahmen nochmals zu überprüfen und den Verlust ihrer Heimat abzuwenden. 39 Sie verwiesen auf die wechselvolle Geschichte der Stadt und auf ihre Hoffnungen nach Kriegsende: „Mit dem neuen Bergbau, für den wir alle direkt oder indirekt tätig sind, wollen wir an die alten ehrwürdigen Traditionen anknüpfen, aber wir sind nicht gewillt, nach den vielen Opfern, die wir dem neuen Bergbau bereits gebracht haben, auch noch das Teuerste, was der Mensch hat, die Heimat, preiszugeben [...]. Wir leben in Frieden und haben für den Frieden gekämpft, Felder und Äcker hergegeben, auf Ruhe und Naturschönheiten verzichtet, die Einquartierungen ertragen, und zum Dank will man uns jetzt aus den Häusern jagen. Soll unserer Zeit, die bewußt wie nie zuvor die Prinzipien des Friedens vertritt, vorbehalten sein, das alles zu zerstören? Sind wir nicht alle froh, Kriegszeit und Terror hinter uns zu haben?" 4 0 Antwort erhielten die Johanngeorgenstädter offenbar nicht. Es fand lediglich im November eine Einwohnerversammlung statt. 41 Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits an der neuen Stadt Johanngeorgenstadt gebaut wurde, bestritt der Oberbürgermeister Erdmann immer noch derartige Pläne. Er drohte sogar jedem, der „Gerüchte" von einer Umsiedlung verbreitete, mit Zuchthaus. Wochen später tauchten Mitarbeiter der Räumungskommission bei Hausbesitzern auf, um deren Eigentum zu schätzen. Dabei spielten sich „herzzerreißende Szenen" ab. Der Bürgermeister demütigte die Leute noch, indem er die zu räumenden Häuser als „Buden und Hütten" bezeichnete, um die es nicht schade sei. Auch der 1. SED-Bezirkssekretär, Walter Buchheim, leugnete noch im Oktober 1952 in einer Einwohnerversammlung entsprechende Vorhaben, obwohl das Sekretariat der Bezirksleitung wenige Tage später die Umsiedlung akzeptierte. Es wurde lediglich erbeten, wegen „der Traditionen der Bevölkerung" 42 keine Umsetzungen während der Weihnachtszeit vorzunehmen. Zugleich leiteten die SED-Verantwortlichen Maßnahmen zur „Geheimhaltung" ein: „unbedingt zuverlässige Mitarbeiter" 43 sollten schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet werden. Den lohanngeorgenstädtern versprach der Bezirkssekretär, sich mit Ministerpräsidenten Grotewohl in Verbindung zu setzen und die Be-

39 40 41

42

43

Brief der Einwohner an den Präsidenten, Abschrift, vom 16.10.1952, S. 1 - 3 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2038). Ebd., S. 2. Vgl. „Wann wird Johanngeorgenstadt von seinem Oberbürgermeister erlöst?", Brief der Einwohnerschaft an den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 25.8.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1355); die folgenden Zitate ebd. Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Ergänzungsplan zum Räumungsplan für die Verlagerung eines Teils von Johanngeorgenstadt vom 20.11.1952, S. 2 (SächsStAC, SED IV/2/ 3/751). Ebd., S. 3.

Proteste gegen die

Zwangsumsiedlung

329

völkerung von Johanngeorgenstadt danach zu informieren. Bis zum Frühjahr 1953 war dieses Versprechen nicht eingelöst. 44 Die Termine zur Umsiedlung verzögerten sich durch den schleppenden Wohnungsbau, so daß ständig neue Fristen gesetzt wurden. 4 5 Außerdem gab es über das Tempo der Umsetzung zwischenzeitlich Unstimmigkeiten zwischen den zuständigen deutschen und sowjetischen Regierungsvertretern. Während anfangs die sowjetischen Verantwortlichen auf schnellen Abschluß gedrängt hatten, waren sie es nun, die im Frühjahr 1953 den neuen Termin im April mit dem Argument ablehnten, der Stand der Neubauten lasse eine Verlagerung noch nicht zu. 4 6 Die sowjetischen „Freunde" warnten vor einer Räumung, ohne daß alle Voraussetzungen geschaffen waren, während der Sonderkommissar für Siedlungsfragen ständig dazu drängte. 4 7 Reibereien waren auch zwischen den Spitzenfunktionären des Bezirkes und dem Kommissar für Siedlungsangelegenheiten aufgetreten. Die Termine zur Räumung der Altstadt von Johanngeorgenstadt hatten im Frühjahr 1953 bei den Funktionären vor Ort für Verärgerung gesorgt. In einer Besprechung zwischen Vertretern der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, dem Rat des Bezirkes und der Wismut wurde die Frage diskutiert, „wer überhaupt den Termin festgelegt" habe. 4 8 Außerdem verlangte der 1. Bezirksparteisekretär „festzustellen, wer die Verantwortung für den gesamten Rummel trägt". Er lehnte es sogar ab, weitere Maßnahmen zur Räumung durchzuführen, solange er keine „unmittelbare Information des ZK in der Hand habe". Weil er offenbar aus Parteidisziplin eine derartige Stellungnahme nicht öffentlich machen konnte, galten bei der Bevölkerung die örtlichen Funktionäre weiterhin als verantwortlich. Immer wieder tauchten Gerüchte auf, die zentralen Stellen in Berlin wüßten nichts von den Räumungsplänen. Johanngeorgenstädter verlangten deshalb einen schriftlichen Räumungsbefehl oder die Stellungnahme eines Mitglieds der DDR-Regierung. 4 9 Ende Mai 1953 fand eine Versammlung in Johanngeorgenstadt statt, wo erstmals in der Öffentlichkeit der Beschluß zur geplanten Stadtteilräumung bzw. ein Teil der Pläne bekanntgegeben wurde. 5 0 Die Veranstaltung war so

44 45 46 47 48

49 50

Vgl. An die SED-BL Chemnitz, Betr.: Deformation in Johanngeorgenstadt, o.D., S. 1 (SächsStAC, SED IV/2/3/751). Vgl. Mitteilung Grotewohls an den Stellvertretenden Vorsitzenden der SKK vom 27.11. 1952 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2038). Vgl. Aktenvermerk, Betrifft: Termine, vom 3.8.1953 (SächsHStA, BT/RdB Karl-MarxStadt, Nr. 2038). Vgl. Schriftverkehr des Sonderkommissars mit Grotewohl, S. 1 - 3 (SächsStAC, SED IV/2/3/751). SED-BL Karl-Marx-Stadt, Aktennotiz zur Tätigkeit des Sonderkommissars für Siedlungsfragen, o.D. (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 2039), die folgenden Zitate ebd. Vgl. Bericht über den Stand der im sächs. Erzbergbaugebiet durchzuführenden Maßnahmen, Stand 18.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1355). Vgl. „An den Kollegen Oberbürgermeister, seine Mitarbeiter und Mitschuldige, an die Beschwerdestelle des Rates, an die Räumungskommission", Abschrift eines Briefes vom 3.6.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1355).

330

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

organisiert, daß Einsprüche nicht diskutiert, geschweige denn eine Abstimmung der Einwohner stattfinden konnte. Das erregte sogar die Gemüter der Volksvertreter. Einige blieben in diesen Wochen - offenbar aus Protest - den Sitzungen und Schulungen der Stadtverordneten einfach fern. 51 Im Frühjahr mußte deshalb dreimal zu einer Beratung eingeladen werden, bevor eine beschlußfähige Sitzung zustande kam. Auch die Mitglieder der SED in Johanngeorgenstadt stellten sich gegen die Räumung der Altstadt und die Umsiedlung der alteingesessenen Bevölkerung nach außerhalb. 52 Anfang Juni begann trotz zunehmendem Widerstand die Umsiedlung. 131 Familien sollten zunächst umziehen. 53 Bis zum 18. Juni waren sieben Familien bereits umgezogen. Das wurde von der „Räumungskommission" als Erfolg gewertet, sei doch damit „ein gewaltiger Keil in die geschlossene Front, die vor Beginn der Räumung bestand, getrieben worden". Mit der Verkündung des Neuen Kurses keimten bei den Johanngeorgenstädtern Hoffnungen auf, daß auch die Pläne zur Räumung ihrer Stadt zurückgenommen würden. Familien, die bereits einem Umzug zugestimmt hatten, wollten jetzt abwarten. 54 Die „Berliner Stellen" sollten mit Protestaktionen auf die Probleme aufmerksam gemacht werden. Johanngeorgenstädter Einwohner planten deshalb, in einem Schweigemarsch zum Rathaus zu ziehen, dort eine Kundgebung durchzuführen und eine Kommission zu wählen, die sich mit einem Protestschreiben an Ministerpräsident Grotewohl wenden sollte. 55 Die Sprecher für die Kundgebung waren benannt. Ursprünglich sollte die Protestdemonstration bereits am 11. Juni stattfinden. Wegen starker Regenfälle mußte sie um einige Tage verschoben werden. Die Verantwortlichen in Johanngeorgenstadt erfuhren am 14. Juni inoffiziell von der geplanten Demonstration und Kundgebung, die Sekretariate der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und der Gebietsparteileitung Wismut erhielten am Morgen des 15. Juni eine entsprechende Mitteilung. 56 Der 1. SEDSekretär der Wismut, Röder, und weitere Sekretariatsmitglieder eilten sofort nach Johanngeorgenstadt, „um die beabsichtigte feindliche Demonstration zu verhindern". 57 Auch Grotewohl war eine Information über bevorstehende 51 52 53

54 55 56

57

Vgl. An die BL der SED, Betr.: Deformation in Johanngeorgenstadt vom 9 . 3 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 5 1 ) . Vgl. SED-KL Johanngeorgenstadt, Bericht über die Ereignisse am 1 5 . 6 . 1 9 5 3 in Johanngeorgenstadt, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 2 8 , Bl. 160f.). Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Bezirksplankommission Wismut-Angelegenheiten, Aktennotiz, o . D . (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, 2 0 3 8 ) ; das folgende Zitat ebd. Vgl. SED-BL, Informationsberichte, o . D . (SächsStAC, SED I V / 2 / 5 / 3 ) . Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über die Vorfälle am 15.6.1953 in Johanngeorgenstadt (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 110). Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, An das ZK der SED, Betr.: Kurzbericht über die Vorkommnisse in Johanngeorgenstadt am 1 5 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, IV/ 2 / 5 / 5 2 8 , Bl. 87f.). SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 579).

Proteste gegen die

Zwangsumsiedlung

331

„Unruhen" in Johanngeorgenstadt zu Ohren gekommen. Deshalb rief er am 15. Juni gegen 14 Uhr den Sonderkommissar für Siedlungsfragen, Kirsten, an und erkundigte sich, „ob es Unfrieden in Johanngeorgenstadt gebe". 5 8 Als dieser bejahte, ordnete Grotewohl an, „daß alle Maßnahmen, die mit dem Mittelstand, Geschäftsleuten, Gewerbetreibenden usw. zusammenhängen, zu überprüfen sind. Alles, was nicht auf der Basis der Freiwilligkeit in beiderseitigem Einverständnis geschieht, ist vorläufig abzublasen und unter dem Mantel der Überprüfung zu warten [sie!]. Es besteht Hoffnung im Rahmen unserer Beschlüsse, daß die gesamten Maßnahmen ebenfalls nochmals einer Überprüfung unterzogen werden." Die Gebietsparteileitung Wismut und die SED-Bezirksleitung versuchten inzwischen, in Zusammenarbeit mit den Parteifunktionären aus Johanngeorgenstadt und den sowjetischen Verantwortlichen den geplanten öffentlichen Protest zu verhindern. 5 9 2 50 Agitatoren sollten eingesetzt, die Polizeikräfte verstärkt und Straßen gesperrt werden. Wismut-Fahrzeuge sollten die Zufahrtsstraßen zum Marktplatz blockieren. Außerdem war vorgesehen, die mutmaßlichen „Hauptverantwortlichen" kurz vor Beginn der geplanten Demonstration unter einem Vorwand in das Rathaus „einzuladen", um die Initiatoren von der Masse zu isolieren. 60 Im Rathaus sollte mit ihnen über „irgendwelche andere Fragen gesprochen und diskutiert" werden. „Ziel aller Maßnahmen war", so stellte das Sekretariat der SED-Bezirksleitung später fest, „unbedingt zu verhindern, daß größere Menschenansammlungen auf dem Marktplatz vor sich gingen". Der geplante Schweigemarsch zum Rathaus fand nicht statt, weil WismutFahrzeuge sämtliche Zugangsstraßen zum Markt versperrten. Auch die Zufahrtsstraßen nach Johanngeorgenstadt wurden „verschärft" kontrolliert. 61 Dennoch versammelten sich gegen 18 Uhr etwa 1000 Menschen auf dem Marktplatz, darunter eine große Anzahl von Einwohnern, die nicht unmittelbar von der Zwangsräumung betroffen waren. 6 2 Auch Wismut-Kumpel unterstützten die Proteste der Einheimischen. Die Polizei war mit einem größerem Aufgebot an Polizisten in Zivil vor Ort. Sie hatten die Anweisung, nicht einzugreifen und keine Verhaftungen vorzunehmen. Die Funktionäre, die seit dem Neuen Kurs um Schadensbegrenzung bemüht waren, hofften, möglichst wenig öffentliches Aufsehen und zusätzlichen Ärger heraufzubeschwören. Die Versammelten forderten vergeblich eine Stellungnahme des Oberbürgermeisters, 58 59

60 61

62

Vermerk über Anruf von Grotewohl vom 15.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB Karl-MarxStadt, 1355). Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, An das ZK der SED, Betr.: Kurzbericht über die Vorkommnisse in Johanngeorgenstadt am 15.6.1953, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, IV/ 2 / 5 / 5 2 8 , Bl. 87f.). Vgl. ebd., Bl. 87; die folgenden Zitate ebd. Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 579). Vgl. SED-KL Johanngeorgenstadt, Bericht über die Ereignisse am 15.6.1953 in Johanngeorgenstadt, o . D . (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 2 8 , Bl. 161).

332

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

der offenbar damit beschäftigt war, auf Johanngeorgenstädter Bürger, die für die Aktion verantwortlich schienen, einzuwirken. Wer der eigentliche Organisator war, wußten die Funktionäre nicht. Sie vermuteten, die Aktionen des „Klassengegners" seien von der Kirche ausgegangen, und luden deshalb „alle Geistlichen" von Johanngeorgenstadt zu einer Aussprache ein. Unter jenen, die an diesem Abend von der Masse „isoliert" werden sollten, war auch ein privater Buchhändler. Nach Berichten der SED-Bezirksleitung wurde mit ihm so lange diskutiert, „bis er einsah, daß das nicht der richtige Weg" sei. 63 Nach dieser „Diskussion" teilte er den Demonstranten lediglich das Verbot der Kundgebung mit. Danach ging er sofort nach Hause. Knapp zwei Stunden hatten die Versammelten darauf gewartet, daß jemand die Kundgebung leitete. Als das nicht geschah, zogen sie sich allmählich zurück. Lediglich die Agitatoren diskutierten mit den Versammelten, danach notierten sie sorgfältig alle Argumente gegen die Umsiedlung. 64 Gegen 21 Uhr war der Marktplatz leer. Allerdings befürchteten die Funktionäre eine Wiederholung der Proteste, da die Agitatoren in ihren Berichten entsprechende Äußerungen festhielten: „Wenn es heute nicht klappt, dann klappt es morgen". 6 5 Später wurde eine „illegale Widerstandsgruppe" dafür verantwortlich gemacht, daß sich die Einwohner von Johanngeorgenstadt gegen die Zwangsumsiedlung wehrten. 6 6 Anfang Juni war ein Brief mit der Losung „Die Wahrheit dem Volke, die Wahrheit vom Volke" bei der Räumungskommission eingegangen, der die Unterschrift „Vereinigung terrorisierter, entrechteter Erzgebirgler" trug. 67 Darin wurde der „frevelhafte Plan der Stadträumung [...] als schwerer Verstoß gegen die Verfassung der DDR und die Rechte der Menschlichkeit" bezeichnet. Die Staatssicherheit erhielt den Auftrag, diese „Untergrundbewegung" aufzudecken und zu zerschlagen. 68 In ihrer „Analyse" hieß es: „Es wurden keinerlei Wahrnehmungen gemacht, die auf eine Untergrundtätigkeit hinweisen." Auch in den folgenden Monaten lagen keine entsprechenden Ergebnisse vor. In der Nacht vom 15. zum 16. Juni koordinierten die Spitzenfunktionäre des Bezirkes und des Kreises Johanngeorgenstadt und der SAG Wismut das 63

64

65 66 67

68

SED-BL Karl-Marx-Stadt, Betrifft: Kurzbericht über die Vorkommnisse in Johanngeorgenstadt am Montag, dem 15.6.1953, vom 16.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, 2 / 5 / 528, Bl. 88). Vgl. BDVP (BS) Wismut, Protokoll über die geführten Diskussionen während der Demonstration am 15.6.1953, o.D. (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 27/27, Bl. 1-4). Ebd., Bl. 1. Vgl. Bezirkskommission Wismut-Angelegenheiten, Stand der Maßnahmen in der Aktion Johanngeorgenstadt vom 12.9.1953, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB, Nr. 2038). Vgl. „An den Kollegen Oberbürgermeister, seine Mitarbeiter und Mitschuldige, an die Beschwerdestelle des Rates, an die Räumungskommission", Abschrift eines Briefes vom 3.6.1953, S. 3 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1355). BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 16.6.-24.6.1953, vom 24.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX301, Bl. 38).

Proteste gegen die Zwangsumsiedlung

333

Vorgehen für die nächsten Tage. 69 Die Wismut-Polizei stellte zusätzlich 22 Leute für den Einsatz in Johanngeorgenstadt ab. Ein Sekretär der SEDBezirksleitung blieb in der Stadt, um die Kreisfunktionäre zu unterstützen: Die Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und die Gebietsparteileitung Wismut ordneten zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen für die folgenden Tage an. Auch das ZK der SED veranlaßte, daß Angehörige der Kasernierten Volkspolizei von Bärenstein nach Johanngeorgenstadt abgestellt wurden. 7 0 Allem Anschein nach wurde am 17. Juni der Ausnahmezustand über Johanngeorgenstadt bereits um 12 Uhr verhängt. 71 Offenbar war die Erzgebirgsstadt die erste Stadt unter Ausnahmebefehl. So blieb es in Johanngeorgenstadt am 17. Juni wenigstens äußerlich ruhig. Die Staatssicherheit meldete lediglich „negative Diskussionen", Schmierereien und Einzelaktionen. 72 Verhaftungen wurden nicht vorgenommen, nicht einmal als am 18. Juni ein Johanngeorgenstädter Kirchendiener auf Anweisung seines Pfarrers den Befehl über den Ausnahmezustand entfernte. Dazu hielt die Staatssicherheit fest: „Eine Unterredung mit dem Kommandanten hatte klärende Wirkung. Der Pfarrer wurde nicht verhaftet." Das Volkspolizeikreisamt Johanngeorgenstadt informierte am 19. Juni das MfS darüber, daß am Montag, dem 21. Juni, wegen der bevorstehenden Umsiedlung erneut eine Protestdemonstration durchgeführt werde. 7 3 Doch auch an diesem Tag blieb es in der Stadt ruhig. Einen Monat später wurde nochmals für „sämtliche Funktionäre erhöhter Bereitschaftsdienst angeordnet". 7 4 Denn das Volkspolizeikreisamt Schneeberg hatte Mitteilung erhalten, daß für den 20. Juli in Johanngeorgenstadt ein Generalstreik ausgelöst werden sollte, wozu es ebenfalls nicht kam. Am 25. Juli wandten sich Einwohner in einem Protestschreiben an den Rat des Bezirkes: „Die Johanngeorgenstädter Verhältnisse sind ein Schlag gegen die Friedensbewegung und die Ministerratsbeschlüsse. Die Bevölkerung fordert, daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden!" 7 5 In den Augen der Betroffenen war vor allem der Oberbürgermeister verantwortlich. Er hatte sein ursprüngliches Versprechen, daß kein Haus und keine Wohnung 69 70 71 72

73 74 75

Vgl. ebd., Bl. 4. Vgl. SED-GPL Wismut, Weitere Maßnahmen zur Sicherung der Objekte, vom 17.6. 1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 4 6 ) . Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Aktennotiz Ausnahmezustand, o . D . (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX 301, Bl. 38); das folgende Zitat ebd. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Betr.: Stimmung der Bevölkerung in den Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-308, Bl. 2 0 4 ) . Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Berichterstattung vom 21.7.1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 3 8 , Bl. 112). Vgl. „Wann wird Johanngeorgenstadt von seinem Oberbürgermeister erlöst?", Brief der Einwohnerschaft an den Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, vom 2 5 . 8 . 1 9 5 3 , S. lf. (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1355).

334

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

in Johanngeorgenstadt angetastet werden dürfe, nicht eingehalten. Sie beschuldigten ihn weiter, sich wertvolle Möbel und Teppiche geflüchteter und gemaßregelter Einwohner angeeignet zu haben. Der Brief schließt mit den Worten: „Deshalb wird es höchste Zeit, daß sich maßgebende Stellen mit dem Fall Johanngeorgenstadt befassen und die Bevölkerung ,von ihrem Tyrannen befreit wird'. Wenn das nicht geschieht, soll die Weltöffentlichkeit erfahren, was in Johanngeorgenstadt vorgeht, daß hier vom Frieden geradezu geschrieen wird und die Wirklichkeit eine ganz andere ist." 76 Der Brief trug die Unterschrift: „Die Einwohnerschaft, i.A. Franz Siegel." Die Räumung der Altstadt konnte letztlich nicht verhindert, wohl aber verzögert werden. Am 30. Juli 1953 konstatierten die verantwortlichen sowjetischen und deutschen Stellen, daß „neue Einzelmaßnahmen in bezug auf die Räumung notwendig sind, daß andere Methoden angewandt werden müssen und daß sich dadurch die Termine verschieben." 77

4.

Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre von KarlMarx-Stadt zur Verhinderung von Massenprotesten

Durch die öffentlichen Protestaktionen der Johanngeorgenstädter vom 15. Juni 1953, auch durch die „Vorkommnisse in einigen Metallbetrieben" des Bezirkes am Monatsanfang waren die leitenden Partei- und Staatsfunktionäre sowie die sowjetischen Dienststellen von Karl-Marx-Stadt und der SAG Wismut vorgewarnt. 78 Sie hatten die Erfahrung machen müssen, daß es keiner „Provokateure aus Berlin" bedurfte, um öffentliche Proteste in ihrer Region auszulösen. Während die Spitzenfunktionäre der beiden sächsischen Nachbarbezirke erst in den frühen Morgenstunden des 17. Juni durch Telefonate aus Berlin geweckt wurden, arbeiteten sie im Bezirk Karl-Marx-Stadt und bei der SAG Wismut bereits kurz nach Mitternacht fieberhaft an einem Plan, der öffentliche Proteste und Streiks verhindern sollte. Im Gegensatz zu den Leipziger und Dresdner Funktionären, die zunächst eine Ausweitung der Streiks und Demonstrationen auf ihre Territorien für unmöglich hielten, in erster Linie „eingeschleuste Provokateure und Agenten" vermuteten und auf weitere Informationen und Anweisungen aus Berlin warteten, leiteten die Verantwortlichen in Karl-Marx-Stadt sofort zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ein, ohne Anweisungen des ZK abzuwarten. Darauf war die SED-Bezirksleitung später stolz: „Wir sind der Meinung, daß in dem schnellen Reagieren der Bezirksleitung, die selbständig, ohne Anweisungen des ZK, rechtzeitig genügend die Partei mobi76 77 78

Ebd., S. 2. Schriftverkehr Roßberg, Betrifft: Termine, Vermerk vom 3 . 8 . 1 9 5 3 , (SächsHStA, BT/ RdB Karl-Marx-Stadt, 2 0 3 9 ) . Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 579).

Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre von Karl-Marx-Stadt

335

lisierte, mit die Ursache liegt, warum es im Bezirk [...] zu keinen wesentlichen Streiks und Ausschreitungen kam." 7 9 Sogar das ZK nahm in diesem Fall ein derartiges ungewöhnliches Vorgehen hin. Noch in der Nacht vom 16. zum 17. Juni beorderte der Bezirksparteichef die maßgeblichen Verantwortlichen in ihre Dienststellen. 80 Das Sekretariat der Bezirksleitung bildete einen „Kampfstab", der in Abstimmung mit der Leitung der Volkspolizei und der Staatssicherheit Sofortmaßnahmen festlegte. Zum einen waren sofort Parteihäuser und öffentliche Gebäude zu sichern. Dazu wurden im Laufe des Tages - zusätzlich zu den MfS- und Polizeiangehörigen „bewährte" SED-Mitglieder herangezogen, so beispielsweise für die SEDBezirksleitung 67, für die SED-Kreisleitung Karl-Marx-Stadt 50 und für den Rat des Bezirkes 40 bis 50 Parteimitglieder. 81 Zum anderen sollten unter allen Umständen Unruhen in den Betrieben verhindert werden. Aus diesem Grunde wurde für den Morgen des 17. Juni und für die folgenden Tage eine „strenge Überwachung auch der Wege zur Arbeit" angeordnet, um Absprachen über Arbeitsniederlegungen zu verhindern. Die Bezirksparteileitung sorgte dafür, daß bereits zu Arbeitsbeginn in den „Schwerpunktbetrieben" Mitarbeiter der Kreisleitungen und Instrukteure anwesend waren. Für die Diskussionen in den Betrieben galt die Anweisung, daß die administrativen Normenerhöhungen unbedingt aufzuheben seien. Die in den Betrieben eingesetzten Agitatoren diskutierten zunächst auch alle Forderungen nach Verbesserung der Lebenslage und nach sofortiger Abstellung von betrieblichen Mißständen und machten an Ort und Stelle bereits konkrete Zusagen, die dann den zuständigen Behörden als Auftrag übermittelt wurden. 8 2 Sie versuchten in der Regel nicht, wie beispielsweise der Parteisekretär des Dresdener Sachsenwerkes, den Arbeitern einzureden, die Normen seien doch „freiwillig" erhöht worden. In den Betrieben, in denen es dennoch zu Arbeitsniederlegungen kam, bestand die Taktik darin, die Streikfront aufzusplittern: in kleinen Gruppen über soziale Forderungen zu diskutieren, möglichst jene Belegschaftsmitglieder zu isolieren, die politische Freiheiten anmahnten, sie mit stundenlangen Verhandlungen von der Masse der Streikenden fernzuhalten und in der Zwischenzeit gegenüber den Streikenden Zugeständnisse zu machen. Nachdem verhindert worden war, daß die Streikenden mit ihren Forderungen auf Straßen und öffentliche Plätze zogen, blieben die Proteste auf einzelne Betriebe beschränkt. Auch Solidaritätsstreiks wurden erschwert. Die Bezirksparteileitung bezog die leitenden Funktionäre des Staates und der Massenorganisationen früher als in den Nachbarbezirken in ihre Planungen und Aktionen ein. Alle Maßnahmen waren in diesen Tagen darauf gerich79 80 81 82

SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 2. (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 2 (SächsStAC, SED IV/2/3/793). Vgl. ebd., S. 4; das folgende Zitat ebd. Vgl. ebd., S. 3.

336

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

tet, in den Orten und Gemeinden „das Gefühl der Sicherheit und der Stabilität" der staatlichen Arbeit zu vermitteln. 83 Die staatlichen Leiter der einzelnen Kreise erhielten den Auftrag, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Die „örtlichen Organe" waren an diesen Tagen besonders bemüht, zusätzlich Gemüse und Obst herbeizuschaffen. Besonders der massive Polizei- und Militäreinsatz im Bezirk verhinderte schließlich größere öffentliche Demonstrationen und Streiks. 84 Der Bezirksbehörde der Volkspolizei Karl-Marx-Stadt wurde in der Nacht vom 16. zum 17. Juni gegen 2.30 Uhr aus Berlin fernmündlich befohlen, unverzüglich die im Bezirk stationierten Wacheinheiten zu mobilisieren. Bereits um 3.15 Uhr wurde eine Einsatzleitung der Volkspolizei gebildet, also um Stunden früher als in den sächsischen Nachbarbezirken. Diese löste erhöhte Alarmbereitschaft für die Wacheinheiten Karl-Marx-Stadt, Aue und Plauen aus und ordnete deren Vollmotorisierung und Ausrüstung mit Gummiknüppeln an. Auch für sämtliche der Volkspolizei-Bezirksbehörde nachgeordneten Dienststellen galt Alarmbereitschaft. Die Leitung der Volkspolizei befahl, die Sicherheitsmaßnahmen in den Betrieben, Haftanstalten und wichtigen Objekten zu verstärken. Die Einsatzleitung nahm sofort Verbindung zur SED-Bezirksleitung auf, weiter zur Staatssicherheit, zu den sowjetischen Dienststellen, zur Grenzbereitschaft Karl-Marx-Stadt, zur Bezirksbehörde der Volkspolizei, Betriebsschutz Wismut in Siegmar-Schönau, zu den Dienststellen der Kasernierten Volkspolizei in Bärenstein und Frankenberg. In Abstimmung mit der Staatssicherheit entfernte die Polizei aus allen Sirenen des Bezirkes die Sicherungen, um zu verhindern, daß der Streikbeginn durch Sirenen signalisiert werden könnte. 85 VP-Inspekteur Schwager, der Chef der Volkspolizei des Bezirkes, kehrte unverzüglich aus dem Urlaub zurück und übernahm ab Mittag des 17. Juni die Leitung des bezirklichen Polizeieinsatzes. 86 Ihm ging es vor allem darum, alle Einsatzkräfte zentral zu koordinieren und unverzüglich spezielle Pläne zu erstellen, die alle Objekte der Volkspolizei, der SED, alle Elektrizitäts-, Gas-, Wasser- und Umspannwerke und alle Telegrafenämter schützen sollten. Gleichzeitig erließ der Bezirkspolizeichef für die Volkspolizeikreisämter spezielle Anordnungen über den Einsatz von Wasserschläuchen, Gummiknüppeln und zur Anwendung von Schußwaffen. Der besondere Schutz galt dem Eisenbahnverkehr; Bahnhöfe und wichtige Verkehrsknotenpunkte wurden sofort von Polizeikräften gesichert. Die Transportpolizei bewachte gemeinsam mit Sowjetsoldaten und Soldaten der Kasernierten Volkspolizei die Bahngelände. 83

84 85 86

Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Situationsbericht über die Lage im Bezirk KarlMarx-Stadt nach dem Stand vom 18.6.1953, 19.00 Uhr, S. 3 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 147-155). Der Zeitpunkt dieser Aktion ist unsicher. Einige Quellen nennen bereits den 17. Juni, während andere Dokumente spätere Termine angeben. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17. - 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 147f.).

Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre

von Karl-Marx-Stadt

337

Der Polizeichef verstärkte Streifendienste in Großbäckereien, Molkereien, Schlacht- und Viehhöfen, um die Versorgung der Bevölkerung zu garantieren. Dabei wurden die Polizeikräfte von Angehörigen dieser Einrichtungen unterstützt. Für die Sicherung der Markthalle in Karl-Marx-Stadt wurden noch am 17. Juni aus den umliegenden Betrieben vorhandene Luftgewehre zusammengetragen, Feuerwehrschläuche einsatzbereit an Hydranten angeschlossen und aus Gummikabeln handliche Schlagstöcke und Gummiknüppel gefertigt. 8 7 Für den 18. Juni erließ der VP-Inspekteur Schwager einen speziellen „Einsatzbefehl für die Sicherung der BDVP Karl-Marx-Stadt". 8 8 Der Befehl ging davon aus, daß der „Gegner" - „Agenten und Provokateure, verführte Arbeiter sowie Sensationslustige" - versuchen werde, „die öffentliche Ruhe in der Republik zu stören und sich insbesondere der Objekte des Staatsapparates zu bemächtigen", was die Volkspolizisten unter allen Umständen verhindern sollten. Deshalb wurde die Sicherung des Volkspolizeigebäudes verstärkt und das umliegende Gelände in sieben Gefechtsabschnitte eingeteilt. Die Volkspolizei erwartete, daß die „gegnerischen Angriffe [...] meist massiert, jedoch ungegliedert und [...] durch Hetzreden einzelner Provokateure inszeniert" würden. Daraus folgerten sie, daß sich ihre Maßnahmen „erstens gegen die Rädelsführer und Wortführer [...] und zweitens gegen die aufgewiegelten Volksmassen" richten müßten. Der Volkspolizei der Bezirksbehörde standen insgesamt 13 Züge zur Verfügung, davon allein sieben und ein Löschzug zur eigenen Sicherung. Die Einsatzkräfte erhielten den Befehl, „unbedingt ein Eindringen der aufgewiegelten Massen in die Gebäude der BDVP durch Anwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel" zu verhindern. Deshalb sollten in erster Linie „die Rädelsführer unschädlich" gemacht und von den Massen isoliert werden. 8 9 Vier Scharfschützen wurden an den Stirnwänden des Hauptgebäudes postiert. Ein Löschzug war zur Sicherung der Ein- und Ausgänge eingeteilt. Außerdem war ein Stoßtrupp mit Sonderausrüstungen wie Gaspistolen und Jagdgewehren eingesetzt. Über den Gebrauch von Waffen hielt der Einsatzbefehl im Abschnitt „Organisation des Feuers" fest: „Der Einsatz von Waffen innerhalb der Kampfabschnitte erfolgt in eigener Verantwortung durch den Abschnittsleiter. Der Feuerbefehl wird erteilt durch den Abschnittsleiter. Es ist darauf zu achten, daß eine Sperrzone rings um die BDVP von zehn bis 50 m je Lage in Verantwortung des Abschnittsleiters festgelegt wird." Alle Waffen sollten an die Züge verteilt werden, und es war „ausreichend Munition zur Verfügung zu stellen". Z u diesem Zweck wurde der Munitionsbunker auf dem Exerzierplatz geräumt und eine zentrale Munitionsausgabe und Waffenwerkstatt im Keller der Volks87 88

89

Vgl. „Volksstimme", Extrablatt vom 18.6.1953, S. 18. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Einsatzbefehl für die Sicherung der BDVP Karl-MarxStadt vom 18.6.1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 3 5 - 3 7 ) ; die folgenden Zitate ebd., Bl. 35. Ebd., Bl. 36; die folgenden Zitate ebd.

338

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

polizei errichtet. Die Abschnittsleiter waren dem Dienstgrad nach geordnet: ein VP-Inspekteur, drei VP-Kommandeure, ein VP-Meister, ein Hauptwachtmeister, ein Oberwachtmeister. Selbst die Bildung von Barrikaden aus ausgemusterten Fahrzeugen war vorgesehen. In einem Stockwerk des Polizeigebäudes war bereits ein Notambulatorium eingerichtet, dem „sämtliche Medikamente, besonders Verbandsmaterial" und „entsprechendes Personal" zur Verfügung zu stellen waren. Auch „Tragen zum Transport der Verwundeten" waren einkalkuliert. In allen Kreisen des Bezirkes kontrollierte die Polizei ab dem 18. Juni verstärkt die Ausweise verdächtiger Personen sowie Kraftfahrzeuge. Gefangene, die in anderen Bezirken befreit worden waren, sollten so gefaßt werden. Außerdem befürchtete man das „Einschleusen von Provokateuren und Aufwieglern aus anderen Bezirken". 90 Der Chef der Volkspolizei befahl, „bei Fluchtversuchen kontrollierter Personen sofort von der Schußwaffe Gebrauch zu machen". 91 Während offenbar die Personenfahndung im Bezirk Karl-Marx-Stadt keine Ergebnisse brachte, war die Kontrolle von Kraftfahrzeugen erfolgreicher. 92 An den Bezirksgrenzen stoppten motorisierte Sowjetsoldaten am 18. Juni 40 Wismut-Fahrzeuge aus dem Thüringer Raum, die in Richtung Karl-Marx-Stadt unterwegs waren, und zwangen die streikenden Bergarbeiter zum Verlassen der Fahrzeuge. Die Volkspolizei ging später davon aus, es sei durch die Sofortmaßnahmen gelungen, „Provokateure und Aufwiegler von Betrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt fernzuhalten und eine Konzentration derartiger Elemente zu verhindern". 93 Ab dem 20. Juni wurde die Streifen- und Kontrolltätigkeit innerhalb des Bezirkes Karl-Marx-Stadt noch verstärkt, da wie in der übrigen DDR Gerüchte über einen Generalstreik kursierten. 94 Die Volkspolizei richtete auf erhöhten Punkten sogenannte Beobachtungsposten ein, die das „Absetzen von Spionen, Saboteuren und Provokateuren aus Flugzeugen" vereiteln sollten. In den folgenden Tagen meldeten diese Posten alle Lichtzeichen und Flugzeuggeräusche an die zuständige Einsatzleitung, die ihrerseits sowjetische Dienststellen informierte. 95 Im Übereifer wurde mehrfach das Überfliegen von amerikanischen Flugzeugen gemeldet. 96 Später mußte man die Meldungen dahingehend korrigieren, daß es sich um sowjeti-

90 91 92 93 94 95 96

BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 148). BDVP Karl-Marx-Stadt, An alle Amtsleiter des VPKA, o . D . (SächsHStA, BDVP KarlMarx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 70). BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 153). Ebd., Bl. 154. Ebd., Bl. 149. Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, An alle Amtsleiter des VPKA, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 70). Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17. - 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 148).

Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre

von Karl-Marx-Stadt

339

sehe Flieger gehandelt habe. Auch die Überprüfung „verschiedenfarbiger Leuchtsignale" ergab später, daß sie von sowjetischem Militär stammten. Den nachgeordneten Dienststellen der Bezirksbehörde der Volkspolizei standen seit dem 17. Juni pro Tag insgesamt 5 2 2 0 Einsatzkräfte zur Verfügung, davon 2 251 in Reserve und 2 969 in ständigem Einsatz. 800 Volkspolizisten verrichteten Streifendienst, 761 waren im Objektschutz eingesetzt. Außerdem kamen in den Volkspolizeikreisämtern pro Tag noch 300 freiwillige Helfer der Volkspolizei und 2 4 0 0 Parteimitglieder zum Einsatz. 9 7 Reservezüge der Wacheinheiten unterstützten darüber hinaus die Volkspolizei in Freiberg, Werdau und Zwickau bei der Sicherung von „Objekten", da man vermutete, der „Feind" werde sich auf diese Kreise konzentrieren. Die Volkspolizei-Bezirksbehörde rügte einige Polizeikreisämter, die eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen seien nicht ausreichend gewesen. 9 8 So konnten Instrukteure am 17. Juni ohne besondere Kontrollen in die Ämter oder die bewachten Objekte gelangen. Die Ausstattung der Polizei wurde bemängelt; es fehlten Taschenlampen, Waffen und Munition. Am 27. Juni erhielt die Volkspolizei des Bezirkes Karl-Marx-Stadt Waffen und Munition von der Hauptverwaltung der Volkspolizei. Die VP-Bezirksbehörde Karl-Marx-Stadt lobte später ausdrücklich die Zusammenarbeit zwischen Polizeikräften und Staatssicherheit. Auch die Abstimmung mit der Kasernierten Volkspolizei wurde gewürdigt, daneben der gemeinsame „Einsatz von Sowjetsoldaten und Volkspolizisten", der den polizeilichen Einsatzkräften „wertvolle Erfahrungen und Hinweise über Verhalten im Einsatz und Fragen der Disziplin übermittelt" habe. 9 9 Die Polizeitruppe der Wismut, also die Einsatzkräfte des Betriebsschutzes in Siegmar-Schönau, war ausschließlich für den „verstärkten Schutz der Betriebspunkte, Betriebsanlagen und Verwaltungen der Wismut-AG" zuständig; 1 0 0 an „operativen Einsätzen", um Menschenansammlungen im Bezirk Karl-Marx-Stadt zu zerstreuen, war sie nicht beteiligt. Die Bezirksbehörde der Volkspolizei bezog auch die SED-Bezirksleitung in die „sehr gute Zusammenarbeit" ein, stellte jedoch einschränkend fest: „Die Signale durch die Bezirksleitung der Partei erreichten die Einsatzleitungen der BDVP oft eher, als die unserer nachgeordneten Dienststellen, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß ein Großteil dieser eingegangenen Meldungen stark übertrieben, teilweise sehr entstellt [sie!] und in einigen Fällen sich als Falschmeldungen erwies." 1 0 1

97 98 99 100

Vgl. ebd., Bl. 152. Vgl. ebd., Bl. 150. Ebd., Bl. 153. Vgl. BDVP (BS) Wismut, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, o . D . (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 32). 101 BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 153).

340

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

Die Bezirkseinsatzleitung kontrollierte seit dem 18. Juni, ob die Polizeidienststellen, der Staatsapparat und die Betriebe, einschließlich des Betriebsschutzes, die verschärften Sicherheitsanordnungen befolgten. 102 Die Kontrolleure bemängelten beispielsweise die Sicherheit in der StrafgefangenenUnterkunft in der Nickelhütte im Kreis Hohenstein-Ernstthal oder die nachlässige Bewachung von Betrieben. So waren in der VEB Baumwollspinnerei Annaberg ein 70jähriger, ein Schwerhöriger und ein Tbc-Kranker eingesetzt. 103 Besonders die Bürgermeister in ländlichen Gemeinden nahmen es mit den Anordnungen zur Nachtwache nicht so genau. Die Kontrolleure trafen mehrere Bürgermeister, die die Gemeindeämter bewachen sollten, zu Hause schlafend an. Selbst SED-Stadtbezirksleitungen unterschätzten nach Meinung der Kontrolleure den Ernst der Lage. Über die Vorgehensweise der Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt ist in den einschlägigen Quellen relativ wenig festgehalten. Dennoch wird deutlich, daß sie eine entscheidende Rolle dabei spielte, in diesem Bezirk Massenproteste zu verhindern. Am 17. Juni 1953 informierte die Bezirksverwaltung die MfS-Zentrale in Ostberlin über „verstärkte Feindtätigkeit" seit der letzten Nacht. 104 Das dringende Fernschreiben enthielt konkrete Angaben über aufgefundene Flugblätter, anonyme Schreiben, Anrufe und „Schmierereien" an Gebäuden sowie die Verbreitung von „Gerüchten". Auch der Text eines Flugblattes, das an mehreren Litfaßsäulen in Zwickau am frühen Morgen des 17. Juni entdeckt worden war und zum Generalstreik aufforderte, wurde zitiert. „Kolleginnen und Kollegen" wurden aufgerufen, sich „zusammenzuscharen" und die „mutigen Arbeiter von Berlin" zu unterstützen: „Laßt Euch das Gesetz des Handelns nicht mehr aus der Hand reißen. Nicht individueller Terror kann uns retten, denn damit schadet Ihr Euch selbst. Beginnt den Generalstreik und zwingt die Regierung zum Rücktritt. Wir wollen freie Menschen sein." Alle derartigen Dokumente wurden sofort von MfS-Mitarbeitern entfernt, die hierfür mit Karbidschlamm „in genügendem Maße" ausgestattet wurden. 1 0 5 Schon bevor der Ausnahmezustand verhängt worden war, informierte der Chef der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, Oberstleutnant Schneider, seine Kreisdienststellenleiter über den bevorstehenden Befehl, „um schneller die Ordnung innerhalb des Bezirkes wiederherzustellen". 106 Er forderte von 102 Vgl. ebd., Bl. 149-151. 103 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den vorliegenden Berichten der KPKK, vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 10 (SächsStAC, 5 4 0 IV/2/4/68). 104 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben, Betreff: Feindtätigkeit im Bezirk Karl-Marx-Stadt (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 123ff.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 124. 105 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Annaberg, Einsatzplan vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 11). 106 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben vom 17.6.1953, 16.50 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-302, Bl. 103f.).

Die nächtlichen Aktionen der Spitzenfunktionäre

von Karl-Marx-Stadt

341

seinen Mitarbeitern „eine einwandfreie Disziplin und Arbeitsfreudigkeit" sowie eine „schnelle und konkrete Berichterstattung bei allen Wahrnehmungen und Vorkommnissen". Als es soweit war, wies der Chef der Bezirksverwaltung seine Abteilungsleiter und die Leiter der Kreisdienststellen in die neue Situation ein: „Auf G r u n d einer besonderen Lage wird laut Befehl alles unseren Freunden unterstellt. Die Genossen Stadtkommandanten haben die Macht, den VP-Apparat und andere Institutionen einzusetzen. Jedoch haben sie nicht das Recht, in unseren Gl- und GM-Apparat und in unsere operative Arbeit einzugreifen, nur mit Genehmigung unserer befreundeten Dienststellen [...]. Gebrauchen unsere Dienststellen militärische Hilfe, so können sie diese beim Gen. Stadtkommandanten anfordern [...]. Des weiteren muß für die Dienststellen in jedem Falle die Sicherheit gewährleistet sein. Ferner m u ß intensiv mit dem Agentur-Apparat gearbeitet werden, um ein genaues Bild über die jeweilige Lage des Kreises zu bekommen. In den Betrieben und sonstigen Institutionen kann man sich auch mit zuverlässigen Genossen, die keine inoffiziellen Mitarbeiter sind, in Verbindung setzen, um von ihnen Auskunft zu erhalten." 1 0 7 Außerdem wurden die Kreisdienststellenleiter angewiesen, „alle Unterlagen [...] in den Panzer-bzw. Stahlschränken aufzubewahren [...]. Besonderes Augenmerk sollte auf die Vorgänge, Gl-, Arbeits- und Personalakten gelegt w e r d e n . " 1 0 8 Laut Anweisung des Chefs der Bezirksverwaltung hatten die Kreisdienststellen „Einsatzpläne" für die Zeit vom 17. bis 21. funi zu erstellen und einzureichen. In diesen Plänen waren „operative Maßnahmen" vorgesehen, die die Arbeit mit den Geheimen Informanten und Geheimen Mitarbeitern beinhalteten. So war für die Dienststelle Werdau beispielsweise festgelegt, daß „sämtliche Genossen sofort die Verbindung mit den Gl und GM aufnehmen, um zu erfahren, wer die Rädelsführer und Anführer bei den durchgeführten Streiks sind". 1 0 9 Die Dienststelle Werdau erhielt fünf Mitarbeiter der Bezirksverwaltung als „Verstärkung". 1 1 0 Aus den Plänen der Kreisdienststellen geht weiter hervor, daß sich in den Operativstäben der Volkspolizeikreisämter während der Zeit des Aufstandes ständig ein Mitarbeiter des MfS aufhielt, der in „sämtliche anfallenden Angelegenheiten Einblick" nehmen konnte und „weisungsberechtigt" war. 111 Im Kreis Freiberg konzentrierte sich die Arbeit des MfS auf eine „Widerstandsgruppe Sachsen", die an Funktionäre der SED und der Volkspolizei

107 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, An alle Kreisdienststellen und Abteilungen, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, XX-302, Bl. 33). 108 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-302, Bl. 74). 109 Kreisdienststelle Werdau, Einsatzplan vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 55). 110 Vgl. ebd., Bl. 69. 111 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Annaberg, Einsatzplan vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 10).

342

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

Drohbriefe verschickte. 112 Das MfS schloß nicht aus, daß diese Gruppe ihre Anleitungen und Anweisungen aus Westberlin bekäme. Die Bezirksverwaltung setzte eine spezielle „Operativgruppe" ein, die jedoch keine Ergebnisse nachweisen konnte. Ein Gl „Fuchs" wurde in die Gruppe eingeschleust. Im Kreis Plauen arbeitete der MfS-Dienststellenleiter mit besonders „wirkungsvollen Methoden". Seine Mitarbeiter stellten am 17. Juni eine „rasend um sich greifende Flüsterpropaganda ,Das Volk steht a u f " fest, die sie als „gefährlich" einstuften. 113 Tags darauf hätten sich die „Gerüchte und antidemokratischen Reden" unter der Bevölkerung verstärkt. Beim Versuch, an die Urheber heranzukommen, gab es einige Schwierigkeiten mit der Arbeit der GM und Gl. Sie waren nach Meinung der Staatssicherheit zunächst „beeindruckt" von den Ereignissen am 17. funi in Ostberlin und in der DDR, viele kündigten aus Angst vor „einem Umsturz" die Mitarbeit auf und baten um die Vernichtung ihrer Akten. Doch „intensive Aufklärung und geldliche Zuwendungen hielten den Agenturapparat zusammen", wie die Bezirksverwaltung am 24. Juni erleichtert resümierte. 114 Die Spitzeltätigkeit in den Betrieben konnte so verstärkt werden. GM und Gl berichteten beispielsweise über Anzeichen und Vorbereitungen zum Streik in einigen Plauener Betrieben. 115 Die Gl und GM meldeten auch einige „Gerüchtemacher und Hetzer" mit Namen und Adresse. Verhaftungen wurden zunächst nicht vorgenommen, da dies einen Streik provoziert hätte. Statt dessen suchte der Chef der Staatssicherheit Plauen, Major Rother, in Begleitung einiger Mitarbeiter diese „Subjekte" persönlich auf. Er verwarnte sie „auf das energischste" und teilte ihnen mit, sie stünden ab sofort unter Kontrolle und hätten „bei irgendwelchen Ausschreitungen mit der Todesstrafe zu rechnen". 116 Das fand die ungeteilte Unterstützung der SED-Kreisleitung Plauen, da sich so im Nu herumsprach, „daß die Machtorgane der DDR in sämtlichen Betrieben wachsam herumsitzen". Die Bezirksverwaltung billigte zwar „diese Linie", mit der lediglich ein „vorübergehender Erfolg" zu erzielen sei, nicht vorbehaltlos, sah jedoch in dem Vorgehen der Staatssicherheit die Ursache dafür, „daß es nicht zu größeren Unruhen kam". 117 Der Chef der Bezirksverwaltung entschuldigte das drakonische Vorgehen des Dienststellenleiters von Plauen damit, daß Rother als „robuster Mensch bekannt" sei, der „trotz seiner Art schon gute Erfolge bei anderen Aktionen erzielt" habe.

112 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Bericht über das Arbeiten auf der Linie der Abteilung V vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 22). 113 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Plauen, Situationsbericht über den Kreis Plauen in der Zeit vom 1 7 . 6 . - 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 2 2 9 ) . 114 Ebd., Bl. 2 3 0 . 115 Vgl. ebd., Bl. 2 2 9 f . 116 Ebd., Bl. 2 3 0 ; das folgende Zitat ebd. 117 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX301, Bl. 14); das folgende Zitat ebd.

Der Verlauf des 17. Juni im Bezirk

Karl-Marx-Stadt

343

Bei der angeordneten Aktivierung „der Arbeit mit den Agenturen", den Gl und GM, entstanden Schwierigkeiten vor Ort auch dadurch, daß infolge des Ausnahmezustandes und der Sperrzeiten Treffs mit den G l / G M tagsüber stattfinden mußten. Gaststättenbesuche, bei denen die Bevölkerung bespitzelt werden könne, waren eingeschränkt. 118 Die Bezirksverwaltung beklagte auch, daß zu wenige KW (Konspirative Wohnungen) vorhanden waren, so daß einige „Treffs" im Freien durchgeführt werden mußten. Die Gl erschienen in solchen Fällen oftmals nicht, weil sie befürchteten, gesehen zu werden. 119 Am 17. Juni und in den folgenden Tagen konzentrierte sich die Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt auf die Großbetriebe, insbesondere die volkswirtschaftlich wichtigen Industriebetriebe. 120 Erst nachträglich wurde sie über den VP- bzw. SED-Apparat über „Vorfälle" in anderen Betrieben informiert und begann dann ihre „operative Bearbeitung". 121

5.

D e r Verlauf des 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

Die in der Nacht zum 17. Juni eiligst verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bewirkten offenbar, daß der Tag im Bezirk Karl-Marx-Stadt zunächst „normal" begann. Die SED-Bezirksleitung berichtete, daß in allen Betrieben die Arbeit aufgenommen wurde. 1 2 2 In der Bezirksstadt und in den Kreisstädten blieb es den ganzen Tag über ruhig; In Oelsnitz fand sogar am Nachmittag des 17. Juni ein Fußballspiel statt. 123 In allen größeren Betrieben des Kreises Auerbach wurde der „Tag des sowjetischen Neuerers" begangen. 124 Doch unter der Oberfläche regte sich im Laufe des Tages und vor allem am 18. Juni zunehmend Widerstand. In den Vormittagsstunden des 17. Juni legten Teile der Belegschaft in KarlMarx-Stadt in vier volkseigenen Betrieben für kurze Zeit die Arbeit nieder, nämlich im VEB Vereinigte Gießereien, im VEB Schleifmaschinenbau, im VEB Büromaschinenwerk I (früher: Wanderer-Werke) und im VEB Textima Spinnerei- und Zwirnmaschinenbau. 125 Letzterer war unter den Siegerbetrieben im Wettbewerb des I. Quartales 1953 zu finden. 1 2 6

118 119 120 121 122 123 124 125 126

Vgl. ebd., Bl. 2ff. Vgl. ebd., Bl. 13. Vgl. ebd., Bl. 14. Vgl. ebd., Bl. 4. Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8, o.D., S. 2 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 793). Rat des Landkreises Oelsnitz, Situationsbericht vom 18.6.1953, S. lf. (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). Vgl. Chronik der Aktivisten-, Wettbewerbs- und Neuererbewegung, S. 118. Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über das Sachgebiet der Abt. III, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 72). Vgl. Chronik der Aktivisten-, Wettbewerbs- und Neuererbewegung, S. 115.

344

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Auch aus den meisten Kreisen kamen zunächst Meldungen, daß „keine Vorkommnisse zu verzeichnen" seien. 127 Später meldeten SED-Kreisleitungen und MfS-Kreisdienststellen aus neun der insgesamt 26 Kreise kurzfristige Arbeitsniederlegungen, und zwar in Aue, Auerbach, Glauchau, HohensteinErnstthal, Karl-Marx-Stadt (Stadt- und Landkreis), Reichenbach, Rochlitz und Werdau. 1 2 8 Erfaßt sind namentlich 13 Betriebe aus dem Bezirk, darunter mehrere sogenannte Schwerpunktbetriebe, in denen es am 17. Juni vorübergehend zu Arbeitsunterbrechungen bis zu vier Stunden kam. 1 2 9 Nach MfS-Unterlagen sollen an diesem Tag insgesamt rund 1 500 Beschäftigte des Bezirkes gestreikt haben. 1 3 0 Das MfS stellte später fest: „Die Streiks dauerten ca. drei Stunden an, und nach großen Agitationseinsätzen konnten die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegt werden. Die Unruhe unter den Menschen war aber noch stark vorhanden. Die Bewegung an diesem Tage geschah sehr spontan und war über den ganzen Tag verteilt und griff von Betrieb zu Betrieb über, wozu noch die Rundfunkmeldungen beitrugen." 131 Die Bezirksparteileitung berichtete, daß es „in allen Betrieben gelang, durch den Einsatz leitender Parteifunktionäre und Agitatoren in kurzer Zeit die Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, so daß am Nachmittag in allen Betrieben wieder normal gearbeitet wurde". 1 3 2 Am 18. funi streikten 2 467 Personen, verteilt auf vier Betriebe und eine Baustelle. 133 Am 19. Juni legten insgesamt 520 Personen in zwei Betrieben, nämlich im Wälzlagerwerk Fraureuth und im IfA-Motorenwerk Werdau, für kurze Zeit die Arbeit nieder. Am 23. Juni schalteten in Karl-Marx-Stadt in einigen Betrieben, darunter im VEB Tewa Schrauben- und Mutternfabrik und im RFT Gerätewerk, die Arbeiter „in Gedenken der Opfer" des 17. Juni für einige Minuten die Maschinen ab. 134 Da sich nur relativ wenige Personen an diesen 127 Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Situationsberichte aus den Kreisen (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). 128 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 2 - 2 0 ) . 129 Neben den genannten vier Karl-Marx-Städter Betrieben waren das: VEB Trikotagenwerk Limbach (Kreis Karl-Marx-Stadt), VEB Armaturenfabrik Falkenstein (Kreis Aue), VEB Sanar Reichenbach, Werk III, Falkenstein (Kreis Auerbach), VEB Feinstrumpfwerk „Sachsenring", Werk Bernsdorf (Kreis Hohenstein Ernstthal), VEB IFAKarosseriewerk Meerane (Kreis Glauchau), VEB Fichtel & Sachs (Kreis Reichenbach), Peniger Maschinenfabrik (Kreis Rochlitz), VEB Werna Rochlitz (Kreis Rochlitz), VEB Vereinigte Trikotagenwerk, Werk II in Crimmitschau (Kreis Werdau), VEB Wärmegerätewerk Elsterberg-Crimmitschau (Kreis Werdau), VEB Gießerei Erla (Kreis Schwarzenberg); vgl. ebd. 130 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über das Sachgebiet der Abt. III, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 72). 131 Ebd. 132 Vgl. SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 133 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über das Sachgebiet der Abt. III, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 0 , Bl. 72). 134 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, o.D., S. 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) .

Der Verlauf des 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

345

Gedenkminuten beteiligten, brachte die „operative Bearbeitung" durch das MfS „gute Erfolge". Bereits am 24. Juni berichtete die Bezirksverwaltung, es könne „in allernächster Zeit mit der Festnahme oder eventuellen Werbung gerechnet werden". 1 3 5 Streikandrohungen gab es nachweislich in mehreren Betrieben, darunter in mindestens drei großen volkseigenen Betrieben in Plauen, in der Nema Netzschkau, im Wärmegerätewerk Elsterberg-Crimmitschau und im VEB Tewa Schrauben- und Mutternfabrik, Karl-Marx-Stadt. 1 3 6 Für alle derartigen Vorkommnisse machte die SED-Bezirksleitung den „Klassenfeind" verantwortlich. 137 Dank ihrer „sofortigen Initiative" seien jedoch alle seine „Regungen [•••] im Keim erstickt" und „alle entsprechende Herde beseitigt" worden. 1 3 8 Das MfS hielt in seiner „Analyse" vom 24. Juni fest: „Alle vorgekommenen Streik-, Flugblatt-und Schmieraktionen blieben isoliert. Eine terroristische Tätigkeit, Sabotageakte größerer Art oder Demonstrationen fanden nicht statt. Die Bourgeoisie trat nicht offiziell in Erscheinung." 1 3 9 Aus Sicht der Gewerkschaft waren „in erster Linie die diktatorische Normerhöhung durch die Werkleitungen" die Ursachen für die Arbeitsniederlegungen. Das habe „der Klassengegner" geschickt ausgenutzt, um die unzufriedenen Arbeiter für Streiks zu gewinnen und politische Forderungen den wirtschaftlichen „voranzustellen". 1 4 0 Nach übereinstimmender Einschätzung der Spitzenfunktionäre der SED und staatlicher Einrichtungen gab es im Bezirk zwei Schwerpunkte der „Aktionen des Klassenfeindes": Freiberg und Werdau. Die Bezirksverwaltung des MfS ging davon aus, daß die Impulse in beiden Kreisen „von außen hineingetragen" wurden. 1 4 1 Für die „Provokationen" im Kreis Werdau machte sie die Wismut-Bergarbeiter von Gera verantwortlich, die auf ihrem Arbeitsweg durch den Kreis fuhren oder dort wohnten. Freiberg wurde mit den Vorgängen im angrenzenden Bezirk Dresden in Verbindung gebracht. Dagegen konstatierte die Bezirksbehörde der Volkspolizei, die Kreise Werdau und Freiberg zählten „schon seit längerer Zeit zu den Brennpunktkreisen antidemokrati135 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX301, Bl. 3). 136 Vgl. ebd., Bl. 4 - 2 0 . 137 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3 6 - 4 4 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . 138 Ebd., S. 1. 139 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX301, Bl, 1). 140 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Ereignisse vom 1 7 . 6 . 17.7.1953 im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom 17.7.1953, S. 1 (SAPMO-BArch, FDGBBuvo, A 563). 141 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 1).

346

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

scher Umtriebe im Bezirk". 142 Die SED-Bezirksleitung hingegen führte die „Feindarbeit" im Kreis Werdau auf den „Sozialdemokratismus" zurück, der seinen Ursprung bereits vor 1933 hatte. 143 In Werdau, Crimmitschau und Fraureuth war vor dem Machtantritt Hitlers die SPD besonders stark und die KPD „äußerst schwach". Hinsichtlich der Aktionen der Bauarbeiter in der Zinkhütte Freiberg beschuldigte die SED-Bezirksleitung die SED-Parteileitung der Bauunion Dresden, die Situation „nicht beherrscht" zu haben. 1 4 4 Am 17. luni gegen 9.30 Uhr legte fast die gesamte Belegschaft des VEB Vereinigte Trikotagenwerke Crimmitschau (Kreis Werdau), Werk II, die Arbeit nieder, nachdem seit Arbeitsbeginn bereits über die „Vorkommnisse in Berlin" diskutiert worden war. 145 Im Werk II waren etwa 600 Menschen beschäftigt, im Gesamtbetrieb 1100, davon 869 Frauen. 146 Viele Beschäftigte waren bereits 25 Jahre und länger im Betrieb. 147 Relativ wenige waren Mitglied der SED, der Betriebsparteiorganisation gehörten nur 58 Belegschaftsangehörige an. Ein Mitglied der CDU leitete das Werk. Bereits in den Wochen zuvor war es zwischen ihm und den Näherinnen zu Auseinandersetzungen gekommen, als er Überstunden anordnete und denen, die diese Überstunden ablehnten, die Kündigung nahelegte. 148 Am 17. Juni wollte er die Belegschaft vom Streik abhalten, indem er vorschlug, mit einer Delegation über die Forderungen zu sprechen. Der Vorschlag wurde „hohnvoll abgelehnt" und der Betriebsleiter „ausgepfiffen". 149 Die SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt meinte, daß die „denkbar schlechtesten sozialen Verhältnisse" den Streik ausgelöst hätten. 150 Beispielsweise gab es im Betrieb für 600 Frauen nur sechs Klosetts und zwei Brausen, keinen Raum, um Mahlzeiten einzunehmen, keine richtigen Sitzgelegenheiten. Einige 142 BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 153). 143 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht der BPKK Juli 1953, S. 5 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) ; das folgende Zitat ebd. 144 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 5 - 7 (SächsStAC, SED IV/ 2/4/68). 145 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Bericht über die Vorfälle im Kreisgebiet Werdau vom 1 7 . 6 . 1 9 5 3 - 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , 8.00 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 68f.). 146 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht der BPKK Juli 1953, S. 5 - 7 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) . 147 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vernehmungsprotokoll einer Zeugin vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 9 6 / 5 5 , Bd. II, Bl. 52). 148 Vgl. An die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, Beschwerde gegen Haftbefehl, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV, 1 3 6 / 5 3 , Bl. 21). 149 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 3 6 / 5 3 , Bd. I, Bl. 16); vgl. SED-KL Werdau, Arbeitsniederlegung in den Vereinigten Trikotagenwerken Crimmitschau, o . D . (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 150 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht der BPKK Juli 1953, S. 6 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) ; vgl. SED-KL Werdau, Arbeitsniederlegung in den Vereinigten Trikotagenwerken Crimmitschau, o . D . (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) .

Der Verlauf des 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

347

Arbeiterinnen waren im Frühjahr 1953 von 1,51 Mark Stundenlohn auf 1,31 Mark herabgesetzt worden. Das brachte eine Kürzung des Monatslohnes um 54 Mark. 151 Frühere Aussprachen mit dem Arbeitsdirektor führten nicht zu Veränderungen. Durch die Nachrichten aus Berlin ermuntert, stellte die Belegschaft ähnliche Forderungen wie in den anderen Territorien: Rücktritt der Regierung, sofortige gesamtdeutsche Wahlen, Senkung der Normen um 20 Prozent und Herabsetzung der Preise in der HO. Gegen 14 Uhr wurde die Arbeit wieder aufgenommen. 1 5 2 Anders als in den beiden sächsischen Nachbarbezirken gab es im Betrieb an diesem 17. Juni keinen Versuch, den Streik auf die Straße zu tragen und zu demonstrieren. Das wollten die Mitarbeiter des MfS auch unbedingt verhindern. Doch infolge der umgehend eingeleiteten „operativen Maßnahmen" wäre es am nächsten Tag fast zu einer Demonstration gekommen. Die Staatssicherheit hatte durch „Zeugenvernehmung" zwei sogenannte Rädelsführer verhaftet, die für die Auslösung des Streiks im Trikotagenwerk verantwortlich gemacht wurden. Einen von ihnen nahm sie am Morgen des 18. Juni auf dem Weg zur Arbeit fest, der andere konnte erst am Abend des 18. Juni „zugeführt" werden. 1 5 3 Bei dem zuerst Verhafteten handelte es sich um einen 26jährigen Arbeiter. Er war ehemaliger Fremdenlegionär, 1951 in Hamburg der KPD beigetreten, Teilnehmer der III. Weltfestspiele in Berlin, übersiedelte dann in die DDR, wurde zweimal „republikflüchtig" und arbeitete erst seit April 1953 im Werk. 1 5 4 Im Bericht an das ZK wurde als Grund seiner Verhaftung angegeben: „Der Rädelsführer B. wurde heute Nacht verhaftet, da er ehemaliger Fremdenlegionär ist und starke Westbindungen hat." 1 5 5 Als die Frau des Verhafteten, die im gleichen Betrieb tätig war, am Morgen des 18. Juni auf ihrer Arbeitsstelle erschien, Auskunft über den Verbleib ihres Mannes verlangte und darüber hinaus den SED-Parteisekretär beschuldigte, kam es zu „scharfen Diskussionen" gegen die Regierung 1 5 6 . Dabei traten die Parteimitglieder besonders hervor, was später zu drei Parteiausschlüssen führte. Ein Teil der Belegschaft begab sich sofort zum Parteisekretär. Sie gaben ihm eine Stunde Zeit, den jungen Kollegen freizulassen, und drohten, andernfalls die Arbeit erneut niederzulegen. Sie schlugen vor, den Parteisekretär zur Kriminalpolizei zu begleiten, so daß sich auf ihrem Wege weitere Betriebe hätten anschließen können. Angesichts der neuen Situation beorderte die SED151 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vernehmungsprotokoll einer Zeugin vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 9 6 / 5 5 , Bd. II, Bl. 62); das Folgende ebd., Bl. 65. 152 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 9 6 / 5 5 , Bd. II, Bl. 13). 153 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Aufstellung der verhafteten Personen vom MfS (BStU, Ast. Chemnitz, XX-304, Bl. 55). 154 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Betr.: VEB Trikotagenwerke W B Trikot Crimmitschau, vom 18.6.1953, S. 2 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 155 SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 9 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 156 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Betr.: VEB Trikotagenwerke W B Trikot Crimmitschau, vom 18.6.1953, S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) .

348

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Bezirksleitung sofort zwei Mitarbeiter in den Betrieb. Zusätzlich schickte die Staatssicherheit drei Mitarbeiter, der Zentralvorstand der IG Textil zwei Instrukteure. Außerdem wurde der Betriebsschutz verstärkt. Es kam schließlich nicht zum Ausmarsch aus dem Betrieb. Auch ein erneuter Streik wurde abgewendet. Die SED-Kreisleitung Werdau beschloß, der Parteisekretär solle vorerst nicht im Betrieb erscheinen, um keine neuen Zwischenfälle zu provo157

zieren. Vorübergehend legten am 17. Juni auch die Ofensetzer des VEB Wärmegerätewerkes in Crimmitschau, Kreis Werdau, die Arbeit nieder. 158 Der Streik dauerte von 6 bis 10.30 Uhr und beschränkte sich auf die eine Abteilung. Beteiligt waren zunächst 50 Kollegen, von denen 31, veranlaßt „durch Aufklärungsarbeit", nach kurzer Zeit die Arbeit wieder aufnahmen. Die streikenden Ofensetzer stellten ähnliche Forderungen wie ihre Kollegen in der Trikotagenfabrik. Die parteiinterne Erklärung, weshalb es gerade dort zur Arbeitsniederlegung kam, lautete, in der Ofensetzerei seien einige früher selbständige Ofensetzer beschäftigt, die bereits zuvor „wiederholt Arbeitszurückhaltung betrieben" hätten. Die Staatssicherheit, die vor dem 17. Juni in dieser Angelegenheit ermittelte, hatte immer wieder vor einer vorschnellen „Entscheidung" gewarnt, weil sie „die Wurzeln fassen wollte". 6.

Streiks im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach der Verhängung des Ausnahmezustandes

Obwohl es im Bezirk Karl-Marx-Stadt am 17. Juni vergleichsweise ruhig zuging, verhängten der Chef der Garnison, Oberst Golew, und der Militärkommandant von Karl-Marx-Stadt, Oberst Seliwerstow, am Abend des 17. Juni über den Kreis Karl-Marx-Stadt den Ausnahmezustand. Sie begründeten dies mit „den Vorfällen der Unordnung unter der örtlichen Bevölkerung in einzelnen Wohnorten des Bezirkes". 159 Im Falle von Befehlsverletzungen drohten sie, das Kriegsrecht anzuwenden. Der Ausnahmezustand im Kreis Freiberg wurde nahezu wörtlich wie in Karl-Marx-Stadt gerechtfertigt. 160 Die Kommandanten der anderen Kreise folgten dem Vorgehen der Kommandanten in KarlMarx-Stadt und Freiberg, und bis zum 18. Juni, 12 Uhr, standen alle Kreise des Bezirkes unter Ausnahmebefehl. 161 157 In einem anderen Bericht wurde davon gesprochen, daß der Parteisekretär sich nicht mehr in den Betrieb wagte; vgl. SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 9. (SachsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 158 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht der BPKK Juli 1953, S. 7 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 9 ) ; die folgenden Zitate ebd. 159 Vgl. Befehl Nr. 10 in der Garnison von Karl-Marx-Stadt (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 793). 160 Vgl. Befehl für die Garnison der Stadt Freiberg und des Kreises Freiberg vom 17.6. 1953 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). 161 Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Monatsanalyse vom 2 6 . 5 . - 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 3 4 ) .

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

349

Die Bezirksparteileitung Karl-Marx-Stadt, die bis dahin geglaubt hatte, die Situation unter Kontrolle zu haben, war offenbar über die „schnelle Verkündung" des Ausnahmezustandes in ihrem Bezirk überrascht. 1 6 2 Sie rechtfertigte die Verhängung des Kriegsrechts durch „die sowjetischen Freunde" wie folgt: „In den Bezirks- und anderen größeren Städten der angrenzenden Bezirke gab es im Verlauf des 17. Juni größere Provokationen. Es bestand die Gefahr und die Absicht, Provokateure per Lastauto und Omnibussen in unseren Bezirk einzuschleusen. Der Feind hatte sich für eine größere Provokation im Bezirk KarlMarx-Stadt vorbereitet. Es wurde notwendig, sowohl durch politische als auch administrative Maßnahmen, dem Feind zuvorzukommen." 1 6 3 Die SED-Bezirksleitung organisierte sofort die Verbreitung der entsprechenden Bestimmungen. In denjenigen Betrieben, in denen die Arbeiter in der Nacht vom 17. auf den 18. Juni arbeiteten, verlasen Parteisekretäre und Instrukteure den Befehl des zuständigen Kreiskommandanten. Am darauffolgenden Tag informierten die Räte der Kreise per Stadtfunk, auf Plakaten und mit örtlichen Bekanntmachungen über den Ausnahmezustand. Lediglich in der Gemeinde Lichtenberg, Kreis Brand-Erbisdorf erfuhren die Einwohner erst abends davon. 1 6 4 Dem Bericht der SED-Bezirksleitung zufolge nahm die „überwiegende Mehrheit der Bevölkerung" die Verhängung des Ausnahmezustandes „ruhig und diszipliniert" auf. Allerdings hätten „feindliche und provokatorische Elemente" vor allem in Freiberg und Werdau versucht, „Streiks und Proteste" dagegen zu organisieren. 1 6 5 Es löse in der Bevölkerung Unmut aus, daß das nächtliche Ausgehverbot für die Kumpels und für bestimmte Betriebe nicht gelte. Sowjetische und deutsche Dienststellen seien jedoch übereingekommen, Schichtbetriebe wie immer arbeiten zu lassen, um Produktionsausfälle zu vermeiden. 1 6 6 Der Operativstab der Bezirksbehörde der Volkspolizei registrierte nach Bekanntgabe des Ausnahmezustandes für die meisten Kreise des Bezirkes eine „allgemeine Beunruhigung", „Spannung" oder „Erregung" in der Bevölkerung. 1 6 7 Die Stimmung in den Kreisen Annaberg, Glauchau und Brand-Erbisdorf bezeichnete sie als „ruhig und zurückhaltend" bzw. „ruhig und abwartend" oder „im allgemeinen undurchsichtig". Im Kreis Stollberg wurde „eine allgemein ängstliche Atmosphäre" unter der Bevölkerung beobachtet. 1 6 8 Positive Stellungnahmen kamen lediglich aus Zwickau: Dort sollten „WismutFrauen" ihr Einverständnis mit den Maßnahmen zum Ausdruck gebracht und 162 Vgl. SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 4 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 163 Ebd. 164 Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Situationsberichte aus den Kreisen (SächsStAC, BT/RdB, Nr. 1369). 165 Vgl. SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 5 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 166 Vgl. ebd. 167 Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Stimmung der Bevölkerung in den Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-308, Bl. 2 0 2 - 2 0 7 ) . 168 Ebd., Bl. 2 0 6 .

350

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

erklärt haben, daß sie „ihre Männer auffordern werden, an keiner Demonstration bzw. Streik teilzunehmen, da sie keinen Krieg wünschen". 169 Die Volkspolizei leitete jedoch auch solche Meinungsäußerungen wie die folgende an das MfS weiter: „Wir werden uns den Ausnahmezustand nicht gefallen lassen und werden bis spätestens Sonntag losschlagen." 170 Später gestand der Chef der Volkspolizei ein, daß den behördlichen Maßnahmen „anfangs sehr wenig Verständnis entgegengebracht wurde, da allgemein die Meinung vertreten werde, daß die Notwendigkeit der Verhängung des Ausnahmezustandes im Bezirk Karl-Marx-Stadt nicht vorhanden sei". 171 Einige Betriebsbelegschaften nahmen die Verkündung des Kriegsrechts zum Anlaß, aus Protest die Arbeit niederzulegen. Im VEB Wälzlagerwerk Fraureuth, Kreis Werdau wurde eine Belegschaftsversammlung, auf der über den Ausnahmezustand informiert werden sollte, zum Ausgangspunkt für größere Protestaktionen. 172 In diesem Betrieb mußten Betriebsparteileitung und Betriebsgewerkschaftsleitung zu Beginn der Nachtschicht vom 17. auf den 18. Juni darüber beraten, wie ein Streik abgewendet werden könne. Die Funktionäre hatten erfahren, daß zu Beginn der Nachtschicht Forderungen nach einer Arbeitsniederlegung die Runde gemacht hatten. Sie sandten Parteileitungsmitglieder in die einzelnen Abteilungen, um derartige Pläne zu durchkreuzen. Zunächst schien das Konzept aufzugehen. Um Mitternacht wurde der Parteisekretär in die SED-Kreisleitung bestellt, um Anweisungen über die Bekanntmachung des Ausnahmezustandes und seiner Konsequenzen entgegenzunehmen. Die Betriebsparteifunktionäre wollten aus gegebenem Anlaß keine Versammlung einberufen, sondern lediglich von Abteilung zu Abteilung gehen, um ihre Informationen weiterzugeben. Zu recht befürchteten sie, daß sie gegenüber größeren Gruppen von Arbeitern keine Chance hatten, sich mit ihrer Argumentation durchzusetzen. In der Pause um 2 Uhr nachts verlas der Parteisekretär in Anwesenheit des stellvertretenden Werkleiters den Ausnahmebefehl zunächst in einer Halle. 173 Die Anwesenden äußerten lautstark ihr Unverständnis darüber, daß über den Kreis Werdau der Ausnahmezustand verhängt wurde, obwohl es am Vortag ruhig geblieben war. 174 Sie nahmen zunächst ihre Arbeit wieder auf. Anschließend ging der SED-Chef in eine andere Abteilung, um dort die Belegschaft ebenfalls mit den Bestimmungen bekanntzumachen. Inzwischen versammelten sich 250 bis 300 Arbeiter aus mehreren Abteilungen. Jetzt kam es zu heftigen 169 Ebd., Bl. 207. 170 Ebd., Bl. 2 0 6 . 171 BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 3 0 . 6 . 1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 155). 172 Vgl. SED-KL Werdau, Wälzlagerwerk Fraureuth, S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 173 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Zeugen-Vernehmung des Parteisekretärs vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 55). 174 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 288f.); das folgende Zitat ebd.

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

351

Diskussionen, die bis zum Ende der Nachtschicht andauerten. Ärger erregte vor allem der Vorschlag eines Meisters vom Vortag, „eine Schicht freiwillig und unentgeltlich zu arbeiten, um den Plan zu erfüllen". Bilder und Transparente wurden heruntergerissen, die Solidarisierung mit den Streikenden in Berlin, die Ablösung und Bestrafung der Regierung sowie die Aufhebung des Ausnahmezustandes gefordert.' 7 5 Als schließlich ein Streik drohte, versuchten die Funktionäre erfolglos, die Versammlung aufzulösen oder in kleinere Gruppen aufzusplittern, um in einzelnen Brigaden über die Normenfrage zu diskutieren. 1 7 6 Nach MfS-Berichten kam es zu „Tumultszenen". 177 Als die Arbeiter der Frühschicht erschienen, versammelten sich alle Belegschaftsangehörigen, einschließlich der Leiter und Funktionäre, im Kultursaal. In der Zwischenzeit waren auch drei Angehörige der SED-Kreisleitung Werdau im Betrieb erschienen, darunter der 1. Sekretär. Sie konnten ebenso wie die Betriebsfunktionäre nur noch hilflos zusehen, wie die Belegschaft in eigener Regie eine Versammlung durchführte, an der etwa 1000 Arbeiter und Angestellte über drei Stunden lang teilnahmen. Die Funktionäre der Kreisleitung und der Betriebsparteiorganisation, die Vertreter der Gewerkschafts- und der Werkleitung waren nach Aussagen des Parteisekretärs „auf Grund der Spontaneität der Masse" ausgeschaltet. 178 Vier Beschäftigte, ein 23jähriger Hilfsarbeiter, ein 26jähriger Hilfsdreher, ein 62jähriger Arbeiter, der der SED angehörte, und eine 55jährige Kontrolleurin übernahmen die Leitung der Diskussion. Letztere fand der Staatssicherheit zufolge mit ihrer Rede den „meisten Anklang". 1 7 9 Sie wies die Versammelten auch darauf hin, „keine Veranlassung zum Einschreiten der Russen zu geben, denn diese würden ohne Rücksicht auf Verluste unter den Arbeitern vorgehen". Ein MfS-Mitarbeiter behauptete später, daß sie diese Rede „mindestens einen Tag vorbereitet habe", weil sie jedes Wort „abgewägt" und „zielbewußt" gesprochen habe. 1 8 0 Über die Versammlung im Kulturraum urteilte die Staatssicherheit: „Diese Zusammenkunft wurde zu einer unorganisierten, wilden Aktion, bei der sich besonders Provokateure hervortaten." 1 8 1

175 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Bericht über die Vorfälle im Kreisgebiet Werdau vom 1 7 . 6 . 1 9 5 3 - 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 68). 176 Vgl. SED-KL Werdau, Wälzlagerwerk Fraureuth, S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 177 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben, Betreff: Feindtätigkeit im Bezirk Karl-Marx-Stadt vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 207). 178 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Zeugen-Vernehmung des Parteisekretärs vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 57). 179 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Betr.: Vorkommnisse im Wälzlager Fraureuth, Vorläufiges Feststellungsergebnis, vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 7 4 / 5 3 c, Bd. I, Bl. 417). 180 Ebd. 181 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX301, Bl. 18).

352

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Aus der Versammlung heraus wurden zahlreiche Forderungen gestellt, die die Normenfrage und andere betriebliche Belange betrafen. 182 Mehrere Redner forderten die Ablösung der Gewerkschaftsleitung und die Auflösung der Parteiorganisation im Betrieb. Weitere Forderungen bezogen sich auf die Einheit Deutschlands, gesamtdeutsche Wahlen, die Entlassung der politischen Häftlinge und der Kriegsgefangenen. Es wurde aber auch vorgeschlagen, die Rentner in der DDR durch regelmäßige freiwillige Spenden von Betriebsangehörigen in Höhe von einer Mark pro Monat zu unterstützen. Zum Schluß bildete die Versammlung eine Kommission, in die Vertreter aller Abteilungen - auf Zuruf der Belegschaft - gewählt wurden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der Vorschlag dazu von einem Funktionär der SED-Kreisleitung kam. Laut Bezirksparteileitung war in dieser Kommission „ein Teil der miesesten Elemente" vereinigt. 183 Gewählt wurden mehrere Ingenieure und Abteilungsleiter und etwa zehn Arbeiter. 184 Später kamen noch der Parteisekretär, der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung, der stellvertretende Betriebsleiter und der Sekretär der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft hinzu. Die Kommission erhielt den Auftrag, die Forderungen der Belegschaft zusammenzufassen und sämtliche innerbetriebliche Fragen sofort mit der Betriebsleitung zu klären. Die Belegschaft des Wälzlagerwerkes Fraureuth beschloß, nach Werdau zum sowjetischen Kommandanten zu ziehen, um die Aufhebung des Ausnahmezustandes zu „erzwingen". 185 Damit drohte der Streik sich auszuweiten, denn durch diesen Marsch sollten auf der Strecke liegende Betriebe, z. B. das Ifa Werk „Ernst Grube", in die Protestaktion einbezogen werden. Daraufhin wies der sowjetische Kommandant den MfS-Kreisdienststellenleiter an, Volkspolizei einzusetzen und die Demonstration zu verhindern. Gegen 9 Uhr morgens erschienen „die Freunde" vor dem Werk. 186 Sowjetische Soldaten und Volkspolizisten riegelten sofort die Ausgänge des Betriebes ab. 187 Der Vorsitzende der BGL erklärte, „daß niemand zu einer Demonstration auf die Straße käme, es sei denn über seine Leiche". 188 Eine Delegation unter Leitung des Sekretärs der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft wurde

182 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Zeugen-Vernehmung des Parteisekretärs vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 55f.). 183 Vgl. SED-BL, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 9 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 184 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 148). 185 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Zum Bericht der BL Karl-Marx-Stadt, o . D . (SAPMOBArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 6 , Bl. 36). 186 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 18). 187 Vgl. SED-KL Werdau, Wälzlagerwerk Fraureuth, S. 2 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 188 FDGB-Bezirksvorstand Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Ereignisse vom 17.6.- 17.7. 1953 im Bezirk Karl-Marx-Stadt vom 17.7.1953, S. 3 (SAPMO-BArch, FDGB-Buvo, A 563).

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des Ausnahmezustandes

353

schließlich beauftragt, mit dem sowjetischen Stadtkommandanten über die Aufhebung des Ausnahmezustandes zu verhandeln. 189 In der Zwischenzeit sollte die Arbeit wieder aufgenommen werden, was ab 10 Uhr auch geschah. 190 Gegen 9.30 Uhr fand die erste Zusammenkunft der zuvor in der Versammlung gewählten Kommission mit der Werkleitung statt. 22 Personen berieten etwa drei Stunden lang. 191 Das darüber angefertigte Protokoll sollte u. a. an das Ministerium für Schwermaschinenbau übersandt werden. 192 Der stellvertretende Werkleiter erklärte die zuletzt ergangenen administrativen Normenerhöhungen um 11 Prozent für hinfällig, während die freiwilligen Normenerhöhungen aus der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 28. Mai 1953 nach Anweisung des Ministeriums für Maschinenbau bestehen bleiben sollten. Das fand nicht die uneingeschränkte Zustimmung der Kommission. Man einigte sich schließlich darauf, auch diese Normenerhöhungen zurückzunehmen, soweit sie unter Druck zustande gekommen waren. Andere betriebliche und soziale Forderungen, die beispielsweise Nachzahlungen von Löhnen, die Regelung der Schichtarbeit, Fahrgeldzuschüsse und Neueinstufungen bei der Lebensmittelkarten betrafen, wurden zur sofortigen Klärung an das Ministerium und an den Rat des Kreises weitergereicht. Die Forderung nach freien und geheimen Wahlen übersandten die Versammelten ebenfalls an das Ministerium. Der Werkleiter, der in Dresden zu einer mehrwöchigen Schulung weilte, wurde sofort zurückgerufen. Die Kommission verständigte sich darauf, mit ihm am 19. Juni über die Forderungen der Belegschaft zu beraten. Der Sekretär der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, der im Auftrag der Kommission mit dem sowjetischen Stadtkommandanten verhandelt hatte, berichtete in der Kommissionssitzung über das Verhandlungsergebnis: Der Kommandant habe die Forderung der Belegschaft mit der Begründung abgelehnt, daß „die Anordnung des Ausnahmezustandes von der obersten Stelle in Berlin kommt und sich über alle Kreise erstreckt". 193 Er lasse mitteilen, „daß es mit dieser Maßnahme nicht heißt, die Belegschaft niederzuknüppeln, sondern die Saboteure zu verhindern bzw. herauszufinden". Schließlich habe der sowjetische Kommandant vorgeschlagen, trotz des Ausnahmezustandes weiter in drei Schichten zu arbeiten und gewisse Arbeitszeitverlagerungen vorzunehmen. In der Kommissionssitzung kam auch zur Sprache, daß die morgendliche Belegschaftsversammlung auf Tonband aufgenommen worden war. Ein Funktechniker wollte von sich aus die Diskussion aufgezeichnet haben, weil „die Aufnahmen nichts kosten und im Kulturraum durchgeführte Veranstaltungen 189 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bl. 441). 190 Vgl. ebd., Bl. 442. 191 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Protokoll über die Besprechung der Werkleitung und der Vertrauensleute aus den einzelnen Abteilungen der Wälzlagerfabrik am 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 136ff.). 192 Vgl. ebd., Bl. 138. 193 Ebd., Bl. 137; das folgende Zitat ebd.

354

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

und Versammlungen in der Regel aufgenommen würden". 1 9 4 Dabei hatten sich die Streikenden ausdrücklich jegliche Dokumentation ihrer Diskussion verbeten. Bereits in der Versammlung war es zu einem Zwischenfall gekommen, als eine Sekretärin mitstenographieren wollte. 195 Die Teilnehmer der Kommissionssitzung beschlossen deshalb, die Tonbänder zu vernichten, und beauftragten damit eine Dreiergruppe, der auch der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung und der Abteilungsgewerkschaftsleitung angehörten. Diesen wurde jedoch die Herausgabe der Bänder zunächst verweigert. Als das der Belegschaft bekannt wurde, legte sie gegen 14 Uhr abermals die Arbeit nieder und versammelte sich erneut im Kulturraum. 196 Der stellvertretende Werkleiter drohte „strengste Maßnahmen" des sowjetischen Kommandanten für den Fall an, daß bis 15 Uhr die Arbeit nicht wieder aufgenommen würde. Jedoch beendeten die Fraureuther ihren Streik erst, nachdem die Bänder gelöscht worden waren. 197 Ein MfS-Mitarbeiter und eine Vertreterin der SEDBezirksleitung waren dabei anwesend. Die Staatssicherheit hatte keine Gelegenheit gefunden, vorher die Bänder abzuspielen oder Kopien zu machen, um die sogenannten Rädelsführer herauszufinden. Bevor die Belegschaft zurück an die Arbeit ging, drohte sie damit, erneut zu streiken, falls jemand verhaftet würde. Auf Anordnung der Einsatzleitung begaben sich der Dienststellenleiter und ein weiterer Mitarbeiter des MfS in den Betrieb. 198 Sie konnten zwar zunächst keine „Rädelsführer" feststellen, doch ihr Informant „Schmied" erstattete unmittelbar danach seinen Bericht über die Streikversammlung und beschrieb nach Kleidung und Aussehen denjenigen Arbeiter, der sich nach seiner Meinung „besonders hervorgetan" hatte. 199 Das MfS verhaftete in den folgenden Tagen neun Betriebsangehörige des Wälzlagerwerkes, darunter jene Frau, die die Belegschaftsversammlung am Morgen des 18. Juni mit geleitet hatte. 2 0 0 Unter den Verhafteten waren auch zwei junge Männer, die erst seit kurzer Zeit im Betrieb arbeiteten und sich zuvor in Westdeutschland aufgehalten hatten. Über die Vernehmung eines 23jährigen Schmiedes, der Ende 1952 als Arbeitsloser aus Westdeutschland zurückgekehrt und seit dem 5. Juni im Betrieb beschäftigt war, hielt das MfS als Antwort auf die Frage „Warum führten Sie eine solche verbrecherische 194 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 4 4 4 ) . 195 Vgl. ebd., Bl. 442. 196 Vgl. ebd., Bl. 4 4 4 . 197 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Protokoll über Befragung eines Zeugen, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 44). 198 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Bericht über die Vorfälle im Kreisgebiet Werdau vom 1 7 . 6 . 1 9 5 3 - 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-307, Bl. 69). 199 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Aktennotiz über einen Bericht des Gl Schmied, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 135). 2 0 0 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vorläufiges Feststellungsergebnis, vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 417).

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

355

Tätigkeit durch?" fest: „Ich führte es deshalb aus, weil ich durch meinen sechsjährigen Aufenthalt in Westdeutschland noch den reaktionären Einflüssen unterlag". 2 0 1 Es ist zu vermuten, daß diese Aussage nicht aus freien Stücken gemacht wurde, da sie genau der Deutung vom faschistischen Putsch entspricht. Offenbar wurde er auch unter Druck als Gl gewonnen; er arbeitete seit August als Gl „Willibald" für das MfS. 2 0 2 Als den „Organisator der Streikversammlung" identifizierte die Staatssicherheit einen 62jährigen Arbeiter, ein langjähriges SED-Mitglied, das sich dadurch exponiert hatte, daß es die Diskussion in der Belegschaftsversammlung im Kulturraum am 18. Juni mit geleitet hatte. Nach Angaben eines Angehörigen des Betriebsschutzes war dieser Arbeiter in der Nachtschicht von Maschine zu Maschine gegangen und hatte zur Streikversammlung aufgefordert. 2 0 3 Er wurde ebenfalls verhaftet. Am 19. Juni verweigerten 300 von etwa 700 im Betrieb anwesenden Beschäftigten der Frühschicht die Arbeitsaufnahme, um die Inhaftierten freizubekommen. In dieser Situation forderte die Ehefrau des angeblichen Organisators über Betriebsfunk zur Arbeitsaufnahme auf, unter anderem sagte sie: „Aufgrund der Übertretung des Befehls des sowjetischen Kommandanten über die Einhaltung der Bestimmungen des Ausnahmezustandes wurde in der vergangenen Nacht mein Mann festgenommen. Ich glaube, daß ihr dasselbe Interesse habt wie ich, ihn so schnell wie möglich wieder frei zu bekommen. Ich fordere Euch deshalb zur Besonnenheit und Ruhe auf, geht an Euere Arbeit. Um so eher Ruhe eintritt, um so eher wird mein Mann zurückkehren. Es war auch der Wunsch meines Mannes, daß die Arbeit heute wieder im Betrieb aufgenommen wird." 2 0 4 Inzwischen hatten auch sowjetische Soldaten der Kreiskommandantur Werdau unter Führung des Kreiskommandanten gemeinsam mit Volkspolizisten die Betriebsausgänge besetzt. 2 0 5 Gegen die inhaftierten Fraureuther wurden Untersuchungsverfahren wegen „Boykotthetze" eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft des Bezirkes verfügte jedoch am 30. Juni, in den meisten Fällen keine Strafverfahren einzuleiten und die Beschuldigten aus der Haft zu entlassen. 2 0 6 Vor ihrer Entlassung mußten sie eine Verpflichtung unterschreiben, wonach sie über all das, was sie während der Haft beim MfS erlebt, gesehen und gehört haben, strengstes Stillschweigen auch gegenüber den nächsten Angehörigen zu bewahren hatten, 201 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Vernehmungsprotokoll eines U-Häftlings, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53 c, Bd. 1, Bl. 16). 2 0 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Gl „Willibald", o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, Personalakte 2 7 2 / 5 4 ) . 2 0 3 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Werdau, Betr.: Vorkommnisse im Wälzlager Fraureuth, Vorläufiges Feststellungsergebnis, vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 7 4 / 5 3 c, Bd. I, Bl. 415). 2 0 4 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Vorgang Wälzlagerwerk Fraureuth, o . D . , S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . 2 0 5 Vgl. ebd. 2 0 6 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Verfügung vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53c, Bd. I, Bl. 9).

356

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

ansonsten würden sie nach § 353 des StGB zur Verantwortung gezogen. 207 Die Freigelassenen wurden im Betrieb mit Blumensträußen empfangen, an denen Karten mit der Aufschrift „Wir begrüßen Euch" angeheftet waren. 2 0 8 Mindestens zwei von ihnen hatte die Staatssicherheit in Untersuchungshaft als Geheime Informanten angeworben - „mit der Perspektive, die Provokateure im VEB Wälzlagerwerk Fraureuth mit aufzuklären." 2 0 9 Lediglich gegen zwei der Verhafteten, zwei 54jährige Arbeiter, wurde Anklage erhoben, weil sie, so die Staatsanwaltschaft, „die Grundlagen unserer demokratischen Staatsordnung angegriffen und den Frieden des deutschen Volkes gefährdet haben". 210 Sie wurden am 10. Juli zu je 10 Monaten Gefängnis verurteilt, später wurde der Haftbefehl aufgehoben. Den 62jährigen Arbeiter, den das MfS als den „Wortführer" ausgemacht hatte, schloß die SED zusammen mit zwei weiteren SED-Mitgliedern, darunter einem Leitungsmitglied der BPO, aus der Partei aus. 211 Der zweite Schwerpunkt entwickelte sich in Freiberg an der Zinkhütte, auf einer Baustelle der Bauunion Dresden. Dort waren etwa 1300 Arbeiter, darunter rund 200 sogenannte Bewährungsarbeiter 212 , mit dem Ausbau der Zinkhütte beschäftigt. 213 Viele kamen aus anderen Städten und Orten und wohnten deshalb in Barackenlagern in der Nähe der Baustelle. Ein Teil hatte zuvor auf anderen Baustellen der DDR gearbeitet. Viele von ihnen waren nach Freiberg gegangen, weil sie hier auf Grund des Sonderbauprogramms Erzbergbau und Hüttenwesen mehr verdienen konnten und in höhere Lebensmittelkartengruppen eingestuft wurden als in ihren Heimatorten. 214 Außerdem waren im Bezirk Karl-Marx-Stadt im Frühjahr 1953 einige größere Bauvorhaben eingestellt worden, die Entlassungen von „mehreren 1000 Bauarbeitern" zur Folge hatten. Parallel dazu baute auch die Wismut AG Arbeitskräfte ab. Die Arbeit auf der Sonderbaustelle in Freiberg war schwer und teilweise gesundheitsschädigend. In den primitiven Barackenunterkünften herrschte

2 0 7 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Handschriftliche Verpflichtung vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 7 4 / 5 3 c, Bd. I, Bl. 218). 2 0 8 Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Blitzfernschreiben des Operativstabes an HVDVP, o . D . (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 3 8 , Bl. 2). 2 0 9 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Gl „Lotte", o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, Personalakte 1 6 9 / 5 6 ) . 210 Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Anklageschrift vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 7 4 / 5 3 c, Bd. I, Bl. 473). 211 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, BPKK, Monatsbericht August 1953, S. 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) . 212 Personen, die zu Haftstrafen verurteilt waren und diese unter verschiedenen Auflagen in Betrieben abarbeiteten. 213 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach bisher vorliegenden Berichten der KPKK vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 5 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 793). 214 Vgl. Rat des Kreises Freiberg, 2. Situationsbericht des Rates des Kreises Freiberg vom 19.6.1953 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369).

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

357

zudem eine „ganze Anzahl von Mißständen" 2 1 5 , so gab es in manchen Baracken nicht einmal elektrisches Licht. Für die gesamte Belegschaft standen lediglich fünf Wasserhähne zur Verfügung. Diese Unterbringung mußten die Bauarbeiter mit monatlich 50 Mark noch hoch bezahlen. Ungerechtigkeiten in Lohn- und Urlaubsfragen sowie die bevorstehenden Normenerhöhungen sorgten für weitere Konflikte, die nicht öffentlich diskutiert werden konnten, u.a. weil seit mehr als sechs Monaten keine Belegschaftsversammlungen mehr stattgefunden hatten. An jenem Morgen des 17. Juni diskutierten auch die Freiberger Bauarbeiter über die Vorgänge in der Ostberliner Stalinallee. Zunächst war ihnen noch nichts über Streiks und Demonstrationen aus Dresden oder Leipzig bekannt. Die Arbeiter waren sich einig darüber, daß es „einmal zum Krachen kommen mußte", weil „es schon lange stinken würde." 2 1 6 Doch sie arbeiteten zunächst weiter. Die Volkspolizei registrierte für den 17. Juni lediglich, daß die Belegschaft der Zinkhütte an der Einführung einer „Intelligenz-Verkaufsstelle" mit besonderem Warenangebot Kritik geübt habe. 2 1 7 In der Nacht vom 17. zum 18. Juni bildeten Betriebsparteileitung und Betriebsgewerkschaftsleitung „Aufklärungsgruppen", die die Belegschaft der einzelnen Bauabschnitte zu Arbeitsbeginn über die Verhängung des Ausnahmezustandes informieren sollten. 218 Am Morgen des 18. Juni hatten einzelne Brigaden zunächst offenbar mit der Arbeit begonnen. Dann mußten sie ihre Tätigkeit wegen starken Regens unterbrechen. Diese Zeit wollten die „Aufklärer" nutzen. Sie suchten einzelne Brigaden in ihren Unterkünften auf, konnten aber bereits zu diesem Zeitpunkt die große Unzufriedenheit der Arbeiter nicht übersehen, die sich in vielen „Zwischenfragen" äußerte. Andere Brigaden waren an diesem Morgen gar nicht erst zu ihren Einsatzorten gegangen, statt dessen zogen sie in die Kulturbaracke und verlangten eine Betriebsversammlung. Möglicherweise lenkten auch Instrukteure der SED-Kreisleitung die Bauarbeiter gezielt dorthin, um mit ihnen zu diskutieren. 219 Dennoch erklärte ein Vertreter der Bauleitung zunächst, daß die Versammlung wegen des Ausnahmezustandes nicht zulässig sei. 2 2 0 Sofort ertönten Rufe aus der Menge: „Dann streiken wir!" Inzwischen war der Vorsitzende der Gewerkschaftsleitung mit der Nachricht eingetroffen, daß die SED-Kreisleitung die 215 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen vom 16.-24.6.1953 im Bezirk Karl-MarxStadt, vom 24.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 8). 216 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. I, Bl. 11). 217 Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Stimmung der Bevölkerung in den Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, o. D. (BStU, Ast. Chemnitz, XX-308, Bl. 203). 218 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. I, Bl. 65f.). 219 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 4 (SächsStAC, SED IV/2/3/793). 2 2 0 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. II, Bl. 240).

358

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

Versammlung erlaubt habe. 2 2 1 Daraufhin sprachen mehrere SED- und Betriebsfunktionäre, darunter der erwähnte Gewerkschaftsfunktionär und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung. Sie wurden ausgepfiffen. Zwischenrufe machten schnell deutlich, daß es der Belegschaft bei ihrem Protest nicht nur um betriebliche oder soziale Belange ging. Forderungen nach Rücktritt der Regierung, freien Wahlen und Aufhebung des Ausnahmezustandes waren unüberhörbar. Nach den Betriebsfunktionären ergriff ein 23jähriger Transportarbeiter und Brigadeleiter das Wort. 2 2 2 Er war in Lauchhammer zu Hause und arbeitete erst seit wenigen Tagen mit seiner Brigade aus sieben Kollegen im Alter zwischen 20 und 53 Jahren in Freiberg. Zuvor waren die Brigadeangehörigen als Hüttenarbeiter in Halsbrücke tätig gewesen. Der junge Transportarbeiter hatte alle Forderungen der Versammelten mitgeschrieben. Weil er ein guter Redner war, schlugen Mitglieder seiner Brigade ihm vor, sich zu Wort zu melden. Er wandte sich mit folgenden Worten an die Belegschaft: „Kollegen, so geht es nicht weiter! Seit 1945 wird uns versprochen, daß wir unsere Lebensverhältnisse selbst verbessern könnten; im Gegenteil sind aber die Normen ständig erhöht worden, während der Grundlohn geblieben ist und die Preise steigen." Deshalb forderte er eine umgehende Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen, etwa durch Abschaffung der Normen, Angleichung der Löhne an die Preise, Erhöhung der Grundlöhne und Einsetzung einer neuen Küchenkommission. Er wiederholte auch die Forderungen nach Rücktritt der Regierung, Aufhebung des Ausnahmezustandes und freien Wahlen in Gesamtdeutschland. 223 Es läßt sich nicht mehr sicher feststellen, ob von ihm oder von einem ebenfalls anwesenden SED-Mitglied der Vorschlag stammte, eine Streikleitung oder Kommission zu bilden, die „zentral und selbstbeschließend" die Forderungen der Arbeiter vertreten sollte. Obwohl der Vorschlag prinzipiell „freudig" begrüßt wurde und die SED-Vertreter sich dazu positiv äußerten, warnten einige Anwesende vor möglichen Verhaftungen. Der 1. Kreissekretär sicherte zu, daß niemand für seine Mitarbeit in der Kommission eingesperrt würde. 2 2 4 Für dieses Gremium wurden sechs Belegschaftsangehörige, mehrheitlich jüngere Leiter von Transport- und Baubrigaden vorgeschlagen. Einer der gewählten Vertreter schied noch in der Versammlung auf eigenen Wunsch aus der Kommission wieder aus - mit der Begründung, er sei Gewerkschaftsfunktionär. 225

221 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 23f.). 222 Ebd., Bl. 24f; das folgende Zitat ebd. 2 2 3 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BstU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 12); die folgenden Zitate ebd. 224 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. II, Bl. 211). 2 2 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 21.6.1953 (BstU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. I, Bl. 60).

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des Ausnahmezustandes

359

Die SED-Bezirksleitung berichtete dem ZK, daß „durch den geschickten Vorschlag eines Genossen [...] die größten Schreier und Anführer für eine Kommission vorgeschlagen" worden seien. 226 Die BPKK bezeichnete später die Wahl jenes Gremiums als „einen guten Schachzug" 227 , weil es damit gelungen sei, Zeit zu gewinnen, die Streikführer zu isolieren, sie unter Kontrolle zu halten und sie später dazu „zu benutzen", die Parteilinie vor der Belegschaft zu vertreten. 2 2 8 Gegen 12.30 Uhr war die Versammlung in der Kulturbaracke beendet. Das Volkspolizeikreisamt Freiberg informierte sofort die Einsatzleitung der vorgesetzten Bezirksbehörde: „Die Versammlung der Bauarbeiter der Bauunion von der Zinkhütte verlief ergebnislos, da die Forderungen zum größten Teil politischer Natur waren." 2 2 9 Im Anschluß an die Belegschaftsversammlung berieten die Kommissionsmitglieder weiter. Zuvor versprachen sie der Belegschaft, daß ihnen am nächsten Morgen das Ergebnis der Verhandlungen mit den Verantwortlichen des Betriebes bekanntgegeben würde. 2 3 0 Daraufhin nahm ein Teil der Belegschaft wieder die Arbeit auf. Die Kommission, die später als Streikleitung bezeichnet wurde, tagte etwa von 13 bis 19 Uhr. An dieser Beratung nahmen alle Mitglieder der Betriebsgewerkschafts, ein Vertreter der Industriegewerkschaft BauHolz, der Direktor der Zinkhütte, mehrere Bauleiter sowie Angestellte der Verwaltung, drei Angehörige der SED-Bezirksleitung, Funktionäre der SED-Betriebsparteiorganisation und der Mannschaftsführer der Fußballmannschaft Dynamo Dresden teil. Insgesamt waren etwa 35 bis 40 Personen anwesend. 231 Am Nachmittag kam der Vorsitzende der Bezirksparteikontrollkommission Karl-Marx-Stadt hinzu. Die Partei- und Staatsfunktionäre erkannten die den Betrieb betreffenden Forderungen als berechtigt an und versprachen Sofortmaßnahmen zur Behebung der Mißstände. Die politischen Forderungen wurden von ihnen dagegen „scharf zurückgewiesen". 232 Sie „verpflichteten" die Kommission dazu, dies der Belegschaft beizubringen. Nach Abschluß der Beratung informierte die SED-Bezirksleitung das ZK: „Es gelang in mehrstündiger Diskussion, die Kommission dahingehend zu bewegen, daß sie positiv mit der Belegschaft 226 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 6 (SächsStAC, SED W/2/ 3/793). 227 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, o.D., S. 6 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . 228 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 8 (SächsStAC, SED IV/2/3/793). 229 Durchsage des VPKA Freiberg am 18.6.1953, 13.50 Uhr (SächsHStA, BDVP KarlMarx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 15). 230 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 21.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. I, Bl. 59). 231 Vgl. ebd., Bl. 26. 232 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, o.D., S. 6 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 68).

360

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

spricht." 233 Die Beratung sei „genauestens" stenografiert worden; „Maßnahmen von Seiten der staatlichen Organe wurden vorläufig aus taktischen Gründen gegen die Kommission nicht eingeleitet." Im Prinzip setzte sich die SEDBezirksleitung damit über die fernmündliche Anweisung des Generalsekretärs Ulbricht hinweg, der zufolge alle nach Verhängung des Ausnahmezustandes gebildeten Streikleitungen sofort zu verhaften waren. Nach Abschluß der Kommissionssitzung tagte die Betriebsgewerkschaftsleitung, an dieser Sitzung nahmen Vertreter der Kommission teil. Unter anderem beraumten die Teilnehmer für den 25. Juni eine Belegschaftsversammlung an, die über eine Neuwahl der Gewerkschaftsleitung entscheiden sollte. Während sich die Beratungen mit den fünf Kommissionsmitgliedern über mehrere Stunden hinzogen, diskutierten die Agitatoren der Partei unterdessen mit den Arbeitern auf den einzelnen Bauabschnitten. 50 Agitatoren waren an diesem Nachmittag auf der Baustelle Zinkhütte unterwegs. Sie sollten die Stimmung erkunden und im Sinne des SED-Regimes beeinflussen. Die SEDBezirksleitung behauptete am Abend, es sei den Genossen gelungen, „die positiven Kräfte der Belegschaft und auch schwankende Elemente von den Provokateuren zu lösen". Am nächsten Morgen sollten die Agitatoren die Linie des Leitartikels in der Parteizeitung Neues Deutschland vertreten. Dieser Artikel sollte der Belegschaft außerdem als Flugblatt ausgehändigt werden. Während der Nacht vom 18. auf den 19. Juni gingen in den Wohnunterkünften der Zinkhütte die Diskussionen und die Vorbereitungen für den nächsten Tag weiter. Inzwischen hatten die Freiberger Arbeiter erfahren, daß in Dresden ebenfalls gestreikt wurde. Sie hielten es für „ihre Pflicht" 234 , ihre Kollegen in Dresden und Berlin zu unterstützen. Aus diesem Grunde erkundeten einige Kommissionsmitglieder die „Stimmung der Bauarbeiter" in den Baracken. Sie berichteten dem Vorsitzenden der Kommission, dem bereits erwähnten jungen Brigadeleiter der Transportarbeiterkolonne, daß „die Streikstimmung der Kollegen gut ist, und sie wollten die Arbeit nicht eher wieder aufnehmen, bis sie von der Bauleitung konkrete Zusagen haben". Daraufhin forderten sie die Belegschaft per Aushang dazu auf, am 19. Juni um 7 Uhr wie abgesprochen zur Versammlung zu erscheinen. Der Kommissionsvorsitzende bereitete sich bis in die Morgenstunden darauf vor, indem er einen Bericht über das Verhandlungsergebnis seiner Kommission verfaßte. Diesen wollte er am Morgen vor der Belegschaft verlesen. Im wesentlichen äußerte er darin seine Enttäuschung darüber, daß die Beratung der Kommission mit den Funktionären des Betriebes und des Bezirkes zwar „kleine Teilerfolge", aber insgesamt „keine Erfolge für die Belegschaft" erzielt habe. 2 3 5 233 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 7 (SächsStAC, SED W/2/ 3/793); die folgenden Zitate ebd. 234 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 22.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 194/53, Bd. I, Bl. 30); die folgenden Zitate ebd. 235 Vgl. ebd., Bl. 29.

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

361

Am späten Abend begaben sich außerdem einige Kommissionsmitglieder in die Stadt Freiberg, um Streikaufrufe zu kleben und Verbindungen zu anderen Baustellen in Freiberg sowie mit den Kumpeln der Bleierzgruben „Albert Funk" herzustellen. SED-Bezirksleitung und MfS-Bezirksverwaltung waren über diese Aktionen bereits informiert und ergriffen ihre Gegenmaßnahmen. So erteilte die Staatssicherheit am Abend des 18. Juni ihren Spitzeln den Auftrag, die Personalien der Streikleitung und die Stimmung unter den Arbeitern auszukundschaften. 2 3 6 Die für den Morgen des 19. Juni angesetzte Belegschaftsversammlung wurde verboten. Eine Stunde vor dem festgesetzten Termin informierte die Bauleitung davon unter anderem die Gewerkschaftsleitung und die Kommission, verbunden mit der Aufforderung, die Belegschaft „sofort darüber aufzuklären" 2 3 7 . Ein „großer Teil" der Beschäftigten erschien dennoch in der Kulturbaracke. „Die Belegschaft", so stellte die SED-Bezirksleitung später fest, „rottete sich zu einer Versammlung zusammen, wo sich auch Genossen der Bezirksleitung nicht mehr durchsetzen konnten." 2 3 8 Die Situation spitzte sich zu, als der Vorsitzende der Kommission mitteilte, daß das Versprechen vom Vortag, bis 7 Uhr die den Betrieb betreffenden Forderungen zu erfüllen, nicht eingelöst war. Die Staatsanwaltschaft Karl-Marx-Stadt warf ihm deshalb wenige Tage später in der Anklageschrift vor, er habe „unwahre Dinge" vorgetragen, so daß er „selbst rechtschaffene Werktätige aufputschte". 2 3 9 Nach seiner Rede kam es zu „tumultartigen Szenen". Die SED-Kreisleitung Freiberg setzte Agitatoren ein, die die Bauarbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen sollten, darunter auch Genossen der Wismut-Gebietsparteischule 2 4 0 , aber die Belegschaft hielt ihre Forderungen aufrecht. Inzwischen fuhren sowjetische Militäreinheiten vor. 241 Der MfS-Dienststellenleiter Freiberg unterrichtete seine vorgesetzte Dienststelle in Karl-Marx-Stadt: „Die Arbeiter empören sich über das Auffahren von sowjetischen Militäreinheiten und verlangen auf Grund der gestrigen Beschlüsse sofort eine Versammlung. Die Agitatoren der SED-Kreisleitung sind eingekreist." 2 4 2 Am Nachmittag meldete das MfS KarlMarx-Stadt der MfS-Einsatzleitung in Ostberlin, daß „sowjetische Freunde die

2 3 6 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben an das MfS, vom 18.6. 1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 2 5 9 ) . 237 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Vernehmungsprotokoll eines Beschuldigten vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 29). 2 3 8 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, o . D . , S. 6 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . 2 3 9 Staatsanwalt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Anklageschrift vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 2 8 4 ) . 2 4 0 Vgl. SED-GPL Wismut, Telefonische Durchsage der GPL an ZK vom 19.6.1953, 2 2 . 2 0 Uhr (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 6 , Bl. 124). 241 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben an das MfS, vom 19.6.1953, 15.30 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 2 7 3 ) . 2 4 2 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Freiberg, Fernschreiben Nr. 2 9 3 vom 19.6.1952, Abschrift (BstU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 2 9 2 ) .

362

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

Menschenansammlung im Werk gesprengt" hätten. 243 Doch nach Rückzug der Soldaten bildeten sich wiederum „kleine Trupps". An diesem Tage legten 90 Prozent der Belegschaft die Arbeit nieder. Einige fuhren einfach in ihre Heimatort und kamen erst am 21. Juni wieder zurück. 2 4 4 Die Hoffnung der Baustellenarbeiter der Baustelle Zinkhütte, Unterstützung von anderen Betrieben in Freiberg zu bekommen, ging kaum in Erfüllung. Lediglich ein Teil der Bauarbeiter der Baustelle Bergakademie legte an diesem 19. Juni für zwei Stunden die Arbeit nieder. 245 Am 19. und 20. Juni nahm das MfS Freiberg „im Zusammenhang mit der Arbeitsniederlegung der Bauunion Freiberg" zunächst neun Personen fest, darunter die fünf Kommissionsmitglieder und drei Mitglieder der Brigade, aus der ihr Vorsitzender kam. Auch der Gewerkschaftsfunktionär, der ursprünglich in der Kommission hatte mitarbeiten sollen, wurde kurzzeitig festgenommen. Später wurden außerdem zwei weitere Arbeiter der Baustelle Zinkhütte „zugeführt". Die Festgenommenen waren mehrheitlich jüngere Leute zwischen 18 und 26 Jahren, nur einer war 34 Jahre alt und ein weiterer älter als 50 Jahre. 246 Der Jüngste war bis 1948 - also noch als Kind - interniert gewesen. 247 Gegen zwei der Freiberger Transportarbeiter, den Kommissionsvorsitzenden und ein Mitglied seiner Brigade, wurde „als aufrührerische Elemente" wegen „Verbrechen nach Kontrollratsdirektive 38, Abschnitt II, Artikel III A II" Anklage erhoben. 2 4 8 Die SED-Bezirksleitung behauptete später, daß „eingeschleuste Provokateure" die Unzufriedenheit der Freiberger Bauarbeiter ausgenutzt hätten. 2 4 9 Als Beweis führte sie an, mehrere Kommissionsmitglieder seien bereits in Westdeutschland oder Westberlin gewesen. Als ein solcher Aufenthalt galt auch, wenn jemand während der III. Weltfestspiele einen Besuch in Westberlin unternommen hatte. Zwei Festgenommene waren erst kurz zuvor aus Westdeutschland in die DDR übergesiedelt. Sie hatten kaum persönlichen Besitz in die DDR mitgebracht und sich so bereits verdächtig gemacht. Allerdings verschwieg die SED-Bezirksleitung in diesem Zusammenhang, daß solche Übersiedlungen oftmals das Ergebnis von gezielten Werbekampagnen 243 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Fernschreiben an das MfS, vom 19.6.1953, 15.30 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 273). 2 4 4 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 8). 2 4 5 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Telefonische Durchsage an ZK der SED, vom 19.6. 1953, S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 5 / 3 ) . 246 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Liste: Festgenommene Personen während des Sondereinsatzes, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 4 , Bl. 24f.). 247 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 7 (SächsStAC, SED IV/2/3/793). 2 4 8 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Anklageschrift vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, Ermittlungsverfahren, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 283ff.). 249 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 6f. (SächsStAC, SED IV/2/3/793).

Streiks im Bezirk nach der Verhängung des

Ausnahmezustandes

363

waren. Die DDR-Medien hatten vor dem 17. Juni Menschen vorgestellt, die von Westdeutschland in die DDR gekommen waren, weil sie angeblich die Überlegenheit und Anziehungskraft des Sozialismus erkannt hatten. Nach dem 17. Juni dienten solche Übersiedler, wenn sie an Streiks oder Demonstrationen teilgenommen hatten, als Bestätigung für die Behauptung, daß eingeschleuste Elemente Unruhen und „faschistische Provokationen" ausgelöst hätten. Die SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt vermutete bereits am 18. Juni „eine Konzentration ehemaliger faschistischer, deklassierter und krimineller Elemente" auf der Freiberger Baustelle. 250 Wie sich jedoch später herausstellte, war unter den Festgenommenen kein einziger, der in der NSDAP, SS oder SA organisiert gewesen oder einschlägig vorbestraft war. Eine Überprüfungskommission, die die SED-Bezirksleitung nach dem Streik auf die Baustelle Zinkhütte entsandte, „empfahl" unter anderem personelle Veränderungen in der Betriebsparteiorganisation, so die Ablösung des Parteisekretärs und die Abberufung des Vorsitzenden der Gewerkschaftsleitung. 251 Die SED-Kreisleitung Freiberg forderte daraufhin von der Industriegewerkschaft Bau-Holz die Ablösung des betreffenden Gewerkschaftsfunktionärs. Der FDGB Bezirksvorstand wehrte sich jedoch dagegen, weil seiner Meinung nach „diese Frage nicht von der Kreisleitung der Partei gestellt werden kann, da es eine Vergewaltigung der innergewerkschaftlichen Demokratie ist und die Abberufung nur von der Belegschaft gefordert werden kann". Außer im VEB Wälzlagerwerk Fraureuth und auf der Baustelle Zinkhütte legten am 18. Juni unter anderem Arbeiter der Werna Rochlitz, der Zwickauer Maschinenfabrik, Werk 2, in Crimmitschau sowie einer Abteilung des Ifa ErnstGrube Werks in Werdau für kurze Zeit die Arbeit nieder. 2 5 2 Andere Kurzstreiks, die in den regionalen Quellen erwähnt wurden, sind nicht zu datieren. Fest steht, daß es auch nach dem 19. Juni immer wieder zu Warnstreikaktionen im Bezirk kam, so in Karl-Marx-Stadt und im dazugehörigen Landkreis. 2 5 3 In der Feinspinnerei Burgstädt versuchten Frauen, während der Nachtschicht vom 21. auf den 22. Juni zu streiken und mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Parteileitungen im Bezirk schienen in der Regel über Streikabsichten und Streikplanungen gut informiert gewesen zu sein, eine Tatsache, die sich für die zwei anderen sächsischen Bezirke so nicht feststellen läßt. Der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung meldete am Abend des 19. Juni dem ZK, daß jetzt alle Betriebe wieder arbeiteten und überall Ruhe herrsche. Lediglich das Ifa-Werk „Ernst G r u b e " in Werdau habe für den nächsten Tag 250 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 8 vom 18.6.1953, S. 6 (SächsStAC, SED IV/2/3/793). 251 FDGB-Bezirksvorstand Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Ereignisse vom 17.6.-17. 7.1953 im Bezirk Karl-Marx-Stadt vom 17. Juli 1953, S. 8 (SAPMO-BArch, FDGBBuvo, A 563); das folgende Zitat ebd. 252 Vgl. ebd., S. 2. 253 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Betr.: Auszüge aus den Tagesberichten der KL vom 22. 6.1953, vom 23.6.1953, S. 2 (SächsStL, SED I V / 5 / 5 5 4 ) .

364

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

einen Sitzstreik angedroht. Zur Beruhigung des ZK erklärte der 2. Sekretär, „entsprechende Maßnahmen" seien bereits eingeleitet worden. 254 Während aus den beiden anderen Bezirken größere Produktionsausfälle infolge der Streiks und des Ausnahmezustandes gemeldet wurden, konnte das MfS für den Bezirk Karl-Marx-Stadt festhalten: „Der durch die Arbeitsniederlegungen im gesamten Bezirk eingetretene Produktionsausfall ist gering und dürfte nicht ins Gewicht fallen." 255 Alle SED- und Polizeiberichte aus der Region erwähnen für den 17. und 18. Juni weder Demonstrationen noch Kundgebungen. Lediglich der Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt meldete, daß sich am frühen Nachmittag des 17. Juni etwa 150 Menschen vor dem Reichenbacher Rathaus eingefunden hätten. 256 Die Versammelten verlangten demnach „unter Drohungen" die sofortige Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen für Verwandtenbesuche aus Westdeutschland. Nach der Zusicherung, diese Forderung zu erfüllen, löste sich die Ansammlung auf. Weiterhin berichtete der Rat darüber, daß in der Gemeinde Oberwiera, Kreis Glauchau, am gleichen Tag etwa 20 Bauern vor das Kreisgericht gezogen seien und die Freilassung eines zu drei Jahren Gefängnis verurteilten Großbauern „erzwingen" wollten. Der Kreisrichter sagte die Entlassung für den 18. Juni zu, worauf sich die Bauern „beruhigt" zurückzogen. Die Staatssicherheit bestätigte diesen Vorfall und meldete, daß sie den „Initiator der Delegation" als Informanten habe anwerben können. 257

7.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut und das Verhalten der Belegschaft am 17. Juni

In bisherigen Veröffentlichungen zum 17. Juni wurde das Geschehen in der Wismut in der Regel ausgeklammert oder nur kurz behandelt. Die Gründe hierfür lagen zum einen in Defiziten der Wismut-Geschichte und zum anderen in den relativ spärlichen Quellen zum 17. Juni 1953 in der Wismut. 258 2 5 4 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Telefonische Durchsage an ZK der SED, vom 19.6. 1953, 19.15 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 3 6 , Bl. 52). 2 5 5 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über das Sachgebiet der Abt. III, o. D. (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 74). 2 5 6 Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Situationsbericht über die Lage im Bezirk KarlMarx-Stadt nach dem Stand vom 18.6.1953, 19.00 Uhr, S. 1 (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 1369). 257 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Ereignisse im Bereich der BZV Karl-Marx-Stadt vom 1 6 . 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 10). 2 5 8 Ausgewertet wurden für die vorliegende Untersuchung Unterlagen folgender Einrichtungen: ZK der SED (SAPMO-BArch), SED-GPL Wismut und SED-KL Wismut Gera (SächsStAC), BDVP (BS) Wismut (SächsHStA, Gebietskommando der DVP (BS) Wismut), Bezirkstag und Rat des Bezirkes (HStA, BT/RdB), Ministerium des Inneren (BA, Abt. Potsdam, ausgewertet durch T. Diedrich) Unterlagen der Wismut-Generaldirektion aus der SAG-Zeit (bis Ende 1953) befinden sich ausschließlich in russischen Archiven. Im Archiv der Wismut-GmbH gibt es zum 17. Juni 1953 keinerlei Unterlagen. In

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut

365

Das unmittelbar nach dem Aufstand gezeichnete Bild des Verhaltens der Wismut-Kumpel an jenen Junitagen in west- und ostdeutschen Publikationen schwankte zwischen zwei Extremen: Während die einen den besonderen Anteil der Wismut-Kumpel an den Streikaktivitäten hervorhoben, betonten die anderen ihre Unterstützung an der Niederschlagung der Provokationen. Eine zeitgenössische Westberliner Darstellung berichtete über „Aufruhr im Erzgebirge." 259 Am 18. Juni hätten 80 000 und am 19. weit über 100 000 WismutKumpel die Arbeit niedergelegt. In den Schächten hätten sich sowjetische Ingenieure und Wachmannschaften „gewundert, daß niemand zur Arbeit erscheint" 260 . Am 19. Juni hätten Wismut-Kumpel Einfahrtsstollen in die Schächte gesprengt, Förderanlagen zerstört und Schächte unter Wasser gesetzt. Über Demonstrationszüge in den sächsischen Wismut-Städten Aue, Schwarzenberg und Johanngeorgenstadt wurde berichtet. Von „mindestens 25 Toten und 300 Verletzten" am ersten Streiktag und von zwölf standrechtlichen Erschießungen war in der genannten Publikation die Rede; Volkspolizisten seien „gelyncht" oder „aufgehängt" worden. 261 Selbst wenn in Rechnung gestellt werden muß, daß solche Schilderungen unter dem unmittelbaren Eindruck des Aufstandes geschrieben wurden und ohne Quellenstudium auskommen mußten, ist eine derartige Ausbreitung des Aufstandes in einem sowjetischen Rüstungsunternehmen zur Förderung von Uran angesichts des energischen Vorgehens der sowjetischen Behörden und der sowjetischen Armee gegen Streikende in anderen Betrieben kaum vorstellbar. Betriebsinterne Darstellungen zur Wismut-Geschichte aus den siebziger Jahren zeichnen demgegenüber ein Bild, wonach „die überwiegende Mehrzahl der Kumpel [...] fest hinter der Partei und Regierung" gestanden habe, auch wenn „feindliche Aktivitäten auch im Gebiet der AG Wismut" erwähnt werden. 2 6 2 Ersteres überzeugt schon deshalb nicht, weil gerade in der SAG Wismut die Konfliktbereitschaft bis in die fünfziger Jahre höher als in anderen Betrieben und Regionen war. 2 6 3 Der Hauptmangel derartiger Darstellungen besteht darin, daß sie die besondere Problemlage der Wismut-Beschäftigten im allgemeinen und speziell im Vorfeld des 17. Juni 1953 nicht berücksichtigten. Es ist das Verdienst von Arnulf Baring und später von Manfred Hagen, daß sie in der Spezifik der SAG

259 260 261 262 263

den Dokumenten der SED-GPL Wismut und des ZK der SED fehlen - aus Gründen der Geheimhaltung - konkrete statistische und teilweise auch Ortsangaben. Die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit in der SAG/SDAG Wismut wurde offenbar bei ihrer Auflösung und bei der Übergabe der Akten in die BV Karl-Marx-Stadt in den achtziger Jahren „bereinigt". Bei Recherchen in der BstU, Ast. Chemnitz wurden bisher keine Unterlagen zum Untersuchungsgegenstand gefunden. Vgl. Scholz/Niecke (Hg.), Der 17. Juni. Die Volkserhebung in Ostberlin und in der Sowjetzone, S. 63 ff. Ebd., S. 65; das folgende Zitat ebd. Ebd., S. 66. Vgl. Meinhold, Das Wachstum der Produktionsarbeiterschaft, S. 18. Vgl. Baring, Der 17. Juni 1953, S. 74f.

366

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Wismut die Ursachen für die „geringe Streikaktivität im Uranerzbergbau" suchten. Gründe dafür, daß „so gut wie gar nicht gestreikt" wurde, sieht Baring in der besonderen Zusammensetzung der Belegschaft - „bunt zusammengewürfelte Arbeitskräfte aus allen Teilen der DDR", die keine betrieblichen Gemeinsamkeiten verbunden hätten - , in ihrer gegenüber anderen Berufsgruppen sehr bevorzugten Entlohnung und Versorgung, so daß der unmittelbare Anlaß zum Streik gefehlt habe, in der erschwerten Information durch westliche Rundfunksender im Erzgebirge - angeblich konnte man damals im Erzgebirge westliche Rundfunkstationen „fast gar nicht empfangen" und vor allem im „raschen und energischen Eingreifen der Russen". 264 Dieser Betrachtung ist - bis auf den letzten Aspekt - nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Die Bevölkerung der Wismut-Gebiete konnte damals durchaus westliche Rundfunksender, vor allem den RIAS, empfangen. Die SEDBezirksleitung Karl-Marx-Stadt entrüstete sich beispielsweise am 17. Juni darüber, daß „große Teile der Bevölkerung" den RIAS hörten, die „Rias-Hetze stark verbreitet" sei und dadurch die Bevölkerung „beunruhigt" werde. 2 6 5 Sicherlich waren die Wismut-Beschäftigten, was die Versorgung und Entlohnung betraf, gegenüber anderen Berufsgruppen privilegiert, doch gab es auch bei ihnen im Vorfeld des Aufstandes Unzufriedenheit über Entlohnung und Versorgung, zumal sie ihre aktuelle Situation nicht mit der übrigen Bevölkerung verglichen. Außerdem liefern die Untersuchungen zum Streikbeginn in Leipzig und Dresden den Beweis dafür, daß gerade besser verdienende Betriebsbelegschaften an der Spitze des Aufstandes zu finden waren. In bezug auf die Normenerhöhungen traten in der Wismut ähnliche Diskussionen wie in anderen Betrieben der DDR auf. Somit war durchaus ein unmittelbarer Anlaß zum Streik gegeben, zumal die Wismut-Direktion die Normenerhöhungen am 17. Juni nicht zurücknahm. Und noch ein Aspekt relativiert Barings Argumentation: Er betrifft die Frage der „betrieblichen Gemeinsamkeiten" und Traditionen der Arbeiterbewegung wie Solidarität und Zusammengehörigkeit. Es gab durchaus ein Zusammengehörigkeitsgefühl und solidarisches Verhalten, sogar in den Betriebsteilen der Wismut, die zuletzt entstanden waren. Sie basierten zwar nicht auf längerer Zusammenarbeit im Unternehmen und daraus abgeleiteter Traditionen im Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft. Wohl aber beruhten sie auf dem Zusammenhalt der Arbeiter gegenüber dem ständigen Leistungsdruck sowjetischer Vorgesetzter und ihren gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen. Gemeinsame Freizeitinteressen und -gestaltung und die durchaus auch als positiv empfundene Sonderstellung der Wismut-Kumpel innerhalb der DDRBevölkerung, ausgedrückt im Motto „Wir sind Kumpel - uns kann keiner" 2 6 6 , schweißten Wismut-Angehörige zusammen. 2 6 4 Vgl. ebd., S. 73 ff. 2 6 5 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht Nr. 7 vom 17.6.1953, 19.37 Uhr (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 1). 2 6 6 Vgl. Roth/Diedrich, „Wir sind Kumpel", S. 328ff.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut

367

Einen ganz wesentlichen Aspekt im Verhalten von Wismut-Beschäftigten führte Hagen in die Diskussion ein. Indem er zwischen dem Auftreten der Wismut-Kumpel in ihren Arbeitsstätten, in den Wismutregionen und außerhalb differenzierte, spürte er Ursachen für unterschiedliches Verhalten auf. 267 Die seit jeher überaus starke Bewachung der Abbaustätten und Wohnlager durch die Sowjets ließen den Wismut-Kumpeln „keinerlei Chance für ein Aufbegehren" innerhalb ihrer Arbeitsstätten. Zugleich vermutet er, daß gerade diese massive Überwachung „größere Gruppen von Bergarbeitern zusätzlich motiviert" hat, außerhalb ihrer Arbeits- und Aufenthaltsorte in das Geschehen einzugreifen. Es ist unerläßlich, die Spezifik der SAG Wismut und ihrer Ausdehnungsgebiete gegenüber anderen Betrieben und Industrieregionen der DDR zu berücksichtigen, um eventuelle Besonderheiten in den Verhaltensmustern der Wismut-Beschäftigten während der dramatischen Tage im Juni 1953 zu erklären. Zunächst ist zu bedenken, daß die SAG Wismut ein sowjetisches Rüstungsunternehmen von immenser strategischer Bedeutung für die Sowjetunion war, die es zu einem „Staat im Staate" werden ließ. 268 Die „Uranprovinz" war bis Ende 1953 gewissermaßen ein „exterritoriales Gebiet", auf die sowjetische Militäradministration bzw. die sowjetische Kontrollkommission wie auch die SED-Gremien und die DDR-Behörden kaum Einfluß nehmen konnten. In der SAG Wismut herrschte die sowjetische Geheimpolizei. Wirtschaftsstruktur und Leitungsorganisation waren nach militärischen Gesichtspunkten aufgebaut. Hinter den Schlagbäumen (Kontrollpunkten) begann eine andere Welt mit besonderen Regeln und Gepflogenheiten. Sowjetische Militäreinheiten waren dort ständig präsent. Sodann existierte ein eigener DDR-Polizei- und Staatsicherheitsapparat und eine eigene Gerichtsbarkeit. Das Gebietskommando Deutsche Volkspolizei, Betriebsschutz Wismut, aus der 1947 gebildeten Bergpolizei hervorgegangen, im September 1949 in die Deutsche Volkspolizei übernommen, wurde mit der Bezirksbildung 1952 direkt der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei unterstellt. 1953 gab es zwei Wismut-Bergbaugerichte, in Karl-Marx-Stadt und in Gera. Es war schon im gewöhnlichen Alltag unmöglich, daß „unbefugte Personen" in Objekte und Betriebe der Wismut, die strengstens bewacht wurden, gelangen konnten. 2 6 9 Sperrgebiete der Wismut konnten damals nur mit Passierscheinen betreten werden. „Alle Gebiete, in denen die Wismut tätig war, hatten den Charakter von Enklaven und wurden durch sowjetisches Militärpersonal abgesichert." 270 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab es Anfang der fünfziger Jahre

267 Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 170; die folgenden Zitate ebd. 268 Vgl. Karisch, „Ein Staat im Staate", S. 14ff. 269 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Vorschlag zur Verbesserung des Schutzes der Objekte in der SDAG Wismut, o.D. (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 0 2 , Bl. 60). 270 Ebd.

368

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

innerhalb der fünf „Kreise mit besonderer Ordnung" 49 Gemeinden, die im Sperrgebiet Wismut lagen. 271 Die äußere Sicherung der Sperrgebiete wurde bis 1956 vor allem durch die Kontrolle des Reiseverkehrs gewährleistet. Einreisende - als solche galten auch die Wismut-Kumpel auf ihrem Weg zur Arbeit - wurden laut Dienstvorschrift in den Zügen der Reichsbahn und auf der Straße kontrolliert. Das war ein aufwendiges und häufig kritisiertes Unternehmen, vor allem deshalb, weil Aufwand und Ergebnis laut Wismut-Polizei in keinem Verhältnis standen. 272 Beispielsweise war ein Kontrollpunkt (Schlagbaum) zum Sperrgebiet im Kreis Schneeberg normalerweise mit einem Volkspolizisten, zwei sowjetischen Soldaten und einem Offizier besetzt. Wenn die Kontrollen der Schichtbusse nach Vorschrift durchgeführt wurden, dann entstanden längere Staus an den Schlagbäumen, und oftmals kamen die Kumpel zu spät zur Arbeit. Weil die Polizei für den entstandenen Schaden aufkommen mußte, wurden die Dienstvorschriften teilweise umgangen. 273 Natürlich konnte man auch die „grünen" und unbewachten Grenzen zu den Wismut-Sperrgebieten illegal überschreiten, und das taten offensichtlich viele Ortskundige. Wer dabei gestellt wurde, mußte allerdings mit Strafen, ja sogar mit Verhaftung rechnen. 1953, als die Agentenhysterie die seltsamsten Blüten trieb, war es besonders riskant, die WismutKreise ohne Passierschein zu betreten. Bis 1956 galt der Grundsatz: „Wer sich auf Umwegen einschleicht, von dem muß man annehmen, daß er dunkle Absichten hat. Der Betroffene wird rücksichtslos verhaftet." 274 In einer entsprechenden Dienstanweisung des Chefs des Betriebsschutzes war festgelegt, daß alle vorläufig festgenommenen Personen „auf Verdacht der Agententätigkeit zu überprüfen" seien und für jede Person „eine Beschuldigungskarte [...] mit dem Vermerk .Illegaler Aufenthalt im Sperrgebiet' anzufertigen" sei. 275 Das Problem bestand allerdings darin - und das war auch den kontrollierenden Volkspolizisten bewußt daß es für diese Verfahrensweise, lediglich mit Passierscheinen die Wismut-Territorien betreten zu lassen, selbst im DDRRecht keine Grundlagen gab. 276 Nach Überprüfung der Fahndungsunterlagen mußten die den Volkspolizeikreisämtern überstellten Personen sofort wieder freigelassen werden. Sie erhielten normalerweise lediglich den „guten Rat", schnellstens das Sperrgebiet wieder zu verlassen. 277

271 Vgl. Aufstellung der Gemeinden im Sperrgebiet, o . D . (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 0 2 , Bl. 30). 2 7 2 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Vorschlag zur Verbesserung des Schutzes der Objekte in der SDAG Wismut, o . D . (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 0 2 , Bl. 56). 2 7 3 Vgl. ebd., Bl. 58. 274 Vgl. Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Sitzungsprotokoll, o . D . (SächsHStA, BT/RdB Karl-Marx-Stadt, Nr. 3488). 275 Befehl des Chefs der BDVP (BS) Wismut, Nr. 5 / 5 4 , vom 20.10.1954 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 0 2 , Bl. 31 f.). 276 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Vorschlag zur Verbesserung des Schutzes der Objekte in der SDAG Wismut, o . D . (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 0 2 , Bl. 58f.). 277 Vgl. ebd., Bl. 59.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut

369

Auch die Verhältnisse innerhalb der SAG Wismut, die dortigen Befehlsstrukturen, die strenge Geheimhaltung, der teilweise exterritoriale Charakter des Geländes sowie seine Abgeschlossenheit von der Außenwelt schränkten die Streik- und Versammlungsmöglichkeiten erheblich ein. Während die Belegschaften aus anderen Industriebetrieben und Baustellen relativ problemlos Werkhallen, Baustellen und Betriebsgelände verlassen konnten, um an Demonstrationen teilzunehmen, andere benachbarte Betriebe und Betriebsteile zum Streiken aufzufordern oder selbst dazu aufgefordert zu werden, war die Situation in den Wismut-Werken völlig anders: Die Betriebsgelände - besonders die Schächte und Aufbereitungsbetriebe - wurden schon in normalen Zeiten strengstens bewacht. Niemand konnte einfach ein- und ausgehen. Am 17. Juni und an den Folgetagen patrouillierten schwer bewaffnete Soldaten vor und in den Schächten und Aufbereitungsbetrieben. 278 Hinzu kam, daß die Schächte nur mit technischen Hilfsmitteln zu begehen waren, so daß eine Ausfuhr der Kumpel bei Streikandrohung gestoppt werden konnte, was unter Umständen Gefahr für Leib und Leben bedeutete. Günstigere räumliche Bedingungen für Streiks bestanden allerdings in weniger gesicherten Betriebsteilen wie in den Garagen, mechanischen Werkstätten und Bauabteilungen. Hier war offenbar auch die Kontrolle nicht so lückenlos. Während sich die Belegschaften von Betrieben in industriellen Ballungsgebieten am 17. Juni sehr schnell informieren konnten, wie sich die Nachbarn verhielten, war die Situation für die Mehrzahl der Wismut-Arbeiter völlig anders. Die Wismut-Belegschaft war auf 27 „Objekte", so hießen aus Gründen der Geheimhaltung alle Betriebe innerhalb der SAG Wismut, darunter zehn Produktionsbetriebe, in drei Bezirken verteilt. Die einzelnen Objekte lagen in der Regel weit voneinander entfernt und meist ohne unmittelbare Nachbarschaft zu zivilen Betrieben und Ortschaften. Die Ansiedlung der SAG Wismut in den drei Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden und Gera und der unterschiedliche Verlauf des Aufstandes in diesen Gebieten hatte Auswirkungen auf das Verhalten der Wismut-Belegschaften in den verschiedenen Regionen. Der Bezirk Karl-Marx-Stadt war der eigentliche Wismut-Bezirk: Hier befanden sich die Sitze der Generaldirektion sowie der Zentralen des Sicherheitsapparates, der SED-Leitungen und ihrer Massenorganisationen. 66 Prozent der Wismut-Beschäftigten arbeiteten damals in den Kreisen Aue und Schwarzenberg, während im Bezirk Dresden lediglich 3,5 Prozent der Wismut-Beschäftigten tätig waren. 2 7 9 Am 17. Juni mußten sich die Funktionäre der Wismut mit mehreren Bezirksparteileitungen und bezirklichen Sicherheitsbehörden abstimmen. Die Voraussetzungen dafür waren unterschiedlich. Seit 1952/53 bemühten sich die Wismut-Verantwortlichen um eine bessere Zusammenarbeit zwischen SEDFunktionären der Wismut und den regionalen Parteileitungen. Denn die Rege2 7 8 BDVP (BS) Wismut, Betr. Operative Berichterstattung vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 14). 2 7 9 Seilfahrt, Auf den Spuren des sächsischen Uranerzbergbaus, S. 43.

370

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

lung bestimmter Angelegenheiten in den Ausdehnungsgebieten, beispielsweise die Wohnraumbeschaffung, erforderte eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Wismut-Gremien und den territorialen Einrichtungen. Doch die Abneigung gegen die Wismut erstreckte sich nicht nur auf die Bevölkerung. Auch vielen Kadern der SED und des Staates war die Sonderstellung der Wismut suspekt, möglicherweise auch deshalb, weil sie kaum Einfluß auf das dortige Geschehen nehmen konnten. Um die Abstimmung zwischen den territorialen Parteiorganisationen und denjenigen der Wismut zu verbessern, erließ das ZK der SED im August 1952 einen Beschluß, der die „stärkere Koordinierung der politischen Arbeit zwischen den leitenden Parteiorganisationen der Wismut und den örtlichen Parteiorganisationen, außer in Fragen, die unmittelbar die Produktion betreffen", verbessern sollte. 280 So war vorgesehen, in allen örtlichen Parteileitungen Mitglieder der Parteiorganisation der Wismut zu verankern, während die regionalen SED-Leitungen in den Gremien der Wismut nicht vertreten sein sollten. Im Februar 1953 behauptete die SED-Bezirksleitung Chemnitz, daß es bereits in mehreren Wismut-Kreisen zu einer besseren Zusammenarbeit gekommen sei, so in Johanngeorgenstadt, wo sich die „sowjetischen Freunde" dafür eingesetzt hätten. 281 In Johanngeorgenstadt war der Anteil der Wismut-Beschäftigten an der Bevölkerung inzwischen größer als derjenigen der Einheimischen. Die Gebietsparteileitung beklagte jedoch noch im Juli 1953 eine „Anti-Wismut-Stimmung". Sie machte den Funktionären der territorialen SED-Leitungen, der staatlichen Verwaltungen und der Wirtschaft den Vorwurf, daß sie, anstatt die „Argumente gegen die Wismut zu zerschlagen, selbst dazu beitragen würden, diese Stimmung zu verbreiten und die bestehenden Gegensätze zu vertiefen". 282 Am 17. Juni 1953 funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den Parteileitungen der Region und der Wismut zur gemeinsamen Unterdrückung von Streiks und Demonstrationen in den Wismut-Kreisen des Bezirkes Karl-MarxStadt am besten, während im Thüringer Raum, wo neue Wismut-Objekte angesiedelt waren, die Abstimmung zwischen territorialen SED-Leitungen und den Wismut-Parteileitungen von letzteren als „ungenügend" eingestuft wurde. 2 8 3 Der Chef der Volkspolizeibezirksbehörde (Betriebsschutz) Wismut nahm am 17. Juni sofort Verbindung zu den Polizeibehörden in Karl-Marx-Stadt und Gera auf. Darüber hinaus wurde der VP-Inspekteur der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, Kurt Grünstein, gebeten, „die Bezirksbehörden in Erfurt, Suhl, Dresden und Gera anzuweisen, daß dieselben die BDVP Karl2 8 0 Zitiert in SED-BL Chemnitz, Sekretariatsvorlage, Betr.: Zusammenarbeit zwischen den territorialen Parteiorganisationen und den Parteiorganisationen der Wismut, o . D . (SächsStAC, W - 2 / 3 / 2 8 ) . 281 SED-BL Chemnitz, Sekretariatsvorlage vom 27.2.1953 (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 2 8 , Bl. 131). 282 SED-GPL Wismut, Analyse über das Verhalten der Kreis- und Objektparteileitungen in der PO Wismut in den kritischen Tagen der faschistischen Provokation, vom 30.7.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 598). 2 8 3 Vgl. ebd., Bl. 597f.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut

371

Marx-Stadt bei Vorkommnissen mit Bergarbeitern sofort unterrichten". 2 8 4 Ein weiteres Phänomen bestimmte die Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Staatsmacht im Juni 1953 in der Region auf sehr widersprüchliche Art und Weise. Die Wismut-Kumpel hatten seit Jahren einen schlechten Ruf, weil sie oft dort anzutreffen waren, wo es Schlägereien, lautstarke Auseinandersetzungen und Alkoholexzesse gab. 2 8 5 Vielleicht versprach sich die einheimische Bevölkerung in den Ausdehnungsgebieten der Wismut von der Beteiligung der Kumpel an territorialen Auseinandersetzungen gerade aber deshalb eine Verstärkung. Allerdings existierten nach wie vor Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Beschäftigten des Uranbergbaus. Die Kumpel wurden immer noch als Fremde und Eindringlinge behandelt. Ihre Sonderversorgung verstärkte die Gräben zwischen ihnen und den Einheimischen. So konnte sich kaum gegenseitige Solidarität herausbilden. Doch war die Lage 1953 bereits anders als in den Anfängen der Wismut. Inzwischen bestand besonders im Schwerpunktgebiet des Uranbergbaus - vor allem in den Kreisen Aue und Schwarzenberg - kaum noch ein Unterschied zwischen der einheimischen Bevölkerung und den teils zugezogenen Kumpeln. Die Bevölkerung des Erzgebirges, die vordem zum großen Teil aus Bauern und Heimarbeitern bestand, arbeitete jetzt bereits in der Mehrzahl in der Wismut. 2 8 6 Die soziale Lage der Wismut-Belegschaft und ihrer Familien war auch im Frühjahr 1953 günstiger als diejenige der übrigen DDR-Bevölkerung. WismutAngehörige wurden besser entlohnt, außerdem gesundheitlich und sozial betreut. Die betriebseigenen HO-Verkaufsstellen waren zum größten Teil ausreichend mit Waren versorgt, insbesondere bei Lebensmitteln traten Mängel und Engpässe kaum auf. Versorgungslücken entstanden lediglich durch unterschiedliche Warenstreuung innerhalb des Wismut-Handels, wobei Unterversorgung vor allem im Thüringer Raum auftrat. 2 8 7 Nach wie vor handelten Wismut-Kumpel mit Mangelwaren, vor allem mit Butter. Die Wismut-Verkaufsstellen besaßen von manchen Warengruppen riesige Überschüsse, die jedoch, wie beispielsweise bei Möbeln, nicht an andere Einrichtungen abgegeben werden durften. 2 8 8 Außergewöhnliche Probleme entstanden im Frühjahr 1953 bei der mittäglichen Kantinenversorgung der Kumpel. 289 Während zuvor auf Eßtalons zusätzliche Lebensmittel gekauft werden konnten, fiel das jetzt weg. Infolgedessen entstand ein großer Andrang in den Kantinen, so daß die 284 BDVP (BS) Wismut, Auswertung der Ereignisse seit dem 16.6.1953, o. D. (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 31). 285 Vgl. dazu Kaden, Kriminalität. 286 SED-GPL Wismut, 6. Delegiertenkonferenz vom 28./29.1.1952 (SächsStAC, W-IV/ 1/5). 287 Vgl. SED-GPL Wismut, Stand der Versorgung der Bergarbeiter durch die HO Wismut in der Zeit nach dem 17.6.1953, vom 10.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 39). 288 Vgl. SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 17.3.1953 (SächsStAC, W-IV/2/3/8). 289 Vgl. SED-GPL Wismut, Stand der Versorgung der Bergarbeiter durch die HO Wismut in der Zeit nach dem 17.6.1953, vom 10.7.1953 (SächsStAC, W-IV/2/3/299, Bl. 38).

372

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Küchenkapazitäten nicht mehr ausreichten. So wurden beispielsweise in der Jugendküche Johanngeorgenstadt doppelt so viele Essenportionen ausgegeben wie zuvor. Dadurch litt die Qualität des Essens. Die Kritik und Verbitterung unter den Wismut-Kumpeln wuchs, als die Küchenleitung durch Ausweiskontrollen verhinderte, daß die Wismut-Beschäftigten wie bisher Ehefrauen oder Bekannte zum'Essen mitbrachten. Noch vor dem 17. Juni reagierte die Leitung der Wismut, indem sie die Maßnahmen teilweise zurücknahm. Ohne Zweifel verdienten die Wismut-Beschäftigten im Durchschnitt mehr als im zivilen Sektor, aber dort herrschte zunehmend Unzufriedenheit in Lohnfragen, vor allem über die unterschiedliche Einstufung in Lohngruppen bei gleicher Arbeit sowie über die ungleiche Behandlung von Wartezeiten bei den Kraftfahrern, vor allem bei Kipper- und Busfahrern. 290 Besonders in den Thüringer Werkstätten und Garagen hatte es bereits seit Monaten Probleme mit der schlechten Arbeitsorganisation und mit sozialen Mißständen gegeben, die jetzt im Zusammenhang mit den Normenerhöhungen zu Streikandrohungen führten. In der Nacht vom 22. zum 23. April 1953 wollten die Kraftfahrer der Garage Katzendorf nicht mehr fahren. Sie kritisierten den unzureichenden Arbeitsschutz und die schlechten Lagerbedingungen so heftig, daß von der Gebietsparteileitung schnellste Abhilfe zugesagt wurde. Auch die unterschiedliche Bezahlung in der Garage und im Betriebsteil Sorge-Nord erregte Mißfallen: Schicht- und Werkstattleiter mit der Qualifikation von Facharbeitern verdienten monatlich 470 Mark bzw. 405 Mark, Kipperfahrer und Schießmeister durchschnittlich 350 Mark bis 400 Mark. Sie wurden damit schlechter bezahlt als ungelernte Arbeiter in Aufbereitungsbetrieben der Wismut. Ein Hilfsarbeiter an der Halde verdiente beispielsweise 600 Mark. 291 Beschwerden wurden auch darüber geführt, daß die sowjetischen Schachtleiter von den Kipperfahrern die Überladung der Fahrzeuge verlangten, während die deutsche Garagenleitung das strengstens verbot. 2 9 2 Versprechungen, die Mißstände abzustellen, wurden nicht erfüllt. Schließlich sahen Teile der Belegschaft ihr Einkommen durch die erneute Erhöhung der Arbeitsnormen im Frühjahr 1953 gefährdet. Forderungen nach Leistungssteigerungen und Normenerhöhung hatte es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, zuletzt im Jahre 1952. Auch die sowjetischen Schachtund Schichtmeister standen unter ständigem Druck, immer noch mehr Uranerz in noch kürzerer Zeit zu fördern. Alle Aktionen zur Produktionssteigerung standen unter politischen Losungen. Im April 1953 begleitete der Zentralvorstand der Industriegewerkschaft Wismut die Normenerhöhung mit

290 SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953, o.D. (SächsStAC, W-IV/2/3/304, Bl. 170). 291 Vgl. Gebietskommando Wismut (BS), Einschätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17.-20.6.1953, vom 29.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 27/27, Bl. 21). 292 Vgl. SED-OPL Rabe, Bericht über bestehende Mängel, vom 24.3.1953 (SächsStAC, WI V / 2 / 6 / 1 2 6 , Bl. 13).

Die Arbeits- und Lebensbedingungen in der SAG Wismut

373

elf Losungen. Sie suggerierten, daß es dabei um Krieg oder Frieden für die Menschheit ging. „Jede freiwillige N o r m e r h ö h u n g stärkt das Lager des Friedens!" hieß eine Losung. Oder: „Deine Normerhöhung von heute schafft den Reichtum aller Werktätigen von morgen!", „Jede freiwillige Normerhöhung - ein Schlag gegen die Kriegsbrandstifter!", „Deine freiwillige Normerhöhung: Ein Beitrag zum Sturz Adenauers!". 2 9 3 Wer sich verweigerte, konnte leicht als Feind des Friedens denunziert werden. In der „Aktion freiwillige Normenerhöhung" wurden die Wismut-Kumpel am Vorabend des 1. Mai 1953 allen anderen „Werktätigen" der D D R als leuchtendes Beispiel präsentiert. Über 90 Prozent der Wismut-Brigaden hatten bis zu diesem Zeitpunkt angeblich „freiwillige Verpflichtungen zur Erhöhung der Normen von 15 und mehr Prozent" ü b e r n o m m e n . 2 9 4 Ein Teil der Verpflichtungen war bereits anläßlich des Todes von Stalin abgegeben worden. Mitte Mai 1953 arbeiteten 95,5 Prozent aller Wismut-Brigaden nach neuen Normen, ab dem 1. Juni waren es 98 Prozent. 2 9 5 Anders als die Beschäftigten von Zivilbetrieben in Leipzig, Dresden und in anderen Städten mußten die Wismut-Beschäftigten nach der Einführung der höheren Normen kaum Lohneinbußen h i n n e h m e n . 2 9 6 Den Angaben der SED-Gebietsparteileitung zufolge war nach der 1. Juni-Dekade der Anteil jener Brigaden, die ihre Normen nicht erfüllten, nicht größer als vor der Normenerhöhung. Im Januar 1953 hätten beispielsweise lediglich knapp zwei Prozent aller Wismut-Brigaden ihre Normen nicht erfüllt. Bei Untererfüllung der Normen sank nicht nur der Arbeitslohn, sondern auch der Bezug von akzisefreiem Schnaps, dem sogenannten Kumpeltod, fiel nach einer Anordnung des Generaldirektor Bogatow vom 11. Juni 1953 297

weg. Nach dem 17. Juni traten SED-Angehörige, darunter auch solche, die gleichzeitig Mitglieder der Gewerkschaftsleitung waren, in Parteiaktivtagungen und Versammlungen auf und erklärten, daß sie von der sowjetischen Verwaltung bei der Normerhöhung „unter Druck gesetzt" und zur Anerkennung der höheren N o r m e n „gezwungen" worden seien. 2 9 8 Unter sowjetischer Regie stehende Normenabteilungen hätten in der Kampagne zur „freiwilligen Normenerhö-

293 Meinhold, Anhang, Anlage 12. 294 Vgl. SED-GPL Wismut, An den Gen. Günther Röder, o.D. (SächsStAC, W-IV/2/6/ 126, Bl. 21). 295 Vgl. SED-GPL Wismut, Wie wurde die freiwillige Normenerhöhung in den Betrieben der AG Wismut organisiert und durchgeführt?, o.D. (SächsStAC, W-IV/2/6/126, Bl. 43). 296 Vgl. SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 27.1.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 8 ) . 297 Befehl Nr. 192 des Generaldirektors der Wismut AG vom 11.6.1953 (Wismut-GmbH, Unternehmensarchiv, 10-Abt/Hb Radon, Bl. 161 f.). 298 Vgl. SED-GPL Wismut, Material zur Überprüfung der Arbeitsnormen vom 6.10.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 6 / 1 2 6 , Bl. 54).

374

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

hung" generell 20 Prozent gefordert, ohne die unterschiedlichen technischen Voraussetzungen der einzelnen Abteilungen zu berücksichtigen. 299 Die skizzierten betrieblichen und regionalen Besonderheiten wirkten sich auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten und ihrer Familien sowie auf ihr Verhalten in Konfliktsituationen aus. In Anbetracht der ständigen militärischen Präsenz sowjetischer Soldaten und der Konzentration von DDRSicherheitskräften in den Sperrgebieten, insbesondere in den Schächten und Aufbereitungsstätten, war Widerstand vor Ort aussichtslos und geradezu selbstmörderisch. Streik mußte zudem von vornherein als Widerstand gegen die Sowjetunion, deren Eigentum die Wismut war, aufgefaßt werden. Doch außerhalb der Produktionsstätten kam es in den vierziger und noch Anfang der fünfziger Jahre zu mehreren spektakulären Auseinandersetzungen zwischen Wismut-Angehörigen und deutschen sowie sowjetischen Sicherheitskräften, die in der Regel nicht politischer Natur waren und fast immer unter Alkohol ausgetragen worden waren. 3 0 0 Sie schadeten dem Ansehen der SAG Wismut sehr, zumal es der Sowjetunion und der SED-Führung zu diesem Zeitpunkt darum ging, die Uranförderung als Beitrag der Wismut-Belegschaft zur Erhaltung des Friedens zu propagieren und so der Öffentlichkeit ein neues Wismut-Bild zu vermitteln. Wismut-Kumpel, die gewalttätig und kriminell waren, waren dabei hinderlich. Ulbricht hatte deshalb im November 1951 in einer außerordentlichen Sekretariatssitzung der Gebietsparteileitung eine „neue Qualität der Kaderauswahl" verlangt. 301 Die bisherige Praxis, Leute, die „woanders bestraft" worden seien, der Wismut zuzuweisen, sollte aufgegeben werden. Künftig habe die Arbeitskräftelenkung der politischen Verantwortung des Industriezweiges gerecht zu werden. Ende 1951 setzten sich Vertreter der sowjetischen Kontrollkommission mit SED-Spitzenfunktionären zusammen und berieten einen Maßnahmenkatalog, der unter anderem die Verstärkung der Polizeikräfte und des MfS-Einflusses, die Säuberung der Wismut-Gebiete von „verbrecherischen Elementen" und die Verstärkung der ideologischen Arbeit betraf. Anfang 1952 folgten weitere Beschlüsse, die sozialpolitische Verbesserungen vorsahen, mit deren Hilfe die Wismut-Beschäftigten besser in die Region intergriert werden sollten. Geplant wurde der Bau von 5 000 Wohnungen für die Bergarbeiter und 1500 Einfamilienhäuser für die Wismut-Intelligenz. In Johanngeorgenstadt und Schneeberg sollten Handwerkskombinate gebildet werden. Außerdem wollten die Verantwortlichen die soziale und kulturelle Betreuung der Wismut-Beschäftigten und ihrer Familien verbessern. 302 Schließlich wurden Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Klassenwachsamkeit beschlossen. Alle Personen, die aus Westdeutschland übergesie-

2 9 9 Vgl. SED-GPL Wismut, Delegiertenkonferenz in Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, Schlußwort eines BGL-Mitglieds aus Cainsdorf, o . D . (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 4 1 , Bl. 45). 3 0 0 Vgl. Roth/Diedrich, „Wir sind Kumpel", S. 234ff. 301 Zitiert in Meinhold, Das Wachstum der Produktionsarbeiterschaft, S. 101. 3 0 2 Vgl. ebd., S. 108.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen

in der SAG Wismut

375

delt waren, mußten aus dem Wismutgebiet wegziehen. Alle diejenigen Menschen, die in den letzten zwei fahren von auswärts zugezogen waren und nicht in der SAG arbeiteten, wurden überprüft. Die sozialen und die sicherheitspolitischen Maßnahmen entschärften offenbar bereits vor dem 17. Juni 1953 das Konfliktpotential der Wismut-Beschäftigten. Im Jahre 1953 deutete sich ein gewisser Wandel in den Verhaltensmustern der Wismut-Angehörigen an. Das hing auch mit beginnenden Veränderungen in Struktur und Zusammensetzung der Wismut-Belegschaft und dem drohenden Verlust des in der Regel lukrativen Arbeitsplatzes in diesem Unternehmen zusammen. Seit Anfang der fünfziger Jahre begann die Wismut-Direktion eine Stammbelegschaft aufzubauen. 3 0 3 Sie legte jetzt mehr Wert auf innerbetriebliche Qualifizierung und längerfristige Bindung der Beschäftigten an das Unternehmen. 3 0 4 Während in den ersten Jahren nach 1945 Zwangsrekrutierungen von Arbeitskräften für die Wismut typisch waren und von den Betroffenen kaum einer wie versprochen nach der festgesetzten Frist ausscheiden durfte, konnten sich die Wismut-Personalabteilungen in den fünfziger Jahren ihre Leute regelrecht aussuchen. 305 Zudem war sie in der Lage, unliebsame Personen auszumustern, weil der Bedarf an Arbeitskräften nachließ und zugleich das Arbeitskräftereservoir durch Arbeitslosigkeit zunahm. 1950 waren noch etwa 200 000 Beschäftigte bei der Wismut in Lohn und Brot. Doch ihre Zahl ging in den folgenden Monaten und Jahren drastisch zurück. Im Frühjahr 1952 überstieg die Zahl der Entlassungen erstmals deutlich die der Neueinstellungen. Im Frühjahr 1953 verunsicherte eine neue Entlassungswelle infolge Schließung unrentabler Betriebsteile im sächsischen Abbaugebiet die Beschäftigten. Auch in anderen Bereichen des Wismut-Ausdehnungsgebiets wurden im Frühjahr 1953 Arbeitskräfte abgebaut. Von der Entlassung tausender Bauarbeiter im Bezirk Karl-Marx-Stadt war bereits die Rede. Auch zahlreiche Textilarbeiter verloren damals ihre Arbeit. Drohende Arbeitslosigkeit wurde zum Druckmittel und trug zur Disziplinierung der Wismut-Beschäftigten bei. Doch waren die leitenden Genossen der SED nicht mit der Entlassungspraxis der sowjetischen Verwaltung zufrieden. Während die sowjetischen Direktoren und Schachtleiter offenbar auf die Qualität der Arbeit größeren Wert legten als auf politische Bekenntnisse, bedauerte die Gebietsparteileitung, daß die politische Zuverlässigkeit zu wenig berücksichtigt werde. „Wir entlassen ohne Ende [...], dabei vergessen wir, die Richtigen zu entlassen und die Richtigen

3 0 3 Vgl. Seilfahrt, Auf den Spuren des sächsischen Uranerzbergbaus, S. 43. 3 0 4 Seit 1950 wurden laufend Qualifizierungslehrgänge und Kurse in sogenannten Bergbauvorschulen durchgeführt. So wiesen von 1950 bis 1953 1 6 4 3 9 Beschäftigte in Prüfungen nach, daß sie das „Technische Minimum" beherrschten; vgl. SED-GPL Wismut, Entwurf einer Sekretariatsvorlage für das ZK der SED über die Einführung des Wirtschaftszweiglohngruppenkatalogs in der SDAG Wismut, o . D . (SächsStAC, W - I V / 2 / 6 / 1 1 5 , Bl. 25). 3 0 5 Vgl. u. a. Bramke, Sachsens Wirtschaft im Wechsel politischer Systeme im 20. Jahrhundert, S. 22 f.

376

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

einzustellen." 306 1953 arbeiteten noch 132 855 Arbeitskräfte in der Wismut; von diesen stammten 3 358 aus der Sowjetunion. 307

8.

Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der SAG Wismut

Die Gebietsleitung Wismut der SED erhielt in der Nacht vom 16. zum 17. Juni ausführlich Kenntnis von Streikbewegungen in Ostberlin und der DDR, allerdings „nicht über den Apparat der Partei". 308 Kraftfahrer der Parteileitung, die nachts aus Ostberlin zurückgekommen waren, hatten sofort die SED-Gebietsparteileitung über die Unruhen in Berlin und anderen Städten der DDR informiert und Befürchtungen dahingehend geäußert, daß die Wismut einbezogen werden solle. Auch von den „sowjetischen Freunden" kamen solche Mitteilungen. 309 Dadurch beriet die Gebietsparteileitung bereits über konkrete Maßnahmen zur „Verhinderung von Streiks und anderen Provokationen innerhalb des Wismutgebietes", bevor sie offiziell und recht allgemein vom ZK informiert wurde. Später bescheinigte sich die SED-Leitung, daß sie den „Ernst der Situation" sofort richtig eingeschätzt habe und sich die eingeleiteten Maßnahmen als richtig erwiesen hätten, „trotz der Tatsache, daß die SED-Parteileitung Wismut von Anbeginn der Streikbewegung und der faschistischen Provokationen ohne konkrete Anleitung seitens des ZK der SED war, und die 1. Sekretäre zu einer Besprechung nach Berlin berufen waren". Die Parteikader der Wismut reagierten also völlig anders als ihre Genossen in den meisten Bezirksleitungen. Sicherlich hatten „die Freunde" - in der SAG Wismut waren sie zugleich die unmittelbaren Vorgesetzten - entscheidenden Anteil, daß in diesem sowjetischen Rüstungsunternehmen sofort höchste Alarmstufe ausgelöst wurde. Aus den Nachbetrachtungen geht aber auch hervor, daß das Erlebnis protestierender Einwohner in Johanngeorgenstadt am 15. Juni dazu führte, daß die leitenden Kader rechtzeitig Vorkehrungen zur Verhinderung von Massenprotesten trafen und nicht auf angebliche Westberliner Agenten und Provokateure warteten. 310

306 SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 17.3.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 8 ) . 307 Vgl. Abschlußdokumentation über die Tätigkeit der SDAG Wismut von 1954 bis 1990, erarbeitet im Auftrag des Vorstandes, 18.11.1993 (Wismut-GmbH, Unternehmensarchiv) . 308 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokation im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten der Partei- und Leitungsmitglieder, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 5 7 9 - 5 8 5 ) . 309 Vgl. SED-GPL Wismut, Analyse über das Verhalten der Kreis- und Objektparteileitungen in der PO Wismut in den der faschistischen Provokation, vom 30.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 2 , Bl. 185); die folgenden Zitate ebd. 310 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokation im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten der Partei- und Leitungsmitglieder, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 579).

Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der SAG Wismut

377

Ihrer Ausnahmestellung im System der SED-Hierarchie und der Rückendeckung durch die Sowjets bewußt, kritisierte die Wismut-Parteileitung nach dem 17. Juni deutlicher als die anderen SED-Bezirksleitungen das ZK. Die GPKK wies „mit aller Deutlichkeit" daraufhin, daß „die Parteiorganisation der Gebietsparteileitung Wismut und, soweit uns bekannt ist, auch die übrigen Bezirke, von Anbeginn der Streikbewegung und der faschistischen Provokationen ohne Anleitung seitens des ZK waren. [...] Es wäre notwendig gewesen, sofort nach den ersten Anzeichen von Streikbewegungen im Demokratischen Sektor von Berlin und der Republik die gesamte Parteiorganisation der Republik zu mobilisieren. Das geschah jedoch weder am 16. noch am 17.6.1953. Die Gebietsparteileitung Wismut bekam in dieser ernsten Situation keinerlei Hinweise und stand voll und ganz sich selbst überlassen." 311 Noch in der Nacht, gegen 2 Uhr, fand eine Besprechung aller Sekretariatsmitglieder statt, in der zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen beschlossen wurden, so der Einsatz von SED-Mitgliedern in den Betrieben der Wismut zur Unterstützung des sowjetischen Militärs und der DDR-Sicherheitskräfte sowie die Organisierung eines Selbstschutzes. Es ergingen außerdem „besondere Anweisungen an die Staatssicherheit und für die Verbindung mit dem sowjetischen Kommandanten". 312 Besondere Maßnahmen wurden für Johanngeorgenstadt festgelegt, unter anderem sollten Einheiten der Kasernierten Volkspolizei von Bärenstein nach dort verlegt werden. Bereits in dieser Besprechung beschlossen die Wismut-Funktionäre, das Walter-Ulbricht-Aufgebot zu stoppen und als sozialistischen Wettbewerb zu Ehren des „Tages des Bergmanns" weiterzuführen. Offenbar wollte die Parteileitung damit zusätzlichen politischen Zündstoff aus der Auseinandersetzung nehmen. Anweisungen, die Normenerhöhungen zurückzunehmen, blieben jedoch anders als in Karl-Marx-Stadt aus. Sie lagen auch nicht in der Entscheidungsbefugnis der SED-Parteileitung Wismut. Am 17. Juni wies die SEDGebietsparteileitung Wismut den Zentralvorstand der Industriegewerkschaft Wismut an, die Beschwerden der Kumpel über zu hohe Normen dahingehend zu beantworten, daß es in der Wismut „nur freiwillige Normerhöhungen gegeben habe". 313 Weiter hieß es dazu: „Die BGL sollen die Kumpels auf Anfragen auf ihre freiwillige Verpflichtung hinweisen." Am 20. Juni erging eine Weisung der Gebietsparteileitung an alle 1. Sekretäre, in Diskussionen über die Normenfrage „nachzuweisen, daß die neuen Normen auf Initiative der Kumpels, die sich in allen Schächten und Betrieben der Wismut AG zu 98 Prozent freiwillig dazu verpflichteten, entstanden." 314 Zwei Tage später gab die Gebietsparteileitung jedoch überraschend bekannt, „daß alle Arbeitsnormen in den 311 Ebd., Bl. 584; das folgende Zitat ebd. 312 SED-GPL Wismut, Weitere Maßnahmen zur Sicherung der Objekte, vom 17.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 46). 313 SED-GPL Wismut, Information an Zentralvorstand der IG Wismut, Gen. Lukas, vom 17.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 4 5 ) . 314 SED-GPL Wismut, An alle 1. Sekretäre, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 92).

378

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

Schächten und Betrieben der AG Wismut auf den Stand vom 1.4.1953 zurückgeführt werden". 315 Während in den DDR-Betrieben lange Zeit - unter dem Eindruck des 17. Juni 1953 - Normenerhöhungen tabu waren, startete die Parteileitung der SAG Wismut bereits im Oktober 1953 eine neue „Initiativbewegung zur freiwilligen Erhöhung der Arbeitsnormen in allen Aufbereitungsbetrieben der AG Wismut" als Geschenk der Kumpel der AG Wismut an den IV. Parteitag der SED. 316 Nach der Sekretariatsbesprechung in der Nacht vom 16. zum 17. Juni begaben sich alle Mitglieder der GPL in die Kreis- und Objektparteileitungen, um die oben erwähnten zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen vorzubereiten. Der für die Wismut-Kreisleitung Gera verantwortliche Sekretär der Gebietsparteileitung kam erst am Morgen des 17. Juni in Gera an. 317 Die Maßnahmen zum Selbstschutz der Wismut-Objekte und Betriebsteile wurden deshalb dort nicht wie in den sächsischen Objekten zu Beginn der ersten Schicht, sondern erst in den Nachmittagsstunden wirksam. Am 17. Juni meldete die Gebietsparteileitung Wismut in einem ersten Bericht an das ZK 318 , daß die allgemeine Stimmung der Wismut-Belegschaft als gut zu bezeichnen sei. Es sei „innerhalb des Betriebes der Wismut" zu keinen Ausschreitungen, Demonstrationen und Streiks gekommen. Lediglich „einige Kumpel" hätten wegen der Arbeitsnormen Protest eingelegt. In allen Betrieben der Wismut sei am Morgen des 17. Juni die Arbeit „wie üblich" aufgenommen worden. Beruhigt war die Parteileitung auch darüber, daß der Schichtwechsel um 14 Uhr „ordnungsgemäß" stattgefunden hatte. Es bestehe, so erklärte sie, unter der Belegschaft lediglich „eine Spannung über die Ereignisse des vergangenen Tages in Berlin". Die Parteileitung Wismut informierte weiter darüber, daß „besondere Ruhe und Ordnung" in den Gebieten Dresden und Freital herrsche, während in Thüringen die Unruhe groß sei. Als „besondere Vorkommnisse" meldete sie unter anderem, daß in der Zentralwerkstatt Aue elf FDJ-Mitglieder eine Entschließung verfaßt hätten, die eine sofortige Überprüfung der Normenerhöhungen fordere. Ungerechtfertigte oder unter Druck erhöhte Normen sollten ihrer Ansicht nach sofort zurückgenommen werden. Der Initiator der Jugendlichen war laut offizieller Berichterstattung ein „RIAS-Hörer". Vermeldet wurde als „besonderes Vorkommnis" außerdem, daß in Johanngeorgenstadt die Umsiedlung im Mittelpunkt der Diskussionen stehe und die Vorlage des Regierungbeschlusses zur Räumung der Altstadt ver315 SED-GPL Wismut, 17. Zwischenbericht vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 über die Lage in der WismutAG (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 107). 316 Vgl. SED-GPL Wismut, Beschlußvorlage vom 26.10.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 6 / 126, Bl. 5 6 - 6 1 ) . 317 Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953 und über die Ereignisse vor und nach dem 17.6.1953, vom 8.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 176). 318 Vgl. SED GPL Wismut, 7. Zwischenbericht über die Lage in der Wismut zu dem Beschluß des Politbüros und des Ministerrates, vom 17.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 299, Bl. 17-19); die folgenden Zitate ebd., Bl. 17.

Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der SAG Wismut

379

langt werde. Schließlich übermittelte die Parteileitung dem ZK, daß in Zwickau und Aue Flugblätter gefunden worden seien, die zum Generalstreik bzw. zum Massenstreik aufforderten. Die SED-Gebietsparteileitung befürchtete, daß Unruhen im Ausdehnungsgebiet der Wismut auf die Betriebe der SAG übergreifen könnten. Akute Gefahr bestand in Berga, Kreis Greiz (Bezirk Gera); hier streikten bereits seit dem Vormittag Bauarbeiter der Bauunion, die an Wismut-Bauten eingesetzt waren. Die SED-Gebietsparteileitung ließ das ZK in diesem Zusammenhang wissen: „Maßnahmen wurden getroffen, daß dies nicht auf andere Betriebe der Wismut übergreift." 319 Während die sowjetischen „Freunde" offenbar dafür sorgten, daß in den wichtigsten Wismut-Betrieben Ruhe herrschte, konzentrierte sich die Parteileitung von Anfang an darauf, ein Übergreifen der Unruhen außerhalb der Wismut auf diese zu verhindern. Aus diesem Grunde mußte sie über die Situation in den Ausdehnungsgebieten informiert sein. In ihren Berichten „Über die Lage in der Wismut" vom 17. Juni und den Folgetagen unterschied die SEDGebietsparteileitung stets zwischen der Situation auf dem Gelände der SAG Wismut und in den drei Ausdehnungsgebieten Dresden/Freital, übriges Sachsen und Thüringen. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt blieb es zunächst im wesentlichen ruhig. Die Parteileitung registrierte dagegen „Feindtätigkeit" innerhalb des sächsischen Ausdehnungsgebietes in Dresden und im Thüringer Raum in Gera, Weida und Jena. 320 Während aus Dresden später Entwarnung kam, spitzte sich die Lage am 17. und 18. Juni im Thüringer Raum weiter zu. Besondere Alarmsignale kamen aus Gera. 321 So informierte die Gebietsparteileitung das ZK zunächst darüber, daß sich dort in den Mittagsstunden des 17. Juni 20 bis 30 WismutKumpel wohl in ihrer Freizeit an den „hetzerischen Ausschreitungen" in der Innenstadt beteiligt hätten. 3 2 2 Später verließen Wismut-Angehörige ihre Arbeitsstätten, um an den Protestaktionen in Gera und Umgebung teilzunehmen. Die Gebietsparteileitung meldete wenige Stunden später nach Berlin, daß 200 bis 300 Wismut-Kumpel mit 35 bis 40 Bussen und Kippern von Berga nach Gera unterwegs seien. An ihren Fahrzeugen seien Losungen „Nieder mit der Regierung" angebracht. Die SED-Leitung hoffte vor allem auf das Eingreifen des sowjetischen Militärs. Sie teilte dem ZK mit, daß um 17 Uhr der Ausnahmezustand über Gera verhängt worden sei, zu einem Zeitpunkt, als der Bezirk Karl-Marx-Stadt noch nicht unter Ausnahmerecht stand und die SEDGebietsparteileitung Wismut einen solchen Befehl für den Bezirk Karl-MarxStadt wohl auch nicht erwartete. Für das Eingreifen innerhalb der SAG Wismut bedurfte es eines derartigen Ausnahmebefehls ohnehin nicht, hier hatten die 319 Ebd., Bl. 18. 320 Vgl. SED-GPL Wismut, 8. Zwischenbericht über die Lage der Wismut vom 17.6.1953 bis 23.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 96). 321 Vgl. SED GPL Wismut, 7. Zwischenbericht über die Lage in der Wismut zu dem Beschluß des Politbüros und des Ministerrates, vom 17.6.1953 (SächsStAC, W-IV/2/3/ 29, Bl. 18f.). 322 Ebd., Bl. 19.

380

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

sowjetischen Behörden uneingeschränkt Entscheidungs- und Machtbefugnisse und nahmen sie auch wahr. Die sowjetischen Dienststellen verstärkten die militärische Bewachung zunächst in den Schächten um Johanngeorgenstadt, Oberschlema, Aue, Auerbach und in den wichtigsten Betrieben der Wismut, wie in den Aufbereitungswerken Auerbach, Aue und Oberschlema. Daraus erklärt sich, daß es dort zu keinen Arbeitsniederlegungen kam. Im Polizeibericht wird eingeräumt, daß es zwar „einzelne Versuche" gegeben habe, eine „ähnliche Situation wie in Berlin" zu schaffen. Sie seien jedoch „durch das schnelle Reagieren in erster Linie sowjetischer Einheiten [...] zerschlagen worden". 3 2 3 Die Stimmung in den Wismut-Betrieben war in den einzelnen Ausdehnungsgebieten auch in den folgenden Tagen sehr unterschiedlich. Die WismutParteileitung berichtete am 19. Juni, daß in den beiden Objekten im Gebiet von Dresden (Objekt Freital, Objekt Dietze) „der überwiegende Teil der Belegschaft in der Diskussion die Verbundenheit mit der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung der DDR zum Ausdruck bringt und gegen die faschistischen Provokationen protestiert". 324 Lediglich „einzelne" Beschäftigte würden sich mit Streikenden und Demonstranten aus Dresden „solidarisch fühlen" und die sowjetische Armee und Kasernierte Volkspolizei „verhöhnen". Die Parteileitung vermerkte: „Einige dieser Elemente sind bekannt." Im Polizeibericht wurde sogar behauptet, daß Wismut-Kumpel „entgegen den Vermutungen der Demonstranten" nicht an der Dresdener Demonstration beteiligten gewesen seien, sondern im Gegensatz zum Ausdruck gebracht hätten, „daß sie bereit sind, diese Demonstranten zur Vernunft zu bringen". 3 2 5 Im Freitaler WismutBetrieb beschäftigte SED-Mitglieder lobten „das hervorragende Verhalten der sowjetischen Truppen in Dresden". 3 2 6 Einzelne Wismut-Kumpel aus beiden Objekten bekannten sich dagegen offen dazu, an der Demonstration in Dresden teilgenommen zu haben. Über die Beibehaltung der erhöhten Normen gingen der SED-Berichterstattung zufolge die Meinungen auseinander. Ein Teil der Belegschaften sprach sich für ihre Beibehaltung aus, andere verlangten ihre Korrektur. Die SED-Gebietsparteileitung informierte das ZK darüber, daß in beiden Dresdener Objekten „eine Verpflichtungsbewegung" beginne, „mit dem Ziel, durch erhöhte Wachsamkeit einen reibungslosen Produktionsablauf zu gewährleisten und diese Betriebe vor der schädlichen Arbeit imperialistischer Agenten zu schützen und durch erhöhte Leistungen in der Produktion die Politik der Partei und Regierung zu unterstützen". 327 323 BDVP (BS) Wismut, An die HVDVP, Operative Berichterstattung, vom 22.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 27/27, BI. 14). 324 SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 29); die folgenden Zitate ebd. 325 BDVP (BS) Wismut, An die HVDVP, Operative Berichterstattung, vom 22.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 27/27, Bl. 14). 326 SED-GPL Wismut, 18. Zwischenbericht vom 24.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, IV/ 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 139). 327 Vgl. SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, W-IV/2/3/299, Bl. 31).

Die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der SAG Wismut

381

Nach Einschätzung der Gebietsparteileitung war in den Objekten des „übrigen Sachsens" die Stimmung „überwiegend positiv". Als Beweis wurden „höhere Produktionserfolge" und die Übererfüllung der Normen durch „die Mehrheit der Kumpel" vermeldet. Am 19. Juni um 15 Uhr teilte die SED-Gebietsparteileitung Wismut dem ZK mit, daß im Betrieb der SAG Wismut „unter normalen Verhältnissen gearbeitet" werde. 3 2 8 Am 20. Juni sprach sie sogar von „mustergültiger Disziplin" der Kumpel zur Abwehr „einzelner faschistischer Provokateure". 329 Mehr noch: Sie berichtete darüber, daß „viele Parteilose, Arbeiter, Angestellte und Intelligenz Verpflichtungen und Stellungnahmen abgeben, aus denen hervorgeht, daß sie auf das schärfste gegen Provokateure protestieren und die strengste Bestrafung fordern". 3 3 0 Aus anderen Berichten geht freilich hervor, daß diese Stellungnahmen und Verpflichtungen von der Parteileitung „organisiert" waren. 331 Bis zum 20. Juni lagen der Gebietsparteileitung 1335 Kollektiv- und 1748 Einzelverpflichtungen mit insgesamt 16 307 Unterschriften vor. Bis zum 23. Juni hatten ihren Angaben zufolge 51125 Beschäftigte in Stellungnahmen und Verpflichtungen zu hohen Produktionsleistungen ihr „Vertrauen zur Partei und Regierung" unter Beweis gestellt. 332 Die „Mehrheit der Kumpel" übererfüllte die Normen. Vor allem im Untertagebetrieb wurden „besonders hervorragende Leistungen" erzielt und Stoß- und Ehrenschichten gefahren. In einzelnen Wismut-Objekten soll die Normerfüllung besser als je zuvor gewesen sein. 333 Im Gebiet von Thüringen war - im Vergleich zu den beiden anderen Ausdehnungsgebieten - die Stimmung der Wismut-Belegschaft „zurückhaltender Art". 3 3 4 Auch nach dem 17. Juni gab es in diesem Raum noch einige „Schwerpunkte". In einigen Schächten weigerten sich Kumpel, „weiter unter bewaffnetem Schutz zu arbeiten, da sowjetische Soldaten mit Gewehr in den Schächten auf Wache stehen". Solche Diskussionen führte die Parteileitung auf den „Klassenfeind" zurück, der die Losung ausgegeben habe: „Wenn die bewaffneten Soldaten nicht aus den Schachtgelände gehen, legen wir die Arbeit nieder." Die SED-Leitung bedauerte, aus den Thüringer Raum nicht über ähnliche Stellungnahmen und Verpflichtungen berichten zu können.

328 Vgl. ebd., Bl. 29. 329 SED-GPL Wismut, 12. Zwischenbericht vom 20.6.1953, 17.00 Uhr (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 103). 330 SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 30). 331 Vgl. SED-GPL Wismut, 12. Zwischenbericht vom 20.6.1953, 17.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 103); das folgende Zitate ebd. 332 Vgl. SED-GPL Wismut, 17. Zwischenbericht vom 23.6.1953 über die Lage in der Wismut AG (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 108). 333 Vgl. BDVP (BS) Wismut, An die HVDVP, Operative Berichterstattung, vom 22.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 15). 334 Vgl. SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 32); die folgenden Zitate ebd.

382 9.

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung

Der Abbau von Uranerz begann in Thüringen Anfang der fünfziger Jahre, zunächst 1951 im Ronneburger Erzfeld, inmitten des Dorfes Schmierchau, danach auch in Sorge-Settendorf, Lichtenberg und Katzendorf. 335 Zunächst gab es an diesem 17. Juni auch im Thüringer Wismut-Gebiet keine Hinweise auf Streiks und Demonstrationen innerhalb des Betriebsgeländes. Die WismutPolizei in Gera führte an diesem Tage sogar turnusgemäß ihre Politschulung durch. 336 Bis gegen 10 Uhr wußten die Polizisten des Volkspolizeiamtes (Betriebsschutz) nichts vom Streik Geraer Arbeiter. Als sie durch Zufall davon erfuhren, wurden die Schulungen abgebrochen und die Polizisten in ihre Dienststellen zurückgeschickt mit dem Befehl, „sich in die Betriebspunkte zu begeben und anordnungsgemäß keine Festnahmen durchzuführen, sondern Informationen zu sammeln und diese sofort der Einsatzleitung weiterzuleiten". Die SED-Bezirksleitung und die Kreisleitung Gera informierten die Funktionäre der SED-Kreisleitung Wismut Gera nicht über die beginnenden Streiks und Demonstrationen in ihrem Territorium. 337 Sie hatten offenbar genug damit zu tun, über mehrere lokale Schwerpunkte in ihrem Gebiet, vor allem in Gera, Jena, Saalfeld und Weida, den Überblick zu behalten und sie zu bereinigen. Die Wismut-Kreisleitung erfuhr erst im Laufe des Vormittags von den ungewöhnlichen „Vorkommnissen" in den volkseigenen Betrieben und auf den Straßen und Plätzen der Bezirksstadt, aber sie sah darin keine Gefahr für die Wismut. Denn die Funktionäre „vermuteten, daß sich die Kumpels der Wismut auf Grund der wirtschaftlichen Verbesserung nicht an der Provokation beteiligen würden" 3 3 8 . Später erklärten sie, daß sie „den Ernst der Situation nicht erkannten [...] und keine notwendigen Sicherheitsmaßnahmen einleiteten". In den ersten Wismut-Polizeiberichten wurde der Anteil der WismutBelegschaft an den Auseinandersetzungen im Gebiet außerhalb des Betriebsgeländes heruntergespielt und die „Hauptschuld" den Bauarbeitern zugeschrieben. 339 Ähnlich beurteilte die SED-Gebietsparteileitung die Situation. Sie informierte am Abend des 17. Juni das ZK, daß „einige Kumpel im Ausdehnungsgebiet von Gera dem Einfluß der provokatorischen Elemente unterlagen". 340 Diese Sicht durchzog alle späteren Berichte und „Analysen". Im Bericht des Gebietskommandos der Deutschen Volkspolizei Wismut zur „Ein335 Vgl. Wismut und die Folgen des Uranbergbaus. 336 Vgl. VPA (B) Wismut Gera, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera vom 4.7. 1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 30); das folgende Zitat ebd. 337 Vgl. SED-GPL Wismut, Diskussionsbeiträge auf der SED-Delegiertenkonferenz zur Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, o . D . (SächsStAC, W - I V / 1 / 6 , Bl. 91). 338 Ebd.; das folgende Zitat ebd., Bl. 90. 3 3 9 BDVP (BS) Wismut, An die HVDVP, Operative Berichterstattung, vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 14). 340 SED-GPL Wismut, 8. Zwischenbericht über die Lage der Wismut vom 17.6.1953 bis 23.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 95).

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung 383 Schätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17.-20.6.1953" wurde eingangs festgestellt: „Auf Grund der Vorkommnisse in der Republik entwickelte sich in Gera eine ernste Lage, in der es dort den faschistischen Provokateuren gelang, einen Teil der Wismut-Belegschaft in ihren faschistischen Putsch mit einzubeziehen." 341 Immerhin legten in den Thüringer Betriebsteilen am 17. und 18. Juni etwa 18 bis 20 Prozent der Wismut-Angehörigen die Arbeit nieder. Wegen des Streiks der Busfahrer in mehreren Garagen um Ronneburg und Gera herum ließ sich allerdings kaum ermitteln, wie viele Kumpel durch den unregelmäßigen Busverkehr nicht zur Arbeit kommen konnten und wie viele tatsächlich nicht arbeiten wollten. 342 Bereits in der Nacht vom 16. zum 17. Juni hatte es in Thüringer WismutBetriebsteilen Diskussionen über die Berliner Ereignisse gegeben, außerdem Forderungen, sich den streikenden Ostberlinern anzuschließen. 343 Die Streiks gingen schließlich am frühen Nachmittag des 17. Juni von der Garage Katzendorf bei Ronneburg aus. Das Motto der Aktion hieß: „Kumpels, erklärt Euch solidarisch mit den streikenden Arbeitern Geras!" 3 4 4 In der zweiten Schicht arbeiteten lediglich drei und in der dritten Schicht vier Kipperfahrer. Die übrigen Kraftfahrer verweigerten Betriebsfahrten und stellten statt dessen ihre Fahrzeuge zur Verfügung, um Kumpel nach Gera zur Demonstration zu befördern. Offenbar blieb niemand in der Garage zurück. Eine abendliche Kontrolle fand „die Markenbude der Garage" unverschlossen vor. Auf dem Tisch lag ein Zettel „Ich bin nach Hause, es ist niemand zur Schicht gekommen." 3 4 5 Um ihre Fahrzeuge aufzutanken, stürmten die Fahrer zunächst in Culmitzsch die Wismut-Tankstelle. Danach setzte sich „eine Karawane aus ca. 35 Bussen und Kippern" 3 4 6 in Richtung Gera in Bewegung. An der Spitze fuhr der deutsche Garagenleiter mit einem Motorrad. Unterwegs nahmen die Busse noch andere Fahrgäste auf, meist junge Leute aus den umliegenden Orten, die gleichfalls an der Demonstration in Gera teilnehmen wollten. Einen ersten Zwischenstopp gab es in Weida im Landkreis Gera. Dort hatten sich bereits um die Mittagszeit Wismut-Kumpel, die offenbar im Ort wohnten, an den lokalen Protestaktionen beteiligt. 347 Unter -anderem öffneten sie gewaltsam das 341 BDVP (BS) Wismut, Einschätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17.2 0 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 21). 3 4 2 Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953 und über die Ereignisse vor und nach dem 17.6.1953, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 172). 343 Vgl. SED-GPL Wismut, Diskussionsbeitrag auf der SED-Delegiertenkonferenz zur Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, o . D . (SächsStAC, W - I V / 1 / 7 , Bl. 21). 344 BDVP (BS) Wismut, Einschätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17.2 0 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 21). 3 4 5 SED-GPL Wismut, Diskussionsbeitrag auf der SED-Delegiertenkonferenz zur Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, o . D . (SächsStAC, W - I V / 1 / 7 , Bl. 21). 3 4 6 VPA (B) Wismut-Gera, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera, vom 4.7. 1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 29). 347 Vgl. Selzer, Der 17. luni im Bezirk Gera, S. 49.

384

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

Werktor der Jutefabrik - dieser Betrieb gehörte zu den Initiatoren des Streiks in Weida - , um noch arbeitende Belegschaftsmitglieder, überwiegend Frauen, zur Teilnahme an einer Demonstration aufzufordern. 3 4 8 Während einer Kundgebung auf dem Marktplatz forderten die Kumpels gemeinsam mit den Einwohnern die Ablösung der Regierung. Sie beteiligten sich an der Zerstörung der Sichtwerbung auf dem Rathausplatz. Die hinzukommenden Wismut-Angehörigen aus Katzendorf löschten den Heizkessel im Betriebsteil Weida des VEB Textilveredelungswerk Gera, um die Weiterarbeit der Belegschaft zu verhindern. Die Mehrzahl der Wismut-Fahrzeuge fuhr nach kurzer Unterbrechung in Richtung Gera weiter. Bevor sie jedoch die Stadtgrenze erreichten, kam es zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen den Wismut-Kumpeln und Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei. Ein beteiligter Wismut-Beschäftigter schilderte diese Aktion später wie folgt: 349 Kurz vor Gera gerieten die Wismut-Busse in eine Kontrolle. „Die Russen" ließen die Fahrzeuge zunächst passieren; Einheiten der Kasernierten Volkspolizei zwangen sie später zum Halten. Daraufhin forderten die Wismut-Kumpel die Soldaten auf, unverzüglich die Straße freizugeben, um die Fahrt fortsetzen zu können. Als diese sich weigerten, kam es zu „Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen" zwischen Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei und der Wismut, die schließlich in einer „Schlägerei" endeten. Daraufhin gab „der befehlende KVP-Offizier Schießbefehl", was die Kumpel zum Anlaß nahmen, „sofort zum offiziellen Angriff auf die Einheit der KVP loszugehen". Sie handelten dabei „blitzschnell, so daß es der KVP nicht gelang, die Gewehre durchzuladen". Angehörige der Kasernierten Volkspolizei wurden „blutig niedergeschlagen" 3 5 0 . Nur durch das Eingreifen „russischer Panzer" seien die Soldaten „dem Erschlagen" entgangen, erklärte der Wismut-Kumpel. Die „russischen Panzer" hätten den Rückzug der Kasernierten Volkspolizei gedeckt und die Kumpel ihre Fahrt fortgesetzt. In Gera erwartete man die Wismut-Beschäftigten bereits. Denn die Bevölkerung hatte darauf gehofft, daß sich die Wismut-Kumpel, als „schlagkräftige" Männer bekannt und berüchtigt, mit ihnen solidarisieren würden. „Wenn die Wismut kommt", so die allgemeine Stimmung, „dann schlagen wir den ganzen Kram zum Klumpen, dann geht es erst richtig los". 351 Im übrigen gab es solche Hoffnungen nicht nur in Gera, sondern auch im Bezirk KarlMarx-Stadt. Der Informant des MfS „Sonne" berichtete am 18. Juni der MfS348 Vgl. SED-GPL Wismut, 8. Zwischenbericht über die Lage der Wismut vom 17.6.1953 bis 23.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 95f.). 349 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vorfall in Gera, wo Zivilbevölkerung (Wismutkumpel) Einheiten der KVP angriff und niederschlug, vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 79). 3 5 0 Ebd., Bl. 80. 351 SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrates vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, o . D . (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 170).

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung 385 Kreisdienststelle Aue über derartige Diskussionen im VEB Werkzeugmaschinenwerk Aue. 352 Als die ersten Wismut-Fahrzeuge in Gera erschienen, sei „ein wahrer Freudentaumel auf den Straßen" zu beobachten gewesen. 353 Das war zwischen 15 und 16 Uhr, als etwa 300 Wismut-Kumpel aus Katzendorf eintrafen. Später kamen um die 50 weitere Wismut-Fahrzeuge aus Saalfeld an, „voll besetzt mit Kumpels und anderen Arbeitern". 354 Am 17. Juni demonstrierten zunächst ungefähr 2 000 Personen in der Innenstadt von Gera. An der nachmittäglichen Kundgebung und anschließenden „Ausschreitungen" sollen insgesamt etwa 6 0 0 0 Personen beteiligt gewesen sein. 355 Der quantitative Anteil der Wismut-Kumpel an diesen Aktionen läßt sich nicht ermitteln, eher schon ihr Einfluß auf die Art und Weise der Auseinandersetzungen. Die Demonstrationen verliefen auch hier anfangs gewaltfrei. Die Gebietsparteileitung Wismut stellte mit Verwunderung diese Tatsache fest und folgerte: „Es muß eine Anweisung bestehen von diesen organisierten Elementen, keinerlei Übergriffe zu starten." 3 5 6 Betriebsdelegationen, darunter auch Wismut-Angehörige, zogen zum Rat des Bezirkes und forderten unter anderem die Überprüfung und Herabsetzung der Gehälter der Kasernierten Volkspolizei, die sofortige Auflösung des MfS, die Festsetzung der Renten auf eine Höhe, die ein menschenwürdiges Dasein ermögliche, die sofortige Entlassung aller politischen Häftlinge. 357 Die Delegation wurde von der Vorsitzenden des Rates, Lydia Poser, empfangen. Auch der Verdiente Aktivist der SAG Wismut, Sepp Wenig, soll anwesend gewesen sein. 358 Später war der Eintritt in das Gebäude des Rates des Bezirkes nicht mehr möglich: Die Gitter des Tores waren heruntergelassen, weshalb Demonstranten mit den Wismut-Kumpeln an der Spitze versuchten, sich gewaltsam Einlaß zu verschaffen. Mittels eines Hebekrans der Wismut sollte das Gitter zerstört werden. Mit dem Eintreffen der Wismut-Fahrzeuge erreichte die „Erregung der Massen" ihren Höhepunkt. Fortan gingen Geraer Demonstranten und WismutKumpel gemeinsam und meist gewalttätig vor. Durch die Wismut-Kraftfahrzeuge und vor allem die „schwere Technik", wie Kräne und Kipper, waren die Demonstranten mobiler, und sie fühlten sich offenbar der Staatsmacht - verkörpert durch Polizei und Kasernierte Volkspolizei - überlegen.

3 5 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Auszug aus dem Bericht des GM Sonne, Treff am 18.6.1953, 18.30 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, XX-308, Bl. 396). 353 Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrates vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, o . D . (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 170). 3 5 4 VPA (B) Wismut Gera, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera, vom 4.7. 1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 30). 3 5 5 Vgl. Selzer, Der 17. Juni im Bezirk Gera, S. 48. 3 5 6 SED-GPL Wismut, 7. Zwischenbericht über die Lage in der Wismut zu dem Beschluß des Politbüros und des Ministerrates der DDR, vom 17.6.1953 (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 17). 357 Vgl. Selzer, Der 17. Juni im Bezirk Gera, S. 27. 3 5 8 Vgl. ebd., S. 46f.; das folgende Zitat ebd., S. 47.

386

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

Es gab mehrere Brennpunkte des Aufruhrs: das Rathaus, den Rat des Bezirkes, das Untersuchungsgefängnis sowie Gebäude der SED, Polizei und des MfS. Einwohner Geras und Wismut-Kumpel zogen beispielsweise vor das Untersuchungsgefängnis in der Greizer Straße. Sie forderten die „Freilassung der politischen Gefangenen", die „Absetzung der Regierung" und den „Abzug der Besatzungstruppen". 3 5 9 Ein 32jähriger Wismut-Kraftfahrer aus Gera, der später zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde, durchbrach mit seinem Kran das äußere und das innere Tor der Haftanstalt. 3 6 0 Die Demonstranten überrannten die Wache und standen schließlich im Innenhof des Gefängnisses. Erst sowjetische Truppen verhinderten ein weiteres Eindringen in das Gebäude und die geplante Gefangenenbefreiung. 3 6 1 Es gelang ihnen, den Innenhof zu räumen. Die spektakulärste Aktion ereignete sich gegen 17 Uhr. Kursanten der Waffentechnischen Schule der Kasernierten Volkspolizei Gera sollten gerade den Marktplatz von Demonstranten räumen, als etwa 40 vollbesetzte Wismut-Fahrzeuge erschienen. Die Kumpel warfen sich sofort auf die soeben eingetroffenen Armeeschüler. Deren Überraschung war offenbar so groß, daß sie keinerlei Waffen einsetzten. Es entstand ein großes „Handgemenge". In Verlaufe dieser Auseinandersetzungen stürzten die Wismut-Kumpel ein vollbesetztes Fahrzeug der Kasernierten Volkspolizei um, wobei es auf Seiten der Armeeschüler Verletzte gab. 3 6 2 Während der Prügelei erbeuteten die Bergleute einige Waffen (10 Karabiner und 4 Maschinenpistolen), die sie zum größten Teil zerschlugen. Auch hier waren die Angehörigen der Kasernierten Volkspolizei den WismutKumpeln unterlegen. Sie mußten sich in das Gebäude der Bezirksbehörde der Volkspolizei zurückziehen. Wenig später erzwangen Sowjetsoldaten mit Panzern die Räumung des Platzes. 3 6 3 In Gera gab es beim Einsatz der KVP einige Besonderheiten, die offenbar damit zusammenhingen, daß sich Gera im Ausdehnungsgebiet Wismut befand. 3 6 4 Die Kasernierte Volkspolizei war hier bereits gegen Mittag - früher als in anderen sächsischen Städten - dem Hilfeersuchen der Bezirksbehörde der Volkspolizei nachgekommen. Der Kommandeur, der Leiter der Waffentechnischen Schule der Kasernierten Volkspolizei, hatte in Absprache mit dem sowjetischen Kontrolloffizier zunächst einige unbewaffnete Züge von Armeeschülern in die Stadt entsandt. Sie sollten durch Diskussionen die Demonstranten beruhigen. Als die Armeeschüler dem Appell der Demonstranten, sich mit 3 5 9 VPA (B) Gera Wismut, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera, vom 4.7. 1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 2 9 ) . 3 6 0 Vgl. SED-GPL Wismut, Monatsbericht der PKK, Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 588). 361 Vgl. VPA (B) Gera Wismut, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera, vom 4. 7.1953. (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 29). 3 6 2 Vgl. Roth/Diedrich, „Wir sind Kumpel", S. 245. 3 6 3 Vgl. Bericht aus dem Bestand der Polizeitruppen (BA-MA, DVH 3 / 2 2 3 8 a , Bl. 175). 3 6 4 Vgl. dazu ausführlich Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 109ff.; die folgenden Zitate ebd., S. 110.

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung 387 ihnen zu solidarisieren, nicht folgten, kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf einige Schüler verletzt wurden. Daraufhin zog sich das Einsatzkommando fluchtartig in die Kaserne zurück. Danach wurden die Schüler der Kasernierten Volkspolizei bewaffnet und erneut eingesetzt. Beim zweiten Einsatz am Nachmittag zeigten sie sich „motiviert, auch mit der Waffe gegen die Protestierenden vorzugehen [...]. Das Eingreifen der KVP-Einheiten im Stadtzentrum Geras erfolgte nun sehr resolut. Als die Menge nicht weichen wollte, wurden Waffen eingesetzt. Warnschüsse fielen, Querschläger verletzten dabei Demonstranten." Als sich diese daraufhin fluchtartig „zerstreuten", übernahm die Kasernierte Volkspolizei die Sicherung der Gebäude der Staatssicherheit, der Untersuchungshaftanstalt und des Volkspolizeikreisamtes, die teilweise zuvor von Demonstranten besetzt worden waren. Die SED-Kreisleitung Wismut in Gera kritisierte später das Verhalten der Kasernierten Volkspolizei. Sie habe „zu spät eingriffen" und das „taktische Verhalten der Militäreinheiten" sei „nicht in allen Fällen richtig" gewesen. So seien drei Lastwagen mit 60 Soldaten der Kasernierten Volkspolizei, die zum Schutz des Bezirksrates eingesetzt waren, in eine Menschenmenge von 2 000 bis 3 000 Menschen hineingefahren. 365 Auch die Feuerwehr, die mit Wasserwerfern die Demonstranten zerstreuen sollte, wurde in handfeste Auseinandersetzungen verwickelt. 366 Dabei wurde von Wismut-Angehörigen ein Feuerwehrhorn erbeutet, das später in Crimmitschau „Unruhe stiftete". 367 Um 17 Uhr verhängte der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand über die Stadt Gera. Danach räumte sowjetisches Militär die Straßen und Plätze mit Gewalt. 3 6 8 Doch die Wismut-Kumpel beeindruckte das Vorgehen der sowjetischen Soldaten zunächst nicht sonderlich. So zogen nach 17 Uhr noch immer „randalierende Wismut-Arbeiter durch die Innenstadt, rissen Transparente herunter, zerschlugen Fensterscheiben, so am Hauptpostamt, sowie Inneneinrichtungen von Geschäften." 3 6 9 Gegen 18.30 Uhr kam es auf dem „Platz der Republik" zu einer Auseinandersetzung zwischen WismutKumpeln und Sowjets. Etwa 200 'Wismut-Kumpel umstellten zwei russische Soldaten. Es entwickelte sich eine Schießerei, bei der aber niemand verletzt wurde. Erst in den späten Abendstunden trat in Gera Ruhe ein. Zuvor war das Stadtzentrum durch sowjetische Truppen „gesäubert und hermetisch abgeschlossen" 370 worden. Einem Teil der Wismut-Fahrer gelang es offenbar, mit 365 Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrates vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, o.D. (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 170). 366 Vgl. Selzer, Der 17. Juni im Bezirk Gera, S. 45f. 367 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über Überprüfung im Bergarbeiterheim Crimmitschau vom 21.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 3 , Bl. 5). 368 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 111. 369 Vgl. Selzer, Der 17. Juni im Bezirk Gera, S. 48. 370 Vgl. VPA (B) Wismut-Gera, Bericht zu den Ereignissen am 17.6.1953 in Gera, vom 4.7.1953 (SächHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 29).

388

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt und in der SAG Wismut

ihren Fahrzeugen aus der Stadt zu entkommen. Am nächsten Tag tauchten erneut Wismut-Busse mit Kumpeln in Gera auf. 3 7 1 Über 3 0 von ihnen besetzten und demolierten eine Grundschule. Die Motive blieben unklar. Zwei Züge der Kasernierten Volkspolizei stürmten daraufhin das Schulgebäude und nahmen 27 Kumpel fest. Die Omnibusse wurden sichergestellt. Nach den handgreiflichen Auseinandersetzungen in Gera am 17. Juni fuhren Wismut-Kumpel wieder nach Weida zurück. Kurz nach 2 3 Uhr ging in der SED-Gebietsparteileitung eine Meldung über die Lage in Weida ein: „Dort haben sich die Kumpels, die von Gera gefahren sind nach Weida, in Besitz von Schußwaffen gesetzt und haben mit der Volkspolizei kleine Feuergefechte gehabt. Eines dieser Nester ist ausgeräumt. Gegenwärtig befinden sich sowjetische Freunde nach Weida [sie!], um diese Stellen zu bereinigen. Soweit wir informiert sind, gibt es einige Verwundete." 3 7 2 Zu diesem Zeitpunkt sollen noch 52 Wismut-Fahrzeuge unterwegs gewesen sein. 3 7 3 In Weida hatten Wismut-Angehörige zunächst mehrere HO-Gaststätten demoliert. Gegen 19 Uhr griffen ungefähr 800 Demonstranten, in der Mehrzahl Wismut-Kumpel, erneut das Volkspolizeirevier an, nachdem ein erster Angriff am Nachmittag durch die Polizisten noch abgewehrt worden war. 3 7 4 Die Demonstranten drohten mit der Sprengung des Reviers, falls sich die Polizisten nicht ergeben und ihnen anschließen würden. Doch die Polizisten verteidigten ihr Gebäude, bis Verstärkung aus Gera eintraf. Es kam zu Schießereien, 270 gezielte Schüsse sollen abgegeben worden sein. Ein Weidaer Bäcker wurde dabei tödlich getroffen, zwei Jugendliche erlitten Verletzungen. Die Volkspolizei hat angeblich ihre Schußwaffen erst dann eingesetzt, als von Seiten der Demonstranten geschossen wurde. Die Wismut-Kumpel sollen dabei jene Waffen benutzt haben, die sie zuvor in Gera der Kasernierten Volkspolizei abgenommen hatten. Die Unruhen in Weida hielten bis weit nach Mitternacht an. Schließlich räumten sowjetische Truppen öffentliche Plätze und Straßen und riegelten die Stadt hermetisch ab. Und wiederum waren die Wismut-Kumpel bereits zuvor abgefahren, dieses Mal nach Berga, um gegen Mitternacht das dortige Volkspolizeirevier zu stürmen. Nachweislich beteiligten sich Wismut-Kumpel auch an den dramatischen Auseinandersetzungen am 17. Juni in Jena. 3 7 5 Wie in anderen Regionen führte der Ausnahmezustand auch im Thüringer Ausdehnungsgebiet der Wismut nicht zum Abbruch der Streiks. In der SAG Wismut streikten die Angehörigen der Garage in Katzendorf am nächsten Tag weiter, um Forderungen wie die „Freilassung der politischen Gefangenen", die „Bezahlung des Streiktags" und den „Abzug der bewaffneten Soldaten der 371 Vgl. Roth/Diedrich, „Wir sind Kumpel", S. 246f. 372 SED-GPL Wismut, Mitteilung von Genossen Raabe, KL Wismut Gera, 17.6.1953, 23.15 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 138). 373 Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 112. 374 Vgl. Selzer, Der 17. Juni im Bezirk Gera, S. 50. 375 Vgl. ebd., S. 5 3 - 5 9 ; Andreas Karmrodt, Der 17. Juni 1953 in Jena, erwähnt die Beteiligung von Wismut-Arbeitern nicht.

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung 389 Sowjetarmee aus dem Betriebsgelände" durchzusetzen. 376 Die Kraftfahrer verlangten, verhaftete Kollegen freizulassen. Offenbar hatten die streikenden Wismut-Arbeiter aus Katzendorf an diesem Tage auch vor, Demonstrationen in Werdau oder Crimmitschau zu veranlassen. Nach MfS-Angaben kamen die meisten Kumpel der Garage Katzendorf aus dem Kreisgebiet Werdau. 377 Einige wohnten im Bergarbeiterheim Crimmitschau. 378 Am 18. Juni ging eine Mitteilung der Bezirksbehörde der Volkspolizei bei der Einsatzleitung des MfS ein: „In Katzendorf - Wismut-Objekt des Kreises Greiz - streiken die Bergarbeiter des gesamten Wismut-Objektes [...]. Sie sind im Besitz von 40 LKW. Heute morgen passierten einige LKW, besetzt mit Wismut-Arbeitern, die Straßen von Seelingstädt und Katzendorf" 3 7 9 . Sie hätten die dortigen Bauarbeiter unter Androhung von Gewalt aufgefordert, sich anzuschließen und an „Demonstrationen in Werdau oder Crimmitschau" teilzunehmen. Dabei hätten sie angekündigt, zwischen 14 und 14.30 Uhr wiederzukommen. Einige LKW seien mit Unrat beladen gewesen, der auf der Straße entladen werden sollte, um für die Bauarbeiter Platz zu schaffen. „Über das weitere Vorgehen der Wismut-Arbeiter ist nichts näheres bekannt", hieß es abschließend in der Mitteilung an das MfS. Zu den geplanten Demonstrationen in Werdau bzw. Crimmitschau kam es nicht. Die Wismut-Fahrzeuge wurden bereits an der Bezirksgrenze zu Karl-Marx-Stadt von sowjetischen Truppen „empfangen". 3 8 0 In Crimmitschau kam es lediglich zu einigen kleineren Aktionen. So rissen Wismut-Kumpel einige Transparente und Bilder am Gewerkschaftshaus herunter. Der „Wortführer" war ein Wismut-„Aktivist". 381 Den streikenden Wismut-Kraftfahrern schlössen sich am 17. Juni große Teile der Belegschaften anderer Abteilungen in Katzendorf und im Betriebspunkt Sorge-Nord an. In Sorge-Nord streikten 70 Prozent der Belegschaft in der zweiten und dritten Schicht. 382 Das Gebiet wurde „abgeriegelt, um ein Übergreifen auf andere Betriebsteile zu verhindern"; Busfahrer anderer Garagen wurden „nochmals kontrolliert." 383 In Sorge-Süd kam es nicht zu Streiks, 376 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Einschätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17. 20.6.1953, vom 29.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 27/27, Bl. 21). 377 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Telefonische Mitteilung der BDVP vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 81). 378 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über Überprüfung im Bergarbeiterheim Crimmitschau vom 21.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 3 , Bl. 5). 379 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Telefonische Mitteilung der BDVP vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 81); die folgenden Zitate ebd. 380 BDVP Karl-Marx-Stadt, Bericht über den Polizeieinsatz vom 17.-27.6.1953, vom 30.6.1953 (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 153f.). 381 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über Überprüfung im Bergarbeiterheim Crimmitschau vom 21.6.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 3 , Bl. 5). 382 Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrates vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK des SED, vom 8.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 169). 383 SED-KL Wismut Gera, Mitteilung vom Gen. Raabe, 17.6.1953, 23.15 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 138).

390

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG Wismut

hier mußte lediglich die dritte Schicht ohne ihre Steiger einfahren. Sie waren zuvor in Ronneburg aus den Schichtfahrzeugen „herausgezogen" worden. 3 8 4 In Katzendorf streikten am 17. Juni die Mechanische Werkstatt und die Bauabteilung mit jeweils drei Stunden Arbeitsausfall. Wismut-Kumpel des Betriebspunktes Lichtenberg legten während der Mittel- und Nachtschicht vollzählig die Arbeit nieder. Insgesamt sollen Kipperfahrer, Mechaniker, andere technische Berufsgruppen und die Schießmeister „am aktivsten" gewesen sein. 385 Auch die Gewerkschaftsfunktionäre der Garage Katzendorf beteiligten sich an der Arbeitsniederlegung. Der 1. und der 2. BGL-Vorsitzende wurden später als „Hauptprovokateure" in Haft genommen, aber nach wenigen Tagen wieder entlassen. 386 Was in den Schächten und Uranaufbereitungsbetrieben an diesen Tagen geschah, das läßt sich bislang - ohne sowjetische Quellen - nicht exakt ermitteln. In der Zeit zwischen dem 17. und 23. Juni wurden die Objekte zusätzlich bewacht. Schwer bewaffnete sowjetische Soldaten patrouillierten vor und in den Schächten. 387 Das störte selbst die Wismut-Arbeiter, die ansonsten an die Präsenz von sowjetischem Militär in ihrem Betrieb gewöhnt waren. So weigerten sich Kumpel im Schacht Schmirchau (Objekt 29), weiter „unter bewaffnetem Schutz zu arbeiten". Sie forderten deshalb den Abzug der bewaffneten Soldaten aus dem unmittelbaren Produktionsgelände. Vor allem im Thüringer Raum kam es vor Beginn der Nachschicht zu „Ausschreitungen zwischen sowjetischen Soldaten und Kumpeln". 3 8 8 Ein 19jähriger Wismut-Arbeiter wurde unter anderem „wegen Widerstand gegenüber sowjetischen Soldaten" zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Produktionseinbußen in der Uranförderung drohten, als die streikenden Busfahrer einiger Garagen in der Ronneburger Gegend die Kumpel, die am 17. Juni zur Nachtschicht in die Schächte wollten, einfach an den Haltepunkten stehenließen. Einige Wismut-Kumpel weigerten sich auch, in die Schächte einzufahren, weil die Meinung verbreitet wurde: „Wer im Schacht ist, darf nicht mehr raus." 3 8 9 „Alle Aufklärung nützt nichts, da man den Agitatoren nicht glaubt", berichtete die Kreisleitung Wismut Gera kurz vor Mitternacht an die SED-Gebietsparteileitung. Die sowjetischen „Freunde" forderten zur Arbeits3 8 4 Vgl. SED-GPL Wismut, 8. Zwischenbericht über die Lage der Wismut vom 17.6.1953 bis 2 3 . 0 0 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 95). 3 8 5 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Einschätzung der Lage im Gebiet Gera in der Zeit vom 17.2 0 . 6 . 1 9 5 3 , vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 21). 3 8 6 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokation im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 5 8 4 ) . 387 Vgl. SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 32); das folgende Zitate ebd. 3 8 8 SED-GPL Wismut, Aus dem Monatsbericht Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 589); das folgende Zitat ebd., Bl. 588. 3 8 9 SED-KL Wismut Gera, Mitteilung vom Gen. Raabe, 1 7 . 6 . 1 9 5 3 , 2 3 . 1 5 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 138); die folgenden Zitate ebd.

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel

mit der Bevölkerung

391

aufnähme auf. In Ronneburg kam es am späten Abend an einem Haltepunkt zu tumultartigen Szenen. Hier warteten etwa 300 Kumpel vor einer Gaststätte auf ihren Abtransport zur Nachtschicht. Die Kraftfahrer weigerten sich, die Kumpels zum Schacht zu fahren. Sowjetisches Militär „rückte an". Sie riegelten die Straße ab. Das Geschehen eskalierte, nachdem ein Wismut-Arbeiter, angeblich der „schlimmste Hetzer", von einem sowjetischen Offizier festgen o m m e n worden war. Die Parteiinformation vermerkte: „Massenprovokation gegen den sowjetischen Offizier." Die sowjetischen Soldaten wurden zurückgedrängt und gaben Warnschüsse ab. Ein Teil der Kumpel fuhr nach diesem Vorfall zur Schicht. 3 9 0 Der Streik der Kraftfahrer hatte trotz aller zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen Auswirkungen auf die Arbeit in den Schächten. Nachweislich konnte am 17. Juni in zwei Schächten um Ronneburg zunächst nicht gearbeitet werden, weil die Kumpel nicht rechtzeitig zur Arbeit erschienen. 3 9 1 Um weitere Auswirkungen auf die Förderung von Uran im Ronneburger Raum zu vermeiden, wurden am zweiten Streiktag 47 „zuverlässige Kraftfahrer", alle SED-Mitglieder, aus anderen Objekten in der Garage Katzendorf eingesetzt. 3 9 2 Die „neuen" Fahrer wurden am 19. Juni in das Bergarbeiterheim in Crimmitschau einquartiert, wo auch die Mehrzahl der streikenden Katzendorfer Fahrer untergebracht war. 3 9 3 Erst am 20. Juni war die Arbeitsniederlegung in dieser Garage beendet. 3 9 4 Die Funktionäre der Wismut waren sichtlich beunruhigt, als am 20. Juni im Gebiet von Aue Flugblätter verteilt wurden, in denen die Wismut-Kumpel zum Generalstreik ab 24 Uhr aufgerufen w u r d e n . 3 9 5 Bis zu diesem Tage waren die Normenerhöhungen in der Wismut noch nicht zurückgenommen worden. Zu dem geplanten Generalstreik kam es jedoch nicht. Die Gebietsparteileitung registrierte lediglich „verstärkte Feindtätigkeit innerhalb der Wismut". 3 9 6 Überliefert sind einige kleinere, territorial begrenzte Protestaktionen in Wismut-Gebieten. 3 9 7 So demonstrierten am 21. Juni um Mitternacht Bewohner einer neu errichteten Wismutsiedlung auf dem Rabenberg in Breitenbrunn (Kreis Schwarzenberg, Bezirk Karl-Marx-Stadt). Mehrere Tage lang herrschte 3 9 0 Vgl. SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 15.00 Uhr (SächsStAC, W - 1 V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 32). 391 Vgl. SED-GPL Wismut, Weitere Maßnahmen zur Sicherung der Objekte, vom 17.6. 1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 46). 3 9 2 Vgl. SED-GPL Wismut, 11. Zwischenbericht vom 19.6.1953, 1 5 . 0 0 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 32). 3 9 3 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über Überprüfung im Bergarbeiterheim Crimmitschau vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 3 , Bl. 5). 3 9 4 Vgl. SED-GPL Wismut, 12. Zwischenbericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , 17.00 Uhr (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 103). 3 9 5 Vgl. ebd., Bl. 104. 3 9 6 Vgl. SED-GPL Wismut, 17. Zwischenbericht vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 über die Lage in der Wismut-AG (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 108). 397 Vgl. SED-GPL Wismut, 12. bis 17. Zwischenbericht über die Lage in der Wismut AG (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 1 0 3 - 1 0 9 ) .

392

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

in dieser Siedlung „trotz des ständigen Einsatzes von Genossen" Unruhe. 3 9 8 Dabei wurden ein HO-Kiosk und ein Zimmer der Post demoliert. Die SEDKreisleitung Wismut Breitenbrunn beschuldigte die zuständigen Mitarbeiter der Staatssicherheit, „ihre Aufgabe noch nicht richtig erkannt (zu) haben". 3 9 9 „Streit und Meinungsverschiedenheiten" zwischen Parteifunktionären und der Staatssicherheit waren in dieser Zeit keine Seltenheit. Nach Meinung der SEDFunktionäre griff das MfS nicht schnell genug zu und beobachtete so lange, bis die Objekte der Beobachtung „nach dem Westen türmten". 4 0 0 Am 21. Juni spät abends „randalierten", so der Polizeibericht, 30 bis 40 junge Wismut-Arbeiter aus Zwickau zunächst vor ihrer Unterkunft. Nach Mitteilung eines Abschnittsbevollmächtigten (ABV) an die Volkspolizeibehörde des Bezirkes Karl-Marx-Stadt befanden sich Angehörige der Dienststelle des MfS Oberschlema unter den Protestierenden. 401 Zunächst sollten keine Zwickauer Volkspolizisten dort eingesetzt werden. Nachdem der Demonstrationszug auf 150 bis 200 Personen angewachsen war, wurde der sowjetische Stadtkommandant verständigt. Um Mitternacht rückten vier Lastwagen mit sowjetischen Soldaten aus. Die Masse der Bergarbeiter zog sich bei Annäherung dieser Fahrzeuge in ihre Unterkünfte zurück, während 35 bis 40 WismutKumpel zum Bahnhof marschierten. Offensichtlich wollten sie den um Mitternacht ankommenden Schichtzug abfangen. Um das zu verhindern, rückten sofort zwei Schnellkommandos der Volkspolizei aus. Die sowjetischen „Freunde" nahmen 36 Bergarbeiter vorläufig fest. Die Festgenommenen waren alle Angehörige der SAG Wismut, die zum Teil vom Wochenendurlaub in ihre Unterkunft nach Zwickau zurückgekehrt waren. Die SED-Gebietsparteileitung Wismut berichtete, daß in einzelnen Schächten, so auch im Stalin-Schacht, „Sabotageakte" noch rechtzeitig verhindert worden seien. Die Rede war von Leitungsbränden, abgesprengten Lichtmasten und zerstörten Telefonleitungen. 402 Die Parteileitung registrierte überdies „negative Diskussionen" (darunter fielen insbesondere Forderungen nach Bestrafung der Regierung) sowie einige Fälle, in denen sich SED-Mitglieder der Gebietsparteiorganisation Wismut „feindlich" betätigt hatten. Kaum abzuschätzen ist der Anteil jener Wismut-Arbeiter an den Protestaktionen, die im Urlaub oder zu Freischichten in ihren über die ganze DDR 3 9 8 SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 589). 3 9 9 Vgl. SED-GPL Wismut, Aus dem Monatsbericht Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 589f.). 4 0 0 Vgl. SED-GPL Wismut, Delegiertenkonferenz in Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, Schlußwort eines BGL-Mitglieds aus Cainsdorf, o . D . (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 41, Bl. 45). 401 Vgl. BDVP Karl-Marx-Stadt, Blitzfernschreiben des VPKA Zwickau, Provokation durch Bergarbeiter der Wismut-AG, o. D. (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 4 2 , Bl. 101). 4 0 2 Vgl. SED-GPL Wismut, Aus dem Monatsbericht Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 589f.).

Die Solidarisierung der Thüringer Wismut-Kumpel mit der Bevölkerung 393 verstreuten Heimatorten weilten. Die SED-Gebietsparteileitung bemühte sich in den Monaten nach dem 17. Juni jedenfalls in der Regel vergeblich um Aufklärung. Möglicherweise werden künftige Regional- und Lokalstudien weitere Aufschlüsse geben. Bislang ist lediglich bekannt, daß auch in Jena unter den Demonstranten viele Wismut-Angehörige waren. Für die Wismut-Gebiete im Bezirk KarlMarx-Stadt und Dresden sind nach dem gegenwärtigen Forschungsstand keine größeren öffentlichen Protestaktionen unter Beteiligung von Wismut-Kumpel nachzuweisen. In einem Dresdner Stadtbezirk sollen der SED-Berichterstattung zufolge Wismut-Angehörige im Gegenteil die Ausbreitung von Streiks und Demonstrationen sogar verhindert haben. 4 0 3 Am 26. Juni 1953 stellte die SED-Gebietsparteileitung Wismut zusammenfassend fest, „daß die Versuche faschistischer Provokateure, die WismutKumpel in ihre Aktion voll einzubeziehen, völlig scheiterten, und zwar einmal durch die operative Führung unserer Parteiorganisation, die von Anbeginn die Führung in den Händen hielt, und zum anderen am Bewußtsein der Belegschaft, das zum Ausdruck kommt in einer enormen Zahl Verpflichtungen der Wismut-Kumpel, ihre Produktionsstätten zu schützen, die Produktion zu steigern und weiterhin in einer großen Zahl von Resolutionen, die das Vertrauen der Kumpel zur Partei und Regierung zum Ausdruck brachten." 4 0 4 Im gleichen Bericht wird allerdings eingeschränkt: „Wenngleich [...] es nicht zu solch offenen Provokationen wie in anderen Bezirken kam, dann darf diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine große Zahl von feindlichen Elementen nicht in Erscheinung treten konnte, eben deswegen, weil diese nicht offen zum Zuge kamen". Reichlich einen Monat später relativierte die SED-Parteileitung Wismut den Anteil der Kreis- und Objektparteileitungen bei der Verhinderung von „vorbereiteten Aktionen" in der Wismut dahingehend, daß die „meisten Kreis- und Objektparteileitungen im Gebiet der Wismut-AG nicht solchen hohen Belastungen ausgesetzt waren, wie in anderen Betrieben und territorialen Bezirks- und Kreisleitungen". 405 Auffällig ist vor allem, daß die SED-Gebietsparteileitung in ihren Berichten und Analysen immer wieder ihren eigenen Anteil bei der Verhinderung größerer „faschistischer Provokationen" innerhalb der Wismut hervorhob, hingegen das Einschreiten des sowjetischen Militärs kaum erwähnte. Demgegenüber machte die Leitung der Bezirksbehörde der Volkspolizei (Betriebsschutz) Wismut in ihrer Berichterstattung unmißverständlich deutlich, wer tatsächlich einen „Aufruhr" in der Wismut verhindert habe. So beginnt eine „Operative 403 Vgl. BDVP (BS) Wismut, Operative Berichterstattung vom 22.6.1953 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 14). 404 SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 26.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 , 1 V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 581). 405 SED-GPL Wismut, Analyse über das Verhalten der Kreis- und Objektparteileitungen in der PO Wismut in den kritischen Tagen der faschistischen Provokation, vom 30.7.1953 (SAPMO-BArch, DY 30, I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 595).

394

Der 17. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt

und in der SAG

Wismut

Berichterstattung" des Leiters der Politabteilung der Wismut-Polizei am 22. Juni wie folgt: „Im Bereich der BDVP (BS) Siegmar-Schönau, vor allem aber in den Schächten und Betrieben gelang es dem Gegner nicht, Aufruhr zu stiften und die Unruhen [...] auf unser Gebiet zu übertragen. Einzelne Versuche, eine ähnliche Situation zu schaffen, wurde durch das schnelle Reagieren in erster Linie sowjetischer Einheiten, aber auch der SED-Kreisleitungen der Wismut, der staatlichen Organe und der zum größten Teil positiven Haltung der Wismut-Kumpel zerschlagen." 406 Auch das MfS führte die Tatsache, daß es im Bezirk Karl-Marx-Stadt nicht zu „größeren Ausschreitungen und Provokationen" kam, in erster Linie auf die „großzügige Hilfe" der sowjetischen Armee zurück. 4 0 7 In einer „Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen" nannte die Staatssicherheit drei „Faktoren", die „Einfluß auf die verhältnismäßig gute Situation" hatten: ,,a) Die aktive Hilfe der Freunde, b) die Initiative der Partei, c) die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung". 408 Es gibt aber keinerlei Hinweis darauf, daß das sowjetische Militär gegen Wismut-Angehörige besonders rigoros eingeschritten wäre. Offensichtlich waren die sowjetische Generaldirektion und die sowjetischen Schacht- und Betriebsleiter an einer schnellen und möglichst unblutigen Regelung der Konflikte im Interesse der ununterbrochenen Produktionstätigkeit - der Gewinnung von Uranerz - interessiert.

4 0 6 BDVP (BS) Wismut, Operative Berichterstattung vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, Gebietskommando Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 14). 407 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Bericht über die allgemeine Lage vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 2). 4 0 8 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen vom 16. - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk Karl-MarxStadt, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 1).

VI. Die Disziplinierung der SEP-Basis nach dem 17. Juni 1.

Die Legende vom faschistischen Putschversuch

Die Forschung schreibt dem 17. Juni längerfristige, teilweise traumatische Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft der DDR zu; Hermann Weber zufolge veranlaßte der vom Aufstand bewirkte „Lernschock" mittelfristig die Führung der SED, das Tempo der Transformation zum Sozialismus zu verlangsamen. 1 Die Bevölkerung hingegen hatte die „bittere Erfahrung" gemacht, daß „der Versuch einer gewaltsamen Veränderung des politischen Systems keinerlei Aussicht auf Erfolg [hatte], solange die UdSSR das bestehende Regime in der DDR garantierte" - eine Erkenntnis, die Opposition und Widerstand in den kommenden Jahrzehnte prägen sollte. 2 „Das Rollen sowjetischer Panzer bekräftigte nicht nur die .Revolution von oben', sondern setzte zugleich ein unübersehbares Zeichen für den künftigen Umgang mit offenem Widerstand." 3 Eine Anzahl neuerer Studien über die Wochen und Monate nach der Niederlage der Aufständischen, über Einstellungen und Verhalten von Führung und Bevölkerung 4 bestätigt diese These. Die SED befand sich nach der Niederschlagung des Aufstandes weiterhin in der Krise - „und zwar fast noch in einer schärferen als unmittelbar während der eruptiven Volkserhebung um den 17. Juni." 5 Der Aufstand war durch die sowjetischen Panzer niedergeschlagen, die Parteiherrschaft war ohne Zutun des Politbüros gerettet worden. Nun jedoch sah sich der Apparat gezwungen, seine vorübergehende Sprachlosigkeit und Ohnmacht zu überwinden und unverzüglich eine Strategie der Krisenüberwindung zu entwickeln. 6 Als ausschließliches Rezept war die militärische Lösung mittelfristig untauglich. Die Parteiführung verfügte jedoch zunächst über keine Vorstellungen, wie die Situation zu beherrschen sei; das Wort „Krise" existierte in ihrem Sprachschatz nicht. Zwischen der 14. und der 16. Tagung des Zentralkomitees - dem 21. Juni und dem 19. September 1953 - wurde das Instrumentarium zur Bewältigung der jüngsten Vergangenheit und zur Vermeidung eines neuerlichen 17. Juni entwickelt. Zunächst galt es, zu den Ereignissen Stellung zu nehmen. Dies geschah bekanntlich mittels Denunzierung des Aufstands als einen von außen gesteuerten „faschistischen Putschversuch" gegen die Politik des Neuen Kurses. Allerdings manövrierte sich die Führung damit in eine überaus problematische Lage: Großen Teilen der SED-Basis wie auch der übrigen Bevölkerung war 1 2

3 4 5 6

Weber, Die DDR 1945-1986, S. 39. Vgl. u. a. Fricke, Widerstand und Opposition in der DDR; Otto, Opposition und Widerstand, Bd. III, S. 227ff.; Eckert, Widerstand und Opposition in der DDR. 17 Thesen, S. 49ff. Otto, Opposition und Widerstand. In: Ansichten zur Geschichte der DDR, S. 230. Vor allem die Untersuchungen von Mitter, Wolle und Kowalczuk sind hier zu nennen. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 214. Ebd., S. 217. Kowalczuk sieht dabei fünf Etappen in der Entwicklung jener Krisenstrategie, die sich teilweise zeitlich überlappten.

396

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

diese Interpretation nicht zu vermitteln. Alle Versuche, die Arbeiterschaft für die Politik von Partei und Regierung zu gewinnen und ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Führung und Volk herzustellen, schlugen fehl. Auch die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse eingeleiteten Sofortmaßnahmen fanden nicht das erhoffte Echo, im Gegenteil: Das Mißtrauen nahm zu und erfaßte jetzt auch Teile der Bevölkerung, die an den Demonstrationen und Streiks nicht teilgenommen hatten. Vordergründig hing dies damit zusammen, daß die vollmundigen Versprechen der 14. ZK-Tagung, eine schonungslose Analyse der Ursachen für die fehlerhafte Politik liefern und für diese vor der Parteibasis, der Arbeiterklasse und der internationalen Arbeiterbewegung die Verantwortung übernehmen zu wollen, nicht eingelöst wurden. Die Mehrheit der Bürger erwartete den Rücktritt oder die Ablösung Ulbrichts und seiner Führungsequipe. Diese jedoch suchte die Hauptschuldigen außerhalb der Partei und außerhalb der DDR. Das Scheitern wurde zum Sieg des Sozialismus und zur Niederlage des Imperialismus umgedeutet. 7 Die Rufe nach Rücktritt waren immer lauter geworden - statt dessen ließ sich Ulbricht anläßlich seines 60. Geburtstags als „Held der Arbeit" auszeichnen. Eingeplant waren die Glückwünsche von Parteivolk und „Werktätigen", obwohl bekannt war, daß ein solcher Akt auf Ablehnung stoßen würde. Der Leipziger Bezirksparteichef Fröhlich beispielsweise wies die Kreisleitungen an, Glückwunschtelegramme von Betriebsparteiorganisationen und Belegschaften zu organisieren, diese jedoch nur dann abzusenden, wenn die gesamte Belegschaft einverstanden sei. 8 Viele Belegschaften verweigerten die Unterschrift unter die vorgefertigten Glückwunschschreiben und Treuebekenntnisse. Andere wurden erst gar nicht gefragt. 9 Die 14. ZK-Tagung hatte die Überwindung der Defensive um jeden Preis zur Aufgabe gemacht. 10 Nach einem Monat hektischer Betriebsamkeit mußte die Partei eingestehen, daß der angestrebte breite „Aufschwung" der Parteiarbeit nicht gelungen war. 11 Wenige Tage später reagierte die 15. ZK-Tagung auf anhaltende Proteste und anschwellende Rücktrittsforderungen mit einer weitreichenden Disziplinierung der Parteibasis, mit der angestrengten Suche nach „Provokateuren" und „Rädelsführern" und mit dem Ausbau des Disziplinierungs- und Unterdrückungsapparats 12 - dies vor dem Hintergrund des

7 8 9 10 11 12

Vgl. Prieß/Eckert, Zu Verhaltensmustern der SED-Führung. In: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 1, S. 103. SED-BL Leipzig, Durchsage an die 1. Kreissekretäre vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Sekretariatssitzung vom 14.7.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/088). Ulbricht, Rede auf der 14. ZK-Tagung der SED am 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 1 / 1 1 7 , Bl. 17). Vgl. ZK der SED, Einschätzung über die gegenwärtige Lage in der Partei, vom 2 3 . 7 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 6 0 , Bl. 127). Vgl. u. a. Mitter, „... gegen das Volk regieren". In: Der 17. Juni 1953 - Der Anfang vom Ende. 4. Bautzen Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 17. bis 18. Juni 1993, S. 6 3 - 6 6 .

Die Legende vom faschistischen Putschversuch

397

Machtkampfs in Politbüro und ZK. Die Ausschaltung Rudolf Herrnstadts und Wilhelm Zaissers war bereits Bestandteil der „Krisenbewältigung". 13 Ausnahmezustand und Besatzungstruppen hatten die völlig handlungsunfähige Führung vor dem Sturz bewahrt. Nun setzten die deutschen Kommunisten alles daran, so schnell wie möglich den Schock zu überwinden und die Initiative zurückzugewinnen. Von Bedeutung war dies auch deshalb, weil in den Befehlen zum Ausnahmezustand die Regierung der DDR nicht auftauchte und allenthalben Gerüchte über ihren Rücktritt kursierten. Zunächst mußten Politbüro und Regierung Stellung beziehen; immerhin schuldete man dem Volk eine Erklärung, weshalb die „Arbeiter- und Bauern-Regierung" gegen demonstrierende Arbeiter Waffengewalt eingesetzt hatte. Bereits wenige Stunden nach der Verkündung des Ausnahmezustandes in Ostberlin trafen in den SEDBezirksleitungen die ersten Anweisungen der Zentrale ein, die den Grundstein für die parteioffizielle Deutung des 17. Juni legten. Nicht unplausibel ist die Vermutung, daß die Putschlegende in Karlshorst geboren wurde; mußte die Sowjetunion doch das Kriegsrecht mit ihrer Rolle als „Schutzmacht" des deutschen Volkes und nicht der SED-Regierung begründen. 1 4 Am 17. Juni gegen 15 Uhr erreichte eine von Grotewohl unterzeichnete „Meldung" der Regierung die Bezirksleitungen. 15 Sie gab bereits die offizielle Interpretation eines Ereignisses vor, das völlig überraschend eingetreten und zu diesem Zeitpunkt auch noch längst nicht beendet, geschweige denn gänzlich zu überblicken war. Die „Unruhen" seien das „Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen", die „mit der demokratischen Macht in der DDR", die „die Verbesserung der Lage der Bevölkerung" organisiere, „unzufrieden" seien. Offensichtlich setzte die Führung auf die seit 1945 wieder und wieder ausgespielte antifaschistische Karte; schließlich erschien wenige Jahre nach Kriegsende die Unterstützung aller „antifaschistischer Maßnahmen" bzw. die Verurteilung „faschistischer Machenschaften" als unausweichlich. Die SED behauptete auf diesem Feld die Definitionsmacht. Beispielsweise bezichtigten ihre Agitatoren Adenauer, mit „offenen faschistischen Maßnahmen und Methoden" zu regieren. 16 Die erste Stellungnahme denunzierte nur äußere Feinde als „faschistische Agenten" und ließ offen, wer unter die „Helfershelfern aus deutschen Monopolen" 1 7 einzureihen sei. Grotewohl forderte die „Arbeiter und alle ehrlichen Bürger" auf, „die Provokateure zu ergreifen und den Staatsorganen zu übergeben", die „Maßnahmen zur sofortigen Wiederherstellung der Ordnung in der Stadt [...] und die Bedingungen für eine normale und ruhige 13 14 15 16

17

Vgl. Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt, S. 220ff. Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 105. Vgl. ADN, Nr. 2 2 5 vom 17.6.1953, 15.15 Uhr (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . Vgl. u. a. Erklärung des ZK der SED zum Programm der nationalen Wiedervereinigung Deutschlands, vom 11.11.1950. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 190; vgl. Offener Brief des ZK der SED an die Mitglieder der SPD vom 14.3.1953. In: Ebd., S. 301 ff. Vgl. ADN, Nr. 2 2 5 vom 17.6.1953, 15.15 Uhr (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) ; die folgenden Zitate ebd.

398

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

Arbeit in den Betrieben (zu) unterstützen" und kündigte an, daß die „Schuldigen [...] zur Verantwortung gezogen und streng bestraft" würden. Die Scheidung zwischen „Arbeitern" bzw. „ehrlichen Bürgern" und „Provokateuren" sollte die Aufständischen spalten und gegeneinander aufbringen. Unklar blieb hier wie in den ersten internen Anweisungen von MfS und Polizei zur Festnahme der „Provokateure", wer in welche Kategorie einzuordnen sei. So erhielt die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig am Nachmittag des 17. Juni aus der Berliner Zentrale Order, „die ärgsten Rädelsführer und Hetzer [...] festzunehmen." 18 Der Chef der BDVP Leipzig wies am gleichen Tag um 17.25 Uhr seine Amtsleiter an, „gegen Ruhestörer und Verbrecher [...] mit den härtesten Mitteln" vorzugehen. 19 Am 19. Juni ordnete er an, „Provokateure [...] unter allen Umständen festzunehmen." 2 0 Diese ersten Aktionen verdeutlichen bereits die zukünftige Strategie: Ausgangspunkt war die Behauptung, ausländische „Agenten" hätten den 17. Juni provoziert, um zu verhindern, daß es den Bürgern dank der Maßnahmen ihrer Regierung künftig besser gehe. Dies suggerierte, daß die Führung nicht wegen ihrer Fehler, sondern wegen ihrer Sorge um das Wohl des Volks im Kreuzfeuer stehe. Diese Konstruktion sollte Angst vor Faschismus und Krieg erzeugen und die Moral der Protestierenden unterminieren. Die punktuell in Ostberlin und einer Reihe anderer Städte vorgekommenen gewalttätigen Ausschreitungen waren geeignet, dieser Konstruktion einen gewissen Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen, insbesondere in den Augen von NS-Verfolgten und Zeitzeugen der Bücherverbrennungen und sonstiger Fanale des „Dritten Reiches", die sich nun neuerlich mit brennenden Papieren und roten Fahnen konfrontiert sahen. Sogar kritische Künstler und Wissenschaftler machten sich diese Sicht der Ereignisse zu eigen: Der parteilose Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer etwa spitzte die Interpretation des 17. Juni auf die Alternative „Faschismus oder Antifaschismus" zu; es sei „sinnlos, sich in dieser Grundfrage irgend etwas vormachen zu wollen. Außerdem haben die Älteren unter uns noch gewisse Bilder in der Erinnerung, gewisse Klänge im Ohr. Klirrende Fensterscheiben, Verbrennung von Büchern und Papieren, Brandstiftungen, Plünderungen, Jagd auf Menschen, Lynchjustiz. Wer dächte nicht an die Tage nach dem Reichstagsbrand von 1933, an die Kristallnacht von 1938 [...]. Damals, 1933 oder 1938, präsentierte sich der Mord im Braunhemd. Heute im Wildwestkostüm [...]. Was wäre geschehen, wenn ,das da' gesiegt hätte? [...] Dann hätten wir Bürgerkrieg und Krieg [...]. Kein Zweifel: Am 17. Juni 1953 hat die Sowjetunion bei uns von neuem die Gefahr des Faschismus gebannt." 21

18 19 20 21

Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz, Betr.: Gespräch mit Gen. Gutsche Berlin (BStU, Ast. Leipzig, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 2). BDVP Leipzig, SSD Fernschreiben, 17.6.1953, 17.25 Uhr (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . BDVP Leipzig, Fernschreiben, Vertraulich, 19.6.1953, 16.25 Uhr (SächsStAL, BDVP, 24/42). Prof. Dr. Hans Mayer, Germanistisches Institut der Karl-Marx-Universität, Der 17. Juni - und die Rosenbergs, o. D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 3 5 , Bl. 98).

Die Legende

vom faschistischen

Putschversuch

399

Am Abend des 17. Juni wurde die erste Stellungnahme der Regierung im Rundfunk verlesen. 22 Am nächsten Tag verabschiedete das Sekretariat des Politbüros einen „Maßnahmeplan" für die Propagandakampagne. 23 Die dort gesetzten Schwerpunkte verpflichteten die SED-Presse, „Einzelheiten über Zerstörungen, Sabotageakte usw." zu veröffentlichen und hiermit den Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Allerdings sollten die Details „in entsprechender Proportion zu den positiven Beispielen zur Haltung der Bevölkerung und Arbeiter" stehen. Am späten Nachmittag des 18. Juni erhielten alle Bezirksredaktionen der SED-Zeitungen detaillierte Order für die Darstellung des 17. Juni. 24 Für den nächsten Tag war ein „Leitartikel zum Zusammenbruch des Abenteuers ausländischer Agenten und faschistischer Provokateure in Berlin" verordnet. Neu in dieser Anweisung war die Behauptung, es habe sich „um eine von langer Hand vorbereitete große Provokation" gehandelt. Inzwischen lagen dem Zentralkomitee aus allen Teilen des Landes ausführliche Berichte vor; allein die SED-Bezirksleitung Leipzig übersandte am 17. und 18. Juni zwölf „Informationsberichte". 25 Für viele Bürger waren Machenschaften ausländischer Agenten im geteilten Berlin möglicherweise noch nachvollziehbar; diesen „Agenten" die Massenproteste in Leipzig, Dresden, Görlitz, Bad Düben und in kleinen Orten anzulasten, erwies sich als ungleich schwieriger. Dies verleitete die Führung zu der Behauptung, es habe sich um eine planmäßig vorbereitete Aktion gehandelt; schließlich seien die Forderungen der Ostberlin Bauarbeiter unter anderem in Leipzig, Dresden, Chemnitz zu hören gewesen. Daß diese Einheitlichkeit aus der Einheit der Problemlage bzw. aus den überall spürbaren Demokratiedefiziten resultierte, wurde unterschlagen. „In der Berichterstattung über Vorgänge in der DDR" seien, so die Instruktion für die SED-Presse vom 18. Juni, „nur Berichte zu verwenden, die über ADN von der Pressestelle der Regierung kommen." 2 6 Den Bezirksredaktionen stand lediglich frei, „anerkennende Stimmen darüber zu veröffentlichen, daß die sowjetischen Truppen in Berlin für den Frieden" eingetreten seien und „den gefahrlichen Funken sofort zertreten" hätten. „Es soll berichtet werden von der Aufnahme der normalen Arbeit, von der Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung in Berlin. Weiterhin können Erklärungen von Arbeitern abgedruckt werden, die sich der Vorgänge schämen, ADN-Nachrichten über Material der Volkspolizei und der Staatssicherheit, die den provokatorischen Plan beweisen, sind ebenfalls zu veröffentlichen." Veröffentlicht werden sollten auch „solche Aussprüche von Arbeitern, die zwar unzufrieden sind, aber nicht Saboteure ihrer eigenen Sache sein wollen, Aussprüche und Bekundungen der 22 23 24 25 26

Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 105. Die folgenden Auszüge aus dem Maßnahmeplan zitiert in ebd., S. 106. Vgl. ZK der SED, Fernschreiben 185, Sammelfernschreiben an alle Bezirksredaktionen und GPL Wismut, vom 18.6.1953, 17.25 Uhr, (SächsStAC, SED W/2/12/22). Vgl. SED-BL Leipzig, Informationsberichte Nr. 117 bis 128 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). ZK der SED, FS 185, Sammel-FS an alle Bezirksredaktionen und GPL Wismut, 18.6.1953, 17.25 Uhr, (SächsStAC, SED I V / 2 / 1 2 / 2 2 ) ; die folgende Zitate ebd.

400

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

Bevölkerung, in denen das Vertrauen zur Regierung zum Ausdruck kommt [...] in möglichst großer Zahl mit Angabe von Namen und Adresse". Am 20. Juni erhielten die SED-Bezirkssekretäre den Auftrag, der Presse „laufend Beispiele zur Verfügung zu stellen, die die ständig wachsende Festigung des Vertrauens der Bevölkerung gegenüber der Regierung zum Ausdruck bringen." 27 Der von Paul Fröhlich, dem 1. Sekretär der Leipziger Bezirksleitung der SED, von Karl Adolphs, dem Vorsitzenden des Rats des Bezirkes, und von Fritz Stein, dem Vorsitzenden des FDGB-Bezirksvorstandes, unterzeichnete, in der Leipziger Volkszeitung vom 18. Juni veröffentlichte Aufruf „An die Bevölkerung in Leipzig", 28 der auch als Flugblatt und als „Rundspruch Nr. 5 SEDStadtleitung" kursierte 29 , sollte über die „Hintergründe der faschistischen Provokation" aufklären. Die „berechtigte Unzufriedenheit" der Bevölkerung sei von „reaktionären faschistischen Elementen ausgenutzt" worden: „Zum Angriff auf das Volkseigentum, auf die demokratischen Freiheiten und auf die Staatsmacht unseres Volkes". Die „Provokateure und Verbrecher" hätten „Angst vor dem Wohlstand des Volkes, Angst vor dem Frieden, Angst vor der Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes" gehabt. Abschließend wurden die Arbeiter aufgefordert, „in den Betrieben ihrer Arbeit nachzugehen, den Schutz des Volkseigentums und der Betriebe zu organisieren, die Provokationen zurückzuschlagen, die Provokateure und Agenten den Machtorganen zu übergeben und die Maßnahmen der Machtorgane aktiv zu unterstützen". Am nächsten Tag war in der Leipziger Volkszeitung über die „Ereignisse" in Leipzig zu lesen: „Auf Geheiß und Befehl ausländischer und westdeutscher Imperialisten durchzogen Horden von Agenten und Provokateuren randalierend, sengend, raubend und plündernd die Stadt, drangen in Warenhäuser, Buchhandlungen, in Büros fortschrittlicher Organisationen ein, zerschlugen Fenster, Türen und Einrichtungen und vernichteten hohe wirtschaftliche und kulturelle Werte [...]. Die Arbeiter, alle anständigen Bürger der Messestadt sind voller Empörung über diese Schandtaten, die von der Adenauer-Regierung angezettelt wurden, um eine Kluft zwischen den Deutschen aufzurichten, die Verständigung der Deutschen untereinander und die Einigung der Nation zu verhindern." 3 0 Die Presse war nicht nur gehalten, den „faschistischen Charakter" des Protests nachzuweisen; auftragsgemäß berichtete sie auch über die „feste Verbundenheit zwischen Volk und Regierung". Am 19. Juni vermeldete die Leipziger Volkszeitung den Eingang von Zuschriften aus der Arbeiterschaft „in großer Zahl". Dort finde die „Entschlossenheit der Werktätigen" Ausdruck, „das Volkseigentum zu schützen, die Machtorgane aktiv zu unterstützen und die Provokateure den Machtorganen zu übergeben, um sie der gerechten und ver27 28 29 30

ZK der SED, Fernschreiben Nr. 2 0 8 , vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 1 2 / 2 2 ) . „An die Bevölkerung in Leipzig". In: LVZ vom 18. Juni 1953, S. 1; die folgenden Zitate ebd. Vgl. SED-KL Leipzig, Rundspruch Nr. 5, o. D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . „Die Ereignisse in Leipzig". In: LVZ vom 19.6.1953, S. 1; die folgenden Zitate ebd.

Die Legende vom faschistischen Putschversuch

401

dienten Strafe zuzuführen." Auf Anordnung der Parteiführung druckte das Blatt solche Zuschriften aus den Betrieben unter Überschriften wie „Die Arbeiter rechnen mit den faschistischen Rowdys ab" oder „Arbeiter legen Provokateuren das Handwerk". Ein Arbeiter aus einem großen Betrieb wurde mit den Worten zitiert: „Für mich sind die Vorfälle in Leipzig ein Beweis dafür, daß nun die Stunde gekommen ist [...] sich noch enger um unsere Regierung zusammenzuschließen." 31 Ein Brigadier aus dem Kirow-Werk, einem SAGBetrieb in Leipzig, verkündete: „Alle meine Kollegen lehnen solche faschistischen Provokationen entschieden ab. Persönlich möchte ich den Provokateuren oder den Faschistenbengeln sagen, daß sie es nicht wagen sollen, unseren Betrieb anzufassen. Die Drahtzieher von gestern sind die gleichen, die unsere Arbeiter schon zweimal betrogen haben. Ein drittes Mal wird es nicht gelingen. Wer es versucht, darf nicht mit Milde rechnen." Solche Verlautbarungen wurden mit der Behauptung eingeleitet, die Arbeiter distanzierten sich „einmütig" von den Provokateuren und seien „gewillt [...], jeden Angriff auf das Volkseigentum, die demokratischen Freiheiten und unsere Staatsmacht mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen." Auch die Polizei sammelte solche Stimmen. Ein Genossenschaftsbauer aus dem Bezirk Leipzig erklärte: „Es war eine große Beruhigung für mich, als ich die sowjetischen Truppen fahren sah. Ich bin mir im Klaren, daß ohne den Einsatz derselben der größte Bürgerkrieg wüten würde." 3 2 Der Heimleiter eines Kinderheimes in Leipnitz, Kreis Grimma, gab zu Protokoll: „Ich kann mir nicht erklären, wie es zu derartigen großen Ausschreitungen in Leipzig kommen konnte [...]. Was die nächtlichen Streifengänge anbetrifft, warum gibt man uns keine Waffe, um dieselbe im geeigneten Moment anwenden zu können? Wir werden uns unsere Errungenschaften niemals von faschistischen Provokateuren rauben lassen." Am 20. Juni war auf der Titelseite der „LVZ" unter der Schlagzeile „Einheit im Kampf gegen die faschistischen Provokateure" zu lesen: „In Leipzig wie in der ganzen DDR begrüßen die Werktätigen mit großer Genugtuung die Zerschlagung der faschistischen Provokation vom 17. Juni durch die Machtorgane unseres Staates sowie die von sowjetischen Truppen ergriffenen Maßnahmen." Als Beweis dienten wiederum die in der Rubrik „Unser Vertrauen der Regierung des Volkes" abgedruckten Zuschriften aus den Betrieben. „Volk und Regierung", so die „LVZ" schließlich am 21. Juni auf der ersten Seite, seien „fest verbunden". Ein ähnliches Bild boten die anderen SED-Bezirkszeitungen. Überall stand zunächst das Geschehen in Ostberlin im Mittelpunkt. Die Leser der Sächsischen Zeitung wurden am 18. Juni - allerdings erst auf Seite zwei - über dieses informiert. Am folgenden Tag erschienen ein Aufruf der SED-Bezirks-

31 32

Vgl. „Arbeiter legen Provokateuren das Handwerk". In: LVZ vom 19.6.1953, S.l; bzw. „Einheit im Kampf gegen faschistische Provokateure". In: LVZ vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1. VPKA Grimma, Betr.: Stimmungsbericht, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, S E D I V / 4 / 0 8 / 2 8 8 ) ; das folgende Zitat ebd.

402

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

leitung Dresden 3 3 und der Artikel „Einige Lehren aus den Vorgängen im Sachsenwerk Niedersedlitz". 34 Am 20. Juni forderte die Zeitung ihre Leser wieder auf der ersten Seite - auf: „Erst alle Provokateure fassen - dann diskutieren". Am 23. Juni war auf Seite 2 unter der Überschrift „Wir werden kein zweites 1933 dulden!" zu lesen, wie Dresdens Werktätige eine Wiederholung des mißglückten „Tages X" zu vereiteln gedachten. Unter der Ankündigung „Warum bei uns alle Provokationen scheiterten" erfuhren die Leser der Sächsischen Zeitung, daß die „Genossen" der Malzfabrik Niedersedlitz als Mitglieder einer marxistisch-leninistischen Partei handelten. 35 Die „Volksstimme", das Organ der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, gab am 18. Juni ein Extrablatt zum „Zusammenbruch des Abenteuers ausländischer Agenten in Berlin" heraus. Darin wurde der 17. Juni als „konterrevolutionärer Umsturz" bezeichnet - eine Etikettierung, die in der DDR-Geschichtsschreibung erst Jahre später den „faschistischen Putschversuch" ersetzte. Dokumentiert wurden die „Tatsachen" über den Selbstschutz der Betriebe durch die „Werktätigen". Die „Sicherungskräfte" des VEB Numerik etwa hatten ihren Betrieb mit aus Gummiabfällen selbstgefertigten, im Artikel abgebildeten Schlagstöcken vor „eingeschleusten Provokateuren" verteidigt 36 ; Hinweise auf solche „Einschleusungen" existieren in den Unterlagen der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit nirgendwo. Die reguläre Ausgabe der „Volksstimme" vom gleichen Tag erinnerte an den Streik der Chemnitzer Metallarbeiter aus dem Jahre 1871. Dies löste eine Untersuchung der BPKK aus, ob hier etwa „von den Genossen der .Volksstimme' bewußt gegnerische Arbeit" geleistet worden sei, da man nach Auffassung der SED-Bezirksleitung „zu Provokationen- herausgefordert" habe. 37 Gegen den verantwortlichen Redakteur eröffnete die BPKK ein Parteiverfahren. Am 19. Juni versicherte die „Volksstimme" unter der Überschrift „Die Menschen unseres Bezirkes verurteilen die Gangstermethoden in Berlin" 38 , die „gesamte Bevölkerung" des Bezirkes stehe, wie Stellungnahmen und Erklärungen bewiesen, „in Treue zu unserer Partei und Regierung". Der Klempner eines Schwerpunktbetriebes aus dem Kreis Hainichen etwa bekundete in diesem Artikel: „Gleich beim Hören der ersten Nachrichten über die Zwischenfälle im demokratischen Sektor von Berlin kam mir der Gedanke, daß diese Unruhen nur von Provokateuren aus West-Berlin ausgehen können, ein vernünftiger Mensch läßt sich nicht zu solchen Dingen hinreißen. Ich fordere alle Menschen auf, in ihrem Vertrauen zur Partei und Regierung nicht nachzulassen und die Freundschaft zur Sowjet33 34 35 36 37 38

„Werktätige des Bezirkes Dresden". In: SZ vom 19.6.1953, S. 1. „Einige Lehren aus den Vorgängen im Sachsenwerk Niedersedlitz". In: SZ vom 19.6.1953, S. 1. Vgl. „Warum bei uns alle Provokationen scheiterten". In: SZ vom 24.6.1953, S. 2. Vgl. Extrablatt der Volksstimme vom 18.6.1953. SED-BL Chemnitz, Bericht über die Lage im Bezirk Chemnitz nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, vom 27.6.1953, S. 38 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . „Die Menschen unseres Bezirkes verurteilen die Gangstermethoden in Berlin". In: Volksstimme vom 19.6.1953, S. 1.

Die Legende vom faschistischen

Putschversuch

403

union noch mehr zu festigen." Ähnlich ein Meister des Kraftwerkes Chemnitz: „Wer in unserer Republik an einer Arbeitsniederlegung teilnimmt, hemmt den friedlichen Aufbau. Wir verurteilen eine solche Handlung scharf, denn sie schädigt nicht nur unseren Aufbau, sondern vor allem uns Werktätige selbst." Wie solche Verlautbarungen zustande kamen, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Fest steht, daß zum Zeitpunkt, als die Lokalpresse diese Behauptungen von der festen Verbundenheit zwischen Volk und Regierung nach dem Zusammenbruch des faschistischen Abenteuers kolportierte, Betriebe etwa in Leipzig, Dresden oder Görlitz immer noch streikten und Ulbrichts Rücktritt gefordert wurde. Parteiführung und Regierung hingegen erfreuten sich in diesen kritischen Tagen an den Telegrammen, die „aufs schärfste die faschistischen Umtriebe" verurteilten und „die unerschütterliche Verbundenheit mit der Regierung und der Partei der Arbeiterklasse" versicherten. 3 9 Die meisten Treueschwüre kamen offenbar aus Chemnitz und aus der SAG Wismut. So versicherten Mitarbeiter der Zentralen Leitung der Sportvereinigung Wismut am 19. Juni in einer Entschließung an Ulbricht 40 , „noch fester hinter den Beschlüssen unserer Partei und Regierung zu stehen" und „noch wachsamer als bisher zu sein". Sie verurteilten „auf das schärfste die Provokation", forderten die „strengste Bestrafung aller Provokateure" und verpflichteten sich, das Sportabzeichen „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens" zu erwerben. Auch die SED-BPO und die Belegschaft des Steinkohlenwerkes „KarlLiebknecht" in Oelsnitz (Bezirk Karl-Marx-Stadt) „stellten sich geschlossen" hinter Partei und Regierung und lehnten „mit aller Entschlossenheit die Provokationen der amerikanischen Kriegsbrandstifter und ihrer deutschen Lakaien ab." 4 1 Die Initiative für solche Erklärungen lag in der Regel bei den Betriebsparteileitungen; von Betriebsparteiorganisationen bzw. Belegschaften waren diese allerdings nicht beauftragt. Manche Betriebe und Institutionen - etwa in Leipzig - erfuhren erst durch Presse oder Rundfunk, daß sie fest an der Seite von SED und Regierung stünden. So empörten sich Angehörige der SED-Parteiorganisation Sprach- und Literaturwissenschaften der Leipziger Universität, daß am 19. Juni im Rundfunk eine „Erklärung aller Wissenschaftler und Studenten der KMU" verlesen worden war, von der niemand etwas gewußt hatte. 4 2 Gewalttätige Ausschreitungen lehnte ein Großteil der Bevölkerung in Sachsen unbestritten ab; nicht jedoch friedliche Proteste gegen die Verschlechterung der sozialen und politischen Lage. Vor allem die Belegschaften wehrten sich gegen die Gleichsetzung streikender und demonstrierender Arbeiter mit 39 40 41 42

Vgl. Leipzig telex 7 7 / 7 4 , An das ZK der SED (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 4 5 ) . Sportvereinigung Wismut, Telegramm an den Generalsekretär der SED, Gen. Walter Ulbricht (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 4 5 , Bl. 4 8 - 5 1 ) . Karl-Liebknecht-Werk Oelsnitz, Telegramm an den Generalsekretär der SED, Gen. Walter Ulbricht, o . D . (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 4 5 , Bl. 47). SED-PO der KMU, GO Sprach- und Literaturwissenschaften, Aktennotiz vom 19.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 7 . 1 2 8 / 8 ) .

404

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

„faschistischen Provokateuren". Sie mißbilligten mehrheitlich die Verhaftung von Kollegen, die in Streikleitungen aktiv oder an Protestaktionen beteiligt gewesen waren. Hier wußte man auch, daß im Betrieb keine „eingeschleusten Elemente" aufgetreten waren. In einem Stimmungsbericht des Rates des Kreises Döbeln, Bezirk Leipzig, vom 22. Juni, beispielsweise hieß es: „In der Bevölkerung wird die Meinung vertreten, daß es nicht richtig sei, die Schuldigen an den Provokationen und Ausschreitungen in der DDR in Elementen aus Westdeutschland zu suchen. Das würde wohl für Berlin zutreffen, aber nicht auf Leipzig und die anderen Städte [...]. In Roßwein wird innerhalb der Bevölkerung so diskutiert, daß die Arbeit in den Betrieben erst dann wieder aufgenommen werden soll, wenn die Verhafteten freigelassen würden [...]. Zu den Ausschreitungen und Provokationen nimmt die Bevölkerung eine negative Haltung ein, d.h., daß sie dies verabscheuen." 43 Die 3 0 0 0 0 bis 4 0 0 0 0 Leipziger, die am 17. Juni mehrheitlich friedlich durch die Straßen der Messestadt marschiert waren, oder auch die 30 000 Görlitzer, die an der Kundgebung auf dem Marktplatz teilgenommen hatten, waren empört über die Diffamierungen in der Presse. Arbeiter zerknüllten die Zeitungen vor Zorn. Zuschriften an Spitzenfunktionäre und Redaktionen verwahrten sich gegen eine solche Berichterstattung. 44 In einem ausführlichen Brief an den Sekretär des Rates des Bezirkes Dresden bezeichnete ein „alter Görlitzer" nicht anonym, sondern unter Nennung seines vollen Namens und seiner Adresse - am 20. Juni die Rede von den bezahlten faschistischen Provokateuren als „nicht weniger dumm als die ganze diesbezügliche Parteipublizistik der letzten zwei Tage [...]. Euere Propagandisten sind ideenlos und unfähig, die Situation zu meistern. Sie selber reden von Verwüstungen. Das ist ganz einfach gelogen [...]. Nichts aber auch gar nichts ist verwüstet worden [...]. Ihre albernen Parteilosungen sind zerfetzt worden, die roten Parteifahnen und die Pieck-, Ulbricht- und Grotewohl-Bilder flogen auf die Straße [...]. Sie aber haben in acht Jahren die ganze Zone verwüstet, buchstäblich verwüstet und ihre Menschen dazu. Das ist die alleinige Ursache eines Ereignisses, das keine zerstörende blutige Revolution war, sondern eine Demonstration, eine reine elementare Volksdemonstration von ungeahnter Wucht und Größe. Blutig wurde sie erst durch die Besatzungsmacht [...] und auch dafür trifft Euch die Schuld. Es war überall eine echte herzliche Freude an diesem 17. Juni in Görlitz. Das zu verdrehen kann Ihnen nicht gestattet werden." 4 5 Solche Zuschriften gingen überall bei Bezirksredaktionen, Parteileitungen und Gewerkschaften ein. Aussicht auf Veröffentlichung bestand kaum; in der Regel wurden sie an die Staatssicherheit weitergeleitet. 43 44 45

Rat des Kreises Döbeln, Betr.: Stimmungsbericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BT/RdB, Nr. 2 9 3 3 ) . Vgl. z.B. SED-Stadtbezirk I Leipzig, Abschrift eines Briefes vom 19.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) . Abschrift eines Briefes, An den Rat des Bezirkes Dresden vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BT/RdB, Nr. 441, Bl. 49f.).

Die Legende vom faschistischen

Putschversuch

405

Zuschriften an Presse, Zentralkomitee und Regierung ließen sich noch „bestellen"; schwieriger war es, das aus der Region gewünschte „Tatsachenmaterial über reaktionäre und andere faschistische Kräfte, auch über Diversanten und andere Banditen aus Westdeutschland, aus Berlin und aus der DDR" zu erarbeiten und in die Presse zu lancieren. Hier stand die SED unter Zeitdruck, denn die Bevölkerung forderte schnellstmöglich Beweise für eine Beteiligung „westlicher Provokateure und Agenten" an den Protesten etwa in Leipzig oder Dresden. Am 22. Juni wies Ulbricht die Bezirkssekretäre an: „Besorgt alles Tatsachenmaterial über reaktionäre und andere faschistische Kräfte, auch über Diversanten und andere Banditen aus Westdeutschland, aus Berlin und aus der DDR, die in euerem Tätigkeitsgebiet aufgetreten sind. Es ist insbesondere notwendig, darüber Tatsachen zu bringen, daß Jugendliche in Westberlin militärisch ausgebildet wurden. Benutzt dazu euer eigenes Material und setzt euch mit den staatlichen Stellen in Verbindung, damit wir schneller solches Material in die Presse bringen können. Wir können nicht warten, bis aus den Prozessen solche Tatsachen bekannt werden." 4 6 Der Apparat baute darauf, daß „die Menschen", sobald sie Kenntnis von den „Banditenakten" erhielten, „offen für die Regierung und für die Sowjetarmee" eintreten würden. 4 7 Die Anweisung des 1. SED-Bezirkssekretärs Leipzig, Paul Fröhlich, an alle SED-Kreissekretäre, spätestens bis zum 26. Juni einschlägiges Material zusammenzutragen, beruhte auf dieser Prämisse. 4 8 Fieberhaft suchten Partei, Staatssicherheit und Polizei vor Ort nach „Tatsachen" - ohne Erfolg. Am 25. Juni meldete die SED-Kreisleitung Borna an die SED-Bezirksleitung: „Mit dem Stand der bisherigen Untersuchungen wurde nicht festgestellt, daß von den Inhaftierten eine militärische Ausbildung in Westberlin erfolgte." 4 9 Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-MarxStadt hatte am 20. Juni zwar gemeldet, von den 24 Inhaftierten unterhielten zwei Kontakte zu Westberliner Agentenzentralen und acht Verbindungen „allgemeiner Art" nach Westberlin. 50 Wenige Tage später bekannte man, „Hinweise auf feindliche Tätigkeit" nicht gefunden zu haben. 5 1 In Ermangelung westlicher Provokateure und Agenten stellte die Leipziger Volkszeitung zwischen dem 23. und dem 28. Juni unter der Überschrift „Urteilt selbst!" „Provokateure und Rädelsführer" aus dem Bezirk an den Pranger: 46 47 48 49 50 51

ZK der SED, Fernschreiben 228, An den 1. Sekretär der GPL Wismut (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 31). Axen an Grotewohl und Ulbricht, Maßnahmen des Sekretariats am 18.6.1953, 5.00 Uhr früh; zitiert in Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 106. Vgl. Durchsage der SED-BL Leipzig an alle 1. Kreissekretäre, 23.6.1953, 11.45 Uhr (SächsStAL, SED, I V / 0 4 / 3 4 5 ) . SED-KL Borna, Betr.: Tatsachenmaterial über faschistische und reaktionäre Kräfte, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Chemnitz, Aufstellung über bis zum 20. Juni durch BZV inhaftierte Personen (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 48). Vgl. BV für Staatssicherheit Chemnitz, Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen vom 16.-24.6.1953 im Bezirk KarlMarx-Stadt, vom 24.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 24).

406

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

U. a. zwei Prostituierte sowie mehrere arbeitslose Jugendliche und Arbeiter aus Delitzsch und Bad Düben, die im Zusammenhang mit den Demonstrationen in Leipzig und Umgebung festgenommen worden waren. Eine zwanzigjährige „gewerbsmäßige Prostituierte" habe am Sturm auf die FDJ-Bezirksleitung teilgenommen 5 2 - eine Tat, die das Bezirksgericht Leipzig später mit einer zehnjährigen Zuchthausstrafe ahndete. 53 Die Sächsische Zeitung präsentierte sogar auf der Titelseite eine Dresdner Prostituierte als „Rädelsführerin"; ihre Kundenkartei wurde zur Agentenkartei deklariert. 54 In Leipzig wurden drei wegen Ausschreitungen gegen die FDJ-Bezirksleitung bzw. Zerstörung des Pavillons der Nationalen Front inhaftierte Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahre als „Ritter der abendländischen Kultur" verunglimpft. 55 Dieser „Abschaum der menschlichen Gesellschaft", am „Tage X" durch die Befehle des RIAS an die Oberfläche gespült, habe seinen Lebensunterhalt durch Diebstähle und andere Gaunereien bestritten und „in der amerikanischen Affenkultur mit Be-BopSchnitt und Boogie-Woogie-Gejaule ihre erstrebenswerten Ideale gesehen" „arbeitsscheue, faule Elemente", „die erbärmlichen Nichtsnutze", die „Arbeiter befreien" wollten. Schließlich stellte die Leipziger Volkszeitung Arbeiter vor, die in Bad Düben bzw. Delitzsch zum Sturz der Regierung aufgerufen hatten und dabei handgreiflich geworden waren: „Gemeingefährliche Verbrecher", „Bestien", „eingefleischte Faschisten", „Kreaturen", die sich die „Maske von Arbeitern" aufgesetzt hätten, „um die schmutzigen Losungen der amerikanischen und westdeutschen Kriegstreiber als angebliche Arbeiterforderungen auszugeben." 56 Die Leser, besonders die Arbeiter, wurden aufgefordert: „Seht sie euch an [...] die notorischen Diebe, Nichtstuer, Huren und Gauner! Seht sie euch gut an, Arbeiter der Windmühlenstraße in Leipzig und einigen anderen Betrieben: Für sie habt ihr in Wirklichkeit gestreikt, von ihnen habt ihr euch aufhetzen lassen gegen euere eigenen Klasseninteressen. Seht sie euch an, die faschistischen Banditen und Provokateure - und wenn die Scham eueren Blick zu Boden drückt, dann werdet ihr begonnen haben zu verstehen, daß diesen Verbrechern gegenüber Milde selbst das schwerste Verbrechen wäre." Da der „Tag X" nicht nach dem Rezept dieser „Kreaturen" verlaufen sei, hätten die Arbeiter Lohn und Brot; „deshalb kann euere, kann unsere Regierung weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards aller Bevölkerungsschichten beschließen. Die meisten der faschistischen Rowdys vom 17. Juni sitzen hinter Gittern. Seid froh darüber, Arbeiter - aber seid auf der Hut, damit man euch nicht noch ein zweites Mal irreführen kann." Die Kombination zwischen einer Anhebung des Lebensstandards und der Festnahme „faschistischer Rowdies" sollte die anhaltende Kritik aus den Betrieben an Verhaftungen von Kollegen unterbinden. Sonst - so die unausgespro52 53 54 55 56

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

„Urteilt selbst!", 1. Folge. In: LVZ vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , S. 4. „Gerechte Strafe für die Provokateure des 17. Juni". In: LVZ vom 7.8.1953, S. 4. „Eine Prostituierte als Rädelsführerin". In: SZ vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1. „Urteilt selbst", 2. Folge. In: LVZ vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 . „Urteilt selbst", 3. Folge. In: LVZ vom 2 8 . 6 . 1 9 5 3 .

Die Legende vom faschistischen

Putschversuch

407

chene Drohung - könne keine Garantie für die Verbesserung der Lebensverhältnisse übernommen werden. Daß eine derartige Interpretation der Proteste die „ehrlichen Arbeiter" zutiefst beleidigen und sie noch stärker gegen die SED-Politik aufbringen mußte, kam den Funktionären nicht in den Sinn. Die Darstellung des 17. Juni in der Presse erregte in der Bevölkerung allerorten große Empörung und Wut; bei denjenigen Mitgliedern der SED, die den Sozialismus nach wie vor für die bessere Gesellschaftsordnung ansahen, führte sie zu Besorgnis. Einige dieser „Genossen" machten auf die Gefährlichkeit der Pressearbeit aufmerksam. Am 22. Juni erschienen beispielsweise fünf SEDStudenten des Franz-Mehring-Instituts der Leipziger Universität in der Parteileitung, um „die Partei auf bestimmte Fehler hinzuweisen" und die wieder einsetzende „Schönfärberei" in der „Leipziger Volkszeitung" zu kritisieren. 57 Auch die Anprangerung von „Provokateuren und Rädelsführern" erregte Widerwillen; statt der von Grotewohl am 17. Juni geforderten Verurteilung erntete sie Ablehnung. Die Beweise, mit denen „Westberliner Agenten und Provokateure" präsentiert wurden, waren zum Teil plump bis zur Selbstdisqualifizierung. Karola Bloch, Ehefrau des später in Ungnade gefallenen, damals noch in Leipzig lehrenden Ernst Bloch, äußerte am 21. Juni in einem Brief an das „Neue Deutschland" „Befremden" über die Darstellung der Vernehmung eines „Westberliner Provokateurs". 58 Diesem habe man, so Karola Bloch, Begriffe in den Mund gelegt, die „kein Westberliner Provokateur" verwende, so etwa „demokratischer Sektor". „Diese Art des Berichtes ist unverantwortlich, weil dadurch eine sonst wertvolle Mitteilung sofort mit Mißtrauen aufgenommen wird [...]. Andererseits kann es nicht im Sinne unserer Regierung sein, die Schuld für die Ereignisse des 17. Juni hauptsächlich auf faschistische Provokateure zu wälzen. Denn die Regierung hat zugegeben, daß schwerwiegende Fehler gemacht wurden. Die Streiks und Demonstrationen des 16. und 17. Juni sind die Antwort auf diese Fehler [...]. Aber entscheidend ist vor allem die Stimme der Werktätigen, ihre Wünsche und Forderungen anzuhören, mit ihnen zusammenzugehen und die tragische Entfremdung zwischen Volksregierung und Volk nicht mit Beschimpfungen auf faschistische Agenten zu verkleistern, sondern den neuen Weg schleunigst zu beschreiten. Dieser neue Weg muß sich unbedingt in unserer Presse widerspiegeln [...]. Vertrauen, Vertrauen und nochmals Vertrauen zum Sozialismus und zu unserer Regierung muß geschaffen werden. Das zu vermitteln ist die Aufgabe der Presse. Sie wird das um so besser tun, je weniger Phrasen sie dreschen und je mehr sie wissen, wie das Bewußtsein der Millionen Menschen in der DDR beschaffen." Der Bezirksverband Leipzig des Deutschen Schriftstellerverbands übersandte eine am 23. Juni einstimmig verabschiedete „Resolution" zur Veröffent-

57 58

Vgl. SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 139 vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). Dipl. Ing. Karola Bloch, An die Redaktion des „ND" (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 3 0 , Bl. 214).

408

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

lichung an die Leipziger Volkszeitung: 59 Die Pressearbeit nach dem 17. Juni sei nicht „geeignet, das verlorengegangene Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung wiederzugewinnen". Die Schriftsteller „wehrten sich gegen unwahre, lückenhafte und beschönigende Informationen" und kritisierten, daß die LVZ lediglich über einen einzigen Toten berichtet habe; allgemein bekannt sei in Leipzig, „daß es eine ganze Menge von Toten" gegeben habe. Außerdem habe die LVZ „viele Ereignisse in Leipzig" überhaupt nicht erwähnt. Unwahr seien Behauptungen wie die vom 21. Juni, „das ganze Volk" stehe „geschlossen hinter seiner Regierung". „Wir wenden uns vor allem gegen die Versuche, die Demonstrationen zahlreicher Arbeiter lediglich als Folge von Agentenarbeit darzustellen. Daß die Arbeiter [...] den Agenten ins Garn gingen, liegt an der bisherigen falschen Behandlung der Arbeiter durch Regierung und Partei [...]. Durch diese Verschiebung der Proportionen entsteht eine äußerst gefährliche Selbsttäuschung der demokratischen Kräfte in der DDR. Viele Arbeiter, die demonstriert haben, fühlen sich durch eine solche Darstellung mit den Faschisten in einen Topf geworfen. Das entspricht nicht der Wahrheit." Abschließend forderten die Schriftsteller „rückhaltlose Wahrheit": Durch sie allein könne „das verlorengegangene Vertrauen breiter Teile der Bevölkerung wiedergewonnen werden, nur durch sie kann verhindert werden, daß die Bevölkerung sich ihre Informationen beim Feind, beim RIAS holt. Die Folge davon wäre ein neuer, schlimmerer 17. Juni." Unterzeichnet hatten diese Resolution u.a. der damalige 1. Bezirksvorsitzende Erich Loest, Werner Lindemann, Hildegard Maria Rauchfuß, Wieland Herzfelde, Lanka von Körber und Rudolf Bartsch. Auch drei Instrukteure des Schriftstellerverbandes aus Berlin setzten ihre Unterschrift unter den Text. In der Leipziger Volkszeitung konnte dieser allerdings nicht veröffentlicht werden. Im späteren Parteiverfahren gegen Loest wurde das Dokument zum Belastungsmaterial. 60 Die Einwände gegen die Pressearbeit waren so massiv, daß sich die Führung gezwungen sah gegenzusteuern: Der Brief eines „Genossen" an Grotewohl 61 mahnte eine „bindende Anordnung von Partei und Regierung" an, „jede Formulierung zu vermeiden, die von den Hörern oder Lesern so verstanden werden könnte, als würden die Arbeiter, die aus - berechtigter - Unzufriedenheit demonstriert haben, mit den faschistischen Provokateuren auf eine Stufe ge59

60

61

Vgl. Dt. Schriftsteller-Verband, Bezirk Leipzig, An die „LVZ" zu Hd. des Herrn Stibi, Resolution vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. l f . (SächsStAL, SED I V / 2 / 9 . 0 2 / 5 3 1 ) ; die folgenden Zitate ebd., S. 1. In vielen Zuschriften und Stellungnahmen wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Berichterstattung in der Lokalpresse die Hinweise des ZK der SED mißachten würde, das in den Beschlüsse der 14. ZK-Tagung eine „Wendung [...] im Herantreten an die Arbeiterschaft" und eine „offene und kühne" Aussprache versprochen hatte. Auch auf ihrer 15. ZK-Tagung stellte die SED-Führung die Pressearbeit in der D D R so dar, als ob die Massenmedien frei und unabhängig in ihrer Arbeit wären. Mal sollten sie die „Schönfärberei" unterlassen und kritische Beiträge bringen, dann wurden sie dafür wieder kritisiert. Vgl. Herbert Gessner an Otto Grotewohl, Brief vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, NY 4 0 9 0 / 4 3 5 , Bl. 246).

Die Legende vom faschistischen

Putschversuch

409

stellt [...]. Presse und Rundfunk brauchen ein Verbot, alles oder zuviel mit der .Arbeit' von Provokateuren zu erklären. Wenn Provokateure die Lunte anzünden und finden keinen anderen Platz, als die Lunte auf,Beton' zu legen, erreichen sie nicht viel. Wenn sie sie auf angesammelten Zündstoff anlegen können, haben sie ihre Art von .Erfolgen'." Der Schreiber bezichtigte Rundfunk und Presse, „dumme Lügen" zu verbreiten. Über die Reaktion auf die Erschießung des Westberliner Göttling etwa habe man lesen müssen, „die Bevölkerung von ganz Berlin, die Bevölkerung von ganz Deutschland" bejahe das „Urteil des sowjetischen Kriegsgerichts als eine Maßnahme zur Sicherung des Friedens". Der Verfasser zeigte sich zwar „sehr einverstanden mit der Erschießung des Lumpen", empörte sich jedoch darüber, weil „dieser Unsinn [...] einfach darauf [hinausläuft], dem Gegner in die Hände zu arbeiten." Grotewohl beauftragte noch gleichen Tag - mit exakt den Formulierungen und Beispielen des Briefes - Axen, Presse und Rundfunk diese Art der Darstellung zu untersagen. 6 2 Neue Anweisungen erhielten auch die SED-Bezirksredaktionen: Die Leipziger Volkszeitung druckte am 25. Juni im Zusammenhang mit der Berichterstattung über ein Kreisparteiaktiv in Leipzig, an dem Anton Ackermann teilgenommen hatte, eine Absichtserklärung ab: Z u k ü n f t i g müsse „strengstens, sorgfältig, nach eingehender Prüfung" unterschieden werden zwischen den „Anstiftern der Tumulte einerseits und den ehrlichen Arbeitern, die leider zeitweilig mitgemacht haben." 6 3 Auch die sowjetischen Dienststellen mischten sich ein: Untersagt sei es, so der Leiter der Informationsabteilung der Hohen Kommission, Orlow, im Zentralkomitee am 9. Juli 64 , Informationen zu verbreiten, „die die Partei und die Regierung in ein schlechtes Licht stellen. Man soll nicht immer von Fehlern sprechen, man vergißt das Gute, das geschaffen wurde." Nicht alles dürfe „nur schwarz geschildert" werden - der Feind wisse dies auszunutzen, die westlichen Kommandanten hätten den sowjetischen Vertretern entsprechende Artikel „vorgehalten". Die „feindliche Hetze" sei täglich und systematisch auf der ersten Seite des „Neuen Deutschland" mit allen Hintergründen zu „entlarven". Alle leitenden „Genossen" sollten verpflichtet werden, hierbei wie bei der Verbesserung der Lebenslage mitzuarbeiten. Presse und Rundfunk sollten ihre Berichterstattung nicht auf die DDR beschränken, sondern „ständig den Terror und die Verfolgung in Westdeutschland entlarven unter Beobachtung der oppositionellen Presse". Auch diese Anordnung war charakteristisch für die Krisenbewältigungsstrategie der Führung: Die Aufmerksamkeit wurde auf die „Fehler" anderer gelenkt, um damit die eigenen Probleme zu verdecken.

62 63 64

Vgl. Büro Grotewohl, Mitteilung an Gen. Axen, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, NY 4 0 9 0 / 4 3 5 , Bl. 251). „Den Massen die Politik der Partei erklären!" (Aus der Rede Anton Ackermanns auf der Kreisparteiaktivkonferenz in Leipzig). In: LVZ vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3. ZK der SED, Aktennotiz von Axen, Bemerkungen zur Presse- und Rundfunkarbeit, o. D. (SAPMO-BArch, NY 4 0 9 0 / 4 3 5 , Bl. 295f.).

410 2.

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

Neue Losungen und organisierte Demonstrationen

Obwohl die Demonstranten am 17. Juni in Leipzig, Dresden, Görlitz und anderen Orten unverzüglich Transparente und Spruchbänder mit Parteilosungen zerstört hatten, gaben die Leipziger SED-Funktionäre am nächsten Tag Anweisung, „am 19. Juni die öffentlichen Gebäude, Betriebe und Schulen sowie die Fahrzeuge der Straßenbahnen" zu beflaggen und „mit neuen Losungen" zu versehen. 65 Zu lesen sein sollten Parolen wie: „Es lebe unser Präsident Wilhelm Pieck", „Es lebe das ZK der SED", „Mit der Regierung Otto Grotewohl für ein besseres Leben", „Nieder mit den faschistischen Provokateuren" und „Dank den sowjetischen Soldaten". Bemerkenswert ist hier der Verzicht auf die Nennung Ulbrichts wie auf den Begriff „Sozialismus". Die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt schränkte die Anweisung der Bezirksleitung ein: Nur an „den wichtigsten Instituten", nicht an allen Gebäuden sollte geflaggt werden. 66 Die Leipziger Spitzenfunktionäre hatten wieder einmal vorauseilenden Gehorsam bewiesen und ohne Anordnung der Zentrale gehandelt. Bereits am 25. Juni übermittelte das ZK zehn Parolen für die „Verstärkung der Sichtwerbung in den Betrieben, Städten und Dörfern". 67 Wohlweislich wurde hier, anders als in Leipzig, auf Formulierungen verzichtet, die auf das Zentralkomitee oder einzelne SED- oder Staatsfunktionäre Bezug nahmen. Lediglich die sechste und die siebente Losung forderten die „Werktätigen" auf, „offen mit der Partei und Regierung zu sprechen", „durch kameradschaftliche Kritik Mißstände" aufzudecken und zu überwinden. Die „Unterstützung der Regierung im Kampf um das bessere Leben durch den vollen Einsatz in der Produktion" wurde gefordert; zweimal wurde zur Entlarvung von „Brandstiftern, Provokateuren, Feinden" und zur Übergabe an die „demokratische Staatsmacht" aufgerufen. Auch hier war von „Sozialismus" nicht die Rede - lediglich von „Frieden, Einheit und Wohlstand" im Wege der konsequenten und unbürokratischen Verwirklichung des Neuen Kurses. Unvorhergesehene Probleme tauchten auf, als am 20. Juni an einigen öffentlichen Gebäuden und Betrieben in Leipzig ohne zentrale Anweisung die Fahnen auf Halbmast gesetzt wurden. Die SED-Bezirksleitung vermutete eine erneute „Provokation" im Zusammenhang mit der standrechtlichen Erschießung des Westberliners Willi Göttling und anderer „Provokateure". Sofort eingeleitete Überprüfungen ergaben jedoch, daß die Trauerbekundung auf die Hinrichtung der Rosenbergs in den Vereinigten Staaten Bezug nahmen. Fröhlich beschied unverzüglich die SED-Kreissekretäre: „Trotz des Verbrechens Eisenhowers an Julius und Ethel Rosenberg können wir angesichts unserer Lage die Fahnen nicht auf Halbmast setzen." 68 65 66 67 68

SED-BL Leipzig, Anweisung vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) . Vgl. SED-KL Leipzig, Rundspruch Nr. 13, vom 18.6.1953, 23.00 Uhr (SächsStAL, SED, I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . ZK der SED, Fernschreiben 252 vom 25.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Vgl. SED-KL Delitzsch, Durchsage der BL, 20.6.1953, 8.15 Uhr (SächsStAL, SED IV/04/345).

Neue Losungen und organisierte

Demonstrationen

411

Neben Transparenten, Losungen und der Beflaggung von Städten und Betrieben demonstrierten weitere Rituale aus dem Repertoire der kommunistischen Arbeiterbewegung die angeblich feste Verbundenheit von Volk und Regierung. Am 21. Juni wies das Zentralkomitee die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen an, „Vertrauenskundgebungen für die Regierung der DDR und für die SED durchzuführen" 6 9 - dies augenscheinlich in der Hoffnung, man könne sich, nachdem die Bilder von der gewaltsamen Niederschlagung der Ostberliner Demonstration vom 17. Juni durch die internationale Presse gegangen waren, in den Augen der Weltöffentlichkeit rehabilitieren. Daß dies möglicherweise verfrüht und kontraproduktiv war, realisierten sogar einige SED-Bezirkssekretäre, die dieser Aufforderung nicht sofort nachkamen. In Karl-Marx-Stadt fand die geforderte Kundgebung bereits am Sonnabend, dem 27. Juni statt, nachdem am 25. Juni der Ausnahmezustand aufgehoben worden war. 90 000 „bewußte Genossen und Werktätige" demonstrierten „für das Vertrauen gegenüber ZK und Regierung und dem neuen politischen Kurs, gegen die faschistische Kriegsprovokation." 70 Auch hier gab es jedoch anscheinend Diskussionen über den Sinn solcher Aufmärsche; in der „Parteieinschätzung" war nachzulesen: „Die mächtige Kundgebung in Karl-Marx-Stadt war ein Schlag gegen die Kleingläubigen, unter denen sich auch Funktionäre unserer Partei befanden, die der Meinung waren, daß eine solche Massendemonstration noch verfrüht wäre und die sich aus Angst vor einigen vorhandenen Gegenstimmen für einen späteren Zeitpunkt der Durchführung einsetzten." Sogar der 1. SED-Bezirkssekretär von Leipzig, Fröhlich, sicherlich das Gegenteil eines „Kleingläubigen", war der Meinung, die vom ZK befohlene Vertrauenskundgebung sei in Leipzig wenige Tage nach dem 17. Juni nicht durchführbar. Besser sei es, „jegliche Art von Demonstrationen [...] zu unterlassen und Demonstrationen lieber in der nächsten Woche durchzuführen, wenn die Lage klar ist". 71 Fröhlich hielt auch die FDJ-Bezirksleitung von einer sofortigen Aktion ab; deren Funktionäre hatten sich Fröhlich zu beugen, welcher offenbar nicht daran glaubte, daß „die Massen" dem Ruf der SED folgen würden. Eine offizielle Demonstration werde die Bevölkerung provozieren. Die FDJ-Spitzenfunktionäre kamen der Anweisung nur widerwillig nach. Sie führten am 27. Juni im Anschluß an eine Aktivtagung in der Leipziger Kongreßhalle eine Kundgebung auf dem Friedrich-Engels-Platz durch, an der etwa 3 000 FDJAngehörige teilnahmen 7 2 und auf der Margot Feist - die spätere Ehefrau Honeckers - und ein junger Koreaner sprachen; „Vorkommnisse" waren, wie der Berichterstatter vermerkte, nicht zu verzeichnen.

69 70 71 72

ZK der SED, Fernschreiben 214 vom 21.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . SED-BL Chemnitz, Informationsbericht vom 27.6.1953, S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 5 / 3 ) ; das folgende Zitat ebd. SED-BL Leipzig, Bezirksleitungssitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 28, Bl. 99). Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 27.6.1953, 8.00 Uhr bis 28.6.1953, 8.00 Uhr, vom 28.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, 4 / 0 6 , Bl. 119).

412

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

Während sich Fröhlich in Leipzig vorerst gegen eine größere Veranstaltung entschied, fand am 24. Juni im VEB Kombinat „Otto Grotewohl", Böhlen eine „Großkundgebung" mit Grotewohl statt. 73 400 Parteiaktivisten waren im Einsatz, um möglichst viele Teilnehmer zu gewinnen. Eingeladen waren auch Delegationen anderer Betriebe, u. a. Kindergärtnerinnen mit ihren Kindern. Immerhin erschienen über 3 000 Werktätige. Obwohl in diesem Betrieb am 17. Juni nicht gestreikt worden war und lediglich „Anzeichen für Unruhen" spürbar geworden waren, hatten die Kreisleitung Borna der SED und die Betriebsparteileitung besondere „Sicherheitsmaßnahmen" angeordnet. Angehörige der Feuerwehr und des Betriebsschutzes bildeten eine 100 Meter lange Sicherheitskette - Maßnahmen, die die Arbeiter kritisierten. Grotewohl sprach etwa eine Stunde. Zur Erleichterung der Parteiberichterstatter waren während dieser Rede keine „Unruhen [...] noch Entfernungen" zu verzeichnen. Die Rede wurde „gut aufgenommen". Allerdings kam man um die Feststellung nicht herum, daß „eine Anzahl der Arbeiter, besonders die jüngeren, und auch die Angestellten" sich „schwankend" verhielten und nach der Kundgebung äußerten, man erwarte von Partei und Regierung nicht nur Reden, sondern Taten. Das Sekretariat der Kreisleitung war zufrieden; dort verbuchte man die erste öffentliche Kundgebung mit Grotewohl als „guten politischen Erfolg, der die weitere Arbeit der Parteiorganisation erleichtern" werde. In Leipzig fand die Kundgebung noch unter Ausnahmezustand statt. Am 3. Juli forderte die „LVZ" ihre Leser auf: „Leipziger! Heraus zur Kundgebung für Frieden, Einheit und Demokratie". 74 Am nächsten Tag berichtete die Bezirksparteipresse unter der Überschrift „Vereint schlagen wir des Volkes Feind!" 7 5 : „Im Zeichen des entschlossenen Kampfes für die Erhaltung des Friedens fanden sich [...] 150000 Leipziger Werktätige, Arbeiter und Angestellte, Handwerker und Geschäftsleute und Hausfrauen, zu einer großen Kundgebung gegen die faschistischen Provokationen des 17. Juni zusammen." Die BDVP sprach dagegen intern lediglich von etwa 80 000 Teilnehmern. 76 Die Leipziger waren - wie am 17. Juni - in mehreren Demonstrationszügen aus allen Stadtbezirken anmarschiert. Dieses Mal erwartete sie Fröhlich auf dem Karl-Marx-Platz. Die „LVZ" brachte später längere Auszüge aus seiner Rede. 77 Auch in Leipzig sei eine „Reihe Arbeiter" der Meinung, „daß sie, als sie an der Demonstration [...] teilnahmen, als sie ihre Arbeit niederlegten, mit 73

74 75 76 77

Vgl. SED-KL Borna, Einschätzung der Großkundgebung im VEB Kombinat „Otto Grotewohl", Böhlen, vom 24.6.1953, S. lf. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) ; die folgenden Zitate ebd., S. 2. Vgl. „Leipziger! Heraus zur Kundgebung für Frieden, Einheit und Demokratie". In: LVZ vom 3.7.1953, S. 1. „Vereint schlagen wir des Volkes Feind". In: LVZ vom 4.7.1953, S. 1. Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 3.7.1953, 8.00 Uhr bis 4.7.1953, 8.00 Uhr, vom 4.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 7 , Bl. 14). Vgl. „Antwort der Leipziger Arbeiter auf die faschistische Provokation" (Aus der Rede des Gen. Paul Fröhlich auf der großen Kundgebung). In: LVZ vom 9.7.1953, S. 4; die folgenden Zitate ebd.

Neue Losungen und organisierte Demonstrationen

413

den Agenten und Provokateuren, diesen kriminellen Elementen, mit den Rowdys mit Bügeleisen an den Füßen, bestrumpft wie Kanarienvögel, angezogen, als kämen sie aus dem Panoptikum, und mit Haarfrisuren, die einer Vogelscheuche Ehre machen, nichts zu tun hatten." Fröhlich gestand der Mißstimmung der Arbeiter Berechtigung zu; „durch ihre Teilnahme an der Demonstration" hätten sie jedoch „bewußt oder unbewußt die faschistischen Provokateure" unterstützt. Allerdings habe sich nur „der kleinste Teil der Leipziger Arbeiter" irreführen lassen. Eine „Schwäche der Leipziger Arbeiterschaft" sei es gewesen, daß sie „den [sie] faschistischen Mob nicht mit ihren eigenen Fäusten und Händen den Garaus gemacht" habe. Der Bericht verschwieg, daß die „große Kundgebung" in den Betrieben organisiert und mehrfach abgesichert worden war. Es existierte ein spezieller „Einsatzplan des VPKA Leipzig" vom 1. Juli 78 : „Die SED-Kreisleitung Leipzig Stadt führt aus Anlaß der Vorkommnisse am 17.6.53 (Aktion X) [...] eine Demonstration mit anschließender Kundgebung auf dem Karl-Marx-Platz durch. Hier werden die Werktätigen Leipzigs unter Beweis stellen, daß sie nicht mit den Provokateuren und ihren faschistischen Hintermännern einverstanden sind. Sie werden ihre Treue zu unserem Staatspräsidenten Wilhelm Pieck und zur Regierung Otto Grotewohl offen bekunden. Um den Gegnern unserer demokratischen Ordnung ihre Pläne zu durchkreuzen und die Sicherheit und Ruhe aufrechtzuerhalten, macht sich von Seiten des VPKA ein Kräfteeinsatz erforderlich." Zu diesem Zeitpunkt sollten Agitatorengruppen in den Betrieben die „spürbare Ablehnung der Demonstration, selbst bei Funktionären" überwinden. 7 9 Kreisleitung und Bezirksleitung der SED sandten am Morgen der Demonstration „Instrukteure" in die Betriebe zur „operativen Anleitung der Parteileitungen". 80 Diese erkundigten sich zwar bei den Parteileitungen nach der Vorbereitung der Demonstration, informierten sich jedoch nicht über die Stimmung der „Werktätigen". In der internen Berichterstattung der SED-Bezirksleitung hieß es, die „ideologische Überzeugungsarbeit zur Teilnahme an der Demonstration" werde vernachlässigt. Einige Betriebsparteileitungen fürchteten die Konfrontation mit „ihren Werktätigen" und riefen lediglich über den Betriebsfunk, über Anschläge am Schwarzen Brett oder über die Gewerkschaften zur Teilnahme an der Kundgebung auf. Die Leipziger „Werktätigen" waren zu diesem Zeitpunkt auch deshalb besonders aufgebracht, weil Ulbricht, dessen Sturz sie gefordert hatten, wenige Tage zuvor zu seinem 60. Geburtstag als „Held der Arbeit" ausgezeichnet worden war. Diskussionen gab es außerdem, weil ursprünglich die durch die Demonstration ausfallende Arbeitszeit nachgearbeitet werden sollte. 81 In einem Leipziger Stadtbezirk ging die Parole 78 79 80 81

Vgl. VPKA Leipzig, Einsatzplan Nr. 23, 1.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, 4 / 0 7 , Bl. 4 - 6 ) . Vgl. SED KL Leipzig-Stadt, Aktennotiz, o. D. (SächsStAL, S E D / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) . Vgl. SED-BL Leipzig, Telefonische Durchsage an das ZK vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 220); das folgende Zitat ebd. Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Aktennotiz, o . D . (SächsStAL, S E D / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) .

414

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

um: „Wir wollen nicht mehr laufen, wir wollen Taten sehen!" 8 2 Kritisiert wurde später auch, daß kein Vertreter des Zentralkomitees auftrat. Die „Auswertung" der SED-Stadtleitung kritisierte, einige wichtige Großbetriebe könnten nur „eine äußerst geringe Beteiligung" nachweisen. 83 Die Leipziger Eisenund Stahlwerke (LES) und die SAG Bleichert waren mit etwa zehn, die Leipziger Wollkämmerei war mit etwa fünf Prozent der Belegschaft aufmarschiert. Aus dem Braunkohlenwerk Döhlitz kamen von 400 Beschäftigten nur drei, die Adler-Reparaturwerkstatt war überhaupt nicht vertreten. Selbst die „Genossen" der SED hielten sich mit öffentlichen Bekenntnissen zur Politik der Partei zurück. Aus den Leipziger Verkehrsbetrieben „Heiterblick" demonstrierten von 436 „Genossen" nur 20 für das „Vertrauen mit der SED". 8 4

3.

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

Unter dem Eindruck der Massenproteste in der Region gestand die Bezirksleitung Dresden der SED in einer ersten Analyse vom 19. Juni ein, daß „der ideologische Einfluß der Partei auf die Masse der Arbeiter sehr gering" sei, die Parteiorgane selbst „keine enge Vertrauensbasis zu den Massen" hätten und „von den Ereignissen völlig überrumpelt" worden seien. 85 Die Abschlußanalyse vom 8. Juli kritisierte die „ungenügende Bindung der Partei mit den werktätigen Massen" und ein „nicht richtiges Eingehen auf die berechtigten Sorgen und Nöte der Werktätigen von Seiten der Partei-, Gewerkschafts- und Werkleitungen." 8 6 Die Ursache - so die SED-Bezirksleitung Leipzig - sei darin zu suchen, daß die Partei keine „allseitige systematische Erforschung der Massenstimmung" betreibe und sich „immer wieder von den Eindrücken großer Demonstrationen und Kundgebungen leiten" lasse. 87 Sie verallgemeinere zudem „in viel zu starkem Maße die hervorragenden Einzelbeispiele". Diese Formulierung gebrauchte sie wenige Tage nach der organisierten Demonstration in Leipzig. Da der Apparat von der Überzeugung geleitet war, es sei dem „Gegner" gelungen, „irregeleitete Arbeiter", die sie sich von „den Massen" entfernt hatten, auf seine Seite zu ziehen, wurde nun die Losung „Heran an die Massen" 82 83 84 85 86

87

Vgl. SED-BL Leipzig, Telefonische Durchsage an das ZK vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 3 , BI. 2 2 2 ) . Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Sekretariatssitzung vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/088). Vgl. ebd. SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17. bis 19.6.1953, vom 19.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . SED-BL Dresden, Analyse über die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsHStA, SED IV/2/12/008). SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 4 (SächsStAL, SED I V / 2 / 12/588).

Die Verstärkung der „ massenpolitischen Arbeit"

415

ausgegeben. 8 8 Zunächst galt es zu wissen, was in der Bevölkerung tatsächlich diskutiert wurde. Um das „Ohr an der Masse" zu haben, startete der Apparat zahlreiche Kampagnen. Nicht alle massenpolitischen Aktivitäten können hier analysiert werden, wenigstens die wichtigsten sind jedoch zu thematisieren. Sie vermitteln einen Eindruck vom Aktionismus und von der Überbürokratisierung der massenpolitischen Arbeit. So fanden - auf Weisung - „vertrauensvolle Gespräche" in Familien, Betriebs- und Hausversammlungen sowie öffentliche Versammlungen der „Volksvertretungen", Bauern- und Gemeindeversammlungen u.a. statt. Darüber hinaus waren alle Massenorganisationen und die anderen Blockparteien zu Aussprachen und Versammlungen verpflichtet. Durchwegs wurden zentrale Anweisungen und Vorgaben zum Dialog zwischen den Funktionären und der „Masse" erlassen. Organisatorischer Aufwand und „Kadereinsatz" für alle diese Kampagnen waren riesengroß, die Ergebnisse hingegen dürftig. Am 21. Juni forderte Karl Schirdewan die Bezirksparteileitungen auf, „vertrauensvolle Gespräche zu führen"; die Stimmungslage sollte eruiert werden. 8 9 Unter dem Motto „Was wollen wir wissen?" übermittelte Schirdewan den Bezirksleitungen den folgenden Fragenkomplex: „Wie denkt gegenwärtig der Arbeiter wirklich? Was sind gegenwärtig seine Hauptsorgen? Woran mangelt es ihm (konkret)? Was wünscht er sich? Was ist ihm an der Politik der Regierung gegenwärtig unverständlich? Was sagt seine Frau, was möchte sie besser haben? Warum ist gegenwärtig die Stimmung noch unruhig, warum besteht kein Vertrauen, daß die Regierung die Lage bessern wird?" Eine „Reihe von Parteiarbeitern" - so Schirdewans Vorschlag - sollte Familien persönlich aufsuchen und im Bekanntenkreis Erkundigungen einziehen. „Persönliche Unterhaltungen" seien überall dort angeraten, „wo man eine Atmosphäre des Sichaussprechens schaffen kann [...]. Heute abend noch muß man in Lokale gehen und sozusagen die Gespräche hören". Sofort schwärmten die Parteiarbeiter aus. Die SED-Bezirksleitung Dresden entsandte noch am gleichen Tage Agitatoren in Dresdner Familien, die von den SED-Stadtbezirksleitungen ausgewählt wurden. 9 0 Im Verlauf dieser Aktion, über die ausführliche Gesprächsniederschriften vorliegen 91 , suchte beispielsweise ein Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung eine fünfköpfige Familie auf. 9 2 Der Familienvater war als TAN-Sachbearbeiter im VEB Luft- und Wärmetechnik Dresden beschäftigt; er war parteilos und als Vertrauensmann der Gewerkschaft tätig. Die Ehefrau war Hausfrau und Mutter dreier Kinder. Der Mann 88 89 90 91 92

Vgl. „Über die gegenwärtige Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Beschluß des ZK der SED vom 21. Juni 1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 4 4 2 . Vgl. An die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen, Anruf vom ZK am 2 1 . 6 . 1 9 5 3 , 16.45 Uhr (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . SED-BL Dresden, Betr.: Berichte über den Einsatz in Stadtbezirken Dresden (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . Vgl. ebd. Vgl. SED-BL Dresden, Bericht über die Aussprache mit Fam. A„ S. lf. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; die folgenden Zitate ebd.

416

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17. Juni

berichtete zunächst über seinen Ärger mit den Kollegen in der Folge der Normerhöhung. Die „Normenkennziffern des Ministeriums" hätten „bei den Kollegen alles versaut"; freiwillig hätte man bessere Erfolge erzielen können. Der Befragte kritisierte auch den Aufbau von „nationalen Streitkräften", die „in der letzten Zeit das meiste Geld und Material gekostet" hätten. Seine Frau berichtete über ihre täglichen Sorgen bei der Heranschaffung von Kleidung und Nahrung für die drei Kinder. Man leide keine Not, sei aber gezwungen, „mit jedem Pfennig" zu rechnen. Sie beschwerte sich über das Benehmen eines „Genossen" im Haus, der „die Atmosphäre des Vertrauens vollkommen zerstört" habe, und kritisierte außerdem den Direktor des RAW Dresden, der jeden entlassen wolle, der in den letzten Tagen nicht zur Arbeit erschienen sei. Das mache „böses Blut" und zerstöre das Vertrauen zu Regierung und Partei. Der Berichterstatter vermerkte abschließend: „Die berechtigten Forderungen der Arbeiter, betreffs Normen, werden von der Familie A. unterstützt. Mit den Provokateuren und Brandstiftern, wie z.B. am 17. Juni in Berlin, wollen sie nichts zu tun haben und verurteilen diese und ihre abscheulichen Taten auf das schärfste [...]. Die Maßnahmen des ZK und der Regierung werden zwar begrüßt, jedoch äußerte Frau A., daß das Vertrauen zur Regierung wirklich erschüttert worden ist. Erst wenn die Maßnahmen durchgeführt sind [...] wird das volle Vertrauen zur Regierung wieder vorhanden sein." In Leipzig waren am Sonntag, dem 21. Juni Parteiarbeiter in Gastwirtschaften, Gartenkantinen und Gartenanlagen sowie im Volksbad Auensee unterwegs, um Schirdewans Auftrag zu erfüllen. 93 Außerdem wurden gezielt persönliche Gespräche geführt, vorwiegend mit Arbeitern und deren Familien, vereinzelt auch mit Mittelständlern. Ähnlich wie die befragte Dresdner Familie verhielten sich auch die Leipziger: Sie distanzierten sich von den „Provokateuren" - eine andere Haltung wäre angesichts der Verhaftungen und der Aufforderung nach Auslieferung der angeblichen Rädelsführer auch zu riskant gewesen - , brachten aber auch „großes Mißtrauen gegenüber der Regierung zum Ausdruck". 94 Fast alle waren der Meinung, man müsse zunächst abwarten, „wie die Regierung die Versprechungen einlöst". Weiter wurde über diese „vertrauensvollen Gespräche" berichtet: „Bei den meisten Menschen [...] war eine gedrückte Stimmung und Sorge festzustellen, und sie vertraten die Meinung, daß sie nicht offen sprechen können, wenn sie sich nicht für die Politik aussprechen, da sie sonst eingesperrt würden bzw. als negative Elemente bezeichnet werden." Wie in Dresden erfuhren die Gesprächsführer der SED auch von den Leipziger Frauen, welche Sorgen im Alltag zu bewältigen waren. Besonders groß war die Unzufriedenheit mit der Lebensmittel- bzw. Hausbrandkohlenversorgung und mit den Modalitäten der Verteilung; gefordert wurde auch bessere und billigere Kleidung. Die Preise seien, gemessen an 93 94

Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiinformation vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 01/478). SED-BL, Informationsbericht Nr. 140, vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 587, Bl. 28); das folgende Zitat ebd. Bl. 29.

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

417

den Einkommen, „zu hoch". Hier bemerkte der Berichterstatter: „Es werden Vergleiche mit Westdeutschland gemacht." 9 5 Auch die MfS-Zentrale forderte unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes „Stimmungsberichte" der offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter aus allen Schichten der Bevölkerung an. 9 6 Man wollte vor allem über mögliche Absprachen zur „Wiederholung volksfeindlicher Tätigkeiten" informiert werden. Am 20. Juni erging eine entsprechende Anordnung Mielkes an die Bezirksverwaltungen. 97 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt suchten die MfS-Mitarbeiter am 21. Juni Kurorte, Waldgaststätten, Aussichtstürme, Parkcafes, Grenzlokale usw. auf. Sie sollten Gespräche belauschen und bis abends 20 Uhr ihre Berichte abgeben. Allein im Kreis Hohenstein-Ernstthal mußten 19 Waldgaststätten aufgesucht werden. 9 8 Daneben hatte die Bezirksverwaltung in der Woche vom 22. bis 27. Juni zahlreiche Berichte über die Stimmung in Parteien, Massenorganisationen, Betrieben und Instituten zu lesen. 9 9 Die Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit verfaßten außerdem „Stimmungsberichte" auf der Grundlage der Erkenntnisse der für die Postüberwachung zuständigen Abteilung M. Die Bezirksverwaltung Leipzig etwa berichtete am 22. Juni über ihre Überwachungsaktivitäten im Zeitraum zwischen dem 17. und dem 20. Juni, 218 Personen aus dem Bezirk hätten sich in Briefen an Verwandte und Bekannte in Westdeutschland und Westberlin zum Aufstand geäußert. 160 negativen Meinungsäußerungen standen lediglich 58 positive gegenüber. 1 0 0 Auch die Volkspolizei erstellte täglich ausführliche Berichte über besondere Vorkommnisse und über die aktuelle Stimmung. 101 Auf dem Verteilerschlüssel standen der Chef der BDVP, sein Stellvertreter, die Kriminalpolizei, die SKK, die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, der Vorsitzende des Rates des Bezirks und der Bezirksstaatsanwalt. Sonderlich aufschlußreich waren diese Pamphlete nicht: Sie enthielten sehr allgemeine oder einseitige Aussagen. Am 28. Juni etwa wurde berichtet, die „Diskussionen über die Vorkommnisse vom 17. und 18. Juni" hätten sehr nachgelassen 1 0 2 ; am 30. Juni hieß es, „in allen Kreisen der Bevölkerung" würden „die Maßnahmen der Regierung auf das Stärkste

95 Ebd., Bl. 30. 9 6 Vgl. BV für Staatssicherheit Chemnitz, An alle Kreisdienststellenleiter, vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-308, Bl. 2). 97 Vgl. MfS-Berlin, FS Nr. 565 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-302, Bl. 40). 9 8 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Hohenstein-Ernstthal, Betr.: Schreiben, vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-303, Bl. 26). 9 9 Vgl. BV für Staatssicherheit Chemnitz, Stimmungsberichte der Abt. XX (BStU, Ast. Chemnitz, XX-306). 100 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Stimmungsbericht Nr. 3 6 / 5 3 , vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, 2 4 0 / 4 6 , Bl. 39). 101 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Tägliche Berichterstattung (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , 4 / 0 7 ) . 102 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr bis 2 8 . 6 . , 8.00 Uhr, vom 2 8 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 119).

418

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

begrüßt." 1 0 3 Nach der 14. ZK-Tagung hatten auch die Bezirksvorstände der Massenorganisationen über „die tatsächliche Meinung und Haltung der Arbeiter zu den Ereignissen vom 17. und 18. Juni" zu berichten. Der Bericht des FDGB-Bezirksvorstandes Leipzig an den Bundesvorstand vom 25. Juni beginnt mit der Feststellung, weit verbreitet sei die Meinung: „Wir haben ihnen doch mal gezeigt, daß sie nicht alles mit uns machen können." 1 0 4 Aufschlußreicher als die unzähligen Stimmungsberichte dürften Atmosphäre und Diskussionen in den öffentlichen Versammlungen in Betrieben und Gemeinden gewesen sein. Diese Veranstaltungen verliefen in den ersten Wochen oft turbulent, weil die „Werktätigen" unter dem Eindruck der Massenproteste und der dort erfahrenen Solidarität selbstbewußter geworden waren und zunächst kein Blatt vor den Mund nahmen. Aber auch hier überließ die SEDFührung nichts dem Zufall. Am 18. Juni sandte Ulbricht ein Fernschreiben an alle 1. Sekretäre der Bezirksparteileitungen, das Vorgaben für die Organisation der „politischen Massenarbeit der Partei" enthielt. 105 „Es macht sich notwendig, daß alle Bezirksleitungen die politische Massenarbeit der Partei so organisieren, daß sie ständig und systematisch durchgeführt wird und nicht nur an den Stellen, wo es Konflikte gibt. Es ist notwendig, regelmäßig in den Betriebsabteilungen während der Pause oder nach Arbeitsschluß sowie im Gebiet der Hausgemeinschaft kurze Informationen zu geben, die mit einem Meinungsaustausch verbunden sind. Dazu ist der Leitartikel des ,Neuen Deutschland' vom 19. Juni, der heute noch im Rundfunk durchgegeben wird, zum Hauptinhalt der Aufklärungsarbeit und zur Stellungnahme der Betriebsarbeit zu machen". Am 19. Juni wies Ulbricht die 1. Bezirkssekretäre der SED an, führende Funktionäre von SED, Staatsapparat und Gewerkschaften in „Versammlungen der Betriebsabteilungen der Belegschaften" auftreten zu lassen. 106 Angeblich waren „offene Aussprachen" vorgesehen; die in diesen Versammlungen zu fassenden „Beschlüsse für die Unterstützung der Politik der Regierung gegen die faschistischen Provokationen und für die Durchführung der Beschlüsse der Regierung" gab Ulbricht jedoch vor. Diese Resolutionen sollten auch zum Ausdruck bringen, daß die Arbeiter „der friedlichen Arbeit nachgehen und Bestrafung der Provokateure verlangen." Die Presse sollte ausführlich berichten und die Reden der führenden „Genossen" auszugsweise veröffentlichen. Außerdem verfügte Ulbricht, daß Betriebe, die nicht gestreikt hatten, sich in Briefen an diejenigen Belegschaften zu wenden und Delegationen in solche Betriebe zu

103 Vgl. BDVP Leipzig, Operativstab, Bericht vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr bis 3 0 . 6 . , 8.00 Uhr, vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 126). 104 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig, Bericht Nr. 5 5 2 vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , 2.55 Uhr (SAPMOBArch, DY 3 4 / 1 5 / 5 1 5 h, 310). 105 Vgl. ZK der SED, Fernschreiben Nr. 1 8 8 / 1 8 9 / 1 9 0 / 1 9 1 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 15). 106 Fernschreiben des Genossen Walter Ulbricht vom 19.6.1953 (SächsStAL, SED 1 V / 5 / 0 1 / 475); die folgenden Zitate ebd.

Die Verstärkung der „ massenpolitischen Arbeit"

419

entsenden hatten „in denen feindlicher Einfluß besonders stark war". Auch solche Schreiben sind überliefert. 1 0 7 Die 14. ZK-Tagung beschloß dann eine sofortige Wendung der SED im „Herantreten an die Arbeiterschaft": „Die Partei gehört zu jedem Zeitpunkt, besonders aber in solchen Tagen, in die Massen", um diese „geduldig" zu überzeugen. 1 0 8 Keine Rolle spielte hier, daß diese „Massen" sich am 17. Juni in vielen Orten und Betrieben gegen die SED ausgesprochen und sich von ihr abgewandt hatten. Insofern frappiert die Selbstherrlichkeit der - wenige Tage später getroffenen - Feststellung, gerade die „ehrlichen Arbeiter" brauchten heute am meisten die SED, „auch wenn ihnen das selbst noch nicht klar ist." Das ZK forderte die „Funktionäre auf allen Ebenen" auf, „in die Betriebe [zu] gehen", in Partei- und Belegschaftsversammlungen „die Fragen der Arbeiter und der anderen Werktätigen offen und kühn [zu] beantworten." 1 0 9 Die „Fehlerdiskussion" sollte jedoch nicht im Mittelpunkt stehen: „Die Partei wird in diesem Augenblick, der Taten fordert, dem Gegner nicht dadurch in die Hände spielen, daß sie ihre Kräfte in Erörterungen darüber erschöpft, wie es zu solchen Mißverständnissen bei einem Teil der Werktätigen kommen konnte. Heute kommt alles auf die Taten an. Daher erklärt das ZK zu diesem entscheidenden Punkt nur das eine: Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter!" 1 1 0 Offensichtlich weckten solche Sätze zunächst Hoffnung auf eine selbstkritische und ehrliche Auseinandersetzung in der Partei. Der Beschluß mündete jedoch wieder in Hochrufe auf die SED, die „Bannerträgerin im Kampf für Frieden, Einheit und Demokratie" und auf die Regierung der DDR, die „Regierung des Friedens und der Arbeit", obwohl zu diesem Zeitpunkt in den meisten Städten und Betrieben die Forderungen nach Rücktritt der Regierung und nach Auflösung der SED keineswegs verstummt waren, sondern im Gegenteil lauter wurden. Auftragsgemäß traten führende Funktionäre von SED, Gewerkschaften und Staat, Instrukteure und Agitatoren in den folgenden Tagen und Wochen in den Betrieben auf, um den Neuen Kurs zu erläutern. Sie gaben sich gewissermaßen die „Klinke in die Hand" - eine „Feuerwehraktion", die selbst der SED-Bezirksleitung Dresden zu weit ging. 111 Diese kritisierte, in der LOWA Görlitz seien an einem einzigen Tag 60 Instrukteure im Einsatz gewesen. In den ersten Betriebsversammlungen, an denen führende Funktionäre teilnahmen, wurde zunächst vergleichsweise offen diskutiert. Auffällig ist, daß Auftritte von Spitzenfunktionären vor Bauarbeitern zunächst nicht stattfanden. Auf eine dahin107 Vgl. Abschrift eines Briefes, Volksgut Gaschwitz mit Gautzsch, An die Belegschaft des VEB BBG vorm. Sack, vom 19.6.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/479). 108 „Uber die gegenwärtige Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Beschluß des ZK der SED vom 21. Juni 1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 441; die folgenden Zitate ebd. 109 Ebd., S. 442. 110 Ebd., S. 441; die folgenden Zitate ebd., S. 445. 111 SED-BL Dresden, Monatsbericht der BPKK, Juni 1953 (SächsHStA, SED IV/2/4/025).

420

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

gehende Frage antwortete Ulbricht in Leipzig: „Zuerst spreche ich mit denen, die die Ehre der deutschen Arbeiterklasse festgehalten haben. Aber mit den Bauarbeitern sprechen wir auch. Dort interessiert uns, wer die Organisatoren der faschistischen Provokation sind. Wir wollen uns nicht unterhalten mit Euch über bestimmte untergeordnete Fragen. Wenn es bei Euch Schwierigkeiten in den Wohnbaracken gibt, gut, diese Mißstände beseitigen wir. Aber wenn wir mit Euch sprechen, sprechen wir mit Euch darüber, wer sind die faschistischen Provokateure, diese [...] sind noch hier und warum habt Ihr sie nicht offen genannt und nicht offen ausgeliefert. Das wollen wir, nichts anderes." 112 Otto Grotewohl sprach am 24. Juni auf einer Belegschaftsversammlung des nach ihm benannten Kombinats in Böhlen. 113 Er äußerte sich hier auch zur Einheit Deutschlands. Beifall fanden vor allem seine Worte: „Wenn wir die Frage der Einheit Deutschlands als das zentrale Problem bezeichnen, dann dürfen wir keine Politik betreiben, die es unmöglich macht, daß die Menschen von Ost und West zusammenkommen, sondern da müssen wir eine Politik betreiben, bei der jeder einzelne weiß, daß er zu seinen Familienangehörigen im Westen oder Osten Kontakt aufnehmen kann, wann er es für wünschenswert hält, daß jeder einzelne weiß, daß die Deutschen aller Zonen in Ost und West, in Nord und Süd zusammengehören zu einem einzigen Volk." 114 Anton Ackermann stellte sich am 27. Juni den Fragen der Belegschaft des VEB Bodenbearbeitungsgerätewerke Leipzig. In dieser Betriebsversammlung, die die LVZ in ihrem Bericht als vorbildlich darstellte, wurde „scharfe Kritik an den Mißständen" geübt. 115 Zuvor hatte die Belegschaft des Volksguts Gaschwitz in einem Brief an den VEB BBG dessen Belegschaft beschuldigt, „einer Arbeiterregierung in den Rücken gefallen" zu sein, als diese gerade dabei gewesen sei, ihre „gemachten Fehler" zurückzunehmen. 116 „Es ist beschämend für Euch, daß ihr als einziger Betrieb, der Landmaschinen herstellt, Euch diesen faschistischen Elementen angeschlossen habt. Wir sind der Meinung, daß Ihr diesen unüberlegten Schritt zur Schande unseres Volkes wieder gut machen könnt durch Eure tatkräftige Bereitschaft und vor allem vorbildliche Mitarbeit zum Wohle unseres Volkes." Das Schreiben endete mit der Aufforderung an die Leipziger Landmaschinenbauer, „die Schuldigen an diesen Dingen unseren Machtorganen" zu übergeben. Nicht nach dem Geschmack der Funktionäre dürfte die Belegschaftsversammlung vom 9. Juli in einem anderen Betrieb gewesen sein, der am 17. und 18. Juni gestreikt hatte: im VEB Guß „Hermann Matern" in Roßwein, Kreis Döbeln (Bezirk Leipzig). Deshalb fand sich über diese Zusammenkunft auch 112 Ulbricht, Walter, Referat auf der SED-Parteiaktivkonferenz in Leipzig, 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 21). 113 Vgl. Grotewohl, Otto, Rede auf der Belegschaftsversammlung des Kombinats Böhlen am 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , S. lf. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 3 / 6 0 ) . 114 Ebd., S. 2 115 „So sollen Betriebsversammlungen sein". In: LVZ vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 3. 116 Vgl. Abschrift eines Briefes, Volksgut Gaschwitz mit Gautzsch, An die Belegschaft des VEB BBG vorm. Sack, vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) .

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

421

nichts in der Presse. Die „offene Aussprache" führte hier zu einem „peinlichen" Vorfall: Den „größten Beifall" erntete, wie die Kreisdienststelle für Staatssicherheit Döbeln vermerkte, nicht der an der Versammlung teilnehmende Namenspatron des Betriebs, Hermann Matern, mit seiner Rede zum Neuen Kurs, sondern ein 37jähriger, parteiloser Werkzeugfräser, der im Mai 1953 als „Aktivist" ausgezeichnet worden war, am 17. Juni Mitglied der Streikleitung gewesen und am 20. Juni verhaftet worden war. Nach seiner Freilassung arbeitete er wieder im Betrieb. 117 Der Redner berichtete über die Umstände seiner Festnahme. Anwesend war der MfS-Mitarbeiter der Kreisdienststelle Döbeln, der ihn, zusammen mit drei anderen Sicherheitsleuten, festgenommen hatte. Auf diesen Mitarbeiter machte der Redner nun die Kollegen aufmerksam: „Dort steht ein Mann, der mich rübergeschafft hat nach Döbeln, dort kannst Du gucken." 118 MfS-Angehörige hätten ihn nach seiner Überführung nach Leipzig geschlagen. Deshalb die direkte Frage an Matern: „Kollege Matern, ist es richtig, daß man Leute wegholt [...] läßt sie alles ausziehen und noch ist kein Protokoll geschrieben worden [...] vernommen, aufgeladen und fortgeschafft, kein Mensch weiß warum." Materns Antwort ist leider nicht überliefert. Diese öffentliche Anschuldigung zog eine dienstliche Untersuchung in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit nach sich. 119 In Dresden sprach u.a. Otto Buchwitz am 24. Juni vor der Belegschaft der Sächsischen Zeitung 120 ; er forderte dazu auf, „immer einander die volle Wahrheit [zu] sagen." Elli Schmidt trat am 24. und am 29. Juni vor den Belegschaften der Betriebe LOWA in Niesky und in Görlitz auf. Die Sächsische Zeitung berichtete unter den Überschriften „Wir haben Fehler gemacht und müssen mit den Arbeitern darüber sprechen" und: „Unsere heutige Zusammenkunft soll nicht einmalig sein". 121 Verschwiegen wurde allerdings, daß Schmidts Auftritt die Funktionäre in den beiden Städten in arge Bedrängnis brachte: Sie hatten den Arbeitern der Großbetriebe nämlich u.a. eine Senkung der Preise für das Werksküchenessen, die Neufestsetzung des Haushaltstages für Frauen sowie Höherstufungen von Lebensmittelkarten versprochen und staatlichen Stellen bereits entsprechende Anweisungen erteilt - mit der Konsequenz, daß die Belegschaften anderer Betriebe diese Vergünstigungen gleichfalls einforderten. 122 Guter Rat war teuer, gehörten doch beide Betriebsbeleg117 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Döbeln, Betr.: Verhaftung des H., o.D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 0 3 0 / 0 3 , Bl. 2 3 - 2 5 ) . 118 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Döbeln, Mitschnitt der Diskussionsrede des H., o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 0 3 0 / 0 3 , Bl. 33). 119 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung aus Untersuchungshaftanstalt, vom 17.7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 3 0 / 0 3 , Bl. 17f.). 120 Vgl. „Immer einander die volle Wahrheit sagen!" Otto Buchwitz vor der Belegschaft des Betriebes Sächsische Zeitung. In: SZ vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1. 121 Vgl. „Elli Schmidt sprach vor der Belegschaft der LOWA Niesky". In: SZ vom 2 6 . 6 . 1953, S. 4; „Unsere heutige Zusammenkunft soll nicht einmalig sein!" In: SZ vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 , S. 6. 122 Rat der Stadt Görlitz, Oberbürgermeister, Situationsbericht Nr. 2, Woche vom 4.7. bis 10.7.1953, vom 10.7.1953 (SächHSta, Bt/RdB, 441, Bl. 27f.); das folgende Zitat ebd., Bl. 27.

422

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

Schäften zu den Initiatoren der Proteste. Konzessionen mußten auf Seiten der Arbeiter der Auffassung Vorschub leisten, die SED sei am 17. Juni zum Neuen Kurs gezwungen worden. Aus diesem Grunde beschwerte sich der Oberbürgermeister von Görlitz am 10. Juli beim Rat des Bezirks über die „fragwürdige Methode" führender Funktionäre, Versprechungen zu machen. In der Mehrzahl der Betriebe traten kleine und mittlere Funktionäre als Redner auf. Einzelne Kreisleitungen der SED erarbeiteten auf der Grundlage des Beschlusses der 14. ZK-Tagung Rededispositionen für die Funktionäre, Instrukteure und Agitatoren in Belegschafts- und Einwohnerversammlungen. In einer Anleitung der Kreisleitung Niesky, Bezirk Dresden beispielsweise heißt es, die Versammlungen sollten genutzt werden, „uns offen und ehrlich auszusprechen". Aufgabe eines jeden sei es, „alles zu sagen und nichts zu verheimlichen [...]. Wir haben aus den Fehlern unsere Lehren gezogen und bitten Euch, daß Ihr alle so, wie Euch der Schnabel gewachsen ist, Euere Meinung sagt." 123 Zugleich sollten die Redner die „werktätigen Massen" auffordern, sich „enger um die Partei und Regierung [zu] scharen [...] der Regierung [zu] vertrauen [...] und alle feindlichen Anschläge, die gegen unseren friedlichen Aufbau gerichtet sind, im Keime [zu] ersticken." In einigen Betrieben verweigerte eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Belegschaftsangehörigen die Teilnahme an den Versammlungen. Im VEB Nagema Grimma, dem größten Betrieb des Kreises, erschien am 30. Juni „nur ein geringer Teil der beschäftigten Arbeiter, obwohl sie durch Agitatoren an den Ausgängen des Betriebes noch einmal auf die Wichtigkeit [...] hingewiesen wurden." 1 2 4 Man habe, so wurden den Agitatoren erklärt, „kein Interesse an der Versammlung". 125 An anderen Belegschaftsversammlungen wiederum nahm „fast die gesamte Belegschaft" teil und begleitete sie „durch ausfällige Redensarten, Gepfeife, Gejohle usw.". In solchen Fällen vermerkte der Berichterstatter, in diesem Fall die Kreisleitung Löbau, „der Klassenfeind" habe es verstanden, „Elemente hineinzuschleusen, die ihr provokatorisches Verhalten offen zeigten." In den Objekten der SAG Wismut nahm am 29. und 30. Juni nicht einmal die Hälfte der Belegschaft teil; in den Objekten im Bereich der Kreisleitung Wismut Gera waren es nur etwa 45 Prozent. Völlig unzufrieden waren die SED-Leitungen vor allem mit dem Auftreten ihrer „Genossen": Diese vertraten nämlich nicht offensiv „die führende Rolle der Partei" gegenüber den Parteilosen, sondern verhielten „sich ruhig, abwartend und [...] auch feige", weil sie „nicht offen darüber diskutierten, welche Fehler die Arbeiter

123 SED-KL Niesky, Referat für die öffentlichen Belegschafts- und Einwohnerversammlungen (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 101); das folgende Zitat ebd., Bl. 104. 124 Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 7.7.1953, 8 . 0 0 Uhr bis 8 . 7 . 1 9 5 3 , 8.00 Uhr, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 7 , Bl. 2 8 ) . 125 SED-KL Löbau, Betr.: Monatsbericht Juli 1953, S. 3 (SächsHStA, SED I V / 4 . 0 9 / 085); die folgenden Zitate ebd.

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

423

gemacht haben, als sie auf die Straße gingen." 126 Sicherlich hätten alle lieber offen die Fehler der SED-Führung, die die Arbeiter auf die Straße trieben, erörtert - dies jedoch wären „feindliche Diskussionen" gewesen. Die Agitatoren und Instrukteure, die in den Pausen und am Arbeitsplatz, in Einzel- und Gruppengesprächen auftraten, stießen überall auf „starke Zurückhaltung". 127 In der Regel handelte es sich um Betriebsfremde: Parteischüler, SED- und Gewerkschaftsfunktionäre, die bis dahin vom Schreibtisch aus den Aufbau des Sozialismus betrieben und über „die führende Rolle der Arbeiterklasse" referiert hatten. Über die tatsächlichen Vorgänge in den Betrieben waren sie nicht informiert. Ziel der Agitatoren war es, die „irregeleiteten" Arbeiter zur Einsicht ihrer Schuld zu bringen; diese sollte dann durch fleißige Arbeit abgetragen werden. Nicht verwunderlich ist, daß sich in einigen Betrieben die Arbeiter jeglicher Diskussion verweigerten. Im Bezirk Leipzig gaben „viele Arbeiter einfach keine Antwort" und vertieften sich in ihre Arbeit. 128 Weil sich zahlreiche Agitatoren offensichtlich nicht eingestehen wollten, daß sie Schiffbruch erlitten hatten, schrieben sie die falligen Berichte wie gewohnt. Die Instrukteurberichte über „individuelle Aussprachen" in zehn Leipziger Großbetrieben etwa waren so allgemein gehalten, daß der Bezirksvorstand des FDGB zu der Schlußfolgerung gelangte: „In keinem Bericht ist eine einzige Stellungnahme eines Arbeiters [...] enthalten. Alle Berichte enthalten allgemeine Feststellungen, die bereits in der Zeitung standen." 1 2 9 Vom 24. bis 29. Juni versuchten SED-Agitatoren in der SAG Bleichert in Leipzig ihr Glück. Hierüber liegt eine „Gesamteinschätzung" vor. 130 Die Situation im Betrieb war unmittelbar nach dem 17. Juni so explosiv, daß am 24. Juni zwei Instrukteure des ZK der SED den Agitatoren zu Hilfe eilten. Die Arbeiterschaft, so die „Gesamteinschätzung", begrüße zwar den Neuen Kurs, verhalte sich jedoch „noch mißtrauisch und abwartend", ob die versprochenen sozialen Verbesserungen auch realisiert würden. Die Belegschaftsangehörigen seien in Fragen der persönlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse „sehr offen", in politischen Fragen „jedoch zurückhaltend" gewesen, weil sie befürchteten, „schief zu liegen oder verhaftet zu werden." Das Verhältnis zwischen Betriebsparteiorganisation und Belegschaft sei gestört, weil die SED-Funktionäre mittels „Holzhammerpolitik" Partei- und Regierungsbeschlüsse durchgesetzt hätten. Die Beschäftigten verlangten eine öffentliche Erörterung ihrer Forderungen 126 SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953 und über die Ereignisse vor und nach dem 17.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, o.D. (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 174). 127 ZK der SED, Zusammenfassung der Stimmung, Vorschläge und Kritik der Werktätigen zur Erklärung des ZK der SED, vom 22.6.1953 (SAPMO-BArch, NY 4090/435, Bl. 50). 128 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig, Bericht Nr. 552 vom 25.6.1953, 2.55 Uhr (SAPMOBArch, DY 3 4 / 15/515h, 310). 129 Ebd. 130 Vgl. Gesamteinschätzung des Agitatoreneinsatzes in der SAG Bleichert vom 24.6. bis 29.6.1953, o.D., S. lf. (SächsStAL, SED IV/7.127/13).

424

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

auf Belegschaftsversammlungen; offensichtlich glaubten sie, in der Masse mehr erreichen zu können und Sanktionen weniger ausgesetzt zu sein. Der Bericht macht außerdem deutlich, daß die Agitatoren überfordert waren und sich in ihrer Haut nicht wohl fühlten, weil sie als Betriebsfremde nur Material für Stimmungsberichte sammeln, nicht aber „gründliche Überzeugungsarbeit in politischen Fragen" leisten konnten - von daher auch die Empfehlung, die Partei müsse „dafür sorgen" [...], daß innerhalb des Betriebes Agitatoren gefunden werden, die mit den betrieblichen Angelegenheiten vertraut sind und mit den Kollegen so erfolgreicher diskutieren können." Während die Belegschaft der SAG Bleichert mit den Parteiagitatoren zumindest noch unpolitische Fragen diskutiert hatte, verweigerten in anderen Betrieben die Arbeiter den Dialog völlig. Die Angehörigen der SAG ECW Eilenburg etwa lehnten Aussprachen mit Instrukteuren der SED-Kreisleitung „rundweg" ab. 131 Die Agitatoren befanden sich in diesen Tagen also in keiner beneidenswerten Lage. Vielfach erhielten sie für ihre „Arbeit mit den Massen" keine bzw. nur schematische oder bereits überholte Argumentationen. Ein Teil der Agitatoren hatte selbst Schwierigkeiten, die Beschlüsse der SED und deren ZickZack-Kurs zu vertreten. In den Diskussionen um die nächsten Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung herrschte völlige Verunsicherung. Funktionäre und SED-Mitglieder fragten sich nach der Ankündigung des Neuen Kurses und nach der 14. ZK-Tagung, ob es in der DDR überhaupt noch um den Sozialismus gehe; von diesem war in den Beschlüssen, Losungen und andere Verlautbarungen der Führungsspitze seit dem 6. Juni nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Am 6. Juni wies Ulbricht die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen an, „die Herausgabe aller Broschüren und Bücher über die 2. Parteikonferenz der SED und die Verwendung von Zitaten aus dem Referat, der Diskussion und dem Beschluß der 2. Parteikonferenz in der Presse, in Zeitschriften oder Versammlungen [...] ab sofort einzustellen". 132 Wissenschaftliche und öffentliche Bibliotheken waren verpflichtet, alle Dokumente der 2. Parteikonferenz unter Verschluß zu halten. Dies war „ohne Aufheben und Geschrei mündlich und streng vertraulich" ins Werk zu setzen. Daraufhin ordneten in der LOWA Görlitz nach dem 17. Juni zwei ZK-Instrukteure an, alle Losungen, die den Begriff „Sozialismus" enthielten, zu entfernen. 133 In Diskussionen von Karl-MarxStädter Parteifunktionären stand die Frage der deutschen Einheit an oberster Stelle; notfalls müsse dieses vereinigte Deutschland auch in Form einer Monarchie akzeptiert werden. 134 Auch die 14. ZK-Tagung verzichtete auf den Begriff „Sozialismus"; Leitbilder waren hier die „Schaffung eines wahrhaft vorbildli131 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 3 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/ 2/3/147). 132 Vgl. SED-GPL Wismut, An alle 1. Sekretäre, vom 6 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, WI V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 57). 133 SED-KL Görlitz, Bericht „Untergrundbewegung" vom 14.12.1953 (SächsHStA, I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 64). 134 Vgl. SED-BL Chemnitz, Bezirksparteiaktivtagung vom 3 0 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 2 / 3 , Bl. 38).

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

425

chen demokratischen Staates" zur Erhaltung des Friedens und der Herbeiführung der deutschen Einheit. Erst die 15. ZK-Tagung bezeichnete den Aufbau des Sozialismus in der DDR wieder als - nach wie vor - richtigen Weg. Das Phänomen des temporären Verzichts auf das Bekenntnis zum Sozialismus wurde auf der Tagung weder erwähnt noch geklärt. Mehr noch: Auf die Diskussionen an der Basis reagierte man nun mit der Behauptung, die schriftlichen Anweisungen zur Beseitigung sozialistischer Losungen seien „Fälschungen" und „Feindarbeit"; allenthalben war von einer gefälschten Unterschrift Axens die Rede. 135 Zu diesem vorübergehenden Verzicht auf den Sozialismus kam noch die Unsicherheit in Bezug auf die Person Ulbrichts. Bereits am 13. Juni vermerkte die SED-Leitung eines Leipziger Stadtbezirks: „In einigen Einrichtungen sind Anweisungen aufgetaucht, wonach die Bilder von Ulbricht, Pieck und Grotewohl zu entfernen sind." 136 Am 15. Juni wurden deshalb in einigen Leipziger Gaststätten diese Bilder entfernt. 137 In den Graphischen Werkstätten in Leipzig war beim Druck des „Sportechos" am 13. Juni auf Anweisung der Redaktion eine bereits gesetzte Seite gegen einen Ulbricht-Artikel ausgetauscht worden; außerdem wurde ein Druckauftrag „Sozialistische Architektur" zurückgezogen. 138 Da eine Begründung für diesen Kurswechsel fehlte, waren die Agitatoren völlig hilflos. Ein Teil verweigerte sich, andere referierten Zeitungsartikel vom Tage, die die „Massen" jedoch nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollten. Die „massenpolitische Arbeit" erfaßte auch den Feierabend. Bereits seit dem Mai 1953 bemühte sich die SED, Haus- und Hofgemeinschaften - „Stützpunkte der Nationalen Front" - zu bilden. Die örtlichen Parteileitungen betrieben für die Wahlen zu den Leitungen einen immensen Aufwand. Nach der Niederschlagung des Aufstands gerieten die Planungen völlig durcheinander: Viele Hausgemeinschaften verweigerten sich schlicht dem Dialog mit den Agitatoren. Am 19. Juni etwa mußten von 15 in einem Leipziger Stadtbezirk anberaumten Hausversammlungen zwölf mangels Besucher ausfallen. 139 In einem anderen Stadtbezirk fanden bis zum 14. Juli lediglich 224 von etwa 1000 geplanten Hausversammlungen - mit nicht mehr als jeweils drei bis vier Besuchern - statt. 140 In anderen Orten betrieben SED-Kreisleitungen einen größeren Aufwand. In Löbau beispielsweise war verfügt worden: „Um in den einzelnen Orten die 135 Vgl. BV für Staatssicherheit Chemnitz, An alle Kreisdienststellen der BV, 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-301, Bl. 81). 136 SED-Stadtbezirksleitung 1 Leipzig, Berichte, vom 1 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/_5/02/56). 137 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung 1 Leipzig, Bericht vom 15.6.1953 (SächsStAL, SED IV/5/02/56). 138 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung 1 Leipzig, Bericht vom 16.6.1953 (SächsStAL, SED IV/5/02/56). 139 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Aktennotiz, o . D . (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . 140 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Sekretariatssitzung vom 14.7.1953 (SächsStAL, SED IV/ 5/01/088).

426

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17. Juni

Durchführung der Wahlversammlungen zu garantieren, ist erforderlich, alle verfügbaren Kräfte aus Verwaltung, Wirtschaft, Parteien und Massenorganisationen zur Verfügung zu stellen." 141 Spezielle „Operativstäbe" zur Kontrolle der Wahlversammlungen wurden eingerichtet; der „operativen Unterstützung" diente ein „Kreiswahlaktiv". Am 17. Juni fanden an allen Orten des Kreises Löbau Referentenschulungen statt; der Einsatz der Stadt- und Betriebsfunkanlagen zur Propagierung der Wahlen wurde geregelt. Ungeachtet dessen ließ die „Wahlbewegung" für „die Lösung dieser großen Aufgabe" zu wünschen übrig. 142 Die Wahlversammlungen waren „sehr mangelhaft bzw. überhaupt nicht besucht." Bis zum 2. Juli waren im Kreisgebiet Löbau erst 120 Leitungen von 3 600 gewählt. Obwohl die Wahlen bis zum 15. Juli eigentlich abgeschlossen sein sollten, existierten am 20. Juli erst 191 Leitungen mit 553 Mitgliedern. 143 30 Prozent der Mitglieder von Hausgemeinschaftsleitungen gehörten der SED an, 2,8 Prozent der NPD, 2,6 Prozent der CDU, 2,1 Prozent der LDP, der Rest war parteilos. Die SED-Kreisleitung Löbau war mit den „bürgerlichen Parteien", die „keine aktive Mitarbeit entwickelten", unzufrieden. „Schleppende Arbeit" wurde vor allem in den größeren Orten kritisiert. Laut Vorgaben aus Ostberlin waren in Städten und Gemeinden Einwohner-, Dorf- und Bauernversammlungen sowie öffentliche Gemeindeverordnetensitzungen zur Popularisierung der Beschlüsse der 14. ZK-Tagung durchzuführen. Wie aufwendig hier geplant, vorbereitet und protokolliert wurde, illustriert das Beispiel des Kreises Löbau 144 : Eine Kreisagitationskommission unterwies elf „Agitationsstützpunkte" und zwei „Unterstützungspunkte" bei der Erarbeitung von Argumentationen zur „Zerschlagung der auftauchenden Feindgerüchte in den einzelnen Betrieben und Orten". In den wöchentlichen Sekretariatssitzungen der SED-Kreisleitung fand sich der Punkt „Massenstimmung" durchwegs auf der Tagesordnung. Hier wurden die Massenorganisationen „angeleitet", hier wurde „die Linie der Agitationsarbeit für die nächste Zeit festgelegt". In den Stützpunkten und den Betriebsfunkredaktionen führte die Kreisleitung Kontrollen durch. Sie verliefen allerdings nirgendwo zur Zufriedenheit. Am 23. Juni fand eine Agitatorenkonferenz des Kreises Löbau zur Propagierung der Beschlüsse der 14. ZK-Tagung statt. Sie war schlecht vorbereitet; beispielsweise fehlte „ein richtungsweisendes Referat", und der Raum war mit „überholten Losungen" ausgestaltet. Die Agitatoren waren in Erwartung einer „ganz konkrete[n] Anleitung nach einem bestimmten Schema" gekommen. Nach der Konferenz vermerkte die Kreisleitung, die „Qualifikation zum selbständigen Arbeiten [ist] bei dem größten Teil unserer Agit-Leiter noch nicht gegeben." 141 SED-Kreisleitung Löbau/Sa., Betr.: Informationsbericht Monat Juni 1953, vom 7.7. 1953, S. 1 (SächsHStA, SED I V / 4 / 0 9 / 0 8 5 ) . 142 Ebd., S. 3; das folgende Zitat ebd. 143 Vgl. SED-KL Löbau/Sa., Betr.: Monatsbericht Juli 1953, vom 27.7.1953, S. 3f. (SächsHStA, SED I V / 4 / 0 9 / 0 8 5 ) ; die folgenden Zitate ebd. 144 SED-KL Löbau/Sa., Informationsbericht Monat Juni 1953, 7.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 4 / 0 9 / 0 8 5 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

427

Obwohl der Apparat Versammlungen mit enormem Aufwand vorbereitete, waren häufig unplanmäßige Vorkommnisse zu verzeichnen; so beispielsweise in einer öffentlichen Gemeindeverordnetensitzung und einer Einwohnerversammlung in Oberoderwitz, Kreis Löbau. Die Angelegenheit erschien so wichtig, daß sogar das ZK ausführlich unterrichtet wurde. 145 Die Gemeindeverordneten des genannten Ortes sollten auf Anweisung des Rates des Kreises am 14. Juli in einer öffentlichen Sitzung über die Realisierung der Ministerratsbeschlüsse vom 11. und 25. Juni berichten. Erschienen waren etwa 200 Einwohner. Diese jedoch wollten „ihre Fragen" diskutieren, in erster Linie ihre Vorstellungen über die Neubesetzung des Bürgermeisteramtes. Der Bürgermeister war in Oberoderwitz lange von der LDP gestellt worden, bevor 1953 erstmals ein der SED angehöriger Bürgermeister eingesetzt worden war. Den Amtsvorgänger hatte angeblich die eigene Partei „wegen Nachlässigkeit" abberufen. Am 16. Juni 1953 gab es die ersten öffentlichen Auseinandersetzungen und Forderungen nach Entfernung des SED-Bürgermeisters aus dem Amt. Der Sitzungsbericht hielt fest: „Unter der Bevölkerung war die Stimmung, den Bürgermeister durch Diskriminierung unmöglich zu machen, und die übergeordnete Instanz zu zwingen, den Bürgermeister seiner Funktion zu entheben." In der öffentlichen Gemeindeverordnetensitzung erhoben die Dorfbewohner dann konkrete Anschuldigungen gegen den Bürgermeister, sie seien angeblich von „einer bestimmten Gruppe, die ein Interesse daran hat, den Bürgermeister [...] auszubooten", vorgebracht worden „Als die sensationslüsternen Einwohner erkannten, daß sie nicht mehr auf ihre Rechnung kommen, und die Provokateure sahen, daß ihre Argumente von [...] vier Diskussionsrednern zerschlagen wurden, verließen sie, nachdem sie die Durchführung einer Einwohnerversammlung mit Vertretern des Rates des Kreises gefordert hatten, demonstrativ den Saal." Nach viereinhalb Stunden wurde die Sitzung geschlossen. Zwei Tage später fand die geforderte Einwohnerversammlung statt, an der etwa 600 Dorfbewohner teilnahmen. Die starke Beteiligung erschien dem Berichterstatter, einem politischen Mitarbeiter des Kreisausschusses der Nationalen Front, in diesem Falle äußerst verdächtig. Die Funktionäre erkannten, daß das rege Interesse nicht als Ergebnis guter Agitationsarbeit der SED oder der Nationalen Front gewertet werden konnte. Laut Bericht hatten die „negierenden Kräfte des Ortes [...] einen erheblichen Teil der Bevölkerung [...] mobilisiert, so daß der größte Saal des Ortes bis auf den letzten Stehplatz gefüllt war. Selbst die Saalfenster wurden geöffnet, da sich eine Menschenmenge außerhalb des Saales befand, die keinen Zutritt mehr erhalten hatte. Es steht einwandfrei fest, daß jahrelang ein derartiger Versammlungsbesuch nicht mehr zu verzeichnen gewesen ist." Anwesend waren als Gäste: ein Sekretariatsmitglied der SED-Kreisleitung, der Vorsitzende des Rates des Kreises Löbau mit

145 Vgl. Nationale Front, Kreisausschuß Löbau, Betr.: Öffentliche Gemeindeverordnetensitzung am 14.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 238f.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 238.

428

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

allen hauptamtlichen Räten und mit einigen Abteilungsleitern und Vertreter des Kreisausschusses der Nationalen Front. Mit Beifall seien diese Gäste nicht begrüßt worden; man habe sie vielmehr „diskriminiert und provoziert" 146 ; ihre Diskussionsbeiträge wurden „durch Pfeifen, Johlen, Fußgetrampel und Gelächter unterbrochen und gestört". Eine Einwohnerin warf den Funktionären im Präsidium vor, sie seien „alle miteinander [...] zu faul zum Arbeiten". Die Einwohner wiederholten ihre Forderung, den früheren LDP-Bürgermeister wieder einzusetzen und die für den schlechten Zustand der Felder - einige waren verwahrlost, einige Hektar Mohn, Rüben und Getreide waren einfach umgebrochen worden - verantwortlichen Funktionäre zu bestrafen. Der Berichterstatter mußte eingestehen, daß „nicht ein verantwortlicher Mitarbeiter der Verwaltung selbstkritisch an die aufgeworfenen Probleme herangegangen" sei, obwohl die Einwohnerversammlung unter dem Motto „Kritik und Selbstkritik entfalten, hilft unseren Staat erhalten" gestanden habe. Er konzedierte auch, daß sich der amtierende SED-Bürgermeister „Dinge erlaubt hat, die er unterlassen mußte, und die der bestimmte Kreis in Oberoderwitz als Mittel zum Zweck benützte". Der Vorsitzende des Rates des Kreises sah sich „genötigt, den Bürgermeister mit sofortiger Wirkung seiner Funktion zu entbinden". Er wurde „mit Schimpf und Schande davongejagt". Hierzu der Bericht: „Es ging hier nicht um die Person des Bürgermeisters, sondern um die SED." Nachfolger sollte ein NDP-Mitglied werden. Die Forderung der Einwohner nach Wiedereinsetzung des alten LDP-Bürgermeisters wurde einfach ignoriert. Aus der Versammlung heraus wurde der Vorschlag gemacht, eine Kommission zur Untersuchung der Mißwirtschaft auf staatlichen Gütern zu wählen: „Die Kommission setzt sich aus Einwohnern zusammen, die wohl landwirtschaftliche Kenntnisse besitzen, aber nicht unparteiisch sind. Ich schlage deshalb vor, daß von einer übergeordneten Instanz die Zustände in Oberoderwitz untersucht und analysiert werden und die tatsächlich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden". Auch in Großröhrsdorf, Kreis Bischofswerda, fand am 9. Juli auf Einladung des Rates des Kreises und der Nationalen Front eine Einwohnerversammlung statt. 147 Die SED-Kreisleitung Bischofswerda erwartete aufgrund der Diskussionen in der Bevölkerung eine Auseinandersetzung zwischen dem SED-Bürgermeister und den Einwohnern. Sie bereitete deshalb die Versammlung besonders sorgfältig vor und traf in Kooperation mit dem VPKA und der Kreisdienststelle für Staatssicherheit umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen. Die Ortsparteiorganisation war angewiesen, im Versammlungsraum die erste und letzte Stuhlreihe zu besetzen; „zu jeder auftretenden negativen Diskussion" sollte ein „Genosse" Stellung nehmen. Der Andrang am Versammlungsabend war so groß, daß der ursprünglich vorgesehene Raum nicht ausreichte 146 Ebd., Bl. 239; die folgenden Zitate ebd. 147 Vgl. SED-KL Bischofswerda, Einschätzung der am 9. Juli 1953 in Großröhrsdorf stattgefundenen Einwohnerversammlung, vom 10.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 74f.); das folgende Zitat ebd., Bl. 74..

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

429

und die geplante Sitzordnung völlig durcheinandergeriet. Der Ausweichraum, ein Saal in der Gaststätte „Zum grünen Baum", konnte die heranströmenden Massen ebenfalls nicht fassen. Der völlig überfüllte Raum wurde von der Volkspolizei geschlossen, ca. 3 0 0 Personen fanden keinen Platz. Etwa 1 800 Personen harrten im Saal der kommenden Ereignisse. 1 4 8 Auch Einwohner aus Nachbargemeinden waren gekommen. Die Kreisleitung der SED war über diesen großen Zuspruch ganz und gar nicht erfreut, sondern argwöhnte, der starke Besuch sei „vom Gegner organisiert". 1 4 9 Ein „Genosse" hielt auf der Grundlage einer Rededisposition der Kreisleitung das Referat; auf die örtlichen Diskussionen und Probleme ging dieses nicht ein. Danach wurde sofort die „gegnerische Diskussion" eröffnet. Zwei Anwesende, ein früherer Berufsschullehrer und ein Buchhalter, führten „einzelne Abschnitte der Verfassung der D D R " ins Feld, sie kritisierten den Bürgermeister wegen mangelnder Kompetenz und Sachlichkeit und nahmen auch gegen das Eingreifen der sowjetischen Besatzer in innere Angelegenheiten der D D R Stellung - Beiträge, die der Berichterstatter als „Haß gegen den Fortschritt, gegen unsere Regierung, gegen den Bürgermeister und gegen die Sowjetunion" etikettierte. Die Anwesenden hielten dem Bürgermeister u.a. die Nichtausgabe von Lebensmitteln entsprechend den Verordnungen, seine Beihilfe zu den Verhaftungen und sein strenges Durchgreifen bei der Erfassung der landwirtschaftlichen Betriebe vor. Der Vorsitzende des Rates des Kreises gab später zu, die Kritik sei „teilweise berechtigt" gewesen. 1 5 0 Die Diskussion habe sich ausschließlich mit der Ablösung des Bürgermeisters beschäftigt; darüber hinaus habe man zum Ausdruck gebracht, daß auch den anderen Staatsfunktionären bis zur Regierung „kein Vertrauen zu schenken" sei. Indes verhinderten die Vertreter der SED-Kreisleitung die Absetzung des Bürgermeisters und die Neuwahl eines Nachfolgers aus der Versammlung heraus. 1 5 1 Später veranlaßte die Partei, daß der umstrittene Bürgermeister unverzüglich beurlaubt und der Stellvertreter, ein CDU-Mitglied, mit der Führung der Geschäfte beauftragt wurde. Die Berichterstatter der Partei gaben zu, Großröhrsdorf sei kein Einzelfall gewesen. 152

148 Vgl. Rat des Kreises Bischofswerda, An den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Situationsbericht Nr. 3, vom 17.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 2 3 6 ) . 149 SED-KL Bischofswerda, Situationsbericht über die Vorkommnisse im Kreis Bischofswerda, besonders in Großröhrsdorf am 9. Juli 1953, vom 1 0 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 221); die folgenden Zitate ebd. 150 Vgl. Rat des Kreises Bischofswerda, An den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Situationsbericht Nr. 3, vom 17.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 236). 151 Vgl. SED-KL Bischofswerda, Einschätzung der am 9. Juli 1953 in Großröhrsdorf stattgefundenen Einwohnerversammlung, vom 10.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 75). 152 Vgl. SED-KL Bischofswerda, Situationsbericht über die Vorkommnisse im Kreis Bischofswerda, besonders in Großröhrsdorf am 9. fuli 1953, vom 10.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 221).

430

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

Im Bezirk Dresden gab es eine Häufung solcher „negativer" Versammlungen. Ähnliche Berichte wie aus Bischofswerda und Löbau liegen aus allen Kreisen vor; sie lassen darauf schließen, daß die Zusammenkünfte stürmisch und bewegt verliefen. Vor allem in den Bauernversammlungen hagelte es unverblümte Kritik. Der Rat des Kreises Bischofswerda beispielsweise verfügte, daß immer mehrere Mitarbeiter den Versammlungen beizuwohnen hätten. 153 Diese notierten etwa: „Die Einwohner geben sich nicht mehr mit Erklärungen zufrieden." „Die Einwohner glauben, daß sie jetzt alles, was sie wünschen, erhalten können." 1 5 4 „In Bauernversammlungen und sonstigen Zusammenkünften werden die kühnsten Forderungen gestellt unter dem Motto: Die Zeit der Forderungen ist angebrochen." 155 Vehementen Angriffen sahen sich insbesondere die Mitglieder der SED und die Gemeindevertretungen ausgesetzt. Ein Situationsbericht aus dem Kreis Bischofswerda vom 4. Juli stellt eingangs fest: „Bei der Teilnahme an Gemeindevertretersitzungen [...] macht sich immer mehr bemerkbar, daß gewisse Zersetzungserscheinungen innerhalb der Parlamente, und, was von besonderer Wichtigkeit ist, auch innerhalb unserer Gemeindevertreter der SED, auftreten." 1 5 6 In einer Gemeinde dieses Kreises fiel die von der Kreisleitung vorgesehene SED-Bürgermeisterin in einer geheimen Abstimmung durch. 157 Die Versammlungen in den ersten Tagen und Wochen nach dem 17. Juni hatten gezeigt, daß das Volk bereit war, die Probleme offen zu benennen. In der Regel liefen die Zusammenkünfte aber nach Drehbuch ab. Sie sollten in „Vertrauensbeweise" für SED und Regierung münden. Zwar waren Diskussionen und Forderungen dann tatsächlich, wie vom ZK auf der 14. Tagung unter dem Schock der Ereignisse verlangt, „kühn und offen". Partei- und Staatsfunktionäre zeigten sich jedoch außerstande, ebenso „offen und kühn" zu antworten und hielten sich eher an die - ebenfalls auf der 14. Tagung verkündete Weisung, die „unrichtigen Auffassungen ehrlicher Arbeiter" seien zu überwinden, wenn sie nicht die Versammlungen überhaupt als „Feindarbeit" einstuften. So verstummten die offenen Diskussionen nach und nach. Sehr schnell stellte sich auch die Angst, wegen „feindlicher" Reden verhaftet zu werden, wieder ein, weil zeitgleich mit diesen Bemühungen der Parteileitungen um die „Massen" Listen mit „Rädelsführern" und „Provokateuren" erstellt wurden.

153 Vgl. Rat des Kreises Bischofswerda, An den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Situationsbericht Nr. 3, vom 17.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 235). 154 Rat des Kreises Bischofswerda, Aktennotiz: Gemeindevertretersitzung am 3 . 7 . 1 9 5 3 in Großhähnichen mit anschließender Bauernversammlung (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 195f.). 155 Rat des Kreises Bischofswerda, An den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Situationsbericht Nr. 3, vom 17.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 2 3 5 ) . 156 Rat des Kreises Bischofswerda, Situationsbericht vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (SächHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 187). 157 Vgl. Rat des Kreises Bischofswerda, Aktennotiz: Gemeindevertretersitzung am 3.7. 1953 in Großhähnichen mit anschließender Bauernversammlung (SächsHStA, SED IV/ 2 / 1 3 / 0 0 6 , Bl. 195f.).

Die Verstärkung der „massenpolitischen Arbeit"

431

Dennoch sind in der „massenpolitischen Arbeit" der ersten Wochen nach dem 17. Juni gewisse Unterschiede zwischen den Bezirksparteileitungen nicht zu verkennen. So wurden in Betrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt Forderungen nach Überprüfung der Lohngruppen und der Ortsklassen, nach Angleichung der Löhne in volkseigenen und privaten Betrieben und nach Erleichterungen in den Wismut-Sondergebieten nicht von vornherein als „feindliche oder RIAS-Propaganda" abgestempelt, sondern als „berechtigter Diskussionsstoff" akzeptiert. 158 Der 1. Sekretär der Bezirksleitung suchte beispielsweise Erleichterungen für Besuche im Wismut-Sperrgebiet zu erwirken 159 und unterbreitete der Leitung der SAG Wismut etliche von der Bevölkerung diskutierte Vorschläge. In anderen Fragen, z. B. der der Ortsklassentarife, sahen die KarlMarx-Städter Parteifunktionäre gesamtstaatlichen Handlungsbedarf. Sie leiteten aus diesem Grund der SED-Führung, der Regierung und dem FDGBBundesvorstand einen Forderungskatalog der „Werktätigen [...] aus allen Betrieben des Bezirkes" zu. 1 6 0 Im Vordergrund standen Vorschläge bezüglich Lohn- und Gehaltsfragen und Preissenkungen im Handel. An diesen wurde auch dann noch festgehalten, als die vom 23. bis 27. Juni im Bezirk Karl-MarxStadt eingesetzte Instrukteurbrigade des ZK berichtete, die Funktionäre der Industriegewerkschaften und der BGL wichen oft vor den „unberechtigten und unrealen Forderungen in den Betrieben" zurück. 161 Der Bezirksvorstand des FDGB Karl-Marx-Stadt etwa unterbreitete dem FDGB-Bundesvorstand am 17. Juli einen umfangreicheren Forderungskatalog, in dem u.a. kritisiert wurde, daß Betriebsleiter Arbeitsverhältnisse aufgrund des Austritts aus der SED oder „nicht parteimäßiger Haltung" am 17. Juni gekündigt hatten. 162 Die Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt benannte als Grund für Arbeitsniederlegungen „in fast allen Fällen" die „Vernachlässigung und Nichtbeachtung berechtigter Kritik und Forderungen der Belegschaft verschiedener Betriebe" 163 - eine Bewertung, die sie sich offenbar leisten konnte, weil es in ihrem Bezirk am 17. Juni relativ ruhig geblieben war. Im Bezirk Leipzig wurden die Klagen über die schlechten Lebensverhältnisse und die sozialpolitischen Forderungen aus allen Schichten der Bevölkerung schon bald wieder als „Feind- und RIAS-Propaganda" abgetan. Zwar bekundete Fröhlich nach der 14. ZK-Tagung, „Lehren aus der Vergangenheit ziehen" zu wollen. 164 Dies hieß: „Die Beschlüsse der Partei werden wir nur 158 Vgl. SED-BL Chemnitz, Monatsbericht der BPKK für den Monat Juni, S. 1 0 - 1 2 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) . 159 Vgl. ebd., S. 11. 160 Vgl. ZK der SED, Bemerkungen zu unserem Instrukteureinsatz im Bezirk Chemnitz vom 23. bis 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 321). 161 Ebd., Bl. 319. 162 Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Chemnitz, Analyse über die Ereignisse vom 17.6.17.7.1953, S. 1 3 - 3 0 (SAPMO-BA, FDGB-Buvo, A 563); das Zitat ebd., S. 25. 163 Vgl. SED-BL Chemnitz, Bericht über die fünf gestellten Fragen, o.D., S. 1 (SächsStAC, SED I V / 2 / 5 / 3 ) . 164 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 ) .

432

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17, Juni

durchsetzen können, wenn wir in engster Verbindung zur Masse stehen, wenn wir also das Ohr an der Masse haben, alles das, was in der Masse zum Ausdruck kommt, sorgfältig analysieren, die nächst höheren Parteileitungen informieren, um daraus die Lage einzuschätzen. Man muß so darauf reagieren oder so darauf reagieren." Wenige Wochen später bezeichnete das Sekretariat der Bezirksleitung Leipzig unter Fröhlich Beschäftigte, die in Belegschaftsversammlungen äußerten, die Arbeiter im Westen lebten besser als in der DDR, als „Provokateure". 165 Fröhlich kritisierte die Parteileitungen, die über Preissenkungen und Versorgungsmängel diskutierten, sie hätten „noch nicht genügend die Lehren aus den Ereignissen des 17. Juni gezogen"; sie seien „Argumenten, die vom Feind organisiert werden, nicht kämpferisch entgegentreten" und ließen sich „von der Massenstimmung treiben". So sei die Aufforderung, das „Ohr an der Masse" zu haben, nicht gedacht gewesen. Andererseits war ihm bewußt, daß die „starke HO-Preis-Diskussion" für die Funktionäre ein Problem darstellte. „Wir dürfen keinen Fehler machen und den Arbeitern nun sagen, daß wir gegen eine Preissenkung sind, das wäre grundfalsch. Das würde den Zorn der Arbeiter hervorrufen [...]. Wir sind dafür, daß die Preise gesenkt werden, daß es Maurersocken gibt. Aber das muß gemeinsam mit der Initiative der Arbeiter erreicht werden. Wir müssen aber auch die Frage stellen: ,Bist Du ohne Senkung der Preise und ohne Maurersocken bereit, die Arbeiter- und Bauern-Macht in der DDR zu verteidigen?'" 1 6 6 Anfang Juli mußten die regionalen und lokalen SED-Leitungen eingestehen, daß die ebenso personalintensiven wie zeitaufwendigen Aktionen zur Gewinnung der „Massen" kaum Erfolge gezeitigt hatten. Am 7. Juli resümierte die Stadtleitung Leipzig: „Der größte Teil der Arbeiter, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz nimmt noch eine abwartende Haltung ein. Die Diskussionen sind kritisch und beschäftigen sich mit Preissenkungen, Lohnfragen, Gemüseversorgung usw. Die politischen Fragen, besonders die Hintergründe des faschistischen Putsches treten mehr in den Hintergrund." 167 Aufgebracht zeigten sich die Leipziger SED-Funktionäre darüber, daß die Arbeiter „so viele Versammlungen" nicht guthießen; man wolle „sozusagen den Klassenkampf in Filzpantoffeln führen". Mitte Juli vermerkt das Protokoll einer Sekretariatssitzung der Kreisleitung Leipzig-Stadt: „Das Sekretariat erkannte in den Diskussionen in den Betrieben, daß die Lage in der Bevölkerung viel ernster ist, als sie eingeschätzt wird." 168 Ähnlich negativ fiel die Bilanz im Bezirk Dresden aus. Die Bezirksleitung registrierte zwar Anfang Juli „eine breite Aufklärungsarbeit" in den SED-Ver-

165 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 3 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED, I V / 2 / 3/147); die folgenden Zitate ebd. 166 SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 147). 167 Ebd. 168 SED-KL Leipzig-Stadt, Sekretariatssitzung vom 14.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 01/088).

Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni

433

anstaltungen und Belegschaftsversammlungen 169 , bemängelte jedoch zugleich, in den Diskussionen stünden nach wie vor die Fehler von Partei und Regierung und zu wenig die „nächsten Aufgaben" im Mittelpunkt. Kritisiert wurde vor allem die Zurückhaltung der „Genossen" in den Kreisen, wo es „zu größeren Provokationen" gekommen war. Die „Genossen", so der Vorwurf, traten nicht entschlossen und konsequent genug gegenüber unberechtigten Forderungen auf, weil sie sich „noch nicht ihrer Kraft und der Kraft der Partei bewußt" seien.

4.

Die P a r t e i o r g a n i s a t i o n e n u n m i t t e l b a r n a c h d e m 17. Juni

Die Partei mußte „um jeden Preis [...] aus der Defensive" herausgeholt werden; der Apparat erachtete dies als Voraussetzung für die „Mobilisierung der Massen". 1 7 0 Die Ausgangsbedingungen an der Basis waren hierfür allerdings alles andere als günstig, selbst dort, wo am 17. Juni keine oder kaum Proteste gegen die Politik der SED zu verzeichnen gewesen waren. Nach der Niederschlagung des Aufstandes zeigten sich zunächst zaghafte Ansätze zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme in der Partei, ohne daß die wirklichen Ursachen für deren desolaten Zustand benannt worden wären. Hierzu war die Führung weder willens noch imstande; schließlich war sie überzeugt, mit dem Marxismus-Leninismus die einzige wissenschaftliche Theorie zum Aufbau einer neuen Gesellschaft zu besitzen und deshalb im Prinzip unfehlbar zu sein. Eingestanden wurden bestenfalls „Überspitzungen" und Fehler in der Umsetzung. Hier benannte das ZK die folgenden Ursachen: ernste Schwächen in der ideologischen Erziehungsarbeit, nicht ausreichende Erforschung der Massenstimmung, mangelnde Verbindung der Partei zu den Massen, bürokratischer Arbeitsstil, falsche Methoden des Administrierens und des Zwangs, falsches Berichtswesen (Schönfärberei), mangelnde Wachsamkeit, Rückgang an Aktivitäten, Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit vieler Parteikader. 171 Die Schuld für das Versagen der Partei am 17. Juni suchten die Leitungen darin, daß das ZK „nicht unmittelbar auf die Ereignisse am 16.6." reagiert habe und die Partei „ungerüstet" geblieben sei. 172 Die Leipziger Funktionäre

169 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 24 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 170 „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Beschluß des ZK der SED vom 21. Juni 1953 (14. Tagung). In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 4 3 6 - 4 4 5 . Vgl. a zur Auswertung des 14. Plenums: Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 211 f. 171 Vgl. ZK der SED, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16.-22.6.1953, vom 20.7.53 (SAPMOBArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 4 6 , Bl. 30ff.). 172 Ebd., Bl. 44.

434

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

etwa warfen dem ZK vor, es habe die Partei nicht „auf die mit der Durchführung des Beschlusses zwangsläufig eintretenden Zuspitzung des Klassenkampfes" vorbereitet und am 17. Juni versäumt, „rechtzeitig über die Ereignisse in Berlin zu unterrichten" und „vorbeugende Maßnahmen gegen die Provokation" zu treffen. 173 Ob jedoch Informationen über die Ostberliner Ereignisse allein eine Ausbreitung des Aufstandes in den Bezirken Dresden und Leipzig verhindert hätten, ist angesichts der Volksstimmung vor dem 17. Juni zweifelhaft. Auch die Beschreibungen des Zustands der Partei in den Betrieben lassen daran zweifeln, daß allein eine rechtzeitige „Mobilisierung der SED" Proteste verhindert hätte. Ein Vergleich der Situationsschilderungen der Bezirksparteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni macht gewisse Unterschiede sichtbar. Am deutlichsten kritisierte die Bezirksleitung Dresden den Zustand der SED. 174 Hier war die Handschrift so prominenter „Genossen" wie Fritz Selbmann und Elli Schmidt, die zur Unterstützung der Bezirksleitung aus Ostberlin nach Dresden gekommen waren, erkennbar. Die Dresdner Funktionäre bemängelten, daß am 17. Juni viele Parteiorganisationen in den Betrieben „hilflos und z.T. geradezu kopflos den Dingen" gegenübergestanden hätten. Ein „sehr ernstes Signal in der Frage der Geschlossenheit [...] der Partei" sei darin zu sehen, daß „wesentliche Teile der Parteimitgliedschaft" eine „passive und schwankende Haltung" eingenommen hätten, „noch schlimmer, daß viele Parteimitglieder und Kandidaten in diesen Stunden fahnenflüchtig" geworden seien. Das „Hauptkontingent dieser Fahnenflüchtigen stellten die Angestellten in den Betriebsverwaltungen und Büros." 175 Die Leipziger Funktionäre bescheinigten „den Parteileitungen in den Großbetrieben im Bezirk [...] bis auf wenige Ausnahmen eine kämpferische Haltung gegenüber den faschistischen Provokateuren." 176 Lediglich in den „kleineren Betriebsparteiorganisationen" hätten „Erscheinungen von Zurückweichen, Kapitulantentum und offener feindlicher Handlungen der Parteileitungen" überwogen. Dennoch hätten etwa drei Viertel der SED-Mitglieder in den Großbetrieben, die die Arbeit niederlegten, gleichfalls am Streik teilgenommen („etwa ein Viertel" 177 der Parteimitglieder habe sich nicht an den Protesten beteiligt: Diese ins Positive gewendete Feststellung zog man der Formulierung vor, die „Genossen" seien mehrheitlich in die Streikaktionen einbezogen gewesen). „Nur ein kleiner Teil" dieses Viertels jedoch sei gegen die „Ausschrei173 SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o. D„ S. 15 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) . 174 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 175 Ebd., S. 5f. 176 SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 17 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) ; das folgende Zitat ebd. 177 Ebd., S. 18; die folgenden Zitate ebd.

Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni

435

tungen" aufgetreten; „der überwiegende Teil der Parteimitglieder nahm eine mehr oder weniger schwankende Haltung ein, während sich ein geringer Teil als Feinde entlarvte." In den bestreikten Privatbetrieben hätten auch die Parteiorganisationen am Streik teilgenommen. An anderer Stelle hieß es, die SEDMitglieder in den mittleren und kleineren Betrieben hätten sich „bis auf wenige Ausnahmen nicht von der übrigen Belegschaft unterschieden" und offen an feindlichen Handlungen teilgenommen. Die Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt bescheinigte sich, „sofort die Initiative" ergriffen zu haben, „um alle Regungen des Klassenfeindes im Keime zu ersticken. An einigen Brennpunkten wurden auf Grund vorliegender Signale, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften, durch Agitationseinsätze usw. entsprechende Herde beseitigt [...]. Es standen überall genügend Genossen zur Verfügung, um die Situation zu beherrschen. Die Lage zeigt, daß die Partei im Bezirk Chemnitz kampffähig war." 1 7 8 Im selben Atemzug jedoch berichtete die Bezirksleitung über „einige wesentliche Schwächen", z. B. über „Schwankungen und Passivität in einzelnen Parteiorganisationen"; in „einer Anzahl Grundorganisationen versagten die Parteisekretäre, Funktionäre sowie Leitungen", „unter einem Teil der Mitglieder seien Erscheinungen wie Sozialdemokratismus, Versöhnlertum und größere Passivität" aufgetreten. Auch von „parteifeindlichen Tendenzen" war die Rede; gemeint waren negative Äußerungen und Parteiaustritte. Vom 23. bis zum 27. Juni im Bezirk Karl-Marx-Stadt anwesende Instrukteure des ZK notierten: „Die Lage im Bezirk ist augenblicklich so, daß man von einem wirklich offensiven Auftreten der Partei sprechen kann." 1 7 9 Noch positiver fiel der „Bericht der Gebietsparteikontrollkommission Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern" vom 26. Juni aus: 1 8 0 Die Parteiorganisation habe bereits am 17. Juni „die Führung fest in der Hand" gehabt; „offene, feindliche Betätigung von Mitgliedern unserer Partei zeigte sich in ganz geringen Fällen." Es liege allerdings auch „bereits eine große Anzahl von Signalen über parteischädigendes und negatives Verhalten von Parteimitgliedern" vor. Ähnlich positiv fiel die „Analyse über das Verhalten der Parteiorganisation Wismut in den kritischen Tagen der faschistischen

178 SED-BL Chemnitz, Bericht über die Lage im Bezirk Chemnitz nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, vom 27.6.1953, S. 2 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) ; die folgenden Zitate ebd. 179 In den Archiven wurde bisher keine „Analyse" der SED-BL gefunden, dafür ein sehr umfangreicher „Bericht über die Lage im Bezirk Chemnitz nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK" vom 27.6.1953 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . 180 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht der GPKK Wismut über die Entwicklung der faschistischen Provokationen im Gebiet der PO Wismut und das Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern, vom 2 6 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , BI. 579-585); die folgenden Zitate ebd., Bl. 580 und Bl. 582.

436

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

Provokation" vom 30. Juli aus. 181 Demnach hatte „die Parteiorganisation Wismut von Anbeginn die Dinge in der Hand". Sie führte „Maßnahmen" durch, „bevor die sich in der Wismut-AG befindlichen Agenten ihre zweifellos vorbereiteten Aktionen auslösen konnten." Zur Arbeit der Gebiets-, Kreis- und Objektparteileitungen und zum Verhalten der „Genossen" in diesen Leitungen vermerkte der Bericht, sie sei bis auf wenige Ausnahmen, „vorbildlich" gewesen. Gleichzeitig wurde jedoch eingeräumt, die „meisten Kreis- und Objektparteileitungen im Gebiet der Wismut-AG" seien „nicht solchen hohen Belastungsproben ausgesetzt [gewesen] wie [...] in anderen Betrieben und territorialen Bezirks- bzw. Kreisleitungen". Die Bezirksleitungen Dresden und Leipzig meldeten bereits unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes eine Erhöhung „der Kampfkraft", benannten hierfür jedoch unterschiedliche Ursachen. Die Dresdner Leitung behauptete, bereits am 18. und 19. Juni sei eine „gewisse Festigung der Parteiorganisationen und der Parteileitungen" eingetreten. 182 Am 19. Juni vermerkte die Bezirksleitung Dresden, die Betriebsparteiorganisationen hätten sich, obwohl die „Aufklärungsarbeit noch nicht mit der notwendigen Gründlichkeit durchgeführt worden" sei, in „ihrer Mehrzahl" von „ihrer anfänglichen Unsicherheit befreit" und seien „sowohl ideologisch als auch organisatorisch gewachsen". 183 Anders als die Leipziger Funktionäre hefteten sich die Dresdner diesen Wandel nicht an ihre Fahne; sie machten „in erster Linie" hierfür „die militärischen Maßnahmen" verantwortlich 184 und warnten vor einer Überschätzung der eigenen Kräfte: „Deshalb ist es notwendig, allen Auffassungen innerhalb der Parteiorganisationen, daß wir auch ohne das Eingreifen der Sowjetmacht, ohne Verhängung des Ausnahmezustandes mit dem faschistischen Überfall fertig geworden wären, entschieden entgegenzutreten. [...] Die vorbehaltlose Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundvoraussetzung für die Wiederherstellung der Kampfkraft der Partei und ihrer Entwicklung auf eine solch hohe Stufe, die eine Wiederholung einer solchen Provokation von vornherein aussichtslos macht." 185 Diese Wertung läßt deutlich Selbmanns Handschrift erkennen; er hatte auf der Parteiaktivtagung am 21. Juni in Dresden nachdrücklich vor der Illusion gewarnt, die SED hätte ohne die „militärische Kraft der Besatzungsmacht [...] allein" mit dem Aufstand fertig werden 181 Vgl. SED-GPL Wismut, Analyse über das Verhalten der Kreis- und Objektparteileitungen in der Parteiorganisation Wismut in den kritischen Tagen der faschistischen Provokation, vom 30.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 2 , Bl. 185-188); die folgenden Zitate ebd., Bl. 185f. 182 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 6 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 183 SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17.6. bis 19.6.1953, vom 19.6.1953, S. 5 (SächsStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) . 184 Ebd. 185 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 6 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) .

Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni

437

können. 1 8 6 Offenbar ahnte die Bezirksleitung, daß die unter dem Schutz sowjetischer Panzer „gewachsene Kampfkraft" in kritischen Situationen keinen Bestand haben werde. Was nützte auch eine sich lediglich in parteiinternen Diskussionen, Zustimmungserklärungen und Treueschwüren manifestierende „Festigung" der SED, wenn die „ideologische Offensive" und die Wiederherstellung der führenden Rolle der Partei auf sich warten ließen. Am 20. Juni berichtete die Bezirksleitung an das ZK, die Partei sei zwar „wesentlich aktiver" geworden, das „Charakteristische" der Situation bestehe jedoch darin, daß „die Genossen Diskussionen mit den Arbeitern führen", aber auf ihre Argumente „fast nie eine Antwort erhalten" und sich „der größte Teil der Arbeiter auf keine Diskussion einläßt". 1 8 7 Aus Leipzig wurde am gleichen Tage berichtet, zwar nähmen die Aktivitäten zu, man könne jedoch noch nicht davon sprechen, daß „eine generelle Mitarbeit der Partei vorhanden ist." 1 8 8 Um sich einen Überblick zu verschaffen, forderte die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt von den Stadtbezirksleitungen bis zum 23. Juni Analysen über den „Festigkeitsgrad der Partei" an. 1 8 9 Die Stadtbezirksleitungen gaben den Auftrag an die Betriebsparteileitungen weiter. Aus der SAG Bleichert beispielsweise wurde berichtet, „15 Prozent aller Genossen" stünden „entschlossen auf dem Boden der Partei", fünf Prozent seien als „negative Elemente" aufgetreten, die übrigen seien „als schwankende Genossen" anzusehen. Über die 120 Mitglieder der BPO der ABUS-Stahlbau und Verzinkerei Leipzig fand die Parteileitung heraus, daß sich 35 als „parteiverbundene Genossen für die Beschlüsse der Partei aktiv einsetzten"; 82 seien „schwankende Genossen, die nicht diskutieren und wenig als Genossen hervortreten", drei seien als „parteifeindliche Mitglieder" einzustufen, die sich an „staatsfeindlichen Handlungen beteiligten, indem sie mit den Streikenden den Betrieb verlassen haben". Das Schwanken der Mehrheit sei „in erster Linie auf ideologische Unklarheiten" zurückzuführen, es bestehe durchaus die Möglichkeit, daß „der größte Teil von diesen als aktive Mitglieder der Partei erzogen werden könne". Von den 243 Mitgliedern und Kandidaten der SED im VEB Leipziger Baumwollspinnerei wurden 85 als „parteiverbunden", 137 als „schwankende" und 21 als „parteifeindliche Mitglieder" eingestuft. Letztere hatten „die Forderungen der Streikenden unterstützt", zumal die nach einer Versammlung. Die „Schwankenden" hatten gegenüber diesem Ansinnen „keinen konkreten parteilichen Standpunkt" bezogen. Den Berichten zufolge hatte in manchen Betriebsparteiorganisationen „kein einziger Genosse entschlossen zur Partei gestanden". Dies war beispielsweise im VEB Autoreparatur-Werk Adler der Fall gewesen.

186 SED-BL Dresden, Parteiaktivtagung vom 21.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/2/001, Bl. 69). 187 SED-BL Dresden, Telefonische Durchsage an das ZK der SED, vom 20.6.1953, 17.45 Uhr (SAPMO-BArch, DY 30/IV/2/5/530, Bl. 85). 188 Ebd., Bl. 77. 189 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Berichte aus den BPO und den Stadtbezirken, vom 22.6.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/478); die folgenden Zitate ebd.

438

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

Gestützt auf solch schematische Informationen aus den Betrieben erstellten die Stadtbezirksleitungen der SED Analysen zum „Festigkeitsgrad der Partei". Eine Leipziger Stadtbezirksleitung berichtete, 190 von 2 772 Mitgliedern und Kandidaten stünden 25 Prozent „fest auf dem Boden der Partei [...]. Das sind die Genossen, die in schwierigen Situationen unbeirrt, so wie es die Partei von ihnen verlangt, alle Kräfte einsetzen [...]. Diese Genossen stehen zur Partei, vertreten die Politik der Partei in allen Lagen, auch wenn sie die Beschlüsse nicht immer gleich verstehen." 70 Prozent der Mitglieder hingegen zeigten „Schwankungen, die sich in verschiedenen Abweichungen und Formen" manifestierten: Diese „Genossen unterliegen bei jeder für sie unverständlichen Beschlußfassung in Folge ideologischer Unklarheiten z.T. sehr erheblichen Schwankungen. Vor allem in solchen Fragen, die erhöhte Anforderungen an sie stellten, in der aktiven Mitarbeit und da besonders, wenn diese Mitarbeit mit ideologischen Auseinandersetzungen verbunden ist und als Voraussetzung ein bestimmtes Studium von Material erfordert [...]. Das Schlagwort Solidarität mit den Berliner Arbeitern' isoliert zeitweilig diese Genossen, sie verließen für einige Zeit die Positionen der Partei und stärkten damit unbewußt die Feinde." Fünf Prozent der Parteimitglieder wurden, weil sie sich „passiv verhielten", als „parteifeindliche Elemente" eingestuft. Diese hatten keine „Schwankungen" gezeigt, weil „sie sich nur von persönlichen Interessen leiten lassen und keine Beziehung zur Partei als die Mitgliedschaft haben." Die Kreisleitung Leipzig-Stadt beklagte am 22. Juni, „ein Teil der Parteimitglieder" verhalte sich in Diskussionen „zurückhaltend und ausweichend" eine „sogenannte Rückversicherung". 191 Mit dieser Formulierung war der Kern der Sache getroffen. Insbesondere sollten sich die Parteileitungen mit der „schwankenden Mehrheit" beschäftigen. „Schwanken" eines „Genossen" war etwa daran zu erkennen, daß sich dieser nicht sofort als solcher zu erkennen gab. Da in der kommunistischen Bewegung Symbole und Rituale seit jeher eine herausragende Rolle spielten, legte die SED großen Wert darauf, daß ihre Mitglieder und Kandidaten auf den ersten Blick als Parteimitglieder zu erkennen waren. Das Tragen des Abzeichens war Ehrenpflicht, Zeichen der Zugehörigkeit und Ausdruck der engen Verbindung zum „Kampfbund der Gleichgesinnten". Bereits im Vorfeld des 17. Juni wurde parteiintern kritisiert, immer mehr „Genossen" scheuten sich, sich auf diese Art zur Partei zu bekennen. Nach dem 17. Juni waren in der Tat kaum noch Parteiabzeichen zu sehen. Manche „Genossen" nahmen das Abzeichen ab, weil sie Angst vor Angriffen und Tätlichkeiten hatten. Andere trennten sich vorübergehend von diesem Symbol, um abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Für eine dritte Gruppe war das Ablegen des Abzeichens Teil ihres Protests gegen die Partei. Selbst zu der Zeit, als die Führung behauptete, sie brauche „Taten", wurden 190 SED-Stadtbezirksleitung 13, An die SED-KL Leipzig-Stadt, vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 8 ) . 191 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Informationsbericht vom 2 2 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 8 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni

439

die Parteimitglieder am Arbeitsplatz und in der Freizeit auf das Tragen des Abzeichens hin kontrolliert. Das Ergebnis war niederschmetternd: In einer SED-Mitgliederversammlung der Angestellten eines Stadtkreises von Plauen trug „die Hälfte der Genossen" kein Abzeichen. „Zur Rede gestellt", erklärten die meisten, es verloren zu haben. 1 9 2 Auch das MfS ließ sich von ihren Gl mitteilen, wer sein Parteiabzeichen am 17. Juni und in den Tagen danach nicht mehr getragen hatte. Die Kreisdienststelle Plauen etwa berichtete am 23. luni, man habe „das Parteiabzeichen und Abzeichen von Massenorganisationen nur noch bei guten Funktionären sehen" können. 1 9 3 Einer Glosse in der Sächsischen Zeitung vom 3. Juli zufolge waren seit dem 17. Juni erstaunlich viele Parteiabzeichen „verlorengegangen". „Anscheinend haben die Anstecknadeln die Nerven verloren, sind zittrig geworden, brechen ganz einfach ab oder rutschen mitsamt den Abzeichen aus dem Umschlag des Jacketts. Die Abzeichen aber haben sich gegenseitig verabredet, sich nicht wiederfinden zu lassen. Man sucht unwillkürlich mit den Augen den Fußsteig ab, in der Hoffnung, wenigstens hin und wieder eines zu finden. Das Merkwürdige dabei ist nur, daß auch alle anderen Abzeichen von derselben Krankheit befallen wurden [...]. Ist das nicht eine schlimme Krankheit? Es erscheint als notwendig, daß die Parteileitungen der Betriebsparteiorganisationen diese Genossen unterstützen, ihre Abzeichen und ihr vorübergehend verlorenes Klassenbewußtsein wiederzufinden." 194 Allerdings gab es auch mutige Genossen, die ihre Ablehnung offen bekundeten und demonstrativ die Partei verließen. Zwischen dem 17. Juni und dem 28. Juli war dies bei 1601 Mitgliedern und 136 Kandidaten der Fall. Die höchste Zahl von Austritten verzeichneten die Bezirke Halle, Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt. 195 In der Bezirksparteiorganisation Dresden traten 280 Mitglieder und 27 Kandidaten, in Leipzig 293 Mitglieder und 13 Kandidaten und in Karl-Marx-Stadt 155 Mitglieder und 14 Kandidaten aus. 196 Faktisch dürften die Zahlen höher gewesen sein, denn Austrittserklärungen wurden zum Teil mit Ausschluß beantwortet (und nicht als Austritte verbucht). Dieser Statistik des ZK zufolge stellten die drei sächsischen Bezirksparteiorganisationen und die Gebietsparteiorganisation Wismut 45 Prozent der insgesamt aus der SED ausgetretenen 1737 Personen. Nicht nur im Akt des Austritts als solchem manifestierte sich die Krise der Partei. Aussagekräftig sind auch die Motive. Die Begründungen waren offensichtlich einem Wandel unterworfen: Wurden vor dem 17. Juni Austritte über192 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach dem bisher vorliegenden Berichten der KPKK, vom 27.6.1953, S. 30 (SächsStAL, SED IV/4/68). 193 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Plauen, Situationsbericht über den Kreis Plauen in der Zeit vom 17.6.-23.6.1953, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 232). 194 „Von .verlorengegangenen' Abzeichen". In: SZ vom 3.7.1953, S. 5. 195 Vgl. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 215. 196 Vgl. ZK der SED, Berichte über die Aufnahmen, Austritte und Ausschlüsse seit dem 17. funi 1953, o.D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 6 3 , Bl. 4 9 - 5 4 ) .

440

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

wiegend mit „persönlichen Problemen" begründet, so gab nach dem 17. Juni die Mehrzahl an, mit der Politik der SED nicht mehr einverstanden zu sein. Ein Anlaß war für viele der Schußwaffeneinsatz gegen die Demonstranten. Diese Begründungen waren auch dort zu verzeichnen, wo es am 17. Juni relativ ruhig geblieben und nicht geschossen worden war. In der Regel waren es Arbeiter, die ohne Umschweife politische Gründe für den Parteiaustritt anführten; sie hatten in geringerem Ausmaß als Angestellte und Akademiker berufliche Konsequenzen zu befürchten. Ein Dresdner „Genosse" etwa schrieb: „Die Ereignisse vom 17.6.53, wo wieder Arbeiterblut floß, geben mir Veranlassung, aus der Partei auszutreten." 197 Über die mit diesem „Genossen" geführte „Aussprache" vermerkte das Protokoll: „Er ist der Meinung, daß es nicht richtig ist oder war, daß die VP und Rote Armee gegen Arbeiter geschossen haben. Dadurch ist Arbeiterblut geflossen und das hasse er. Nach der Erklärung über den Charakter des Staates und den Unterschied zwischen Ost und West bestand er nach wie vor auf dem Standpunkt." 198 Vereinzelt begründeten auch Angehörige der „Intelligenz" ihren Austritt ausführlicher: Ein Angehöriger der Leipziger Universität etwa kritisierte „die starre Parteidisziplin und die diktatorische Überheblichkeit unserer Parteileitungen", die es nicht erlaubten, „auch nur ein vernünftiges Wort der Kritik anzubringen." 199 Wer nicht mehr „Genosse" sein wollte, geriet ins Visier der Staatssicherheit. Am 23. Juni wies Generalleutnant Mielke die Bezirksverwaltungen an, bis zum 25. Juni zu berichten, „welche Mitglieder der SED anläßlich der letzten Ereignisse ihre Parteidokumente fortwarfen oder dieser Handlung verdächtig sind." 2 0 0 Karl-Marx-Stadt meldete noch am selben Tag Vollzug: „In unserem Bezirk konnte nicht festgestellt werden, daß Mitglieder der SED anläßlich der letzten Ereignisse ihre Parteidokumente weggeworfen haben. Es liegen lediglich eine größere Anzahl Parteidokumente mit entsprechender Austrittserklärung bei den einzelnen Kreisleitungen vor. Diese Zahl beläuft sich vorläufig auf 98. Unter diesen befindet sich ein Dokument eines Kreisleitungsmitgliedes von Karl-Marx-Stadt, Land." 201 Ein ausführlicherer Bericht der Bezirksverwaltung ging zwei Tage später nach Berlin ab. 2 0 2 Inzwischen waren bei den Parteisekretären der SED-Grundorganisationen 111 Austrittserklärungen abgegeben worden, begründet „zum größten Teil mit den gemachten Fehlern der Partei, mit denen sich diese Genossen nicht einverstanden erklären". Als „krasse Beispiele" führte die Staatssicherheit einen Lehrer an, der „sich nicht an den wei197 Vgl. SED BL Dresden, BPKK, Austritte von Mitgliedern anläßlich des 17.6.1953, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 2 5 5 ) . 198 Ebd. 199 SED-BL Leipzig, Bericht über die Vorgänge in Leipzig zur Zeit der faschistischen Provokation, o. D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 274). 2 0 0 BV für Staatssicherheit Chemnitz, An den Leiter der Kreisdienststelle, Betr.: Geplante Aktionen des Gegners am 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (BStU, Ast. Chemnitz, XX-305, Bl. 3). 201 BV für Staatssicherheit Chemnitz, Fernschreiben an das MfS Berlin, Betr.: Abgabe von Parteidokumenten, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , (BStU, Ast. Chemnitz, XX-305, Bl. 6). 2 0 2 Vgl. ebd., Bl. 10.

Die Parteiorganisationen unmittelbar nach dem 17. Juni

441

teren Verbrechen der Partei schuldig machen" wollte. Ein 54jähriger Angestellter aus Oelsnitz/Vogtland bekundete, nach dem Westen gehen und sofort in die SPD eintreten zu wollen. Sie sei „seine Partei", ihr habe er schon immer angehört. Die Bezirksverwaltung fügte eine Analyse der Austritte und Namenslisten aus den Kreisen bei, konnte hier jedoch lediglich über 96 Personen genaue Angaben machen, da eine Kreisleitung „die Bekanntgabe der ausführlichen Personalien verweigerte." 2 0 3 Die Liste dieser 84 Männer und 12 Frauen ermöglicht Rückschlüsse auf das Alters- und Berufsprofil sowie die Parteizugehörigkeit vor 1933, im „Dritten Reich" und nach 1945. Es handelte sich um 52 Arbeiter, 20 Angestellte, neun Handwerker, acht Lehrer, vier Rentner und drei „Intelligenzler". Zur Altersgruppe der 40-50jährigen gehörten 22 Personen; in der G r u p p e der 18-25jährigen, der 25-30jährigen und der 50-65jährigen fanden sich jeweils 17, in der Altersgruppe zwischen 30 und 35 zehn Personen. Vor 1933 waren zwei in der KPD, zehn in der SPD, einer in der KP und sieben in der NSDAP organisiert. 16 Personen waren 1945 in die KPD, 18 in die SPD eingetreten. Es überwogen somit die ehemaligen Sozialdemokraten. Der Löwenanteil der Austrittserklärungen stammte aus den Kreisen Glauchau (23), Karl-Marx-Stadt (14), Plauen (11) und Rochlitz (10). Von acht austretenden Lehrerwaren je vier im Kreis Aue bzw. Reichenbach beheimatet. Aus Plauen meldete das MfS, elf Mitglieder hätten „das Parteidokument den Parteisekretären direkt vor die Füße geworfen". 2 0 4 Wo in einer Parteiorganisation mehrere Austritte zu verzeichnen waren, vermuteten die Funktionäre eine „organisierte Aktion". 2 0 5 So verließen am 17. bzw. 18. Juni in der Textima Altenburg (damals Bezirk Leipzig) 54 von 380, in der Zuckerfabrik Döbeln (ebenfalls Bezirk Leipzig) 31 und in der TEWA Döbeln 2 0 „Genossen" die Partei. Auch an der Leipziger Universität nahmen die Austritte zu. Sechs junge Dozenten und ein Professor der veterinärmedizinischen Fakultät gaben ihre Parteidokumente zurück 2 0 6 ; damit war an dieser Fakultät vorübergehend kein „Genosse" mehr zu finden. In einer Leipziger Grundschule kehrten sieben Lehrer der SED den Rücken. Bis zum 16. Juli verließen allein im Stadtgebiet Leipzig 73 Genossen, darunter 25 Arbeiter, 16 Angestellte, 25 Angehörige der „Intelligenz", fünf Gewerbetreibende und zwei Hausfrauen die Partei. 2 0 7 „Organisierte Austritte" meldeten auch die beiden anderen Bezirksleitungen. In der Betriebsparteiorganisation des Signal- und Fernmeldeamts in KarlMarx-Stadt legten 14 von 19 Mitgliedern - sämtlich Streckenarbeiter - ihr Par2 0 3 Ebd. 2 0 4 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Plauen, Situationsbericht über den Kreis Plauen in der Zeit vom 1 7 . 6 . - 2 3 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (BStU, Ast. Chemnitz, XX 300, Bl. 2 3 2 ) . 2 0 5 Vgl. SED-BL Leipzig, Bericht über die Vorgänge in Leipzig zur Zeit der faschistischen Provokation (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 273). 2 0 6 Vgl. ebd. 2 0 7 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Material der KPKK, vom 16.7.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/269).

442

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

teibuch auf den Tisch. 208 Die Bezirksleitung stellte resignierend fest: „Die Stadtbezirksleitung und die Kreisleitung diskutierten stundenlang mit diesen Arbeitern. Es gelang ihnen bisher nicht, sie davon zu überzeugen, daß sie ihren Entschluß rückgängig machen." Allein die GPL Wismut hatte keine solche Häufung von Austritten zu verzeichnen. Erst Anfang 1954 gab sie zu, daß am 17. Juni dreizehn Mitglieder - zwölf Arbeiter und ein Angestellter, drei frühere Kommunisten und ein ehemaliger Sozialdemokrat - ihren Austritt erklärt hatten. 2 0 9 In allen Bezirksparteiorganisationen gab es Anzeichen für die akute Krise der SED: Teile der Parteibasis verweigerten den Gehorsam und probten den Aufstand gegen die Führung. 210 Sicherlich zeigte nur eine Minderheit offen ihre Ablehnung; angesichts des großen Anteils „Schwankender" bestand jedoch die Gefahr, daß diese Minorität, die die Parteiführung scharf attackierte, Boden gewann und die unsicheren Kantonisten sich ihr anschlössen. Parteiausschlußverfahren sollten dies verhindern. Sie zogen in der Regel Konsequenzen für die berufliche Entwicklung des Betroffenen und seiner Familienangehörigen nach sich. Ausschlüsse, die nicht in erster Linie auf den einzelnen „Genossen" zielten, vielmehr Exempel statuieren und Druck auf potentielle innerparteiliche Kritiker ausüben sollten, waren insbesondere in den Betriebsparteiorganisationen zu verzeichnen. Die hierdurch bewirkte Veränderung der Sozialstruktur der Partei zuungunsten der Arbeiter registrierte die SED zwar mit Bedauern. Vorrangig war jedoch das Ziel, den Gesichtsverlust vom 17. Juni in einen Sieg und in eine Bewährungsprobe für die Kraft der Parteiorganisation umzufunktionieren.

5.

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

Nach der Direktive des Politbüros vom 21. Juni an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen sollten die „leitenden Organe der Partei und die Parteikontrollkommissionen [...] jene Fälle untersuchen, wo sich Mitglieder der SED als aktive Teilnehmer und Organisatoren der Provokationen und der regierungsfeindlichen Aktionen gezeigt haben, wo SED-Mitglieder offen als Mitglieder von Streikleitungen aktiv tätig waren." 211 Gegen solche Mitglieder waren „die Bestimmungen des Parteistatuts" anzuwenden, d.h. Parteiverfahren einzuleiten. Betrafen die Vorwürfe leitende Funktionäre, so sollten diese abgesetzt werden. Auch die „Höchststrafe" - der Parteiausschluß - war gegebenenfalls zu verhängen. 208 SED-BL Chemnitz, Monatsbericht der BPKK für den Monat Juni, vom 16.7.1953, S. 4 (SächsStAC, SED IV/2/4/46); das folgende Zitat ebd. 209 Vgl. SED-GPL Wismut. Analyse über nichtparteigemäßes Verhalten von Genossen an den Tagen der faschistischen Provokation vom 15.1.1954 (SächsStAC, W-IV/2/4/41, Bl. 3). 210 Vgl. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 214. 211 ZK der SED, Fernschreiben 214 vom 21.6.1953 (SächsHStA, SED IV/2/12/008).

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

443

Daraufhin begann eine „arbeitsreiche" Phase für die Parteikontrollkommissionen in den Bezirken und Kreisen. Bereits am folgenden Tag wies das Sekretariat der GPL Wismut alle Kreis- und Ortsparteileitungen und die Leitungen der direkt unterstellten Grundorganisationen an, die Haltung aller SEDAngehörigen am 17. Juni zu untersuchen. 2 1 2 Die BPKK Leipzig rief am selben Tag die Vorsitzenden der Parteikontrollkommissionen der Kreise und Stadtbezirke zusammen, um sie in ihre Aufgabe, die „Feinde der Partei aus unseren Reihen zu entfernen", einzuweisen. 2 1 3 Sie warnte jedoch vor einer „wilden Ausschließungs-Aktion". Denn bereits zu diesem Zeitpunkt gab es Anzeichen für eine derartige Kampagne. So beabsichtigte etwa die Parteileitung der Leipziger Eisen- und Stahlwerke Mölkau, gegen 2 3 Parteimitglieder Verfahren durchzuführen, von denen acht aus der SED ausgeschlossen werden sollten. 214 Die unmittelbar nach der Niederschlagung der Proteste einsetzenden Parteiüberprüfungen erstreckten sich bis in das Jahr 1954. Bei den Neuwahlen der Parteileitungen im Vorfeld des IV. Parteitages der SED im Jahre 1954 war die Haltung der Genossen am und zum 17. Juni das ausschlaggebende Kriterium für die Wahl in die Leitungen. Die 15. ZK-Tagung leitete dabei die entscheidende Phase der Abrechnung mit der Parteibasis ein. 2 1 5 Zunächst wurden Verfahren gegen jene Genossen eröffnet, die in Streikleitungen tätig oder aktiv an Streiks beteiligt gewesen waren. Anschließend konzentrierte sich die Ü b e r p r ü f u n g auf die Funktionäre der Bezirks- und Kreisleitungen, der „Genossen" im Staatsapparat und in den Massenorganisationen sowie auf alle Betriebsparteiorganisationen. Die Untersuchungen verliefen parallel zu den Aktionen zur Entlarvung sogenannter Rädelsführer und Provokateure in den Betrieben und Wohngebieten. Die ersten Verfahren gegen SED-Mitglieder, die in Streikleitungen oder in Protestversammlungen aktiv gewesen waren, waren bereits nach kurzer Zeit abgeschlossen; eine Verhaftung u n d Verurteilung als „Rädelsführer" durch die Justiz zog automatisch den Parteiausschluß nach sich. Von solchen Verfahren waren vergleichsweise wenige SED-Mitglieder betroffen, die Mehrheit der Festgenommenen war parteilos. Im Bezirk Dresden gehörten Ende Juni 4 Prozent der Inhaftierten der SED an. 2 1 6 Unter den 55 bereits Verurteilten befand sich ein SED-Mitglied. Im Bezirk Leipzig sah es Anfang Juli ähnlich aus. Hier war lediglich ein Kandidat der SED unter den bis zum 2. Juli verurteilten 59 Perso-

212 Vgl. SED-GPL Wismut, Auszug aus dem Beschluß des Sekretariats vom 22.6.1953 (SächsStAC, W-IV/2/4/41, Bl. 19). 213 Vgl. SED-BL Leipzig, Bericht über die Vorgänge in Leipzig zur Zeit der faschistischen Provokation, o.D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 274). 214 Vgl. ebd., Bl. 274f. 215 Vgl. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 219ff. 216 Vgl. SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 14 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 )

444

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

nen. 217 Anfang August waren vier der im Bezirk Leipzig verurteilten 143 Personen SED-Angehörige. 218 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt befand sich - nach der Statistik des MfS - unter den 21 bis zum 20. Juni Festgenommen nur ein SEDMitglied. 219 Angesichts der Tatsache, daß damals im Durchschnitt etwa 10 Prozent der Belegschaftsmitglieder von Großbetrieben der SED angehörten, war der Anteil verhafteter oder verurteilter SED-Mitglieder gering. Nur bei der Wismut stellten SED-Angehörige einen höheren Prozentsatz der Verhafteten. Anfang Juli befanden sich unter den 38 Häftlingen von dort drei Genossen. 2 2 0 Das entsprach in etwa dem Parteianteil in der SAG Wismut zu diesem Zeitpunkt. Die ersten Parteiverfahren im Zusammenhang mit dem 17. Juni fanden offenbar im Verantwortungsbereich der Kreisleitung Leipzig-Land statt. Bereits am 22. Juni informierte die SED-Bezirksleitung die sowjetischen Kontrolloffiziere über die gegen SED-Mitglieder in der SAG Deutsche Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg eingeleiteten Verfahren. 221 Davon betroffen waren der 1. und 2. Werkdirektor, der Personalleiter bzw. Hauptingenieur und der Arbeitsdirektor. Diese vier Funktionäre waren am 17. Juni - wie bereits an anderer Stelle ausgeführt - auf Empfehlung des sowjetischen Generaldirektors den demonstrierenden Belegschaftsangehörigen nachgegangen, um sie wieder in den Betrieb zu bringen. Unmittelbar danach schlug die Parteileitung des Betriebes vor, zwei Genossen aus der SED auszuschließen, einer sollte eine „strenge Rüge" erhalten. Der vierte Genosse war noch im Kandidatenstand; er sollte aus der Kandidatenliste gestrichen werden. Die Zustimmung der KPKK Leipzig-Land lag vor. In einem Falle sollte der Parteiausschluß mit sofortigen beruflichen Konsequenzen, in einem anderen Falle mit einer Funktionsentbindung „in der Perspektive" 222 verbunden werden. Der Arbeitsdirektor - er hatte während der Nazizeit sechs Jahre im KZ gesessen - sollte sofort als staatlicher Leiter abgelöst werden, weil die Parteileitung davon ausging, gerade er hätte auf Grund seiner Erfahrungen und des Besuchs „vieler Parteischulen ein höheres Bewußtsein in dieser Situation" beweisen müssen. Er hatte selbst zuvor nach kommunistischer Manier die Einleitung eines Parteiverfahrens

217 Vgl. SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o.D., S. 25 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). 218 SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 10.8.1953 (SächsStAL, SED IV/ 2 / 1 / 2 9 ) . 219 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr. : Tel. Durchsage der Abt. IX der BV am 20.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-300, Bl. 37). 220 Vgl. SED-GPL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, vom 8.7.1953 (SächsHStC, WI V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 172). 221 Vgl. SED-BL Leipzig, An den Gen. Stepanow, Betr.: Teilnahme von Mitgliedern unserer Partei an der Demonstration am 17.6., vom 22.6.1953, S. lf. (SächsStAL, SED IV/2/12/590). 222 Ebd., S. 1; das folgende Zitat ebd., S. 2.

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

445

gegen sich beantragt. 2 2 3 In einem Brief an die SED-Betriebsparteiorganisation hatte er seine Handlungsweise bezeichnet „Als einen Verrat an der Partei, der unter den gegebenen Umständen in Bezug auf die Schwere der Lage besonders hart zu verurteilen ist." Die beteiligten Parteileitungen waren unterschiedlicher Auffassung über das Strafmaß. Die Kreisleitung Leipzig-Land verlangte z. B. den Parteiausschluß des Arbeitsdirektors 2 2 4 , die Bezirksparteikontrollkommission war zunächst für eine „strenge Rüge". 2 2 5 Die SED-Mitgliederversammlung des Betriebes bestätigte alle diese Vorschläge nicht, sie beschloß, lediglich Verwarnungen bzw. Rügen auszusprechen. Dazu meldete die BPKK der ZPKK: „Die Parteileitung kämpfte nicht um ihre Vorschläge. Sie wich vor den Auseinandersetzungen z u r ü c k . " 2 2 6 Der gerügte Arbeitsdirektor und der 2. Werkdirektor verblieben noch Monate in ihren Funktionen, weil die „Neubesetzung" der Stellen nicht geklärt werden konnte. Die Vermutung liegt nahe, daß bei diesen Personalentscheidungen die sowjetische Generaldirektion gegen eine Entlassung war. Möglicherweise wollte sie nicht auf die Führungskräfte verzichten, weil sie gute fachliche Arbeit leisteten oder augenblicklich kein gleichwertiger Ersatz möglich war. Als gegen Ende 1953 die Uberleitung des Betriebes von einer sowjetischen Aktiengesellschaft zu einem volkseigenen Betrieb von der Bezirksleitung Leipzig „kadermäßig" vorbereitet wurde, schlug diese sofort die Ablösung jener zwei Leitungsmitglieder vor. Z u r Begründung führte sie u . a . an, daß der stellvertretender Werkdirektor zwar eine „hochqualifizierte Fachkraft", aber ein „ausgesprochenes bürgerliches Element" sei. 2 2 7 Politische Zuverlässigkeit galt der SED-Bezirksleitung mehr als hohe fachliche Qualifikation. Die Arbeit der Parteikontrollkommissionen auf Bezirks- und Kreisebene schlug sich in einer Vielzahl von Berichten nieder. Nach Mitteilung der BPKK gab es „eine Unmenge von Beispielen für negatives Verhalten von Mitgliedern unserer Partei." 2 2 8 Im Vordergrund der Berichterstattung standen zunächst „typische Einzelfalle", bei denen SED-Funktionäre sich „feige", „kapitulantenhaft" und „nicht kämpferisch" verhalten hatten, wie etwa Angehörige der Kreisleitung Niesky, die sich vor den Demonstranten versteckt hatten, anstatt das Parteihaus zu verteidigen. 2 2 9 Die KPKK schlug in diesem Falle vor, „daß 223 Vgl. Müller, Fritz, An die Parteileitung der BPO Leipziger Kugellagerfabrik, vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) . 224 Vgl. SED-BL Leipzig, An den Gen. Stepanow, Betr.: Teilnahme von Mitgliedern unserer Partei an der Demonstration am 17.6., vom 22.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED IV/2/12/590). 225 SED-BL Leipzig, Monatsbericht der BPKK für Monat Juli 1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 306). 226 Ebd. 227 Vgl. SED-BL Leipzig, Bericht an das Sekretariat über die Kader der Leitungen der SAG Betriebe, o. D„ S. lff. (SächsStAL, SED I V / 2 / 6 / 4 3 0 ) ; das Zitat ebd., S. 3. 228 Vgl. SED-BL Dresden, Bericht über Verhalten von Partei- und Leitungsmitgliedern während der faschistischen Provokation und über typische Einzelfälle, vom 23.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bd. 1, Bl. 17). 229 Vgl. ebd., Bl. 6f.

446

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

ein solcher Genosse nicht mehr Mitglied des Sekretariats sein und auch nicht mehr als Mitarbeiter der Kreisleitung arbeiten kann." 2 3 0 Des weiteren wurde das „unparteigemäße Verhalten" einer Mitarbeiterin des Parteikabinetts in Dresden-Land geschildert, die u.a. der Partei nicht mitgeteilt hatte, daß ihr Bruder in ihrer Wohnung den RIAS gehört und die „sowjetischen Freunde" als „Stoppelrussen" bezeichnet hatte. Sie wurde sofort beurlaubt. Ähnlich fielen auch die Berichte der anderen Bezirksparteikontrollkommissionen aus. Die Leipziger Kommission kritisierte z.B. den Rat des Bezirkes, weil er „kein kämpferisches Verhalten" bewiesen habe. 231 Die Angestellten hätten am 17. Juni nichts Eiligeres zu tun gehabt, als in kurzer Zeit den „Betriebskonsum auszukaufen" und ihr Parteiabzeichen abzulegen. Die Parteiorganisation des Rates des Bezirkes hätte nicht „entsprechend dem Ernst der Situation gehandelt". Ein Teil der Leipziger Staatsfunktionäre hatte „aus den Wohnungen geholt werden" müssen. Die Parteiorganisationen des Rates der Stadt und der Stadtbezirke erhielten für ihr „vorbildliches Verhalten" dagegen Lob. Nur den Räten der Kreise Altenburg, Delitzsch und Döbeln wurde vorgeworfen, „versagt" zu haben. Das waren jene Kreise, die neben Leipzig-Stadt und Leipzig-Land im Bezirk Leipzig zu den Schwerpunkten am 17. Juni gehört hatten. Es wurden viele Einzelheiten über „nicht parteigemäßes Verhalten" von Staatsfunktionären mitgeteilt; so seien einige nicht aus dem Urlaub oder von der Kur zurückgekehrt, um sich der Partei zur Verfügung zu stellen. Gegen solche Funktionäre wurden in der Regel Parteiverfahren eingeleitet. Auch das Verhalten der Bürgermeister wurde unter die Lupe genommen. Dabei kamen dreierlei Verhaltensmuster zutage: Die Mehrheit habe „abgewartet", eine kleine Minderheit sei „kämpferisch" aufgetreten, einzelne Bürgermeister seien aufgrund ihrer am 17. Juni gezeigten Haltung als „Feinde der demokratischen Ordnung" entlarvt worden. Die SED-Bezirksparteikontrollkommissionen kritisierten in der Regel SEDFunktionäre der untergeordneten Leitungsebene, des Staates und der Massenorganisationen; allein mit sich selbst gingen die Genossen zunächst weniger kritisch ins Gericht. Lediglich im Sekretariat der Bezirksleitung Dresden kam es Ende des Jahres zu „kadermäßigen" Konsequenzen. 232 Dies hing offenbar vor allem damit zusammen, daß die verantwortlichen Funktionäre in Dresden die „politische Linie" von Elli Schmidt umgesetzt hatten. Zunächst waren sie dafür gelobt worden. Nachdem Elli Schmidt bei Ulbricht in Ungnade gefallen war, weil sie sich im Politbüro scharf gegen ihn ausgesprochen hatte, und aus dem Gremium ausgeschlossen worden war 2 3 3 , begannen auch die Auseinan-

2 3 0 Vgl. ebd., Bl. 6; die folgenden Zitate ebd., Bl. 7. 231 SED-BL Leipzig, Analyse über die Entstehung des Ausbruches des faschistischen Abenteuers vom 17.6.1953 im Bezirk Leipzig, o . D . , S. 12 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 8 ) ; die folgenden Zitate ebd., S. 12f. 2 3 2 Vgl. SED-BL Dresden, Einschätzung des Sekretariats der BL Dresden, vom 17.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 272ff.). 2 3 3 Vgl. Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt, S. 2 2 0 f f .

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

447

dersetzungen mit der SED-Bezirksleitung. Eine Brigade des ZK „unterstützte" die Dresdner Funktionäre dabei. 2 3 4 Dem Sekretär für Agitation und Propaganda, Heinz Wolf, wurde u. a. „politisch-ideologische Schwäche und ungenügende Initiative" vorgeworfen, weil er „widerspruchslos den falschen Orientierungen" von Elli Schmidt gefolgt sei. So hatte er einen Seminarplan in die Kreise verschicken lassen, in dem die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED „als falsch bezeichnet" wurden. Die gleiche Auffassung hatte er auch in einer Parteimitgliederversammlung im Kunstseidenwerk „Siegfried Rädel" in Pirna vertreten. Ihm wurde auch vorgehalten, daß er nach der „Entlarvung Berijas als Agenten des Imperialismus" im Bücherschrank seines Arbeitszimmers „das Buch dieses Verräters" neben den Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus hatte stehen lassen. 2 3 5 Für sein „Versagen" machte die BPKK Dresden seine „kleinbürgerliche Herkunft" verantwortlich: Er erhielt eine „strenge Rüge" und wurde aus der Bezirksleitung und dem Parteiapparat „entfernt". 2 3 6 Den Sekretär für Wirtschaft der SED-Bezirksleitung Dresden, Rätzer, traf das gleiche Schicksal. Zusammenfassend stellte die BPKK fest, daß die Ablösung beider Sekretäre „keinen wesentlichen Verlust" bedeute. 2 3 7 Nach der 15. ZK-Tagung war der Bezirk Dresden - neben Altenburg im Bezirk Leipzig - ein Schwerpunkt im „Kampf gegen den Sozialdemokratism u s " . 2 3 8 Beide Bezirksleitungen erfüllten zunächst nicht die Erwartungen des ZK der SED. 2 3 9 Die Leipziger wurden u.a. von den ZK-Instrukteuren wegen „sorgloser Kaderarbeit" und ungenügender Initiative zur „Entlarvung der Feinde" gerügt. Die Dresdner hatten „zu wenig im Kampf gegen die Agenten des Ostbüros" in Ostsachsen getan. 2 4 0 Das ZK schickte im August zwei „Brigaden" in die Bezirke Dresden und Leipzig, um die Parteileitungen im „Kampf" gegen den „Einfluß der bürgerlichen Ideologie [...] anzuleiten". 2 4 1 Sie wurden in den Kreisen Görlitz, Niesky, Zittau, Löbau und Dresden und in Altenburg eingesetzt, weil es dort, nach Auffassung des ZK, „ernste Anzeichen für eine systematisch organisierte Arbeit der Feinde" gegeben hat. Das waren Kreise, in denen vor 1933 der Einfluß der Sozialdemokratie besonders stark gewesen war. Das ZK kritisierte die Kreisleitungen, weil sie der Entwicklung der Arbeiterbewegung in ihren Krei-

2 3 4 Vgl. SED-BL Dresden, Einschätzung des Sekretariats der BL Dresden, vom 17.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 274); die folgenden Zitate ebd., Bl. 273. 2 3 5 Vgl. SED-BL Dresden, Aktennotiz der Parteieinheit Sekretariat, vom 15.10.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 3). 2 3 6 Vgl. SED-BL Dresden, Einschätzung des Sekretariats der BL Dresden, vom 17.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2, Bl. 2 7 3 ) . 237 Ebd., Bl. 274. 2 3 8 Zum Kampf gegen den „Sozialdemokratismus" in den Reihen der SED vgl. Wolle, Agenten, Saboteure, Verräter, S. 261 ff. 2 3 9 Vgl. Bericht über den Einsatz einer Instrukteurbrigade des ZK im Kreis Altenburg vom 2 6 . 1 0 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 2 ) . 2 4 0 ZK der SED, Bericht vom 1 4 . 1 . 1 9 5 4 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 2 ) . 241 Ebd.

448

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

sen wenig Beachtung geschenkt hätten. Völlig unberücksichtigt blieb, daß z. B. viele 1. Kreissekretäre von außerhalb kamen, wie etwa der 1. Kreissekretär von Görlitz-Stadt oder von Altenburg, bzw. sehr jung waren, wie der Kreisparteisekretär von Niesky. Die ZK-Brigaden führten auch in einzelnen Betrieben umfangreiche Untersuchungen durch, wie z. B. im VEB Maschinenfabrik „John Scheer" in Meuselwitz 242 , in der Textima Altenburg 243 , im Phänomen-Werk Zittau 2 4 4 , in der Spinnerei und Weberei Ebersbach, Kreis Löbau. 245 Von 194 Mitgliedern der Betriebsparteiorganisation der Ebersbacher Spinnerei (2 380 Beschäftigte) erhielten zehn eine Parteistrafe, davon wurden sieben aus der SED ausgeschlossen. Ebersbach erschien besonders suspekt, weil dort seit 1947 156 Ausschlüsse aus der SED erfolgt waren; von den Ausgeschlossenen waren 111 älter als 45 Jahre. Die Disziplinierungsmaßnahmen in der Bezirksparteiorganisation Dresden gingen soweit, daß eine Aktivistin sogar für das Verhalten ihres Bruders zur Rechenschaft gezogen wurde. Aus allen Kreisparteikontrollkommissionen lagen Ende des Jahres 1953 Berichte über die Ergebnisse der Parteiüberprüfungen vor. Keinem Parteimitglied konnte eine Tätigkeit als „Agent des Ostbüros" in der SED nachgewiesen werden. Statt dessen wurden Angehörige der SED vor allem wegen „feindlicher Diskussionen" nach dem 17. Juni gemaßregelt. Z.B. berichtete die KPKK Pirna über ein Parteiverfahren gegen einen 53jährigen Chemiefacharbeiter, der 1945 in die SPD eingetreten und in die SED übernommen worden war. 246 Er hatte gegenüber einem Agitator u.a. erklärt, daß in der DDR eine Diktatur herrsche und niemand frei sprechen dürfe. Dafür wurde er aus der SED ausgeschlossen und fristlos aus dem Betrieb entlassen. Im Elbtalwerk Heidenau mußten sich sieben Parteimitglieder „wegen Teilnahme an der Demonstration am 17. Juni und wegen provokatorischer Äußerungen" vor der Partei verantworten, vier wurden ausgeschlossen. 247 In der Stahlgießerei Pirna-Copitz entrichteten 46 Prozent der Mitglieder nicht den Parteibeitrag in der Höhe ihres Verdienstes 248 ; ein Genosse wurde als „Schädlingselement" unter dem Vorwurf verhaftet, „staatsfeindliche Flugblätter hergestellt und verteilt" zu haben. In der Stadt Görlitz wurden im VEB NAGEMA zwei, im EVGö sechs, im VEB KEMA zehn und in der LOWA 33 SED-Genossen im Zusammenhang mit

2 4 2 Vgl. ZK-Brigade Zylla, Analyse über die Lage in der PO des VEB WMW Maschinenfabrik „John Scheer", vom 7 . 9 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 6 4 , Bl. 99ff.). 243 Vgl. Analyse des Betriebes und der Parteiorganisation Textima Altenburg über die Ereignisse und die politische Arbeit seit dem 9. Juni 1953 und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen, o.D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 6 4 , Bl. 82ff.). 2 4 4 Die Überprüfungen des Werkes durch die BPKK und die ZPKK begannen im September und endeten mit einem „Abschlußbericht über die Arbeit der Brigade der BPKK im Betrieb Phänomen Zittau" vom 3.10.1953. (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 7 2 , Bl. 1 - 5 4 ) . 2 4 5 Vgl. SED-BL Dresden, Material der BPKK (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 6 0 , Bl. 292f.). 2 4 6 Vgl. ebd., Bl. 2 8 9 . 247 Vgl. ebd., Bl. 2 9 0 . 2 4 8 Vgl. ebd.; das folgende Zitat ebd.

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

449

dem 17. Juni aus der Partei ausgeschlossen. 2 4 9 Es war der SED-Kreisleitung aber - trotz der „Hilfe" von ZK-Instrukteuren - nicht gelungen, die Existenz von „Untergrundbewegungen" anhand von Fakten nachzuweisen. Zwar behauptete die Kreisleitung, daß im VEB EKM (Görlitzer Maschinenbau) eine Untergrundbewegung bestanden habe; diese sei inzwischen „ausgerottet" worden. Dafür spreche „die Tatsache, daß dieser Betrieb ein Hauptherd der faschistischen Provokation w a r " . 2 5 0 Auch sonst blieben die Verdächtigungen eher vage. So vermuteten die Görlitzer Funktionäre, im Betrieb Ostsachsendruck müsse eine „Verbindung zum Ostbüro vorhanden sein" 2 5 1 und im VEB Volltuch bestehe „der dringende Verdacht einer Untergrundbewegung". Eine verhalten positive Bilanz der Entwicklung der SED im Bezirk zog die Bezirksleitung Dresden: „Der 17. Juni 1953 war eine Bewährungsprobe für die Kraft der Parteiorganisationen auch in unserem Bezirk." 2 5 2 „Die Mehrheit der Parteiorganisationen" sei „in Auseinandersetzung mit dem 17. Juni von der Defensive in die Offensive übergegangen", die „Parteiorganisation des Bezirkes" [...] „ideologisch und organisatorisch gewachsen." 2 5 3 Festgemacht wurde das etwa an den geführten politischen Auseinandersetzungen und an der zunehmenden Teilnahme der Mitglieder an Parteiveranstaltungen: Während an den Mitgliederversammlungen zur Auswertung des 15. Plenums des ZK nur 45 bis 50 Prozent teilgenommen hatten, waren es bei den Berichtswahlversammlungen 80 bis 9 0 Prozent. Positiv schlug auch die größere Zahl von Diskussionsrednern in den Berichtswahlversammlungen zu Buche. Bemängelt wurde u.a., daß in den Wahlversammlungen „fast gar nicht zu der parteifeindlichen Plattform Zaisser-Herrnstadt Stellung genommen wurde" und „die vielfältigen schändlichen Methoden der Arbeit des Klassengegners [...] nur ungenügend zum Gegenstand der Parteierziehung und der Erhöhung der revolutionären Wachsamkeit gemacht" worden seien. 2 5 4 Seit den letzten Parteiwahlen (im Jahr 1950) waren insgesamt 58 Genossen in den Kreissekretariaten des Bezirkes Dresden ausgewechselt worden, darunter elf 1. Sekretäre und zehn 2. Sekretäre. Allein nach dem 17. Juni wurden vier 1. Kreissekretäre aus der Partei ausgeschlossen, darunter die 1. Sekretäre von Görlitz-Stadt, Karl Weichold, und von Bautzen, Herbert Schmidt. 2 5 5 In der SED-Kreisleitung Görlitz-Stadt erhielten 26 Mitarbeiter Parteistrafen, darunter vier Sekretariatsmitglieder, der Vorsitzende der KPKK (strenge Rüge) und

2 4 9 Vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, An die BPKK, Bericht vom 14.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 62ff.). 2 5 0 Ebd., Bl. 67. 251 Ebd., Bl. 62; das folgende Zitat ebd., Bl. 63. 2 5 2 SED-BL Dresden, Zusammenstellung von Material unter der Überschrift „Partei" für die Berichtswahlversammlung der BL, o.D., S. 1 - 4 0 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; Zitat ebd., S. 1. 2 5 3 Ebd., S. 2. 2 5 4 Ebd., S. 13. 2 5 5 Ebd., S. 20.

450

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

der Leiter des Betriebsschutzes (strenge Rüge). 2 5 6 Von den 26 disziplinierten Mitarbeitern hatten vor 1933 vier der KPD und drei der SPD angehört, nach 1945 waren drei Mitglied der KPD und sechs der SPD. Nicht weniger als 70 Prozent der hauptamtlichen Mitarbeiter wurden nach dem 17. Juni entlassen. Bei den Parteiwahlen in Vorbereitung auf den IV. Parteitag der SED sollten nur solche Genossen in Leitungsfunktionen gewählt werden, „die sich bei der Durchführung des neuen Kurses, der Zerschlagung der faschistischen Provokation und der Entlarvung der Provokateure als Führer der Massen bewährt haben." 2 5 7 Doch in einigen Görlitzer Betrieben widersetzte sich offenbar die SED-Basis zunächst den Weisungen der Kreisleitungen, die „besten Genossen" in die neuen Leitungen zu wählen. So informierte etwa die SED-Kreisleitung Görlitz-Stadt Mitte Dezember darüber, daß in einigen Betrieben und Einrichtungen Genossen in die neuen Betriebsparteileitungen gewählt worden seien, die am 17. Juni „provokatorische Reden" gehalten hatten, an „faschistischen Aktionen" beteiligt gewesen seien oder des „Sozialdemokratismus" verdächtigt wurden, wie z. B. im VEB Ostsachsendruck, im Stadtkrankenhaus und in der Deutschen Versicherungsanstalt. 258 In einem Falle (Ostsachsendruck) bestätigte die SED-Kreisleitung die neue Leitung nicht, die anderen Parteileitungen sollten ständig kontrolliert werden. Nach Einschätzung der Bezirksparteikontrollkommission hatte es in der SED-Bezirksleitung Leipzig bis auf wenige Ausnahmen „keine Schwankungen" gegeben. 259 Nur einzelne Mitglieder der Bezirksleitung und der Kreisleitungen hätten sich „feige und passiv" verhalten. Zunächst mußte sich der 1. Sekretär der Kreisleitung Leipzig-Stadt, Karl Hübner, vor der BPKK verantworten. Er erhielt eine „Verwarnung" und wurde als 1. Kreissekretär abgelöst, weil er am 17. Juni nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war. 2 6 0 Der 1. Sekretär des Leipziger Stadtbezirkes 10, Jacob, verlor seine Funktion wegen „kapitulantenhaften Verhaltens" und erhielt eine Rüge. Ihm warf die Kommission vor, er habe „auf Drängen der Provokateure eigenhändig die Losungen der Partei aus den Schaukästen des Parteihauses entfernt." Dem politischen Mitarbeiter der MTS des Bezirkes, Helmut Lindau, wurde eine „strenge Rüge" erteilt; er wurde aus der Bezirksleitung ausgeschlossen und wegen „kapitulantenhaften Verhaltens im Hause der FDJ-Bezirksleitung" von seiner Funktion abgesetzt. Zwei Werkdirektoren, gewählte Mitglieder der SED-Bezirksleitung, wurden mit dem 2 5 6 Vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, Analyse über Parteistrafen aufgrund des 17.6.1953 im Apparat der KL, vom 12.10.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 119f.). 257 Direktive des ZK über die Wahlen der Delegierten zum IV. Parteitag und die Neuwahlen der leitenden Parteiorgane. Beschluß des ZK der SED vom 19.9.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 4 9 4 . 2 5 8 Vgl. SED-KL Görlitz-Stadt, An die BPKK, Bericht vom 14.12.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 0 , Bl. 62ff.). 2 5 9 Vgl. SED-BL Leipzig, An die ZPKK, Bericht vom 31.7.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 303ff.). 2 6 0 Vgl. ebd., Bl. 303; die folgenden Zitate ebd., Bl. 3 0 4 .

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

451

Parteiausschluß bzw. mit einer Rüge bestraft und aus der Bezirksleitung ausgeschlossen bzw. als Werkleiter abgelöst. Im Juli leitete die BPKK Leipzig Verfahren gegen den Betriebsleiter und den Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung des Kombinates „Otto Grotewohl" Böhlen ein, weil sie sich „unter dem Einfluß von Provokateuren, einer sogenannten illegalen BGL, nach Berlin begeben und bei den dortigen Regierungsstellen versucht hatten, entgegen den Beschlüssen des 15. Plenums des ZK einen sogenannten Kombinatstarif durchzusetzen." 2 6 1 Im Bezirk Leipzig nahmen die SED-Bezirksleitung, aber auch zentrale Parteigremien besonders den Kreis Altenburg ins Visier. Der 1. Kreissekretär von Altenburg, Karl Strömdörfer, wurde im August scharf angegriffen. 2 6 2 Zunächst warf ihm die Bezirksleitung „versöhnlerisches und unkämpferisches Verhalten" vor. 2 6 3 Zwei Monate später wurde gegen ihn ein Parteiverfahren wegen „parteifeindlichen Verhaltens" eingeleitet. 2 6 4 Er wurde als 1. Kreissekretär abgelöst und später aus der SED ausgeschlossen. Vor dem 17. Juni 1953 war jener Karl Strömsdörfer aus der Sicht der Bezirksleitung Leipzig „einer der besten 1. Kreissekretäre" gewesen. 2 6 5 In realistischer Einschätzung der Lage hatte sich Strömsdorfer am 13. Juni 1953 in einer Aussprache mit der SED-Betriebsparteiorganisation in der Maschinenfabrik „John Scheer" in Meuselwitz gegen die administrative Normenerhöhung ausgesprochen und prophezeit: „Wir werden uns von den Massen entfernen, wenn wir so weiterm a c h e n . " 2 6 6 Er hatte die Absetzung des Werkleiters gefordert, der die Normenerhöhung per Aushang bekannt gemacht hatte. Im Kern ging es bei diesen Auseinandersetzungen nur vordergründig um die Person des 1. SED-Kreissekretärs, wichtiger war das Ziel der Disziplinierung und Einschüchterung der Angehörigen der gesamten Kreisparteiorganisation. Der G r u n d hierfür lag vor allem darin, daß der Kreis Altenburg als traditionelles Z e n t r u m der Arbeiterbewegung stets sozialdemokratisch gewesen war. 2 6 7 Die SPD hatte bei den Wahlen zum Land- u n d Reichstag bis 1932 stets die einfache und 1928 und 1932 die absolute Mehrheit errungen. Ihr hatten 1919 1 8 0 0 Mitglieder und 1933 3 8 0 0 Mitglieder angehört. Nach Ansicht des 261 SED-BL Leipzig, Monatsbericht der BPKK für den Monat Juli, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30 I V / 2 / / 4 / 4 2 0 , Bl. 317). 262 Zu den Hintergründen, weshalb sich die Parteiführung gerade auf Altenburg und damit auch auf den 1. Kreissekretär konzentrierte, vgl. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 225ff. 263 SED-BL Leipzig, Monatsbericht der BPKK für den Monat Juli, o.D. (SAPMO-BArch, DY 30 I V / 2 / / 4 / 4 2 0 , Bl. 317). 264 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 24.9.1953 (SächsStAL, SED IV/ 2.3/147). 265 Bericht über den Einsatz einer Instrukteurbrigade des ZK im Kreis Altenburg vom 26.10.1953, S. 19f. (SächsStAL, SED 1 V / 2 / 1 2 / 5 9 2 ) . 266 BPO „lohn Scheer" Meuselwitz, Besprechung der BPO mit der KL vom 13.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 7 / 0 0 5 / 5 ) . 267 Vgl. Bericht über den Einsatz einer Instrukteurbrigade des ZK im Kreis Altenburg vom 26.10.1953, S. lf. (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 2 ) ; das folgende Zitat ebd., S. 2.

452

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. funi

ZK hatte die SPD vor 1933 „fast völlig unter den Einfluß rechter opportunistischer Kräfte" gestanden. Umgekehrt war die KPD in diesem Kreis relativ schwach gewesen und 1928 unter dem Einfluß der KPO fast völlig zerschlagen worden. Der damalige Führer der KPO, Otto Engert, der später von den Nazis hingerichtet worden war, würde in Altenburg immer noch als „Volksheld" verehrt, wie es im ZK-Bericht hieß. Nach 1945 war die SPD schneller als die KPD gewachsen. Im Juni 1953 kam mit dem 1. Kreissekretär Strömsdorfer im Sekretariat der Kreisleitung Altenburg nur ein Funktionär aus der ehemaligen KPD. 2 6 8 Gerade ihm wurde im Parteiverfahren vorgehalten, er hätte jeden Kommunisten aus dem Gremium „herausgedrängt". Am 17. Juni 1953 waren die Forderungen nach Ablösung Ulbrichts und nach Neugründung einer SPD in einigen Großbetrieben des Kreises besonders stark gewesen. Nach Erkenntnis der BPKK hätten sich in drei Altenburger Betrieben ehemalige Sozialdemokraten „gesammelt", um „eine neue SPD" zu gründen. 2 6 9 Doch die von der Kreisleitung Altenburg gezeigte Initiative gegen den sogenannten Sozialdemokratismus entsprach nicht den Vorstellungen des ZK. Den Funktionären wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, sie hätten nicht untersucht, weshalb in der Textima Altenburg 54 Genossen am 17. Juni ihr Mitgliedsbuch abgegeben hatten. Die Bezirksleitung ging davon aus, daß dahinter „eine feindliche Organisation steckt." 270 Anfang August beschloß sie deshalb, eine Brigade „aus den besten und erfahrensten Genossen" zu bilden, die dort „acht bis 14 Tage den Kampf gegen den Sozialdemokratismus führen" sollte. 271 Daneben wurde noch die ZK-Brigade Zylla in Altenburg eingesetzt. 272 Walter Ulbricht zeigte besonderes Interesse an diesem Kreis. Er sei über die „Angelegenheit Altenburg sehr empört" gewesen, ließ die SED-Bezirksleitung Strömsdörfer wissen. Auf der Bezirksleitungssitzung am 10. August machte Ulbricht „den richtungweisenden Zwischenruf: ,Was im Kreis Altenburg geschehen ist, das übertrifft alles'". 273 Das Sekretariat attackierte Strömsdörfer bereits zu diesem Zeitpunkt sehr scharf und erhob gegen ihn den Vorwurf, Ulbricht angegriffen zu haben. 274 Paul Fröhlich und Hans Vogelsang, der Vorsitzende der BPKK, hielten ihm weiter vor, er habe die Kritik der Bezirksleitung negiert und die „Feinde in Altenburg" nicht genügend bekämpft. Damit habe er sich „auf eine Plattform (begeben), die an die Grenze

2 6 8 Vgl. Aussprache vor der BPKK mit Strömsdörfer am 21.10.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 7 ) ; das folgende Zitat ebd. 2 6 9 SED BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 6 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 . 3 / 1 4 7 ) . 2 7 0 Vgl. SED-KL Altenburg, Sitzung der KL vom 2 3 . 9 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 1 2 9 3 , Bl. 479). 271 SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 6 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 . 3 / 1 4 7 ) . 2 7 2 Sie erstellte am 2 6 . 1 0 . 1 9 5 3 einen umfangreichen Bericht über diesen Einsatz (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 2 ) . 273 SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 10.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) . 274 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3/146).

Parteiüberprüfungen

zur Disziplinierung der Basis

453

des politischen Todes gehen kann". Fröhlich drohte: „Wir werden diesen Stinkladen in Altenburg ausräuchern." Am 24. September wurde beschlossen, Strömsdörfer wegen „parteifeindlichen Verhaltens" von seiner Funktion zu entbinden und ein Parteiverfahren gegen ihn zu eröffnen. 2 7 5 „Der Gen. S. hat sich nicht an die Spitze des Kampfes gestellt", hieß es zur Begründung, „um nach der Kritik des Gen. W. Ulbricht und der Bezirksleitung eine Wende in der Parteiarbeit herbeizuführen, er hat im Gegenteil die Arbeit der Brigade erschwert und durch seine unkritische Haltung nicht dazu beigetragen, der Partei zu helfen, die wahren Ursachen für die Fehler und Schwächen im Kreis Altenburg aufzuzeigen. Sein Verhältnis zu Kritik und Selbstkritik ist eines Parteimitgliedes unwürdig." Fröhlich meinte sogar, es würde „alles daraufhin deuten", daß Strömsdörfer „einen direkten Auftrag" habe und unterstellte ihm damit indirekt feindliche Tätigkeit. Deshalb sollte auch seine Vergangenheit untersucht werden. Es gäbe bereits Hinweise auf Selbstzufriedenheit, ungenügendes Vertrauen zur Kraft der Arbeiterklasse und zur Sowjetunion. 2 7 6 Der Vorsitzende der ZK-Brigade, Zylla, berichtete Mitte September über die Ergebnisse der Untersuchung der Parteiarbeit in Altenburg. 2 7 7 Der „aktive Parteikern" hätte zwar eine „richtige Richtung", er wisse aber noch nicht, „was Agenten des Ostbüros sind und wie man den Kampf gegen sie führen muß". Er begründete das auch damit, daß in den letzten Jahren gerade in Altenburg der „Kampf" gegen den Sozialdemokratismus „vollkommen ungenügend" geführt worden sei. SED-Angehörige, die „etwas wüßten", lehnten Namensnennungen ab, weil sie nicht denunzieren wollten. So konnten die ZK-Instrukteure bis dahin nicht in Erfahrung bringen, wer den Streik in der Maschinenfabrik Meuselwitz organisiert hatte. Dagegen kannten die Instrukteure angeblich den Namen des Parteimitglieds, das die „illegale SPD organisiert hat." Die ZKBrigade sei „gegenwärtig dabei, in der Textima und in Meuselwitz den Feind einzukreisen". Da die Brigade nicht alle Spuren verfolgen könne, sei veranlaßt worden, „daß die Genossen von der Staatssicherheit untersuchen und zupacken". Alles deutet darauf hin, daß auch das MfS „das leitende Z e n t r u m " nicht fand, weil es ein solches offensichtlich auch hier nicht gegeben hatte. 2 7 8 In den Unterlagen der Kreisdienststelle des MfS finden sich keine Hinweise auf Erfolge bei der Spurensuche. (Die MfS-Mitarbeiter in Altenburg hatten offenbar andere Aufgaben zu lösen, u. a. sich mit „unmoralischen Machenschaften" ihres Leiters, Erdmann, zu beschäftigen. Dieser wurde Ende 1953 verhaftet.) 275 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 24.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3/147); die folgenden Zitate ebd. 276 SED-BL Leipzig, Bericht über den Stand der Untersuchungen im Kreis Altenburg in der Sitzung des Sekretariats der BL vom 17.9.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5/1293, Bl. 155). 277 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 24.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3/147); die folgenden Zitate ebd. 278 Vgl. ZK der SED, Abt. LOPM, Situationsbericht über den Kreis Altenburg nach einem kurzen Informationseinsatz am 29. und 30.12.1953, vom 31.12.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 1 2 9 3 , Bl. 131 f.).

454

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

Ende Oktober 1953 zog der Vorsitzende der Bezirksparteikontrollkommission, Vogelsang, vor dem Sekretariat der Bezirksleitung ein aus der Sicht der SED wenig zufriedenstellendes Fazit: „Der Kampf gegen die Untergrundorganisation in Altenburg hat versagt, indem man nichts Konkretes nachweisen kann. Trotz unserer Bemühungen kommt nichts dabei heraus." 2 7 9 Eine Folge dieser Auseinandersetzungen war aber, daß in Altenburg, nach Aussagen von Funktionären, eine „Atmosphäre des Mißtrauens herrsche. Ein einfacher Arbeiter getraue sich nichts mehr zu sagen". 2 8 0 Bis Ende 1953 wurden in Altenburg 116 Angehörige der SED aus der Partei ausgeschlossen, darunter zehn ehemalige Mitglieder der KPD und 17 der SPD. Unter den Ausgeschlossenen waren: der Sekretär der Betriebsparteiorganisation der Textima, Jores, der Direktor des Braunkohlenwerkes in Bocka, Thieme, der Parteisekretär und der Werkleiter des Werkes Zipsendorf, Polensky und Oswin Rosselt. 281 Das Sekretariat der SED-Kreisleitung Altenburg war aufgrund der personellen Verluste fast arbeitsunfähig. 2 8 2 Neben dem 1. Kreissekretär wurden auch die Sekretäre für Wirtschaft und für Propaganda, der Vorsitzende der Kreisparteikontrollkommission, der Leiter der Abteilung Parteien und Massenorganisationen und der Instrukteur für Information abgelöst. Des weiteren wurden neun Sekretäre von Betriebsparteiorganisationen ersetzt. Daneben wurden zahlreiche politische und technische Mitarbeiter des Parteiapparates ausgewechselt. Der neue 1. Kreissekretär, Rudolf Nowak, versuchte offenbar die „Fehler" seines Vorgängers zu vermeiden; er geriet aber dennoch in die Kritik der übergeordneten SED-Leitung, weil er sich in „Einzelheiten" verliere und „überspitze". 283 So stufte er etwa das Aufstellen eines Weihnachtsbaumes im Parteigebäude anläßlich der Weihnachtsfeier oder das Zuspätkommen zur Mitgliederversammlung als „Sozialdemokratismus" ein. Der neue 2. Sekretär wurde als „Diktator" bezeichnet, der nicht den richtigen Ton zu seinen Mitarbeitern finde sowie abstrakt und gefühllos mit ihnen verkehre. Davon ausgehend, daß es „noch nicht gelungen [sei], die sozialdemokratischen und faschistischen Agenturen des Imperialismus zu zerschlagen und die Träger der Ideologie des Sozialdemokratismus restlos zu entlarven", legte die Bezirksleitung Leipzig am 15. Januar einen „Beschlußentwurf" zur weiteren Arbeit in Altenburg vor. 284 Sie befürchtete, daß nach Beendigung der Unter279 SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 22.10.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 149). 280 SED-BL Leipzig, Bericht über den Stand der Untersuchungen im Kreis Altenburg in der Sitzung des Sekretariats der BL vom 17.9.1953 (SAPMO-BArch, DY 30 / I V / 2 / 5 / 1 2 9 3 , Bl. 153). 281 Vgl. SED-BL Leipzig, Vertrauliche Verschlußsache Nr. 19/54, o.D. (SächsStAL, SED IV/4/09/019). 282 Vgl. ZK der SED, Abt. LOPM, Situationsbericht über den Kreis Altenburg nach einem kurzen Informationseinsatz am 29. und 30.12.1953, vom 31.12.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 1 2 9 3 , Bl. 131 f.). 283 Vgl. ebd., Bl. 132; die folgenden Zitate ebd., Bl. 133. 284 SED-BL Leipzig, Beschlußvorlage vom 15.1.1954 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 592).

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

455

suchungen durch die beiden Parteibrigaden „der Feind wieder stark in Erscheinung" treten werde. 2 8 5 Drei Mitglieder der Bezirksleitung, darunter Fröhlich und Vogelsang, sollten die Altenburger Funktionäre bei der „politischen Führung des Kampfes" unterstützen. Die Bezirksleitung setzte darüber hinaus 50 Parteiaktivisten im Kreis Altenburg ein. Am 27. Januar faßte das Kreisparteiaktiv von Altenburg den Beschluß „Räuchert die Agentennester des Ostbüros im Kreis Altenburg aus! " 2 8 6 Etwa zum gleichen Zeitpunkt bestätigte die BPKK Leipzig Parteistrafen gegen 3 0 Funktionäre des FDGB im Bezirk. 2 8 7 U.a. wurde der 1. Vorsitzende des Kreisvorstandes der IG Bau-Holz, Heinz Hagemann, ein ehemaliger Maurer, aus der SED ausgeschlossen. Er hatte einen Forderungskatalog der streikenden Bauarbeiter der Windmühlenstraße weitergeleitet. Den Vorsitzenden des Bezirksvorstandes des FDGB, Erich Stein, traf das gleiche Verdikt. Er wurde bestraft, weil die Leipziger Gewerkschaftsfunktionäre am 17. Juni das Gewerkschaftsgebäude, das „Thälmann-Haus", nicht „unter Einsatz ihres Lebens" verteidigt hatten. Der Ausschluß von Stein hing offenbar auch damit zusammen, daß er es gewagt hatte, Paul Fröhlich auf einer Sitzung der Bezirksleitung zu widersprechen. Stein hatte sich gegen die Kritik von Fröhlich gewehrt und von ihm verlangt, er solle sich wegen seiner Angriffe vor der Partei verantworten. 2 8 8 Noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Aufstands berichtete die BPKK Karl-Marx-Stadt Ende Juni über die Haltung der SED im Bezirk und über Beispiele für das „Versagen von Parteileitungen" in den Kreisen. 2 8 9 Sie informierte über Vorfälle an den Schulen, bei denen es hauptsächlich um „passive" Lehrer ging, die „Bilderstürmereien" von Grundschülern nicht verhindert hatten. Aber auch andere „staatsfeindliche Delikte" wurden gemeldet, so hatte eine Klasse von Berufsschülern erklärt, eine Arbeit in Gesellschaftskunde erst dann schreiben zu wollen, wenn über die aktuellen Vorgänge am 17. Juni gesprochen würde. Für besonders bedenklich hielten es die Parteikontrolleure, wenn die Lehrer sich in solchen und ähnlichen Situationen „zurückhaltend und a b w a r t e n d " 2 9 0 verhalten hatten. In der Fachschule für Maschinenbau- und Elektrotechnik Karl-Marx-Stadt hätte eine Seminargruppe die Vorlesungen im Fach Gesellschaftswissenschaften „offen" mit dem Hinweis abgelehnt, sie sehe „den Marxismus als unwahr" an. Nachdem die Dozenten und die Parteileitung

2 8 5 SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 17.12.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 153). 2 8 6 Vgl. SED-BL Leipzig, Vertrauliche Verschlußsache Nr. 1 9 / 5 4 , o . D . (SächsStAL, SED IV/4/09/019). 2 8 7 Vgl. SED-BL Leipzig, Material der BPKK vom Januar 1954 (SächsStAL, SED IV/2/4/358). 2 8 8 Vgl. Fröhlich, Paul, Referat auf der Sitzung der BL vom 7.7.1953 (SächsStAL, SED IV/ 2 / 1 / 2 8 , Bl. 98). 2 8 9 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bericht über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, vom 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , S. 1 - 4 4 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 6 8 ) . 2 9 0 Ebd., S. 8; die folgenden Zitate ebd., S. 12.

456

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

offenbar schnell nachgegeben hatten, hätten die Studenten an die Tafel geschrieben: „Wir haben gesiegt. Die Dozenten haben Angst." Ein weiterer Kritikpunkt betraf das Handeln „fast aller Parteileitungen auf den Dörfern". 2 9 1 „Viele Genossen" auf dem Land hätten keine Wache gehalten. Die BPKK hielt es für mitteilenswert, daß ein Bürgermeister bei einer Kontrolle „im Schlafanzug erschien" und geäußert habe: „Wir brauchen hier draußen keine Wache. Das Telefon steht neben meinem Bett". Damit hatte er in den Augen der Kontrollkommission ein wichtiges Prinzip der „revolutionären Wachsamkeit" sträflich verletzt. Auch aus zahlreichen Betrieben und Schulen wurden solche Beispiele mangelnder „Wachsamkeit" geschildert. Das ZK erfuhr auch von der Äußerung eines Schulleiters, der den Parteileitungen vorgehalten habe, sie machten mit ihren „Anordnungen den Laden nur noch verrückter". 2 9 2 Unter der Rubrik „feindliches Verhalten von Genossen" wurden hauptsächlich Äußerungen gegen Walter Ulbricht und andere Funktionäre aufgezählt. So habe ein Lehrer aus einer Berufsschule in Oelsnitz einem anderen SED-Mitglied gegenüber gesagt: „Der Ziegenbart muß einen Kopf kürzer gemacht werden. Dies ist auch die Meinung der Bevölkerung." 293 Andere hätten Parteiverfahren gegen Ulbricht gefordert, weil er ein „Diktator" sei. Ein Genosse aus der Radiogehäusefabrik in Großhartmannsdorf habe in einer Gaststätte Grotewohl zum „Disteln Jäten" aufgefordert, „damit die Fettwänste endlich einmal arbeiten lernen". Unter die Kategorie „feindliches Verhalten" fielen auch „negative Diskussionen" zur Parteipresse. Zahlreiche Beispiele für „feindliches Verhalten von Genossen" betrafen die Haltung zur SPD. Einige hätten sich offen zur Sozialdemokratie bekannt, sie wollten sofort in eine wiedergegründete SPD eintreten, andere seien stolz, niemals wirklich „Kommunist" gewesen zu sein. Die nächste Kategorie von SED-Mitgliedern, deren Verhalten kritisiert wurde, waren die „unsicheren Elemente" in der Partei. Darunter fielen Genossen, die am 17. Juni das Parteiabzeichen abgelegt hatten, die keine Mitgliedsbeiträge mehr bezahlten oder westliche Sender hörten. Während in Leipzig solches Verhalten mit dem Begriff „Sozialdemokratismus" belegt wurde, galten in KarlMarx-Stadt solche Mitglieder lediglich als „unsichere Elemente". Auch Genossen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni ihren Austritt erklärten, firmierten hier noch unter dieser Kategorie. Zur Illustration der „Methoden der Feindarbeit" berichtete die Kontrollkommission über „Schmierereien" in Toiletten, an Häusern, an Hunten u.ä. Aber auch die Anfertigung eines Zettels mit der Aufschrift „Nieder mit den Lehrern, Abschaffung des Klassenbuches, keinen russischen Unterricht" 2 9 4 durch vier Schüler einer Grundschule in Frankenhausen wurde in diese Rubrik 291 292 293 294

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

8; die folgenden Zitate ebd. 12. 15; die folgenden Zitate ebd., S. 20. 40.

Parteiüberprüfungen

zur Disziplinierung der Basis

457

eingeordnet. Die Väter seien früher Angehörige der SA und der SS gewesen. Geschildert wurde auch, wie in einem Dorfe im Kreis Flöha ein „Kreuz" mit der Aufschrift „Wir tragen den Sozialismus zu G r a b e " durch den Ort getragen worden sei. Unter den Akteuren habe sich auch ein Mitglied der SED befunden. Über das Verhalten der Mitglieder der SED-Bezirksleitung lag Ende Juli noch kein vollständiger Überblick vor. 2 9 5 „Feindliches Verhalten" konnte bis zu diesem Zeitpunkt nicht festgestellt werden; der „größte Teil der Genossen" sei zwar aktiv gewesen, habe aber „oft Eigeninitiative" vermissen lassen. In die Kritik gerieten „abwartende Haltungen", „ungenügender Selbstschutz", „überhebliches Auftreten" von einzelnen Kreisleitungsmitgliedern sowie ein am Abend der Aufhebung des Ausnahmezustandes betrunkener 1. Sekretär einer FDJ-Kreisleitung. Im Juli informierte die Bezirksparteikontrollkommission Karl-Marx-Stadt die Zentrale Parteikontrollkommission darüber, daß sie dazu übergegangen sei, „feindliche Erscheinungen zu registrieren und zu systematisieren". 2 9 6 Sie kategorisierte die „Feindarbeit" nach „Feindeinwirkung von außen, örtliche Feindpropaganda, Feindarbeit, die vom Ostbüro ausgeht oder faschistische Propaganda usw." Die Berichte aus Karl-Marx-Stadt lassen den Schluß zu, daß insbesondere SED-Mitglieder mit NS-Vergangenheit dem Vorwurf parteischädigenden Verhaltens ausgesetzt waren. Auffallig ist auch, daß man Parteimitgliedern, die im Z u s a m m e n h a n g mit dem 17. Juni aufgefallen waren, nach Möglichkeit „Verfehlungen" im Privatleben nachzuweisen suchte, um sie als „moralisch verkommene Subjekte" zu diskreditieren. Die Berichterstattung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt über das Verhalten von SED-Funktionären und -Mitgliedern am 17. Juni scheint noch überlagert gewesen zu sein von der Information über die von der 13. Tagung des Z K (Mai 1953) im Z u s a m m e n h a n g mit dem Slansky-Prozeß entfachten Hysterie und der geforderten Suche nach „Feinden" innerhalb der Partei, die nicht zuletzt für die geringe Planerfüllung verantwortlich gemacht werden sollten. Die KarlMarx-Städter hatten bereits seit längerer Zeit systematisch einzelne Betriebsund Wohnparteiorganisationen untersucht. Im VEB AWESA, HohensteinErnstthal, sei die zuständige Kontrollkommission Hinweisen auf Planrückstände nachgegangen und habe dabei eine „Konzentration in der Besetzung wichtiger Funktionen" mit NS-Belastung festgestellt. In diesem Betrieb seien von 6 0 Angestellten 2 0 ehemalige langjährige NSDAP-Mitglieder oder Wehrmachtsangehörige, zehn seien in westlicher Gefangenschaft gewesen. Die KPKK legte danach fest, gegen ein SED-Mitglied ein Parteiverfahren einzulei295Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Betr.: Verhalten der Mitglieder der BL und der KL am 17.6.1953 und den Tagen danach, vom 30.6.1953, S. 1 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) ; die folgenden Zitate ebd. 296 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Monatsbericht der BPKK Karl-Marx-Stadt fur den Monat Juni, vom 16.7.1953, S. 7 (SächsStAC, SED I V / 2 / 4 / 4 6 ) .

458

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17. Juni

ten, und beschloß seine sofortige „Entfernung" aus dem Betrieb. Der Genosse Personalleiter dieses Betriebes erhielt „wegen politischer Blindheit, mangelnder Wachsamkeit in Kaderfragen und versöhnlerischen Verhaltens eine Rüge". 297 Wenig bekannt ist, wie sich die SED-Betriebsparteiorganisationen in und zu einzelnen Parteiverfahren verhielten. Lediglich aus Karl-Marx-Stadt wurden „gewisse Schwierigkeiten" bei der Parteisäuberung in einem Betrieb gemeldet. In der Wernesgrüner Brauerei wollten Vertreter der BPKK am 10. Juli der Mitgliederversammlung einen Beschluß übermitteln, wonach der Werkleiter und der Parteisekretär aus der SED und dem Betrieb ausgeschlossen seien. Die „ganze Mitgliederversammlung" habe dabei eine „aggressive, ja z. T. feindliche Haltung gegenüber den Genossen der BPKK" bezogen. 2 9 8 Später habe sich sogar die gesamte Belegschaft in diese Angelegenheit eingeschaltet, indem sie die Parteimitgliederversammlung gestört und „ultimativ die Forderung" gestellt habe, „daß diese Leute nicht aus der Partei ausgeschlossen werden und der Werkleiter im Werk zu verbleiben hat". Die Tore der Brauerei waren auf Anweisung der Funktionäre aus Karl-Marx-Stadt zu diesem Zeitpunkt „verrammelt" und LKW davor postiert. Die Situation spitzte sich dermaßen zu, daß es Überlegungen gab, die Polizei einzuschalten. Dieser Plan wurde fallengelassen, was „politisch richtig war", wie die Kontrollkommission später bemerkte. Statt dessen schickte die BPKK eine „Reihe von Agitatoren" in den Betrieb, um die Lage in der Brauerei und in Wernesgrün „eingehend zu analysieren". Sie fanden heraus, daß die Wernesgrüner Brauerei „während der faschistischen Zeit als Musterbetrieb" gegolten habe und ein großer Teil der Belegschaft früher in der NSDAP gewesen sei. Jetzt störte auf einmal auch die Zusammensetzung der Betriebsparteiorganisation; von ihren 34 Mitgliedern seien 19 „langjährige Mitglieder" der NSDAP gewesen. In der Wismut konzentrierten sich die Überprüfungen auf die SED-Kreisleitung Wismut-Gera. Diese führte bis Anfang August neun Parteiverfahren im Zusammenhang mit dem 17. Juni durch. 2 9 9 Sämtliche zur Rechenschaft gezogene Genossen wurden beschuldigt, unmittelbar am Streik und an Demonstrationen teilgenommen oder „parteifeindliche Diskussionen" gegen Ulbricht und Grotewohl geführt zu haben. Ein Genosse war bereits vom Bergbaugericht verurteilt; zwei waren vom Gericht mangels Beweisen freigesprochen worden. Für sieben Personen wurde eine Parteistrafe beantragt, darunter vier Ausschlüsse, zwei Streichungen als Kandidat und eine strenge Rüge. In der Parteiorganisation der Wismut blieb es nach den ersten Parteiausschlüssen in dieser Frage lange Zeit ruhig. Der 17. Juni wurde relativ schnell „abgehakt", während in anderen Bereichen der Wirtschaft, in den Verwaltun297 Vgl. ebd. 2 9 8 Vgl. ebd., S. 14; die folgenden Zitate ebd. 2 9 9 Vgl. SED-KL Wismut-Gera, Betreff: Parteiverfahren gegen Genossen im Zusammenhang mit dem 17.6.1953, vom 5 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 4 1 , Bl. 183 ff.).

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

459

gen und Institutionen erst die heiße Phase der Parteisäuberungen begann. Offensichtlich legten die sowjetischen Leitungen größeren Wert auf eine ungestörte Uranförderung als auf wochenlange Diskussionen über die politische Zuverlässigkeit der SED-Mitglieder. Die GPKK Wismut beklagte sich im Januar 1954 darüber, daß in den Parteileitungen „kein prinzipieller Kampf in der Klärung" des Verhaltens von Parteimitgliedern geführt würde. Außerdem sei „dieser so außerordentlich wichtige Kampf nur auf laufendes Drängen von übergeordneten Parteiorganen" und dann auch „noch mangelhaft" geführt worden. 3 0 0 Nur auf Drängen der Kontrollkommission seien „schematisch" Verfahren eingeleitet worden, die aber nicht auf die „Ursachen der Abweichungen" eingegangen seien. Andere Grundorganisationen und auch einzelne Objektparteileitungen hätten sich sogar geweigert, diese Parteiüberprüfungen und Säuberungen mitzumachen. Ihnen warfen die Funktionäre der GPKK „versöhnlerisches" Verhalten vor. Es gab aber auch Fälle von „Verleumdungen", bei denen SED-Mitglieder fälschlicherweise bezichtigt wurden, an „Provokationen oder provokatorischen Diskussionen" beteiligt gewesen zu sein. So begann ein Verfahren gegen ein Parteimitglied mit der Anschuldigung, sich in Rudolstadt an „Provokationen" beteiligt zu haben. Doch der Beschuldigte hatte sich am 17. Juni in Zinnowitz im Urlaub aufgehalten. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß in solchen Fällen die Denunzianten bzw. die Urheber der Falschmeldung zur Rechenschaft gezogen wurden. Möglicherweise war es auch kein Einzelfall, daß in dieser Atmosphäre der verordneten Suche nach „Provokateuren", „Verrätern" und „Parteifeinden" und der geforderten Denunziation völlig Unbeteiligte in den Strudel der Säuberung gerieten. Der Umfang der in Parteiausschlüssen mündenden Säuberung läßt sich anhand von statistischen Angaben über die Mitgliederbewegung der SED verdeutlichen. Im Mai 1953 gehörten der SED insgesamt 1232 311 Mitglieder und Kandidaten an. 3 0 1 Kowalczuk weist für das 3. und 4. Quartal 15 380 Ausschlüsse aus, dazu kommen weitere 7 793 aus dem 1. Quartal 19 54. 3 0 2 Diese Zahlen sagen allein noch wenig darüber aus, ob die Zahl der Parteiausschlußverfahren im Gefolge des 17. Juni - verglichen mit anderen Jahren - außergewöhnlich hoch war. Kowalczuk vergleicht deshalb die Zahl der SED-Ausschlüsse im Krisenjahr 1953 mit der vorangegangener und nachfolgender Zeitabschnitte und folgert daraus, daß das Jahr 1953 „ungefähr im Jahresdurchschnitt" lag. „Dies ist ein weiteres Indiz dafür, daß zumindest bis zum Mauerbau der Parteiausschluß ein wichtiges Disziplinierungsmittel vor allem für die verbleibenden Mitglieder war." 3 0 3

300 SED-GPL Wismut, Analyse über nichtparteigemäßes Verhalten von Genossen an den Tagen der faschistischen Provokation, vom 15.1.1954 (SächStAC, W-IV/2/4/41, Bl. 7); die folgenden Zitate ebd., Bl. 5. 301 Vgl. Kowalczuk, „Wir werden siegen", S. 234, Tabelle 8; das folgende Zitat ebd., S. 233. 302 Vgl. ebd., Tabelle 7. 303 Ebd., S. 234.

460

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17. Juni

Eine systematische Analyse der Mitgliederbewegung im Zusammenhang mit dem 17. Juni anhand der regionalen Quellen ist schwierig, weil nicht zu allen Bezirksparteiorganisationen vergleichbare statistische Angaben vorliegen und die Ausschlüsse oft zeitverzögert erfaßt wurden. Insgesamt war die Parteistatistik nach der Umstellung der Landesparteiorganisationen auf Bezirksparteiorganisationen auch im Jahre 1953 noch nicht in geordnetem Zustand. Die Verteilung der Ausschlüsse in absoluten Zahlen auf die Bezirke ergibt für Sachsen folgenden Befund: 3 0 4 Die Bezirksparteiorganisation Karl-MarxStadt stand mit 2713 ausgeschlossenen Mitgliedern und Kandidaten an der Spitze der drei sächsischen Bezirke. (In der DDR insgesamt wurden nur in Magdeburg und Halle noch mehr Genossen ausgeschlossen.) In der Bezirksparteiorganisation Dresden gab es 2 362 Ausschlüsse. In der Wismut waren es 281. Die Bezirksparteiorganisation Leipzig zählte im I. Quartal 1953 insgesamt 127 517 Mitglieder und Kandidaten, davon wurden 451 ausgeschlossen. 3 0 5 Im III. Quartal registrierte die SED-Bezirksleitung 434 Ausschlüsse. Am 30.9.53 gehörten noch 125 600 Personen der SED an. Für das gesamte Jahr wurden 1837 Ausschlüsse angegeben. Das bestätigt die Annahme, daß die Zahl der Parteiausschlüsse nach dem 17. Juni 1953 im Bereich des Jahresdurchschnitts lag. Für das III. Quartal 1953 liegen für den Bezirk Leipzig statistische Angaben über die soziale und altersmäßige Struktur der Ausgeschlossenen und über die Gründe der Ausschlüsse vor. Demnach waren 37,6 Prozent der aus der SED Ausgestoßenen Arbeiter, 32,3 Prozent Angestellte, 4,8 Prozent Intelligenz. (Dazu der Vergleich mit dem III. Quartal 1952: 40 Prozent Arbeiter, 34 Prozent Angestellte, 5 Prozent Intelligenz.) Die Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren lag mit 28,3 Prozent an der Spitze der Ausgeschlossenen, gefolgt von der Altersgruppe zwischen 50 und 65 mit 27,9 Prozent. 31,1 Prozent der Ausgeschlossenen waren älter als 50 Jahre. (Dazu im Vergleich: I. Quartal 1953: 28,2 Prozent älter als 50 Jahre.) Insgesamt war die letzte Gruppe „unterrepräsentiert", weil etwa jeder zweite Angehörige der SED im Bezirk über 50 Jahre alt war. Von den 434 Ausgeschlossenen hatten vor 1933 27 der SPD und vier der KPD angehört. 148 Ausschlüsse erfolgten im III. Quartal „wegen Partei- und Sowjetfeindlichkeit", 71 wegen „moralischer und krimineller Verbrechen"; ein Mitglied sei als Agent entlarvt 306 und 107 Genossen seien aus „anderen Gründen" ausgeschlossen worden. (Dazu im Vergleich die Gründe, die für Ausschlüsse im I. Quartal 1953 angegeben wurden: 31,9 Prozent wegen Partei- und sowjetfeindlicher Einstellung, 19,3 Prozent wegen unmoralischer und korrupter Handlungen.) Nach Auffassung der Kommission handelte es sich „bei dem größten Teil der Ausgeschlossenen um parteifeindliche Ele3 0 4 Vgl. ebd., S. 234, Tabelle 8. 305 Die folgenden statistischen Angaben vgl. SED-BL Leipzig, Analysen zur Organisationsstatistik, o . D . (SächsStAL, SED IV/ 2 / 5 / 3 9 7 ) . 3 0 6 Dabei handelte es sich um einen Studenten der Leipziger Universität, der nachweislich für die KgU gearbeitet hatte.

Parteiüberprüfungen

zur Disziplinierung der Basis

461

mente", so daß durch den Ausschluß dieser Leute sei „zweifellos eine Festigung der Partei" erfolgt sei. 3 0 7 Die Kreisparteiorganisationen Leipzig-Stadt (54 Prozent), Leipzig-Land (12,3 Prozent) u n d Altenburg (10,0 Prozent) stellten drei Viertel der Ausgeschlossenen im Bezirk. 62,7 Prozent der ausgeschlossenen SED-Genossen stammten aus Grundorganisationen mit bis zu 3 0 0 Mitgliedern, 8,1 Prozent aus solchen mit über 3 0 0 Mitgliedern und 22,6 Prozent aus Wohnparteiorganisationen. 3 0 8 Diese Verteilung würde zwar die Behauptung der SED-Bezirksleitung stützen, wonach die Genossen aus Großbetrieben am 17. Juni eher als die aus kleineren Betrieben zur SED gestanden hätten. Ein G r u n d für die vergleichsweise geringe Zahl von Parteiausschlüssen in Großbetrieben dürfte jedoch darin zu suchen sein, daß sich in größeren Betrieben und in größeren Betriebsparteiorganisationen kritische Genossen eher „verstecken" konnten. In Leipzig gab es eine deutliche Häufung von Ausschlüssen in einigen Großbetrieben. Vogelsang berichtete, allein im SAG Bleichert seien 26 Parteiausschlüsse, sechs strenge Rügen, fünf Rügen und fünf Verwarnungen verhängt w o r d e n . 3 0 9 Dieses Ergebnis brachte der SED-Kreisleitung Stadt und der Parteileitung des SAG Bleichert ein Lob der Parteikontrolleure ein. Vogelsang kritisierte gleichzeitig jene SED-Kreisleitungen, die nur ein einziges Parteiverfahren mit anschließendem Ausschluß durchgeführt hatten. So ermahnte er die Kreisleitung Torgau: „Das kann doch nicht sein, da ist etwas nicht in Ordnung!" Die detailliertesten Angaben zu den Parteisäuberungen machte die SEDGebietsparteiorganisation Wismut. 3 1 0 Am 30. Oktober 1953 gehörten ihr 15 219 Mitglieder und 2 564 Kandidaten und damit gut elf Prozent aller Gesamtbeschäftigten an. Bis zum 5. Januar 1954 wurden 127 Parteiverfahren wegen „nichtparteimäßigem Verhalten von Parteimitgliedern in der Zeit der faschistischen Provokation" eingeleitet. 51 Mitglieder erhielten eine Parteistrafe wegen „kapitulantenhaften Verhaltens", 5 8 wegen „provokatorischen Auftretens", fünf wegen „Verlust des Parteidokuments" und dreizehn wegen ihres am 17. Juni vollzogenen Austritts aus der SED. Unter diesen Parteimitgliedern befanden sich 18 hauptamtliche und sechs ehrenamtliche Funktionäre. 101 der von Parteiverfahren Betroffenen entstammten der Arbeiterschaft, 24 kleinbürgerlichen und zwei bäuerlichen Verhältnissen. Z u m Zeitpunkt des Verfahrens waren 76 als Arbeiter, 26 als Angestellte, und 18 als freigestellte Funktionäre beschäftigt, sieben „Angeklagte" galten als Angehörige der Intelligenz. Die Altersgruppe der 41-50jährigen dominierte mit 38, gefolgt von den Altersgruppen der 31-40jährigen mit 34, der über 50jährigen mit 32, der 307 Vgl. SED-BL Leipzig, Analysen zur Organisationsstatistik, o. D. (SächsStAL, SED IV/ 2/5/397). 308 Vgl. ebd. 309 Vgl. SED-BL Leipzig, Bezirksparteiaktivtagung vom 30.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 2 ) ; das folgende Zitat ebd. 310 Vgl. SED-KL Wismut-Gera, Betreff: Parteiverfahren gegen Genossen im Zusammenhang mit dem 17.6.1953, o. D. (SächsStAC, W-IV/2/4/41, Bl. 183ff.).

462

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

21-30jährigen mit 21. Zwei SED-Angehörige waren jünger als 2 0 Jahre. Von den 61 bis Anfang 1954 abgeschlossenen Verfahren endeten 15 mit Belehrungen, drei mit Verwarnungen, fünf mit Rügen und acht mit strengen Rügen. 3 0 Genossen mußten ihr Parteibuch abgeben. 18 der Ausgeschlossenen waren Arbeiter, acht Angestellte und vier hauptamtliche Funktionäre. Sieben waren vor 1933 Mitglied der KPD, vier der SPD und einer der ausgeschlossenen Funktionäre Mitglied der NSDAP gewesen. Von den 127 Parteiverfahren führten die Kreisleitungen Gera 2 9 , Johanngeorgenstadt 2 5 und Freital 2 3 . Für die Bezirksparteiorganisation Dresden sind keine vergleichbaren Angaben zu den Ergebnissen der Parteisäuberungen überliefert. Im Jahre 1953 verließen im Bereich der Bezirksparteiorganisation Dresden 7 3 2 Genossen die SED; nur in Berlin war die absolute Zahl der Austritte noch höher. 5 1 1 Vom I. Quartal zum IV. Quartal 1953 stiegen die Parteiaustritte in Dresden auf das Dreifache und der Anteil der aus der S E D ausgetretenen Produktionsarbeiter von 3 0 , 5 Prozent auf 4 6 , 3 Prozent. 3 1 2 Die Kandidatengewinnung konnte in den drei sächsischen Bezirksparteiorganisationen die Verluste an Mitgliedern und Kandidaten durch Austritte und Ausschlüsse nicht ausgleichen. Sie sollte im Jahre 1953 darauf gerichtet sein, den Anteil von Arbeitern - besonders Produktionsarbeitern - und von Jugendlichen an den Mitgliedern zu erhöhen. Nach Richtlinien des Z K der S E D vom 8. Januar 1953 sollten Angestellte nur aufgenommen werden, „wenn sie hauptverantwortliche Funktionen in Betrieben ausüben und eine gute aktive gesellschaftliche Arbeit in den Massenorganisationen geleistet haben". In der Bezirksparteiorganisation Leipzig verringerte sich trotz dieser Vorgaben der Arbeiteranteil - vom IV. Quartal 1952 mit 4 3 , 2 Prozent auf 41,9 Prozent am 3 0 . September 1953. 3 1 3 Der Angestelltenanteil stieg im gleichen Zeitraum von 2 9 , 0 Prozent auf 3 0 , 4 Prozent. Zum Stichtag 3 0 . September 1953 waren 12,4 Prozent der Leipziger Genossen jünger als 3 0 Jahre, aber 4 4 , 4 Prozent älter als 5 0 . 3 1 4 Während etwa 7,7 Prozent der rund 1,6 Mio. Einwohner des Bezirkes in der S E D organisiert waren, besaßen lediglich 2 , 9 Prozent der Jugendlichen das Parteibuch. Nachdem das Z K der S E D am 8. Dezember 1953 einen Beschluß zur Verbesserung der Arbeit unter der Jugend gefaßt hatte, gingen alle Kreis- bzw. Betriebsparteileitungen konkrete Verpflichtungen zur Werbung von Jugendlichen für die S E D ein. So stellte sich etwa die Kreisleitung Borna die Aufgabe, 1 0 0 0 jugendliche Kandidaten zu gewinnen: Vom 10. Juni 1954 bis 15. Oktober 1954 gelang es ihr nur, 6 6 Jugendliche zum Eintritt zu bewegen. Die Mitgliederbasis der Bezirksparteiorganisationen veränderte sich auch, weil in vorhergehenden Säuberungswellen ausgeschlossene SED-Mitglieder, 311 Vgl. Kowalczuk, „Wir w e r d e n s i e g e n " , S. 2 3 3 , Tabelle 6. 312 Vgl. SED-BL Dresden, Analysematerial „Partei", o.D., S. 12 (SächsHStA, SED IV/2/12/008). 313 Vgl. SED-BL Leipzig, Analysen zur Organisationsstatistik, o . D . (SächsStAL, SED IV/ 2/5/397). 314 Vgl. ebd.

Parteiüberprüfungen zur Disziplinierung der Basis

463

die sich am 17. Juni „vorbildlich verhalten" hatten, wieder in die Partei aufgen o m m e n wurden. Künftig wollten sich die SED-Leitungen mit den ehemaligen Mitgliedern beschäftigen, um sie nicht weiter ins Lager der „Feinde" zu treiben. 3 1 5 Selbstkritisch stellten die SED-Bezirksleitungen nach dem 17. Juni fest, daß sie keinen Überblick über die ausgetretenen und ausgeschlossenen Mitglieder hatten. Aus den speziellen Berichten an die ZPKK zu dieser Problematik werden charakteristische Verhaltensmuster deutlich: Einige zuvor in Ungnade gefallene ehemalige Genossen nutzten sofort die Gunst der Stunde und versuchten, wieder in die SED zu gelangen. Die SED-Leitungen ihrerseits waren nicht abgeneigt, die Ehemaligen in ihre Reihen aufzunehmen. Möglicherweise erhofften sie sich besonders von ihnen Angaben über sogenannte Provokateure und Rädelsführer. Die Rücknahme von Ausschlüssen oder ihre Umwandlung in Parteistrafen wurde meist mit Auflagen verbunden. Aber nicht alle ehemaligen Parteimitglieder, denen „vorbildliches Verhalten" bescheinigt wurde, stellten von sich aus einen Antrag zur Wiederaufnahme. Den Parteikontrollkommissionen wurde deshalb empfohlen, sich mit diesen ehemaligen Parteimitgliedern zu beschäftigen und ihnen „nahe zu legen, Neuanträge um Aufnahme in die Partei zu stellen". 316 Die Zahl der Wiederaufnahmen läßt sich kaum ermitteln, da vorwiegend über einzelne Verfahren berichtet wurde. So befürwortete das Sekretariat der SED-Bezirksleitung Leipzig den Antrag eines 30jährigen Schlossers auf Umwandlung seines Parteiausschlusses in eine strenge Rüge, v e r b u n d e n mit zwei Jahren Funktionsentzug. Er war wegen „Nichtdurchführung von Beschlüssen, Außerachtlassen der Wachsamkeit und wegen unmoralischen Verhaltens" aus der SED ausgeschlossen worden, hatte sich aber am 17. und 18. Juni „vorbildlich verhalten". 3 1 7 Auch der folgende Fall wurde im Sinne des Antragstellers entschieden: Ein 40jähriger Sachbearbeiter aus der Leipziger ABUS war „wegen unmoralischen Verhaltens gegenüber einer Schülerin der Betriebsparteischule fristlos entlassen und aus der Partei ausgeschlossen" worden. Er war wegen des gleichen Vergehens bereits vor seinem Ausschluß mit einer Rüge geahndet worden. Am 17. Juni hatte er sich „tapfer verhalten, die Belegschaft vom Streik abgehalten und zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegt". Sein Ausschluß wurde aufgehoben. Mit dieser „großzügigen" Wiederaufnahmepraxis, die den Betroffenen auch berufliche Perspektiven eröffnete, hoffte die SED nicht zuletzt besonders ergebene, dankbare und motivierte und damit besonders einsatzbereite Mitglieder (wieder) zu gewinnen. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 verliefen ganz und gar nicht nach den Vorstellungen und Vorgaben der SED-Führung. Geplant war ein „Selbstreinigungsprozeß", in dem 315 Vgl. SED-BL Dresden, Einige Hinweise für die Behandlung von Austritten, vom 14.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bd. 2). 316 SED-BL Leipzig, Betr.: Behandlung von Ausgeschlossenen, die sich am 17. Juni vorbildlich verhielten, vom 15.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 8 , Bl. 45f.). 317 Ebd., Bl. 46; die folgenden Zitate ebd., Bl. 45.

464

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

durch „kämpferische Auseinandersetzungen parteifeindliche Elemente und Gruppierungen entlarvt" werden sollten und aus dem die Partei „gestärkt" und „schlagkräftiger" hervorgehen sollte. 318 Dabei ging es vordergründig um die Verurteilung einzelner Parteimitglieder, letztendlich aber um die Disziplinierung und Einschüchterung der kritischen Stimmen in der SED und in der gesamten Bevölkerung. Eine Minderheit von kritischen Parteimitgliedern wollte nicht nur über einzelne Fehler oder angeblich unglückliche Maßnahmen diskutieren und diese abstellen, vielmehr stellte sie grundsätzliche Orientierungen und die Methoden der Parteiarbeit in Frage. Weil es sich aber zumeist gerade um die aktiven Genossen in den Parteiorganisationen handelte, bestand die Gefahr einer Beeinflussung der passiven Mehrheit der SED-Mitglieder. Die Parteiführung mußte befürchten, daß sich aus Kritikern an Ulbricht und seinem Führungsstil eine Opposition innerhalb der Partei entwickeln könnte. Eine derartige Entwicklung schien nach dem 17. Juni zunächst nicht ausgeschlossen, weil ein Großteil der Genossen gegen Ulbricht und dessen harten Kurs eingestellt war. Bis zur 15. ZK-Tagung hofften viele SED-Mitglieder auf personelle und strukturelle Veränderungen. Ein weiterer Teil der Mitgliedschaft stand zwar „ohne Wenn und Aber" zur Parteiführung. Aus Angst vor möglichen Racheakten hielt dieser Teil sich zunächst bedeckt. Denn nach dem Aufstand kursierten wochenlang Gerüchte über eine Neuauflage des 17. Juni und die Absetzung des angeschlagenen SED-Systems mit Hilfe des Westens. Insgesamt zeigte die Parteibasis mehrheitlich kein ausgeprägtes Interesse, „einfache" Genossen zu opfern, während die - aus ihrer Sicht - Hauptschuldigen an der verfehlten Politik im Politbüro ihre Stellung behaupteten. Es muß für viele wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben, als nicht Walter Ulbricht abgelöst wurde, sondern im Umfeld der 15. ZK-Tagung dessen Kritiker „entlarvt" und aus der Parteiführung entfernt wurden. Innerparteiliche Untersuchungen, Parteiausschlüsse und berufliche Degradierungen sowie inquisitorische „persönliche Aussprachen" mit SED-Mitgliedern brachten die kritischen Stimmen allmählich zum Verstummen und disziplinierten die gesamte Parteibasis. Die ständige Anwesenheit von SED-Instrukteuren in Betrieben und Institutionen, wochenlange Agitationskampagnen, die Popularisierung von Straf-Urteilen gegen sogenannte Provokateure und Rädelsführer in der Presse, ihre Auswertung in Parteiveranstaltungen erzeugten an der Basis eine Atmosphäre, in der Passivität in Lethargie umschlug. 319

318 Vgl. ZK der SED, Aufgaben zur weiteren Festigung und Entwicklung der Partei, vom 18.7.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 4 2 , Bl. 9 4 ) . 319 Vgl. Kowalczuk, „Wir w e r d e n s i e g e n " , S. 231.

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

6.

465

Z u r Aktivierung des „Parteilebens" nach d e m 17. Juni

Am 21. Juni 1953 versuchte die SED-Führung zur Offensive überzugehen. Walter Ulbricht übermittelte den 1. Bezirkssekretären eine Direktive des Politbüros, mit der die Parteileitungen aufgefordert wurden, in Umsetzung der Beschlüsse der 14. ZK-Tagung die Organisationsarbeit zu verbessern und die propagandistischen Anstrengungen zu intensivieren. 520 Agitatoren und Propagandisten waren für einige Tage von der beruflichen Arbeit freizustellen, die Schüler aller Parteischulen sollten für zwei Wochen zur Agitations- und Propagandaarbeit in den Betrieben und unter der Bevölkerung eingesetzt werden. Gefordert waren Parteiaktivtagungen sowie Partei- und Mitgliederversammlungen in den Grundorganisationen zur Vorbereitung von Belegschaftsversammlungen. Unter dem Druck der Parteiführung setzte in den territorialen Parteigliederungen hektische Aktivität ein. Es ist kaum möglich, alle Veranstaltungen und Sitzungen zu erfassen, die in den Wochen und Monaten nach dem 17. Juni organisiert oder geplant wurden. Allein die Anzahl von Parteiaktivtagungen zur Auswertung der ZK-Tagungen ist kaum zu abzuschätzen. Parteiaktivtagungen sollten gewissermaßen „Höhepunkte" in der Arbeit der SED-Parteiorganisationen sein. Die SED hatte bereits in den Säuberungen des Jahres 1948 Erfahrungen mit der Bildung und der Arbeit von Parteiaktivs gemacht. Auf Beschluß der 12. Tagung des Parteivorstandes wurden Parteiaktivs aus „zuverlässigen Genossen" zur „organisatorischen Festigung der SED und zur Säuberung von feindlichen und entarteten Elementen" und zur Unterstützung der Leitungen gebildet. 321 Nach dem 17. Juni 1953 erlebten diese Aktivs eine neue Konjunktur. Sie sollten auf Beschluß der 16. ZK-Tagung den „ideologisch-politischen K a m p f verstärken, den „sozialdemokratischen Ansichten" und den „direkt feindlichen und fremden Elementen in der SED" entgegenwirken und die „nicht wenigen passiven Mitglieder" zur Mitarbeit aktivieren. 322 Zur „Stärkung" der SED sollten die Parteileitungen 150000 bis 2 0 0 0 0 0 Parteiaktivisten um sich „scharen". 323 Bevorzugt wurden solche Genossen in die Aktivs aufgenommen, die sich am 17. Juni der Partei gegenüber loyal verhalten und auch danach ihre Zuverlässigkeit bewiesen hatten. Die Aktivs waren gehalten, „schonungslos" parteifeindliche, kapitulantenhafte oder schwankende Mitglieder ausfindig zu machen. Vor ihnen sollten sich solche Parteileitungen verantworten, die noch keine „Feinde" entlarvt hatten; besonderes Augenmerk galt den Betrieben. 324 Die Parteiaktivs sollten den 3 2 0 Vgl. ZK der SED, FS 214 vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 321 Vgl. Geschichte der SED, Abriß, Berlin 1978, S. 183ff. 3 2 2 Vgl. Stellungnahme des Politbüros zum Leitartikel des „Neuen Deutschland" „Über die Bedeutung des Parteiaktivs", vom 13.9.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 508f. 323 Vgl. „Über die Arbeit mit den Parteiaktivs", Beschluß des Politbüros vom 24.11.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 530ff. 324 Vgl. Zylla, Karl, Die Bedeutung der Parteiaktivtagungen bei der Mobilisierung der Mitglieder und Kandidaten. In: Neuer Weg, Heft 16 (1953), S. 3.

466

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. funi

„Kern der Partei" bilden; sie sollten den Kurs der Ulbricht-Führung in der SED unterstützen und die Abrechnung mit allen Abweichlern vorantreiben. Diesen Aktivisten, dazu zählte etwa jedes sechste bis siebente Mitglied der SED, sollte nach dem Willen der Führung die besondere Aufmerksamkeit gelten. Die SEDLeitungen hatten „ständig an der politischen und theoretischen Qualifizierung der Genossen des Parteiaktivs zu arbeiten, damit aus ihren Reihen politisch standhafte und geschulte Parteiarbeiter hervorgehen, die die Politik der Partei verstehen und bereit sind, für ihre Verwirklichung zu kämpfen." 3 2 5 Die Parteiaktivs ergänzten die Organisationsstruktur der SED; dem Parteiapparat wurde gewissermaßen ein ehrenamtliches Großkollektiv zugeordnet. Nicht die SEDMitgliederversammlungen erhielten größere Rechte, sondern besonders ausgewählte und geförderte Parteiaktivisten. Nun sollten die Aktivs als Instrumente der SED zur Krisenbewältigung eingesetzt werden. In den Monaten nach dem 17. Juni 1953 fanden Parteiaktivtagungen auf allen Leitungsebenen statt. Ihre Themen waren zunächst die Auswertung der 14. ZK-Tagung, ab Ende Juni der Beschluß der KPdSU über den „Partei- und Volksfeind Berija", ab Ende Juli die Auswertung der 15. und 16. ZK-Tagung und ab Oktober die Vorbereitung des IV. Parteitages und der Parteiwahlen. Einige wenige Zahlen und Fakten vermitteln einen Eindruck vom Umfang des Programms: Im Bezirk Karl-Marx-Stadt (ohne Wismut) fanden am 23. und 24. Juni insgesamt 121 Parteiaktivtagungen mit 11026 Teilnehmern statt. 326 In den Kreisen Leipzig-Stadt, Leipzig-Land, Altenburg, Borna, Delitzsch und Döbeln im Bezirk Leipzig tagten allein im Monat August insgesamt 32 Parteiaktivs in den Parteiorganisationen der Großbetriebe, der Verwaltungen und Organisationen. 327 Im Kreis Niesky (Bezirk Dresden) beschäftigten sich beispielsweise mit der 14. ZK-Tagung: eine Kreisparteiaktivtagung, Parteiaktivtagungen in der LOWA und anderen Großbetrieben, eine Lehreraktivtagung, jeweils eine Aktivtagung mit den Staatsfunktionären, mit den Genossen der FDJ, der Gewerkschaften und der Industriegewerkschaften. 328 Alle diese Tagungen wurden zunächst in Parteileitungssitzungen vorbereitet und anschließend in Mitgliederversammlungen und in der Leitung ausgewertet. Über alle Veranstaltungen wurde genau Protokoll geführt, d.h. man zählte die Teilnehmer und Diskussionsredner und hielt den Verlauf der „Diskussion" fest. In der Kreisparteiorganisation Niesky etwa nahmen 1428 Genossen an den Mitgliederversammlungen 3 2 5 Direktive des ZK über die Wahlen der Delegierten zum IV. Parteitag und die Neuwahl der leitenden Parteiorgane, Beschluß des ZK der SED vom 19.9.1953. In: Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin 1954, S. 4 9 2 . 3 2 6 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Statistischer Gesamtbericht über die durchgeführten Parteiaktivtagungen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 40). 327 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 2 4 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/3/146). 3 2 8 SED-KL Niesky, Informationsbericht vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 2 (SächsHStA, SED IV/ 4 / 1 1 / 1 0 4 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

467

zur Auswertung der Parteiaktivtagungen nach der 14. ZK-Tagung teil, fast die Hälfte beteiligte sich an der „Diskussion". Mit dem Inhalt dieser „Diskussionen" war die SED-Kreisleitung allerdings äußerst unzufrieden, weil „der größte Teil der Genossen den neuen Kurs noch nicht erkannt hat". Es habe sich „eine gefährliche Tendenz" gezeigt, „daß von einigen Elementen Mißtrauen gegen unsere Parteiführung gesät wird". Das paßte nicht in das Konzept der SED-Kreisleitungen, die nach der Politbüro-Direktive Zustimmungserklärungen zur Politik der SED-Spitze produzieren sollten. Das ZK der SED gab den Inhalt und die Schwerpunkte der Parteiaktivtagungen vor. Zwischen der 14. und 15. ZK-Tagung standen die „Aufklärung" über den angeblich faschistischen Charakter des 17. Juni und die Erläuterung des Neuen Kurses auf der Tagesordnung der Veranstaltungen. Der „Sozialismus" als unmittelbares Ziel durfte nicht mehr propagiert werden. Die Parteiführung hatte statt dessen den „Kampf für Frieden, Einheit und Demokratie" als neue Parole ausgegeben. 329 Dieser plötzliche Kurswechsel war für viele Funktionäre in den Bezirksparteiorganisationen unbegreiflich und unerklärbar; viele hielten es lediglich für eine Taktik der Führung, die zwar das Wort Sozialismus offiziell mied, das Ziel der sozialistischen Umgestaltung aber nicht aufgegeben habe. 3 3 0 In diesem Zusammenhang erinnerten sich SED-Mitglieder aus Karl-Marx-Stadt an den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945, in dem der Begriff „Sozialismus" ebenfalls nicht erwähnt war und mit dem dennoch in der SBZ der Übergang zum Sozialismus unter antifaschistisch-demokratischen Losungen eingeleitet wurde. Andere Genossen zogen Schlußfolgerungen, die ihnen wenige Monate später heftige Kritik und Angriffe einbrachten. So vertraten SED-Funktionäre in Karl-Marx-Stadt die Auffassung, es gehe zuerst und vordergründig um die Einheit Deutschlands; dafür müsse ein „gesellschaftlicher Rückschritt" - darunter verstanden sie die Absage an den Sozialismus in Kauf genommen werden. Diese Parteimitglieder wollten sogar die Einheit „um jeden Preis". Ebenso überraschend wie der Begriff Sozialismus kurzfristig aus dem aktuellen Sprachgebrauch verschwunden war, tauchte er wieder auf. Auf der 15. ZK-Tagung bekräftigte die Parteiführung wieder die Losung: „Es lebe der Kampf um Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus!" 331 Solche „jähen Wendungen" waren keineswegs untypisch für die Politik der SED. Die Parteiaktivtagungen zur Auswertung der 15. und 16. ZK Tagung standen offiziell unter dem Motto: „Der aktive Kampf um die Massenmobilisierung". Tatsächlich ging es vor allem um die Disziplinierung der Parteibasis und um die planmäßige „Entlarvung von Feinden, Agenten, Provokateuren". Nachdem Ulbricht seine Kritiker in der Parteiführung ausgeschaltet hatte, begann 329 Vgl. Beschluß des ZK der SED vom 21.6.1953 (14. Tagung). In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 445. 330 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bezirksparteiaktivtagung vom 30.7.1953 (SächsHStA, SED 1 V / 2 / 2 / 3 , Bl. 38); die folgenden Zitate ebd. 331 Vgl. Entschließung des ZK der SED vom 25.7.1953 (15. Tagung). In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 478.

468

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

eine Abrechnung mit SED-Mitgliedern, die nicht widerspruchslos jeden Kurswechsel der SED mitmachten oder die sich am 17. Juni an Streiks und Demonstrationen beteiligt oder die Parteiführung kritisiert hätten. In der Woche vom 20. bis 26. Juni fanden nach Vorgaben des ZK und nach einem Plan der Bezirksleitungen zuerst Bezirks-, Kreis- und Stadtparteiaktivtagungen und danach Mitgliederversammlungen in großen volkseigenen Betrieben statt. Laut Anweisung des ZK vom 21. Juni sollten als Referenten Mitglieder des ZK, der SED-Bezirksleitung, leitende Funktionäre des Staatsapparates und andere leitende Funktionäre auftreten. 3 3 2 Der Beschluß der 14. ZK-Tagung „Über die Lage und über die unmittelbaren Aufgaben der Partei" diente als „Richtlinie für die Referate". Die Parteiaktivisten hatten die Aufgabe, den Inhalt des ZK-Beschlusses zu „erklären" und „auf die konkrete Lage im Kreis oder Ort" anzuwenden. Bereits am 21. Juni tagten in Dresden die ersten Parteiaktivs aus zehn Kreisen des Bezirkes, am 22. Juni wurden in Görlitz die Parteiaktivs der restlichen Kreise auf den Neuen Kurs eingeschworen. 333 In Dresden traten Fritz Selbmann und Otto Buchwitz als Referenten auf. Der Zeitpunkt dieser ersten Beratungen ist insofern bedeutsam, weil sie vor der Veröffentlichung der Beschlüsse der ZK-Tagung stattfanden. Demzufolge waren die Referate der Berliner Funktionäre möglicherweise etwas stärker von deren persönlicher Interpretation der politischen Situation und noch weniger von der Sprachregelung der Partei geprägt. Buchwitz, der den 17. Juni im Sachsenwerk Niedersedlitz erlebt hatte, offenbarte vor allem seine Enttäuschung über „einen Teil unserer eigenen Genossen, die an den Unruhen beteiligt waren." 3 3 4 Das habe ihm einen „Stich in die Herzgegend" gegeben. Das galt auch für das Verhalten von einem „großen Teil unserer Jugend." Er stellte die besondere Förderung der Jugend durch die SED in Frage; möglicherweise werde für sie in der DDR „zu viel getan". Selbmann befaßte sich gleichfalls mit dem Verhalten der FDJ am 17. Juni. Er machte vor allem den FDJ-Funktionären heftige Vorwürfe: „Wo haben wir die großen Versager? In der Leitung der Jugend und in der Führung der Gewerkschaften [...]. Sind das nicht bei aller Selbstkritik der Partei die überheblichsten Organisationen? Die Jugend, ein Teil unserer Jugendfunktionäre, die am Werbellinsee in Badehosen und Gewehr spazieren gingen, sind dem Amerika3 3 2 Vgl. ZK der SED, Fernschreiben 214 vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) ; die folgenden Zitate ebd. Von diesen in Sachsen eingesetzten Rednern gerieten später auf der 15. ZK-Tagung vier unter Beschuß: Fritz Selbmann, Anton Ackermann, Heinrich Rau und Elli Schmidt. Elli Schmidt und Anton Ackermann wurden wegen ihrer Kritik an Ulbricht aus dem Politbüro der SED entfernt, dem sie als Kandidaten angehört hatten. 3 3 3 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8 . 7 . 1 9 5 3 , S. 24 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 334 Buchwitz, Otto, Referat auf Parteiaktivtagung in Dresden am 2 1 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 2 / 0 0 1 , Bl. 78).

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

469

nismus verfallen, sie haben nicht Rücksicht genommen, wie ihr Auftreten auf andere Jugendliche wirkt, sie haben nicht um die jungen Menschen geworben, sondern haben kommandiert, ja sie haben phantasiert." 3 3 5 Er vermied es zu erwähnen, daß die SED-Funktionäre dieses Kommandieren gefördert hatten. Selbmann sah im 17. Juni die „ernsteste Krise" seit 1945, die nur mit Hilfe des sowjetischen Militärs bewältigt worden sei. Zugleich charakterisierte er den 17. Juni als „unerhörten Schandfleck der deutschen Arbeiterbewegung" und verglich ihn mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Er beschimpfte die Arbeiter der DDR, weil sie gegen eine Regierung demonstriert und gestreikt hätten, die „die Kapitalisten verjagt hat mit Hilfe der Sowjetunion" und die eine „Regierung der Arbeiter und Werktätigen" sei, „auch wenn sie Fehler" gemacht habe. Selbmann warnte die Parteiaktivisten jedoch auch vor einer Unterschätzung der Ereignisse. 336 Er griff insbesondere jene Genossen an, die aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit erleichtert über das Ende der Unruhen seien und rief sie auf, sich auch zukünftig auf gewaltsame Auseinandersetzungen vorzubereiten. Selbmann sprach den Mitgliedern und Kandidaten der SED bereits zu diesem Zeitpunkt das Recht ab über Fehler des ZK zu diskutieren und zu urteilen, dies wäre „nicht die Aufgabe der Partei insgesamt". Er beruhigte die Parteiaktivisten mit der Aussage, das ZK der SED, vor allem „die Genossen an der Spitze der Partei", würden rücksichtslos jede Schwäche in der Führung der SED „abstellen". Selbmann kritisierte vor allem den „falschen Führerkult", der beseitigt werden müsse. In einem weiteren Teil seiner Ausführungen ging er auf Fragen der Parteisäuberungen und ihrer Folgen ein. Er kritisierte die bisherige Praxis des Umgangs mit ausgeschlossenen Parteimitgliedern. Die SED habe sich nicht mehr um sie gekümmert, sie seien „Träger faschistischer Agenturen" 337 geworden. Selbmann versuchte auch zu erklären, weshalb Leipzig, Dresden und Görlitz zu „Schwerpunkten des Abenteuers" geworden seien. „Diese Orte sind alles Hochburgen der früheren rechten SPD. Wahrscheinlich ist es so, daß in diesen rechten sozialdemokratischen Hochburgen sich starke Überreste der alten rechten Sozialdemokratie versteckt und getarnt haben, teilweise in unserer eigenen Partei. Es gibt eine sehr interessante Tatsache, daß wir im Gebiet von Görlitz sofort auf den ersten Anhieb die Gründung von Initiativkomitees der SPD hatten. Ist das ein Zufall, natürlich nicht. Was heißt das? Das heißt, daß wir die Frage des Kampfes gegen die Sozialdemokratie nicht gestellt haben im Zusammenhang gegen die vorhandenen Überreste sozialdemokratischer Organisationseinheiten, die teilweise in unsere Partei mit eingeschlossen wurden." 3 3 8 Abschließend rechnete er mit jenen Parteifunktionären aus dem Terri335 Selbmann, Fritz, Referat auf Parteiaktivtagung in Dresden am 21.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 2 / 0 0 1 , BI. 68); die folgenden Zitate ebd., Bl. 69. 336 Ebd., Bl. 70; die folgenden Zitate ebd. 337 Ebd., Bl. 71f. 338 Ebd., B1.72; die folgenden Zitate ebd., Bl. 73.

470

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

torium ab, die selbst zu einem Zeitpunkt noch eine „schwankende" Haltung gezeigt hätten, als der „Feind schon offen aufgetreten ist". Dabei erwähnte er u.a. den Parteisekretär des Sachsenwerkes in Niedersedlitz, Manfred Leuteritz, der Anweisungen übergeordneter Parteileitungen erbeten habe, als „es um nichts mehr ging, als die Provokateure zu verhaften". Selbmann warnte mehrmals vor der Auffassung, daß „alles in Butter" sei und verlangte von den Parteiaktivisten, die „Provokateure und feindlichen Elemente" weiter zu beobachten. 3 3 9 Jetzt ginge es darum, die Partei in die Offensive zu bringen, aber nicht darum, „ein Siegesgeheul anzustimmen, denn dieser Sieg ist ein sehr bitterer Sieg. Unsere Funktionäre dürfen nicht mit dem Siegergefühl in die Betriebe gehen und Anlaß zu neuen Provokationen geben". Er warnte auch vor „wütenden Verhaftungsaktionen", die nur „neu provozieren würden". Sehr allgemein plädierte Selbmann für „eine Wendung zur wirklichen demokratischen Arbeitsweise" in der SED und im „öffentlichen Leben". Doch diese zaghaften Warnungen erreichten die verantwortlichen Funktionäre nicht. Bereits die Schlagzeilen der Parteipresse suchten den Eindruck zu erwecken, die Niederschlagung des Aufstandes sei ein Zeichen der Stärke der SED und der Regierung der DDR gewesen. Den Bezirksparteiaktivtagungen folgten in der Zeit vom 23. bis 26. Juni Parteiaktivkonferenzen und Agitatorenkonferenzen in den Stadtbezirken von Dresden und in wichtigen Großbetrieben des Bezirkes. 340 Im VEB Steinkohlenwerk Freital wurde „den Kumpeln der Dank ausgesprochen", weil der Betrieb am 17. Juni nicht gestreikt hatte. 341 Nach Einschätzung der SEDBezirksleitung kam aber weder im einleitenden Referat noch in der Diskussion die „wahre Stimmung" im Steinkohlenwerk offen zur Sprache. Erst der 20. Diskussionsbeitrag hätte die „Fehler und die wahre Meinung der Kumpels" aufgezeigt. In der Berichterstattung festgehalten wurde im wesentlichen nur Kritik an der Versorgung und der Lohnpolitik. So hätten die Freitaler Parteiaktivisten bemängelt, daß der Zement zwar billiger geworden sei, aber nicht angeboten würde, die Einstufung in die Lohngruppen I bis IV ungerecht sei, für die Planerfüllung 20 t Schienen fehlten und die Senkung der Staubzulage von 1,83 Mark auf 1,22 Mark rückgängig gemacht werden müsse. Am 4. Juli tagten die Parteiaktivisten des Sachsenwerkes Niedersedlitz, jenes Betriebes, der am 17. Juni Ausgangspunkt und Zentrum des Aufstandes in Dresden war. Demzufolge kam der Veranstaltung „erstrangige Bedeutung" zu. 3 4 2 Wie die Sächsische Zeitung formulierte, galt es, „völlige Klarheit über 339 Ebd., B1.74; die folgenden Zitate ebd., Bl. 75. 340 Vgl. SED-BL Dresden, Übersicht über Parteiaktivkonferenzen, o. D. (SächsHStA, SED I V / 2 / 5 / 0 4 2 , Bl. 182). 341 Vgl. SED-BL Dresden, Bericht über die Parteiaktivtagung im VEB Steinkohlenwerk Freital am 26.6.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 5 / 4 2 , Bl. 279f.); die folgenden Zitate ebd., Bl. 279. 342 Vgl. „Die Wachsamkeit hatte nachgelassen", Parteiaktivtagung im Sachsenwerk Niedersedlitz zog Lehren aus dem 17. Juni. In: SZ vom 9.7.1953, S. 5; die folgenden Zitate ebd.

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

471

den wahren Charakter und die Ursachen des .Tages X' zu schaffen". Das Einleitungsreferat hielt der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Brosselt. Er warf der Betriebsparteileitung vor, sich nicht um die Nöte und Sorgen der Arbeiter gekümmert und „schöngefärbte Berichte" geschrieben zu haben, „durch die sich die Bezirksleitung täuschen ließ". Die Schuld sollte offenbar den Funktionären auf der unteren Ebene zugeschoben werden. Doch das stieß unter den versammelten Parteiaktivisten auf Widerspruch. Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Jugendarbeit kritisierte ein Parteiaktivist die Bezirksleitung, weil die Funktionäre in den Betrieben keine Anleitung von den zentralen Parteileitungen erhalten hätten. Die Tagung nahm eine „Arbeitsentschließung" an: Die Parteileitung sollte sich „mit den ehrlichen Arbeitern, die nur irregeführt wurden, eingehend beschäftigen. Dazu gehört die richtige Erklärung der Beschlüsse der Partei und der Regierungsverordnungen." Die „Sächsische Zeitung" teilte ihren Lesern mit, die Parteiaktivkonferenz hätte einen Anfang in dieser Richtung gemacht, und behauptete: „Wenn die Genossen vom Sachsenwerk Niedersedlitz weiter in der eingeschlagenen Richtung arbeiten, wird es ihnen gelingen, die großen Aufgaben, die ihnen aus dem neuen Kurs erwachsen, zu lösen und das Vertrauen der Werktätigen wiederzuerringen." Die SED-Bezirksleitung Dresden konstatierte zwar Anfang Juli, daß sich nach den Aktivtagungen eine „Festigung der Parteiorganisation, des Staatsapparates und der Massenorganisationen im Bezirk bemerkbar" mache und eine „breite Aufklärungsarbeit über die neuen Beschlüsse von Partei und Regierung einsetzte", dennoch seien sich „die Genossen noch nicht ihrer Kraft und der Kraft der Partei bewußt". 3 4 3 Sie träten noch nicht „entschlossen und konsequent gegenüber unberechtigten Forderungen" auf und beschäftigten sich „überwiegend mit den von Partei und Regierung gemachten Fehlern, jedoch zu wenig mit den nächsten Aufgaben". Die Funktionäre gäben „allen Forderungen bedingungslos nach, ohne entschlossen und konsequent genug die Parteiorganisationen [...] ideologisch und organisatorisch zu festigen und die Schädlinge auch innerhalb der Partei zu entlarven". In Leipzig fand die erste Parteiaktivtagung der Stadt und des Bezirkes unter großen Sicherheitsvorkehrungen am 23. Juni im Haus Auensee statt. Die Aktivisten wurden mit „richtungweisenden Referaten" von Anton Ackermann, Rudolf Kirchner, Sekretär des Bundesvorstandes des FDGB, und Paul Fröhlich mit dem Neuen Kurs vertraut gemacht. Am gleichen Tag berieten die Parteiaktivisten in Borna und in Delitzsch. Am nächsten Tag fanden in mindestens dreizehn Großbetrieben des Bezirkes Parteiaktivtagungen statt. 344 Insgesamt 343 SED-BL Dresden, Analyse über die Entstehung, den Ausbruch, die Entwicklung des faschistischen Abenteuers und seine Liquidierung. Die Festigung der Partei, vom 8.7.1953, S. 24f. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 8 ) . 344 Vgl. SED-BL Leipzig, Telefonische Durchsage an ZK, Betr.: Durchführung von Parteiaktivtagungen und Mitgliederversammlungen im Bezirk Leipzig, vom 23.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 167).

472

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem

17. Juni

waren die Referate, vor allem der Berliner Funktionäre, auf diesen ersten Parteiaktivkonferenzen - eine Woche nach dem 17. Juni - noch ziemlich kritisch. Sie konnten sogar die Hoffnung aufkommen lassen, es zeichne sich tatsächlich eine „Wende" der Politik der SED ab. So versicherte Ackermann den Leipziger Parteiaktivisten: „Die Arbeiter haben das Recht, eine offene Aussprache, eine rückhaltlos offene Aussprache mit der Partei und mit der Regierung zu erwarten, ohne jede Diplomatie, um ehrlich alle die vielen Fragen der Arbeitermassen zu beantworten. Genossinnen und Genossen, der Kern der Sache besteht darin, daß die Partei unverzüglich eine ernste Wendung in ihrem Verhältnis zur Arbeiterschaft, in ihrem Verhältnis zu den Volksmassen machen muß, und zwar mit dem heutigen Tag." 345 Fröhlich beschäftigte sich mit dem Verhältnis der SED zu „politisch Schwankenden" und rief in diesem Kontext „zum entschiedenen Zurückweisen staatsfeindlicher Elemente" auf. 3 4 6 Karl Adolphs ging ausführlich auf den Schußwaffeneinsatz in Leipzig ein. 347 In der Bevölkerung und auch in SED-Kreisen wurde das Blutvergießen auf den Straßen der Messestadt und in Delitzsch abgelehnt und bei Austrittserklärungen aus der SED als Begründung angegeben. Der Referent fand keine Worte des Bedauerns oder der Entschuldigung bei den Angehörigen der Opfer. Er kritisierte vielmehr den späten Einsatz von Waffen, weil sich angeblich durch die anfängliche Zurückhaltung der Polizei „der Pöbel eingemischt" habe. „Wir hätten die Sache im Keime ersticken müssen [...]. Das [sie!] wir das nicht gemacht haben, ist ein Fehler [...]. Warum geschossen wurde, sollte jedem klar sein. Sie haben alles zerstört, ohne daß ein Schuß gefallen ist. Erst als man sah, daß es so nicht weiterging, wurde geschossen. Daraufhin ist eine große Ernüchterung unter den Arbeitern eingetreten." Dies war im Kern die versteckte Drohung, zukünftige Konflikte mit Waffengewalt zu beenden. Entsprechend der Politbüro-Direktive fanden im Anschluß an die Tagungen der Bezirks- und Kreisparteiaktive Parteiaktivkonferenzen und Mitgliederversammlungen in großen volkseigenen Betrieben und Institutionen des Bezirkes Leipzig statt, so etwa am 24. Juni in VEB Leipziger Eisen- und Stahlwerke (LES), im RAW Einheit Engelsdorf, im Kombinat Böhlen und am 25. Juni in der Leipziger Baumwollspinnerei, im ABUS Stahlbau, im VEB „Hermann Matern", Roßwein. 348 Das waren in der Mehrzahl gerade jene Betriebe, in denen am 17. Juni gestreikt worden war. Viele Mitglieder der SED leisteten aber offensichtlich dem Aufruf zur Teilnahme an Versammlungen keine Folge. Die Bezirksparteikontrollkommission konstatierte eine durchschnittliche 345 Ackermann, Anton, Referat auf der Parteiaktivkonferenz Leipzig-Stadt am 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 5 5 ) . 346 Fröhlich, Paul, Referat auf der Parteiaktivkonferenz Leipzig-Stadt am 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 5 5 ) . 347 Adolphs, Karl, Referat auf Parteiaktivtagung in Borna, Juni 1953 (SächsStAL, SED IV/4/ 02/021). 348 Vgl. SED-BL Leipzig, Telefonische Durchsage an ZK der SED, Betr.: Durchführung von Parteiaktivtagungen und Mitgliederversammlungen im Bezirk Leipzig, vom 2 3 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 3 , Bl. 167).

Zur Aktivierung

des „Parteilebens"

nach dem 17. Juni

473

Beteiligung v o n e t w a 5 0 P r o z e n t der Mitglieder. Im Juli ging die T e i l n a h m e auf durchschnittlich 3 0 P r o z e n t z u r ü c k . 3 4 9 Eine „formale Vorbereitung" der T a g u n g e n w u r d e als U r s a c h e für die g e r i n g e n T e i l n e h m e r z a h l e n a u s g e w i e s e n . D i e Kreisleitungen l e g t e n daraufhin fest, d a ß V e r s a m m l u n g e n mit „solch einer s c h l e c h t e n Beteiligung" w i e d e r h o l t w e r d e n m ü ß t e n . N i c h t nur die S E D Mitglieder in d e n Industriebetrieben w a h r t e n o f f e n b a r z u n ä c h s t eine kritische D i s t a n z z u d e n B e s c h l ü s s e n d e r 14. ZK-Tagung. D i e Parteiaktivisten der Leipziger Karl-Marx-Universität g a b e n sich nicht mit d e r o f f i z i e l l e n D e u t u n g d e s 17. Juni als v o n a u ß e n vorbereitete u n d g e s t e u e r t e „faschistische Provok a t i o n " z u f r i e d e n . S i e m a h n t e n v i e l m e h r d i e A u f d e c k u n g der i n n e r e n U r s a c h e n u n d e i n e Analyse d e r Fehler der S E D s o w i e p e r s o n e l l e Konseq u e n z e n a n . 3 5 0 A m 2 4 . Juni tagte das Parteiaktiv der Universität. A n d i e s e r K o n f e r e n z n a h m v o n d e r Bezirksleitung Leipzig die Sekretärin für Agitation u n d P r o p a g a n d a , Else Lübeck, teil. Es w a r o f f e n b a r der kritische Beitrag d e s Parteileitungsmitglieds Josef (Jupp) S c h l e i f s t e i n 3 5 1 , der der D i s k u s s i o n eine v o n der Bezirksleitung nicht g e w ü n s c h t e Richtung gab. Schleifstein wider-

349 Vgl. SED-BL Leipzig, Direktive zur Auswertung der 15. Tagung des ZK der SED, Beschluß vom 27.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 4 6 ) . 350 Vgl. SED-BL Leipzig, Bericht über die Untersuchungen an der Karl-Marx-Universität Leipzig, vom 16.10.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 7 , Bl. 206ff.). 351 Josef (Jupp) Schleifstein hatte eine schillernde Biographie. Als Sohn jüdischer Eltern wurde er 1915 in Lodz geboren, kam nach dem 1. Weltkrieg nach Deutschland, trat 1932 der KPD bei, arbeitete nach dem Verbot der Partei illegal weiter, war u. a. Mitarbeiter der BL Sachsen, wurde im November 1933 von den Nazis verhaftet und zu einem Jahr und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung aus Waldheim wurde er zunächst unter Schutzhaft gestellt, später als „lästiger Ausländer" abgeschoben. Er emigrierte nach Prag und arbeitete dort als Kurier beim ZK der KPD. Nach dem Münchner Abkommen siedelte er nach England über. Seine Mutter und sein Bruder wurden im KZ umgebracht. Er selbst kehrte 1946 in die westlichen Besatzungszonen zurück und arbeitete u.a. als stellvertretender Chefredakteur der Kölner „Volksstimme", war Mitglied und Sekretär des Parteivorstandes der KPD. Im Juni 1948 übersiedelte er auf Beschluß des Parteivorstandes der KPD und der SED in die SBZ, arbeitete danach u. a. als Lehrstuhlleiter an der Landesparteischule in SachsenAnhalt und als Dozent an der Universität in Halle. Seit Februar 1952 leitete er als Direktor das Institut für Gesellschaftswissenschaften, das spätere FMI an der Universität Leipzig. (Das FMI war zu diesem Zeitpunkt die zentrale Ausbildungsstätte für Diplomlehrer des ML.) 1953 veröffentlichte er „Marx und Engels im Kampf gegen den Opportunismus". 1956 promovierte er an der Universität Leipzig. Ab 1957 bis 1959 war er u. a. Prorektor für das gesellschaftliche Grundstudium. 1958 wurde er zum Professor mit vollem Lehrauftrag für das Fachgebiet Geschichte der Philosophie an der Philosophischen Fakultät berufen. Im Oktober 1959 wurde S. mit dem „Vaterländischen Verdienstorden" der DDR ausgezeichnet, im Dezember beurlaubte ihn die Leipziger Universität „von seinen Pflichten als Professor auf unbestimmte Zeit", wie es in seinen Personalunterlagen hieß. Offenbar ging er mit Parteiauftrag nach Westdeutschland, wo er u.a. in Frankfurt/Main Direktor eines „Institut(s) für Marxistische Studien und Forschung" wurde. Er war Kandidat des Politbüros der KPD, später Mitglied der DKP. (Personalsakte Schleifstein, Josef, Universitätsarchiv Leipzig, 3337) Am 1.10.1976 verlieh ihm die Karl-Marx-Universität Leipzig den Dr. hc. anläßlich der Einführung des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums 25 Jahre zuvor. (Interview mit Schleifstein, Junge Welt, Beilage, vom 5.1.1990).

474

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

sprach zunächst der Darstellung der SED-Bezirksleitung, wonach das ZK „durch die Schönfärberei von unten nicht richtig informiert wurde. Eine solche These wird, wenn sie in der Partei vertreten wird, Schaden anrichten. Die Schönfärberei beginnt nicht unten - die Linie, die darin liegt, beginnt oben." 3 5 2 Falls man nicht die reale Lage anspreche, werde man „sofort die Masse der Partei gegen sich haben", prophezeite er. Danach setzte er sich u.a. mit der massenpolitischen Arbeit der SED, vor allem der Agitation in der Presse, auseinander, die er als phrasenhaft bezeichnete. In diesem Zusammenhang hielt er auch „die neue Losung .Neuer Kurs' für eine Phrase." 3 5 3 Er sah als entscheidendes Problem, „daß wir nicht wirklich das aussprechen, was wirklich ist. Wir behandeln die Massen wie kleine Kinder, denen man Märchen erzählen muß, und sie reagieren darauf wie kleine Kinder, nämlich, daß sie sich um die Ratschläge ihrer Lehrer nicht kümmern." Dafür erhielt er starken Beifall und Zustimmung. Selbst die Sekretärin der Bezirksleitung widersprach nicht. Im weiteren Verlauf der Aktivtagung blieben Forderungen nach dem Rücktritt Ulbrichts unwidersprochen. Es wurde der Antrag gestellt, Universitätsprofessoren sollten die Leipziger Volkszeitung kontrollieren. Drei Monate später nahm Schleifstein zwar selbstkritisch Stellung zu seinem „feindlichen" Beitrag. 354 Er sei „den kleinbürgerlichen Schwankungen völlig erlegen" gewesen und habe „ungenügend" an die Kraft der Arbeiterklasse geglaubt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Parteiorganisation schon in der Schußlinie der SED-Bezirksleitung. Diese warf der Universität eine „überspitzte Fehlerdiskussion" vor. Besonders schwerwiegend war der Vorwurf, daß „einzelne Genossen mit feindlichen Ausfällen gegen die Bezirksleitung der Partei, gegen die Leipziger Volkszeitung und gegen die Politik der Partei" aufgetreten seien. Die BPKK untersuchte monatelang die Vorgänge an der Universität. 3 5 5 Sie kritisierte besonders, daß auf dieser Veranstaltung eine Diskussion geführt werden konnte, die „feindlichen Charakter trug, ohne daß die Mitglieder der Bezirksleitung, Gen. Prof. Wolf und Gen. Prof. Bruhns sowie auch das Mitglied des Sekretariats der Bezirksleitung, Genn. Else Lübeck, entschieden gegen die feindlichen Diskussionen auftraten". Der Diskussionsbeitrag von Schleifstein stieß in der SED-Bezirksleitung auf heftige Kritik und wurde als „feindlichste Rede" eingestuft. 3 5 6 Fröhlich warf ihm vor, damit „die Linie Herrnstadt" vertreten zu haben. 3 5 7 Mitte September wurde der 1. Parteise-

3 5 2 SED-BL Leipzig, Bericht über die Untersuchungen an der Karl-Marx-Universität Leipzig, vom 16.10.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 4 / 3 4 7 , Bl. 2 0 7 ) . 353 Ebd., Bl. 2 0 8 . 3 5 4 Ebd., Bl. 209; die folgenden Zitate ebd., Bl. 206f. 3 5 5 Vgl. ebd., Bl. 206ff.; das folgende Zitat ebd., Bl. 207. 3 5 6 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 8 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3/146). 357 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3/147).

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

475

kretär der Universität, Reinhardt Fischer 3 5 8 , abgelöst; er erhielt als Parteistrafe eine „strenge Rüge". 3 5 9 Schleifstein wurde aus der Zentralen Parteileitung der Universität „entfernt". 3 6 0 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt fanden allein an zwei Tagen, am 23. und 24. Juni, 121 Aktivtagungen statt, an denen insgesamt 11026 Aktivisten teilnahmen - das waren 70 bis 75 Prozent der eingeladenen Mitglieder und Kandidaten, von ihnen beteiligten sich 1698 an der Diskussion. 361 Die Bezirksleitung hatte jeweils zwei Instrukteure zur Vorbereitung der Kreisparteiaktivtagungen eingesetzt. Dazu kamen weitere 94 Instrukteure der Bezirksleitung. 362 Nach den Konferenzen kritisierte sie, daß in der Regel „ortsfremde Funktionäre" als Instrukteure eingesetzt waren, die mit der Geschichte und den Traditionen der Region nicht vertraut waren. 3 6 3 Die SED-Bezirksleitung monierte, einige Referate seien „ungenügend" vorbereitet und die Diskussionen „wenig kämpferisch" gewesen. 3 6 4 Auf einigen Tagungen hätten die Teilnehmer „besonders regen Gebrauch von der Kritik an den übergeordneten Parteileitungen" gemacht. Kritisch merkte die Bezirksleitung an, gerade die Lehrer hielten mit ihrer Meinung hinterm Berg und blieben auf Distanz zu Partei und Regierung. Geradezu entlarvend für den aus Sicht der Parteileitungen unbefriedigenden Verlauf der Versammlungen war die Einschätzung, daß nur „die knappe Mehrheit der Teilnehmer kämpferisch diskutierte und sich in ihren Ausführungen bemühte, die Erklärung der Beschlüsse unserer Partei zu verstehen". ZK-Instrukteure bescheinigten den KarlMarx-Städter Leitungen „eine verhältnismäßig gute Vorbereitung und Durchführung" der Tagungen. 3 6 5 Die „Hauptschwäche" war ihrer Meinung nach, daß „zunächst keine konkreten Aufgaben gestellt wurden" und „die richtige politische Linie" nicht überzeugend dargestellt werden konnte.

3 5 8 Reinhardt Fischer, 1908 geboren, von Beruf Schlosser, gehörte von 1929 bis 1932 der SPD an, absolvierte 1932 die Volkshochschule der SPD in Tinz, trat danach in die KPD ein, von 1 9 4 3 - 4 7 war er in französischer Gefangenschaft, danach trat er in die SED ein und war als Lehrer der Landesparteischule in Meißen tätig. 1951 setzte ihn das ZK der SED als 1. Sekretär der Parteiorganisation der Leipziger Universität ein. [Vgl. SEDBL, Sekretariatssitzung vom 3 . 1 2 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 5 2 ) ] . 3 5 9 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzungen vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 , und vom 3 . 1 2 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED 1 V / 2 / 3 / 1 4 7 bzw. I V / 2 / 3 / 1 5 2 ) . 3 6 0 Parteiorganisation der KMU Leipzig, G O FMJ, Parteiversammlung vom 3 . 1 0 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 7 / 1 3 1 / 4 ) . 361 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Statistischer Gesamtbericht über die durchgeführten Parteiaktivtagungen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / 1 V / 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 40). 3 6 2 Vgl. ebd., Bl. 46. 3 6 3 Vgl. ZK der SED, Bemerkungen zu unserem Instrukteureinsatz im Bezirk Karl-MarxStadt vom 23. bis 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , o. D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 319). 3 6 4 Vgl. SED-BL Karl-Marx-Stadt, Statistischer Gesamtbericht über die durchgeführten Parteiaktivtagungen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 4 0 ) . 3 6 5 Vgl. ZK der SED, Bemerkungen zu unserem Instrukteureinsatz im Bezirk Karl-MarxStadt vom 23. bis 2 7 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 319).

476

Die Disziplinierung

der SED-Basis

nach dem 17. Juni

Die übergeordneten Parteileitungen - damit waren die Bezirks- und Kreisleitungen und nicht das ZK gemeint - sollten künftig „eine schöpferische Anleitung" geben und Vorschläge zur praktischen Parteiarbeit „entsprechend der jeweiligen Situation" machen. Aber gerade das hatten die Funktionäre einer zentralistisch organisierten Partei kaum gelernt und praktiziert. Bis dahin und das veränderte sich auch nach der Niederschlagung des Aufstandes nicht erhielten die Bezirksleitungen ihre „richtungsweisenden Orientierungen" und detaillierte Direktiven vom ZK bzw. vom Politbüro. Diese zentralen Beschlüsse gaben sie an die Kreisleitungen und diese wiederum an die Betriebsparteileitungen weiter, ohne sie der jeweiligen Region oder Situation anzupassen. Bei der Umsetzung derartiger zentraler Beschlüsse an der Parteibasis konnte nicht über ihre Zweckmäßigkeit oder ihren Sinn beraten werden: Es ging vielmehr um die Durchsetzung „ohne Wenn und Aber". Dies war nicht zuletzt der Inhalt der Parteidisziplin. Methoden des Administrierens und des Reglementierens waren die Folge. Mit solchen Handlungsweisen und Führungsmethoden und ohne eigenständige Entscheidungen liefen die Funktionäre in der Alltagsroutine weniger Gefahr, Fehler zu machen, weil sie sich immer auf die nächst höhere Leitung berufen konnten. In Krisenzeiten, in denen Schuldige gesucht wurden, wälzten die übergeordneten Leitungen die Verantwortung auf die „kleinen" Funktionäre ab, die angeblich die Beschlüsse nicht richtig verstanden und umgesetzt hätten. Insofern tangierte die Kritik der ZK-Instrukteure an der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt indirekt den Mechanismus der SED-Parteiarbeit insgesamt. Doch zu einer grundlegenden Veränderung des Parteiaufbaus und seiner Funktionsmechanismen waren das ZK und das Politbüro auch nach dem Aufstand des 17. Juni nicht willens. Ausgerechnet in der Wismut machten einige SED-Mitglieder dagegen Vorschläge für Reformen. In der GPO Wismut widmeten sich am 23. Juni Parteiaktivisten aller Kreisund Ortsparteileitungen dem Thema „Die gegenwärtige Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Objektparteiorganisationen". 366 Gezählt wurden 2 855 Teilnehmer, von denen 167 zur Diskussion sprachen. 367 In der Berichterstattung über die Tagungen war von einer „kämpferischen Stimmung" die Rede und davon, daß alle Diskussionsredner ihr „großes Vertrauen zur Parteiführung und ihre tiefe Verbundenheit mit der Partei" zum Ausdruck gebracht hätten. „Fast alle Diskussionsredner" versicherten, so stellte die Gebietsparteileitung Wismut fest, daß „ihre Stellung zur Partei keineswegs schwankend, sondern im Gegenteil gefestigt worden ist." Doch die internen Einschätzungen dieser Parteiaktivtagungen machen deutlich, daß diese Situationsbeschreibung keineswegs die tatsächliche Stimmung in der Wismut wiedergab. In einer Parteileitungssitzung wurde darauf verwiesen, daß das Problem „Warum sind 366 Vgl. SED-GPL Wismut, 17. Zwischenbericht über die Lage in der Wismut-AG vom 23.6.1953 (SächsStAC, W-IV/2/3/299, Bl. 106). 367 Vgl. SED-GPL Wismut, 18. Zwischenbericht über durchgeführte Parteiaktivtagungen, vom 24.6.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 138); die folgenden Zitate ebd.

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

477

unsere Kollegen, die gegen uns sind, so verbittert?" überhaupt nicht angesprochen wurde. 3 6 8 Die Entschließung einer Tagung hätte sogar „sehr gefährliche Formulierungen" enthalten, die Ausdruck mangelnden Vertrauens zu Partei und Staat seien: „Wenn wir merken, daß die Regierung ihr Versprechen einhält, dann werden wir alles tun, um sie zu unterstützen." 3 6 9 Die Gebietsparteileitung sah darin einen „krassen Fall von Sozialdemokratismus". Die Funktionäre, die dieser Parteiorganisation vorstanden, seien „sämtlich [...] ehemalige Sozialdemokraten vom Leipziger Typ." Dem ZK wurden solche „Zustände" zunächst verschwiegen. In den Mitgliederversammlungen, die in der Wismut zwischen dem 23. und dem 28. Juni zur Auswertung der Parteiaktivtagungen stattfanden, standen soziale und wirtschaftliche Probleme im Mittelpunkt. Hauptsächlich ging es um die HO-Wismut und die Werksküchenverpflegung. Die Funktionäre der Gewerkschaften wurden heftig kritisiert, weil sie „bisher ungenügend den berechtigten Forderungen und Beschwerden der Werktätigen nachgekommen sind und nur leere Versprechungen gegeben wurden". 3 7 0 Die Gebietsparteileitung stellte „gefahrliche Tendenzen" fest, die darin bestünden, daß „Gewerkschaftsfunktionäre plötzlich erkennen, daß sie auf einmal Interessenvertreter der Arbeiter sind und alle Forderungen, ganz gleich, ob diese real sind, anerkennen, dabei übersehen, zu unterscheiden, zwischen berechtigten Beschwerden gegenüber Mängeln und Mißständen und solchen Forderungen (unreale Lohnforderungen, Prämien usw.), die von feindlichen Elementen popularisiert werden." 371 In den Thüringer Wismut-Objekten, die am 17. Juni bestreikt worden waren, hatten die Mitgliederversammlungen der Partei offenbar einen völlig anderen Charakter als in den sächsischen Objekten und Betriebsteilen. Nach Meinung der Kreisleitung Gera war „die große Bedeutung der 14. ZK-Tagung [...] noch nicht von allen Mitgliedern begriffen" worden. 3 7 2 Sie hätten sich „abwartend und zurückhaltend" gezeigt und seien kritischen Auseinandersetzungen und selbstkritischen Stellungnahmen zu den Ereignissen am 17. Juni und zur Rolle der Parteiorganisation ausgewichen. In einigen Mitgliederversammlungen habe es „negierende Haltungen" zur Annahme von Grußtelegrammen an das ZK gegeben, so etwa in der Mitgliederversammlung der Garage Katzendorf. Das hinderte die Funktionäre jedoch nicht daran, derartige Zustimmungserklärungen mit Treueschwüren nach Ostberlin zu schicken. Die Kreisleitung Wismut-Gera schlug der Gebietsparteileitung Wismut nach diesen Veranstaltungen - möglicherweise in Verkennung der Zielsetzung des Neuen Kurses - 18 teilweise weitreichende Schlußfolgerungen für die Partei368 Vgl. SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung, o. D. (SächsStAC, W - I V / 2 / 4 / 41, Bl. 45). 369 Ebd., Bl. 49; das folgende Zitat ebd. 370 Vgl. SED-GPL Wismut, Monatsbericht Juni, o.D. (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 590). 371 Ebd. 372 SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9. und 11.6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK der SED, vom 8.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 180).

478

Die Disziplinierung der SED-Basis nach dem 17. Juni

arbeit vor. 373 So sollte etwa der Kreisparteiorganisation Wismut Gera „sobald als möglich [...] gestattet" werden, „geheime Parteiwahlen von unten nach oben durchzuführen, um alle Kooptierungen und undemokratischen Handlungen zu überwinden und zu beseitigen". 374 Unmittelbare Reaktionen auf diesen Vorschlag sind nicht zu erkennen. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß die Wismut-Parteileitung diese „Schlußfolgerungen" an das ZK der SED weitergab. Später wurde der Kreisleitung Wismut-Gera „Sozialdemokratismus" vorgehalten; zahlreiche Funktionäre aus ihrem Sekretariat wurden ausgewechselt. 375 Ende Juli 1953 wurden die Parteiorganisationen der drei sächsischen Bezirke von „höchster" Stelle auf die neue Politik der SED-Spitze eingeschworen. Walter Ulbricht, der in der Parteiführung nun wieder unangefochtene 1. Sekretär des ZK der SED, hielt auf der Aktivkonferenz in Karl-Marx-Stadt am 30. Juli das Hauptreferat. Am folgenden Tag sprach er auf der Aktivkonferenz in seiner Geburtsstadt Leipzig. Ulbricht setzte in beiden Reden ähnliche Akzente, obwohl der 17. Juni in diesen Bezirken recht unterschiedlich verlaufen war. Der 1. Sekretär des ZK versuchte in Karl-Marx-Stadt, seine Zuhörer auf die Interpretation des 17. Juni als „faschistischer Putschversuch" einzuschwören. 376 „In den großen Betrieben" habe es „feste illegale faschistische Organisationen" gegeben. Dies sei nicht nur in Leuna, in Bitterfeld oder Buna so gewesen, auch „in einigen Betrieben in Chemnitz" sei „die Lage nicht viel anders" gewesen. („Zwischenruf: Karl-Marx-Stadt"). 377 Die Sozialdemokratie galt Ulbricht dabei als „faschistisch" : „Wir haben auch hier Betriebe, wo bestimmte faschistische Kräfte, wie die alten Sozialdemokraten, die die Vereinigung nicht mitgemacht haben und die Spionagearbeit durchführen." Nur andeutungsweise räumte Ulbricht ein, der 17. Juni habe auch Ursachen, die in der DDR selbst zu suchen seien. Er kritisierte „Überspitzungen" bei der Anwendung des „Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums" und bei der „Überwindung" der privaten Großhändler usw. 378 Dabei wälzte er die Schuld allerdings ausschließlich auf die Justiz ab; diese habe die „Bevölkerung schikaniert". Die SED sei gegen solche Methoden und habe damit auch nichts zu tun: „Wir haben so viel Sorgen mit der faschistischen Untergrundorganisation, daß wir uns nicht mit den kleinen Leuten zu beschäftigen brauchen, die kleine 373 Vgl. ebd., Bl. 182ff. 374 Ebd., Bl. 182. 375 Vgl. SED-GPL Wismut, Delegiertenkonferenz der Parteiorganisation Wismut zur Vorbereitung des IV. Parteitages der SED, o . D . (SächsStAL, W - I V / 1 / 6 , Bl. 90). 376 Vgl. Ulbricht, Walter, Referat und Schlußwort auf der SED-Bezirksparteiaktivtagung vom 3 0 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 2 / 4 , Bl. 13ff.). 377 Ebd., Bl. 14; die folgenden Zitate ebd., Bl. 15. Der Versprecher war Ulbricht offensichtlich sehr peinlich. Das Protokoll vermerkte an dieser Stelle seine Aussage: „Das muß ausgerechnet mir passieren." Ulbricht verwendete die Bezeichnung Chemnitz an diesem Tage irrtümlich nochmals. 378 Vgl. ebd., Bl. 2 9 .

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

479

Vergehen begangen haben. Aber manche Staatsorgane beschäftigen sich mit den kleinen Geschichten, und Faschisten lassen sie frei. Man m u ß vermeiden, daß die Partei sich direkt in die Tätigkeit der Gerichtsorgane usw. einmischt. Es geht nicht so, daß im Parteibüro beschlossen wird, welche Urteile zu fällen sind. Sollen doch die Richter entsprechend den Anweisungen der Regierung die Prozesse durchführen und urteilen." 3 7 9 Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Leitungen der SED auf Bezirksebene und das Politbüro unter Ulbrichts Leitung direkt in einzelne Strafverfahren präjudizierend eingriffen, kann dies nur als zynischste Entstellung der realen Verhältnisse gelten. Abschließend verlangte Ulbricht, sofort die „politische Massenarbeit" zu verstärken u n d dabei nicht erst die „Stufenleiter der Parteiversammlungen" zu gehen. Er rief zur schonungslosen „Kritik von unten, nicht nur bis zur Bezirksleitung, auch bis zum ZK und der Regierung" auf. 3 8 0 Dies sollte jedoch als „innerparteiliche Angelegenheit" behandelt werden und nicht über die Presse geschehen. In Leipzig sollte er auf diese Aufforderung verzichten, denn dort waren die Diskussionen über personelle Veränderungen in der Parteispitze noch nicht unterdrückt. Im Schlußwort zollte Ulbricht der Arbeiterschaft von Karl-Marx-Stadt einerseits Anerkennung, weil sie „die Ehre der deutschen Arbeiterklasse gewahrt" und „fest zur D D R gestanden" habe. 3 8 1 Andererseits rief er die SED-Bezirksparteiorganisation zu erhöhter Wachsamkeit auf, weil die „faschistischen Kräfte, die den Putsch am 17. Juni organisiert haben, in allen Teilen der Republik ihre Wühlarbeit unterirdisch weiterführen". Die Partei müsse in der „Bekämpfung" dieser „faschistischen Kräfte" ihre vordringlichste Aufgabe sehen. Denn dies sei „keine Angelegenheit der Staatssicherheit", sondern die politische Aufgabe „aller bewußten, demokratischen Kräfte, diese feindlichen Untergrundorganisationen aufzudecken, sie ausfindig zu machen, offen in Belegschaftsversammlungen und der Abteilungsversammlung die Auseinandersetzung zu führen und sie so zu schlagen, daß die Arbeiter sehen: ,Mit diesen Feinden m u ß man im Betrieb Schluß machen'." Ulbricht reagierte im Schlußwort noch auf Forderungen aus der SED-Bezirksorganisation und der Bevölkerung des Territoriums. Z u r geforderten Lockerung der Einreisen und Kontrollen in die Wismut-Sperrgebiete erklärte er, daß die „strenge Kontrolle bestehen bleibt [...]. Würde man das lockern, dann würden auch Alliierte oder die Vertreter der früheren westlichen Kontrollkommissionen das Recht haben, bestimmte Gebiete zu besuchen. Wenn es Sperrgebiet ist, dann können sie nicht hin." 3 8 2 Auch den massiven Forderungen nach Ü b e r p r ü f u n g der Lohngruppeneinstufung erteilte er eine generelle Absage. Statt dessen verlangte er, „die Produktion stärker in G a n g " 3 8 3 zu brin379 380 381 382 383

Ebd., Bl. 29f. Ebd., Bl. 42. Ebd., Bl. 85; die folgenden Zitate ebd., Bl. 86. Ebd., Bl. 91. Vgl. ebd., Bl. 93.

480

Die Disziplinierung

der SED-Basis nach dem 17. Juni

gen. Auch Forderungen nach Überprüfung der Lebensmittelkarten-Einstufung lehnte er ab, weil damit „eine solche Desorganisation geschaffen" würde, die den „Zeitpunkt für die Aufhebung des Kartensystems weit hinausschieben würde." 3 8 4 Nur in einer Frage gab er den Kritikern recht, sie betraf eine „falsche Entscheidung" der SED-Kreisleitung Freiberg. Diese hatte die Abberufung des BGL-Vorsitzenden der Zinkhütte Freiberg wegen des Streiks auf seiner Baustelle gefordert. Dagegen vertrat der FDGB-Bezirksvorstand die Meinung, daß eine solche Personalentscheidung „nicht von der Kreisleitung der Partei gestellt werden kann, da es eine Vergewaltigung der innergewerkschaftlichen Demokratie ist und die Abberufung [...] nur von der Belegschaft gefordert werden kann." 3 8 5 Ulbricht erklärte dazu, die Gewerkschaften seien „selbständige Organisationen" mit „eigenem Kaderbestand, eigener Kaderpolitik". Die SED habe nicht das Recht, gewählte Funktionäre aus den Gewerkschaften abzuberufen. Nicht nur im letzten Punkt widersprach die regelmäßig geübte Praxis Ulbrichts öffentlichen Darlegungen. In seiner Leipziger Rede widmete sich Ulbricht den gleichen Problemen wie einen Tag zuvor in Karl-Marx-Stadt. Er schlug aber einen etwas schärferen Ton an, der offensichtlich besonderen Anklang bei seinen Zuhörern fand. 3 8 6 Während der 1. ZK-Sekretär tags zuvor nur auf verhaltene Zustimmung gestoßen war, wurde sein Referat in Leipzig von vielfältigen, teilweise stürmischen Beifallsbekundungen unterbrochen. Am 12. Oktober wertete das ZK mit den 1. Bezirkssekretären die Bezirks-, Kreisleitungssitzungen und Parteiaktivtagungen aus. 387 Obwohl es offiziell darum gehen sollte, Mängel in der Arbeit der Bezirksleitungen aufzudecken, wurden die Bezirksparteiorganisationen tatsächlich auf weitere innerparteiliche Säuberungen eingestellt, denn das ZK war unzufrieden mit dem Tempo der „Entlarvung feindlicher Elemente" 3 8 8 und mit der verbreiteten „Unterschätzung" der Tätigkeit des Ostbüros. Das ZK stellte den Bezirksleitungen sieben Aufgaben, mit denen die Durchführung des Neuen Kurs mit der „Bekämpfung der Feinde" verbunden werden sollte. Um den „Parteimitgliedern und allen Werktätigen" zu demonstrieren, „daß das die Hauptmethode des Feindes ist, um die Durchführung des neuen Kurses zu verhindern", müsse die Parteipropaganda künftig die „Schädlingsarbeit" verstärkt ins Bewußtsein rücken. Mit anderen Worten: Es sollten Sündenböcke für die weiter bestehenden Mängel in der Bevölkerungsversorgung gefunden werden. 3 8 4 Die Lebensmittelkarten sollten 1953 wegfallen. Nach dem 17. Juni wurde die Abschaffung für 1954 versprochen, tatsächlich fielen sie erst im Mai 1958 weg. 3 8 5 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Bezirksparteiaktivtagung vom 3 0 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, SED I V / 2 / 2 / 4 , Bl. 92); das folgende Zitat ebd. 3 8 6 Vgl. Ulbricht, Walter, Referat und Schlußwort auf der SED-Parteiaktivkonferenz Leipzig vom 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 3 - 7 8 , Bl. 107-118). 387 Vgl. Protokoll der Sitzung mit den 1. Bezirkssekretären zur Auswertung der Bezirksleitungssitzungen, Kreisleitungssitzungen und Parteiaktivtagungen vom 12.10.1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 7 7 , Bl. 18ff.). 3 8 8 Ebd., Bl. 19; die folgenden Zitate ebd., Bl. 21.

Zur Aktivierung des „Parteilebens" nach dem 17. Juni

481

Die Bezirksleitung Leipzig folgte der offiziellen Interpretation des Neuen Kurses. Im Vordergrund stand nun die „politische Erziehung der Menschen" und die Überwindung der Wirtschaftskrise. Fröhlich forderte von den Parteifunktionären, sie müßten „den Charakter der DDR stärker erläutern und Westdeutschland gegenüberstellen". 3 8 9 Er hoffte, auf diese Weise werde sich „prinzipiell das Verhältnis zur DDR in der Bevölkerung festigen". Agitation und Propaganda sollten erreichen, „daß unsere Arbeiter, wenn es darauf ankommt, barfuß die DDR verteidigen". Vor den Parteiaktivisten des Bezirkes verengte Fröhlich Ende Oktober die Aufgaben der SED-Politik noch weiter. 3 9 0 Er interpretierte den Neuen Kurs nun als „Verschärfung des Klassenkampfes auf allen Gebieten unseres Lebens". Demzufolge müßten die „Methoden des Feindes" studiert und die Bevölkerung, vor allem die Arbeiterklasse, noch stärker in diesen Klassenkampf eingebunden werden; sie sollte mit den Staatsorganen „besser zusammenarbeiten." Nicht die Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung bestimmte nunmehr die Umsetzung des Neuen Kurses im Bezirk Leipzig; Schwerpunkt der Arbeit der Bezirksparteiorganisation wurde vielmehr die Suche nach echten oder vermeintlichen Gegnern der SED-Politik.

3 8 9 Fröhlich, Paul, Referat auf der Bezirksaktivkonferenz der SED am 3 0 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, I V / 2 / 2 / 9 2 ) . 3 9 0 Vgl. Fröhlich, Schlußwort auf der Bezirksparteiaktivtagung vom 3 1 . 1 0 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 2 ) .

VII. Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern" 1.

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit s o g e n a n n t e n Rädelsführern

Die strafrechtliche Verfolgung von Juni-Aufständischen erfolgte in zwei größeren Wellen. 1 Die erste Welle setzte noch am 17. Juni ein und endete im wesentlichen Mitte Juli 1953. Es kam am 17. und 18. Juni in allen größeren Orten, wo gestreikt und demonstriert wurde, zu Festnahmen von Streikleitungen, von Sprechern in Betriebsversammlungen, von Demonstranten und von Personen, die das nächtliche Ausgehverbot infolge des Ausnahmezustandes mißachteten. Die „Zugeführten" waren mehrheitlich Arbeiter aus Betrieben der Region. Auch der Anteil von Jugendlichen, darunter Minderjährige, war beachtenswert. Mit den überstürzten Festnahmen sollten die öffentlichen Proteste schnell beendet werden. Doch sie heizten die Atmosphäre auf den Straßen und vor allem in den Betrieben nur noch an. Selbstbewußt setzten zahlreiche Betriebskollektive ihre Streikaktionen fort und forderten nunmehr auch die Freilassung ihrer inhaftierten Kollegen. In der Bevölkerung fand der Aufruf Grotewohls, die Staatsorgane bei der Entlarvung der „Feinde" zu unterstützen und „Rädelsführer und Provokateure" auszuliefern, kein positives Echo. Militärische Aktionen gegen öffentliche Proteste und Demonstrationen sowie Festnahmen wurden mehrheitlich verworfen. Dagegen kamen zahlreiche Parteileitungen „unverzüglich" der Aufforderung von „oben" nach, Listen mit sogenannten Rädelsführern und Provokateuren für die Staatssicherheit und die Polizei zusammenzustellen, die von diesen „abgearbeitet" werden sollten. Bereits am 18. Juni entstanden derartige Listen, die in den darauffolgenden Tagen ergänzt wurden. Sie dienten den Sicherheitskräften als Grundlage ihrer Ermittlungen. Anstelle von „Westberliner Agenten" und „faschistischen Provokateuren" gerieten allerdings mehrheitlich Arbeiter ins Visier der Staatssicherheit. Obwohl sich innerhalb kurzer Zeit die Gefängnisse füllten, kritisierte die SED, daß noch viele angebliche Provokateure und Rädelsführer in den Betrieben arbeiteten. Teilnehmer der Aktionen des 17. Juni, die für die Interessen der Arbeiter eingetreten waren und als Rädelsführer entlarvt werden sollten, konnten stärkeren Einfluß auf die Belegschaften nehmen. Mitunter kam es vor, daß gerade sie nach dem 17. Juni als „Aktivisten" oder für Funktionen in Partei und Gewerkschaft vorgeschlagen wurden. Aus diesem Grunde ließ sich die Politbürokratie nach der 15. ZK-Tagung ein Szenario einfallen, das Betriebsbelegschaften dazu bringen sollte, unbequeme Zeitgenossen in den Betrieben fristlos zu entlassen, aus der SED und dem FDGB auszuschließen und den „Staatsorganen" zu übergeben. Das passende Drehbuch wurde, wie noch zu zeigen ist, von den SED-Leitungen geschrieben. Anhand der Leipziger Kampagne zur „planmäßigen Entlarvung der Provo1

Vgl. auch Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 96ff.

484

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

kateure und Agenten" läßt sich nachweisen, wie die örtlichen Parteileitungen konkrete Pläne vorgaben und zunächst die Betriebsparteileitungen auf die Entlarvung der „Provokateure" vorbereiteten. Diese Pläne verfolgten das Ziel, Beschlüsse zur Disziplinierung von „Provokateuren" durch Betriebsbelegschaften und Hausgemeinschaften absegnen zu lassen. Es hatte ja schließlich alles demokratisch auszusehen. Bei der Umsetzung dieser „Kampfpläne" hielten sich die SED-Funktionäre wohlweislich im Hintergrund. Alles sollte so organisiert werden, daß die Disziplinarmaßnahmen auf „Wunsch der Belegschaften" geschahen. Die Betroffenen konnten sich nicht wehren. Ein Großteil von ihnen befand sich zu dem Zeitpunkt, als ihr Schicksal im Betrieb oder im Wohngebiet zur Disposition stand, bereits in Untersuchungshaft. Der Beschluß der Betriebsversammlung zur fristlosen Entlassung und zur Übergabe an die Staatsorgane sollte gewissermaßen die Festnahme nachträglich rechtfertigen. Dieses „Spektakel" begann nach der 15. ZK-Tagung, erreichte im September/Oktober 1953 seinen Höhepunkt und ging über das Jahresende hinaus. Die Zahl der Verhaftungen war zwar in diesen Monaten viel geringer als in den ersten Wochen nach dem 17. Juni. Doch wer jetzt auf seinen Prozeß wartete bzw. ins Zuchthaus kam, der konnte in der Regel nicht mehr mit öffentlichen Solidaritätsaktionen seiner Kollegen rechnen wie in den Tagen des Aufstandes und unmittelbar danach. Zahlreiche Akteure des 17. Juni, die nach der Niederschlagung des Aufstandes verhaftet und wenig später wieder freigelassen worden waren, kamen erneut in die Zuchthäuser, sofern sie sich nicht zuvor durch „Flucht" nach Westdeutschland in Sicherheit gebracht hatten. Das war gewissermaßen die nachträgliche Korrektur der sogenannten Fechnerschen Linie. Die Partei- und Staatsführung ordnete unmittelbar nach der Verhängung des Ausnahmezustandes in Ostberlin Verhaftungen und wenig später schnelle Aburteilungen von Aufständischen an, ohne bereits über das Ausmaß der Proteste in der DDR einen Überblick zu haben. Die ersten Anordnungen aus Berlin zur „Auslieferung und Bestrafung der Provokateure" trafen am Nachmittag des 17. Juni in den Bezirken ein, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde. Grotewohl forderte, „die Schuldigen an den Unruhen [...] zur Verantwortung" zu ziehen und „streng" zu bestrafen. „Arbeiter und alle ehrlichen Bürger" sollten dabei mithelfen, „die Provokateure zu ergreifen und den Staatsorganen zu übergeben". 2 In den nächsten Tagen folgten mehrere Fernschreiben von Ulbricht an die 1. SED-Bezirkssekretäre und den 1. Sekretär der GPL Wismut mit Präzisierungen bzw. Erweiterungen für den Kreis der zu Inhaftierenden. 3 Die diesbezüglichen Weisungen waren so formuliert, daß sie den Eindruck vermitteln sollten, die entsprechenden Repressionsmaßnahmen würden vom Staat initiiert und die SED würde lediglich Unterstützung gewähren. So teilte der Generalsekretär der SED am 18. Juni den Bezirkssekretären mit, 2 3

A D N Nr. 2 2 5 , Fernschreiben der Regierung der DDR, 17. Juni, 15.15 Uhr (SächsStAC, SED I V / 2 / 3 / 7 9 3 ) . Vgl. ZK der SED, Fernschreiben an die 1. Sekretäre der BL, Nr. 2 0 2 - 2 0 6 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 5 ) .

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

485

„daß von den staatlichen Organen Anweisung gegeben wurde [...], wo Streikleitungen vor Verkündung des Ausnahmezustandes bestanden, sind die Mitglieder dieser Leitung zu überprüfen, ob ihr Provokateure angehört haben. Solche Streikleitungen, die nach Verkündung des Ausnahmezustandes gebildet wurden und Forderungen stellten, die sich gegen die Regierung der DDR richten, sollen verhaftet werden. Überall, wo Agenten und Provokateure auftreten, die aus Berlin oder aus anderen Gebieten kommen, sollen diese festgenommen werden." Ulbricht forderte dazu auf, die „Anweisungen der staatlichen Organe über Verhaftungen der Provokateure, Rädelsführer und Streikleitungen, die Forderungen gegen die Regierung gestellt haben", unbedingt zu befolgen. 4 Damit war der Kreis der zur Disposition stehenden Personen um eine Kategorie erweitert. Jetzt zählten auch diejenigen dazu, die die Bestrafung, die Ablösung oder den Sturz der Regierung gefordert hatten. Wenn man bedenkt, daß es beispielsweise in Leipzig keinen Betrieb gab, in dem nicht die Ablösung Ulbrichts verlangt worden war, dann wäre es nach dieser Auslegung der Kategorie „Rädelsführer" bzw. „Provokateur" zu Massenverhaftungen gekommen. Doch daran konnte der SED-Führung wahrlich nicht gelegen sein, hatte sie doch mit dem 17. Juni die Quittung auch für ihre Strafpraxis im Zeichen des „radikal verschärften Klassenkampfes" erhalten. Zum Neuen Kurs gehörte es, die justizpolitische Praxis, die auf Erziehung durch Härte und Disziplinierung setzte, zu korrigieren. 5 Mit den ersten Entlassungen von Strafgefangenen und Untersuchungshäftlingen unmittelbar vor dem 17. Juni war die SED-Führung gerade dabei gewesen, Zeichen für eine rechtspolitische Entspannung zu setzen. Bis zum 16. Juni waren beispielsweise insgesamt 381 Personen aus den Haftanstalten des BDVP Leipzig entlassen worden. 6 Deshalb lag es einerseits nicht im Interesse der Herrschaftssicherung, Straf- und Untersuchungsgefangene aus den Zuchthäusern und Gefängnissen zu entlassen und sofort neue festzunehmen. Andererseits sah sich die DDR-Führung aus Gründen der Machtdemonstration und -Sicherung gezwungen, die Aufständischen schnell zu bestrafen. Deshalb folgte nach dem 17. Juni ein Balanceakt zwischen rechtspolitischer Entspannung und Verschärfung der Repressionen gegenüber solchen Menschen, die der SED Widerstand entgegensetzten. Eine strafpolitische Linie, die solchen Überlegungen folgte, gab es zunächst nicht. Gestützt auf den Ausnahmezustand erfolgten schnelle „Zuführungen", um den Widerstand in den Betrieben und auf den Straßen zu unterlaufen. Erst nach der 14. ZK-Tagung war die Parteiführung bemüht, „strafpolitische Überreaktionen zu vermeiden, um kein neues Öl ins Feuer zu gießen". 7 Doch ob derartige machtpolitische Überlegungen vor Ort auch

4 5 6 7

Vgl. ZK der SED, Fernschreiben Nr. 1 8 8 / 1 8 9 / 1 9 0 / 1 9 1 vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 15). Vgl. ausfuhrlich Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 121 ff. Vgl. BDVP Leipzig, Bericht vom 16.6.1953, 8 . 0 0 Uhr - 1 7 . 6 . 1 9 5 3 , 8.00 Uhr, vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 9 2 ) . Werkentin, Politische Strafjustiz, 122.

486

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

immer so umgesetzt wurden, muß angesichts des Umfangs der Verhaftungen, der sozialen Zusammensetzung der neuen Untersuchungshäftlinge und der Art und Weise der Behandlung der „Zugeführten" zumindest für die Bezirke Leipzig und Dresden bezweifelt werden. Bereits am 17. Juni schritten die DDR- und sowjetischen Sicherheitsdienste zu ersten Verhaftungen, die meist willkürlich, zufällig und unkoordiniert waren. Besonders in den größeren Städten kam es ab Nachmittag an Schauplätzen des Geschehens zu zahlreichen Festnahmen, so in Leipzig u.a. am Bahnhofsvorplatz, vor dem Gewerkschaftshaus, vor dem Gebäude der Leipziger Volkszeitung, vor der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, in Dresden auf dem Fucik-, dem Post- und dem Theaterplatz. In Görlitz und in den Dörfern rund um Görlitz und Niesky, in denen es zu eindrucksvollen Aktionen gekommen war, erfolgten die Festnahmen in der Regel in den Nachtstunden. Hier stützten sich die Sicherheitsorgane vor allem auf jene Bürgermeister und Gemeindefunktionäre, die zuvor persönlich den Zorn der Einwohner zu spüren bekommen hatten. Sie waren sogar bei den Festnahmen dabei, wie z. B. der Bürgermeister von Ludwigsdorf im Kreis Görlitz. In diesen Stunden, in denen es um die Macht der SED ging, blieben rechtspolitische Überlegungen des Neuen Kurses völlig unberücksichtigt. Es wurden diejenigen festgenommen, die in irgendeiner Weise aufgefallen waren, als sie auf Kundgebungen gesprochen, zum Streik aufgerufen, Forderungskataloge oder Resolutionen formuliert, an der Besetzung öffentlicher Gebäude und an der Befreiung von politischen Häftlingen teilgenommen hatten oder auch nur in der ersten Reihe eines Demonstrationszuges marschiert waren. Zu diesem Zeitpunkt, als die ersten Verhaftungen im Zusammenhang mit dem 17. Juni erfolgten, waren die Haftanstalten noch überfüllt. In Dresden reichten beispielsweise die Kapazitäten der Strafvollzugsanstalten nicht mehr aus, um die „Zugeführten" unterzubringen. Man richtete vorübergehend Notunterkünfte für sie ein. So wurden in einer Turnhalle der KVP in Dresden-Marienallee bis Anfang Juli ca. 1 500 Personen untergebracht, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni verhaftet worden waren. 8 Es kam auch zu zahlreichen Festnahmen wegen Nichtbeachtung des Ausnahmezustandes. Sowjetische Militärstreifen sammelten in der Regel nach der Sperrstunde alle ein, die sie noch auf den Straßen antrafen. Das waren meist Jugendliche, wie in Leipzig, Dresden, Dresden-Heidenau, Altenburg oder Delitzsch. Allein im Stadtgebiet von Dresden wurden am 17. Juni ca. 200 Personen nach 21 Uhr der BDVP zur Überprüfung „zugeführt". 9 Mitunter kam es auch vor, z. B. in Leipzig, daß sowjetische Militärstreifen ohne Vorwarnung auf Leute schössen, die in den Abendstunden noch unterwegs waren. Bei einer solchen Aktion wurde der Volkspolizeirat Erich Kunze in Ausübung seines

8 9

Vgl. SED-BL Dresden, Aktennotiz vom 6.7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 7 ) . Vgl. BDVP Dresden, Betreff: Abschlußbericht über die Vorkommnisse am 17.6.1953 im Bezirk Dresden, o.D. (SächHStA, BDVP, 23/18, Bl. 101).

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

487

Dienstes in den späten Abendstunden des 18. Juni in Leipzig so schwer am Kopf verletzt, daß er wenige Stunden später seinen Verletzungen erlag. 10 Um die anhaltenden Streiks zu beenden, wurden vor allem die Streikführer und -leitungen festgenommen. Das geschah zumeist bereits am späten Abend oder in den Nachtstunden des 17. Juni. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Streikgremien vor oder nach Verhängung des Ausnahmezustandes gebildet und welche Forderungen in den einzelnen Betrieben gestellt worden waren. So setzten die DDR-Sicherheitsorgane und die „sowjetischen Freunde" noch in der Nacht vom 17. zum 18. Juni z. B. mehrere gewählte Kommissionsmitglieder des VEB ABUS und des SAG Sachsenwerkes in Dresden-Niedersedlitz fest, um die von diesen Betrieben drohende Ausdehnung der Streikbewegung auf Dresden und Umgebung zu verhindern. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine eindeutige Weisung an Staatssicherheit und Volkspolizei in den Bezirken, wie mit Streikleitungen verfahren werden sollte. Der Chef der BDVP Leipzig wies am 17. Juni, nach der Verhängung des Ausnahmezustandes, lediglich alle Amtsleiter an, „gegen Ruhestörer und Verbrecher [...] mit den härtesten Mitteln vorzugehen." 1 1 Zwei Tage später befahl er, „Provokateure unter allen Umständen" und „alle noch bestehenden Streikleitungen" festzunehmen. 1 2 Der Leiter der BDVP Dresden erteilte ebenfalls in den Nachmittagsstunden des 17. Juni seinen Amtsleitern den Befehl, „unter allen Umständen die Rädelsführer und Personen, die sich bei Provokationen besonders hervortun, festzustellen mit dem Ziel, diese je nach Situation sofort oder später festzunehmen." 1 5 In der Nacht vom 17. zum 18. Juni präzisierte der Chef der Dresdner Polizei diese Anweisung dahingehend, daß er anordnete, „die festgestellten Rädelsführer und Provokateure" erst nach der „Isolierung von der Masse festzunehmen oder die Festnahme in den Abendstunden durchzuführen." 1 4 Gleichzeitig warnte er davor, „Festnahmen aus den Reihen der Demonstranten durchzuführen, weil auf diese Art und Weise der Widerstand aller Übrigen hervorgerufen wird." Am 19. Juni erreichte ein von Erich Mielke unterzeichnetes Blitzfernschreiben des MfS Berlin die Bezirksverwaltungen. 15 Darin waren u. a. erstmals die Modalitäten zur Verhaftung von Streikleitungen und das Ziel der Vernehmungen vorgegeben. Im Grunde ging es bei dieser Mielke-Anordnung darum, alle Streikleitungen in Haft zu nehmen. Es sollte lediglich die Art und Weise der Festnahmen differenziert werden. Mielke befahl, sofort alle jene Streikleitun10 11 12 13 14 15

Vgl. Kap. II, S. 182. BDVP Leipzig, SSD-Fernschreiben vom 17.6.1953, 17.25 Uhr (SächsStAL, BDVP 24/42). BDVP Leipzig, Fernschreiben, vertraulich, vom 19.6.1953, 16.35 Uhr (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 ) . BDVP Dresden, Blitz-Fernschreiben vom 17. Juni, 17.40 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 7). BDVP Dresden, SSD-Fernschreiben vom 18. Juni, 2.25 Uhr (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 , Bl. 11 f.). Vgl. MfS-Berlin, F e r n s c h r e i b e n Nr. 5 3 8 / 5 3 9 / 5 4 0 vom 19.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 13).

488

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

gen festzunehmen, die politische Forderungen stellten, und jene, die sich nach Verhängung des Ausnahmezustandes gebildet hatten. Nur solche Streikleitungen sollten erst „überprüft" und gegebenenfalls festgenommen werden, die sich vor Verhängung des Ausnahmezustandes „unter ökonomischen Losungen" gebildet hatten. Damit war der Willkür Tür und Tor geöffnet, denn wer konnte in diesem Chaos schon entscheiden, welche Forderungen eindeutig als „nur wirtschaftlich" einzustufen waren. Laut Anweisung Mielkes sollten durch „Vernehmungen" die „wirklichen Initiatoren und Auftraggeber entlarvt" und zu diesem Zwecke die Untersuchungen mit den Geheimen Mitarbeitern und den Geheimen Informanten verstärkt werden. Mielke forderte seine MfSMitarbeiter auf, alle „offiziellen und inoffiziellen Quellen, z. B. Freunde, Verwandtschaft, Nachbarn, Personen" auszunutzen, „Wichtigtuerei" zu beachten, „jedem kleinsten Hinweis nachzugehen zur Aufspürung der sich nach Beendigung der Streiks tarnenden Provokateure." 16 Bis zum frühen Morgen des 18. Juni hatte die Staatssicherheit im Bezirk Leipzig 17 Personen im Alter zwischen 15 und 51 Jahren verhaftet, darunter ein 17jähriges Mädchen. 17 Sie war am Abend zuvor vor der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit festgenommen worden, weil sie an der Torausfahrt des MfS-Gebäudes stehengeblieben war, als ein Angriff auf dessen Garage stattfand. 18 Die erste statistische Meldung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig an Mielke vom 18. Juni, 15.35 Uhr, betraf bereits 166 Festgenommene. 19 Sie kamen aus Leipzig, Delitzsch, Eilenburg, Borna und Schmölln. Anderthalb Stunden später registrierte die Bezirksverwaltung Leipzig insgesamt 173 Verhaftete, 53 Personen hatte die Staatsicherheit selbst festgenommen, 120 Personen die Volkspolizei. 20 Freilich war die Statistik unvollständig. Denn das VPKA Leipzig berichtete im nachhinein, daß am 17. Juni 129, am 18. Juni 162 und am 19. Juni 153 Personen in die VP-Haftanstalt Leipzig eingeliefert worden waren. 21 Bis zum Morgen des 20. Juni nahm die BDVP Leipzig insgesamt 487 Personen fest. Im gleichen Zeitraum entließ sie im Rahmen des Neuen Kurses 358 Personen. 22 Bis zum 21. Juni stieg die Zahl der von der Abteilung K in Leipzig verhafteten Personen auf 542 an. 2 3 16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd. Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz: Festgenommene Personen, 17.-18. 6 . 1 9 5 3 , früh 6 . 0 0 Uhr, o.D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 3 , Bl. 3). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Festnahmen 17. Juni, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 1). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Fernschreiben Nr. 105 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 8; 243, Bl. 5 6 / 5 7 , Bl. 6 4 / 6 5 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Einsatzstab, Betr.: Opfer und Verhaftungen anläßlich der Unruhen in Leipzig, 19. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 254, Bl. 7). Vgl. VPKA Leipzig, G O Abt. U, Analyse über die Einsätze im Zusammenhang mit dem Tage X, vom 30. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 131). Errechnet nach Berichten der BDVP vom 16.6.1953, 8.00 U h r - 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , 8 . 0 0 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , B1.95ff.). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aufstellung: In Haft von Abt. K, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 242, Bl. 49).

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

489

Das VPKA Leipzig kam bereits unmittelbar nach der Festnahme zu dem Ergebnis, daß die Festgenommenen „insgesamt gesehen [...] als Rädelsführer, Provokateure und Aufrührer bezeichnet werden (müssen), da sie alle in irgendeiner Form an den Vorkommnissen mit beteiligt sind." 2 4 Am 23. Juni berichtete die BDVP Leipzig, daß die Polizei seit dem 17. Juni 700 Personen, darunter 48 Frauen, inhaftiert habe. 2 5 Einbezogen in diese Zahl waren nur jene Personen, die länger als 24 Stunden festgehalten worden waren. Unter den Festgenommenen befanden sich 470 Arbeiter und 73 Angestellte. 46 Inhaftierte gehörten der SED, 16 den anderen DDR-Parteien an. 96 Inhaftierte waren im Alter von 14 bis 18 Jahren, 193 im Alter von 18 bis 24 Jahren. Über die Festnahmen durch das MfS und die sowjetischen Behörden war die Polizei nicht informiert. Umgekehrt wurden bis zum 24. Juni 981 Personen, von denen die Mehrheit wegen Vergehen gegen das „Gesetz zum Schutze des Volkseigentums" einsaß, aus den Strafanstalten des Bezirkes entlassen. 2 6 Am 2. Juli informierte die BDVP Leipzig die HVDVP darüber, daß die Polizei im Bezirk insgesamt 802 Personen - 744 Männer und 58 Frauen - festgenommen habe, wovon 368 Personen (45,9 Prozent) bereits wieder auf freiem Fuß seien. 27 Über die Zusammensetzung der Festgenommenen notierte die BDVP: 538 Arbeiter (67,1 Prozent), 82 Angestellte (10,2 Prozent), 33 Klein- und Mittelbauern (4,1 Prozent), 18 Studenten (2,2 Prozent). 49 Inhaftierte (6,1 Prozent) gehörten der SED, 23 (2,9 Prozent) den bürgerlichen Parteien und 51 (6,3 Prozent) der FDJ an. Die ehemalige Mitgliedschaft in der NSDAP wurde nicht erfaßt. 104 Verhaftete (13,0 Prozent) waren im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, 227 (28,3 Prozent) zwischen 18 und 24 und die übrigen älter als 24 Jahre. Aufschlußreich sind auch Angaben über Verhaftungen aus Streikbetrieben des Bezirkes 28 und von Streikleitungen aus der Stadt Leipzig. 29 Bis Anfang Juli wurden 267 Beschäftigte aus Streikbetrieben festgenommen, darunter 235 Angehörige von Streikleitungen aus 32 Leipziger Betrieben bzw. Betriebsteilen. D . h . die Mehrzahl der im Bezirk bis zu diesem Zeitpunkt Festgenommen (802) kam nicht aus Streikbetrieben und gehörte keiner Streikleitung an. Die meisten Festnahmen wurden in folgenden Betrieben vorgenommen: SAG Bleichert, Werk Lützowstraße, Leipzig (22 Festnahmen), SAG Ifa-Getriebewerk Liebertwolkwitz (18), VEB BBG Leipzig (16), VEB Bau (K) Leipzig

24 25 26 27 28 29

VPKA Leipzig, Mitteilung an die SED-KL vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/12/589). Vgl. BDVP Leipzig, Fernschreiben an die HVDVP vom 23.6.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/42). Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung vom 10.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) . Vgl. BDVP Leipzig, Fernschreiben an die HVDVP vom 2.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/42). Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 208-245). Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Festgenommene Streikleitungen, vom 4.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 2 4 6 - 2 5 0 ) .

490

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

(14). Von diesen inhaftierten Streikteilnehmern waren bis Ende Juni bereits 180 Personen und damit 67,4 Prozent wieder aus der Haft entlassen. Die ersten waren schon am 19. Juni wieder freigekommen. Es gab Anfang Juli nur wenige Betriebe, von denen noch kein Betriebsangehöriger wieder entlassen worden war. Lediglich alle verhafteten Betriebsangehörigen aus dem VEB Präzisionswerkzeugfabrik Schmölln (sieben), dem VEB Elektrostahlguß Leipzig (fünf), der VHZ Schrott Leipzig (zwei), dem VEB Schlachthof Leipzig und der VEB Nagema Schkeuditz (je einer) saßen noch ein. Aus anderen Betrieben waren inzwischen wieder alle Belegschaftsmitglieder frei. Das traf zu auf: VEB Maschinenfabrik „John Scheer", Meuselwitz, (zehn), VEB Textima Altenburg, SAG ECW Eilenburg, SAG Transmasch, vormals Schumann & Co, VEB ABUS, Leipziger Stahlbau und Verzinkerei (je sechs), VEB ABUS Eisenbau, VEB LES, Werk IV (je fünf), Eisengießerei Edmund Becker & in Treuhand (drei), VEB Mihoma Markranstädt (zwei), VEB Adler Reparaturwerkstatt Leipzig und VEB Bella Luxusschuh Groitzsch (je einer). Diese Entlassungen können auch damit im Zusammenhang gestanden haben, daß die entsprechenden Betriebsbelegschaften mit Fortsetzung des Streiks gedroht hatten, wenn die Inhaftierten nicht entlassen würden, so nachweislich geschehen im SAG ECW Eilenburg, VEB Mihoma Markranstädt, VEB Maschinenfabrik Meuselwitz, VEB Textima Altenburg, VEB Bella Luxusschuhfabrik Groitzsch. Es ist anhand der Statistik zu vermuten, daß Inhaftierte aus SAG-Betrieben und aus Betrieben mit Reparationsaufträgen schneller freikamen, weil deren Produktion nicht noch zusätzlich gefährdet werden sollte. Über die Festnahmen von angeblichen Rädelsführern und Provokateuren aus dem Bezirk Dresden existieren - im Gegensatz zu Leipzig - kaum statistische Angaben der BDVP. Da die Sachakten der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden vernichtet wurden, kann auch nicht auf MfS-Angaben zurückgegriffen werden. Die BDVP Dresden meldete in den Nachtstunden des 19. Juni, insgesamt 207 Personen seien seit dem 17. Juni im Bezirk festgenommen worden. 3 0 Am folgenden Tag waren es bereits 236. 31 Auch im Bezirk Karl-Marx-Stadt erfolgten bereits in den Abendstunden des 17. Juni die ersten Festnahmen. MfS und Kriminalpolizei verhafteten am 17. und 18. Juni sechs Personen. 32 Am 20. Juni wurden zwölf Bewohner des Bezirkes inhaftiert, darunter neun Mitglieder der Streikleitung Baustelle Freiberg. 33 Bis zum 20. Juni verhaftete die Staatssicherheit 24 Personen, davon waren 84

30 31 32 33

Vgl. BDVP Dresden, Betr.: Lagebericht lt. Fernschreiben 513, o. D. (SächsHStA, BDVP, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 21). Vgl. BDVP Dresden, Einsatzleitung vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BDVP Dresden, 2 3 / 1 8 6 , Bl. 79). Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Aufstellung der durch MfS und die K verhafteten Personen vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 9 , Bl. 61 f.). Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Festgenommene Personen während des Sondereinsatzes, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 4 , Bl. 24f.).

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

491

Prozent Arbeiter, 8 Prozent Angestellte und 8 Prozent Selbständige. 3 4 2 5 Prozent gehörten zur Altersgruppe 2 0 bis 25 Jahre, 10 Prozent waren 25 bis 3 0 Jahre, 15 Prozent 3 0 bis 35 Jahre, 8 Prozent 35 bis 40 Jahre, 2 0 Prozent 45 bis 50 Jahre und 12 Prozent über 50 Jahre. 25 Prozent der inhaftierten Personen gehörten nach Angaben des MfS früher der NSDAP an. 8 Prozent unterhielten angeblich Verbindungen zu Westberliner „Agentenzentralen", 30 Prozent Verbindungen allgemeiner Art nach Westberlin und 12 Prozent waren erst zuvor in die DDR zurückgekehrt. Am 25. Juni berichtete die Bezirksverwaltung KarlMarx-Stadt an ihre vorgesetzte Dienststelle nach Ostberlin, im Bezirk seien bisher 33 Personen festgenommen worden. 3 5 Eine weitere Person, die von der Kreisdienststelle Aue „zugeführt" worden war, wurde dem MfS Wismut übergeben. Unter den Festgenommen waren 14 Mitglieder von Streikleitungen, darunter die von der Baustelle Zinkhütte (VEB Bauunion Dresden), des Wälzlagerwerkes Fraureuth und des Crimmitschauer Trikotagenwerkes, des weiteren dreizehn „Provokateure" und fünf „Boykotthetzer". 3 6 Die meisten Wismut-Beschäftigten, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni festgenommen worden waren, wurden am 17./18. Juni nicht von den WismutDienststellen, sondern von Angehörigen der BDVP Gera und Karl-Marx-Stadt und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Gera verhaftet. 3 7 Das hing offenbar damit zusammen, daß die Wismut-Kumpel vor allem an den öffentlichen Protesten in Gera und Umgebung beteiligt waren und dort auch festgen o m m e n wurden. Außerdem geht aus den Unterlagen des Gebietskommandos Wismut hervor, daß beispielsweise die Polizisten des Betriebsschutzes Wismut in Berga am Nachmittag des 17. Juni die Anweisung erhalten hatten, in ihre Betriebspunkte zurückzukehren, „anordnungsgemäß keine Festnahmen durchzuführen, sondern Informationen zu sammeln und diese sofort der Einsatzleitung zur Auswertung zu übermitteln". 3 8 Die Wismut-Polizei wurde dann während der Nacht vom 17. zum 18. Juni in die BDVP Gera zur Überprüfung der dort zugeführten Wismut-Kumpel gerufen. Auch die sowjetischen Dienststellen führten Festnahmen von Wismut-Beschäftigten durch. Beispielsweise wurden 36 Bergarbeiter aus Zwickau am 21. Juni gegen Mitternacht von sowjetischen Armeeangehörigen verhaftet, danach in die UHA Zwickau eingeliefert. 3 9 Es gibt Hinweise darauf, daß die Staatssicherheit der SAG Wismut nicht unbedingt an der Festnahme von Wismut-Beschäftigten interessiert war, wenn 34 35 36

37 38 39

Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Bericht an das MfS Berlin vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 , 13.30 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 0 , Bl. 48). Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Haftmeldung vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 4 , Bl. 6). Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Entwicklung und Auswirkung der faschistischen Provokation vom 1 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 1 , Bl. 70). Vgl. VPA (B) Gera, Abt. K, An die BDVP (BS) Siegmar-Schönau vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, Gebietskommando Dt. Volkspolizei Wismut, 2 7 / 2 7 , Bl. 30). Ebd. Vgl. VPKA Zwickau, Bericht über Vorkommnisse vom 2 1 . 6 . 1 9 5 3 , o . D . (SächsHStA, BDVP Karl-Marx-Stadt, 2 5 / 2 4 1 ) .

492

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

sie außerhalb der Arbeitsstätte aufgefallen waren. So hatten sie die Festnahme eines Wismut-Hauers, der in einer Gaststätte von Lauter „provokatorische Äußerungen" gemacht und zum Generalstreik aufgerufen hatte, mit der Begründung abgelehnt, der Betreffende sei total betrunken gewesen. 4 0 Er wurde deshalb durch die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt festgenommen und später der Wismut überstellt. Das Gebietskommando Deutsche Volkspolizei (BS) Wismut nahm drei Wismut-Arbeiter fest und übergab sie dem MfS. 41 Ihre Untersuchungsabteilung führte keine Untersuchungen im Zusammenhang mit dem 17. Juni durch. Das MfS in der SAG Wismut informierte den Leiter der Untersuchungsabteilung des Gebietskommandos nicht über die Zahl der Verhaftungen und Verurteilungen, er konnte auch nichts darüber in Erfahrung bringen. 4 2 Bis Anfang Juli wurden insgesamt 51 Wismut-Beschäftigte im Zusammenhang mit der „faschistischen Provokation" verhaftet. 4 3 Allein 38 Personen kamen aus dem Thüringer Raum. Über diese 3 8 Personen liegen Angaben zur Parteizugehörigkeit und zur Berufsstruktur vor. Demnach gehörten drei der SED, einer einer bürgerlichen Partei und zwei der FDJ an, 32 (84,2 Prozent) waren parteilos. Unter den Festgenommenen waren je 13 Kraftfahrer und Arbeiter, vier Hauer, je zwei Lokfahrer u n d Bohrmeister, je ein Autoschlosser, Einkäufer, Bohrer und Invalidenrentner. 4 4 Nachweislich wurden in den drei sächsischen Bezirken und in der SAG Wismut allein vom 17. bis zum 20. Juni mindestens 8 0 0 Personen inhaftiert, in der Mehrzahl Arbeiter. Die Festnahmen gefährdeten das von der SED-Führung verkündete Ziel, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Sie waren auch völlig ungeeignet, Beweismaterial für einen „faschistischen Putsch" oder für eine „ausländische Steuerung" zu liefern. Die Verhaftungswelle führte auch nicht zur schlagartigen Beendigung der Streiks. Im Gegenteil: Die Inhaftierung von Arbeitern aus ansässigen Betrieben förderte nun auch die Streikbereitschaft von Betriebsbelegschaften, die am 17. Juni noch gearbeitet hatten. Anstatt eingeschüchtert die Arbeitsniederlegungen zu beenden, forderten viele Belegschaften selbstbewußt die Freilassung ihrer Kollegen. Das war durchaus ein Problem, das das MfS gewissermaßen vor Ort erkannte. So fragte der Chef der Kreisdienststelle für Staatssicherheit in Schmölln am 25. Juni beim Leipziger Einsatzstab an, ob sie einen Arbeiter aus dem VEB Präzisionswerk 40 41

42 43 44

Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Durchsage der Dienststelle Aue vom 18.6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-309, Bl. 57). Vgl. BDVP (BS) Siegmar-Schönau, Untersuchungsabteilung, Betr.: Quartalsbericht und Urteile in Strafsachen in Verbindung mit dem 17.6.1953, vom 7.10.1953 (SächsStAC, Gebietskommando Dt. Volkspolizei Wismut, 27/27, Bl. 47). Vgl. ebd. Vgl. SED-GPL Wismut, Monatsbericht der PKK vom Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 587). Vgl. SED-KL Wismut Gera, Analyse über die Arbeit mit den Beschlüssen des Politbüros und des Ministerrats vom 9.6.1953 und über die Ereignisse vor und nach dem 17. 6.1953 sowie über die Auswertung des Beschlusses des 14. Plenums des ZK. der SED vom 8. 7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 3 0 4 , Bl. 172).

Das machtpolitische

Kalkül im Umgang mit

Rädelsführern

493

Schmölln, der provokatorische Losungen verbreitet habe, abholen sollten. Gleichzeitig prophezeite er, „daß mit jeder weiteren Verhaftung innerhalb des Betriebes die schlechte Stimmung und Unruhe zunehmen wird." 4 5 Auch die SED-Führung wußte um die negativen Auswirkungen dieser Festnahmen. Situationsberichte über die „Stimmung der Bevölkerung" aus den ersten Tagen nach dem 17. Juni machten deutlich, daß die Menschen infolge des Ausnahmezustandes und der Verhaftungswelle zwar verängstigt waren und aus Furcht vor Repressalien keine öffentlichen Diskussionen führten, doch noch mehr waren sie verbittert und empört über die Verhaftung von Menschen, die mit ihren Streikaktionen nur ein verfassungsmäßig garantiertes Recht wahrgenommen hätten. In Leipziger Betrieben war es zu „Gejohle" gekommen, als die Argumentation von Fröhlich verlesen wurde, daß „Provokateure und faschistische Elemente die Ausschreitungen" 46 verursacht hätten. In einem vertraulichen Brief der Betriebsgewerkschaftsleitung eines Leipziger Privatbetriebes vom 26. Juni, der beim ZK der SED landete, hieß es bezeichnenderweise: „Es herrscht die Ansicht: Das Weiterbestehen der Regierung ist nur unter dem Schutz der Besatzungsmacht möglich. Die durch Leipzig gehende Verhaftungswelle sowie das durch den Ausnahmezustand bestehende militärische Bild verschärfen diese Gegensätze und schaffen große Verbitterung." 47 Ähnlich war es auch im Nachbarbezirk Dresden. Bereits am 20. Juni meldete die SED-Bezirksleitung an das ZK, daß ein „großer Teil der Belegschaft [...] mit der Verhaftung der Rädelsführer nicht einverstanden" sei und es bisher „noch keine umfassende Distanzierung von den Provokateuren" gebe. Den Grund dafür sah die Bezirksleitung darin, daß „die Vernehmungen bestimmte Zeit in Anspruch nehmen und Arbeiter, die sich nur geringfügige Vergehen zuschulden kommen ließen, nicht schnell genug freigelassen werden." 4 8 Während die VP/KVP und das sowjetische Militär in den ersten Stunden nach Verkündung des Ausnahmezustandes oftmals wahllos und zufallig Personen auf den Straßen und Plätzen festnahmen, geschah die Mehrzahl der späteren „Zuführungen" im Auftrag und nach gezielten Informationen durch die territorialen bzw. betrieblichen SED-Leitungen. Die Einbindung der Parteileitungen auf der mittleren und unteren Ebene in die Verfolgung der Juni-Aufständischen wurde in bisherigen Darstellungen kaum thematisiert. Doch die regionalen Quellen machen sehr deutlich, daß ohne die Initiative und Zuarbeit der Politbürokratie derartige Festnahmen kaum möglich geworden wären.

45 46 47 48

Kreisdienststelle für Staatssicherheit Schmölln, Mitteilung an den Einsatzstab vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 3 0 / 0 1 , Bl. 12). BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über Vorgänge im Getriebewerk Liebertwolkwitz, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 2 , Bl. 13). Privatbetrieb Frankenstein, Leipzig, Abschrift eines Briefes vom 25. 6 . 1 9 5 3 (SAPMOBArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 4 3 ) . Lage in den Bezirken, Fernmündliche Durchsage der SED-BL Dresden vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 , 17.00 Uhr (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 3 0 , Bl. 8 5 ) .

494

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Besonders für den Bezirk Leipzig läßt sich die „führende Rolle der SED" in diesem Prozeß sehr plastisch nachzeichnen. Noch am späten Abend des 17. Juni forderte die SED-Bezirksleitung Leipzig die Kreisleitungen und Stadtbezirksleitungen auf, die „Angaben über Provokateure, Rädelsführer und Streikleitungen [...] unverzüglich fertig zu machen und dem Beauftragten der VP-Reviere zu übergeben, die in den nächsten Stunden erscheinen" würden. 4 9 Am 18. Juni folgten weitere Rundsprüche mit der Aufforderung, „erbarmungslos und schonungslos gegen Feinde vorzugehen" und „Rädelsführer, die die Belegschaft aufwiegeln, die Regierung zu stürzen", zu verhaften. 50 Entsprechende Aufforderungen gingen sofort an die SED-BPO bzw. SED-WPO. In diesen Parteileitungen landeten mitunter verstümmelte Anweisungen, die mitunter ein noch radikaleres Vorgehen gegenüber angeblichen Rädelsführern empfahlen. So gelangten Meldungen an die „Basis", wonach „alle Genossen, die noch falsch diskutieren, sofort aus dem Betrieb zu entfernen und der Polizei zu übergeben" seien. 51 Noch am 18. Juni gingen erste Berichte über angebliche Provokateure und Rädelsführer ein: „Kolig. T. hat versucht, Panikstimmung im Betrieb zu erzeugen." „CDU-Mitglied O. entlarvte sich als Feind, da er in den Abteilungen anrief, ob gestreikt wird." 52 Aus solchen Verlautbarungen schlußfolgerte die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt am 19. Juni: „Es ist aus diesen Meldungen zu schließen, daß erstens unsere Genossen darauf bedacht sind, energisch mitzuhelfen, die wahren Schuldigen des Aufruhrs festzustellen, damit der Beweis erbracht wird, daß hier der Klassengegner seine Hand im Spiel hatte, und damit ein Teil der Irregeführten sich nicht weiter als Werkzeug für faschistische Provokationen benutzen läßt." 5 3 Die Kreisleitungen Leipzig-Stadt und Leipzig-Land stellten, gestützt auf derartige Meldungen aus den Stadtbezirken, den Betriebs- bzw. Wohnparteiorganisationen, kurzfristig Listen mit Namen von zu verhaftenden Provokateuren zusammen und übergaben sie dem MfS bzw. der Volkspolizei. Wie bereits an anderer Stelle angedeutet, waren diese „Staatsorgane" zunächst eher zurückhaltend mit Festnahmen von Beschäftigten aus Betrieben. So sollen sich MfSMitarbeiter am 18. Juni im Leipziger Fernmeldewerk geweigert haben, auf Weisung der SED-Leitung streikende Belegschaftsmitglieder festzunehmen, weil sie Anweisung hätten, keine Verhaftungen durchzuführen. 5 4 Der parteiinterne Bericht hielt dazu fest: „Erst durch das Eintreffen der sowjetischen Freunde wurde Klarheit geschaffen, die Arbeit aufgenommen und die Rädelsführer verhaftet." SED-Funktionäre beschwerten sich auch darüber, daß die 49 50 51 52 53 54

SED-BL Leipzig, Rundspruch Nr. 4 vom 17. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . Vgl. SED-BL Leipzig, Rundspruch Nr. 8 und Nr. 10 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . SED-BPO Leichtmetallwerk Rackwitz, Leitungssitzung vom 22. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 7 / 0 2 9 / 7 ) . SED-KL Leipzig-Stadt, Meldung vom Provokateuren, vom 19. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 2 / 5 6 ) . Ebd. Vgl. SED-BL Leipzig, Aktennotiz, o. D. (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) .

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

495

„Staatsorgane die Mithilfe bei der Ermittlung der Täter nicht in Anspruch nehmen oder sogar ablehnen. Deshalb würde ein Rippenstoß durch die Partei Wunder bewirken." 55 Die Bezirksleitung Leipzig informierte am 18. Juni das ZK darüber, es gebe aus den Kreisen Signale, „daß die Volkspolizei nicht mit genügender Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit gegen die Rädelsführer einschreitet, und in vielen Fällen mußte die Partei in jedem einzelnen Falle den staatlichen Organen die Anweisung zur Verhaftung geben." 5 6 Einige SEDLeitungen setzten die örtlichen VP-Reviere bzw. VPKÄ unter Druck, ihre Meldungen „abzuarbeiten". Deshalb forderte das Kreissekretariat Leipzig-Land am 24. Juni nochmals alle Betriebs- und Wohnparteiorganisationen auf, „eigene Initiative zu entwickeln und sich mit der VP als Waffenträger einzuschalten [...] die Rädelsführer, Provokateure und Streikleitungen in einigen Betrieben dingfest zu machen." 57 Die Kreisleitung begründete diese Aufforderung wie folgt: Weil sich die örtliche Volkspolizei auf den Standpunkt stelle, noch keine Anweisung zu Festnahmen erhalten zu haben, sollten die Parteileitungen die Initiative ergreifen. Die Kreisleitung Leipzig-Land veranlaßte in diesem Zusammenhang auch, daß die Schießzirkel der GST, der FDJ und der MTS mit ihren KK-Gewehren die Betriebsparteiorganisationen, die Ortsparteiorganisationen und die VP bei den Verhaftungen unterstützten. Die Kreisleitung Leipzig-Land erstellte bereits am 18. Juni eine zehnseitige „Liste der Rädelsführer, welche dem MfS gemeldet wurden". 5 8 Am 23. Juni ergänzte sie diese Angaben um weitere Namen. Die Aufstellung enthält den Betrieb, die Wohnung und teilweise den Beruf von 170 Personen, die dem MfS übergeben werden sollten. Die erste Zusammenstellung vom 18. Juni hatte in der Regel keine oder nur sehr kurze Begründungen für die Einstufung als Rädelsführer angegeben, während die Ergänzungen mitunter relativ ausführliche Informationen über das Geschehen am 17. Juni oder über die Vergangenheit der angeblichen Rädelsführer enthielt. Einige Leute, die auf der Liste standen, waren zu diesem Zeitpunkt bereits verhaftet. In der Mehrzahl waren es Arbeiter und Angestellte aus ortsansässigen Betrieben, die als angebliche Rädelsführer gemeldet wurden, so aus dem VEB MAB Schkeuditz, aus der Bauunion, Baustelle Schkeuditz, aus dem VEB Mihoma Markranstädt, aus der SAG Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg, aus der Megu Böhlitz-Ehrenberg, aus dem RAW Engelsdorf. Zwölf Belegschaftsmitglieder der SAG Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg sollten als Mitglieder des Streikkomitees dem MfS übergeben werden. Zwei SED-Mitglieder aus dem RAW Engelsdorf galten als Rädelsführer, weil sie im Betrieb verbreitet hatten, daß in Halle der General55 56 57 58

SED-BL Leipzig, Parteiaktivkonferenz v o m 3 1 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/056). SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 125 vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). SED-KL Leipzig-Land, Aktennotiz der KPKK vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/12/590). Vgl. SED-KL Leipzig-Land, Liste der Rädelsführer, welche dem MfS gemeldet wurden (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 0 ) ; vgl. hier auch die folgenden Angaben und Zitate.

496

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

streik ausgerufen worden sei. Auf der Liste standen auch acht Beschäftigte aus dem Braunkohlenwerk Kulkwitz, der Betriebsleiter, der Prokurist, ein Meister, ein Brigadier, ein Abraumleiter, ein Vorarbeiter und ein Lagerleiter, letzterer sollte der „Drahtzieher" gewesen sein. Drei gehörten der SED an. Ein Lehrer der Grundschule Taucha war auf der besagten Liste, weil er am 17. Juni in der Schule mit „Guten Morgen" auf den Pioniergruß geantwortet und die Absetzung der Regierung und freie Wahlen gefordert hatte. Der Direktor der Grundschule Markkleeberg-West hatte geäußert, daß sich die Lehrer der Volksbewegung anschließen müßten. Das machte ihn zum „Rädelsführer". Einige Personen, darunter Grundschüler, standen auf der Liste, weil sie Bilder von Ulbricht, Grotewohl und Stalin abgerissen hatten. Auch ein Schüler aus der Thomas-Müntzer-Schule in Schkeuditz war in jener namentlichen Zusammenstellung zu finden, weil er gewaltsam ein Ulbricht-Bild entfernt hatte. Der Betriebsleiter der Megu Böhlitz-Ehrenberg war von der Kreisleitung dem MfS gemeldet worden - mit dem Hinweis, er habe die Ansicht vertreten, die Lebensbedingungen seien deshalb so schlecht, weil Geld für die Rüstung gebraucht werde. Ein Einwohner aus Lausen geriet auf die Liste, weil er das „Gerücht" verbreitet hatte, daß es in Leipzig „ca. acht Tote" gegeben habe. Er wurde sofort festgenommen. Auch ein NDPD-Kreisparteisekretär wurde mit den Worten dem MfS übergeben: „Wir denken, daß er reif ist, verhaftet zu werden." Er war von Gewerkschaftsfunktionären vor dem „Thälmann-Haus" gestellt und zusammengeschlagen worden. Einen Klempner aus dem Leipziger Eisen- und Stahlwerk Mölkau setzte die SED deshalb auf die Liste, weil er am 18. Juni in einer Betriebsversammlung politische Forderungen gestellt, „unseren Generalsekretär Walter Ulbricht in verhöhnender Weise als Ziegenbart" beschimpft und dafür „tosendes Gelächter" als Antwort erhalten hatte. Es wurden auch Leute dem MfS einfach als Rädelsführer gemeldet, weil sie es abgelehnt hatten, bei der Bildung von Haus- und Hofgemeinschaften mitzuarbeiten. Ein Neubauer, der seinen Austritt aus der LPG erklärt hatte, stand ebenso wie ein Arzt, ein Student der Veterinärmedizin oder ein selbständiger Fuhrmann auf der Liste der „Rädelsführer". Selbst vage „Begründungen" für die „Bearbeitung" durch das MfS wie: „H., ehemaliger Nazi, war aggressiv, bekannt als reaktionäres Element" waren vermerkt. Die Namen stammten in der Regel von SED- und FDJ-Funktionären oder von Bürgermeistern des Landkreises Leipzig. Aber auch ein Schulinspektor aus Holzhausen war der Aufforderung nachgekommen, Provokateure zu melden. Er war verantwortlich dafür, daß jener Arzt dem MfS übergeben wurde, weil er behauptete, der Arzt habe am 17. Juni die „Absicht" gehabt, ihn zu „provozieren". Weiterhin teilte er mit, daß der Mediziner vor 1933 als „150 prozentiger Nazi" gegolten habe. In einzelnen Fällen waren Parteisekretäre, Angehörige des Betriebsschutzes oder Bürgermeister als Zeugen benannt. Eine geschiedene Frau denunzierte ihren früheren Mann, der Mitglied der SED war. Er habe die Meinung geäußert: „Jetzt haben die da oben nichts mehr zu sagen, jetzt bestimmen wir."

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

497

Die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt benannte die Staatssicherheit ebenfalls „Provokateure", ohne daß sich in jedem Falle nachweisen läßt, ob derartige Meldungen auch tatsächlich zu Festnahmen führten. 5 9 Die besagte Liste der Kreisleitung Leipzig-Land kam in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit an und wurde „abgearbeitet". Aus den Randnotizen geht hervor, daß daraufhin ein Teil der gemeldeten Personen in Haft genommen wurde, andere wurden überprüft und weiter beobachtet. 6 0 Stichproben ergaben, daß ein großer Teil der auf diese Weise dem MfS gemeldeten Personen tatsächlich in Haft genommen wurde. Eine Leipziger Stadtbezirksleitung der SED meldete beispielsweise am 24. Juni acht Beschäftigte des VEB ABUS-Stahlbau und Verzinkerei Leipzig als Agenten und Provokateure und begründete ihre Denunziationen wie folgt: „B., einer der finstersten Gestalten in gesellschaftlicher Hinsicht, [...] einer der Wortführer zur Beteiligung an der Demonstration." (B. war Jahrgang 1920 und von Beruf Säger). 61 Über R., einen 51jährigen Transportarbeiter, wurde vermerkt: „Einer der Wortführer bei der Bildung des Zuges, trug Schild mit der Losung, hatte auch den Chefkonstrukteur F. aufgefordert, mit zu marschieren." Die Namen dieser Liste wurden mit den vorliegenden Haftunterlagen verglichen. 62 Von den acht Gemeldeten standen sechs in den Haftlisten. Ein Vergleich der gemeldeten „Provokateure" aus der Eisengießerei Becker & Co. (Treuhandbetrieb) mit der Liste der Inhaftierten ergab, daß zwei Betriebsangehörige gemeldet und auch inhaftiert waren. Sie hatten u. a. im Betrieb ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir schließen uns den Berliner Kollegen an" angebracht. Ein Angehöriger der SED-BPO, der die Entfernung dieser Losung verlangt hatte, war als Zeuge benannt. Doch die SED-Stadtbezirksleitung schrieb nicht nur diesen Bericht für das Volkspolizeirevier, sondern sie kontrollierte auch den weiteren Gang der Dinge. Offensichtlich griff ihr die Volkspolizei nicht schnell genug zu. Auf ihre Nachfrage bei der VP erhielt sie am 25. Juni die telefonische Auskunft, daß die „Volkspolizei derzeit an diesem Bericht arbeitet". Der Chef der VPKA Leipzig beklagte sich Anfang Juli bei der Kreisleitung darüber, 70 Prozent der Anzeigen betreffs „Provokateure 17. Juni" seien unklar. Er forderte die Parteileitungen dazu auf, „daß man sich mit der zuständigen Dienststelle bei Abfassung der Anzeigen auseinandersetzt." 6 3 Es sind auch Vorgänge überliefert, wonach SED-Leitungen mehrfach um die Verhaftung von Personen nachsuchten, weil MfS oder Volkspolizei den „Vor59 60

61 62 63

Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Meldung von Provokateuren, vom 20. 6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, AP 1036/64). Die komplette Liste ist in der Hinterlassenschaft der BV Leipzig enthalten: SED-KL Leipzig-Land, Liste der Rädelsführer, welche dem MfS gemeldet wurden, o.D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 240/01, Bl. 11-30). Vgl. SED-Stadtbezirk 10, Betrifft: Meldung von Provokateuren und Agenten an die VP, vom 24.6.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Vorkommnisse am 17., 18. und 19.6.1953, vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 208-245). SED-KL Leipzig, Sitzung vom 6.7.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/27).

498

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Schlägen" zur Inhaftierung nicht sofort nachgekommen waren. 6 4 Das trifft z. B. auf die an anderer Stelle dargelegten „Wünsche" nach Festnahme angeblicher Provokateure aus der SAG Bleichert oder der Streikleitung des VEB Thalysia Leipzig zu. Der SED-Parteisekretär der SAG Bleichert setzte sich besonders hartnäckig für die Verhaftung von Betriebsangehörigen als Rädelsführer ein. Nach seinen eigenen Angaben hatte er sofort eine Liste mit Namen an das MfS übergeben. Enttäuscht war der Parteisekretär darüber, daß die Genossen der Staatssicherheit „sehr zögerlich" waren, sie hatten bis zum 20. Juni noch keinen „Rädelsführer" verhaftet. Er schaltete daraufhin den sowjetischen Stadtkommandanten ein, der am 20. Juni die ersten Inhaftierungen im Betrieb veranlaßte. Aus SED-Unterlagen geht hervor, daß in solchen Fällen, wo die Volkspolizei nach Aufforderung nicht verhaftete, Parteileitungen sogar selbst die Verhaftungen ausführten, wie z. B. im LES Mölkau. 65 Auch Sekretäre der Wohnparteiorganisationen waren an Denunziationen beteiligt. So wurde ein Pfarrer aus Bad Düben am 23. Juni verhaftet, da „er zu dieser Zeit veranlaßt hatte, die Glocken in Bad Düben zu läuten". 66 Die SEDKreisleitung Eilenburg teilte der Bezirksleitung mit, daß diese Verhaftung von einem Ortsparteileitungsmitglied angeordnet worden sei, weil das Glockengeläut in keinerlei Zusammenhang mit kirchlichen Handlungen gestanden habe. Natürlich gab es auch spontane Hinweise aus der Bevölkerung. Dazu zählten Denunziationen von Einzelpersonen, die nachweislich zu Festnahmen führten. So notierte eine SED-Stadtbezirksleitung am 24. Juni (handschriftliche Anmerkung: „Positives Beispiel Wachsamkeit"), daß eine „Genn. G." am 23. Juni kurz vor dem Betrieb SAG Bleichert einen Jugendlichen gesehen hatte, „in welchem sie einen der Provokateure erkannte, welcher mit daran beteiligt war, als unser Parteihaus am 17. Juni gestürmt und demoliert wurde. Es handelt sich um einen gewissen P., geb. 1935 [...]. Als die Genossin G. den P. in den Betrieb von Bleichert gehen sah, folgte sie ihm und wandte sich zwecks Namensfeststellung an den Betriebsschutz. Der Betriebsschutz führte P. der Wache zu. Der Diensthabende der Staatssicherheit im Betrieb übernahm die weitere Bearbeitung. Es wurden noch zwei weitere Mitarbeiter des Hauses hinzugezogen, welche ebenfalls bestätigen, daß P. einer der Haupttäter an den Demolierungen [...] war. P. wurde vorläufig festgenommen". 67 Sein Name stand dann auch auf einer Haftliste vom 3. Juli. 68 Es kam auch vor, daß Personen aufgrund anonymer Anzeigen verhaftet wurden. So erhielt z. B. eine Leipziger SED-Stadtbezirksleitung eine derartige Mel64 65 66 67 68

Vgl. SED-KL Leipzig, Aktennotizen v o m 1 8 . - 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/12/589). Vgl. SED-BL Leipzig, Aktennotiz, o. D. (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 590). SED-BL Leipzig, Aktennotiz, o . D . (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) . SED-Stadtbezirk 11, Betr.: Festnahme eines faschistischen Provokateurs, vom 24. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Vorkommnisse am 17.,18. und 19. 6 . 1 9 5 3 , vom 3. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 211).

Das machtpolitische Kalkül im Umgang mit Rädelsführern

499

dung über einen „Anführer bei der Demonstration nach dem Wilhelm-Liebknecht-Platz [...] aus der Kugellagerfabrik Böhlitz-Ehrenberg". Sie teilte am 24. Juni der SED-Kreisleitung mit, die Anzeige stehe auf einem Kassenzettel und das Original sei der Volkspolizei zur weiteren Bearbeitung übergeben worden. 6 9 , Zu belegen ist ferner, daß einzelne Leute unaufgefordert Meldungen über „verkommene Subjekte" 7 0 an den Einsatzstab machten. Auch zufällig gehörte Gespräche wurden mitgeteilt. Das las sich etwa so: „Meldung eines zufallig gehörten Gesprächs am 19. Juni: Ein ehemaliger Genosse P. unterhielt sich mit mehreren Leuten. Dort wurde immer von .Motte' gesprochen, der sich an den Unruhen am Mittwoch hervorgehoben haben muß." Der Absender empfahl der SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt, daß „man den P. nach der .Motte* ausforschen muß, um vielleicht einen Rädelsführer in ihm zu schnappen". Ein FDJSekretär eines Leipziger Krankenhauses teilte am 21. Juni mit, daß „die Krankenschwester J. B. sich über die Vorkommnisse am 17. Juni gegenüber einer griechischen Freundin äußerte: ,Es mache ihr Freude, was am 17. in Leipzig vorging. Nun wäre es bald aus'". Die SED-Stadtleitung empfahl: „Da es sich hier um ein faschistisches Element handelt, die gegenüber einer griechischen Freiheitskämpferin so provozierend aufgetreten ist, bitten wir, entsprechende Maßnahmen gegen die B. einzuleiten." Später brüsteten sich einige SED-Mitglieder damit, zur Verhaftung eines „Provokateurs" beigetragen zu haben. Das war dann meistens eine Methode zur eigenen Entlastung, falls man in Verdacht geriet. So berichtete ein Genosse aus der ABF der Leipziger Universität Ende September 1953 vor seiner Zentralen Parteileitung: „Ich sah am Amtsgericht jemand, der sich an den Provokationen beteiligte. Ich habe ihn durch die Polizei verhaften lassen". 71 Doch auch Parteilose meldeten Namen von angeblichen Agenten oder Provokateuren. Die SED-Bezirksleitung Leipzig berichtete an das ZK von einem solchen Beispiel, das zur Verhaftung eines Stuttgarter Kaufmanns als „Agent" geführt habe. 7 2 Es gibt Aussagen, wonach 60 bis 70 Prozent derer, die Angaben zu den Streikführern gemacht hatten, parteilose Arbeiter gewesen seien. 73 Nach Auswertung regionaler Quellen kann diese Aussage weder bestätigt noch verneint werden. Anscheinend gingen die Verhaftungen nach dem 17. Juni hauptsächlich auf Meldungen von SED-Leitungen zurück, die sich mehrheitlich auf Informationen von SED- und Staatsfunktionären stützten.

69 70 71 72 73

Vgl. SED KL Leipzig, Aktennotiz (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . SED-Stadtbezirksleitung, Information an die SED-KL, o.D. (SächsStAL, SED IV/5/01/478); die folgenden Zitate ebd. Zentrale Parteileitung der ABF an der Universität Leipzig, Leitungssitzung vom 23.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 7 / 1 3 2 / 5 ) . Vgl. ZK der SED, Neue feindliche Aktionen und Gerüchte, 23. 6.1953, 10.45 Uhr (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 5 / 5 5 4 , Bl. 132). Vgl. Diedrich, Der 17. Juni, S. 181.

500

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Auch in den anderen Bezirken herrschte eine derartige Praxis. Aus einer Meldung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden vom 27. Juli geht hervor, daß die SED bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 299 Personen als „Provokateure" gemeldet hatte. Das MfS legte über 201 von ihnen einen Überprüfungsvorgang an. 74 Was einzelne Menschen zu derartigen Denunziationen von Kollegen, Nachbarn, Bekannten veranlaßt hat, läßt sich nicht unmittelbar aus den Quellen erschließen. Sicherlich hatten sie mehrere Motive. Nicht selten sollten persönliche Differenzen oder Streitigkeiten aus der Vergangenheit auf diese Art und Weise gelöst werden. Vielfach versprachen sich Leute von derartigen Diensten persönliche Vorteile vor allem für ihre berufliche Zukunft. Sicherlich gab es aber auch Menschen, die überzeugt waren, mit ihren Meldungen der Sache des Friedens und des Sozialismus zu dienen. Besonders schlimm war dabei, daß sich die Betroffenen nicht wehren konnten und nicht einmal erfuhren, wer sie angeschwärzt hatte. Interessanterweise haben Staatsanwälte und Kriminalpolizisten, ja sogar sowjetische Kommandanten an manchen Orten den Übereifer der SED-Kreissekretäre bei der Inhaftierung von sogenannten Rädelsführern gebremst. In der Kreisstadt Schmölln im Bezirk Leipzig wurden auf ausdrückliche Veranlassung der dortigen SED-Funktionäre am 19. Juni vier 17jährige Mädchen verhaftet, weil sie an jenem 17. Juni in der Berufsschule ein Stalin-Bild abgenommen und vernichtet hatten. Am 20. Juni beschwerte sich die Kreisleitung bei der Bezirksleitung über den „Genossen Staatsanwalt" wegen der „mit der Linie der Partei nicht zu vereinbarenden Tendenzen". 75 Er hatte sich geweigert, einen Haftbefehl gegen diese Berufsschülerinnen zu beantragen. „Erst auf Druck des 1. Kreissekretärs", so der Bericht, „wurden dann die Kinder vorgeführt. Bei einem dieser Kinder, die sich der 1. Kreissekretär persönlich angesehen hatte, war ein großes Kreuz am Jackenaufschlag zu sehen." Außerdem ging aus dem Bericht hervor, daß nicht nur der Staatsanwalt sich der Anweisung des Kreissekretärs widersetzt hatte, sondern auch eine „Genossin der Kriminalpolizei". Sie hatte folgende Ansicht vertreten: „Wenn man die Mädel bestrafen wolle, müßte man die Genossen, die an der Demonstration teilgenommen haben, alle einsperren, denn deren Schuld sei viel größer". Zum Schluß hielt der Berichterstatter fest: „Der sowjetische Kommandant war nach Rücksprache durch die Genossen der Justiz mit der Freilassung der vier Mädel einverstanden, nicht aber das Kreissekretariat der Partei." Auch aus dem Leichtmetallwerk Rackwitz, Kreis Delitzsch, ist ein Fall bekannt, wo die SEDKreisleitung Delitzsch zwei Betriebsangehörige verhaften lassen wollte, weil sie

74 75

Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, 27. 7 . 1 9 5 3 (BStU, ZAN, All. S. 9 / 5 7 Bd. 1 / 2 ) , zitiert in Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 152f. SED-KL Schmölln, Bericht vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 9 1 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Das machtpolitische

Kalkül im Umgang mit

Rädelsführern

501

angeblich das Protokoll einer Versammlung am 18. Juni gefälscht hatten. 76 Der sowjetische Kommandant verhinderte diese Verhaftung. Doch derartige Handlungen, bei denen sich Staatsanwälte oder Kriminalpolizisten gegen SEDFunktionäre stellten, waren, nach den schriftlichen Überlieferungen zu urteilen, eher untypisch. Nur die SED-Spitzenfunktionäre im Bezirk Leipzig und in der SED-GPO Wismut waren mit der Arbeit der Staatssicherheit - und in Leipzig mit der Volkspolizei - anfangs keineswegs zufrieden. Die SED-Bezirksleitung Leipzig kritisierte die Arbeit der Volkspolizei bereits am 18. Juni. Die Volkspolizisten seien „nicht mit genügender Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit gegen die Rädelsführer" vorgegangen und „in vielen Fällen mußte die Partei in jedem einzelnen Falle den staatlichen Organen die Anweisung zur Verhaftung geben." 77 Fröhlich sah sich deshalb am gleichen Tag zu einer Mitteilung an alle SED-Kreisleitungen veranlaßt, wonach die 1. Kreissekretäre vor VP-Angehörigen sprechen und „aufzeigen" sollten, daß die Strafverfolgungen nicht gegen die Arbeiterklasse, sondern gegen die Provokateure gerichtet seien. „Bei faschistischen Provokateuren darf es kein Zurückweichen geben." 7 8 Am 19. Juni beschwerte sich die SEDKreisleitung Delitzsch bei Fröhlich darüber, daß Volkspolizei und MfS „formal" arbeiteten. Sie hätten „Provokateure, die unsere Funktionäre tätlich angriffen, so z.B. den 1. Kreissekretär [...], nicht mit genügender Härte angefaßt". 7 9 Vielmehr hätten sie derartige Meldungen angezweifelt. Die Kreisleitung Delitzsch war besonders darüber empört, daß Zeugen angehört werden sollten. Die anfangliche Zurückhaltung von Volkspolizisten gegenüber angeblichen Provokateuren könnte auf die Verunsicherung der Volkspolizisten nach der Verkündung des Neuen Kurses zurückzuführen sein. Sie, die bei der Verfolgung von „Delikten" gegen das Volkseigentum oder bei der Verhaftung von Steuerschuldnern aktiv geworden waren, wofür sie nach dem 11. Juni von Seiten der SED-Führung bzw. der DDR-Regierung Kritik einstecken mußten, waren unmittelbar vor dem 17. Juni ausdrücklich zu höflichem und rechtmäßigem Verhalten angehalten worden. Sie waren sogar vor Verhaftungen von unschuldigen Bürgern gewarnt worden. 8 0 Die SED-Führung war nach der 14. ZKTagung daran interessiert, den angeblich irregeleiteten und verführten Arbeitern Nachsicht entgegenzubringen. Einige SED-Leitungen in Leipzig beschwerten sich jedoch darüber, daß festgenommene Personen schon nach 76 77 78 79 80

Vgl. SED-BPO VEB Leichtmetallbau Rackwitz, Interner Bericht über die Vorfälle in der Zeit vom 17. 6 . - 2 2 . 6.1953, o.D. (SächsStAL, SED I V / 7 / 0 2 9 / 1 4 ) . SED-BL Leipzig, Informationsbericht Nr. 125 vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED IV/2/12/588). SED-BL Leipzig, An die 1. SED-Kreissekretäre, vom 18.6.1953 (SächsStAL, SED IV/4/04/345). SED-KL Delitzsch, Informationsbericht vom 1 9 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/12/591). Vgl. BDVP Leipzig, Niederschrift über die Abteilungsleiterbesprechung am 15. 6.1953 (SächsStAL, BDVP, 24/10, Bl. 70).

502

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

wenigen Stunden wieder auf freiem Fuß waren. Am 21. Juni mehrten sich derartige Beschwerden aus Kreisleitungen, Stadtbezirksleitungen und aus einigen Betriebsparteileitungen an den Einsatzstab des Bezirkes. Die SED-Funktionäre brachten ihr „Unverständnis" darüber zum Ausdruck, daß „inhaftiert gewesene faschistische Elemente jetzt schon wieder frei herumlaufen", und sie baten um erneute Inhaftierung. 81 Z. B. wurde gerügt, daß die Streikleitung des VEB Adler-Reparaturwerke Leipzig wieder auf freiem Fuß sei, obwohl diese auch die Arbeiter eines Privatbetriebes zum Streik aufgefordert habe. Derartige Forderungen nach erneuter Inhaftierung erreichten den Einsatzstab Leipzig täglich. In der SAG Wismut übten SED-Funktionäre vor allem Kritik am unklugen Verhalten der MfS-Mitarbeiter am 17. Juni und danach. 82 So hätten sie in Katzendorf Verhaftungen im Parteibüro vorgenommen. Das habe zu Diskussionen in der SED-BPO geführt. Sie kritisierten das MfS auch, weil sie gesetzliche Vorschriften mißachtet habe, indem sie einen Angeklagten mit Handschellen in den Gerichtssaal führte. Demgegenüber sollen MfS-Mitarbeiter Schlagwaffen, die ein Wismut-Kumpel bei seiner Festnahme bei sich trug, nicht als Beweismaterial sichergestellt, sondern einfach weggeworfen haben. Die Hauptkritik an der Wismut-Dienststelle für Staatssicherheit zielte aber darauf, daß die Mitarbeiter keine konkreten Untersuchungen über WismutBeschäftigte nach deren Festnahme führten. 8 3 Des weiteren hatte es offenbar auch hier bereits vor dem 17. Juni Auseinandersetzungen zwischen Parteifunktionären und Mitarbeitern des MfS um die Kompetenzen zwischen SED und MfS gegeben. Dazu hatte die SED-GPL Wismut Anfang Juli festgestellt: „Nach unserem Dafürhalten haben diese Genossen ihre Aufgabe noch nicht richtig erkannt; denn anstatt eine gute kollektive Zusammenarbeit mit den Genossen Sekretären der Grundorganisationen durchzuführen, geben gerade die Genossen des Staatssicherheitsdienstes immer wieder Anlaß zu Streit und nicht notwendigen Meinungsverschiedenheiten. Die Genossen sollten lieber unsere Signale beachten und dort, wo sie des öfteren schon ermahnt wurden, schneller zugreifen [...]. Durch die langsame Arbeit der Genossen des Staatssicherheitsdienstes hat man nach unserer Meinung dem Klassengegner Vorschub geleistet." 84 Die SED-Bezirksleitungen Dresden und Karl-Marx-Stadt lobten dagegen ausdrücklich die gute Zusammenarbeit zwischen den Parteileitungen und den MfS- und Polizeidienststellen. 85 81 82 83 84 85

Vgl. SED-KL Leipzig, An die SED-BL, Einsatzstab, 21. 6.1953, 0.40 Uhr (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 8 ) . Vgl. SED-GPL Wismut, Protokoll 2 8 / 5 3 der Sekretariatssitzung am 2.7.1953 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 9 , Bl. 2). Vgl. SED-GPL Wismut, Monatsbericht vom Juni 1953 (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 589). Ebd., Bl. 589f. Vgl. u. a. SED-BL Dresden, Analyse der Ereignisse im Bezirk Dresden vom 17. 6. bis 19. 6.1953, S. 1 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 2 / 0 0 9 ) ; oder SED-BL Karl-Marx-Stadt, Be-

Fragwürdige Ermittlungsverfahren

2.

503

F r a g w ü r d i g e E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n bei Staatssicherheit u n d Volkspolizei

Während die Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit von der KVP/VP und von ihren eigenen Leuten vor allem in den ersten Tagen in großer Zahl Personen „zugeführt" bekamen, bereitete ihnen die Umsetzung der MielkeAnordnung vom 19. Juni, wonach durch „Vernehmungen" die „wirklichen Initiatoren und Auftraggeber entlarvt" werden sollten, 86 größere Probleme. Die MfS-Mitarbeiter mußten bei ihren Verhören sehr schnell begreifen, daß es diese Auftraggeber nicht gab. Auch die Berichte von Geheimen Mitarbeitern und Geheimen Informanten enthielten nichts über die „wahren Initiatoren". Die Schwierigkeiten begannen schon damit, daß Staatssicherheit und Volkspolizei in den ersten Tagen kaum einen Überblick hatten, wieviel Menschen sie im Zusammenhang mit dem 17. Juni festhielten. Außerdem waren sie nicht auf Massenverhaftungen vorbereitet. Das betraf sowohl die Zahl der zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte als auch ihre Kenntnisse über die zur Anwendung kommenden Gesetze, vor allem der Art. 6 der Verfassung der DDR und die Kontrollratsdirektive 38. 8 7 So kritisierte beispielsweise die Leipziger Polizei, daß Gesetzeskunde in den Schulungen kaum eine Rolle spielte. 88 20 Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig waren zunächst mit der „Filtrierung", d. h. der Überprüfung der Inhaftierten beschäftigt. Die BDVP Leipzig hatte zwei Züge als Vernehmer und einen Zug als Ermittler eingesetzt. 89 Das MfS begann noch in der Nacht vom 17. zum 18. Juni mit den ersten Verhören. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch keine speziellen Richtlinien aus Ostberlin erhalten. Vernommen wurden in dieser ersten Nacht u. a. ein Arbeiter aus dem VEB BBG Leipzig, ein Schmelzer aus dem LES, ein Maschinenschlosser aus dem SAG Kirow, Werk III in Böhlitz-Ehrenberg, ein ESchweißer aus dem SAG Bleichert, Werk I. 9 0 Die ersten Leipziger Vernehmungsprotokolle beinhalten lediglich die Schilderung der Vorgänge in Betrieben durch die „Beschuldigten", wenn es um Arbeiter aus Streikbetrieben ging, bzw. Beobachtungen an Schauplätzen der Auseinandersetzungen in Leipzig. Ab 19. Juni hörte die Staatssicherheit bereits Zeugen an. So vernahm die Kreisdienststelle Eilenburg an diesem Tage als Zeugen gegen die „Provokateure" von Bad Düben einen Oberkommissar des VPKA Eilenburg, der beim Angriff

86 87 88 89 90

richte über die Lage im Bezirk Karl-Marx-Stadt nach den bisher vorliegenden Berichten der KPKK, vom 27. 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAC, SED IV 2 / 4 / 6 8 ) . Vgl. MfS-Berlin, Fernschreiben Nr. 5 3 8 / 5 3 9 / 5 4 0 vom 19. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 3 , Bl. 13). Vgl. VPKA Leipzig, GO Abt. U, Analyse über die Einsätze im Zusammenhang mit dem Tage X vom 30. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 133). Vgl. ebd., Bl. 134. Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Protokoll über Besprechung in der BV Leipzig am 24. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 260, Bl. 55). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Vernehmungsprotokolle, vom 18. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 243, Bl. 3 - 9 ) .

504

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

auf die VP-Dienststelle in Bad Düben dabeigewesen war. 91 Am 21. Juni verhörte die Bezirksverwaltung Leipzig den kaufmännischen Direktor des IfaGetriebewerkes Liebertwolkwitz. 92 Aus den MfS-Unterlagen geht mitunter auch hervor, wer die Festnahmen veranlaßte. Zum Beispiel ist festgehalten, daß Minister Heinrich Rau, der seit dem 17. Juni als Berater der SED-Bezirksleitung Leipzig eingesetzt war, am 18. Juni die Verhaftung von vier Mitarbeitern der SAG Kugellagerfabrik BöhlitzEhrenberg anordnete. 9 3 Auch Paul Fröhlich gab persönliche Direktiven zur Inhaftierung an das MfS. So wies er beispielsweise die Inhaftierung des Werkleiters des RAW Engelsdorf, Herbert Pörschmann, an. 9 4 Daraufhin wurde Pörschmann am 19. Juni verhaftet. Am 21. Juni erstellte das MfS den „Sachstandsbericht" und kam zu der Schlußfolgerung: „Die Beweggründe erscheinen zu gering, um weitere Haftdauer zu beschließen." 95 Er wurde am 27. Juni entlassen, „da ihm keine feindliche Tätigkeit nachgewiesen werden konnte." 96 Ein Teil der Verhafteten, die das MfS verhört hatte, wurde danach zur „Weiterbearbeitung" an die Abteilung K der Volkspolizei übergeben. In den Unterlagen, die das MfS der Kriminalpolizei in solchen Fällen zur Verfügung stellte, waren als Gründe für die Verhaftung lediglich pauschale Vorwürfe wie „Beteiligung an Demonstration", „Demonstration fotografiert", „Bilder entfernt", „Herumtreiberei", „Zusammenrottung" oder „Provokation" angegeben. 97 Für Inhaftierte, die der Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung übergeben wurden, erstellte die Bezirksverwaltung einen „Schlußbericht" und erließ einen „Haftbeschluß". Auch die Volkspolizei führte Verhöre durch. Die Arbeit der Polizei-Ermittler wurde nach Angaben des VPKA Leipzig u. a. dadurch erschwert, daß „laufend Zuführungen" von anderen Abteilungen der Polizei ausgingen, ohne entsprechende Vorschriften zur Aufnahme von „Zugeführten" zu berücksichtigen. Es fehlten beispielsweise Hafteinlieferungsprotokolle. „Es erfolgten auch Zuführungen, die jeder Gesetzesgrundlage entbehrten." 9 8

91 92 93 94 95 96 97 98

Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Leipzig, Zeugenvernehmung vom 19. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 1 6 5 / 5 5 , UV, Bl. 103f.). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Zeugenvernehmung vom 21. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 252, Bl. 1 2 - 1 9 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Telefonische Durchsage der BL vom 18. 6 . 1 9 5 3 , 12.10 Uhr (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 8 , Bl. 18). Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Mitteilung des Gen. Fröhlich vom 17.6.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 2 , Bl. 1). BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Pörschmann (BStU, Ast. Leipzig, AIM, 6 0 3 / 8 3 , Bd. 1, Bl. 30). BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang Pörschmann, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Auszug aus der Karteikarte XIII 5 8 3 8 / 6 0 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Heft: „Weiterbearbeitung durch Abt. K, Tag X" (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 4 , Bl. 3). VPKA Leipzig, G O Abt. U, Analyse über die Einsätze im Zusammenhang mit dem Tag X vom 30. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 6 , Bl. 132).

Fragwürdige

Ermittlungsverfahren

505

Die Befugnisse der Polizei waren dadurch eingeschränkt, daß alle Vorgänge, bei denen Haftbefehle erlassen werden sollten, über das MfS gehen mußten. Bei den Ermittlungen gab es allerdings keine Abstimmung, auch nicht in den Fällen, in denen beide „Organe" ein- und denselben Vorgang untersuchten. Aus Unterlagen, die die Polizei von der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit erhielt, ging oft nicht hervor, ob die betreffenden Personen entlassen oder weiter „bearbeitet" werden sollten. „Erfolglose Vernehmungen" habe das MfS mit der Bemerkung „Durch Abt. U bearbeiten" einfach weitergeleitet. Das VPKA kritisierte auch die Art der Vernehmungen durch Mitarbeiter der Bezirksverwaltung. Die Staatssicherheit habe „nur Frage und Antwort in so primitiver Form wie .Frage: Haben Sie Feindtätigkeiten durchgeführt? Antwort: nein' vermerkt". Das VPKA Leipzig warf dem MfS aber auch vor, „Maßnahmen der demokratischen Gesetzlichkeit" mißachtet zu haben, indem die Staatssicherheit einen „großen Teil" der Häftlinge ohne Haftbefehl festgehalten h a t t e . " Der Bezirksstaatsanwalt von Leipzig wiederum kritisierte die Staatssicherheit, daß sie nur dann „Vorgänge an sich ziehen" würde, wenn die Kriminalpolizei diese schon erfolgreich bearbeitet hatte. 1 0 0 Am 24. Juni fand in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig eine Zusammenkunft zwischen dem Leiter der Bezirksverwaltung Rümmler, dem 1. SED-Bezirkssekretär Paul Fröhlich, dem Chef der BDVP Hans Winkelmann und Angehörigen des Einsatzstabes, Vertretern der UHA Leipzig und Angehörigen eines „Filtrierpunktes" des MfS statt. 101 Es ging dabei vor allem um die „Filtrierung der im MfS einsitzenden Personen". Rümmler hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen exakten Überblick über die Zahl der Inhaftierten und der bereits wieder Freigelassenen. Er ging davon aus, daß ca. 800 Personen in Leipzig einsäßen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren lediglich 200 Personen „bearbeitet". Für 269 Personen, die noch zu vernehmen waren, existierten keinerlei Unterlagen. Rümmler forderte deshalb Verstärkung an, er verlangte die Verdopplung der Einsatzkräfte. Die Zeit drängte vor allem deshalb, weil es auch darum ging, so schnell wie möglich weitere „Zugeführte" freizulassen. Da die Entlassungen nur mit Genehmigung des MfS erfolgen durften, verzögerten sich die Haftentlassungen von angeblich „irregeleiteten Arbeitern". So saß in Leipzig ein Großteil von Personen, die freigelassen werden sollten, immer noch ein. In dieser Besprechung warnte Fröhlich jedoch davor, „keine Verbrecher herauszulassen, das würden uns die Arbeiter nicht verzeihen." Er ließ offen, wer als „Verbrecher" zu gelten hatte. In dieser Besprechung kamen erneut Probleme der Zusammenarbeit von Polizei und Staatssicherheit zur Sprache. Der Chef der BDVP beschwerte sich darüber, daß beide Behörden aneinander vorbeiarbeiten würden. So seien 9 9 Vgl. ebd., Bl. 133. 100 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 4 / 0 9 , Bl. 58). 101 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Protokoll über Besprechung in der BV Leipzig am 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 0 , Bl. 55f.); die folgenden Zitate ebd.

506

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern "

manche Personen viermal vernommen worden, andere gar nicht. Er äußerte auch Kritik daran, daß eine ganze Reihe von Personen immer noch ohne Haftbefehl einsitze. Er schlug vor, einen speziellen Organisationsstab zur Überprüfung dieser Personen zu bilden. Winkelmann wollte in der Besprechung mit den Leipziger Spitzenfunktionären auch die „Behandlung von Häftlingen" in die Diskussion einbringen. Es sei vorgekommen, „daß auch Unschuldige geschlagen worden sind". Er plädierte dafür, die Genossen anzuweisen, daß „derartige Sachen zu unterbleiben haben". Doch für Fröhlich gab es keine unschuldigen Häftlinge. Seine Weisung: „Jedem einzelnen, der entlassen wird, muß gesagt werden, daß er auf jeden Fall schuldig gesessen hat, daß wir aber mit Arbeitern großzügig verfahren." 1 0 2 Mit schnellen Entlassungen sollte bewiesen werden, daß die Regierung mit „ehrlichen Arbeitern", die angeblich von „Provokateuren" verführt worden waren, großzügig verfuhr. Die Freigelassenen sollten berichten, daß sie in der Untersuchungshaft ordentlich behandelt worden waren. In der UHA Leipzig führte die Staatsanwaltschaft deshalb mit jedem Inhaftierten vor seiner Entlassung „persönliche Gespräche", wie sie Fröhlich angeordnet hatte. Nach Darstellung eines Leipziger Justizangestellten sprachen sie zunächst mit den zur Entlassung anstehenden Personen, meist mit „verhetzten und ehrlichen Arbeitern", über die „Hintermänner" des 17. Juni. 103 Danach wurde jeder einzelne gefragt, wie er in der Strafanstalt behandelt worden sei. Alle hätten daraufhin bestätigt: „Die Behandlung war anständig und menschlich." Schließlich wurden die Entlassenen aufgefordert, daß sie „in dieser Beziehung diskutieren [sollten], wenn sie zurückgehen in ihre Betriebe." In Leipzig erfolgten die ersten Entlassungen nachweislich am 19. Juni, u. a. wurden an diesem Tage sechs Belegschaftsangehörige des SAG ECW Eilenburg freigelassen. 104 Erste statistische Angaben über die Anzahl der Freigelassenen existieren seit dem 21. Juni. An diesem Tage wurden 36 Personen freigelassen. Bis zum 30. Juni kamen aus der Untersuchungshaft des VPKA Leipzig insge-

102 Exakt einen Monat später wurde auf einer Parteiaktivtagung der BDVP Leipzig nochmals auf einige Pannen bei der polizeilichen Arbeit im Zusammenhang mit Verhaftungen von Juni-Aufständischen verwiesen. Kritisiert wurde u. a., daß „viele Personen ohne Hafteinlieferungszettel festgehalten wurden [...]. Ein weiterer Fehler zeigte sich in der Anwendung polizeilicher Zwangsmittel. Wir haben nicht mehr gefragt, welche Möglichkeiten es gibt, die Personen festzustellen. Die Personen wurden einfach zugeführt und oft sogar in Haft behalten. Wir haben leichtsinnig mit der Festnahme und den Handschellen gearbeitet. Das bedeutet eine Diskriminierung unserer Werktätigen." Parteiaktivtagung der BDVP, vom 24.7,1953(SächsStAL, BDVP, 2 4 / 2 5 ) . 103 SED-BL Leipzig, Parteiaktivkonferenz vom 3 1 . 7 . 1 9 5 3 , S. 78 (SächsStAL, SED IV/2/2/91). 104 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Eilenburg, Berichterstattung über Vorkommnisse am 1 7 . - 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , o.D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 4 0 / 0 1 , Bl. 10).

Fragwürdige Ermittlungsverfahren

507

samt 447 Personen frei, 1 0 5 vom 1. bis 31. Juli waren es weitere 17 Personen. 1 0 6 Erstmals erfolgten seit dem 24. Juni Entlassungen auch auf Anweisung der Staatsanwaltschaft. Bis Anfang Juli waren von 222 Personen, die als Mitglieder von Streikleitungen inhaftiert worden waren, 151 wieder auf freiem Fuß, darunter auch die meisten Mitglieder von Streikleitungen der SAG Transmasch, der SAG Bleichert, des VEB Getriebewerke Leipzig und des IFA-Getriebewerkes Liebertwolkwitz. 107 71 Mitglieder von Streikleitungen befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft. 1 0 8 Aus den Unterlagen des MfS geht auch hervor, daß die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig in der Zeit vom 17. bis 29. Juni 1953 insgesamt neun Personen an die „sowjetischen Freunde" überstellte, darunter eine junge Frau, zwei Streikführer aus Schkeuditz, einen ehemaligen VP-Angehörigen, der an der Entwaffnung der Leipziger Transportpolizei im Hauptbahnhof beteiligt gewesen sein soll, und einen 15jährigen Schlosserlehrling aus Leipzig. 109 Ein Streikführer aus Schkeuditz, Fritz Scheibe, wurde am 8. Juli von „den Freunden" nach Berlin überstellt. 110 Den ehemaligen VP-Angehörigen Herbert Kaiser, 40 Jahre alt, verurteilte laut MfS-Notizen ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode. 111 Auch der Lehrling Paul Ochsenbauer gehörte zu den Überstellten. Er wurde beschuldigt, den Ausnahmebefehl abgerissen und einem sowjetischen Offizier ins Gesicht geworfen zu haben. Er kam nach seiner Auslieferung auf ungeklärte Weise zu Tode. 112 Die Entlassungen wurden nicht, wie beabsichtigt, als besonderer Gnadenakt der Herrschenden empfunden und bewertet, sondern als Sieg der Aufständischen und als Niederlage der Herrschenden. Die Freigelassenen wurden mit Blumen oder Girlanden am Arbeitsplatz begrüßt. In zahlreichen Betrieben sammelten Kollegen Geld zur Unterstützung der Angehörigen. Auch in der SAG Bleichert in Leipzig fand eine solche Sammelaktion statt. 113 Im VEB Guß Roßwein spendeten Beschäftigte Geld, um den Lohnausfall zweier inhaftierter 105 Vgl. VPKA Leipzig, Untersuchungshaft, Listen von Entlassungen, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 242, Bl. 2 - 9 ) . 106 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Verhaftete Personen, Stand vom 1. 7. und 31. 7 . 1 9 5 3 , o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 142, Bl. 98). 107 Vgl. BDVP Leipzig, Betr.: Vorkommnisse am 17., 18. und 1 9 . 6 . 1 9 5 3 , vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP 2 4 / 4 2 , Bl. 208ff.). 108 Errechnet nach BDVP Leipzig, Betr.: Festgenommene Streikleitungen, Aufstellung vom 4.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 246ff.). 109 Vgl. BV für Staatssicherheit, Abt. IX, Aktennotiz vom 29. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 251, B. 2 3 ) . 110 Vgl. BV für Staatssicherheit, Tägliche Berichterstattung über durchgeführte Strafverfahren anläßlich des Tages X vom 1. 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 45). 111 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Abt. IX, Aktennotiz vom 29. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 251, Bl. 2 3 ) . 112 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Aktennotiz, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 243, Bl. 13). 113 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 1 4 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, S E D IV/5/01/088).

508

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Kollegen auszugleichen. Dazu vermerkte die Kreisdienststelle für Staatssicherheit Döbeln: „Die Summe übersteigt beanspruchten Lohn für diese Zeit." 114 Es gibt auch Hinweise darauf, daß sich aus der Haft Entlassene der SED bzw. dem MfS regelrecht angedient haben. Der Fall des parteilosen Buchhalters T. aus dem Leichtmetallwerk Rackwitz, Kreis Delitzsch, war sicherlich eine Ausnahme, aber er zeigt, wie Menschen eingeschüchtert und manipuliert werden konnten, wenn sie in die Mühlen der Staatssicherheit gerieten und ihnen Zuchthaus drohte. Besagter Buchhalter hatte zu einer Delegation im Leichtmetallwerk gehört, die nach der Verhängung des Ausnahmezustandes dem ZK eine Entschließung mit „regierungs- und parteifeindlichen Forderungen" überbrachte. Als ehemaliger SS-Mann eignete er sich besonders für eine Verhaftung als „Hauptprovokateur". Doch gerade er kam überraschend schnell wieder auf freien Fuß. Das ist um so erstaunlicher, weil ein Mitglied der Bezirksparteileitung auf der Parteiaktivtagung des Betriebes vom 24. Juni die Handlungen jenes Buchhalters, seine Forderungen nach Aufhebung des Ausnahmezustandes und nach Wegfall fremder Politik als Vorbereitung zum Hochverrat, Landfriedensbruch und Widerstand gegen die sowjetische Militärverwaltung eingestuft hatte. Nach Meinung des Parteifunktionärs stand darauf nach Militärrecht die Todesstrafe. 115 Nach seiner Entlassung verfaßte der Buchhalter eine fast fünfseitige Erklärung. 116 Der Stil und die Formulierungen sind recht eigenartig. Alles deutet daraufhin, daß er diese „Erklärung" nicht selbst verfaßt hat. Sie beginnt damit, daß er bekennt: „Wären die Provokationen, wie sie am 18. Juni bei uns in der Kulturhalle des Werkes unter meiner Leitung durchgeführt wurden, im Zeitalter des Faschismus geschehen, so kann ich behaupten, daß ich keine Gelegenheit mehr bekommen hätte, meine Familie noch einmal wiederzusehen." Danach setzte er sich mit den früheren faschistischen Machthabern und mit der „verbündeten rechten SPD-Führung" auseinander, um dann der SED besonders zu danken, die die „Initiative bei der Lösung der gewaltigen Aufgaben" übernommen habe. Und auch dafür war er der Regierung der DDR dankbar, daß sie ihn, als ehemaliges Mitglied der SS, obwohl er seine „bürgerliche, faschistische Ideologie noch nicht abgelegt hatte", zum gleichberechtigten Bürger der DDR gemacht habe, der „uneingeschränkt alle Vorteile unserer gesellschaftlichen Errungenschaften genießen" könne. Danach führte er aus: „Ich aber selbst habe in meiner bürgerlich, faschistischen Ideologie [sie] das Gift des RIAS eingesaugt und mich damit vergiften lassen. In den Tagen des 17. und 18. Juni habe ich mich offen zum Werkzeug der Kriegsbrandstifter gemacht, der Provokation gegen unsere Regierung Vorschub geleistet und sogar die Forderung nach Ablösung unserer Regierung, die bisher alles für das Wohl des 114 Kreisdienststelle für Staatssicherheit Döbeln, Aktennotiz, o.D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 3 0 / 0 3 , Bl. 15). 115 Vgl. SED-BPO LWR, Parteiaktivkonferenz vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/7/029/5). 116 Vgl. Abschrift Thieme, LWR, o. D. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 4 / 3 4 5 ) .

Fragwürdige Ermittlungsverfahren

509

Volkes getan hat und tun wird, gefordert [...]. Es ist bekannt, daß solche Forderungen in den westlichen Agentenzentralen ausgearbeitet wurden und durch den RIAS verbreitet werden. Dieses Gift aber nahm ich auf und machte mich sogar zum Werkzeug dieser Verbrecherbande. Ich wurde damit selbst zum Verbrecher an unserem Volk, am friedlichen Aufbau unserer Heimat, ja sogar zum Verbrecher an meiner eigenen Familie, meinen drei kleinen unschuldigen Kindern. Ich mußte also damit rechnen, schwerste Bestrafung für meine Verbrechen zu erhalten." Dann beschrieb er noch, wie ihn „unsere Sicherheitsorgane" behandelt hätten. Die Vernehmung sei „sehr sachlich und in allen Punkten gründlich und korrekt durchgeführt" worden. Und er fügte hinzu: „Ich lernte während dieser Vernehmung immer deutlicher erkennen, welchen Lügen und Verleumdungen ich zum Opfer gefallen war. Trotzdem wußte ich ganz klar, daß ich mich zum Verbrecher hatte herabsinken lassen. Ich getraute mir [sie!] kaum daran zu denken, daß ich die Freiheit noch einmal erlangen und als ehemaliger RIAS-Hörer nun meine Mitmenschen davon überzeugen kann, wie dieses Gift alle ehrlichen Bestrebungen unserer Staatsorgane in das Gegenteil umwandeln kann." Am Ende versicherte er: „Die Tage des 17. und 18. Juni haben in mir die Erkenntnis gebracht, allen Ballast, alles Doppelzüngige abzuschütteln und ehrlich und offen für die Stärkung unserer Staatsmacht, für die Verwirklichung der Bestrebungen unserer Regierung, für den Frieden und gegen das noch irgendwo anzutreffende RIAS-Gift einzutreten." Reaktionen auf diesen Brief sind nicht bekannt. Die BPKK Leipzig hielt die Angelegenheit für so wichtig, daß sie im Monatsbericht dem ZK darüber berichtete. 117 Verständlicherweise finden wir in den Vernehmungsprotokollen keine Angaben zur Behandlung in den Gefängnissen bzw. Hinweise darauf, wie die Verhöre geführt wurden. Auch vor Gericht kamen Gewaltanwendungen gegenüber Juni-Aufständischen nicht zur Sprache. Die Justizverwaltungen mußten auf die Verteidiger einwirken, von Hinweisen Abstand zu nehmen, daß die Ermittlungsbehörden Druck auf die Angeklagten ausgeübt hätten. 1 1 8 Lediglich im weiter unten dargestellten Prozeß gegen 16 Angeklagte aus Niesky sagten einige Angeklagte aus, die Geständnisse seien durch Anwendung von Gewalt von der Staatssicherheit erpreßt worden. Es gibt jedoch Schilderungen von Betroffenen über ihre Erlebnisse in der Haft. So fertigten damals vier zeitweise inhaftierte Studenten der Leipziger Universität ein Protokoll darüber an, wie sie nach ihrer Festnahme behandelt wurden. Sie hatten am 18. Juni gegen Mittag vor der Ritterstraße in Leipzig auf die Öffnung der Stipendienstelle gewartet und waren von einer sowjetischen Militärstreife verhaftet worden, weil sie in einer Gruppe von mehr als drei Personen zusammenstanden und somit gegen Bestimmungen des Ausnahmezustandes verstoßen hatten. Sie kamen in das Untersuchungsgefängnis in der Leipziger Wächterstraße. Nach Ankunft auf dem Hof der UHA wurden sie von 117 Vgl. SED-BL Leipzig, Monatsbericht an das ZK der SED, o . D . (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 276). 118 Vgl. Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 125.

510

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

KVP-Angehörigen empfangen und mußten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Bei dieser Aktion wurden sie „schikaniert und geschlagen". Ein Student war erst zwei Tage zuvor nach einer Operation aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ein Hinweis auf den Gesundheitszustand des Studenten wurde mißachtet. Am Abend des Einlieferungstages sei zwar ein Arzt in der Zelle des erkrankten Studenten erschienen, doch auf die Anordnung, er solle sich am nächsten Morgen zum Verbinden melden, geschah drei Tage - trotz entsprechender Bitten - nichts zur Versorgung der Wunde. Erst am letzten Abend vor der Entlassung veranlaßte ein Wachtmeister die Wundversorgung. Angehörige der KVP beschimpften die Untersuchungshäftlinge mit Redensarten wie: „Erschießen ist zu gut, man müßte Euch mit dem Kolben den Schädel einschlagen" oder: „Euch müßte man in den Arsch treten, daß der Stiefel drin stecken bleibt". Am Montag, dem 22. Juni, gegen 20 Uhr, wurden sie nach mehreren Verhören entlassen. Sie erfuhren erst bei ihrer Entlassung, unter welchem Tatverdacht sie gestanden hatten. Dazu schrieben die Studenten: „Ohne jede Erklärung, nur mit dem Hinweis: ,Nun werdet Ihr keine Volkspolizisten mehr schlagen', wurden wir nach Hause geschickt." 119 Wie bereits erwähnt, hatte ein Arbeiter aus dem VEB GUS Roßwein, Kreis Döbeln, der als „Rädelsführer" verhaftet und wieder freigelassen worden war, in einer Belegschaftsversammlung in Anwesenheit von Hermann Matern MfSMitarbeiter beschuldigt, ihn geschlagen zu haben. 1 2 0 Das löste eine Untersuchung in der UHA Leipzig aus. Ein Zugführer der UHA wurde daraufhin vernommen. Auf die Frage, ob geschlagen worden sei, antwortete er laut Protokoll: „Ja, einmal, und zwar muß das am 19. oder 20. Juni passiert sein. Ich kann mich aber nicht auf den Tag festlegen. Es kann auch zwei Tage später gewesen sein, aber nicht nach dem 25.6.53." 1 2 1 Am 17. Juli erging die Anweisung, „weder zu schlagen, noch zu mißhandeln". 122 Es gibt ähnliche Schilderungen über die Zustände in Dresdner Haftanstalten. Ein Genosse namens Thiele war entrüstet über die Anwendung von Gewalt gegenüber „Zugeführten" und machte eine entsprechende Mitteilung an die SED-Bezirksleitung. 123 Er hatte in einer Unterhaltung mit dem Parteisekretär der KVP aus der August-Bebel-Straße, Hauptmann Hermann, erfahren, daß in der Turnhalle Marienallee in Dresden ca. 1 500 Personen untergebracht waren, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni verhaftet worden waren. Angehörige der KVP bewachten sie. Über die Bewachungsmethoden ließ sich der Offizier wie folgt aus: Bereits vor den Vernehmungen wurden „diese ziemlich robust behandelt." 100 bis 150 Personen, die ihre Freilassung verlangten,

119 120 121 122

Protokoll von Studenten der ABF Leipzig, o . D . (SächsStAL, SED I V / 7 / 1 3 2 / 1 9 ) . Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 3 0 / 0 3 , Bl. 13). Ebd., Bl. 18. Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Mitteilung aus UHA vom 17. 7.1953 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 3 0 / 0 3 , Bl. 17). 123 Vgl. SED-BL Dresden, Aktennotiz des Gen. T. R„ 6. 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 3 / 2 0 1 , Bl. 12).

Fragwürdige Ermittlungsverfahren

511

wurden aus der Turnhalle herausgeholt. Sie mußten sich etwa zwei Stunden mit der Nase an der Wand aufstellen. Wenn sich jemand bewegte, wurde ihm mit Erschießung gedroht. Der KVP-Offizier erzählte auch, daß die Staatssicherheit, die die Gefangenen zur Vernehmung abholte, zur Begrüßung Ohrfeigen austeilte. Nach Mitteilung des KVP-Offiziers wurden Gefangene auch während der Vernehmung geschlagen. Der Unterzeichner der Aktennotiz war entsetzt darüber, daß die KVP „gegenüber diesen Menschen [...] keine Rücksicht walten ließ." Er habe deshalb dem Hauptmann sein „Mißfallen gegenüber so einer Handlungsweise zum Ausdruck gebracht", die „eines Offiziers der KVP nicht würdig sei". Daraufhin habe jener Offizier erwidert, dies seien „die einzig richtigen Methoden, solche Menschen zum Sprechen oder zum Schweigen zu bringen". In der weiteren Unterhaltung habe er jedoch zugegeben, daß ein „großer Teil der inhaftierten Personen wieder freigelassen werden mußte". Auch gegenüber Frauen zeigten die „Untersuchungsorgane" keine Rücksicht. So schilderte eine Leipzigerin, Ursula Wolf, die als „Rädelsführerin" am 23. Juni in ihrer Wohnung verhaftet und sechs Wochen später zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden war, die Umstände ihrer Festnahme und die ersten Stunden ihrer Haft. 1 2 4 Sie wurde abends gegen 22.15 Uhr von drei Volkspolizisten abgeholt. „Die ganze Nacht fuhren wir durch Leipzig und .sammelten' weitere Frauen ein. Gegen 3 Uhr waren wir dann im Frauenhaus der Beethovenstraße. Ich mußte mich nackt ausziehen. Wurde von oben bis unten durchsucht. Mußte mich sogar bücken [...]. Es war eine entwürdigende Tortur. Fast schon schien es mir als Erleichterung, als ich gegen 6 Uhr endlich in die Zelle .durfte'. Dort waren schon sechs Frauen untergebracht. Total übermüdet, verweint, entnervt." Frau Wolf war damals eine junge Frau und Mutter von zwei kleinen Kindern. Über das Verhalten sowjetischer Offiziere gegenüber Verhafteten ist wenig bekannt. Meist wird auf die Tatsache verwiesen, daß sie gegenüber angeblichen Provokateuren und Agenten „kurzen Prozeß" machten. Auch in Leipzig sind nachweislich mindestens drei junge Männer im Alter zwischen 17 und 24 Jahren standrechtlich erschossen worden. Zeitzeugen haben mitunter bekundet, daß die Behandlung durch DDR-Bewacher in der Regel schlechter war als durch sowjetische.

124 „Augenzeugen erinnern sich: Entwürdigende Tortur ließ die Tränen fließen". In: Wir in Leipzig, vom 16./17. 6.1990, S. 9.

512 3.

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern " Die A k t e u r e des 17. Juni vor sächsischen S t r a f g e r i c h t e n

Während zahlreiche Verhaftete in Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt nach kurzer Zeit wieder freikamen, fanden bereits die ersten Verhandlungen gegen „Provokateure" und „Rädelsführer" vor den Strafsenaten der Bezirksgerichte statt. Die Parteiführung drängte die Justiz zur Eile. Am 20. Juni beschäftigte sich das SED-Politbüro mit der „Aburteilung der bei den Ausschreitungen Verhafteten" und gab Justizminister Max Fechner und dem Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer den Auftrag, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, „damit die im Zusammenhang mit den Ausschreitungen der letzten Tage Verhafteten ab Sonntag, den 21. Juni, zur Aburteilung gelangen." 1 2 5 Am gleichen Tage unterrichtete das ZK alle 1. Sekretäre der Bezirksleitungen, daß die Staatsanwaltschaften und Gerichte „zur sofortigen Aburteilung bestimmte Weisungen erhalten" haben und morgen mit ihrer Arbeit beginnen werden". 1 2 6 Das ZK forderte die Bezirkssekretäre auf, „dieser Tätigkeit [...] größtmögliche Unterstützung zu geben, vor allem bezüglich der Auswahl der Verteidiger und Schöffen." Am 21. Juni, am Tage der ersten Verhandlungen, erhielten die Bezirksgerichte eine Direktive des Justizministers zugestellt, die u. a. die differenzierte Strafzumessung bei „Agenten, Provokateuren, Rädelsführern" auf der einen und „den verführten Werktätigen" auf der anderen Seite anmahnte. Sie ging auf eine „Empfehlung" der 14. ZK-Tagung zurück, „mit größter Sorgfalt zu unterscheiden zwischen den ehrlichen, um ihre Interessen besorgten Werktätigen, die zeitweise den Provokateuren Gehör schenkten, und den Provokateuren selber." 127 Wenige Tage später präzisierte Fechner seine Anweisung dahingehend, daß er sich in einem Interview im „Neuen Deutschland" dafür aussprach, daß „nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten" und die Tätigkeit allein in einer Streikleitung nicht zur Bestrafung führen dürfe. 1 2 8 Die unter Zeit- und Erfolgsdruck in wenigen Stunden abgeschlossenen „Ermittlungen" der Staatssicherheit und der Volkspolizei waren völlig ungeeignet, eine derartige Differenzierung bzw. eine annähernd gerechte Beurteilung des Sachverhaltes vorzunehmen. In den geforderten Schnellverfahren ging es vordergründig darum, Macht zu demonstrieren und keine neuen Anlässe zur Fortsetzung des Protestes und zur Belebung des Widerstandes zu geben.

125 DY 3 0 / J I V 2 / 2 / 2 9 1 , zitiert in Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 122; weitere Einzelheiten zur Justizlenkung durch die SED-Führung vgl. ebd., S. 122ff. 126 ZK der SED, Fernschreiben Nr. 2 0 9 vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 21). 127 „Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Beschluß des ZK der SED vom 21.6.1953 (14. Tagung). In: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 441. 128 „Alle Inhaftierten kommen vor ein ordentliches Gericht", Interview mit dem Minister der Justiz, Max Fechner, über die mit dem 17. Juni im Zusammenhang stehenden Verhaftungen. In: N D vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 .

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

513

Wie die von Ulbricht geforderte „größtmögliche Unterstützung" der Gerichte durch die SED-Bezirksleitungen tatsächlich aussah, läßt sich für die ersten Prozesse in der Woche vom 21. bis 27. Juni nur ansatzweise belegen. Offenbar war die Politbürokratie zu diesem Zeitpunkt mit der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes in ihrem Territorium so beschäftigt, daß sie kaum - wie in den späteren Verfahren - direkten Einfluß auf die Festlegung des Strafmaßes nehmen konnte. Die SED-Leitungen hatten in den ersten Tagen vor allem „Beweise" zu liefern, daß es sich angeblich um einen faschistischen Putsch gehandelt habe, der von außen gesteuert wurde. Sie wiesen die Untersuchungsorgane an, schnellstens entsprechende „Ermittlungsergebnisse" vorzulegen, vor allem bei den Inhaftierten „eine militärische Ausbildung in Westberlin" nachzuweisen. 129 Doch das führte - trotz auftragsgemäßer Recherchen - nicht zum Erfolg. Das VPKA Borna (Bezirk Leipzig) übergab am 25. Juni der SED-Kreisleitung eine namentliche Aufstellung von Inhaftierten unter der Überschrift: „Betrifft: .Tatsachenmaterial über faschistische und reaktionäre Kräfte"' mit der einleitenden Bemerkung, bei den festgenommenen Personen sei „keine militärische Ausbildung in Westberlin erfolgt." 130 Auch das VPKA Leipzig-Stadt bedauerte einen Tag später, daß unter den verhafteten „Rädelsführern und Provokateuren sowie Streikleitungen usw. [...] die führenden Provokateure" nicht dabei seien und keine „Verbindung nach Berlin und Westberlin" festgestellt werden konnte. 131 Auch umfangreiche Ermittlungen durch die Staatssicherheit in Leipzig und Karl-Marx-Stadt brachten nicht die geforderten Beweise. So teilte die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit KarlMarx-Stadt am 24. Juni mit, daß in den bisherigen Ermittlungen und Untersuchungen der „Beweis der Streikdurchführung im Auftrag und unter Leitung von Agenten imperialistischer Geheimdienste nicht erbracht werden konnte." 132 Einzelne Häftlinge verfügten zwar über Verbindungen zu Verwandten in Westdeutschland. „Jedoch konnte bisher noch kein Anhalt dafür gefunden werden, daß über diese Verwandten eine Beauftragung erfolgt ist". 133 Auch bei fünf Inhaftierten, die längere Zeit in Westdeutschland gewohnt hatten und erst vor kurzem in die DDR zurückgekehrt waren, hatten die Vernehmungen des MfS nichts „über verbrecherische Verbindungen" zutage gefördert. Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt schätzte am 25. Juni ein, daß „voraussichtlich das Belastungsmaterial bei acht Personen nicht zur Verurteilung ausreicht, so daß dieselben entlassen werden müssen." 134

129 ZK der SED, FS Nr. 2 2 8 vom 22. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 2 9 9 , Bl. 31). 130 Vgl. VPKA Borna, Betrifft: Tatsachenmaterial über faschistische und reaktionäre Kräfte, vom 25. 6 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 5 ) . 131 Vgl. VPKA Leipzig, Bericht und Teilberichte der Reviere vom 26. 6 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 7 9 ) . 132 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse der Abt. IX vom 25. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 1 , Bl. 70). 133 Ebd., Bl. 74. 134 Ebd.

514

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Die „führende Rolle" der SED bei der Strafverfolgung von Akteuren des 17. Juni wird auch daran deutlich, daß die Bezirksstaatsanwaltschaften damals die SED-Bezirksleitungen ständig über den Stand der Gerichtsverfahren gegen Juni-Aufständische informieren mußten. So gibt es zahlreiche derartige „Übersichten", „Aufstellungen" und „Berichte" über Prozesse am Bezirksgericht Dresden für den Zeitraum vom 21. Juni bis 23. Juli 1953 in den SED-Unterlagen. 135 Schon seit März 1953 nahmen Funktionäre der Bezirksleitung Dresden an allen Leitungssitzungen und Mitgliederversammlungen der PO der Bezirksstaatsanwaltschaft teil. 136 Außerdem war der Direktor des Bezirksgerichts Dresden, Fritz Pogorschelsky, am 23. Juni vom Operativstab angewiesen worden, den Parteisekretären derjenigen Betriebe, aus denen Verurteilte kamen, eine entsprechende Mitteilung über die Urteile und den „Sachverhalt" zu machen. 137 Die angeschriebenen Parteisekretäre sollten ihrerseits über Reaktionen in der Belegschaft informieren. Antworten gab der Bezirksstaatsanwalt an die Bezirksleitung weiter. Für die späteren Prozesse, die ab Mitte Juli 1953 vor dem 1. Strafsenat gegen sogenannte Rädelsführer u. a. aus Görlitz, Niesky und Dresden geführt wurden, gab es bereits im Vorfeld Absprachen zwischen der Bezirksparteileitung und dem Bezirksgericht. Darüber liegen „Aktennotizen" der Bezirksleitung, Abteilung Staatliche Organe, vor. 138 In diesen Absprachen wurden personelle Festlegungen - wie der Einsatz des Staatsanwaltes, des Vorsitzenden Richters, der Schöffen und „fortschrittlicher Rechtsanwälte" als Verteidiger und eventuell der Auftritt von Zeugen - und „Urteilsvorschläge" getroffen bzw. bestätigt. 139 Die Dresdner Richter hielten sich in der Regel an derartige Vorschläge, in einigen Verfahren wichen die Urteile leicht ab, sie lagen mal unter, mal über der vorgeschlagenen Freiheitsstrafe. Inwieweit die Staatssicherheit als Untersuchungsorgan an diesen Absprachen direkt beteiligt war, läßt sich anhand der schriftlichen Quellen nicht exakt nachweisen. Eine Oberrichterin des Bezirksgerichts Dresden, die damals in zahlreichen Prozessen den Vorsitz des Strafsenats hatte, will vom Einfluß des MfS auf die Prozesse nichts gewußt haben. 1 4 0 Die „Schlußberichte" der Staatssicherheit waren die Grundlage für die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Außerdem gab es „eine gute Zusammenarbeit der Bezirksstaatsanwaltschaft mit dem MfS und der VP". 141

135 Vgl. Berichte der GStA an die BL Dresden (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 136 Vgl. SED-BL, Analyse über die erfolgte Überprüfung der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden vom 31. 3 . 1 9 5 3 , S. 21 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 8 ) . 137 Vgl. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der BPO der SED (SächsHStA, SED IV/2/13/017). 138 Vgl. SED-BL Dresden, Aktennotiz der Abt. Staatliche Organe, o.D. (SächsHStA, SED IV/2/13/017). 139 Vgl. ausführlich Roth, Im Parteiauftrag, S. 76ff. 140 Vgl. Aussage der Angeklagten im Prozeß wegen Rechtsbeugung gegen U.S., 1996. (Staatsanwaltschaft Dresden) 141 Vgl. SED-BL, Analyse über die erfolgte Überprüfung der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden vom 31. 3 . 1 9 5 3 , S. 6 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 8 ) .

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

515

In der Literatur gibt es Hinweise darauf, daß es in Dresden unterschiedliche Auffassungen über die Höhe der Freiheitsstrafen zwischen den Gerichten und dem MfS gegeben hat und die Staatssicherheit auf insgesamt härtere Strafen drängte. Angehörige der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit sollen die Vorführung von Angeklagten zum gerichtlichen Termin verweigert haben, wenn damit zu rechnen war, daß das Gericht nicht die schwersten Strafen aussprechen würde. 1 4 2 Aus den Leipziger Quellen läßt sich kaum etwas über den direkten Einfluß der SED-Bezirksleitung auf die Bezirksgerichte ableiten. In den archivierten Unterlagen der Bezirksleitung und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit gibt es keine Hinweise auf derartige konkrete Absprachen zwischen der SED, dem MfS und den Gerichten über die Prozesse im Zusammenhang mit dem 17. Juni. Auf Parteiaktivtagungen und in Sitzungen der Bezirksleitung spielte die Arbeit der Gerichte nur ganz selten eine Rolle. Es gibt nur einen direkten Hinweis darauf, daß die Leipziger Richter nicht unbedingt der Aufforderung Fechners gefolgt waren, wonach nur die bestraft werden dürfen, die sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht haben. So wehrte sich ein Leipziger Staatsanwalt in einem Parteiaktiv gegen den Vorwurf eines Schöffen, das Gericht habe zu „milde Urteile" gegen sogenannte Rädelsführer gefallt. In diesem Zusammenhang betonte er, daß die Genossen der Bezirksstaatsanwaltschaft und des Gerichts sich gegen die Fechnersche Linie ausgesprochen hätten, wonach nur solche Personen bestraft würden, die sich „eines schweren Verbrechens schuldig" gemacht hätten, und die Teilnahme am Streik als ein Verfassungsrecht nicht strafbar sei. Übrigens druckte die Leipziger Volkszeitung das Interview des damaligen Justizminister Fechner, das zu seiner Ablösung und Inhaftierung geführt hat, nicht ab. Andererseits beschwerte sich der Direktor des Leipziger Bezirksgerichts Ende Juni vor Funktionären, die Untersuchungsorgane übergäben Vorgänge „nur sehr schleppend" an die Staatsanwaltschaft. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Gerichte seien in der Lage, „täglich wesentlich mehr abzuurteilen." 1 4 5 In den eiligst berufenen 1. Strafsenaten der Bezirksgerichte kamen von der SED ausgewählte und überprüfte Richter, Staatsanwälte, Schöffen und Rechtsanwälte als Pflichtverteidiger zum Einsatz. Sie erfüllten einen besonderen Partei- und Klassenauftrag, der einigen offenbar sehr gefährlich erschien. So forderten der Direktor des Bezirksgerichts und vier Leipziger Richter(innen) am 26. Juni von der SED ihre sofortige Bewaffnung, weil „unter Umständen nach Aufhebung des Ausnahmezustandes die faschistischen Provokateure erneute Angriffe planen und diese dann auch erfolgreich abschließen werden können". 1 4 4 142 Vgl. Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 128. 143 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Tägliche Berichterstattung über durchgeführte Strafverfahren anläßlich des Tages X, o. D. (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 6 9 / 0 1 , Bl. 1). 144 SED-BPO Bezirksgericht Leipzig, An den 1. Sekretär des Stadtbezirks 5 vom 1. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 8 ) .

516

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Über die Arbeit des Leipziger Bezirksgerichts liegen ausführliche Statistiken für die Zeit vom 20. Juni bis 25. Juli vor, die der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit täglich übermittelt wurden. 1 4 5 Danach gingen am 20. Juni die ersten fünf Verfahren beim Bezirksgericht Leipzig und bis zum 27. Juni insgesamt 67 Verfahren mit 87 beteiligten Personen ein, darunter Verfahren gegen neun Jugendliche. Besonders viele Zugänge wurden - wie in Dresden auch am 23. Juni registriert. Es waren allein an diesem Tage 24 Vorgänge mit 27 Personen. Innerhalb einer Woche - vom 21. bis 27. Juni - fanden vor dem Bezirksgericht Leipzig 51 Verhandlungen gegen 61 Personen statt. 146 Das Gericht sprach in 25 Verfahren gegen 31 Angeklagte Urteile mit Freiheitsstrafen aus. Über die Höhe der Strafen machte der Bericht keine Angaben. Lediglich im Verfahren gegen einen Jugendlichen kam das Bezirksgericht zu einem „Freispruch mangels Beweisen". Gegen elf Personen stellte das Gericht die Verfahren ein. Gegen 18 Personen mußte nachermittelt werden. Bis zum 2. Juli „erledigte" dieses Gericht 82 Verfahren, in denen 106 Personen angeklagt waren. 1 4 7 Bis zu diesem Zeitpunkt waren 96 Verfahren gegen 126 Personen eingeleitet, darunter waren Verfahren gegen 13 Jugendliche. 50 Verfahren gegen 62 Angeklagte, darunter elf Jugendliche, wurden mit einer Verurteilung abgeschlossen, gegen 23 Personen wurde das Verfahren eingestellt, 14 Verfahren (mit 21 Beschuldigten) wurden an die Untersuchungsorgane zurückgegeben. Bis zum 25. Juli 1953 waren am Bezirksgericht Leipzig 147 Verfahren mit 206 Beschuldigten anhängig, darunter 24 Jugendlichen. 148 Das Gericht „erledigte" 142 Verfahren gegen 199 Personen, davon wurden 133 verurteilt. Unter den Verurteilten waren 22 Jugendliche. 2 8 Verfahren gegen 33 Personen wurden eingestellt, gegen 33 Personen wurde nachermittelt. Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich noch fünf Verfahren gegen sieben Personen offen. Nach einer Übersicht der SED-Bezirksleitung verurteilte das Bezirksgericht Leipzig bis zum 3. August insgesamt 143 Angeklagte zu Freiheitsstrafen, stellte die Verfahren gegen 352 Beschuldigte ein und sprach lediglich vier Angeklagte „mangels Beweisen" frei. 1 4 9 121 Verurteilte (84,6 Prozent) waren Arbeiter, neun Angestellte (6,3 Prozent), acht Selbständige (5,6 Prozent), vier Studenten und ein Verurteilter war „Intelligenzler". 36 Verurteilte (25,2 Prozent) waren im Alter bis zu 18 Jahren, 47 (32,9 Prozent) bis zu 25 Jahre alt, 13 (9,1 Prozent) bis zu 30 Jahren, 20 (14,0 Prozent) bis zu 40 Jahren, 13 (9,1 Prozent) bis zu 50 Jahren und 14 (9,8 Prozent) über 50 Jahre. Damit waren 58 Prozent der Verurteilten Jugendliche bis 25 Jahre. Vier Verurteilte gehörten der SED, je zwei der CDU und LDPD an. Neun Verurteilte waren

145 Vgl. Bezirksgericht Leipzig, Berichte über die Durchführung von Verfahren anläßlich der Ereignisse am 17. Juni (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 2 5 6 , Bl. 2 - 1 8 ) . 146 Vgl. ebd., Bl. 2. 147 Vgl. ebd., Bl. 3. 148 Vgl. ebd., Bl. 18. 149 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 1 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) .

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen

Strafgerichten

517

nach dieser Übersicht ehemalige Mitglieder der NSDAP, das entsprach 6,2 Prozent aller Verurteilten. Der Direktor des Bezirksgerichtes Leipzig, J. Grass, berichtete am 7. August in der Leipziger Volkszeitung über die „gerechten Strafen für die Provokateure". 1 5 0 Unter den Verurteilten, die er vorstellte, befanden sich vor allem Personen, die unmittelbar nach dem Aufstand in der LVZ unter der Überschrift „Urteilt selbst!" als „Provokateure" präsentiert worden waren. Dazu gehörte Arthur Nässer aus Gertitz, laut Grass ein „ausgesprochener Agent und gemeingefährlicher Verbrecher", der für seine Forderungen nach Rücktritt der Regierung und nach Einstellung der Milchablieferung in seinem Heimatort eine Strafe von vier Jahren Zuchthaus erhielt, sowie Julius Masopust aus Delitzsch, der als angeblicher „Nazi im amerikanischen Sold", eine Zuchthausstrafe von neun Jahren verbüßen sollte. Letzterem wurde vorgeworfen, in Delitzsch am Sturm auf die Haftanstalt teilgenommen und auf SED-Funktionäre und auf Volkspolizisten eingeschlagen zu haben. Grass wollte auch von zwei „Prostituierten" wissen, die zu hohen Zuchthausstrafen von zehn und sechs Jahren verurteilt worden waren, weil sie an der Erstürmung der FDJ-Bezirksleitung teilgenommen und zu Gewalttätigkeiten aufgerufen hätten oder an der Spitze der Demonstranten marschiert wären. Grass behauptete, daß gemäß den Beschlüssen des ZK der SED und der Regierung niemand bestraft würde, „der am 17. Juni nicht gegen Menschen oder Sachen tätig geworden ist." „Ehrliche und vorübergehend irregeführte Arbeiter wurden und werden nicht bestraft", hieß es, ihnen werde geholfen, „auf den richtigen Weg zurückzufinden." Neben dem Bezirksgericht Leipzig sprachen auch sowjetische Militärtribunale Urteile gegen Leipziger aus. So verurteilte das SMT am 21. Juni den Schkeuditzer Kurt Naumann wegen „Teilnahme an den Provokationen des 17. Juni" zu acht Jahren Freiheitsentzug. 151 Auch eine junge Frau, die an der Erstürmung der Leipziger FDJ-Zentrale teilgenommen hatte, wurde vom SMT zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Während ihrer Haftzeit wurde sie erneut angeklagt, dieses Mal lautete die Anklage auf „Spionage", sie wurde „wegen Verbindung zur Gehlen-Organisation" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. 152 Auch im Bezirk Dresden gab es Urteile sowjetischer Militärtribunale. So verhängten Militärtribunale in Görlitz zweimal die Todesstrafe. Diese Todesurteile wurden später in langjährige Zwangsarbeit umgewandelt. Das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt verurteilte die ersten sogenannten Rädelsführer und Provokateure gleichfalls in der Woche vom 21. bis 27. Juni. Von den bis zum 25. Juni festgenommenen 34 Personen 153 waren drei Ange150 „Gerechte Strafen für die Provokateure des 17. Juni". In: LVZ vom 7.8.1953, S. 4; die folgenden Zitate ebd. 151 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht, betr.: Streik in der Nagema, o.D. (BStU, Ast. Leipzig, AP 1955/64, Bl. 67). 152 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Vorgang I. F., o.D. (BStU, Ast. Leipzig, AIM 994/63, AU 109/54, mehrere Bände). 153 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Haftmeldung vom 25. 6.1953 (BStU, Ast. Chemnitz, XX-304, Bl. 6).

518

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

klagte bereits verurteilt. Das Bezirksgericht hatte einen Angeklagten zu acht Jahren, einen zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, gegen den dritten Angeklagten stellte das Gericht das Verfahren ein. Wie in Leipzig und Dresden fanden die ersten Verhandlungen vor dem Bezirksgericht auch in Karl-Marx-Stadt mehrheitlich nicht gegen Streikleitungsmitglieder statt. Vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt standen Personen als „Provokateure", denen vorgeworfen wurde, öffentliche Hetze betrieben oder staatsfeindliche Losungen angeschrieben zu haben. So verhandelte das Gericht am 24. Juni gegen einen 37jährigen Mechaniker aus Olbernhau, Kreis Marienberg, wegen Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung. 154 Er gehörte vor 1945 der NSDAP und nach 1945 der CDU an. Er war am 18. Juni in Olbernhau von einer VP-Streife kontrolliert worden und konnte sich nicht ausweisen. 1 5 5 Die VP hatte ihn in Verdacht, „Hetzparolen" gemalt zu haben, u.a. an ein Haus: „Arbeiter, erhebt Euere Stimmen", an ein Gebäude in der Nähe der VP-Wache: „Hier arbeiten nur Verbrecher". 1 5 6 Bereits kurz nach Mitternacht ließ ihn die Kreisdienststelle der Staatssicherheit Marienberg festnehmen. Das Gericht verurteilte ihn „antragsgemäß" zu acht Jahren Zuchthaus. Laut Verhandlungsbericht der Staatsanwaltschaft war der Angeklagte „geständig". Er verbüßte bis Ende 1958 eine Zuchthausstrafe in der Strafvollzugsanstalt Cottbus. 157 Am 24. Juni verurteilte das Bezirksgericht einen Kraftfahrer aus Karl-MarxStadt, der am 17. Juni in einer Straßenbahn von SED-Genossen „gestellt" und der VP und später dem MfS übergeben worden war. 1 5 8 Wie üblich wurde er nach Artikel 6 und Kontrollratsdirektive 38 angeklagt und erhielt nach reichlich vierstündiger Verhandlungsdauer das Urteil: Fünf Jahre Zuchthaus. Er war nur teilweise geständig und wollte sich mit „Trunkenheit" herausreden. Der Staatsanwalt vermerkte in seinem Verhandlungsbericht: „E. ist im Inneren der Unternehmersohn geblieben, der, wenn er auch nach 1945 als Kraftfahrer tätig ist, mit unseren ehrlichen Arbeitern nichts gemein hat [...]. Er selbst hatte weder unter den von den Arbeitern beanstandeten administrativ festgesetzten Normen noch sonst zu leiden. Er war der typische Faschist, der glaubte, unter Ausnützung der augenblicklichen Situation in der Straßenbahn gegen die Regierung provozieren zu können, um die Menge aufzuwiegeln." Auch er gehörte vor 1945 der NSDAP an, nach 1945 war er parteilos. 1 5 9 154 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Verhandlungsbericht vom 24. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, UV 1 4 6 / 5 3 , 2 3 0 / 5 3 , Bl. 31). 155 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Festgenommene Personen durch das MfS vom 18.6. 1953 (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 4 , Bl. 53). 156 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Betr.: Tel. Durchsage Kreisdienststelle Marienberg vom 1 8 . 6 . 1 9 5 3 , 1.30 Uhr (BStU, Ast. Chemnitz, UV 1 4 6 / 5 3 , 2 3 0 / 5 3 , Bl. 24). 157 Vgl. Staatsanwalt Bezirk Karl-Marx-Stadt, Schreiben an das MfS vom 7.11.1958 (BStU, Ast. Chemnitz, UV 1 4 6 / 5 3 , 2 3 0 / 5 3 , Bl. 35). 158 Vgl. Staatsanwalt Karl-Marx-Stadt, Verhandlungsbericht vor dem 1. Strafsenat vom 24. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, UV 1 4 5 / 5 3 , 115/53, Bl. 49). 159 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Festgenommene Personen durch das MfS vom 18. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, X X - 3 0 4 , Bl. 53).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen

Strafgerichten

519

Vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt fanden auch mehrere Verhandlungen gegen Beschuldigte statt, die am 17. Juni in Gaststätten des Bezirkes als „Provokateure" aufgetreten waren. So wurde gegen einen 45jährigen Bäckermeister aus Limbach verhandelt, weil er am 17. Juni in einer Gaststätte „provokatorische Äußerungen" gemacht hatte. Er hatte u. a. die Mitglieder der SED als „rote Schweine" bezeichnet und einen Instrukteur tätlich angegriffen. 160 Er erhielt antragsgemäß sechs Jahre Zuchthaus mit Vermögenseinziehung. 161 Andere Angeklagte, die ebenfalls in Gastwirtschaften „provokatorische Äußerungen" taten, wie: „Unsere Regierung sind Lumpen und Verbrecher", verurteilte das Gericht zu wesentlich geringeren Strafen, z. B. zu acht Monaten Gefängnis. 162 Das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt verurteilte am 7. Juli einen bei der SAG Wismut als Hauer beschäftigten 25Jährigen wegen Vergehen nach Kontrollratsdirektive 38 zu sechs Monaten Gefängnis. Später wurde die Strafe mit folgender Begründung ausgesetzt: „Der Verurteilte ist ein einfacher Arbeiter und ist insbesondere vom RIAS beeinflußt worden. Sein Verhalten in der Hauptverhandlung zeigte, daß er seine Tat bereut und in Zukunft bemüht sein wird, sich nicht wieder zu vergehen." 163 Er hatte am 17. Juni in einer Gaststätte in Lauter im „Vollrausch" Funktionäre der SED beschimpft und die anwesenden Bergarbeiter zum Generalstreik aufgerufen. 164 An der Verhandlung nahm auch ein Staatsanwalt als Vertreter der Wismut-Staatsanwaltschaft teil. Wenige Tage später verhandelte das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt erstmals gegen Mitglieder von Streikleitungen. Angeklagt waren zwei Beschäftigte des Wälzlagerwerkes Fraureuth, zwei 54jährige, ein Hilfsdreher und ein Schlosser. Beide waren Teilnehmer des 1. Weltkrieges, einer war vor 1945 zunächst Mitglied der KPD, später der NSDAP gewesen. Die Anklage lautete auf „Verbrechen nach Abschnitt II Artikel III A III der Kontrollratsdirektive 38". Die Beschuldigten hätten „die Grundlagen unserer demokratischen Staatsordnung angegriffen und den Frieden des deutschen Volkes gefährdet [...] und am 18.6.1953 im VEB Wälzlagerwerk Fraureuth Hetze gegen die Regierung der DDR und Propaganda für den Faschismus getrieben." 165 Beide Angeklagte hätten „mit der Arbeiterklasse, mit den anständigen und ehrlich schaffenden Werktätigen nichts gemein". Der „Ermittlungsbericht" des MfS warf einem Angeklagten des weiteren vor, er habe 1950 die Dienststelle des RIAS in Westberlin aufgesucht. Dort habe er den Auftrag erhalten, einen 160 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Haftbeschluß vom 18. 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, U V 1 4 9 / 5 3 , 3 2 6 / 5 3 , Bl. 49). 161 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Verhandlungsbericht vom 11. 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, U V 1 4 9 / 5 3 , 3 2 6 / 5 3 , Bl. 51). 162 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Untersuchungsvorgang 171, o. D. (BStU, Ast. Chemnitz, UV 171/53, Bl. 3). 163 Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt, Beschluß vom 5 . 1 1 . 1 9 5 3 in Strafsache 4 Ks 3 1 5 / 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, 9 6 / 5 3 , Bl. 119). 164 Vgl. ebd., Bl. 3. 165 Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Anklageschrift vom 4 . 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, UV 1 6 2 / 5 3 , 174/53, Bl. 473).

520

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Volkspolizisten anzuwerben und ihn zum RIAS zu schicken. 166 Diesen Auftrag habe er jedoch nicht ausgeführt. Das Urteil lautete „antragsgemäß": Je zehn Monate Gefängnis, Aufhebung des Haftbefehls. In der Urteilsbegründung hieß es u.a.: „Die Angeklagten waren geständig und zeigten Reue. Es fehlte ihnen an Vertrauen zu den Staatsorganen und der Regierung der DDR. Alle beiden Angeklagten sind Arbeiterkinder und waren als Arbeiter tätig. Sie gehören offensichtlich zu denen, die im Bewußtsein zurückgeblieben sind." 167 Vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt standen auch zwei Mitglieder der Streikleitung der Bauunion Dresden, Baustelle Freiberg, darunter aber nicht jener, der von der Staatssicherheit zunächst als „der Rädelsführer" bezeichnet worden war. 168 Von der Baustelle waren neun Beschäftigte verhaftet worden, gegen acht erging Haftbefehl. Angeklagt war jener 23jährige Transportarbeiter, der als Sprecher des Streikkomitees aufgetreten war. Der zweite Angeklagte, 27 Jahre alt und gleichfalls als Transportarbeiter beschäftigt, hatte versucht, den Streik auf weitere Betriebe auszudehnen. Beide Angeklagte hatten in den vierziger Jahren kurzzeitig in den Westzonen gearbeitet. Sie waren angeklagt, die „demokratische Ordnung angegriffen und die Sicherheit unseres Staates sowie den Weltfrieden gefährdet zu haben." 1 6 9 Die Anklageschrift warf ihnen vor, „ständig ihr Wissen vom RIAS geschöpft und am 18.6.53 im Sinne unserer Gegner gehandelt, d. h. ehrliche Arbeiter aufgeputscht zu haben". Am 30. Juni verfügte die Staatsanwaltschaft Karl-Marx-Stadt die Aufhebung von Haftbefehlen und Haftentlassungen von mehreren Personen mit folgender Begründung: „In der Strafsache [...] führt das Ermittlungsergebnis zu keiner Veranlassung, ein Strafverfahren einzuleiten, da die Betätigung des Beschuldigten nicht als Provokation anzusehen ist, die gegen politische Einrichtungen gerichtet war. Es liegt deshalb kein Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung der DDR i.V. mit Abschn. II Art. III A III der KRDir. 38 vor." 170 Auf Beschluß der Staatsanwaltschaft wurden u. a. Beschäftigte des VEB Wälzlagerwerkes Fraureuth und der Bauunion Dresden, Baustelle Freiberg, entlassen, gegen die die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am 19. Juni Untersuchungsverfahren eingeleitet hatte, weil sie in ihren Betrieben maßgebend am Streik beteiligt waren. 171 Die Bezirksverwaltung entließ daraufhin am 1. Juli mehrere Inhaftierte. Im Entlassungsbeschluß war als Grund für die Haftentlassung ange-

166 Vgl. ebd., Bl. 475. 167 Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Verhandlungsbericht vom 10.7.1953 (BStU, Ast. Chemnitz,UV 1 6 2 / 5 3 , 174/53, Bl. 472). 168 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Analyse über die Entwicklung und Auswirkungen der faschistischen Provokationen vom 1 6 . - 2 4 . 6 . 1 9 5 3 im Bezirk KarlMarx-Stadt, vom 2 4 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. X X - 3 0 1 , Bl. 73). 169 Staatsanwalt des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Anklageschrift vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 1 9 4 / 5 3 , Bd. I, Bl. 283ff.). 170 Staatsanwaltschaft des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, Verfügung vom 3 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53, Bd. I, Bl. 9). 171 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Verfügung über die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 174/53, Bd. I, Bl. 7).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

521

geben: „Lt. Richtlinien des MfS Berlin." 172 Vor der Entlassung hatte das MfS einige Untersuchungshäftlinge zur inoffiziellen Mitarbeit gewonnen. U. a. verpflichtete sich im August ein parteiloser 24jähriger Schmied aus dem Wälzlagerwerk als „Gl Willibald" 173 , ein 25jähriger parteiloser Zimmermann der Bauunion Dresden, Baustelle Freiberg, als „Gl Siegfried". 174 Letzterer war als löjähriger zur Wehrmacht eingezogen worden und im Mai 1945 in sowjetische Gefangenschaft gekommen. Nach fünf Jahren Gefangenschaft in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern war er 1950 krank nach Hause zurückgekehrt. Bereits im Oktober 1953 verließ er die DDR in Richtung Westdeutschland, offenbar um sich seiner Verpflichtung gegenüber der Staatssicherheit zu entziehen. 175 Im Vergleich zu Urteilen, die an den Bezirksgerichten Dresden, Karl-MarxStadt und Leipzig gegen Juni-Aufständische gefällt wurden, war die Strafverfolgung von sogenannten Provokateuren und Rädelsführern in der SAG Wismut auffällig mild, wobei es innerhalb der Wismut-Justiz deutliche Unterschiede gab. Die SAG Wismut verfügte über eine eigene Gerichtsbarkeit, das Bergbaugericht Wismut, das in zwei relativ selbständige Dienststellen in Karl-MarxStadt und in Gera aufgegliedert war. Die Dienststelle in Gera war erst im August 1952 im Zusammenhang mit der Ausdehnung der Wismut in die Thüringer Region gebildet worden, bereits im Oktober 1953 wurde sie - im Zusammenhang mit „Vorkommnissen" bei der Strafverfolgung von JuniAufständischen - wieder aufgelöst. 176 Die meisten festgenommenen Wismut-Arbeiter unterstanden dem Bergbaugericht Gera. Von 51 bis Ende Juni Verhafteten kamen 38 aus dem Bezirk Gera. 177 Bis zum 2. Juli verhandelte dieses Gericht zehn Strafsachen gegen sogenannte Provokateure. 178 Das Gericht verfügte die Einstellung von fünf Verfahren. Dort, wo das Gericht Urteile mit Freiheitsstrafen aussprach, war die Höchststrafe sechs Monate Gefängnis. Die Parteikontrollkommission Wismut warf dem Gericht unmittelbar danach „schwere versöhnlerische Tendenzen gegenüber den Provokateuren und Rädelsführern" vor und nannte diese Stra-

172 BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Entlassungsbeschluß, o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, AUV 7 4 / 5 3 , Bd.I, Bl. 26). 173 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Personalakte Gl „Willibald" (BStU, Ast. Chemnitz, 2 7 2 / 2 5 4 ) . 174 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Personalakte Gl „Siegfried" (BStU, Ast. Chemnitz, 7 7 4 / 5 3 b ) . 175 Vgl. BV für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten V., o . D . (BStU, Ast. Chemnitz, Ermittlungsverfahren 1 5 3 / 5 3 , 1 9 4 / 5 3 , Bl. 2 3 8 ) . 176 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über die Überprüfung der Arbeit der verantwortlichen Genossen Staatsanwälte und Richter am Bergbaugericht Wismut Gera vom 30. 9 . 1 9 5 3 (SächStAC, W - I V / 2 / 4 / 2 , Bl. 183). 177 Vgl. SED-GPL Wismut, Monatsbericht Juni 1953, o . D . (SAPMO-BArch, DY 3 0 / 1 V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 587). 178 Vgl. SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 2. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 9 , Bl. 1).

522

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

fen „provozierend gering". 179 So verurteilten die Geraer Richter einen 32jährigen Kraftfahrer „wegen Aufruhr und Landfriedensbruch" zu sechs Monaten Gefängnis. Er stand vor Gericht, weil er in Gera mit einem schweren WismutFahrzeug das Tor der Haftanstalt durchbrochen hatte. Ein 23jähriger KipperFahrer, der Mitglied der SED war und zwei Parteischulen besucht hatte, war angeklagt, weil er mit seinem Kipper an der Absperrung vor der Haftanstalt in Gera teilgenommen hatte. Ihm wurde auch vorgeworfen, dabei gewesen zu sein, als Transparente und Plakate abgerissen und SED-Mitglieder beschimpft und tätlich angegriffen, ihre Parteidokumente zerfetzt und Parteiabzeichen abgerissen wurden. Das Bergbaugericht Gera verurteilte ihn „wegen Landfriedensbruch" zu einem Jahr Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Ein Bohrer aus der Wismut wurde vom gleichen Gericht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil er fünf bis sechs Transparente und ein Karl-Marx-Bild „auf Aufforderung seiner Kumpel" zerstört hatte. Ein ^jähriger Wismut-Arbeiter, der in Ronneburg die Menschen „aufgehetzt", die Regierung als „SED-Lumpen" bezeichnet und auf einem Schacht Widerstand gegenüber einem sowjetischen Soldaten geleistet haben soll, erhielt eine Strafe von einem Jahr und sechs Monaten. Bereits im Februar 1952 sei er „nach dem Besuch eines berüchtigten Lokals wegen Absingen faschistischer Lieder aufgegriffen" worden. 1 8 0 Die niedrigste Strafe, drei Monate Gefängnis, sprach das Gericht in Gera gegen einen 20jährigen Haldenarbeiter aus. Er war angeklagt, weil er am 17. Juni Arbeiter aus volkseigenen Betrieben des Bezirkes Gera „zwingen" wollte, die Arbeit niederzulegen. Dabei soll er in einem Falle den Betriebsschutz angegriffen haben. Die Geraer Richter fällten in einigen Fällen ihre Urteile entgegen Anträgen des Staatsanwaltes. 181 So hatte der Staatsanwalt für einen Angeklagten eine Zuchthausstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten beantragt, doch das Gericht kam zu einem Urteil von sechs Monaten Gefängnis. Freigesprochen wurden Wismut-Arbeiter, die zum Streik aufgefordert hatten. Unter den Freigesprochenen befand sich der BGL-Vorsitzende und sein Stellvertreter in der Garage in Katzendorf, obwohl z. B. der BGL-Vorsitzende alle anderen zum Streik aufgerufen haben soll. Bis Ende September verhängte das Bergbaugericht Gera in 24 Verfahren zehn Freiheitsstrafen, die Höchststrafe belief sich auf sechs Monate Gefängnis. Acht Angeklagte wurden freigesprochen und sechs Verfahren eingestellt. Die Geraer Wismut-Richter begründeten ihre Freisprüche damit, daß „die tatsächlichen Mängel in der Arbeitsorganisation und in der Sicherheit" zum Streik geführt hätten und keine Forderungen nach Sturz der Regierung erhoben worden seien. 179 SED-GPL Wismut, Monatsbericht Juni 1953, o . D . (SAPMO-BArch, DY 3 0 / I V / 2 / 4 / 4 2 0 , Bl. 587); die folgenden Zitate ebd. 180 Vgl. ebd., Bl. 589. 181 Vgl. SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 9 , Bl. 1).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

523

Am 2. Juli beschäftigte sich die SED-GPL in ihrer Sekretariatssitzung mit der Strafverfolgung von sogenannten Provokateuren innerhalb der SAG Wismut. Zugrunde lag ein „Bericht über die im Wismut-Gebiet festgestellten Provokateure". 182 Der 1. Sekretär der SED-GPL begründete in dieser Diskussion auch, weshalb die Gerichte unter Zeitdruck gesetzt werden müßten: „Die Anweisung, innerhalb von 24 Stunden zu verhandeln, sei deshalb gekommen, um schnell einige Rädelsführer zu finden, um zu beweisen, daß es sich um faschistische Provokateure gehandelt hat." 1 8 3 Von einem anwesenden Staatsanwalt wurde darauf verwiesen, daß innerhalb so kurzer Fristen keine Möglichkeit bestanden habe, „die Verbindung zwischen den einzelnen Fällen untereinander zu erkennen". Die SED-Funktionäre rügten die „große Zahl von Freisprüchen" und die niedrigen Freiheitsstrafen durch das Bergbaugericht Gera. Im Gegensatz dazu fielen die Urteile am Bergbaugericht Karl-Marx-Stadt weitaus höher aus. Dort wurden zwei „Provokateure" zu je fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Gerügt wurde deshalb die Arbeit des Bergbaugerichts Gera. Als Ursachen für das Verhalten der Richter betrachteten die Sekretariatsmitglieder, daß jene sich vom Interview Fechners hatten beeinflussen lassen und nicht über „die politische Reife [...] wie in Karl-Marx-Stadt" verfügten. Die Richter hätten demzufolge nicht die „politischen Gesichtspunkte in den Mittelpunkt" gestellt, ihre Urteile seien „ziemlich unpolitisch gehalten". So hätten sie „Berichte von SEDFunktionären" in den Verhandlungen nicht verwendet, obwohl bei der Festlegung der Urteile ein Mitglied der SED-Kreisleitung zugegen gewesen sei. 184 Der 1. Sekretär der SED-GPL regte an, „einige Verfahren [...] gründlich zu überprüfen [...]. Es habe keinen Zweck, die freizulassen, die in kurzer Zeit versuchen würden, neue Unruhen zu stiften [...]. Man müsse die wegnehmen, die bei einer nächsten Provokation wieder vornedran sind [...]. Man solle auch erwägen, ob man Verfahren von Freigelassenen wieder aufnehmen müsse." 185 Schließlich wurde festgelegt, die Parteiorganisation des Bergbaugerichts Wismut in Gera zu überprüfen. Am 30. September legte die SED-GPL einen „Bericht über die Überprüfung der Arbeit der verantwortlichen Genossen Staatsanwälte und Richter am Bergbaugericht Wismut Gera" vor. 186 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte dieses Gericht 24 Verfahren verhandelt, davon zehn mit einer Verurteilung und acht mit Freispruch abgeschlossen, sechs Verfahren waren eingestellt worden. 187 Der Bericht bezeichnete als „Hauptursache für das versöhnlerische Verhalten" der 182 Der Bericht ist nicht überliefert, lediglich die Diskussion und die Schlußfolgerungen. 183 SED-GPL Wismut, Sekretariatssitzung vom 2 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAC, W - I V / 2 / 3 / 9 , Bl. 2); die folgenden Zitate ebd. 184 Vgl. ebd., Bl. 1. 185 Ebd. 186 Vgl. SED-GPL Wismut, Bericht über die Überprüfung der Arbeit der verantwortlichen Genossen Staatsanwälte und Richter am Bergbaugericht Wismut Gera vom 30. 9 . 1 9 5 3 (SächStAC, W - I V / 2 / 4 / 2 , Bl. 182ff.). 187 Vgl. ebd., Bl. 182; die folgenden Zitate ebd.

524

Die Verfolgung von „Provokateuren " und „Rädelsführern "

Genossen das „mangelhaft entwickelte Klassenbewußtsein". Besonders einer „Genossin Richterin" und einem „Genossen Richter", beide waren vor 1945 in der SPD, warf die SED-GPL „besonders stark versöhnlerisches Verhalten" vor. Sie hätten „einige falsche Auffassungen über die Rolle des Klassenkampfes noch nicht überwunden" und „nicht begriffen, daß mit dem Zunehmen der Arbeitermacht in einem Lande der Klassenkampf sich laufend verschärft". Aus diesem Grunde hätten sie auch die „feindliche Haltung Fechners nicht erkannt". Die Richterin war zugleich Parteisekretärin der SED-Grundorganisation Justiz in Gera. Bei der Auswahl der Schöffen habe „die Partei" nicht die „nötige Sorgfalt" angewandt. So wurde ein Genosse als Schöffe in Verfahren gegen Juni-Aufständische eingesetzt, der wegen fahrlässiger Tötung vorbestraft war, bei den Fallschirmtruppen der „faschistischen Wehrmacht" gedient hatte und vom Oberjäger zum Oberfeldwebel befördert worden war. Dieser Schöffe habe das Gericht „besonders beeinflußt in der Durchführung der Fechnerschen Linie". Im Ergebnis dieser Überprüfung schlug die GPKK dem Sekretariat der SED-GPL Wismut die Zusammenlegung beider Bergbaugerichte vor, um „eine bessere Kontrolle und Anleitung" zu haben. Auch „kaderpolitische Veränderungen" und parteierzieherische Maßnahmen gegen „verantwortliche Genossen" im Bergbaugericht Gera wurden angekündigt. 188 Am Bezirksgericht Dresden sprachen insgesamt zehn Richterinnen und Richter Urteile gegen Juni-Aufständische „im Namen des Volkes". Den Vorsitz des Strafsenats hatten „bewährte Richter(innen)" übertragen bekommen. 189 Über die Erfüllung des Parteiauftrages wurden spezielle Beurteilungen angefertigt. So brachte der Direktor des Bezirksgerichts Dresden am 9. September 1953 über eine Oberrichterin, die in zahlreichen Prozessen gegen Juni-

188 Vgl. ebd., Bl. 184. 189 Zu ihnen gehörte auch Ursula Stefan. Sie wurde 1915 geboren, erlernte nach dem Abschluß der Höheren Mädchenschule einen kaufmännischen Beruf. In der NS-Zeit wurde sie wegen der Beteiligung an der Verbreitung von Eugblättern gegen den Nationalsozialismus in Schutzhaft genommen und später vor dem Reichsgericht in Leipzig wegen Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt, wegen Mangel an Beweisen wurde das Verfahren gegen sie eingestellt. Nach Kriegsende arbeitete sie als Sekretärin in der KPD-BL Vorpommern. Zuvor war sie in die KPD eingetreten. 1946/47 besuchte sie einen Volksrichterlehrgang in Schwerin. Danach war sie Strafrichterin beim dortigen Amtsgericht. Im Februar 1951 wurde sie zur Oberrichterin ernannt. Seit Mai 1953 war Frau Stefan am Bezirksgericht Dresden tätig. Hier führte sie den Vorsitz eines 1. Strafsenats. 1955 wurde sie stellvertretende Direktorin des Bezirksgerichts. Von 1954 bis 1958 absolvierte sie ein Fernstudium an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft. Von 1963 bis 1965 leitete Frau Stefan als Direktorin das Bezirksgericht Gera. Danach arbeitete sie zeitweise als Oberrichterin und Vorsitzende des lbStrafsenats beim Obersten Gericht. Von 1967 bis 1975 war sie wiederum Oberrichterin in einem Strafsenat am Bezirksgericht Dresden. 1975 ging sie in den Ruhestand. 1960 erhielt sie die Medaille für „Ausgezeichnete Arbeit in der Justiz", 1964 die „Verdienstmedaille der DDR", 1965 die „Medaille für verdienstvolle Tätigkeit der Rechtspflege" in Silber. (Alle Angaben stammen aus der Anklageschrift im Verfahren wegen Rechtsbeugung vor der Staatsanwaltschaft Dresden, 1996.)

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

525

Angeklagte eingesetzt war, folgendes Lob zu Papier: „In Ihren Entscheidungen findet eine klare Parteilichkeit überzeugenden Ausdruck." 1 9 0 Wer sich in diesen Prozessen „bewährte", hatte später gute Aufstiegschancen in der Justiz der DDR. 1 9 1 Auch beim Bezirksgericht Dresden fanden die ersten Prozesse gegen JuniAufständische weisungsgemäß in der Woche vom 21. zum 27. Juni statt. Hier waren bereits am ersten Tag neun Anklagen gegen 14 Personen eingegangen. Die meisten Anklageschriften gingen am 23. Juni ein, an diesem Tage registrierte das Gericht einen „Zugang" von elf Verfahren gegen elf Personen. Bis zum 30. Juni waren bei dem Bezirksgericht 38 Strafverfahren gegen 62 Personen anhängig. 1 9 2 In der ersten Woche fanden am Bezirksgericht Dresden 29 Verhandlungen gegen 41 Personen statt. Allein am 27. Juni, einem Sonnabend, verhandelte das Gericht gegen zwölf Angeklagte. 193 Die Angeklagten waren mehrheitlich Männer und Frauen zwischen 17 und 25 Jahren aus Dresden und Umgebung, gegen die wegen „Zusammenrottung", „Auflauf, „Widerstand gegen die Staatsgewalt" ermittelt worden war. Nur ein Angeklagter mußte sich in dieser Woche wegen seiner Aufforderung zum Streik verantworten. 1 9 4 Der jüngste Angeklagte, Peter Aue, war 17 Jahre alt. Das Bezirksgericht Dresden verurteilte ihn am 23. Juni zu vier Jahren Zuchthaus, weil er daran beteiligt gewesen sein sollte, als am Fucikplatz ein parkender Polizei-PKW umgeworfen und die Türscheibe zertrümmert wurde. Das Oberste Gericht der DDR hob dieses Urteil später auf und ordnete nochmalige Verhandlung an. In der zweiten Verhandlung am 30. Juli wurde das Jugendstrafgesetz angewandt. Aue erhielt neun Monate Freiheitsentzug mit Erziehungsmaßnahmen. 1 9 5 Das Gericht verurteilte ferner den 18jährigen Arbeiter Manfred Müller aus Dresden „wegen Aufruhr" zu acht Monaten Gefängnis, weil er sich am 17. Juni, als die KVP den Postplatz räumte, „widerspenstig" verhalten habe. 1 9 6 Der 19jährige technische Zeichner Siegfried Schleinitz, beschäftigt im Zentralen Projektierungsbüro für die Zellstoff- und Papierindustrie Heidenau, wurde gemeinsam mit fünf weiteren Jugendlichen aus Heidenau wegen Landfriedensbruchs angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und 190 Auszug aus der Kaderakte einer Richterin, zitiert in der Anklageschrift im Verfahren gegen Rechtsbeugung vor der Staatsanwaltschaft Dresden vom Frühjahr 1996. 191 Vgl. z. B. den beruflichen Werdegang der Oberrichterin Stefan, Fußnote 189. 192 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Aufstellung, Betr.: Prozesse beim Bezirksgericht, die auf Grund der Unruhen am 17.6.1953 im Bezirksgericht Dresden durchgeführt wurden (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 193 Vgl. ebd. 194 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Mitteilungen an die SED-BL vom 25. 6 . 1 9 5 3 (SächHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 195 Vgl. Bericht der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden über die Bearbeitung der Strafsachen gegen Provokateure, Agenten und Rädelsführer in Verbindung mit dem 17. Juni 1953, o.D., S. 3 (SächHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 196 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Mitteilungen an die SED-BL vom 25. 6 . 1 9 5 3 (SächHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) .

526

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

sechs Monaten verurteilt, weil er sich am Abend des 17. Juni in einer Gruppe von Jugendlichen „zusammenrottete". Die Jugendlichen seien „johlend und pfeifend" durch die Straßen von Heidenau gezogen. Schleinitz sollte u. a. zwei Anschlagtafeln der Nationalen Front und eine Sichtwerbung für die Volkspolizei zerstört haben. 197 Gegen einen 21jährigen Schrottarbeiter aus Dresden wurde am 25. Juni verhandelt. Er war am 17. Juni nach 20 Uhr auf der Dimitroff-Brücke in Dresden der Aufforderung, auseinanderzugehen, nicht nachgekommen. Das Urteil des Bezirksgerichts: drei Monate Gefängnis. Am Tag seiner Verhandlung war gerade aus Ostberlin die „Empfehlung" eingetroffen, Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten nicht zu vollstrecken. Ihm wurde Strafaussetzung mit einer Bewährungszeit von drei Jahren zugebilligt. Zwei junge Frauen im Alter von 19 und 22 Jahren, die in einem Heim für soziale Betreuung in Dresden-Leuben untergebracht und als Arbeiterinnen im VEB Sachsenwerk Niedersedlitz beschäftigt waren, wurden zu Gefängnisstrafen von sechs Monaten bzw. zwei Jahren verurteilt. 198 Beide hatten am 17. Juni Spätschicht im Sachsenwerk gehabt, und auf Grund der Ereignisse waren sie bis in die Abendstunden in der Stadt unterwegs. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, sich mehrfach an Demonstrationen und „provokatorischen Forderungen" beteiligt zu haben. Vorgehalten wurde ihnen außerdem, daß sie Volkspolizisten angespuckt und beschimpft hätten. Kurz vor Mitternacht waren sie an der „Brücke der Einheit" festgenommen worden. In dieser ersten Woche verurteilte das Bezirksgericht Dresden auch einen 18jährigen Dresdner, der als Tischler in der SAG Wismut, Objekt Dresden-Gittersee, beschäftigt war. 199 Er erhielt eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis, weil er u. a. an „Zusammenrottungen" auf dem Postplatz beteiligt und auch nach 20.30 Uhr der Aufforderung, den Platz zu räumen, nicht nachgekommen war. Der SED-GPL Wismut wurde mitgeteilt, er habe bestraft werden müssen, weil er sich „besonders hartnäckig den Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der unter seiner aktiven Mitwirkung gefährdeten Ordnung erforderlich waren, widersetzte". 200 Die höchste Freiheitsstrafe, die Dresdner Richter in der ersten Woche nach dem 17. Juni verhängten, erhielt ein Beschäftigter aus dem VEB Schleifmaschinenwerk Dresden. Das Gericht verurteilte den Betriebsabrechner Gerhard Riese wegen „Verbrechen nach Art. 6, in Verbindung mit der KRDir. 38" zu fünf Jahren Zuchthaus, weil er am 17. Juni in seinem Betrieb zur Demon-

197 Vgl. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der BPO der SED im Zentralen Projektierungsbüro für die Zellstoff- und Papierindustrie, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) ; vgl. hier auch den folgenden Fall. 198 Vgl. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der BPO der SED des Sachsenwerkes Niedersedlitz, o . D . , S. lf. (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 199 Vgl. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der BPO der SED der Wismut AG, Objekt Dresden-Gittersee, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 2 0 0 Ebd.

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

527

stration aufgerufen hatte. 201 Ihm war damals ein Fünftel der Belegschaft gefolgt. Diese harte Bestrafung stand im Widerspruch zu jener „Orientierung", die am 23. Juni Instrukteure aus Ostberlin überbrachten, wonach der Artikel 6 „nur für die schwersten Verbrechen heranzuziehen" sei. 202 Das Bezirksgericht Dresden stellte in der ersten Woche vier Verfahren wegen „Geringfügigkeit" oder „mangels Beweisen" ein. 2 0 3 So wurde das Verfahren gegen einen 20jährigen Dresdner eingestellt, der wegen Verbrechen nach Art. 6 angeklagt war, weil er sich am „Platz der Einheit" aufgehalten hatte, als „faschistische Elemente auf das Übelste gegen unsere Regierung randalierten". Einen 20jährigen Gerüstbauer, der an diesem 17. Juni bis 19.30 Uhr am Taschenberg-Palais gearbeitet hatte und danach von sowjetischen Soldaten festgenommen worden war, weil er ohne Personaldokumente unterwegs war und die Sowjets ausgepfiffen haben soll, sprach das Bezirksgericht „mangels Beweisen" frei. 2 0 4 Vom 9. Juli bis zum 23. Juli fanden die wichtigsten Prozesse statt. Sie richteten sich gegen Angeklagte aus Görlitz, Niesky und Dresden. An manchen Tagen gingen bis zu fünf Verhandlungen über die Bühne. Einige Richterinnen und Richter führten an einem Tag in zwei Verhandlungen den Vorsitz, wie beispielsweise die Oberrichterin Stefan, die am 17. Juli, 8.15 Uhr, drei Ludwigsdorfer, die Landwirte Gerhard Mühle, Erwin Neu und den Heizer Karl Erdmann, nach Artikel 6 aburteilte. Bereits um 14 Uhr begann unter ihrem Vorsitz der nächste Prozeß. 2 0 5 Die Verhandlungen gegen „Rädelsführer" wurden zur „Chefsache" gemacht: Der 1. SED-Bezirkssekretär Riesner erhielt laufend „Aufstellungen" über die Termine, die personelle Zusammensetzung der Strafsenate und die Urteilsvorschläge. 206 Der erste sogenannte Görlitzer Prozeß endete am 9. Juli mit den Urteilsverkündungen gegen fünf Betroffene, die eines „Verbrechens" nach Art. 6 der Verfassung der DDR und der KRDir. 38 bzw. wegen Körperverletzung und Landfriedensbruch schuldig gesprochen wurden. 2 0 7 Die Strafe b e t r u g für Hermann Gierich 15 Jahre Zuchthaus, Siegfried Richter erhielt acht Jahre, Werner Herbig fünf Jahre, Egon Gericke ein Jahr und neun Monate, Bruno Neumann ein Jahr Gefängnis. Das Bezirksgericht stellte in seiner Urteilsbegründung fest: „Diese Ausschreitungen hatten ein unvorstellbares Ausmaß 201 Vgl. SED-BPO des VEB Schleifmaschinenwerk Dresden, An den Direktor des Bezirksgerichts Dresden, Betr.: Kollg. Gerhard Riese, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 2 0 2 Operativstab, gez. Benjamin, Bericht über die Durchführung der Strafverfahren gegen die Provokateure des 16. 6 . 1 9 5 3 vom 1. 7.1953; zitiert in Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 125. 2 0 3 Bezirksgericht Dresden, Mitteilungen an die SED-BL vom 2 5 . 6 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 2 0 4 Vgl. ebd. 2 0 5 Vgl. Aufstellung über die bis jetzt angesetzten Termine, o . D . (SächsHStA, SED IV/2/13/017). 2 0 6 Vgl. ebd. 2 0 7 Vgl. dazu Kap. VII, S 547.

528

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

angenommen, wobei sämtliche Verwaltungen zerstört und demoliert wurden und die Angestellten dieser Verwaltungen von der brutalen Menge ziemlich mißhandelt wurden." 2 0 8 In diesem Prozeß sprachen die Richter höhere Freiheitsstrafen aus, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Der Staatsanwalt hatte für Gierich „lediglich" eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und für Herbig von drei Jahre und sechs Monaten beantragt. Am folgenden Tag fanden insgesamt vier Prozesse gegen weitere sieben Görlitzer Bürger statt. „Im Namen des Volkes" verurteilte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts die Angeklagten zu Freiheitsstrafen von anderthalb bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Unter ihnen war auch der Sportlehrer Günter Aßmann, der zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, weil er an der Erstürmung des Görlitzer Gefängnisses und der Freilassung der Häftlinge beteiligt war. Die Strafen an diesem Tage fielen deutlich niedriger aus, als die Staatsanwaltschaft, in Absprache mit der SED-Bezirksleitung, beantragt hatte. So war für Günter Aßmann ursprünglich eine Zuchthausstrafe von zwölf bis 15 Jahren vorgesehen. 209 Für diesen 10. Juli war auch die Urteilsverkündung im Prozeß gegen den 1. Vorsitzenden der CDU-Ortsgruppe in Kollm, Gottfried Diener, geplant. Doch die Verhandlung wurde nach Verlesen der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses und nach den Ausführungen des Angeklagten mit „Gerichtsbeschluß" unterbrochen und auf den 20. Juli vertagt, da der Hauptbelastungszeuge, der Bürgermeister Erich Barth aus Kollm, nicht geladen war, wohingegen zwei Entlastungszeugen - u.a. der Pfarrer Lucka - erschienen 210

waren. Besondere Bedeutung erlangten drei weitere Prozesse am Bezirksgericht Dresden, die nach der Ablösung und Inhaftierung von Justizminister Max Fechner 211 stattfanden: Der Prozeß gegen sechs Angeklagte aus Zodel am 14./15. Juli, gegen 16 Angeklagte aus Niesky vom 13. bis 18. Juli und gegen sechs Angeklagte aus dem VEB ABUS Dresden-Niedersedlitz am 22./23. Juli. Allein in diesen Prozessen wurden 24 Freiheitsstrafen von insgesamt 176 Jahren und einmal „lebenslänglich" verhängt. Im „Prozeß gegen Verbrecher von Zodel", so die Bezeichnung in einer Aktennotiz der SED-Bezirksleitung vier Tage vor Verhandlungsbeginn, 212 beliefen sich die Strafen für sechs Männer aus Zodel im Alter von 21 bis 47

2 0 8 Bezirksgericht Dresden, 1. Senat für Rehabilitierung, Beschluß vom 6 . 5 . 1 9 92. (Dieser Beschluß wurde der Autorin freundlicherweise von W. Herbig zur Verfügung gestellt.) 2 0 9 Vgl. SED-BL Dresden, Abt. Staatl. Organe, Aktennotiz vom 10. 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 210 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Mitteilung an das Bezirksgericht vom 13. 7 . 1 9 5 3 (Privatarchiv Roth, von G. Diener zur Verfügung gestellt.) 211 Vgl. Fricke, Zur Politischen Strafjustiz der Ära Ulbricht - Max Fechner. In: Dokumentation der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Bautzen Forum Nr. 6, S. 43ff. 212 SED-BL Dresden, Abt. Staatl. Organe, Aktennotiz vom 10. 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED IV/2/13/017).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

529

Jahren auf sechs bis 15 Jahre. 213 Auf der Grundlage des „Schlußberichtes" der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden vom 30. Juni, unterzeichnet von Oberleutnant Israel, der die Angeklagten als „Handlanger der imperialistischen Kriegstreiber und Feinde des friedliebenden deutschen Volkes", als „alte Faschisten und erklärte Feinde unserer DDR" bezeichnete 214 , verkündete die Oberrichterin am 15. Juli die Urteile: Willi Michel und Kurt Jäger je fünfzehn Jahre, Gustav Rönsch zwölf Jahre, Erich Altmann zehn Jahre, Hermann Wübbe acht Jahre und Karl-Heinz Höer sechs Jahre Zuchthaus. 2 1 5 Auszug aus der Urteilsbegründung: „Sie haben Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen sowie faschistische Propaganda und Kriegshetze betrieben und dadurch den Frieden des deutschen Volkes und den der Welt gefährdet. Das von ihnen begangene Verbrechen erfordert eine harte Bestrafung. Bei den Angeklagten handelt es sich nicht um Irregeleitete, sondern um Provokateure, die durch ihre Handlungen mithelfen wollten, die faschistische Gewaltherrschaft in der DDR aufzurichten. Die Angeklagten haben den Staat und die Gesellschaft in hohem Maße gefährdet. Aus diesem Grunde hielt der Strafsenat die von dem Staatsanwalt des Bezirkes gegen die Angeklagten beantragten Freiheitsstrafen für erforderlich, die nach Überzeugung des Senats dem Grade der Verantwortlichkeit und der Bestätigung der einzelnen Angeklagten entsprechen." Das Urteil trägt neben der Unterschrift der Oberrichterin Stefan die zweier Schöffen, eines Elektromeisters und eines Tischlers aus Dresden. Der Staatsanwalt hielt im „Sitzungsbericht" fest: „Der Vertreter der Staatsanwaltschaft betrachtet die ganze Provokation als einen geschlossenen Komplex und hielt Art. 6 der Verfassung aufrecht [...] Urteil antragsgemäß". 2 1 6 Die Hauptverhandlung gegen die Männer aus Zodel hatte mit „einem Zusammenstoß zwischen dem Staatsanwalt und den Verteidigern" begonnen. Zwei Verteidiger hatten sich ihre Mandanten direkt an ihren Tisch setzen lassen, um ihnen, wie der Staatsanwalt vermutete, „Aussagen zuzuflüstern". Bezirksstaatsanwalt Richard Krügelstein erhob daraufhin sofort Einspruch und verlangte eine andere Sitzordnung. Rechtsanwalt Dr. Herbert Giese, der KarlHeinz Höer verteidigte, erhob gegen diese Anordnung „heftigen Einspruch, dem sich sämtliche Verteidiger solidarisch anschlössen". Der Einspruch nützte nichts, das Gericht trennte Verteidiger und Angeklagte, um eine „solche unmittelbare Beeinflussung während der Verhandlung weitgehend auszuschalten", wie Krügelstein im Sitzungsbericht feststellte. Des weiteren vermerkte er, daß 213 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Urteil in der Strafsache l a Ks 3 2 5 / 5 3 vom 15. 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 ) . 214 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Schlußbericht vom 30. 6 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 , Bl. 1). 215 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Urteil in der Strafsache l a Ks 3 4 1 / 5 3 , o. D. (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 ) . 216 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Sitzungsbericht über die Verhandlung des laStrafsenats des Bezirksgerichts Dresden in der Strafsache gegen Willy [richtig: Willi, H.R.] Michel und fünf andere, o . D . (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 53, Bl. 17); die folgenden Zitate ebd.

530

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

die vier Pflichtverteidiger „kein Verständnis für das hohe Strafmaß" gehabt hätten. Sie legten im Auftrag ihrer Mandanten Berufung gegen die Urteile ein. Bemerkenswert sind die Begründungen für die Aufhebung der Urteile. So schrieb Rechtsanwalt Otto Jahrreiss aus Dresden, der zwei Angeklagte, darunter auch einen der sogenannten Haupträdelsführer namens Michel vertrat, in seinem Berufungsantrag vom 22. Juli u. a.: „Mit der Berufung wird gerügt: ungenügende Aufklärung, unrichtige Feststellung des Sachverhalts, unrichtige Anwendung von Strafgesetzen und fehlerhafte Strafzumessung." 217 Vor allem kritisierte Jahrreiss, daß die „Beweisanregungen der Verteidigung", die Persönlichkeit der Angeklagten und die besonderen Verhältnisse in Zodel zu prüfen, nicht berücksichtigt worden seien. Tatsächlich fand im Prozeß die Tatsache keine Berücksichtigung, daß die Angeklagten angesehene Bürger waren, die sich bis dahin für die Belange des Ortes und seiner Bewohner eingesetzt hatten, u. a. im Gemeinderat, in der Kulturgruppe der LPG und in der DBD-Ortsgruppe. Die Verurteilten hatten bereits als Jugendliche bzw. als junge Männer im und nach dem Krieg schwere Schicksalsschläge erleiden müssen; drei von ihnen waren mehrere Jahre in Kriegsgefangenschaft, darunter Kurt Jäger bis 1950, drei waren schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt. Von den sechs Angeklagten, die vom MfS als „alte Faschisten" diffamiert wurden, war lediglich der Landwirt Willi Michel in der NSDAP gewesen. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er Mitglied der DBD und saß für diese Partei in der Gemeindevertretung. Außerdem beteiligte er sich aktiv in der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Die Ortsgruppe der DBD in Zodel hatte Michel ein hervorragendes Zeugnis über seine Aktivitäten ausgestellt und zugleich Anschuldigungen der SEDOrtsparteigruppe widerlegt. Michel hatte sich einige Jahre zuvor beim Vorsitzenden der SED in Zodel, Schwonneck, unbeliebt gemacht, als er die Zusammenarbeit mit ihm ablehnte, weil dieser seine frühere Zugehörigkeit zur SS verschwiegen hatte. Der SED-Bürgermeister Schneider, der als Zeuge im Prozeß gehört wurde, belastete die Angeklagten besonders schwer, offenbar auch deshalb, weil sie bei der Einwohnerschaft von Zodel beliebter waren als er und andere SED-Funktionäre. Das geht aus mehreren Schreiben und Stellungnahmen aus Zodel hervor, die die Freilassung bzw. Aufhebung der Urteile forderten. 218 Die Mehrzahl der Einwohner hatte am 17. Juni den Versuch, den Bürgermeister abzusetzen, unterstützt. Bewohner des Ortes schrieben am 11. Juli an den damals noch amtierenden Justizminister Fechner. Sie gaben ihrer Enttäuschung Ausdruck, daß die Männer aus Zodel nicht freigelassen wurden, wie sie nach seinem Interview gehofft hatten. Sie widerlegten zugleich die Anschuldigen, daß die Angeklagten „Mord- und Brandbuben" gewesen seien, die Funktionäre des Dorfes mißhandelt hätten. Doch alle guten Zeug217 Otto Jahrreiss, An das Bezirksgericht Dresden, In der Strafsache gegen Michel und 5 andere (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 , Bl. 17). 218 DBD-Ortsgruppe Zodel, An den Kreisvorstand der D B D Niesky, vom 23. 6 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 , B. 47ff.).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

531

nisse und Einsprüche nützten nichts: Am 28. Juli beschloß das Oberste Gericht der DDR, daß die Berufungen „als offensichtlich unbegründet verworfen" werden. 2 1 9 Die Verurteilten mußten für mehrere Jahre ins Zuchthaus. 2 2 0 Bis Mitte Juli wurden insgesamt 2 8 Einwohner aus Zodel verhaftet, zehn davon kamen bereits nach kurzer Zeit wieder in Freiheit. Später fanden weitere Prozesse statt. So verurteilte der Strafsenat des Bezirksgerichts Dresden am 2. Oktober 1953 den 43jährigen Fuhrunternehmer Alfred Höer, Vater des bereits verurteilten Karl-Heinz Höer, zunächst wegen Landfriedensbruchs zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren. 2 2 1 Gegen dieses Urteil legte der Staatsanwalt Protest und der Verurteilte Berufung ein. Am 10. November wies das Oberste Gericht die Berufung als „unbegründet" zurück und hob wegen des Protestes des Staatsanwaltes das Urteil auf. Am 9. Dezember klagte der laStrafsenat des Bezirksgerichts Alfred Höer wegen „Verbrechen nach Art. 6 der Verfassung in Verbindung mit der KRDir. 38" an und kam „in Würdigung der Persönlichkeit des Angeklagten, der kleinbürgerlicher Herkunft und ein schwankendes Element ist [...] und sich am 17. Juni 1953 offen auf die Seite der faschistischen Provokateure stellte, sowie der Gemeingefährlichkeit des Verbrechens [...] zu der Überzeugung, daß eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren das gerechte Strafmaß für diesen Angeklagten ist". Damit ging der Strafsenat noch über den Antrag des Staatsanwaltes, der auf vier Jahre, sechs Monate plädiert hatte, hinaus. Die Vorsitzende des Strafsenates war die Oberrichterin Stefan, die bereits Monate zuvor den Sohn Karl-Heinz zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Immer wieder protestierten Einwohner, Kollegen und Nachbarn aus Zodel gegen die harten Urteile. Um diese Proteste zu unterbinden, erwiderte der Staatsanwalt am 14. September 1953 auf ein Gnadengesuch der Kulturgruppe der LPG „Friedenswacht" folgendes: „Ich nehme an, daß Sie über den Umfang der Taten dieser Zodler orientiert sind und heute erkannt haben, daß eine harte Strafe notwendig war und ist. Sie dürfen nie vergessen, daß dieser Überfall auf die DDR am 17. Juni von den imperialistischen Kräften organisiert war mit dem Ziel, die DDR aufzurollen und das alte Gesellschaftssystem wieder herzustellen und den 3. Weltkrieg zu beginnen. Wer ein solches Ziel unterstützt, ist ein Verbrecher oder ein Wahnsinniger. In beiden Fällen ist notwendig, daß diese Menschen von den anderen isoliert werden, damit sie nicht noch mehr Schaden [...] anrichten können. Sie werden doch bestimmt auch nicht wollen, daß all das, was wir hier schon erreicht haben, zerschlagen wird." 2 2 2 219 Vgl. Oberstes Gericht der DDR, 1 a Strafsenat, Beschluß in der Strafsache, o. D. (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 341/53, Bl. 33); vgl. hier auch die folgenden Angaben und Zitate zu diesem Verfahren. 220 Errechnet nach statistischen Angaben der Staatsanwaltschaft Dresden (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 . 221 Bezirksgericht Dresden, Urteil in der Strafsache Alfred Willi Paul Höer vom 9.12.1953 (Das Dokument wurde der Autorin von K.-H. Höer zur Verfügung gestellt.) 222 Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden, An die Kulturgruppe der LPG „Friedensgrenze" Zodel, 14.9.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 341/53, Bl. 37).

532

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Trotz solcher Drohungen gingen die Proteste und Bemühungen zur Freilassung der Verurteilten weiter. 1957 führte die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe in Zodel eine größere Unterschriftensammlung durch, um Kurt Jäger freizubekommen. Bis Ende der fünfziger Jahre reichten Einwohner aus Zodel Gnadengesuche ein. 223 Letztendlich führte dieses Engagement dazu, daß 1959 eine bedingte Strafaussetzung und vorzeitige Haftentlassung von Kurt Jäger mit der Begründung abgelehnt wurde, daß ein „großer Teil der Bevölkerung" die Verurteilung von Jäger zu 15 Jahren Zuchthaus abgelehnt habe, viele Eingaben geschrieben worden seien und das „gesellschaftliche Leben in Zodel darnieder" läge. 224 Kurt Jäger und Erich Altmann wurden am 29.11.1960 entlassen. Als sie in Zodel eintrafen, wurden sie von den Bewohnern „herzlichst" begrüßt. 2 2 5 Willi Michel kam sogar erst im April 1963 frei. Der Prozeß gegen Lothar Markwirth und 15 andere Angeklagte aus Niesky und Umgebung, auch als „Nieskyer Prozeß" bezeichnet, wurde als Schauprozeß inszeniert, um zu beweisen, daß der 17. Juni auch in Niesky „ein faschistischer Putsch" gewesen sei. Die Angeklagten wurden als „Handlanger der imperialistischen Kriegstreiber und ihrer westdeutschen Helfershelfer", die „ehrliche Arbeiter" verleitet hätten, vorgeführt. 2 2 6 Die Biographien der Angeklagten schienen dafür besonders geeignet. Von den 16 Angeklagten waren sieben selbständige Gewerbetreibende, die nach Ansicht des Gerichts auf Grund ihrer wirtschaftlichen Lage keinerlei Grund gehabt hätten, sich an den Ausschreitungen zu beteiligen. 227 Ein Angeklagter war als Fleischergeselle im elterlichen Geschäft tätig. Ferner gehörten acht Arbeiter aus der LOWA dazu, darunter ein Brigadier, der 1951 als Aktivist ausgezeichnet worden war, ein Schlosser, der ebenfalls 1951 Bestarbeiter und später Aktivist geworden war und als Gewerkschaftsgruppenorganisator arbeitete. Zwölf Angeklagte hatten am 2. Weltkrieg teilgenommen, acht gerieten in Gefangenschaft, davon zwei in sowjetische, aus der sie erst 1949 nach Hause gekommen waren. Drei Angeklagte waren vor 1945 in der NSDAP, davon war einer bereits 1941 aus dieser Partei ausgeschlossen worden. Zwei Angeklagte waren kurzzeitig in der SA. Zwölf Angeklagte waren nach 1945 in Massenorganisationen eingetreten, sieben in den FDGB, vier in die FDJ. Drei Angeklagte waren Mitglieder von LDPD, CDU und DBD. Der Prozeß selbst bot ein Schulbeispiel für den Mechanismus der Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem 17. Juni. Es war schon einmalig, daß 2 2 3 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirks Dresden, An die oberste Staatsanwaltschaft der DDR, Betrifft: Strafsache Willi Michel und 5 andere - hier Kurt Jäger, vom 28. 5 . 1 9 5 9 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 , Bl. 9f. 2 2 4 Ebd. 2 2 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, AOP Jäger 3 7 3 / 6 2 , o . D . (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 4 1 / 5 3 ) . 2 2 6 „Urteilsverkündung im Prozeß gegen Nieskyer Provokateure, Haupträdelsführer Markwirth zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt." In: SZ vom 20. 7 . 1 9 5 3 , S. 2. 227 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Urteil im Nieskyer Prozeß, o . D . (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. Iff.).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

533

gegen 16 Angeklagte gleichzeitig verhandelt wurde. Die Kreisdienststelle für Staatssicherheit beschuldigte ursprünglich sogar 19 Einwohner aus Niesky, darunter neun Beschäftigte der LOWA Niesky. 228 Der erste „Sachstandsbericht" der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit vom 1. Juli führte dann lediglich 15 Einwohner als Beschuldigte auf. Unter den Beschuldigten befand sich noch nicht der spätere Hauptangeklagte Lothar Markwirth. 2 2 9 Selbst in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dresden vom 4. Juli fehlte sein Name. 2 3 0 Die Staatsanwaltschaft ging noch davon aus, das Verfahren ohne den „Haupträdelsführer" durchzuführen. Lothar Markwirth saß zu diesem Zeitpunkt in sowjetischer Haft. Dort wurde er ständig verhört und sollte gestehen, daß er im Auftrag der Amerikaner gehandelt habe. 2 3 1 Da diese Anschuldigung völlig unsinnig war, gestand er nicht, worauf er am 8. Juli dem MfS „zur weiteren Bearbeitung" übergeben wurde. Danach verfaßte die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am 11. Juli einen „Sachstandsbericht" zum Beschuldigten Lothar Markwirth. 232 „Er entlarvte sich als skrupelloses, willfähriges Element der imperialistischen Kriegstreiber [...]. Der Beschuldigte war sich als Haupträdelsführer der faschistischen Provokateure in Niesky voll und ganz der von ihm begangenen skrupellosen Verbrechen bewußt und entwürdigte sich dadurch selbst der Menschenrechte eines jeden ehrlichen Deutschen. Auf Grund der von ihm begangenen schmählichen Verbrechen und deren Auswirkungen [...] muß der Beschuldigte sehr hart zur Verantwortung gezogen werden." 2 3 3 Die Hauptverhandlung begann am 13. Juli und endete am 18. Juli mit der Verkündung der Urteile. Verhandelt wurde an drei Tagen. Wie im zeitlichen Vorfeld zwischen SED-Funktionären und Vertretern des Gerichts festgelegt worden war, nahmen auch zwei bis drei „fortschrittliche Delegationen" (Parteilose) am Prozeß als Zuhörer teil. 234 In der Verhandlung war auch ein Vertreter des Generalstaatsanwalts der DDR anwesend. Die 16 Angeklagten wurden von vier Pflichtverteidigern vertreten, die kurz zuvor vom Bezirksgericht eingesetzt worden waren. Das Bezirksgericht hörte insgesamt 16 Zeugen, darunter den 2. Sekretär der SED-Kreisleitung Niesky, den Leiter der MfS-Kreisdienststelle Niesky und zwei seiner Mitarbeiter, die am 17. Juni 228 Vgl. Kreisdienststelle für Staatssicherheit Niesky, Bericht vom 30. 6.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 184f.). 229 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Sachstandsbericht Untersuchungsvorgang Maroske und 14 andere vom 1. 7.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 237/54, Bl. 190-196). 230 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Anklageschrift vom 4. 7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, 3 6 0 / 5 3 ) . 231 Vgl. Lothar Markwirth, Schriftliche Erklärung zur Pressekonferenz im Juni 1978 anläßlich des 17. Juni 1953. (Die Erklärung wurde mir freundlicherweise von L. Markwirth übergeben.) 232 Vgl. BV für Staatssicherheit Dresden, Sachstandsbericht vom 11. 7.1953 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 5 9 - 6 4 ) . 233 Ebd., Bl. 64. 234 Vgl. SED-Bl Dresden, Abt. Staatl. Organe, Aktennotiz vom 10. 7.1953 (SächsHStA, SED IV/2/13/017).

534

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

von einigen Angeklagten in den Hundezwinger im MfS-Gebäude gesteckt worden waren, und einen Angehöriger des VPKA Niesky. Diese Zeugen belasteten die Angeklagten schwer. Ein „Beweisantrag" des Rechtsanwaltes Dr. Dolze, zwei weitere Zeugen zu laden, wurde per Gerichtsbeschluß abgelehnt, „da dies zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist". 2 3 5 Sie hätten als Entlastungszeugen für einen seiner Mandanten auftreten können. 2 3 6 Außer den Belastungszeugen wurde der Vater des 17jährigen Angeklagten Joachim Jähne gehört. Laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft sollen die Beschuldigten gestanden haben. 2 3 7 In der Beweisaufnahme erklärten lediglich vier Angeklagte am Anfang ihrer Ausführungen: „Ich fühle mich schuldig". Die anderen Angeklagten fühlten sich „nicht schuldig", „nicht in allen Teilen schuldig", „nur zu einem gewissen Grade schuldig". 238 In einer „Stellungnahme zum Nieskyer Prozeß", verfaßt von der Justizverwaltungsstelle Dresden, geht hervor, daß einige Angeklagte in der Verhandlung darauf verwiesen, ihre Geständnisse seien von der Staatssicherheit auch mit Schlägen erpreßt worden. 2 3 9 Diese Aussagen hielt das schriftliche Verhandlungsprotokoll nicht fest. Am 18. Juli wurden die Urteile gefällt, ohne daß neue Beweismittel vorgelegt werden konnten. 2 4 0 Die Urteile des 1. Strafsenats unter Vorsitz der Oberrichterin Löwe sahen lebenslänglich für den 37jährigen selbständigen Fotografenmeister Lothar Markwirth vor, ferner dreizehn Jahre Gefängnis für den 25jährigen selbständigen Stellmachermeister Erich Maroske, elf Jahre für den 48jährigen selbständigen Schuhmacher Johannes Prietzel, je zehn Jahre für den 41jährigen selbständigen Vulkanisiermeister Willi Kasper und den 34jährigen LOWA-Konstrukteur Erwin Jürs, je sechs Jahre für den 28jährigen LOWAElektroschweißer Helmut Seifert, für den 48jährigen LOWA-Schlosser Victor Piegsa und den 32jährigen selbständigen Landwirt Herbert Stübner, fünf Jahre für den 41jährigen LOWA-Schlosser Erich Kretschmer, je vier Jahre für den 49jährigen selbständigen Gastwirt Heinrich Winkler und den 17jährigen Fleischergesellen Joachim Jähne (Antrag des Staatsanwaltes: fünf Jahre), drei Jahre für den 17jährigen LOWA-Transportarbeiter Werner Wagner (Antrag des Staatsanwaltes: vier Jahre), zwei Jahre Gefängnis für den 46jährigen selbstän2 3 5 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Protokoll der Verhandlung, o. D. (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 1 6 6 - 2 0 9 ) . 2 3 6 Vgl. Dr. Dolze, An das Bezirksgericht Dresden, Beweisantrag vom 13. 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 164f.). 237 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Anklageschrift vom 4 . 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, 3 6 0 / 5 3 ) . 2 3 8 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Protokoll der Verhandlung, o . D . (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 1 6 6 - 2 0 9 ) . 2 3 9 Vgl. Justizverwaltungsstelle des Ministeriums der Justiz des Bezirkes Dresden, Stellungnahme zum Nieskyer Prozeß, der vom 13. bis 18. Juli gegen 16 Angeklagte vor dem Bezirksgericht Dresden stattgefunden hat, vom 20. 7 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsHStA, SED IV/ 2/4/051). 2 4 0 Bezirksgericht Dresden, Urteil im Nieskyer Prozeß (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 30f.); vgl. hier auch die folgenden Angaben und Zitate zu den Urteilen.

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

535

digen Fuhrmann Georg Muche, je ein Jahr und sechs Monat Gefängnis für den 21jährigen LOWA-Rangierleiter Heinz Schulz und den 30jährigen LOWASchlosser Helmut Grünschloß (Antrag des Staatsanwaltes: zwei Jahre) und sechs Monate für den 23jährigen LOWA-Schlosser Wolfgang Heinke (Antrag des Staatsanwaltes: ein Jahr). Das Vermögen der Angeklagten Markwirth, Maroske, Kasper, Winkler und Prietzel wurde eingezogen. Zu den beiden Aktivisten aus der LOWA, Kretschmer und Grünschloß, stellte das Gericht in seiner Urteilsverkündung fest, daß die verpflichtende Auszeichnung für Kretschmer „offenbar nur ein Lippenbekenntnis gewesen [sei], denn aus Haß hat er die Situation am 17. Juni ausgenutzt und durch seine hetzerischen Reden [...] die Menschen mit aufgewiegelt". Dagegen hielt das Gericht den Angeklagten Grünschloß für einen „ehrlichen Arbeiter, der durch die in letzter Zeit aufgetretenen Schwierigkeiten verärgert wurde". Neun Verurteilte legten über ihre Pflichtverteidiger Berufung ein. Am 5. August verwarf das Oberste Gericht der DDR die Berufung von acht Angeklagten als „offensichtlich unbegründet". 2 4 1 Lediglich die Berufung des Gastwirtes Heinrich Winkler hatte zunächst Erfolg. Sein Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dolze, rügte in der Berufung für seinen Mandanten vom 23. Juni die „unrichtige Feststellung des Sachverhaltes, Verletzung der Vorschriften über das Gerichtsverfahren, Verletzung des Strafgesetzes durch unrichtige Anwendung" und forderte Aufhebung des Urteils und Freispruch. 2 4 2 Am 14. August fand vor dem Obersten Gericht der DDR die Hauptverhandlung über die Berufung statt. 2 4 3 Hier wiederholte Dr. Dolze seine grundsätzlichen Einwände gegen das Urteil des Bezirksgerichts Dresden. Oberrichterin Eisermann entschied die Abänderung des Urteils und verurteilte Winkler zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr. Daraufhin stellte der Generalstaatsanwalt der DDR gegen dieses Urteil Kassationsantrag. Das Plenum des Obersten Gerichts unter dem Vorsitz des Präsidenten Kurt Schumann hob am 3. Oktober das Berufungsurteil auf und verwies die Sache erneut an den 1. Strafsenat des Obersten Gerichts. 2 4 4 Dieser hob am 20. Oktober sein Urteil auf und verwies die Sache an das Bezirksgericht Dresden. Am 27. November verurteilte dieses den Gastwirt Winkler erneut wegen eines „Verbrechens nach Art. 6 und KRDir 38" zu vier Jahren Zuchthaus. 2 4 5 Bis August 1956 war Winkler in Haft.

241 Vgl. Oberstes Gericht der DDR, 1 a-Strafsenat, Beschluß in der Strafsache Markwirth und andere, vom 5. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 66f.). 2 4 2 Vgl. Dr. Dolze, Dresden, An das Bezirksgericht Dresden, In der Strafsache Markwirth und 15 andere vom 23. 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 55). 243 Vgl. Oberstes Gericht der DDR, Öffentliche Sitzung des 1 a-Strafsenats zur Strafsache Winkler vom 14. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 64f.). 2 4 4 Vgl. Oberstes Gericht der DDR, Plenum, Urteil in der Strafsache Winkler, o. D. (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 77ff.). 245 Beide Verfahrensschritte vgl. Bezirksgericht Dresden, 1 a Strafsenat, Urteil in der Strafsache Winkler vom 2 7 . 1 1 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 6 0 / 5 3 ) .

536

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Auch in diesem Falle solidarisierten sich Einwohner aus Niesky und Umgebung mit den Angeklagten und protestierten gegen die Verurteilung. 246 So stellten Angehörige der Abteilung Volksbildung des Landkreises Niesky am 14. September an die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafen für die beiden 17Jährigen, Joachim Jahne und Werner Wagner. 247 Des weiteren erhob die „gesamte Bauernschaft" aus Seifersdorf „voller Empörung" am 23. Juli Protest gegen das „ausgesprochene Schandurteil" gegen den Landwirt Herbert Stübner. 248 Daraufhin schrieb der Staatsanwalt am 10. August dem Bürgermeister von Seifersdorf, daß er „nicht gewillt sei, auf den im Schreiben angegebenen Ton einzugehen". 249 Auch der Pfarrer Lehmann aus Seifersdorf setzte sich für Herbert Stübner ein. Er wandte sich bereits nach der Verhaftung von Stübner in einem Brief an die Staatsanwaltschaft von Niesky und bat um eine „milde Beurteilung seines Falles und um die Freilassung". 250 Er wollte sogar für Stübner bürgen. Doch Herbert Stübner mußte mehr als drei Jahre im Zuchthaus verbringen. Drei Verurteilte des „Nieskyer Prozesses" verbüßten jeweils Haftstrafen von mehr als acht Jahren und kamen auch nicht per „Gnadenerlaß" des Staatsrates der DDR aus dem Jahre 1960 frei. Zu ihnen gehörte Lothar Markwirth. 251 Ein Lehrling von Markwirth schrieb einen Brief an dessen Mutter, die in Westdeutschland wohnte. Er informierte sie über die Ereignisse in Niesky am 17. Juni 1953 und das Geschehen danach: „Liebe Frau Markwirth, nehmen Sie die Ereignisse nicht so schwer. Wir sind alle der festen Meinung, daß es am längsten gedauert haben wird. Einmal muß eine solche Herrschaft des Grauens enden, und zwar so, wie sie es sich verdient hat. Glauben Sie mir, wir warten jeden Tag darauf. Wenn es einmal so weit sein wird, wird auch ihr Sohn wieder seine Freiheit wiederbekommen. Wir müssen aber alle Menschen darüber aufklären, wir tun es hier bei uns, soweit es möglich ist. Tun Sie es bei sich, dies ist das einzige, was Sie tun können, und geduldig warten." 2 5 2 Doch darauf mußten Mutter, Ehefrau und Kinder sehr lange warten. Markwirth kam erst am 14. August 1964 frei und saß so offenbar am längsten ein. 2 5 3 2 4 6 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden, Zuschriften zum Nieskyer Prozeß (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, 3 6 0 / 5 3 ) . 247 Vgl. Rat des Landkreises Niesky, Abt. Volksbildung, Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe für Jahne und Wagner, vom 14.9.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 6 0 / 5 3 ) . 2 4 8 Vgl. Zuschrift aus Seifersdorf, Einspruch gegen das Urteil des Landwirts Stübner, vom 23. 7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 6 0 / 5 3 ) . 2 4 9 Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, An den Bürgermeister von Seifersdorf, vom 10. 8 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 6 0 / 5 3 ) . 2 5 0 Vgl. Brief des Pfarrers Lehmann an die Staatsanwaltschaft, vom 2 9 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 7 / 5 4 , Bl. 74). 251 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Beschluß des 3. Senats für Rehabilitierung vom 9 . 1 0 . 1 9 9 2 (Das Dokument stellte der Autorin freundlicherweise L. Markwirth zur Verfügung). 2 5 2 Die Abschrift dieses Briefes wurde der Autorin freundlicherweise von L. Markwirth zur Verfügung gestellt. 2 5 3 Vgl. Bezirksgericht Dresden, 1. Senat für Rehabilitierung, Beschluß vom 21.10.1991. (Das Dokument stellte der Autorin freundlicherweise L. Markwirth zur Verfügung).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

537

Der zunächst letzte Prozeß des Bezirksgerichts Dresden, in dem angebliche Rädelsführer zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, fand am 22./23. Juli gegen sechs Beschäftigte des VEB ABUS Niedersedlitz statt. Angeklagt waren fünf Männer und eine Frau, die am 17. Juni von der ABUS-Belegschaft in einen „Prüfungsausschuß" gewählt worden waren. Ihre Biographien und ihre soziale Herkunft unterschieden sich erheblich von den Angeklagten aus Zodel und Niesky. Unter den sechs ABUS-Beschäftigten im Alter zwischen 24 und 59 Jahren war keiner, der zum Zeitpunkt seiner Verhaftung als Arbeiter in der Produktion beschäftigt war, vier arbeiteten bis zu ihrer Festnahme als technische bzw. kaufmännische Angestellte, einer als Ingenieur und einer als Technologe. Die meisten Angeklagten kamen zwar aus demselben Betrieb, kannten sich vor dem 17. Juni aber im Prinzip nur vom Sehen bzw. sehr flüchtig. Die Wahl in den sogenannten Prüfungsausschuß hatte sie mehr oder weniger zufällig zusammengeführt. Bis dahin galten sie als „fortschrittliche Werktätige", die fachlich gute Arbeit leisteten und mehrheitlich gesellschaftlich aktiv waren. Über Fritz Saalfrank gab der Werkleiter vor Gericht zu Protokoll, daß er bis zum 17. Juni von ihm einen guten Eindruck gehabt habe. 2 5 4 Alle Angeklagten waren zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung im FDGB organisiert, drei übten in dieser Organisation Funktionen als Mitglied der AGL oder als Gewerkschaftsvertrauensmann aus. 2 5 5 Zwei Angeklagte waren Mitglied der SED: Wilhelm Grothaus und Ingeborg Neumann. Drei Angeklagte gehörten vor 1945 der NSDAP an, ein ehemaliger PG war inzwischen seit mehreren Jahren in der SED. Die Biographien der beiden Hauptangeklagten, Wilhelm Grothaus und Fritz Saalfrank, konnten bis zu diesem 17. Juni 1953 nicht unterschiedlicher sein: Der gebürtige Westfale Grothaus kam aus einem proletarischen Elternhaus, verdiente seinen Unterhalt zunächst als Erdarbeiter und in anderen Berufen, war seit frühester Jugend in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung organisiert, trat erst in die SPD, später in die KPD ein. Er und seine Frau kämpften unerschrocken gegen die Nazis; sie wurden deshalb von diesen verfolgt und verhaftet. Grothaus - und auch seine Frau - saß bis Februar 1945 im Gefängnis; er war wegen Hochverrat angeklagt, ihm drohte die Todesstrafe. Durch die Bombardierung Dresdens konnte er im Februar 1945 fliehen. Er wurde als „Opfer des Faschismus" anerkannt und arbeitete in der inzwischen aufgelösten W N mit. Im Juli 1945 kehrte er nach Dresden zurück und arbeitete einen Monat bei der Firma Kelle & Hildebrand (später: VEB ABUS). Danach bekleidete er für die KPD/SED mehrere herausragende Funktionen und Ämter in der Stadt Dresden bzw. in der Landesregierung Sachsens, zuletzt als Abtei2 5 4 Vgl. u.a. Staatsanwaltschaft des Bezirks Dresden, Anklageschrift vom 9. 7 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 3 8 1 / 5 3 ) . 2 5 5 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Öffentliche Sitzung in der Strafsache Grothaus und fünf andere (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 203ff.); vgl. hier auch, soweit nicht anders vermerkt, die folgenden Angaben zu den Angeklagten und zum Verfahren.

538

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

lungsleiter im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, wo er für die Durchführung der Bodenreform zuständig war. Im Jahre 1950 geriet er - wie ca. 30 andere Mitarbeiter des Ministeriums - in Ungnade und wurde „wegen mangelnder Wachsamkeit und Korruption" aus der Landesregierung entlassen, nachdem der damalige Minister Dr. Uhle nach Westdeutschland geflüchtet war. In seiner Abwesenheit unterzog man ihn einem Parteiverfahren und bestrafte ihn mit einer „Rüge". Das erfuhr er durch die Sächsische Zeitung, als er von einer Kur zurückkam. Wie in solchen Fällen üblich, mußte er sich in der Produktion bewähren. So kam Grothaus wieder in den VEB ABUS; dort war er zuletzt als kaufmännischer Sachbearbeiter mit einem Monatslohn von 460,- Mark netto beschäftigt. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gehörte er u. a. der SED (Funktionsverbot), dem FDGB und der DSF an. Der mitangeklagte „Haupträdelsführer" Fritz Saalfrank dagegen kam aus einem ganz anderen Milieu. Er stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen; sein verstorbener Vater besaß in Dresden einen Lebensmittelladen, das Geschäft führte später die Schwester von Saalfrank weiter. Fritz Saalfrank legte die mittlere Reife ab und erlernte den Beruf eines Speditionskaufmannes. Er trat 1931 in die NSDAP und in die SA ein, blieb bis zum Zusammenbruch in diesen Organisationen und übte Funktionen in der SA aus. Er meldete sich mehrere Male vor dem 2. Weltkrieg freiwillig zu militärischen Lehrgängen. Im Jahre 1939 wurde er einberufen, brachte es bis zum Hauptmann und Bataillonskommandeur an der Ostfront. Durch eine Verwundung geriet er nicht in Gefangenschaft. Er hatte mehrere Auszeichnungen der SA und im Krieg erhalten, u. a. das Deutsche Kreuz in Gold. Saalfrank arbeitete seit 1946 im Betrieb, zunächst als Arbeiter und später als kaufmännischer Angestellter. Seine Biographie war bestens geeignet, den angeblichen faschistischen Charakter des 17. Juni zu beweisen. So standen vor Gericht - „Arm in Arm" - der „Verräter an den Interessen der Arbeiterklasse" und der „typische Faschist", wie die „Sächsische Zeitung" in ihrer Berichterstattung über die Verurteilung der „Abus-Provokateure" später schrieb. 256 Das Verfahren wies mehrere Besonderheiten auf. Zunächst leitete die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden gegen die sechs ein Untersuchungsverfahren ein, weil „sie am 17.6.1953 die Belegschaft des ABUS-Werkes durch provokatorische Hetzreden zum Streik und Aufruhr angestiftet und damit sich eines Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der DDR sowie KRDir. 38 III A III schuldigt gemacht" hätten. 257 Das Kreisgericht Dresden erließ daraufhin Haftbefehle. Das MfS stützte sich in seinem „Sachstandsbericht" vor allem auf einen Bericht von Otto Buchwitz über die Versammlung 2 5 6 „Abus-Provokateure verurteilt, Harte Strafen für die faschistischen Abenteurer Äußerste Milde gegenüber Irregeleiteten." In: SZ vom 3 0 . 7 . 1 9 5 3 , S. 3. 257 BV für Staatssicherheit Dresden, Sachstandsbericht über die Streikleitung im AbusWerk Niedersedlitz, o . D . (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, AU 2 3 9 / 5 3 ) ; vgl. hier auch, soweit nicht anders vermerkt, die folgenden Angaben zu den Vorwürfen in diesem Verfahren.

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

539

der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk am 17. Juni 1953. 2 5 8 Es behauptete, die Beschuldigten hätten zugegeben, „bewußt und vorsätzlich umstürzlerische Putschversuche zum Sturz der Regierung durchgeführt zu haben, aus den Motiven heraus, daß sie Feinde der DDR sind". Das MfS machte vor allem Grothaus „für den Streik, für die provokatorische Demonstration, den großen Produktionsausfall im Betrieb und für die weiteren terroristischen Verbrechen, die sich am 17.6.53 über den gesamten Kreis Dresden erstreckten", verantwortlich. Sie stilisierte ihn als „ausgesprochenen Feind der fortschrittlichen Entwicklung der DDR und der Partei der Arbeiterklasse". Saalfrank war für das MfS „ein alter eingefleischter Faschist". Der Staatsanwalt folgte zunächst diesem „Vorschlag" des MfS nicht, die Beschuldigten nach Artikel 6 anzuklagen. In der Anklageschrift des Staatsanwaltes vom 9. Juli und im Beschluß des Bezirksgerichts zur Eröffnung des Hauptverfahrens vom 17. Juli 259 wurden Grothaus und fünf andere „lediglich" angeklagt, „sich an einer öffentlichen Zusammenrottung, in der es zu Gewalttätigkeiten an Sachen kam, beteiligt und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet" und damit ein Verbrechen nach § 125, Abs.l und 2 StGB begangen zu haben. Auch in der Hauptverhandlung vor dem Strafsenat des Bezirksgerichts Dresden unter dem Vorsitz von Oberrichter Haußner lautete die eingangs vorgetragene Beschuldigung: Verbrechen nach § 125. 2 6 0 Doch am nächsten Tag beantragte der Staatsanwalt Lindner, drei Angeklagte, Grothaus, Saalfrank und Imme, nach Art. 6 der Verfassung in Verbindung mit der KRDir. 38 zu 15 und zehn Jahren Zuchthaus bzw. zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten zu verurteilen. Für die Angeklagten Müller, Berthold und Neumann beantragte der Staatsanwalt, das Verfahren einzustellen. Nach Auffassung des Verteidigers von Grothaus, Dr. Gustav Hodum, waren „die subjektiven Voraussetzungen für eine Verurteilung nach Art. 6 bzw. nach § 125 nicht erfüllt", deshalb plädierte er am Schluß der Beweisaufnahme für Freispruch. Dr. Jahrreiss, der die Angeklagten Neumann, Berthold und Imme vertrat, beantragte Freispruch wegen erwiesener Unschuld. Danach hatten die Angeklagten das letzte Wort. Diese Möglichkeit nahmen alle wahr, außer Saalfrank. Grothaus erklärte laut Protokoll: „Ich habe die Arbeiter zur Ruhe und Disziplin aufgefordert und habe 35 Jahre lang für die Interessen der Arbeiterschaft gekämpft. Ich bitte, ein gerechtes Urteil zu sprechen." 2 6 1 Übrigens hatten auch die meisten Zeugen aus dem VEB ABUS, darunter der Ingenieur Karl Mangane und 2 5 8 Vgl. Buchwitz, Otto, Bericht über die Versammlung der streikenden Arbeiter im Sachsenwerk Niedersedlitz am 17.6.1953, vom 2 0 . 6 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Dresden, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 19ff.). 2 5 9 Staatsanwalt des Bezirks Dresden, Anklageschrift vom 9. 7 . 1 9 5 3 bzw. Bezirksgericht Dresden, Beschluß vom 17. 7 . 1 9 5 3 (beide Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten I 381/53). 2 6 0 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Öffentliche Sitzung in der Strafsache Grothaus und fünf andere (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 203ff.); das folgende Zitat ebd. 261 Ebd.

540

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

der Diplomingenieur Walter Hoyer, in der Zeugenbefragung ausdrücklich bestätigt, daß Grothaus die Belegschaft im VEB ABUS nicht aufgeputscht oder aufgewiegelt, sondern im Gegenteil zu Ruhe und Ordnung aufgefordert habe. 2 6 2 Doch weder die entlastenden Zeugenaussagen noch die Anträge der Verteidiger wurden berücksichtigt. „Antragsgemäß" ergingen am Nachmittag des 23. Juli die Urteile. Eigenartig war, daß Grothaus zur Höchststrafe und der angeblich „eingefleischte Faschist" Saalfrank zu „nur" zehn Jahren verurteilt wurden. In der Urteilsbegründung für Grothaus findet sich das Argument: „Der Angeklagte Grothaus hat in der Stunde der Gefahr gezeigt, daß er zu einem Slansky geworden ist." 263 Auch die Berufungen der Angeklagten verwarf das Obersten Gericht der DDR „als offensichtlich unbegründet". 2 6 4 Dr. Hodum begründete seinen Berufungsantrag damit, daß die dem Angeklagten Grothaus in der Anklageschrift zur Last gelegten Zuwiderhandlungen gegen § 125 im Prozeß „keine Stütze fanden" und „aus dieser Erwägung heraus" vom Staatsanwalt eine Bestrafung wegen Art. 6 in Verbindung mit der KDir. 38 gefordert wurde. 2 6 5 Er kritisierte zugleich, daß die „Prüfung der subjektiven Seite der Tat des Angeklagten Grothaus" mehrfach sehr einseitig und unzulässig erfolgt sei. Weiter rügte er ungenügende Aufklärung über den Inhalt der Rede des Angeklagten im Sachsenwerk. Nach Auffassung von Hodum sei mit einer teilweisen Verlesung des Berichts von Buchwitz „der zwingend erforderlichen Aufklärung nicht Genüge getan worden." Außerdem wies er daraufhin, daß der Buchwitz-Bericht vor Erstellung der Anklageschrift abgegeben worden war und demzufolge nicht als schriftliche Äußerung eines Zeugen angesehen werden könne. Ferner erklärte Hodum, daß Buchwitz „den tatsächlichen Geschehnisablauf nicht richtig wiedergegeben habe". Hodum warf dem Gericht auch „Verletzung des Strafgesetzbuches durch unrichtige Anwendung" vor. Außerdem verstoße die ausgeworfene Strafe gegen „das gerechte Maß". In diesem Zusammenhang verwies er auf die Ausführungen von Dr. Heinrich Toeplitz (Ministerium der Justiz) in der „Neuen Justiz" vom 1. Juli 1953, wonach Staatsanwaltschaft und Gerichte keinen neuen Zündstoff in die Bevölkerung hineintragen dürften. (Dr. Gustav Hodum stand im Februar 1954 selbst als Angeklagter vor dem Bezirksgericht Dresden. Ihm wurde vorgeworfen, Urteile und Anklageschriften „unberechtigten Personen" überlassen zu haben. 2 6 6 )

262 Vgl. ebd. 263 Bezirksgericht Dresden, Urteil gegen Grothaus und andere (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, AU 2 3 9 / 5 3 , Bl. 220). 264 Vgl. Oberstes Gericht der DDR, Beschluß in der Strafsache Grothaus/Imme/Saalfrank, vom 5.8.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, AU 2 3 9 / 5 3 ) . 265 Dr. jur. Gustav Hodum, An das Bezirksgericht Dresden, vom 30. 7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 381/53); die folgenden Zitate ebd. 266 Vgl. Bezirksgericht Dresden, Betr.: Meldung der in der Zeit vom 8.-13.2.1954 zur Verhandlung anstehenden besonderen Strafsachen, vom 8. 2.1953 (SächsHStA, SED IV/2/13/017).

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

541

Wilhelm Grothaus traf das Urteil nach eigenen Worten „besonders hart", weil er sein „ganzes Leben in der Arbeiterbewegung, in der Partei und Gewerkschaft gestanden und gekämpft" sowie sich „besonders aktiv an der Bekämpfung des Faschismus beteiligt" hatte und in der DDR den von ihm „herbeigesehnten Staat" sah, für den er „Leben, Gesundheit und Familie eingesetzt" hatte. 2 6 7 Dieser Staat, seine Genossen brachten ihn für Jahre ins Zuchthaus, zunächst nach Waldheim, später nach Torgau und Leipzig. Alle Bemühungen seiner Ehefrau und einer ehemaligen Arbeitskollegin, Grothaus in den folgenden Jahren per Gnadenerlaß oder durch Kassation des Urteils freizubekommen, scheiterten. Seine Strafe wurde lediglich „per Gnadenerlaß des Staatspräsidenten" im Oktober 1956 auf zehn Jahre herabgesetzt. Der Stellvertreter der Obersten Staatsanwaltschaft der DDR, der die „Gnadensache Wilhelm Grothaus" damals bearbeitete und befürwortete, begründete die Reduzierung des Strafmaßes auf zehn Jahre damit, daß „dem Gesuch der aus Westdeutschland schreibenden Ehefrau einerseits Genüge getan wird und andererseits auch die Tat, die am 17. Juni 1953 von ihm begangen wurde, keinesfalls eine Strafe von 15 Jahren rechtfertigt". 2 6 8 Erst kurz vor seinem 67. Geburtstag kam Grothaus in Freiheit. Bis zum Tag der Urteilsverkündung gegen Grothaus und fünf andere, den 23. Juli 1953, erhob die Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden gegen insgesamt 173 Personen Anklage. 2 6 9 Das Bezirksgericht verurteilte innerhalb dieses einen Monats, 113 Personen im Zusammenhang mit dem 17. Juni, davon 102 Angeklagte zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und 15 Jahren und einen zu „lebenslänglich". Des weiteren verfügten die Dresdner Richter gegen zehn jugendliche Angeklagte „Erziehungsmaßnahmen". Gegen 119 Personen wurden die Strafverfahren „mangels Beweisen", nicht wegen erwiesener Unschuld, eingestellt, davon 85 durch die Staatsanwaltschaft und 34 durch das Gericht. Die Mehrzahl der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten wurde wegen Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze ( § 1 1 0 des StGB), Widerstand gegen die Staatsgewalt (§ 113), Aufruhr (§ 115), Gefangenenbefreiung (§ 120), Landfriedensbruch (§ 125), Androhung gemeingefährlicher Verbrechen (§ 126) und Aufreizung zu Gewalttätigkeiten (§ 130) abgeurteilt. 35 Personen verurteilte das Bezirksgericht nach Art. 6 der Verfassung und fünf nach Kontrollratsdirektive 38 III A III. 30 Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr, 35 von einem bis drei Jahre, 16 von drei bis fünf Jahre, 14 von fünf bis zehn Jahre und sieben von zehn bis 15 Jahre. Dazu kam das Urteil „lebenslänglich" gegen Markwirth. 2 7 0 267 Vgl. Wilhelm Grothaus, Bitte um Überprüfung meines Strafverfahrens vom 29. 5 . 1 9 5 7 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus). 2 6 8 OStA II, Stellvertreter Haid, Betr.: Gnadensache Wilhelm Grothaus, o . D . (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, Bl. 59). 2 6 9 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden, Übersicht bis 2 3 . 7 . 1 9 5 3 , o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) ; vgl. hier auch das Folgende. 2 7 0 Ausführungen zu diesem Urteil vgl. Fricke, Juni-Aufstand und Justiz, S. 75ff.

542

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

72,6 Prozent der Verurteilten waren Arbeiter. 15,9 Prozent der Verurteilten kamen aus der Altersgruppe zwischen 14 und 18 Jahren, 38,7 Prozent aus der zwischen 18 und 25, 45,2 Prozent waren über 25 Jahre alt. Die Mehrzahl der Verurteilten (68) gehörte keiner Partei an, vier waren in der SED, einer in der LDP, drei in der CDU, fünf in der DBD und zwei in der NDPD. 30 Verurteilte waren Mitglied der FDJ. 21 Verurteilte waren vor 1945 in der NSDAP, SA oder SS. Die insgesamt verhängten Freiheitsstrafen wären offensichtlich noch höher ausgefallen, wenn nicht in den ersten Wochen die Orientierung durch Justizminister Fechner ergangen wäre, der u. a. eine Differenzierung der Taten gefordert und sich gegen Verurteilungen von Streikleitungsmitgliedern ausgesprochen hatte. Das geht aus einem Bericht der Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden hervor, dem eine Überprüfung der „Strafsachen gegen Provokateure, Agenten und Rädelsführer in Verbindung mit dem 17. Juni 1953" zugrunde lag. 271 Die Staatsanwaltschaft überprüfte vor allem die eingestellten Verfahren und die ausgesprochenen Freiheitsstrafen im Zusammenhang mit dem Interview des ehemaligen Justizministers Fechner. Der Bericht kam einleitend zum Ergebnis, daß „im großen und ganzen die Einstellungen gerechtfertigt waren". In fünf Fällen wurde eine Kassation des Einstellungsbeschlusses beim Generalstaatsanwalt der DDR angeregt. In dreizehn Fällen sollte von der BDVP nachermittelt werden. Die Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden räumte ein, daß „das Interview des ehemaligen Justizministers Fechner nicht ohne Einfluß auf die Strafpolitik geblieben ist [...]. Unsere Genossen Staatsanwälte und Richter unterlagen zu einem Teil dem im Interview zum Ausdruck gebrachten Sozialdemokratismus. Sie wichen zurück." Den „Beweis" sah die Staatsanwaltschaft allein schon darin, daß in der Anklageerhebung mit Formulierungen wie Streikleitung der „Charakter des Verbrechens genommen und dadurch der Eindruck erweckt" wurde, daß „die Putschisten legal gehandelt hätten". Die „staatsgefährliche Stellungnahme" Fechners habe in der Bezirksstaatsanwaltschaft eine „scharfe Diskussion" ausgelöst, sie sei jedoch „positiv im Sinne des Marxismus-Leninismus" ausgegangen. Der „größte Teil der Staatsanwälte" habe die Gefahr des Interviews, „ohne einen besonderen Hinweis von oben abzuwarten", erkannt. „Sie gingen mutig daran, entschieden mit den Verbrechern abzurechnen." Das traf u. a. nicht auf den Staatsanwalt des Landkreises Görlitz, Korsawi, zu. Er hatte fünf angebliche „Provokateure" aus Kunnersdorf aus der Untersuchungshaft entlassen. Dazu stellte die Bezirksstaatsanwaltschaft Dresden in ihrem Bericht fest: „Es handelte sich hierbei um Bauern und Handwerker, welche am 17. Juni 1953 ihren Tag gekommen sahen, um den Staat zu refaschisieren. Der Pfarrer des Ortes konnte durch sein positives Verhalten die Haupt-

271 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Dresden, Bericht über die Bearbeitung der Strafsachen gegen Provokateure, Agenten und Rädelsführer in Verbindung mit dem 17. Juni 1953, o.D., S. 1 - 4 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) ; die folgenden Zitate ebd.

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

543

schreier von Tätlichkeiten gegen Personen abhalten. Daß es jedoch notwendig war, gegen die Rädelsführer ein Verfahren durchzuführen, steht außer Zweifel." Korsawi habe in seiner „Stellungnahme" zugegeben, „daß er beeinflußt vom Interview Fechners und nach Rücksprache mit der SED-Kreisleitung Görlitz-Land die Haftentlassung verfügt habe, ohne die Einstellung des Verfahrens zu verfügen." Er habe die Freigelassenen aber belehrt, „daß sie sich in Zukunft gegenüber dem Staat und der Gesellschaft bewähren könnten". Die Staatsanwaltschaft Dresden kam deshalb zu der Feststellung, daß es nach dieser „Erledigung" nicht „zweckmäßig sei, diese Personen wieder in Haft zu nehmen". Die Kreisleitung der SED sei jedoch angewiesen worden, „die weitere Entwicklung in Kunnersdorf besonders wachsam zu beobachten, damit beim geringsten Anzeichen provokatorischer Tätigkeiten diese Personen abgeholt werden". Der Bericht führt weitere „negative Beispiele" an, wonach Richter und Staatsanwälte mit niedrigen Freiheitsstrafen gegen „Verbrecher" vor dem Klassenfeind zurückgewichen seien. Dazu gehörten die Urteile, die am 3. und 4. Juli gegen die Angeklagten aus Reichenbach, Kreis Görlitz, vom Oberrichter Haußner nach Antrag der Staatsanwältin Stahl gefällt wurden. In diesem Verfahren waren Strafen von sechs Monaten bis zu zwei Jahren und acht Monaten ausgesprochen worden. Dagegen lobte die Staatsanwaltschaft in ihrem Bericht das Verfahren gegen Grothaus und seine Mitangeklagten aus dem VEB ABUS Niedersedlitz, weil der zuvor kritisierte Richter Haußner in diesem Verfahren die „Festigung der Linie" unter Beweis gestellt habe. Gelobt wurden auch die Verfahren gegen die „Rädelsführer des Putsches und der Provokation in Zodel" unter dem Vorsitz von Oberrichterin Stefan und gegen die „Putschisten und Provokateure in Niesky" unter dem Vorsitz von Oberrichterin Löwe. Scharfe Kritik übte der Bericht der Staatsanwaltschaft dagegen an den Rechtsanwälten, die als Verteidiger auftraten. Das waren bis auf wenige Ausnahmen ausgesuchte und von der SED-Bezirksleitung bestätigte Pflichtverteidiger. Nach Meinung der Staatsanwaltschaft hätten Verteidiger das Interview „bis zum Übelwerden" angewandt. Aber es gab auch Rechtsanwälte, die „unsere Weltanschauung mit der Praxis im Strafverfahren" geschickt verbunden hatten, hieß es im Bericht, in dem Dr. Melies und Dr. Hykel als positive Beispiele ausdrücklich benannt wurden. Mit dem „Nieskyer Prozeß" beschäftigte sich die Justizverwaltungsstelle des Ministeriums der Justiz des Bezirkes Dresden. Sie verfaßte dazu eine Stellungnahme. 2 7 2 Der Chef dieser Verwaltung kritisierte vor allem die „ungünstige" Verhandlungsführung, die dadurch entstanden sei, daß gegen 16 Angeklagte gleichzeitig verhandelt wurde. „Es war bei so einer Anzahl zu 2 7 2 Vgl. Justizverwaltungsstelle des Ministeriums der Justiz des Bezirkes Dresden, „Stellungnahme zum Nieskyer Prozeß", der vom 13. bis 18. Juli gegen 16 Angeklagte vorm Bezirksgericht Dresden stattgefunden hat, vom 20. 7.1953, Bl. 1 (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 5 1 ) ; die folgenden Zitate ebd.

544

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

erwarten, daß jeder bemüht ist, seine Schandtaten zu bagatellisieren und möglichst andere nicht zu belasten. Es stellte sich auch bald heraus, daß beim ersten Vorhalt der polizeilichen bzw. richterlichen Vernehmungen ein Angeklagter sagte, daß seine Aussagen vor der Staatssicherheit .erpreßt' worden seien. Ein weiterer, der dadurch Mut gekriegt hatte, sagte dann bereits, daß er bei seiner Aussage vor der Staatssicherheit .geschlagen' worden sei. Aus diesem Grunde hat dann das Gericht keine weiteren Vorhalte gemacht, um den anderen zu solchen Anwürfen keine weitere Veranlassung zu geben." Dann stellte sie weiter fest. „Wenn das Gericht aus Besorgnis darüber, daß noch weitere dieselbe Aussage gemacht hätten und die Bevölkerung etwa den Aussagen der Angeklagten glauben würde, so kann gesagt werden, daß durch das Zurückweichen des Gerichts derselbe Eindruck bei den Zuschauern haften geblieben sein kann. Festgestellt konnte werden, daß die auf der Anklagebank gewesenen faschistischen Elemente fast ausschließlich als .Kreaturen' anzusprechen sind." Abschließend lobte der Leiter der Verwaltungsstelle, Taubert, die Richterin Löwe und die Vertreter der Bezirksstaatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft, die „der Sache gewachsen" gewesen seien. Lediglich die beiden „Genossen Rechtsanwälte" hätten „schmählich" versagt. „Schlechter als diese [...] konnten die reaktionärsten nicht sein", so die Bewertung der Justizverwaltung. Gemeint waren offenbar Dr. Dolze und Dr. Jahrreiß. In der Öffentlichkeit sollte der Eindruck erweckt werden, als ob die Justiz an der ehrlichen Meinung der Betriebsbelegschaften interessiert sei. Der Direktor des Bezirksgerichts Dresden, Pogorschelsky, verschickte - wie bereits ausgeführt - seit Beginn der Verfahren gegen Juni-Angeklagte auf zentrale Weisung hin Mitteilungen an die Sekretäre der SED-Betriebsparteiorganisationen, in denen diese über Verurteilungen von Betriebsangehörigen unterrichtet wurden. Die Briefe endeten mit folgender Formulierung: „Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mich darüber informiertest, wie das Urteil in Euerem Betrieb und sonst in der Bevölkerung gewirkt hat." 2 7 3 Reaktionen der Belegschaften auf derartige Mitteilungen sind kaum überliefert. In einigen Antwortschreiben von SED-BPO wird das Unverständnis der Belegschaft, verbunden mit der Bitte um Revision des Urteils, ausgedrückt. Am 4. Juli informierte das Bezirksgericht die SED-BPO des VEB Schleifmaschinenwerkes in Dresden darüber, daß das Gericht den Arbeiter Gerhard Riese am 26. Juni nach Art. 6, in Verbindung mit KRDir. 38, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, weil er im Betrieb mit Erfolg zum Streik aufgerufen hatte. 274 Am 9. Juli antwortete der SED-Parteisekretär dem Direktor des Bezirksgerichts folgendes: „Die Diskussionen innerhalb der BPO und darüber hinaus mit der gesamten Belegschaft haben ergeben, daß das Urteil zu hart und unge2 7 3 Vgl. z.B. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der BPO der SED im Zentralen Projektierungsbüro für die Zellstoff- und Papierindustrie, o . D . (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) ; oder SED-BPO des VEB Schleifmaschinenwerk Dresden, An den Direktor des Bezirksgerichts, vom 9 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 274 Vgl. Kap. VII, S. 526.

Die Akteure des 17. Juni vor sächsischen Strafgerichten

545

recht ist." 275 Als Begründung schrieb der Parteisekretär: „Zunächst möchten wir feststellen, daß unser Kollege Riese uns als ausgezeichneter Arbeiter bekannt ist. Die Kollegen, die ihn schon jahrelang durch ihre Zusammenarbeit mit ihm kennen, sind nicht der Meinung, daß er sich als Provokateur geschickt hinter seiner guten Arbeitsleistung tarnte." Sein Verhalten am 17. Juni sei „von irgendwelchen geistigen Komplexen, verursacht durch Überarbeitung, hervorgerufen worden." Und es heißt weiter: „Die gesamte Belegschaft ist einmütig der Ansicht, daß in diesem Falle unbedingt der Artikel des Justizministers Fechner im ,ND* anzuwenden sei. Um die Ruhe und Sicherheit unseres Betriebes nicht zu gefährden, bitten wir dringend, den Fall R. einer sofortigen Prüfung zu unterziehen." Nach telefonischer Absprache mit dem Abteilungsleiter Staatliche Organe in der SED-Bezirksleitung vermerkte das Bezirksgericht Dresden am 24. Juli auf diesem Schreiben: „Überprüfung von Berlin wird mitgeteilt". Auch die SED-BPO des Zentralen Projektierungsbüros für die Zellstoff- und Papierindustrie Heidenau erhielt einen solchen Brief des Inhalts, daß das Bezirksgericht den technischen Zeichner Siegfried Schleinitz wegen Landfriedensbruchs zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und er das Urteil angenommen habe. 2 7 6 Das Gericht habe von einer Zuchthausstrafe für alle Angeklagten abgesehen, weil es „sich bei dieser Gruppe Jugendlicher um keine ausgesprochenen Provokateure handelte, sondern um Irregeleitete". Aus diesem Grunde habe das Gericht auf eine Gefängnisstrafe unter Zubilligung mildernder Umstände gesetzt. Daraufhin teilte der Parteisekretär dem Bezirksgericht mit, daß „verschiedene Aussprachen über dieses Urteil im Betrieb geführt" wurden und „alle diesbezüglichen Aussprachen ergaben, daß die Handlungsweise von Sch. unbedingt zu verurteilen ist, aber das Urteil selbst entschieden zu hoch ausgefallen sei". 277 Auch in diesem Schreiben wurde auf das Fechner-Interview verwiesen. „Wir bitten Sie daher", heißt es, „das Urteil zu revidieren, damit unsere Belegschaft davon überzeugt wird, daß die Worte unseres Justizministers auch in die Tat umgesetzt werden. Bemerken möchten wir hierbei, daß unser Betrieb sich an den Demonstrationen am 17. Juni 53 nicht beteiligt hat und keinerlei Anzeichen zu irgendwelchen Unruhen vorhanden waren." Der Brief war mit einem handschriftlichen Vermerk: „Rücksprache mit PO nehmen, Urteil in Ordnung" versehen. Am 24. Juli erfolgte laut ebenfalls handschriftlichem Vermerk zu diesem Brief die telefonische Mitteilung an den Parteisekretär.

2 7 5 SED-BPO des VEB Schleifmaschinenwerk Dresden, An den Direktor des Bezirksgerichts, vom 9 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 276 Vgl. Bezirksgericht Dresden, An den 1. Sekretär der SED-BPO des Zentralen Projektierungsbüros für die Zellstoff- und Papierindustrie Heidenau, vom 1 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) . 277 SED-BPO des Zentralen Projektierungsbüros für die Zellstoff- und Papierindustrie Heidenau, An das Bezirksgericht Dresden, 8. 7.1953 (SächsHStA, SED I V / 2 / 1 3 / 0 1 7 ) .

546

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Bis Ende Juli/Anfang August 1953 verurteilten die Bezirksgerichte Leipzig und Dresden mindestens 259 Angeklagte im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 zu Freiheitsstrafen. Unter diesen Angeklagten waren 6,2 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder in Leipzig und 20,4 Prozent ehemalige Mitglieder der NSDAP, der SA und SS in Dresden. Viele „Juni-Häftlinge" aus Sachsen kamen zunächst in das Zuchthaus Waldheim. Dieses war völlig überfüllt. Sechs bis sieben Gefangene waren in einer Einzelzelle untergebracht. Der 21jährige Karl-Heinz Höer schlief z. B. längere Zeit auf dem Fußboden, damit wenigstens ältere Mithäftlinge wie Grothaus ihre Schlafstätte hatten. 2 7 8 Nach einer Zusammenstellung eines ehemaligen Häftlings saßen in Waldheim in den ersten Jahren mindestens 44 Häftlinge des 17. Juni aus den drei sächsischen Bezirken ein, darunter allein 26 Einwohner der Kreise Görlitz und Niesky. 279 Dazu gehörten u. a.: Kurt Jäger (Wohnort: Zodel, Urteil: 15 Jahre), Hermann Gierich (Görlitz, 15 Jahre), Willi Michel (Zodel, 15 Jahre), Wilhelm Grothaus (Dresden, 15 Jahre), Willi Drescher (Leipzig, 12 Jahre), Erich Altmann (Zodel, 10 Jahre), Fritz Saalfrank (Dresden, 10 Jahre), Alfred Eckert (Görlitz, 10 Jahre), Gerhard Mühle (Ludwigsdorf, 10 Jahre), Hermann Wübbe (Zodel, 8 Jahre), Günter Assmann (Görlitz, 8 Jahre). Auch der „Lebenslängliche" Lothar Markwirth war zeitweise unter den Häftlingen des Zuchthauses Waldheim. Das Zuchthaus Bautzen „beherbergte" ebenfalls zahlreiche verurteilte Juni-Akteure, vor allem jene, die in der zweiten Jahreshälfte 1953 verurteilt wurden, wie den Inhaber eines Radiogeschäftes in Görlitz, Arthur Hellwig (Urteil: 10 Jahre), und einige Mitglieder der Streikleitung der Görlitzer EVÖ. Alle Gefangenen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni verurteilt worden waren, trugen ein „X" auf ihrer Häftlingskleidung. Sie durften in der ersten Zeit nicht arbeiten. Später mußten sie z. B. im Zuchthaus Waldheim in einem Fellschneidekommando eine stark gesundheitsgefährdende Arbeit verrichten. In den „Führungsberichten" wurde auch immer die Arbeitsleistung, d. h. die genaue Normerfüllung, eingeschätzt. Immerhin wurden einzelne Gefangene „Bestarbeiter", wie beispielsweise die vom Leipziger Bezirksgericht als „Rädelsführerin" verurteilte Ursula Wolf, die für einen Tageslohn von 20 Pfennig mit einer Pinzette Webfehler entfernen mußte. 2 8 0 In der Regel wurde dem, der gut arbeitete und die Haus- und Zellenordnung einhielt, von seinen Bewachern Unehrlichkeit unterstellt. So bescheinigte z. B. der Leiter der StVA Bautzen in einem „Führungsbericht" vom 3.6.1959 dem Strafgefangenen Kurt Jäger gute Arbeitsleistungen - er war gerade in einer Schneiderei eingesetzt - , diszipliniertes Verhalten gegenüber dem Aufsichtspersonal, Einhaltung der Haus- und

2 7 8 Persönliche Information von Karl-Heinz Höer. 2 7 9 Vgl. Hans Tippmann, Ehemalige Häftlinge „17. Juni 1953" im Zuchthaus Sachsen, Zusammenstellung aus dem Jahre 1953 (Kopie: Privatarchiv Roth). 2 8 0 „Augenzeugen erinnern sich: Entwürdigende Tortur ließ die Tränen fließen." In: Wir in Leipzig, vom 1 6 . / 1 7 . 6 . 1 9 9 0 , S. 9.

Die öffentliche Diffamierung der Juni-Verurteilten

547

Zellenordnung und gutes Benehmen gegenüber seinen Mitgefangenen. 281 Doch das diene nur dem Zweck, das Aufsichtspersonal zu täuschen, um in den Genuß einer vorzeitigen Entlassung zu kommen. „Seine Einstellung gegenüber unserem Arbeiter- und Bauern-Staat ist feindlich. Er versteht es sehr gut, sich zu tarnen, um ungestört seine Pläne durchzuführen [...]. In seiner Unterkunft auf dem Saal führt der Strafgefangene mit anderen Strafgefangenen Hetzreden gegen unseren Staat und beeinflußt negativ seine Mitgefangenen." Die Schlußfolgerung: keine vorzeitige Entlassung.

4.

Die öffentliche D i f f a m i e r u n g d e r Juni-Verurteilten

Bei allen Repressionen im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 ging es nicht primär um Bestrafung einzelner Personen, sondern um Abschreckung und längerfristige Einschüchterung der Bevölkerung, um eine Wiederholung des Aufstandes für immer zu unterbinden. Deshalb wurde die Öffentlichkeit über die Strafverfolgung informiert, obwohl in der DDR ansonsten kaum Informationen über Verhaftungen und Gerichtsverfahren wegen politischer Delikte in den Medien zu finden waren. Während über die ersten Prozesse in der Dresdner Bezirkspresse nichts nachzulesen war, erschienen über die Verurteilungen von „Rädelsführern" aus Görlitz, Niesky und Dresden mehrere Mitteilungen und längere Berichte. Die Artikel, die in der Regel keine Unterschrift trugen oder nur mit Namensinitialen unterzeichnet wurden, stammten offensichtlich aus der Feder von Mitarbeitern der SED-Bezirksleitung. Es gibt Hinweise darauf, daß die Abteilung Parteileben den Entwurf erstellte und ihn der Abteilung Staatliche Organe übergab, die ihn vor dem Erscheinen „überprüfte". 2 8 2 Die als „Rädelsführer" verurteilten Personen wurden in der Presse diffamiert und gleichsam als Unmenschen dargestellt, um „Abscheu bei jedem ehrlichen Bürger der DDR gegenüber diesen Elementen" zu erzeugen. So titulierte die Sächsische Zeitung Verurteilte als „sadistische und gewissenlose Verbrecher", „brutale Subjekte", „korrupte Elemente", die vor Gericht „klein und erbärmlich [...] um Milde bettelten", „zu feige waren, die Verbrechen offen zuzugeben." 2 8 3 Am 10. Juli berichtete die Zeitung, daß am Vorabend die Angeklagten Hermann Gierich, Siegfried Richter, Werner Herbig, Bruno Neumann und Egon Gericke verurteilt worden waren: Gierich 15 Jahre Zuchthaus, Richter acht Jahre, Herbig fünf Jahre. Neumann wurde zu einem Jahr Gefängnis und 281 Vgl. SVA Bautzen, An den Staatsanwalt des Bezirkes Dresden, Führungsbericht vom 3. 6.1959 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten, I 341/53). 282 Vgl. SED-BL Dresden, Parteileben, Eigener Bericht zu Urteilen gegen Eckert, Assmann, Hermann, Mischke, vom 14. 7.1953 (SächsHStA, SED IV/2/13/017). 283 „Was die Vorgänge in Niesky uns zeigen: Der 17. Juni - das Werk faschistischer Provokateure." In: SZ vom 21. 7.1953, S. 2.

548

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

der jugendliche Gericke zu einem Jahr und neun Monaten verurteilt. 284 Am nächsten Tag charakterisierte die Sächsische Zeitung die Angeklagten in einem ausführlichen Bericht u. a. als „wirkliche Feinde unseres Volkes" und ließ am Schluß ihre Leser wissen: „Unsere Bevölkerung ist hellhöriger und wachsamer geworden, und die Staatsorgane haben aus den Ereignissen am 17. Juni die nötigen Schlußfolgerungen gezogen, um jedem, der es wagen sollte, in verbrecherischer Weise unsere Republik zu gefährden, das Handwerk zu legen. Gemeinsam werden die friedliebende Bevölkerung unserer Republik und die staatlichen Organe die Errungenschaften und den Aufbau in unserer jungen Republik gegen jeden neuen Anschlag zu schützen wissen." 285 Auch über den Nieskyer Prozeß berichtete die Sächsische Zeitung in zwei Ausgaben. Am 20. Juli meldete sie, das Bezirksgericht Dresden habe „Im Namen des Volkes" Urteile gegen die Angeklagten aus Niesky gesprochen. (Die ausgesprochenen Strafen wurden ebenfalls mitgeteilt.) 286 Am folgenden Tag erschien eine längere Reportage - mit einem Bild von der Anklagebank unter der Überschrift „Was die Vorgänge in Niesky uns zeigen: Der 17. Juni das Werk faschistischer Provokateure". 287 Demnach hatten die Angeklagten in Niesky „nach echt faschistischem Vorbild" gehandelt. Ausführlich wurde in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft von einigen Angeklagten in der NSDAP und anderen nazistischen Organisationen ausgeschlachtet, um dann die Leser wissen zu lassen, daß die Richter die Angeklagten jedoch nicht deshalb verurteilten, „weil sie Faschisten waren, sondern weil sie am 17. Juni faschistisch gehandelt haben". Angeblich hatte die „übergroße Mehrheit der Werktätigen dazu beigetragen, die Provokateure unschädlich zu machen. Auch in Niesky war es durch Unterstützung der Bevölkerung möglich, der Verbrecher habhaft zu werden". Verschwiegen wurde in diesem Zusammenhang, daß z. B. der zu „lebenslänglich" verurteilte Lothar Markwirth zunächst von Nachbarn, nämlich der Familie des ebenfalls verurteilten Gastwirts Winkler, vor dem Zugriff des MfS versteckt und versorgt worden war. Außerdem gab es eine breite Solidarisierungswelle unter der Arbeiterschaft der LOWA, als Gerüchte in Niesky auftauchten, daß Markwirth erschossen werden sollte. 288 Der Artikelschreiber forderte schließlich die SZ-Leser zu „äußerster Wachsamkeit" auf und drohte, allen „schnell und gründlich das Handwerk zu legen", die „es noch einmal wagen sollten, unsere Republik anzugreifen und unsere demokratischen Errungenschaften zu beseitigen". 2 8 4 „Nach Redaktionsschluß: Erste Urteile gegen Görlitzer Provokateure ausgesprochen." In: SZ vom 10. 7 . 1 9 5 3 , S. 8. 2 8 5 „Görlitzer Provokateure ihrer gerechten Strafe zugeführt, Die ersten Urteile vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Dresden gegen Rädelsführer." In: SZ vom 11. 7. 1953, S. lf. 2 8 6 „Urteilsverkündung im Prozeß gegen Nieskyer Provokateure, Haupträdelsführer Markwirth zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt." In: SZ vom 20. 7 . 1 9 5 3 , S. 2. 287 „Was die Vorgänge in Niesky uns zeigen: Der 17. Juni - das Werk faschistischer Provokateure." In: SZ vom 21. 7 . 1 9 5 3 , S. 2. 2 8 8 SED KL Niesky, Informationen über LOWA Niesky, vom 19.6.1953, 10.30 Uhr (SächsHStA, SED I V / 2 / 4 / 0 6 1 , Bl. 89).

Die öffentliche Diffamierung der Juni-Verurteilten

549

Die Pressemitteilungen über die Verurteilungen von „Abus-Provokateuren" verfolgten, neben den bereits genannten Zielen, zwei weitere. Eines dieser Ziele verriet bereits die Überschrift: „Abus-Provokateure verurteilt: Harte Strafen für die faschistischen Abenteurer - Äußerste Milde gegenüber Irregeleiteten". 2 8 9 Z u m anderen sollte gezeigt werden, daß die SED-Justiz auch die eigenen Leute bestrafte, wenn sie - wie Wilhelm Grothaus als langjähriges KPD/SED-Mitglied - am 17. Juni zu „Verrätern an der Arbeiterklasse" geworden waren. Auf G r u n d seiner antifaschistischen Vergangenheit mußte Wilhelm Grothaus für die Öffentlichkeit als ein Mensch dargestellt werden, der sich bisher „raffiniert getarnt" und jetzt „sein wahres Gesicht: die Fratze eines Verräters an den Interessen der Arbeiterklasse" gezeigt habe; „Er, der als Opfer des Faschismus gelten wollte, forderte die Freilassung der angeblich .politischen Gefangenen', der ehemaligen faschistischen Kriegsverbrecher, der Mörder, Agenten und Spione." Abgesehen davon, daß solche Behauptungen einfach erlogen waren, wurde wohlweislich verschwiegen, daß Grothaus seinen aktiven Widerstand gegen die Nazis beinahe mit dem Leben bezahlt hatte. Um eine bewußte Verbindung zwischen dem antifaschistischen Grothaus und dem „typischen Faschisten" Fritz Saalfrank zu beweisen, schrieb die Sächsische Zeitung, Saalfrank habe"sehr wohl gewußt", daß „seine Vergangenheit mehr als anrüchig war". Er habe daher einen Renegaten wie Grothaus gebraucht. Laut SZ würde die „eindeutig faschistische Zielstellung der Provokationen aus den Aussagen Saalfranks während seiner Vernehmung hervorgehen". Dem Vernehmungsprotokoll zufolge habe er auf die Frage „Was wollten Sie mit Ihrer Forderung: Sturz der Regierung?" geantwortet: „Ich dachte an eine faschistische Regierung oder an eine Regierung der Weimarer Republik." Tatsächlich geht aber aus den Vernehmungsprotokollen hervor, daß Saalfrank zunächst das Protokoll seiner ersten Vernehmung durch das MfS mit seinem handschriftlichen Vermerk: „Folgende Worte sind zu berichtigen: Anstatt ,Sturz der Regierung' richtig: .Rücktritt der Regierung'" versah. 2 9 0 Saalfrank „gestand", zumindest laut Protokoll, nach mehreren Verhören, daß er über Neuwahlen eine andere Regierung wollte, „die ähnlich der Weimarer bzw. nazistischen Regierung aussehen sollte". 291 Er hatte aber auch in einem anderen Verhör seinem Vernehmer auf die Frage, welche Regierungsform er nach dem „Rücktritt der Regierung in der D D R " erwarte, geantwortet: „Ich habe eine Demokratie erwartet, da ich die Meinung vertrete, daß die z. Zt. bestehende Regierung keine Demokratie, sondern eine Diktatur ist. Z u der Überzeugung der Diktatur bin ich gekommen durch die Wahl über eine Einheitsliste

289 „Abus-Provokateure verurteilt: Harte Strafen für die faschistischen Abenteurer Äußerste Milde gegenüber Irregeleiteten." In: SZ vom 30. 7.1953, S. 3; das Folgende zum Fall Grothaus ebd. 290 Vgl. BV für Staatssicherheit, Vernehmungsprotokoll des Häftlings Saalfrank vom 18.6.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, Bl. 67). 291 Vgl. BV für Staatssicherheit, Vernehmungsprotokoll des Häftlings Saalfrank vom 3. 7.1953 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, Bl. 81).

550

Die Verfolgung von „ Provokateuren "und „ Rädelsführern "

und durch die diktatorischen Maßnahmen, die im Nazireich dieselben waren". 2 9 2 Dieser Vergleich wurde den Lesern der Zeitung selbstverständlich vorenthalten. Am Schluß des oben genannten Beitrages vom 30. Juni erfuhren sie, „wie gerecht unsere demokratische Justiz in der Urteilssprechung gegenüber den Angeklagten des 17. Juni differenziert". Deshalb habe das Gericht auf Antrag des Staatsanwaltes das Strafverfahren gegen drei Angeklagte eingestellt und sofort die Haftbefehle aufgehoben, da es sich seiner Meinung nach um „drei irregeleitete Arbeiter handelt, die sofort, nachdem sie das Verbrecherische der Provokation erkannt hatten, davon abrückten". Sie hätten ihre Handlungsweise bereut und versprochen, „alles daranzusetzen, um mehr und besser zu produzieren und bewußte Bürger unserer Republik zu werden." Zum Schluß zitierte die Sächsische Zeitung aus dem Plädoyer des Staatsanwaltes: „Sowohl an der Unnachsichtigkeit gegenüber faschistischen Verbrechen als auch an der Milde gegenüber irregeleiteten Arbeitern ist zu erkennen, daß unsere Staatsmacht eine Macht des Volkes, der Werktätigen, der Arbeiterklasse ist." 293 Die Pressekampagne der SZ gegen angebliche Rädelsführer führte letztendlich nicht zu einer Distanzierung der Bevölkerung von solchen „Provokateuren". So beschwerte sich sogar der Rat der Stadt Görlitz am 17. Juli 1953 beim Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, daß „die Berichterstattung über die Verurteilung der Beteiligten bei der Provokation in Görlitz psychologisch falsch" sei. 294 In den Berichten würden „in ungenügender Weise nur die Handlungen der Einzelnen dargestellt, ohne auf den politischen Hintergrund und die Personen näher einzugehen". Ihm sei „aus anonymen Schreiben und aus Diskussionen" bekannt, „daß die Auffassung besteht, daß es sich doch nur um Arbeiter handelt". Er führte ein „charakteristisches Beispiel" für die Auswirkungen „einer solchen schlechten Berichterstattung" an. So hätten die Angehörigen des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Görlitz die Verurteilung ihres jungen Kollegen Alfred Eckert (20 Jahre alt) zu sieben Jahren Zuchthaus kritisiert und eine Revision des Urteils gefordert. Der Oberbürgermeister glaubte, daß eine „eindeutige Charakteristik" des Verurteilten „ebenso wie die Erläuterung der Folgen seiner Verbrechen und damit der faschistischen Provokation" eine solche Diskussion unmöglich gemacht hätten. Weil die Presse mit ihren haarsträubenden Berichten über angebliche Provokateure und Rädelsführer in den ersten Wochen nach dem Aufstand ein äußerst negatives Echo hervorrief, änderte die SED-Führung ihre Informationspolitik. Während beispielsweise die Leipziger Volkszeitung in der zwei-

2 9 2 Vgl. BV für Staatssicherheit, Vernehmungsprotokoll des Häftlings Saalfrank vom 26. 6 . 1 9 5 3 (Staatsanwaltschaft Dresden, Handakten Grothaus, Bl. 72). 2 9 3 „Abus-Provokateure verurteilt: Harte Strafen für die faschistischen Abenteurer Äußerste Milde gegenüber Irregeleiteten." In: SZ vom 30. 7 . 1 9 5 3 , S. 3. 2 9 4 Vgl. Rat der Stadt Görlitz, Oberbürgermeister, An den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Situationsbericht vom 1 7 . 7 . 1 9 5 3 (SächsHStA, BT/RdB Dresden, 441, Bl. 26).

Die öffentliche Diffamierung der Juni-Verurteilten

551

ten Juni-Hälfte „eingefleischte Faschisten", „berufsmäßige Prostituierte", „ausgesprochene Faulpelze" oder „gemeingefährliche Verbrecher" als Rädelsführer des 17. Juni vorstellte 2 9 5 und ihre Leser darüber informierte, daß diese als „schmutzige Handlanger und Rädelsführer des faschistischen Abenteuers" zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt worden seien 2 9 6 , präsentierte sie später meist geachtete Arbeiter und Angestellte aus großen Leipziger volkseigenen Betrieben, darunter einige in der Leipziger Arbeiterbewegung angesehene frühere Funktionäre von KPD, SPD oder der Gewerkschaften, die angeblich von den eigenen Kollegen als Agenten und Provokateure entlarvt worden waren. 2 9 7 Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt informierte seine Parteiaktivisten darüber, daß „wir nicht mehr so viel in der Presse schreiben vom Kampf gegen die Feinde, wie wir es bisher getan haben", weil damit „das Klassenbewußtsein nicht gehoben w u r d e " . 2 9 8 Jetzt komme es darauf an, in allen Grundorganisationen und Betrieben feindliche Gruppierungen zu zerschlagen, dann werde das Klassenbewußtsein wachsen. Am 11. September erschien unter der Überschrift: „Für die Stärkung der Rechtssicherheit" in der LVZ der Artikel eines Staatsrechtlers 2 9 9 , um klarzustellen, daß die Untersuchungsorgane und die Strafgerichte der DDR jedes begangene Verbrechen mit der ganzen Sorgfalt, die ihnen das Gesetz vorschreibt, zu untersuchen und die aus der Strafprozeßordnung hervorgehenden Rechte zu wahren hätten. Sie hätten Urteile zu fällen „unter allseitiger Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten, in der Erkenntnis der Tatsache, daß es eine ernste Sache für jeden Bürger ist, sich vor den Gerichten des demokratischen Staates zu verantworten, daß das Schicksal eines Menschen in ihrer Hand liegt". Die Untersuchungen und die Gerichtsverfahren müßten so durchgeführt werden, „daß auch der Beschuldigte den Eindruck erhält, gerecht behandelt zu werden". Am Schluß behauptete der Autor, daß die Gerichte „harte und gerechte Urteile gegen die Provokateure gefällt" hätten, „die eine Warnung sein mögen für jene, die da glauben, ihr dunkles volksverräterisches Handwerk fortsetzen zu können". Und weiter: „Noch aber gibt es Fälle, in denen Provokateure nicht die verdiente Strafe erhielten. Noch ist der Krebsschaden, den die republikfeindliche Tätigkeit Fechners setzte, nicht ganz ausgemerzt. Vor den Werktätigen in den Betrieben steht die besondere Aufgabe, die Provokateure weiter zu entlarven und so unseren Justizorganen Hilfe zu leisten."

2 9 5 Vgl. die Artikelserie „Urteilt selbst." In: LVZ vom 21. 6 . 1 9 5 3 , S. 6; vom 24. 6 . 1 9 5 3 , S. 3; vom 28. 6 . 1 9 5 3 , S. 4. 2 9 6 „Gerechte Strafe für die Provokateure des 17. Juni." In: LVZ vom 7. 8 . 1 9 5 3 , S. 4. 297 Vgl. „Jagt die Agenten aus den Betrieben." In: LVZ vom 12. 8 . 1 9 5 3 , S. 3; „Der Agent Saballa und der Opportunist Schindler zogen an einem Strang." In: LVZ vom 26. 8 . 1 9 5 3 , S. 4; „Agent Tittel wollte Aktivist werden." In: LVZ vom 2 4 . 1 0 . 1 9 5 3 , S. 2. 2 9 8 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiaktivtagung v o m 1 . 9 . 1953 (SächsStAL, S E D I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 , Bl. 182). 2 9 9 Pollak, Karl, „Für die Stärkung der Rechtssicherheit". In: LVZ vom 11. 9 . 1 9 5 3 , S.4.

552 5.

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern " Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

Die Krise des Herrschaftssystems, die zum 17. Juni geführt hatte, war auch einen Monat nach der militärischen Niederschlagung des Aufstandes noch nicht bewältigt. Abgeschlossen waren lediglich die Machtkämpfe im Führungsgremium der SED. Für die latente Krise gab es auf Seiten der Herrschenden wie der Beherrschten deutliche Zeichen: Gerüchte von einem neuen Aufstand wurden ernsthaft verfolgt und Vorbereitungen zur Abwehr getroffen. Die Regierenden deuteten Forderungen nach einer weiteren Verbesserung der Lohn- und Preispolitik, die Ablehnung von Denunziationen oder die Beschaffung von zusätzlichen Lebensmitteln aus Westberlin als „Feindarbeit" und sogar als „Neuauflage des Tages X". 3 0 0 Hinzu kam, daß die Bevölkerung auf die einsetzende langsame Verbesserung der Lebenslage anders reagierte, als es die Führung gehofft hatte: Sie nahm dies als Ergebnis des Juni-Aufstandes und nicht als Folge des Neuen Kurses wahr und zudem nicht mit ergebener Dankbarkeit. 301 So berichtete der Oberbürgermeister der Stadt Görlitz an den Rat des Bezirkes Dresden, daß „die im Zuge der Durchführung der Beschlüsse des Ministerrates verbesserte Warenbereitstellung [...] mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit hingenommen wird". 302 Besonders die Arbeiter in großen volkseigenen Betrieben demonstrierten ihr gewachsenes Selbstbewußtsein, indem sie ihre Forderungen nach weiteren sozialen und betrieblichen Verbesserungen mit mehr oder weniger deutlichen Hinweisen auf einen neuen 17. Juni verbanden. In einigen Betrieben blieb es nicht bei derartigen Andeutungen oder Drohungen: Es wurde bereits wieder gestreikt. 303 Einige Gewerkschaftsvorstände unterstützten die Betriebsbelegschaften bei ihren Forderungen nach Verbesserung der Lebenslage. So wollten sie offenbar die Arbeiterschaft davon überzeugen, daß sie aus dem 17. Juni die Lehren gezogen und sich zum „Interessenvertreter" der Arbeiterklasse entwickelt hätten. Nachdem am 7. Juli in der Gewerkschaftszeitung „Tribüne" ein Artikel mit der Überschrift „Zentralvorstand der Gewerkschaft Handel beschließt Forde-

3 0 0 Ende Juli 1953 begann in Westberlin die kostenlose Lebensmittelverteilung für die Bewohner Ostberlins und der DDR. Und die DDR-Bevölkerung nahm diese Aktion an. Bald waren ca. 2 Millionen Pakete auf Personalausweise der D D R ausgegeben. Damit begann ein neuer Konflikt zwischen der SED-Führung und der Bevölkerung heranzureifen. Denn es paßte schlecht in das Bild des Arbeiter- und Bauern-Staates, der auch für die westdeutsche Bevölkerung attraktiver werden wollte, wenn seine Bürger Lebensmittelspenden aus dem kapitalistischen Teil der Welt annahmen und dazu extra nach West-Berlin reisten. Unter der Losung: „Wer vom Ami frißt - stirbt daran!" machte die SED-Führung dagegen mobil. 301 Vgl. Rat der Stadt Görlitz, Situationsbericht Nr. 2 vom 10.7.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 27). 3 0 2 Rat der Stadt Görlitz, Situationsbericht Nr. 3 vom 17.7.1953 (SächsHStA, BT/RdB, 441, Bl. 26). 303 Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 128ff.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

553

rungsprogramm" erschienen war, gerieten jene SED-Funktionäre in Schwierigkeiten, die gegen angeblich „überzogene" wirtschaftliche Forderungen vorgingen und sie als „Feindarbeit" einstuften. So informierte der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Borna, Bezirk Leipzig, das ZK darüber, daß dieser Artikel eine „sehr nachteilige Wirkung" ausgelöst habe. 3 0 4 Überall würden nur Forderungen gestellt. Im Tagebau des Kombinates „Otto Grotewohl" in Böhlen wurde die Heraufsetzung der niedrigen Lohngruppen gefordert, anderswo die Zahlung von höheren Prämien u. ä. Die Gewerkschaft Lehrer und Erzieher hatte einen 13-Punkte-Forderungskatalog vorgelegt. Selbst Schüler der SEDKreisparteischule Altenburg versuchten, die Partei zu erpressen. Einer erklärte: „Wenn meine Frau nicht sofort Lebensmittelkarten erhält, gehe ich unverzüglich von der Schule." Der 1. Kreissekretär schlug vor, „daß man mit diesem sogenannten Forderungsprogramm etwas vorsichtiger ist. Wir können das sonst nicht mehr bewältigen. Man kann die Forderungen nicht mehr alle erfüllen, erreicht vielmehr das Gegenteil." Die Politbürokratie erkannte offenbar, daß ihre Politik von Zuckerbrot und Peitsche nicht die erwünschte Wirkung erreicht hatte, nämlich die Einstellung der Proteste und die Unterstützung des Kurses der SED. Sie mußte sich eine neue Variante der Krisenbewältigung einfallen lassen. Nach der 15. ZK-Tagung ging sie nunmehr zielgerichteter und systematischer gegen jede tatsächliche oder angebliche Opposition vor, wobei den Betriebsbelegschaften eine stärkere Rolle zukommen sollte. Ulbricht rief deshalb die Karl-Marx-Städter Parteiaktivisten am 30. Juli dazu auf, die „faschistische Untergrundbewegung", die sich in Betrieben gebildet habe, zu isolieren und zu zerschlagen. Es sei falsch, „wenn Genossen etwa denken, daß sind Fragen, die die Staatssicherheit erledigen soll. Nein, das sind die politischen Aufgaben aller bewußten, demokratischen Kräfte, diese feindlichen Untergrundorganisationen aufzudecken, sie ausfindig zu machen, offen in der Belegschaftsversammlung und der Abteilungsversammlung die Auseinandersetzung zu führen und sie so zu schlagen, daß die Arbeiter sehen: Mit diesen Feinden muß man im Betrieb Schluß machen. Das ist der Weg, wie wir zu innerer politischer Festigung in den Betrieben kommen." 3 0 5 Mit dieser Strategie sollten gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden. Auf die Staatssicherheit, die im Zusammenhang mit dem Sturz von Minister Wilhelm Zaisser in die Kritik geraten war, sich nicht genügend um die Bekämpfung der Feinde gekümmert zu haben, konnte und wollte sich die SED-Führung nicht völlig verlassen. Vielmehr wollte sie die Betriebsbelegschaften, die sich bisher mehrheitlich geweigert hatten, angebliche Rädelsführer und Provokateure den Staatsorganen zu übergeben, in die Pflicht nehmen. Als Gegenleistung stellte sie eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen in Aussicht. 304 Vgl. SED-KL Borna, Information an die BL, o.D. (SächsStAL, SED I V / 4 / 0 2 / 1 2 6 ) . 305 SED-BL Karl-Marx-Stadt, Parteiaktivtagung vom 30.7.1953 (SächsStAC, SED I V / 2 / 2 / 4 , Bl. 86).

554

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Nachdem Ulbricht am 30. Juli in Karl-Marx-Stadt die Parteiaktivisten zur Entlarvung der „faschistischen Untergrundorganisation" aufgerufen hatte, schwor er am folgenden Tag die Leipziger Bezirksparteiorganisation auf diesen Kurs ein. 306 Die Leipziger Parteiaktivisten nahmen im Beisein Ulbrichts eine Entschließung zur Auswertung der 15. ZK-Tagung an. 3 0 7 Hierin dankten sie zunächst dem ZK mit Ulbricht an der Spitze für die Zerschlagung der feindlichen Fraktion Herrnstadt/Zaisser. Anschließend versicherten sie: „Die Zerschlagung dieser Bestrebungen ist die Voraussetzung, um die aus dem Sumpfund Stinkpfuhl des Ostbüros und anderer Spionagezentralen vergifteten Kreaturen zu entlarven und erbarmungslos zu bekämpfen. Für die Leipziger Parteiorganisation bedeutet der Hinweis in der Erklärung des ZK über das Bestehen faschistischer Untergrundorganisationen, an der eine Reihe verbürgerlichter SPD-Leute beteiligt sind, eine wertvolle Hilfe, um die feindlichen Agenturen zu zerschlagen." Das Parteiaktiv empfahl den leitenden Organen im Bezirk, „sofort mit der systematischen Auswertung des 15. Plenums des ZK zu beginnen, um die Partei weiter zu festigen im Kampf gegen die Feinde der Arbeiterklasse und des deutschen Volkes." Am 10. August kam Ulbricht abermals nach Leipzig, um an einer Sitzung der SED-Bezirksleitung teilzunehmen, die unter dem Motto „Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei" stand. 3 0 8 Es ging dabei offenbar um die Erläuterung des ZK-Beschlusses „Mit den Massen gegen den Feind". 309 Fröhlich zog in seinem Referat zunächst Bilanz über die Realisierung des Neuen Kurses. Er informierte u. a. über das zusätzliche Bauprogramm im Bezirk in Höhe von 361 Mio. Mark und darüber, daß weitere 8 Mio. Mark für die Instandsetzung der Straßen und für kulturelle Zwecke bereitgestellt seien. Der Hauptteil seines Referates galt jedoch dem Kampf gegen „Provokateure". Fröhlich behauptete, daß sich in einigen Leipziger Betrieben, z. B. in der SAG Bleichert, in den volkseigenen Betrieben LES, Galvanotechnik, BBG, Bauunion und bei der LVB das „Ost-Büro" etabliert habe. Ulbricht gab anschließend praktische Hinweise für die Entlarvung der „Provokateure". Er verteidigte das schnelle und kompromißlose Vorgehen gegenüber der Arbeiterschaft und plädierte dafür, den „ideologischen Kampf" gegenüber der „Intelligenz" „behutsamer" zu führen: „Hier müssen wir ein bißchen mehr Zeit haben, das können wir nicht so

3 0 6 Vgl. SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung, 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 ) . 307 Vgl. SED-BL Leipzig, Entschließung des Parteiaktivs vom 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 47ff.); die folgenden Zitate ebd. Bl. 47, Bl. 49. 3 0 8 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 1 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) . 3 0 9 Auf einen solchen Beschluß ging die SED-BL mehrfach ein, ohne den genauen Inhalt und das Datum des Beschlusses zu nennen. Aus Formulierungen Ulbrichts in seinen Reden in Karl-Marx-Stadt und Leipzig geht hervor, daß dieser Beschluß auf die 15. ZKTagung zurückgeht. Kowalczuk/Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden" S. 7 2 , nennen im Zusammenhang mit der Aktion „Zerschlagung der faschistischen Untergrundorganisationen" den Beschluß des ZK der SED vom 4 . 8 . 1 9 5 3 (Dokumente der SED, Bd. IV, S. 479ff.). Dieser Beschluß zielte aber hauptsächlich auf die sogenannten Paketabholer ab.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

555

schnell machen, wie in den Betrieben, wo wir diskutiert und die Leute schon herauswarfen [sie!]. Aber bei der Intelligenz müssen wir etwas gründlicher machen [sie!], das kostet etwas mehr Zeit." 3 1 0 Auch wenn solche Formulierungen wie Ironie klingen, so hatte die Taktik von „teile und herrsche" langfristig Erfolg. Von nun an setzte eine monatelange „erbarmungslose" Abrechnung mit dem „Sozialdemokratismus" ein, der in Leipzig auf Grund seiner Geschichte und Tradition ein Zentrum hatte. 311 Zunächst organisierten die SED-Funktionäre den Kampf gegen „Agenten des Ostbüros", d.h. gegen ehemalige Sozialdemokraten, die noch betriebliche Funktionen und Einfluß auf die Belegschaften ausübten. Den Auftakt sollte der SAG-Betrieb Bleichert bilden, wo der Parteisekretär Schumacher vor den Parteiaktivisten Ulbricht darum bat, das ZK möge bei der Entfernung einer „Gruppierung" von Agenten mithelfen, da „man" ihm bislang den Auftrag erteilt habe, „nichts zu unternehmen". 3 1 2 Dabei spielte er offenbar auf eine Empfehlung der Staatssicherheit an. Schumacher, der zugleich Mitglied der SED-Bezirksleitung war, bot die Gewähr dafür, daß die Betriebsparteileitung auf Vordermann gebracht werden konnte. Er hatte sich besonders aktiv für die Verhaftung von „Rädelsführern" eingesetzt und machte bereits seit längerer Zeit den „Sozialdemokratismus" für alle Probleme in seiner Parteiorganisation und im Betrieb verantwortlich: selbst für die Nichterfüllung der Produktionspläne, für längere Pausen der Belegschaft u. ä. 313 Anfang Juli bezeichnete Schumacher vor der SED-Bezirksleitung seinen Betrieb „als Schlupfwinkel aller möglichen Elemente", „die sich am 17. Juni dann hervortaten: Ehemalige Offiziere bis zum Ritterkreuzträger, gestrandete Funktionäre unserer Partei, vor allem die Reaktion, die Opposition innerhalb

310 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BLvom 1 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) . 311 Unter „Sozialdemokratismus" fiel alles, was nach dem Parteiverständnis der SED-Führung nicht zu einer marxistisch-leninistischen Partei paßte. Für die SED-Bezirksfunktionäre war es „Sozialdemokratismus", wenn SED-Mitglieder ihren Parteibeitrag nicht pünktlich und in der richtigen Höhe bezahlten, wenn Versammlungen, Schulungen und andere Veranstaltungen nicht regelmäßig besucht wurden, wenn weiterhin offene Kritik an der SED-Führung geübt wurde und wenn angeblich unrealistische wirtschaftliche Forderungen diskutiert wurden. Auch wenn SED-Mitglieder sich weigerten, Kollegen als „Provokateure und Agenten" zu melden, war das Sozialdemokratismus. Gleichzeitig wurde auch der Kreis der Personen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni als „Provokateure und Rädelsführer" einzustufen waren, ausgedehnt. Neben Angehörigen der Streikleitung und anderen sogenannten Rädelsführern des 17. Juni gehörten alle diejenigen dazu, die sich nach dem Aufstand „feindlich" gegen die SED, die Regierung und die Sowjetunion geäußert, Verbindung nach Westberlin aufgenommen und dort sogenannte „Ami-Pakete" in Empfang genommen hatten. Aber auch Mitglieder der SED, die als „Beitragsbummelanten" geführt wurden oder die die Parteibeitragszahlung in „der richtigen Höhe" verweigerten, fielen nach dem Selbstverständnis der SED-Führung in die Kategorie „Provokateure". 312 Vgl. SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 31.7.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 ) . 313 Vgl. ebd.

556

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

der Arbeiterklasse". 314 Im Beisein Ulbrichts, der ihm „aus dem Herzen gesprochen" habe und dem er für seine „großen Belehrungen dankte", erklärte Schumacher nun, daß der „Sozialdemokratismus [...] immer wieder die Entwicklung des Betriebes" behindert habe. 315 Der SAG-Betrieb Bleichert mit rund 6 500 Belegschaftsangehörigen war einer der ersten Betriebe, der am 17. Juni in Leipzig gestreikt, und einer der letzten, der den Streik eingestellt hatte. Auch nach der erzwungenen Beendigung des Aufstandes war die Stimmung im größten Leipziger Betrieb sehr explosiv. Deshalb sollte in diesem Betrieb die Auftakt-Belegschaftsversammlung stattfinden, die den Beschluß über die fristlose Entlassung eines Kollegen und seine Übergabe an die „Staatsorgane" zu fassen hatte. Die Aktion wurde von der Betriebsparteiorganisation längere Zeit vorbereitet. Zu jenen SED-Mitgliedern, die zuerst in die Schußlinie gerieten, gehörte Richard Haider. Seine Biographie bot sich geradezu an. Der 63jährige war seit 1914 im Betrieb, zunächst als Schmied und zuletzt als stellvertretender Hallenchef. Er war 1912 in die SPD eingetreten, war in den zwanziger Jahren Mitglied des Vorstandes des Deutschen Metallarbeiterverbandes und hatte nach 1945 in Leipzig die SPD wieder mit aufgebaut. Danach gehörte er zu den Kritikern der schnellen Vereinigung von SPD und KPD, wurde aber im Jahre 1946 mit der Vereinigung Mitglied der SED. Von 1945 bis 1948 war er Vorsitzender des Betriebsrates bei Bleichert und hatte sich in dieser Funktion allseitig Anerkennung bei der Belegschaft erworben. Er war bereits 1948 in den Verdacht der Agententätigkeit für das Ostbüro geraten, als Angehörige des Leipziger „Volkshauskreises" als „Agenten" verfolgt und verhaftet wurden. 316 Einige seiner sozialdemokratischen Kampfgefährten konnten sich damals durch die Flucht nach Westberlin einer Verfolgung entziehen. Haider kam damals mit einem blauen Auge davon und erhielt lediglich eine Parteistrafe. Angeblich stand er noch immer in Verbindung zu seinen ehemaligen Kollegen und über sie in Kontakt zum Ostbüro. Haider sollte deshalb nach 41 jähriger Zugehörigkeit zur SPD/SED aus der Partei ausgeschlossen werden. Allerdings konnte man ihm, was den 17. Juni betraf, nichts anhängen, da er vom 15. Juni bis Anfang Juli 1953 Urlaub genommen hatte. Jedoch hatte er unmittelbar vor seinem Urlaub auf einer SEDFunktionärskonferenz zum Neuen Kurs im Betrieb die Meinung vertreten: „Walter Ulbricht ist ein großer Politiker und ein hervorragender Parteiorganisator. Aber er ist nicht der Staatsmann, der er sein müßte. Und warum, er hat so viel sowjetische Schulung erhalten und handelt manchmal sehr formal.

314 SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 7. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 8 ) . 315 Vgl. SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 31. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 86). 316 Zum „Volkshauskreis" vgl. Rudioff, Michael/Adam, Thomas, unter Mitarbeit von Jürgen Schlimper: Leipzig - Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996, S. 2 2 4 - 2 2 9 .

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

557

Deshalb auch die vielen Rückschläge in unserer Arbeit." 3 1 7 Nach Auffassung des Parteisekretärs hatte er sich damit „als Feind der Partei selbst entlarvt". Weiterhin warf ihm der Parteisekretär vor, daß sich in seiner Abteilung „Provokateure entwickelt" hätten, darunter auch SED-Mitglieder, die z. B. die Auszeichnung Ulbrichts als „Held der Arbeit" kritisierten. Offenbar waren sich die verantwortlichen SED-Funktionäre darüber im klaren, daß dieses Parteiverfahren sowohl im Betrieb als auch in der Stadt allerhand Staub aufwirbeln würde. Nachdem der Parteisekretär Rückendeckung von der Bezirksleitung gegen Haider erhalten hatte, befaßte sich die Parteileitung der SAG Bleichert mit dem Parteiausschluß. Sie begründete ihn wie folgt: „Haider hat seine parteifeindliche Haltung bewiesen [...]. Er nahm offen gegen Walter Ulbricht Stellung." 318 Auf dieser Leitungssitzung gab es auch andere Meinungen, so gab ein Mitglied zu bedenken, daß Haider nach 1945 die SPD im Stadtbezirk wieder aufgebaut hatte. „Jetzt wäre er der einzige der alten SPD-Genossen, der noch übrig geblieben wäre." Das Parteiausschlußverfahren begann, u n d die Angriffe wurden immer schärfer. So berichtete der Parteisekretär von einer Aussprache mit Haider, in der dieser erklärt habe, er hätte „sich noch 1949 bei einem Parteiausschluß gehängt", heute aber würde er sich „nichts daraus machen". Das veranlaßte den Parteisekretär zu der Feststellung: „Ich denke, damit hat er selbst sein Urteil gesprochen, wohin er gehört". 3 1 9 Am 8. August fand im Betrieb eine SED-Mitgliederversammlung statt, die den Ausschluß Haiders als „Parteifeind und Agent" beschloß. 3 2 0 Anwesend waren Funktionäre der Bezirksleitung, der Kreisleitung und des Stadtbezirks. Z u m gleichen Zeitpunkt waren Angehörige der Kampfgruppen in jener Abteilung eingesetzt, in der Haider als stellvertretender Hallenchef arbeitete. Sie sollten die Belegschaft auf die Festnahme des angeblichen Agenten Haider, ihres stellvertretenden Chefs, vorbereiten. Im Anschluß fand eine Abteilungsversammlung statt, die von der Parteileitung des Betriebes angesetzt worden war. Z u r Diskussion stand der Inhalt eines Flugblattes, das als Fazit der Mitgliederversammlung ausgegeben wurde. 3 2 1 Es sollte die „Agententätigkeit" Haiders verurteilen und gegenüber der Belegschaft den Parteibeschluß untermauern. Der „Agent und Heuchler" Haider besitze die „Dreistigkeit", sich als „revolutionärer Arbeiter und Interessenvertreter der Arbeiterklasse" aufzuspielen. Tatsächlich habe er in seiner Vergangenheit zum „rechtesten unter317 SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 31. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 72); die folgenden Zitate ebd. 318 SED-BPO Bleichert, Auszug aus dem Protokoll der Leitungssitzung vom 8. 7 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , Bl. 207); das folgende Zitat ebd. 319 SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung, 31. 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 2 / 9 1 , Bl. 7 2 ) . 3 2 0 Vgl. Volkspolizeirevier (B) der SAG Transmasch, Werk Bleichert, Stimmungsbericht der SAG Transmasch, Werk Bleichert vom 8. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , Bl. 111). 321 Flugblatt: „Das sind sie, die Wölfe im Schafspelz - die Agenten im Schlosseranzug", o.D. (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , Bl. 104); die folgenden Zitate ebd.

558

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

nehmerhörigen Flügel der SPD", zu den Befürwortern des 1. Weltkrieges gehört und somit dem Kaiser geholfen, „Millionen Arbeiter in die Massengräber zu treiben". Ferner sei er während der Nazidiktatur, „als die ehrlichen revolutionären Arbeiter in die Zuchthäuser und KZ geworfen wurden", im Betrieb unangetastet geblieben und „von der Gestapo auf lange Sicht als Agent in den Reihen der Arbeiterklasse vorbereitet" worden. Nach 1945 habe er sich gegen die Vereinigung gestellt und an einer illegalen SPD-Organisation mitgearbeitet. Haider habe, so der Höhepunkt der Vorwürfe, im Betrieb „eine Agentur der Kriegshetzer aufgebaut. Er deckte und tarnte Faschisten." Abschließend wurde die Belegschaft aufgefordert: „Genossen und Kollegen Werktätige! Die Feinde haben sich in unsere Reihen eingeschlichen. Unter der Maske eines ehrlichen Arbeiters leisten sie ihre Wühlarbeit, um uns in eine neue Katastrophe zu treiben. Jagt sie aus den Betrieben hinaus und übergebt sie den Organen der Staatsmacht! Helft mit, die feindlichen Agenturen in unserem Betrieb restlos aufzudecken und zu zerschlagen. Wir wollen Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus. Vorwärts zu neuen Erfolgen." Auch für andere Betriebe wurden derartige Flugblätter gedruckt. 3 2 2 In der Abteilungsversammlung kam es zu „heftigen Diskussionen", wie der Betriebsschutz feststellte. 323 Denn „der größte Teil der Versammelten" zweifelte die Wahrheit der Darstellung an. Offensichtlich fand man dann einen fragwürdigen Kompromiß, als ein Brigadier in der Belegschaftsversammlung erklärte, daß die Arbeiter der Abteilung 11 bereit seien, die Agenten und Provokateure den staatlichen Organen zu übergeben, wenn konkretes Beweismaterial für ihre Agententätigkeit unterbreitet werde. 3 2 4 Doch die SEDParteileitung wartete nicht ab, bis die geforderten Beweise geliefert wurden. Die Verhaftung Haiders war beschlossene Sache. Nach der Belegschaftsversammlung nahmen zwei Angehörige der Kampfgruppe Haider fest und übergaben ihn zunächst dem Betriebsschutz, einige Stunden später wurde er der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit überstellt. Am nächsten Tag wurde der Haftbefehl erlassen. Die Staatssicherheit vermerkte in ihrem Bericht vom 10. August, Haider sei „wegen sozialdemokratischer Fraktionsbildung und Agententätigkeit im Auftrag des Ostbüros der SPD zur weiteren Untersuchung eingeliefert" worden. 3 2 5 Als „Beweismittel" war der Bezirksverwaltung jenes Flugblatt der SED-BPO SAG Bleichert vorgelegt und eine „Anzahl Zeugen" benannt worden, die angeblich die Agententätigkeit bestätigen könnten. Doch in diesem Zusammenhang stellte der MfS-Bericht fest: „Durch die stattgefundenen Untersuchungen und Vernehmungen der [...] Zeugen konnte dem beschuldigten Haider keine Agententätigkeit nachgewiesen werden. Die Zeugen haben 3 2 2 Z.B. für RAWEngelsdorf in SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 6 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 1 4 6 ) . 3 2 3 „Jagt die Agenten aus den Betrieben!" In: LVZ vom 12.8.1953, S. 3. 324 Ebd. 3 2 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht vom 10. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , BA, Bl. 19).

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

559

während der Vernehmung nicht konkret ausgesagt, sondern haben nur Vermutungen zugrunde gelegt, welche nicht als Beweis der Verbrechen dienten." Die Zeugen hatten vor der Staatssicherheit lediglich bestätigt, daß Haider ein „Verfechter des Sozialdemokratismus" sei. Die Staatssicherheit gelangte zu der Einschätzung, „daß der Beschuldigte Haider von 1945 bis zur Inhaftnahme ein parteischädigendes Verhalten an den Tag gelegt hat [...]. Eine Agententätigkeit konnte dem Beschuldigten noch nicht nachgewiesen werden, da während der operativen Arbeit und der Untersuchungsarbeit keine Beweise zustande k a m e n . " 3 2 6 Selbst die Zeugen, die Haider belasten wollten oder sollten, kamen nicht umhin, die bösartigen Anschuldigungen, die seine Haltung während der Nazizeit betrafen, zu entkräften. Sie bestätigten, daß er „fast täglich [...] an Diskussionen beteiligt gewesen ist, welche gegen die nazistische Gewaltherrschaft gerichtet waren." Der MfS-Bericht stellte als Fazit fest: „Um in Z u k u n f t politischen Gegnern und Agenten westlicher Organisationen das Handwerk legen zu können, wäre es angebracht, vor der Verhaftung mit dem zuständigen Staatsorgan deren Grundlagen zu überprüfen. Der Vorgang ist nach dem jetzigen Überblick als antidemokratisches Verbrechen zu bewerten, welches nach dem Artikel III A III der Direktive 38 zur Anklage gebracht werden kann." Trotzdem formulierte die Bezirksverwaltung als „Zielsetzung der Untersuchungsbehörde die Entlarvung des Beschuldigten Haider als Agent". Die Staatssicherheit legte den Überprüfungsvorgang „Polyp" für zwölf Personen an, die mit Haider in Verbindung gestanden hatten - ehemalige Sozialdemokraten und Leute, die dem Volkshauskreis zugerechnet wurden und setzte drei geheime Informanten auf diese G r u p p e an. 3 2 7 Am 12. August berichtete die Leipziger Volkszeitung, wie die Arbeiter der SAG Bleichert angeblich mit den „Organisatoren der Provokation des 17. Juni" aufgeräumt hätten, und nahm sich speziell des Falls Haider a n . 3 2 8 Die Zeitung führte als „Beweis" für dessen Vergehen daifür an: „Nach dem 17. Juni ließ Haider die Katze aus dem Sack und begann, ebenso wie Zaisser und Herrnstadt, im Auftrag des Ostbüros, den Kampf gegen den proletarischen Kern der Parteiführung, indem er versuchte, den Genossen Walter Ulbricht zu verleumden." Alle Leipziger Parteiorganisationen sollten sich den Kampf der Parteiorganisation der SAG Bleichert zum Vorbild nehmen. Die Leipziger Volkszeitung forderte: „Jagt diese Agenten und Provokateure aus den Betrieben und übergebt sie den Staatsorganen, denn das ist die Voraussetzung für neue große Erfolge in unserem Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus." Die Untersuchungen im Fall Haider dauerten bis Dezember 1953. Im Oktober war eine „Brigade der Bezirksverwaltung" für drei Wochen im Betrieb, um 3 2 6 Ebd., Bl. 20; die folgenden Zitate ebd. 327 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Einschätzung der Lage in den Betrieben auf der Linie des Ostbüros der SPD und Konzernverbindungen vom 17.1.1954 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 115, Bl. 22). 3 2 8 Vgl. „Jagt die Agenten aus den Betrieben!" In: LVZ vom 12. 8 . 1 9 5 3 , S. 3; die folgenden Zitate ebd.

560

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

den „SPD-Agenten" Haider zu entlarven. 329 Die Verhöre und Zeugenbefragungen erbrachten indes wiederum keine Beweise, 330 so daß die Zielstellung der Staatssicherheit, Haider als Agent zu entlarven, nicht erfüllt wurde. 331 Die Staatsanwaltschaft des Bezirkes Leipzig klagte Haider nach Art. 6 der Verfassung (Boykotthetze) an, wobei der Strafvorschlag auf fünf bis sechs Jahre Zuchthaus lautete. 332 Am 4. Dezember verurteilte das Bezirksgericht Leipzig unter dem Vorsitz von Oberrichterin Gerlinde Trautzsch Haider zu sieben Jahren Zuchthaus. 3 3 3 Er wurde im Jahre 1956, kurz vor seinem 66. Geburtstag, aus der Haft entlassen. 334 Wenige Tage nach dem Parteiausschluß Haiders tagte erneut das Sekretariat der SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt und beriet über die bisherigen Ergebnisse im Kampf gegen Provokateure und Agenten. Die Genossen waren mit dem erreichten Stand nicht zufrieden und konstatierten, daß „eine ganze Reihe von Parteileitungen [...] sich vor den Auseinandersetzungen fürchten". Der 1. Kreissekretär forderte deshalb, man müsse in den Stadtbezirken „systematisch damit beginnen, die Straßen und Häuser durchzugehen, damit wir auf die Nester kommen." 3 3 5 Auf der nächsten Sitzung des Kreissekretariats am 18. August resümierten die Leipziger Funktionäre zunächst, daß viele Versammlungen bisher nicht zum Erfolg geführt hätten, weil viele Mitglieder vor öffentlichen Auseinandersetzungen zurückschreckten und keine Namen nennen wollten. 336 Daraus folgerte die Kreisleitung: „Dieses Zurückweichen vor den Namensnennungen und dem Kampfführen ist der Sozialdemokratismus." Man müsse vielmehr, so der 1. Kreissekretär, „planmäßig und systematisch die Sauställe ausräumen". Nur so könne sich das Parteileben entfalten. „Überall dort, wo die Feinde nicht entlarvt werden, gibt es kein Vorwärtsschreiten", lautete die Losung der Kreisleitung. Das Kreissekretariat beauftragte die Stadtbezirksleitungen bis zum 21. August mit der Vorlage eines Planes für den systematischen Kampf gegen die feindlichen Agenturen und Provokateure. Der kurzfristige Termin war offenbar nicht zu halten, denn am 25. August fehlten die geforderten Pläne in einer ganzen Reihe von Stadtbezirken. Deshalb wurde als neuer Termin der 31. August gesetzt. 337 Anfang September 3 2 9 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Brigadearbeit bei SAG Bleichert, vom 2 7 . 1 0 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 55). 3 3 0 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht, betr.: UV Nr. 4 9 / 5 3 Haider, Richard, vom 13. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , BA, Bl. 22). 331 Vgl. ebd., Bl. 23. 3 3 2 Vgl. Staatsanwaltschaft des Bezirkes Leipzig, Anklageschrift (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , Bd. 3, Bl. 119). 3 3 3 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes, Sitzungsbericht vom 1 2 . 1 2 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , BA, Bl. 35). 3 3 4 Vgl. Personenbez. Unterlagen, o . D . (BStU, Ast. Leipzig, AU 4 6 / 5 4 , Bd. 3, Bl. 197). 3 3 5 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 1 1 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/089). 3 3 6 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung v o m 1 8 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) ; die folgenden Zitate ebd. 337 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 5 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, S E D IV/5/01/089).

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

561

reichten die Stadtbezirksleitungen die geforderte Pläne ein. In der Zwischenzeit befaßten sich die Leipziger Spitzenfunktionäre regelmäßig mit der Aufgabenstellung und gaben konkrete Regieanweisungen 3 3 8 für die „Kampagne zur planmäßigen und systematischen Entlarvung der Feinde". Die Pläne sollten bestimmte Schwerpunktbetriebe u n d einzelne Maßnahmen mit konkreten Terminen ausweisen. In der Regel wurde der 1. Sekretär der Stadtbezirksleitung verantwortlich gemacht. Für besonders wichtige Betriebe waren noch zusätzlich Instrukteure der Bezirks- bzw. Kreisleitung eingesetzt. Die verantwortlichen Funktionäre sollten zuerst mit den SED-Betriebsparteiorganisation und mit den Leitungen der Wohnparteiorganisationen Kontakt aufnehmen, um die Vorbereitungen abzustimmen. Kommissionen sollten Material über die in den Vorabsprachen als „Feinde" eingestuften Personen sammeln. Für einzelnen Betriebe standen „Materialien" der Kreisparteikontrollkommission zur Verfügung, die sie zusammen mit der Staatssicherheit für die Aufdeckung der „Träger der Agententätigkeit und Agentenzentralen" erarbeitet hatte, so u. a. für die Betriebe BBG, Bleichert, LES und Bauunion. 3 3 9 Das waren jene Betriebe, die von der Bezirksleitung für den Kampf gegen das Ostbüro auserkoren waren. 3 4 0 Bei „kaderpolitischen Untersuchungen" sollte besonders darauf geachtet werden, daß die „Argumentationen hieb- und stichfest sind und in den Abteilungsversammlungen, Belegschaftsversammlungen mit den richtigen Argumenten gearbeitet werden kann, um die Arbeiter von der Richtigkeit der Entlarvung und Entfernung der Feinde aus dem Betrieb zu überzeugen". 3 4 1 Alle Vorbereitungen liefen „streng vertraulich" ab. Die Staatssicherheit sollte bereits in die Vorbereitungen eingeschaltet werden, wie sie es nach dem „Fall Haider" gefordert hatte. So war es kein Zufall, daß am 12. August 1953 in der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig eine Z u s a m m e n k u n f t mit den operativen Mitarbeitern stattfand, die als Betriebssachbearbeiter in Leipziger Schwerpunktbetrieben eingesetzt waren. 3 4 2 Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung, Oberleutnant Geyer, informierte diese zunächst über eine Besprechung mit Walter Ulbricht, der „die bisherigen Fehler in der Arbeit der Stasi - vor allem in Bezug auf die Entlarvung von SPD-Gruppierungen - aufgezeigt" hatte. Anhand der Auseinandersetzungen in der SAG Bleichert mit „einer G r u p p e von SPDLeuten" gab Oberleutnant Geyer Anweisungen für eine systematische Arbeit

3 3 8 Vgl. ebd.; vgl. auch SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 1. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) . 3 3 9 Vgl. SED-KL Leipzig, Analyse der KPKK vom 12.9.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/269). 3 4 0 Vgl. SED-KL Leipzig, Material Nr. 2, Betrifft: LBH-BBG, vom 15.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 341 SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 1. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) ; im folgenden vgl. ebd. 342 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Protokoll über die Besprechung mit den Gen. operativen Mitarbeitern der Abt. III vom 12. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 136); die folgenden Zitate ebd.

562

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

des MfS in den Betrieben. Der ßetriebssachbearbeiter in der SAG Bleichert, ein Oberfeldwebel Schirr, ein junger Mann von 29 Jahren, arbeitete seit 1952 „operativ" im Betrieb. 343 Allerdings charakterisierte ihn sein Abteilungsleiter als einen Mitarbeiter, der nur wenig Eigeninitiative entwickle und unselbständig arbeite. Er war im Fall Haider nicht aussagefähig, weil er dessen Vergangenheit nicht kannte. 3 4 4 Deshalb verlangte Geyer von den Betriebssachbearbeitern, daß zukünftig „über jede angefallene Person im Betrieb eine Akte", eine „Entwicklungskartei", angelegt werden müsse. Darin sollten alle „negativen Erscheinungen registriert werden". Wörtlich führte er aus: „Es kann so sein, daß eine Person einen Witz erzählt, der sich gegen Persönlichkeiten unseres Staates richtet oder gegen unsere Gesellschaftsordnung. Das ist der erste Hinweis. Der Betreffende wird bei irgendeiner Gelegenheit wieder auffallen, und so muß man nach und nach negative Erscheinungen registrieren [...]. In den Betrieben kann man nur durch eine systematische Arbeit zum Erfolg kommen." Es dürfe nicht wieder passieren, „daß die Partei mehr weiß als wir". 3 4 5 In diesem Zusammenhang verwies er auf die positiven Erfahrungen der Staatssicherheit in der SAG Wismut, die bereits nach dieser Methode arbeite. Das sei auch ein Grund gewesen, weshalb es im Wismut-Gebiet am 17. Juni nicht zu Streiks gekommen sei. 346 In der Besprechung kamen auch Probleme in der Zusammenarbeit zwischen den MfS-Betriebssachbearbeitern und den Betriebsparteisekretären zur Sprache, die auf Kompetenzstreitigkeiten zurückgingen, etwa wer wem Informationen zur Verfügung zu stellen habe. Um diese Streitigkeiten abzustellen, seien die Parteisekretäre von der Kreis- bzw. Bezirksleitung angewiesen worden, „gut mit uns zusammenzuarbeiten [...]. Auch wir werden von uns aus gewisse Dinge der Partei zur Kenntnis bringen, wenn wir das für erforderlich halten." 347 Aber offenbar sollten die Parteisekretäre nicht alles wissen, denn bei auftretenden Problemen sollte Paul Fröhlich direkt informiert werden. Um die Aktion der SED abzusichern, erstellte die Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Anfang September sogenannte Querschnittsanalysen für Schwerpunktbetriebe, u. a. für Bleichert 348 und für die Leipziger Eisen- und Stahlwerke. 349 Auf dieser Grundlage legte die Staatssicherheit am 8. September eine „Analyse der Schwerpunkte des 17. Juni 1953 in der

343 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Querschnittsanalyse der SAG Bleichert vom 3. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 7f.). 344 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Protokoll über die Besprechung mit den Gen. operativen Mitarbeitern der Abt. III vom 12. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 136). 345 Ebd., Bl. 139. 3 4 6 Vgl. ebd., Bl. 137. 347 Ebd., Bl. 138. 3 4 8 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Querschnittsanalyse der SAG Bleichert vom 3. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 7 - 1 2 ) . 349 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Querschnittsanalyse der Leipziger Eisenund Stahlwerke vom 3. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 13-16).

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

563

Industrie" vor. 3 5 0 Sie enthielt für 18 Betriebe aus der Stadt und dem Landkreis Leipzig jeweils kurze Darstellungen über den Verlauf des 17. Juni und ausführliche Informationen zu den Belegschaftsangehörigen, die als „Rädelsführer" verhaftet und verurteilt bzw. wieder freigelassen und danach operativ bearbeitet worden waren. Zum Schluß wurden die Maßnahmen und Ziele der weiteren „Bearbeitung" formuliert. So war beispielsweise für drei Beschäftigte einer Abteilung in der SAG Bleichen festgelegt: „1. Bearbeitung durch die aus dem Kreis (der unter Beobachtung stehenden Personen) herausgebrochenen Gl, 2. Anwerbung neuer Gl, 3. Zeugenvernehmung zuverlässiger Personen" zwecks „Liquidierung der Provokateure durch Festnahme". 3 5 1 Über das Vorgehen der Staatssicherheit im VEB Elektroguß Leipzig, wo am 18. Juni fünf Belegschaftsmitglieder verhaftet worden waren, weil sie in einer Versammlung „provokatorische Forderungen" erhoben hatten, war folgendes festgehalten: „Alle fünf aufgetretenen Personen wurden am 19.6.53 festgenommen und nach zwölf Tagen aus der Haft entlassen. Nach der Haftentlassung konnte keiner liquidiert werden, da das vorhandene Material zu einer erneuten Festnahme nicht ausreicht. Zur Bearbeitung der angefallenen Provokateure wurde einer davon als Spitzel angeworben. Dadurch ist es möglich, die Personen ständig unter Beobachtung zu halten." 3 5 2 Das MfS informierte auch darüber, wieviele Personen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni verhaftet und ohne Anklage wieder freigelassen worden waren, in den 18 Betrieben als Geheime Informanten verpflichtet worden waren. Von 20 Beschäftigten der SAG Bleichen waren es vier 3 5 3 , insgesamt gab es in diesem Betrieb 13 G L 3 5 4 Im VEB LES waren 15 Gl tätig 3 5 5 , weitere waren in „Arbeit". Insgesamt waren in den 18 Schwerpunktbetrieben 136 Beschäftigte nach dem 17. Juni inhaftiert worden, von ihnen kamen 120 nach einigen Tagen wieder frei, davon warb die Staatssicherheit bis Anfang September 1953 14 als Spitzel an, weitere Personen sollten noch geworben werden. Insgesamt hatte die Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt in den 18 Schwerpunktbetrieben ein Netz von 154 Gl geknüpft. 3 5 6 Die Bezirksverwaltung kritisierte in der „Analyse", daß die Aufgaben zur Bekämpfung „der besonders in Leipzig stark vorhandenen ehemaligen SPDMitglieder" bisher vollständig außer acht gelassen worden seien 3 5 7 und räumte an anderer Stelle selbstkritisch ein: „Bisher wurden nicht alle erkannten 3 5 0 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Analyse der Schwerpunkte des 17. Juni 1953 in der Industrie vom 8. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 1 4 2 - 1 5 2 ) . 351 Ebd., Bl. 144. 3 5 2 Ebd., Bl. 145. 3 5 3 Vgl. ebd., Bl. 142. 3 5 4 Vgl. BV fur Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Querschnittsanalyse der SAG Bleichen vom 3. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 8). 3 5 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Querschnittsanalyse der Leipziger Eisen- und Stahlwerke vom 3. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 14). 3 5 6 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Bericht über die durchgeführte Kontrolle in der Abt. III vom 1. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 34). 357 Vgl. ebd., Bl. 38.

564

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Schwerpunkte intensiv bearbeitet. Auf der Grundlage dieser Analyse werden nach Abschluß der Messe die Maßnahmen erarbeitet, die zur Liquidierung der Provokateure f ü h r e n . " 3 5 8 Das bedeutete auch die Intensivierung der Anwerbung neuer Zuträger in den Betrieben. Bereits Mitte September 1953 registrierte die Abt. III der Bezirksverwaltung 213 Gl. 3 5 9 Zur selben Zeit legten die Stadtbezirksleitungen die geforderten Pläne vor. Sie standen unter Überschriften wie: „Kampfplan des Stadtbezirkes für die systematische Entlarvung der in den Betrieben befindlichen Feinde und Agenten", „Plan zur Entlarvung der Feinde unserer Regierung und unserer Partei" oder einfach „Kampfplan" bzw. „Einsatzplan". 3 6 0 So sah der „Kampfplan" des Stadtbezirkes 8 beispielsweise vor, in elf Betrieben systematisch Feinde und Agenten zu entlarven. 361 In diesem Stadtbezirk waren mehrere Betriebe angesiedelt, in denen nach Meinung der SED-Bezirksleitung „Agenten des Ostbüros" ihr Unwesen trieben, z. B. im VEB BBG, im VEB LES, in der Bauunion. In dem Plan waren Termine, Namen von angeblichen Agenten und Feinden sowie Einzelheiten über den Verlauf von Belegschaftsversammlungen festgelegt. Er enthielt auch Namen von Referenten für Versammlungen, er regelte die Teilnahme von Kampfgruppenangehörigen und den Einsatz von Funktionären aus den Stadtbezirken, der Stadt und dem Bezirk. Auch der zeitliche Ablauf der Kampagne wurde in derartigen Plänen genau festgehalten. So sah der Terminplan z. B. für die Auseinandersetzungen im VEB Leipziger Wollkämmerei, die vier Feinde entlarven und „unschädlich machen" sollte, wie folgt aus: 3 6 2 Für die Woche vom 6. bis 12. September Leitungssitzung der SED-BPO und Festlegung einer Untersuchungskommission. Die Kommission, bestehend aus sieben Personen, sollte nicht nur Material über die laut Plan zu entlarvenden Feinde sammeln, sondern möglicherweise weitere Gegner aufdecken. Für den 12. September war die Berichterstattung der Kommission vor der Parteileitung geplant. In der folgenden Woche sollte die Belegschaftsversammlung stattfinden. Im Plan war weiterhin festgelegt, daß der Werkleiter das Referat auf der Versammlung halten sollte. Ferner: „Um von vornherein die Möglichkeit einer Feindaktion auszuschalten, wird eine Kampfgruppe aus anderen Betrieben anwesend sein, um gegebenenfalls die notwendige Hilfestellung zu leisten." Ähnliche Festlegungen zum Einsatz von Kampfgruppen sind auch in anderen Plänen zu finden. Im „Kampfplan" einer SED-Stadtbezirksleitung in Leipzig heißt es: „Der Einsatz 3 5 8 BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Analyse der Schwerpunkte des 17. Juni 1953 in der Industrie vom 8. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 152). 3 5 9 Vgl.-BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Einschätzung der Arbeit mit der Agentur vom 19. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 2 5 ) . 3 6 0 Die Pläne sind im Bestand der SED-KL Leipzig überliefert (SächsStAL, SED IV/5/01/483). 361 Vgl. SED-Stadtbezirk 8, Betrifft: Kampfplan vom 7 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/483). 3 6 2 Vgl. SED-Stadtbezirk 14, Plan zur Entlarvung der Feinde unserer Regierung und unserer Partei vom 8. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) .

Die Diffamierutigs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

565

der Kampfgruppen in den genannten Schwerpunktbetrieben wird dazu führen, in unserem Stadtteil alle Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben durch eine intensive Auseinandersetzung von der Kraft der Arbeiterklasse zu überzeugen. Es soll damit erreicht werden, daß die Arbeiter allen Saboteuren und Agenten das Handwerk legen und die Arbeiter davon überzeugt werden, alle feindlichen Elemente zu entlarven und aus den Betrieben zu entfernen." 3 6 3 Im Grunde genommen ging es um die massive Einschüchterung der Belegschaften durch die Demonstration der angeblichen Macht der Arbeiterklasse. Die Belegschaftsversammlungen, die den Höhepunkt und vorläufigen Abschluß dieser Kampagne bilden sollten, fanden unter verschiedenen „Vorwänden" statt. In der Regel gab man vor, über die Realisierung des Neuen Kurses Rechenschaft abzulegen. Das tatsächliche Ziel war jedoch die Zustimmung der Belegschaft zur fristlosen Entlassung der Betroffenen aus dem Betrieb und zum Ausschluß aus dem FDGB. Handelte es sich um „Provokateure" aus Wohngebieten, dann sollten die Hausbewohner, nach konkreten Vorgaben der Kreisleitung, einen Beschluß fassen, wonach sie es ablehnten, „mit diesen Feinden weiter zusammenzuwohnen". 3 6 4 In der Regel fanden solche Belegschaftsversammlungen ohne die Betroffenen statt, einige waren bereits oder erneut festgenommen worden, andere hatten sich durch eine Flucht nach Westdeutschland einer drohenden Inhaftierung entzogen, manche hatten von sich aus gekündigt. Wenn letzteres der Fall war, dann sollte nach ihrem Verbleib gesucht werden. So waren von dreizehn im VEB BBG zu entlarvenden Provokateuren mindestens vier nicht mehr-in der DDR. Auch in den Fällen, wo die zur Disposition stehenden Belegschaftsangehörigen bereits inhaftiert oder geflüchtet waren, sollten Beschlüsse über fristlose Entlassungen herbeigeführt werden. Damit sollten die Repressionsmaßnahmen nachträglich mit den Stimmen der Kollegen abgesegnet werden. Als in der Belegschaftsversammlung des VEB LES über das Schicksal eines Inhaftierten abgestimmt werden sollte, kam aus der Belegschaft heraus die Frage, warum der Beschuldigte nicht anwesend sei. 3 6 5 Er könne doch von Sicherheitsorganen zur Versammlung vorgeführt werden. Auf einen solchen Antrag war der Versammlungsleiter nicht vorbereitet. Nach Rücksprache mit Funktionären erklärte er dann, daß die Sicherheitsorgane dazu keine Zeit hätten. Es gab ferner die Festlegung, ein „entlassener Provokateur" dürfe in keinem anderen volkseigenen Betrieb wieder eingestellt werden. 3 6 6 Falls das bereits geschehen war, veranlaßten die zuständigen SED-Leitungen die erneute Entlassung. 3 6 7 Viele Betroffene hatten deshalb keine andere Möglichkeit mehr, ihre 363 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung 6, Sitzung des Sekretariats vom 3.9.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 364 SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 11. 8.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 9 ) . 365 Vgl. SED-BPO LES, Aktennotiz über Belegschaftsversammlung vom 20.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) . 366 SED-KL Leipzig, Vertrauliche Verschlußsache, An die 2. Sekretäre der SED-Stadtbezirksleitungen, vom 8. 9.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) 367 Vgl. SED-KL Leipzig, Aktennotiz, o. D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 4 ) .

566

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Existenz und die ihrer Familien zu sichern, als die Heimat in Richtung Westdeutschland zu verlassen. Auch die SED-Bezirksleitung registrierte, „daß die Feinde in großen Scharen nach Westdeutschland abhauen". 3 6 8 So seien in Leipzig allein vierzehn „Provokateure aus vier Stadtbezirken nach Westdeutschland abgehauen". Daraufhin ordnete Fröhlich an: „Ich möchte bis morgen eine Übersicht haben, in welchen Stadtbezirken sind sie abgehauen und aus welchen Betrieben. Das ist doch unmöglich. Wie kann die Staatssicherheit die Feinde abhauen lassen. Die Verhaftungen müssen ansteigen, aber nicht die Republikflucht." Trotz konkreter Regieanweisungen und perfekter Inszenierung verliefen nicht alle Versammlungen nach Plan. Oftmals mußten Belegschafts- bzw. Parteiversammlungen wiederholt werden, weil das vorgesehene Ergebnis nicht zustande kam. Das war auch in der SAG Bleichert der Fall, nachdem nach Richard Haider weitere angebliche Provokateure und Agenten entlarvt werden sollten. 369 Die Parteiversammlungen dauerten mitunter bis zu sieben Stunden, einige mußten teilweise viermal angesetzt werden, bis das gewünschte Ergebnis zustande kam. 3 7 0 Die Auseinandersetzungen zogen sich über Monate hin. Besonders in der Schweißerei der SAG Bleichert, die den höchsten Parteianteil aufwies, gab es Schwierigkeiten. Fröhlich bezeichnete diese Abteilung als „eines der größten Tummelfelder der feindlichen Ideologie". 371 Der feindlichen Ideologie wurden insbesondere jene Genossen bezichtigt, die sich dagegen gewehrt hatten, daß Haider bereits in der Öffentlichkeit als „Agent des Ostbüros" bezeichnet wurde, obwohl kein Beweismaterial für seine angebliche Agententätigkeit vorgelegt werden konnte. In anderen Betrieben verließ ein Teil der Belegschaft bereits vor der Abstimmung die Versammlung. So sollten am 24. September im VEB Thalysia Leipzig sechs „Provokateure" auf Beschluß der Belegschaft entlassen werden. Der sogenannte Haupträdelsführer E. war unmittelbar vor der Versammlung ver368 Vgl. SED-BL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/3/147); die folgenden Zitate ebd. 369 Der „Kampfplan" des Stadtbezirkes 12 sah für den Betrieb Bleichert vor, 11 Betriebsangehörige - einschließlich Haider - als „Feinde" fristlos zu entlassen; vgl. SEDStadtbezirk 13, Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben, vom 5. 9.1953 (SächsStAL. SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) . Alle gehörten der SED an. Darunter war auch *°ner 18jährige Genosse, der sich gegen die Auszeichnung Ulbrichts als „Held der Arbeit" ausgesprochen hatte. Den meisten wurde vorgeworfen, daß sie die „Plattform Haider" vertreten würden. Die Sekretariate der SED-KL, der Stadtbezirksleitung und die PKK des Stadtbezirkes waren in die Vorbereitung und Durchführung der Aktion „Haider" einbezogen. Die SED-BPO bereitete „alles zur Entlarvung und Entfernung der Partei- und Staatsfeinde" vor. Doch die Parteibasis verweigerte den Gehorsam. Bis zum 5. September konnten im Werk I erst vier Betriebsangehörige als „Partei- und Staatsfeinde" aus dem Werk und drei aus der SED entfernt werden. Selbst ein Mitglied der zentralen Parteileitung sei „versöhnlerisch" aufgetreten. Dafür sollte er seiner Funktion enthoben enthoben werden und eine Verwarnung erhalten. 370 Vgl. SED-BL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 21.10.1953 (SächsStAL, SED IV/2/2/92). 371 Ebd.

Die Diffamierungs-

und Verfolgungskampagne

in

Leipzig

567

haftet worden. Ihm wurde seine SS-Vergangenheit vorgehalten. Doch damit nicht genug: Um ihn vor der Belegschaft unmöglich zu machen, warf man ihm vor, er habe sich im Jahre 1933 an einer Minderjährigen vergangen. 372 Von den beschuldigten Personen nahmen fünf an der Versammlung teil und wehrten sich persönlich gegen die Anschuldigungen. Sie ernteten nach ihren Diskussionsbeiträgen „starken Beifall", während die Belegschaft zu den Ausführungen der Werkleitung schwieg. 373 Viele Belegschaftsmitglieder waren mit der Entlassung der fünf Kollegen nicht einverstanden, so daß die Hälfte der Belegschaft vor der Abstimmung die Versammlung verließ, „um sich der Verantwortung zu entziehen", wie der SED-Berichterstatter feststellte. 374 Die andere Hälfte stimmte nach seinen Worten mit „knapper Mehrheit für die Entfernung dieser Schädlinge". Auch die anwesenden Angehörigen der Kampfgruppen konnten nicht verhindern, daß die Versammlung anders als geplant verlief. Sie hatten noch vor der Abstimmung der Belegschaft alle „Nachteile" aufgezeigt, die der Verbleib solcher „Schädlinge" im Betrieb bedeuten würde: Sie würden die Leistungen hemmen und die Verdienstmöglichkeiten mindern. 3 7 5 Am nächsten Tag setzte die Stadtbezirksleitung im Betrieb 40 Agitatoren aus anderen Betrieben ein. Doch selbst diese vertraten die Auffassung, ihr Einsatz sei zu „massiv" gewesen. 376 In der Belegschaft, vor allem unter den jüngeren Mitarbeitern, hieß es: „Heute sind es die, und bei der nächsten Aktion sind wir dran." 3 7 7 In der Versammlung eines Leipziger Betriebes kam zunächst kein Beschluß zur fristlosen Entlassung eines Kollegen zustande. 3 7 8 Deshalb stellten Angehörige der Kampfgruppen aus anderen Betrieben diesen Antrag. Da das so nicht geplant war, erkundigte sich der Versammlungsleiter beim BGL-Vorsitzenden, ob das statthaft sei. Dazu ist im Protokoll zu lesen: „Der Gen. Versammlungsleiter verstand nicht, was volkseigener Betrieb heißt, daß es unsere Betriebe sind und jeder klassenbewußte Arbeiter eines VEB das Recht hat zu beantragen, in unseren volkseigenen Betrieben arbeiten wir mit Provokateuren nicht zusammen und diese sind zu entfernen." 3 7 9 Das war offenbar

372 Vgl. SED-KL Leipzig, Belegschaftsversammlung bei Thalysia am 2 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 373 Vgl. SED-KL Leipzig, Aktennotiz über Belegschaftsversammlung im VEB Thalysia, o . D . (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 374 Vgl. SED-Stadtbezirk 7, Betr.: Entlarvung von Provokateuren im VEB Thalysia, vom 2 5 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) ; das folgende Zitat ebd. 375 Vgl. SED-KL Leipzig, Aktennotiz über Belegschaftsversammlung im VEB Thalysia , o.D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 376 Vgl. SED-Stadtbezirk 7, Betr.: Entlarvung von Provokateuren im VEB Thalysia, vom 2 5 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 377 SED-Stadtbezirk 7, Betr.: Entlarvung von Provokateuren im VEB Thalysia vom 2 5 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 378 Ebd. 379 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 3 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/2/3/147).

568

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

kein Einzelfall, auf diese Weise „beförderten" Angehörige der Kampfgruppen auch in der Großbuchdruckerei Leipzig einen „Provokateur" aus dem Betrieb. Fröhlich lobte in diesem Zusammenhang die Kampfgruppen für ihren Anteil bei der Entlarvung der Feinde. Nach der Auseinandersetzung bei Bleichert kam dem VEB BBG besondere Bedeutung zu. In diesem Betrieb waren damals 3 421 Personen beschäftigt, davon gehörten 580 der SED an. 3 8 0 Obwohl das Werk der wichtigste Produzent landwirtschaftlicher Maschinen in der DDR war und so eine Schlüsselstellung für die SED-Landwirtschaftspolitik besaß, gab es bis Oktober 1953 keinen MfS-Betriebssachbearbeiter. 381 Im Januar 1954 befand sich die sogenannte Agentur im Aufbau, bis dahin waren bereits vier Gl geworben, zwei weitere befanden sich in Vorbereitung. 382 Als die Auseinandersetzungen mit den angeblichen Agentengruppen des SPD-Ostbüros in diesem Betrieb beginnen sollten, hatte die Staatssicherheit noch keinen Überblick über den Anteil ehemaliger SPD-Mitglieder an der SED-Betriebsparteiorganisation. 383 Der „Kampfplan" der SED-Stadtbezirksleitung gab zunächst vor, daß dreizehn „Feinde und Agenten" im VEB BBG entlarvt werden sollten, darunter die zwölfköpfige Streikleitung. 384 Später kam ein weiterer Betriebsangehöriger dazu. 3 8 5 Seit dem 10. August liefen die vorbereitenden Maßnahmen für die Belegschaftsversammlung. 3 8 6 Im Vorfeld der Versammlung, die einen Beschluß über die fristlose Entlassung von dreizehn Werksangehörigen annehmen sollte, war es in der BPO zu Widerständen gekommen. 387 Ein Teil der Parteiorganisation widersetzte sich insbesondere dem Parteiausschluß von Schindler, der als Schichtführer im Betrieb tätig war. Karl Schindler, Jahrgang 1893, war - wie Haider - ehemaliges SPD-Mitglied und Betriebsratsvorsitzender. Unter jenen, die gegen seinen Ausschluß aus der SED stimmten, waren ehemalige Mitglieder der SPD. Daneben traten als „Fürsprecher" aber auch solche „Genossen" auf, die als Meister, Abteilungsleiter oder Technologen eine angesehene Stellung innerhalb der Belegschaft einnahmen oder „Verdiente Aktivisten" und „Aktivisten" waren, wie die SED-Mitglieder Weiß, Schirmer, Ungewiß, Lindner. 388 Die Kreisleitung empfahl, diese Leute ebenso als 3 8 0 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung, Betrifft: Analyse über BBG vom 8 . 9 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 381 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Tätigkeit der Brigade Mothes im VEB BBG, vom 2 7 . 1 0 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 4 , Bl. 56). 3 8 2 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Einschätzung der Lage in den Betrieben auf der Linie des Ostbüros der SPD und Konzernverbindungen, vom 17.1.1954 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 115, Bl. 23). 3 8 3 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Betr.: Analyse der Schwerpunkte des 17. Juni 1953 in der Industrie, vom 8. 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 1 5 9 / 0 3 , Bl. 152). 3 8 4 Vgl. SED-Stadtbezirk 8, Kampfplan des Stadtbezirks vom 7 . 9 . 1 9 5 3 , S. lf. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 3 8 5 Vgl. SED-KL Leipzig, Bericht vom 1 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 3 8 6 Vgl. ebd., S. 1. 387 Vgl. SED-KL Leipzig, Material Nr. 2, Betr.: LBH-BBG, vom 15.81953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 6 9 ) . 3 8 8 Vgl. ebd; die folgenden Zitate ebd.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

569

„Stützpunkt des Ostbüros anzusehen und als solche zu behandeln". Im Betrieb war in Abwandlung des Aufrufs der Leipziger Volkszeitung „Jagt die Agenten aus den Betrieben" die Losung „Jagt die SED-Agenten aus dem Betrieb" angebracht worden. Dazu vermerkte die Kreisleitung: „Das ist die Sprache des Schindler und seiner Leute." Am 21. August fand eine dreistündige Belegschaftsversammlung statt, an der ca. 1 500 Betriebsangehörige teilnahmen und die von dem BGL-Vorsitzenden Franke eröffnet wurde. 3 8 9 Er bezeichnete den 17. Juni als den „schwärzesten Tag der deutschen Arbeiterklasse nach 1945". An der Versammlung nahm auch der 1. Bezirksparteichef Fröhlich teil, der „unter großem Beifall" erklärte, die imperialistischen Kriegsbrandstifter hätten am 17. Juni mit allen Mitteln versucht, einen neuen Weltkrieg vom Zaune zu brechen. 3 9 0 Anschließend unterrichtete er die Betriebsangehörigen, daß ein „Haupträdelsführer" des 17. Juni, der im Betrieb bisher als Schlosser tätige Engelbert Saballa, als Agent festgenommen worden sei. Saballa, der seit 1946 im Betrieb tätig und im Oktober 1952 als „Aktivist" ausgezeichnet worden war, hatte zuletzt als Vorsitzender einer Abteilungsgewerkschaftsleitung und Vorarbeiter gearbeitet. Fröhlich bedauerte, daß der Antrag nicht von der Belegschaft gekommen sei. Saballa habe seine Agententätigkeit, „seine Spionage gegen Euch", bereits gestanden. Er sei beim amerikanischen Geheimdienst angestellt gewesen und habe dafür monatlich 500 Westmark erhalten. Auch zwei weitere Mitarbeiter hätten Spionage betrieben und mit ihrer Flucht den Beweis für die Agententätigkeit geliefert. Wie Fröhlich weiter ausführte, sei Karl Schindler aus der SED ausgeschlossen worden, da er Verbindung zum ehemaligen Besitzer des BBG, zum „Kapitalisten Sack", unterhalten habe: „Er war ein Befürworter dafür, diesen Betrieb wieder zurückzuführen in die Hände des Kapitalisten. Ihr sollt selbst entscheiden, ob solche Elemente weiter in Eurem Betrieb tätig sein können." Die Belegschaft müßte sich auch für die Streikleitung „interessieren", „damit es noch herauskommt, daß sie Agenten des amerikanischen Geheimdienstes waren". Bisher sei bereits bekannt, daß drei Mitglieder der ehemaligen Streikleitung „im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes" gearbeitet hätten. Damit waren Engelberth Saballa, Richard Behrendt und Franz Kralik gemeint. Behrendt und Kralik konnten sich durch Flucht nach Westdeutschland noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Schließlich griff Fröhlich auch den Arbeitsdirektor des Betriebes, Rohrmoser, an, der am 17. Juni zur Solidarität mit den Streikenden aufgefordert hatte. Auch in der Verwaltung des Betriebes sei vieles nicht in Ordnung, die Ideologie der „Sackisten" spuke dort herum: „Ihr müßt also Ordnung schaffen in Euerer Verwaltung!" 391 Wenn die Maßnahmen des Neuen Kurses verwirklicht werden sollten, dann sei es „ebenso die heiligste Pflicht der Arbeiterklasse, erbarmungslos gegen die Feinde und 389 Vgl. SED-BPO des VEB BBG, Protokoll über die am Freitag, den 21.8.1953, durchgeführte Belegschaftsversammlung (BStU, Ast. Leipzig, UV 27/54, Bl. 152). 390 Ebd., Bl. 153; die folgenden Zitate ebd. 391 Ebd., Bl. 154; die folgenden Zitate ebd.

570

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

Agenten zu kämpfen, damit sie nicht ein neues 1933 über uns bringen". Damit seien, wie Fröhlich betonte, nicht die ehemaligen Mitglieder der NSDAP und der SA gemeint, „die treu und brav am 17. Juni ihre Pflicht erfüllt haben, die hinter der Regierung stehen". In der anschließenden Diskussion sprachen sich laut Protokoll einige Kollegen und Genossen für die „Entfernung solcher Elemente" aus dem Betrieb aus. Der Leiter der Kaderabteilung, Linke, zitierte aus Briefen, die Karl Schindler 1948 und 1950 dienstlich in die Westzonen bzw. nach Westdeutschland geschrieben hatte. Sie lagen als Durchschrift in den Akten der Verwaltung und sollten die Verbindung Schindlers zum ehemaligen Besitzer beweisen. Außerdem stellte der Kaderleiter den Antrag, die Belegschaft solle sich dafür entscheiden, „die gesamte faschistische illegale Streikleitung aus dem Betrieb fristlos zu entlassen". Später erweiterte er den Antrag dahingehend, neben der Streikleitung auch alle diejenigen aus dem Betrieb zu entlassen, die sich am 17. und 18. Juni provokatorisch betätigt hätten. Nach diesen Anträgen sprach zunächst ein Betroffener, der aus der SED ausgeschlossene Karl Schindler. 392 Er widersprach energisch den Vorwürfen Fröhlichs, er habe den volkseigenen Betrieb BBG wieder an seinen alten Besitzer zurückgeben und am 18. Juni die Errungenschaften der DDR vernichten wollen. Er erinnerte daran, daß er sich nach 1945 in Leipzig für die Einheit der Arbeiterklasse eingesetzt habe. Allerdings konnte er seine. Ausführungen, die ständig von Zwischenrufen des 1. SED-Kreissekretärs unterbrochen wurden, nicht beenden. Im Protokoll ist vermerkt: „Kollege Schindler fiel plötzlich hinter dem Rednerpult um und mußte hinausgetragen werden." 3 9 3 Doch die Diskussion ging weiter. Im Schlußwort unterstellte Fröhlich, daß Schindler nur „Theater gemacht" habe. 3 9 4 Er wollte, so Fröhlich, nur „auf die Tränendrüsen der Arbeiter drücken, um von dieser Seite aus Empfindungen auszulösen, daß er ein anständiger Kerl ist". Tatsächlich jedoch dürfe man sich nicht von Gefühlen leiten lassen. „Gegen die Menschen muß man hart sein, die Euer und das Schicksal Euerer Familie und Kinder am 17. Juni auf das Spiel gesetzt haben." Schließlich faßte die Versammlung, laut Protokoll „einstimmig, unter großem Beifall", den Beschluß, „die gesamte Streikleitung und alle, die sich noch provokatorisch am 17. und 18. Juni verhalten haben, fristlos zu entlassen". 395 In der „Entschließung" hieß es u. a.: „Wenn in unserem Betrieb noch Menschen arbeiten, die mit unseren Gegnern in Verbindung stehen und dadurch bewußt die Schaffung der Einheit Deutschlands und die Erhaltung des Weltfriedens verhindern wollen, dann ist es die Aufgabe aller patriotischen Kräfte, diese Provokateure zu entlarven und sie aus unserem Betrieb zu entfernen, denn wir sind nicht gewillt, noch länger mit solchen Elementen zusammenzu-

392 393 394 395

Vgl. ebd., Bl. 158f. Ebd., Bl. 159. Ebd., Bl. 165; die folgenden Zitate ebd., Bl. 166. Vgl. ebd., Bl. 157.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

571

arbeiten." 3 9 6 Anschließend dankten die Arbeiter mit angeblich lang anhaltendem Beifall dem Referenten, dem 1. SED-Bezirkssekretär Fröhlich, für „seine aufklärenden Ausführungen". 3 9 7 In internen Berichten der SED über die Versammlung gibt es allerdings Hinweise darauf, daß nicht alle zustimmten. 3 9 8 So ist dort zu lesen: „fast alle Versammelten hoben die Hände". Auch wurden einige Betriebsangehörige namentlich genannt, die sich nicht an der Abstimmung beteiligten, die Versammlung „mit einer Geste kalter Ablehnung" verließen oder während des Referats von Fröhlich „hämisch grinsten, keinerlei Beifall spendeten". Bereits einen Tag nach der Belegschaftsversammlung lobte die Leipziger Volkszeitung in einem Bericht auf der ersten Seite das Vorgehen. 3 9 9 Vier Tage später erschien erneut ein längerer Artikel. 4 0 0 Unter der Überschrift „Der Agent Saballa und der Opportunist Schindler zogen an einem Strang" erfuhren die Leser, daß auf Beschluß der Belegschaft Provokateure aus dem VEB BBG fristlos entlassen worden seien. Die Zeitung stellte vier angebliche Agenten, die im „Solde des amerikanischen Geheimdienstes standen" vor, ohne allerdings Beweise für diese Behauptungen zu erbringen. Die Flucht von zwei angeblichen „Haupträdelsführern" galt bereits als Beleg für deren Agententätigkeit. Tatsächlich ging die Kampagne weiter. Jetzt standen jene zur Disposition, die sich „provokatorisch" verhalten hatten. Dazu gehörte u. a. der von Fröhlich kritisierte Arbeitsdirektor Rohrmoser. Er war bis Anfang der fünfziger Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen und nicht Mitglied der SED. Bereits am 25. August fand eine Belegschaftsversammlung der Abteilung Arbeit statt, die zu dem „seltsamen Gebaren des Arbeitsdirektors R. Stellung" nehmen sollte. 401 Ihm wurde vorgeworfen, daß er für die Streikenden eingetreten sei und die „provokatorischen Forderungen" unterstützt habe. Als „Verräter an der Arbeiterklasse" wurde Rohrmoser fristlos aus dem Arbeitsverhältnis entlassen. Am 5. September sollte die Abteilung Grauguß einen weiteren „Provokateur" entlarven u n d entlassen, 4 0 2 doch die Versammlung brachte der SED 3 9 6 VEB BBG Leipzig, Entschließungsentwurf vom 2 1 . 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, UV 2 7 / 5 4 , Bl. 167); der Entwurf wurde „einstimmig angenommen" [SED-BPO des VEB BBG, Protokoll über die am Freitag, den 21. 8.1953., durchgeführte Belegschaftsversammlung (BStU, Ast. Leipzig, UV 2 7 / 5 4 , Bl. 165)]. 397 Vgl. VEB BBG Leipzig, Entschließungsentwurf vom 2 1 . 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, UV 2 7 / 5 4 , Bl. 166). 3 9 8 Vgl. SED-KL Leipzig, Entlarvung von Provokateuren bei VEB BBG, 26. 8 . 1 9 5 3 , S. 1 f. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) ; die folgenden Zitate ebd., S. 2. 3 9 9 „Recht so, Arbeiter von BBG!, Wie unsere Werktätigen mit Provokateuren abrechnen müssen." In: LVZ vom 22. 8 . 1 9 5 3 , S. 1. 4 0 0 „Der Agent Saballa und der Opportunist Schindler zogen an einem Strang." In: LVZ vom 2 6 . 8 . 1 9 5 3 , S. 4. 401 Vgl. SED-KL Leipzig, Betr.: VEB BBG Entlarvung des Arbeitsdirektors Rohrmoser, vom 26. 8 . 1 9 5 3 , S. 1 - 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 0 ) ; Zitat ebd., S. 1. 4 0 2 Vgl. SED-Stadtbezirk 8, Betr.: Kampfplan des Sekretariats des Stadtbezirks 8 zur systematischen Entlarvung der noch in den Betrieben befindlichen Feinde und Agenten, o . D . , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) .

572

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

einen „Mißerfolg" ein, denn von ca. 80 anwesenden Kollegen stimmten nur neun für die Entlassung ihres Kollegen Koschinski. 403 Die Kreisleitung Leipzig machte dafür eine „äußerst mangelhafte Vorbereitung" verantwortlich, „90 Prozent der Anwesenden" hätten bis zu Versammlungsbeginn noch nicht einmal gewußt, „um was es eigentlich ging". Zu diesem Zeitpunkt befand sich Engelberth Saballa noch in Untersuchungshaft, weil er angeblich „Verbindung mit einer amerikanischen Agentenzentrale aufgenommen" hatte und „Geld angeboten bekam, wenn er in der DDR Spionagetätigkeit durchführt". 4 0 4 Nach Aussagen Saballas hatte es Anfang 1952 tatsächlich einen Anwerbungsversuch einer amerikanischen Dienststelle gegeben. 405 Er habe Angaben über die Stationierung von ArmeeEinheiten in Leipzig und die Munitionsproduktion in der DDR sammeln sollen, was er aber damals abgelehnt habe. Auch habe er umgehend den Parteisekretär von diesem Vorfall unterrichtet. In den MfS-Verhören gab er dagegen zu, am 18. Juni in einer Belegschaftsversammlung „in einer abfalligen Art und Weise gegen die DDR, gegen den FDGB und seinen Vorsitzenden sowie gegen das Weltfriedenslager gehetzt zu haben". 4 0 6 In diesem Zusammenhang wollte der Vernehmer wissen, wer ihm den Auftrag gegeben hätte, die Arbeiter derartig gegen die DDR aufzuhetzen. Er erklärte darauf, er habe aus eigener Initiative gehandelt. Im Schlußbericht der Staatssicherheit vom 29. September wurde Saballa, obwohl er in allen Verhören die Ausführung von Spionageaufträgen und die Annahme von Geld geleugnet hatte, vorgeworfen, daß er als Agent angeworben worden sei und für Spionageaufträge Geld angeboten bekommen habe. Saballa hatte jedoch stets von einem einmaligen Angebot von 20 Westmark gesprochen. 407 Am Schluß des Berichts vermerkte die Staatssicherheit: „Der Beschuldigte ist nicht in allen Punkten geständig und versuchte durch Umschweife seine verbrecherische Tätigkeit zu verwischen." 408 Am 14. Oktober 1953 erhob der Staatsanwalt des Bezirkes Leipzig Anklage gegen Saballa und forderte „strenge und unnachsichtige Bestrafung für sein schweres Verbrechen". 4 0 9 Am 10. November verurteilte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Leipzig unter dem Vorsitz der Oberrichterin Trautzsch den Angeklagten „wegen Kriegshetze und Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und 4 0 3 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiinformation vom 7 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/483). 4 0 4 BV für Staatssicherheit Leipzig, Verfügung über die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens vom 1 9 . 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Gerichtsakte, AU 2 7 / 5 4 , Bl. 14). 4 0 5 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Verhör vom 19. 8 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Gerichtsakte, AU 2 7 / 5 4 , Bl. 31ff.). 4 0 6 Ebd., Bl. 40. 407 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Schlußbericht vom 2 9 . 9 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Gerichtsakte, AU 2 7 / 5 4 , Bl. 200). 4 0 8 Ebd., Bl. 2 0 5 . 4 0 9 Vgl. Staatsanwalt des Bezirkes Leipzig, Anklageschrift vom 1 4 . 1 0 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Gerichtsakte, AU 2 7 / 5 4 , Bl. 86).

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

573

Organisationen nach Art. 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit §§ 1 und 14 StGB und wegen Propaganda für den Faschismus und Militarismus sowie wegen Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte, die den Frieden des deutschen Volkes gefährden", nach der Kontrollrats-Direktive 38 zu sechs Jahren Zuchthaus. 410 Saballa verbüßte bis Mitte 1956 seine Strafe. Vor seiner Entlassung wurde er als IM geworben, doch wurde er wenige Monate danach „republikflüchtig". Der Schwächeanfall Schindlers in der Belegschaftsversammlung bewahrte ihn offensichtlich vor einem ähnlichen Schicksal. Er kam ins Krankenhaus St. Jacob und lag dort mehrere Wochen. Die Staatssicherheit sah deshalb von einer Festnahme, die bereits von der Belegschaftsversammlung beschlossen worden war, vorläufig ab. 411 Später übte die Staatssicherheit Selbstkritik: „Durch schlechte Arbeit von uns gelang es Schindler, aus dem Krankenhaus zu fliehen und sich nach Westberlin abzusetzen." Besonders hart traf es den fast 56jährigen Albert Marschner, Mitglied der SED. Auch er wurde aus der Partei ausgeschlossen und erhielt die fristlose Kündigung seines Arbeitsverhältnisses. Darüber hinaus beschlossen seine Hausmitbewohner am 10. September, daß die Familie Marschner die volkseigene Wohnung zu räumen hatte, weil sie nicht mit einem „Provokateur" unter einem Dach leben wollten. 412 Seine Frau arbeitete bis zu diesem Tage gleichfalls im VEB BBG. Albert Marschner stand nun ohne Arbeit und ohne Wohnung da und hatte als „Provokateur" auch kaum Aussichten auf neue Beschäftigung und Unterkunft. Auch ihm blieb nur der Ausweg, seine Heimat zu verlassen. Kommentarlos wurde in den SEDUnterlagen vermerkt: „Fristlos entlassen, aus Wohnung ausgewiesen, Parteiausschluß, republikflüchtig." 413 Am 17. Dezember würdigte die SED-Kreisleitung Leipzig-Stadt auf ihrer Sitzung nochmals die „Entlarvung der Agenten-Clique" bei Bleichert und im BBG. 414 Bis zu diesem Zeitpunkt waren im VEB BBG von zwölf Mitgliedern der Streikleitung des VEB BBG drei bereits verurteilt, sechs nach Westdeutschland geflüchtet, alle übrigen fristlos entlassen. 415 Für die Leipziger SED-Funktionäre waren auch die Belegschaften des graphischen Gewerbes höchst verdächtig, weil in diesem Industriezweig „starke

410 Bezirksgericht Leipzig, Urteil vom 1 0 . 1 1 . 1 9 5 3 (BStU, Ast. Leipzig, Gerichtsakte, AU 2 7 / 5 4 , Bl. 139). 411 BV für Staatssicherheit Leipzig, Einschätzung der Lage in den Betrieben auf der Linie des Ostbüros der SPD und Konzernverbindungen, vom 17.1.1954 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 115, Bl. 23); das folgende Zitat ebd. 412 Vgl. SED-KL Leipzig, Zwischenbericht über Häuserblockversammlung, In der Angelegenheit des Provokateurs Marschner, o . D . (BStU, ASt. Leipzig, UV 2 0 1 / 5 5 , Bl. 36). 413 Vgl. SED-KL Leipzig, Formblätter., o . D . (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 414 Vgl. SED-KL Leipzig, Sitzung vom 17.12.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 2 7 ) . 415 Vgl. BV für Staatssicherheit Leipzig, Kontrolle über die eingeleiteten Maßnahmen zur Aktion Bollwerk der BV, Abt. III, vom 12.6.1954 (BStU, Ast. Leipzig, Leitung, 159, Bl. 83).

574

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Reste des Sozialdemokratismus vorhanden" waren. 4 1 6 Der Zentralvorstand der Gewerkschaft IG Druck und Papier stellte im September gleichfalls seinen Mitgliedern die Aufgabe, „die in den polygraphischen Betrieben vorhandenen Agentennester aufzudecken und rücksichtslos zu zerschlagen, denn mit Schädlingen und Faschisten darf es keine falsch verstandene Solidarität geben". 417 Der Gewerkschaftsvorstand nannte in diesem Zusammenhang auch den Leipziger Privatbetrieb Oswald Schmidt. Dieser Betrieb bot sich auch insofern für die Entlarvungs-Kampagne an, weil hier - neben den Traditionen - die Konzentration ehemaliger NSDAP-Mitglieder der Legende vom „faschistischen Putsch" entgegenkam. So verwundert es nicht, wenn im Kampfplan der Stadtbezirksleitung 4 die Buchdruckerei als „Schwerpunktbetrieb" des Stadtbezirkes auftauchte. 4 1 8 Rechtliche Überlegungen zum Vorgehen in einem Privatbetrieb wurden nicht angestellt. Die private Buchdruckerei im Osten Leipzigs war damals ein Betrieb mit 145 Mitarbeitern, darunter 19 Genossen. Der Betrieb war den Leipziger SEDFunktionären bereits vor dem 17. Juni 1953 ein Dorn im Auge gewesen. Sie beklagten sich über „Zusammenziehung reaktionärer Elemente", die bei der VP-Werbung und bei „öffentlichen politischen Veranstaltungen" durch „Pfeifen und unsachliche Diskussionen" aufgefallen waren. 4 1 9 Der Sekretär der Parteiorganisation, Alfred Dunker, bezeichnete den Betrieb als „das Sammelbecken, wo alle diejenigen, die sich wo anders nicht wohl fühlen, beheimatet sein möchten". 4 2 0 Zunächst war geplant, vier Mitarbeiter als „Provokateure" fristlos zu entlassen. Später kamen drei weitere Mitarbeiter, darunter eine Frau, hinzu. Sie wurden alle der Staatssicherheit übergeben. 4 2 1 Im „Einsatzplan" war vermerkt, eine „genaue Analysierung einiger Belegschaftsmitglieder" habe ergeben, daß „von einer Zusammenballung ehemaliger NSDAP-Mitglieder" ausgegangen werden könne. 4 2 2 Drei ehemalige NSDAP-Mitglieder standen bereits auf der Abschußliste; des weiteren sollten zwei Mitarbeiter, die im Rahmen der Parteiüberprüfung 1951/52 aus der SED ausgeschlossen worden waren, fristlos entlassen werden. Für die Belegschaftsversammlung am 9. September war vorgesehen, der schwachen, „vom Sozialdemokratismus befallenen" Betriebsparteiorganisation „mit klassenbewußten kämpferischen Elementen zu Hilfe zu kommen". Ge416 SED Stadtbezirk 4, An die SED-KL Leipzig, vom 3 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/483). 417 „Die Aufgaben der IG Druck und Papier im neuen Kurs", 10. Tagung des Zentralvorstandes. In: FDGB-Informationen, Nr. 1, September 1953. 418 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung 4, Betr.: Einsatzplan für den Kampf gegen Provokateure in den Schwerpunktbetrieben des Stadtbezirks vom 3. 9 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED IV/5/01/483). 419 Ebd. 4 2 0 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiaktivtagung, 30. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 5 6 ) . 421 Vgl. SED-KL Leipzig, Bericht vom 14. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 2 2 SED-Stadtbezirksleitung 4, Betr.: Einsatzplan für den Kampf gegen Provokateure in den Schwerpunktbetrieben des Stadtbezirks vom 3 . 9 . 1 9 5 3 , S. 1 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) ; das folgende Zitat ebd.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

575

plant war der Einsatz von Kampfgruppen in einer Stärke von 130 Mann. Damit waren, selbst wenn die Mehrheit der Druckerei Oswald Schmidt an der Versammlung teilnahm, mehr Fremde im Raum als Betriebsangehörige. Denn zu der Kampfgruppe kamen noch Funktionäre der SED-Kreisleitung, der Stadtbezirksleitung, Parteisekretäre und BGL-Mitglieder aus anderen Betrieben hinzu. 4 2 3 In der Leipziger Volkszeitung war über diese „Hilfe" zu lesen: „Als die Arbeiter des Privatbetriebes Oswald Schmidt nicht die Kraft aufbrachten, die Sache der Arbeiterklasse konsequent gegen die im Betrieb vorhandenen Provokateure durchzusetzen, kam ihnen eine Arbeiterdelegation aus den Betrieben des SB 8 in Leipzig zu Hilfe. In der Diskussion gelang es ihnen, der Belegschaft nachzuweisen, daß sich eine Anzahl Provokateure zwischen ihnen befinden, die laufend eine Hetze gegen die Sowjetunion führten und die Arbeiter gegen die eigene Regierung aufhetzten." 4 2 4 Die Versammlung brachte so das gewünschte Ergebnis. Laut Parteiabrechnung wurden, wie geplant, alle sieben „Provokateure" aus dem Betrieb „entfernt". 4 2 5 Der Parteisekretär sprach später sogar von 14 „feindlichen Elementen", die aus dem Betrieb „hinausbugsiert" werden konnten. 4 2 6 Im Stadtbezirk 4 stand auch die 25. Grundschule auf dem „Einsatzplan für den Kampf gegen Provokateure". 4 2 7 An dieser Schule waren am 17. Juni sieben SED-Mitglieder aus der Partei ausgetreten. Nun waren 46 Lehrer und Erzieher tätig, darunter noch sieben Mitglieder der SED. Bisher war - außer der Versetzung von drei ehemaligen SED-Lehrern an andere Schulen - nichts passiert. Denn keinem der Ausgetretenen konnte nachgewiesen werden, daß er sich direkt am 17. Juni beteiligt hatte. Für den 21. September war eine Lehrerversammlung angesetzt, die den Ausgetretenen „Feindarbeit" nachweisen sollte. Auch hier sollte eine Kampfgruppe in der Stärke von 2 5 Mann teilnehmen, weil die Schulparteiorganisation nicht die Gewähr für eine „klassenmäßige Auseinandersetzung" bot. In Leipzig wurden bis Mitte September nachweislich noch vier weitere Grundschulen (8., 13., 33., 62.), die Leibnitz-Oberschule und die Bibliothekarfachschule in die Kampagne zur „planmäßigen Entlarvung der Feinde" einbezogen. 4 2 8 Betroffen waren neun Lehrer, darunter auch ein Direktor, ein stellvertretender Direktor, eine Pionierleiterin und ein Fachschüler. Während die Lehrer offenbar mit Parteistrafen oder dem Parteiausschluß davon kamen,

4 2 3 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung, Aktennotiz Belegschaftsversammlung Fa. Oswald Schmidt, o.D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 424 „Nur die bessere Durchführung der Mitgliederversammlung führt zu größeren Erfolgen." In: LVZ vom 1 3 . 9 . 1 9 5 3 , S. 4. 4 2 5 SED KL Leipzig, Bericht vom 1 4 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 2 6 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiaktivtagung, 3 0 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 5 6 ) . 427 SED-Stadtbezirk 4, An die SED-KL Leipzig, Betreff: Einsatzplan, vom 3 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 2 8 Zusammenstellung nach ausgefüllten Formblättern; vgl. SED-KL Leipzig, Formblätter der SED-Stadtbezirksleitungen vom September/Oktober 1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/483).

576

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

wurde ein Fachschüler auf Beschluß der Schülerversammlung von der Schule verwiesen. Um die führende Rolle der Arbeiterklasse gegenüber der Intelligenz zu demonstrieren, nahmen Genossen aus der SAG Bleichert - dem Patenbetrieb der 33. Grundschule - an der Auseinandersetzung teil. Sorgen bereitete den Scharfmachern auch der Stand der Kampagne in den Wohngebieten. Das Sekretariat der Kreisleitung Leipzig hatte am 11. August befohlen, „systematisch [...] die Straßen und Häuser durchzugehen", damit die „Agentennester ausgeräuchert werden". 4 2 9 Laut Beschluß der Kreisleitung sollten bis 30. September Hausversammlungen mit dem Ziel durchgeführt werden, „daß die Hausbewohner es ablehnen, mit diesen Feinden weiter zusammen zu wohnen". 4 3 0 In den „Kampfplänen" einiger Stadtbezirksparteileitungen waren deshalb auch Auseinandersetzungen mit „Feinden" in Hausversammlungen vorgesehen, so im Stadtbezirk 4 in den Häusern Schirmerstraße 6 und Zweinaundorferstraße l 4 3 1 sowie im Stadtbezirk 5 in der Auendorferstraße 2, in der Shakespearestraße 3 und in der Mahlmannstraße 16. 432 Zunächst sammelten die SED-Stadtbezirksleitungen Berichte über Hausversammlungen, in denen Bewohner durch angeblich „negative Diskussionen" aufgefallen waren. Doch die meisten Berichte enthielten lediglich die Information, daß bestimmte „feindliche" Argumente aufgetaucht waren, ohne Namen zu nennen. Die Funktionäre der Stadtbezirke ließen daraufhin ermitteln, wer z. B. in der Schirmerstraße 6 gegen den Einsatz der Volkspolizei am „Tag X" aufgetreten sei, wer die letzten Wahlen im Jahre 1950 als „eine Art Viehzählung" bezeichnet hatte. Um das herauszubekommen, wurde eine Hausversammlung für den 7. September mit zehn „Aufklärern" angeordnet. In einigen Wohnhäusern waren die Namen derer bekannt, die „negativ diskutierten". So sollte in der Zweinaundorferstraße 1 gegen den praktischen Arzt Dr. Wirth vorgegangen werden, der in einer früheren Hausversammlung sich u. a. negativ über die Politik der SED und über die Oder-Neiße-Friedensgrenze geäußert hatte. Er hatte auch anwesende „Aufklärer" der Nationalen Front mit seinen Fragen in Schwierigkeiten gebracht und erreicht, daß sich diese vor der Hausgemeinschaft lächerlich gemacht hatten. Die Stadtbezirksleitung berief für den 15. September eine Hausversammlung ein, an der zehn Angehörige der Kampfgruppen teilnehmen sollten. Ob die Rechnung aufging, Wirth auf Beschluß der Mitbewohner aus der Wohnung zu entfernen, läßt sich nicht sagen. Die Auseinandersetzungen hatten erst begonnen. Mitte Dezember berichtete die Kreisleitung darüber, daß im Stadtbezirk 3 eine „Reihe von

4 2 9 SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 11.8.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) . 4 3 0 SED-KL Leipzig, Aktennotiz, o . D . (SächsStAL, SED 1 V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 431 SED-Stadtbezirk 4, An die SED-KL Leipzig, Betreff: Einsatzplan, vom 3. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 3 2 SED-Stadtbezirk 5, An die SED-KL, Betreff: Kampfplan, vom 3. 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) .

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

577

Hausgemeinschaften die Umquartierung solcher Elemente in andere Wohnungen" verlangt hätten. 4 3 3 Die SED-Kreisleitung Leipzig stellte am 8. September eine erste Übersicht über die Ergebnisse der Kampagne in Leipzig zusammen. 4 3 4 Die Stadtbezirksleitungen wurden angewiesen, sie „laufend zu ergänzen". Zu diesem Zwecke sollten die Parteileitungen besser mit den Kaderleitungen und den Parteiorganisationen in den VEB, in den Verwaltungen und Schulen, mit den Massenorganisationen und vor allem mit den Meldestellen der Volkspolizei zusammenarbeiten, um „jede wirtschaftliche, soziale oder wohnungsmäßige Veränderung von Feinden zu kontrollieren und über eventuelle Konzentrationen oder Republikfluchten im Stadtbezirk genau unterrichtet zu sein", um einen „planmäßigen Kampf zur Zerschlagung und Vernichtung dieser Elemente" zu ermöglichen. Die Kreisleitung brachte sogar einheitliche Formblätter für diese Art Planerfüllung in Umlauf, die u.a. die Rubriken: „Auseinandersetzungen, wo? mit wem?", „Grund", „Ergebnis", „Wo befindet sich z. Zt. der Entlassene" enthielten. 435 In den Formblättern waren im wesentlichen drei Kategorien von „Feinden" ausgewiesen: „Agenten", „Provokateure" und „Bettelpaketabholer", wobei die Zuordnung zur ersten oder zweiten Gruppe sehr willkürlich vorgenommen wurde. Am 15. September rechnete die SED-Kreisleitung Leipzig erstmals auf der Grundlage dieser Formblätter die Ergebnisse ab. 4 3 6 Danach wurden in Leipzig 92 Personen „entlarvt" und „an die Luft gesetzt", darunter 89 aus den Betrieben und drei aus ihren Wohnungen. Ein Großteil der fristlos Entlassenen war verhaftet worden. Neben der fristlosen Kündigung des Arbeits- und des Mietverhältnisses hatten die Familien der Betroffenen unter weiteren schlimmen Auswirkungen zu leiden. Sie erhielten keine staatliche Unterstützung, wenn der Ernährer im Zuchthaus saß. Und selbst wenn Ehefrauen in der Lage gewesen wären, sich durch eigene Arbeit zu ernähren, so erhielten sie keine Anstellung. Kinder von „Provokateuren" mußten die Oberschule verlassen, wie z. B. der Sohn von Engelberth Saballa. 437 Auch kam es vor, daß die Mutter eines angeblichen Agenten ebenfalls fristlos entlassen wurde, als ihre Arbeitskollegen aus der Zeitung erfahren hatten, daß ihr Sohn, Oskar Tittel, verdächtigt wurde. 4 3 8 433 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 17.12.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/27). 434 Vgl. SED-KL Leipzig-Stadt, Übersicht über entlarvte und noch zu entlarvende Provokateure und Feinde innerhalb und außerhalb der Partei im Stadtgebiet Leipzig, vom 8. 9.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 8 9 ) ; die folgenden Zitate ebd. 435 Vgl. SED-KL Leipzig, Formblätter (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 436 Vgl. SED-KL Leipzig, Bericht vom 14. 9.1953, S. lf. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 437 Vgl. SED-KL Leipzig, Aktennotiz: Vorkommnisse bei BBG, o . D . (SächsStAL, SED IV/5/01/480). 438 Vgl. „Agent Tittel wollte Aktivist werden, Arbeiter des Kirow-Werkes entfernen einen Provokateur und Agenten aus ihrem Betrieb." In: LVZ vom 24.10.1953, S. 2; vgl. SEDKL Leipzig, Betr.: Entlarvung von zwei Provokateuren HO-ZOO-Gaststätte , o.D. (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) .

578

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Das Schicksal der Betroffenen und ihrer Familien ist bisher nirgends aufgearbeitet. Doch auch das gehört zur Geschichte des 17. Juni 1953. Ebensowenig wurde bisher thematisiert, welche individuellen Auswirkungen die Tatsache hatte, daß die Entlassungen aus Arbeit und Wohnung formal auf Beschluß von Betriebsbelegschaften oder Hausgemeinschaften zustande kamen. Wer einmal solche Versammlungen erleben und über das Schicksal von Kollegen befinden mußte, so spekulierte die SED offenbar, würde sich in Zukunft mit negativen Diskussionen und Handlungen eher zurückhalten. Denn jeder war sicherlich froh, daß es nicht ihn getroffen hatte, zumal viele der angeblichen Provokateure am 17./18. Juni im Prinzip nichts anders gemacht hatten als der Großteil der Belegschaften in zahlreichen Betrieben. Die SED-Führung kalkulierte wohl auch ein, daß bei vielen Menschen, die unter Druck ihre Zustimmung zur fristlosen Entlassungen von Kollegen und Mitbewohnern gaben, ein Schuldgefühl zurückbliebe. Menschen, die eine moralische Schuld auf sich geladen hatten, waren vermutlich eher bereit, an die Legende einer „faschistischen Provokation" oder an die vermeintliche Agententätigkeit ihrer Kollegen zu glauben, um sich selbst ein ruhiges Gewissen zu verschaffen. Tatsächlich hinterließ bei der 53er-Generation die Kampagne zur systematischen und planmäßigen Entlarvung angeblicher Feinde eine traumatisierende Langzeitwirkung und eine tief sitzende Einschüchterung. Die folgende Schilderung einer Belegschaftsversammlung, die einem Wortprotokoll entnommen ist 4 3 9 , vermittelt einen Eindruck davon, welcher Druck damals auf Betriebsangehörigen lastete, als sie über die Zukunft ihrer Kollegen und deren Familien abstimmen sollten. 4 4 0 Laut „Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben" zählte die Volkseigene Handelszentrale (VHZ) Schrott zu jenen acht Betrieben des Stadtbezirkes 13, in denen planmäßig gegen Feinde und Provokateure vorgegangen werden sollte. 441 Der Betrieb beschäftigte im Juni 1953 448 Mitarbeiter, darunter 40 Genossen. 4 4 2 Unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 hatte sich der Werkleiter des

4 3 9 Protokoll über die Belegschaftsversammlung der VHZ Schrott Leipzig am 4 . 9 . 1 9 5 3 , vom 5 . 9 . 1 9 5 3 , S. 1 - 1 4 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 4 0 Außer dem Versammlungsprotokoll wurden weitere Materialien als Ergänzung herangezogen, so u. a. die namentlichen Aufstellungen über Inhaftierte in den UHA der BDVP Leipzig [BDVP-Leipzig, Betrifft: Vorkommnisse am 17.,18. und 19.6.1953, vom 3 . 7 . 1 9 5 3 (SächsStAL, BDVP,24/42, Bl. 229)], ein Bericht der SED-Stadtbezirksleitung an die SED-KL Leipzig-Stadt über die Durchführung des „Kampfplanes" [SEDStadtbezirksleitung 13, Betr.: Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben, o . D . S. 1 - 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) ] , eine von zwei Mitarbeitern des Betriebes unterzeichnete „Aktennotiz zur Lage in der VHZ Schrott am 18.6.1953, 12.30 Uhr" (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 2 / 5 8 9 ) und der Artikel „Nazi-Blockwart Stein hielt die richtige Quittung. Die Kollegen der VHZ Schrott geben ein Beispiel, wie man mit Faschisten aufräumt". In: LVZ vom 12.9.1953, S. 1. 441 Vgl. SED-Stadtbezirksleitung 13, Betr.: Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben, o . D . , S. 1 - 3 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 4 2 Vgl. BDVP Leipzig, Betrifft: Vorkommnisse am 17., 18. und 19. 6 . 1 9 5 3 , vom 3.7.1953 (SächsStAL, BDVP, 2 4 / 4 2 , Bl. 2 2 9 ) .

Die Diffamierungs-

und Verfolgungskampagne

in Leipzig

579

Betriebes nach Westdeutschland abgesetzt. Bei der kaderpolitischen Überprüfung ergab sich, daß im Betrieb ca. 60 ehemalige Nazis beschäftigt waren. Offenbar vergaßen die SED-Funktionäre, daß diese ehemaligen PGs nicht freiwillig in den Betrieb gekommen waren. Sie mußten nach 1945 im Rahmen der Entnazifizierung zunächst im Tagebau arbeiten, später wurden sie zur Arbeitsaufnahme als Schrottarbeiter in der VHZ verpflichtet. 443 Selbst der hauptamtliche Betriebsparteisekretär war Oberfeldwebel in der Wehrmacht und nach seinen eigenen Worten überzeugter Nazi gewesen. 444 Am 17. Juni streikte die gesamte Belegschaft und nahm erst am nächsten Tag um 9.30 Uhr die Arbeit wieder auf. Der Streik der Schrottarbeiter dehnte sich auf weitere benachbarte Betriebe und Baustellen aus. Am Morgen des 18. Juni fand eine Belegschaftsversammlung statt, auf der ein Mißtrauensantrag gegenüber der bisherigen BGL ausgesprochen und in offener Abstimmung eine neue gewählt wurde. Es gab keine Gegenstimmen, lediglich fünf Betriebsangehörige enthielten sich. Die neue Gewerkschaftsleitung bestand aus drei Mitgliedern. Zum Vorsitzenden wurde der 48jährige Dispatcher Georg Richter berufen. Laut Aktennotiz wiesen seine Personalunterlagen über seine Vergangenheit während der Nazizeit überhaupt nichts Belastendes aus. 4 4 5 Bekannt war dagegen, daß er vor 1933 Mitglied der SPD gewesen war, später in die SED eingetreten und 1947 ausgeschlossen worden war. Des weiteren gehörte er der W N an. Richter soll, so die Beschuldigung, in der Versammlung vom 18. Juni gesagt haben, daß er die SED hasse. Noch am selben Tag wurde er festgenommen. Seit dieser Zeit versuchten die übergeordneten SED-Leitungen, die Belegschaft für die Entlarvung der „Staatsfeinde" zu gewinnen. Auf einer fünfstündigen Mitgliederversammlung der SED sei es gelungen, so die Stadtbezirksleitung, „die Genossen an die kämpferische Diskussion heranzuführen, so daß zum Verhalten einzelner Genossen sowie der Feinde innerhalb des Betriebes Stellung genommen wurde". 4 4 6 Nach dieser Parteiversammlung wählte die SED-BPO eine neue Parteileitung, hauptsächlich aus Produktionsarbeitern. Zugleich wurde das SED-Mitglied Jöhrmann aus der Partei ausgeschlossen. Das war gewissermaßen die Vorgeschichte der Belegschaftsversammlung vom September 1953. Im „Plan" der Stadtbezirksleitung standen vier Mitarbeiter der VHZ Schrott als „Provokateure" zur Disposition, darunter auch der von der Belegschaft gewählte BGL-Vorsitzende Richter. Als „Haupträdelsführer" galt jedoch Erwin Vorwerk, ein 56jähriger ehemaliger Gutsinspektor aus Schlesien. Auch ihn hatte die Staatssicherheit festgenommen, er befand sich ebenfalls noch in Haft.

443 Vgl. SED-Kreisleitung Leipzig, Parteiaktivtagung vom 30. 9.1953 (SächsStAL, SED 1V/5/01/056, Bl. 375f.). 444 Gräfe, Horst/Trautmann, Rolf, Aktennotiz, Lage in der VHZ Schrott gegen 12.30 Uhr, 18. 6.1953, S. 2 (SächsStAL, SED IV/2/12/589). 445 Vgl. ebd., S. 1; die folgenden Angaben zu Georg Richter ebd. 446 SED-Stadtbezirksleitung 13, Betr.: Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben, o.D., S. lf. (SächsStAL. SED IV/5/01/483).

580

Die Verfolgung von „ Provokateuren " und „ Rädelsführern "

Außerdem sollten Dietmar Schröder und Otto Stein als Provokateure entlarvt werden. Über Schröder war im „Kampfplan" vermerkt: ehemaliger Schüler der Petri-Oberschule (eine Privatschule, die im Frühsommer 1953 geschlossen worden war), SS-Mann, Fragebogenfälscher, und über Stein: ehemaliger Sekretär bei der Krankenkasse. Nachdem entsprechend der Regieanweisung der SED-Kreisleitung die Voraussetzungen geschaffen waren, fand am 4. September von 16.30 bis 20 Uhr die Belegschaftsversammlung statt. 447 Laut offizieller Einladung waren zwei Tagesordnungspunkte vorgesehen: 1. „Berichterstattung über die Durchführung der Sofortmaßnahmen, 2. Stellungnahme zum Mißtrauensantrag gegen die BGL". An der Versammlung nahmen rund 200 Belegschaftsmitglieder teil, hinzu kamen Vertreter der IG Handel und der SED-Stadtbezirksleitung, während die Betroffenen nicht anwesend waren. Der BGL-Vorsitzende Torge, der durch den Mißtrauensantrag vom 18. Juni zeitweise abgesetzt worden war und jetzt wieder in seiner alten Funktion agierte, leitete die Versammlung und erstattete zunächst einen Bericht über die betrieblichen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen seit dem 17. Juni: Das Kantinenessen sei verbessert worden, des weiteren habe man Maßnahmen zur Eindämmung der Überstunden eingeleitet und auch die geforderte wöchentliche Lohnzahlung realisiert. Auch die Bereitstellung von Arbeitskleidung werde jetzt besser organisiert. Zu diesen Punkten gab es laut Protokoll keine Diskussion. Anschließend leitete der BGL-Vorsitzende zu Tagesordnungspunkt 2 über. Er begann seine Stellungnahme mit der Aufzählung von „Errungenschaften", die die Gewerkschaften für die Arbeiter nach 1945 in der SBZ und später in der DDR erreicht hätten. Schließlich kam er auf die Ereignisse des 17. und 18. Juni im Betrieb zu sprechen und nannte dabei die Namen jener vier Belegschaftsmitglieder, die fristlos entlassen werden sollten. Seine Ausführungen folgten dem Material, das ihm von der Stadtbezirksleitung geliefert worden war: „Der Kollege Richter wollte auf den Barrikaden für die Arbeiter sterben. Der Kollege Vorwerk hat einem Genossen das Parteiabzeichen abgerissen. Auch der Kollege Stein und der Kollege Schröder haben am 17. Juni die Arbeiter aufgehetzt. Besonders der Kollege Schröder ist hier zu nennen. Er hat in einer Privatschule gelernt [...] und außerdem verschiedene Fragebogenfälschungen vorgenommen. Er hat nicht angegeben, daß er im Krieg war, daß er im Ausland war, daß er in der SS war." 4 4 8 Diese Informationen reichten offensichtlich einigen Mitarbeitern nicht aus, denn sie verstanden nicht, warum diese Kollegen im Gefängnis saßen und nun noch fristlos entlassen werden sollten. Sie forderten „nähere Angaben". Daraufhin antwortete der Gewerkschaftsvorsitzende, Vorwerk werde nicht vorgeworfen, Rittergutsinspektor gewesen zu sein, sondern „am 17. Juni gegen die Arbei447 Vgl. die folgenden Informationen zum Ablauf im Protokoll über die Belegschaftsversammlung der VHZ Schrott Leipzig am 4 . 9 . 1 9 5 3 , vom 5 . 9 . 1 9 5 3 , S. 1 - 1 4 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 4 4 8 Ebd., S. 3.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

581

terklasse gehetzt zu haben [...]. Er als ehemaliger Rittergutsinspektor kann niemals die feste Bindung zur Arbeiterklasse haben." 4 4 9 Der nächste Redner empörte sich darüber, daß der Kollege Vorwerk einem Genossen das Parteiabzeichen abgerissen habe. Er beendete seinen Beitrag mit dem Satz: „Wenn ein Arbeiter so etwas sagt [...] und tut, dann ist er nicht wert, in unseren Reihen zu arbeiten." Deutlicher ließ sich das gewünschte Ergebnis der Versammlung kaum formulieren. Doch sofort meldete sich der Kollege Eberhardt als Mitglied jener BGL zu Wort, die durch einen Mißtrauensantrag vorübergehend abgesetzt war. Er meinte: „Ich kenne den Kollegen Richter schon seit vor dem Krieg. Er war immer ein aufrechter Kämpfer unserer Sache und ein guter Arbeiter. Er hat immer für die Partei gearbeitet." Von Richter war bekannt, daß er vor 1933 der KPD angehörte hatte. In der späteren Diskussion griff Eberhardt nochmals ein und versuchte abermals, sich für die zur Disposition stehenden Arbeitskollegen einzusetzen. Wenig später wurde der Antrag gestellt, „daß die Kollegen, welche am 17. Juni die Kollegen des Betriebes aufgewiegelt haben, nichts mehr in unseren Reihen zu suchen haben". Doch es dauerte noch Stunden, bevor über diesen Antrag abgestimmt werden konnte. Immer wieder kamen andere Probleme zur Sprache. Auch die anwesenden Funktionäre der SED-Stadtbezirksleitung und der IG Handel beteiligten sich am Versuch, die Abstimmung herbeizuführen. Zweimal ergriff auch der ehemalige Parteisekretär des Betriebes das Wort, aber er hielt sich mit konkreten Vorwürfen auffallend zurück, seine Argumentation konnte sogar als Entlastung aufgefaßt werden. Denn er bemerkte, daß sowohl Verwaltungsangestellte als auch Abteilungsleiter und Meister nicht in das Geschehen am 17. Juni eingegriffen hätten. Offensichtlich fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Am 18. Juni hatte er in der Versammlung unmittelbar vor der Wahl der neuen Betriebsgewerkschaftsleitung die Belegschaft als „Faschisten" bezeichnet, worauf er beinahe gelyncht worden war. Zwei Tage später wurde er von der SEDStadtbezirksleitung von seiner Funktion „entbunden". Der Betriebsleiter - er war erst nach der „Republikflucht" des vorherigen Chefs eingesetzt worden - hielt eine lange Rede und behauptete, daß mehrere Mitarbeiter aus der VHZ Schrott „aus dem feindlichen Lager einige Anweisungen" erhalten hätten, „die Kollegen" mögen deshalb „ihre Reihen sauber machen von den unsauberen Elementen". 4 5 0 Anschließend griff er namentlich die vier Kollegen an, wobei er auf ihre Vergangenheit in der SS und als Gutsinspektor verwies, um zu dem Schluß zu kommen: „Man hat bewußt den Faschismus fest pflanzen wollen". Im Verlauf der weiteren Diskussion kam unerwartet der Vorschlag, darüber abzustimmen, „ob das Vertrauen der BGL zurückgegeben wird oder nicht". 451 Dies lehnte der BGL-Vorsitzende mit der Begründung ab, daß doch die Diskussion bereits das Vertrauen zur BGL gezeigt habe. Wie geplant formu449 Ebd., S. 4; die folgenden Zitate ebd. 450 Ebd., S. 7; das folgende Zitat ebd., S. 8. 451 Ebd., S. 9.

582

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

lierte ein Vertreter der IG Handel erneut das angesteuerte Ziel: „Wenn wir heute hier aus dem Saal herausgehen, müssen wir mit den Provokateuren Schluß gemacht haben. Dies muß das Ergebnis der Versammlung werden." 4 5 2 Ein anderer Gewerkschaftsvertreter „von außerhalb" machte in seinem Beitrag geschickt auf das „Fehlverhalten" der gesamten Belegschaft aufmerksam. „Einerseits kann ich Euch verstehen, wenn ihr zu den Ereignissen am 17. Juni keine Stellungnahme abgeben wollt. Man ist mal mitgelaufen, und jetzt soll man das auch noch auseinandersetzen. Man muß offen sprechen, damit das Vertrauen untereinander wieder hergestellt ist. Es soll nicht heißen, daß sämtliche Kollegen der VHZ Faschisten sind. Aber eins steht fest: Ihr seid den Faschisten auf den Leim gegangen". Doch trotz aller Anträge und Aufrufe glitt die Diskussion wieder auf andere Fragen ab, ohne zur Abstimmung zu kommen. Deshalb griff der Versammlungsleiter erneut mit der Aufforderung ein, daß sich die Versammlung von den „Rädelsführern" trennen müsse. Danach meldete sich erstmals eine junge Kollegin, Frau Martha Wistop, zu Wort. 4 5 3 Sie war als Stenotypistin tätig, wobei ihr gute fachliche Arbeit bescheinigt wurde. Sie wandte sich „erregt" - so das Protokoll - dagegen, daß wie 1945 erneut eine „Welle von Haß" hochkomme. Sie kritisierte auch, daß „mindestens sechs bezahlte Redner" der SED und des FDGB sich bemüht hätten, „einige Kollegen zu entlassen". Auch befürchtete sie, „die armen Teufel" würden nie wieder Arbeit bekommen. Deshalb forderte sie die Anwesenden auf: „Geben Sie den Kollegen Gelegenheit zur weiteren Arbeit. Es ist eine Menschenpflicht, doch hier ist eine Atmosphäre von Haß." Der nächste Redner wies diese Ausführungen zurück und erklärte, man dürfe nicht „in einen Humanitätsdusel" verfallen. 454 Wichtig sei allein, daß einer dritter Weltkrieg verhindert werde. Das war offenbar das Stichwort für die nachfolgende Rednerin, deren Rede das Protokoll festhielt: „In leidenschaftlichen Worten weist sie die Kollegin W. für ihr Eintreten für die Faschisten zurück und erklärt: Wenn wir die Faschisten nicht in unseren Reihen gehabt hätten, wäre uns auch der 17. Juni erspart geblieben. Sie richtet den Appell an die Versammlung und besonders an die Frauen, die ja das meiste Leid eines kommenden Krieges zu tragen hätten, alles für den Frieden zu tun, damit uns ein 3. Weltkrieg erspart bleibt." An dieser Stelle verließ Frau Wistop „demonstrativ" die Versammlung, wie der Protokollführer vermerkte. Der neue Parteisekretär, der den Leipziger Parteiaktivisten später über seine Erfolge bei der Entlarvung der angeblichen Provokateure berichtete, erklärte hierzu: „Leider hat sich in der Versammlung ein hysterisches Weib gefunden, das von Menschheit und davon faselte, daß man unsere Söhne nicht ins Gefängnis stecken sollte. Wir haben zur Antwort gegeben, daß

452 Ebd., S. 10; die folgenden Zitate ebd. 453 Alle Zitate aus der Rede von Martha Wistop ebd., S. 12. 454 Ebd., das Folgende aus den Reden der Versammlungsteilnehmer ebd.

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

583

man uns 1933 nicht danach gefragt hat. Die Frau war so bedäppert, daß sie fluchtartig die Versammlung verließ." 4 5 5 In der Versammlung war Frau Wistop sogar vorgeworfen worden, sie sei „eine bezahlte Agentin", die ebenfalls entlassen werden müsse. Von da an ging die Versammlung in die gewünschte Richtung. Alle späteren Redner sprachen sich einmütig dafür aus, „die Brüder" zu entlassen. Ein Vertreter der SEDStadtbezirksleitung sprach gar vom „Wendepunkt für den Betrieb VHZ Schrott", vom Ausmerzen der Feinde aus „Menschlichkeit", und schloß mit den Worten: „Wir können einen 3. Weltkrieg verhindern, aber nur, wenn wir uns von solchen Schmarotzern befreien. Ich bin der Meinung, daß morgen die Banditen auf die Straße fliegen, damit wir leben können." 4 5 6 Anschließend forderte der BGL-Vorsitzende Torge: „Werdet alle klassenbewußte Arbeiter, habt Vertrauen zu den Funktionären. So werden auch wir zu einem guten Arbeiten und besseren Leben kommen." 4 5 7 Dann wurde abgestimmt über die fristlose Entlassung der fünf Belegschaftsmitglieder und ihren Ausschluß aus dem FDGB. Das Protokoll vermerkte: „Der Beschluß wurde gefaßt und einstimmig angenommen. Der Kollege Torge erklärt, daß die betreffenden Kollegen am 5. September den Betrieb nicht mehr betreten dürfen." Die SED-Stadtbezirksleitung hielt am nächsten Tag über die Versammlung in der VHZ Schrott fest: „In der Belegschaftsversammlung [...] wurde eine scharfe Klassenauseinandersetzung geführt [...]. Die Atmosphäre [...] war in so hohem Maße offensiv, daß sich im Verlaufe der Durchführung die Gutsbesitzertochter Wistop entlarvte, indem sie eine faschistische Rede gegen die Gewerkschaft und Partei hielt [...] sie verließ nach ihrem Haßgesang fluchtartig die Versammlung, und die leidenschaftliche Stellungnahme einiger Kollegen [...] führte dazu, daß auch die W. fristlos aus dem Betrieb sowie aus der Gewerkschaft geworfen wurde [...]. Dieser Betrieb muß aber weiter im Auge behalten werden, weil nunmehr sich der Kampf dort in erheblichem Maße verschärfen wird." 4 5 8 Deshalb beschloß die Parteileitung, ein Mitglied der PKK als „Kaderleiter" einzusetzen. Diese Belegschaftsversammlung hatte offenbar Wirkung im „Umerziehungsprozeß" gezeigt. Nach Aussage des Parteisekretärs hätten selbst „frühere Nazis [...] in der letzten Stunde der Versammlung", eingesehen, daß sie am 17. Juni Unrecht hatten. Einer dieser so bekehrten ehemaligen Nazis habe sich „mit Abscheu von den Provokateuren abgewendet". Er sei einer der „besten Kollegen geworden". Bei VHZ Schrott sei nach dieser Versammlung die „Arbeit gut vorangekommen". Das kleinste Stück Blech und Eisen werde nun verwertet, es

455 SED-KL Leipzig, Parteiaktivtagung vom 30. 9.1953 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 0 5 6 , Bl. 375). 456 Protokoll über die Belegschaftsversammlung der VHZ Schrott Leipzig am 4. 9.1953, vom 5. 9.1953, S. 13 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) . 457 Ebd., S. 14 (SächsStAL, SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) ; die folgenden Zitate ebd. 458 SED-Stadtbezirksleitung, Betr.: Beschluß Nr. 511 - Kampf gegen Provokateure in den Betrieben, S. 1 (SächsStAL. SED I V / 5 / 0 1 / 4 8 3 ) .

584

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

komme nicht mehr alles unter die „Schrottschere", wie der Parteisekretär versicherte. 459 In den folgenden Wochen und Monaten beschäftigten sich die Funktionäre der Kreisleitung und der Bezirksleitung mehrfach mit der Aktion zur Entlarvung der angeblichen Feinde und Agenten. Da die Stadt Leipzig - neben Altenburg - der Schwerpunkt im Bezirk war, wurden die Erfahrungen der Leipziger Parteileitungen regelmäßig ausgewertet. Die Parteiaktivisten der Messestadt tauschten ihre „guten Erfahrungen" aus und berichteten über ihre Erfolge im Kampf gegen die „Agenten und Feinde." 460 Anfang Dezember resümierten die Leipziger Parteiaktivisten die Ergebnisse bei der „planmäßigen und systematischen Entlarvung der Feinde". 461 Dabei lobte der 1. Kreissekretär die Parteifunktionäre aus den Betrieben, die über die „kämpferischen Auseinandersetzungen" berichtet hatten, und kritisierte in scharfer Form zugleich die Gewerkschaften, weil sie sich bisher zurückgehalten hätten. Ihnen stellte er die Aufgabe, daß sie „den durch die SED eröffneten Kampf gegen die Feinde fortsetzen und dem Parteiaktiv in der nächsten Sitzung berichten, an wieviel Stellen sie Feinde liquidiert haben und damit den Massenwettbewerb in Leipzig entwickelten". Unzufrieden waren die Leipziger Parteifunktionäre auch mit der ungenügende „Entlarvung der Partei- und Staatsfeinde" in den Wohngebieten. Parteiaktivisten hatten zuvor beklagt, es sei schwierig, die Leute zu Haus- oder Wohngebietsversammlungen zu bringen. Das ließ der 1. Kreissekretär nicht gelten. Die Schwierigkeiten zeigten nur, daß dort die Auseinandersetzung mit den Feinden noch nicht vorangekommen sei. Auch sei es falsch, die Auseinandersetzung allein der Staatssicherheit übertragen zu wollen. „Es ist klar, die Staatssicherheit brauchen wir, aber wenn jemand falsche Losungen, feindliche Losungen anbringt, dann setzt man sich mit der gesamten Belegschaft auseinander." Es sei die Aufgabe der „Arbeiterfaust", „für Ordnung zu sorgen". Dann würden sich einige, „die den Feinden nachplappern, sich das sehr wohl überlegen. „Wenige Wochen später befaßten sich die Leipziger Parteifunktionäre erneut mit den Wohngebieten. 462 Sie kamen zu der Feststellung, daß die Kampagne dort nicht so einfach vorankomme wie in den Betrieben, weil sich die 50jährige Tradition und Solidarität der alten Genossen in den Wohngebieten nicht so schnell beseitigen ließe. Doch der Sozialdemokratismus müsse auch dort bekämpft werden. Am 5. November verständigte sich die Bezirksleitung Leipzig in einer Sekretariatssitzung über den Tagesordnungspunkt: „Entfaltung der Aufklärungs-

4 5 9 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiaktivtagung v o m 3 0 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, 1 V / 5 / 0 1 / 0 5 6 , Bl. 376). 4 6 0 Ebd. 461 Vgl. SED-KL Leipzig, Parteiaktivkonferenz vom 4 . 1 2 . 1 9 5 3 (SächsStAL, I V / 5 / 0 1 / 0 5 6 ) ; die folgenden Zitate ebd. 4 6 2 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 15. 12. 1953 (SächsStAL, IV/5/01/092).

SED

SED SED

Die Diffamierungs- und Verfolgungskampagne in Leipzig

585

arbeit zur Verhaftung feindlicher Spionagezentralen". 4 6 3 Wie Fröhlich ausführte, mußten die „Mängeln und Schwächen in der Aufklärungsarbeit" überwunden werden, um die Bevölkerung der DDR zu mobilisieren und das Bewußtsein der „Werktätigen" und ihr Verhältnis zu den „staatlichen Organen" zu festigen. Als Schwerpunkte nannte er die Auseinandersetzung im Schriftstellerverband Leipzig über die parteifeindliche Arbeit des Genossen Erich Loest 4 6 4 , die feindliche Tätigkeit der Kirche 4 6 5 und die Arbeit in den Schulen. Letzteres lag dem Parteibezirkschef besonders am Herzen. Es gelte, „den Sozialdemokratismus in der Denk- und Handlungsweise der Lehrer zu beseitigen". In diesem Zusammenhang kritisierte Fröhlich die „Behäbigkeit" der staatlichen Stellen und den ungenügenden Einfluß der SED in den Schulen. 4 6 6 Offenbar kamen die Leipziger Funktionäre in den Schulen nicht so voran wie in den Betrieben. Noch Mitte Dezember registrierten sie „die größten Schwierigkeiten" in „Kaderfragen" an den Schulen. 4 6 7 Stark verbreitet sei „die Tendenz der utopischen Sozialisten, mit Hilfe der Sittlichkeit die Menschen kurieren zu wollen". 4 6 8 Eine Analyse einer Kreislehrerkonferenz vom September ging davon aus, daß 60 Prozent der Leipziger Lehrer eine „negative Einstellung" hatten. 4 6 9 Einen Monat später beschäftigte sich die Bezirksleitung speziell mit der „Feindarbeit" auf dem Lande. 4 7 0 In dieser Sitzung vertrat Fröhlich die Auffassung, daß der Klassengegner auf dem Lande in der Offensive sei. Im Vordergrund der Aussprachen mit der Bevölkerung hätten wirtschaftliche Fragen gestanden. So sei die zureichende Düngemittel- und Saatgutversorgung als Ursache für die mangelnde Erfüllung der staatlichen Abgabepläne genannt worden. Seiner Meinung nach waren solche Diskussionen „Feindarbeit". Die Landbevölkerung habe noch nicht verstanden, „daß sich hinter dem so harm463 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 5.11.1953 (SächsStAL, SED IV/2/3/150). 464 Die Auseinandersetzungen mit Erich Loest begannen bereits unmittelbar nach dem 17. Juni und erreichten im Herbst 1953 ihren Höhepunkt. Ihm wurde u.a. vorgeworfen, eine „Plattform" gegen die Generallinie der Partei errichtet zu haben und die Entlarvung der „Provokateure" verhindern zu wollen. Deshalb sollte er aus der SED ausgeschlossen werden; vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung der BL vom 1 0 . 8 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 1 / 2 9 ) ; vgl. „Der Fall Loest". In: LVZ vom 16. 9.1953, S. 4. Eine selbstkritische Stellungnahme rettete damals Loest vor dem Parteiausschluß und beruflichen Sanktionen. 465 Die SED bekämpfte vor allem den christlichen Frauendienst und den christlichen Männerkreis. 466 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 5.11.1953 (SächsStAL, SED IV/2/3/150). 467 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 15.12.1953 (SächsStAL, SED IV/5/01/092). 468 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 5.11.1953 (SächsStAL, SED IV/2/3/150). 469 Vgl. SED-KL Leipzig, Sekretariatssitzung vom 8 . 9 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED IV/5/01/089). 470 Vgl. SED-BL Leipzig, Sitzung des Sekretariats vom 10.12.1953 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 1 5 2 ) ; die folgenden Zitate ebd.

586

Die Verfolgung von „Provokateuren" und „Rädelsführern"

losen Gerede in Wirklichkeit der Angriff des Klassenfeindes verbirgt". Deshalb kündigte Fröhlich für das kommende Wochenende erneut „einen gewaltigen Einsatz auf dem Lande" an. Besonders langwierig waren auch die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaften, wobei vor allem die Genossen des FDGB-Bezirks- und Kreisvorstandes Leipzig scharf kritisiert wurden. Mitte November hatte das Sekretariat der Bezirksparteileitung die Gewerkschaftsfunktionäre wegen erheblicher Mängel und Schwächen bei der „Entlarvung der Hintergründe des faschistischen Putsches" und bei der „Entfernung der Provokateure aus den Betrieben und Gewerkschaften" gerügt. 471 Besonders in kaderpolitischen Fragen seien die Genossen des Bezirksvorstandes „versöhnlerisch" herangegangen. Im Januar 1954 mußten die Funktionäre der Gewerkschaften vor dem Sekretariat der SED-Bezirksleitung Leipzig darüber Bericht erstatten, wie sie die „Feindarbeit" in den Gewerkschaften bekämpft hatten. 472 Auf „Empfehlung" des Politbüros wurde Erich Grützner nach Leipzig geschickt und Anfang Februar 1954 zum Vorsitzenden des FDGB-Bezirksvorstandes gewählt. Er hatte zuvor den Lehrstuhl für Gewerkschaftsarbeit an der Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert" geleitet. Seine Aufgabe in Leipzig war es, „den parteiverbundenen Kern der Mitglieder im Bezirksvorstand sowie in den Vorständen der IG und Gewerkschaften zu sammeln und die begonnene Auseinandersetzung mit schwankenden und parteifremden Gewerkschaftsfunktionären weiter bis zu Ende zu führen". 4 7 3 Besonders langwierig gestalteten sich die Auseinandersetzungen in der IG Metall. In der Geschichte der Bezirksparteiorganisation Leipzig aus dem Jahre 1986 ist darüber festgehalten: „Während die IG Bergbau dabei voranging, hielten sich in der IG Metall noch mehrere Jahre opportunistische Positionen, die die Metallarbeiter hinderten, gleich gute Produktionsergebnisse wie die Kohlekumpel zu erzielen." 474

471 SED-BL Leipzig, Mitteilung der Abt. Leitende Organe an das Sekretariat, 1 2 . 1 1 . 1 9 5 3 (SächsStAL, SED I V / 2 / 5 / 3 8 1 ) . 472 Vgl. SED-BL Leipzig, Beratung des Sekretariats mit den Funktionären der Gewerkschaft vom 1 8 . 1 . 1 9 5 4 (SächsStAL, SED I V / 2 / 3 / 3 2 0 ) . 473 Organisator des Aufbaus, S. 2 3 0 . 474 Ebd.

VIII. Schlußbetrachtung Die detaillierte Rekonstruktion des 17. Juni 1953 in Sachsen bestätigt, daß von einem einheitlichen, an allen Orten vergleichbar ablaufenden Juni-Aufstand in der DDR keine Rede sein kann. Dies war lediglich die Lesart der SED-Propaganda, um eine Planung und Steuerung der Demonstrationen durch westliche Agentenzentralen nahezulegen. In Wirklichkeit ist der „äußerst differente regionale Entwicklungsgrad" eines der „markantesten Zeichen der spontanen Erhebung." 1 Während die Einwohner von Berlin, Cottbus, Halle, Dresden, Görlitz, Leipzig oder Madgeburg am 17. Juni mit spontanen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen ihren Forderungen nach Ablösung der Regierung, nach freien Wahlen, der Einheit Deutschlands und der Herabsetzung der Normen Nachdruck verliehen und wenig später mit der bewaffneten Macht der Sowjetunion und der DDR zusammenstießen, wobei Tote und Verletzte zu beklagen waren, gingen die Menschen etwa in Karl-Marx-Stadt, Plauen oder Torgau und in den meisten Dörfern zur selben Zeit scheinbar wie immer ihrer Arbeit nach. Die äußerliche Ruhe da und dort war jedoch trügerisch, denn nach der Veröffentlichung der Politbüroerklärung vom 9. Juni und der Ministerratsbeschlüsse vom 11. Juni zum Neuen Kurs zeigte sich zunehmender Widerstand an allen Orten, in allen Bevölkerungsschichten und selbst an der Basis der SED. Das Eingeständnis von Fehlern durch eine Partei, die nach ihrem Selbstverständnis immer Recht hatte, weil sie sich von den Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin leiten ließ, war eine Sensation. Die Bevölkerung konnte gar nicht umhin, die ungewöhnliche Selbstkritik der Ulbricht-Führung als Schwäche und Unfähigkeit zum Regieren zu deuten. Selbst führende SEDFunktionäre in den Bezirken und Kreisen hatten zunächst keine Erklärungen dafür, daß das, was gestern richtig war, heute falsch sein sollte. Wie sonst üblich hatte ihnen das Zentralkomitee keine schriftliche Argumentationshilfe zu diesem Kurswechsel zur Verfügung gestellt, sondern die Funktionäre sogar ausdrücklich angewiesen, nicht zu argumentieren, sondern lediglich „Stimmungen und Meinungen" zu sammeln. Viele waren in ihrer Parteitreue schlichtweg überfordert, wenn sie beispielsweise die großangelegte Kampagne gegen die Junge Gemeinde von heute auf morgen abbrechen mußten. Vor allem die Parteifunktionäre in den Betrieben sahen sich unbequemen Fragen, ungewohnten Forderungen und mitunter derben Beschimpfungen der Belegschaft ausgesetzt. Die Erläuterung des Zick-Zack-Kurses durch einen Leipziger Parteifunktionär, das Zentralkomitee habe deshalb immer Recht, weil es ein marxistisch-leninistisches sei, zeigte das ganze Dilemma der Situation. Die verständliche Unfähigkeit der Parteikader, den plötzlichen Kurswechsel plausibel zu erläutern, ließ indes in der Bevölkerung Hoffnungen keimen. Auf diesem Nährboden schössen die Gerüchte und Spekulationen über ein bevor1

Diedrich, Zwischen Arbeitererhebung, S. 295.

588

Schlußbetrachtung

stehendes Ende der SED-Herrschaft nur so ins Kraut. Überall kursierten die tollsten Meldungen über die Flucht von Ulbricht und Genossen, über den bevorstehenden Abzug der sowjetischen Truppen, den Einzug der Amerikaner usw. Vielfach war der Wunsch der Vater des Gedankens. Wie immer in ungewissen Zeiten glaubten viele gern an solche Botschaften. Das trug mit dazu bei, daß die Menschen an jenem 17. Juni ihre Ängste vor Repressionen überwanden, um sich sehr schnell und zahlreich an öffentlichen Aufmärschen und Kundgebungen gegen die Diktatur zu beteiligen. Nach dem 17. Juni beteuerten die Funktionäre der SED-Bezirks- und Kreisleitungen immer wieder, sie seien von den Ereignissen völlig überrascht worden, obwohl sie die explosive Stimmung vor allem unter der Arbeiterschaft eigentlich frühzeitig hätten erfassen müssen. In zahlreichen Städten der DDR, darunter in Leipzig und Karl-Marx-Stadt, zeigten sich nämlich deutliche Vorboten für ein Aufbegehren der Arbeiter. Sofort nach den Ministerratsbeschlüssen vom 11. Juni wurde bereits in mehreren Betrieben die Arbeit niedergelegt. In der Wismut-Stadt Johanngeorgenstadt im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab es am 15. Juni die erste „ungenehmigte" Demonstration. Offenbar waren die meisten Funktionäre in diesen Tagen - auf Veranlassung des Zentralkomitees - zu sehr davon absorbiert, Informationsberichte über die „wahre Massenstimmung" anzufertigen; ständig kamen neue unerfüllbare Anforderungen von oben, mal waren die Berichte zu unkritisch, mal zu pessimistisch. So war ein Großteil der leitenden Kader in ihren Büros damit befaßt, Berichte von stattlicher Länge abzufassen, ohne wirklich über die explosive Stimmung in den Betrieben im Bilde zu sein. SED-Instrukteure erkundeten noch in der Nacht vom 16. zum 17. Juni in wichtigen Leipziger Großbetrieben, die wenige Stunden später zu den Initiatoren der Arbeitsniederlegung gehörten, die Stimmungslage, aber die bevorstehenden Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der „führenden Klasse" und der „führenden Partei" erahnten sie dabei nicht. Als in derselben Nacht in einem Leipziger Großbetrieb Fragen über die Ereignisse in der Ostberliner Stalinallee gestellt wurden, tat der Parteisekretär - auf Anweisung der Kreisleitung - sie noch selbstherrlich als „RIASEnte" ab. Die leitenden Funktionäre waren ahnungslos, von der Berliner Zentrale waren sie noch nicht informiert, den RIAS durften sie nicht hören. Selbst als am Morgen des 16. Juni wieder einige Betriebe für mehrere Stunden die Arbeit niedergelegt hatten, gingen die verantwortlichen Funktionäre vor wie bisher: Sie schickten Agitatoren zu den Arbeitern, um sie zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Meist schoben sie den staatlichen Leitern vor der Belegschaft die Verantwortung für betriebliche Mängel zu, um die Arbeiter zu beschwichtigen. Da die Streikenden zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ähnlichen Aktionen in anderen Betrieben wußten, beendeten sie danach auch tatsächlich ihre Arbeitsniederlegungen. Offenbar waren selbst führende Funktionäre - in Leipzig etwa - nicht darüber informiert, daß es auch in ihren Nachbarbezirken derartige „wilde" Aktionen gegeben hatte. Anders ist es nur schwer verständlich, daß sie sich selbst dann noch in Sicher-

Schlußbetrachtung

589

heit wähnten, als sie in den frühen Morgenstunden des 17. Juni die ersten offiziellen Informationen des Zentralkomitees über die Vorgänge in Ostberlin erhielten. Die Spitzenfunktionäre in Dresden und Leipzig dachten überhaupt nicht daran, daß sich ähnliches auch in ihren Bezirken ereignen könnte; sie hielten die Demonstrationen in Ostberlin für eine lokale Angelegenheit. Die Mehrzahl der Parteileitungen in Sachsen (bis auf die Bezirksleitung Karl-MarxStadt und die SED-Gebietsparteileitung Wismut) erfaßte den Ernst der Situation erst, als sich vor ihren Augen die Straßendemonstrationen bildeten. Doch während die betrieblichen Protestaktionen in der DDR vor dem 17. Juni geheim und auf den jeweiligen Betrieb beschränkt geblieben waren, änderte sich die Lage an diesem Tage mit einem Schlag: Die öffentlichen Proteste der Bauarbeiter der Stalinallee konnten in der geteilten Stadt mit ihrer internationalen Medienpräsenz nicht verschwiegen werden. Über Meldungen des RIAS, des NWDR, über telefonische Kontakte oder Dienstreisende - in einem Falle sogar über eine Delegation von Parteischülern - erfuhren auch die Menschen in Sachsen im Laufe des 17. Juni von den außergewöhnlichen Aktionen der scheinbar privilegierten Ostberliner Bauarbeiter. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer, die Nachrichten aus Berlin hatten Signalwirkung. Die Diskussionen am Morgen des 17. Juni, auf dem Weg zur Arbeit in den Straßenbahnen und in den Schichtzügen, waren vor allem von diesem einen Thema beherrscht. Erstaunlich war, daß die Menschen ihre Informationen, auch wenn sie sie vom RIAS bezogen hatten, nicht wie sonst aus Angst vor Denunziationen und Repressalien hinter vorgehaltener Hand weitergaben. Die landesweite Reaktion - „Stalinalleen" und „Straußberger Plätze" gab es plötzlich überall in der DDR - war aber nur deswegen möglich, weil die Krise latent bereits überall schwelte. Die Beibehaltung der erhöhten Normen bis zum Abend des 16. Juni hatte die Krise auch in Sachsen offen ausbrechen lassen. Die Streiks und Demonstrationen der folgenden Tage waren nicht nur und nicht einmal in erster Linie Solidaritätsbekundungen für die streikenden Kollegen in Ostberlin, sie erwuchsen aus der zunehmenden Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR und aus einer breiten Opposition gegen die SED-Politik. Die vorliegende Rekonstruktion des 17. Juni in Sachsen unterstreicht auch die Tatsache, daß der Aufstand in den dortigen industriellen Ballungsgebieten mitunter eine größere Wucht und einen höheren Organisationsgrad erreichte als in Ostberlin. Übrigens hat Joachim C. Leithäuser in der Dokumentation „Der Aufstand im Juni" bereits 1953 daraufhingewiesen: „In der Sowjetzone suchte sich die Arbeiterschaft neue Zentren für ihre Revolte. In einer Anzahl von Brennpunkten kam es - völlig unabhängig voneinander - zu revolutionären Vorgängen, die die Ereignisse des 17. Juni in Berlin weit in den Schatten stellten." 2 Umso unverständlicher ist es, daß der 17. Juni 1953 lange

2

Leithäuser, Der Aufstand im Juni, S. 45.

590

Schlußbetrachtu ng

fast ausschließlich mit den Vorgängen in Ostberlin identifiziert wurde; in der öffentlichen Meinung besteht dieses schiefe Bild bis heute fort. Es ist also unumgänglich, die Ostberliner Signalwirkung anzuerkennen und zugleich auf vielfältige Eigenständigkeiten und Eigenarten der Vorgänge in der übrigen DDR aufmerksam zu machen. Mit den Unterschieden in Ausbreitung, Form und Inhalt der Proteste in den einzelnen Regionen fallen jedoch auch deren Gemeinsamkeiten ins Auge. So läßt sich beispielsweise für die Zentren der Erhebung - etwa für Leipzig, Dresden und Görlitz - ein typischer Ablauf des 17. Juni feststellen, wie er sich aus den Bedingungen, Riten und Gewohnheiten eines zentralistisch geleiteten Staates ergab. Unterschiede im Protestverhalten und im Verlauf des Aufstandes, die es wegen lokaler und regionaler Besonderheiten, deren Tradition und Geschichte, und wegen individueller Entscheidungen von führenden Funktionären und Protestierenden natürlich sehr häufig gegeben hat, lassen sich erst in eingehender vergleichender Analyse herausarbeiten. Nachdem den Menschen in den Bezirken klar geworden war, daß sich Ostberliner Bauarbeiter gegen die Politik der SED aufgelehnt hatten, ohne sofort verhaftet worden zu sein, ließen sie sich nicht mehr einschüchtern und ergriffen in ihrer Region die Initiative. Am frühen Morgen oder in den Vormittagsstunden begann der 17. Juni 1953 in den meisten Betrieben Sachsens mit spontan einberufenen Versammlungen während der Frühstückspause. Die Belegschaften verlangten zunächst mit Nachdruck Informationen über die Berliner Ereignisse vom Vortage. Damit waren die Verantwortlichen in den Betrieben meist überfordert, und sie wandten sich deshalb ratsuchend an die Funktionäre der Kreis- und Bezirksleitungen. Die aber vermieden es in der Regel, sich in den Betrieben blicken zu lassen, sondern berieten hinter verschlossenen Türen über die brenzlige Lage. Nicht selten schickten sie Gewerkschaftsfunktionäre oder Parteivertreter vor, die nach altem Stil Agitation betrieben und die Belegschaften im üblichen Jargon und mit allgemeinen Reden zum Neuen Kurs und zur prinzipiellen Überlegenheit des Sozialismus abzuspeisen versuchten. Außerdem glaubten sie, die aufgebrachten Belegschaften mit der Mitteilung über die Rücknahme der Normenerhöhungen beruhigen und sie so zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen zu können. Noch immer lebten Partei- und Staatsfunktionäre in der Annahme, es gehe nur um Normen in der Produktion und eine bessere Versorgung. Nur wenige Parteisekretäre waren (wie in der SAG Sachsenwerke Dresden-Niedersedlitz) so kühn, die Belegschaften daran zu erinnern, daß sie die Normen doch „freiwillig" erhöht hätten. Solche Argumente fanden nicht eben gnädige Aufnahme. Nur in den Objekten der SAG Wismut ordnete die sowjetische Generaldirektion an, daß an den neuen Normen nicht zu rütteln sei. Diesem Befehl beugte sich die Mehrheit der Wismutbelegschaft offenbar. In den Städten, wo sich Funktionäre der SED-Kreisleitungen unmittelbar nach Beginn der Arbeitsniederlegungen tatsächlich in die Betriebe wagten - wie in Görlitz, in Niesky und in einigen Orten des Landkreises Leipzig - kamen sie entweder zu spät, oder sie erreich-

Schlußbetrachtung

591

ten nichts. In der Mehrzahl der Betriebe des Bezirkes Karl-Marx-Stadt dagegen gelang es Funktionären, die bereits in den frühen Morgenstunden eingetroffen waren, Versammlungen, Streiks und Demonstrationen wie in den Betrieben der Nachbarbezirke zu verhindern. Während die Belegschaften in zahlreichen Betrieben die Arbeitsaufnahme verweigerten oder bereits nach kurzer Zeit unterbrachen, machten die führenden Kader von Partei und Staat in den Städten, Kreisen und Bezirken den Versuch, sich auf die konfusen Mitteilungen ihrer Berliner Vorgesetzten einen Reim zu machen. In einigen Städten, wie etwa in Görlitz, waren operative Mitarbeiter der Staatssicherheit mit dem Auftrag unterwegs, „Westberliner Agenten" aufzuspüren. Als sie anstatt der angekündigten Agenten protestierende Arbeiter aus großen volkseigenen Betrieben, Nachbarn und Bekannte auf den Straßen antrafen, waren Sicherheitskräfte, Parteifunktionäre und Bürgermeister gleichermaßen konsterniert und handlungsunfähig. Gewerkschaftsfunktionäre in Leipzig beispielsweise hielten die ersten Demonstrationen noch für von der SED organisierte Aufmärsche. Die Verwirrung wurde noch größer, als die Verantwortlichen ungenehmigte Transparente mit Aufschriften wie „Solidarität mit Berlin" oder „Generalstreik" erblickten. In vielen Betrieben waren die Belegschaften nach den morgendlichen Diskussionen nicht wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Sie verständigten sich über Aktionen zur Solidarisierung mit den Berliner Bauarbeitern, über eigene Forderungen, wählten oder bestimmten per Akklamation betriebliche Streikleitungen. In der Regel ergriffen Arbeiter, darunter viele junge, die Initiative dazu. Die technischen und kaufmännischen Angestellten schlössen sich in den meisten Fällen an, und nicht wenige von ihnen wurden dann sogar zu führenden Kräften des Aufstandes, wie in einigen Großbetrieben von Dresden, Görlitz, Leipzig oder Niesky. Die streikenden Belegschaften suchten meist Nachbarbetriebe auf und marschierten bereits in den Vormittagsstunden gemeinsam in die Zentren der Städte, ohne daß sie von Polizei oder Partei daran gehindert wurden. Wo die gegenseitige Information der Betriebe und das Verlassen der Werke verhindert werden konnte, wie zum Beispiel im Bezirk Karl-Marx-Stadt, blieben die Streikenden isoliert und mußten ihren Protest abbrechen, bevor sie Unterstützung durch Nachbarbetriebe oder durch die Bevölkerung erhalten konnten. Die Streikenden der SAG Wismut verließen zwar am frühen Nachmittag ihre Arbeitsstätten, begaben sich mit Betriebsfahrzeugen nach Gera und Umgebung und unterstützten, manchmal unter Einsatz schwerer Wismut-Technik, den Aufstand dort, aber sie hatten wegen der verschärften Sicherheitsvorkehrungen und der spezifischen Produktionsbedingungen keine Chance, ihren Protest innerhalb der Wismut auf die Schächte und Aufbereitungsbetriebe auszudehnen. Das Vorgehen der Streikenden in den Betrieben wurde von der SED später als Resultat von Planungen imperialistischer Agentenzentralen ausgegeben. Diese „ausländischen Agenten" konnten in Sachsen freilich nie gefunden wer-

592

Schlußbetrachtung

den. Vielmehr knüpften die Arbeiter am 17. Juni 1953, keineswegs immer bewußt, an Traditionen der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung von vor 1933 an, die gerade in Sachsen - namentlich in Leipzig, Görlitz und Dresden - mit dem Kampf der SPD und der Betriebsräte verbunden und 20 Jahre später noch nicht verschüttet waren. Während sich Form und Ablauf der Proteste ähnelten, waren Zeitpunkt und Auslöser für Arbeitsniederlegungen und Massenaufmärsche verschieden. So gab es Betriebe, Städte und Orte in Sachsen, wo die Streiks und Demonstrationen zeitgleich mit den Aktionen der Berliner Bauarbeiter am 17. Juni begannen - in Leipzig, in Görlitz oder in Dresden etwa. In diesen Regionen weiteten sich die Arbeitsniederlegungen mit Beginn der Nachmittagsschicht aus. Anderswo entwickelten sich die Proteste erst zu Beginn der zweiten Schicht und nach Verhängung des Ausnahmezustandes über Ostberlin - in der Kreisstadt Delitzsch oder im kleinen Kurort Bad Düben etwa. In diesem Falle brachten die mit Schichtzügen und Werksbussen heimkehrenden Arbeiter aus Halle, Bitterfeld, Wolfen und Leipzig die Kunde von Streiks und Demonstrationen in ihre Wohnorte mit, wo sie auf protestbereite Menschen traf. Es gab aber auch zahlreiche Betriebe, deren Belegschaften erst nach der Ausrufung des Kriegsrechts und mit dem Auffahren sowjetischer Panzer mit Arbeitsniederlegungen antworteten - so in Radebeul oder Riesa. Manche Belegschaften demonstrierten nach Beendigung ihrer Schicht; in einzelnen Orten führten erst bestimmte Vorkommnisse, wie z. B. der Tod zweier Jugendlicher in Delitzsch, am anderen Morgen zu Arbeitsniederlegungen; anderswo waren es Verhaftungen von Arbeitern aus Demonstrationszügen heraus (wie in Bad Düben), die am Morgen des 18. Juni in fast allen Betrieben der Region die Streiks provozierten. Auch deren Dauer war unterschiedlich. Es gab kurzfristige Arbeitsverweigerungen von wenigen Stunden und Streiks über mehrere Tage - in Ausnahmefällen sogar bis zum 23. Juni. Im Gegensatz zu den Ostberliner Betrieben, die am 18. Juni ihre Arbeit wieder aufnahmen, dauerte die Welle der Arbeitsniederlegungen in vielen sächsischen Betrieben noch bis zum Morgen des 19. Juni. Erst die Androhung von Erschießungen führte hier zum Abbruch der Streiks. Für alle drei Bezirke Sachsens läßt sich nachweisen, daß die Verhängung des Ausnahmezustandes zunächst nicht zu einem Rückgang der Streikbewegung führte. Die Anzahl der Streikenden hatte am 18. Juni gegenüber dem Vortag sogar noch zugenommen. Mit dem Auffahren sowjetischer Panzer und der Androhung des Kriegsrechts war die DDR-weite Protestbewegung zwar aus den öffentlichen Räumen zu vertreiben und zu unterdrücken, in den Betrieben jedoch nicht sofort und nicht ohne Zugeständnisse an die Streikenden zu unterbinden. Die Untersuchung konnte zeigen, daß alle Maßnahmen, mit denen den Streikenden gewissermaßen frontal begegnet wurde, keinen Erfolg hatten. Das „differenzierte" Vorgehen der Karl-MarxStädter Funktionäre, die den streikenden Belegschaften schnell die Erfüllung ihrer sozialen Forderungen versprachen und die Streikleitungen von den De-

Schlußbetrachtung

593

monstranten isolierten, führte schneller zur Beendigung der Arbeitsniederlegungen als die Drohung mit dem Ausnahmezustand. In Städten, wo keine öffentlichen Demonstrationen stattfanden - das war die Mehrzahl blieben die Streikenden unter sich. Dort wo, wie etwa im Landkreis Dresden oder in den Kreisen Altenburg und Eilenburg, die Streikbewegung erst am 18. Juni begann, war wegen des Ausnahmezustandes die Chance, den betrieblichen Protest in die Städte zu tragen und Unterstützung bei der Einwohnerschaft zu finden, natürlich geringer als am Vortage. Die Mehrzahl der Streikenden in Sachsen nahm daher nicht an öffentlichen Demonstrationen teil. Für die Stadt Leipzig wird beispielsweise angegeben, daß am 17. Juni von 26 993 Streikenden 3 759 bzw. 4 309 Beschäftigte demonstriert hätten. Nur in Görlitz war die Beteiligung von Streikenden an öffentlichen Aufmärschen sehr groß. Hier gingen immerhin 75 Prozent von ihnen auf die Straße. Viele Arbeiter blieben aber nach Streikbeginn im Betrieb oder gingen einfach nach Hause. Welche Gruppen von Arbeitern ergriffen in Sachsen nun die Initiative zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen? In Ostberlin waren es die Bauarbeiter der Stalinallee gewesen, die bis dahin in der SED-Propaganda als besonders fortschrittlich und vorbildlich gegolten hatten. Bauarbeiter spielten auch in den sächsischen Bezirken eine herausragende Rolle, obwohl sie nicht überall und nicht überwiegend zu den Initiatoren des Protests gehörten. In Sachsen waren es eher die Belegschaften der großen volkseigenen Industriebetriebe oder der SAG-Betriebe, die den Auftakt gaben. In den Bezirken Dresden und Leipzig streikten zuerst Betriebe des Maschinen- und Schwermaschinenbaus, im Bezirk Karl-Marx-Stadt der Textilindustrie und des Maschinenbaus. Damit stellten sich gerade jene Betriebe an die Spitze des Aufbegehrens, die im ersten Fünfjahrplan (1951-55) eine besondere Bedeutung hatten oder die Reparationsproduktion für die Sowjetunion trugen. So nahmen die Streiks in Dresden in den beiden größten Maschinenbaubetrieben des Bezirkes, im SAG Sachsenwerk Niedersedlitz und im VEB ABUS, ihren Anfang. In Görlitz und Niesky lösten die Belegschaften der LOWA die Arbeitsniederlegungen aus, in Riesa waren es die Stahl- und Walzwerker. In Leipzig und Umgebung rief die Belegschaft des VEB Getriebewerkes Liebertwolkwitz zeitgleich mit den Schkeuditzer und Leipziger Maurern zuerst zum Streik auf. Die Bauarbeiter waren die ersten, die demonstrierend durch Leipzig zogen. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt legten als erste Beschäftigte des VEB Vereinigte Trikotagenwerke Crimmitschau die Arbeit nieder. In diesem Bezirk kam es mit Ausnahme des Wälzlagerwerkes Fraureuth in sogenannten Schwerpunktbetrieben nicht zu Arbeitsniederlegungen. Hier hatte die SEDBezirksleitung besondere Sicherheitsvorkehrungen eingeleitet. In den Bezirken Dresden und Leipzig, wie auch in den Bezirken Halle und Magdeburg, prägten außerdem die SAG-Belegschaften die Streikbewegung. In Leipzig beteiligten sich mindestens vier von insgesamt fünf SAG-Betrieben an der Arbeitsniederlegung, darunter die SAG Bleichert als größter Betrieb der

594

Schlußbetrachtung

Region. In diesen Betrieben, die noch sowjetisches Eigentum waren, schwelte seit Jahren ein zusätzlicher Konflikt, weil die Spannungen zwischen den deutschen und sowjetischen Werksleitungen letztlich auf dem Rücken der Belegschaften ausgetragen wurden. Andererseits waren die sozialen Bedingungen in diesen Betrieben besser als in volkseigenen oder gar privaten Betrieben. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die sowjetischen Werksleitungen bereits vor der Verhängung des Ausnahmezustandes irgendwelche Maßnahmen zur Unterbindung von Protestaktionen in ihren Werken ergriffen hätten. Eine Ausnahme ist die SAG Wismut, die als militärisch besonders wichtiges Unternehmen eine Sonderstellung innehatte. Ansonsten verboten auch die sowjetischen Generaldirektoren vor der Verhängung des Ausnahmezustandes die Arbeitsniederlegungen und den Auszug aus dem Betrieb nicht. Auch sie waren auf eine solche Situation nicht vorbereitet. Erst nach der Verkündung des Ausnahmezustandes besetzte sowjetisches Militär die SAG-Betriebe. Mitunter dauerten solche Besetzungen mehrere Tage. Einige Betriebsbelegschaften machten die Wiederaufnahme der Arbeit vom Abzug der Panzer abhängig. Nicht durchgängig nachweisbar ist, ob die Arbeiter der sächsischen Initiativbetriebe - Werke, die zu den großen DDR-weit vertretenen Industrievereinigungen gehörten (wie die LOWA-Werke, die ABUS-Werke, die IfA-Werke, die RAW und die Bauunion) - in Görlitz, Niesky, Zittau, Leipzig oder Delitzsch bereits frühzeitig über Streikaktionen in anderen Betriebsteilen informiert waren. In den meisten dieser Initiativbetriebe waren die erhöhten Normen noch nicht eingeführt oder lohnwirksam, was unterstreicht, daß es an diesem 17. Juni 1953 keineswegs nur um die Rücknahme der erhöhten Normen ging. Gemeinsam mit den Belegschaften großer VEB bzw. SAG-Betriebe traten auch in Sachsen die Bauarbeiter frühzeitig in den Ausstand, wie etwa in Leipzig, Schkeuditz und in Dresden. Die überproportionale Beteiligung dieser Berufsgruppe an den öffentlichen Protesten erklärt sich zunächst aus ihrer besonderen Arbeitsorganisation, Struktur und Zusammensetzung: Bauarbeiter waren mobiler als die Industriearbeiterschaft und schwerer zu überwachen und zu reglementieren, weil sie häufig die Baustellen wechselten. Auch die regionale Fluktuation - sächsische Maurer waren zeitweise in Ostberlin und Umgebung auf Schwerpunkt-Baustellen der DDR beschäftigt - stärkte das Selbstbewußtsein und erweiterte den Horizont der Bauarbeiter. Unter ihnen gab es auch sehr viele jugendliche Kräfte, was ein weiterer Grund für die erhöhte Protestbereitschaft dieser Berufsgruppe gewesen sein mag. In Leipzigs Innenstadt gab es viele Baustellen, oftmals waren Bauarbeiter auch in großen Industriebetrieben wie im Sachsenwerk Dresden-Niedersedlitz und im VEB Nagema Schkeuditz mit Investitionsbauten des Fünfjahrplanes beschäftigt. Die Ansiedlung von Baustellen in der Innenstadt, die räumliche Nähe zur Industriearbeiterschaft, ihre besondere Struktur und Erfahrung, die sofortige Solidarisierung mit den Ostberliner Maurern - all dies führte dazu, daß in einigen Städten sächsische Bauarbeiter in vorderster Reihe der Streikenden und Demonstranten zu finden waren.

Schlußbetrachtung

595

Was die Beteiligung der einzelnen Industriegewerkschaften am Aufstand angeht, so läßt sich für Sachsen feststellen, daß der Anteil der Streikenden der IG Textil-Bekleidung-Leder, der IG Metall und der IG Bau besonders hoch war. So streikte beispielsweise von den 43 000 in volkseigenen Metallbetrieben des Bezirkes Leipzig Beschäftigten mehr als ein Viertel, in der IG TextilBekleidung-Leder mehr als die Hälfte der in den VEB dieser Branche Tätigen. Zwölf Prozent der Bauarbeiter verweigerten am 17. Juni die Arbeit an Bauten des Fünfjahrplans in der Messestadt. Die IG Bau-Holz erklärte später den Bezirk Leipzig zum Schwerpunkt der „faschistischen Provokationen". Ähnlich sah es im Bezirk Dresden aus. Unter den bestreikten Betriebe waren fast die Hälfte Betriebe der IG Metall, ein Viertel gehörte der IG Textil-BekleidungLeder an und 6 Prozent zur IG Bau-Holz. Damit initiierten und dominierten Belegschaften jener Zweige und Eigentumsformen die Streikaktionen, die - bis auf die Textilindustrie - zu den privilegierten Teilen der Arbeiterschaft gehörten. So zählten die Arbeiter der SAG und der sogenannten Schwerpunktbetriebe zu den Spitzenverdienern, sie wurden über die Betriebsverkaufsstellen mit Mangelwaren versorgt und bei der Bereitstellung von Wohnraum und Ferienplätzen bevorzugt. Vor dem 17. Juni 1953 gehörten viele dieser Betriebe in Leipzig, Dresden oder Görlitz, ebenso wie die Baustellen der Ostberliner Stalinallee, zu den sozialistischen „Vorzeigeobjekten". Die SAG wurden geradezu als „Schulen des Sozialismus" apostrophiert. Im sozialistischen Wettbewerb, in der Kampagne zur „freiwilligen Normenerhöhung" hatten sie noch unmittelbar vor dem 17. Juni Sonderprämien und Ehrenbanner erhalten. In der Gunst der Politbürokratie rangierten sie weit oben, in der Lokalpresse standen sie im Mittelpunkt der Berichterstattung und wurden als Vorbilder angepriesen. Ihre herausragende Rolle beim Aufstand brachte die SED-Führung in besondere Erklärungsnot. Es paßte nicht in ihr Weltbild, daß gerade dieser besonders fortschrittliche Teil der Arbeiterschaft so unmißverständlich gegen die Partei und gegen die Arbeiter- und Bauernmacht auftrat. Deshalb versuchte die SED, die Beteiligung der Industriearbeiterschaft an dem „faschistischen Putschversuch" herunterzuspielen oder dort, wo sich das nicht leugnen ließ, „Agenten des Ostbüros" für das Geschehen in den Vorzeigebetrieben verantwortlich zu machen. Höchst peinlich war dieses Vorgehen z. B. gegenüber den Stahlwerkern in Riesa, die aus einem am 20. Juni im Betrieb als Flugblatt verteilten Exemplar des „Neuen Deutschland" erfuhren, daß sie sich überhaupt nicht am Streik beteiligt hätten. Es gibt vielerlei Erklärungen dafür, daß die privilegiertesten Teile der Arbeiterschaft zuerst und am nachdrücklichsten gegen das SED-Regime auftraten. Die größten und wichtigsten Betriebe in Sachsen verfügten über eine qualifizierte und selbstbewußte Belegschaft, die ziemlich genau wußte, was sie wert war. Unter ihnen waren viele Arbeiter und Angestellte, die in gewerkschaftlichen Kämpfen in der Weimarer Zeit und gegen das NS-System Erfahrungen gesammelt hatten, aber auch solche, die nach 1945 in den Betriebsräten aktiv gewesen waren. Seit deren Auflösung waren sie dem Regime

596

Schlußbetrachtung

verdächtig oder in den Säuberungskampagnen der SED in den vierziger und Anfang der fünfziger Jahre sogar aus der Partei ausgeschlossen worden. Die SED-Führung machte nach dem Aufstand überall ehemalige Sozialdemokraten, Betriebsräte und ausgeschlossene Genossen als „Provokateure" und „Rädelsführer" aus. Auch die Mitglieder und Funktionäre der SED verhielten sich in diesen dramatischen Juni-Tagen keineswegs einheitlich. Die Masse der Genossen blieb nach parteiinternen Analysen zunächst „zurückhaltend, schwankend, reserviert, abwartend". Aus diesen Unterlagen geht aber auch hervor, daß sich zahlreiche SED-Mitglieder selbst an den Aktionen des 17. Juni beteiligten. In Betrieben, die streikten, nahm die Mehrzahl der Genossen an den Protesten teil. In Leipzig schloß sich lediglich ein Viertel der Parteimitglieder in den bestreikten Betrieben nicht den Streiks und Demonstrationen an. Für die Teilnahme von Genossen am Aufstand gegen die eigene Partei gab es denn auch vielfältige Gründe. Zunächst plagten Parteimitglieder als Arbeiter und Angestellte die gleichen Sorgen wie ihre parteilosen Kollegen. Darüber hinaus wurden sie vielfach genötigt, sich an die Spitze aller möglichen Kampagnen zu stellen (z.B. sollten sie als erste in die Kasernierte Volkspolizei eintreten oder ihre Söhne zum Eintritt bewegen). Ein Teil von ihnen war ursprünglich in die SED eingetreten, um für eine gerechtere Gesellschaftsordnung einzustehen, und gab nun der Parteiführung die Schuld an der unübersehbaren Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Die zahlreichen Diskussionen in den SEDVersammlungen und die Parteiaustritte vor und nach dem 17. Juni 1953 belegen das zweifelsfrei. Viele Genossen schlössen sich den Arbeitsniederlegungen an, ohne über Parteizwänge und Parteidisziplin nachzudenken. Andere wandten sich in dem Moment von der SED ab, als auf Arbeiter geschossen wurde. In manch einer Austrittserklärungen hieß es, man wolle an Verbrechen gegen das eigene Volk nicht mitschuldig werden. In den drei sächsischen Bezirksparteiorganisationen war der Anteil der Parteiaustritte - im Vergleich zu anderen Bezirken - besonders hoch: 45 Prozent sämtlicher Austritte im Zusammenhang mit dem 17. Juni entfielen auf Sachsen. Diejenigen SED-Angehörigen, die sich durch eine Parteimitgliedschaft vor allem Vorteile in der beruflichen Entwicklung versprochen hatten, waren in Krisenzeiten natürlich besonders anfällig und wechselten schnell die Fronten. In den Betrieben sprachen sich in diesen Tagen zur großen Verärgerung der Politbürokratie nur wenige einfache Parteimitglieder offen gegen die Arbeitsniederlegungen aus oder verteidigten gar die Politik der Partei. Nach Auffassung der Bezirksleitung Dresden seien „viele Parteimitglieder und Kandidaten fahnenflüchtig" geworden. Die nach dem Aufstand angefertigten Analysen über die Lage der SED zeichneten der Führung ein erschütterndes Bild ihrer Basis in den Betrieben. Es folgten harte Maßnahmen zur Disziplinierung der „fahnenflüchtigen", „kopflosen" und „schwankenden" Mitglieder, Säuberungen der eigenen Reihen von „Feinden und Verrätern". Dabei standen nicht etwa die SED-Bezirksparteiorganisationen Leipzig und Dresden, wie nach dem

Schlußbetrachtung

597

Verlauf des 17. Juni zu vermuten wäre, an der Spitze der Parteiausschlüsse, sondern Karl-Marx-Stadt. Die Mitglieder und Funktionäre der Blockparteien, deren Betriebsgruppen sich im Frühjahr 1953 hatten auflösen müssen, verhielten sich auch nicht kämpferischer als alle anderen. Auch sie stellten sich mit ihrer Beteiligung an den Protesten gegen ihre eigenen Parteiführungen, 3 und während sich die Führungskräfte von CDU, LDPD, NDPD und DBD auf Bezirksebene in Sachsen demonstrativ an die Seite der SED-Führung stellten, gab es in einigen Kreisvorständen und vor allem in Ortsgruppen vor und nach dem 17. Juni 1953 Bestrebungen, sich von dem Einfluß und Führungsanspruch der SED zu lösen. Im Bezirk Dresden gab es eine Reihe von Fällen, wo Funktionäre, Mandatsträger oder Mitglieder von CDU, LDPD und DBD sogar lokale Protestaktionen leiteten. Zu nennen sind unter anderem die Namen von Gottfried Diener, dem CDU-Ortsgruppenvorsitzenden aus der Gemeinde Kollm, Kreis Niesky, von Lothar Markwirt, einem Nieskyer LDPD-Kreistagsabgeordneten, oder der DBD-Gemeindevertreter Willi Michel und Kurt Jäger aus Zodel. Die beiden Kreisvorsitzenden der NDPD von Görlitz-Stadt und Land nahmen an der Demonstration in Görlitz teil. Noch mehr Mut gehörte dazu, sich nach der Niederschlagung des Aufstandes und nach seiner Brandmarkung als „faschistischem Putschversuch" für die sogenannten Provokateure einzusetzen, wie es etwa der CDU-Kreisvorsitzende von Görlitz versuchte, als er für die Freilassung inhaftierter CDU-Mitglieder eine Aktion in den Medien starten wollte. Der Kreisvorstand der CDU Görlitz weigerte sich nach der Niederschlagung des Aufstandes mehrere Wochen lang, sich an irgendwelchen regimetreuen Kampagnen oder Solidaritätserklärungen zu beteiligen. Die SED-Bezirksleitung Dresden empörte sich noch am 8. Juli über die mangelnde Unterstützung durch die Führung der CDU. Die Leipziger Funktionäre der Blockparteien hingegen standen fest an der Seite der SED und ihrer Regierung. Besonderes Interesse bei einer Analyse des 17. Juni 1953 in Sachsen verdienen natürlich die Streikleitungen. Sie wurden vorübergehend gewissermaßen zu „Machtorganen": sie übernahmen die Koordinierung der betrieblichen Aktionen, sie stellten die Forderungskataloge auf, sie überbrachten Resolutionen an die übergeordneten Leitungen, sie führten die Verhandlungen mit den Werkleitungen. Sie sorgten auch für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in den Betrieben, sie verhinderten Sachbeschädigungen und Übergriffe gegen Personen; in Einzelfallen kam es zur Aufstellung von Streikposten. Aus einigen Betrieben ist sogar überliefert, daß die Streikleitungen mit den Betriebsleitungen Absprachen darüber trafen, welche Werksteile während des Streiks weiterarbeiten sollten. In zahlreichen Betrieben koordinierten diese Gremien die Ausdehnung des Streiks auf Nachbarbetriebe, die Demonstrationszüge in die Zentren der Städte und manchmal sogar das weitere Vorgehen in ihrem Einzugsbereich. Die Untersuchung hat gezeigt, daß es viel mehr sol3

Vgl. Haupts, Die Blockparteien in der DDR, S. 383 ff.

598

Schlußbetrach tu ng

eher Gruppen gab, die sich als Streikleitung, als Prüfungsausschüsse oder als Delegationen verstanden, als bisher angenommen. Allein in der Stadt Leipzig konnten 32 Streikleitungen mit 235 Mitgliedern nachgewiesen werden. Am 17. Juni befanden sich 81 Leipziger Betriebe im Ausstand. Alle Streikleitungen bemühten sich durchweg, Gewalt gegen Personen und Sachbeschädigungen zu verhindern. In den Betrieben kam es denn auch zu keinen größeren Ausschreitungen. Dagegen konnten die Streikleitungen in Leipzig und Dresden ihren Einfluß auf den Ablauf der Protestmärsche kaum geltend machen; dem setzte die Eigendynamik der Massendemonstrationen ihre Grenzen. Die Streikleitungen und Anführer von einzelnen kleineren Aktionen waren sehr auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln bedacht. Sie ließen Vorschläge machen und darüber abstimmen, empfahlen den Erfahrungsaustausch mit anderen Betrieben und redeten der Diskussion mit den bisherigen Machtträgern das Wort. Für Görlitz ist in etwa nachvollziehbar, wie es im Dialog zu einzelnen Entscheidungen kam. Während die meisten betrieblichen Streikleitungen kaum Einfluß auf das Geschehen außerhalb der Fabriken nehmen konnten, agierten einige überbetriebliche Streikleitungen für kurze Zeit recht erfolgreich. Solche überbetriebliche Organisationsstrukturen existierten z. B. in Dresden, Görlitz, Leipzig und einigen dortigen Vororten. Ihr Einfluß auf das regionale Geschehen war freilich unterschiedlich. In Leipzig faßten die Bauarbeiter mehrerer Baustellen gemeinsam den Streikbeschluß. Sie spielten jedoch bei den weiteren städtischen Aktionen kaum noch eine maßgebliche Rolle. Im Leipziger Vorort Schkeuditz entstand eine überbetriebliche Streikleitung aus Bau- und Industriearbeitern, welche die Demonstrationen im Ort und eine Kundgebung auf dem Marktplatz organisierte und koordinierte. In Dresden-Niedersedlitz sollte mit der Wahl eines gemeinsamen „Prüfungsausschusses" der beiden Betriebe VEB ABUS und SAG Sachsenwerk eine breite Basis für die Durchsetzung der gemeinsamen Forderungen gelegt werden; es gab bereits Absprachen mit drei weiteren Betrieben. Die Betriebsvertretungen dieser fünf Betriebe traten am Morgen des 18. Juni denn auch zu einer „Delegiertenkonferenz" zusammen, doch konnten sie wegen des Ausnahmezustandes keinen direkten Einfluß mehr auf die Entwicklung in der Stadt Dresden nehmen. In Görlitz erzielte das überbetriebliche Streikkomitee, in dem gleichfalls mehrere Betriebe vertreten waren, die größten Erfolge. Innerhalb weniger Stunden entfachte und dirigierte es eine Reihe revolutionärer Aktionen. Nur die Verhängung des Ausnahmezustandes und das militärische Eingreifen der sowjetischen Truppen konnten diesen Elan und die hoffnungsvollen Versuche der Einwohnerschaft stoppen, zu einer Selbstregierung zu gelangen. Bereits seit Mittag des 17. Juni nahm dieses Komitee, das inzwischen durch Vertreter anderer Berufsgruppen erweitert worden war, wichtige Funktionen bei der Steuerung des Aufstandes in der Stadt wahr. Es leitete die eindrucksvolle Kundgebung von 3 0 0 0 0 Görlitzern, koordinierte die Aktionen zur Zerschlagung der alten Machtverhältnisse und zum Aufbau neuer Machtstrukturen,

Schlußbetrachtung

599

bezog gewissermaßen basisdemokratisch die Kundgebungsteilnehmer in seine Entscheidungen ein und gab die wichtigsten Impulse für die Hinüberleitung des spontanen Massenprotestes in einen politischen Aufstand. Es war beabsichtigt, daß dieses Gremium in den folgenden Stunden durch Vertreter weiterer Betriebe und Institutionen erweitert werden und dann als Stadtverordnetenversammlung fungieren sollte. Der Ausnahmezustand setzte solchen Plänen ein Ende. Die Existenz und die Durchschlagskraft des Görlitzer Komitees zeigt, welche Möglichkeiten es zur Herbeiführung einer politischen Umwälzung in der DDR damals noch gab. Freilich wurde ein so hoher Organisationsgrad und ein derart breites soziales, politisches und generationenübergreifendes Bündnis wie in Görlitz nirgendwo anders erreicht, am ehesten noch durch das Bitterfelder Streikkomitee. 4 Über die Struktur und Zusammensetzung der Streikleitungen gibt es leider nur sehr wenig aussagekräftige Unterlagen. Die Aussichten, diese Lücken zu schließen, sind vor allem deshalb gering, weil die Betriebsarchive bereits zu DDR-Zeiten „bereinigt", kompromittierende Spuren, die auf den 17. Juni verwiesen, beseitigt wurden. Der Historiker ist hier auf die nachträglich angefertigten Notizen der SED-, Gewerkschafts- und Staatsfunktionäre sowie auf MfS-, Polizei- und Gerichtsakten angewiesen. Dennoch lassen sich einige Aussagen über diese Gremien machen, die die bisherigen Annahmen zum Teil korrigieren. 5 Die betrieblichen Streikleitungen waren vor allem in ihrer Altersund Sozialstruktur heterogener zusammengesetzt, als bisher angenommen. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, daß man es mit zwei Typen von Streikleitungen zu tun hat, nämlich denen in alteingesessenen Betrieben und denen in neuen Werken oder Baustellen. In den volkseigenen oder SAG-Betrieben mit längerer Tradition in der Region und mit Stammbelegschaften - gelangten deutlich mehr Betriebsangehörige, die sich bereits in der Vergangenheit als Gewerkschaftsfunktionäre, als sozialdemokratische oder kommunistische Funktionäre engagiert hatten, in die Streikleitung. Sie waren meist über 40 Jahre, teilweise sogar über 50 Jahre und älter. Die SED-Bezirksleitung Dresden vermerkte, die Streikleitungen setzten sich „aus überwiegend älteren Personen" zusammen. Einzelanalysen scheinen dies zu bestätigen. Die Streikleitung im VEB ABUS Dresden-Niedersedlitz beispielsweise hatte ein Durchschnittsalter von 45 Jahren, das jüngste Mitglied war 28, das älteste 59 Jahre alt. In der Regel bestanden die Streikleitungen jedoch nicht überwiegend aus „älteren" Leuten, sondern aus Arbeitern jeden Alters. Von 216 verhafteten Leipziger Streikleitungsmitgliedern waren 16 zwischen 1889 und 1899 geboren, also 4 5

Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 85. Baring beispielsweise nannte drei „auffällige" Merkmale der Zusammensetzung von Streikleitungen: 1. Die „fast ausschließliche" Beteiligung der Jahrgänge zwischen 2 5 und 4 0 Jahren, die älteren hätten sich „nahezu überall" zurückgehalten 2. „In den weitaus meisten Fällen" seien nur Arbeiter und ein geringer Prozentsatz nichtprivilegierter Angestellter, kaum aber Angehörige der Intelligenz beteiligt gewesen. 3. Sei in einer „ganzen Reihe von Streikführungen der Anteil ehemaliger Berufssoldaten bemerkenswert gewesen." (Vgl. Baring, Der 17. Juni, S. 85f.)

600

Schlußbetrachtung

zwischen 54 und 64 Jahre alt, ein gutes Drittel gehörte zu den Geburtsjahrgängen 1900 bis 1920. Ein weiteres gutes Drittel, nämlich 76 Arbeiter, gehörte den Jahrgängen 1921 bis 1930 an. Nur 46 waren jünger als 22 Jahre (Jahrgänge 1931 bis 1938). Analysiert man einzelne Streikleitungen nach ihrer Altersstruktur, dann wird die generationelle Durchmischung zumeist bestätigt. Von den 22 Personen, die in der SAG Bleichert wegen ihrer Mitarbeit in der Streikleitung verhaftet wurden, war der Jüngste 18 Jahre, der Älteste 58 Jahre alt, fünf Mitglieder waren älter als 40, vier jünger als 25 Jahre. In der SAG „Kirow" in Leipzig gehörten elf Personen zur Streikleitung, der Jüngste war 17, der Älteste 57. Hier war lediglich ein Mitglied älter als 40 Jahre und vier jünger als 25 Jahre. Im VEB BBG Leipzig wurden 16 Betriebsangehörige als Streikleitungsmitglieder verhaftet, der Jüngste 19, der Älteste bereits 60. Sechs Mitglieder dieser Streikleitung waren über 40, fünf jünger als 25 Jahre. Die ältesten Mitglieder der Streikleitungen - die Jahrgänge 1889 bis 1910 - waren im Kaiserreich oder in der Weimarer Republik ins Berufsleben eingetreten und von den gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen in den Jahren bis 1933 geprägt. Unter ihnen waren auch einige WN-Mitglieder, anerkannte Opfer des Faschismus, die nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus zunächst herausragende Funktionen in der SED, in staatlichen Positionen oder im Betrieb ausgeübt hatten. Einige waren im Zuge der Säuberungen der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre in Ungnade gefallen oder gemaßregelt worden. So war bei den Streikaktivisten der Anteil ausgeschlossener SED-Mitglieder, darunter viele ehemalige Sozialdemokraten, recht hoch. Auch die Herkunft der führenden Köpfe zeigt eine „eindrucksvolle soziale Mischung". 6 Die technische Intelligenz, die kaufmännischen und die technischen Angestellten waren in vielen Streikleitungen - entsprechend ihrem Anteil an der Belegschaft - durchaus repräsentativ vertreten. So gab es unter den 32 verhafteten Streikleitungsmitgliedern aus drei Leipziger Betrieben fünf Vorarbeiter, zwei Technologen, eine Sachbearbeiterin, einen Abteilungsleiter Finanzen und einen Betriebsarzt. Man findet sogar einige Streikleitungen, die von Angestellten dominiert waren. So arbeiteten von den sechs Verurteilten aus dem VEB ABUS Dresden drei als kaufmännische oder technische Angestellte, zwei als Ingenieure bzw. Technologen und eine als Sachbearbeiterin. Im VEB Chemische Fabrik von Heyden Radebeul initiierte die Intelligenz, darunter ein Nationalpreisträger und mehrere promovierte Chemiker, den Streik. Ein „relativ großer Anteil ehemaliger Berufssoldaten" hingegen ist in Sachsen nicht nachweisbar. Natürlich dürften viele Mitglieder der Streikleitungen Kriegsteilnehmer gewesen sein, aber die Mehrheit von ihnen durchaus nicht als Freiwillige oder im Offiziersrang. Die Mehrzahl der Streikleitungsmitglieder war parteilos. Sehr gering war der Anteil ehemaliger Mitglieder der NSDAP, die nicht einzeln, sondern in der Sammelrubrik „ehemalige Faschisten, Offizie-

6

Vgl. Hagen, DDR - Juni 1953, S. 162.

Schlußbetrachtung

601

re und HJ-Angehörige" ausgewiesen wurden. Aber selbst dann kam immer noch keine Mehrheit „ehemaliger Faschisten" zustande. Die Streikgremien in jungen Betrieben und auf Baustellen, vor allem Montagebaustellen, unterschieden sich in ihrer Zusammensetzung von denen in Werken mit Tradition. Der Anteil jugendlicher Arbeiter war hier größer. In der Regel arbeiteten kaum ältere Kräfte auf Montage, wo die Bauarbeiter in primitiven Barackenlagern untergebracht waren. Die jungen Arbeiter gehörten meist erst wenige Tage zum Betrieb oder zur Baustelle, darunter auch einige, die sich wegen der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland kurz zuvor zurück in die DDR begeben hatten; einige mit Erfahrungen aus Streiks in der Bundesrepublik. Möglicherweise sind sie verhaftet worden, um die Legende von „eingeschleusten Agenten und Provokateuren" zu stützen. Während der Anteil von Frauen unter den Beschäftigten in Ostdeutschland bereits zu diesem Zeitpunkt sehr hoch war, finden wir sie in den meisten Streikgremien überhaupt nicht oder nur vereinzelt vertreten. Unter den 216 verhafteten Streikleitungsmitgliedern aus Leipzig waren lediglich zehn Frauen. Selbst in typischen Frauenbetrieben, wie im VEB Thalysia (Miederwarenfabrik) Leipzig, dominierten Männer die Streikleitung - Ausdruck eines Rollenverständnisses, wonach Frauen weniger zu politischen Funktionen taugten als Männer. Auf den Anteil von Frauen wurde schlicht nicht geachtet, mit der bemerkenswerten Ausnahme des VEB ABUS Dresden-Niedersedlitz, wo bei der Wahl des „Prüfungsausschusses" explizit Wert darauf gelegt wurde, daß eine Frau vertreten war. Die Vorgeschlagene, eine Sachbearbeiterin, hatte früher der NSDAP angehört und war seit 1947 Mitglied der SED. Analysiert man im nachhinein Struktur und Zusammensetzung der Streikleitungen, so hat man sich immer vor Augen zu halten, daß bei ihrer Wahl oder Berufung natürlich nur in den wenigsten Fällen systematisch vorgegangen wurde. Improvisation und Zufall spielten die Hauptrolle. Wo auf Zuruf gewählt wurde, gelangten Betriebsangehörige einfach auch deshalb in die Streikleitungen, weil sie in der ersten Reihe, in der Nähe der Mikrofone standen oder sich schlicht am besten bemerkbar machen konnten. Auf Baustellen und in neuen Betrieben spielte der Zufall eine noch größere Rolle als dort, wo sich die Belegschaft seit Jahren kannte. Hier wurde schon eher bewußt ausgewählt. So gab es zahlreiche Betriebe, wo ausdrücklich darauf geachtet wurde, daß keine Mitglieder oder Funktionäre der Staatspartei in diese Gremien gelangten. Insgesamt ist jedoch der Anteil von SED-Genossen, Gewerkschafts- und sogar Parteifunktionären in den Streikleitungen in allen drei Bezirken und auch bei der SAG Wismut bemerkenswert. Brachte der Juni-Aufstand binnen weniger Stunden „Führer" hervor, die der spontanen Massenbewegung Richtung und Ziel gaben? In der Literatur zum 17. Juni 1953 sind nur relativ wenige Personen namentlich festgehalten, die den Ereignissen in ihrer Region den Stempel aufdrückten. Der Einfluß einzelner und kleiner Führungsgruppen auf das situationsbedingte Handeln ist gewiß nicht zu unterschätzen, doch wissen wir darüber relativ wenig. Von diesen

602

Schlußbetrachtung

„Führern auf Stunden" 7 kennen wir bestenfalls die Namen, kaum ihren Beruf oder ihren politischen Werdegang. Noch weniger wissen wir darüber, weshalb sie gerade an diesem Tage aus der Masse hervortraten. Die vorliegende Untersuchung macht deutlich, daß es auch in Sachsen eigentlich keinen ausgesprochenen Aufstandsführer gegeben hat. In dieser spontanen und kurzzeitigen Erhebung, die sich auf keine legale Organisation stützen konnte, gelang es einzelnen Personen trotz hoffnungsvoller Ansätze einfach nicht, das Geschehen in einer Stadt oder Region zu bestimmen. Trotzdem ragen an vielen Orten einzelne Persönlichkeiten heraus, deren Mut und Initiative, deren politische Weitsicht und Realitätssinn zu würdigen sind. Das beobachten wir vor allem in Städten wie Görlitz, Niesky und Dresden, doch auch in einigen Kleinstädten des Bezirkes Leipzig. In der Regel waren es Gruppen von Menschen, betriebliche und überbetriebliche Streikleitungen, die an diesem 17. Juni innerhalb weniger Stunden den Lauf der Dinge zu beeinflussen suchten. Sie übernahmen aus der Situation heraus Verantwortung, scheuten das persönliche Risiko nicht und trafen aus dem Stegreif heraus Entscheidungen, die nicht vorgeplant sein konnten. Aus diesen Gruppen wiederum traten in Dresden, Görlitz, Niesky, Leipzig und Umgebung Personen hervor, die aufgrund ihrer Erfahrungen im gewerkschaftlichen und politischen Kampf vor 1933 und nach 1945 in dem Moment, als sich die Chance auf politische Veränderungen in der DDR zu eröffnen schien, wußten, was zu tun und was zu unterlassen war, wohl wissend, daß das gegen den Willen der Sowjetunion unmöglich sein würde. Ein solcher „Führer auf Stunden" war Wilhelm Grothaus. Sein Schicksal ist besonders tragisch und überdies aufschlußreich für den Umgang der SED mit ihren eigenen Mitgliedern und Funktionären. Er verkörpert eine Generation, die Opfer zweier deutscher Diktaturen geworden ist. Als anerkanntes Opfer des Faschismus wurde er nach dem 17. Juni 1953 als „faschistischer Provokateur" verteufelt. Die historische Würdigung seiner Leistung gebietet es jedoch auch, seine Rolle im nachhinein nicht zu überschätzen. Auch er konnte sich nicht innerhalb weniger Stunden zu einem allgemein anerkannten Führer des Aufstandes in Dresden entwickeln. Sein Engagement für Freiheit und Demokratie vor den Belegschaften des VEB ABUS und der SAG Sachsenwerke am Nachmittag des 17. Juni gab jedoch den entscheidenden Anstoß zu der gemeinsamen Verabschiedung eines politischen Forderungskataloges und zur Einberufung einer „Delegiertenkonferenz" für den folgenden Tag. Er war damit zu einem der „Köpfe des Aufstandes" geworden, nach denen die sowjetischen und die deutschen Sicherheitskräfte fieberhaft fahndeten. Grothaus wurde verhaftet, bevor die „Delegiertenkonferenz" stattfand. Er hatte seine Vorschläge auch nicht mehr vor einer größeren Kulisse im Zentrum von Dresden wiederholen können. Es war das Schicksal von Grothaus, der sein ganzes Leben für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, gegen den Krieg und den Nationalsozialismus 7

Vgl. ebd., S. 150ff.

Schlußbetrachtung

603

gekämpft hatte und diesen Kampf kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges fast mit dem Leben bezahlt hätte, von der SED als „gewissenloser Verräter an der Arbeiterklasse" diffamiert zu werden. Manch eine Persönlichkeit gehörte zwar keiner Streikleitung oder einem ähnlichen Gremium an, besaß aber ein solches Ansehen in ihrer Stadt oder ihrer Gemeinde, daß sie an diesem 17. Juni zu einem Meinungsführer wurde. In Görlitz war das z. B. „der alte Latt", ein „stadtbekannter alter Sozialdemokrat", der seit Beginn des Jahrhunderts am politischen Kampf der Sozialdemokratie teilgenommen hatte. 1946 war er in die SED eingetreten. Von seiner Partei enttäuscht, sah Max Latt im Aufstand die Chance, sein Lebensziel zu realisieren. „Seid ein einig Volk von Brüdern und haltet zusammen in Gefahr. Denn wir sind nur in der Masse einig, ein einzelner schafft nichts", rief er den Görlitzer Kundgebungsteilnehmern zu. In diesen Stunden traten soziale Herkunft und politischer Werdegang tatsächlich hinter der Entschlossenheit zurück, Freiheit und Recht zurückzugewinnen. Daß ein Mann wie Max Latt an diesem Tage an der Seite jener stand, die politische Veränderungen und ein menschenwürdiges Leben herbeiführen wollten, war für viele Görlitzer ein ermutigendes Signal; Zeitzeugen erinnern sich noch heute an die eindrucksvolle Rede dieses „alten Mannes". Zu den Personen, die in ihren Heimatorten bei einzelnen Aktionen zu Führern werden konnten, weil sie bei ihren Mitbewohnern besonderes Ansehen genossen, gehörten auch Willi Michel, Kurt Jäger, Gottfried Diener und Lothar Markwirth. Sie hatten sich als Mitglieder der DBD im Gemeinderat oder als Leiter der BHG in Zodel bzw. des CDU-Ortsvorstandes in Kollm Anerkennung erworben, weil sie sich immer wieder für die Interessen der Bürger eingesetzt hatten. Deshalb folgte ihnen die Mehrheit der Dorfbewohner am 17. Juni. In Zodel protestierten zahlreiche Einwohner noch über Jahre hinaus gegen die harte Bestrafung ihrer Anführer und setzten sich mit Nachdruck für deren Freilassung ein, obwohl sie sich damit in die Gefahr begaben, gleichfalls als Feinde der DDR und des Friedens abgestempelt zu werden. In Niesky folgten Hunderte von Einwohnern bei der Erstürmung der MfS-Dienststelle dem Vorbild von Lothar Markwirth. Markwirth war Kreistagsabgeordneter der LDPD in Niesky und ein bekannter Geschäftsmann. Als der Staatssicherheitsdienst nach ihm fahndete, versteckte ihn eine Nieskyer Gastwirtsfamilie, und als Gerüchte über seine Erschießung aufkamen, erhoben sich heftige Proteste vor allem unter den LOWA-Arbeitern. Beinahe noch schwieriger als die Zusammensetzung der Streikleitungen festzustellen und die Führungsfiguren des 17. Juni in Sachsen zu benennen, ist der Versuch zu bestimmen, wer und welche Gruppen sich an öffentlichen Demonstrationen und Aktionen im einzelnen beteiligt haben. Die Demonstrationen begannen in der Regel in den Vormittagsstunden mit dem Auszug streikender Belegschaften aus ihren Betrieben. Auf dem Wege ins Zentrum der Städte schlössen sich meist Anwohner und Passanten an. In Leipzig und Görlitz waren es mehr Menschen als in Dresden, wo die Innenstadt infolge der

604

Schlußbetrachtung

Kriegszerstörungen kaum bewohnt war und die großen Betriebe am Rande der Stadt lagen. Neben solchen Gegebenheiten entschieden auch andere Faktoren darüber, welches Ausmaß die Demonstrationen erreichten. In Städten wie Leipzig und Görlitz, wo die Streikenden in den Vormittagsstunden sehr schnell aus den Betrieben und Baustellen heraus auf die Straßen gingen, erreichten die Proteste bereits vor der Verhängung des Ausnahmezustandes ihren Höhepunkt. In Görlitz gingen die entscheidenden Impulse von der Mittagskundgebung aus. Die schnelle Vereinigung von streikenden Belegschaften mit protestierenden Einwohnern der Stadt und des Umlandes und ihr gemeinsames Ringen um die Bestimmung der nächsten Ziele und Aufgaben fachten die öffentlichen Proteste in Görlitz derart an, daß die Entmachtung der Entscheidungsträger vollzogen und die Machtübernahme der Stadt durch die Görlitzer Aufständischen innerhalb weniger Stunden und ohne Blutvergießen bewerkstelligt werden konnte. Innerhalb kurzer Zeit besetzten die Görlitzer alle wichtigen Machtzentralen. Zunächst bestimmten Betriebsbelegschaften, in der Mehrzahl Arbeiter, das Bild der Marschzüge in die Städte. Zeitzeugen aus Leipzig erinnern sich an Arbeiter im „Blaumann" und an Bauarbeiter in ihrer typischen Berufskleidung. Die Leipziger SED-Berichte dagegen sprechen von „gut angezogenen Leuten", angeblich „Westberliner Agenten und ihren Helfershelfern aus der DDR". Tatsächlich veränderte sich das äußere Bild der Demonstrationen im Laufe des Tages, denn auf dem Wege in die Innenstädte schlössen sich den sofort kenntlichen Bau- und Industriearbeitern Angestellte, Anwohner und Passanten an; „gut angezogene Leute". In Leipzig mit seiner belebten Innenstadt stießen mehr zufällige Demonstranten und Schaulustige als in Dresden hinzu. In Görlitz marschierten Belegschaften der LOWA, des EKM und weiterer Betriebe in die Innenstadt, Arbeiter im Schlosseranzug und die als „Weißkittel" apostrophierten Angestellten und Ingenieure. In Dresden fielen Zeitzeugen neben den „Blaumännern" und Bauarbeitern „großgewachsene Leute mit Lederschürzen" auf. Das waren die Schmiede aus Niedersedlitz. Aus Dresden und Görlitz wird berichtet, am Weg liegende Geschäfte hätten geschlossen, ihre Inhaber und Verkäufer sich den Demonstrationszügen angeschlossen. In Görlitz und Leipzig waren am 17. Juni ungefähr gleich viel Menschen auf den Beinen, in beiden Städten war es zur schnellen Vereinigung der Streikenden mit Anwohnern gekommen. In beiden Städten versuchten die Oberbürgermeister, die Betriebsbelegschaften und die übrigen Bürger von öffentlichen Protesten abzuhalten. Und doch erreichten die Leipziger Aktionen nicht dieselbe Durchschlagskraft wie in Görlitz. Unter anderem gab es eben kein ähnliches Koordinierungsgremium wie das überbetriebliche Streik- und Stadtkomitee dort. Dazu war die Stadt vielleicht zu groß, und außerdem kam es in Leipzig zum Einsatz von Schußwaffen, bevor der Ausnahmezustand über die Stadt verhängt wurde. Eine Besonderheit gegenüber den Demonstrationen in Görlitz ist auch darin zu sehen, daß in der westsächsischen Metropole mehrere Stunden lang Demonstranten aus allen Richtungen ins Zentrum und von dort zu ver-

Schlußbetrachtung

605

schiedenen Plätzen marschierten, ohne eine geschlossene Kundgebung zustande zu bringen. Auch in Dresden hat es mehrere Marschzüge gegeben, die aus den industriellen Außenbezirken in die Innenstadt gelangten oder gelangen wollten. Durch kluges Taktieren verzögerten hier die Verantwortlichen der Partei jedoch den Ausmarsch des größeren Teils der Belegschaften aus den Betrieben von Niedersedlitz ins Zentrum. Erst nach der Versammlung mit Otto Buchwitz am frühen Nachmittag zogen Belegschaften und Streikleitungen nach Dresden hinein. Zu diesem Zeitpunkt war bereits das Kriegsrecht über die Stadt verhängt, und das militärische Aufgebot der sowjetischen Armee und der deutschen Kräfte erwartete die Demonstranten schon, die sich trotz des Ausnahmezustandes noch immer nicht von einer Kundgebung im Herzen der Stadt abhalten lassen wollten. Kleinere Gruppen konnten zwar noch auf die Plätze vordringen, doch scheiterten alle Versuche, eine Kundgebung abzuhalten. Wie überall begannen die vormittäglichen Demonstrationen des 17. Juni 1953 auch in Sachsen zunächst friedlich. Zeitzeugen aus Görlitz, Leipzig und Dresden schildern, daß die Demonstranten diszipliniert und geordnet marschierten, freudig gestimmt und erregt, ausgelassen und hoffnungsvoll. Mitunter herrschte regelrechte Volksfeststimmung. Überall war die Angst gewichen. Zu der anfangs ausgelassenen und hoffnungsvollen Stimmung trug bei, daß auf Grund des passiven Verhaltens der Sicherheitskräfte der Eindruck entstehen mußte, der Sieg sei bereits errungen; in einem Vorort von Leipzig regelten Volkspolizisten sogar den Verkehr für die Marschzüge. Die Losungen und Gesänge der Demonstranten ähnelten jenen, die aus Ostberlin und anderen Städten der DDR bekannt sind. Nur in Ausnahmefällen führten die Demonstranten provisorische Schilder und Transparente mit sich. So marschierten einige Leipziger Bauarbeiter mit der Aufschrift „Solidarität mit Berlin", Arbeiter aus Dresden-Niedersedlitz trugen ein Pappschild mit der Losung „Generalstreik". Die meisten Forderungen wurden jedoch in Sprechchören verbreitet. Zeitzeugen berichten davon, daß Arbeiterlieder und die dritte Strophe des Deutschlandliedes gesungen wurden. In Görlitz war das von durchschlagender Wirkung. „Einigkeit und Recht und Freiheit" waren die wichtigsten Forderungen der Görlitzer Kundgebungsteilnehmer. Die anfangs überall zu vernehmende Forderung nach Gewaltlosigkeit verfehlte vor allem dann ihre Wirkung, als Schußwaffen eingesetzt wurden, erste Menschenleben zu beklagen waren und sowjetische Panzer auffuhren. Von diesem Zeitpunkt an bestimmten mehr und mehr Enttäuschung, Wut und ein Gefühl der Ohnmacht das Handeln der Aufständischen. Chaotische Szenen lösten mitunter das bis dahin relativ geordnete Vorgehen ab. Es kam zu turbulenten Krawallen, in denen gewalttätige Demonstranten gegen Personen, öffentliche Einrichtungen und sowjetische Panzer vorgingen. Jetzt traten in der Regel kleinere Gruppen, meist Jugendliche, in den Vordergrund. Brennende Akten, Büroeinrichtungen, Fahnen und Symbole, vereinzelt sogar brennende Gebäude - in Flammen aufgehende Lokale der Nationalen Front in Leipzig,

606

Schlußbetrachtung

Görlitz und Niesky - machten den Stimmungswechsel deutlich. Sie dienten der Politbürokratie später dazu, den Juni-Aufstand tatsächlich mit den Pogromen der Nationalsozialisten am 9. November 1938 zu vergleichen und zu einer „faschistischen Provokation" zu stempeln. Die Parteipresse schrieb zwei Tage nach dem Aufstand in typischer Diktion über die Ereignisse in Leipzig, an diesem 17. Juni seien „Horden von Agenten und Provokateuren randalierend, sengend, raubend und plündernd" durch die Stadt Leipzig gezogen. Die Zeitungen der SED schrieben später häufig von „asozialen Elementen". Das waren jene Jugendliche, gezeichnet von den Folgen und Erlebnissen des Krieges, die sich tatsächlich unter die Demonstranten gemischt hatten und die der Öffentlichkeit als „Rädelsführer" präsentiert wurden. Auf den Bildern der Aufmärsche fällt sofort der große Anteil von Jugendlichen und sogar Kindern auf. Tatsächlich waren Lehrlinge und Schüler nach dem Ende oder dem Abbruch ihres Unterrichts dorthin geeilt, wo es etwas zu sehen und erleben gab. Sie standen beispielsweise in Leipzig mit auf dem Markt, um das Niederbrennen des Stützpunktes der Nationalen Front zu beobachten. Die Jugendlichen schlössen sich sehr schnell den Demonstrationen an und standen meist in der ersten Reihe, als Zuchthäuser und öffentliche Gebäude gestürmt wurden. Für die Beteiligung junger Leute gibt es mehrere Gründe. Zum einen waren gerade sie seit längerem unzähligen Kampagnen und Erziehungsmaßnahmen ausgesetzt, wie etwa der Werbung für Polizei und Kasernierte Volkspolizei, der Verfolgung als christliche Schüler und Studenten, der Disziplinierung und Indoktrinierung an den Schulen und Hochschulen. Es spielte natürlich auch die Suche nach Abenteuern mit. Die Jugendlichen ließen sich auch nicht so einfach von den Straßen vertreiben. Mitunter waren sie mit ihren Fahrrädern in die Innenstädte gekommen, waren mobil und konnten sich sehr schnell von einem Ort zum anderen bewegen. In Bautzen fuhren sie noch am Abend des 17. Juni durch die Stadt, um auf dem „Platz der Roten Armee" eine Kundgebung zu organisieren. In Leipzig, Dresden, Bad Düben, Delitzsch und Bautzen zogen kleinere Gruppen Jugendlicher auch nach der Verhängung des Ausnahmezustandes durch die Straßen. In Leipzig wurden sie mit Wasserwerfern und Warnschüssen vertrieben, in Dresden durch deutsche und sowjetische Sicherheitsorgane verhaftet, in Bautzen von schwerbewaffneten sowjetischen Soldaten auseinandergejagt. In ihrer Ohnmacht wurden einige von ihnen immer aggressiver und warfen mit Steinen. Sogar am 18. Juni gingen noch kleinere Gruppen von Jugendlichen in Dresden, Leipzig, Görlitz und Bautzen auf die Straße, um zu protestieren. Doch diese Versuche wurden schnell unterbunden. Ein recht genaues Bild vom Auftreten Jugendlicher am 17. Juni 1953 läßt sich für Görlitz zeichnen. Neben dem gleichfalls großen Anteil der Jugend an den Protestaktionen und jenem Verhalten, das sich in besonderer Angriffslust und mitunter in teilweise unkontrollierter Entladung von Aggressionen zeigte, sind hier Jugendliche mit bemerkenswerten politischen Aktionen hervorgetreten, die nur aus der dortigen besonderen Situation zu erklären sind. Auch in

Schlußbetrachtung

607

Görlitz fiel an diesem Tage an vielen Schulen der Unterricht aus. Die Schüler der Görlitzer Oberschule wählten einen Schülerrat und forderten die Absetzung des Rektors. Sie nahmen auch an der eindrucksvollen Kundgebung in der Stadt teil. Die überbetriebliche Streikleitung, später das Stadtkomitee, bezog die lugendlichen in ihre auf friedliche Veränderung zielenden Aktionen mit ein. So waren etwa Jugendliche „mit ausgesprochen guten Manieren" für den Schutz des Oberbürgermeisters, des verletzten 1. SED-Kreissekretärs und verletzter MfS-Mitarbeiter verantwortlich. Andere übernahmen die Sicherung des Stadtfunks. Angehörige der Jungen Gemeinde traten beim Sturm auf die Haftanstalten besonders hervor, später kümmerten sie sich um die befreiten Gefangenen. Selbst für die zukünftige Stadtverwaltung waren junge Bürger vorgesehen. Doch es gab auch eine Gruppe von jungen Leuten, die damals offenbar auf der anderen Seite der Barrikade stand. So erhielten die Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät der Technischen Hochschule Dresden, Außenstelle Görlitz, nach der Niederschlagung des Aufstandes von der Regierung der DDR eine Geldprämie und eine Urkunde, weil sie an diesem Tage „kühn und unerschrocken ihre Lehrstätte gegen faschistische Ausschreitungen verteidigt und dadurch allen Werktätigen in der DDR ein leuchtendes Beispiel der Verbundenheit mit der Arbeiterklasse, der Regierung der DDR und der SED" gegeben hätten. Weil ihre Beteiligung an dem Aufstand groß war, war auch der Anteil von Jugendlichen an den Opfern des 17. Juni hoch. Unter den zehn auf den Straßen des Bezirkes Leipzig getöteten Demonstranten bzw. den standrechtlich Erschossenen finden wir sieben junge Männer im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, Lehrlinge und Arbeiter. Da sich viele jugendliche Demonstranten an der Zerstörung der Einrichtungen in SED-, MfS- und FDJ-Gebäuden beteiligt hatten, war ihr Anteil an den verhafteten und verurteilten „Rädelsführern" auch besonders hoch. Mitunter standen sogar Halbwüchsige, fast noch Kinder, vor den Schranken der Gerichte. So waren beispielsweise 16 Prozent der vom Dresdner Bezirksgericht bis zum 23. Juli 1953 Verurteilten im Alter von 14 bis 18 Jahren, 22 Prozent in der Altersgruppe von 18 bis 20 und knapp 17 Prozent zwischen 2 0 und 25 Jahren - mehr als die Hälfte der Verurteilten war also jünger als 25 Jahre alt. Die Befreiung der politischen Häftlinge aus den Zuchthäusern verdient besondere Hervorhebung, weil diese Aktionen die Zielsetzung der Aufständischen besonders hervortreten läßt. Unbewaffnete Demonstranten drangen in die Gefängnisse ein, um Menschen zu befreien, die etwa wegen Vergehens am Volkseigentum oder Verunglimpfung des sozialistischen Staates zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt waren. Auch hier fallt der gleichartige Ablauf in den sächsischen Städten auf. Bereits in den Vormittags- und Mittagsstunden marschierte ein Teil der Demonstranten in Leipzig und Görlitz zu den Zuchthäusern und Kreisdienststellen der Staatssicherheit, um die politischen Häftlinge zu befreien. Sie trafen dabei vor den Haftanstalten auf eine zunächst kleine Gruppe von Menschen, zumeist Angehörige oder Bekannte von Inhaftierten,

608

Schlußbetrachtung

die auf die angekündigten Entlassungen im Rahmen des Neuen Kurses warteten. Offenbar hielten die Leitungen der Gefängnisse ihre Häuser für so abschreckend und sicher, daß sie zunächst - Ausnahme Karl-Marx-Stadt - keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen für erforderlich hielten. Erst nach der Stürmung der ersten Görlitzer Haftanstalt wurde die höchste Alarmstufe ausgelöst und Anweisung gegeben, diese Objekte mit allen Mitteln, notfalls mit Waffengewalt, zu verteidigen. Doch im Gegensatz zu den Leipziger Polizeikräften, die die Stürmung der Untersuchungshaftanstalt mit der Schußwaffe unterbanden, setzte sich das Görlitzer Wachpersonal über die Dresdner Weisung hinweg. Wie in Leipzig, so kam es auch in Delitzsch bei dem Versuch, Gefangene zu befreien, zum Einsatz von Schußwaffen mit Todesfolgen. In Dresden gab es in den Abendstunden einen zaghaften Versuch zur Gefangenenbefreiung, der jedoch bereits in seinen Ansätzen von sowjetischen Soldaten vereitelt wurde. Lediglich in Görlitz war dem Sturm auf die beiden Haftanstalten und die Kreisdienststelle für Staatssicherheit Erfolg beschieden. Auch in Niesky wurde die Kreisdienststelle gestürmt, doch befanden sich dort keine Häftlinge mehr. In Görlitz kamen alle Häftlinge frei, obwohl die Aktion nur den „Politischen" gegolten hatte. Selbst die eigens eingesetzte Kommission war außerstande, das vom Stadtkomitee angestrebte Ziel, nur die politischen Häftlinge zu entlassen, sicherzustellen. Über die Forderungen, die von den Demonstranten am 17. Juni 1953 aufgestellt wurden, besteht kaum noch Unklarheit, und es ist festzuhalten, daß sie sich in Ostberlin und in Sachsen ähneln. Sie zielten auf soziale Verbesserungen und politische Veränderungen zugleich. Dieser Gleichklang ergab sich nicht, wie die SED-Propaganda gerne behauptete, aus Machenschaften des „Klassenfeindes", sondern aus der sozialen Lage und den politischen Verhältnissen, wie sie seit 1945 in der S B Z / D D R entstanden und mit den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz der SED vertieft worden waren. Sie provozierten nachgerade den schweren Konflikt zwischen Volk und Führung. Die jetzt überall erhobenen Forderungen nach Senkung der Lebensmittelpreise, nach Herabsetzung der Normen, nach demokratischen Rechten und Freiheiten, nach der Freilassung politischer Häftlinge, nach dem Rücktritt der Regierung, nach freien Wahlen und der Einheit Deutschlands wurden schon seit der Verkündung des Neuen Kurses - also bereits vor dem 17. Juni 1953 - mehr oder weniger öffentlich artikuliert. In den Informationsberichten der SED-Bezirkszentralen an das Zentralkomitee sind sie nachzulesen. Analysiert man die Forderungen der Aufständischen, so ist es wenig sinnvoll, nach sozialen und politischen Anliegen zu unterscheiden, denn in den staatssozialistischen Ländern war jede öffentlich angemahnte Verbesserung der sozialen Lage zugleich Kritik an der führenden Partei. Dies vorausgeschickt, können gerade für Sachsen aber auch Mutmaßungen, wonach die Demonstranten unter sozialen Losungen angetreten seien, um erst später den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen zu fordern, nicht bestätigt werden. Ein Nacheinander von sozialen und politischen Forderungen hat es nicht gege-

Sch lußbetrach tung

609

ben. Nachdem bereits vor dem 17. Juni immer lauter die Ablösung von Ulbricht als Schuldigem an einer verfehlten Politik immer lauter gefordert worden war, begannen die Streiks und Demonstrationen am Morgen des 17. Juni in Dresden, Leipzig oder Görlitz unter politischen und sozialen Losungen zugleich. Selbst in Betrieben, in denen die Arbeitsbedingungen besonders schlecht waren, wie in Betrieben der Textilindustrie in Leipzig oder Crimmitschau, bildeten betriebliche und soziale Forderungen nicht den Schwerpunkt des Protests. In Ulbrichts Geburtsstadt Leipzig gab es am 17. Juni und in den folgenden Tagen keinen Betrieb und keine Institution, wo nicht die Ablösung Ulbrichts und seines Statthalters Paul Fröhlich gefordert wurde. Forderungen nach Rücktritt oder Sturz der Regierung, nach freien Wahlen in ganz Deutschland, nach einer Aufhebung der Zonengrenzen und nach der Einheit Deutschlands nahmen in der Mehrzahl der Resolutionen und Forderungskataloge einen zentralen Platz ein. Lediglich im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab es kaum Forderungen nach der Wiedervereinigung wohl aber nach einem Wegfall der Wismut-Sperrbezirke, die für die meisten Einwohner dieses Bezirkes viel unmittelbarere Bedeutung hatten als die Teilung Deutschlands. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes gingen in die Forderungskataloge das Verlangen nach sofortiger Freilassung der inhaftierten Streikleitungen und Demonstranten, nach einer Aufhebung des Kriegsrechts und dem Abzug des sowjetischen Militärs aus den Betrieben ein; in einigen Betrieben setzten die Belegschaften den Abzug sowjetischer Panzer vom Betriebsgelände tatsächlich durch. Antisowjetische Losungen waren bis zur Verhängung des Ausnahmezustandes praktisch nicht zu sehen, zumindest wurden solche Forderungen nicht öffentlich gemacht. Den Streikenden war bewußt, daß gegen die Sowjetunion keine Veränderungen in der DDR zu erreichen waren. Gleichzeitig hofften manche, daß die Besatzungsmacht nach Stalins Tod auf die DDR verzichten oder sich in den Auseinandersetzungen zwischen der DDR-Regierung und dem Volk zumindest neutral verhalten würde. Gerüchte über den „Abzug der Russen" und den „Einmarsch der Amerikaner" kursierten bereits vor dem 17. Juni, lebten an diesem Entscheidungstage wieder auf und hatten mehr Einfluß auf die damaligen Aktionen als bisher angenommen. Die trügerische Hoffnung auf eine „Nichteinmischung der Russen" wurde auch dadurch gestärkt, daß in einigen Städten (wie in Görlitz) der Sturm auf die MfS-Kreisdienststelle und die SED-Kreisleitung von sowjetischen Offizieren beobachtet wurde, ohne daß diese einschritten. Auch in Leipzig zogen sie zunächst wieder ab, ohne FDJ-Funktionäre bei der Verteidigung ihres Gebäudes zu unterstützen. Erst nach der Verkündung des Ausnahmezustandes räumten sie die besetzten Gebäude von Demonstranten und stellten die verängstigten Parteikader unter ihren Schutz. Alle Forderungen, die am 17. Juni 1953 öffentlich erhoben wurden, sich aber schon vorher in betrieblichen Protestaktionen herauskristallisiert hatten, wurden aus der Situation heraus und spontan artikuliert und von anderen

610

Schlußbetrachtung

Betrieben übernommen. Eine revolutionäre Programmatik gab es nicht. Dazu fehlten die Zeit und eine politische Kraft, die in der Lage gewesen wäre, die Energien zu bündeln und in vorgezeichnete Bahnen zu lenken. Bevor die Akteure über die Perspektiven ihres raschen Erfolges nachdenken konnten, war mit der Niederschlagung des Aufstandes die Chance zu politischen Veränderungen auch schon wieder vorüber. Vielfach zeigten sich die Menschen von der Kraft ihrer Aktionen selbst überrascht. Ein Teil der streikenden Belegschaften und demonstrierenden Einwohner in Leipzig, Görlitz oder Dresden nahm denn auch an, die Regierung der DDR sei bereits abgetreten. Die Wirkung derartiger Mutmaßungen oder Gewißheiten ist nicht zu unterschätzen, denn sie ermutigten die Menschen auf den Straßen, ihre Wünsche und Hoffnungen frei zu artikulieren. Anders als während des politischen Umbruchs 1989 übten sich die Kirchen der DDR am 17. Juni 1953 und unmittelbar danach „in politisch loyaler Zurückhaltung". Demzufolge hatte der Aufstand auf das Verhältnis von Staat und Kirche „erstaunlich geringe Auswirkungen". 8 Eine Ursache liegt sicherlich darin, daß der Kampf des Staates gegen die Kirchen und ihre Junge Gemeinde bereits vor dem Aufstand überraschend beendet worden war. Kirchenleitungen und Pfarrer waren damit beschäftigt, die Wunden zu heilen, die die Kampagne gegen die Junge Gemeinde bei den Gläubigen hinterlassen hatte, und die neuen Möglichkeiten ihrer Arbeit zu erkunden. Der 17. Juni überraschte auch die Kirchenleitungen. Sie solidarisierten sich nicht mit den Kräften eines Aufstandes, der auch von ihren Gemeindemitgliedern getragen wurde, sondern riefen zu Ruhe und Ordnung auf. Die SED-Führung war mit dem Verhalten der Kirchenleitungen in der DDR insgesamt dann auch nicht unzufrieden. Das traf vor allem auf die Kirchenleitung in Sachsen und die Mehrzahl ihrer Geistlichen zu. Jene wählte an diesem 16. und 17. Juni den neuen Landesbischof Noth, zu dessen ersten Amtshandlungen eine Anweisung des Landeskirchenamtes vom 19. Juni gehörte, „alle Christen der evangelisch-lutherischen Landeskirche zur Ruhe und Ordnung aufzufordern und sich von den Demonstrationen fernzuhalten." 9 Der sächsische Synodalpräsident Mager soll sogar sein Unverständnis gegenüber den Protesten geäußert haben. Die Mehrheit der Pfarrer folgte offenbar den Anweisungen ihres Bischofs. Über Verhaftungen von kirchlichen Würdenträgern aus Sachsen wegen einer Beteiligung am 17. Juni ist ebenfalls nichts bekannt; lediglich ein Pfarrer aus Bad Düben, der nach dem Aufstand die Glocken geläutet hatte, wurde festgenommen. Die Leitung des Kirchengebietes Oberlausitz in Görlitz mit Bischof Hornig an der Spitze trat nach Meinung der SED-Führung dagegen offen als Feind auf. Besonders die Audienz des Bischofs beim sowjetischen Militärkommandanten der Stadt Görlitz und einige seiner Forderungen wurden als „unverschämte Provokation" gewertet. In diesem Kirchengebiet unterstützten einige Pfarrer die öffentlichen Proteste ihrer Gemeindemitglieder. Über das Auftreten der 8 9

Vgl. Besier, Der SED-Staat, S. 132f. Zitiert ebd., S. 133.

Schlußbetrach tu ng

611

katholischen Kirche und ihrer Würdenträger gibt es lediglich für Görlitz und Umgebung Aussagen, die allerdings recht widersprüchlich sind. Während die SED-Bezirksleitung Dresden beispielsweise hervorhob, daß in Gebieten, wo die katholische Kirche größeren Einfluß besaß, keine „Ausschreitungen" zu verzeichnen waren, verweisen Zeitzeugen glaubhaft darauf, daß sich in Görlitz katholische Würdenträger am 17. Juni nach anfänglichem Zögern durch stille Gesten mit den Aufständischen solidarisierten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes schwiegen die katholischen Würdenträger in Görlitz. Einige katholische Angestellte dagegen unterstützten die Proteste. Freilich gibt es in der untersuchten Region im Unterschied zu anderen Teilen der DDR keine Hinweise darauf, daß spezifische Forderungen aufgetaucht wären, die das Verhältnis von Kirche und Staat oder die Stellung der Christen in der Gesellschaft betrafen. 1 0 Auch auf dem Lande, in den Dörfern und Gemeinden, formierte sich am 17. Juni Widerstand und öffentlicher Protest, obgleich hier die Entfaltungsbedingungen ungünstiger waren als in den Städten. Für die Dorfbewohner war es riskanter, an Demonstrationen gegen die SED-Herrschaft teilzunehmen, weil jeder jeden kannte und man sich nicht in der Masse verstecken konnten. Besonders wirkungsvoll waren die Aktionen in einigen Dörfern der Kreise Görlitz und Niesky. Unter dem Eindruck und nach dem Vorbild der Görlitzer Aktionen wurden Bürgermeister und Gemeindevertretungen abgesetzt und neue eingesetzt. Sogar regelrechte Kundgebungen fanden hier auf dem Dorf statt. Auch im Bezirk Leipzig war auf dem Land Widerstand gegen örtliche Machtträger zu verzeichnen, aber sie erreichten nicht das Ausmaß wie in den Kreisen Görlitz und Niesky. In den drei sächsischen Bezirken verlief der 17. Juni 1953 ähnlich und zugleich doch sehr unterschiedlich: Berücksichtigt man zunächst die Anzahl der Kreise, die in jedem der drei Bezirke vom Aufstand erfaßt wurden, dann war die Unruhe im Bezirk Leipzig am größten. Hier kam es in sämtlichen Kreisen zu Protesten; im Bezirk Dresden waren es zwei Drittel, im Bezirk Karl-MarxStadt gut ein Viertel der Landkreise. Vergleicht man die offiziellen Zahlen zu den Demonstranten in den Bezirken miteinander, dann stand der Bezirk Leipzig gleichfalls an erster Stelle. In der Bezirkshauptstadt alleine demonstrierten fast so viele Menschen wie im Bezirk Dresden insgesamt. Nach der Anzahl der Orte, in denen es zwischen dem 17. und 21. Juni zu Demonstrationen, Streiks oder Gewalttätigkeiten gekommen war, liegt der Bezirk Dresden mit 52 Gemeinden an der Spitze, gefolgt von Leipzig mit 4 8 und Karl-Marx-Stadt mit 27. Die meisten Arbeitsniederlegungen sind im Bezirk Leipzig zu registrieren, gefolgt von Dresden und Karl-Marx-Stadt. Im Bezirk Leipzig kam es zu 319 000 Ausfallstunden, im Bezirk Dresden zu 306 810, davon allein in Görlitz 205 638 Stunden.

10

Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 91.

612

Schlußbetrachtung

Auch für die Art und Weise, wie die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Staatsmacht beendet wurden, sind deutliche Unterschiede festzustellen. Im Bezirk Leipzig wurden am 17. Juni Schußwaffen gegen Demonstranten eingesetzt, bevor der Ausnahmezustand verhängt war. In keiner anderen sächsischen Stadt wurden so viele Schüsse abgegeben wie in Leipzig. Der Chef der Volkspolizei teilte später mit, eingesetzte Polizeikräfte - ohne Kasernierte Volkspolizei und Staatssicherheit - hätten am 17. Juni rund 1 500 Schuß abgegeben. An anderer Stelle wird die Zahl von 3 2 0 0 Schüssen aus Karabinern und Pistolen genannt, die (einschließlich der Warnschüsse) „auf Provokateure und Angreifer abgegeben" worden seien. Während der Öffentlichkeit diese Bilanz bis zum Ende der DDR verschwiegen wurde, die Angehörigen der Verwundeten und Getöteten nicht über ihr Schicksal sprechen durften und jahrelang überwacht wurden, erhielten die Volkspolizisten, die sich im Bezirk Leipzig durch „besondere Verdienste" ausgezeichnet hatten, Prämien, Beförderungen, Belobigungen und kostenlose Ferienreisen an die Ostsee. Der Preis der „militärischen Lösung" waren fünf getötete und etwa 2 0 0 verletzte Demonstranten, ungefähr 60 von ihnen mußten sich in Krankenhäusern behandeln lassen. 35 Polizisten wurden verletzt. Daneben kamen weitere fünf Demonstranten und ein Volkspolizist durch sowjetische Soldaten zu Tode. Im Bezirk Dresden konnte ein derartiges Blutbad verhindert werden, so daß nur relativ wenige Demonstranten, Funktionäre und Polizisten leicht verletzt wurden. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt kam es zu keinen größeren Menschenansammlungen vor öffentlichen Gebäuden; daher gab es keinen Anlaß zum Eingreifen. In den Auseinandersetzungen, in die Wismut-Angehörige im Bezirk Gera verwickelt waren, gab es gleichfalls Tote und Verletzte, so vor allem in Jena und in Weida. Ob und wieviele Wismut-Kumpel unter den Verletzten waren, konnte bisher nicht ermittelt werden. Für den unterschiedlichen Verlauf und die Folgen des Aufstandes in den einzelnen Regionen und Städten kommt den jeweiligen Funktionären dort maßgebliche Verantwortung zu. Auf die Austragung von politischen und sozialen Konflikten in der Form öffentlichen Protestes nicht vorbereitet, weil die Möglichkeit von Krisen im Sozialismus von Ulbricht generell geleugnet wurde, waren die Nomenklaturkader nicht daran gewöhnt, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Am 17. Juni 1953 blieben die gewohnten Anweisungen überdies zunächst aus oder sie waren so allgemein gehalten, daß man wenig damit anfangen konnte. Die ersten „Empfehlungen" aus Berlin kamen erst am Nachmittag des 17. Juni in den SED-Bezirksleitungen an. Da war etwa über den Bezirk Dresden der Ausnahmezustand bereits verhängt. Später kritisierten alle drei sächsischen Bezirksleitungen und die Gebietsparteileitung Wismut das Zentralkomitee dafür, daß die Unterrichtung über die Ereignisse am 16. Juni in Berlin nicht rechtzeitig und in zu allgemeiner Form erfolgt sei. Das Zentralkomitee der SED wiederum warf den untergeordneten Leitungen mangelnde oder falsche Informationen über die tatsächliche Massenstimmung vor. Somit wurde auf allen Ebenen der Staatspartei der Eindruck erweckt, als ob eine bes-

Schlußbetrachtung

613

sere Informationspolitik den Aufstand vom 17. Juni 1953 hätte verhindert können. Auf die ersten Anzeichen von „Unruhen" hin angemessen zu reagieren war schon deshalb schwierig, weil die wichtigsten Funktionäre der Bezirksleitungen zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr vor Ort waren. Die 1. Bezirkssekretäre, die Wirtschaftssekretäre und die Vorsitzenden der Parteikontrollkommissionen waren in den frühen Morgenstunden nach Berlin bestellt worden. Lediglich die SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und die Parteileitung der Wismut hatten davor noch tagen und Maßnahmen zur Abwehr von möglichen Unruhen festlegen können. Die 2. Bezirkssekretäre in Leipzig und Karl-Marx-Stadt und der Funktionär für Agitation und Propaganda in Dresden mußten nun die Vertretung in den Bezirkssekretariaten übernehmen; in Leipzig und Karl-MarxStadt waren das Frauen. Die SED-Bezirkssekretariate Dresden und Leipzig setzten sich am Morgen nicht einmal mit den Parteisekretären der Betriebe in Verbindung, und sie benachrichtigten auch die gewählten Bezirksleitungsmitglieder nicht. Statt dessen tagten sie hinter verschlossenen Türen und hofften auf ein Abebben der Unruhen. Während die Bezirksparteileitungen in Leipzig und Dresden erst in den Vormittagsstunden des 17. Juni über Maßnahmen zur Sicherung ihrer Macht nachdachten, hatten sich die Funktionäre in Karl-MarxStadt bereits nach ihrer nächtlichen Sitzung mit den Leitern der Volkspolizei und der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit verständigt und einen Kampfstab gebildet. Er leitete und koordinierte die Organisation zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen im Bezirk, so etwa die sofortige Verstärkung des Schutzes für Parteieinrichtungen und öffentliche Gebäude. Bereits nach den Vorkommnissen in Johanngeorgenstadt am 15. Juni waren verschärfte Sicherheitsbestimmungen für die Wismut-Kreise in Kraft getreten. Die sowjetische Generaldirektion der SAG Wismut veranlaßte noch in der Nacht vom 16. zum 17. Juni die verstärkte Bewachung aller Schächte und Aufbereitungsbetriebe. Die SEDLeitung der Wismut konzentrierte sich vor allem darauf, ein Übergreifen der Unruhen in die Objekte der Wismut selbst zu verhindern. Deshalb koordinierten die Wismut-Parteifunktionäre von Anfang an ihr Vorgehen mit der SEDBezirksleitung in Karl-Marx-Stadt. Während die Bezirksleitung Dresden ihre 1. Kreissekretäre noch vor Arbeitsbeginn mit den Anweisungen aus dem Zentralkomitee vertraut machte, geschah im Bezirk Leipzig nicht einmal das. Die SED-Kreisleitung Leipzig erhielt erst Informationen, als aus den Betrieben bereits Meldungen über Streiks eintrafen. Nicht einmal in dieser Situation hatte sie Zugang zur Bezirksleitung. Bis Mittag bemühten sich Leipziger SEDFunktionäre vergeblich darum, die ersten Demonstranten mit Diskussionen zur Aufgabe ihres Protestes zu bewegen. Doch die Agitatoren waren selbst nicht über die Vorgänge in Berlin unterrichtet. Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister begleiteten sie später die Demonstrationszüge, um sich von den ungewöhnlichen Aktivitäten der Leipziger ein Bild zu machen. Doch selbst frühzeitige Informationen aus Ostberlin hätten wohl kaum wesentliche Auswirkungen auf den Gang der Ereignisse vor Ort gehabt, wie

614

Schlußbetrachtung

das Beispiel Görlitz zeigt. Der 1. Kreissekretär von Görlitz-Stadt rief zwar zu ungewöhnlich früher Stunde die Chefs der Staatssicherheit, der Volkspolizei und den Oberbürgermeister zu sich, aber auch so konnte nicht verhindert werden, daß wenige Minuten später Betriebsbelegschaften aus sozialistischen Vorzeigebetrieben die Arbeit verweigerten. Die Kreisverantwortlichen waren schlicht überfordert, mit so massivem widerständischem Verhalten umzugehen, zumal zahlreiche SED-Mitglieder und Gewerkschaftsfunktionäre den Protest in den Betrieben mittrugen. Im Bezirk Dresden konzentrierten sich die Verantwortlichen der SED mit Hilfe der Staatssicherheit zunächst auf die Gewährleistung der eigenen Sicherheit. Aber auch das funktionierte, wie in Görlitz und Niesky, nicht überall, da die empörten Bürger gegen die Dienststellen des MfS selbst vorgingen. In der Nacht vom 17. zum 18. Juni entsandte das Zentralkomitee dann Kandidaten des Politbüros und Mitglieder der Regierung zu den Bezirksleitungen, wo sie das Kommando über die Einsatzleitungen im Bezirk übernahmen. Elli Schmidt und Fritz Selbmann etwa bildeten in der Bezirksleitung Dresden (der 1. Bezirkssekretär weilte in Ungarn im Urlaub) einen sogenannten Kampfstab zur Koordinierung der nächsten Aufgaben. Fritz Selbmann trat am 18. Juni persönlich in den Stahl- und Walzwerken Riesa und Gröditz auf, um eine Beendigung des Streiks zu erreichen. Dabei drohte er den Stahlwerkern militärische Gewalt an, falls die Arbeit nicht sofort wieder aufgenommen würde. Über den Einsatz von Heinrich Rau in der Bezirksleitung Leipzig ist kaum etwas bekannt, in der Analyse der dortigen SED wird er nicht einmal erwähnt; vermutlich, weil der 1. Bezirkssekretär Paul Fröhlich nach seiner Rückkehr aus Berlin die Zügel wieder fest in der Hand hatte. In Institutionen und Bezirksvorständen der Massenorganisationen herrschte übrigens die gleiche Rat- und Kopflosigkeit wie in den Parteileitungen, wo einige Funktionäre anfangs sogar glaubten, bei den Demonstrationen handle es sich um von der SED organisierte Aufmärsche. Anders als viele SED-Funktionäre hatten in Sachsen die Leiter der Bezirksbehörden der Volkspolizei und der Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit in der Nacht vom 16. zum 17. Juni erste Anweisungen aus Berlin erhalten, sich auf mögliche „Unruhestifter" in Betrieben und auf Aktionen „Westberliner Agenten" einzustellen. Die Volkspolizei befand sich in erhöhter Alarmbereitschaft. In Karl-Marx-Stadt etwa wurde bereits um 3 Uhr morgens eine Einsatzleitung gebildet und erhöhte Alarmbereitschaft für die Wacheinheiten ausgelöst. In Abstimmung mit den sowjetischen Kontrolloffizieren, der sowjetischen Kommandantur, der Grenzbereitschaft, der Kasernierten Volkspolizei, dem MfS und den Dienststellen der SAG Wismut erfolgte die Sicherung aller gefährdeten Objekte im Bezirk: Gebäude der SED und staatlicher Einrichtungen, Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke, Großbäckereien, Schlachthöfe, Bahnhöfe oder wichtige Verkehrsknotenpunkte. Der Chef der Volkspolizei im Bezirk Dresden löste gleichfalls sehr zeitig Alarm aus. Doch hier war der Alarmplan nicht auf den aktuellen Stand gebracht, so daß nur ein Teil der Poli-

Schlußbetrachtung

615

zisten vor Dienstbeginn erreicht werden konnte. Kurz nach 8 Uhr wurde die Bewaffnung der Polizeikräfte angeordnet. In Leipzig geschah das etwas später. Generell gab es hier anfangs erhebliche Koordinierungsschwierigkeiten und Kompetenzprobleme zwischen den neu gebildeten Einsatzleitungen, den Operativstäben und den ständigen Leitungsstrukturen. Bevor alle Kreisdienststellen der Volkspolizei alarmiert waren, trafen bereits die ersten Meldungen über die Streiks ein. Auch die Reaktion der Partei auf den Aufstand war in den drei sächsischen Bezirken sehr unterschiedlich. Die Dresdner Polizeiführung setzte frühzeitig auf eine schnelle Beendigung der Demonstrationen mittels polizeilicher Maßnahmen, doch die Bezirksleitung der SED und die sowjetischen Kontrolloffiziere waren anfänglich dagegen, Gummiknüppel gegen Demonstranten einzusetzen. Für die Leipziger Polizei galt zunächst die Order: „Die Sache läuft sich von alleine tot." Als die dringenden Hilferufe von Funktionären nach dem Schutz ihrer Gebäude eintrafen, standen nirgends genügend Polizeikräfte zur Verfügung. Ähnlich war es in Görlitz. Wo die Volkspolizisten in den Bezirken Dresden und Leipzig auch zur Sicherung von Gebäuden ausrückten, standen sie einer Übermacht von Demonstranten gegenüber. Kleinere Einheiten ließen sich entwaffnen, wie in Görlitz, in Niesky und in Leipzig. Mitunter rannten die Polizisten unter dem Gelächter der Demonstranten regelrecht davon. Überall forderten die Aufständischen Volkspolizisten auf, ihre Uniformen abzulegen und sich an den Demonstrationen zu beteiligen. Niemand weiß, wie viele Polizisten dieser Aufforderung tatsächlich folgten. Zeitzeugen berichten, daß in Leipzig und Dresden Polizisten ihre Schulterstücke abgerissen und weggeworfen hätten. In den amtlichen Berichten dagegen wird behauptet, die Demonstranten hätten sich der Rangabzeichen bemächtigt. In Görlitz folgten offenbar mehrere Volkspolizisten der Aufforderung, sich auf die Seite des Volkes zu stellen. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt lagen die Dinge ganz anders. Obwohl dort am 17. Juni keine größeren Aufmärsche registriert wurden, machte die Volkspolizei-Leitung ihr eigenes Dienstgebäude im Lauf des Tages zu einer Art Festung. Sie postierte Scharfschützen, zentralisierte die Munitionsausgabe und richtete bereits ein Notambulatorium ein. Ab dem 18. Juni konzentrierte sich die Polizei-Leitung des Bezirks vor allem darauf, ihre Bezirksgrenzen zu kontrollieren, um ein Übergreifen der Proteste aus anderen Regionen zu verhindern. Dabei wurden sie von Sowjetsoldaten unterstützt. Dieser massive Polizei- und Militäreinsatz verhinderte größere öffentliche Demonstrationen und eine Ausbreitung der Streikbewegung in Westsachsen. Mit der SAG Wismut, den Kreisen mit besonderer Ordnung und den Sperrzonen nach Westdeutschland gab es hier ohnehin eine große militärische Präsenz, so daß Unterstützung aus anderen KVP-Einheiten oder sowjetisches Militär nicht erst angefordert werden mußten. Überall in Sachsen galt am 17. Juni der Befehl, Gefängnisse und Zuchthäuser notfalls mit Waffengewalt zu sichern. Zu Beginn der Versuche, politische Häftlinge zu befreien, kam es in Leipzig und in Görlitz zu Diskussionen zwischen Polizisten und Demonstranten. Appelle an die Volkspolizisten, ihre

616

Schlußbetrachtung

Waffen niederzulegen und sich dem Protest anzuschließen, verfehlten ihr Ziel. Danach spitzte sich die Situation zu. In Leipzig fielen gegen Mittag erste Warnschüsse vor dem Gefängnis und heizten die explosive Atmosphäre an. Als die Demonstranten immer nachdrücklicher Einlaß begehrten, tauchten erstmals sowjetische Militärfahrzeuge auf und Warnschüsse wurden abgegeben. Nach dem Rückzug der sowjetischen Soldaten verstärkten die Leipziger Demonstranten ihre Angriffe auf das Untersuchungsgefängnis noch. Die Befreiung von Häftlingen scheiterte jedoch, weil die Schutzpolizei gegen 15.25 Uhr scharf schoß und einen jungen Mann tödlich traf. Der Befreiungsversuch in Görlitz dagegen gelang deshalb sehr schnell, weil das Anstaltspersonal, gewiß beeindruckt von der Vehemenz des Aufstandes in der Stadt, den Anstürmenden keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzte. Der Leiter der Strafvollzugsanstalt ließ zwar noch Wasserwerfer einsetzen und Warnschüsse abgeben, aber als eine Delegation mit einem Schreiben des Oberbürgermeisters erschien, wonach die politischen Gefangenen freizulassen waren, stellte auch er seinen Widerstand ein. Hatten die örtlichen Polizeikräfte am 17. Juni zunächst Befehl, sich nicht provozieren zu lassen, sollten sie nach der Verhängung des Ausnahmezustandes mit „unnachgiebiger Härte" vorgehen. Dabei kam es an einzelnen Orten zu Befehlsverweigerungen, wie etwa in Schmölln, wo zur Räumung des Marktplatzes eingesetzte Volkspolizisten den Anordnungen keine Folge leisteten und der sowjetische Kreiskommandant persönlich eingreifen mußte. Über den Einsatz der Kasernierten Volkspolizei wissen wir durch die Arbeiten von Torsten Diedrich gut Bescheid. Hilferufe blieben wie anderswo auch in Leipzig und Dresden zunächst ohne Resonanz. Selbst die Bezirks-Volkspolizei Dresden, die nach der Befreiung von Häftlingen in Görlitz die sowjetischen Kontrolloffiziere einschaltete, hatte erst nach Stunden Erfolg. Angehörige der Kasernierten Volkspolizei kamen in Leipzig erst am Nachmittag zum Einsatz, ohne Munition. Das war offensichtlich keine spezifisch Leipziger Erscheinung. Es kamen viele KVP-Einheiten zum Einsatz, bei denen nur die Offiziere über Pistolenmunition verfügten. 11 Die Bezirksverwaltungen für Staatssicherheit reagierten in den ersten Stunden des 17. Juni sehr unterschiedlich auf die Proteste. Das betraf etwa die Zusammenarbeit mit den SED-Bezirksleitungen und den Verantwortlichen der Volkspolizei-Bezirksbehörden. In den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt funktionierte die Abstimmung in den Kampfstäben und Einsatzleitungen offenbar von Anfang an. In letzterem war in allen Kreisämtern der Volkspolizei ein weisungsberechtigter Mitarbeiter des MfS präsent. In Leipzig dagegen konnte von einer Kooperation zwischen Polizei und MfS lange überhaupt nicht gesprochen werden. Die Staatssicherheit kam den Polizeikräften nicht einmal dann zu Hilfe, als diese gegen Mittag in Bedrängnis gerieten. Das änderte sich erst am Nachmittag, als SED-Chef Paul Fröhlich aus Berlin zurückkehrte und die 11

Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953, S. 168.

Schlußbetrachtung

617

Befehlsgewalt wieder übernahm. Alle MfS-Bezirksverwaltungen konzentrierten sich zunächst darauf, ihre eigenen Dienststellen zu sichern. In Görlitz, Leipzig und Niesky wollten Demonstranten zu unterschiedlichen Zeiten die Gebäude der Staatssicherheit stürmen, um politische Gefangene zu befreien. Während etwa der MfS-Chef in Görlitz Befehl zum Schießen erteilte, als die Demonstranten gewaltsam in das Gebäude einzudringen versuchten, unterblieb in Niesky diese äußerste Maßnahme. Die sowjetischen Stadtkommandanten kamen der Staatssicherheit zunächst nicht zu Hilfe, selbst dann nicht, als die Demonstranten wie in Görlitz bereits in das MfS-Gebäude eingedrungen waren und obwohl die Kommandantur in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Erst kurz vor Verhängung des Ausnahmezustandes räumten sowjetische Soldaten das besetzte Gebäude der Staatssicherheit. In Niesky ließen sich Offiziere der sowjetischen Kommandantur überhaupt nicht sehen; angeblich war kein Dolmetscher zu finden gewesen. Während der Sturm auf die Kreisdienststellen in Görlitz und Niesky erfolgreich verlief, wurden Demonstranten vor der „Runden Ecke" in Leipzig mit Waffengewalt vertrieben. Ein Leipziger Bürger wurde dabei tödlich verwundet. Aus Leipzig und Görlitz ist bekannt, daß sich Mitarbeiter der Geheimpolizei unter das Volk mischten. In Leipzig etwa beobachteten sie die Erstürmung der FDJ-Bezirksleitung und die Entwaffnung der Polizeitruppe. In Görlitz nahmen ihre Mitarbeiter an der Kundgebung teil und fotografierten. Dagegen blieben die Mitarbeiter der Kreisdienststelle Niesky in ihrer Dienststelle und warteten auf Anweisungen aus Dresden. Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt dagegen hatte bereits vor dem 17. Juni ihre Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern ausgebaut, nachdem es Anfang des Monats in mehreren großen Betrieben zu vorübergehenden Arbeitsniederlegungen gekommen war. Um die „Provokateure" herauszufinden, arbeitete das MfS in diesen Betrieben sogar mit sogenannten Hilfsinformatoren. Am Tage des Aufstandes setzte die Geheimpolizei ebenfalls auf ihre Spitzel, um über die Lage vor Ort informiert zu sein. In einigen Fällen wurden besondere Geldprämien eingesetzt, als geheime Informatoren aus Angst vor einem Umsturz ihre Mitarbeit einstellen wollten. Besondere Initiative zeigte der MfS-Chef in Plauen. Er ließ sogenannte Hetzer und Anstifter nicht festnehmen, sondern „unterhielt" sich mit diesen, um ihnen die Todesstrafe anzudrohen. Auch in Schwerpunktbetrieben des Bezirkes Karl-Marx-Stadt waren Mitarbeiter der Staatssicherheit aktiv. Beispielsweise machten sie Betriebssirenen vorübergehend unbrauchbar. Zweifellos trug diese massive Präsenz mit dazu bei, daß die Einsatzleitung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt am 17. Juni und in den darauffolgenden Tagen sehr schnell über mögliche Unruhen und geplante Aktivitäten informiert war. Sehr deutliche Unterschiede zwischen den drei SED-Bezirksleitungen und ihren Sicherheitskräften gab es schließlich hinsichtlich des Einsatzes von militärischer Gewalt gegen Demonstranten. Einzelheiten sind bislang zwar kaum bekannt, aber es steht fest, daß sich die Bezirksparteichefs, die Leiter der Volkspolizei und der Staatssicherheit in dieser Frage von Anfang an mit den

618

Schlußbetrachtung

sowjetischen Militärkommandanten abstimmten. Außer in Berlin kamen nach Polizeiangaben am 17. Juni 1953 in fünf Bezirken der DDR Schußwaffen zum Einsatz, darunter in Leipzig und Dresden. 1 2 Torsten Diedrich, der der Frage nach einem etwaigen „Schießbefehl" nachgegangen ist, schreibt: „Generell läßt sich für die KVP kein derartiges Dokument feststellen. Für die Polizeikräfte allgemein galt, daß die Waffe im Polizeidienst nur zur Verteidigung von Menschenleben Verwendung finden sollte. Am 17. Juni gab es keine anderslautenden Weisungen, jedoch die Maßgaben der sowjetischen Behörden und der SED-Führung, ein Blutvergießen möglichst zu vermeiden." 1 3 In Dresden erklärte später ein Offizier der Hauptverwaltung der Volkspolizei, es habe die Möglichkeit bestanden, von Berlin aus der Polizei den Schießbefehl zu erteilen, man habe wegen der unterschiedlichen Situation in den einzelnen Kreisen und Bezirken davon aber Abstand genommen. In der SED-Bezirksleitung Dresden überwogen offenbar Funktionäre, die erste Pläne der Polizei, mit Gewalt gegen die beginnenden Demonstrationen vorzugehen, ablehnten und eine andere Taktik bevorzugten. Die spezielle Situation hier, die frühe Präsenz sowjetischer Soldaten an wichtigen Stellen in der Stadt und die Verzögerungstaktik gegenüber den Streikenden durch den Auftritt von Otto Buchwitz trugen mit dazu bei, in Dresden eine ähnlich starke Menschenkonzentration an zentralen Plätzen wie etwa in Leipzig und Görlitz zu verhindern. In Dresden kam es auch nicht zur Erstürmung von öffentlichen Gebäuden. Zwar gab es mehrere Versuche dazu, aber vor dem Telegrafenamt beispielsweise waren seit dem frühen Mittag sowjetische Soldaten postiert und in den umliegenden Ruinen standen Angehörige der Kasernierten Volkspolizei und Einheiten der Sowjetarmee Gewehr bei Fuß. Als nach Verhängung des Ausnahmezustandes erneut Demonstranten in das Telegrafenamt eindringen wollten, schössen die sowjetischen Soldaten über die Köpfe hinweg oder auf das Pflaster. In Dresden war der Einsatz von Schußwaffen generell selten. Die Polizei gab später in einem Abschlußbericht an, nur die sowjetische Armee habe „Zielschüsse" vorgenommen, wobei drei Demonstranten verletzt worden seien. Dagegen zeigen die Leipziger Ereignisse, daß die Polizeikräfte ab dem Moment rücksichtslos gegen die Demonstranten vorgingen, als sie erkannten, daß ihre Hoffnung, die Menschen auf Seitenstraßen abzudrängen oder auf den zentralen Plätzen wenigstens durch den Einsatz von Parteiagitatoren zu zerstreuen, vergeblich war und außerdem ihre eigene Autorität unmittelbar bedroht war. Ohne zentralen Schießbefehl feuerten Angehörige der Schutzpolizei vor der Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße gegen 15.15 Uhr in die Menge, als die Gefahr bestand, daß das Tor eingedrückt und das Gebäude nicht mehr zu halten sein würde. Der 1. Bezirkssekretär der SED und der Chef der Volkspolizei nahmen später für sich in Anspruch, sie selbst hätten den

12 13

Vgl. ebd., S. 278. Vgl. ebd., S. 168f.

Schlußbetrachtung

619

Schießbefehl erteilt. Sie brüsteten sich sogar damit, ohne Absicherung durch die zentrale Partei- oder Polizeiführung gehandelt zu haben. Nach Ansicht von Parteichef Fröhlich hatte eine „kapitulantenhafte" Haltung die Ausbreitung der öffentlichen Proteste in Leipzig überhaupt erst ermöglicht. Die Parteikontrollkommission disziplinierte später alle Partei- und Staatsfunktionäre, die geglaubt hatten, der Lage mit gewaltlosen Mitteln Herr zu werden. Fröhlich rechtfertigte außerdem die Erschießung von Demonstranten auf den Straßen des Bezirkes; die Opfer stammten bis auf eine Ausnahme aus der Arbeiterschaft. Auch innerhalb der Bezirke war die Einstellung der Funktionäre zur Anwendung militärischer Gewalt uneinheitlich. Während beispielsweise der 1. SED-Kreissekretär von Bautzen persönlich ein Rundschreiben herausgab, in dem bei Fortführung der Streikaktionen Erschießung angedroht wurde, versuchte der 1. SED-Kreissekretär von Görlitz mit den Arbeitern zu diskutieren und sie so von einem Streik abzuhalten. Er war auch dann nicht gewillt, gegen demonstrierende Görlitzer Schußwaffen einzusetzen, als sie in seiner Anwesenheit die Kreisdienststelle für Staatssicherheit stürmten. Auf seine Aufforderung hin stellten hier die Mitarbeiter das Schießen ein. Das war sicherlich ein Grund, weshalb es in Görlitz nicht wie in Leipzig zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Der 1. SED-Kreissekretär rechfertigte seine Anordnung in späteren Vernehmungen durch das MfS vor allem damit, daß unter den Demonstranten Kinder, Jugendliche und Frauen gewesen seien. Die tieferen Motive für seine Haltung kennen wir nicht. Das zeigt schon, wie wichtig die persönliche Einstellung und die politische Haltung der Verantwortlichen für den jeweiligen Ablauf des Aufstandes waren. Besonders hart und unnachgiebig gab sich der Leipziger 1. Bezirkssekretär Paul Fröhlich, ein treuer Anhänger und Vertrauter Ulbrichts. Er praktizierte schon in seinem Sekretariat und der Bezirksleitung einen besonders autoritären Führungsstil, der jedwede Kritik an seiner Person und an seinen Entscheidungen rigoros unterband. Er agierte als Alleinherrscher, der Andersdenkende in den eigenen Reihen wie in der Bevölkerung jederzeit scharf verfolgte. In jeglicher Kritik an der SED sah er das Werk von Klassenfeinden. Ohne zu zögern entschied er sich für den Einsatz von Waffengewalt, noch ehe das Kriegsrecht verhängt war. Ebenso wie Ulbricht brachte die Niederschlagung des 17. Juni auch ihm noch größere Machtfülle. Als Mitglied des Zentralkomitees, später auch des Politbüros, stieg er in den engeren Führungszirkel der SED auf. Über den Führungsstil der 1. SED-Bezirkssekretäre von Dresden und KarlMarx-Stadt ist wenig bekannt. Der Dresdner Parteichef weilte am 17. Juni im Ausland auf Urlaub. So bestimmten in der Bezirksleitung Dresden sehr schnell die von Berlin entsandten Emissäre Elli Schmidt und Fritz Selbmann die politische Linie. Das waren aber gerade die beiden Persönlichkeiten, die auf der 15. ZK-Tagung dann scharf kritisiert wurden. Elli Schmidt mußte das Politbüro verlassen. Und später disziplinierte die Parteikontrollkommission auch jene Be-

620

Schlußbetrachtung

zirksfunktionäre, die den Anweisungen von Schmidt und Selbmann nach dem 17. Juni widerspruchslos gefolgt waren. Selbmann hob den Anteil der „sowjetischen Freunde" bei der „Niederschlagung der faschistischen Provokation" besonders hervor. Er wehrte sich entschieden gegen die Auffassung, „daß wir auch ohne das Eingreifen der Sowjetmacht, ohne Verhängung des Ausnahmezustandes mit dem faschistischen Überfall fertig geworden wären". Die Bezirksleitung Dresden folgte ihm in dieser Wertung. So setzte sich deutlicher als in den anderen Bezirksleitungen zunächst die Auffassung durch, die Krise sei nur mit Hilfe der Besatzungsmacht zu überstehen gewesen. Bevor die entsprechenden sowjetischen Unterlagen nicht einzusehen sind, werden viele Fragen zum Vorgehen der Besatzungsmacht offen bleiben müssen, darunter auch die, weshalb der Ausnahmezustand nicht gleichzeitig angeordnet wurde. Zwar übernahmen in allen drei sächsischen Bezirken sowjetische Generäle die öffentliche Gewalt, doch im einzelnen gingen sie ganz unterschiedlich vor. Immerhin stellten die drei Militärkommandanten in Sachsen ihr Territorium mit einer Zeitdifferenz von etwa sieben Stunden unter Kriegsrecht. Noch größer war die Diskrepanz bei der Aufhebung des Ausnahmezustandes: Mehr als zwei Wochen lagen zwischen der ersten und letzten Aufhebung des Kriegsrechts in Sachsen! Der Chef der Garnison und der Militärkommandant der Stadt Dresden verhängten am 17. Juni ab 14 Uhr den Ausnahmezustand über die Stadt. Die Unterschriften sowohl des Garnisonschefs wie des Stadtkommandanten, die nach Hagen „dem drohenden Befehl zusätzliches Gewicht" 1 4 verlieh, finden wir auch unter den Ausnahmebefehlen von Karl-Marx-Stadt und Leipzig. Bereits drei bis vier Stunden zuvor hatte der Chef der Garnison Dresden sowjetische Soldaten zur Sicherung der wichtigsten Lebenszentren der Stadt und zu Patrouillen in die Hauptstraßen beordert. Sie waren gefechtsmäßig ausgerüstet, hatten jedoch Befehl, das Feuer nicht zu eröffnen. Gleichzeitig wurden weitere Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung getroffen. Dazu gehörte der Einsatz von Panzern und Infanterie sowie eines Kradschützenbataillons. Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes sollten vor allem größere Demonstrationszüge von den Außenbezirken in das Zentrum der Stadt verhindert werden. Das kategorische Verbot von Versammlungen, Zusammenkünften und jeglichen Ansammlungen von Bürgern konnte Demonstrationen im Zentrum zwar nicht gänzlich verhindern, aber doch die als eigentlichen Höhepunkt vorgesehene Massenkundgebung auf dem Theaterbzw. Postplatz. Die aus den Außenbezirken ins Zentrum strömenden Demonstranten wurden unterwegs mit dem Ausnahmezustand konfrontiert und zumeist zerstreut. Die Panzerbesatzungen verhinderten, daß größere Menschengruppen die Hauptstraßen und Elbbrücken passieren konnten, Kradschützen fuhren in die Menge und teilten die Marschblöcke, Infanterie „jagte die Menschen auseinander", wie es in einem Bericht des Regimentschefs des 14

Vgl. Hagen, DDR - Juni 53, S. 138.

Schlußbetrach tu ng

621

92. Karpaten-Rotbanner-Regiments an den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern hieß. Nach diesem Bericht waren am 17. Juni insgesamt 428 sowjetische Offiziere und Soldaten in der Stadt Dresden im Einsatz, dazu 50 Mann Reserve. Gelangten kleinere Gruppen von Demonstranten doch an ihr Ziel, wurden sie von sowjetischen Soldaten und deutscher Polizei empfangen. Gegen 18 Uhr waren die „Hauptkräfte" der Demonstranten zerstreut, mit Beginn des nächtlichen Ausgehverbots kaum noch größere Menschengruppen auf den Straßen anzutreffen. Für Görlitz trat das Kriegsrecht um 15 Uhr in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt sollte die zweite große Kundgebung auf dem Obermarkt mit anschließender Demonstration durch die Stadt beginnen. Dazu hatten sich 3 0 0 0 0 bis 35 000 Menschen aus Görlitz und Umgebung eingefunden. Doch der Stadtfunk verbreitete bereits eine unangenehme Meldung: Anstelle der geplanten Vorstellung einer neuen Stadtverwaltung verlas ein Sprecher den vom Chef der Garnison der Stadt Görlitz und dem Militärkommandanten der Stadt unterzeichneten Befehl Nr. 1, der die Verhängung des Belagerungszustandes verfügte. Die Menschenansammlungen in der Innenstadt lösten sich nur langsam auf. Das Stadtkomitee hielt noch bis 16.15 Uhr das Rathaus besetzt und verweigerte dem abgesetzten Bürgermeister den Zutritt zu seinen Arbeitsräumen. Erst gegen 18 Uhr trafen sowjetische Einheiten von außerhalb ein, darunter auch Einheiten jenes 92. Karpaten-Rotbanner-Schützenregiments. Außerhalb Sachsens kamen Angehörige dieser Einheit am 17. Juni noch in Berlin, Cottbus und Frankfurt/Oder zum Einsatz. Der Militärkommandant des Bezirkes Leipzig verhängte für 16 Uhr den Ausnahmezustand - anders als in den beiden anderen Bezirken für die Stadt und den Bezirk Leipzig gleichzeitig. In Leipzig wurde mit der Verkündung des Ausnahmezustandes „auffällig lange gezögert" 1 5 , obwohl die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei bereits eskaliert waren. Eine ähnliche Konzentration von sowjetischem Militär wie in Dresden gab es in Leipzig vor Verhängung des Ausnahmezustandes offenbar nicht. Auch über den Zeitpunkt des ersten Einsatzes sowjetischer Einheiten gibt es unterschiedliche Angaben. Genau nachweisen läßt sich allerdings, daß Sowjetsoldaten in Leipzig gegen 14 Uhr die ersten Warnschüsse abgaben, also zwei Stunden vor Ausrufung des Ausnahmezustandes. Der Grund dafür, daß hier der sowjetische Befehl besonders spät erging, mag in dem Leipziger Ruf als Messestadt zu suchen sein. Vielleicht stellte der Militärkommandant in Rechnung, es werde dem Ansehen der Stadt, die zweimal im Jahr Weltoffenheit zur Schau stellte, schaden, wenn sowjetische Panzer durch die Straßen rollten und eine fremde Macht die öffentliche Gewalt ausübte. Vielleicht trug auch der Ehrgeiz von Paul Fröhlich, die Auseinandersetzungen selbst zu beenden, zum Zögern des Stadtkommandanten bei; darüber kann einstweilen nur spekuliert werden. 15

Vgl. ebd., S. 112.

622

Schlußbetrachtung

Der Garnisonschef und der Militärkommandant von Karl-Marx-Stadt verhängten „im Zusammenhang mit den Vorfällen der Unordnung unter der örtlichen Bevölkerung in einzelnen Wohnorten" über die Garnison und den Kreis den Ausnahmezustand gar erst um 21 Uhr. Die Kreiskommandanten folgten zu unterschiedlichen Zeiten. Zeitgleich mit Karl-Marx-Stadt wurde der Grenzkreis Plauen unter Kriegsrecht gestellt. Bis zum 18. Juni, 12 Uhr, hatten alle Kreiskommandanten den Ausnahmezustand angewiesen. Aufgehoben wurde der Ausnahmezustand in Sachsen ebenfalls völlig unterschiedlich: zunächst für den Bezirk Karl-Marx-Stadt zum 25. Juni, danach folgte der Bezirk Dresden; für die Stadt Leipzig galt das Kriegsrecht bis zum 11. Juli, 2 3 Uhr. Zur Abschreckung verfügten die sowjetischen Militärkommandanten auch standrechtliche Erschießungen. So starben in Leipzig drei junge Männer; im Bezirk Leipzig kamen weitere zwei Männer durch sowjetisches Militär zu Tode, die näheren Umstände sind nach wie vor ungeklärt. Nachweisbar ist aber, daß der 15jährige Leipziger Lehrling Paul Ochsenbauer deshalb sterben mußte, weil er eine Bekanntmachung über den Ausnahmezustand abgerissen und einem sowjetischen Offizier ins Gesicht geschleudert hätte. Zu den Opfern des Kriegsrechts gehörte auch ein Leipziger Polizist, der auf Streifenfahrt von sowjetischen Kugeln tödlich verletzt wurde. Die SED-Kreisleitung Leipzig warnte alle Genossen eindringlich davor, die nächtliche Ausgangssperre zu übertreten, da das sowjetisches Militär sofort schießen würde. Von sowjetischen Militärtribunalen wurden auch in Sachsen „Agenten" und „Provokateure" zum Tode verurteilt. Bekannt sind drei derartige Urteile aus Leipzig und Görlitz. Sie wurden jedoch nicht vollstreckt, die Todesurteile in Görlitz in hohe Zuchthausstrafen umgewandelt. Es ist unbestritten, daß der Einsatz sowjetischer Truppen am 17. Juni 1953 die Macht der SED gerettet hat. Und es ist sicher richtig, daß die sowjetischen Panzer und das Kriegsrecht in Ostberlin und anderen Städten der DDR der Erhebung ein Ende bereitete - wenn auch nicht sofort und innerhalb weniger Stunden. Vielmehr trat die beabsichtigte Wirkung der Panzer und des Ausnahmezustandes erst nach mehreren Stunden und Tagen ein. Die Bekanntmachung des Kriegsrechts selbst hat nur in den wenigsten Fällen zur sofortigen Beendigung der Streiks geführt, nicht einmal in jenen Betrieben, die von sowjetischem Militär besetzt wurden. Die Ereignisse in Görlitz liefern zudem den Beweis dafür, daß dieThese, wonach sich die Erhebung bereits vor dem Eingreifen sowjetischer Truppen und vor der Verkündung des Ausnahmezustandes erschöpft hätte, nicht durchweg zutrifft. Für Ostberlin und andere Landesteile mag sie richtig sein, für mehrere Städte in Sachsen dagegen nicht. Es stimmt auch nicht, daß die sowjetischen Truppen den Aufständischen ausschließlich mit Gewalt und mit Panzern begegnet seien. Bereits Arnulf Baring sprach von „vorsichtigem" und „zurückhaltendem" Verhalten der Besatzungsmacht. 16 Neben dem Gebrauch der Schußwaffe und den stand-

16

Vgl. Baring, Der 17. Juni 1953, S. 95.

Schlußbetrachtung

623

rechtlichen Erschießungen ist solches zurückhaltendes Vorgehen sowjetischer Offiziere auch in Sachsen belegt. Zu unterscheiden ist zunächst einmal zwischen ihrem Auftreten vor und nach Verhängung des Ausnahmezustandes. Für Dresden ist beispielsweise belegt, daß die verantwortlichen sowjetischen Kommandeure ihren Offizieren und Soldaten den Einsatz von Schußwaffen in den Vormittagsstunden des 17. Juni nur für den Fall gestatteten, daß sie selbst angegriffen würden. Oft genügte freilich allein das Erscheinen von sowjetischen Panzern, um einen vorübergehenden Abschreckungseffekt zu erzielen, wie etwa in Leipzig, wo die Menschen ihre Aktionen aber fortsetzten, als das sowjetische Militär wieder abgezogen war. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes waren die Stadtkommandanten darauf bedacht, ihre Autorität strikt durchzusetzen und Zuwiderhandlungen zu bestrafen. Nach Beginn der Sperrstunde wurden Demonstranten, zumeist Jugendliche, festgenommen und wenig später der Volkspolizei oder dem MfS übergeben. Sowjetische Soldaten patrouillierten in den Nachtstunden schwer bewaffnet durch die Straßen und machten wie in Leipzig offensichtlich auch ohne Vorwarnungen von der Schußwaffe Gebrauch. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes kam es andererseits aber auch vor, daß sowjetische Offiziere noch am 18. Juni mit Dresdner Streikleitungen diskutierten, während sie in anderen Städten wie in Görlitz, Zittau, Niesky, Riesa und Leipzig ultimativ zur Arbeitsaufnahme aufforderten und bei Zuwiderhandlung mit Erschießung drohten. Aus Niesky wissen wir aber auch, daß derartige Drohungen nicht immer sofort wahrgemacht wurden, denn Stadtkommandanten schalteten sich in Aktionen zur Beendigung der Streiks ein, wenn betriebliche und örtliche Maßnahmen erfolgslos blieben. Es gab mehrere sowjetische Anordnungen, wonach „Provokateure" zu erschießen waren, wenn die Belegschaft nicht innerhalb einer bestimmten Frist an die Arbeitsplätze zurückkehrte, so etwa in den LOWA-Werken in Görlitz und Niesky oder in der SAG Bleichert Leipzig. Im letztgenannten Betrieb sorgte der Stadtkommandant persönlich für die Verhaftung sogenannter Rädelsführer, nachdem Staatssicherheit und Polizei auf die Forderungen des Parteisekretärs nicht reagiert hatten. Daneben gibt es Einzelbeispiele, wo sowjetische Stadtkommandanten mit Verhaftungen von „Rädelsführern" nicht einverstanden waren, wie etwa im Falle von Schmöllner Berufsschülerinnen, die der SED-Kreissekretär für das Abnehmen von Bildern führender Persönlichkeiten unbedingt hatte bestrafen wollen. Über das Vorgehen sowjetischer Soldaten innerhalb der SAG Wismut ist noch weniger bekannt als über ihr Verhalten in zivilen Betrieben. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß es zwischen Wismut-Kumpeln und sowjetischem Wachpersonal schon vor dem 17. Juni Zusammenstöße gegeben hatte und daß sowjetisches Militär, das ständig die Schächte und Betriebsanlagen bewachte, speziell geschult, mit der Betriebssituation bestens vertraut und gut auf die Mentalität der Wismut-Kumpel eingestellt war. Andererseits trug die Tatsache, daß russische Soldaten mit Gewehren in der Wismut zum Alltag gehörten, offenbar dazu bei, daß es an einigen Orten zu tätlichen Auseinandersetzungen

624

Schlußbetrach tu ng

zwischen ihnen und Wismut-Arbeitern kam; solche Vorfälle sind aus Gera und Ronneburg bekannt. Während der erwähnte Leipziger Lehrling sterben mußte, weil er einem Offizier den Ausnahmebefehl an den Kopf geworfen hatte, wurde ein Wismut-Schachtarbeiter, der sich mit einem sowjetischen Soldaten angelegt hatte, lediglich zu einer niedrigen Freiheitsstrafe verurteilt. Noch immer sind die Ereignisse des 17. Juni 1953 in der DDR nicht vollständig erforscht. Besonders die Diskussionen um die nationale Orientierung des Aufstandes sind nach wie vor kontrovers. Zweifellos aber wäre allein schon durch die Kombination der Forderung nach freien Wahlen mit der Forderung nach der Einheit Deutschlands die Wiedervereinigung als Ergebnis eines demokratischen Willensbildungsprozesses präjudiziert gewesen. 1953 wollten die Deutschen in Ost und West die Einheit Deutschlands, mögen die Motive, die Ziele und die vorgeschlagenen Wege zur Vereinigung auch unterschiedlich gewesen sein. In den Betrieben, auf den Straßen und Plätzen - oftmals vom Gesang der dritten Strophe des „Deutschlandliedes" unterstützt - war überall und wie selbstverständlich die Forderung nach nationaler Einheit zu hören. Die Zweistaatlichkeit war 1953 im Denken und Fühlen der Menschen noch keine akzeptierbare Realität, sondern ein vorübergehendes und unannehmbares Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Deutschlands. Selbst die SED-Führung proklamierte die deutsche Einheit als Ziel, freilich unter sozialistischen Vorzeichen. Hinter ein- und derselben Forderung der Juni-Aufständischen konnten damals freilich sehr unterschiedliche Ziele und Absichten stecken. Es gibt kaum zeitgenössische Hinweise darauf, wie die Regierung eines einheitlichen Deutschland nach den Vorstellungen der Beteiligten aussehen und welches Gesellschaftssystem angestrebt werden sollte. Die ausgewerteten Quellen schweigen sämtlich dazu. Darüber aber bestand Konsens: Eine neue Regierung sollte aus freien Wahlen in ganz Deutschland hervorgehen und die demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten der Menschen nicht nur in der Verfassung deklarieren, sondern tatsächlich gewährleisten. Das beinhaltete per se die Ablehnung jeglicher Diktatur. „Wir wollen freie Menschen sein" oder „Wir wollen nicht mehr Sklaven sein, Kollegen, reiht Euch ein!" lauteten die Losungen der Aufständischen. Hätten sie an diesem 17. Juni 1953 Erfolg gehabt, die Ziele der „ersten Volkserhebung im Stalinismus" 17 wären die Zustimmung der Besatzungsmächte vorausgesetzt - nur mit der Schaffung eines demokratischen und vereinigten Deutschland zu erreichen gewesen.

17

Hagen, D D R - Juni 53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus.

IX.

Anhang

Archiwerzeichnis Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStA) und Außenstellen Chemnitz (StAC) und Leipzig (StAL) - Bestände der SED-Bezirksleitungen Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig und der Gebietsleitung Wismut der SED: Bezirksdelegiertenkonferenzen, Sitzungen und Konferenzen, Parteiaktivtagungen, Sekretariatssitzungen, BPKK, Wirtschaftspolitik, Ideologie, Agit. Prop., Kaderfragen, Sicherheit, Staat und Recht, Kirchenfragen, Befreundete Parteien - Bestände ausgewählter SED-Kreisleitungen: Altenburg, Bautzen, Borna, Delitzsch, Döbeln, Dresden-Land, Dresden-Stadt, Eilenburg, Görlitz, LeipzigLand, Leipzig-Stadt, Niesky - Bestände ausgewählter SED-Ortsparteiorgansiationen (OPO) und ausgewählter SED-Ortsparteileitungen (OPL): OPO Böhlitz-Ehrenberg, Markleeberg-Engelsdorf, Liebertwolkwitz, OPL Bösdorf, Schkeuditz - Bestand Universität Leipzig: Zentrale Parteileitung, GO Geschichte, FMI, ABF, Wifa, Germanistik - Nachlässe der SED - Bestände der Bezirksbehörden Deutsche Volkspolizei (BDVP) Karl-MarxStadt, Dresden, Leipzig und des Gebietskommandos Deutsche Volkspolizei (BS) Wismut: Amtsleitertagungen, Abschlußberichte, Monatliche Einschätzungen und Analysen, Lageberichte, Kriminalpolizei, Meldewesen 1952/1953 - Bestände ausgewählter Volkspolizeikreisämter (VPKA): Görlitz, Karl-MarxStadt, Leipzig, Johanngeorgenstadt - Bestände der Räte der Bezirke und der Bezirkstage (RdB/BT) Dresden, KarlMarx-Stadt und Leipzig 1952/53 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) - Ausgewählte Politbürositzungen - Berichte der BPKK an die ZPKK - Informationsberichte der Bezirksleitungen und der Gebietsleitung Wismut an das ZK der SED über die Lage in den Bezirken und in der SAG Wismut (Mai bis August 1953) - Materialien der Abteilung LOPM: Analysen über die „Verbreitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16.-22.6.1953" Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstellen Chemnitz, Dresden, Leipzig - Sachakten der Leitungen der Bezirksverwaltungen und ausgewählter Abteilungen (Chemnitz, Leipzig) - Personenbezogene Unterlagen

IX.

Anhang

Archiwerzeichnis Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStA) und Außenstellen Chemnitz (StAC) und Leipzig (StAL) - Bestände der SED-Bezirksleitungen Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig und der Gebietsleitung Wismut der SED: Bezirksdelegiertenkonferenzen, Sitzungen und Konferenzen, Parteiaktivtagungen, Sekretariatssitzungen, BPKK, Wirtschaftspolitik, Ideologie, Agit. Prop., Kaderfragen, Sicherheit, Staat und Recht, Kirchenfragen, Befreundete Parteien - Bestände ausgewählter SED-Kreisleitungen: Altenburg, Bautzen, Borna, Delitzsch, Döbeln, Dresden-Land, Dresden-Stadt, Eilenburg, Görlitz, LeipzigLand, Leipzig-Stadt, Niesky - Bestände ausgewählter SED-Ortsparteiorgansiationen (OPO) und ausgewählter SED-Ortsparteileitungen (OPL): OPO Böhlitz-Ehrenberg, Markleeberg-Engelsdorf, Liebertwolkwitz, OPL Bösdorf, Schkeuditz - Bestand Universität Leipzig: Zentrale Parteileitung, GO Geschichte, FMI, ABF, Wifa, Germanistik - Nachlässe der SED - Bestände der Bezirksbehörden Deutsche Volkspolizei (BDVP) Karl-MarxStadt, Dresden, Leipzig und des Gebietskommandos Deutsche Volkspolizei (BS) Wismut: Amtsleitertagungen, Abschlußberichte, Monatliche Einschätzungen und Analysen, Lageberichte, Kriminalpolizei, Meldewesen 1952/1953 - Bestände ausgewählter Volkspolizeikreisämter (VPKA): Görlitz, Karl-MarxStadt, Leipzig, Johanngeorgenstadt - Bestände der Räte der Bezirke und der Bezirkstage (RdB/BT) Dresden, KarlMarx-Stadt und Leipzig 1952/53 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BArch) - Ausgewählte Politbürositzungen - Berichte der BPKK an die ZPKK - Informationsberichte der Bezirksleitungen und der Gebietsleitung Wismut an das ZK der SED über die Lage in den Bezirken und in der SAG Wismut (Mai bis August 1953) - Materialien der Abteilung LOPM: Analysen über die „Verbreitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16.-22.6.1953" Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstellen Chemnitz, Dresden, Leipzig - Sachakten der Leitungen der Bezirksverwaltungen und ausgewählter Abteilungen (Chemnitz, Leipzig) - Personenbezogene Unterlagen

626

Anhang

Archiv der Technischen Universität Dresden (TUD) - Bestand ABF (einschließlich Außenstelle Görlitz) - Bestand Rektorat - Personalunterlagen Studenten (Exmatrikulationen) Archiv der Universität Leipzig - Bestand Rektorat - Bestand Sitzungen der Philosophischen Fakultät - Bestand Studentenakten - Nachlaß Georg Mayer Archiv der Staatsanwaltschaft Dresden: - Handakten ausgewählter Gerichtsverfahren Unternehmensarchiv der Wismut GmbH - Abschlußdokumentation zur Entwicklung der SAG/SDAG Wismut

Literaturverzeichnis Ackermann, Anton: Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus? In: Einheit, Nr. 1/1946, S. 22-32. Ansichten zur Geschichte der DDR. Bd. I bis III. Hg. von Dietmar Keller, Hans Modrow, Herbert Wolf, Bonn 1993/1994. Arlt, Kurt: Sowjetische (russische) Truppen in Deutschland (1945-1994). In: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, S. 593-632. Auerbach, Thomas: Die Angst der Herrschenden vor dem eigenen Volk. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 60-63. Der Aufstand der Arbeiterschaft im Ostsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Tätigkeitsbericht der Hauptabteilung Politik des Rundfunks im amerikanischen Sektor in der Zeit vom 16. Juni bis zum 23. Juni 1953, Berlin 1953. Der Aufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift über den Juni-Aufstand in der SBZ und in Ost-Berlin. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1963. Augenzeugen erinnern sich: Entwürdigende Tortur ließ die Tränen fließen. In: „Wir in Leipzig" vom 16./17. Juni 1990, S. 9. Autorenkollektiv unter Leitung von Siegfried Wietstruck: Entwicklung des Arbeiter-und-Bauern-Staates der DDR 1949-1961, Ost-Berlin 1987. Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996. Baring, Arnulf: Der 17. Juni 1953, 4. Auflage, Bonn 1959. - Der 17. Juni 1953, Köln 1983. - Der 17. Juni 1953. Mit einem Vorwort von Richard Löwenthal, 2. Auflage Stuttgart 1983. Barthel, Horst: Die Versorgungskrise, Bevölkerungsversorgung und Systemstabilisierung im Umfeld des 17. Juni 1953. In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte, S. 110-116.

626

Anhang

Archiv der Technischen Universität Dresden (TUD) - Bestand ABF (einschließlich Außenstelle Görlitz) - Bestand Rektorat - Personalunterlagen Studenten (Exmatrikulationen) Archiv der Universität Leipzig - Bestand Rektorat - Bestand Sitzungen der Philosophischen Fakultät - Bestand Studentenakten - Nachlaß Georg Mayer Archiv der Staatsanwaltschaft Dresden: - Handakten ausgewählter Gerichtsverfahren Unternehmensarchiv der Wismut GmbH - Abschlußdokumentation zur Entwicklung der SAG/SDAG Wismut

Literaturverzeichnis Ackermann, Anton: Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus? In: Einheit, Nr. 1/1946, S. 22-32. Ansichten zur Geschichte der DDR. Bd. I bis III. Hg. von Dietmar Keller, Hans Modrow, Herbert Wolf, Bonn 1993/1994. Arlt, Kurt: Sowjetische (russische) Truppen in Deutschland (1945-1994). In: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, S. 593-632. Auerbach, Thomas: Die Angst der Herrschenden vor dem eigenen Volk. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 60-63. Der Aufstand der Arbeiterschaft im Ostsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Tätigkeitsbericht der Hauptabteilung Politik des Rundfunks im amerikanischen Sektor in der Zeit vom 16. Juni bis zum 23. Juni 1953, Berlin 1953. Der Aufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift über den Juni-Aufstand in der SBZ und in Ost-Berlin. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1963. Augenzeugen erinnern sich: Entwürdigende Tortur ließ die Tränen fließen. In: „Wir in Leipzig" vom 16./17. Juni 1990, S. 9. Autorenkollektiv unter Leitung von Siegfried Wietstruck: Entwicklung des Arbeiter-und-Bauern-Staates der DDR 1949-1961, Ost-Berlin 1987. Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996. Baring, Arnulf: Der 17. Juni 1953, 4. Auflage, Bonn 1959. - Der 17. Juni 1953, Köln 1983. - Der 17. Juni 1953. Mit einem Vorwort von Richard Löwenthal, 2. Auflage Stuttgart 1983. Barthel, Horst: Die Versorgungskrise, Bevölkerungsversorgung und Systemstabilisierung im Umfeld des 17. Juni 1953. In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte, S. 110-116.

Literaturverzeichnis

627

Beckert, Rudi: Die erste und letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Goldbach 1995. Beier, Gerhard: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran, Frankfurt a. M. 1993. Bennewitz, Inge/Potratz, Rainer: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze, Berlin 1994. Berger, Siegfried: „Ich nehme das Urteil nicht an". Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem Sowjetischen Militärtribunal, Bd. 8 der Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bd. 8, Berlin 1998. Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Macht, Entscheidung, Verantwortung, Bd. II/l, Bonn 1994. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993. Biburger, Tom: Sprengsätze, „Der Lohndrücker" von Heiner Müller und der 17. Juni 1953. Mit einer Kurzgeschichte von Heiner Müller und einem Nachwort von Dietmar Kamper, Pfaffenweiler 1997. Böhm, Tobias/Heimann, Siegfried/Mahal, Andreas/Schiller, Dietmar: Studie zu den Ereignissen des 17. Juni 1953. Grundlage für die Errichtung eines Denkmals zur Würdigung der Opfer des Arbeiteraufstandes. Hg. im Auftrag der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Abt. Städtebau und Architektur - Kunst im Stadtraum, Berlin 1995. Bollinger, Stefan: Die verschleppte Entstalinisierungskrise. Ein politikwissenschaftlicher Vergleich zwischen 1953 und 1989. In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte, Leipzig 1990, S. 156-162. - Konflikte, Krisen und politische Stabilität in der DDR. Gedanken zur historischen Unfähigkeit eines realsozialistischen Konfliktmanagements. In: Hefte zur ddr-Geschichte, 30, Berlin 1996. Bouvier, Beatrix: Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Bonn 1996. Bramke, Werner: Sachsens Wirtschaft im Wechsel politischer Systeme im 20. Jahrhundert. Strukturelle Entwicklung und soziale Problemfelder vom Ausgang des Ersten Weltkrieges bis in die frühen 60er Jahre, Leipzig 1992 Brandt, Heinz: Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, Frankfurt a. M. 1985. Brant, Stefan (d.i. Harpprecht, Klaus): Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953. Unter Mitarbeit von Klaus Bölling, Stuttgart 1954. Brentzel, Marianne: Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902-89, Berlin 1997. Brühl, Reinhard: Landesverteidigung u n d / o d e r Militarisierung der Gesellschaft. In: Ansichten zur Geschichte der DDR. Hg. von Dietmar Keller u.a., Bonn 1994. Buchheim, Christoph: Wirtschaftliche Hintergründe des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38 (1990), S. 415-433. Buddrus, Michael: Die Organisation „Dienst für Deutschland", Arbeitsdienst und Militarisierung in der DDR, Weinheim 1994.

628

Anhang

Buschfort, Wolfgang: Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung bis zur BerlinKrise. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Oldenburg 1991. Bust-Bartels, Axel: Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/1980, S. 24-54. - Herrschaft und Widerstand in den DDR-Betrieben. Leistungsentlohnung, Arbeitsbedingungen, innerbetriebliche Konflikte und technologische Entwicklung, Frankfurt a. M. 1980. Cerny, Jochen (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte. Neubefragung von DDRGeschichte, Leipzig 1990. Chronik der Aktivisten-, Wettbewerbs- und Neuererbewegung im Bezirk KarlMarx-Stadt, 1948-55. Hg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt der SED, Karl-Marx-Stadt 1975. Chronik der Gebietsorganisation Wismut der FDJ für die Jahre 1946-1961. Schriftenreihe zur Geschichte, Heft 4, 1985. Chronik zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Bezirk Leipzig, 1952-1961. Hg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Leipzig der SED, Leipzig 1981. Creuzberger, Stefan: Abschirmungspolitik gegenüber dem westlichen Deutschland im Jahre 1952. In: Wettig, Gerhard (Hg.): Die sowjetische Deutschland-Politik in der Ära Adenauer. Rhöndorfer Gespräche, Bd. 16, Bonn 1997, S. 12 ff. Czok, Karl (Hg.): Geschichte Sachsens, Weimar 1989. Dähn, Horst: Konfrontation oder Kooperation? Das Verhältnis von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945-1980, Opladen 1982. Deutsche Geschichte in 10 Kapiteln. Hg. von Joachim Herrmann in Verbindung mit Manfred Bensing, Jochen Cerny, Olaf Groehler, Heinz Heitzer, Wolfgang Rüge, Walter Schmidt, Gustav Seeber, Berhard Töpfer, Günter Vogler, OstBerlin 1988. Deutsche Nachkriegswelten, 1945-1955. Regionale Zugänge und neue Sichtweisen. Dokumentation einer Studienkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland/Referat Heimatpflege (Bensberger Protokolle 76), Bergisch-Gladbach 1992. Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke, Berlin 1998. Diedrich, Torsten: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk. Berlin 1991. - Der 17. Juni 1953 in der DDR. Zu militärischen Aspekten bei Ursachen und Verlauf der Unruhen. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 51 (1992), S. 357-382. - Putsch - Volksaufstand - Arbeitererhebung? Zur Arbeitererhebung 1953 in der deutschen Geschichtsschreibung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/1993, S. 3-11. - Zwischen Arbeitererhebung und gescheiterter Revolution in der DDR. Retrospektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 1953. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Berlin 1994, S. 288-305.

Literaturverzeichnis

629

- Aufrüstungsvorbereitungen und -Finanzierung in der S B Z / D D R in den Jahren 1948 bis 1953 und deren Rückwirkungen auf die Wirtschaft. In: Volksarmee schaffen - ohne Geschrei!, S. 2 7 3 - 3 3 6 . Djilas, Milovan: Gespräche mit Stalin, Frankfurt a.M. 1962. Döbert, Frank: Der Schrei nach Freiheit - zum 17. Juni 1953 in Jena. In: Gerbergasse 18, Forum für Geschichte und Kultur. Hg. von der Geschichtswerkstatt Jena, Nr. 1/1996, S. 2 - 6 . Dokumente der SED, Bd. I, Ost-Berlin 1951; Bd. II, Ost-Berlin 1952; Bd. III, OstBerlin 1952; Bd. IV, Ost-Berlin 1954. Die Doppelhelden des 17. Juni. In: Neue Deutsche Hefte, Nr. 174/1982, S. 437. Dralle, Lothar: Das DSF-Archiv als Quelle zur Geschichte der DDR. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 25 (1992), S. 8 3 7 - 8 4 5 . Ebert, Jens/Eschebach, Insa: „Rädelsführerin" und „SS-Kommandeuse". Erna Dorn und der 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 5 9 5 - 5 9 9 . - (Hg.): Die „Kommandeuse", Erna Dorn - zwischen Nationalsozialismus und Kaltem Krieg, Berlin 1994. Ebert, Theodor: Gewaltloser Widerstand gegen stalinistische Regime? - Der JuniAufstand in der DDR 1953. In: Roberts, Adam (Hg.): Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Probleme - Beispiele - Strategien, Göttingen 1971, S. 108-137. Es geschah im Juni 1953. Fakten und Daten. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1963. Ewers, Klaus/Quest, Torsten: Die Kämpfe der Arbeiterschaft in den Volkseigenen Betrieben während und nach dem 17. Juni. In: Spittmann/Fricke (Hg.): Der 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 2 3 - 5 5 . Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1961. Fricke, Karl Wilhelm: Lehren des 17. Juni. In: SBZ-Archiv, 14 (1963), S. 161-163. - Selbstbehauptung und Widerstand in der SBZ, 2. Auflage Bonn 1965. - Juni-Aufstand und Justiz. In: Deutschland Archiv, 11 (1978), S. 617-631. - Der Staatssicherheitsdienst und der 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 16 (1983), S. 5 9 4 - 6 0 2 . - Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984. - Juni-Aufstand und Justiz. In: Spittmann/Fricke (Hg.): 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 7 0 - 8 6 - Erich Honecker und der 17. Juni. In: Spittmann/Fricke (Hg.): 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 115-120. - Die Zaisser/Herrnstadt-Gruppe. In: Die Deutschlandfrage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955 (Studien zur Deutschlandfrage, Bd. 10), Berlin 1990, S. 2 7 - 4 8 . - Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politisch Verfolgten 1945-1968. Bericht und Dokumentation, 2. Auflage Köln 1990. - 17. Juni 1953. Der Aufstand. Funkdokumentation des Deutschlandfunk, Köln 1993. - Todesurteil für Magdeburger „Provokateur". - SED-Rachejustiz nach dem Aufstand des 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 527-531.

630

Anhang

- Justiz im Auftrag der Partei. Der Fall Max Fechner als Beispiel. In: Rückblicke auf die DDR. Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle. Hg. von Gisela Helwig. Edition Deutschland Archiv, Köln 1995, S. 26ff. - Zur politischen Strafjustiz der Ära Ulbricht - Max Fechner: O p f e r / T ä t e r / Opfer. In: Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung, S. 4 3 - 5 3 . - Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Widerstand und Opposition in der DDR, S. 21-44. - /Engelmann, Roger: Konzentrierte Schläge. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956, Berlin 1998. Gallus, Alexander: Der 17. Juni im Deutschen Bundestag von 1954-1990. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/1993, S. 12-21. Gehler, Michael: Der 17. Juni 1953 aus der Sicht des Foreign Office. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/1993, S. 22-31. - Von der Arbeiterrevolte zur spontanen politischen Volkserhebung: Der 17. Juni 1953 in der DDR im Urteil westlicher Diplomatie und Politik. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 54 (1995), Heft 2, S. 363-415. - Status quo-Denken auf breitester Basis. Der 17. Juni 1953, die Sowjetunion, die Westmächte und Adenauer. Darstellung, Literatur und Dokumente. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 56/1998, S. 5-48. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 7. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1966. Geschichte der SED, Abriß, Berlin 1978. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden. MfSHandbuch. Hg. von Klaus-Dietmar Henke u. a., Berlin 1995. Ein Görlitzer berichtet: 17. Juni 1953 - Mein Todesurteil. In: Oelser Heimatkreisblatt, 6/1980. Goerner, Martin Georg: Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945-1958, Berlin 1997. Gosztony, Peter (Hg.): Aufstände unter dem roten Stern, Bonn 1979. Gursky, André: Erna Dorn. „... zum Tode verurteilt..."- 22. Juni 1953 in Halle (Saale). Hg. von der Landeszentrale für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, 1996. Häder, Sonja: Von der „demokratischen Schulreform" zur Stalinisierung des Bildungswesens - der 17. Juni 1953 in Schulen und Schulverwaltungen OstBerlins. In: Kocka, Jürgen (Hg.): Zeithistorische Studien, Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 191-212. Hagen, Manfred: DDR - Juni '53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus, Stuttgart 1992. - „Wir sind doch nicht geschlagen?!" Erste Reaktionen der SED-Führung auf die Volkserhebung 1953 (Vorträge aus dem Hannah-Arendt-Institut 2), Dresden 1993. Handbuch der DDR, Jubiläumsausgabe 1984, Leipzig 1984. Haupts, Leo: Arbeiterunruhen oder Volksaufstand? Der 17. Juni 1953 aus der Sicht der Ost-CDU und der LDP. In: Deutsche Nachkriegswelten, 1945-1955, S. 83-101.

Literaturverzeichnis

631

- Die Blockparteien in der DDR und der 17. Juni. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 40 (1992), S. 383ff. Havemann, Robert: Fragen Antworten Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, München 1970. Heider, Magdalena/Thons, Kerstin (Hg.): SED und Intellektuelle in der DDR der fünfziger Jahre. Kulturbundprotokolle, Köln 1990. Heise, Joachim/Hofmann, Jürgen: Was geschah am 17. Juni 1953. In: Fragen an die Geschichte der DDR. Hg. vom Zentralrat der FDJ in Zusammenarbeit mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1988, S. 111-119. Henkys, Reinhard: Die Opposition der „Jungen Gemeinde". In: Widerstand und Opposition in der DDR, S. 149-162. Herrnstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Hg., eingeleitet und bearbeitet von Nadja StulzHerrnstadt, Reinbek 1990. Heym, Stefan: Forschungsreise ins Herz der deutschen Arbeiterklasse. Nach Berichten 47 sowjetischer Arbeiter. Hg. vom FDGB-Bundesvorstand, Abt. Kulturelle Massenarbeit, 1953. - Fünf Tage im Juni, München 1974. Hildebrandt, Rainer: Als die Fesseln fielen. Die Geschichte einer Schicksalsverkettung in einem Aufstand. Berlin 1956 - Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes sowie ergänzende dokumentarische Materialien, Berlin 1983. Hillmann, Günther: Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek bei Hamburg 1967. Hofmann, Michael: Die Kohlearbeiter von Espenhain. Zur Enttraditionalisierung eines ostdeutschen Arbeitermilieus. In: Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Hg. von Michael Vester, Michael Hofmann und Irene Zierke, Köln 1995, S. 91-135. Holzweißig, Günter: Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. In: Gosztony (Hg.): Aufstände unter dem roten Stern, S. 43-76. Honecker, Erich: Aus meinem Leben, Berlin 1980. Hübner, Peter: Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995. Hundhausen, Hans: Der 17. Juni 1953 im Sachsenwerk Dresden und in der ABUS, Dresden 1994. Huschner, Anke: Der 17. Juni 1953 an Universitäten und Hochschulen. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 33 (1991), S. 681-692. - Die Juni-Krise des Jahres 1953 und das Staatssekretariat für Hochschulwesen. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 42 (1994), S. 169-184. Jänicke, Martin: Der Dritte Weg. Die antistalinistische Opposition gegen Ulbricht seit 1953, Köln 1964. - Krise und Entwicklung in der DDR - Der 17. Juni 1953 und seine Folgen. In: Elsenhans, Hartmut/Jänicke, Martin (Hg.): Innere Systemkrisen der Gegenwart. Ein Studienbuch zur Zeitgeschichte, Reinbek 1975, S. 148-166. Jung, Peter (Hg.): Verordneter Humor. DDR 1953, Berlin 1993.

632

Anhang

Juni-Aufstand. Dokumente und Berichte über den Volksaufstand in Ostberlin und in der Sowjetzone. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1953. Karisch, Rainer: „Ein Staat im Staate" Der Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4 9 - 5 0 / 9 3 , S. 14-23. - Allein bezahlt? Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-53, Berlin 1993. Karmrodt, Andreas: Der 17. Juni 1953 in Jena. Volk - Polizei - Partei. Hg. vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Reihe C, Erfurt 1997. Kaufmann, Christoph: Agenten mit dem Kugelkreuz. Leipziger Junge Gemeinden zwischen Aufbruch und Verfolgung 1945-1953, Leipzig 1995. Kellmann, Klaus: Der 17. Juni 1953 - Das Ereignis und die Probleme seiner zeitgeschichtlichen Einordnung und Wertung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 34 (1983), S. 373-387. Kenes, Csaba Jänos: Oppositionsbewegungen in Polen 1956-1976. In: Gosztony (Hg.): Aufstände unter dem roten Stern, S. 203-266. Kießling, Wolfgang: Paul Merker in den Fängen der Sicherheitsorgane Stalins und Ulbrichts, Berlin 1995. Klein, Angelika: Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle. Auszüge aus den Parteiakten. Hg. vom Brandenburger Verein für politische Bildung „Rosa Luxemburg" e.V., Bd. 1 bis 3, Potsdam 1993. Klenner, Hermann: Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit als einer Methode in der Führung des Klassenkampfes, Ost-Berlin 1953. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1989. - Welche Perspektiven bieten sich heute auf den 17. Juni 1953? In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 5 8 - 6 0 . Knoth, Nicola: Loyale Intelligenz. Vorschläge und Forderungen 1953. In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte, S. 149-156. Kocka, Jürgen/Sabrow, Martin (Hg.): Die DDR als Geschichte: Fragen - Hypothesen - Perspektiven. In: Zeithistorische Studien, Bd. 2, Berlin 1994. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Historiker der DDR und der 17. Juni 1953. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 44 (1993), S. 705-724. - Die Universitäten und der 17. Juni 1953. In: Horch und Guck, Heft 12/1994, S. 33-42. - „Wir werden siegen". In: Der Tag X - 17. Juni 1953, S. 171-242. - /Mitter, Armin: Orte des Widerstandes. In: Der Tag X - 17. Juni 1953, S. 335-343. Kraushaar, Wolfgang: Die Protest-Chronik 1949-1959, Bd. II: 1953-1956, Hamburg 1996. Larres, Klaus: Neutralisierung oder Westintegration? Churchill, Adenauer, die USA und der 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 568-585. Laufer, Jochen: Das Ministerium für Staatssicherheit und die Wahlfälschungen bei den ersten Wahlen in der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 5/1991, S. 17-30. Leithäuser, Joachim G.: Der Aufstand im Juni. Ein dokumentarischer Bericht. In: Der Monat, Heft 60, S. 595-624, und Heft 61, S. 4 5 - 6 6 .

L iteratu rverzeichnis

633

Leonhard, Wolfgang: Kreml ohne Stalin, 4. Auflage Köln 1963. Lindner, Bernd: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998. Loest, Erich: Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Hamburg 1981. Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994. Lübbe, Peter: Kommunismus und Sozialdemokratie. Eine Streitschrift, Berlin 1978. Ludwig, Harald: Der 17. Juni und der Danziger Arbeiteraufstand - Parallelen und Unterschiede. In: Deutschland Archiv, 4 (1971), S. 4 0 4 - 4 0 6 . Malkiewicz, Andrzej/Ruchniewicz, Krzysztof: Pierwsky Znak Solidarnosci. Polskie odglosy powstania ludowego w NRD w 1953 r, Wroclaw 1998. - Das polnische Echo auf den Juni-Aufstand in der DDR im Jahre 1953. [Das Manuskript des Aufsatzes wurde der Autorin von Malkiewicz/Ruchniewicz vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Er erscheint in: 1953 - Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa. Neue Forschungen. Hg. von Christoph Kleßmann und Bernd Stöver (Zeithistorische Studien 16)]. Mayer, Hans: Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, 1. Auflage Frankfurt a.M. 1991. Meiler, Karlheinz: Standen die „Bürgerlichen" abseits? Der 17. Juni 1953 soziologisch untersucht. In: Deutsche Monatshefte für Politik und Kultur, Heft 7 / 8 (1962), S. 31-35. Meinhold, Volkmar: Das Wachstum der Produktionsarbeiterschaft in der AG Wismut 1946-1949 unter besonderer Berücksichtigung der Einflußnahme der sowjetischen Genossen. Dissertation, Universität Leipzig, 1975. MenschenRechte. Hg. von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion, Juli/August 1995 Meuschel, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft. Z u m Paradoxon von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a. M. 1992. Mitter, Armin: Die Ereignisse im Juni und Juli 1953 in der DDR. Aus den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/1991, S. 31-41. - „... gegen das Volk regieren". Der Ausbau des Disziplinierungsapparates nach dem 17. Juni 1953. In: Der 17. Juni 1953 - Der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums, S. 6 3 - 6 6 . - Der „Tag X" und die „Innere Staatsgründung" der DDR. In: Der Tag X 17. Juni 1953, S. 9 - 3 5 . - /Wolle, Stefan: „Ich liebe euch doch alle!". Befehle und Lageberichte des MfS Januar-November 1989, Berlin 1990. - /Wolle, Stefan: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993. Moczarski, Norbert: Der 17. Juni 1953 im Bezirk Suhl. Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen. Versuch einer historiographischen Skizze anhand archivalischer Quellen. Hg. vom Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Erfurt 1996. Mohr, Axel: Die Lohnsteuer- und Preissenkung in der Sowjetzone. In: SBZ-Archiv Nr. 22/1953, S. 342 ff.

634

Anhang

Mohr, Heinrich: Der 17. Juni als Thema der Literatur in der DDR. In: Deutschland Archiv, 11 (1978), S. 591-616. Müller, Willy: Die Situation der Bauarbeiter in der Stalinallee und der Verlauf der Berliner Demonstrationen vom 16. und 17. Juni 1953 in Berichten gewerkschaftlicher Beobachter. In: hefte zur ddr-geschichte, Heft 7, Berlin 1993, S. 9-25. Müller-Enbergs, Helmut: Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin 1991. - „Wir faulen in den Sozialismus". Einzelne Aspekte zu Rudolf Herrnstadt. In: Das unverstandene Menetekel, S. 53 ff. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-89, Berlin 1997. Niethammer, Lutz/von Plato, Alexander/Wierling, Dorothee: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991. Oelßner, Fred: Der Marxismus der Gegenwart und seine Kritiker, 2. Auflage, OstBerlin 1948. Organisator des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus. Zur Geschichte der Bezirksparteiorganisation Leipzig der SED 1949-1955. Hg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Leipzig der SED in Zusammenarbeit mit der Sektion Geschichte der KMU und dem Staatsarchiv Leipzig, Leipzig 1986. Otto, Wilfriede: Dokumente zur Auseinandersetzung in der SED 1953. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 32 (1990), S. 655-672. - Sowjetische Deutschlandnote 1952 - Stalin und die DDR: Bisher unveröffentlichte handschriftliche Notizen Wilhelm Piecks. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 35 (1993), S. 374-389. - Sowjetische Deutschlandpolitik 1952/53. Forschungs- und Wahrheitsprobleme. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 948-954. Pernkopf, Johannes: Der 17. Juni 1953 in der Literatur beider deutscher Staaten, Stuttgart 1982. Peter, Andreas: Der Juni-Aufstand im Bezirk Cottbus. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 585-594. Pollak, Detlef: Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994. Prieß, Lutz/Eckert, Detlef: Zu Verhaltensmustern der SED-Führung in Krisensituationen der DDR - politischer Machtanspruch kontra Demokratie. In: Ansichten zur Geschichte der DDR, Bd. 1, Bonn 1993. Protokoll Nr. 42 der öffentlichen Anhörung vom 16. Juni 1993: 40 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953, Bonn 1993. Reiman, Michal: Berija, Malenkov und die deutsche Einheit. In: Deutschland Archiv Nr. 3/1999, S. 456-460. Rexin, Manfred: Diesseits des Potsdamer Platzes. West-Berlin am 16. und 17. Juni 1953. Eine Dokumentation des Franz-Neumann-Archivs in Zusammenarbeit mit dem August-Bebel-Institut. In: Schriftenreihe des Franz-Neumann-Archivs, Berlin, Heft 4, 1983. - Der 16. und 17. Juni 1953 in West-Berlin. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 985-994.

Literaturverzeichnis

635

Ribbe, Wolfgang: Der 17. Juni in der DDR. In: Magdeburg 17. Juni 1953. Magdeburger Museumshefte Nr. 2, Magdeburg 1993, S. 16ff. Roth, Heidi: Das politische und soziale Vorfeld des 17. Juni 1953 im damaligen Bezirk Leipzig. Eine regionalgeschichtliche Fallstudie. In: Deutsche Nachkriegswelten, 1945-1955, S. 61-79. - Der 17. Juni 1953 im damaligen Bezirk Leipzig. Aus den Akten des PDS-Archivs Leipzig. In: Deutschland Archiv, 24 (1991), S. 573-584. - Der 17. Juni 1953 in Leipzig. In: DDR-Lesebuch. Stalinisierung 1949-1955. Hg. von Ilse Spittmann und Gisela Helwig, Edition Deutschland Archiv, Bd. 2, Köln 1991, S. 219-223. - Der 17. Juni 1953. Zu seinen Ursachen, Verlauf und Nachwirkungen. In: Praxis Geschichte, Heft 4/1993, S. 18-22. - Die SAG-Betriebe und der 17. Juni 1953. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 531-536. - Wilhelm Grothaus: Vom Antifaschisten zum „Faschistischen Provokateur". In: Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung, S. 55-63. - Der Umgang mit dem 17. Juni 1953 in der DDR und der Bundesrepublik. Sachsen im Vergleich zu Berlin und der DDR. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 30-37. - Der 17. Juni 1953 in Görlitz. Hg. vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden 1998. - Im Parteiauftrag: Strafrechtliche Reaktion auf den 17. Juni 1953 in Sachsen. In: Sächsische Justizgeschichte, Bd. 7, Dresden 1998, S. 76-135. - Regional- und lokalgeschichtliche Forschungen zum 17. Juni 1953 in Sachsen. Überlegungen zum konzeptionellen Herangehen und Arbeitsergebnisse. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 56/1998, S. 4 9 - 8 3 . - „Ich bin der Meinung, daß morgen die Banditen auf die Straße fliegen, damit wir leben können". Verfolgungen durch die SED nach dem 17. Juni 1953. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Berlin 1999, S. 259-286. - /Diedrich, Torsten: „Wir sind Kumpel - uns kann keiner". Der 17. Juni 1953 in der SAG Wismut. In: „Strahlende Vergangenheit", Studien zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut. Hg. von Rainer Karisch und Harm Schröter, St. Katharinen 1996, S. 228-259. Russig, Peter: Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in Dresden. Dokumentation. In: Dresdner Geschichtsbuch, Bd. 3. Hg. vom Stadtmuseum Dresden 1997. - Wilhelm Grothaus - Dresdner Antifaschist und Aufstandsführer des 17. Juni. Hg. vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden 1997. Särchen, Günter: Ich freue mich, daß ich dabei war! Reflexionen zum 17. Juni 1953. In: Börger, Bern/Kröselberg, Michael (Hg.): Die Kraft liegt im Verborgenen, Düsseldorf 1993, S. 2 8 9 - 2 9 4 . Sarel, Benno: Arbeiter gegen die Kommunisten. Zur Geschichte des proletarischen Widerstandes in der DDR (1945-1958), München 1975. Sarkowicz, Hans (Hg.): Aufstände, Unruhen, Revolutionen. Zur Geschichte der Demokratie in Deutschland, Frankfurt a. M. 1998.

636

Anhang

Sattler, Friederike: Mitwirkung im SAG-Betrieb. Zur Geschichte der Bleichert Transportanlagenfabrik Leipzig, 1945-1953. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., o. J. Schenk, Fritz: Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow, Köln 1962. - Mein doppeltes Vaterland, Würzburg 1981. Scherstjanoi, Elke: „Wollen wir den Sozialismus?" Dokumente aus der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 6. Juni 1953. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 33 (1991), S. 6 5 8 - 6 8 0 . - Die DDR im Frühjahr 1952. Sozialismuslosung und Kollektivierungsbeschluß in sowjetischer Perspektive. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 3 5 4 - 3 6 3 . Schlothauer, Wolfram: Dokumente des Widerstandes während der SED-Diktatur. Der 17. Juni 1953 in Thüringen, Gebesee/Thür. 1995. Scholz, A r n o / N i e k e , Werner (Hg.): Der 17. Juni. Die Volkserhebung in Ostberlin und in der Sowjetzone, Berlin 1953. Schröder, Klaus: Der 17. Juni 1953: Volkserhebung gegen Fremdherrschaft. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 4 9 - 5 3 . - Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998. Schulz, Dieter: Ruhe im Dorf? Die Agrarpolitik von 1952/53 und ihre Folgen. In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte, S. 103-110. Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch. Hg. von Andreas Herbst, Gerd-Rüdiger Stephan und Jürgen Winkler, Berlin 1997. Seilfahrt. Auf den Spuren des sächsischen Uranerzbergbaus. Hg. von der SDAG Wismut Chemitz, 2. überarbeitete Auflage Haltern 1991. Selzer, Anette: Der 17. Juni 1953 im Bezirk Gera. Diplomarbeit, Universität Leipzig 1992. Semmelmann, Dagmar: Schauplatz Stalinstadt/EKO. Erinnerungen an den 17. Juni 1953, Hefte 1 und 2, Potsdam 1993. - Zeitzeugen über ihren 17. Juni 1953 in Berlin. In: hefte zur ddr-geschichte, Heft 7, Berlin 1993, S. 2 6 - 5 5 . Der 17. Juni 1953 - Der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums. Deutsche Teil-Vergangenheiten - Aufarbeitung West: Die innerdeutschen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung in der DDR. Dokumentation. 4. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 17. bis 18. Juni 1993. Sozialgeschichte der DDR. Hg. von Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr, Stuttgart 1994. Spanger, Hans Joachim: Die SED und der Sozialdemokratismus: Ideologische Abgrenzung in der DDR, Köln 1982. Spittmann, Ilse: Der 17. Juni im Wandel der Legenden. In: Spittmann/Fricke: 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR, S. 121-132. - Zum 40. Jahrestag des 17. Juni. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 6 3 5 - 6 3 9 . - /Fricke Karl Wilhelm (Hg.): 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. Edition Deutschland Archiv, 2. Auflage, Köln 1988. Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953. Hg. von der Unabhängigen Autorengemeinschaft „So habe ich das erlebt", Schkeuditz 1999. Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR 1945-1985, Frankfurt a . M . 1985. Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, Berlin 1956. Stern, Carola: Ulbricht. Eine politische Biographie, Köln 1963.

Literaturverzeichnis

637

Stöckigt, Rolf: Ein Dokument von großer historischer Bedeutung vom Mai 1953. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 32 (1990), S. 648-654. Stößel, Frank Thomas: Positionen und Strömungen in der KPD/SED 1945-1954, 2 Bände, Köln 1985. Stoye, Jörg: Das Verhältnis der FDJ zur Jungen Gemeinde in der DDR von Anfang 1952 bis Mitte 1953. Diplomarbeit an der Universität Leipzig, Juli 1991. Strauss, Wolfgang: Aufstand für Deutschland. Der 17. Juni 1953, Leoni am Starnberger See o. J. (1983). Stulz-Herrnstadt, Nadja (Hg.): Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, Reinbek 1990. Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953. Dokumentation. Hg. im Auftrag der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr, Abt. Städtebau und Architektur, Kunst im Stadtraum, Berlin 1996. Der Tag X - 17. Juni 1953. Die „Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54. Hg. von Ilko-Sascha Kowalczuk, Armin Mitter und Stefan Wolle, Berlin 1995. Tatzkow, Monika: Privatindustrie ohne Perspektive. Der „Versuch zur Liquidierung der mittleren privaten Warenproduzenten". In: Cerny (Hg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte. Neubefragung von DDR-Geschichte, S. 97-103. - /Henicke, Hartmut: Steuerkrieg gegen Privatunternehmer. Die Enteignungsmethoden in der DDR im Zeitraum 1950 bis 1953. In: ZOV, 5/1992, S. 254-260. Theisen, Heinz: Bibliographie zu den Ereignissen des 17. Juni 1953. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23/1978, S. 51 -54. Ulbricht, Walter: Die gegenwärtige Lage und der Neue Kurs der Partei. In: Der Neue Kurs und die Aufgaben der Partei, Ost-Berlin 1953, S. 59-102. - Die Politik der Partei, ihre Erfolge und Fehler. In: Das 15. Plenum des Zentralkomitees der SED, Ost-Berlin 1953 (parteiinternes Material). - Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates 1945-1958, OstBerlin 1961. Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands, Bd. II, Bonn 1955. Das unverstandene Menetekel - Der 17. Juni 1953. Material einer Tagung. Hg. vom Brandenburger Verein für politische Bildung „Rosa Luxemburg" e.V., Potsdam 1993. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, Artikel 51 Absatz 2 (GBl. S. 5). Vester, Michael/Hofmann, Michael/Zierke, Irene (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1995. Volksarmee schaffen - ohne Geschrei! Studien zu den Anfangen einer „verdeckten Aufrüstung" in der SBZ/DDR 1947-1952. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Bruno Thoß, München 1994. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Denkschrift über den Juni-Aufstand in der sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin. Hg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1953. Volksaufstands-Teilnehmer immer noch nicht rehabilitiert, Situationsbericht des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen vom 14. Juni 1967.

638

Anhang

Voßke, Heinz: Otto Grotewohl. Biographischer Abriß, Ost-Berlin 1979. Wagner, Armin: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse. In: Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, S. 2 8 1 - 3 3 8 . Wahrheit - Gerechtigkeit - Versöhnung - Menschliches Verhalten unter Gewaltherrschaft. Dokumentation, 6. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, 9. bis 10. Juni 1995 Walter, F r a n z / D ü r r , Tobias/Schmidke, Klaus: Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, München 1989. - Die DDR 1945-1990, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage München 1993. - Schauprozeßvorbereitungen in der DDR. In: Weber, H e r m a n n / M ä h l e r t , Ulrich (Hg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953, Paderborn 1998, S. 459-485. Weichlein, Siegfried: Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte. Ein Tagungsbericht. In: IWK 2/1993, S. 2 2 9 - 2 3 5 . Wengst, Udo: Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Aus den Stimmungsberichten der Kreis- und Bezirksverbände der Ost-CDU im Juni und Juli 1953. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41 (1993), S. 2 7 7 - 3 2 1 . Wentker, Hermann: „Kirchenkampf" in der DDR. Der Konflikt um die Junge Gemeinde 1950-1953. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 42 (1994), S. 95-127. Wer zog die Drähte? Der Juni-Putsch 1953 und seine Hintergründe. Hg. vom Ausschuß für deutsche Einheit, Ost-Berlin 1954. Werkentin, Falco: Die strafrechtliche „Bewältigung" des 17. Juni 1953 in der DDR. In: Der 17. Juni 1953 - Der Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums, S. 55-61. - Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht. Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression, 2. Auflage Berlin 1995. - Z u m Ausmaß der strafrechtlichen Reaktion der politischen Justiz der DDR auf den Aufstand vom 17. Juni 1953. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 3 8 - 4 0 . - Zur Dimension politischer Inhaftierungen in der DDR 1949-1989. In: Müller, Klaus-Dieter/Stephan, Annegret (Hg.): Die Vergangenheit läßt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der S B Z / D D R und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998, S. 139-152. Wettig, Gerhard: Sowjetische Wiedervereinigungsbemühungen im ausgehenden Frühjahr 1953? Neue Aufschlüsse über ein altes Problem. In: Deutschland Archiv, 25 (1992), S. 9 4 3 - 9 5 8 . - Zum Stand der Forschung über Berijas Deutschland-Politik im Frühjahr 1953. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 6 7 4 - 6 8 2 . - Zum Stand der Forschung über Berijas Deutschlandpolitik im Frühjahr 1953. In: Studien zur Deutschlandfrage, Bd. 13, Berlin 1994, S. 183-200. - Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945-1955, München 1999. Widerstand und Opposition in der DDR. Hg. von Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 9), Köln 1999.

Literaturverzeichnis

639

Wilke, Manfred: Aspekte des 17. Juni 1953 für die deutsche Nationalgeschichte. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 4 6 - 4 8 . Winkler, Erich: Warum 17. Juni? Voraussetzungen und Ursachen des 17. Juni. Hg. im Auftrag des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften und des DGB, Berlin 1954. Wismut und die Folgen des Uranbergbaus. Protokoll einer Tagung. Hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1992. Wismuttradition der Zukunft verpflichtet. Geschichtskonferenz der Parteiorganisation Wismut der SED am 12.4.1985. Hg. von der Gebietsleitung Wismut der SED, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, 1985. Wolff, Friedrich: Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren, Baden-Baden 1999. Wolfrum, Edgar: Der Umgang mit dem 17. Juni 1953 in der Bundesrepublik Deutschland 1953-1991. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 41-45. Wolle, Stefan: „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?" Der Volksaufstand in der DDR als Trauma und Hoffnung. In: Symposium zum Denkmal für die Ereignisse des 17. Juni 1953, S. 24-29. Zeidler, Stephan: Zur Rolle der CDU (Ost) in der inneren Entwicklung der DDR 1952-1953. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Bonn, o.J. Zeitzeugen über ihren 17. Juni in Berlin. In: 17. Juni 1953, hefte zur ddr-geschichte, Nr. 7, Berlin 1993, S. S. 2 6 - 5 5 . Zimmermann, Johanna: Ein beseitigter Grabstein. In: Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953, Schkeuditz 1999, S. llOff. Zur Geschichte der Gebietsparteiorganisation Wismut der SED, Bd. 1. Hg. von der Gebietsleitung Wismut der SED, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, 1988. Zylla, Karl: Die Bedeutung der Parteiaktivtagungen bei der Mobilisierung der Mitglieder und Kandidaten. In: Neuer Weg, Heft 16/1953, S. 3.

640

Anhang

Abkürzungsverzeichnis ABF Abschn. Abt. ADN Agit.Prop. AGL ABUS AIM AK AOP APuZG Art. Ast. BA BBG BDVP Betr./betr. BGL BHG BL BPKK BPO BRD BStU BT Buvo BV BVZ CDU DBD DDR DFD DHZ DM DRK DSF Dt. DTSB DVP ECW EKM EVGö FAZ FDGB FDJ

Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Abschnitt Abteilung Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Agitation und Propaganda Abteilungsgewerkschaftsleitung Ausrüstung, Bergbau und Schwerindustrie Archivierter Vorgang eines Inoffiziellen Mitarbeiters Allgemeine Kriminalität archivierter Operativer Vorgang Aus Politik und Zeitgeschichte Artikel Außenstelle Bundesarchiv Potsdam Bodenbearbeitungsgeräte Bezirksdirektion Deutsche Völkspolizei Betreff/betrifft Betriebsgewerkschaftsleitung Bäuerliche Handelsgenossenschaft Bezirksleitung Bezirksparteikontrollkommission Betriebsparteiorganisation Bundesrepublik Deutschland Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bezirkstag Bundesvorstand Bezirksverwaltung (des MfS) Badische Volkszeitung Christlich Demokratische Union Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik Demokratischer Frauenbund Deutschlands Deutsche Handelszentrale Deutsche Mark Deutsches Rotes Kreuz Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutscher Deutscher Turn- und Sportbund Deutsche Volkspolizei Elektrochemisches Werk (Eilenburg) Elektromaschinen Energieverteilung Görlitz Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend

Abkü rzungsverzeich n is FDP FMI FS Gbl. Gen. / G e n n . Gl GO GPKK GPL GST GSBT z.Hd. HJ HO HVA HVDVP IG IM IWK K KdT KEMA KgU KL KMU KPD KPdSU KPKK KRDir KS KVP KZ LBH-BBG LDPD LES LOWA LPG LVB LVZ Mdl Megu MfS MGB ML MP

641

Freie Demokratische Partei Franz-Mehring-Institut Fernschreiben Gesetzblatt der DDR Genosse/Genossin Geheimer Informant Grundorganisation Gebietsparteikontrollkommission Gebietsparteileitung Gesellschaft für Sport und Technik Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen (in Deutschland) zu Händen Hitlerjugend Handelsorganisation Hauptverwaltung Ausbildung Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei Industriegewerkschaft Inoffizieller Mitarbeiter Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Kriminalpolizei Kammer der Technik Keramische Maschinen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Kreisleitung Karl-Marx-Universität Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Kreisparteikontrollkommission Kontrollratsdirektive Personalakten über ehemalige Mitarbeiter des MfS Kasernierte Volkspolizei Konzentrationslager Land-, Bau-, Holzbearbeitungsmaschinen Bodenbearbeitungsgeräte Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Leipziger Eisen- und Stahlwerke Lokomotiv- und Waggonbau Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Leipziger Verkehrsbetriebe Leipziger Volkszeitung Ministerium des Inneren Metallguß Ministerium für Staatssicherheit Ministerstvo gosudarstvennoj bezopasnosti (Ministerium für Staatssicherheit) Marxismus-Leninismus Maschinenpistole

642 MTS MUK MWD ND NDPD NKFD NKGB NKWD NS NSDAP OPL OPO OV PG PKK PWS RAW RdB RFT RIAS RSFSR SA SAG SAPMO-Barch SB SBZ SDAG SED SfS SK SKK SKO SMAD SPD StGB StVA SSD SZ TAN TUD UHA U-Mitarbeiter UV UdSSR

Anhang Maschinen-Traktoren-Station Morduntersuchungskommission Ministerstvo vnutrennich del (Ministerium für Innere Angelegenheiten) Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Nationalkomitee Freies Deutschland Narodnyi komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti (Volkskommissariat für Staatssicherheit) Narodnyi komissariat vnutrennich del (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Ortsparteileitung Ortsparteiorganisation Operativer Vorgang Parteigenosse (NSDAP) Parteikontrollkommission Präzisionswerkzeugfabrik Schmölln Reichsbahn-Ausbesserungswerk Rat des Bezirks Rundfunktechnik Rundfunk im Amerikanischen Sektor Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik Sturmabteilung der NSDAP Sowjetische Aktiengesellschaft Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sachbearbeiter Sowjetische Besatzungszone Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Staatssekretariat für Staatssicherheit Sonderkommission Sowjetische Kontrollkommission Sowjetische Kontrolloffiziere Sowjetische Militäradministration Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Strafvollzugsanstalt Staatssicherheitsdienst Sächsische Zeitung Technische Arbeitsnorm Technische Universität Dresden Untersuchungshaftanstalt unbekannter Mitarbeiter Untersuchungsvorgang Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Abkürzungsverzeichnis VdgB VEB VEG VHZ VPA/VPÄ VPA (B) VP-GP VPKA/VPKÄ VPS VPT WN WEMA Wifa WMW WVP ZK ZOV ZPKK

Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe Volkseigener Betrieb Volkseigenes Gut Volkseigene Handelszentrale Volkspolizeiamt / -ämter Volkspolizeiamt (Betrieb) Volkspolizei Grenzpolizei Volkspolizeikreisamt / -ämter Volkspolizeischule Volkspolizei Transportpolizei Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Werkzeugmaschinen Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Werkzeugmaschinenwerke Wasservolkspolizei Zentralkomitee Zeitschrift für offene Vermögensfragen Zentrale Parteikontrollkommission

643

Personenregister Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote.

Ackermann, Anton 31, 409, 4 2 0 , 468*, 471, 472 Adenauer, Konrad 32, 84, 85, 200, 373,397, 400 Adolfs, Karl 103, 169, 400, 472 Aide, Alex, 193, 197 Altmann, Erich 296, 529, 532, 546 Assmann, Günter 279, 282*, 528, 546 Aster (Streikleitung ABUS) 195-197 Aue, Peter 525 Axen, Hermann 405*, 4 0 9 Baender, Paul 27 Bahr, Egon 41, 42, 85 Ballentin, Horst 80 Barinek (Streikleitung VEB Festala) 240 Barth, Erich 5 2 8 Barthel, Kurt 74 Bartsch, Rudolf 4 0 8 Bauer, Joachim 59, 139, 140 Bäuml, Luise 103 Behnk, Ernst 192, 193 Behrendt, Richard 569 Beier, Fritz 102 Beier, Gerhard 51 Benjamin, Hilde 66, 67 Berger, Götz 66 Berger, Siegfried 63, 80 Bergt, Alfred 109, 110 Berija, Lavrentij P. 33, 35, 78, 8 7 - 8 9 , 447, 4 6 6 Bernhagen, Horst 59 Berthold, Erich 195, 197, 2 0 4 * , 211, 219, 220, 539 Bloch, Ernst 407 Bloch, Karola 407 Blohme, Armin 155 Bogatow, Walentin Nikonorowitsch ' 373 Bogdanow, Semjon I. 208, 213 Böhme, Fritz 71 Bohn, Hans 2 3 0

Bondarenko, Iosef Jakowlewitsch 213 Borgmann, Dora 59 Brandt, Heinz 40, 41, 53, 54, 78, 80 Brant, Stefan 311 Brock, Alfred 148 Bröcker, Elisabeth 121, 122 Brosselt, Max 183, 314, 471 Bruhn, Heinrich 474 Brüll, Carl-Albert 279, 2 8 0 Buchheim, Walter 3 2 8 Buchwitz, Otto 191, 1 9 9 - 2 0 5 , 210, 2 1 1 , 2 1 8 , 2 1 9 , 4 2 1 , 4 6 8 , 538, 540, 605, 618 Buda (Streikleitung VEB Festala) 240 Bulganin, Nikolaj A. 33 Cammentz (Architekt) 259, 260, 282, 283, 2 8 8 Cancrin, Eberhard von 62, 155 Chailow 207 Chruschtschow, Nikita S. 33, 89 Conrad, Walter 84 Crato, Kurt 59 Czarrasz, (Zscharas) Karl 139 Dahlem, Franz 28, 2 9 Dartsch, Alfred 61, 62 Derewjanko, P. P. 91 Dertinger, Georg 27 Dibelius, Otto 37 Dibrowa, P.T. 46, 60, 61 Diedrich, Torsten 137, 309, 616, 618 Diener, Alfred 61 Diener, Fritz 189, 191, 2 0 0 , 201, 203,219 Diener, Gottfried 306, 307, 528, 597, 603 Dolze, Rolf 534, 535, 5 4 4 Dorn, Erna 65, 67 Drescher, Willi 546 Dubielzig, Gerhard 59, 139-142 Dunker, Alfred 574

646

Anhang

Durnew 213 Dzierzynski, Feliks 58* Eberhardt (VHZ Schrott) 581 Ebert, Friedrich 46 Ebhardt, Alfred 292, 293 Ebhardt, Frieda 290, 2 9 2 - 2 9 4 Eckert, Alfred 546, 550 Ehrlich, Willi 246, 250, 251*, 252, 253*, 254*, 2 5 8 - 2 6 2 , 270*, 277-279, 2 8 3 - 2 8 6 , 288, 289 Eisermann, Irmgard 535 Enckevort, Bernd von 295 Engels, Friedrich 126, 321 Engert, Otto 452 Erdmann, Karl 527 Erdmann, Günther 328 Erdmann, Paul 453 Erlbeck 290 Ewing, Gordon 42 Fechner, Max 66, 67, 70, 71, 72, 76, 171, 512, 515, 523, 524, 528, 530, 542, 543, 545, 551 Feist, Margot 411 Fettling, Max 38, 68 Feuer, Heinz 107 Fiebig, Fritz 203 Fiebig, Werner 219 Fischer, Reinhardt 475 Foth, Karl 68 Franke, Oskar 569 Franke, Peter 124 Fritsch, Kurt 59 Fröhlich, Paul 6, 101, 102, 128, 132, 174, 180, 244, 396, 400, 405, 410-413,431,432, 452, 453, 455, 471, 472, 474, 481, 493, 501, 504-506, 554, 562, 566, 568-571, 585, 586, 609, 614, 616, 619, 621 Füldner, Hans 69 Gaidzik, Georg 68 Garaschtschenko, Oberstleutnant 310 Gassa, Horst 69 Gericke, Egon 527, 547, 548 Geyer, Heinz 561, 562

Gierich, Hermann 54, 260, 282, 283, 288, 527, 528, 546, 547 Giese, Herbert 529 Globke, Hans 85 Golew 348 Göttling, Willy 59, 409, 410 Gottschling, Wolfgang 66 Gräfe, Heinz 292 Grass, Jakob 517 Gretschko, Andrej M. 33 Große, Herbert 203 Grotewohl, Otto 22, 31-33, 36, 38, 40, 43, 44, 46, 51, 70, 73, 74, 156, 177, 205, 246, 327, 328, 230, 231, 397, 404, 405*, 407, 408, 409, 410, 412, 413, 420, 425,456,458,483,484,496 Grothaus, Wilhelm 68, 192-195, 197-199, 201-204, 209, 211, 537-541, 543, 546, 549, 602 Grube, Gerda 71 Grüber, Heinrich 37 Grünschloß, Helmut 535 Grünstein, Kurt 370 Grützner, Erich 586 Gomulka, Wladyslaw 91 Gutsche, Josef 123 Hagedorn, Wilhelm 49 Hagemann, Heinz 130, 132, 455 Haider, Richard 556-562, 566, 568 Hamann, Karl 27 Händler, Gerhard 68 Harig, Gerhard 268* Harnisch, Gerhard 183, 269, 271 Hartmann, Richard 321 Haußner, Karl-Fritz 539, 543 Havemann, Robert 39, 93 Heide, Willi 146 Heider, Peter 62 Heinke, Wolfgang 535 Heibig, Werner 313* Hellwig, Arthur 259, 282, 546 Hengst, Adalbert 48, 76 Henkel, Günter 272, 282, 312 Henniger (Streikleitung VEB Festala) 240 Hentschel, Werner 195, 196, 204*

Personenregister Herbig, Werner 282, 283, 527, 528, 547 Herrnstadt, Rudolf 28, 29, 35, 37, 40, 46, 74, 77, 78, 88, 397, 449, 474, 554, 559 Herzfelde, Wieland 408 Hitler, Adolf 30 Hodum, Gustav 539, 540 Höer, Alfred 531 Höer, Karl-Heinz 529, 531, 546 Hofmann, Arthur 320 Honecker, Erich 57, 74, 77, 96, 98 Hoppe 240 Hornig, Ernst 610 Hoyer, Walter 199, 540 Hübner, Karl 450 Hütter, Karl-Heinz 282, 288 Hykel, Heinz 543 Imme, Udo 195, 196*, 197, 204*, 211, 539 Israel 529 Jacob, Herbert 450 Jacobi, Christoph 219 Jäger, Kurt 260*, 287, 294, 296, 315*, 529, 530, 532, 546, 597, 603 Jahn, Franz 39 Jähne, Joachim 534, 536 Jahrreis, Otto 530, 539, 544 Jendretzky, Hans 40, 46 Jennrich, Ernst 67, 68 John, Otto 85 Jores, Erich 454 Judin, P.W. 46 Jurke, Oskar 315 Jürs, Erwin 534 Kaganowitsch, Lasar M. 33 Kaiser, Herbert 134, 507 Kaiser, Jakob 42, 43 Kardelj, Edvard 89 Kasper, Willi 534, 535 Kerinnes, Heinz 274, 276*, 277, 278*, 281 Kirchner, Rudolf 471 Kirste (Streikleitung VEB Festala) 240

647

Kirsten (Sonderkommissar für Siedlungsfragen im sächsischen Erzbergbau) 327, 331 Kladtschenko 213 Klaer, Werner 81 Klepikow 256, 266, 286 Kluge, Kurt 219, 221 Kohla, Franz 168 Köhler, Johannes 59, 134 Konzog, Horst Helmut 259 Körber, Lanka von 408 Korsawi, Kurt 542, 543 Kralik, Franz 569 Krausch, Lothar 195-197,219-221 Krause, Rudolf 59 Krawetzke, Edgar 59 Kretschmer, Erich 534, 535 Krügelstein, Richard 529 Kugler, Hardy 59 Kugler, Richard 59 Kühn, Fritz 144 Kulkow, Michail 172 Kunze, Erich 59, 182, 486 Kunze, Rudolf 241 Lange, Walter 305 Latt, Max 260*, 261, 264, 282, 283, 288, 603 Lehmann, Helmut 536 Lehmann, Otto 37 Lembke, Otto 68 Lemmer, Ernst 83 Lenin, Wladimir I. 126, 321 Leuteritz, Manfred 187, 189, 191, 470 Lindau, Helmut 450 Lindemann, Werner 408 Lindner, Lisa 124 Lindner, Max 568 Lindner, Adam 539 Linke 570 Lipschitz, Joachim 83 Löblein, Friedrich 147 Loest, Erich 79, 408, 585 Löwe, Irene 534, 543, 544 Lübeck, Else 473,474 Lucka, Erich 307, 528

648

Anhang

Mager, Reimer 610 Mahleur, Erwin 155 Malenko, Georgij M. 33, 87, 88, 89 Mangane, Karl 192, 197*, 539 Mangelsdorf, Werner 69, 70 Markgraf, Ernst 62 Markwirth, Lothar 68, 281, 287, 302, 304, 532-536, 541, 546, 548,597, 603 Maroske, Erich 534, 535 Marschner, Albert 168, 169, 573 Marx, Karl 19, 26, 99, 126, 321, 523 Maschke, Herbert 198* Masopust, Julius 517 Matern, Hermann 29, 40, 46, 77, 421, 510 Mayer, Georg 128, 129 Mayer, Hans 398 Mayer, Wilhelm 327 Melies, Heinz 543 Melsheimer, Ernst 67, 512 Merker, Paul 28, 29 Metzdorf, Alfred 38 Meyer, Willi 139 Michel, Oswald 296 Michel, Willi 294, 296, 529, 530, 5 3 2 , 5 4 6 , 5 9 7 , 603 Mielke, Erich 14, 63, 93-98, 440, 487, 488, 503 Mikojan, A. I. 33 Mitschke, Alwin 306 Molotow, Vjaceslav M. 33, 88 Muche, Georg 535 Mühle, Gerhard 527, 546 Müller, Alfred 192 Müller, Rudolf 229, 230 Müller, Eugen 148 Müller, Fritz 171, 173 Müller, Herbert 195, 204*, 211, 219, 539 Müller, Manfred 525 Nässer, Arthur 517 Naumann, Johannes 109, 110 Naumann, Kurt 517 Neu, Erwin 527 Neumann, Bruno 527, 547

Neumann, Ingeborg 195-197,204*, 211, 537, 539 Nickisch 136 Niesner, Johannes 252, 269-271, Noack, Heinz 187, 190 Noll, Lothar 121* Noth, Gottfried 610 Nowak, Rudolf 454 Nuschke, Otto 38, 48 Ochsenbauer, Paul 181, 507, 622 Oelsner, Fred 31, 33, 35, 46, 74 Orlow, A.L. 409 Panster, Herbert 111 Pfretschner, Paul 156 Pieck, Wilhelm 22, 31, 32, 40, 73, 126, 156, 157, 177,205, 293, 328, 404, 410, 413, 425 Piegsa, Victor 534 Piesche, Josef 195, 196, 204*, 211 Pinkert, Heinz 130 Pogorschelsky, Fritz 514, 544 Pohl, Oskar 59 Polensky 454 Pörschmann, Herbert 174, 504 Poser, Lydia 327, 385 Prietz, Horst 59 Prietzel, Johannes 534, 535 Raffelt (Streikleitung VEB Festala) 240 Rätzer, Rudolf 183, 314, 447 Rau, Heinrich 172, 468*, 504, 614 Rauchfuß, Hildegard Maria 408 Reinartz, Rudolf 66* Renner, Willi 278, 282, 283 Reuter, Ernst 83 Rexin, Manfred 41 Richter, Georg 579-581 Richter, Siegfried 527 Riese, Gerhard 526, 544, 545 Riesner, Hans 183, 314, 527 Röder, Günther 330, 373* Rohling, Wolfgang 59 Rohrmoser 569, 571 Römer, Gerhard 68 Rönsch, Gustav 529 Rosenberg, Ethel 101, 102*, 410

Personenregister Rosenberg, Julius 101, 102*, 410 Rosselt, Oswin 454 Rothe, Rudolf 241 Rother, Helmut 342 Rümmler, Kurt 103, 505 Saalfrank, Fritz 193, 195, 198, 199, 204, 209, 211, 537-539, 546, 549 Saballa, Engelbert 168, 169, 171, 5 6 9 , 5 7 1 - 5 7 3 , 577 Sachsenröder, Heinz 298 Sack, Otto 168 Santura, Gerhard 59 Särchen, Günter 256 Sawilow, Oberleutnant 242 Schädlich, Walter 62 Scheibe, Fritz 507 Schenk, Fritz 80 Schieber (IFA-Werk) 237 Schieke, Helmut 203 Schindler, Karl 288, 568, 569-571, 573 Schirdewan, Karl 77, 415, 416 Schirmer 568 Schirr, Gerhard 562 Schläger, Axel 62 Schleifstein, Jupp 115, 473, 474, 475 Schleinitz, Siegfried 525, 526, 545 Schmidt, Elli 46, 216, 421, 434, 446, 447, 468*, 614, 619 Schmidt, Gerhard 59 Schmidt, Herbert 239, 243, 449 Schmyrew 286 Schmyrow 213, 215 Schneider, Paul 294, 530 Schneider, Hans 340 Schön (Rechtsanwalt) 279, 282, 283 Schramm (IFA Phänomen) 241 Schröder, Dietmar 580 Schrödter, Heinz 237 Schulz, Heinz 219 Schulz, Heinz 535 Schulze, Karl 297, 301, 314 Schulze, Gerhard 59 Schumacher, Helmut 555, 556 Schumann, Kurt 535 Schwager, Paul 322, 336, 337 Schwander, Rudi 59

649

Schwarzer, Günter 62 Schwennicke, Carl Hubert 84 Seidel (Streikleitung RAW) 173 Seifert, Helmut 534 Selbmann, Fritz 39, 56, 191, 216, 233, 434, 436, 468-470, 614, 619 Seliwerstow 348 Semjonow, Wladimir. S. 33, 35, 46,

86 Sendsitzki, Werner 59 Siegel, Franz 334 Siegel, Richard 203 Silgradt, Werner 69, 70 Slansky, Rudolf 29, 457, 540 Soldner, Herbert 197, 198, 204, 211, 221 Sonntag, Heinz 62 Spelt, Mathys 261 Stahl, Anni 543 Stalin, Josef W. 2 0 , 2 2 , 2 9 , 3 0 - 3 3 , 36, 87, 89, 91, 115, 116, 126, 258, 273, 321, 373, 3 9 2 , 4 9 6 , 500 Stanicke, Berthold 68 Stauch, Herbert 61, 62 Stefan, Ursula 524*, 525*, 527, 529, 531, 543 Stein, Erich 455 Stein, Fritz 129, 169, 170, 400 Stein, Otto 580 Stempel, Günter 16, 17 Steue, Manfred 59 Stibi, Georg 408* Stieler, Hermann 62 Stoph, Willi 59, 182 Stritzke, Edith 277, 278*, 280* Strohmeyer, Rudolf Erich 2 7 8 , 2 8 0 , 282,284 Strömdörfer, Karl 451, 452, 453 Struck, Hermann 195, 196 Stübner, Herbert 534, 536 Tauber, Gertrud 203 Teich, Dieter 59, 120-122 Thiele, R. 510 Thieme (Direktor Braunkohlenwerk) 454 Thiemicke, Heinz 172

650

Anhang

Tito, Josip Broz 31 Tittel, Oskar 577 Toeplitz, Heinrich 540 Torge (VHZ Schrott) 580, 583 Trautsch, Gerlinde 560, 572 Tschirner, Max 183 Tschirner, Herbert 62, 253*, 256*, 312, 313, 316 Uhle, Reinhard 538 Uhlich, Erich 101, 114, 130 Ulbricht, Walter 5, 6, 19, 20, 22, 28, 3 1 - 3 3 , 35, 36, 40, 43, 44, 46, 51, 54, 55, 72, 73, 75, 77, 78, 88, 89, 114, 115, 123, 137, 167, 175, 186, 205, 246, 322, 360, 374, 377, 396, 403, 404, 405*, 410, 413, 418, 420, 424, 425, 446, 4 5 2 , 4 5 3 , 456, 458, 4 6 4 - 4 6 6 , 474, 4 7 8 - 4 8 0 , 484, 485, 496, 513, 5 5 3 - 5 5 8 , 561, 566*, 587, 588, 609, 612, 619 Ullrich, Arthur 183 Unbehauen, Kurt 68, 82 Ungewiß, Paul 568 Vockel, Heinrich 85 Vogelsang, Hans 452, 454, 455, 461 Vorwerk, Erwin 579-581 Wachta 297 Wagenknecht, Alfred 307, 308, 315 Wagner, Otto 221 Wagner, Werner 534, 536 Waldbach, Hans 68 Wandel, Paul 37

Weber, Hermann 395 Wehner, Herbert 99 Weichold, Karl 76, 246, 248*, 2 5 0 - 2 5 3 , 255*, 256, 258, 2 6 6 - 2 6 8 , 270, 2 7 1 , 2 8 2 , 2 9 2 , 312-314, 4 4 9 Weinberger, Bernd 48, 76 Weinert 276* Weingärtner, Stefan 62, 312 Weiß 568 Wenig, Sepp 385 Winkelmann, Hans Hugo 103, 180, 505, 506 Winkler, Heinrich 534, 548 Wirschin (Kofferfabrikant) 282 Wirth, Klaus 576 Wistop, Martha 582, 583 Wojkowsky, Hans 62 Wolf, Herbert 474 Wolf, Heinz 1 8 3 , 3 1 4 , 4 4 7 Wolf, Ursula 511,546 Wollweber, Ernst 14, 93, 96 Wörtge, Georg 2 0 5 Wübbe, Hermann 296, 529, 546 Wunderlich (VEB Heyden) 230 Zaisser, Wilhelm 28, 29, 36, 40, 46, 77, 78, 88, 96, 99, 397, 449, 553, 554, 559 Zambrowski, Roman 90 Zeußer (Kulturdirektor VEB Heyden), 230 Zimmermann, Johann von 321 Ziplenko 272 Zscharas, (Czarrasz) Karl 139 Zylla, Karl 452, 453

Ortsregister Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote.

Adorf 182 Altenburg 148, 150, 151, 160, 162, 163, 165, 166, 175-177,441, 446-448,451-455,461,466, 486, 490, 584, 593 Altscherbitz 110 Ammendorf 74, 82 Annaberg 340, 349 Apolda 62, 98 Arnsdorf 290, 317 Aue 321, 336, 344, 365, 369, 371, 3 7 8 - 3 8 0 , 3 8 5 , 391,441,491 Auerbach 3 2 1 , 3 4 3 - 3 4 4 , 3 8 0 Bad Blankenburg 327 Bad Brambach 294 Bad Düben 135, 143-146,148, 150, 160, 163, 399, 406, 498, 5 0 3 - 5 0 4 , 592, 606 Bad Lausick 162, 163 Bärenstein 333, 377 Bautzen 98, 222, 225, 228, 2 3 8 - 2 4 4 , 3 1 0 , 3 1 1 , 4 4 9 , 546, 606, 619 Bautzen-Stadt 228 Berga 3 7 9 , 3 8 8 , 4 9 1 Berlin laufende Erwähnung Berlin-Friedrichshain 38, 39, 69 Berlin-Hohenschönhausen 29 Berlin-Karlshorst 46, 55, 58, 63, 397 Berlin-Köpenick 63, 80 Berlin-Mitte 3 9 , 4 6 Berlin-Pankow 64 Berlin-Schöneberg 41 Berlin-Straußberg 52, 80 Berlin-Weißensee 73 Berlin-Wilhelmsruh 53, 64, 80 Berlin-Wünsdorf 46 Bernsdorf (Kreis HohensteinErnstthal) 344* Berzdorf 225, 251, 290, 317 Bischofswerda 225, 428, 430

Bitterfeld 45, 49, 52, 53, 57, 62, 75, 81, 136-138, 140, 142-145, 147, 148, 478, 592 Blankenburg 327 Bocka 454 Böhlen 74, 133, 151-154, 156,412, 420, 451, 472 Böhlitz-Ehrenberg 159, 160, 162, 163, 165, 166, 171, 172, 444, 495-496, 499, 5 0 3 - 5 0 4 Bonn 33, 42, 43, 52, 83, 84, 85, 97 Borna 151, 153-157, 163,405,412, 462, 466, 471, 488, 513, 553 Borna-Espenheim 133 Borsdorf 162 Brandenburg/Havel 45 Brand-Erbisdorf 349 Breitenbrunn 391-392 Bremenhain 297,317-319 Brodau 59, 139 Buna 8 2 , 4 7 8 Burgstädt 321,363 Cainsdorf 392* Chemnitz siehe Karl-Marx-Stadt Cottbus 44, 45, 55, 98, 518, 587, 621 Crimmitschau 344*, 346, 347*, 348, 363, 387, 389, 391, 593, 609 Culmitzsch 383 Delitzsch 45, 59, 135-143, 146, 148, 150, 160, 163, 182, 406, 446, 466, 471-472, 486, 488, 500-501, 508, 517, 592, 594, 606, 608 Deschka 290 Deutsch-Ossig 291 Dippoldiswalde 225 Döbeln 104, 160, 163, 177, 404, 420, 421, 441, 446, 466, 508, 510 Döhlitz 414 Dölzig 111 Dresden laufende Erwähnung

652 Dresden-Altleuben 205 Dresden-Dobritz 206 Dresden-Gittersee 326, 526 Dresden-Leuben 526 Dresden-Neustadt 208 Dresden-Niedersedlitz 9, 81, 186, 191, 196, 199, 205-208, 210, 215,217-219, 221,224, 227, 402, 470-471, 487, 526, 528, 537, 543, 590, 593-594, 598-599, 601, 605 Dresden-Reick 206 Dresden-Weinböhla 228 Ebersbach 291, 448 Eilenburg 135, 143-148, 159, 163, 424, 488, 498, 503, 592 Elsterberg-Crimmitschau 344*, 345 Erfurt 45, 98, 371 Erla 344* Espenhain 151-157, 159 Eythra 162 Falkenstein (Kreis Aue) 344* Falkenstein (Kreis Auerbach) 344* Flöha 457 Frankenberg 336 Frankenhausen/Crimmitschau 456 Frankfurt/Main 473* Frankfurt/Oder 44, 621 Fraureuth 344,346,350,351*, 352, 354, 355-356, 363, 491, 519-520, 593 Freiberg 153,321-322,339,341, 345-346, 348-349, 356-363, 480, 490, 520-521 Freital 224, 225, 227, 378-380, 462,470 Gaschwitz 420 Geithain 62, 150, 155, 163 Gera 44, 45, 68, 148, 327, 345, 367, 369-371, 378-379, 382-388, 390, 422, 458, 462, 477-478, 491, 521-524, 591, 612, 624 Gerbigsdorf 291 Gertitz 517 Glauchau 344, 349, 364, 441

Anhang Gommern 45, 49, 69 Görlitz 5, 6, 7, 10, 45, 49, 54, 57, 62, 81, 98, 112, 183*, 184, 185, 2 1 7 , 2 2 2 - 2 2 5 , 2 2 7 , 2 2 8 , 238, 241-243, 245-270, 272-279, 281-292, 2 9 4 - 2 9 6 , 2 9 8 , 301, 3 0 2 , 3 0 7 - 3 2 0 , 399, 403, 404, 410, 419, 421, 424, 447-448, 450, 468-469, 486, 514, 517, 5 2 7 - 5 2 8 , 5 4 6 - 5 4 7 , 550, 552, 587, 590-595, 598-599, 602-611, 614-619, 621-623 Görlitz-Land 225, 294*, 296, 317, 542,543 Görlitz-Stadt 76, 225, 226, 228, 317, 319, 448, 597 Gößnitz 163 Gotha 45, 62 Greiz 379, 389 Grimma 163, 401, 422 Gröditz 56, 222, 226-228, 231-235, 614 Groitzsch 156, 160, 163, 490 Groß-Berlin siehe Berlin Groß-Krauscha 291 Groß-Radisch 307 Großenhain 225 Großhartmannsdorf 456 Großröhrsdorf 428, 429 Hagenwerder 291 Halle 26, 44, 45, 46, 49, 55-59, 64, 65, 75, 81, 82, 98, 135-137, 298, 439, 460, 473*, 495, 587, 592-593 Halsbrücke 358 Hartha 163 Heidenau 192, 205, 208, 448, 486, 525-526, 545 Hennigsdorf 45, 83 Hirschfelde 235 Hof 23 Hohenstein-Ernstthal 340, 344, 417, 457 Holzhausen 106, 107, 162, 496 Jauernick 291 Jena 45, 49, 61, 62, 74, 82, 83, 98, 379,382, 3 8 8 , 3 9 3 , 6 1 2

Ortsregister Johanngeorgenstadt 3 2 6 - 3 3 4 , 365, 370, 372, 374, 376-378, 380, 462, 588, 613 Kamenz 225 Karl-Marx-Stadt laufende Erwähnung Kattowitz (Stalinograd) 90 Katzendorf 372, 3 8 2 - 3 8 5 , 3 8 8 - 3 9 1 , 4 7 7 , 502, 522 Kirchmöser 45 Klein-Krauscha 3 0 5 Kollm 2 2 2 , 3 0 5 - 3 0 7 , 528, 597, 603 Königshain 291 Königs Wusterhausen 55 Krostitz 140 Krumhermersdorf 3 2 3 - 3 2 4 Kulkwitz 162, 165, 4 9 6 Kunnersdorf 291, 542 Lauchhammer 358 Lausen 4 9 6 Lauter 492, 519 Leipnitz 401 Leipzig laufende Erwähnung Leipzig-Engelsdorf 162, 163, 166, 173, 174, 472, 495, 504 Leipzig-Lindenau 164 Leipzig-Plagwitz 164 Leipzig-Schkeuditz 102, 108-111,

653

Magdeburg 25, 44, 45, 46, 49, 55, 56, 5 8 - 6 2 , 67, 98, 460, 587, 593 Magdeburg-Sudenburg 67 Makranstädt 162, 490, 495 Marienberg 518 Markkleeberg 162, 496 Meerane 344* Mehlem 42 Meißen 199, 219, 224, 225, 228 Merseburg 45, 46, 49, 74, 81, 82, 98 Meuselwitz 160, 163, 166, 175, 176, 448, 451, 453, 490 Modelwitz 126 Mölbis 156 Mölkau 160, 162, 443, 496, 4 9 8 Moskau 9, 22, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 46, 60, 78, 86, 88, 89, 91 Naunhof 163 Netzschkau 345 Niesky 6, 10, 45, 49, 183*, 2 2 2 - 2 2 8 , 238, 243, 245, 256*, 258, 281, 287, 294*, 2 9 7 - 3 0 9 , 311,313-319, 4 2 1 , 4 2 2 , 445, 4 4 7 - 4 4 8 , 466, 486, 509, 514, 5 2 7 - 5 2 8 , 5 3 2 - 5 3 4 , 536, 543, 546-548,590-591, 593-594, 597, 6 0 2 - 6 0 3 , 606, 608, 611, 615, 617, 623

161, 162

Leuna 82, 298, 478 Lichtenberg 349, 382, 390 Liebertwolkwitz 104, 106-108, 162, 163, 489, 504, 507, 593 Limbach 344*, 519 Limbach-Oberfrohna 321 Lindenau 160 Lippendorf 153 Lodz 473* Löbau 2 2 4 - 2 2 6 , 2 9 3 , 3 1 0 , 422, 4 2 5 - 4 2 7 , 430, 4 4 7 - 4 4 8 Löbnitz 140 Lübeck 2 3 Luckenwalde 2 8 Ludwigsdorf 290, 2 9 1 - 2 9 4 , 296, 317, 319, 486, 527, 546 Ludwigsfelde 45

Oberneundorf 49 Oberoderwitz 4 2 7 , 4 2 8 Oberschlema 3 8 0 , 3 9 2 Oberwiera 364 Oelsnitz 324, 326, 343, 403, 441 Ohrdruff 82 Olbernhau 518 Oranienburg 162 Oschatz 129 Ostberlin siehe Berlin Paris 99 Penig 344* Pfaffendorf 291 Pirna 205, 2 2 2 - 2 2 5 , 448 Pirna-Copitz 4 4 8 Plagwitz/Lindenau 164

654 Plauen 98, 321, 324, 326, 336, 342, 345, 439, 441, 587, 617, 622 Potsdam 44, 45, 55, 98 Potsdam-Babelsberg 74 Pötzschau 156, 157 Poznan (Posen) 91, 92 Prag 92, 473* Probstheida 107 Rackwitz 136, 138, 140-142, 163, 500, 508 Radeberg 217 Radebeul 2 2 8 - 2 3 0 , 3 1 3 , 592, 600 Rathenow 45, 49 Ravensbrück 65 Reichenbach (Vogtland) 225, 291, 344, 364, 441 Reichenbach (Kreis Görlitz) 543 Riesa 56, 222, 2 2 5 - 2 2 8 , 231 -235, 592, 594, 614, 623 Rochlitz 344, 363, 441 Ronneburg 150, 382-383, 390-391, 522, 624 Rositz 178 Roßwein 104, 163, 404, 420, 472, 507, 510 Rostock, 44, 45, 48, 56, 76, 93, 94*. 98 Rothenburg 222, 302, 305, 307, 308, 318 Rudolstadt 3 2 7 , 4 5 9 Saalfeld 3 8 2 , 3 8 5 Sausedlitz 140 Schenkenberg 143 Schkeuditz 490, 495, 507, 517, 593-594, 598 Schlauroth 291, 317 Schmierchau 382, 390 Schmölln 135, 148-150, 160, 163, 488, 490, 492-493, 500, 616, 623 Schneeberg 333, 368, 374 Schönau 291 Schwarzenberg 344*, 365, 369, 371, 391 Schwerin 524*

Anhang Sebnitz 225 Seelingstädt 389 Seifersdorf 536 Seifhennersdorf 228, 235, 236 Senftenberg 153 Siegmar-Schönau 339, 394 Sohland 291 Sorge-Nord 3 7 2 , 3 8 9 Sorge-Settendorf 382 Sproitz 317 Stollberg 349 Stralsund 62, 98 Suhl 56,371 Taucha 1 6 0 - 1 6 2 , 4 9 6 Thale 49 Tilsit 65 Torgau 312, 150, 461, 541, 587 Waldheim 473*, 541, 546 Warschau 90, 92 Weida 49, 379, 382-384, 388, 612 Weidmannshain 317 Werdau 321, 339, 341, 344, 3 4 5 3 4 6 , 3 4 8 - 3 5 2 , 355, 363, 389 Wernesgrün 458 Westberlin siehe Berlin Wiederitzsch 59, 120 Wien 83 Wiesa 305 Wolfen 45, 52, 74, 81, 83, 137, 138, 143, 144, 147, 148, 162, 166, 592 Workuta 62, 63, 91 Würzen 150, 163 Zeitz 26 Zentendorf 291 Zinnowitz 459 Zipsendorf 454 Zittau 223-228, 235, 236, 238, 243, 305,310, 447-448, 594, 623 Zodel 222, 287, 291, 2 9 4 - 2 9 6 , 5 2 8 - 5 3 2 , 5 4 3 , 546, 594, 603 Zschopau 323 Zschortau 140 Zwickau 292, 321, 322, 339-340, 349,379, 392, 491

655

Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden

Nr. 11: Heidi Roth: Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Mit einem einleitenden Kapitel von Karl Wilhelm Fricke, 1999 Nr. 12: Michael Richter/Erich Sobeslavsky: Die Gruppe der 20. Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989/90, 1999 Böhlau Verlag Köln/Weimar Berichte und Studien

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts Nr. 1: Die politische „Wende" 1989/90 in Sachsen. Rückblick und Zwischenbilanz. Hg. von Alexander Fischer (+) und Günther Heydemann, 1995

Nr. 1: Gerhard Barkleit, Heinz Hartlepp: Zur Geschichte der Luftfahrtindustrie in der DDR 1952-1961, 1995 Nr. 2: Michael Richter: Die Revolution in Deutschland 1989/90. Anmerkungen zum Charakter der „Wende", 1995

Nr. 2: Die Ost-CDU. Beiträge zu ihrer Entstehung und Entwicklung. Hg. von Michael Richter und Martin Rißmann, 1995

Nr. 3: Jörg Osterloh: Sowjetische Kriegsgefangene 1941-1945 im Spiegel nationaler und internationaler Untersuchungen. Forschungsüberblick und Bibliographie, 1995

Nr. 3: Stefan Creuzberger: Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, 1996

Nr. 4: Klaus-Dieter Müller/Jörg Osterloh: Die Andere DDR. Eine studentische Widerstandsgruppe und ihr Schicksal im Spiegel persönlicher Erinnerungen und sowjetischer NKWD-Dokumente, 1995 Nr. 5: Gerhard Barkleit: Die Rolle des MfS beim Aufbau der Luftfahrtindustrie der DDR, 1996

Nr. 4: Michael Richter: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, 1996 Nr. 5: Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956. Hg. von Klaus-Dieter Müller, Konstantin Nikischkin und Günther Wagenlehner, 1998 Nr. 6: Lothar Fritze: Täter mit gutem Gewissen. Über menschliches Versagen im diktatorischen Sozialismus, 1998 Nr. 7: Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus. Hg. von Achim Siegel, 1998 Nr. 8: Bernd Schäfer: Staat und katholische Kirche in der DDR, 1998 Nr. 9: Widerstand und Oppositon in der DDR. Hg. von Klaus-Dietmar Henke, Peter Steinbach und Johannes Tuchel, 1999 Nr. 10: Peter Skyba: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949-1961, 2000

Nr. 6: Christoph Boyer: „Die Kader entscheiden alles ... ". Kaderpolitik und Kaderentwicklung in der zentralen Staatsverwaltung der SBZ und der frühen DDR (19451952), 1996 Nr. 7: Horst Haun: Der Geschichtsbeschluß der SED 1955. Programmdokument für die „volle Durchsetzung des Marxismus-Leninismus" in der DDRGeschichtswissenschaft, 1996 Nr. 8: Erich Sobeslavsky/Nikolaus Joachim Lehmann: Zur Geschichte von Rechentechnik und Datenverarbeitung in der DDR 1946-1968, 1996 Nr. 9: Manfred Zeidler: Stalinjustiz contra NS-Verbrechen. Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR in den Jahren 1943-1952. Kenntnisstand und Forschungsprobleme, 1996

656 Nr. 10: Eckhard Hampe: Zur Geschichte der Kerntechnik in der DDR 1955-1962. Die Politik der Staatspartei zur Nutzung der Kernenergie, 1996

Nr. 21: Horst Haun: Kommunist und „Revisionist". Die SED-Kampagne gegen Jürgen Kuczynski ( 1 9 5 6 - 1 9 5 9 ) , 1999

Nr. 11: Johannes Raschka: „Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik." Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, 1997

Einzelveröffentlichungen:

Nr. 12: Die Verführungskraft des Totalitären. Saul Friedländer, Hans Maier, Jens Reich und Andrzej Szczypiorski auf dem Hannah-Arendt-Forum 1997 in Dresden. Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke, 1997 Nr. 13: Michael C. Schneider: Bildung für neue Eliten. Die Gründung der Arbeiterund-Bauern-Fakultäten in der S B Z / D D R , 1998 Nr. 14: Johannes Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung. Zur politischen Repression in der Amtszeit Honeckers, 1998 Nr. 15: Gerhard Barkleit/Anette Dunsch: Anfällige Aufsteiger. Inoffizielle Mitarbeiter des MfS in Betrieben der Hochtechnologie, 1998 Nr. 16: Manfred Zeidler: Das Sondergericht Freiberg. Zu Justiz und Repression in Sachsen 1933-1940, 1998 Nr. 17: Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953. Aus dem Englischen übertragen von Ursula Ludz. Kommentar von Ingeborg Nordmann, 1998 Nr. 18: Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung. Herausgegeben von Klaus-Dietmar Henke, 1999 Nr 19: Henry Krause: Wittichenau. Eine katholische Kleinstadt und das Ende der DDR, 1999 Nr. 20: Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der CSSR. Hg. von Christoph Boyer und Peter Skyba, 1999

Nr. 1: Lothar Fritze: Innenansicht eines Ruins. Gedanken zum Untergang der DDR, München 1993 (Olzog) Nr. 2: Lothar Fritze: Panoptikum DDRWirtschaft. Machtverhältnisse. Organisationsstrukturen, Funktionsmechanismen, München 1993 (Olzog) Nr. 3: Lothar Fritze: Die Gegenwart des Vergangenen. Über das Weiterleben der DDR nach ihrem Ende, Köln 1997 (Böhlau) Nr. 4: Jörg Osterloh: Ein ganz normales Lager. Das Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager 304 (IV H) Zeithain bei Riesa/ Sa. 1941-1945, Leipzig 1997 (Kiepenheuer) Nr. 5: Manfred Zeidler: Kriegsende im Osten. Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45, München 1996 (Oldenbourg) Nr. 6: Michael Richter/Mike Schmeitzner: „Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden". Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konflikts mit Innenminister Kurt Fischer 1947, Leipzig 1999 (Kiepenheuer) Nr. 7: Johannes Bähr: Der Goldhandel der Dresdner Bank im Zweiten Weltkrieg. Unter Mitarbeit von Michael C. Schneider. Ein Bericht des Hannah-Arendt-Instituts, Leipzig 1999 (Kiepenheuer)

Bestelladresse für „Berichte und Studien": Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden Mommsenstraße 13 01062 Dresden Telefon: Telefax:

0 3 5 1 / 4 6 3 2802 0351 / 4 6 3 6079

E-Mail: [email protected] Homepage: www.tu-dresden.de/hait