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German Pages [423] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369647 — ISBN E-Book: 9783647369648
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 53
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Sachsen und der Nationalsozialismus Herausgegeben von Günther Heydemann, Jan Erik Schulte und Francesca Weil
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Mit 1 Schaubild und 5 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36964-7 ISBN 978-3-647-36964-8 (E-Book) Umschlagabbildung: Augustusplatz, Leipzig, 1938, Jubiläum 125 Jahre Völkerschlacht, Quelle: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Sign. F 98/161b © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil Sachsen und der Nationalsozialismus. Zur Vielfalt gesellschaftlicher Teilhabe – Einführung Claus-Christian W. Szejnmann Regionalgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus. Forschungsstand und Forschungsperspektiven
I. Herrschaft und Unterdrückung
9
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Armin Nolzen Die sächsische NSDAP nach 1933. Sozialstrukturen und soziale Praktiken
43
Stephan Dehn Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP in den Jahren 1937 bis 1942. Eine soziographische Annäherung
59
Stephan Dehn Die Propaganda der sächsischen NSDAP im „Expansions-Jahr“ 1931. Eine Massenpartei mit Massenreichweite?
77
Francesca Weil Die „Zwickauer Konferenz“. Informelle Zusammenkünfte westsächsischer Amtshauptleute während der Jahre 1919 bis 1945 im Kontext ihrer Dienstberatungen
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Ulrich Fritz „Ich hatte den Eindruck, dass damals alles schon etwas in Auflösung begriffen war.“ KZ-Häftlinge in Dresden – vor, während und nach den Luftangriffen vom Februar 1945
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Inhalt
II. Teilhabe und Täterschaft
129
Christian Augustin Das Landwirtschaftliche Institut als „Fünfte Kolonne“? Zur Rolle der Agrarwissenschaft in der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ und Herrschaftssicherung an der Universität Leipzig
131
Wolfgang Bialas Philosophischer Nationalsozialismus an der Leipziger Universität. Das Beispiel Arnold Gehlens
147
Judith Schachtmann / Thomas Widera Lebensentwürfe. Walter Frenzel (1892–1941) und Pawoł Nedo (1908–1984)
163
Boris Böhm „Mit der Tötung von Kranken habe ich also nichts zu tun gehabt.“ Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 185 Julius Scharnetzky „Schließlich kamen wir alle […] aus der Euthanasie.“ Zum personellen Konnex zwischen der „Aktion T4“ und der „Aktion Reinhardt“ am Beispiel des Personals der Tötungsanstalt Sonnenstein
III. Anpassung und Abgrenzung
197
213
Udo Grashoff Erst rot, dann braun? Überläufer von der KPD zu NS-Organisationen im Jahr 1933
215
Thomas Keiderling „Der deutsche Buchhandel begrüßt die nationale Erhebung.“ Die Reaktion des organisierten Buchhandels in Sachsen auf die NS-Machtergreifung
237
Norman Pohl Die Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus. Ein Werkstattbericht
251
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Inhalt
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Franziska Böhl Die Sächsischen Freimaurer zwischen Anpassung und Unterdrückung 1918–1945
267
Nikola Schmutzler Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand. Gab es einen Weg der „Mitte“?
283
IV. Eigensinn
301
Sebastian Fink Eigensinn und Rückzug ins Private. Die Arbeiter des Stahlund Walzwerks Riesa 1933 bis 1949
303
Alexander Lange Jungkommunisten – Meuten – Broadway-Cliquen. Drei Jugendgenerationen zwischen Resistenz und Widerstand in Leipzig
319
Friederike Hövelmans Zwischen Weimarer Republik und Zweitem Weltkrieg. Die Bürgerliche Jugend in Sachsen am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft
335
V. Kontinuitäten und Brüche
349
Carina Baganz Vom Wachmann zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Täter der frühen sächsischen Konzentrationslager und ihr Wirken für die Staatssicherheit
351
Manfred Seifert / Lars Polten Der lange Schatten der NS-Medizin. Biografien von zwischen 1933 und 1945 Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten
365
Mike Schmeitzner Justizieller Antifaschismus? Der Moskauer Geheimprozess gegen den sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann
381
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Inhalt
VI. Anhang
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Auswahlbibliographie Abkürzungsverzeichnis Autorenverzeichnis Dank
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Sachsen und der Nationalsozialismus. Zur Vielfalt gesellschaftlicher Teilhabe – Einführung Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil Sachsen gehörte zu den wichtigsten regionalen Zentren des Nationalsozialismus im Deutschen Reich. Obwohl das Land als Wiege der Arbeiterbewegung galt, die im „Roten Königreich“ eine ihre traditionsbewussten Hochburgen besessen hatte, vermochten die Nationalsozialisten hier frühzeitig überdurchschnittliche Erfolge zu erringen. Immerhin gründete sich die erste NSDAP - Ortsgruppe außerhalb Bayerns 1921 im südwestsächsischen Zwickau. Für den zügigen Triumphzug der NSDAP und ihrer Volksgemeinschaftspropaganda in Sachsen gab es mehrere Gründe. Nur in wenigen anderen Regionen Deutschlands waren die gesellschaftlichen Spannungen so stark ausgeprägt, die politische Kultur der unterschiedlichen sozialmoralischen Milieus so gegensätzlich verfasst wie in Sachsen.1 Das Land zählte außerdem zu den von der Weltwirtschaftskrise am schwersten betroffenen Gebieten.2 Und nicht zuletzt gehörte der sächsische NSDAP - Gauleiter Martin Mutschmann zu den treuesten und fanatischsten Gefolgsleuten Hitlers. Über den Vormarsch der NSDAP in Sachsen notierte Goebbels 1931 in sein Tagebuch : „Sachsen ist fabelhaft in Form. 50 000 Mitglieder. Da kann selbst Berlin sich verstecken.“3 Nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar 1933 besaß der Gau Sachsen – geografisch identisch mit dem Reichsland – in der NSDAP das zahlenmäßig stärkste Gewicht. 1935 wurden hier 234 681 „Parteigenossen“ gezählt – mehr als in jedem anderen Gau; auf 22,2 Einwohner kam ein Parteimitglied. Hinsichtlich der Dichte an NSDAP - Mitgliedern nahm Sachsen unter den 32 Parteigauen den sechsten Platz ein.4 Gauleiter Mutschmann stieg schnell zu einem der mächtigsten regionalen Parteiführer des „Großdeutschen Reiches“ auf. Gab es doch nur wenige unter den 43 Gauleitern, die – wie er – neben der politischen Leitung auch alle entscheidenden staatlichen Führungspositionen
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Vgl. Clemens Vollnhals, Der gespaltene Freistaat. Der Aufstieg der NSDAP in Sachsen. In : Clemens Vollnhals ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 9–40, hier 9. Vgl. Michael C. Schneider, Die Wirtschaftsentwicklung von der Wirtschaftskrise bis zum Kriegsende. In : ebd., S. 72–84, hier 72. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Hg. von Elke Fröhlich, Teil I, Band 2/ II : Juni 1931–September 1932, München 2004, S. 157. Vgl. den Beitrag von Armin Nolzen im vorliegenden Band.
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Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil
wie die des Reichstatthalters, des Ministerpräsidenten und des Reichsverteidigungskommissars innehatten.5 Im Gegensatz zu anderen Regionen erholte sich das stark industrialisierte Land ökonomisch erst gegen Ende der 1930er Jahre, was mit seiner kleinbetrieblich ausgerichteten Wirtschaftsstruktur und der Grenzlage zusammenhing. Doch im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges avancierte die „Werkstatt Deutschlands“ – wie Sachsen bis in die Weimarer Zeit bezeichnet wurde – schließlich zur „Rüstungskammer“ des „Dritten Reiches“.6 Mittelständische Betriebe entwickelten sich zu expandierenden Rüstungskonzernen. So dehnte sich beispielsweise der Leipziger Traditionsbetrieb HASAG zu einem der größten privatwirtschaftlich betriebenen Ausbeutungskomplexe jüdischer Häftlinge im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete aus.7 Obwohl in Sachsen kein größeres, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein bestehendes Konzentrationslager errichtet worden war, existierte auch hier ein ausgedehntes Lagersystem. Dazu gehörten ab 1933 ein Netz von mehr als 20 frühen KZ und nach 1939 eine Reihe von Kriegsgefangenenlagern, unter ihnen das „Stalag 304 ( IV H ) Zeithain“, in welchem ca. 25 000 bis 30 000 sowjetische Kriegsgefangene meist an den Folgen der bewusst erzeugten katastrophalen Lebensbedingungen starben.8 Zu den zahlreichen Zwangsarbeitslagern9 kamen schließlich zwischen Spätsommer 1944 und Frühjahr 1945 54 Außenlager bzw. - kommandos in sächsischen Städten und Dörfern, die den großen KZ- Hauptlagern, dem bayerischen Flossenbürg, dem thüringischen Buchenwald und dem niederschlesischen Groß - Rosen, unterstanden.10 Aus diesen Außenlagern und den großen KZ wurden im Frühjahr 1945 Häftlinge „evakuiert“ und auf die „Todesmärsche“ auch durch Sachsen getrieben.11 Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt, für Sachsen kann von einer Zahl im vierstelligen Bereich
5 Vgl. Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011. 6 Vgl. Schneider, Wirtschaftsentwicklung, S. 75 und 83. 7 Vgl. Mustafa Haikal, Von der Petroleumlampe zur Panzerfaust. In : Leipzig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie - und Wissenschaftsstandorts. Hg. vom UFZ Umweltforschungszentrum Leipzig - Halle GmbH, Leipzig 2001, S. 12–53; ders., Exkurse und Dokumente zur Geschichte der Hasag. In : ebd., S. 54–73; ders., Die Standorte der Firma im Zweiten Weltkrieg. In : ebd., S. 74–79. 8 Vgl. Jörg Osterloh, Ein ganz normales Lager. Das Kriegsgefangenen - Mannschaftslager 304 ( IV H ) Zeithain bei Riesa / Sa. 1941 bis 1945, Leipzig 1997. 9 Vgl. Leipzig Permoserstraße; Felicja Karay, Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten. Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich, Köln 2001. 10 Vgl. Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Flossenbürg. Das Konzentrationslager Flossenbürg und seine Außenlager, München 2007; Ulrich Fritz, Verwischte Spuren. Die ehemaligen Außenlager des KZ Flossenbürg in Sachsen. In : Dachauer Hefte, 24 (2008), S. 46–62; Irmgard Seidel; Der Einsatz von KZ - Häftlingen in den Werken der Hasag 1944/45. In : Leipzig Permoserstraße, S. 84–95. 11 Vgl. Katrin Greiser, Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen 2008; Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011.
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Einführung
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ausgegangen werden.12 In Ostsachsen befand sich zudem die Vernichtungsanstalt Pirna - Sonnenstein, die zu den sechs „Euthanasie“ - Tötungsanstalten der „Aktion T4“ zählte. Ihr Einzugsgebiet erstreckte sich bis nach Thüringen, Schlesien und Bayern. Hier wurden in den Jahren 1940/41 etwa 15 000 Menschen ermordet, vorwiegend psychisch Kranke und geistig Behinderte, aber auch KZ - Häftlinge.13 Da sich der Gau in den ersten Kriegsjahren noch außerhalb der Reichweite der alliierten Bomberflotten befand, wurden seit 1942/43 Teile der Rüstungsproduktion aus ganz Deutschland hierher verlagert, was Sachsens ökonomische Bedeutung im Krieg weiter anwachsen ließ.14 Aber auch im östlichen Mitteldeutschland waren die Industriebetriebe nur zeitweise vor den alliierten Luftschlägen sicher. Mit dem verheerenden Angriff auf Leipzig im Dezember 1943 begannen die großen Bombardements sächsischer Städte. Die Luftangriffe auf Dresden, Chemnitz und Plauen im Jahr 1945 zählten zu den schwersten Bombardierungen unmittelbar vor Kriegsende. Damit war der Krieg direkt in Sachsen angekommen. Im April und Mai 1945 rückten schließlich sowohl sowjetische als auch amerikanische Truppen in Sachsen ein, was das Land zu einem der letzten Kampfgebiete auf deutschem Boden werden ließ. Die Kämpfe um Sachsen kosteten bis zu 20 000 sowjetischen und polnischen sowie bis zu 8 000 deutschen Soldaten das Leben.15 Am 10. Mai 1945 war ganz Sachsen von den amerikanischen und sowjetischen Alliierten besetzt. Der Einigung der vier Siegermächte über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen entsprechend, verließen die amerikanischen Truppen Westsachsen bis zum 1. Juli des Jahres wieder.16 Am Tag darauf wurde das Land der Sowjetischen Militäradministration unterstellt.17 Damit gehörte es zum Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 zum Territorium der DDR. Im Zuge einer zentrali-
12 Auskunft Ulrich Fritz, Stiftung Bayerischer Gedenkstätten, vom 13. 8. 2013. 13 Vgl. Thomas Schilter, Die „Euthanasie“ - Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein 1940/41. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997; Boris Böhm, Pirna - Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Dresden 2001; ders., Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage“ im Osten, Pirna 2001; ders., „Im Sammeltransport verlegt“. Die Einbeziehung der sächsischen Kranken - und Behinderteneinrichtungen in die „Aktion T 4“, Pirna 2002; ders., Nationalsozialistische Euthanasie Verbrechen in Sachsen, 4. Auflage Dresden 2002; ders., „... ist uns noch allen lebendig in Erinnerung“. Biografische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Anstalt Pirna- Sonnenstein, Dresden 2003. 14 Vgl. Schneider, Wirtschaftsentwicklung; S. 83; Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2001, S. 323; Rainer Behring, Das Kriegende 1945. In : Vollnhals ( Hg.), Sachsen, S. 224–238, hier 224 f. 15 Vgl. ebd., S. 225 f.; Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 277 f. 16 Vgl. Nora Blumberg, Leipzig unter amerikanischer Besatzung. Einblicke in die Arbeit der Stadtverwaltung unter Provisional Military Government Detachment A, Magisterarbeit Universität Leipzig, 2011, S. 163. 17 Vgl. Keller, Landesgeschichte, S. 276.
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Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil
sierenden Verwaltungsreform hörte das Land Sachsen 1952 de facto auf zu existieren.18 Erst 1990 wurde es wiedererrichtet. Studien, die auf die nationalsozialistische Geschichte Sachsens eingehen, liegen in großer Zahl vor – trotz der im Vergleich zu anderen Regionen stark defizitären Quellenlage.19 Bereits bis zur Jahrtausendwende wurde eine Reihe von Untersuchungen veröffentlicht, die sich zum größten Teil Spezialthemen widmeten oder auf ausgewählte Personen( gruppen ) bzw. konkrete Orte in Sachsen bezogen.20 Nach Benjamin Lapps Studie über die Genese der „nationalsozialistischen Bewegung“ in Sachsen bis 1933 erschien schließlich 1999 eine Arbeit von Claus - Christian W. Szejnmann, die sich erstmals der Entwicklung der NSDAP im gesamten Reichsland widmete.21 Drei Jahre später gab Clemens Vollnhals einen Sammelband heraus, der den damaligen Stand der Forschung zusammenfasste und dessen Beiträge die Struktur des nationalsozialistischen Regimes im Land bzw. Gau Sachsen eingehend analysierten.22 Das Werk erweist sich bis heute als Fluchtpunkt für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der NS- Zeit in diesem Territorium. In den vergangenen Jahren sind zudem weitere Studien erschienen, die Sachsen insgesamt in den Blick nehmen bzw. anhand von Fallbeispielen unsere historischen Kenntnisse vertieften. Hierzu gehören Andreas Wagners Dissertation „‚Machtergreifung‘ in Sachsen“, in welcher er die Machtanhäufung durch den Gauleiter Martin Mutschmann auf Landes - bzw. Gauebene detailliert beschreibt, oder die Arbeit von Carina Baganz über die frühen Konzentrationslager in Sachsen.23 Ihnen folgten die 18 Vgl. Karl - Heinz Hajna, Zur Bildung der Bezirke in der DDR ab Mitte 1952. In : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 37 (1989) 4, S. 291–303, hier 291. 19 Vgl. Clemens Vollnhals, Vorbemerkung. In : ders. ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, S. 7 f., hier 7. 20 Hier eine kleine Auswahl : Volker Schmiedel, Die psychiatrische Behandlungspraxis in der Heil - und Pflegeanstalt Hubertusburg / Sachsen im Zeitraum 1933 bis 1945, Leipzig 1994; Hannelore Lauerwald, In fremdem Land – Kriegsgefangene im STALAG VII A in Görlitz (1939–1945), Görlitz 1996; Gerd Naumann / Curt Röder ( Hg.), Plauen i. V. 1933–1945, Plauen 1996; Hans - Dieter Schmid, Gestapo Leipzig. Politische Abteilung des Polizeipräsidiums und Staatspolizeistelle Leipzig 1933–1945, Beucha 1997; Julia Paulus, Kommunale Wohlfahrtspolitik in Leipzig 1930–1945. Autoritäres Krisenmanagement zwischen Selbstbehauptung und Vereinnahmung, Köln 1998; Rainer Pommerin ( Hg.), Dresden unterm Hakenkreuz, Köln 1998; Michael Eberlein / Norbert Haase/ Wolfgang Oleschinski, Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkrieges. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht, Leipzig 1999; Birgit Sack, Dr. Margarete Blank (1901–1945). Justizmord und Erinnerungspolitik, Dresden 2000; Silke Schumann, NS - Propaganda und Arbeitsmarktpolitik in Sachsen 1933–1939, Dresden 2000. 21 Benjamin Lapp, Revolution from the Right. Politics, Class, and the Rise of Nazism in Saxony, 1919–1933, Boston 1997; ders., Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Sachsen. In : Pommerin ( Hg.), Dresden unterm Hakenkreuz, S. 1–24; Claus - Christian W. Szejnmann, Nazism in central Germany. The brownshirts in red saxony, New York 1999. 22 Clemens Vollnhals ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002. 23 Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004; Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft ?“ Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37, Berlin 2005.
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Einführung
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Studien von Michael Schneider über Unternehmensstrategien in der Chemnitzer Maschinenbauindustrie während der NS - Zeit sowie von Carsten Schreiber zur Ideologie und regionalen Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens.24 2011 erschien Mike Schmeitzners Buch über Aufstieg und Fall des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann,25 ein Jahr darauf schließlich ein Band mit Biografien zu 40 Personen aus der „Gauhauptstadt“ Dresden, die mit ihrer Tätigkeit in der SS, SA und Gestapo, aber auch in der Kunst, der Wissenschaft, der Justiz, der Medizin und der Kirche das nationalsozialistische Regime in der Region zumindest maßgeblich stützten.26 Dazu gehören auch Arbeiten im Rahmen eines von Günther Heydemann initiierten Projektverbundes „Sachsen unter totalitärer Herrschaft. „Diktaturdurchsetzung, Diktaturformen, Diktaturerfahrung 1933–1961“ an der Universität Leipzig. Beteiligt waren daran auch Ulrich von Hehl (Universität Leipzig) und Klaus-Dietmar Henke (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden). Die genannten Studien sind mit dem Ziel entstanden, Erkenntnismöglichkeiten, Probleme und Grenzen von wissenschaftlich tragfähigen Diktaturvergleichen anhand von Untersuchungen mit regionalem Bezug auszuloten.27 Die Geschichte der sächsischen Region in der nationalsozialistischen Zeit ist folglich schon in vielen Bereichen erforscht worden. Dabei zeigt sich, wie eng die moderne Regionalgeschichte als eine Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft mit deren sich verändernden Fragestellungen und methodologischen Herangehensweisen verknüpft ist.28 Dies gilt insbesondere für die Analyse der
24 Michael C. Schneider, Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS - Zeit 1933–1945, Essen 2005; Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes des SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008. 25 Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. 26 Christine Pieper / Mike Schmeitzner / Gerhard Naser ( Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012. 27 Zu ihnen zählen u. a. Jill Akaltin, Neue Menschen für Deutschland ? Leipziger Kindergärten zwischen 1930 und 1959, Köln 2004; Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933–1945, Köln 2004; Thomas Schaarschmidt, Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat - Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ / DDR, Köln 2004; Francesca Weil, Entmachtung im Amt. Bürgermeister und Landräte im Kreis Annaberg 1930–1961, Köln 2004; Oliver Werner, Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1932 bis 1963, Stuttgart 2004; Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004; Sebastian Fink, Das Stahl - und Walzwerk Riesa in beiden deutschen Diktaturen 1933 bis 1963. Ein Vergleich, Leipzig 2012. 28 Dies zeigt sich schon daran, dass sich die moderne Regionalgeschichte, die in den 1970er Jahren entstand, methodisch an die damals neue Sozialgeschichtsschreibung anlehnte. Zur Zugriffsweise und zum Potenzial sowie zur Abgrenzung von und Annäherung an die Landesgeschichte vgl. Dietmar Schiersner, Alter Zopf oder neue Chance?
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Günther Heydemann / Jan Erik Schulte / Francesca Weil
NS - Vergangenheit.29 In der jüngsten Zeit haben sich Wissenschaftler, die sich speziell mit dieser Thematik beschäftigen und deren historische Spezialdisziplin kurz NS - Forschung genannt wird, verstärkt mit dem Begriff, dem Mobilisierungspotenzial und der Praxis der „Volksgemeinschaft“ als Kern der gesellschaftlichen Utopie des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Dabei wurde das Erkenntnisziel unterschiedlich definiert. Zum einen stand die Frage im Mittelpunkt, inwieweit eine egalitäre, unter rassistischen und nationalsozialistischen Vorzeichen gebildete Gesellschaft nicht nur propagiert, sondern auch realisiert worden sei. Zum anderen wurde nach den Mobilisierungseffekten gefragt, welche die Verheißung der „Volksgemeinschaft“ hervorgebracht habe. Im letztgenannten Fall ging es nicht darum, einen klaren kausalen Nexus zwischen Utopie und Realität zu konstruieren, sondern den Ablauf eines konstatierten gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu erklären. Die in diesem Zusammenhang geführten Debatten kamen indes noch zu keinem eindeutigen Ergebnis. Umstritten bleibt, in welchem Umfang der Begriff die analytische Annäherung an die gesellschaftlichen Prozesse erleichtert und inwieweit die „Volksgemeinschaft“ tatsächlich die NS - Gesellschaft repräsentierte.30 Noch
Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht. In : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 62 (2011), S. 50–60; sowie Stefan Brakensiek, Regionalgeschichte als Sozialgeschichte. Studien zur ländlichen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum. In : ders./ Axel Flügel ( Hg.), Regionalgeschichte in Europa. Methoden und Erträge der Forschung zum 16. bis 19. Jahrhundert, Paderborn 2000, S. 197–251, hier bes. 197–205; kritisch Werner Freitag, Landesgeschichte als Synthese – Regionalgeschichte als Methode ? In : Westfälische Forschungen, 54 (2004), S. 291–305. Johannes Dillinger, Aspekte der Vermittlung von Landesgeschichte an der Universität. In : ders. ( Hg.), Die Vermittlung von Landesgeschichte. Beiträge zur Praxis und historischen Didaktik, Heidelberg 2010, S. 72–85, hält eine Abgrenzung von Landes - und Regionalgeschichte für überholt. 29 Vgl. den Beitrag von Claus - Christian Szejnmann im vorliegenden Band. 30 Das Erklärungspotenzial des „Volksgemeinschafts“ - Begriffs schätzen beispielsweise Detlef Schmiechen - Ackermann und Michael Wildt eher hoch ein, Ian Kershaw dagegen weitaus niedriger. Vgl. Detlef Schmiechen - Ackermann, ‚Volksgemeinschaft‘. Mythos der NS - Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘ ? Einführung. In : ders. ( Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘. Mythos der NS - Propaganda, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘ ?, Paderborn 2012, S. 13–53, hier 22–34, 44–46; Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In : Zeithistorische Forschungen, 8 (2011) 1, S. 102–109; Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), S. 1–17. Vgl. auch Janosch Steuwer, Conference Report : German Society in the Nazi Era. Volksgemeinschaft between Ideological Projection and Social Practice. In : German Historical Instiute London. Bulletin, 32 (2010) 2, S. 120–128 bzw. ders., German Society in the Nazi Era. „Volksgemeinschaft“ between Ideological Projection and Social Practice. 25. 3. 2010– 27. 3. 2010, London. In : H - Soz - u - Kult, 28. 5. 2010 ( http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / tagungsberichte / id=3127; 10. 9. 2013).
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Einführung
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mehr als zuvor zeigten die Diskussionen und neue Untersuchungen allerdings,31 wie weitgehend „ganz normale Deutsche“ das NS - Regime und seine Vergemeinschaftungsprozesse mittrugen, eigene Initiativen entwickelten und sich auch die verbrecherische Politik zu eigen machten. Wie die Historiker Frank Bajohr und Michael Wildt betonen, ermöglicht die Frage nach der „Volksgemeinschaft“ einen erweiterten Zugriff auf die Realität und Dynamik der nationalsozialistischen Gesellschaft.32 Verstanden als erkenntnisleitende Frage sowie als heuristisches Werkzeug, verbreitert eine die „Volksgemeinschaft“ in den Blick nehmende Annäherung das Forschungsfeld und hilft, Bevölkerungsgruppen, Individuen und Prozesse in den Fokus zu rücken, die bislang eher unbeachtet geblieben waren.33 Nicht erst die Diskussion um die „Volksgemeinschaft“ hat sich von der älteren dichotomischen Vorstellung von Herrschaft und Gesellschaft gelöst. Die jüngste Debatte macht allerdings noch einmal deutlich, wie wenig eine solche Gegenüberstellung die politische und soziale Realität im Nationalsozialismus einfangen kann. Der Doyen der Alltagsgeschichtsschreibung,34 Alf Lüdtke, bietet stattdessen eine methodische Herangehensweise an, die zwischen den beiden Polen liegt und beide, tatsächlich nicht voneinander zu trennende Sphären vereinigt. Sein Konzept der „Herrschaft als soziale Praxis“ verweist auf die Aushandlungsprozesse, die zwischen „Herrschenden“ und „Beherrschten“ stattfinden und die soziale Realität ausmachen.35 Auf diese Weise kommen die Beziehungen und Abhängigkeiten unterschiedlicher Personen und Personengruppen in den Blick. Der Fokus verlagert sich zum einen auf das tatsächliche Handeln der Individuen, zum anderen werden auch die „kleinen Leute“ und Funktionsträger auf unteren und mittleren Ebenen als Akteure36 mit eigenen Handlungsspielräumen, Motiven und Initiativen begriffen. Im Zuge der Debatte um die 31
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Siehe zum Beispiel die reichhaltige Denunziationsforschung, die schon vor über zehn Jahren „die kleine Macht der Volksgenossen“ eindrücklich vor Augen führte. Klaus Michael Mallmann / Gerhard Paul, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierrevier im Dritten Reich, Band 2, Bonn 1991, S. 164 ff.; Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933–1945, 2. Auflage Paderborn 1993; Gisela Diewald - Kerkmann, Politische Denunziation im NS - Regime oder die kleine Macht der „Volksgenossen“, Bonn 1995. Frank Bajohr / Michael Wildt, Einleitung. In : dies. ( Hg.), Volksgemeinschaft. Neuere Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 7–23; siehe auch Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939, Hamburg 2007. Zum Beispiel Nicole Kramer, „Volksgenossinnen“ an der „Heimatfront“. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011. Alf Lüdtke ( Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrung und Lebensweisen, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien, Göttingen 1991. Auch Bajohr / Wildt, Einleitung, S. 10, plädieren für diesen Ansatz. Zum „Akteur“ als analytische Kategorie und heuristische Zugriffsweise vgl. Tilman Pohlmann, Einführung. In : Totalitarismus und Demokratie, 10 (2013) 1, S. 7–10, hier 7. Siehe auch Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw, S. 107.
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„Volksgemeinschaft“ und unter Einbeziehung eines alltagsgeschichtlichen Verständnisses von sozialen Interaktionen verbreitert sich, ausgehend von der neueren Täterforschung, die vorwiegend unmittelbar an den Verbrechen Beteiligte untersucht, der biografische Zugriff auf die Träger und Teilhaber der nationalsozialistischen Politik und Gesellschaft sowie ihrem Handlungsrepertoire.37 Der vorliegende Band knüpft an die differenzierten und differenzierenden neueren Forschungsansätze zur Erforschung der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus an und untersucht, basierend auf den Strukturen politischer Herrschaft, die soziale Praxis von Akteuren, die auf der mittleren und unteren Ebene des Herrschaftssystems sowie im regionalen und lokalen Zusammenhang agierten. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Land bzw. der NSDAP - Gau Sachsen. Geografisch ist der Erkenntnisbereich – bis auf einige Ausnahmen – somit relativ genau abzugrenzen. Chronologisch erweist sich eine zu starre Fixierung allerdings als hinderlich. Denn Entwicklungen, Ideen sowie besonders individuelle und kollektive Biografien folgen nicht notwendigerweise den großen historischen Zäsuren deutscher Geschichte, wiewohl sie von diesen nicht unbeeinflusst blieben. Unbestreitbar hatte die NSDAP in Sachsen auch eine Geschichte vor 1933, und Lebensläufe können nicht nur zwischen der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Ende des Krieges 1945 betrachtet werden. Der Band und zahlreiche der hier versammelten Studien gehen daher bewusst über die scheinbar kategorialen Zeitabschnitte hinaus und spüren Voraussetzungen der Weimarer Jahre ebenso nach, wie Kontinuitäten und Schicksale über 1945 hinaus in der Sowjetischen Besatzungszone und danach in der DDR. Die einzelnen Beiträge umspannen die Vielfalt der praktizierten Handlungsmöglichkeiten, die das NS - System etablieren und stabilisieren halfen und seine Funktionsfähigkeit garantierten. Dabei wurden auch eigene Interessen verfolgt und konnte „Eigensinn“ sich durchaus gegen bestimmte Ansprüche des Regimes richten, ohne allerdings Herrschaft und Gesellschaft prinzipiell infrage zu stellen. Gerade in der nationalsozialistischen Gesellschaft waren trotz aller Volksgemeinschaftsrhetorik nicht alle Volksgenossen gleich, gab es viele Abstufungen aus hierarchischen, politischen, ideologischen, sozialen und wirtschaftlichen Gründen. Individuen und Gruppen besaßen folglich unterschiedliche Handlungsspielräume, nicht nur je nachdem wie sie sich selbst zum Nationalsozialismus und seinen Protagonisten stellten, sondern vor allem ob und inwieweit sie in und von der NS - Gesellschaft stigmatisiert, marginalisiert und verfolgt wurden. Da die historische Forschung zum Nationalsozialismus in den vergangenen Jahren besonders neue Erkenntnisse zur Teilhabe der Vielen am Regime hervorbrachte und die entsprechende Ausweitung des Blickwinkels auch für Sachsen 37 Vgl. Michael Wildt, Von Apparaten zu Akteuren. Zur Entwicklung der NS - Täterforschung. In : Angelika Benz / Marija Vulesica ( Hg.), Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter im nationalsozialistischen Lagern, Berlin 2011, S. 11–22.
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neue Einsichten bereithält, setzt hier der vorliegende Band seinen Schwerpunkt, besonders, da diesbezüglich in jüngster Zeit spezifische Studien in Angriff genommen38 bzw. schon vorgelegt wurden.39 In diesem Sinne kann zwar nicht die ganze Breite der strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Sachsen aufgegriffen werden. Die sozial Marginalisierten und aus rassistischen Gründen Verfolgten stehen ebenso wenig im Zentrum der Frage nach der Teilhabe wie diejenigen, die sich bewusst gegen das Regime wandten und politischen Widerstand leisteten. Doch werden an einzelnen Beispielen Übergänge zur Nonkonformität und Resistenz diskutiert. Trotz dieser Befunde und unter Einbeziehung der Erkenntnisse zur Ausgrenzung und zum Widerstand40 zeigt sich indes, wie breit gestreut Anpassung, Zustimmung und die zumindest partielle Unterstützung des Regimes waren und wie weit Teilhabe und Täterschaft gerade auch im regionalen Raum gingen. Die einzelnen Beiträge verdeutlichen, dass klare Zuschreibungen schwer möglich sind; in individuellen Lebensläufen wie auch in Handlungsmustern von sozialen Gruppen finden sich Übergänge zwischen Täterschaft und Teilhabe, Anpassung und Abgrenzung, von Eigensinn, Nonkonformismus und Systemstabilisierung. Grauzonen und Widersprüche bestimmen das Bild mehr als eindeutige Abgrenzungen. Zugleich darf nicht vergessen werden, dass die unterschiedlichen Handlungsweisen mitunter durchaus lethale Folgen zeigten, wie der Fall der Mitarbeiter der „Euthanasie“-Anstalt Pirna - Sonnenstein offenlegt, die direkt oder indirekt am Mord an Tausenden von Menschen beteiligt waren. Ebenso wichtig ist daher, die Unterschiede der gewählten Haltungen zum Regime herauszuarbeiten. Aus diesem Grund und um den Überblick über bestimmte Verhaltensweisen zu erleichtern, sind die Beiträge in diesem Band thematisch gegliedert. Diese Einteilung versteht sich indes vor allem als ein (durchaus begründetes ) Angebot und nicht als eine definitive Zuschreibung. Zunächst findet sich vor den einzelnen Themenabschnitten allerdings eine Studie angeordnet, die explizit über den sächsischen Kontext hinausweist. Da sich dieser Band sowohl als Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus und 38 Dazu zählen u. a. folgende Projekte : Friederike Hövelmans, Bürgerliche Jugendbewegung in Sachsen zwischen der Weimarer Republik und dem Zweiten Weltkrieg ( am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft ); Martin Winter, Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche; Stephan Dehn, Die nationalsozialistische Propaganda in Sachsen 1921 bis 1945; Mike Schmeitzner, Biografien zu den NS - Funktionären Martin Mutschmann und Heinrich Bennecke; Francesca Weil, Gesellschaftsgeschichte Sachsens während des „totalen Krieges“ (1943–1945). 39 Siehe beispielsweise Thomas Keiderling, Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co., 2. verbesserte Auflage Beucha 2008; Alexander Lange, Meuten — Broadway - Cliquen — Junge Garde. Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich, Köln 2010; Nikola Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013. 40 Vgl. z. B. Mike Schmeitzner, Ausschaltung – Verfolgung – Widerstand. Die politischen Gegner des NS - Systems in Sachsen 1933–1945. In : Vollnhals ( Hg.), Sachsen, S. 183– 199; Steffen Held, Von der Entrechtung zur Deportation. Die Juden in Sachsen. In : ebd., S. 200–223.
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der hierdurch hervorgerufenen langfristigen Folgewirkungen begreift, als auch als Teil der modernen Regionalgeschichte versteht, leitet Claus - Christian W. Szejnmann die folgenden Aufsätze mit einer historiografischen Analyse ein, die Möglichkeiten und Grenzen der regionalgeschichtlichen Erforschung der NSZeit aufzeigt und aktuelle Fokussierungen benennt. Die Beiträge im ersten großen Abschnitt „Herrschaft und Unterdrückung“ bieten Überblicke über und Einblicke in die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur in Sachsen. Auch wenn die Aushandlungsprozesse zwischen Herrschaft und Gesellschaft – im Sinne von Alf Lüdtke das „‚Kräftefeld‘, in dem Akteure in Beziehung treten und stehen“41 – und die Positionierung von Gruppen oder Einzelnen zum NS - Regime im Mittelpunkt der folgenden Aufsätze stehen, so soll doch die Relevanz der machtpolitischen Vorgaben nicht unterschlagen werden. Denn sie wirkten sich auf die Haltung und Stellung der Individuen in der NS - Zeit aus, ganz gleich ob sie die existierende Herrschaft als rechtmäßig anerkannten oder nicht. Wie dominierend die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur sein konnte, wie weitgehend Einzelne den Tätern, Mittätern oder Mitläufern ausgeliefert waren und welche mörderischen Konsequenzen dies haben konnte, zeigt eindrücklich der Aufsatz über die Häftlinge der KZ - Außenlager in Dresden. Unter dem Titel „Teilhabe und Täterschaft“ wenden sich im Anschluss fünf Beiträge spezifischen Untersuchungen der individuellen oder kollektiven Unterstützung der Machtübernahme durch die NSDAP sowie der Förderung des Regimes in Theorie und Praxis zu. Soweit möglich, werden exemplarisch Motive herausgearbeitet, die nicht zuletzt, wie in den Fällen des Agrarwissenschaftlers Arthur Golf und des Lehrers Walter Frenzel, in einer Kombination von ideologischen Affinitäten, Minderwertigkeitskomplexen und Karrierehoffnungen lagen. Die Analysen unterstreichen, dass Individuen nicht nur in einer wie auch immer gearteten Beziehung zur NS - Gesellschaft standen, sondern sie tatsächlich bildeten. Auch die unter dem folgenden Gliederungspunkt „Anpassung und Abgrenzung“ versammelten Aufsätze beschäftigen sich mit Personen und Personengruppen, die im weitesten Sinne gesellschaftlich integriert waren oder eine solche Integration anstrebten. Dabei brachten sie sich selbst aktiv ein, teils aus vorauseilendem Gehorsam, teils aus Angst vor Verfolgung, aber auch aus Berechnung oder aus dem Versuch heraus, Bestehendes zu bewahren oder auch, um bestimmte als negativ eingeschätzte Entwicklungen aufzuhalten. Zum Teil tragisch endeten die Versuche von KPD - Angehörigen, trotz der parteipolitischen Stigmatisierung ihren Weg im nationalsozialistischen Deutschland zu gehen, beispielsweise in dem sie der Gestapo bei der Aufdeckung von Widerstandsaktivitäten ehemaliger Genossen zu Diensten waren. Diesen, den eigenen Weg versuchten auch jene sozialen Gruppen zu beschreiten, deren Beschreibungen hier unter dem Titel „Eigensinn“ zusammen41
Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, S. 12.
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gefasst sind. Es handelt sich um die Angehörigen eines Betriebes und sowohl um eher festgefügte bzw. auch nur um rudimentär organisierte Jugendgruppen. Ihnen gemein war, dass sie sich bestimmten Anforderungen, die Staat, Gesellschaft und Wirtschaft an sie stellten, zu entziehen versuchten. Eigensinn kann, muss aber nicht im dezidierten Gegensatz zur NS - Herrschaft stehen. Eigenwilliges Verhalten kann sogar, geduldet durch die Autoritäten oder auch von ihnen unbemerkt, zur Stabilisierung der Herrschaftsform beitragen, indem, einem Überdruckventil gleich, bestimmte nonkonformistische Haltungen und Handlungen ausgelebt werden können, während die gesellschaftlichen Interaktionen ansonsten im Rahmen der vorgegebenen Normen erfolgen. In den vorgenannten Abschnitten finden sich darüber hinaus Beiträge, die explizit über die vermeintlichen Zäsuren 1933 und 1945 hinausgehen. Um auf die Übergänge nach 1945 besonders hinzuweisen, sind gegen Ende des Bandes unter dem Titel „Kontinuitäten und Brüche“ drei Aufsätze zusammengefasst, die den langen Schatten der NS - Vergangenheit thematisieren. Dabei stehen die langfristigen Folgen zugleich für Täter und Opfer im Mittelpunkt. Hierzu gehört auch eine Analyse des Gerichtsverfahrens gegen den vormals wichtigsten Mann im „Sachsengau“, Martin Mutschmann.
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Regionalgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus. Forschungsstand und Forschungsperspektiven Claus - Christian W. Szejnmann Die Erforschung der regionalen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus leidet unter einer disperaten, also uneinheitlichen Quellenlage. Dies gilt auch allgemein für die gesamte NS - Geschichte. Fachleute klagen oft : „Die Quellen zur Geschichte des NS - Regimes sind unvollständig überliefert und verstreut.“1 Doch sind davon besonders Länder, Reichsgaue, mittlere Reichsbehörden und Mittelinstanzen betroffen, was natürlich direkte Konsequenzen für die Regionalgeschichte hat. Es existieren beispielsweise umfangreiche Akten des „Reichsstatthalters in Bayern und des Bayerischen Staatsministeriums“, während „es von den entsprechenden württembergischen, sächsischen und badischen Behörden nur wenige Aktenreste“ gibt.2 Oder es fehlen nahzu völlig die Unterlagen der regionalen Dienststellen der Hitler - Jugend und der NS - Frauenschaft. Auch die Akten der Gestapo sind weitgehend vernichtet,3 wobei Düsseldorf und Würzburg wenige Ausnahmen bilden und dementsprechend von Reinhard Mann und Robert Gellately in prominenter Weise ausgewertet wurden.4 Zu den Problemen der Unvollständigkeit und der Selektivität der Quellen kommt natürlich auch die „Indikatorenqualitat“ – also die äußerst problematische Frage nach der Objektivität der Quellen und wie man mit diesen Quellen umgeht.5 Für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur ist dies von besonderer Brisanz, weil beispielsweise Gestapo - Berichte, SD - Berichte, Sopade - Berichte ( sozialische Geheimberichte aus Deutschland für die sozialistischen Exilgruppen ) oder Quellen über den Holocaust ganz besondere Schwierigkeiten 1 2 3 4 5
Heinz Boberach, Quellen zum Nationalsozialismus. In : Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weiß ( Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 330–341, hier 330. Ebd. Vgl. ebd. Reinhard Mann, Protest und Kontrolle im Dritten Reich. Nationalsozialistische Herrschaft im Alltag einer rheinischen Großstadt, Frankfurt a. M. 1987; Robert Gellately, The Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy, 1933–1945, Oxford 1990. Vgl. Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 308 f.
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aufwerfen.6 Kurzum, die Quellenlage allgemein sowie die vorhandenen Quellengattungen konfrontieren Forscher mit erheblichen Problemen. Eine entscheidende Aufgabe der Forschung ist es, die vorhandenen Quellen in vollem Umfang zu bearbeiten und Wissenslücken zu füllen – und dies ist selbst fast 70 Jahre nach dem Ende der NS - Diktatur immer noch schwierig genug. Drei Beispiele dazu : Vor kurzem resümierte ein führender Experte über den NS - Genozid, dass „trotz einer Fülle von Darstellungen und Quelleneditionen wichtige Überlieferungen von der Forschung bisher erst ansatzweise aufgearbeitet wurden“ – dazu gehören auch die Konzentrationslager und ihre Außenkommandos im lokalen und regionalen Bereich.7 Gleichfalls kann man feststellen, dass trotz einiger vorzüglicher Arbeiten, überwiegend entstanden seit den 1990er Jahren, unser Wissen über den Antisemitismus vor Ort und in der Region sehr lückenhaft geblieben ist.8 Schließlich ist es erstaunlich, dass sich gerade die Regionalforschung weiterhin so wenig systematisch mit visuellen und kartografischen Dokumenten beschäftigt, obwohl beispielsweise vor fast zehn Jahren die Publikation „Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz“ großes Aufsehen erregte und von Forschern als wichtige neue Quelle gepriesen wurde.9
1.
Biografische Zugänge und Mikrogeschichte
Teilweise kommt es immer noch zu erstaunlichen „Neuentdeckungen“, gerade im biografischen Bereich, die neue Einblicke erlauben. Die gerade veröffentlichten Tagebücher des Justizinspektors Friedrich Kellner, der dem Nationalsozia6
7 8
9
Vgl. die Diskussionen über den Qellenumgang in den Vorworten zu folgenden Publikationen : Bernd Stöver, Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993; Wolfgang Ribbe ( Hg.), Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin : 1933 bis 1936. Band 1. Der Regierungsbezirk Potsdam, eingeleitet von Sibylle Hinze, Köln 1998; Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945. 17 Bände, Herrsching 1984; Otto D. Kulka / Eberhard Jäckel ( Hg.), Die Juden in den geheimen NS - Stimmungsberichten 1933–1945, Düsseldorf 2004; Raul Hilberg, Die Quellen des Holocaust entschlüsseln und interpretieren, Frankfurt a. M. 2002. Jürgen Matthäus, Quellen. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1, München 2005, S. 363–376, hier 363. Zwei neue Studien in diesem Bereich sind : Martin Ulmer, Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933 : Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag, Stuttgart 2011; Hannes Heer / Jürgen Kesting / Peter Schmidt ( Hg.), Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der „Juden“ und„politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Berlin 2011. Klaus Hesse / Philip Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002. Vgl. auch Cécile Desprairies, Sous l’oeil de l’occupant. La France vue par l’Allemagne 1940–1944, Paris 2010; X Riss, Hitler dans mon salon, Paris 2009.
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lisms ablehnend gegenüberstand, für die Zeit zwischen September 1938 bis zum Kriegsende sind ein gutes Beispiel dafür.10 Kellners Aufzeichnungen sind eine wertvolle Quelle über das Leben im Dritten Reich und das allgemeine Kriegsgeschehen. Aber auch von lokalen Ereignissen und vor allem der Haltung und Reaktion der Bürger in Lauterbach und des Kreises Gießen gegenüber der NSPropaganda sind sie ein beredtes Zeugnis. Sie geben zudem wichtige Aufschlüsse darüber, was die Bevölkerung über die Ermordung der Juden oder über die Euthanisie - Morde in Deutschland wissen konnte oder sollte. Die Tagebücher machen examplarisch deutlich, „auf welche Weise die nationalsozialistische Propaganda von einem Zeitgenossen dechiffriert werden konnte“ und wie weit Wissen über Massenmorde und Gräueltaten im Osten von der Front heimkehrender Soldaten verbreitet war.11 Dies galt auch für die Tötungsaktionen in Heilund Pflegeanstalten. Von besonderer Bedeutung war hier die relativ nahe gelegene Landesheilanstalt Hadamar, die infolge der sogennanten „T4–Aktion“ als eine Tötungsanstalt eingesetzt wurde. In ihr wurden insgesamt circa 14 500 sogenannte „Behinderte“ ermordet. Kellners Tagebücher – und Ähnliches könnte man natürlich auch über die von Victor Klemperer aus Dresden sagen12 – eröffnen weitergehende Möglichkeiten für das Verquicken von Biografie und einer modernen Regionalgeschichte. Hier ist ein Mann, der vor und nach dem Krieg im regionalen sozialdemokratischen Milieu eingebettet war und deshalb nach 1933 von den hiesigen Nationalsozialisten besonders schikaniert wurde. Letztere versuchten vergeblich, Kellner ins Konzentrationslager Osthofen einzuliefern. Dieser Versuch wurde von der Gießener Kreisleitung abgelehnt, weil ihm dienstlich nichts vorzuwerfen war. Non - Konformität, wie beispielsweise der Nichteintritt in die NSDAP, war also möglich, auch wenn dies für Kellner zur Folge hatte, dass er während der Diktatur nicht befördert wurde. Allerdings machen die Tagebücher auch deutlich, dass offene Kritik äußerst gefährlich war. Zudem erlaubt die Auseinandersetzung mit Kellner Hinweise darüber, wieso es nach Kriegsende nicht zu der geplanten „Generalabrechnung“ mit den lokalen Nationalsozialisten kam: Kellner war es wohl leid, ein Außenseiter zu sein. Für den Aufbau der Demokratie wurde des Weiteren die Kooperation selbst von ehemaligen Nationalsozialisten benötigt und nicht zuletzt die von oben oktroyierte Entnazifizierungspolitik oftmals als widersprüchlich und ungerecht empfunden. In der „neuen Täterforschung“, auf die später noch näher eingegangen wird, hat die Verquickung von biografischen Studien mit einem regionalgeschicht10 Friedrich Kellner, »Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne« : Tagebücher 1939–1945, 2 Bände, Göttingen 2011. Vgl. auch Markus Roth, Chronist der Verblendung – Friedrich Kellners Tagebücher 1938/39 bis 1945. Beiheft zur Ausstellung : Die Last der ungesagten Worte. Gesprächskreis Geschichte Heft 83 ( library.fes.de / pdf - files / historiker / 06884.pdf; 13. 4. 2012). 11 Kellner, Tagebücher 1939–1945, S. 10 und 1104. 12 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher, 2 Bände, Berlin 1995.
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lichem Ansatz einen systematischen Einblick in NS - Elite und Herrschaftsstrukturen in Regionen des Deutschen Reiches erlaubt – zum Beispiel in Bayern, Baden, Württemberg, dem Saarland, Lippe und Schleswig - Holstein. Dies führte zur Betonung wichtiger regionaler Besonderheiten.13 Solche auf regionalgeschichtlichen Befunden basierenden Kollektivbiografien könnten regionale Vergleiche ermöglichen.14 Bislang gibt es diese allerdings nicht, oder lediglich in Ansätzen. Gleichzeitig ist die Biografieforschung, gerade auch in Verbindung mit der Regionalgeschichte, als wertvolle Ergänzung zur Organisations - und Institutionenforschung anzusehen, weil „durch die Auswertung biografischer Zeugnisse [...] der Einfluss von Menschen auf Entwicklung, Wandel und Praxis von Institutionen mit Rücksicht auf ihre biografische Handlungsorientierung untersucht werden“ kann.15 Eine weitere Perspektive, die hier erwähnt werden sollte, ist die der sogenannten „kleinen Leute“. Die Forschung widmet diesem Aspekt weiterhin erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, wie Peter Fritzsches gerade publizierte Untersuchung über den „Normalbürger“ Franz Göll, der zwischen 1899 und 1984 in einem Berliner Bezirk lebte und ab 1916 ein Tagebuch führte.16 Leider enthält die Studie kaum Informationen über den Kiez und seine Rolle im Leben von Göll. Hier hätte man aufschlussreiche Erkenntnisse über die Spannungen zwischen sozialen Milieus oder traditionellen Institutionen wie Familie, Beruf oder Religion auf der einen Seite, und andererseits der Selbsterkenntnis des Tagebuchschreibers, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, gewinnen können.17 Beeindruckend ist allerdings, wie Fritzsche deutlich macht, dass Gölls Leben weder in eine Generationstypologie hineingepresst werden kann, noch dem Bild eines „typischen Deutschen“ nach dem Ersten Weltkrieg entsprach. Göll hatte wenig über den Versailler Vertrag zu sagen und war nach anfänglicher Begeisterung ein ausgesprochener Gegner der Nationalsozialisten. Hier handelt es sich also um eine Person, die ständig poli13 Sebastian Lehmann, Kreisleiter der NSDAP in Schleswig - Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007; Michael Kißener / Joachim Scholtyseck ( Hg.), Die Führer der Provinz. NS - Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1999; Christine Arbogast, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS - Elite 1920–1960, München 1998; Andreas Ruppert / Hansjörg Riechert ( Hg.), Herrschaft und Akzeptanz. Der Nationalsozialismus in Lippe während der Kriegsjahre. Analyse und Dokumentation, Opladen 1998; Gerhard Paul, Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen staatspolizeilichen Funktionselite. In : Sebastian Lehmann / Klaus- Michael Mallmann ( Hg.), Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 1995, S. 236–254. 14 Pablo Holwitt / Marina Kramm ( Hg.), Die biographische Methode in der Regionalgeschichte. LWL - Institut für westfälische Regionalgeschichte 25. 9. 2009, Münster ( http:// hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / tagungsberichte / id=2942; 13. 4. 2012). 15 Vgl. ebd. 16 Peter Fritzsche, The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century, London 2011. 17 Vgl. ebd., S. 10.
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tische Pendelbewegungen mitmachte : Von der SPD wechselt er zur NSDAP, später wird er sich als Gegner des NS - Regimes positionieren, um dann schließlich in Westdeutschland wieder zurück zur SPD unter der Führung Willy Brandt’s zu kehren.18 Oftmals sind chronische Quellenprobleme für unsere begrenzten Kenntnisse über die sogenannten „kleinen Leute“ verantwortlich. Bislang gibt es kaum Studien, „die sich explizit und methodisch kontrolliert mit den Beweggründen und Handlungsweisen der unteren Funtionäre zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzen.“19 Es existiert auch für keine der ungefähr 30 000 NSDAP - Ortsgruppen ein geschlossener Quellenbestand, sondern nur bedingt aussagekräftige Aktenfragmente.20 Für ein vollständigeres Bild der Gesellschaft erscheinen Untersuchungen in diesem Bereich jedoch unabdingbar. Gerade der prägende Einfluss von Regionen und Milieus auf den Einzelnen versprechen interessante Erkentnisse. Weiterhin gilt es nicht nur zu fragen, inwieweit Regionen und Räume Menschen prägen, sondern auch inwiefern Menschen diese Räume selber prägen und definieren – aber auch ob und wie sehr sich diese Räume wandeln, da sie „menschlich produziert, gedeutet und ausgehandelt“ sind.21 Hier gibt es wichtige, aber noch weiterzuentwickelnde Ansätze über das zentrale Thema „Heimat und Identität“. Ebenso erscheint es als sinnvoll zu analysieren, inwieweit sich dabei Deutsche inner - und außerhalb des Reiches gegenseitig beeinflussten.22
2.
Perspektivenwechsel in der Gesellschaftsgeschichte
Ein weiterer wichtiger Quellenfund ist Carsten Schreiber gelungen, der vor wenigen Jahren in einer Außenstelle des Bundesarchives eine Kartei mit biografischen Angaben der geheimen V - Leute und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes im Land Sachsen aufspürte.23 Dies ermöglichte Schreiber, erstmals eine detaillierte Untersuchung der regionalen Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes in 18 Vgl. ebd., S. 7. Siehe auch die Rezension von Benjamin Ziemann ( http ://hsozkult. geschichte.hu - berlin.de / rezensionen /2011–4–048; 13. 4. 2012). 19 Christine Müller - Botsch, „Den richtigen Mann an die richtige Stelle.“ Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP - Funktionären, Frankfurt a. M. 2009, S. 9. 20 Vgl. Carl - Wilhelm Reibel, Die NSDAP - Ortsgruppen Dornbusch und Oberrad 1933– 1945. In : Dieter Rebentisch ( Hg.), Die Herrschaft des Nationalsozialismus in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1999, S. 53–120, hier 53. Siehe auch Carl - Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP - Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn 2002; Für eine Analyse von Stuttgarter NSDAP - Funktionären siehe Müller - Botsch, „Den richtigen Mann“. 21 Holwitt / Kramm, Die biographische Methode. 22 Vgl. Krista O’Donnell / Renate Bridenthal / Nancy R. Reagin ( Hg.), The Heimat Abroad. The Boundaries of Germanness, Ann Arbor 2005; Claus - Christian W. Szejnmann / Maiken Umbach ( Hg.), Heimat, Region and Empire. Spatial Identities under National Socialism, Basingstoke 2012. 23 Schreiber, Elite im Verborgenen.
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einer deutschen Region – am Beispiel Sachsens – durchzuführen.24 Die Studie baut auf den Methoden und Ergebnissen der beiden führenden Forschungsrichtungen zum Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft auf : Der Denunziationsforschung und der „neuen Täterforschung“.25 Da beide mit der Regionalgeschichte eng verzahnt sind, soll an dieser Stelle näher darauf eingegangen werden. Die Denunziationsforschung der 1990er Jahre löste die am Leben erhaltene Dichotomie zwischen Herrschern und Beherrschten auf. Die schon erwähnten Gestapo - Untersuchungen von Mann und Gelattely, oder auch Klaus - Michael Mallmanns und Gerhard Pauls Analyse über das Saarland, betonten nun Zusammenarbeit und Konsens der Deutschen während des NS - Regimes.26 Plötzlich erschien das „Dritte Reich“ nicht mehr als allmächtiger Überwachungsstaat, sondern als eine Gesellschaft, die vor allem von der eigenen Bevölkerung kontrolliert wurde. Insbesondere Angehörige der sozialen Unterschicht machten von der „Waffe“ der Denunziation Gebrauch, von der „kleine[ n ] Macht der Volksgenossen“.27 Seitdem hat sich das wissenschaftliche Bild einer unwilligen und terrorisierten Bevölkerung stark verschoben hin zu anpassungsfähigen Bürgern, die sich oftmals skrupellos an der Raub - und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten beteiligten. Frank Bajohr zeigte dies in seiner 1997 veröffentlichen Studie am Beispiel von Hamburg. In der Hafenstadt allein hatten sich schätzungsweise rund 100 000 Personen aus allen Schichten der Bevölkerung an den öffentlichen Versteigerungen von „billigem“ jüdischen Besitz beteiligt.28 Die Hinwendung zu mikro - und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft und das verstärkte Interesse an den Opfern des NS - Regimes hatte seit den 1980er Jahren einen Boom an Lokalgeschichten und von Oral - History - Projekten ausgelöst. Im Bereich der Zwangsarbeit, dem inzwischen wohl am intensivsten erforschten Bereich der wirtschafts - , sozial - , alltags - oder erfahrungsgeschichtlichen NS - Forschung, führte vor allem die Entschädigungsdiskussionen seit Ende der 1990er Jahre zu einer großen Anzahl von lokal - und regionalgeschichtlichen Publikationen. Unter anderem wurden Historiker von Kommunen und Landesregierungen beauftragt, einschlägige Quellen zu sichten und Untersuchungen anzustrengen.29 Wichtige Bereiche der NS - Zeit blieben aber weiterhin von der Aktensperre betroffen. Dies trifft vor allem auf die Akten des 24 Vgl. ebd., S. 3. 25 Ebd., S. 7. 26 Mann, Protest und Kontrolle; Gellately, Gestapo and German Society; Klaus - Michael Mallmann / Gerhard Paul / Hans - Walter Herrmann, Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935 bis 1945, 3 Bände, Bonn, 1995. 27 Schreiber, Elite im Verborgenen, S. 11. 28 Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–45, Hamburg 1997. Vgl. auch Raubgut. Interview Frank Bajohr. Art. Das Kunstmagazin. 1. 2. 2011 ( http ://www.art - magazin.de / szene /38495/ interview_frank_bajohr _raubgut; 13. 4. 2012). 29 Vgl. Hans - Christoph Seidel, Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter, Essen 2010, S. 1 f.
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Reichsfinanzministeriums zu – und speziell auf die „Arisierungsakten“ der verschiedenen regionalen Oberfinanzdirektionen. Hier haben einige Forscher erfolgreich gegen Bürokratie und Vergangenheitsvertuschung angekämpft und Zugang zu Akten gewonnen, die die massenhafte und weitverbreitete Plünderung jüdischen Eigentums dokumentieren.30 Gerade im lokalen und regionalen Bereich ist die nationalsozialistische Vergangenheit immer wieder präsent. Im April 2011 druckte die „Berliner Zeitung“ unter dem Titel „Gute Geschäfte bis zuletzt“ eine Rezension einer Ausstellung des Aktiven Museums. Die Ausstellung dokumentiert, wie Berliner Kunsthändler in der NS - Zeit von der Ausplünderung und Ermordung der Juden profitierten.31 Der Artikel führt an : „Während in Stalingrad die Soldaten für Hitlers Eroberungswahn starben, kauften die Volksgenossen an der Heimatfront Gemälde und wertvolle Antiquitäten. Vor dem Auktionshaus von Hans W. Lange in der Berliner Bellevuestraße standen im Januar 1943 elegant gekleidete Menschen Schlange, und der Sicherheitsdienst der SS ärgerte sich über die ‚reichen Globetrotter‘, die mit Kunstkäufen ihr Vermögen retten wollten. Die Waren waren knapp in der Kriegswirtschaft, wer Geld hatte, versuchte es in krisensicheren Werten anzulegen [...] Wie in allen Lebensbereichen grenzte das NS - Regime auch hier die Juden konsequent aus, beraubte sie ihrer Bürgerrechte und ihrer wirtschaftlichen Existenz, plünderte sie vor der Emigration mit der ‚Reichsfluchtsteuer‘ und anderen zynischen Abgaben aus. Die letzte Stufe war der Abtransport in die Lager. Die Ausstellung bietet erschütternde Beispiele.“32
Mehrere Dinge sind hier bemerkenswert : In ehrenamtlicher Arbeit hat ein Verein den Kunsthandel in der Reichshauptstadt zwischen 1933 und 1945 erforscht. In der Tat, Forscher, die nicht hauptberuflich Historiker sind, haben gerade in der Regional - und Lokalgeschichte immer wieder wichtige Impulse gesetzt.33 Wenn möglich, sollten diese freiberuflichen Historiker, oder „Hobby30 Vgl. das Interview mit Wolfgang Dreßen in der tageszeitung ( taz ) : Gabriele Goettle, Plünderung jüdischen Eigentums. Billigende Inkaufnahme. „Wie Deutsche ihre jüdischen Mitbürger verwerteten“. In : taz vom 28. 11. 2010; Vgl. auch Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945. Katalog zur Ausstellung. Redaktion : Katharina Stengel / Susanne Meinl / Bettina Leder - Hindemith. Reihe selecta der Sparkassen - Kulturstiftung Hessen - Thüringen, Heft 8, 3. Auflage 2008; Katharina Stengel ( Hg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2007; Susanne Meinl / Jutta Zwilling, Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen, Frankfurt a. M. 2004. – In die Frage der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ministerien im „Dritten Reich“ ist in der jüngsten Zeit Bewegung geraten. Nach dem Auswärtigen Amt befassen sich nun Historikerkommissionen u. a. mit der Geschichte des Reichsfinanzministeriums und des Reichsarbeitsministeriums. 31 Sebastian Preuss, Gute Geschäfte bis zuletzt. In : Berliner Zeitung vom 20. 4. 2011 (http://www.berliner - zeitung.de / archiv / eine - ausstellung - des - aktiven - museums - zeigt - wie - berliner - kunsthaendler - in - der - ns - zeit - von - der - auspluenderung - und - ermordung - derjuden - profitierten - gute - geschaefte - bis - zuletzt,10810590,10783104.html; 13. 4. 2012). 32 Ebd. 33 Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS - Staat : Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983; Götz Aly / Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
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Historiker“, mit Berufshistorikern und Studierenden zusammengebracht werden. Zweitens : Gerade im lokalen - und regionalen Bereich sind natürlich nicht nur detaillierte Monografien, sondern auch Ausstellungen und andere praxis nahe und praxis - orientierte Veranstaltungen, Führungen, Publikationen und Medienereignisse wichtig. Nur eine engagierte, benutzerfreundliche und aktuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort und in der Region – und ihre Verbindung mit der Gegenwart – eröffnet die Möglichkeit, auch in Zukunft das zentrale Thema „Nationalsozialismus“ für breite Kreise relevant zu machen. Forschung allein und isoliert darf nicht sein. Forscher sollten sich auch mit aktueller Lehr - und Museumspädagogik, mit den Medien und modernen Kommunikationsmöglichkeiten befassen.34 Schließlich wird deutlich, dass das „Dritte Reich“ und sein Vermächtnis weiterhin brisant bleiben. Geschichte in der Region hat maßgeblich zur Aufarbeitung einer verdrängten Vergangenheit beigetragen. Inzwischen gibt es unzählige Beispiele, wie man sich in Städten und Dörfern in vielen Teilen Deutschlands damit auseinandersetzt. Aber es finden sich auch Beispiele dafür, dass dieser Aufarbeitungsprozess blockiert wird.35 Wissenschaftler haben bei der Aufarbeitung von ehemaligen Konzentrationslagern und der Errichtung von Gedenkstätten gerade seit den 1990er Jahren wichtige Pionierarbeit geleistet.36 Und gerade weil Orte des Terrors, die nun Orte des Erinnerns geworden sind, im lokalen oder regionalen Raum zu finden sind, hat dieser Bereich auch den Memory - Diskurs entscheidend gefördert.37 34 Vgl. beispielsweise die Forschungsgruppe Innerdeutsche Grenze, „Grenzerfahrungen“ ( http ://www.grenzprojekt.de / innerdeutsche - grenze.html; 13. 4. 2012). 35 Harald Welzer ( Hg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2007; Peter Schyga, Goslar 1918– 1945. Von der nationalen Stadt zur Reichsbauernstadt des Nationalsozialismus, Bielefeld 1999, S. 22, 40; Anna E. Sosmus, Widerstand und Verfolgung am Beispiel Passaus 1933–1939, Passau 1983 ( vgl. Michael Verhoevens Film „Das schreckliche Mädchen“/ The Nasty Girl von 1990). 36 Vgl. beispielsweise Rainer Schulze / Wilfried Wiedemann ( Hg.), AugenZeugen : Fotos, Filme und Zeitzeugenberichte in der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte BergenBelsen. Hintergrund und Kontext, Celle 2007; Winfrid Nerdinger, Ort und Erinnerung. Nationalsozialismus in München, Salzburg 2006; Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–1934/37, Berlin 2005; Jan Erik Schulte ( Hg.), Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933–1945, Paderborn 2005. Auch das Standardwerk Ulrike Puvogel / Martin Stankowski ( Hg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, 2., überarbeitete und erweiterte Auf lage, 2 Bände, Bonn 1996/1999. Für Studien über den nationalen Memory - Kurs siehe Norbert Frei / José Brunner / Constantin Goschler (Hg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Bonn 2010; Peter Reichel / Harald Schmid / Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Über windung – Deutung – Erinnerung, Bonn 2009; Richard Ned Lebow / Wulf Kansteiner / Claudio Fogu ( Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, London 2006; Volkhard Knigge / Norbert Frei ( Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005. 37 Annette Kaminsky ( Hg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004; Puvogel / Stankowski ( Hg.), Gedenkstätten.
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Kurzum, vor allem im lokalen und regionalen Bereich scheint es nötig, dass sich die Wissenschaft der zentralen Aufgabe des Memory - Diskurses und der Vergangenheitsbewältigung stellt. Malte Thiessen fasst überzeugend zusammen : „Obgleich immer häufiger von einer Europäisierung oder gar Globalisierung des kollektiven Gedächtnisses die Rede ist, bleiben selbst transnationale Studien an Erinnerungsgemeinschaften oder - räume gebunden. [...] Konkrete Akteure, Gruppen, Institutionen und Parteien sowie Anlässe, Motive und Hintergründe erlauben einen tiefen Einblick in das ‚Making History‘ von Erinnerungsgemeinschaften. Erst eine Lokalisierung des Gedenkens gibt der Erinnerungskultur die notwendige Bodenhaftung, sodass, wenn man in dem Bild bleiben möchte, der Humus erkennbar wird, auf dem kollektive Narrative entstehen und sich wandeln.“38
Unabdingbar dafür ist eine seriöse und differenzierte Forschung, so wie sich etwa Malte Thiessens oder Neil Gregor mit Hamburg und Nürnberg als „Erinnerungsorte“ auseinandergesetzt haben.39 Leider finden bis heute, vor allem im lokalen und regionalen Bereich, Entlastungsnarrative sowie Helden - und OpferNarrative weiterhin weite Verbreitung, inklusive einer Flut von Publikationen, die sich mit der Zerstörung von deutschen Städten während des Luftkrieges beschäftigen.40 Inzwischen wissen wir, dass sich nicht nur Privatpersonen, sondern auch Kommunen als „skrupellose Profiteure“ erwiesen und sich die gesamte Bandbreite des städtischen Verwaltungsapparates an den Diskriminierungs - und Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden beteiligten und oftmals in Eigeninitiative vorantrieben.41 Ein weiterer Mythos wurde entlarvt : Die angeblich unpolitische und scheinbar machtlose kommunale Verwaltung arbeitete in Wirklichkeit Hand- in - Hand mit dem kommunalen NS - Parteiapparat, angetrieben von traditionellem Beamteneifer und Disziplinierungsdruck. Damit trug sie entscheidend zur enormen Dynamik und Leistungskraft des NS - Regimes bei. Teilweise stark unterschiedliche regionale Traditionen schien dies überhaupt nicht zu beeinflussen. Dabei waren noch während der Weimarer Republik besondere soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Identitäten in den Regionen für die politische Orientierung und Verhaltensweise der lokalen Bevölkerung von entscheidender Bedeutung.42 Dies half zu erklären, warum sich die 38 Malte Thiessen, Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, Hamburg 2007, S. 461. 39 Neil Gregor, Haunted City. Nuremberg and the Nazi Past, London 2007; Thiessen, Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende. 40 Vgl. beispielsweise Egbert A. Hoffmann, Als der Feuertod vom Himmel stürzte. Hamburg Sommer 1943, Gudensberg - Gleichen 2003; Christian Hanke / Joachim Paschen / Bernhard Jungwirth ( Hg.), Hamburg im Bombenkrieg 1940–1945. Schicksal einer Stadt, Hamburg 2003. 41 Vgl. Sabine Mecking / Andreas Wirsching, Stadtver waltung als Systemstabilisierung ? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler Herrschaft im Nationalsozialismus. In : dies. ( Hg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005, S. 1–19. 42 Vgl. Claus - Christian W. Szejnmann, Theoretisch - methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS - Zeit. In : Michael Ruck / Karl Heinz Pohl (Hg.), Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 43–57.
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Nationalsozialisten in Hochburgen der Katholiken oder der Arbeiterbewegung bis 1933 sehr schwer taten, während sie in vielen protestantischen und ländlichen Gegenden, wie vor allem in Franken, so schnell die Macht erringen konnten. Letzteres hat vor allem Manfred Kittels Langzeitstudie über die Mentalität und den Protestantismus Westmittelfrankens zu erklären vermocht.43 Kurzum, die moderne Regionalgeschichte hat, gerade weil kollektive Einstellungen äußerst wichtig für soziales Verhalten und politisches Handeln sind, die „Wichtigkeit von Mentalitäten, aber auch religiöser Orientierung, für das politische Verhalten der Bevölkerung nachgewiesen“.44 Der angedeutete Sprung von der Wichtigkeit zur scheinbaren Nichtigkeit von lokalen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Identitäten in den Regionen für die Verhaltensweise der lokalen Bevölkerung vor und nach 1933 muss also erklärt werden. Natürlich kann man anführen, dass während des NS - Regimes freie Meinungsund Willensbildung streng verfolgt wurden. Es gab keine gemeinsamen Organisationen und Netzwerke sowie Ideen und Werte, die frei existieren konnten. Trotzdem können all diese Faktoren die äußerst komplexe Entwicklungen während der NS - Diktatur nicht in ihrem ganzen Umfang erklären. Die Forschung sucht weiterhin nach noch stichhaltigeren und weitgreifenderen Thesen, die sich zentralen Fragen stellen : Wie genau konnte es zu einer so rapiden Auflösung der Normen der christlich - humanitären Aufklärung und von moralischen Hemmungen kommen ?45 Wieso gelang den Nationalsozialisten selbst in Kerngebieten der Arbeiterbewegung, ob Sachsen oder Württemberg, die „Destabilisierung und Zersetzung der über Jahrzehnte gewachsenen Milieubindungen“ ?46 Wieso verhielt sich eine Gesellschaft wie die in Südwestdeutschland, mit seinen besonderen liberal - demokratischen Traditionen, während des NS - Regimes kaum anders als Deutsche in anderen Regionen ?47 Wieso spielte es absolut keine Rolle, woher die große Gruppe der sogenannten „Schützen“ des Genozids kamen, also die Mitglieder der Wehrmacht, Waffen - SS, Ordnungspolizei und SS - Einsatzkommandos ? Wer immer sie waren und wo immer sie herkamen – ob alt oder jung, arm oder reich, proletarisch oder bürgerlich, protestantisch oder katholisch, ob aus Baden oder dem österreichischen Kärnten : Ihr mörde43 Manfred Kittel, Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918–1933/36, München 2000. 44 Claus - Christian W. Szejnmann, Die Bedeutung der Regionalgeschichte für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocausts. In : Olaf Hartung / Katja Köhr (Hg.), Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 85–103, hier 87. Vgl. auch Claus - Christian W. Szejnmann, Verwässerung oder Systemstabilisierung ? Nationalsozialismus in Regionen des Deutschen Reiches. In: Neue Politische Literatur, 48 (2003) 2, S. 208–250. 45 Vgl. Hans - Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914–1949, München 2003, S. 687. 46 Claus - Christian W. Szejnmann, Arbeitermilieus in Südwestdeutschland in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In : Peter I. Trummer / Konrad Pflug ( Hg.), Die Brüder Stauffenberg und der Deutsche Widerstand, Stuttgart 2006, S. 51–64, hier 64. 47 Vgl. ebd.
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risches Auftreten und ihre Effizienz waren erschreckend homogen.48 Wie kann man die enorme Dynamik und das Mobilisierungs - und Stabilisierungspotenzial des NS- Regimes erklären ? Auf den Punkt gebracht : Wie war es möglich, dass der nationalsozialistische Genozid aus der Mitte der damaligen Gesellschaft hervorkam ?49
3.
Perspektivenvielfalt
Gerade, weil abstrakt Erscheinendes in die unmittelbare Nähe rückt und greifbarer wird, ist der regional - lokale Blickwinkel für ein besseres Verständnis der Verhaltensweise von Menschen unabdingbar. Dabei ist es egal, ob es sich dabei um Täter, Zuschauer, Opfer oder eine Kombination derselben handelt. Diese Ebene befindet sich genau am „,Schnittpunkt von Struktur und Erfahrung, von individualisierender Hermeneutik und strukturanalytischen Verfahren‘ und eröffnet dem Historiker mithin die Möglichkeit zu mehrperspektivischen Einsichten am konkreten Einzelfall“.50 Trotz bestehender Desiderate hat die Forschung gerade hier in den letzten 20 Jahren weitreichende Ergebnisse geliefert. Im Folgenden soll hier auf eine Reihe perspektivreicher Ansätze eingegangen werden, die in der Zukunft fruchtbar vertieft werden könnten. Erstens sollte die Gesellschaft möglichst von vielen Perspektiven und damit von einem breiten methodischen Spektrum aus beleuchtet werden. Es geht also darum, Ansätze aus der Sozial - , Wirtschafts - und Kulturgeschichte, der Frauenund Geschlechtergeschichte und der Emotionen - , Erfahrungs - und Erinnerungsgeschichte zusammenzubringen. Gleichzeitig sollte versucht werden, bestimmte Themenbereiche, wie etwa Aspekte der Mobilisierung und Strategien, die das Leben von Opfern, Widerständlern, Mitläufern usw. nachhaltig beeinflussten, zu untersuchen. Darüber hinaus müsste diese Analyse mit der Dynamik der unterschiedlichen Phasen, wie auch die radikalisierende Kriegsphase, verbunden werden. Weiterhin sind Fachleute gefordert, sich auch ganz anderen Forschungsdisziplinen zu öffnen. Die moderne Täterforschung hat dies teilweise schon richtungsweisend vorgeführt mit der Einbindung von Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft.51 Schließlich soll an 48 Vgl. George C. Browder, Perpetrator Character and Motivation : an Emerging Consensus ? In : Holocaust and Genocide Studies, 17 (2003) 3, S. 480–497, hier 481. Zit. in Claus - Christian W. Szejnmann, Perpetrators of the Holocaust : A Historiography. In : Olaf Jensen / Claus - Christian W. Szejnmann ( Hg.), Ordinary People as Mass Murderers: Perpetrators in Comparative Perspective, Basingstoke 2008, S. 25–54; Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003, besonders S. 386–450. 49 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. 50 Martina Steber, Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS - Regime, Göttingen 2010, S. 17. 51 Jensen / Szejnmann, Ordinary People as Mass Murderers.
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dieser Stelle noch auf ein bisher kaum erwähntes Phänomen hingewiesen werden : Die Disjunktion in der Kommunikation zwischen Historikern in Deutschland und im Ausland. Während heutzutage von einer Globalisierung des wissenschaftlichen Austausches ausgegangen wird, reden deutsche und nordamerikanische Wissenschaftler oft aneinander vorbei.52 Trotz des Internets sowie institutioneller und persönlicher Verbindungen lesen sie oft „nicht dieselbe Literatur und gehen mit unterschiedlichen Grundannahmen an ihr gemeinsames Thema heran.“53 In Deutschland arbeiten Forschergruppen und Sonderforschungsbereiche oftmals an riesigen Projekten mit gemeinsamen Fragestellungen und Methoden. Dieser Ansatz birgt natürlich auch Gefahren in sich : So führte die Dominanz des strukturanalytischen Ansatzes in der deutschen Sozialgeschichte einst zur Vernachlässigung von Mentalitäten und religiöser Orientierungen. Dagegen zeichnet sich vor allem die nordamerikanische Vorgehensweise eher durch Ansatzvielfalt, methodische Erneuerungen und dem Versuch von Synthesen aus.54 Und gerade weil man im regionalgeschichtlichen Bereich eine unübersichtliche Dichte von Spezialstudien und teilweise stark unterschiedliche Forschungsansätze findet ist, es bedauerlich, dass es weiterhin nur wenige systematisch vergleichende Zusammenführungen lokal und regional untersuchter Phänomene gibt.55 Gerade deutschen Wissenschaftlern scheint sozusagen der Sprung vom Zweig zurück zum Ast und weiter zum Baum schwer zu fallen. Allerdings gibt es Forscher, die zeigen, wie dieser Blick auf das Größere erfolgreich gelingen kann. Hier ist Hans - Christoph Seidels Studie über den Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg zu nennen. Diese Arbeit setzt neue Akzente, indem sie einen branchengeschichtlichen Zugang verfolgt, was bislang, in bedingtem Maße, lediglich für die Landwirtschaft gemacht wurde. Von dieser Perspektive aus untersucht Seidel in recht origineller Weise Zwangsarbeit im Kontext von allgemeinen Entwicklungen, wie etwa Produktion und Produktionspolitik, dem gesamten Arbeitseinsatz, der Sozialpolitik und der Sozialgeschichte der Zechenbelegschaften sowie Arbeits - und Sozialbeziehungen auf der betrieblichen Ebene.56 Damit zeigt Seidel, wie man „ausgehend von der Frage der 52 Vgl. H - Soz - Kult, CfP, 20. 10. 2011, Talking Past Each Other / Talking to Each Other : Disjunctures in Communication between German, American and Other Historians. Sektion zur Geschichte Deutschlands im 20./21. Jh. GSA Meeting 2012 – Milwaukee, Wisconsin / U.S.A. 10/2012 ( http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / termine / id=17661; 13. 4. 2012). 53 Ebd. 54 Peter Fritzsche, Life and death in the Third Reich, Cambridge, Mass. 2008; Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bände, München 2006. 55 Vgl. Detlef Schmiechen - Ackermann, Das Potential der Komparatistik für die NS - Regionalforschung – Vorüberlegungen zu einer Typologie von NS - Gauen und ihren Gauleitern anhand der Fallbeispiele Süd - Hannover - Braunschweig, Osthannover und Weser Ems. In : Jürgen John / Horst Möller / Thomas Schaarschmidt ( Hg.), Die NS - Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 234–253; Szejnmann, Theoretisch - methodische Chancen. 56 Für dies und Folgendes vgl. Seidel, Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg, S. 6–8, 15.
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Zwangsarbeit [...] eine breiter angelegte ( wirtschaftsgeschichtlich informierte ) Organisations - und Sozialgeschichte“ während des NS - Regimes anlegen kann. Dabei wird der Ruhrbergbau als Segment der deutschen Kriegswirtschaft, als technisch - betrieblicher Zusammenhang und als Akteur in der Arbeitseinsatz-, Sozial - und Wirtschaftspolitik begriffen. Das ermöglicht es, zentrale Fragen der Zwangsarbeiterforschung aufzugreifen. Zweitens eröffnet das Volksgemeinschafts - Konzept große Chancen für eine vertiefte Auslotung des Verhaltens der deutschen Gesellschaft während des „Dritten Reiches“. Gerade auf der lokalen Ebene sollten Abwandlungen seiner Bedeutung und seiner Wirkungskraft noch untersucht werden. Vor Ort und in den Regionen lassen sich konkrete Vergemeinschaftsprozesse wohl am besten fassen. Sie eröffnen neue Perspektiven.57 Hier lässt sich die weitgehende Mobilisierung der Deutschen, die Dynamik und Vitalität von freigesetzten Energien, das Gefühl sozialer Gleichheit, die Gemeinschaft und nationale Einheit, konkret beobachten.58 Und schließlich kann man hier geradezu hautnah die politische Inklusion und rassistische Exklusion studieren. Es zeigt sich, wie gewöhnliche Deutsche die eskaliendende Judenverfolgung billigten, unterstützen oder aber sich von ihr distanzierten. Schließlich erlaubt diese Perspektive auch Einblicke in die Verhaltensweisen und Reaktionen der Opfer.59 Ziel des Volksgemeinschafts - Konzepts ist es also nicht, Homogenitäten oder Dichotomien in der deutschen Gesellschaft aufzuzeigen. Vielmehr hilft dieser Ansatz zu bestimmen, wie sich Menschen unter bestimmten Bedingungen verhalten und dabei diese Bedingungen selber produzieren oder reproduzieren. Hier geht es darum, die variable soziale Praxis von Menschen zu untersuchen – und mit den Worten von Michael Wildt „eben um die Vielfältigkeit von Handlungsweisen, von Mit - Tun wie Sich - Abwenden, Bereitwilligkeit wie Widerwille, Anpassungsbereitschaft wie Begeisterung, Sich - Distanzieren wie ‚Dem - Führer - Entgegenarbeiten‘“.60 57 Niedersächsisches Forschungskolleg, Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ ? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort. In : Newsletter Nr. 1, Mai 2010, S. 5 ( http ://www.foko - ns.de / fileadmin / foko - ns / pdf / Newsletter_ des_Niedersaechsischen_Forschungskollegs__1_.pdf; 13. 4. 2012). Vgl. nun Detlef Schmiechen - Ackermann ( Hg.), „Volksgemeinschaft“ : Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im „Dritten Reich“ ?, Paderborn 2012, und Martina Steber / Bernhard Gotto ( Hg.), A Nazi „Volksgemeinschaft“ ? German Society in the Third Reich, Oxford erscheint in Kürze. 58 Vgl. auch Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potential und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011) 1, S. 1–17, hier 4 ff. 59 Vgl. ebd., S. 7–9; Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw. In : Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online - Ausgabe, 8 (2011) Heft 1 ( http ://www.zeithistorische - forschungen.de /16126041–Wildt - 1–2011; 13. 4. 2012) 60 Wildt, „Volksgemeinschaft“, S. 5. In dieser Beziehung erwarten wir mit Spannung die Ergebnisse des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ ? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“, in dem „im Rahmen von exemplarisch und vergleichend angelegten regionalen Fallstudien“ untersucht wird, wie genau vor Ort „Volksgemeinschaft“ funktionierte und welche inhaltlichen Bezüge dabei eine besondere Rolle spielten ( http ://www.foko ns.de /2338.html; 13. 4. 2012).
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Drittens, soll hier jeweils ein richtungsweisendes Beispiel von einem sogenannten „harten“ Thema, in diesem Fall geht es um Organisation, Struktur, Funktion und Herrschaftspraxis, und von einem „weichen“ Thema, hier geht es um Mentalität und Kultur, beleuchtet werden. Seit einigen Jahren befassen sich vor allem deutsche Forscher mit großem Interesse mit den Funktionsmechanismen und Herrschaftstechniken der NS - Diktatur, um ganz konkret die offensichtlichen Mobilisierungserfolge des Regimes erklären zu können. Dabei sind die regionalen Mittelinstanzen in den Fokus gekommen, weil gerade dort, und ganz im Gegensatz zur Reichsebene, ein hohes Maß an Stabilisierungs - und Mobilisierungspotenzialen zu finden sind. Markus Fleischhauers richtungsweisende Studie der Struktur - und Funktionsgeschichte des NS - Gaus Thüringen zeigt, wie verfestigte Herrschaftsprinzipien und -mechanismen im Krieg durch engmaschige Beziehungs - und Organisationsgeflechte zwischen Eliten aus Partei, Staat, Wehrmacht und Wirtschaft ergänzt wurden.61 Dies führte zu neuen Aktionsräumen und förderte Formen der Kommunikation und Interaktion, was „die erheblichen Mobilisierungs - und Bindekräfte“ freisetzte. Voraussetzung dafür war, dass innerhalb der Eliten ein Konsens bestand über „die Durchführung des Krieges, die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der Kriegswirtschaft und des Arbeitseinsatzes und die Stabilität der ‚Heimatfront‘“.62 Im Mittelpunkt dieses dynamischen und hochkommunikativen Herrschaftsapparats im Gau Thüringen stand Gauleiter Fritz Sauckel, der durch seine besondere Durchsetzungsfähigkeit und sein organisatorisches Geschick die politischen Fäden im Gau in seinen Händen hielt. Netzwerke und Kommunkationsformen, die als sogennante „Schmiermittel stabilisierender und mobilisierender Tendenzen im Nationalsozialismus“ diskutiert werden, sind momentan dementsprechend näher in den Fokus gerückt.63 Forscher sehen hier eine zentrale Erklärung für die „innere Dynamik“ des NS Systems, das entscheidend auf Personalisierung und Improvisation beruhte.64 Bei einer Tagung über dieses Thema ist unlängst deutlich geworden, wie viele Aspekte bei diesem komplexen Thema noch immer umstritten sind. Im Verlauf dieser Konferenz wurde eine Vielzahl von erheblichen Problemen aufgeworfen: Es gibt Quellen - und Methodenprobleme bei der Untersuchung informeller Kooperationsformen oder den Intentionen und Strategien der jeweiligen Akteure. Darüber hinaus ist umstritten, ob man formelle und informelle Kooperationsformen voneinander trennen sollte oder nicht. Der „Mittelinstanz“ - Begriff und der Kooperationsbegriff werden als unpräzise kritisiert. Einige Fachleute monieren die Schwierigkeit, zeitliche und geografische Faktoren sowie vertikale und 61
Markus Fleischhauer, Der NS - Gau Thüringen 1939–1945. Eine Struktur - und Funktionsgeschichte, Köln 2010, hier S. 359. 62 Ebd. 63 Tagungsbericht Formen informeller Kooperation in der Herrschaftspraxis des nationalsozialistischen Deutschland, 1. 3. 2011–3. 3. 2011, Potsdam. In : H - Soz - u - Kult, 15. 4. 2011 ( http ://hsozkult.geschichte.hu - berlin.de / tagungsberichte / id=3621; 13. 4. 2012). 64 Ebd.
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horizontale Dimensionen gleichzeitig zu berücksichtigen. Des Weiteren ist das genaue Verhältnis von Makro - , Meso - und Mikroebenen nicht geklärt. Die Experten sind sich uneinig, ob der Polykratie - Begriff und sein Modell in der neuesten Forschung von Nutzen sind bzw. weiter benutzt werden sollten. Schließlich sind systematische Vergleiche des NS - Herrschafts - und Kriegssystems mit anderen modernen Diktaturen weiterhin ein Forschungsdesiderat.65 Für andere Forscher geht indes die These einer örtlichen Selbststabilisierung des NS - Staats zu weit. Jörn Brinkhus, der die systemstabilisierende Funktion der Gemeindeverwaltungen und Mittelbehörden im Bereich des zivilen Luftschutzes und der Versorgungspolitik der Bevölkerung mit Konsumgütern des täglichen Bedarfs mit Hilfe von vergleichenden Lokalstudien untersuchte, warnt davor „die stabilisierende Wirkung der Selbstorganisation der Mittel - und Unterbehörden nicht zu hoch zu veranschlagen.“66 Am Ende kommt er zu einem nüchternen Resümee über die Funktionsweise der NS - Diktatur im Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie : „Auf dem Nährboden der polykratischen und über - zentralisierten Struktur des NS Staats entfalteten sich verschiedene Formen von Selbstorganisation, die von den Entscheidungsträgern vor Ort genutzt wurden, um mit den Steuerungs - und Organisationsproblemen dieses Herrschaftsgefüges umzugehen, ohne freilich eine eigene politische Ordnung zu etablieren. Mit einer Revitalisierung kommunaler Selbstverwaltung oder gar der Wiederbelebung eines Föderalismus hatte diese Form der Selbstorganisation nichts zu tun, war sie doch lediglich eine Reaktion auf die Defizite und Dysfunktionalitäten des Regimes.“67
Die Forschung benötigt also weitere Untersuchungen, die von anderen Bereichen und Regionen ähnlich tiefe Erkenntnise über die Funktionsweisen und das Organisationsgeflecht der NS - Diktatur vor und während des Krieges liefern. Erst dann wird es möglich sein, die teilweise unterschiedlichen Ergebnisse von Fleischhauer und Brinkhus besser in ein Gesamtbild einzuordnen. Forschungen mit sogenannten „weichen“ kultur - und mentalgeschichtlichen Ansätzen haben seit den 1990er Jahren zu einer Reihe von richtungsweisenden Studien geführt, die das NS - Herrschafts - und Terrorsystem direkt in einem spezifischen regionalen Umfeld untersuchen.68 Martina Stebers unlängst publizierte Untersuchung über das bayerische Schwaben vom Kaiserreich bis in die 65 Vgl. ebd.; Niedersächsisches Forschungskolleg, Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort. In : Newsletter Nr. 2, Juli 2011, S. 8 ( http ://www.foko - ns.de / fileadmin / foko - ns / pdf / Newsletter_ des_Niedersaechsischen_Forschungskollegs_II.pdf; 13. 4. 2012). 66 Jörn Brinkhus, Luftschutz und Versorgungspolitik. Regionen und Gemeinden im NS Staat, 1942–1944/45, Gütersloh 2011, S. 322. 67 Ebd. 68 Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001; Detlef Schmiechen - Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen, Bonn 1998; Norbert Fasse, Katholiken und NS - Herrschaft im Münsterland. Das Amt Velen - Ramsdorf 1918–1945, Bielefeld 1996.
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NS - Zeit zeigt, wie man weiterhin mit neuen Fragen und Perspektiven originelle Erkenntnisse gewinnen kann.69 Steber macht deutlich, wie sich das Regionale in Schwaben seit der Jahrhunderwende immer deutlicher als Ordnungsentwurf und „integrierende Klammer“ in einer als krisengeschüttelt wahrgenommenen Gegenwart herauskristallisierte. Während des „Dritten Reiches“ verschwand dann das bislang existierende vormoderne Gesellschaftsbild und das Regionale erhielt, durch die dynamische Neuausrichtung der Gaukulturpolitik, ein genuin nationalsozialistisches Gesicht. Im Gau Schwaben wandelte sich das Regionale also nach 1933 und „entwickelte sich zum kulturellen Resonanzboden des Konzepts einer ‚völkischen Leistungsgesellschaft‘“. Steber betont demnach die integrative Funktion des Regionalen. Die gedachte Ordnung des Regionalen wurde in recht eigenwilliger Weise Ausdruck „radikalen Ordnungsdenkens“ im NS - Regime. Solch eine Verquickung von Regionalgeschichte mit einem langzeitlichen mental - und kulturgeschichtlichen Ansatz versteht zu überzeugen und kann in den unterschiedlichsten Bereichen ausgelotet werden. Dies versuchen beispielsweise Caitlin E. Murdock in ihrer Studie über Tourismus, Landschaft und regionale Identität in Sachsen oder Martin Ulmers mit seiner Untersuchung über den Antisemitismus in Stuttgart.70 Außerdem gibt es weiterhin kaum vergleichende Studien mit Regionen außerhalb Deutschlands und Untersuchungen von Grenzregionen sowie deren spezifische Identitäten.71
4.
Täterforschung
Untersuchungen über die „Vernichtungspolitik aus lokaler und regionaler Nahperspektive“ haben in den letzten 20 Jahren unser Wissen entscheidend bereichert. Dies gilt für viele Bereiche, inklusive der sogenannten NS - „Euthanasie“, der Geschichte der Konzentrationslager, der Rolle der Frauen beim Massenmord und des Genozids in den besetzten Gebieten.72 Auf Letzteren soll 69 Martina Steber, Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS - Regime, Göttingen 2010. Für Folgendes siehe speziell S. 190, 316, 478–480, hier 479. 70 Caitlin E. Murdock, Tourist Landscapes and Regional Identities in Saxony, 1878–1938. In : Central European History, 40 (2007) 4, S. 589–621; Ulmer, Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. 71 Xosé - Manoel Núñez / Maiken Umbach, Hijacked Heimats. National appropriations of local and regional identities in Germany and Spain, 1930–1945. In : European Review of History—Revue européenne d’histoire, 15 (2008) 3, S. 295–316; Kittel, Provinz, München 2000; Eric Storm, Regionalism in History, 1890–1945. The Cultural Approach. In: European History Quarterly, 33 (2003) 2, S. 251–265; David Laven / Timothy Baycroft, Border Regions and Identity. In : European Review of History - Revue européenne d’histoire, 15 (2008) 3, S. 255–275. 72 Für diesen Abschnitt siehe Szejnmann, Die Bedeutung der Regionalgeschichte, S. 97– 100; Szejnmann, Perpetrators of the Holocaust, S. 40–43. Die beste Überblickdarstellung des „Dritten Reiches“ und die besetzten Gebiete während des Zweiten Weltkrieges ist : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 10 Bände, München 1979–2008.
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Regionalgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus
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hier näher eingegangen werden. Eine neue Generation junger Forscher veröffentlichte seit den 1990er Jahren wichtige Regionalstudien über den Holocaust in den besetzten Gebieten. Sie stützten sich auf umfassende Quellenauswertungen in den neueröffneten Archiven Osteuropas sowie auf bis dahin vernachlässigte deutsche Gerichtsakten. Diese Studien setzten sich direkt mit Tätern und Tatorten, Helfershelfern und Nutznießern, aber auch dem Schicksal von Opfern, auseinander. Sie betonten die Vielfalt der Mordmotive ( Rassenwahn, Gruppenzwang, Radikalisierung in einem brutalen Krieg, pervertierte Lust am Töten, persönliche Bereicherung, utilitaristische Motive usw.) und regionale Besonderheiten für den Anstoß und die Ausführung zum Massenmord. Es wurden aber auch Ähnlichkeiten in den Verhaltensweisen der einheimischen Bevölkerung während des Genozids in den besetzten Gebieten aufgezeigt. Dieser Forschungsbereich muss sich mit erheblichen Problemen auseinandersetzen. Zum einen ist die Verknüpfung von Täter - und Opferperspektive in dem komplexen Geflecht von Besatzungsterror, Kollaboration und Judenvernichtung oftmals schwer durchzuführen.73 Zum anderen ist die Untersuchung von Gebieten, die nacheinander von Deutschen und Sowjets besetzt wurden, äußerst kompliziert, da sich Forscher unter anderem mit verschiedenen regionalen Traditionen, Sprachen und Herrschaftssystemen auseinandersetzen müssen.74 Es kann somit konstatiert werden, dass auch hier bei näherem Hinschauen viele Forschungsdesiderata bleiben. Beispielsweise gibt es kaum Arbeiten über die Okkupationspolitik, das Schicksal der Juden in Belgien oder vergleichende Studien über die NS - Okkupation in West - und Osteuropa.
Für Konzentrationslager siehe Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bände, München 2005–2009. Über NS - „Euthanasie“ siehe Klee, „Euthanasie“ im NS - Staat; Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie, Freiburg 1993. Über die besetzten Gebiete siehe Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord; Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999; Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998. Über Kollaboration siehe Leonid Rein, The Kings and the Pawns : Collaboration in Belorussia during World War II, Oxford 2011; Ruth B. Birn, Die Sicherheitspolizei in Estland 1941–1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten, Paderborn 2006; Jan T. Gross, Neighbours. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland, Princeton 2001; Martin Dean, Collaboration in the Holocaust. Crimes of the Local Police in Belorussia and Ukraine, 1941–44, Basingstoke 1999. Über Frauen und Geschlechterforschung siehe Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945, Hamburg 2010; Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009; Elizabeth Har vey, Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization, London 2003. 73 Richtungsweisend allerdings Chiari, Alltag hinter der Front. 74 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010; Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000.
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Die moderne und florierende Täterforschung greift vor allem auf Kollektivbiografien zurück : Forscher betrachten Täterkollektive innerhalb von SS, SD, Gestapo, Einsatzkommandos, Ordnungspolizei, NSDAP - Kreisen usw. und versuchen, „biografische Knotenpunkte, gemeinsame Sozialisationserfahrungen, Radikalisierungsmomente und gruppendynamische Konditionierungen zu identifizieren“.75 Diese Forschungsansätze machen deutlich, dass die Beschränkung auf die relativ knappe Zeitspanne zwischen den epochalen Eckpunkten 1933 und 1945, oder sogar nur auf die Kriegsphase, wie es in der älteren Forschung oftmals gemacht wurde, nicht ausreicht. Lebensläufe, mentale Prägungen, Milieu - Zusammenhänge und vieles mehr begannen früher, endeten später und können nur mit Focus auf einen längeren Zeitraum untersucht werden.76 Das bedeutet auch, dass der „Blick über den Tellerrand der NS - Forschung“ gewagt werden sollte, um beispielsweise Vergleiche zwischen der Durchdringung der Gesellschaft mit einem V - Mann - Netz im „Dritten Reich“ und der DDR zu machen.77 Nur so lassen sich dann auch Vergleiche anstellen und Kontinuitäten sowie Diskontinuitäten aufzeigen, z. B. zwischen der Dichte und dem Personal des SD - Netzes und des IM - Apparats der Staatssicherheit der DDR.78 Carsten Schreibers Studie zeigt auf regionaler Ebene zum ersten Mal die tiefe Verankerung des SD in Kultur, Staat, Wirtschaft und Wissenschaft.79 Sächsische V - Leute bildeten eine systematische Ergänzung zu den spontanen Denunzianten und den gesteuerten Gestapoagenten. V - Leute waren ehrenamtlich in einem sozialen Netzwerk tätig und mit ihren vielfältigen beruflichen Kontakten und gesellschaftlichen Bindungen lokal fest verankert. Genau an dieser Stelle, der Inkorporierung – also nicht Ersetzung – von Entscheidungsträgern aus der inneren Verwaltung, aus dem staatlichen Gesundheitswesens, der Justiz usw. ist die tiefere Bedeutung des SD für die regionale Herrschaft zu suchen.
5.
Chancen und Grenzen der NS - Regionalgeschichte
Die These von einer harmlosen oder vom Zentrum terrorisierten Provinz oder Region ist längst nicht mehr haltbar. Terror und Vernichtungspolitik hatten ihren Ursprung gerade auch im Lokalen und Regionalen, wo sie praktiziert und von wo aus sie oftmals auch exportiert wurden. Selbst ehrenamtliche sächsische V -Leute wurden wiederholt im Osten als Exekutoren der Vernichtungspolitik eingesetzt und waren Teil einer bislang kaum erforschten Gruppe von Vollstreckern des rassistischen Genozids. Schreiber bilanziert, dass „ihr ständiger Wech75 Schreiber, Elite im Verborgenen, S. 13. Beispielshaft Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 76 Vgl. Schreiber, Elite im Verborgenen, S. 15. 77 Vgl. ebd., S. 17. 78 Vgl. ebd., S. 448. 79 Für Folgendes siehe ebd., S. 447 f., 454.
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sel zwischen Heimatfront und Kommandoeinsatz mit tausendfachem Tötungsauftrag“ direkt zu einer brutalisierenden Wirkung ihres Handelns in Sachsen führte.80 Der regionalgeschichtliche Ansatz hat Studien über die Haltung und das Verhalten der Bevölkerung zum NS - Regime geprägt und entscheidend weitergeführt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Forschung in zentralen Fragen einig ist. War es nun eine „Konsensdiktatur“, die geprägt war von massenhaftem Mitläufertum, oder spielt eine solche Beschreibung Aspekte des Terrors und des Zwangs herunter ?81 Wie verbreitet und tiefsitzend war der Antisemitismus oder Rassismus – also Kernelemente der NS - Ideologie – in der deutschen Bevölkerung ?82 Gab es einen wachsenden und weitverbreiteten antisemitischen Konsens ( Friedländer; Bajohr / Pohl ), oder musste nationalsozialistische Politik gegen die Juden ziemliches Unverständnis, Skepsis und Kritik überwinden ( Longerich ) ?83 Was wussten die Deutschen über den Holocaust ?84 Wodurch wird das Verhalten der „Volksgemeinschaft“ während der NS - Diktatur erklärt ? War es eine Mischung von Befehlsgehorsam, eines schleichenden Prozesses der Anpassung und Gewöhnung an extreme Ungleichheiten ( Wehler ),85 oder wandelten sich „normale“ Deutsche in pro - aktive Rassisten ? Man sollte nun nicht verlangen, dass die Regionalgeschichte zu all diesen Fragen Antworten liefern kann. Vielmehr sollte man sich in Erinnerung rufen, dass diese und ihr nahestehende Forschungsansätze ja gerade dadurch überzeugen, dass sie generalisierende Aussagen in Frage stellen ! Hier, in der Region und vor Ort, treten auch die Schwierigkeiten zu Tage, konkrete Aussagen zu tätigen. Diese sollten zwar nicht nur über eine Person, aber dennoch über einen Teil einer Bevölkerung von fast 80 Millionen Menschen, inklusive Österreich und dem Sudentenland, mit all ihren komplexen Identitäten – und das während einer brutalen Diktatur – getätigt werden. Zudem betont die heutige Forschung
80 Ebd., S. 454. 81 Für das Argument der „Konsensdiktatur“ siehe Ruppert / Riechert (Hg.), Herrschaft und Akzeptanz. Für eine Kritik dieser Interpretation siehe Richard Evans, Coercion and Consent in Nazi Germany. In : Proceedings of the British Academy, 151 (2006), S. 53–81; Jill Stephenson, Hitler’s Home Front. Württemberg under the Nazis, New York 2006; Götz Aly ( Hg.), Volkes Stimme. Skepsis und Führervertrauen im Nationalsozialismus, Bonn 2006. 82 Zur Bedeutung von „Rasse“ im „Dritten“ Reich siehe Fritzsche, Life and Death in the Third Reich. Auf materielle Aspekte, die das Verhalten der Bevölkerung beeinflussten, verweist Stöver, Volksgemeinschaft im Dritten Reich, S. 342. 83 Friedländer, Die Jahre der Vernichtung; Frank Bajohr / Dieter Pohl, Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS - Führung und der Holocaust, München 2006; Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst !“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006. 84 Bernhard Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007; Eric Johnson / Karl - Heinz Reuband, What we knew. Terror, Mass Murder and Everyday Life in Nazi Germany. An Oral History, New York 2005; David Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler - Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995. 85 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 771.
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insbesondere die Komplexität, den wechselseitigen Einfluss von Zentrum und Peripherie, von Langzeitfaktoren oder situationsbedingten Faktoren, von Zeit und Ort sowie vielen anderen Zwischenzonen und Grauzonen. Dabei muss das genaue Verhältnis und die Interaktion zwischen unzähligen Faktoren und handelnden Menschen immer wieder neu durchdacht und bestimmt werden. Dass dies nicht immer zu schlüssigen Erklärungen führen kann oder dies manchmal mehr Fragen aufwirft als man Antworten liefern kann, sollte öfter und klarer deutlich gemacht werden. Darüber hinaus muss man akzeptieren, auch Zweideutigkeiten und Ambivalenzen aufzudecken. Vor kurzem bilanzierte Peter Fritzsche zu Recht, dass die Forschung weiterhin nach Möglichkeiten suchen muss, wie man das Hin und Her auslotet zwischen der ideologischen Vision Hitlers, der lokalen Massenpraxis der Gewalt – ob in der Hauptstadt oder an den Kriegsschauplätzen – und der individuellen Entscheidung über das jeweilige Handeln. Denn letztendlich hatte jeder Deutsche die Option, zuzuschauen, teilzunehmen, sich durchzumogeln, zu widerstehen oder eine Kombination von diesen Verhaltensweisen.86
86 Forum. Everyday life in Nazi Germany. In : German History, 27 (2009) 4, S. 560–579, hier 562 ( vgl. Beitrag von Paul Steege; Übersetzung CCWS ).
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I. Herrschaft und Unterdrückung
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Die sächsische NSDAP nach 1933. Sozialstrukturen und soziale Praktiken Armin Nolzen
1.
Einleitung
Die Geschichte der sächsischen NSDAP nach 1933 ist bis heute ein Desiderat der NS - Forschung geblieben. In den bis dato publizierten Gesamtdarstellungen zur NSDAP wird der Gau Sachsen, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.1 Die meisten Autoren, die sich in ihren Monografien mit Sachsen in der NS - Zeit befassen2, thematisieren zwar durchaus auch die NSDAP, müssen jedoch begreiflicher Weise jede systematische Analyse unterlassen, weil sie andere Erkenntnisinteressen verfolgen. Die schlechte Forschungslage zur NSDAP in Sachsen nach 1933 resultiert aus einer völlig unzureichenden Quellenüberlieferung. Die Zentralbestände der NSDAP im Bundesarchiv Berlin und dessen Außenstellen beinhalten nur wenige Korrespondenzen aus dem Gau Sachsen. Im Hauptstaatsarchiv Dresden, im Staatsarchiv Leipzig und im Staatsarchiv Chemnitz wiederum existieren nur Restakten einiger Kreis - und Ortsgruppenleitungen. Auffällig ist der hohe Anteil an Personalakten zur sächsischen NSDAP, der jedwede Sachanalyse der Parteiarbeit erschwert. Ihre Geschichte nach 1933 muss also aus den Empfängerüberlieferungen von staatlicher Verwaltung, Polizeiapparat und Kirchen und den offiziellen NSDAP - Druck1
2
Dietrich Orlow, The History of the Nazi Party, 2 Bände, Pittsburgh 1969–1973; Michael H. Kater, The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders, 1919–1945, Cambridge 1983; Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP 1920 bis 1945, 3. verbesserte und ergänzte Auflage Köln 2009. Den Forschungsstand zum Thema repräsentieren die Beiträge in Wolfgang Benz ( Hg.), Wie wurde man Parteigenosse ? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009. Thomas Schaarschmidt, Regionalkultur und Diktatur. Heimatbewegung und Heimat Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ / DDR, Köln 2004; Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004; Francesca Weil, Entmachtung im Amt. Bürgermeister und Landräte im Kreis Annaberg 1930–1961, Köln 2004; Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–1934/37, Berlin 2005; Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008; Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011, S. 21–69. Wichtig auch die Beiträge in : Clemens Vollnhals ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002.
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Armin Nolzen
erzeugnissen rekonstruiert werden. Wichtig ist die Tageszeitung „Der Freiheitskampf“, das nach „Der Völkische Beobachter“ und „Der Angriff“ auflagenstärkste NSDAP - Presseorgan, das am Vorabend der „Machtergreifung“ in mehr als 58 000 Exemplaren täglich in Sachsen verbreitet wurde.3 Andere Druckschriften, die in der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig vorhanden sind, geben ebenfalls gute Einblicke in die Strukturen und Funktionen der sächsischen NSDAP nach 1933.4 Allerdings wird eine integrierte Geschichte, wie sie für einige andere Parteigaue vorliegt5, für Sachsen kaum möglich sein. Daher bedarf es einer anderen Herangehensweise an das Thema. Diese muss der disparaten Quellenlage angemessen sein und der Forschung zur Geschichte der NSDAP nach 1933 noch neue Impulse zu verleihen vermögen. Ich werde im Folgenden zwei bislang kaum praktizierte Ansätze vorstellen, die beide einer je eigenen Methodik folgen. Im ersten Schritt analysiere ich die Sozialstruktur der sächsischen NSDAP nach 1933; ein schwieriges Unterfangen, das noch weiterer Anstrengungen bedarf. Im zweiten Schritt zeige ich Möglichkeiten auf, die sozialen Praktiken der NSDAP im Gau Sachsen zu untersuchen. In der Schlussbetrachtung fasse ich die Ergebnisse zusammen und gebe einen Ausblick auf weitere Forschungen.
2.
Sozialstrukturanalyse der sächsischen NSDAP
Die von den Zentraldienststellen der NSDAP überlieferten Akten und Druckschriften erlauben es, die Sozialstruktur der Funktionäre und Mitglieder sowohl der Partei als auch ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände zu analysieren.6 In der Regel sind die entsprechenden Daten nach Gauen geordnet, so dass diese Quellen immer auch Angaben zur sächsischen NSDAP enthalten.
3 4 5
6
Vgl. Markus Fischer, Neue Perspektiven auf die sächsische NS-Presse. Eine Aufarbeitung des NSDAP-Organs „Der Freiheitskampf“. In : Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 84 (2013), S. 275–293, hier 286. Ein Inventar findet sich unter http ://www.hait.tu - dresden.de / dok / Druckschriften_ Gau_Sachsen.pdf; 15. 3. 2012. Herbert S. Levine, Hitler’s Free City. A History of the Nazi Party in Danzig 1925–1939, Chicago 1973; Johnpeter H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920–1945, Ph. D. Thesis Chapel Hill 1983; Gerhard Paul, Die NSDAP des Saargebietes 1920–1935. Der verspätete Aufstieg der NSDAP in der katholisch - proletarischen Provinz, Saarbrücken 1987; Tomasz Kruszewski, Partia Narodowosocjalistyczna na Śląsku w latach 1933– 1945. Organizacja i działalność, Wrocław 1995. Zu den Begriffen „Partei“, „Gliederungen“ und „angeschlossene Verbände“ siehe die Ausführungen bei Carl Haidn / Ludwig Fischer ( Hg.), Das Recht der NSDAP. Vorschriften - Sammlung mit Anmerkungen, Verweisungen und Sachregister, München 1936, S. 56–100. Zur Ausdifferenzierung der NSDAP nach 1933 ausführlich Armin Nolzen, Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9 : Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilband 1 : Politisierung – Vernichtung – Überleben. Hg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von Jörg Echternkamp, München 2004, S. 99–193, hier 99–111.
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Die sächsische NSDAP nach 1933
Tabelle 1: Mitglieder der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im Deutschen Reich und im Gau Sachsen ( Stichtag 1. Januar 1935)7 NSDAP
Deutsches Reich Gau Sachsen ( v. H.)
Partei ( P. O.)
2 493 890
234 681 (9,4)
Sturmabteilung ( SA )
3 544 099
253 454 (7,2)
164 883
7481 (4,5)
Hitler - Jugend ( HJ )
2186 745
142 021 (6,5)
Bund Deutscher Mädel ( BDM )
1 365 293
97 705 (7,1)
Nationalsozialistische Frauenschaft ( NSF ) Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps ( NSKK ) Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund ( NSDStB ) Deutsche Arbeitsfront ( DAF )
1451 307
116 675 (8,0)
207 976
11970 (5,8)
12 533
1 396 (11,1)
14131734
1646 074 (11,6)
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV)
3 836 328
346 739 (9,0)
Deutsches Frauenwerk ( DFW ) Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung ( NSKOV ) Reichsbund der Deutschen Beamten ( RDB )
2 709 027
320 744 (11,8)
1 233 051
101 002 (8,2)
1 023 066
103 967 (10,2)
Nationalsozialistischer Lehrerbund ( NSLB ) Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund ( NSRB ) Nationalsozialistischer Bund Deutscher Technik ( NSBDT ) Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund ( NSDÄB )
262 348
26192 (10,0)
63 010
6 436 (10,2)
33127
4 337 (13,1)
14 500
1 314 (9,1)
Schutzstaffel ( SS )
Diese wiederum können mit anderen Parteigauen verglichen werden. „Sozialstrukturanalyse“ ist eine Methode der empirischen Sozialforschung.8 Sie basiert auf statistischen Aggregatdaten, die methodisch kontrolliert aufbereitet werden. 7 8
Parteistatistik, Band III, S. 56–61, 77, 89, 97 und 110. Siehe hierzu den vom Kölner Zentrum für Sozialforschung entwickelten Ansatz, wie er sich in den gesammelten Aufsätzen von Heinrich Best, Führungsgruppen und Massenbewegungen im historischen Vergleich. Der Beitrag der Historischen Sozialforschung zu einer diachronen Sozialwissenschaft, Köln 2008, darstellt. Vergleichbare Herangehensweisen finden sich bei Christoph Rass, „Menschenmaterial“ : Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939–1945, Paderborn 2003, sowie bei René Rohrkamp, „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen - SS 1933–1945. Organisation – Personal – Sozialstrukturen, Paderborn 2010, die anhand von militärischen Einheiten die immense Fruchtbarkeit von Sozialstrukturanalysen demonstrieren.
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Dabei geht es weder um einzelne Personen noch um deren Handlungen noch um die Erklärung von Einzelereignissen, sondern um sozialstatistische Korrelationen und deren dynamische Veränderungen. Eine der wichtigsten Quellen, denen die dazu notwendigen Daten zu entnehmen sind, ist die „Parteistatistik“ der NSDAP, die durch die Reichsorganisationsleitung zum 1. Januar 1935 erhoben wurde.9 Sie umfasste vier dickleibige Bände und bildete die Grundlage für eine gezielte Reorganisation des Parteiapparates. Die im dritten Band enthaltenen Zahlen zeigen, wie bedeutend der Gau Sachsen in der NSDAP war. Dort lebten, wie die Angabe zur P. O. zeigt, 9,4 Prozent aller „Parteigenossen“; der Höchstwert für alle 32 Parteigaue. Dagegen fielen die Verhältniszahlen bei den Gliederungen, die sich in der Tabelle von SA bis NSDStB finden, weit geringer aus, übertrafen aber immer noch das Gros der anderen Parteigaue. Befand sich Sachsen bei den Gliederungen nur im vorderen Drittel, so bildete es bei den angeschlossenen Verbänden, in der Tabelle von DAF bis NSDÄB, die unangefochtene Nummer Eins unter allen Parteigauen. Im Durchschnitt mehr als zehn Prozent aller Angehörigen der angeschlossenen Verbände wohnten in Sachsen. Der Gau Sachsen besaß in der NSDAP quantitativ das stärkste Gewicht. Diese Zahlenangaben zu den Mitgliedern der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbänden sagen allerdings noch nichts darüber aus, wie intensiv deren Durchdringungsgrad im Hinblick auf die sächsische Wohnbevölkerung war. Verlässliche Angaben dazu liegen in der „Parteistatistik“ lediglich für die Parteiorganisation vor. Im Gau Sachsen lebten am 1. Januar 1935 fast 5,2 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 14 000 Quadratkilometern.10 Damit war Sachsen, nimmt man die Stadtgaue Hamburg, Berlin, Essen und Düsseldorf einmal aus, der am dichtesten besiedelte Flächengau der NSDAP mit 347 Einwohnern auf den Quadratkilometer ( Reich = 140,2). Im Gau Sachsen gab es 234 681 „Parteigenossen“. Auf alle 22,2 Einwohner kam also ein Parteimitglied ( Reich = 26,5). Damit nahm Sachsen unter 32 Parteigauen lediglich den sechsten Platz ein; an der Spitze lag der Gau Schleswig - Holstein (= 18,1).11 Interessant ist die zeitliche Verteilung der Parteieintritte. Bis zum 14. September 1930, dem ersten großen Erfolg der NSDAP bei einer Reichstagswahl, hatte sie in Sachsen 11 383 Mitglieder rekrutieren können; einer der schlechtesten Werte im Reich.12 Dies änderte sich bis zum 30. Januar 1933, als 75 696 Mitglieder 9 Parteistatistik der NSDAP. Stand : 1935 ( ohne Saargebiet ). Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Band I : Parteigenossen, Band II : Politische Leiter, Band III : Mitglieder und Führende der Gliederungen, Ämter und Verbände, Band IV : Deutsche Arbeitsfront, München 1935–1939. Generell Armin Nolzen, Die Reichsorganisationsleitung als Verwaltungsbehörde der NSDAP. Kompetenzen, Strukturen und administrative Praktiken nach 1933. In : Sven Reichardt / Wolfgang Seibel ( Hg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2011, S. 121–166. 10 Das Folgende nach : ebd., Band I, S. 10, 26 und 30. 11 Zu diesem protestantischen „Kernland“ des Nationalsozialismus siehe Uwe Danker / Astrid Schwabe, Schleswig - Holstein und der Nationalsozialismus, Neumünster 2005. 12 Bei diesen Zahlenangaben ist jedoch zu bedenken, dass die „Parteistatistik“ nur diejenigen Personen aufführte, die am 1. 1. 1935 noch Parteimitglieder waren. In den Jahren
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hinzukamen; ein Anstieg, der über dem Reichsdurchschnitt lag. Danach traten im Gau Sachsen bis zum 1. Januar 1935 weitere 147 602 Personen in die Partei ein; ein im Vergleich mit anderen Gauen unterdurchschnittliches Wachstum. Im Gau Sachsen schlossen sich Frauen überproportional oft der Partei an. Insgesamt 15 601 „Parteigenossinnen“ zum 1. Januar 1935 markierten den zweitstärksten Wert nach dem Gau Berlin. Damit lebten 11,5 Prozent aller weiblichen Parteimitglieder im Gau Sachsen. Interessant für die Frage nach der Durchdringung der sächsischen Bevölkerung durch die Partei sind auch die Angaben der „Parteistatistik“ zu den Politischen Leitern, wie die Parteifunktionäre hießen. Im Gau Sachsen gab es am 1. Januar 1935 insgesamt 54 501 Politische Leiter. Somit kam einer dieser Funktionäre auf 95,6 Einwohner, und dieses Zahlenverhältnis sicherte Sachsen den fünften Platz unter allen Gauen im Deutschen Reich.13 Im Folgenden werden zwei Gruppen von Politischen Leitern genauer analysiert : die Kreisleiter als wichtigste „Hoheitsträger“ der NSDAP in den Regionen und die Funktionäre in den Ortsgruppen. Die Kreisleitungen lagen zwischen den Gau - und Ortsgruppenleitungen der NSDAP. Sie bildeten die letzte hauptamtliche Parteiebene, wobei nur in den sogenannten Kreisführungsämtern, und damit einem Viertel aller Parteiämter des Kreisstabes, besoldete Politische Leiter saßen.14 Im Gau Sachsen gab es zum 1. Januar 1935 insgesamt 27 Kreise.15 Nach dem 30. Januar 1933 waren immerhin elf der 27 Kreisleiter - Stellen in Sachsen neu besetzt worden (= 40,7 Prozent; Reich = 53,1 Prozent). Die Fluktuationsrate der Kreisleiter war in der NSDAP bis 1937/38 generell sehr hoch, weil viele in lukrativere Ämter abwanderten. Unter den am 1. Januar 1935 amtierenden 27 sächsischen Kreisleitern bekleideten sechs zugleich staatliche Ämter (= 22,2 Prozent; Reich = 3,9 Prozent). Ihre berufliche Zusammensetzung ( n = 25) gestaltete sich wie folgt : Fünf waren Arbeiter, zehn Angestellte, vier selbständig, vier Beamte, einer Bauer; für einen fehlt die Angabe. Die Mittelschichten waren unter den Kreisleitern überrepräsentiert, wobei Sachsen in der Kategorie „Arbeiter“ mit 20 Prozent gar den zweithöchsten Wert im Reich verzeichnete. 72 Prozent der sächsischen Kreis1931/32 gab es in der NSDAP viele Austritte und eine daraus resultierende hohe Fluktuationsrate, so dass die absoluten Zahlen, sofern sie sich auf den jeweiligen Eintrittszeitraum beziehen, mit Vorsicht zu genießen sind. Wagner, „Machtergreifung“, S. 51–59, berücksichtigt diese Problematik nicht. 13 Eigene Berechnungen nach : Parteistatistik, Band II, S. 31 und 46. 14 Zu dieser NSDAP - Ebene siehe Claudia Roth, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997; Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003; Sebastian Lehmann, Kreisleiter der NSDAP in Schleswig - Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007. 15 Das Vorstehende nach Parteistatistik, Band II, S. 294, 304, 344 und 358. Annekatrin Jahn ( Dresden ) bereitet ein Projekt vor, das sich mit der Herrschaftspraxis der sächsischen NSDAP - Kreisleitungen befasst und detailliertere Ergebnisse erbringen wird, als sie hier vorgelegt wurden.
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Armin Nolzen Gauleiter Martin Mutschmann Gauschatzamt Emil Ecksturm
Gaugericht Otto Erhardt
Gaugeschäftsführer Georg Müller
Gauwaltung der DAF Hellmuth Peitsch
Gauorganisationsamt Erhard Kadatz
Gauwaltung der NSV Rudolf Büttner
Gaupersonalamt Heinrich Bär
Gaufrauenschaftsleitung Lotte Rühlemann
Gauschulungsamt Kurt Schmidt
Gauwaltung der NSKOV Gustav Handge
Gaupropagandaamt Heinrich Salzmann
Gauamt für Technik Gotthard Böttger
Gaupresseamt Heinz Schladitz
Gauwaltung des NSLB Arthur Göpfert
Gauinspekteur Gerhard Petzoldt
Gauwaltung des RDB Paul Schaaf
Gauamt für Agrarpolitik Hellmuth Körner
Gauwaltung des NSRB Rudolf Kluge
Gauwirtschaftsberater Georg Lenk
Gauamt für Rassenpolitik Wolfgang Knorr
Gauamt für Kommunalpolitik Kurt Gruber
Gauwaltung des NSDÄB Ernst Wegner
Abb. 1: NSDAP - Gauleitung Sachsen ( Stand : Frühjahr 1941)16 16 Das Schaubild nach : Michael Rademacher, Handbuch der NSDAP - Gaue. Die Amtsträger der NSDAP und ihrer Organisationen auf Gau - und Kreisebene in Deutschland und Österreich sowie in den Reichsgauen Danzig - Westpreußen, Sudentenland und Wartheland, Vechta 2000, S. 224 f.
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Die sächsische NSDAP nach 1933
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leiter waren am 1. Januar 1935 zwischen 31 und 40 Jahren alt ( Reich = 55,7 Prozent). Alle Kreisleiter waren schon vor dem 14. September 1930 in die Partei eingetreten und galten als „Alte Kämpfer“. Dies ist für das Deutsche Reich einzigartig. Unterhalb der Kreisebene lagen die Ortsgruppen der NSDAP, die seit 1932 in Zellen und Blocks eingeteilt waren. Im Gau Sachsen gab es am 1. Januar 1935 insgesamt 1 335 Ortsgruppen, 5 257 Zellen und 21 329 Blocks.17 In den Stäben der Ortsgruppen waren 24 750 Amts - , Hauptstellen - und Stellenleiter tätig.18 Dies entsprach sage und schreibe 13 Prozent aller Politischen Leiter, die im Deutschen Reich überhaupt in den Ortsgruppenstäben amtierten ! Ein geringerer prozentualer Anteil lässt sich für die den Ortsgruppen nachgeordneten Ebenen nachweisen. Im Gau Sachsen gab es am 1. Januar 1935 5 261 Zellen (= 9,6 Prozent) und 20 776 Blockleiter (= 10,2 Prozent). Sie konnten ihre innerparteilichen Aufgaben in einem Umfeld erledigen, das weitaus besser institutionalisiert war als in den übrigen NSDAP - Gauen. Im Gau Sachsen existierten zum 1. Januar 1935 insgesamt 958 Ortsgruppen - Geschäftsstellen, die als Koordinationsorgane für die Ortsgruppenamts - sowie die Zellen - und Blockleiter dienten. Mit diesem Wert lag Sachsen reichsweit an der Spitze. In der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbände arbeiteten im Durchschnitt mehr als 90 Prozent aller Funktionäre in den Ortsgruppen. Sie taten dies samt und sonders ehrenamtlich, ohne finanzielle Vergütung. Die Hauptlast der Parteiarbeit ruhte auf den Schultern engagierter Männer und Frauen, die entweder berufstätig waren oder eigene Haushalte zu versorgen hatten. Ehrenamtliche Tätigkeiten fanden in der Regel in den Nachmittags - und Abendstunden statt oder blieben auf die Wochenenden beschränkt. Trotz imponierender absoluter Zahlen in nahezu allen Kategorien der Parteifunktionäre und - mitglieder galt Sachsen in der NSDAP als vergleichsweise inaktiv. Nur 59,4 Prozent aller dort wohnenden Mitglieder waren für die Partei aktiv, womit der Gau Sachsen reichsweit lediglich an 16. Stelle lag. Immerhin 95 597 „Parteigenossen“ wurden als reine Beitragszahler geführt, die man in der NSDAP nicht allzu gerne sah und als Opportunisten verachtete.19 Zwar lag der Gau Sachsen in beiden Kategorien leicht über beziehungsweise unter dem Reichsdurchschnitt. Dies ändert allerdings nichts an dem Sachverhalt, dass es dort offenbar Vorbehalte gab, sich ehrenamtlich in der Partei zu engagieren. Es wäre noch zu prüfen, wie sich die Situation in den sächsischen Gliederungen und angeschlossenen Verbänden gestaltete. 17
Parteistatistik, Band III, S. 232. Zu den Ortsgruppen Beate Meyer, „Goldfasane“ und „Nazissen“. Die NSDAP im ehemals „roten“ Stadtteil Hamburg - Eimsbüttel, Hamburg 2002; Carl - Wilhelm Reibel, Die NSDAP - Ortsgruppen Dornbusch und Oberrad 1933– 1945. In : Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 65 (1999), S. 53–120; ders., Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP - Ortsgruppen 1932–1945, Paderborn 2002; Joachim Lilla, Die NSDAP - Ortsgruppen im Gau Düsseldorf. Eine Bestandsaufnahme von Anfang 1938. In : Düsseldorfer Jahrbuch, 70 (1999), S. 185–273. 18 Das Folgende nach Parteistatistik, Band II, S. 58, 60, 108 und 510. 19 Ebd., Band I, S. 215 f.
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Für eine Sozialstrukturanalyse reichen die Zahlen der „Parteistatistik“ vom 1. Januar 1935 nicht aus. Zu diesem Zweck muss man zusätzliche Daten für einen späteren Zeitpunkt erheben, um die soziostrukturellen Veränderungen herausarbeiten zu können, denen die Partei, ihre Gliederungen und angeschlossenen Verbände unterworfen waren. Eine derartige Untersuchung, die bislang für keinen einzigen Parteigau durchgeführt worden ist, stößt jedoch auf quellentechnische Probleme. Eigentlich wäre die zweite „Parteistatistische Erhebung“, die Anfang 1939 auf Reichsebene von der Reichsorganisationsleitung durchgeführt wurde, ein passendes Kontrollinstrument gewesen; sie wurde aufgrund des drohenden Kriegsbeginns jedoch abgebrochen, so dass für Sachsen keine Angaben vorliegen.20 Der Personalbestand der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände stieg bis zum Ende des „Dritten Reiches“ weiter an, wie sich den Leistungsberichten ihrer Führungsbehörden entnehmen lässt. Generell wuchs die Partei während des Krieges in den meisten anderen Gauen schneller als in Sachsen.21 Am 1. Mai 1943 gab es insgesamt 1 551709 Politische Leiter und 6 542 261 „Parteigenossen“. Sachsen zählte zu diesem Zeitpunkt 129 447 Politische Leiter und 449 708 „Parteigenossen“. Das Verhältnis zu den übrigen Gauen war von 10,8 auf 8,3 beziehungsweise von 9,4 auf 6,9 Prozent gesunken. Die quantitative Bedeutung des Gaues Sachsen innerhalb der NSDAP nahm also tendenziell ab.
3.
Soziale Praktiken der sächsischen NSDAP
Der zweite Aspekt einer Geschichte der sächsischen NSDAP nach 1933, dessen Bearbeitung trotz der schlechten Quellenlage lohnend erscheint, sind deren soziale Praktiken. Darunter sind jedoch nicht individuelle oder kollektive Handlungen von Funktionären oder Mitgliedern der NSDAP zu verstehen, wie sie etwa mit Alf Lüdtkes bekanntem Ansatz „Herrschaft als soziale Praxis“ in den Blick genommen werden müssten.22 Vielmehr wechsele ich die Referenz20 Sie sind nur für den Gau Groß - Berlin und für die Stadt Aachen vorhanden; siehe Jürgen W. Falter, Die Parteistatistische Erhebung der NSDAP 1939. Ergebnisse aus dem Gau Groß - Berlin. In : Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte. Festschrift zum 70. Geburtstag. Hg. von Thomas Nipperdey, Anselm Doering - Manteuffel und Hans- Ulrich Thamer, Berlin 1993, S. 175–203; Elmar Gasten, Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933–1944, Frankfurt a. M. 1993, S. 167–226. 21 Das Folgende nach : „Meldung über den Einsatz und die Bewährung der Parteigenossen im Wehrdienst oder anderweitigem Kriegsdienst seit dem 1. September 1939“, die der NSDAP - Reichsorganisationsleiter dem Reichsschatzmeister Anfang Oktober 1943 erstattete. In: Bundesarchiv Berlin, NS 1/664. Ich danke meinem Kollegen Michael Buddrus (Potsdam) für den Hinweis auf dieses wichtige Dokument. 22 Alf Lüdtke, Einleitung : Herrschaft als soziale Praxis. In : ders. ( Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial - anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9– 63, hier 9–18. Lüdtkes Konzept hängt an Akteuren und ist im Hinblick auf die hier verfolgte Perspektive unterkomplex. Ähnliches gilt für den Vorschlag von Sven Reichardt, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung. In : Sozial.Geschichte, 22 (2007), S. 43–65, der ebenfalls handlungstheoretisch fundiert ist.
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Die sächsische NSDAP nach 1933
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ebene und stelle soziale Systeme vom Typ „Organisation“ in den Mittelpunkt der Analyse. Organisationen operieren auf der Basis von Entscheidungen.23 Sie sind operativ geschlossene Systeme, die sich reproduzieren, indem sie immer wieder neu über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit von Personen, über Stellen und über Programme entscheiden. Als Organisation entschied die NSDAP mithin darüber, welche Personen ihr angehörten und welche nicht, welche Funktionsstellen sie Mitgliedern anbot und Nichtmitgliedern vorenthielt und welche Ziele sie mit welchen Mitteln verfolgte. Der Ansatz zieht zwei methodische Vorfestlegungen nach sich : Zum einen sind lediglich die Entscheidungen der NSDAP als Organisation von Interesse, zum anderen werden Individuen nur als Rollenträger in der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden in den Blick genommen. Das Besondere an einer Organisation ist, dass sie mit ihren Entscheidungen über sämtliche Mitglieder disponieren kann, und zwar auch, wenn diese abwesend sind. Eine Interaktion hingegen umfasst nur die Personen, deren körperliche Anwesenheit sichergestellt ist.24 Eine Organisation kann für alle Mitglieder sprechen und einen höheren Grad an Kollektivität erreichen als eine Interaktion. Sie ist zeitlich beständiger und insofern dazu in der Lage, komplexere Sachfragen zu bearbeiten. Jedoch bedarf auch sie der Interaktion, etwa im Entscheidungsprozess selbst. Diese Interaktionen bleiben immer an die Organisation gebunden, in der sie stattfinden; sie sind gerahmt und besitzen eine vergleichsweise geringe Variationsbreite. Die Anwesenden sind einander als Mitglieder der Organisation bekannt, die Wiederholung von Kontakten ist institutionalisiert und sie beobachten das Rollenverhalten und die Karrieren ihrer Kollegen. Die Themen der Interaktion sind durch die Organisation selbst vorgegeben und nicht ( mehr ) frei wählbar. In der NSDAP als Organisation lassen sich, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, sechs soziale Praktiken voneinander unterscheiden : Institutionalisierung, Gewalt, Kontrolle, Erziehung, Hilfe und Mobilisierung.25 Welche Personengruppen in diese Praktiken einbezogen wurden, hing von ihrem jeweiligen Mitgliedschaftsstatus in der NSDAP ab. Bei Gewalt, Erziehung und Hilfe stand die gegenseitige körperliche Anwesenheit im Mittelpunkt. Anhand der NS - Gewalt, die in erster Linie von SA, SS, HJ und NSKK ausging,26 lässt sich dies am ein23 Zum Folgenden Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 39–80; Dirk Baecker, Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a. M. 2007, S. 112–121. 24 André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a. M. 1999, S. 15–61; ders., Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens, Frankfurt a. M. 2004, S. 192–211. 25 Armin Nolzen, The Nazi Party’s operational codes after 1933. In : Bernhard Gotto / Martina Steber ( Hg.), Visions of Community in Nazi Germany : Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014 ( im Erscheinen ). 26 Zur Gewalt der sächsischen SA vor 1933 Benjamin Lapp, Revolution from the Right. Politics, Class, and the Rise of Nazism in Saxony, 1919–1933, Boston 1997; Claus Christian W. Szejnmann, Nazism in Central Germany : The Brownshirts in ‚Red‘ Saxony, New York 1999.
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dringlichsten zeigen. Sie zielte generell auf die bewusste Verletzung von Juden, „Asozialen“, Homosexuellen, Sinti und Roma sowie „Fremdvölkischen“ ab. Gewalt gegen Juden umfasste in Sachsen – wie andernorts – vier Formen : Morde sowie Misshandlungen, die Zerstörung jüdischen Besitzes durch Plünderungen, den Boykott jüdischer Geschäfte und die Aneignung jüdischen Vermögens, vor allen Dingen bei „Arisierungen“, die mit Gewaltdrohungen einhergingen.27 Das Tagebuch Victor von Klemperers, des Dresdener Romanisten, der als Jude während der NS - Zeit verfolgt wurde und trotzdem in der sächsischen Metropole ausharrte, führt die zerstörerischen Konsequenzen dieser Gewalt für ihre Opfer besonders drastisch vor Augen.28 Auch in Sachsen begingen lokale Aktivisten von Partei, SA, SS, HJ und NSKK viele Gewalttaten gegen Juden. Nach dem Strafgesetzbuch galt dies als illegal und hätte durch Polizei und Justiz verfolgt werden müssen. Die NS - Täter wurden jedoch vor Strafverfolgungen geschützt, besonders nach dem Pogrom vom 9. und 10. November 1938.29 Erst nach 1945 gingen deutsche Gerichte daran, die Pogromtäter abzuurteilen. Das zweite Beispiel für soziale Praktiken der sächsischen NSDAP ist die Erziehung, unter der die intentionale Änderung von Personen durch eine Einwirkung anderer Personen zu verstehen ist.30 Ein wichtiger Bestandteil dieser Erziehung war die „Schulung“, die von der NS - Forschung in der Regel unter dem Gesichtspunkt der weltanschaulichen Indoktrination behandelt wird. Dabei steht traditionell die „Schulung“ in den Gliederungen im Vordergrund.31 In den letzten Jahren hat sich die Analyseperspektive jedoch auf die angeschlossenen 27 Otto Dov Kulka / Eberhard Jäckel ( Hg.), Die Juden in den geheimen NS - Stimmungsberichten 1933–1945, Düsseldorf 2004, etwa die Dokumente Nr. 276, 359, 572–578, 641, 783, 811, 870 u. ö. ( CD - ROM ); Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 151 und 240. 28 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten. Tagebücher 1933–1945. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, 2 Bände, Berlin 1995. Generell Walter Nowojski, Victor Klemperer (1881–1960). Romanist – Chronist der Vorhölle, Berlin 2004. 29 Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London. Hg. von Ben Barkow, Raphael Gross und Michael Lenarz, Frankfurt a. M. 2008, S. 301– 307; Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011, S. 151–168. 30 Im Sinne von Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a. M. 2002, S. 48–81; ders., Schriften zur Pädagogik. Hg. und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt a. M. 2004, S. 111–122 und 187–208. Der Gegenbegriff ist „Sozialisation“. 31 Zu nennen sind an dieser Stelle nur Susanna Dammer, Kinder, Küche, Kriegsarbeit. Die Schulung der Frauen durch die NS - Frauenschaft. In : Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Hg. von der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt a. M. 1981, S. 215–245; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, S. 60–90; Jürgen Matthäus / Konrad Kwiet / Jürgen Förster / Richard Breitman ( Hg.), Ausbildungsziel Judenmord ? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen - SS im Rahmen der „Endlösung“, Frankfurt a. M. 2003; Dorothee Hochstetter, Motorisierung und „Volksgemeinschaft“. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps ( NSKK ) 1931–1945, München 2005, S. 91–102.
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Verbände erweitert, so dass mittlerweile auch die fachlichen Aspekte der „Schulung“ ( die gleichwohl stets ideologisch imprägniert waren ) aufgearbeitet worden sind.32 Nichtsdestotrotz existiert noch immer keine Gesamtdarstellung des weitverzweigten Schulungsapparates der NSDAP, und zwar weder auf der Zentralebene noch in den Regionen. Für Sachsen ist die Situation etwas besser, denn wenigstens gibt es einen Aufsatz, der erste Schneisen in das Thema schlägt.33 Im Gau Sachsen wie auch anderswo war „Schulung“ stets ein integraler Bestandteil der Kaderpolitik der NSDAP, und eine Teilnahme entschied über die innerparteilichen Karrieren ihrer Funktionäre maßgeblich mit. Wie dies exakt vonstattenging, lässt sich anhand der „geschlossenen Schulung“ zeigen, die aus 10–14 - tägigen Lehrgängen auf den Schulungsburgen der NSDAP im Reich sowie in den Gauen und Kreisen bestanden. Dort wurden Arbeitsgruppen eingerichtet und Kurse gegeben, um die Eignung der teilnehmenden Politischen Leiter für höhere Ämter zu überprüfen. Zu diesem Zweck entwickelte die Partei ein detailliertes Beurteilungssystem. Die daraus entstandenen Gutachten und Personalbeurteilungen dienten auch dazu, den Parteifunktionären Ehre und Reputation zuzuteilen. Viele Ortsgruppenleiter machten ihren Untergebenen den Besuch einer „geschlossenen Schulung“ zur Voraussetzung, damit sie zum Reichsparteitag der NSDAP nach Nürnberg fahren durften.34 Dies war für viele Politische Leiter ein einmaliges Erlebnis, das sie vor anderen „Parteigenossen“ auszeichnete. Neben der geschlossenen gab es allerdings auch die „offene Schulung“ in den Ortsgruppen, und zwar anlässlich von Mitgliederversammlungen oder speziellen Ortsgruppen - Schulungsabenden. Diese fanden zwischen 1934/35 und 1939/40 in der Regel einmal im Monat statt und begannen mit dem politischen Vortrag eines auswärtigen Redners, der eine Dreiviertelstunde dauerte.35 Es folgte eine Debatte, entweder im offenen Plenum oder in separaten Arbeitsgemeinschaften. Dabei wurden nationalsozialistische „Kampflieder“ einstudiert, etwa das „Horst - Wessel - Lied“ oder so martialische Titel „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt“. Die Teilnehmerzahl war nach oben auf 100 Personen be32 Andreas Kraas, Lehrerlager 1932–1945. Politische Funktion und pädagogische Gestaltung, Bad Heilbrunn 2004, S. 151–154 und 222–257; Thomas Maibaum, Die Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt - Rehse, Med. Diss. Hamburg 2007, S. 31–122; Folker Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, Tübingen 2008, S. 152–191. 33 Mike Schmeitzner, Totale Herrschaft durch Kader ? – Parteischulung und Kaderpolitik von NSDAP und KPD / SED. In : Totalitarismus und Demokratie, 2 (2005), S. 71–99, hier 79–85. Wichtig jetzt auch Christian Bunnenberg, „Daher sieht es die Partei als ihre vornehmste Aufgabe an ...“. „Schulungen“ als Instrumente der Differenzierung und Kontrolle. In: Nicole Kramer / Armin Nolzen ( Hg.), Ungleichheiten im „Dritten Reich“. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen, Göttingen 2012, S. 139–154. 34 Markus Urban, Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS - Reichsparteitage, 1933–1941, Göttingen 2007, S. 93–120. 35 Ausführlich Reibel, Fundament, S. 177–228. Eine gute Fallstudie ist Bernhard Gotto, Die NSDAP in Fürstenfeldbruck. In : Ferdinand Kramer / Ellen Latzin ( Hg.), Fürstenfeldbruck in der NS - Zeit. Eine Kleinstadt bei München in den Jahren 1933–1945, Regensburg 2009, S. 117–173, hier 144–153.
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schränkt, wobei die „Schulungsabende“ jedoch von weit weniger Besuchern frequentiert wurden. Daneben wurden auf Ortsgruppen - Ebene auch Wochenendlager abgehalten, bei denen paramilitärische Aktivitäten auf dem Dienstplan standen. Generell war die „Schulung“ in den Ortsgruppen antisemitisch, rassistisch und antikonfessionell ausgerichtet. Es ging darum, ihre Rezipienten an die NS - Ideologie zu binden. Dazu kamen Aspekte wie der Aufbau der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände, deren Dienst - und Disziplinarordnungen und deren Rangverhältnisse. In der „Parteistatistik“ wurden die „offene und geschlossene Schulung“ unter den Begriff „äußere Ausbildung“ der Politischen Leiter zusammengefasst. Im Gau Sachsen entfielen darauf im zweiten Halbjahr 1934 durchschnittlich vier Wochentage sowie 1,5 Sonntage ( Reich = 2,77 bzw. 1,39).36 Welche Wirkungen von der „Schulung“ in der NSDAP ausgingen, ist noch unklar. Es ist jedoch davor zu warnen, diese von vornherein herunterzuspielen. „Schulung“ war Erziehung, und deren Erfolge oder Misserfolge lassen sich nicht nach einem unterkomplexen Input - Output - Modell messen. Vielmehr wird es darauf ankommen, die Anschlusshandlungen der von der „Schulung“ betroffenen Personen in den Blick zu nehmen, um entscheiden zu können, ob sie den an sie herangetragenen Verhaltenserwartungen entsprachen oder nicht. Eine erste These lässt sich auf dem bisherigen Stand der Forschung gleichwohl schon formulieren : Es bedeutete einen Unterschied, ob jemand „Schulungen“ besuchte oder nicht. Das dritte und letzte Beispiel für die sozialen Praktiken der NSDAP, das ich hier vorstelle, sind deren Hilfeleistungen, deren Gewährung in der Regel an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wurde. „Hilfe“ war eine Tätigkeit, die sich hauptsächlich die angeschlossenen Verbände auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Diese werden gemeinhin als Organisationen gedeutet, die zwischen Lockung und Zwang oszillierten, also ihren Mitgliedern eine Vielzahl von sozialen, kulturellen und materiellen Vergünstigungen anboten, um sie zu integrieren, gleichzeitig aber auch danach strebten, ihre Angehörigen zu disziplinieren und mobilisieren. Dies trifft besonders für die DAF zu, bei der sich die NS Forschung lange Zeit mit dem Nachweis begnügt hat, dass sie eben keine Gewerkschaft im demokratischen Sinn war.37 Dies stimmt für die Aufbauphase, die bis 1935/36 dauerte. Danach entwickelte die DAF, bei aller Gigantomanie, immer gewerkschaftsähnlichere Züge und stellte ihren Mitgliedern vielfältige Sozialleistungen in Aussicht. Das wohl bekannteste Beispiel ist „Kraft durch Freude“ ( KdF ) mit den Ämtern „Schönheit der Arbeit“, Volksbildung, Feier36 Parteistatistik, Band II, S. 482. 37 Pars pro toto Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999; Ein Koloß auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936. Hg. und eingel. von Rüdiger Hachtmann, München 2006, S. 7–92; ders., Chaos und Ineffizienz in der Deutschen Arbeitsfront. Ein Evaluierungsbericht aus dem Jahr 1936. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53 (2005), S. 43–78; ders., Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront 1933–1945, Göttingen 2012. Hachtmann bereitet weitere Monografien zur Geschichte der DAF vor.
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Die sächsische NSDAP nach 1933
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abendgestaltung und KdF - Wagen.38 Weiter zu nennen sind die DAF - Rechtsberatungsstellen, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen, die das Frauenamt in Kooperation mit der Reichsfrauenführung der NSDAP in Angriff nahm, die Gesundheitsämter und die Heilfürsorge am Arbeitsplatz, sowie auch Berufsbildung und fachliche Weiterbildung. Der Gau Sachsen stand bei diesen Maßnahmen auf den ersten Plätzen, wie sich aus Leistungsberichten der DAF ergibt.39 Zwar diente dieser angeschlossene Verband in erster Linie der „Sicherung des Arbeitsfriedens“, besaß also eine disziplinierende Funktion. Die reale Integrationskraft der DAF - Sozialpolitik für die Arbeiterschaft sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Die DAF gewährte Hilfe nur bei politischem Wohlverhalten, und der Mechanismus, über den sie dies kontrollierte, war der Mitgliedschaftsstatus. Dies war in der NSV anders, denn hier war Hilfe an „rassenbiologischen Kriterien“ orientiert und bedurfte nicht unbedingt einer Zugehörigkeit zu dieser Organisation.40 Die NSV bestand aus dem Amt Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe, das für die Kooperation mit kommunalen Behörden sorgte, dem Amt für Anstalts - und Sonderfürsorge, dem der Bahnhofsdienst, die Fürsorge für Strafentlassene, die „Betreuung“ der Rückwanderer aus dem Ausland, die Hilfe für Körperbehinderte, Gehörlose, Taubstumme und Blinde, die Alters - , Obdachlosen - und Trinkerfürsorge und die Rauschgift - und Seuchenbekämpfung oblag, sowie dem Amt für Familienhilfe und Wohnungsfürsorge, das Angelegenheiten des „Hilfswerks Mutter und Kind“ behandelte. Das „Hilfswerk Mutter und Kind“ gewährte kinderreichen Familien, aber auch allein erziehenden Müttern, Arbeitsplatz - und Wohnungshilfen, medizinische Unterstützung und bot Kinderbetreuung an. Dessen Bilanz im Gau Sachsen scheint, glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, durchaus beeindruckend gewesen zu sein.41 Alle Hilfsmaßnahmen konnten von Behörden und Einzelpersonen bean-
38 Zum Folgenden Wolfhard Buchholz, Die nationalsozialistische Gemeinschaft „Kraft durch Freude“. Freizeitgestaltung und Arbeiterschaft im Dritten Reich, Phil. Diss. München 1976; Matthias Frese, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933– 1939, Paderborn 1991; Daniela Liebscher, Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit - und Sozialpolitik des faschistischen Italiens und des NS - Regimes, Köln 2009. 39 Otto Marrenbach ( Hg.), Fundamente des Sieges. Die Gesamtarbeit der Deutschen Arbeitsfront 1933–1940. Unter Mitwirkung der Amtsleiter des Zentralbüros der DAF, Berlin 1941. 40 Dazu Herwart Vorländer, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988; Eckhard Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS - Staat. Motivation, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Augsburg 1991; Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS - Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999. 41 Dazu die Sonderbeilage „10 Jahre Hilfswerk Mutter und Kind“. In : NSV - Propaganda Dienst des Amtes für Volkswohlfahrt, Gau Sachsen. Hg. von der Hauptstelle Werbung und Schulung des Gauamts für Volkswohlfahrt, Heft 2, Dresden 1944. Die beste Regionalstudie zum „Hilfswerk Mutter und Kind“ ist Peter Zolling, Zwischen Integration und
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tragt werden und setzten eine amtsärztliche Untersuchung der Mutter voraus, um deren „rassische Eignung“ zu prüfen. Leistungen des „Hilfswerks Mutter und Kind“ waren demzufolge an einen positiven „Rassewert“ gebunden.
4.
Schlussbetrachtung
Die Geschichte der NSDAP in Sachsen nach 1933 ist aufgrund der disparaten Quellenlage nicht im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Synthesen darstellbar. Dies gilt nicht nur für die Partei, sondern auch für jede einzelne Gliederung sowie jeden einzelnen angeschlossenen Verband. Ihre innere Entwicklung dürfte aus den wenigen überlieferten Dokumenten nicht mehr erschöpfend zu rekonstruieren sein. Die Außenbeziehungen der NSDAP zu staatlicher Verwaltung, Wehrmacht und Wirtschaft können höchstens im Rahmen von Lokal - und Betriebsstudien dargestellt werden, die jedoch nur von begrenzter Reichweite sind. Deshalb plädiere ich dafür, die Entwicklung der sächsischen NSDAP nach 1933 nicht auf eine primär chronologisch - genetische, sondern auf eine sachsystematische Art und Weise in den Blick zu nehmen. Zwei Untersuchungsfelder scheinen mir dabei besonders lohnenswert zu sein : die Sozialstruktur der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände und deren soziale Praktiken. Die Sozialstrukturanalyse kann sowohl horizontal wie vertikal erfolgen. Sie könnte sich auf die Mitglieder und Funktionäre der Partei, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände in den Gau - , Kreis - und Ortsgruppenstäben oder auf eine einzelne Organisation beziehen, etwa DAF oder NSV. Die sozialen Praktiken der NSDAP wiederum sollten als gegenwartsbasierte Operationen untersucht werden, und zwar als Entscheidungen, die weitere Entscheidungen erforderten und nach sich zogen.42 Diese operative Herangehensweise ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass die NSDAP ein soziales System vom Typ „Organisation“ war, das über seine Mitglieder eigenverantwortlich entschied. Ihre sozialen Praktiken müssen insofern mit dem Mitgliedschaftsstatus von Personen korreliert werden. Für die hier erwähnten Beispiele hieße das zu analysieren, inwieweit Gewaltausübung materielle Vorteile brachte, eine spezifische Aneignung der „Schulung“ innerparteiliche Karrieren beschleunigte und die Inanspruchnahme von Hilfe Wohlverhalten erzeugte, dokumentiert etwa durch die Intensität individuellen Einsatzes für die jeweilige NS - Organisation. Dazu wird jedoch es vonnöten sein, Sozialstruktur und soziale Praktiken der NSDAP mit deren Mitgliederlenkung zu verzahnen. Zum Abschluss drei weiterführende Hypothesen, die eine Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen anhand des Gaues Sachsen der NSDAP versuSegregation. Sozialpolitik im „Dritten Reich“ am Beispiel der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ ( NSV ) in Hamburg, Frankfurt a. M. 1986, S. 198–223. 42 Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 2009, S. 385– 396; ders., Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011, S. 19–36.
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Die sächsische NSDAP nach 1933
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chen. Erstens entwickelte sich dort seit 1933, wie tendenziell im gesamten Deutschen Reich, eine in der Partei, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden organisierte Gesellschaft, was es ratsam erscheinen lässt, die in der NS - Forschung dominierende Dichotomie zwischen „Herrschaft“ und „Gesellschaft“ aufzulösen. Zweitens war die NSDAP nicht in erster Linie ein Apparat der Sozialdisziplinierung und sozialen Kontrolle, sondern der Ermöglichung. Ihre Organisationen ermöglichten ihren Mitgliedern etwas, das sie ihren Nichtmitgliedern verwehrten, und daraus erklärt sich ein Großteil ihrer Attraktivität. Drittens mutierte die NSDAP zum funktionalen Äquivalent für politische Partizipation und schuf unzählige Funktionärsposten, in denen sich viele Sachsen für den NS - Staat engagierten. Von hier aus wären die personellen Kontinuitäten zu untersuchen, die sich nach dem Zusammenbruch des NS - Staates und dem Aufbau einer staatssozialistischen Diktatur in Sachsen ergaben. Dabei sind drei Gesichtspunkte von Interesse : die frühere Zugehörigkeit von Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ) zur NS - Bewegung, die vormalige Mitgliedschaft ihrer Kreis - und Bezirkssekretäre in NS - Organisationen sowie die Frage nach der HJ - Sozialisation führender SED - Kader. Der Jenenser Soziologe Heinrich Best und sein Team haben gezeigt, wie fruchtbar solche Analysen sein können.43 Für Thüringen und einige SED - Zentralorgane beispielsweise ist eine NS - Belastung zwischen 15 und 35 Prozent auszumachen.44 Für Westdeutschland lässt sich aus den mittlerweile vorliegenden kollektivbiografischen Analysen einiger Landtage eine ähnlich hohe NS - Belastung erkennen. Die NSDAP hat also eine Fundamentalpolitisierung der deutschen Gesellschaft bewirkt, auf der die politischen Nachfolgesysteme der BRD und der DDR aufbauen konnten. Das NS - Regime schuf eine in vielerlei Hinsicht „politisierte Generation“, welche beide deutsche Nachfolgestaaten bis in die späten 1980er Jahre hinein prägte.
43 Siehe die Beiträge von Heinrich Best, Sandra Meenzen, Jens Kuhlemann, Axel Salheiser und Armin Müller. In : Historical Social Research, 35 (2010), Heft 3. Wichtig weiterhin Henry Leide, NS - Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005. 44 Heinrich Best / Sandra Meenzen, „Da ist nichts gewesen !“ SED - Funktionäre mit NSDAP - Vergangenheit in Thüringen. In : Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 43 (2010), S. 222–231; Sandra Meenzen, Der Fall Hans Bentzien. Hitlerjunge, NSDAP - Mitglied und 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Jena - Stadt. In : Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahrsschrift für Zeitgeschichte und Politik, II (2010), S. 9–12; dies., Konsequenter Antifaschismus ? Thüringische SED - Sekretäre mit NSDAPVergangenheit, Erfurt 2011.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP in den Jahren 1937 bis 1942. Eine soziographische Annäherung1 Stephan Dehn
1.
Einleitung
In Anbetracht der erdrutschartigen Erfolge der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( NSDAP ) bei den Wahlen im Sommer und Herbst 1930 vertraute Harry Graf Kessler im Oktober des Jahres seinem Tagebuch folgende Sätze an : „Den ganzen Nachmittag und Abend große Nazimassen [...]. Die Nazis, die demonstrierten, bestanden zum größten Teil aus halbwüchsigem Lumpenproletariat [...]. Nie habe ich soviel richtiges Lumpenproletariat gesehen.“2 Der Berliner Diplomat deutete mit diesen Überlegungen auf eine Frage hin, deren Beantwortung sich seit jener Zeit Historiker, Sozialwissenschaftler und Publizisten gleichermaßen widmen : „Wer waren die Nationalsozialisten ?“3 Im vorliegenden Aufsatz wird diese Frage ebenfalls gestellt, wobei der Untersuchungsgegenstand eine Einschränkung erfährt, indem er ausschließlich die Gruppe der Kreisleiter, das heißt die untere, regionale Funktionärselite der NSDAP, in die Analyse einbezieht.4 Als räumliche Trennlinien gelten die Gren-
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Der vorliegende Text fasst die Ergebnisse der Magisterarbeit des Autors, die im Jahr 2010 am Historischen Seminar der Universität Leipzig vorgelegt wurde, zusammen. Vgl. Stephan Dehn, Die Kreisleiter im NS - Gau Sachsen – Eine soziographische Vergleichsstudie, Leipzig 2010, Mag. masch. Wolfgang Pfeiffer - Belli ( Hg.), Harry Graf Kessler – Tagebücher 1918–1937, Wiesbaden 1996, S. 384. Grundlegend hier Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes – Ein soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1932, S. 109 f.; Theodore Abel, Why Hitler Came into Power, New York 1966 ( unveränderte Neuauflage von 1938); Hans Gerth, The Nazi Party – Its Leadership and Composition. In : American Journal of Sociology, 45 (1940), S. 517–540; Sebastian Haffner, Germany : Jekyll and Hyde, London 1940, S. 43 f.; Ernest Doblin / Claire Pohly, The Social Composition of the Nazi - Leadership. In : American Journal of Sociology, 51 (1945/46), S. 42–49; Daniel Lerner, The Nazi Elite, Stanford 1951. Zur Definition des Begriffes Soziographie vgl. Karl - Heinz Hillmann, Soziographie. In: ders. ( Hg.), Wörterbuch der Soziologie, 5. Auflage Stuttgart 2007, S. 835; Justin Stagl, Soziographie. In : Günter Endruweit / Gisela Trommsdorff ( Hg.), Wörterbuch der Sozio-
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zen des NS - Gaues Sachsen. Untersuchungszeitraum werden die Jahre 1937 bis 1942 sein.5 Durch diese personelle, geographische und zeitliche Begrenzung des Forschungsgegenstandes soll ansatzweise ein Soziogramm entstehen, welches das damit skizzierte Sozialprofil der sächsischen Kreisleiter mit anderen Gruppen innerhalb der NSDAP vergleichbar macht.6 In drei Teilen werden im Folgenden erste Schritte zur historiographischen Annäherung an das Thema „nationalsozialistische Kreisleiter in Sachsen“ unternommen. Seit eineinhalb Jahrzehnten erscheinen in konstanter Regelmäßigkeit Studien zu Kreisleitern der verschiedenen NS - Gaue des Deutschen Reiches. Grund genug, zunächst den diesbezüglichen Forschungsstand knapp zusammenzufassen und die zentralen Aussagen der betreffenden Arbeiten festzuhalten. Danach geht es um das Amt des Kreisleiters an sich. Zum einen werden Genese und Geschichte dieser Position im NS - Machtapparat rekonstruiert und analysiert, zum anderen soll der Kreisleiter mit seinem Aufgabenbereich im polykratischen System des nationalsozialistischen Staates verortet werden. Besonders dieser Aspekt kann hier nur unter normativen Gesichtspunkten behandelt werden. Im abschließenden Teil des Textes soll auf Grundlage ausgewählter biographischer Daten der sächsischen Kreisleiter ein Soziogramm erstellt werden, welches die drei übergeordneten Fragen nach Herkunft, Mobilität und Parteikarriere zu beantworten sucht.
2.
Bisherige Studien zu den Kreisleitern der NSDAP
Erste wissenschaftliche Untersuchungen zu Mitgliedern der NSDAP entstanden bereits in den 1930er Jahren.7 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es zu einer allerdings selektiven gesellschaftliche Debatte über die Täterschaft im
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logie – Band 3, Stuttgart 1989, S. 655; Rudolf Heberle, Soziographie. In : Alfred Vierkandt ( Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 564. Die Beschränkung auf die Periode zwischen 1937 und 1942 ist der Quellendichte für diesen Zeitraum geschuldet, als primäre Informationsbasis wurden die Ausgaben des nationalsozialistischen Adressenwerks benutzt, die in mehreren Auflagen in dieser Zeit erschienen. Vgl. Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP mit den angeschlossenen Verbänden, des Staates, der Reichsregierung und Behörden und der Berufsorganisationen in Kultur, Reichsnährstand, gewerbliche Wirtschaft : Reichsband. Hg. von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei, Berlin 1937, S. 15–33 ( weitere Ausgaben 1939, S. 19–43; 1942, S. 21–45). Vgl. Beitrag Nolzen in diesem Band. Der amerikanische Soziologe Thedore Abel hat im Jahr 1934 mit Hilfe eines Schreibwettbewerbs innerhalb der NSDAP mehr als 600 Lebensläufe von Parteimitgliedern zusammentragen und auswerten können, vgl. dazu Abel, Hitler. Auflistung der Biographien aus Abels Sammlung ( http ://oac.cdlib.org / findaid / ark :/13030/ tf3489n5vz; 10. 3. 2012); Peter Merkl, Political Violence under the Swastika – 581 Early Nazis, Princeton 1975.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Nationalsozialismus.8 Erste Analysen – vor allem die Studien des kanadischen Historikers Michael Kater – zur sozialen Zusammensetzung dieser Partei erschienen jedoch erst in den 1970er und 1980er Jahren. Anders als Wissenschaftler vor ihm, benutzte Kater für seine Analyse nicht mehr nur Angaben aus Eigen - Publikationen der NSDAP oder Selbstaussagen von Parteimitgliedern, sondern auch Personenlisten und Unterlagen aus verschiedenen Archivbeständen. Katers Methodik und damit auch seine Arbeiten können als wegweisend für die folgenden Studien angesehen werden.9 Nach ersten Aufsätzen zur sozialen Zusammensetzung des Kreisleiterkorps Anfang der 1990er Jahre folgten umfangreiche Studien zu dieser Personengruppe.10 In den Jahren 1997 und 1998 erschienen mit den Dissertationen von Claudia Roth11 und Christiane Arbogast12 ausführliche Arbeiten, die beide im Kern zwei Fragen nachgehen. Zum einen untersuchen sie, welchen Platz die Gruppe der Kreisleiter im großen Soziogramm der NSDAP einnahm, zum anderen, welchen Herrschaftsrahmen sich die Kreisleiter in ihrem Amtsbereich in den süddeutschen Gauen sichern konnten.13 Roth kommt zu dem Ergebnis, dass die bayrischen Kreisleiter eine Gruppe junger, karrierebewusster und sich der religiösen Tradition Bayerns widersetzender Männer innerhalb des regionalen Machtapparates der NSDAP waren.14 Das Sozialprofil der württembergischen Kreisleiter zeigt hierzu klare Ähnlichkeiten. Es handelt sich bei ihnen ebenfalls um eine Gruppe relativ junger15, aus dem mittelständisch und mehrheitlich
8 Empfehlenswert diesbezüglich der von Rohl und Perles im Jahr 2011 herausgegebene Sammelband zur Täterforschung, vgl. Rolf Pohl / Joachim Herles ( Hg.), Normalität der NS - Täter ? Eine kritische Auseinandersetzung, Hannover 2011. 9 Vgl. Michael Kater, Zur Soziographie der frühen NSDAP. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 19 (1971), S. 124–159; ders., Sozialer Wandel in der NSDAP im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung. In : Wolfgang Schieder ( Hg.), Faschismus als soziale Bewegung – Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 25– 67; ders., The Nazi Party : A Social Profile of Members and Leaders, 1919–1945, Cambridge, MA 1983; ders., Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS - Bewegung vor 1933. In : Geschichte und Gesellschaft, 11 (1985), S. 217–243. 10 Vgl. Barbara Fait, Die Kreisleiter der NSDAP – nach 1945. In : Martin Broszat / Klaus Dietmar Henke / Hans Woller ( Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform – Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1990, S. 213–299; Christine Arbogast / Bettina Gall, Aufgaben und Funktionen des Gauinspekteurs, der Kreisleitung und der Kreisgerichtsbarkeit der NSDAP in Württemberg. In : Cornelia Rauh - Kühne / Michael Ruck ( Hg.), Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie – Baden und Württemberg 1930–1952, München 1993, S. 151–169. 11 Vgl. Claudia Roth, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997. 12 Christine Arbogast, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP – Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS - Elite 1920–1960, München 1998. 13 Vgl. Roth, Parteikreis, S. 10 und Arbogast, Herrschaftsinstanzen, S. 10 f. 14 Vgl. ebd., S. 500. 15 Knapp zwei Drittel der Kreisleiter gehörten den Geburtsjahrgängen zwischen 1896 und 1905 an. Vgl. Arbogast, Herrschaftsinstanzen, S. 137.
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evangelisch geprägten Milieu stammender Politiker, die im lokalen Rahmen eine breite Machtbasis besaßen.16 Seit den späten 1990er Jahren erschienen außerdem verschiedene Arbeiten, die mit Methoden der Biographik einzelne regionale Eliten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorstellen und diskutieren.17 Auch die Dissertation von Rolf Königstein über die janusköpfige Entwicklung zwischen Befehlsempfang und Machtakkumulation des NSDAP - Kreisleiters Alfred Dir im württembergischen Backnang ist diesem Forschungstrend zuzuordnen.18 Vor knapp zehn Jahren verlagerte sich der regionale Schwerpunkt der Kreisleiter - Forschung auf die westlichen Gebiete des Deutschen Reiches. Die Arbeiten von Peter Klefisch und Wolfgang Stelbrink liefern ebenfalls zwei sich deutlich ähnelnde Soziogramme der NSDAP - Kreisleiter.19 Die Kreisleiter in den drei von Klefisch untersuchten Gauen waren relativ junge Vertreter der Parteielite, die cum grano salis um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert geboren wurden. Erstaunlich ist, dass im Gegensatz zur dominierenden katholischen Religionszugehörigkeit im oberen Rheinland, die Kreisleiter im Gau Düsseldorf mehrheitlich dem evangelischen Glauben anhingen.20 Das Soziogramm der westfälischen Kreisleiter ähnelt denen in den schon vorliegenden Studien, sie waren eine ebenso junge Gruppe wie ihre Amtskollegen in Süddeutschland. Der überproportionale Anteil von Protestanten innerhalb des untersuchten Samples steht eindeutig im Gegensatz zur Konfessionsverteilung unter der Bevölkerung in den beiden westfälischen Gauen.21 Studien zur Soziographie der NSDAP - Kreisleiter in den nördlichen Gauen des Deutschen Reiches wurden vor wenigen Jahren von Michael Rademacher und Sebastian Lehmann vorgelegt.22 Beide Arbeiten sind inhaltlich wiederum zweigeteilt, zum einen diskutieren die Autoren die Frage nach der Erweiterung des Herrschaftsbereiches der Kreisleiter nach 1933 im Kontext des polykratischen NS - Staates und zum anderen bieten beide Untersuchungen eine gründliche soziographische Analyse des Kreisleiter - Korps in Norddeutschland. Hinsichtlich der gruppenbiographischen Eigenschaften weist Rademacher nach, dass sich vor allem die Altersstruktur der Kreisleiter in diesem Gebiet des Deutschen Reiches latent von den schon bekannten Angaben unterscheidet. Genau die Hälfte der ermittelten Kreisleiter wurde in den Jahren zwischen 1891 und 16 Vgl. ebd., S. 130 und S. 140. 17 Wegweisend hier : Michael Kißener / Joachim Scholtyseck ( Hg.), Die Führer der Provinz – NS - Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997. 18 Vgl. Rolf Königstein, Alfred Dir – NSDAP - Kreisleiter in Backnang – Ein Nationalsozialist und die bürgerliche Gesellschaft, Backnang 1999, hier besonders S. 296 f. 19 Vgl. Peter Klefisch ( Bearb.), Die Kreisleiter der NSDAP in den Gauen Köln - Aachen, Düsseldorf und Essen, Düsseldorf 2000; Stelbrink, Kreisleiter Westfalen. 20 Vgl. Klefisch, Kreisleiter, S. 15 f. 21 Vgl. Stelbrink, Kreisleiter Westfalen, S. 17 f. und S. 30. 22 Vgl. Michael Rademacher, Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser - Ems, Marburg 2005; Sebastian Lehmann, Die Kreisleiter der NSDAP in Schleswig - Holstein – Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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1900 geboren, nur ein knappes Viertel in der darauffolgenden Dekade.23 Das Altersprofil der NSDAP - Kreisleiter aus Schleswig - Holstein ist fast kongruent mit den Ergebnissen der oben genannten Untersuchung zu dieser Personengruppe.24 Eine deutliche Sprache spricht die schichtenspezifische Herkunft : Die Kreisleiter in Schleswig - Holstein stammten aus der Mitte der damaligen Gesellschaft, sie hatten ihre Wurzeln im für die Region typischen kleinbürgerlichen, ländlich - protestantischen Sozialmilieu.25 Diese kurze Zusammenfassung der bisher erfolgten Forschung zu den NS Kreisleitern macht deutlich, dass sich diese Arbeiten geographisch mit den westlichen Gebieten des Deutschen Reiches befassten. Die drei archivalischen Hauptsäulen der besprochenen Arbeiten stellen dabei Parteiakten aus dem ehemaligen Berlin Document Center, die Urteile von Spruchkammern und Entnazifierungsakten sowie Personalakten aus staatlichen und kommunalen Archiven der Bundesrepublik. Ergänzende Informationen bieten Publikationen der NSDAP.26 Obwohl die lokale Aktenüberlieferung zur NS - Zeit bisweilen disparat sein kann, hatten die Verfasser dieser Studien den Vorteil, auf große Unterlagenbestände der Entnazifizierungsverfahren in den westlichen Besatzungszonen zurückgreifen zu können. Für die ehemaligen mittel - und ostdeutschen Gaue trifft dies nicht zu. Offenbar sind aufgrund der schwierigen Quellenlage hier bisher noch keine Studien zu Kreisleitern erschienen. Im Jahr 2012 hat die Historikerin Annekatrin Jahn mit einem Beitrag über die Dresdner Kreisleiter Cuno Meyer und Hellmut Walter den ersten Schritt in Richtung Lebens - und Herrschaftsanalyse dieser Parteifunktionäre im Gau Sachsen unternommen.27 Sie skizziert dabei die Lebenswege der beiden Kreisleiter und analysiert zum einen deren Aufstieg (und Fall) innerhalb der Partei und zum anderen ihren jeweiligen Herrschaftsanspruch, der sich zum Beispiel in einer permanenten, aggressiven ideologischen Rhetorik ausdrückte.28
3.
Aufgaben und Kompetenzen der NSDAP - Kreisleiter
Die Kreisleitung stellte eine späte Organisationseinheit der NSDAP dar. Seit 1920 waren die Ortsgruppen direkt an die Zentrale in München gebunden. Nach Wiedergründung der NS - Partei im Februar 1925 stieg die Anzahl der Ortsgruppen relativ schnell an. Hitler und sein Umfeld berieten daher eine drin23 24 25 26
Vgl. Rademacher, Kreisleiter Weser - Ems, S. 187. Vgl. Lehmann, Kreisleiter Schleswig - Holstein, S. 34. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe – Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003, S. 13 f. 27 Vgl. Annekatrin Jahn, Cuno Meyer und Hellmut Walter – Dresdens NSDAP - Kreisleiter. In : Christine Pieper / Mike Schmeitzner / Gerhard Naser ( Hg.), Braune Karrieren – Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 51–57. 28 Vgl. ebd., S. 54 f.
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gende Novellierung der Organisationsstruktur, mit dem Ergebnis, dass die Partei in Gaue, Bezirke und Ortsgruppen gegliedert wurde. Freilich konnte die NSDAP - Führung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre noch nicht auf eine befriedigende Organisationsstruktur im gesamten Reich bauen – Größe und Form der Gaue entsprachen meist den räumlichen Aktionsgrenzen der Parteigenossen vor Ort. Die frühen 1930er Jahre zeichneten sich durch eine allmähliche Entwicklung der jeweiligen Partei - Bezirke ab. Der steigende Wählerzuspruch, eine Vermehrung der Ortsgruppen auf knapp 12 00029 und die angestrebte – und in Kürze erhoffte – Machtübernahme verlangten nach einer engmaschigen und verlässlichen regionalen Parteistruktur der NSDAP. Mit der „Dienstvorschrift für P. O. der NSDAP“30 vom Juli 1932 sollte das Organisationschaos beendet und reichseinheitliche Strukturen geschaffen werden. Gleich zu Beginn der Anordnung wies Gregor Straßer darauf hin, dass „diese Organisationsformen nicht am grünen Tisch erdacht, von oben her befohlen worden, sondern [...] organisch aus den Notwendigkeiten des Tageskampfes und des Zieles der Bewegung von unten herausgewachsen“31 sind. Mit dieser Dienstvorschrift wurde der Partei - Kreis geschaffen, der in der Gliederung seine Stelle zwischen NS - Gau und Ortsgruppe einnahm. Territorial musste sich der Kreis an die bestehenden staatlichen Verwaltungsstrukturen anpassen, das heißt in etwa dem Gebiet einer sächsischen Amtshauptmannschaft oder kreisfreien Stadt entsprechen.32 Der Amtsleiter an der Spitze des Parteikreises war der Kreisleiter, der vom Gauleiter berufen und vom „Führer“ Adolf Hitler ernannt wurde. Kandidaten für einen solches Parteiamt mussten sich durch entsprechende „Eignung“33 auszeichnen. Der Kreisleiter sollte „ein Vorbild im persönlichen Auftreten, in der Dienstauffassung und im außerdienstlichen Lebenswandel sein. [...] Die zweite Pflicht ist unbedingte Gerechtigkeit. Jede Vetternwirtschaft hat zu unterbleiben. [...] Deshalb kümmere Dich auch nur um Deine Aufgabe und nimm nicht mehr Ämter an, als Du ganz und voll erfüllen kannst, aber dieses Amt erfülle ganz.“34 Laut Definition des Jahres 1932 war der Kreisleiter ein Hoheitsträger der politischen Organisation; er avancierte zum Befehlsträger und Verantwortlichen zur Durchsetzung der Anordnungen von höheren Ebenen. Zweifellos verfügte er damit auch über die Disziplinargewalt in seinem Amtsbereich. Der Tätigkeitsbereich des Kreisleiters beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen noch auf innerparteiliche Felder : Organisation des Wahlkampfes, die weitere Werbung von Mitgliedern und das problemlose Funktionieren des ihm unterstellten Parteiapparates. Diese Aufgabenverteilung passte ideal in das „Führer“System der Nationalsozialisten.35 29 30 31 32 33 34 35
Vgl. Fait, Kreisleiter 1945, S. 219. Gregor Straßer ( Hg.), Dienstvorschrift für die P. O. der NSDAP, München 1932. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 41. Ebd. Vgl. ebd., S. 45 f.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Als die NSDAP im Verlauf des Jahres 1933 Staatspartei wurde, erhöhte sich die Stellung der Kreisleiter.36 Die Dienstvorschrift vom Sommer 1932 galt zwar weiterhin, wurde aber erweitert, das konkrete Aufgabengebiet der Kreisleiter allerdings nur vage umrissen. Seine Zuständigkeit reichte jetzt von der politischen und weltanschaulichen Erziehung der gesamten Bevölkerung innerhalb seines Verantwortungsbereichs bis hin zum Recht, Veranstaltungen und Handlungen zu verbieten, die den Ansichten der NSDAP widersprachen.37 Mit dieser wenig konkreten Formulierung schienen dem Kreisleiter normativ kaum Grenzen gesetzt. Ein erster und der offensichtlichste Hinweis auf einen Macht - und Kompetenzzuwachs des Kreisleiters ist die ab 1933 beinahe schon logische materielle und personelle Aufstockung seines Arbeitsbereiches. 1935 umfasste der engere Stab eines Kreisleiters allein innerhalb der Kreisgeschäftsstelle sieben hauptamtliche Mitarbeiter38, die für die Bereiche Schule, Personalamt, Organisation, Geschäftsführung, Kasse, Propaganda und Presse zuständig waren.39 Ein weiteres Indiz für die starke Machtposition der Kreisleiter waren ihre Mitsprache und Entscheidungsrechte innerhalb der Partei oder den angeschlossenen Verbänden. „Dem Kreisleiter steht das Recht zu, sämtliche politische Leiter seines Hoheitsbereiches, ausgenommen Kreisamts - , Ortsgruppen - und Stützpunktleiter, mit der Leitung zu beauftragen, zu ernennen, zu beurlauben oder abzuberufen.“40 Roth ist demzufolge zuzustimmen, wenn sie schreibt : „dass letztlich kein Parteifunktionär ohne nachdrückliche Billigung des Kreisleiters in eine führende Position [...] gelangen konnte.“41 Hinzu kam, dass deren Einfluss oftmals die Grenzen der parteiinternen Angelegenheiten überschritt. In den Tagen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hatten lokale Parteiführer und ihre Helfer nahezu freie Hand bei der „Beseitigung“ von unliebsamen kommunalen Angestellten. Diese Aktionen dienten häufig der eigenen Versorgung, bedachte sich doch mancher Kreisleiter selbst mit dem Amt des Oberbürgermeisters oder Amtshauptmannes. Parteileitung und Regierung wollten solche Machtakkumulationen unbedingt verhindern und erließen nach zahlreichen Ermahnungen und Monita im Jahr 1939 ein Gesetz, das den Kreisleitern Personalunionen mit staatlichen Funktionen verbot.42
36 Die Anzahl der Kreise der NSDAP im Deutschen Reich betrug im Jahr 1935 855 – fünf Jahre später war die Zahl auf 882 angewachsen. Obwohl im Kerngebiet des Reiches deren Anzahl reduziert wurde, kamen durch die Annektierungen immer neue Kreise dazu. Vgl. Roth, Parteikreis, S. 121. 37 Vgl. Robert Ley ( Hg.), Organisationsbuch der NSDAP, München 1936, S. 132 f. 38 Nach Roth konnten dem Kreisleiter auch bis zu 30 Mitarbeiter zugeordnet werden. Vgl. Roth, Parteikreis, S. 1. 39 Vgl. Ley, Organisationsbuch, S. 133. 40 Ebd., S. 131. 41 Roth, Parteikreis, S. 114. 42 Vgl. Fait, Kreisleiter, S. 222.
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Die Kreisleiter mussten indes keineswegs einen Machtverlust auf kommunaler oder staatlicher Ebene befürchten. Mit Erlass der Deutschen Gemeindeordnung (DGO) im Januar 1935 wurden sie zum Beauftragten der NSDAP in der Gemeinde bestimmt, der die „Sicherung des Einklangs der Gemeindever waltung mit der Partei“43 gewährleisten sollte. Die Rechte und Pflichten des Beauftragten der NSDAP formulierte Rudolf Heß 1936 in den „Anweisungen des Stellvertreter des Führers an die Beauftragten der NSDAP“ unter Punkt 8 : „Der Parteibeauftragte wirkt, wie die DGO ausdrücklich feststellt, nur in bestimmten Angelegenheiten mit, es [...] sind ihm ganz bestimmte gesetzliche Gebiete vorbehalten.“44 Der Kreisleiter besaß bei der Berufung und Abberufung des Bürgermeisters, Beigeordneten und Gemeinderäten Entscheidungsgewalt, außerdem entschied er über den Erlass der Hauptsatzung und die Verleihung sowie Aberkennung von Ehrenbürgerrechten und Ehrenbezeichnungen.45 Der Kommentar zur DGO vom 30. Januar 1935 enthält einen Passus zur rechtlichen Stellung und Pflicht des Beauftragten der NSDAP: „Da der Beauftragte kein Organ der Gemeindeverwaltung im besonderen kein Ehrenbeamter [...] ist, so obliegen ihm auch keine Beamtenpflichten, namentlich nicht die Pflicht der Amtsverschwiegenheit [...]. Daraus folgt zugleich, dass der Bürgermeister – abgesehen von seinen Ordnungsbefugnissen in der Beratung der Gemeinderäte [...] – gegen den Beauftragten dienststrafrechtlich nicht vorgehen kann.“46 Damit waren dem Kreisleiter auch in den kommunalen - staatlichen Strukturen erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten zugesprochen worden, vor allem auf dem Gebiet der Personalpolitik konnte sein Vorschlags - und Vetorecht die Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Die Kompetenzen eines Kreisleiters beschränkten sich nicht nur auf die Personalpolitik, sondern umfassten auch Bereiche der Überwachung und Kontrolle. Hierzu zählte zum einen der in verschiedenen Beispielen dokumentierte Austausch mit dem Sicherheitsdienst ( SD ) und der Geheimen Staatspolizei (Gestapo ).47 Zum anderen konnte der Kreisleiter über „Politische Beurteilungen“ entscheiden. Die „Tradition der Politischen Beurteilung“ entstand im Zuge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933. Infolgedessen musste unter anderem die „politische Zuverlässigkeit“ der Staatsdiener nachgewiesen werden. Nach kurzer Zeit aber verlangten auch private Firmen und Vereine solche Gutachten von Stellenbewerbern. Von staatlicher Seite wurde diese Tendenz weiter befördert, indem die Gewährung sozialer Leistungen von einer solchen Beurteilung abhängig gemacht wurde. Mit der „Politischen Beurteilung“ verfügte der Kreisleiter über einen erheblichen
43 44 45 46
Deutsche Gemeindeordnung 1935 ( RGBl. I, S. 49 f. ). Im folgenden Text : DGO 1935. Ministerialblatt des Reichs - und Preußischen Ministeriums des Innern, 1936, S. 1551 f. Vgl. ebd. Walter Bitter / Bernhard von Derschau / Ralf Zeitler ( Hg.), Kommentar zur Deutschen Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935, Berlin 1937, S. 49. 47 Vgl. Arbogast / Gall, Aufgaben, S. 157.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Trumpf in der Hand, der über Lebenswege und Karrieren der Menschen in seinem Hoheitsgebiet entscheiden konnte.48 Der Aufgabenbereich der Kreisleiter erweiterte sich mit Beginn des Krieges: Seit 1939 oblag ihm vor allem die Organisation der „Heimatfront“. Frauen mussten aufgrund der kriegswirtschaftlichen Anforderungen ins Arbeitsleben eingegliedert werden, Mädchen sollten nach dem Arbeitsdienst im Kriegshilfsdienst tätig werden. Die Kreisleitung entschied, welche Arbeit oder welcher Dienst zumutbar waren. Es galt Sammlungen und Spenden für das Winterhilfswerk zu organisieren. Außerdem entschied der Kreisleiter über die wichtigen „uk - Stellungen“49 in Behörden und Betrieben.50 Innerhalb seines Umfeldes erstreckte sich die Macht des Kreisleiters auf fast jedes Gebiet. In der zeitgenössischen Wertung wurden sie deshalb vielfach als „kleine Hitler“51 oder „kleine Könige“52 tituliert. Die Kreisleiter galten als typische Vertreter der NS - Hierarchie, sie „stellten das räumlich gesehen engmaschigste Netz der Parteiorganisation dar. In den Stadt - und Landkreisen außerhalb der Gauhauptstädte waren die Kreisleiter die am meisten sichtbaren Vertreter der Partei.“53
4.
Sozialprofil der sächsischen Kreisleiter
Bevor ein erstes Sozialprofil der sächsischen NS - Kreisleiter skizziert und mit solchen von Amtsgenossen in anderen Teilen des Deutschen Reiches verglichen wird, soll kurz auf die Methodik der Erhebung eingegangen werden. Prinzipiell ist festzuhalten, dass sich Untersuchungen zu parteiamtlichen Vertretern – und der Vergleich zu staatlichen Amtsträgern – für die Zeit von 1933 bis 1945 am Beispiel Sachsen besonders eignen. So ist nicht nur die politisch - topographische Grenze des Freistaates – das heißt die staatliche Einheit – kongruent mit der des Parteigaues, sondern der Gau Sachsen war auch in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zu jeder Zeit in 27 Kreisleitungen untergliedert.54
48 Dieter Rebentisch, Die „politische Beurteilung“ als Herrschaftsinstrument der NSDAP. In : Detlev Peukert / Jürgen Reulecke ( Hg.), Die Reihen fast geschlossen – Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, S. 107. 49 Bedeutet die „Unabkömmlichkeits - Stellung“ bei der Einberufung zur Wehrmacht. 50 Vgl. Königstein, Alfred Dir, S. 181. 51 Roth, Parteikreis, S. 2. 52 Fait, Kreisleiter, S. 222. 53 Kurt Düwell, Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS - Staates. In : Horst Möller / Andreas Wirsching / Walter Ziegler ( Hg.), Nationalsozialismus in der Region – Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 163. 54 Vgl. Michael Rademacher, Handbuch der NSDAP - Gaue 1928–1945 – Die Amtsträger und ihrer Organisationen auf Gau - und Kreisebene in Deutschland und Österreich sowie in den Reichsgauen Danzig - Westpreußen, Sudetenland und Wartheland, Vechta 2000, S. 224–233.
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Einige Vorgängerstudien haben gezeigt, dass es durchaus Probleme für die Analyse geben kann, wenn die Anzahl der Kreisleitungen in einem Gau variiert.55 Recherchegrundlage zur Ermittlung der Kreisleiter waren die Ausführungen zum Gau Sachsen in den mehrmals erschienenen Adressenwerken der NSDAP.56 Für den hier untersuchten Zeitraum zwischen 1937 und 1942 konnten insgesamt 33 Namen von Kreisleitern in Sachsen ermittelt werden. Von 32 gelang es, biographische Daten zu recherchieren; hier dienten verschiedene Unterlagen zu Parteimitgliedern der NSDAP aus dem Bundesarchiv Berlin57 und die Handbücher zu den Reichstagsabgeordneten als maßgebliche Grundlage.58 Zur Erstellung des Sozialprofils konnten freilich nicht von allen 33 Kreisleitern sämtliche biographischen Angaben ermittelt werden. Da an dieser Stelle nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Soziogramm dieser Personengruppe vorgestellt und komparativ eingeordnet werden kann, muss die Untersuchung auf Geburtsjahrgänge, die Konfession, geographische Herkunft und Mobilität sowie den Zeitpunkt des Parteieintritts eingeschränkt werden. Eine deutliche Mehrheit der sächsischen Kreisleiter, knapp drei Viertel59, gehörte den Jahrgängen zwischen 1896 und 1905 an, sie waren Kinder des wilhelminischen Kaiserreiches. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten befanden sich diese Personen in einem Alter zwischen Anfang und Ende 30. Im Vergleich zum Durchschnittsalter der damaligen politischen Elite handelte es sich um ein sehr junge Gruppe von Politikern.60 Die Aufteilung der Alterskohorten indes erlaubt noch eine weitere Analyse in Hinsicht auf Sozialisierungseffekte, da höchstwahrscheinlich mehr als die Hälfte der zwischen 1937 und 1942 amtierenden sächsischen Kreisleiter am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat. Die Kreisleiter der bisher untersuchten NS - Gaue gehörten ebenfalls zu einem großen Teil den Jahrgängen zwischen 1896 und 1905 an, sie waren also zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die NSDAP durchschnittlich 33 Jahre alt. In Sachsen wird diese Konzentration der Geburtsjahre am deutlichsten. Fast drei Viertel der hiesigen Kreisleiter wurde in den Jahren zwischen 1896 und 1905 geboren. In Württemberg sind es immerhin noch knapp zwei Drittel und im Gau Weser - Ems knapp 40 Prozent der Untersuchungsgruppe, die in den oben genannten Jahren geboren wurden. Überraschend ist, dass die gesamte
55 Vgl. Roth, Parteikreis; Stelbrink, Kreisleiter Westfalen. 56 Vgl. Adressenwerk NSDAP, 1937, S. 15–33 ( weitere Ausgaben 1939, S. 19–43; 1942, S. 21–45). 57 Im Bundesarchiv Berlin wurden folgende Bestände gesichtet : 3100 ( Reichskartei NSDAP); 3200 ( Gaukartei NSDAP ); OPG ( Oberstes Parteigericht ); PK (Parteikorrespondenz ), RS ( Rasse - und Siedlungsamt ), SA ( SA - Personalakten ); SS ( SS - Personalakten). Im Anhang befindet sich eine Namensliste der sächsischen Kreisleiter. 58 Vgl. http ://www.reichstag - abgeordnetendatenbank.de; 10. 4. 2010. 59 Exakt sind es 72,7 Prozent. 60 Vgl. Maxwell Knight, The German Executive, Stanford 1952, S. 24.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Tabelle 1: Altersstruktur der Kreisleiter ( Anzahl : 32) Geburtsjahrgänge 1886 – 1890 1891 – 1895 1896 – 1900 1901 – 1905 1906 – 1910
Sachsen 3,0 % 15,1 % 39,4 % 33,3 % 6,1 %
Altersspanne der Personen dieser Bezugsgruppen in Sachsen am geringsten ist – beginnend bei 1890 und endend beim Jahr 1908, also 18 Jahre. In Westfalen beginnt die Spanne der Geburtsjahre schon 1871 und endet 1915. Als Bezugspunkt für eine klare Unterscheidung dient die Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Hier muss grundsätzlich getrennt werden zwischen einer angenommenen Teilnahme am Krieg, was für die Jahrgänge bis 1900 zutreffen würde, und einer Nichtteilnahme, aber einem ( bewussten ) Miterleben des Krieges in der Heimat, was für die Jahrgänge ab 1901 gilt. Die Frontgeneration ist bei allen Kreisleitergruppen der vier untersuchten Gaue mit mindestens 50 Prozent vertreten, wobei aber ein Großteil den jüngeren Jahrgängen von 1891–1900 angehörte. Für diese Männer fiel das Kriegserlebnis genau in die Lebensphase der gesellschaftlichen Orientierung und beruflichen Etablierung, das heißt in die Zeit zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr. Ihre Ausbildung, ihr Studium oder der Einstieg ins Berufsleben wurden unterbrochen oder verzögerten sich. Die „überflüssige“61 Generation, die zu jung für eine Kriegsteilnahme war, macht bei den untersuchten Bezugsgruppen immer noch ein knappes Drittel der Kreisleiter aus. Dennoch müssen wir auch bei dieser Generation davon ausgehen, dass der Krieg an der Heimatfront bzw. die Erzählungen der Älteren von Fronterlebnissen einen wichtigen Bezugspunkt für die Vertreter der ersten Jahrgänge des 20. Jahrhunderts darstellten. Michael Kater charakterisiert diese zwei – immer noch jungen – Personengruppen treffend, wenn er schreibt, dass sie „zu einer großen Generationseinheit, zur Kohorte der ganz jungen und nicht mehr so jungen Nachkriegsgeneration [ verschmolzen ], deren Probleme und Sorgen das Charakterbild der Jugend von Weimar bestimmen sollte. [...] Nicht zuletzt an den Enttäuschungen und Hoffnungen dieser Jugend sollte die Republik von Weimar schließlich zerbrechen.“62 Dies bedeutet aber auch, dass die NSDAP, zumindest bis zur Machtübertragung 1933, eine junge Bewegung war. Das Durchschnittsalter der Neumitglieder in der Partei lag zwischen 1925 und 1929 bei knapp 29 Jahren.63 Gerade Parteimitglieder mit diesem recht frühen Eintrittsdatum in die NSDAP hatten nach 1933 gute Aussichten auf einen leitenden Posten im NS - Staat. 61 Zit. nach Arbogast, Herrschaftsinstanzen, S. 137. 62 Kater, Generationskonflikt, S. 220. 63 Vgl. ebd., S. 225.
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Der Zeitpunkt des Parteieintritts spielte im Selbstverständnis der NSDAP eine große Rolle. Wer eine Karriere innerhalb der Organisation anstrebte, dem half ein möglichst früher Eintritt. Das Stichdatum, um sich als „alter Kämpfer“ bezeichnen zu dürfen, markiert das Datum der Reichstagswahlen vom 14. September 1930, als ihr Wahlergebnis die NSDAP schlagartig zur Massenpartei machte. Personen, die sich nach diesem Datum für einen Eintritt in die Partei entschlossen, galten intern oft als Trittbrettfahrer, da sie vielleicht weniger aus persönlicher Überzeugung, sondern aus Opportunismus Parteigenossen geworden waren. Die „Märzgefallenen“, das heißt die im Verlauf des Frühjahres 1933 in die NSDAP eingetretenen Mitglieder, sahen sich diesem Vorwurf noch stärker ausgesetzt. Alle sächsischen Kreisleiter sind vor 1930 in die NSDAP eingetreten, was jedem den Status des „Alten Kämpfers“ garantierte.64 Die sächsische NS Propaganda ließ deshalb selten eine Möglichkeit aus, bei dieser Gruppe von politischen Leitern auf die Parteieintrittsdaten und damit auch auf ihren Status und ihre Verdienste für die Bewegung hinzuweisen. Ein Beispiel hierfür sind die ganzseitigen Ehrentafeln in der wöchentlichen Illustrierten „Unser Reich“ in den Jahren 1933 und 1934.65 Bemerkenswert ist allerdings, dass im Vergleich zu ihren Amtskollegen in anderen Gauen überdurchschnittlich viele von ihnen schon vor 1924 Mitglieder der NSDAP wurden.66 Ein Grund dafür mag sein, dass die Nationalsozialisten von Bayern aus zuerst in die südwestlichen Regionen Sachsens expandieren konnten und hier schon früh Strukturen entwickelt und ausgebaut wurden.67 Für die Auswertung der Religionszugehörigkeit unter den sächsischen Kreisleitern standen Angaben von 25 Personen dieser Bezugsgruppe zur Verfügung. Aus praktischen Gründen werden nur die drei Angaben „evangelisch lutherisch“, „katholisch“ und „gottgläubig“ erhoben. Für die Analyse wird die spätest mögliche Angabe zur Konfession der Kreisleiter verwendet. Mehr als die Hälfte der sächsischen Kreisleiter war evangelisch - lutherischen Glaubens, zudem wurden von den neun „gottgläubigen“ Personen sechs nachweislich evangelisch getauft. Die Führung der NSDAP unterstützte die Kirchenaustritte ihrer politischer Leiter mit großem Eifer. Dahinter stand die Absicht, die Kirchen als maßgebliche, gesellschaftlich relevante Einrichtungen zurückzudrängen und letztlich abzuschaffen. Ziel war ein Deutsches Christentum, das sich auf keine bestimmte Konfession bezog.68 Ab den Jahren 1936/1937 nahm diese Tendenz zu und die Religionsangabe beschränkte sich auf das Bekenntnis 64 Vgl. Nolzen in diesem Band. 65 Vgl. Unser Reich, Dresden 1932–1935. Hg. vom Nationalsozialistischen Verlag für den Gau Sachsen. Ehrentafeln der sächsischen NSDAP - Mitglieder beispielsweise in den Ausgaben Nr. 30/1933, S. 6; Nr. 36/1933, S. 3; Nr. 3/1934, S. 3; Nr. 17/1933, S. 2. 66 Das genaue Parteieintrittsdatum ist den Unterlagen selten konkret festgehalten. 67 In Zwickau wurde im Oktober 1921 die erste NSDAP - Ortsgruppe außerhalb Bayerns gegründet. 68 Vgl. Rademacher, Kreisleiter Weser - Ems, S. 17.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Tabelle 2: Konfession der sächsischen Kreisleiter ( Anzahl : 25) Konfession evangelisch-lutherisch katholisch gottgläubig
Anzahl der Kreisleiter 14 1 9
„gottgläubig“. Im Gau Sachsen war die konfessionelle Aufteilung im Kreisleiterkorps und der Bevölkerung beinah kongruent. Über 80 Prozent der sächsischen Kreisleiter waren demnach evangelisch - lutherisch getauft worden und auch die sächsische Bevölkerung war Ende der 1920er Jahre zu 87 Prozent69 evangelischlutherisch. Dagegen ist der Anteil der Katholiken in Sachsen sehr gering. Ähnlich deutlich ist dieses Verhältnis in Schleswig - Holstein, hier bestand die Bevölkerung zu über 90 Prozent aus Protestanten, ebenso gehörten alle Kreisleiter der evangelischen Konfession an.70 Anders verhält es sich bei den Kreisleitern in Westfalen, hier waren 69 Prozent der Untersuchungsgruppe protestantisch und 31 Prozent katholisch. In der Provinz Westfalen bekannte sich jedoch fast genau jeweils die Hälfte zur katholischen oder evangelische Kirche.71 In Württemberg waren die evangelischen Kreisleiter auch in der Überzahl, hier befand sich der protestantische Anteil innerhalb der Bevölkerung mit 67 Prozent deutlich in der Mehrheit.72 Selbst in einem katholisch dominierten Land wie Bayern waren 1936 knapp 70 Prozent der Kreisleiter Protestanten.73 Im hier vorgestellten sächsischen Kreisleiterkorps lassen sich immer mindestens zwei Drittel der untersuchten Personen dem evangelischen Glauben zuordnen. Dieser Befund unterstreicht die häufig beschriebene Tatsache, dass der Nationalsozialismus anfangs im protestantischen Milieu eher Fuß fassen konnte. Neben der konfessionellen Aufteilung können auch genaue Angaben zur regionalen Herkunft der Kreisleiter gemacht werden. Zuerst wird dabei der strukturelle Charakter der Geburtsgemeinde der Kreisleiter ausgewertet. Hierbei soll die Frage beantwortet werden, wie hoch der städtische und ländliche Anteil bezüglich der Herkunft innerhalb der Bezugsgruppe ist. Von 30 sächsischen Kreisleitern konnte der Geburtsort zweifelsfrei ermittelt werden. Die Klassifizierung der Orte folgt dabei den Vorgaben der Statistischen Jahrbücher.74 Als Grundlage für die Größe der Herkunftsgemeinden werden die Angaben der Volkszählung im Deutschen Reich aus dem Jahr 1910 benutzt, da alle Kreisleiter zu diesem Zeitpunkt bereits geboren waren.75 69 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Hg. vom Statistischen Reichsamt, Dreiundfünfzigster Jahrgang 1934, Berlin 1934, S. 7. 70 Vgl. Lehmann, Kreisleiter Schleswig - Holstein, S. 53. 71 Vgl. Stelbrink, Kreisleiter Westfalen, S. 18. 72 Vgl. Arbogast, Herrschaftsinstanzen, S. 140. 73 Vgl. Roth, Parteikreis, S. 190. 74 Vgl. dazu Statistisches Jahrbuch, 1934, S. 11. 75 Die Angaben zu den jeweiligen Einwohnerzahlen der Geburtsstädte sind den von Walter Schlesinger herausgegeben Handbüchern der historischen Stätten Deutschlands ent-
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Tabelle 3: Herkunft der sächsischen Kreisleiter – Größe des Geburtsortes (Anzahl : 30) Klassifizierung der Gemeinde Dorf Landstadt Kleinstadt Mittelstadt Großstadt
Anzahl der Kreisleiter 3 6 8 6 7
Die Herkunft der sächsischen Kreisleiter ist als eindeutig städtisch zu charakterisieren, 27 Personen der Bezugsgruppe wurden in Gemeinden mit mehr als 2 000 Einwohnern geboren – drei entstammten einem dörflichen Milieu. Innerhalb der städtischen Herkunft ist kein Schwerpunkt der Distribution auszumachen, jeweils zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Kreisleiter wurde in Landstädten, Kleinstädten usw. geboren. Damit unterscheidet sich die Gruppe der hier untersuchten Personen vom deutschen Reichsdurchschnitt im Jahr 1910, insbesondere hinsichtlich der dörflichen Herkunft, die zu diesem Zeitpunkt noch 40 Prozent der Gesamtbevölkerung des Deutschen Kaiserreiches ausmachte.76 Innerhalb der NSDAP - Mitgliederschaft hat sich im Verlauf der 1920er Jahren allerdings eine Verschiebung der Herkunft vollzogen. Waren bis 1925 die Parteigenossen mit einem ländlichen / dörflichen Hintergrund überrepräsentiert, änderte sich dies in den folgenden Jahren hin zu einem deutlichen Übergewicht an Städtern.77 Wichtiger als die Herkunft aus einer Stadt - oder Landgemeinde war zweifellos die regionale Verwurzelung des Kreisleiters in seinem Amtsgebiet. Zahlreiche kulturelle Faktoren, sprachliche Färbungen und Eigenheiten, aber auch Aspekte der Konfession spielen bei dieser Frage eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund soll im Folgenden untersucht werden, in welchem Verhältnis der Geburts - und damit erste Sozialisationsort eines Kreisleiters zu seinem späteren Dienstsitz stand – es geht um die regionale Mobilität dieser Personengruppe. Insgesamt werden fünf regionale Vergleichsverhältnisse analysiert und dabei folgende Ebenen untersucht : Das Deutsche Reich in seinen Grenzen von 1873, das Königreich Sachsen in seinen Grenzen von 1873, die Kreishauptmannschaften Sachsens ab 1910, die sächsischen Amtshauptmannschaften in den Grenzen von 1910 und die jeweilige Gemeinde. Grundlage der Analyse sind wiederum die 30 einwandfrei bestimmten Geburtsorte der sächsischen Kreisleiter. In den Grenzen des Deutschen Reiches von 1873 wurden insgesamt 29 Kreisleiter geboren. Einzig der spätere Leipziger Kreisleiter Ernst Wettengel stammte nommen. Für Sachsen vgl. Schlesinger, Walter ( Hg.), Handbuch der historischen Stätten Deutschlands – Sachsen, 2. Auflage Stuttgart 1990. 76 Vgl. Statistisches Jahrbuch, 1934, S. 11. 77 Vgl. Kater, Sozialer Wandel, S. 27.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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aus dem damaligen Österreich - Ungarn ( Niederreuth / Böhmen ). 20 Kreisleiter wurden im Königreich Sachsen geboren, die anderen neun stammten aus Ländern des Reichsgebietes. Der Kreisleiter von Aue, Franz Xaver Pillmayer, wurde in Baden geboren, einige seiner Amtskollegen kamen aus den thüringischen Fürstentümern oder den preußischen Provinzen. Bei 13 Kreisleitern befand sich der Geburtsort und der Sitz ihrer Kreisleitung in derselben sächsischen Kreishauptmannschaft, bei acht Kreisleitern lagen Geburtsort und Dienstort in derselben Amtshauptmannschaft. Bei vier Personen waren sogar Geburtsort und Kreisleitersitz identisch.78 Die geographische Mobilität der sächsischen Kreisleiter blieb demnach auf die Region beschränkt, circa zwei Drittel der Bezugsgruppe wurden in Königreich Sachsen geboren und fanden ihren späteren Dienstsitz im Land Sachsen. Immer noch etwas mehr als zwei Fünftel kamen auf dem Gebiet der Kreishauptmannschaften zur Welt, in dem sich auch die späteren Sitze der Kreisleitungen befand. Selbst bei den in Sachsen geborenen Kreisleitern, die nicht in den Grenzen ihrer Geburts - Kreishauptmannschaft blieben, befand sich der Sitz der Kreisleitung meist in den Grenzen der benachbarten Kreishauptmannschaft. Für einen Vergleich der regionalen Mobilität innerhalb des Kreisleiterkorps kann, und das auch nur eingeschränkt, lediglich auf Daten aus den beiden westfälischen Gauen und der Region Weser - Ems zurückgegriffen werden. Wolfgang Stelbrink hat die regionale Mobilität der Kreisleiter an der Relation von Geburtsort und Wohnort bei Parteieintritt dargestellt. Mehr als ein Drittel der westfälischen Kreisleiter traten in ihrem Geburtsort in die NSDAP ein, circa zwei Fünftel der späteren Kreisleiter in einem anderen Staat oder, einer anderen preußischen Provinz. Aber in der Addition beschränkt sich die regionale Mobilität von mehr als der Hälfte der untersuchten Personengruppe auf eine Fläche, die den Heimatlandkreis und die jeweils dazu benachbarten Kreise umfasst.79
5.
Fazit
Kehren wir am Ende noch einmal zu den Tagebuchnotizen von Harry Graf Kessler zurück. Auch mehr als 80 Jahre, nachdem diese Zeilen notiert wurden, besteht durchaus ein großes Interesse an der Beantwortung der Frage „Wer waren die Nationalsozialisten ?“ Mit den Studien über das Leben und die Herrschaft der Kreisleiter hat sich die historische Forschung der vergangenen beiden Jahrzehnte einer wichtigen Akteursgruppe zugewandt. Zum einen ist sie für eine Untersuchung der Zeit zwischen 1933 und 1945 im regionalen Rahmen unerlässlich, zum anderen bietet die Gruppe der Kreisleiter auch Antworten auf 78 Der Kreisleiter des Parteikreises Grimma, Otto Naumann, wurde bei diesem Kriterium berücksichtigt. Denn die Kreisleitung hatte ihren Sitz nicht in Grimma, sondern in Naumanns Geburtsort Colditz. 79 Vgl. Stelbrink, Kreisleiter Westfalen, S. 309.
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Stephan Dehn
Fragen nach Karrieremustern oder kollektivbiographischen Gemeinsamkeiten wie Unterschieden. Nach einer ersten Analyse verschiedener biographischer Aspekte, hat das Sozialprofil der sächsischen Kreisleiter durchaus eine deutliche Zeichnung. Ihre Heimat war Sachsen, der sie auch später aufgrund der eingeschränkten geographischen Mobilität größtenteils treu blieben. Weiterhin kann von einer eindeutigen konfessionellen und gesellschaftlichen Prägung der Mitglieder des Kreisleiterkorps gesprochen werden. Fast alle wuchsen in einem evangelisch lutherischen, städtischen Milieu auf. Alle Personen der Bezugsgruppe waren Kinder des wilhelminischen Kaiserreiches, meist um die Jahrhundertwende geboren. An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die ähnlichen Erkenntnisse der bisherigen Forschungen zu dieser Personengruppe in anderen Teilen des Deutschen Reiches hingewiesen. Das Alleinstellungsmerkmal der Kreisleiter in Sachsen bleibt allerdings ihr früher Parteieintritt, der im reichsweiten Vergleich einzigartig ist. Diese erste soziographische Annäherung an das Korps der sächsischen Kreisleiter ersetzt freilich keine umfassende Untersuchung ihrer Lebenswege. Neben der zeitlichen Einschränkung auf die Jahre zwischen 1937 und 1942 konnten bisher nur von einem Teil dieser Personengruppe erste biographische Daten gesammelt werden. Die Untersuchung vermag daher nur vorläufige Antworten auf die Fragen hinsichtlich der kollektivbiographischen Charakteristik der Tätergruppe „sächsische Kreisleiter“ zu geben.
Die sächsischen Kreisleiter der NSDAP 1937–1942 Rudolf Behr80 geb. am 1. Juli 1905, Kreisleiter : Kreis Döbeln 1937–1941 Johannes Bochmann81 geb. am 24. Juni 1899, Kreisleiter : Kreis Rochlitz 1934–1945 Hellmuth Böhme82 geb. am 22. Mai 1902, Kreisleiter : Kreis Freiberg 1929– 1936, Kreis Meißen 1937–1945 Walter Dönicke83 geb. am 27. Juli 1899, Kreisleiter : Kreis Leipzig 1933–1937 Ewald Dost84 geb. am 31. März 1897, Kreisleiter : Kreis Zwickau bis 1937 Hans Drechsel85 geb. am 21. März 1904, Kreisleiter : Kreis Meißen 1937 Walter Elsner86 geb. am 9. November 1901, Kreisleiter : Kreis Pirna 1939– 1945
80 81 82 83 84 85 86
BArch, Parteikorrespondenz PK A0149. Ebd., Reichskartei NSDAP 3100 C0027. Ebd., 3100 C0051. Ebd., 3100 E0155. Ebd., 3100 F0024. Ebd., 3200 D0043. Ebd., 3200 D0043.
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Die Kreisleiter der sächsischen NSDAP
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Johannes Freund87 geb. am 5. Oktober 1890, Kreisleiter : Kreis Dippoldiswalde 1933–1942 Friedrich Albert Gaumitz88 geb. am 15. August 1897, Kreisleiter : Kreis Oelsnitz 1935, Kreis Borna 1937 Hermann Gerischer89 geb. am 16. August 1901, Kreisleiter : Kreis Pirna 1934– 1937, Kreis Borna 1937–1938 Hermann Groine90 geb. am 16. April 1897, Kreisleiter : Kreis Döbeln 1931– 1934, Kreis Oschatz 1935–1942 Curt Haase91 geb. am 31. Januar 1897, Kreisleiter : Kreis Meißen 1931–1936 Alfons Hitzler92 geb. am 3. November 1897, Kreisleiter : Kreis Plauen 1933– 1945, Kreis Zittau 1937 Eugen Holdinghausen93 geb. am 6. Mai 1890, Kreisleiter : Kreis Großenhain 1930–1937 Ernst Jahns94 geb. am 29. März 1906, Kreisleiter : Kreis Oschatz 1937, Kreis Großenhain 1938–1942 Martin Jordan95 geb. am 17. Oktober 1897, Kreisleiter : Kreis Auerbach 1933– 1945 Karl Martin96 geb. am 9. März 1893, Kreisleiter : Kreis Bautzen 1933–1945 Alfred Münzner97 geb. am 30. September 1903, Kreisleiter : Kreis Freiberg 1939–1945 Otto Naumann98 geb. am 4. April 1895, Kreisleiter : Kreis Grimma 1933– 1945 Siegfried Oehme99 geb. am 27. Januar 1900, Kreisleiter : Kreis Flöha 1937– 1945 Erich Pietzsch100 geb. am 30. Dezember 1901, Kreisleiter : Kreis Zittau 1939– 1941 Franz Xaver Pillmayer101 geb. am 17. Januar 1897, Kreisleiter : Kreis Aue 1930–1939 Fritz Preißler102 geb. am 1. März 1904, Kreisleiter : Kreis Flöha 1933–1935, Kreis Stollberg 1935–1937, Kreis Zwickau 1938–1942 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Ebd., 3200 E0082. BArch, Gaukartei NSDAP 3200 F0037C. Ebd., 3200 G0026. BArch, Parteikorrespondenz PK D0191. BArch, Gaukartei 3200 G0057. Ebd., 3200 I0023. Ebd., 3200 I0050. BArch, Reichskartei NSDAP 3100 K0048. Ebd., 3100 K0110. BArch, Gaukartei NSDAP 3200 O0038. Ebd., 3200 P0047. Ebd., 3200 P0058. Ebd., 3200 Q0018. Ebd., 3200 Q0082. BArch, Reichskartei NSDAP 3100 M0094. Ebd., 3100 R0022.
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Hans Reiter103 geb. am 18. April 1901, Kreisleiter : Kreis Löbau 1937–1945 Walter Spindler104 geb. – unbekannt, Kreisleiter : Kreis Oelsnitz 1937–1945 Werner Vogelsang105 geb. am 27. September 1895, Kreisleiter : Kreis Annaberg 1937–1941 Hellmut Walter106 geb. am 2. August 1908, Kreisleiter : Kreis Dresden 1937– 1945 Kurt Welcker107 geb. am 5. November 1899, Kreisleiter : Kreis Glauchau 1937–1945 Ernst Wettengel108 geb. am 21. Januar 1903, Kreisleiter : Kreis Leipzig 1938– 1945 Karl Zetzsche109 geb. am 16. September 1897, Kreisleiter : Kreis Marienberg 1937–1942, Kreis Aue 1942–1945 Walter Ziegis110 geb. am 14. März 1898, Kreisleiter : Kreis Stollberg 1939– 1942, Kreis Borna 1942–1945 Ernst Zitzmann111 geb. am 19. Juli 1891, Kreisleiter : Kreis Kamenz 1937– 1945 Oskar Zschake - Papsdorf 112 geb. am 12. Januar 1902, Kreisleiter : Kreis Oschatz 1933–1936, Kreis Chemnitz 1937–1942
103 http ://daten.digitale - sammlungen.de / ∼db / bsb00000006/ images / index.html; 8. 4. 2010. 104 Adressenwerk NSDAP, 1937, S. 28. 105 BArch, PK S0054. 106 BArch, Reichskartei NSDAP 3100 T0058. 107 BArch, Gaukartei NSDAP 3200 Y0059. 108 Ebd., 3200 Y0080. 109 BArch, Reichskartei NSDAP 3100 T0152. 110 Ebd., 3100 T0158. 111 BArch, Gaukartei NSDAP 3200 Z0093. 112 Ebd., 3200 Z0093.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP im „Expansions - Jahr“ 1931. Eine Massenpartei mit Massenreichweite ? Stephan Dehn
1.
Einleitung
In Abhandlungen zur Entwicklung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( NSDAP ) wird das Jahr 1931 – zwischen dem Durchbruch zur „Massenpartei“ 1930 und dem „Entscheidungsjahr“ 1932 – oftmals übergangen. Die Gründe dafür sind offenkundig : In diesem Jahr gab es keine reichsweite, die gesamte Gesellschaft betreffende Wahl1, weshalb auch die damit verbundenen Propagandaanstrengungen der maßgeblichen Parteien ( scheinbar ) ausblieben. Dennoch bedeutet gerade 1931 durch massive regionale Expansionsbestrebungen und verstärkte Ansätze zur Professionalisierung ein „Schlüsseljahr“ für die Entwicklung der nationalsozialistischen Propaganda. Daher lohnt eine genauere Untersuchung am Beispiel der sächsischen NSDAP, denn der Freistaat war hinsichtlich der Verbreitung ihrer Ideologie für die Nationalsozialisten eine zwiespältige Region. Zum einen hatten sie hier – vor allem im südwestlichen Gebiet Sachsens – eine ihrer stärksten ( und auch frühesten ) Bastionen außerhalb Bayerns, zum andern stieß die NSDAP in den Hochburgen der Arbeiterbewegung – hier besonders Leipzig – lange Zeit an ihre expansiven Grenzen. Im vorliegenden Beitrag werden drei zentrale Zielsetzungen verfolgt: Zuerst sollen die Grundelemente der nationalsozialistischen Propaganda im Jahr 1931 in ihrer Quantität und Qualität vorgestellt und analysiert werden. Danach steht der Gaupropagandaleiter der sächsischen NSDAP, Arthur Schumann, im Fokus. Sein Werden und Wirken als Propagandist wird exemplarisch untersucht und am Ende mit der Quantifizierung der Propagandamedien in die allgemeine Parteientwicklung eingeordnet. 1
Im Jahr 1931 fanden verschiedene Gremienwahlen in Sachsen, zum Beispiel die Wahlen zur Landwirtschaftskammer und Wahlen der Allgemeinen Studierenden Ausschüsse, statt. Vgl. Josef Reinhold, Die NSDAP und die Wahl zur Landwirtschaftskammer 1931 im Freistaat Sachsen. In : Geschichte und Gegenwart, 9 (1990), S. 188–196; Matthias Lienert, Der Einfluß des Nationalsozialismus auf die Technische Hochschule Dresden während der Weimarer Republik. In : Karlheinz Blaschke ( Hg.), Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 66 (1995), Weimar 1996, S. 273–291.
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2.
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Die NSDAP in Sachsen 1930/1931
Am Jahresende 1930 hatte sich die NSDAP in Sachsen zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor entwickelt. Die beiden wichtigsten Indizien dafür sind ihre Resultate bei der sächsischen Landtagswahl vom 22. Juni 1930 und bei den Reichstagswahlen vom 14. September des Jahres. Im Juni erhielt die NSDAP in Sachsen 14,4 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen und konnte mit 14 Abgeordneten in den Landtag einziehen. Diesem Durchbruch zum Massenzuspruch in der Wählerschaft2 war eine Propagandakampagne vorausgegangen, in der erstmals Joseph Goebbels als damals neu ernannter Reichspropagandaleiter der NSDAP agierte.3 Kaum ein Vierteljahr später erhielten die Nationalsozialisten bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag in den drei sächsischen Wahlkreisen 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen.4 Beide Ergebnisse belegen, dass die NSDAP in Sachsen in diesem Zeitraum eine schnell wachsende Wählerschaft besaß. Dennoch lassen diese Zahlen keine spezifischen Rückschlüsse auf die organisatorische, personelle und regionale Dichte der Partei und damit auch nicht auf Struktur und Wirkung ihrer Propaganda im Freistaat zu. Die erste Übersicht zur Organisation der NSDAP in Sachsen liefert einen unzweideutigen Befund : Unbestrittene Hochburg der Nationalsozialisten, sogar im reichsweiten Vergleich, war der südwestsächische Raum mit den Landschaften Erzgebirge und Vogtland. In den Industriezentren Nordwest - und den peripheren Gebieten Ostsachsens kann hingegen von keiner flächendeckenden NSDAP - Parteistruktur gesprochen werden.5 Allerdings hatten zahlreiche nationalsozialistische Interessengruppen und Parteigliederungen in den späten 1920er Jahren ihren Ursprung und erste Hochburgen in Sachsen, hier vor allem die Jugend - und Nachwuchsorganisationen der NSDAP – Nationalsozialistischer Deutscher Schülerbund, Hitler - Jugend und die NS - Studentengruppen – ebenso verschiedene berufsständische Verbände – Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, Nationalsozialistischer Deutscher Lehrerbund oder Nationalsozialistischer Deutscher Wirtschaftsbund.6 Die nationalsozialistische Partei
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3 4 5 6
Bei den sächsischen Landtagswahlen am 5. Mai 1929 konnte die NSDAP einen Stimmenanteil von 5,0 Prozent für sich verbuchen. Vgl. Clemens Vollnhals, Der gespaltene Freistaat. Der Aufstieg der NSDAP in Sachsen. In : ders. ( Hg.), Sachsen in der NSZeit, Leipzig 2002, S. 22. Vgl. Gerhard Paul, Aufstand der Bilder – Die NS - Propaganda vor 1933, Bonn 1990, S. 90; Claus - Christian Szjenmann, Vom Traum zum Alptraum – Sachsen in der Weimarer Republik, Dresden 2000, S. 113. Vgl. Larry Eugene Jones, Saxony 1924–1930 – A Study in the Dissolution of the Bourgeois Party System in Weimar Germany. In : James Retallack ( Hg.), Saxony in German History – Culture, Society, and Politics, 1830–1933, Ann Arbor 2000, S. 354. Vgl. Szejnmann, Traum zum Alptraum, S. 106. Vgl. Vollnhals, Freistaat, S. 30; Benjamin Lapp, Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Sachsen. In : Reiner Pommerin ( Hg.), Dresden unterm Hakenkreuz, Köln 1998, S. 4.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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beabsichtige, sich mittels dieser Gruppen Zutritt in bestimmte berufs - bzw. milieuspezifischen Schichten der Gesellschaft zu verschaffen. Das Jahr 1930 bescherte der NSDAP in Sachsen einen bedeutenden Zuwachs an Mitgliedern und Organisationseinheiten. Die Anzahl der sächsischen Parteigenossen wuchs innerhalb von zwölf Monaten von 8 500 zum Jahreswechsel 1929/1930 auf mehr als 22 6007 im Januar 1931, die Zahl der Ortsgruppen stieg von 1528 auf über 3409. Den exorbitant hohen Wachstumsraten der sächsischen Nationalsozialisten müssen vergleichende Parameter zur Relativierung und Einordnung im Gesamtkontext hinzugefügt werden. Die knapp über 340 lokalen Organisationseinheiten der sächsischen NSDAP verteilten sich auf 156 Städte und mehr als 600 Gemeinden.10 Den nationalsozialistischen Propagandisten in Sachsen war es daher aufgrund der numerischen Größe der ihnen zur Verfügung stehenden Partei - Stützpunkte unmöglich, den Freistaat permanent flächendeckend propagandistisch zu erfassen. So verwundert der Befund wenig, den einige Parteimitglieder während einer Werbefahrt durch den ländlich geprägten ostsächsischen Raum im Jahr 1930 anstellten : „viele Einheimische [ hätten ] kaum etwas über Hitler und seine Bewegung gehört.“11 Die sächsische NSDAP musste sich zudem an der organisatorischen Größe der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ( SPD ) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD ) messen lassen. Beide Linksparteien unterhielten 1930/1931 jeweils deutlich mehr lokale Organisationseinheiten im Freistaat als die NSDAP.12 Um die Entwicklungen der nationalsozialistischen Propaganda in Sachsen für das Jahr 1931 sowohl auf personeller wie auf quantitativer Ebene untersuchen zu können, ist ein Blick auf die Reichspropagandaleitung ( RPL ) hilfreich. Mit Joseph Goebbels wurde im Jahr 1930 jene Person zum Reichspropagandaleiter der NSDAP ernannt, die wie keine zweite Medien und Kommunikation der Partei dominierte und steuerte. Goebbels setzte in der propagandistischen Arbeit besonders auf die beiden Faktoren Innovation und Professionalität. Neben verschiedenen methodischen und inhaltlichen Schwerpunkten legte die neue RPL besonderen Wert auf den Auf - und Ausbau der Propagandaapparate auf lokaler Ebene. „Das Hauptgewicht der Propaganda war damit den untersten Propaganda - Einheiten zugefallen“,13 urteilt daher der Historiker Gerhard Paul. 7 Zit. nach Claus - Christian Szejnmann, Nazism in Central Germany – the Brownshirts in „Red“ Saxony, New York 1999, S. 271. 8 Vgl. Gerhard Donner, Die Bedeutung der nationalsozialistischen Propaganda für die Entwicklung der NSDAP im Gau Sachsen, Leipzig 1942, zugl. Diss. Masch., S. 101. 9 Zit. nach Szejnmann, Nazism, S. 272. 10 Gemeinden mit mindestens 1 000 Einwohnern; vgl. Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Sachsen, 49. Ausgabe 1930, Dresden 1931, S. 10. Hg. vom Sächsischen Statistischen Landesamt. 11 Szejnmann, Traum zum Alptraum, S. 106. 12 Die SPD unterhielt in Sachsen im Jahr 1930 1 027 und die KPD 446 Parteistützpunkte; Vgl. Szejnmann, Nazism, S. 272. 13 Paul, Aufstand, S. 71.
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3.
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Die Propagandamedien14
Die Pressepropaganda stellte für die führenden NS - Parteistrategen eine zwiespältige Angelegenheit dar. Einerseits hatte das bedruckte Papier keinerlei massensuggestiven Einfluss auf den Leser, andererseits aber besaß die Parteipresse – gerade in den 1920er Jahren – eine nicht zu unterschätzende binnenpropagandistische Wirkung für die NSDAP. Oftmals waren diese Publikationen in den Jahren der schwachen Organisationsdichte die einzige Möglichkeit für die Parteimitglieder, Informationen und Argumentationsmaterial zu erhalten.15 Die Parteileitung in München stand allerdings vor dem Problem, dass sie kaum Einfluss auf die Presse in den Gauen hatte. Erschwerend kam der ab spätestens 1930 offen ausbrechende Konflikt zwischen den „Straßer - Blättern“ und der „Goebbels - Presse“ hinzu, bei dem es im Kern um die Methodik der Propaganda ging. Goebbels verlangte eine aggressive Angriffspropaganda, die Brüder Gregor und Otto Straßer forderten dagegen eine auf Argumenten fußende Überzeugungsarbeit.16 Die Parteipresse der NSDAP in Sachsen war ebenfalls von diesem Disput betroffen. Bevor es dazu kam, erschienen zwischen 1924 und 1925 Periodika, die von einzelnen Nationalsozialisten herausgegeben wurden und sich in ihrer Verbreitung auf den südwestsächsischen Raum beschränkten.17 Seit April 1926 erschien „Der Nationale Sozialist für Sachsen“ als ein wöchentliches Mantelblatt aus dem „Kampf - Verlag“18 der Straßer - Brüder. Die Reichweite dieser Zeitung in Sachsen kann nur vermutet werden. Auflagenzahlen von 22 000 im Jahr 192919 gelten für die reichsweite Verbreitung. Gegen das Blatt „Der Nationale Sozialist für Sachsen“ wurde im November 1928 ein achtwöchiges Verbot erlassen; während dieser Zeit gab es Versuche, seitens der NSDAP in Sachsen eine alternative Publikation zu verteilen, die allerdings scheiterten. Am 1. Februar 1929 erschien – wiederum im „Kampf - Verlag“ – der „Sächsische Beobachter“ 14
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Bei der quantitativen Analyse der Propagandamedien der sächsischen NSDAP im Jahr 1931 bilden drei Arten gedruckter Medien die Grundlage. Neben der Gau - Zeitung werden Flugblätter und Plakate der sächsischen NSDAP untersucht. Die Entscheidung, gerade diese Druckwerke als empirische Basis zu verwenden hat zwei Gründe. Zum einen ist hier der Tradierungs - Grad hoch, zum andern gibt es ab dem Jahreswechsel 1930/1931 erstmals monatliche statistische Erhebungen zu diesen Medien. Vgl. Carsten Dams, Staatsschutz in der Weimarer Republik – Die Überwachung und Bekämpfung der NSDAP durch die preußische politische Polizei 1928 bis 1932, Marburg 2002, S. 93. Vgl. Paul, Aufstand, S. 180 f. Gemeint sind die „Völkischen Nachrichten für Markneukirchen“ und die „Völkischen Nachrichten für das Vogtland“; vgl. dazu Donner, Bedeutung, S. 73. Der „Kampf - Verlag“ wurde von Gregor und Otto Straßer Mitte der 1920er Jahre gegründet. Hier erschienen ab 1925 die „Nationalsozialistischen Briefe“ und Wochenzeitungen wie „Der Nationale Sozialist“ oder die „Berliner Arbeiter Zeitung“; vgl. Günter Bartsch, Zwischen drei Stühlen – Otto Straßer – Eine Biographie, Koblenz 1990, S. 33 f. Vgl. Jahrbuch der Tagespresse 1929, Berlin 1929, S. 75.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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als wöchentliches parteiamtliches Organ der sächsischen NSDAP. Dessen Gesamtauflage wird die Marke von 3 000 Exemplaren jedoch nicht überschritten haben.20 Der „Sächsische Beobachter“ erschien knapp 18 Monate. Genauere Umstände zu seiner Einstellung liegen im Nebel der nationalsozialistischen Anschuldigungs - Lyrik, aber es gibt einige Indizien. In offiziellen Schriftstücken der Partei wird vom „Verrat eines Otto Straßer, insbesondere auch in Sachsen“,21 geschrieben. Tatsächlich gipfelte der Konflikt zwischen Adolf Hitler und Otto Straßer in einem offenen Streit um die Beteiligung der sächsischen NSDAP am Metallarbeiterstreik 1930, zu der im „Sächsischen Beobachter“ aufgerufen worden war. Hitler lehnte diese strikt ab und ging auf Konfrontationskurs.22 Im Mai des Jahres trafen sich beide und Hitler soll gegenüber Straßer folgende Drohung ausgesprochen haben : „Die Haltung ihrer Zeitung ist eine öffentliche Schande. Ihre Artikel verstoßen gegen die elementarsten Gesetze der Disziplin, sie sind eine Beleidigung für das Parteiprogramm! Meine Geduld ist nun am Ende. Der Kampfverlag wird mit ihrem eigenen Einverständnis aufgelöst. Wenn Sie mir diese Zustimmung versagen, werde ich mit allen Mitteln gegen Sie vorgehen.“23 Aus diesen Gründen kann die Parteipresse der NSDAP in Sachsen bis zum Jahr 1930 lediglich als Mittel der Binnenpropaganda gedient haben – Auflagezahlen und damit Reichweite erlaubten zu keiner Zeit die Möglichkeit einer Massenverbreitung. Dennoch arbeitete der „Kampf - Verlag“ durchaus professionell, da er eine zentrale Redaktion besaß und für die Regionalausgaben Korrespondenten - Büros vor Ort unterhielt. Im Wahlkampf des Sommers 1930 konnte es sich die sächsische NSDAP nicht leisten, auf eine eigene Zeitung im Gau zu verzichten. Am 1. August des Jahres wurde daher die erste Nummer des „Freiheitskampfes“, der von diesem Tag an sechsmal wöchentlich ununterbrochen – abgesehen von den Verbotsphasen in der Weimarer Republik – bis zum 8. Mai 1945 erschien. Die sächsischen Nationalsozialisten konnten sich das Blatt allerdings finanziell nicht leisten, daher wurden private Gelder akquiriert und die Firma „Verlag der Freiheitskampf G.m.b.H.“ ins Leben gerufen. Als Herausgeber des „Freiheitskampfes“ firmierte Gauleiter Martin Mutschmann.24 Einen Leserkreis musste sich diese neugegründete Zeitung erst aufbauen. Mit dem Durchbruch zur Massenpartei galt es für die Nationalsozialisten, ihrem hiesigen Parteiblatt als wichtigem Propagandamittel eine Massenverbreitung zu sichern. Die Auflagenziffern dienen dabei als stärkster Indikator. Zu Jahresanfang 1931 konnten täglich 15 000 Exemplare der Zeitung vertrieben werden, im Juni waren es bereits 20 Vgl. Donner, Bedeutung, S. 90. 21 Die Geschichte der sächsischen Gaupresse von der Gründung 1930 bis Juni 1936 (BArch, NS 26/1013, S. 2). 22 Vgl. Patrick Moreau, Die Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten und die Schwarze Front Otto Straßers 1930–1935, Stuttgart 1985, S. 30 f.; vgl. Reinhard Kühnl, Die nationalsozialistische Linke 1925–1930, Meisenheim 1966, S. 243 f. 23 Moreau, Kampfgemeinschaft, S. 32. 24 Vgl. Die Geschichte der sächsischen Gaupresse von der Gründung 1930 bis Juni 1936 ( BArch, NS 26/1013, S. 2 f. ).
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20 000 und sechs Monate später betrug die Auflage etwas mehr als 32 000 Stück.25 Ende 1931 besaß der „Freiheitskampf“ demnach eine Reichweite von etwa 120 000 Lesern. Als Vergleichsgröße müssen wiederum die Auflagenzahlen der Tagespresse von SPD und KPD betrachtet werden. Allein in Dresden hatten im Jahr 1931 die „Arbeiterstimme“ ( KPD - Organ ) und die „Dresdner Volkszeitung“ ( SPD - Organ ) jeweils deutlich höhere Auflagenzahlen.26 Im gesamten Freistaat erschienen in diesem Jahr insgesamt acht Parteizeitungen der SPD und sieben der KPD.27 Der „Freiheitskampf“ war das einzige parteiamtliche Blatt der NSDAP in Sachsen. Selbst im folgenden Jahr konnte er keine dominierende Stellung in der Dresdner bzw. der sächsischen Presselandschaft einnehmen.28 Zum Jahresende 1932 betrug die tägliche Auflagenzahl 40 000 Exemplare. Die wichtige Grenze einer täglichen 100 000er Auflage hatte der „Freiheitskampf“ frühestens im Sommer 1933 überschritten, wobei sich hier unterschiedliche Angaben finden.29 Neben der Zeitung war zweifellos das Flugblatt von Beginn an eine tragende Säule der NSDAP - Propaganda. Goebbels erwartete allerdings kaum eine Wirkung dieses Mediums – vor allem nicht in industriellen Ballungsräumen. In weniger von öffentlichem Werbepapier übersättigten Gebieten bewiesen sich die Vorteile des Flugblattes, nämlich kostengünstige Herstellung, rasche, zum Teil stark öffentlichkeitswirksame Verteilung, komprimierte Formulierung der Ziele, jedoch immer wieder.30 Als Basis für die quantifizierende Untersuchung der NSDAP - Propaganda in Sachsen dienen die Zahlen des Februars 1931. Die Gaupropagandaleitung brachte in diesem Monat mehr als 530 000 Flugblätter im Freistaat zur Verteilung, die sich gemäß folgender Aufstellung zusammensetzten : Die Gesamtsumme der im Februar 1931 verteilten Flugblätter war so hoch, dass sie durchaus weit stärker als die Gaupresse die breite Masse der Bevölkerung erreicht haben könnten. Der Blick um zwölf Monate nach vorn zeigt überdies, dass es die sächsische Gaupropagandaleitung schaffte, die Anzahl der ver25 Vgl. Schreiben an die Reichsleitung der NSDAP – Hauptarchiv vom 12. März 1936 (BArch, NS 26/1013, S. 2). 26 Vgl. Handbuch der deutschen Tagespresse 1932, Berlin 1932, S. 316 f. Hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde. 27 Vgl. Handbuch, S. 39. In der Statistik wurden fälschlicherweise bereits die vier Regionalausgaben des „Freiheitskampfes“, die allerdings erst im Verlauf des Jahres 1932 erschienen, aufgenommen. 28 Vgl. Ralf Krüger, Die Gleichschaltung der Dresdner Presse nach 1933. In : Dresdner Hefte, 77 (2004), S. 64. Krüger irrt hier, wenn er annimmt, der „Freiheitskampf“ war 1932 mit einer täglichen Auflage von 107 000 Exemplaren eine der auflagenstärksten Zeitungen in Dresden. 29 Vgl. Schreiben an die Reichsleitung der NSDAP – Hauptarchiv vom 12. März 1936 (BArch, NS 26/1013, S. 2), in dem die Grenze von 100 000 Exemplare pro Tag schon im Juni 1933 angezeigt wurde. An anderer Stelle wird die Marke von 100 000 täglichen Exemplaren erst im Januar 1934 als überschritten angenommen; vgl. Zeitung : Der Freiheitskampf ( BArch, NS 26/1013, unpaginiert ). 30 Vgl. dazu Paul, Aufstand, S. 49.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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Tabelle 1: Titel und Stückzahl der NSDAP - Flugblätter im Februar 193131 Titel des Flugblattes „Diktatur!“ „Millionenverschwendungen!“ „Das Programm der NSDAP.“ „Die Kampfansage der 107“ „Nationalsozialismus und Landwirtschaft!“ „Sozialdemokraten und Kommunisten!“ „Zertrümmerte Fensterscheiben!“ „Fort mit den Ausbeutern!“ „Die Sozialdemokratie entlarvt sich!“ „Die Republik ist in Gefahr!“ „Zehn Jahre NSDAP.“ „Gehaltskürzungen!“ „Hier ist ein Besoffener im Saal!“ „Mobilmachung!“ „Rettet unsere Bonzenposten!“ „Kampf dem Pharisäertum!“ „Der Bolschewismus rüstet zum Bürgerkrieg!“
Anzahl der Flugblätter in Stück 150 000 123 000 40 000 30 000 30 000 25 000 20 000 20 000 15 000 15 000 15 000 12 000 10 000 5 000 5 000 5 000 5 000
teilten Flugblätter binnen dieses Zeitraumes ungefähr zu verzehnfachen : Im März 1932 wurden mehr als fünf Millionen NSDAP - Flugblätter32 in Sachsen verteilt; damit war die Obergrenze des maximal Möglichen fast erreicht. Während der Wahlkämpfe im Juli und November 1932 stieg die Zahl der Flugblätter nur noch wenig.33 Größere Bedeutung als das Text - Flugblatt hatte für die Nationalsozialisten das Plakat als Medium der Propaganda. Goebbels war davon überzeugt, dass „[d ]as künstlerisch gestaltete Bildplakat [...] die agitatorische Beweiskraft eines jeden Textes“ vergrößere, indem es die Masse auf der Gefühlsebene fesseln konnte.34 Im Februar 1931 klebten die sächsischen Nationalsozialisten knapp 12 000 Plakate im Freistaat.35 Auch die Anzahl der nationalsozialistischen Plakate sollte sich in den kommenden Monaten deutlich erhöhen : im Frühjahr
31 32 33 34 35
Vgl. Donner, Bedeutung, S. 127. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 188. Paul, Aufstand, S. 49. Vgl. Donner, Bedeutung, S. 127.
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1932 waren es 55 000 nationalsozialistische Plakate in Sachsen.36 Hinzu kamen pro Monat noch ungefähr eine halbe Million Klebezettel der NSDAP.37 Im Repertoire der NSDAP - Propagandamedien besaß jedoch nicht das geschriebene, sondern das gesprochene Wort – also die Rede – Priorität. Auf die einzelnen Kategorien des nationalsozialistischen Versammlungskanons kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Gerade Hitler betonte immer wieder die von ihm als allmächtig beschworene direkte Einwirkung des Redners auf die Teilnehmer. Damit erfüllten Versammlungen für die NSDAP einen sowohl binnen - wie auch außenpropagandistischen Zweck.38 Rhetorische Mittel sollten Parteimitglieder und Bevölkerung gleichermaßen fesseln und in Bann ziehen. Im Februar 1931 verzeichnet die Statistik insgesamt 750 öffentliche Veranstaltungen der Nationalsozialisten in Sachsen.39 Im weiteren Verlauf steigerte die NSDAP ihre Versammlungstätigkeit enorm. Schon im August 1931 organisierte die NSDAP in Sachsen knapp 1 200 und im Februar 1932 mehr als 3 300 öffentliche Zusammenkünfte. Vergleichszahlen der anderen Parteien aus der Amtshauptmannschaft Schwarzenberg beweisen, dass die Nationalsozialisten in Sachsen die mit Abstand meisten öffentlichen Veranstaltungen durchführten.40
4.
Gaupropagandaleiter — Arthur Schumann
Bevor die Gruppe der Propagandisten der sächsischen NSDAP anhand von Arthur Schumann exemplarisch vorgestellt wird, gilt es die Frage zu beantworten, wer als Propagandist bezeichnet werden kann. Die NSDAP als eine Bewegung, in der jegliche politische Arbeit dem Primat der kommunikativen Wirkung untergeordnet war, verleitet zur Annahme, dass jedes Parteimitglied automatisch als Propagandist zu verstehen ist.41 Jedoch muss eine semantische Unterscheidung zwischen dem Propagandafunktionär qua Amtes, dem Plakate - klebenden Hitler - Jungen, dem lautstark aufmarschierenden und gewalttätigen SAMann und dem politischen Mandatsträger vorgenommen werden. Eine Lösung dafür bietet Gerhard Schultze - Pfaelzer in seiner 1923 erschienenen Monographie über das Werbewesen.42 Er teilt politische Propagandisten in zwei Kategorien : Einmal der „Parteioffizielle“ der neben Werbetätigkeit auch „zugleich verfassungsmäßig dazu berufen [ ist ], als legislativ Handelnder und als staats36 37 38 39 40
Vgl. ebd., S. 159. Vgl. ebd. Vgl. Paul, Aufstand, S. 51. Vgl. Donner, Bedeutung, S. 124. Vgl. Szejnmann, Nazism, S. 267 f.; Carsten Voigt bietet in seiner Dissertationsschrift einen Überblick zur Radikalisierung der politischen Gewalt in Sachsen im Jahr 1931, auch die SA betreffend. Vgl. dazu Carsten Voigt, Das Reichsbanner Schwarz - Rot - Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen (1924–1933), Leipzig 2008, hier S. 397–404. 41 Vgl. Paul, Aufstand, S. 12. 42 Vgl. Gerhard Schultze - Pfaelzer, Propaganda, Agitation, Reklame – Eine Theorie des gesamten Werbewesens, Berlin 1923.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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rechtlich bestallter Kontrolleur in die Entwicklung der öffentlichen Dinge einzugreifen“.43 Daneben der „Parteioffiziöse“, der „alle anderen für die Partei werbetätigen Funktionäre und Freunde“44 umfasst. Dieser Gruppe ist Arthur Schumann zuzuordnen. Schumann kam im Dezember 1930 ins Amt des Gaupropagandawarts der NSDAP in Sachsen.45 Er war im August 1899 in Leipzig geboren worden. Über eine Teilnahme am Ersten Weltkrieg kann nur spekuliert werden, fest steht aber, dass er Freikorps - Mitglied gewesen war und am „Hitler - Putsch“ im November 1923 teilgenommen hatte. Schumann studierte Ingenieurwissenschaften und trat 1925 in die NSDAP ein; er gehörte bald zum engeren Kreis um Martin Mutschmann. In den späten 1920er Jahren bekleidete Schumann verschiedene Positionen in der Gauleitung in Plauen. Scheinbar wurde sein Wirken in Sachsen von Goebbels goutiert, da dieser ihn Ende 1931 mit der Leitung der Hauptabteilung „Nachrichtendienst“ in der RPL betraute.46 Im Zuge der sogenannten Röhm - Affäre wurde er im Juli 1934 verhaftet.47 Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Arthur Schumann gehörte einer Altersgruppe an, die weniger durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, wohl aber durch die Mitgliedschaft in Freikorpsverbänden in jugendlichen Jahren politisch sozialisiert wurde. Er schloss in den 1920er Jahren ein Studium ab, war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der NSDAP und hatte im Parteiapparat an verschiedenen Stellen Aufbauarbeit leisten und Erfahrungen sammeln können. In den frühen 1930er Jahren gehörte er zur kleinen, aber von der NSDAP aufgrund ihrer Expansion dringend benötigten Gruppe von „verdienten“ Parteigenossen an, die neben der langen Erfahrung in der Bewegung auch noch eine wissenschaftliche Graduierung vorweisen konnten. Ulrich Herbert nennt diese Gruppe Nationalsozialisten „Neue Rechte“ und meint damit Männer, die um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert geboren wurden, teilweise noch am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben und danach „gegen innere und äußere Feinde – gegen Spartakus und Ruhrarmee, gegen die Münchner Räterepublik, vor allem aber gegen Polen an der östlichen Grenze des Reiches sowie gegen die französische Besatzungsmacht um Ruhrgebiet und in Rheinland“48 kämpften. Meist über Umwege fanden diese Personen in den 1920er Jahren zur NSDAP und wurden aktive Parteimitglieder. Die Wechselwirkung zwischen Engagement auf der einen Seite und dankbarem 43 44 45 46
Schultze - Pfaelzer, Propaganda, S. 197. Ebd. Vgl. Donner, Bedeutung, S. 120. Vgl. Wille und Weg, 5 (1931), S. 162 („Wille und Weg“ ist die ab Frühjahr 1931 erscheinende Monatsschrift der Reichspropagandaleitung der NSDAP; vgl. dazu Paul, Aufstand, S. 72). 47 Vgl. Paul, Aufstand, S. 279; Donner, Bedeutung, S. 120. 48 Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten ? – Typologien des politischen Verhaltens in der NS - Zeit. In : Gerhard Hirschfeld ( Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus – Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a. M. 2004, S. 17– 44, hier 27.
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Aufstieg in der Partei auf der anderen Seite hat sicherlich zur Motivation dieses Propagandisten beigetragen – zweifelsohne spielte auch die akademische Ausbildung für seine durchaus anspruchsvolle Aufgabe eine Rolle. Schumanns Wirkungszeit in der sächsischen NSDAP - Propagandaleitung umfasste also praktisch das gesamte Jahr 1931 und soll anhand von zwei Hauptaspekten, der Reichweite und dem organisatorischen Apparat der Propaganda, vorgestellt werden. Ohne Zweifel bestand das wichtigste Arbeitsfeld des Gaupropagandawartes darin, die von Goebbels mit Nachdruck geforderte gesamtgesellschaftliche Durchdringung der nationalsozialistischen Propaganda umzusetzen. Die sächsische Bevölkerungsstatistik der frühen 1930er Jahre weist in Bezug auf die Berufsverteilung eindeutige Verhältnisse nach : Eine deutliche Mehrheit von mehr als 50 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung gehörte dem Bereich Handwerk und Industrie an, wohingegen nur knapp 9 Prozent in der Landwirtschaft tätig waren.49 Beiden Berufsgruppen sollte im Jahr 1931 gleichermaßen das bevorzugte Interesse der NSDAP - Propaganda in Sachsen gelten. Der RPL war bewusst, dass ihre Werbeversuche gerade bei diesen Personengruppen verbessert werden mussten, um damit den gegnerischen Parteien – hier vor allem den Sozialdemokraten – die Anhänger - bzw. Wählerschaft streitig machen zu können. Goebbels und auch Schumann verlangten von den lokalen Propagandaeinheiten unermüdliche Kleinarbeit – als Vorbild diente hier die Agitationsstruktur der KPD mit ihrer Konzentration auf Wohnstätten und Betriebe. Sachsens Gaupropagandaleiter erwartete eine permanente Mund - zu Mund - Propaganda der Parteigenossen in den zu bildenden Wohn - und Straßenzellen. Außerdem sollten die Adressaten gründlich mit Propagandamaterial der NSDAP versorgt werden. Paul spricht hier von einer „wahren Publikationsflut [...], um den 10- Pfennig - Agitationsbroschüren von KPD und SPD ein geeignetes Kampfmittel entgegenzusetzen“.50 Schumanns propagandistische Stoßrichtung verlangte, „den Glauben an die bolschewistische Irrlehre zu erschüttern, um dadurch die Befreiung der Arbeiterschaft aus den Klauen des internationalen jüdischen Weltkapitalismus in die Wege leiten zu können“.51 Seine Agitation war also primär gegen die Arbeiterparteien gerichtet. Mit der Gründung der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO ) im Januar 1931 in Leipzig sollte der NSDAP der Vorstoß in die gewerkschaftlich organisierten Kreise gelingen. Ein Flugblatt, das im Januar an Leipziger Arbeiter verteilt wurde, diskutierte die Frage „Marx oder Hitler ?“52 und beschuldigte sowohl SPD als auch KPD einer verlogenen Politik gegenüber den deutschen Arbeitern und Angestellten. Nicht der internationale Sozialismus, sondern einzig und allein der nationale Sozialismus, d. h. die NSDAP Hitlers und die NSBO als Institution, würden für „sozialistische Gerechtigkeit“53 sor49 50 51 52 53
Vgl. Reinhold, Landwirtschaftskammer, S. 188. Paul, Aufstand, S. 72. Schumann, Arthur, Antibolschewistische Propaganda. In: Wille und Weg, 3 (1931), S. 81. Zit. nach Szejnmann, Nazism, S. 266 f. Ebd.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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gen. Beim derzeitigen Forschungsstand kann noch keine konkrete Aussage zum Erfolg dieser Propagandaaktion abgegeben werden. Indikatoren wie die 1932 von Goebbels forcierte „Hinein in die Betriebe“ - Aktion oder auch die publizistische Anprangerung durch Arno Franke54 gegen die innerparteilichen Zustände – unter anderem innerhalb der sächsischen NSDAP - Organisationen55 – deuten allerdings auf keinen großen Anfangserfolg der NSBO hin. Die Wahlen zur sächsischen Landwirtschaftskammer im Mai 1931 gaben den örtlichen Nationalsozialisten konkreten Anlass, die geforderten Änderungen in Bezug auf die ländliche Propaganda umzusetzen. Seit 1929 existierte im Freistaat ein agrarpolitischer Apparat der NSDAP, der eine gewisse Basisarbeit bei den Landwirten und Bauern leistete, weshalb die Partei mit einer eigenen Liste an den Wahlen teilnehmen konnte. Die sächsische NSDAP begann im April 1931 ihren Wahlkampf. Dabei wurde im Vorfeld seitens der RPL und Gaupropagandaleitung ausführlich über anzuwendende Methoden der ländlichen Propaganda unterrichtet und belehrt. Betont wurde hier „die psychische Beschaffenheit der zu beeinflussenden Bauern und Landwirte“,56 bei denen die städtisch aggressiv geprägte Werbung der NSDAP kaum Erfolg haben dürfte. Die Goebbels’sche Doktrin der Angriffspropaganda wurde aufgeweicht und verstärkt argumentatives Präsentieren verlangt, da es im Saal des Dorfgasthofes wenig erfolgversprechend sein würde, wenn „sich unsere Redner nun in uferlosen Schimpfereien ergehen“.57 Die Zurückhaltung der Nationalsozialisten ging sogar soweit, dass auf das obligatorische „Heil“ - Rufen am Ende solcher Veranstaltungen verzichtet wurde.58 Dennoch waren die Methoden der städtischen und ländlichen Propaganda im Kern dieselben – auch auf dem Land wurden Sprechabende veranstaltet, Schaukästen bestückt, Flugblätter verteilt und Plakate geklebt. Die NSDAP hat im Zuge des Wahlkampfes auf dem Land im Frühjahr 1931 mehr als 1 000 Veranstaltungen in Sachsen abgehalten. Die wichtigsten Flugblätter der Partei richteten sich mit Schlagzeilen wie „Nationalsozialisten und Landwirtschaftskammer“, „Gartenbautreibende, wacht auf !“ und „Wer hat die Landwirtschaft verraten ?“ inhaltlich direkt an die ländliche Bevölkerung.59 Das Ergebnis der Wahlen zur sächsischen Landwirtschaftskammer brachte einen deutlichen Sieg für die Nationalsozialisten. Mehr als 55 Prozent der abge54 Franke war bis Sommer 1932 Redakteur des „Freiheitskampfes“, er trat im Juli 1932 wegen großer Differenzen mit Martin Mutschmann aus der NSDAP aus, vgl. Helmut Schwarzbach, Über den Kampf der KPD gegen die Gefahr des Faschismus und für die Verteidigung der Lebensrechte des deutschen Volkes in Ostsachsen in der Zeit von 1929–1933, Berlin ( Ost ) 1969, zugl. Diss. Masch., S. 277. 55 Vgl. Arno Franke, Das Doppelgesicht der NSDAP – Die Arbeiterpartei der Adelsgenossenschaft, Dresden 1932, S. 10 f. 56 Donner, Bedeutung, S. 131. 57 Gustav Staebe, Erkenntnisse ländlicher Propaganda. In : Wille und Weg, 1 (1931), S. 11. 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Donner, Bedeutung, S. 133. 60 Vgl. Reinhold, Wahl Landwirtschaftskammer, S. 194.
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gebenen Stimmen entfielen auf ihre Liste.60 Lediglich das Ergebnis betrachtet, kann von einer erfolgreichen Propagandakampagne der NSDAP auf dem sächsischen Land ausgegangen werden. Es gilt aber noch zu untersuchen, wie tief und anhaltend die Partei in dieses Milieu vordringen konnte. Die Organisation des Propagandaapparates der NSDAP ging mit einer Forderung Goebbels’ nach Konzentration auf die Kleinarbeit im lokalen Raum einher. Im Zusammenhang mit der propagandistischen Offensive um die Wähler der beiden Linksparteien, war es für die NSDAP von fundamentaler Bedeutung, einen funktionierenden Nachrichtendienst zu unterhalten. Anfang 1931 begann Schumann mit dem Aufbau eines solchen Apparates im NSDAP - Gau Sachsen.61 Die Aufgabenbereiche dieses Dienstes lassen sich in vier Punkten zusammenfassen : Er sollte erstens der Überwachung der gegnerischen Parteien dienen, zweitens wollte die NSDAP mithilfe einer Sammlung von deren Propagandamaterial Schwachstellen ausmachen und kommunizieren. Weitergehend wurde drittens verlangt, die politische Arbeit anderer Parteien – besonders die der SPD und KPD – mit Zersetzungs - und Sabotageakten zu schwächen.62 Zudem besaßen viertens Veranstaltungen mit „bekannte[ n ] und einflussreiche[ n ] ehemalige[ n ] Kommunisten, ehemalige[ n ] Freunde[ n ] Sowjet- Russlands, [ die ] ihren noch verblendeten einstmaligen Gesinnungsbrüdern die Wahrheit über Russland und die Praxis des Kommunismus predigten“63 für die Nationalsozialisten einen hohen propagandistischen Stellenwert.64 Auf dem Gebiet der Propagandaorganisation wurden in Sachsen unter Arthur Schumann vor allem zwei Neuerungen eingeführt. Die wichtigste davon war die regelmäßige Erstattung von Rechenschaftsberichten durch regionale und lokale Organisationseinheiten an die RPL. Seit 1931 schickte die Gaupropagandaleitung Sachsen monatliche Tätigkeitsberichte nach München und verfasste, so weit wie möglich, Propaganda - Statistiken.65 Bei der zweiten Neuerung ging es um die Organisation der Propaganda innerhalb des Gaues Sachsen : Anhand von Rednerlisten, Veranstaltungsplänen und Themenreihen sollte eine möglichst effektive Öffentlichkeitsarbeit abgestimmt werden.66 Die Sommermonate standen für die NSDAP 1931 in Sachsen unter der von Schumann ausgegebenen Devise : „Immer und immer wieder muss [...] nachgewiesen werden, dass diese Partei [ die KPD ] die aktivste Verräterin des Proletariats ist.“67 Bisher galten der Juli und August aus Sicht der Propagandisten als Monate, die keine großangelegten Aktionen lohnten. Die Gaupropagandaleitung wollte allerdings im Kampf gegen den „Marxismus“ keine Zeit verlieren 61 62 63 64 65
Vgl. Donner, Bedeutung, S. 123. Vgl. Paul, Aufstand, S. 77. Donner, Bedeutung, S. 134. Verweis auf Beitrag von Udo Grashoff im Sammelband. Vgl. Joseph Goebbels, Richtlinien der Reichspropagandaleitung. In : Wille und Weg, 2 (1931), S. 56 f. 66 Vgl. Donner, Bedeutung, S. 123. 67 Schumann, Propaganda, S. 80.
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Die Propaganda der sächsischen NSDAP
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und entschied sich für die Aufstellung von Propagandastoßtrupps. Deren Aufgabe war es, spontan überall in der Öffentlichkeit, die immer wieder angemahnte Kleinarbeit für die NSDAP zu leisten. Die Kommunikationsmittel der kleinen Gruppen waren neben den typischen Plakaten, Klebezettel und Flugblättern auch überraschend inszenierte Aufmärsche mit kurzen Reden oder Diskussionskreisen an Stellen mit zu erwartendem großen Publikumsauflauf – zum Beispiel von Arbeitslosen an Stempelstellen oder Suppenküchen – und damit gesteigerter Aufmerksamkeit.68 Schumanns Wirken im Jahr 1931 brachte für die Propaganda der Nationalsozialisten in Sachsen zwei wichtige Veränderungen : Zum einen wurde mit der Durchdringung der Gesellschaft durch die Propaganda der Partei tatsächlich begonnen und zum anderen ist eine deutliche Professionalisierung von Arbeit und Organisation der NS - Propagandisten in Sachsen erkennbar.
5.
Fazit
Die Auswertung der Propagandamethoden und - medien der sächsischen NSDAP zeigt, dass das Jahr 1931 eine Übergangsphase markiert. Obwohl die Wahlen des Jahres 1930 der Partei Massenzuspruch brachten, war der Parteiapparat und damit auch die Reichweite der Propaganda auf regionale Schwerpunkte begrenzt. Letztere lag – zumindest im Vergleich der quantitativen Größe der Parteistrukturen – hinter der der beiden Linksparteien SPD und KPD zurück. Erst danach und parallel zum stetig steigenden Zustrom an neuen Mitgliedern wuchs auch die Propaganda der sächsischen NSDAP im Verlauf des Jahres mit teilweise explosionsartigen Sprüngen. Die nationalsozialistische Parteipresse, die nichtperiodischen Druckwerke ( Flugblätter und Plakate ) sowie die zunehmende Versammlungstätigkeit beschleunigten die Massenverbreitung der nationalsozialistischen Idee. Auch von den Ansätzen der von Goebbels geforderten Professionalisierung der regionalen und lokalen Ebenen des nationalsozialistischen Propagandaapparats konnte die Wirkung öffentlicher Kommunikation der NSDAP in Sachsen profitieren. Die gesellschaftliche Expansion der Partei ging mit neuen Ideen und Konzepten zu Propagandamethoden einher, der Erfolg war freilich unterschiedlich. Dennoch brachte das Jahr 1931 eine quantitative und qualitative Expansion der nationalsozialistischen Propaganda in Sachsen. Aufbauend auf den Wahlerfolgen ein Jahr zuvor, wurde im Verlauf des Jahres 1931 die Basis für die scheinbar permanenten Propagandakampagnen des „Entscheidungsjahres“ 1932 gelegt. Dazu trug besonders Arthur Schumanns Tätigkeit maßgeblich bei, er veranlasste in Sachsen eine deutlich differenzierte und verstärkt zielgruppenorientierte Propaganda. Außerdem ermöglichte Schumanns Wirken auch eine Verbesserung der vertikalen Organisation und Kontrolle der Propaganda. Dennoch 68 Vgl. Donner, Bedeutung, S. 137.
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wäre es ein Trugschluss, im Propagandaapparat der sächsischen NSDAP zu Beginn des Jahres 1932 eine perfekt funktionierende Einrichtung innerhalb der Parteihierarchie zu sehen.
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Die „Zwickauer Konferenz“. Informelle Zusammenkünfte westsächsischer Amtshauptleute während der Jahre 1919 bis 1945 im Kontext ihrer Dienstberatungen1 Francesca Weil
1.
Einleitung
Am 29. September 1937 schrieb der Amtshauptmann von Glauchau, Freiherr Kurt von Welck,2 an seinen Kollegen in Plauen, Alfred Beschorner, folgende Zeilen : „Als ich zu Beginn des 4. Kriegsjahres nach Glauchau kam, war der politische Himmel bereits sehr düster und schwarze Gewitterwolken wurden am Horizont sichtbar. Als dann 1 Jahr später, im November 1918, der Umsturz hereinbrach und alles drüber und drunter zu gehen drohte, waren wir damaligen Amtshauptleute in der Hauptsache auf uns selbst gestellt und angewiesen und mussten uns aus eigenen Kräften zu halten und zu helfen suchen, so gut es ging. Aber die völlige Isolierung, in der sich jeder befand, die Unmöglichkeit, sich mit Aufsichtsbehörden, anderen Behörden und mit zuverlässigen Persönlichkeiten im eigenen Bezirk in ausreichendem Maße zu besprechen und zu beraten, führte schon 1919 ganz von selbst zu zwanglosem Zusammenkommen der Amtshauptleute von Zwickau ( Dr. Hartenstein ), Stollberg ( Dr. Venus ) und Glauchau, woraus dann nicht lange danach die ‚Zwickauer Konferenz‘ hervorging. Ich habe es in diesen Jahren als außerordentlich wertvoll empfunden, dass wir – in allmählich sich vergrößernder Zahl – mehrmals alljährlich zusammenkommen konnten, um unter Ihrer Leitung unsere Beobachtungen und Erfahrungen auszutauschen, Zweifelsfragen zu klären und Anregungen zu geben und zu emp1
2
Im Zuge der 1939 erlassenen „Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen“ wurden die sächsischen Amtshauptleute in Landräte und die Kreishauptleute in Regierungspräsidenten umbenannt, die bis dato als „Bezirke“ bezeichneten Verwaltungsbezirke der Amtshauptmannschaften in Kreise und die Verwaltungsbezirke der Kreishauptmannschaften in Regierungsbezirke. Die Unterschrift des Amtshauptmannes von Glauchau ist in dem Schreiben schwer zu entziffern. Es ist aber davon auszugehen, dass es sich hier um ein Schreiben von Freiherr Kurt Ernst von Welck handelt, da er von 1917 bis 1937 der Amtshauptmannschaft Glauchau vorstand. Vgl. Grundriss zur deutschen Verwaltungsgeschichte, Reihe B, Band 14 : Sachsen. Bearb. von Thomas Klein, Marburg / Lahn 1982, S. 307.
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fangen. Dass Sie, in ihrer Eigenschaft als Vorsitzender dieser Vereinigung, jetzt meiner Zugehörigkeit zu diesem Kreis gedenken, hat mich außerordentlich gefreut und ich danke Ihnen hierfür herzlich.“3 Über die Treffen zur „Zwickauer Konferenz“ während der Zeit der Weimarer Republik existieren keinerlei Unterlagen. Dass sich die westsächsischen Amtshauptleute in diesem Zeitraum regelmäßig zu informellen Besprechungen getroffen haben, geht lediglich aus dem oben zitierten Schreiben von Welcks an Beschorner hervor. Von den Treffen in den 1930er Jahren existieren entsprechende Einladungen mit Tagesordnungspunkten und Veranstaltungsabläufen sowie Rundschreiben der Amtshauptleute, mittels derer sie sich über die Tagesordnungen abgesprochen haben. Protokolle wurden laut eines Schreibens Beschorners an den Ministerialdirektor und Leiter der 1. Abteilung des sächsischen Innenministeriums, Curt von Burgsdorff, aus dem Jahr 1937 generell nicht verfasst.4 Dennoch lässt es die Quellenlage zu, die Geschichte der „Zwickauer Konferenz“ im Kontext der formalen Dienstberatungen knapp zu skizzieren und auf folgende Fragen Antworten zu finden : Welchen Stellenwert besaß dieser Kreis um Amtshauptmann Alfred Beschorner tatsächlich ? Wie reihen sich diese informellen Treffen, die nachweislich bis Ende der 1930er Jahre stattgefunden haben,5 in die Runde der offiziellen Dienstbesprechungen ein ? Spielten diese Treffen nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten eine andere Rolle ? Wie ist die Wiederbelebung von Teilen dieser Runde während der Jahre des „totalen Krieges“ zu erklären? Welche Bedeutung kam den Amts-, aber auch den Kreishauptleuten und ihren Behörden im NS - Machtgefüge überhaupt zu ?
3 4
5
Schreiben an den Amtshauptmann von Plauen, Beschorner, vom 29. 9. 1937 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Plauen 30042/ Akte 159, Bl. 13 f.). Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes von Plauen, Beschorner, an den Ministerialdirektor von Burgsdorff in Dresden vom 29. 9. 1937 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Plauen 30042, Akte 159, Bl. 15). Dass derartige Besprechungen auch unter den ostsächsischen Amtshauptleuten stattgefunden haben, ist nicht auszuschließen, kann aber aufgrund der spärlichen Aktenlage nicht eindeutig belegt werden. Unterlagen über die „Zwickauer Konferenz“ der westsächsischen Amtshauptleute enthalten auch nur die Bestände der Amtshauptmannschaften Plauen und Annaberg. Die Runde umfasste demzufolge die Behördenleiter von Auerbauch, Oelsnitz, Schwarzenberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Stollberg, Annaberg, Marienberg, Freiberg, Plauen und Zwickau in den Kreishauptmannschaften Chemnitz und Zwickau. Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes von Plauen, Beschorner, an die Amtshauptleute der Kreishauptmannschaften Chemnitz und Zwickau vom 31. 3. 1937 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Plauen 30042, Akte 159, Bl. 1); Tagungsordnung für die kameradschaftliche Zusammenkunft der Landräte am 11. 5. 1939 ( ebd., Bl. 47).
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Die „Zwickauer Konferenz“
2.
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Die sächsischen Kreis - und Amtshauptmannschaften bis 1933
Mit dem 1873 verabschiedeten „Gesetz, die Organisation der Behörden für die innere Verwaltung betreffend“ entstanden aus den traditionellen sächsischen Kreisdirektionen die Kreishauptmannschaften „als unmittelbar delegierte Organe der Staatsregierung für die innere Verwaltung“. Ihre grundsätzliche Aufgabe bestand in der Aufsicht über die Tätigkeit und Geschäftsverwaltung aller dem Ministerium des Innern unterstehenden Verwaltungsbehörden und ihrer Bezirke.6 Den vier Kreishauptmannschaften Dresden - Bautzen, Leipzig, Chemnitz und Zwickau stand jeweils ein Kreishauptmann vor. Die Verwaltungsreform von 1873/74 schloss auch Veränderungen für die sächsischen Amtshauptmannschaften ein. Sie waren seither nicht mehr über den Ämtern stehende zweite ( mittlere ) Regionalbehörden mit Kontrollfunktionen, sondern eigenständige untere staatliche Behörden.7 Ihr Wirkungskreis als unterste Instanz der Landesverwaltung dehnte sich auf alle Angelegenheiten aus, für welche die Gemeindebehörden nicht zuständig waren bzw. keine besonderen Behörden bestanden. Sie führten die Aufsicht über die Gemeinden, überwachten die örtliche Polizeiverwaltung, kümmerten sich um die Armenversorgung und Medizinalfürsorge, kontrollierten sowohl Handel und Gewerbe als auch Land - und Forstwirtschaft. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich außerdem auf die Bau - und Feuerpolizei, Versicherungs - und einige Finanz - und Militärangelegenheiten, das Sparkassenwesen sowie Straßen - und Wasserbaugeschäfte. Bis ins 20. Jahrhundert hinein entwickelten sich diese Dienststellen zu fest organisierten, bürokratischen Institutionen mit Amtshauptleuten als Leiter.8 Dieses 1873/74 neu geschaffene System der inneren staatlichen Verwaltung blieb bis 1943 mit nur geringen Modifikationen in seiner Grundstruktur erhalten.9 Die Stellung als Amtshauptmann galt bis in die Weimarer Zeit hinein als eine der begehrtesten der Beamtenlaufbahn, denn nach Ansicht des Leiters der Abteilung „Allgemeine und innere Verwaltung“ der Landesregierung Sachsens, Georg Schulze, versprach sie „eine hochangesehene, autoritative Stellung und eine befriedigende Amtsführung“.10 Bis 1918 war der Amtshauptmann – so die Meinung des Behördenleiters von Annaberg, Freiherr Adolf von Wirsing (1928– 1945) – „als örtlicher Vertreter des Königs der unbestrittene Repräsentant der Staatshoheit in seinem Bezirk“.11 Auch danach änderte sich nichts grundsätz6 Vgl. Bewegte sächsische Region. Vom Leipziger Kreis zum Regierungsbezirk Leipzig 1547–2000. Hg. v. Sächsischen Staatsarchiv Leipzig, Halle 2001, S. 68 f. 7 Vgl. ebd., S. 69. 8 Vgl. Lothar Uhlig / Lothar Klapper, 125 Jahre Landkreis Annaberg 1874–1999. Die Verwaltung im Wandel der Zeit, Annaberg 1999, S. 55 f. 9 Vgl. Bewegte sächsische Region, S. 68. 10 Vgl. Schreiben von Schulze, k.Leiter der Abt. I der Landesregierung Allgemeine und innere Verwaltung, an den Landrat zu Annaberg, von Wirsing, vom 28. 6. 1944 (Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 11 Vgl. Landräte als „Kriegsschuldige“. Schreiben des Freiherrn von Wirsing an die sächsische Landesverwaltung vom 4. 10. 1945 ( ebd., unpag.).
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lich an der Wertschätzung dieses Amtes. Während der Weimarer Republik kam es in Sachsen trotz aller Bestrebungen nicht zu Verwaltungsreformen.12 Erneuerungen gab es lediglich dahingehend, dass die Ämterbesetzung unter Berücksichtigung der parteipolitischen Struktur des Bezirkes erfolgte.13 Außerdem lag die Leitung der Bezirksversammlung nicht mehr in den Händen des Amtshauptmannes, sondern in denen eines von den Bezirksvertretern gewählten Vorsitzenden. Der Amtshauptmann nahm an den Versammlungen lediglich teil. Man kann aber trotzdem davon ausgehen, dass sich ein sächsischer Amtshauptmann – analog zu einem preußischen Landrat – in seinem Kreis bis 1918 zu Recht als „ungekrönter König“ und „Vater“ seines Bezirkes fühlen konnte,14 woran sich auch bis 1933 nichts wesentlich änderte.
3.
Zur Situation der sächsischen Kreis - und Amtshauptleute 1933 bis 1939
Nach dem infolge der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten erlassenen „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ (1934) unterstand die sächsische Landesregierung als Mittelinstanz der Reichsregierung und ihren Behörden, die Kreishauptmannschaften als Mittelbehörden wiederum der sächsischen Landesregierung. Mit Blick auf eine Neuordnung der staatlichen Verwaltung des gesamten Reiches kam es ab diesem Zeitpunkt auch schon zu veränderten Unterstellungsverhältnissen. So mussten die sächsischen Kreishauptleute seit Juli 1934 monatliche Stimmungsberichte über die wirtschaftliche und politische Lage in den Kreishauptmannschaften direkt an den Reichsinnenminister übermitteln; der sächsische Innenminister erhielt lediglich eine Kopie.15 Mitunter gingen auch Erlasse der Reichsbehörden nicht an die Landesregierung bzw. den Reichsstatthalter, sondern wurden direkt an die Kreishauptleute gerichtet. Der sächsische NSDAP - Gauleiter und Reichsstatthalter Martin Mutschmann beschwerte sich umgehend darüber, wollte er doch die mit der Zentralisation der politischen Macht beim Reich einhergehende Schwächung der ihm unterstellten Landesregierung nicht hinnehmen.16 So zog er im Januar 1938 mittels eines Erlasses verschiedene Zuständigkeiten an sich, die nach reichsrechtlichen
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Bis 1939 wurden die Verwaltungsbezirke der Amtshauptmannschaften Bezirke genannt. Die Bezirksversammlungen entsprechen demzufolge Kreistagen. Vgl. Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 260 ff. Vgl. Landräte als „Kriegsschuldige“. Schreiben des Freiherrn von Wirsing an die sächsische Landesverwaltung vom 4. 10. 1945 ( Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). Vgl. Wolfgang Stelbrink, Der preußische Landrat im Nationalsozialismus, Münster 1998, S. 1 ff. und S. 403. Vgl. Schreiben des Kreishauptmanns zu Chemnitz, Grille, an den Reichsminister des Innern vom 7. 9. 1934 ( BArch Berlin, RA 58, Akte 3731, Bl. 1–5); Bewegte sächsische Region, S. 78. Vgl. ebd., S. 101.
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Vorschriften formal den Kreishauptleuten zustanden. Dennoch sahen Mutschmann und der ihm nahestehende sächsische Innenminister Karl Fritsch in den Kreishauptmannschaften auch weiterhin Instanzen, die sich immer mehr zu Mittelbehörden der Reichsbehörden unter Umgehung des Reichsstatthalters entwickelten, was dessen Kompetenzen einschränkte.17 Diese Auffassung Mutschmanns musste zwangsläufig Differenzen zwischen der Landesregierung und den Kreishauptmannschaften, insbesondere mit deren Leitern, nach sich ziehen. Hinzu kamen seit der „Machtergreifung“ anhaltende Spannungen zwischen den Kreishauptleuten und den NSDAP - Dienststellen in den Regionen. So stellte sich beispielsweise der Kreishauptmann von Chemnitz, Paul Grille, in seinen monatlichen Geheimen Berichten an den Reichsminister des Innern über die politische Situation in den Amtshauptmannschaften der ihm anvertrauten Region hinter diejenigen Behördenleiter, welche die Einflussnahme der Parteidienststellen auf die staatlichen Institutionen kritisierten. Stellenweise übernahm er ihre Auffassungen und beklagte, dass Dienststellen „sich gewisser Sachen annehmen, die nicht zu ihren Zuständigkeiten gehören“. Sie würden sich für den „ausschließlichen Mittelpunkt örtlicher Politik“ halten; das „Führerprinzip“ fasse man in dem Sinne auf, als „dürfe jeder sein eigener Führer sein“.18 In Beamtenkreisen sei man enttäuscht darüber, dass seitens der Vertreter hoher Parteistellen fast niemals mit einem Wort „der Anerkennung der treuen und pflichtbewussten Arbeit der Beamten am Wiederaufbauwerke des neuen Staates“ gedacht werde. Parteifunktionäre würden die Beamtenschaft eher eines bürokratischen Verhaltens bezichtigen, wenn sie die Gesetze und Verordnungen pflichtgemäß zur Anwendung brachten. Viele Parteidienststellen sahen nach Ansicht Grilles in Schilderungen tatsächlicher Verhältnisse noch immer mehr unerwünschte Kritik statt den ehrlichen Willen der Beamten, den Aufbau des Dritten Reiches zu fördern.19 Prinzipiell hatten die Parteidienststellen – so Grille – noch zu wenig erkannt, dass „Parteiorganisationen und Staatsapparat zwei gleichwertig notwendige Säulen des Staates“ mit unterschiedlichen Aufgaben, aber gleichem Ziel darstellten. Deshalb existiere auch die noch vielfach vertretene Meinung, die örtliche Parteivertretung könnte die Haltung der örtlichen Staats - und Gemeindevertretung festlegen.20 Demnach war im Nationalsozialismus auch die Arbeitssituation der Landräte prekär. Sie wurde zunehmend geprägt durch eine straffe Aufsichtsführung des Reichsministeriums des Innern, eine zusätzliche inoffizielle Kontrollfunktion der Partei, stets drohenden Amtsverlust, durch einen fortschreitenden Verlust 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Schreiben des Kreishauptmanns zu Chemnitz, Grille, an den Reichsminister des Innern vom 7. 9. 1934 ( BArch Berlin, RA 58, Akte 3731, Bl. 1); Schreiben des Kreishauptmanns zu Chemnitz, Grille, an den Reichsminister des Innern vom 9. 11. 1934 (ebd., Bl. 14). 19 Vgl. Schreiben des Kreishauptmann zu Chemnitz, Grille, an den Reichsminister des Innern vom 10. 1. 1935 ( ebd., Bl. 28 f.). 20 Vgl. ebd., Bl. 30.
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an kommunalen Aufgaben sowie ineffektiven Auseinandersetzungen mit der rasch anwachsenden Zahl von staatlichen bzw. „ständischen“ Sonderbehörden und Dienststellen der NSDAP - Kreisleitungen.21 Ganze Aufgabengebiete der Kreisverwaltung gingen bereits vor Kriegsausbruch legal auf die personell expandierenden Parteikreisleitungen über oder wurden von diesen dauerhaft an sich gerissen.22 Mit dem Erlass der neuen Deutschen Gemeindeordnung ( DGO) von 1935 kam hinzu, dass die NSDAP - Kreisleiter als „Beauftragte der NSDAP“ großen Einfluss auf Personalentscheidungen im Kreis und in den Gemeinden besaßen : Nach § 41 DGO mussten die bei den Gemeinden eingegangenen Bewerbungen für Stellen hauptamtlicher Bürgermeister und Beigeordneter den sogenannten Beauftragten der NSDAP zugeleitet werden. Dieser schlug nach Beratung mit den Gemeinderäten in nicht öffentlicher Sitzung letztendlich drei Bewerber vor.23 Diese Einmischung der Partei in staatliche Angelegenheiten musste zwangsläufig zu Konflikten zwischen den Behörden und den Parteidienststellen führen. Auch die 1939 hastig erlassene „Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen“ überführte das mitunter angespannte Verhältnis zwischen Landräten und Kreisleitern nicht in „festere und vorgeschriebene Bindungen“.24 Die sogenannte „Menschenführung“ im Kreis – was nichts Konkretes hieß, aber alles bedeuten konnte – wurde dem NSDAP - Kreisleiter übertragen, ausschließlicher Kompetenzbereich des Landrats war die ordnungsgemäße Erfüllung aller Aufgaben der laufenden Verwaltungsführung. Diese Anordnung berechtigte die NSDAP - Kreisleiter bzw. ihre Kriegsstellvertreter u. a., dem Landrat Anregungen zu behördlichen Vorhaben und Maßnahmen zu geben und ihn vom „Standpunkt der Menschenführung“ aus auf maßgebliche Gesichtspunkte aufmerksam zu machen. Die Landräte wiederum mussten die NSDAP - Kreisleiter über alle wichtigen Vorhaben und Maßnahmen, die dazu geeignet waren, die Stimmung der Bevölkerung im Kreise zu beeinflussen, möglichst frühzeitig unterrichten.25 Aufgrund der Reibereien erwies sich die Auswahl der Informationen als kompliziert, für die Verwaltungsabläufe zumindest als hinderlich. So achtete beispielsweise der Landrat von Annaberg, von Wirsing, penibel darauf, dass der gesamte Schriftverkehr seiner Behörde mit der Parteikreisleitung ausnahmslos über seinen Schreibtisch lief.26 Darüber hinaus mischte sich der eine oder andere NSDAP - Kreisleiter auch maßgeblich in Verwaltungsaufgaben ein und
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Vgl. Stelbrink, Der preußische Landrat, S. 403. Vgl. ebd., S. 400 f. Vgl. http ://www.verfassungen.de / de / de33–45/ gemeindeordnung35.htm; 21. 2. 2012. Vgl. Stelbrink, Der preußische Landrat, S. 172 und 378. Vgl. Landräte als „Kriegsschuldige“. Schreiben des Freiherrn von Wirsing an die sächsische Landesverwaltung vom 4. 10. 1945 ( Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 26 Vgl. Schreiben des Büroleiters des Landrates an alle Angestellten vom 26. 8. 1943 (SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 459, unpag.).
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überschritt damit eindeutig seine rechtlich festgeschriebenen Kompetenzen.27 Nach Ansicht von Wirsings im Jahre 1935 sahen die Kreisleiter in den Landräten die Vertreter des Staates, die sie unverhüllt ignorierten.28
4.
Offizielle und informelle Dienstbesprechungen der Behördenleiter bis Kriegsbeginn
Bei alledem fühlten sich die sächsischen Landräte nach 1933 weitgehend auf sich selbst gestellt, da eine klare Führung durch den Minister des Innern fehlte. Regelmäßige Besprechungen hielt der NSDAP - Gauleiter Mutschmann in Dresden nur mit den Parteikreisleitern ab.29 Wenn dagegen der Minister des Innern die Landräte zusammenrief, so geschah das nach Aussage von Wirsings nur in Form von Kundgebungen, bei denen sie mit ihren Anliegen nicht zu Wort gekommen seien.30 Der Annaberger Landrat schlug deshalb seinen Vorgesetzten in Dresden 1935 vor, das zwar „durchaus korrekte Verhältnis“ zwischen den beteiligten staatlichen und Parteidienststellen besser zu gestalten, indem Amtshauptleute zu den Besprechungen des Gauleiters mit den Kreisleitern und Kreisamtsleitern für Kommunalpolitik bei Fragen der allgemeinen Staats - und Kommunalpolitik hinzugezogen werden sollten. Nur so könne die Auffassung, dass „zwischen den Vertretern der Bewegung und denen des Staates ein gewisser Gegensatz“ bestünde, überwunden werden.31 Offenbar reagierte der sächsische Minister des Innern, Fritsch, auf einen dieser Vorschläge. Zwei Einladungen seines Hauses zu Beratungen in Dresden aus den Jahren 1937 und 1938 zeigen, dass den Amtshauptleuten Gelegenheiten geboten wurde, während dieser beiden Jahresveranstaltungen des Ministeriums des Innern spontan Fragen zur Sprache zu bringen, die nicht auf der Tages-
27 Das ging z. B. so weit, dass sich der Annaberger NSDAP - Kreisleiter Werner Vogelsang mit einem ausführlichen Schreiben persönlich an den sächsischen Minister des Innern, Karl Fritsch, wandte, in welchem es um eine so bedeutende Verwaltungsangelegenheit des Kreises wie die geplante Bildung eines „Groß - Annaberg“ aus Annaberg und Buchholz und dessen damit verbundenes Ausscheiden aus dem Landkreis ging. Fritsch verhandelte daraufhin sogar mit Vogelsang. All das geschah ohne Kenntnis des Amtshauptmanns von Wirsing. Vgl. Schreiben von NSDAP - Kreisleiter Vogelsang an den Staatsminister des Innern in Dresden vom 15. 5. 1935 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 889, Bl. 3), Landräte als „Kriegsschuldige“ (Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 28 Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes zu Annaberg, von Wirsing, an den Ministerialdirektor von Burgsdorff in Dresden vom 16. 9. 1935 ( ebd., Akte 185, Bl. 3 f.). 29 Vgl. ebd., Bl. 4. 30 Vgl. Landräte als „Kriegsschuldige“. Schreiben des Freiherrn von Wirsing an die sächsische Landesverwaltung vom 4. 10. 1945 ( Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 31 Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes zu Annaberg, von Wirsing, an den Ministerialdirektor von Burgsdorff in Dresden vom 16. 9. 1935 ( SächsHStA Dresden, Amtshauptmannschaft Annaberg, Akte 195, Bl. 4).
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ordnung standen. Allerdings war es vonseiten des Ministers eher erwünscht, ihm anstehende Fragen im Voraus mitzuteilen, damit eine „sachgemäße Beantwortung“ vorbereitet und ggf. Referenten hinzugezogen werden konnten. Der Amtshauptmann von Grimma, Alfred Etienne, konnte sogar auf einer dieser Veranstaltungen referieren. Während der Besprechung im Jahre 1937 hielt er einen Vortrag über den „Wettbewerb für das schönste und gepflegteste Dorfbild in der Amtshauptmannschaft Grimma“.32 Im Jahre 1938 folgte Innenminister Fritsch überdies dem Vorbild der Treffen zwischen Kreis - und Amtshauptleuten und verband die jährliche Dienstbesprechung mit einem Begleitprogramm. Nach einer mehrstündigen Beratung im Dienstgebäude des Reichsstatthalters in Dresden, auf der auch Mutschmann eine Ansprache hielt, und einem gemeinsamen Mittagessen fuhr man mit Bussen nach Altenberg, um die neue Eisenbahnstrecke Dresden – Altenberg zu besichtigen und einem Lichtbildervortrag über den Ausbau dieser Strecke beizuwohnen. Am Folgetag wurde die Dienstbesprechung in einem Altenberger Berghof fortgesetzt. Danach führte man den Verwaltungsbeamten Schneepflüge und Streumaschinen der staatlichen Straßenbauverwaltung vor. Die Veranstaltung klang am Abend mit einem „kameradschaftlichen Beisammensein erzgebirgischer Prägung“ aus.33 Bis zum Jahr 1944 sind jedoch keine weiteren derartigen Treffen mehr dokumentiert. Dienstbesprechungen der Amtshauptleute und Oberbürgermeister, an denen sie jederzeit aktiv teilnehmen konnten, fanden dagegen über die Jahre hinweg bis zum Frühjahr 1943 mit den Leitern der jeweiligen Kreishauptmannschaften statt.34 Während dieser Arbeitstreffen kamen die Amtshauptleute mit ihren Anliegen tatsächlich zu Wort. Darin zeigt sich, dass es trotz oder gerade wegen der ungelösten Aufgabenabgrenzung zwischen den sächsischen Kreishauptmannschaften und den ihnen nachgeordneten Amtshauptmannschaften35 zu Absprachen zwischen den Behördenleitern kam, die mithalfen, Probleme der Amtshauptmannschaften, aber auch manche Spannungen mit den Mittelbehörden aus dem Weg zu räumen. Für die Kreishauptmannschaft Chemnitz fanden diese Zusammenkünfte nachweislich seit dem Herbst 1934 statt. Hierzu lud bis 1937 Kreishauptmann Paul Grille die Amtshauptleute zu einer „zwanglosen Zusammenkunft“ nach 32 Vgl. Schreiben des Ministerialdirektors, von Burgsdorff, an die Kreis - und Amtshauptleute vom 22. 7. 1937 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Plauen 30048, Akte 160, unpag.). 33 Vgl. Schreiben des Staatsministers des Innern an die Kreis - und Amtshauptleute vom 19. 1. 1938 ( ebd., unpag.). 34 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten an den Landrat von Annaberg vom 5. 2. 1943, Aufforderung zur Dienstbesprechung mit den Herren Landräten am 9. Februar 1943 (SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 459, unpag.); Schreiben des Regierungspräsidenten an den Landrat von Annaberg vom 3. 4. 1943, Aufforderung zur Dienstbesprechung mit den Herren Landräten am 8. April 1943 (ebd., unpag.). 35 Vgl. Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen, NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004, S. 80.
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Chemnitz ein.36 Im Vorfeld der Besprechung konnten die Amtshauptleute um „Anweisungen“ in bestimmten Sachfragen „bitten“.37 Auch Grilles Nachfolger, SS - Brigadeführer Emil Popp, rief die Amtshauptleute zu „gemeinschaftlichen Zusammenkünften“ zusammen, die mitunter auch Besichtigungen und geselliges Beisammensein einschlossen. Im Gegensatz zu Grille gab aber ausschließlich er die Tagesordnungen für die in die Zusammenkünfte integrierten Dienstbesprechungen vor, d. h. er wies ohne Zuarbeiten der Amtshauptleute an.38 Während der Beratungen nahmen Angelegenheiten wie beispielsweise die oben genannten monatlichen Lageberichte an die übergeordneten staatlichen Stellen, die Sicherstellung der Verpflegung für Flüchtlingslager, die Aushändigung von Treuedienstehrenzeichen oder die „Grenzlanderhebung“ des Rassepolitischen Amtes einen großen Raum ein.39 Für die Zeit nach 1937, als in Zwickau Karl Oesterhelt die Geschäfte des Kreishauptmannes führte, sind auch für diesen Regierungsbezirk Dienstbesprechungen der Amtshauptleute mit dem Kreishauptmann dokumentiert. Oesterhelt ließ zudem – und damit im Gegensatz zu seinen Chemnitzer Kollegen – umfangreiche Protokolle dieser Beratungen anfertigen und den Amtshauptmännern zukommen.40 Auch Oesterhelt forderte die Amtshauptleute auf, ggf. Themen für die Besprechungen vorzuschlagen. Abschriften der Einladungen erhielt zudem der sächsischen Minister des Innern, der hin und wieder Mitarbeiter seiner Behörde zu den Gesprächsrunden delegierte.41 Parallel dazu fanden 1936/37 mindestens drei „gemeinschaftliche Zusammenkünfte“ zwischen den Amtshauptleuten, dem Polizeipräsidenten von Chemnitz, den Oberbürgermeistern und den NSDAP - Kreisleitern der Kreishauptmannschaft Chemnitz statt. Was die Zusammensetzung anging, handelte es sich hierbei um Treffen, die sich der Annaberger Amtshauptmann, von Wirsing, für die Besprechungen beim Minister des Inneren in Dresden gewünscht hatte. Hierzu lud ebenfalls der Kreishauptmann von Chemnitz Grille ein. Auch diese Treffen wurden für Besichtigungen genutzt. So besuchten die Gesprächsteilnehmer 1936 bzw. 1937 z. B. das DKW - Werk, die Firma eines Automobil und Motorradherstellers in Zschopau, die Saidenbachtalsperre oder die im Bau 36 Vgl. Einladung des Kreishauptmannes, Grille, an die Amtshauptleute im Chemnitzer Regierungsbezirk zu einer Zusammenkunft am 6. 12. 1934 vom 28. 11. 1934 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 456, Bl. 3). 37 Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes zu Annaberg, von Wirsing, an den Kreishauptmann von Chemnitz, Grille, vom 5. 12. 1934 ( ebd., Bl. 4). 38 Vgl. Schreiben des Kreishauptmannes von Chemnitz, Popp, an die Amtshauptleute im Chemnitzer Regierungsbezirk vom 16. 6. 1937 ( ebd., Bl. 28); Tagesordnung für die Dienstbesprechung mit den Amtshauptleuten am 6. 7. 1937 ( ebd., Bl. 29). 39 Vgl. Tagungsordnung der Dienstbesprechung mit den Amtshauptleuten am 6. 7. 1937 (ebd., Bl. 29); Tagungsordnung der Dienstbesprechung mit den Amtshauptleuten am 18. 8. 1938 ( ebd., unpag.). 40 Vgl. Schreiben des Kreishauptmannes zu Zwickau, Oesterhelt, an die Amtshauptleute vom 12. 1. 1938 ( ebd., Amtshauptmannschaft Plauen 30048, Akte 160, unpag.). 41 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten zu Zwickau, Oesterhelt, an die Oberbürgermeister des Regierungsbezirks vom 6. 5. 1940 ( ebd., unpag.).
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begriffene Sprungschanze in Oberwiesenthal. Danach ging man gemeinsam Mittagessen, um anschließend Besprechungen beizuwohnen, zu denen auch von den Amtshauptleuten Beiträge eingefordert wurden, u. a. über den Stand der Erwerbslosigkeit und der „Arbeitsschlacht“ in ihren Verwaltungsbezirken.42 Mit dem Weggang Grilles und der Amtsübernahme durch Popp endeten diese Treffen offenbar. Von Popp gingen demzufolge keinerlei Initiativen aus, die Leiter der staatlichen und der Parteidienststellen regelmäßig zum Meinungsaustausch an einen Tisch zu bringen. Wie bereits eingangs erwähnt, trafen sich die westsächsischen Amtshauptleute darüber hinaus bis Ende der 1930 Jahre regelmäßig informell im Rahmen der „Zwickauer Konferenz“. Unter Leitung des Plauener Amtshauptmanns, Beschorner, stellten sie im Vorfeld gemeinsam die ihnen wichtig erscheinenden Tagungsordnungspunkte zusammen.43 In der Regel trug der Behördenleiter, der das jeweilige Thema auf die Tagungsordnung gesetzt hatte, die Verantwortung für diesen Teil der Besprechung, ggf. referierte er dazu.44 Hierbei ging es ausnahmslos um Bezirksangelegenheiten, z. B. um die Bewirtschaftung der Planmittel, die Unterstützung von Elternbeihilfeempfängern, die Fahrausbildung von Dezernenten auf Kosten des Landkreises oder um die Eingruppierung der Kreisangestellten in die Tarifgruppen des Angestelltentarifes.45 Zu Beginn trafen sich die Behördenleiter in Zwickau, woraus sich der Name ihrer Zusammenkünfte ableitete. Später kamen sie an verschiedenen Orten ihrer Amtshauptmannschaften zusammen, verbanden dabei dienstliche Absprachen mit gemeinsamen Mahlzeiten und Ausflügen. Seit 1937 wurden die Treffen mit einem „Damenprogramm“ verbunden, d. h. die Ehefrauen der Amtshauptleute begleiteten ihre Männer. Während diese arbeiteten, bot man den Frauen ein gesondertes Kulturprogramm.46 Im Jahre 1937 erging erstmalig eine Einladung zu einem dieser Treffen an einen Mitarbeiter des sächsischen Ministeriums des Innern in Dresden.47 Die Gründe hierfür sind in den erhalten gebliebenen Akten kaum zu rekonstruie42 Vgl. Schreiben des Stellvertreter des Kreishauptmannes, Hempel, an die Amtshauptleute vom 17. 10. 1936 ( ebd., Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 456, Bl. 18); Schreiben des Oberbürgermeisters von Glauchau, Flemming, an den Amtshauptmann zu Annaberg, von Wirsing, vom 8. 12. 1936 ( ebd., Bl. 21); Schreiben des Kreishauptmanns zu Chemnitz, Popp, an den Amtshauptmann zu Annaberg, von Wirsing, vom 25. 10. 1937 ( ebd., Bl. 38). 43 Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes von Plauen, Beschorner, an die Amtshauptleute der Kreishauptmannschaften Chemnitz und Zwickau vom 31. 3. 1937 ( ebd., Amtshauptmannschaft Plauen 30042, Akte 159, Bl. 1). 44 Vgl. Einladung zur Besprechung der Amtshauptleute für den 12. 4. 1937 vom 8. 4. 1937 ( ebd., Bl. 3). 45 Vgl. Tagesordnung für die kameradschaftliche Zusammenkunft der Landräte am 11. 5. 1939 ( ebd., Bl. 47). 46 Vgl. Einladung zur Besprechung der Amtshauptleute für den 7. 10. 1937 vom 23. 9. 1937 ( ebd., Bl. 14). 47 Vgl. Schreiben des Amtshauptmannes zu Plauen, Beschorner, an den Ministerialdirektor, von Burgsdorff, in Dresden vom 8. 4. 1937, Bl. 15–18).
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ren. Es ist aber davon auszugehen, dass der ehemalige Kreishauptmann von Leipzig, Curt von Burgsdorff, der 1933 bis 1937 als Ministerialdirektor im sächsischen Ministerium des Innern tätig war, Interesse an diesen Veranstaltungen bekundet hatte. Über die „Zwickauer Konferenz“ vom 20. September 1937 ließ er sich jedenfalls ausführlich informieren. Amtshauptmann Beschorner sandte ihm ein vierseitiges Schreiben über ausgewählte Tagungsordnungspunkte und deren Ergebnisse zu. Aus diesem Schriftstück geht außerdem hervor, dass „schon seit Jahren keine förmlichen Niederschriften über diese kameradschaftlichen Aussprachen angefertigt“ worden seien.48 Danach gab es laut Aktenstand in dieser Angelegenheit vorerst keine Korrespondenzen mit der Dresdner Landesregierung mehr. Offenbar war es dem alleinigen Interesse von Burgsdorffs geschuldet, dass die Landesregierung bzw. einige ihrer Mitarbeiter in Dresden überhaupt von den Inhalten dieser Besprechungen in Kenntnis gesetzt worden sind. Von Burgsdorff wurde 1937 wegen Differenzen mit Reichsstatthalter Mutschmann als Kreishauptmann nach Leipzig zurückversetzt.49 Seine Nachfolger interessierten sich entweder nicht für diese informellen Beratungen oder wussten nichts davon. Erst im Jahre 1939 meldete eine übergeordnete Behörde erneut Interesse an. Es war der 1937 neu ins Amt eingeführte Kreishauptmann von Chemnitz, Popp, der zwei Jahre später Aufklärung über die Inhalte dieser Beratungen wünschte. Im Anschluss an ein Gespräch zwischen ihm und den Landräten von Chemnitz und Marienberg, Friedrich Lehmann und Friedrich Müller, schrieb Letzterer an den Vorsitzenden der „Zwickauer Konferenz“, den Landrat von Plauen, Beschorner, folgende Zeilen : „Ihrem Wunsch gemäß habe ich im Anschluss an die gestrige Dienstbesprechung Gelegenheit genommen, mit dem Herrn Regierungspräsidenten Popp noch einmal über seine Auffassung über die sogenannte ‚Zwickauer Konferenz‘ zu sprechen, und insbesondere darauf hingewiesen, dass der Eindruck entstanden wäre, als ob er Bedenken gegen die weitere Abhaltung einer solchen Konferenz hätte. Er erklärte mir daraufhin in Gegenwart von Herrn Landrat Lehmann, dass er gegen die Abhaltung der Konferenz gar keine Bedenken hätte, dass er nur gern davon unterrichtet wäre, wann und wo sich die ihm unterstellten Landräte zu einer Besprechung in Bezirksangelegenheiten versammelten. Darauf gab ich Herrn Regierungspräsidenten Popp die Versicherung, dass auf diesen Besprechungen lediglich Bezirksangelegenheiten behandelt würden und Sie, sehr verehrter Herr Beschorner – dazu durfte ich wohl ihre Zustimmung voraussetzen – als unser bewährter Vorsitzer ihm und Herrn Regierungspräsident Oesterhelt unter Angabe des Ortes und Zeitpunktes der Besprechung eine Tagungsordnung zugehen lassen würden. Ich darf nun annehmen, dass wohl irgendwelche Zweifel über die Fortsetzung der Konferenz nicht mehr bestehen, und hoffe mit allen anderen Landräten des 48 Vgl. ebd., Bl. 15. 49 Vgl. Schreiben vom 15. 4. 1943, Persönlicher Stab Reichsführer SS, Betr. : Unterstaatssekretär Dr. Curt von Burgsdorff ( BArch Berlin, VBS1, 1010035981, unpag.).
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Chemnitzer Bezirks auf eine baldige Einladung zu einer neuen Besprechung unter Ihrer bewährten Leitung.“50 Die Landräte hielten sich an die hier getroffene Absprache : Anfang Mai 1939 erhielt Popp eine Einladung zur nächsten informellen Sitzung der Behördenleiter inklusive Tagesordnung.51 Ob Popp, Oesterhelt oder einer ihrer Mitarbeiter an der Beratung teilnahmen, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Unabhängig davon verlor die „Zwickauer Konferenz“ damit in gewisser Weise ihren bis dato gepflegten informellen Charakter. Die Zusammenkünfte endeten offenbar mit Beginn des Krieges; die Landräte der Regierungspräsidien Chemnitz und Zwickau kamen demzufolge der Anordnung Hitlers nach, für die Dauer des Krieges von der Abhaltung von Tagungen aller Art grundsätzlich abzusehen.52
5.
Institutionelle Veränderungen während des Krieges
Am 1. Juli 1943 wurden die sächsischen Regierungspräsidien für die Zeit des Krieges stillgelegt.53 Dem war vorausgegangen, dass Mutschmann aufgrund der oben beschriebenen Einschränkung seiner Befugnisse darauf hingearbeitet hatte, diese traditionellen Regierungsbehörden gänzlich abzuschaffen. Aus diesem Grund hatte er dem Reichsinnenminister zu Beginn des Jahres 1943 den Vorschlag unterbreitet, die vier sächsischen Mittelbehörden „stillzulegen“. Als am 1. Juli 1943, im Rahmen der Prüfung des „Personaleinsatzes für Aufgaben der Reichsverteidigung durch einen Erlass des Reichsministers“, die „Stillegung der sächsischen Regierungen für die Zeit des Krieges“ verkündet und die mittleren Verwaltungsbehörden Dresden - Bautzen, Chemnitz, Leipzig und Zwickau aufgehoben wurden, hatte Mutschmann sein Ziel erreicht.54 An den bisherigen Amtssitzen verblieben lediglich die „Abteilung für Preisüberwachung“ und das „Polizeidezernat, Stabsoffizier der Schutzpolizei und Kommando der Gendarmerie“ als Organe und Außenstellen der Landesregierung. Obwohl damit die Zuständigkeiten der Regierungspräsidenten unmittelbar auf den Reichsstatthalter übergingen, legte der Erlass gleichzeitig fest, dass Mutschmann bis zum 1. Oktober 1943 entscheiden musste, welche dieser Verantwortlichkeiten bei ihm verbleiben und welche auf die Landräte – als Leiter der unteren Verwal50 Vgl. Schreiben des Landrats zu Marienberg, Müller, an den Landrat zu Plauen, Beschorner, vom 14. 4. 1939 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Plauen 30042, Akte 159, Bl. 42). 51 Vgl. Einladung zur Besprechung der Amtshauptleute am 11. 5. 1939 vom 8. 5. 1939 und Tagesordnung ( ebd., Bl. 46 f.). 52 Vgl. Schreiben des Reichverteidigungskommissars für den RV. - Bezirk Sachsen, Mutschmann, an die Abteilungen der Landesregierung, die Landräte, Oberbürgermeister, Polizeipräsidenten, den Gaustabsamtsleiter mit Nebenabdrucken für die Kreisleiter der NSDAP vom 7. 1. 1944 ( SächsHStA Dresden, Amtshauptmannschaft Dippoldiswalde, Nr. 15, Bl. 100). 53 Vgl. Bewegte sächsische Region, S. 101. 54 Vgl. ebd.
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tungsbehörden – übertragen werden sollten.55 Letztendlich wurde er durch die Stilllegung der Regierungspräsidien in seiner Position nochmals gestärkt, auch wenn er im Laufe des Jahres 1944 einzelne Aufgaben an die Landräte abgab. 56 Diese neue Aufgabenzuteilung und die damit verbundene Aufwertung der Landratsposten änderten aber nichts an der bereits oben beschriebenen Tatsache, dass das Nebeneinander von Landrat und NSDAP - Kreisleiter zu permanenten Reibereien führte, erst recht nicht während des Krieges.57 Für den Annaberger Landrat, von Wirsing, war deshalb z. B. die Sicherung der Ernährungssituation im Landkreis Annaberg – nach seinen eigenen Worten von 1945 – eine willkommene und ernst zu nehmende Aufgabe. Nachdem 1939, im Zuge der anlaufenden Kriegswirtschaft, Wirtschafts - und Ernährungsämter geschaffen und in die Landratsämter eingegliedert worden waren, übernahm der Annaberger Landrat in seinem Kreis persönlich die Leitung dieses wichtigen Amtes.58 Ihr habe er sich nicht nur voll und ganz widmen können, sondern dadurch sei seine Position im Kreis auch wieder aufgewertet worden,59 nicht zuletzt gegenüber den im Vergleich zu NSDAP - Kreisleiter Werner Vogelsang ohnehin blassen Kriegsstellvertretern. Aber durch die Vielzahl der von den Landratsämtern zu erledigenden Maßnahmen der Kriegswirtschaft und der damit einhergehenden Überlastung gewannen die Parteidienststellen während des „totalen Krieges“ als Beschwerdeinstanzen gegen unliebsame Verwaltungsmaßnahmen nochmals deutlich an Gewicht.60
6.
Dienstberatungen während des Krieges
Die institutionalisierten Beratungen zwischen Regierungspräsidenten und Landräten fanden nach dem 1. September 1939 weiterhin statt, wurden aber nur noch selten mit Besichtigungen kombiniert. Schließlich lud der Regierungspräsident von Chemnitz die Landräte – offenbar kriegsbedingt – nur noch in sein Regierungsgebäude ein.61 In den Jahren 1940 und 1941 spielten hier auch 55 Vgl. ebd., S. 81. 56 Vgl. Andreas Wagner, Martin Mutschmann – Der braune Gaufürst (1935–1945), In : Mike Schmeitzner / Andreas Wagner ( Hg.), Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 279–309, hier 305 f. 57 Vgl. Landräte als „Kriegsschuldige“. Schreiben des Freiherrn von Wirsing an die sächsische Landesverwaltung vom 4. 10. 1945 ( Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 58 Vgl. ebd.; Stelbrink, Der preußische Landrat, S. 323 f. 59 Vgl. Lebenslauf Freiherr von Wirsing ( Kreisarchiv Annaberg, Personalakte Freiherr von Wirsing, unpag.). 60 Vgl. Stelbrink, Der preußische Landrat, S. 384. 61 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten zu Chemnitz an die Landräte im Regierungsbezirk vom 27. 9. 1940 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 456, unpag.); Aufforderung des Regierungspräsidenten zu Chemnitz zur Dienstbesprechung mit den Landräten am 8. 4. 1941 vom 4. 4. 1941 ( ebd., unpag.).
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Themen wie die Verlegung von Insassen der Kreispflegeheime in die Landesanstalten oder die Durchführung von Luftschutzmaßnahmen, z. B. der Ausbau von Kellern, eine nicht unbedeutende Rolle.62 Vier Jahre später endeten aufgrund der oben bereits erwähnten Stilllegung der sächsischen Mittelbehörden auch die Dienstbesprechungen der Landräte mit den Regierungspräsidenten von Chemnitz, Emil Popp, und von Zwickau, Karl Oesterhelt.63 Da die Probleme vor Ort angesichts des Krieges und seiner Folgen zunahmen, muss den Landräten das Fehlen jeglicher Möglichkeiten, sich untereinander umfassend austauschen zu können, besonders deutlich geworden sein. Die fortgesetzten jährlichen Dienstbesprechungen in Dresden konnten diesen Mangel jedenfalls nicht kompensieren, zumal sie wieder nach dem bekannten Muster abliefen. Das dokumentieren die Unterlagen einer derartigen Veranstaltung vom 7. März 1944 eindrücklich. Auf der eintägigen Besprechung des Leiters des Gauamtes für Kommunalpolitik und mehreren Mitarbeitern des Ministeriums des Innern mit den Behördenleitern der Kreise und der größeren kreisangehörigen Städte wurden Letztere ausführlich über zahlreiche Angelegenheiten wie die Neuordnung der Sparkassen, energiewirtschaftliche Fragen, Luftkriegsfragen, die Durchführung des Deutschen Wohnungshilfswerkes u. a. von geladenen Fachleuten informiert. Wie aus dem entsprechenden Protokoll hervorgeht, verfuhr man wie bis 1936 üblich : vonseiten der Regierung erfolgten Informationen und Anweisungen, die Landräte und Bürgermeister kamen mit ihren Anliegen – zumindest offiziell – nicht zu Wort.64 Wenige Tage nach dieser Zusammenkunft, am 10. März 1944, richtete Ministerialrat Schulze von der Abteilung „Allgemeine und innere Verwaltung“ beim Reichsstatthalter in Dresden offenbar an jeweils einen ausgewählten Landrat in den vier Regierungsbezirken folgendes Schreiben : „Von den Regierungspräsidenten sind in den letzten Jahren regelmäßig Dienstbesprechungen mit den Landräten und Oberbürgermeistern ihres Regierungsbezirks abgehalten worden. Hierfür besteht auch nach der Stilllegung der Regierungen ein Bedürfnis. Die Abhaltung solcher Besprechungen für das gesamte Land begegnet unter den heutigen Verhältnissen erheblichen Schwierigkeiten; sie bleibt bei besonderen Anlässen ebenso vorbehalten wie solche Besprechungen schon früher neben den Besprechungen in den Regierungsbezirken abgehalten worden sind. Ich möchte davon absehen, die Abhaltung der Dienstbesprechungen in den Regierungsbezirken von hier aus zu veranlassen und bitte deshalb Sie, von sich aus die Landräte des dortigen Regierungsbezirks zu solchen Besprechungen in geeigne62 Vgl. Aufforderung des Regierungspräsidenten zur Dienstbesprechung mit den Landräten am 9. 10. 1940 vom 7. 10. 1940 ( ebd., unpag.); Aufforderung des Regierungspräsidenten zur Dienstbesprechung mit den Landräten am 8. 4. 1941 vom 4. 4. 1941 ( ebd., unpag.). 63 Vgl. Schreiben des Regierungspräsidenten zu Chemnitz an die Landräte des Regierungsbezirkes vom 30. 6. 1943 ( ebd., unpag.). 64 Vgl. Einladung der Landräte und Oberbürgermeister zu einer Besprechung bei der Landesregierung in Dresden am 7. 3. 1944 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 464, unpag.).
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Die „Zwickauer Konferenz“
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ten Abständen zusammenzurufen. Dabei können Sie auf dieses Schreiben Bezug nehmen. Zeit und Ort zu bestimmen, überlasse ich Ihnen; die Besprechungen könnten etwa im Abstand von 2–3 Monaten anberaumt werden. Ich bitte, mich rechtzeitig von der Anberaumung zu unterrichten, auch über etwa von vornherein vorgesehene Beratungsgegenstände, damit ich in der Lage bin, an den Besprechungen teilzunehmen oder Dezernenten dazu zu entsenden. Ich nehme auch in Aussicht, Ihnen zu gegebener Zeit Beratungsgegenstände mitzuteilen, deren Erörterung vom Standpunkt der Landesregierung aus notwendig erscheint.“65 Was war diesem Angebot vorausgegangen ? Diese Frage stellt sich einmal mehr, da es sich hier um eine Offerte in einer moderaten und vermittelnden Diktion verbunden mit dem Willen zur Zusammenarbeit fast auf Augenhöhe handelte, die der sonst üblichen Verfahrensweise in keiner Weise entsprach und Mutschmanns Widerspruch erwarten ließ. Offenbar hatte es am Rande der Veranstaltung vom 7. März 1944 eine persönliche Unterredung des Ministerialrates Schulze mit den Landrat von Annaberg, von Wirsing, gegeben. Nur so ist zu erklären, weshalb von Wirsing auf das Schreiben Schulzes, das im Chemnitzer Regierungsbezirk an ihn gerichtet worden war, wie folgt antwortete : „Wie ich Ihnen schon mündlich mitteilen konnte, haben im Chemnitzer Bezirk bereits Besprechungen der Landräte über dienstliche Fragen in kameradschaftlicher Form in größeren Zeitabständen stattgefunden. [...] Dass diese Einrichtung jetzt offizielle Billigung erfahren soll, wird sicher sehr begrüßt werden, ebenso der Umstand, dass wir Gelegenheit haben werden, mit Ihnen oder einem anderen Referenten des Ministeriums auf diese Weise Fühlung zu halten.“66 Demnach war es nach der Stilllegung der Regierungspräsidien zwischen August 1943 und Februar 1944 zu einer Neuauflage informeller Zusammenkünfte der Landräte im Regierungsbezirk Chemnitz gekommen. Während dieser Treffen beschäftigten sich die Landräte – wie vor 1939 – ausschließlich mit speziellen Kreisangelegenheiten, z. B. mit der Übertragung von Luftschutzaufgaben auf die Gendarmeriekreisführer, der Behandlung von Flüchtlingen aus Leipzig, mit Kriegsmaßnahmen in der Elektrizitätswirtschaft und Ähnliches mehr.67 Diese Besprechungen dürften Reichstatthalter Mutschmann dennoch missfallen haben. Das Verbot von sogenannten außerdienstlichen Tagungen, das er bereits im Januar 1944 allen Verwaltungsstellen in Sachsen schriftlich zukommen lassen hatte, allerdings ohne die informellen Treffen der Landräte im ehemaligen Regierungsbezirk Chemnitz explizit zu benennen oder zu kritisieren, legt dies deutlich nahe : „Ein besonderer Fall gibt mir Veranlassung, auf die 65 Schreiben des Ministerialrats, Schulze, an den Landrat zu Annaberg, von Wirsing, vom 10. 3. 1944 ( ebd., Bl. 15). 66 Schreiben des Landrates zu Annaberg, von Wirsing, an Ministerialrat, Schulze, beim Reichstatthalter in Sachsen, Landesregierung, Ministerium des Inneren, Abt. Allg. und innere Verwaltung in Dresden vom 13. März 1944 ( ebd., Bl. 16). 67 Vgl. Tagesordnung der Besprechung am 7. 12. 1943 ( ebd., Bl. 6); Entwurf einer Tagesordnung für die Besprechung am 1. 2. 1944 vom 25. 1. 1944 ( ebd., Bl. 7).
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Anordnung des Führers hinzuweisen, nach der für die Dauer des Krieges von der Abhaltung von Tagungen aller Art grundsätzlich abzusehen ist. Ausgenommen von diesem Verbot sind nur örtliche Veranstaltungen und kriegswichtige Tagungen. Bei der Prüfung der Frage der Kriegswichtigkeit ist der allerschärfste Maßstab anzulegen. Um zu gewährleisten, dass im Gau Sachsen diese Anordnung allenthalben befolgt wird, bestimme ich hiermit, dass alle Einladungen zur Teilnahme an solchen Tagungen, d. h. Veranstaltungen, die über den Rahmen dienstlicher Besprechungen hinausgehen, mir zur Genehmigung vorzulegen sind.“68 Allerdings hatte die Landesregierung, zumindest aber der Dresdner Ministerialrat Schulze aus der Abteilung „Allgemeine und innere Verwaltung“ im März 1944 den dringenden Bedarf an Absprachen mit und zwischen den Landräten erkannt. Dazu haben die informellen Treffen und / oder das Gespräch zwischen Schulze und von Wirsing maßgeblich beigetragen. Andererseits wurden diese Treffen durch das Eingreifen Schulzes wieder formalisiert und konnten auf diese Weise von der Landesregierung, auch wenn sie deren Organisation nicht in die eigenen Hände nahm, über Teilnahme von Regierungsmitarbeitern und deren Berichterstattungen kontrolliert werden. Ob und inwieweit Mutschmann darüber informiert wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Die Landräte tauschten in den bis Anfang 1945 folgenden Gesprächsrunden – wie es sowohl mit den ehemaligen Regierungspräsidenten als auch im Rahmen der „Zwickauer Konferenz“ gehandhabt worden war – Erfahrungen im Zusammenhang mit Verordnungen und Runderlässen aus, sie informierten sich gegenseitig über gesetzliche Grundlagen im Zusammenhang mit Rundschreiben, diskutierten Zweifelsfragen bei Kriegswirtschaftsmaßnahmen, etc.69 Zwischen den Sitzungen sprachen sich alle Landräte darüber ab, welche wichtigen Themen auf die Tagesordnung zu setzen sind und wer zu welchem Thema Grundsätzliches vorträgt.70 Aus den Einladungen geht hervor, dass die Landräte bei diesen Besprechungen, wie bereits vor 1939, mit eigenen Beiträgen vertreten waren, die sie entsprechend ihrer Relevanz auch eigenständig auswählten. Die Besprechungen und deren Vorbereitung wurden demnach auf die gleiche Art und Weise fortgesetzt wie die vorausgegangenen informellen Gespräche im Rahmen der „Zwickauer Konferenz“. Inwiefern Gauleiter Mutschmann von dieser Verfahrensweise während dieser Arbeitstreffen in Kenntnis gesetzt worden ist, ist nicht mehr zweifelsfrei zu beantworten.
68 Unterstreichungen im Text. Vgl. Schreiben des Reichverteidigungskommissars für den RV. - Bezirk Sachsen, Mutschmann, an die Abteilungen der Landesregierung, die Landräte, Oberbürgermeister, Polizeipräsidenten, den Gaustabsamtleiter mit Nebenabdrucken für die Kreisleiter der NSDAP vom 7. 1. 1944 ( SächsHStA Dresden, Amtshauptmannschaft Dippoldiswalde, Nr. 15, Bl. 100). 69 Vgl. Schreiben des Landrates von Marienberg, Müller, an den Landrat von Annaberg, von Wirsing, vom 21. 4. 1944 ( SächsStA Chemnitz, Amtshauptmannschaft Annaberg 30041, Akte 464, Bl. 22). 70 Vgl. ebd.
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Die „Zwickauer Konferenz“
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Die Treffen endeten im Februar 1945 im Zuge der näher rückenden Fronten und aufgrund des eiskalten Winters. Das geht aus dem letzten Schreiben des Annaberger Landrats, von Wirsing, an seinen Amtskollegen in Stollberg, Georg Dude, hervor : „Heute habe ich mit Herrn Ministerialrat Schulze – Dresden wegen der Dienstbesprechung in Chemnitz gesprochen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass für Annaberg und Marienberg die Verkehrsverhältnisse nach Chemnitz äußerst ungünstig sind. [...] Auch die gespannte Lage lässt längere Abwesenheit des Behördenleiters untunlich erscheinen. Ministerialrat Schulze hatte volles Verständnis und war durchaus einverstanden, wenn die Dienstbesprechungen zunächst ausgesetzt bleiben bis eine Besserung der Verhältnisse eintritt. Er erklärte sich gleichzeitig damit einverstanden, dass die 3 mit Chemnitz günstiger verbundenen Landräte ( Stollberg, Glauchau und Flöha ) in Chemnitz zur Besprechung zusammenkommen. Ihm selbst wird ein Kommen unter den obwaltenden Verhältnissen auch nicht möglich sein.“71 Danach fanden – aus heutiger Sicht erwartungsgemäß – keine Zusammenkünfte mehr statt. Mutschmann traf sich dagegen mit den NSDAP - Kreisleitern des Gaues Sachsen weiterhin, ein letztes Mal – wenige Tage vor seiner Flucht – am 4. Mai 1945 im Dresdner Vorort Lockwitz. Zu diesem Treffen kamen ungefähr 15 Personen aus den Kreisleitungen. Die Sitzung habe er nach eigenem Ermessen einberufen; auf ihr sei von ihm die Direktive, „die Ordnung bis zum letzten Tag aufrecht zu erhalten, um die Frage der Flüchtlinge und ihrer Versorgung zu regulieren“, erteilt und zusätzlich angeordnet worden, die zurückgelassenen Dokumente zu verbrennen.72
7.
Fazit
Abgesehen von ihrem informellen Charakter wiesen die Zusammenkünfte der westsächsischen Landräte im Rahmen der „Zwickauer Konferenz“ keinerlei Besonderheiten gegenüber den offiziellen Dienstberatungen auf. Gegründet in den Umbruchsjahren nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die Behördenleiter auf sich selbst gestellt sahen, wurden sie 1919 bis 1933 als eine weitere Form des Austausches über dienstliche Belange von ihnen selbst institutionalisiert. Auch während der Jahre 1933 bis 1939 spielten sie keine maßgebliche Rolle, da die mangelhaften Austauschmöglichkeiten mit der Dresdner Landesregierung nicht unbedingt kompensiert werden mussten, gab es doch die regelmäßigen Besprechungen mit den Regierungspräsidenten, an deren Rande man ggf. auch Angelegenheiten informell erörtern konnte. Die Treffen der westsächsischen Landräte sind deshalb lediglich als Ergänzungsveranstaltungen ihrer Dienstberatungen zu sehen, auf denen gleiche oder ähnliche Anliegen diskutiert wurden. 71
Schreiben des Landrates zu Annaberg, von Wirsing, an den Landrat von Stollberg, Dude, vom 2. 2. 1945 ( ebd., unpag.). 72 Vgl. Übersetzung eines Auszuges aus dem Verhörprotokoll Martin Mutschmanns durch Hauptmann Chacaturov vom 19. Mai 1945 ( HAIT, Akte Martin Mutschmann, S. 1).
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Brisanz erfuhren die informellen Zusammenkünfte erst, als sie in Ermangelung der Dienstbesprechungen mit den Regierungspräsidenten 1943 im Regierungsbezirk Chemnitz wiederbelebt wurden. Damit unterliefen die betreffenden Landräte bewusst die Weisung Hitlers, dass während des Krieges auf Tagungen dieser Art ausnahmslos verzichten werden sollte. Die Treffen verbanden sich – ausschließlich deshalb – mit einem gewissen Risiko : Für den Fall, dass Mutschmann von den Besprechungen erfahren würde, mussten sie angesichts seiner Machtfülle und Willkür mit Konsequenzen rechnen. Das kann man daran festmachen, dass der Reichsstatthalter sogar noch im Frühjahr 1945 nicht davor zurückschreckte, in Ungnade gefallene Landräte von der Gestapo verhaften zu lassen und ihnen fristlos zu kündigen.73 Andererseits gewährten die Bedingungen des „totalen Krieges“ den Landräten offenbar den erforderlichen Handlungsspielraum für derartige Treffen; sie boten aber auch dem Dresdner Ministerialrat, Schulze, die Möglichkeit, den Behördenleitern gewissermaßen entgegenzukommen. So ließ er weder die Landräte reglementieren noch die Beratungen verbieten. Aufgrund seiner Einsicht, dass es dieser Besprechungen bedurfte, formalisierte er die Begegnungen lediglich und unterwarf sie damit dennoch der Kontrolle durch die Landesregierung. Die informellen Gesprächsrunden der Landräte – sowohl in den Jahren 1933 bis 1939 als auch 1943/44 – dürfen nicht als eigensinniges Handeln begriffen werden, denn mit den Treffen verband sich keineswegs nonkonformes Verhalten. Ausgehend von ihrer Absicht, unter den schwierigen Bedingungen des „totalen Krieges“ komplizierte dienstliche Probleme schnell geeigneten Lösungen zuzuführen, können diese Besprechungen als eigen - bzw. selbständiges Handeln verstanden werden. Sie entsprachen zwar nicht den Anforderungen des NS Systems – und schon gar nicht den Ansprüchen der sächsischen Landesregierung und Mutschmanns – an formales Verwaltungshandeln, aber sie richteten sich auch nicht gegen das System. Sie kamen wohl eher den eigenen prinzipiellen Anforderungen der Landräte an korrektes und gründliches Arbeiten entgegen, an ihre „geradezu gedankenlose Loyalität“ gegenüber „dem Abstraktum ‚Staat‘“, indem sie sich an das hielten, was sie als „Pflicht“ betrachteten.74 Dieser Anspruch und ihr daraus erwachsenes Verhalten während der NS - Zeit unterschieden sich demnach nicht von dem während der Weimarer Republik. Allerdings hatte sich eine ganze Reihe von Beratungsgegenständen geändert, welche die Landräte – ob nun während der formalen oder informellen Treffen – in Kenntnis der mitunter menschen - und gesellschaftsfeindlichen Sachlagen büro-
73 Vgl. Dem Reichstatthalter am 28. 4. 1945 vorgetragenes Schreiben ( SächsHStA Dresden, Der Reichsstatthalter in Sachsen 19116, M 350, Personalakte Freiherr Leo von Miltitz, unpag.); Schreiben des Kreisamtsleiters Heischmann an den Reichsstatthalter in Sachsen vom 25. 4. 1945 ( ebd., unpag.); Schreiben des Reichsstatthalters in Sachsen an den Landrat zu Dippoldiswalde, von Miltitz, vom 2. 5. 1945 ( ebd., unpag.). 74 Vgl. Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS - Deutschland 1944/45, München 2011, S. 532.
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Die „Zwickauer Konferenz“
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kratisch abarbeiteten. Damit stabilisierten sie das NS - Regime bzw. ermöglichten während der letzten Monate des „totalen Krieges“ dessen Erhalt. Alles in allem – und trotz der anhaltenden Kontroversen mit den lokalen und regionalen NSDAP - Dienststellen – übte sich die übergroße Mehrheit der sächsischen Landräte in den Jahren 1933 bis 1945 in politischer ( Mindest - )Anpassung und uneingeschränkter dienstlicher Loyalität. Damit leisteten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur alltäglichen Funktionsfähigkeit eines Herrschaftsgefüges, „dessen Dynamik sich umso ungehemmter auf immer neue ‚Feinde‘ in Deutschland und in der Welt entladen konnte“.75 Einige von ihnen trugen darüber hinaus unmittelbar zu Letzterem bei : Eine ganze Reihe sächsischer Landräte, darunter auch Teilnehmer der „Zwickauer Konferenz“, übernahmen während des Zweiten Weltkrieges ( Führungs - )Ämter in den Zivil - und Militärverwaltungen der vom „Dritten Reich“ besetzten Gebiete, wo sie – wie vorab in Sachsen – pflichtbewusst ihren Dienst versahen.76
75 Vgl. Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewusstsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928–1972, Münster 1996, S. 258 f. 76 So waren beispielsweise der Grimmaer Landrat, Alfred Etienne, und der Zwickauer Landrat, Horst Laube, in der Militärverwaltung in Frankreich, der Döbelner Landrat, Siegfried Haase, in der Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ukraine tätig. Vgl. Schreiben des Reichsstatthalters in Sachsen an den Reichsminister des Innern vom 6. 1. 1944 ( SächsHStA Dresden, Der Reichsstatthalter 19116, N 55, Personalakte Dr. Walter Naumann, Bl. 230).
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„Ich hatte den Eindruck, dass damals alles schon etwas in Auflösung begriffen war.“1 KZ - Häftlinge in Dresden – vor, während und nach den Luftangriffen vom Februar 1945 Ulrich Fritz Die Zerstörung durch die alliierten Luftangriffe vom Februar 1945 ist das zentrale Trauma Dresdens – mit anhaltender Wirkung weit über die Stadtgeschichte hinaus. Zuletzt hat eine Historikerkommission die Luftangriffe und ihre Folgen umfassend untersucht.2 Trotz weitgehender Klärung lang umstrittener Sachverhalte fehlen in ihrem Bericht Aussagen und Zahlenangaben zu einigen Gruppen, die sich höchst unfreiwillig in Dresden aufhielten : Zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ - Häftlinge. Im Folgenden soll das Schicksal von KZ - Häftlingen in Dresden knapp skizziert werden.3 Dabei stehen vier Aspekte im Mittelpunkt : Welchen quantitativen Umfang hatte die Zwangsarbeit von KZ - Häftlingen in Dresden ? Wie handhabten Firmen und Behörden deren Einsatz ? Wie erlebten die KZ - Häftlinge die Luftangriffe vom Februar 1945 ? Welche Rolle spielten sie schließlich in den Planungen der zuständigen Stellen nach der teilweisen Zerstörung der Stadt ?
1
2 3
Aussage des ehemaligen Häftlings im Außenlager Reichsbahn, David D., vom 23. 3. 1960, ( BArch Ludwigsburg, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen [ im Folgenden ZSL ] 410 AR - Z 152/76, Bl. 71). Die Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS - Verbrechen sind vom Bundesarchiv übernommen und mittlerweile unter der Signatur B 162 neu verzeichnet worden. Vgl. Rolf - Dieter Müller / Nicole Schönherr / Thomas Widera ( Hg.), Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen 2010. Für einen ersten Überblick vgl. Hans Brenner, KZ - Zwangsarbeit während der NS - Zeit im Dresdner Raum. In : Landeshauptstadt Dresden ( Hg.), Dresdner Stadtjubiläum 2006. 4. Kolloquium zur dreibändigen Dresdner Stadtgeschichte 2006 vom 18. März 2000, S. 53–59. Artikel des Verfassers zu den einzelnen Außenlagern in Dresden finden sich in Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Flossenbürg. Das Konzentrationslager Flossenbürg und seine Außenlager, München 2007. Zu den Außenlagern mit weiblichen Häftlingen vgl. nun auch Pascal Cziborra, Frauen im KZ. Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossenbürg und seiner Außenlager, Bielefeld 2010.
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1.
Ulrich Fritz
Das erste KZ - Außenlager in Dresden
Die ersten Außenlager des in der nordbayerischen Oberpfalz gelegenen KZ Hauptlagers Flossenbürg entstanden als Baukommandos für SS - Einrichtungen, so auch „das erste Außenlager des KZ Flossenbürg [...] in Sachsen überhaupt“.4 Ab Juni 1942 wurden Häftlinge, fast ausschließlich Baufacharbeiter, von Flossenbürg zur SS - Bauleitung nach Dresden überstellt. Dort mussten sie zunächst ein Reservelazarett für das SS - Pionier - Ersatz - Bataillon auf dem Gelände des „Hellerhofs“ im Stadtteil Trachenberge errichten. Aber auch für andere Projekte der SS - Bauleitung in Sachsen wurden die Maurer, Dachdecker und Zimmerleute eingesetzt.5 Die Häftlinge waren auf dem Kasernengelände in drei großen Garagen untergebracht, die vom SS - Pionierbataillon, meist von frontverletzten Angehörigen der Waffen - SS, bewacht wurden. Für die medizinische Versorgung war ein SS - Arzt zuständig. Die SS - Kaserne stellte auch die Verpflegung der Häftlinge. Für die Häftlinge, die für die SS arbeiten mussten, machte es zumindest in den ersten Kriegsjahren kaum einen Unterschied, ob sie dies in den Hauptlagern oder in den Außenlagern taten. Die berufliche Qualifikation der eingesetzten Facharbeiter erhöhte einerseits ihre Überlebenschancen ebenso wie die relativ geringe Größe des Arbeitskommandos, das zwischen 150 und 250 Häftlinge umfasste. Andererseits waren sie völlig den Angehörigen der SS ausgeliefert. In Dresden herrschten mit dem Kommandoführer Josef Schmatz und seinem Stellvertreter Kurt Markgraf zunächst zwei SS - Hauptscharführer, die lange Jahre in Konzentrationslagern gedient hatten und brutal agierten. Ihr Nachfolger, SS - Oberscharführer Wilhelm Hartmann, galt hingegen bei den Gefangenen als „anständig“.6 Die Lage der deutschen Gefangenen war im Schnitt besser als die polnischer, russischer und tschechischer Häftlinge, deren Anteil durch ständigen Austausch mit dem Hauptlager Flossenbürg stetig zunahm. Vor allem langjährige deutsche „Vorbeugehäftlinge“ und „Asoziale“, die als sogenannte Kapos ( Häftlingsvorarbeiter ) eine privilegierte Stellung innehatten, zeichneten nach dem Krieg ein positives Bild vom Außenlager SS - Pionierkaserne. Ausländische Überlebende hingegen bezeugten Misshandlungen, unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge 4
5 6
Brenner, KZ - Zwangsarbeit, S. 56. Zur Begriffsklärung : Unter Außenlager wird hier die Unterbringung von Häftlingen außerhalb des KZ - Hauptlagers zum Zweck der Zwangsarbeit an einem anderen Ort verstanden. Bereits vor dem Krieg hatten KZ Häftlinge auch in Arbeitskommandos außerhalb der Lager für private und staatliche Firmen und Institutionen arbeiten müssen, wurden dazu aber täglich an - und abtransportiert. Nach der Gründung des SS - Wirtschafts - Verwaltungshauptamtes ( fortan : SS WVHA ) im Februar 1942 wurde diese äußerst bewachungsintensive Form des Zwangsarbeitseinsatzes stark reduziert. Vgl. Ulrich Fritz, Meißen - Neuhirschstein. In : Benz / Distel, Flossenbürg, S. 187–190; ders., Seifhennersdorf. In : ebd., S. 252 f. Vgl. etwa Aussage von Jakob B., 10. 1. 1968 ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 ( F ) AR - Z 177/75, Bl. 91).
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KZ-Häftlinge in Dresden – vor, während und nach den Luftangriffen
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sowie Schiebereien von Lebensmitteln. Nach Zeugenaussagen starben im Außenlager SS - Pionierkaserne zwischen drei und sieben Häftlinge.7
2.
Rüstungswirtschaft in Dresden
In Sachsen spielte die Produktion von Rüstungsgütern vor dem Kriegsbeginn eine vergleichsweise geringe Rolle. Nur wenige Unternehmen partizipierten an der beginnenden Aufrüstung.8 In Dresden zeugte davon die ab 1938 errichtete Zünderfabrik für Zeiss Ikon, das sogenannte Goehlewerk, das baulich einem Bunker ähnelte und dessen Produktion von Beginn an auf den weitgehenden Einsatz ungelernter ( unfreiwilliger ) Arbeitskräfte ausgerichtet war. Die Separierung unfreier Arbeitskräfte wurde hier bereits ab 1941 eingeübt, als dort Jüdinnen und Juden aus Dresden in einer „Judenabteilung“ arbeiten mussten.9 Betriebe wie die Universelle, die zuvor Maschinen für die Zigarettenindustrie produziert hatte, oder die Mühlenbau - und Industrie AG ( MIAG ) in Zschachwitz stellten bereits frühzeitig auf Rüstungsfertigungen um.10 Ab der zweiten Kriegshälfte wurde das von Luftangriffen bis dahin verschonte Sachsen zum Ziel umfassender Betriebsverlagerungen, etwa aus der Berliner Elektroindustrie. In Dresden wurden die Munitionsherstellung, Elektrotechnik und feinmechanische Betriebe ausgebaut. Eine Reihe staatlicher und militärischer Einrichtungen koordinierte die Rüstungsproduktion. Hier ist vor allem die im September 1942 eingerichtete Rüstungskommission Dresden zu nennen, die der Rüstungsinspektion des Wehrkreises IV unterstand.11 Mit der Umstellung der Wirtschaft auf den Kriegseinsatz erwies sich der Mangel an Arbeitskräften als größtes Problem. Nur durch den massiven Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener konnte die Rüstungsproduktion ausgebaut werden. Bis Herbst 1944 hatte der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, die Verschleppung von über 8 Millionen ausländischen Arbeitskräften veranlasst.12 Der Nachschub 7 Vgl. Anklageschrift gegen Kurt Markgraf, 13. 12. 1950, ( Staatsanwaltschaft Hamburg, Aktenzeichen 14 Js 185/49, zit. in BArch Ludwigsburg, ZSL 410 ( F ) AR - Z 177/75). Markgraf wurde in diesem Verfahren zu sieben Monaten Haft verurteilt. 8 Dies lag zum einen an der Grenzlage zur Tschechoslowakei, vor allem aber an der Dominanz einer vorwiegend kleinbetrieblich organisierten Konsumgüterindustrie, auf deren Devisenerträge durch Export das Regime nicht verzichten wollte. Vgl. Michael C. Schneider, Die Wirtschaftsentwicklung von der Wirtschaftskrise bis zum Kriegsende. In : Clemens Vollnhals ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 72–84, hier 75– 77. 9 Vgl. Henny Brenner, „Das Lied ist aus“, Zürich 2001, S. 59 f. 10 Vgl. Heinz Schulz, Rüstungsproduktion im Raum Dresden 1933–1945, Dresden 2003, unpaginiert. 11 Vgl. ebd. Zur Freisetzung von Verwaltungskräften wurde das Berichtswesen der Rüstungsinspektionen und - kommandos stark vereinfacht, so dass ab September 1944 keine Berichte und Kriegstagebücher mehr vorliegen. 12 Vgl. Mark Spoerer, Zwangsarbeit unterm Hakenkreuz, Stuttgart 2001, S. 223. Spoerer betont die Schwierigkeit, angesichts unvollständiger Quellen exakte Zahlen zu benen-
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Ulrich Fritz
an Männern, Frauen und Jugendlichen kam jedoch mit dem Rückzug der Wehrmacht an allen Fronten zum Erliegen. So gerieten KZ - Häftlinge als eine der letzten Ressourcen an Arbeitskräften ins Visier der Rüstungsindustrie. Im Machtkampf mit der SS um die Modalitäten des Häftlingseinsatzes setzten sich die Firmen schließlich durch. KZ - Häftlinge wurden ab 1943, verstärkt ab der zweiten Jahreshälfte 1944, direkt bei den Rüstungsfabriken zur Zwangsarbeit eingesetzt. Diese Entwicklung wirkte sich verzögert auch in Dresden aus. Ende September 1944 befanden sich allein in Sachsen 270 000 zivile ausländische Arbeiter und 95 000 Kriegsgefangene.13 Die Zahl der zur Zwangsarbeit eingesetzten KZ - Häftlinge war bis dahin vergleichsweise unbedeutend – Ende September 1944 mussten in Sachsen etwa 7 000 männliche und 8 500 weibliche Häftlinge arbeiten, das waren rund vier Prozent aller zur Zwangsarbeit eingesetzten Personen.14 Ähnlich stellte sich das Zahlenverhältnis in Dresden dar. Zum Stichtag 30. September 1944 wurden im Arbeitsamtsbezirk Dresden 41 087 ausländische Arbeiter und Angestellte einschließlich Ostarbeiter gemeldet.15 Ihnen standen zum selben Zeitpunkt knapp 500 männliche KZ - Häftlinge gegenüber.
3.
Expansion des KZ - Systems in Dresden
Im Herbst 1944 stieg die Zahl der Häftlinge sprunghaft an. Im heutigen Stadtgebiet von Dresden entstanden in rascher Folge fünf Außenlager mit männlichen und weiblichen Häftlingen : Ab September 1944 mussten 300, ab Mitte Oktober 600 Männer beim Reichsbahnausbesserungswerk ( RAW ) Dresden Friedrichstadt Reparaturarbeiten an Waggons ausführen. Am 9. Oktober kamen 700 weibliche Häftlinge nach Dresden. 200 von ihnen mussten im Goehle - Werk der Zeiss Ikon AG Munition herstellen, 500 wurden bei der Universelle Maschinenfabrik in der Produktion und Montage von Rüstungsgütern wie nen. Insbesondere die beträchtliche Fluktuation von Arbeitskräften ist anhand der wenigen Stichdaten nur ungenügend nachvollziehbar. 13 Vgl. Alexander Fischer, Ideologie und Sachzwang. Kriegswirtschaft und „Ausländereinsatz“ im südostsächsischen Elbtalgebiet. In : Sächsisches Staatsministerium des Innern (Hg.) : Fremd - und Zwangsarbeit in Sachsen 1939–1945. Beiträge eines Kolloquiums in Chemnitz am 16. April 2002 und Begleitband einer Gemeinschaftsausstellung der Sächsischen Staatsarchive, Halle ( Saale ) 2002, S. 12. 14 Nicht berücksichtigt sind in diesen Zahlen deutsche Strafgefangene, die Zwangsarbeit leisten mussten. Die Häftlinge verteilten sich Ende September 1944 wie folgt : In 13 Außenlagern des KZ Flossenbürg befanden sich 3 800 Männer und 1 350 Frauen, in 13 Außenlagern von Buchenwald 2 000 Männer und über 6 500 Frauen, in zehn Außenlagern von Groß - Rosen über 1 000 Männer und 600 Frauen. 15 Vgl. Mark Spoerer, NS - Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Eine Statistik vom 30. September 1944 nach Arbeitsamtbezirken. In : VfZ, 49 (2001), S. 665–684, hier 676. Spoerer weist auf die hohe Fluktuation innerhalb der Gauarbeitsamtsbezirke hin, die sich für Sachsen nicht im Detail nachweisen lässt. Die Zahl der Kriegsgefangenen im Arbeitsamtsbezirk Dresden zum Stichtag ließ sich nicht erheben.
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Flugzeugmotoren, Torpedos und Scheinwerfern eingesetzt, hauptsächlich für Junkers. Zeiss Ikon erhielt Ende Oktober weitere 500 Frauen, 300 von ihnen für das Goehle - Werk in Dresden Neustadt, 200 für das Werk im Stadtteil Reick. Bei der MIAG im damals noch eigenständigen Zschachwitz mussten ab Mitte Oktober zunächst 400, später bis zu 1 000 Häftlinge bei der Herstellung von leichten Jagdpanzern und Sturmgeschützen arbeiten. Das letzte Außenlager in Dresden entstand im November 1944 in der Schandauer Straße. Die dortige Zigarettenfabrik der traditionsreichen Tabakfirma Jasmatzi wurde am 15. November 1944 an die Firma Bernsdorf & Co., einen von Pabianitz nach Dresden verlagerten Betrieb der Deutschen Metallwerke, verpachtet. 500 jüdische Häftlinge ( sowohl Männer als auch Frauen ) mussten in 12 - stündigen Schichten Geschosskerne und Munition fertigen. Damit wies Dresden innerhalb von drei Monaten eine ähnlich große Zahl an Einsatzorten von KZ - Häftlingen auf wie nur wenige deutsche Großstädte, nämlich Berlin, Hamburg, München, Bremen, Hannover und Leipzig. Ende 1944 befanden sich über 1 500 männliche und mehr als 1 600 weibliche Häftlinge im Arbeitsamtsbezirk Dresden. Bis Februar 1945 stieg ihre Zahl auf etwa 4 500, mehr als zehn Prozent der Gesamtzahl der zivilen Zwangsarbeiter.16 Vergleicht man das Verhältnis von Häftlingen zu zivilen Zwangsarbeitern mit anderen städtisch geprägten Arbeitsamtsbezirken Sachsens wie Chemnitz oder Plauen, so war der Anteil der KZ - Häftlinge in Dresden mehr als doppelt so hoch.17
4.
Die Dresdner Firmen und die Häftlinge
Trotz der umfassend erhaltenen Firmenbestände ist unbekannt, ob der Einsatz von KZ - Häftlingen innerhalb der Dresdner Industrie und Rüstungsbehörden diskutiert wurde. Aus Quellen belegbar ist hingegen der Umstand, dass sich die SS ihrer Machtposition als Anbieter der letzten verfügbaren Arbeitskräfte wohl bewusst war. Das wurde bei der Errichtung des Außenlagers beim Reichsbahnausbesserungswerk ( RAW ) besonders deutlich. Laut einer Besprechung vom 31. Juli 1944 verhinderte die ausbleibende Lieferung lang bestellter Baracken die Übernahme von 450 Häftlingen. Am folgenden Tag erhielt der Werksdirektor einen äußerst kurzfristig anberaumten Besuch von einem SS - Obersturm-
16 Mark Spoerer vermutet eine geringe Fluktuation von Arbeitskräften zwischen den Arbeitsamtsbezirken. Da seit Ende 1944 kaum weitere Zwangsarbeiter ins Reichsgebiet gelangten, erscheint es als realistisch, für die ersten Monate des Jahres 1945 mit keiner wesentlichen Erhöhung der Zahl ziviler Zwangsarbeiter zu rechnen ( wobei Spoerer betont, dass die amtlichen Zahlen die Untergrenzen der Gesamtzahl ziviler Zwangsarbeiter darstellen ). Vgl. ebd., S. 669. 17 Ende September 1944 befanden sich in Chemnitz 20 603 zivile Zwangsarbeiter, ab Oktober 1944 etwa 900 weibliche Häftlinge; in Plauen standen 12 873 zivilen Zwangsarbeitern ab November 1944 insgesamt 550 männliche und weibliche Häftlinge gegenüber. Vgl. Spoerer, NS - Zwangsarbeiter im Deutschen Reich, S. 676.
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Ulrich Fritz
bannführer.18 Auf dessen Frage, ob er sofort 600 Häftlinge übernehmen könne, wich der Direktor aus : „Der Obersturmbannführer sagte hierauf dem Sinne nach : ‚Dann ist meine Aufgabe schon erfüllt. Die Rüstungsindustrie nimmt uns alle KZ - Leute sofort ab. Er hätte sowieso zu wenig. Wenn sie diese nicht gleich abnehmen, kann es sein, dass sie gar keine mehr bekommen.‘“19 Der Bedarf an Arbeitskräften überwog schließlich die geäußerten Bedenken hinsichtlich der Unterbringung. Die Leidtragenden waren die Häftlinge, die in einer ungeheizten Lokomotivhalle auf vierstöckigen Pritschen unterkommen mussten; die Bewacher wurden in den Werkstätten der umzäunten Halle einquartiert.20 Auf Seiten der Betriebe war ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür vorhanden, dass es sich bei den Häftlingen um Arbeitskräfte handelte, deren Einsatz besondere Vorbereitungen erforderte. So zeigte der Hamburger Tabakkonzern Reemtsma, Besitzer der Jasmatzi AG, in einem Schreiben an die Firma Bernsdorf vom 16. November 1944 Verständnis dafür, „dass Sie gezwungen sind, Ihre Arbeiterschaft zu kasernieren“.21 Laut Übergabeprotokoll versah Bernsdorf die das Firmengrundstück umgebende Mauer mit einem Drahtzaun von einem Meter Höhe. Die Zeiss Ikon AG bereitete sich geradezu akribisch auf die Ankunft der Häftlinge vor. Ein Besprechungsprotokoll vom November 1944 hält unter anderem fest, dass für die Frauen sowohl Nummern im Arbeiter - Buch des Werks reserviert als auch Hollerith - Lohnkarten angelegt wurden, mangels Namen mit einem Stempel - Aufdruck „KL - Arbeiterin“ samt der Häftlingsnummer. Auch weitere Modalitäten wie Bewachung bei und Abrechnung von Krankenhausaufenthalten sowie die Meldung von Fluchtversuchen regelte die Firma vorab. Die vorgeschriebene „Entlohnung“ der Häftlinge, nämlich 4 RM pro Tag, hatte ein Mitglied der Betriebsleitung des Goehle - Werks „anlässlich seines Besuches im Metallwerk Holleischen und der dortigen Lager am 25. und 26.10.“ in Erfahrung gebracht.22 Mit der Expansion der Außenlager verschärfte sich der permanente Mangel an Wachpersonal, dem die SS durch die Heranziehung immer neuer Personengruppen zum Dienst zu begegnen versuchte. Die Wachmannschaften in den Dresdner Außenlagern bestanden neben wenigen langjährigen Angehörigen der regulären SS - Totenkopf - Einheiten vor allem aus Wehrmachtsoldaten ( vor allem älteren Jahrgängen ) und „volksdeutschen“ SS - Männern. Im Außenlager RAW 18 Unklar ist, ob dies der Flossenbürger Lagerkommandant Max Koegel war oder ein Mitarbeiter des SS - WVHA. 19 Werksdirektor des RAW an die Reichsbahndirektion Dresden vom 14. 8. 1944 (SächsHStAD, 11698 A, Nr. 166, Bl. 45). 20 Vgl. Schlussvermerk ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 AR 3032/66, Bl. 168 ff.). 21 Mieterakte Bernsdorf & Co. ( SächsHStAD, 11733, Nr. 486, unpaginiert ). 22 Vgl. Protokoll „Verrechnung von KL - Arbeiterinnen des KL - Lagers Floßenbürg bei Weiden / Oberpfalz“ vom 14. November 1944 ( SächsHStA, 11722, Nr. 319 [ Werksküchen], unpaginiert ). In diesem Kontenbuch finden sich neben dem zitierten Protokoll zahlreiche Auflistungen gelieferter Lebensmittel für Häftlinge und Aufseherinnen sowie Anweisungen für die Abrechnung mit der Kommandantur in Flossenbürg.
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wurden sogenannte „Trawniki“, ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, zum Wachdienst eingesetzt.23 Unterstützt wurden sie von den Abwehrbeauftragten und vom Werkschutz der Betriebe, der ab Herbst 1944 der SS - und Polizeigerichtsbarkeit unterstellt war.24 KZ - Aufseherinnen wurden vor allem in jenen Firmen angeworben oder ( zwangs - )verpflichtet, welche den Einsatz weiblicher KZ- Häftlinge planten. Die Frauen kamen also großteils aus dem lokalen oder regionalen Umfeld der Außenlager.25 Sie waren im Schnitt kaum älter als die meist sehr jungen Häftlinge und in der Regel ledig. Im oben erwähnten Außenlager Holleischen erhielten sie eine dreiwöchige praktische Ausbildung. Lediglich die Oberaufseherinnen in den Außenlagern verfügten über längere Erfahrung im KZ - Wachdienst. Lag das Verhältnis zwischen Wachpersonal und Häftlingen im Außenlager bei der SS - Pionierkaserne noch bei fast 1 :2 oder 1 :3, so betrug es bei den später entstandenen Außenlagern etwa 1 :20. Sowohl viele männliche als auch weibliche Bewacher werden von Überlebenden als demotiviert beschrieben, was sich auf ihr Verhalten gegenüber den Häftlingen unterschiedlich auswirkte. Vielfache, teils lebensgefährliche und tödliche Übergriffe mit Stöcken, Peitschen oder Gummiknüppeln sind aus fast allen Außenlagern in Dresden belegt. Ebenso nachgewiesen ist aber auch, dass einige Wachleute sich zumindest „korrekt“ verhielten, regelwidrige Handlungen der Gefangenen duldeten oder diese gar aktiv unterstützten.26
23 Vgl. Ulrich Fritz, Wachmannschaften im KZ - Komplex Flossenbürg. In : Angelika Benz / Marija Vulesica ( Hg.), Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Berlin 2011, S. 23–39; ebenso die Beiträge von Stefan Hördler zu KZ - Wachmannschaften in der zweiten Kriegshälfte und von Angelika Benz zu John Demjanjuk und den Trawniki - Männern im selben Band. 24 Vgl. Lagerkommandant Flossenbürg an Kommdandoführer der Außenarbeitslager betr. Unterstellung des Werkschutzes unter die SS - und Polizeigerichtsbarkeit vom 26. 10. 1944 ( SächsHStA, 11698 A, Nr. 166, Bl. 50). Für Dresden finden sich in den Firmenbeständen jedoch keine Hinweise auf die Tätigkeit des Werkschutzes im Bezug auf KZ - Häftlinge. Ebenso fehlen entsprechende Informationen zu den zuständigen regionalen Einheiten von SS, Gestapo und SD. Vgl. Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und den besetzten Gebieten. Düsseldorf 1986 und Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2005. 25 Allein 15 der 22 Aufseherinnen im Außenlager Goehlewerk waren Dresdnerinnen. Vgl. Schreiben der Kommandantur Flossenbürg an Oberaufseherin Gertrud Schäfer vom 25. 10. 1944 ( BArch Berlin, NS 4 FL 348, unpaginiert ). 26 Vgl. Zwischenbericht der Untersuchungsstelle für NS - Gewaltverbrechen beim Landesstab der Polizei Israel vom 18. 1. 1968 in den Ermittlungen zum Außenlager Dresden Bernsdorf. Nach Aussagen von Häftlingen soll dort ein SS - Unterscharführer gegen die Räumung des Lagers protestiert haben und darauf vom Kommandoführer Schmerse erschossen worden sein ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 AR - Z 57/68). Zur Unterstützung durch Aufseherinnen s. auch unten, S. 12.
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5.
Ulrich Fritz
Häftlingszwangsgesellschaften
Waren die Bewacherinnen und Bewacher der Häftlinge schon eine äußerst heterogene Gruppe, so gilt dies umso mehr für die jeweiligen Häftlings - Zwangsgesellschaften. Während die SS für das Außenlager SS - Pionierkaserne lange Zeit Fachkräfte anfordern konnte, spiegeln die im Herbst 1944 entstandenen Außenlager in erster Linie die militärische Lage sowie akute kriegswirtschaftliche Gegebenheiten wider. Zwischen den beteiligten Akteuren bestand dabei ein klarer Interessensgegensatz : Die Firmen waren an möglichst jungen, kräftigen, technisch ausgebildeten Arbeitskräften interessiert. Das SS - WVHA und die Kommandanturen der Konzentrationslager waren mit der Abwicklung des Häftlingseinsatzes zunehmend überfordert. Häufig nutzten sie das rasant wachsende Außenlager - Netz, um die ab Sommer 1944 stetig zunehmende Überfüllung der Lager durch rasche Verschiebung von Häftlingen zu mildern. Die Häftlinge selbst schließlich hatten allen Grund, den katastrophalen Zuständen in den überfüllten Hauptlagern zu entgehen. So berichtet ein Überlebender des Außenlagers RAW, dass er sich in Flossenbürg auf die Ankündigung hin, es würden Facharbeiter für ein Außenlager gesucht, sofort gemeldet habe. Mit der Aussage, er habe Erfahrung als Schlosser und spreche deutsch, gelang es ihm, nach Dresden zu kommen.27 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass nur für wenige Dresdner Außenlager eine planvolle Auswahl oder Zuweisung von Häftlingen nachweisbar ist. Die ersten Gefangenen im Außenlager Zschachwitz etwa kamen aus dem Mauthausener Außenlager Passau II ( Waldwerke ). Sie hatten bereits dort für einen Tarnbetrieb der Zahnradfabrik Friedrichshafen ( ZF ) Panzergetriebe bauen müssen und verrichteten nun ähnliche Arbeiten für die MIAG in Zschachwitz.28 Spätere Transporte waren hingegen äußerst heterogen und bestanden zum größeren Teil aus Häftlingen, die zu Hilfsarbeiten eingesetzt wurden. Einen Sonderfall stellt das Außenlager Bernsdorf im Stadtteil Striesen dar. Hier arbeiteten ausschließlich jüdische Häftlinge, die bereits mehrere Jahre lang im Ghetto Litzmannstadt ( Łodz ) für die Deutschen Munitionswerke ( DMW ) zwangseingesetzt worden waren. Der vom Leiter der Ghetto - Verwaltung, Hans Biebow, geführte Betrieb sicherte sich bei der Auflösung des Ghettos den Zugriff auf die eingearbeiteten Kräfte. Dies hatte zur Folge, dass ganze Familien im August 1944 über Auschwitz ins KZ Stutthof eingewiesen wurden. 216 männliche und 284 weibliche Häftlinge, die große Mehrheit von ihnen aus Polen, wurden schließlich per Bahn nach Dresden transportiert. Unter den
27 Mündliche Mitteilung von Zbigniew Kolakowski, 23. 7. 2004. 28 Vgl. Bertrand Perz, Passau ( Waldwerke II ). In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors, Band 4, München 2005, S. 410 ff.
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Frauen befanden sich auch elf Kinder der Jahrgänge 1930 bis 1939, davon einige Jungen, wie der korrigierende Vermerk „Knabe“ in den Nummernbüchern beweist.29 In den Dresdner Außenlagern des KZ Flossenbürg waren Häftlinge aus über 20 Staaten Europas eingesperrt. Den größten Anteil bildeten wie im gesamten Flossenbürger Lager - Kosmos die polnischen Häftlinge und diejenigen aus der Sowjetunion. Aber auch zahlreiche deutsche Häftlinge verteilten sich auf die Außenlager, unter ihnen mehrere gebürtige Dresdnerinnen. Jüdische Gefangene kamen vor allem aus Polen und Ungarn. Zivile Zwangsarbeiter, die wegen angeblicher oder tatsächlicher Vergehen wie Sabotage über die Gestapo in Konzentrationslager eingewiesen worden waren, stellten mindestens ein Drittel aller Häftlinge in Dresden. Viele Männer und Frauen gerieten als „Schutzhäftlinge“ wegen Widerstands gegen die deutschen Besatzer in besetzten Ländern in das KZ - System.30
6.
Alltag der Zwangsarbeit
Anders als die Hauptlager waren die KZ - Außenlager keine hermetischen Orte der „absoluten Macht“ der SS.31 Zwar blieben Begegnungen mit der Welt außerhalb der Fabrik selten : „Kurz nach unserer Ankunft in Dresden mussten wir in die Entlausungsanstalt gehen. Es war ein weiter Weg, und eine große Anstrengung für alle. [...] Die Vorübergehenden bleiben stehen und starren uns an, werden aber von unserer SS - Bewachung fortgetrieben. [...] Einige Kinder, die an der Seite der Straße stehen stoßen sich an und sagen, – ich höre es im Vorbeigehen – ‚Das sind Drecksjuden‘, und gleich darauf fliegen ein paar Steine.“32 Auch in den Außenlagern wurden die Häftlinge in größtmöglicher räumlicher Isolation gehalten. In der Universelle mussten die Frauen im vierten und fünften Stock einer Werkhalle schlafen, in den beiden darunter liegenden Geschossen arbeiteten sie. Über vier Monate kamen viele nicht aus dem Gebäude heraus.33 Dennoch bedeutete Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie auch die Einbindung in komplexere Produktionsabläufe und machte Kontakte zu anderen Arbeitern und Vorgesetzten erforderlich. Dies konnte sich unterschiedlich auswirken – Denunziation, Strafen und Schikane sind ebenso belegt wie Unterstützung und Akte der Solidarität. Die Beherrschung der deutschen Sprache erleichterte die Kontaktaufnahme bedeutend. So berichtet Rita Sprengel, die als 29 Vgl. Häftlingsnummernbücher des KZ Flossenbürg ( NARA Washington, RG 338; 290/13/22/3; 000–50–46; Box 537) – Mikrofilm - Kopie im Archiv der Gedenkstätte Flossenbürg. 30 Vgl. ebd., eigene Auswertung der Häftlingsdatenbank der KZ - Gedenkstätte Flossenbürg. 31 Vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors, Frankfurt a. M. 1997. 32 Ruth Alton, Deportiert von den Nazis. Berlin – Lodz – Auschwitz – Stutthof – Dresden, Bielefeld 2009, S. 74 f. 33 Vgl. Rita Sprengel, Der rote Faden. Lebenserinnerungen, Berlin 1994, S. 238 f.
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politischer Häftling in der Universelle eingesetzt war, von ihrem Meister, „einem älteren, behäbigen Mann“, der für sie Briefe weiterleitete : „Eines Tages erschien der Meister [...] mit einer Binde am Arm, die ihn als Mitglied der NSBO [ Nationalsozialistische Betriebsorganisation, U. F.] kennzeichnete. Wie ein begossener Pudel wirkte er. So sehr schämte er sich. [...] Doch er hatte nichts verraten.“34 Vor allem zivile Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene halfen, ungeachtet ihrer eigenen Sicherheit. So konnte Dora Salomonovic im Außenlager Bernsdorf über einen niederländischen Zivilarbeiter Kontakt zu Verwandten in Ostrau aufnehmen und sich Pakete schicken lassen.35 Entgegen den eingangs dokumentierten Vorbereitungen der Verantwortlichen verlief der Arbeitseinsatz der Häftlinge eher ungeordnet. Die Unterbringung und Verpflegung war meist improvisiert und äußerst schlecht. Bei Krankheiten und Arbeitsunfällen stand keine adäquate medizinische Versorgung zur Verfügung. Wurden die Verhältnisse unerträglich, so gab es für die Häftlinge nur zwei gleichermaßen riskante Möglichkeiten : Protest oder Flucht. Beides ist auch für Dresden nachweisbar. So nahm die russische Überlebende Nina Denisowna Raichowa im Goehle - Werk an einem Streik teil, nachdem ein erster Protest gegen die mangelhafte Verpflegung erfolglos geblieben war : „Da entschieden wir uns für einen richtigen Streik, wir verweigerten die Nahrungsaufnahme, gingen nicht zur Arbeit, verlangten mehr Essen. [...] Von da an bekamen wir 150 Gramm Brot am Tag und die Suppe kochten sie mit Graupen und Salz.“36 Fluchtversuche sind bis auf das Außenlager Bernsdorf in allen Dresdner Außenlagern belegbar. Besonders im RAW befürchteten die Wachmannschaften, dass Häftlinge unter den Achsen reparierter Waggons zu entkommen versuchten. Am 25. Oktober 1944 wurden drei Häftlinge „auf der Flucht erschossen.“ Wurden die Flüchtigen ergriffen, so mussten sie damit rechnen, nach Flossenbürg überstellt und dort ermordet zu werden.37 In Zschachwitz, wo bis Jahresende 1944 bereits elf Fluchtversuche stattgefunden hatten, tauschte die SS den Kommandoführer und den Lagerältesten aus. Über 90 Prozent der Fluchtversuche wurden von sowjetischen und polnischen Gefangenen unternommen – ein klares Indiz für ihre besonders prekäre Situation innerhalb der Häftlingszwangsgemeinschaft.38
34 Ebd., S. 239 f. 35 Vgl. „Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945“ – Katalog zur ständigen Ausstellung, Göttingen 2008, S. 279. 36 Bericht von Nina Denisowna Raichowa. In : Bernhard Füßl, Sylvia Seifert, Hans SimonPelanda ( Hg.), Ihrer Stimme Gehör geben, Bonn 2001, S. 27. 37 In den Häftlingsnummernbüchern findet sich hierfür zumeist der verschleiernde Ausdruck „Sonderbehandlung“ bzw. die Abkürzung „S. B.“. 38 Vgl. Fluchtmeldungen ( Centre d’études et de documentation guerre et société contemporaine [ im Folgenden CEGES ] Brüssel, Mikrofilm 14368++).
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KZ-Häftlinge in Dresden – vor, während und nach den Luftangriffen
7.
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Luftangriffe
Luftangriffe brachten für KZ - Häftlinge eine paradoxe Situation mit sich : Sie begrüßten die Bombardierungen durch die Alliierten, die ihnen womöglich die Freiheit bringen konnten – und dies, obwohl die Gefangenen akuter Lebensgefahr ausgesetzt waren. Denn Häftlinge erhielten in der Regel keinen Zugang zu Luftschutzkellern. Im Außenlager bei der Firma Bernsdorf wurden sie in ihren Unterkünften eingeschlossen. In der Universelle setzten die Frauen der Nachtschicht durch, dass sie bei Fliegeralarm in das Kellergeschoss gehen durften. Von den Luftangriffen am 13. und 14. Februar 1945 waren die acht Außenlager im heutigen Stadtgebiet unterschiedlich stark betroffen. Für das Baukommando in der SS - Pionier - Kaserne sind keine Todesopfer dokumentiert, ebenso wenig im Goehle - Werk, wo die Produktion nach den Luftangriffen nur kurzfristig eingeschränkt war.39 Das RAW in der Friedrichstadt erlitt hingegen einige Volltreffer. 51 Häftlinge starben bei oder kurz nach den Angriffen.40 Die Universelle wurde ebenfalls stark zerstört. Allerdings ist unklar, ob und wie viele Häftlinge den Angriffen zum Opfer fielen. Zwar berichten fast alle Überlebenden, dass der Großteil der Frauen ums Leben gekommen sei. Andererseits scheinen diese Eindrücke neben den chaotischen Zuständen der Tatsache geschuldet zu sein, dass die Frauen an verschiedene Orte verbracht wurden. Nachweisbar ist, dass einer großen Zahl von Häftlingen die Flucht gelang.41 Besonders chaotisch wirkten sich die Angriffe auf das Zeiss - Ikon - Werk Reick aus, wo erst am 12. Februar ein weiterer Transport mit 200 Frauen aus BergenBelsen eingetroffen war. Wie der Kommandoführer des Zeiss - Ikon - Werks Reick am 18. Februar meldete, waren mehrere Aufseherinnen sowie Wachmänner aus Bergen - Belsen vermisst42 – neben mehreren Häftlingen, die geflüchtet waren. Bei der MIAG in Zschachwitz konnten 32 Häftlinge die Luftangriffe zur Flucht nutzen, allerdings wurden sieben von ihnen nachweislich wieder ergriffen und einige erschossen. Ende Februar wurden 89 Häftlinge nach Flossenbürg überstellt, darunter möglicherweise auch Verletzte. Im Außenlager Dresden Bernsdorf kamen einige Kranke ums Leben, die in ihren abgeschlossenen Unterkünften verbleiben mussten – der Kommandoführer hatte andere Gefangene, die um die Rettung der Kranken baten, mit vorge-
39 Vgl. Forderungsnachweis über Häftlingseinsatz bei der Fa. Zeiss - Ikon AG Goehlewerk für Februar 1945 vom 1. 3. 1945 ( BArch ZA Dahlwitz - Hoppegarten, ZM 1680, A. 6). Am 14./15. Februar ruhte die Produktion offenbar ganz. Am 16. und 17. Februar waren nur 30 Frauen eingesetzt, am 19. Februar 50 und am 20. Februar 75. Danach wurden wie zu Monatsbeginn wieder täglich zwischen 670 und 680 Frauen abgerechnet. 40 In den Häftlingsnummernbüchern sind die Opfer der Luftangriffe im Außenlager RAW durchgezählt ( NARA Washington, RG 338; 290/13/22/3; 000–50–46; Box 537). 41 Vgl. Zeugenaussagen zahlreicher Überlebender in den Ermittlungsakten zum Außenlager Dresden Universelle ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 AR - Z 101/76). 42 Vgl. Kommandoführer Olschewski, Dienstlage beim Aufsichtspersonal, 18.2.45 ( BArch Berlin, NS 4 FL 348 Band 2, unpaginiert ).
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Ulrich Fritz
haltener Waffe zum Verlassen des Gebäudes gezwungen.43 Andererseits rettete das anschließende Chaos einigen Kindern das Leben, die kurz vorher entdeckt worden waren und mit einem der letzten Transporte deportiert werden sollten.44
8.
Nach der Zerstörung Dresdens
Infolge der Luftangriffe irrten Hunderte von Kriegsgefangenen, zivilen Zwangsarbeitern und KZ - Häftlingen in der Stadt herum, die ihre Unterkunft verloren hatten oder auf der Flucht waren. Dies wurde als Sicherheitsproblem erkannt, wie ein Bericht des Gendarmeriepostens Gittersee zeigt : „Zugewanderte Ausländer wurden der Nationalität entsprechend Lagern in Freital und Rabenau zugeleitet. In gleicher Weise wurde auch mit den Kriegsgefangenen verfahren. [...] Ferner wurden auch 2 KZ - Häftlinge, die aus der Gefangenenanstalt in Dresden entwichen waren, aufgegriffen und dem Amtsgerichtsgefängnis in Freital zugeführt.“45 Auch die Kommandantur in Flossenbürg konnte sich über die Folgen der Luftangriffe trotz entsprechender Bemühungen nur ein höchst unvollständiges Bild machen. Während die Häftlingsnummernbücher etwa für die Außenlager RAW und Zschachwitz relativ präzise Angaben über Todesfälle und Fluchtversuche enthalten, sind für die Universelle weder Opfer noch Fluchtversuche verzeichnet. Die monatlichen Meldungen des Höheren SS - und Polizeiführers (HSSPF ) Elbe geben ebenfalls kein korrektes Bild der Ereignisse wieder.46 Aufgrund der teils verheerenden Schäden in den Werken sowie der desolaten Transportsituation war an eine rasche Wiederaufnahme der Rüstungsfertigungen nicht zu denken. Das RAW in Dresden - Friedrichstadt hatte bei den Luftangriffen so starke Schäden erlitten, dass die Häftlinge von dort abgezogen wurden und das Arbeitskommando eingestellt werden musste.47 Das Chaos infolge der Luftangriffe scheint jedenfalls sowohl die SS als auch die Betriebe 43 Vgl. Aussage von Abraham S., 19. 12. 1967 ( BArch Ludwigsburg, AR - Z 57/68). 44 Vgl. „Konzentrationslager Flossenbürg 1938–1945“, S. 279. 45 Gendarmerieposten Gittersee, Lagebericht vom 27. 2. 1945 ( StadtA Dresden, Gemeindeverwaltung Gittersee, A IV.4), zit. nach Matthias Neutzner / Martha Heinrich Acht. Dresden 1944/45, 3. Auflage Dresden 2000, S. 81. Im Abschlussbericht des HSSPF Elbe zu den Folgen der Angriffe werden hingegen lediglich 79 Plünderer erwähnt. Vgl. Schlussmeldung des HSSPF Elbe über die Luftangriffe auf Dresden am 13., 14. und 15. Februar 1945 vom 15. 3. 1945, zit. in Walter Weidauer, Inferno Dresden, Berlin (Ost) 1965, S. 220–238, hier 238. In der Meldung findet sich keine Aufschlüsselung der Plünderer nach Nationalität, Status etc. 46 Die Meldungen für Februar und März 1945 führen bei der Universelle jeweils 681 Häftlinge auf. Deutlich reduziert hat sich hier nur die Zahl der Aufseherinnen von 21 auf 13 ( vgl. ITS, Historisches Archiv, Flossenbürg - Sammelakt 10, Bl. 70 und 86). 47 Vgl. Lagerstärkemeldung vom 20. 2. 1945 ( CEGES Brüssel, Mikrofilm 14368+). Beim Rücktransport nach Flossenbürg unternahmen mindestens 15 Häftlinge einen Fluchtversuch – wie viele dabei ums Leben kamen, ist unklar.
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zu weitgehender Improvisation gezwungen zu haben. Unweit von Dresden gelegene Außenlager wurden zu Auffanglagern, insbesondere das in Mockethal (heute ein Stadtteil von Pirna ). Fast alle Häftlinge aus dem schwer beschädigten Werk Bernsdorf, offenbar auch Frauen aus dem Außenlager Universelle, wurden zu Fuß dorthin verlegt.48 Nach einer Woche kehrten die männlichen, später auch die weiblichen Häftlinge zurück. Sie wurden allerdings nicht im Betrieb eingesetzt, sondern zu Räumarbeiten in der zerstörten Stadt. Das weitere Schicksal der Häftlinge lässt sich hauptsächlich aus Aussagen von Überlebenden rekonstruieren. Die Unterlagen der Flossenbürger Kommandantur enthalten diesbezüglich nur wenige, die Akten der betroffenen Firmen fast keine Hinweise. Viele flüchtige Frauen aus dem Außenlager Universelle konnten untertauchen. Andere Frauen wurden in die Dresdner Neustadt und in das Außenlager Freiberg verlegt. Vier flüchtigen „Zigeunerinnen“, die nach ihrer Ergreifung in Freiberg eingesperrt waren, gelang von dort wiederum die Flucht; eine weitere schlug sich zu ihrer Familie nach Bremerhaven durch.49 Andere Frauen konnten sogar auf die Hilfe von Aufseherinnen zählen, so zwei lettische Schwestern, die zunächst in Freital, dann in Possendorf unterkamen.50 Überhaupt scheint vor allem weibliches Wachpersonal die Luftangriffe zum Anlass genommen zu haben, den ungeliebten Dienst zu quittieren. Im Werk Reick erschienen acht Aufseherinnen wegen des Todes von Angehörigen nicht zum Dienst, zwei weitere Aufseherinnen verweigerten den Dienst und setzten sich ab.51 Der Kommandoführer forderte am 20. Februar eine „energische Erstaufseherin mit Kommandosprache“ sowie „die Kommandierung von noch vier Wachmännern, da die Frauen mit einer Ausnahme in diesen Lagen samt und sonders versagt haben.“ Weil die unbewaffneten Aufseherinnen ein „Angst - und Schwächegefühl bei ihnen selbst und den Häftlingen gegenüber“ an den Tag legten, bat er zudem um Revolver und scharfe Munition zur Schießausbildung.52 Aus den noch im Herbst 1944 dringend benötigten KZ - Häftlingen wurde für die Firmen eine unkalkulierbare Belastung. Angesichts des allgemeinen Mangels, und nachdem ihr praktischer Nutzen für die Betriebe entfallen war, wurden die Häftlinge noch schlechter versorgt als zuvor. In der Folge nahm die Sterberate in einigen Außenlagern rasant zu, insbesondere dort, wo mit weiteren Transporten Kranke ankamen. Im Werk Reick und in Zschachwitz brachen im Frühjahr 1945 Typhusepidemien aus.53 48 Vgl. Kommandoführer Schmerse an Kommandantur Flossenbürg vom 28. 2. 1945 (BArch Berlin, NS 4 FL 348 Band 2, unpaginiert ). 49 Vgl. Aussage von Hedwig S. 3. 2. 1970 ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 AR - Z 101/76, Bl. 205). 50 Vgl. eidesstattliche Erklärung von Cecilia L. vom 29. 12. 1958 und handschriftliche Bescheinigung von Marianne L. vom 16. 1. 1963 ( ebd., Bl. 152 f.). 51 Vgl. Kommandoführer Olschewski, Dienstlage beim Aufsichtspersonal, 18.2.45 ( BArch Berlin, NS 4 FL 348 Band 2, unpaginiert ). 52 Vgl. Kommandoführer Olschewski, Anforderung von Aufseherinnen, Wachmännern und Revolvern, 20. 2. 45 ( BArch Berlin, NS 4 FL 348 Band 2, unpaginiert ). 53 Vgl. Aussage von Lily H., 24. 7. 1967 ( BArch Ludwigsburg, ZSL 410 AR 3016/66, Bl. 26).
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Ulrich Fritz
Bereits Anfang Februar 1945 hatte die Reichsgruppe Industrie für die Betriebe das Recht gefordert, „z. B. die KZ - Häftlinge, Juden und Kriegsgefangenen an die zuständigen Dienststellen zurückzugeben.“54 Auch Dresdner Betriebe versuchten, den weiteren Einsatz oder die erneute Zuweisung von Zwangsarbeitern, insbesondere KZ - Häftlingen, zu verhindern. So sollten im geräumten Lagergelände des RAW zunächst „im Kz 350 Ausländer ( Ziv. Arbeiter ) zur Soforthilfe“55 untergebracht werden, die „später für die Fertigung umgesetzt“ werden sollten. Wenige Wochen später hielt ein Abteilungsleiter hingegen fest, dass weitere Arbeitskräfte „unter keinen Umständen im ehemaligen KZ untergebracht werden. [...] KZ - Häftlinge sind unter allen Umständen abzuweisen.“56 Die Universelle versuchte ebenfalls, den Häftlingseinsatz rechtzeitig und formal korrekt abzuwickeln : Die „Aufgliederung der Gefolgschaftsmitglieder am 26. März 1945“ weist 685 Häftlinge als „entlassen“ aus.57 Die städtischen und staatlichen Einrichtungen griffen auf die unversehens freiwerdenden Arbeitskräfte zurück und setzten sie bei den Hilfsmaßnahmen ein, die unmittelbar nach den Luftangriffen begannen. Neben der Bestattung der Toten galt es, die zerstörte Infrastruktur wieder in Gang zu setzen. Insbesondere in zwei Bereichen sollte ein Großteil der notwendigen Arbeiten von Kriegsgefangenen, Sträflingen, zivilen Zwangsarbeitern und KZ - Häftlingen geleistet werden : bei der Reichsbahn und beim Bau von Behelfsheimen für die Tausenden von Ausgebombten.
8.1
Einsatz von Häftlingen bei der Reichsbahn
Zur Sicherung des Verkehrs hatte Rüstungsminister Speer am 18. Februar 1945 einen „Verkehrsstab“ gegründet. Der Reichsbahndirektion Dresden sollten, unter anderem „durch Zuweisungen aus der Rüstungsindustrie“, 50 000 Arbeitskräfte zur Schadensbeseitigung an Verkehrsknotenpunkten zugeteilt werden. Allein für Dresden, einen Knotenpunkt der Dringlichkeitsstufe I, waren 8 000 Kräfte vorgesehen.58 Darin waren mit Sicherheit auch KZ - Häftlinge eingeschlossen. 54 Besprechungsunterlage der RGI - Führung vom 8. 2. 1945 ( BArch Berlin, R 12 I /339), zit. nach Dietrich Eichholtz, Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft. In : Ulrike Winkler ( Hg.), Stiften gehen. NS - Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000, S. 10–40, hier 36. 55 Handschriftlicher Vermerk vom 27. 2. 1945 ( SächsHStA, 11698 A, Nr. A 166, Bl. 10). 56 Handschriftliche Notiz vom 11. 3. 1945 ( SächsHStA, 11698 A, Nr. A 166, Bl. 7). 57 Aufgliederung des Gefolgschaftsstandes am 26. März 1945 ( SächsHStA, 11683, Nr. 27, Bl. 1). 58 Vgl. Rundschreiben der Reichsbahndirektion Dresden vom 12. 3. 1945 ( StadtA Dresden, Baupolizeiamt, 2.3.15, Nr. 1456, Bl. 245). Der „Erlass über die Bildung eines Verkehrsstabes vom 18. Februar 1945“ findet sich als Anlage 1 in diesem Rundschreiben. Für den Hinweis auf den Aktenbestand im Stadtarchiv und umfangreiche Aufzeichnungen danke ich Karola Fings. Für Unterstützung bei der Sichtung der Akten danke ich Julius Scharnetzky.
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Vom Zusammenbruch der Transportmöglichkeiten waren wiederum KZ Häftlinge in besonderer Weise betroffen. Nach Aussage eines Überlebenden stand ein Zug mit über 300 Häftlingen mehrere Tage auf dem zerstörten Dresdner Bahnhof. Der Transport war am 13. Februar 1945 in Gusen, einem Außenlager des KZ Mauthausen, losgefahren und kam erst am 3. März an seinem Bestimmungsort, dem Flossenbürger Außenlager im nordsächsischen Gröditz, an.59 Von denjenigen Häftlingen, die Ende Februar aus dem RAW nach Flossenbürg überstellt worden waren, kehrten nicht wenige bereits einen Monat später nach Dresden zurück. Am 23. März 1945 wurde der SS - Hauptscharführer Franz Rohloff mit 63 SS - Männern – darunter zwei Hundeführern – nach Dresden abgestellt. Tags darauf folgten 500 Häftlinge, die zur Reparatur von Gleisanlagen und zur Reinigung von Gleiszubehör eingesetzt wurden. Untergebracht waren sie nach Zeugenaussagen in einer ( Bahnhofs - )Halle auf fünfstöckigen Pritschen.60 Da nach wenigen Tagen Flecktyphus ausbrach, blieben die Häftlinge in Quarantäne. Todesfälle infolge der Krankheit sind nicht eindeutig nachweisbar. Vorsichtshalber forderte ein städtischer Beauftragter des Gesundheitsamtes, die Häftlinge sollten drei Mal entlaust werden, die Wachmannschaft solle isoliert und ihre Temperatur kontrolliert werden. Kommandoführer Rohloff protestierte und verwies auf eine Verfügung der Flossenbürger Kommandantur, nach der in den als exterritorial zu betrachtenden Außenlagern nur der SS - Standortarzt in Flossenbürg eine Quarantäne verhängen könne.61 Laut einer weiteren Liste sollten am 13. April weitere 300 Häftlinge nach Dresden überstellt werden. Allerdings scheint dieser Transport nicht mehr durchgeführt worden zu sein.62 Dies verwundert wenig angesichts der chaotischen Verhältnisse im Lager Flossenbürg, das ab dem 14. April geräumt wurde.
8.2
Einsatz von Häftlingen im Behelfsheimbau
Das Angebot zum Einsatz von KZ - Häftlingen beim Behelfsheimbau kam vom SS - WVHA. Dessen Delegierter, ein Architekt Wichmann, erschien am 2. März 1945 beim Dresdner Stadtbaudirektor Dr. Cronert, der im Büro des Oberbürgermeisters die Sofortmaßnahmen leitete. Wichmann verwies auf die Erfahrungen der SS mit Behelfsheimbauten „in Berlin, München und anderen 59 Vgl. Aussage Ernst Sch., 4. 10. 1968 ( BArch Ludwigsburg, ZSL, 410 AR - Z 92/75). 60 Vgl. Aussage David D., 28. 3. 1969 ( BArch Ludwigsburg, ZSL, 410 AR - Z 152/76, Bl. 70). 61 Vgl. Brief des Kommandoführers Rohloff an den Werksdirektor vom 3. 3. 1945 (SächsHStA, 11698 A, Nr. A 166, Bl. 2) und handschriftlicher Vermerk vom 4. 3. 1945 ( ebd., Bl. 1). 62 Der kroatische Überlebende Vinko Garašic, dessen Name auf der Transportliste nach Dresden stand, berichtete, dass er in Flossenbürg auf einen der Todesmärsche in Richtung Süden ging und befreit wurde. Ich danke Nadica Maurer für diese Auskunft über ihren Vater.
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Ulrich Fritz
Städten [...]. Der Einsatz kann nur geschlossen erfolgen, da in der Hauptsache Häftlinge eingesetzt werden, und darf nicht verzettelt sein, d. h. es müssen möglichst zusammenhängende und übersichtliche Behelfsheimanlagen der SS zur Errichtung übergeben werden.“63 Bereits drei Tage später stellte Wichmann bei einer Besprechung zum Behelfsheimbau den Einsatz einer SS - Baubrigade von etwa 1 000 Häftlingen in Aussicht.64 Gemeint war damit eine der mobilen Einheiten, welche die SS seit 1942 in vielen deutschen Städten zu Räumarbeiten nach Luftangriffen eingesetzt hatten.65 Der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann begrüßte dieses Angebot, „damit die in den Dresdner Betrieben noch tätigen Volksgenossen bald wieder innerhalb des Stadtgebietes Wohnung erhalten.“66 Die Behelfsheime sollten in Reick, Dobritz und Gruna errichtet werden. Allerdings konnten weder Zeitpunkt noch Umfang des versprochenen Häftlingseinsatzes eingehalten werden. Ein Protokoll vom 20. März erwähnt die Zusage von „3 Kompanien zu je 225 Mann ( Sträflinge )“ durch Wichmann; „ein Vorkommando von 100 Mann ist bereits eingetroffen.“67 Eine Baracke für die Häftlinge sollte zunächst am Prohliser Familienbad in der Dohnaer Straße aufgestellt werden : „Der Platz ist insofern besonders geeignet, als derselbe 1. bereits eingefriedigt [ sic !] ist, was bei der Unterbringung der Häftlinge unerlässlich ist, 2. außerhalb der eigentlichen Wohnbebauung im Freien liegt ( Schussfreiheit ).“68 Ende März – mittlerweile wurde ein anderer Standort in der Nähe vorgesehen – war die Baracke allerdings noch nicht aufgestellt. Auch das Eintreffen des Vorkommandos war voreilig gemeldet worden. Laut einem „Bericht über die baulichen Sofortmaßnahmen“ vom 6. April 1945 „soll es dieser Tage in Dresden eintreffen.“69 Ein entsprechender Transport wurde im KZ Flossenbürg am 13. April 1945 zusammengestellt. Die aufgelisteten 103 Häftlinge aus elf Nationen befanden sich wahrscheinlich in schlechter körperlicher Verfassung, obwohl der Lagerarzt ihre Arbeitsfähigkeit bescheinigte. Viele von ihnen waren erst kurz vor der Überstellung nach Dresden von Außenlagern nach Flossenbürg zurückgekehrt, in denen Krankheiten grassiert und viele Todesopfer gefordert hatten, wie in Ansbach und Zwickau. Andere kamen direkt aus dem Flossenbürger Krankenrevier. Allein 23 Häftlinge entstammten den Jahrgängen 1897 bis 1910 und waren damit relativ alt. Möglicherweise nutzte die Kommandantur in Flossen63 Notiz des Stadtbaudirektors vom 2. 3. 1945 ( StadtA Dresden, 2.3.15, Nr. 1455, Bl. 12). 64 Vgl. Niederschrift über die Besprechung am 5. März 1945 zu Behelfsheimbau für die luftkriegsbetroffene Bevölkerung Dresdens ( ebd., Bl. 14). 65 Vgl. Karola Fings, Krieg, Gesellschaft und KZ : Himmlers SS - Baubrigaden, Paderborn 2005. Neben fünf SS - Baubrigaden mit je etwa 1 000 Häftlingen wurden ab Herbst 1944 acht SS - Eisenbahnbaubrigaden zu je 500 Mann aufgestellt. Insgesamt waren rund 20 000 Häftlinge bei den Baubrigaden eingesetzt. 66 Vgl. Aussage von Regierungsdirektor Riemer, Besprechung mit Leiter der Sofortmaßnahmen am 8. März 1945 ( StadtA Dresden, Baupolizeiamt, 2.3.15, Nr. 1455, Bl. 16). 67 Behelfsheimaktion für Dresden, 20. 3. 1945 ( ebd., Bl. 49). 68 Vermerk vom 20. 3. 1945 ( ebd., Bl. 84). 69 Bericht über die baulichen Sofortmaßnahmen an Herrn OB, 6. 4. 1945 ( ebd., Bl. 228).
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bürg die Gelegenheit, kranke Häftlinge aus dem bereits völlig überfüllten Stammlager abzuschieben. Ob sie jemals in Dresden eintrafen, ist fraglich.70
9.
Das Ende der Dresdner Außenlager
Bis heute ist nicht genau erforscht, wie viele Häftlinge den Luftangriffen auf Dresden vom Februar 1945 und den katastrophalen Verhältnissen danach zum Opfer fielen. Nur die wenigsten Todesfälle wurden von städtischen Behörden dokumentiert.71 Die Dresdner Außenlager wurden Ende April 1945 aufgelöst. Die SS trieb die Häftlinge in Richtung Sudetenland oder ins Erzgebirge, weg vor den heranrückenden Truppen der Alliierten – zu Fuß oder in Viehwaggons, teils auch auf Elbkähnen. Ein Zielort war das Flossenbürger Außenlager Leitmeritz und das nahe gelegene Ghetto Theresienstadt. Leitmeritz hatte – nach der Befreiung des Konzentrationslagers Flossenbürg – die Funktion eines Auffanglagers : Nicht nur Häftlinge aus dem Flossenbürger Lagerkomplex, sondern auch aus Außenlagern von Buchenwald oder Sachsenhausen wurden hierher geführt. 500 Häftlinge aus dem Sachsenhausener Außenlager Schwarzheide, 50 Kilometer von Dresden entfernt in der Lausitz gelegen, passierten Dresden auf ihrem Weg nach Theresienstadt. Als die sowjetischen Truppen am 7. Mai Dresden befreiten, dürften sie kaum überlebende KZ - Häftlinge angetroffen haben. Was blieb, waren die Toten, die auf verschiedenen Friedhöfen der Stadt beigesetzt wurden.72 In einigen Betrieben, in denen Häftlinge Zwangsarbeit hatten leisten müssen, wurden Erinnerungszeichen angebracht – etwa im RAW, vor der MIAG in Zschachwitz, oder, im Jahr 2005, an der Zigarettenfabrik in der Schandauer Straße. Nur wenige Täterinnen und Täter mussten sich Gerichtsverfahren stellen, so z. B. im sogenannten Goehlewerk - Prozess : Die Große Strafkammer Dresden verurteilte im Januar 1949 den stellvertretenden Werkleiter, drei Meister und drei SS Aufseherinnen wegen völkerrechtswidriger Behandlung von Zwangsarbeitern und KZ- Häftlingen zu hohen Haftstrafen.73 70 Vgl. Überstellungsliste nach dem Arbeitslager Dresden Behelfsheim, 13. 4. 1945 (CEGES Brüssel, Mikrofilm 14368). „Dresden Behelfsheim“ wäre damit als letztes Flossenbürger Außenlager errichtet worden, nur wenige Tage später wurde das Stammlager Flossenbürg „evakuiert“, die meisten Häftlinge wurden auf Todesmärschen Richtung Süden getrieben. 71 Drei Opfer aus dem Außenlager Bernsdorf wurden von der Polizeidirektion auf „Kennzetteln für bekannte Tote“ vermerkt, vgl. Matthias Neutzner, Die Bergung, Registratur und Bestattung der Dresdner Luftkriegstoten. Bericht zum Teilprojekt 1 „Statistisch geographische Analyse“ der Historikerkommission zu den Luftangriffen auf Dresden zwischen dem 13. und dem 15. Februar 1945, ( http ://www.dresden.de / media / pdf / stadtarchiv/ Historikerkommission_Dresden1945_Bericht_TP1_V1_0.pdf; 12.6.2012). 72 Vgl. Ulrich Fritz, Die Gedenkanlage für KZ - Opfer auf dem Urnenhain Tolkewitz. In : 100 Jahre Krematorium und Urnenhain Dresden - Tolkewitz. Unter den Flügeln des Phönix. Hg. vom Sax - Verlag, Markkleeberg 2011, S. 211–213. 73 Vgl. die Berichterstattung im SED - Organ „Sächsische Zeitung“, ( SächsHStA Dresden, 11773, Nr. 420).
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10.
Ulrich Fritz
KZ - Häftlinge in Dresden – ein vergessener Aspekt der Stadtgeschichte
Die Ausweitung des KZ - Systems mit Hunderten von Außenlagern, in denen männliche und weibliche Häftlinge vorwiegend für die Rüstungsindustrie arbeiten mussten, erfasste im Herbst 1944 auch Dresden, wo bis dahin nur wenige Häftlinge für die SS eingesetzt worden waren. Mit dem späten, dann aber massiven Einsatz von KZ - Häftlingen, den vielen Opfern der Luftangriffe sowie der umfassenden Einbeziehung in Aufbaumaßnahmen nimmt Dresden eine Sonderrolle ein – innerhalb des Einsatzes von KZHäftlingen in Sachsen ebenso wie innerhalb des KZ - Systems Flossenbürg. Nur in den Außenlagern in Leitmeritz und Hersbruck wurden bei gigantischen Bauprojekten mehr Häftlinge eingesetzt als im Dresdner Stadtgebiet. Dennoch geriet das Schicksal der immerhin knapp 5 000 KZ - Häftlinge, die zeitweilig und gezwungenermaßen in Dresden lebten, über der teilweisen Zerstörung der Stadt fast in Vergessenheit – ebenso wie die KZ - Außenlager, in denen sie eingesetzt waren. Außer Gedenkzeichen an wenigen Orten der KZ - Zwangsarbeit, außer den meist namenlosen Gräbern der Opfer blieb keine spezifische, manifeste Erinnerung an die Tatsache, dass auch das „Elbflorenz“ im letzten Kriegsjahr Standort und Schauplatz des expandierenden KZ - Systems war.
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II. Teilhabe und Täterschaft
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Das Landwirtschaftliche Institut als „Fünfte Kolonne“ ? Zur Rolle der Agrarwissenschaft in der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ und Herrschaftssicherung an der Universität Leipzig Christian Augustin Im Oktober 1933 wurde der Agrarwissenschaftler Arthur Golf „mit überwältigender Mehrheit“1 zum Rektor der Universität Leipzig gewählt. Er war der erste Nationalsozialist, der dieses Amt bekleidete. Neben ihm gelangte in den ersten Jahren des Dritten Reiches eine Reihe weiterer Mitarbeiter des Landwirtschaftlichen Instituts in hochschulpolitische Schlüsselpositionen. Schon Ende 1932 konnte das Landwirtschaftliche Institut als Hochburg der NSDAP an der sächsischen Landesuniversität gelten. So zählten Golf und sein Assistent Erhard Berndt zum überschaubaren Kreis der Unterzeichner eines Wahlaufrufs deutscher Hochschullehrer für die NSDAP zur Reichstagswahl vom 6. November 1932 – eine Empfehlung, die sie zur folgenden Reichstagswahl wiederholen sollten – und auch als Vertrauensdozent des NS - Studentenbundes an der Universität Leipzig hatte Golf sich bereits einen Namen gemacht. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte sein Engagement mit einem von der nationalsozialistischen Tagespresse euphorisch gefeierten Festakt Anfang März 1933, als Golf eigenhändig die Hakenkreuzfahne auf dem Hauptgebäude des Landwirtschaftlichen Instituts aufzog und die versammelte Belegschaft auf den „Führer“ einschwor.2 Dieser eindeutige Befund, den die universitäts - und wissenschaftsgeschichtliche Forschung auch für andere landwirtschaftliche Hochschuleinrichtungen des Deutschen Reiches bestätigt hat,3 verwundert angesichts der vielfach konstatierten Kompatibilität der Agrarforschung mit den wissenschaftspolitischen Vor-
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Rede des antretenden Rektors Dr. Arthur Golf, Leipzig 1933, S. 29. Vgl. Artikel „Mit Hitler ins neue Reich !“, Leipziger Tageszeitung vom 11. März 1933. Vgl. u. a. Heinrich Becker, Von der Nahrungssicherung zu Kolonialträumen. Die landwirtschaftlichen Institute im Dritten Reich. In : Heinrich Becker / Hans - Joachim Dahms / Cornelia Wegeler ( Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1998, S. 630–656, hier 634–638; Hans - Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999, S. 507 f.
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Christian Augustin
stellungen der NSDAP kaum,4 wirft aber dennoch die Frage auf, wie sich die nationalsozialistische Durchdringung dieser akademischen Disziplin am konkreten Beispiel eines Universitätsinstituts vollzog. Die Institutionalisierung der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Agrarwissenschaft verlief bis in die 1860er Jahre außerhalb der Universitäten.5 Erst ihre naturwissenschaftliche Neuinterpretation durch Justus von Liebig ermöglichte der jungen Disziplin eine Integration in den Fächerkanon der universitas litterarum, bei der dem Landwirtschaftlichen Institut Julius Kühns in Halle eine Schlüsselrolle zufiel.6 In Leipzig wurde 1869 das zweite Landwirtschaftliche Universitätsinstitut Deutschlands errichtet, das jedoch nicht aus dem Schatten der hallischen Schwestereinrichtung herauszutreten vermochte, obgleich sich die sächsische Landesuniversität im wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik neben Berlin und München im Kreis der soge4
5
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Vgl. u a. Heinrich Becker, Agrarwissenschaften an deutschen Universitäten 1933–1945. Business as usual. In : Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 53 (2005) 2, S. 82–88; Joachim Drews, Die „Nazi - Bohne“. Anbau, Verwendung und Auswirkung der Sojabohne im Deutschen Reich und Südosteuropa (1933–1945), Münster 2004, S. 61–69; Susanne Heim, Forschung für die Autarkie. Agrarwissenschaft an Kaiser Wilhelm - Instituten im Nationalsozialismus. In : dies. ( Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 145– 179, hier 152; dies., Kalorien, Kautschuk und Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser - Wilhelm - Instituten 1933–1945, Göttingen 2003, S. 14; Thomas Wieland, „Die politischen Aufgaben der deutschen Pflanzenzüchtung“. NS - Ideologie und die Forschungsarbeiten der akademischen Pflanzenzüchter. In: Susanne Heim, Autarkie, S. 35–56, hier 35 f. Zuletzt bei Willy Oberkrome, Ordnung und Autarkie. Die Geschichte der deutschen Landbauforschung, Agrarökonomie und ländlichen Sozialwissenschaft im Spiegel von Forschungsdienst und DFG (1920–1970), Stuttgart 2009, S. 52 f.; Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010, S. 260 f. Die Errichtung des landwirtschaftlichen Instituts Albrecht Daniel Thaers in Celle im Jahre 1802 gilt als Geburtsstunde der Agrarwissenschaft. Nachdem das Institut 1804 nach Möglin ( Oderbruch ) verlegt und 1819 zur „Königlichen Akademie des Landbaues“ aufgewertet worden war, diente es gleichsam als verbindliches Modell für die Gestaltung höherer landwirtschaftlicher Bildungsstätten. Bis 1858 entstanden dreizehn landwirtschaftliche Akademien in allen Teilen Deutschlands. Vgl. Susanne Reichrath, Entstehung, Entwicklung und Stand der Agrarwissenschaften in Deutschland und Frankreich, Frankfurt a. M. 1991, S. 68 und 88–93; Volker Klemm, Agrarwissenschaften in Deutschland. Geschichte - Tradition. Von den Anfängen bis 1945, St. Katharinen 1992, S. 76–91. Auf Drängen des Landwirtschaftlichen Zentralvereins für die Provinz Sachsen war es 1862 zur Einrichtung eines Landwirtschaftlichen Ordinariats an der Friedrichs Universität Halle gekommen, das mit dem aus Pulsnitz stammenden Julius Kühn besetzt wurde. Kühn vertrat die Auffassung, dass nur durch eine vollständige organisatorische Integration der Landwirtschaftslehre in die Universität der Agrarwissenschaft eine gleichberechtigte Aufnahme in den akademischen Fächerkanon gesichert werden könne und betrieb daraufhin die Errichtung eines Landwirtschaftlichen Universitätsinstituts. Schon in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre hatte diese Einrichtung eine höhere Studierendenfrequenz aufzuweisen, als die von Preußen unterhaltenen landwirtschaftlichen Akademien zusammen. Vgl. Jonathan Harwood, Technology’s Dilemma. Agricultural Colleges between Science and Practice in Germany. 1860–1934, Bern 2005, S. 81 f.
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Zur Rolle der Agrarwissenschaft
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nannten „Endstationsuniversitäten“ behaupten konnte.7 Mit der Berufung des Kühn - Schülers Wilhelm Kirchner auf das Leipziger Ordinariat im Jahre 1889 war das sächsische Kultusministerium bestrebt, diesem Missstand zu begegnen. Zwar gelang es Kirchner in den folgenden Jahren, den Agrarwissenschaften einen gleichberechtigten Platz an der Universität Leipzig zu verschaffen, der weitere Ausbau des Landwirtschaftlichen Instituts scheiterte indes am Widerstand der akademischen Selbstverwaltungsgremien.8 Erst die Ernährungskatastrophe des „Kohlrübenwinters“ 1916/17 führte zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Landwirtschaft und ihrer wissenschaftlichen Vertretung. Noch im Herbst 1918 entsprach das sächsische Kultusministerium dem Antrag der Philosophischen Fakultät auf Errichtung dreier Ordinariate für die landwirtschaftlichen Grunddisziplinen Pflanzenbau - , Tierzucht - und Betriebslehre; im Lauf der 1920er Jahre kamen Lehrstühle für landwirtschaftliche Bakteriologie und Bodenkunde sowie für Landmaschinenlehre hinzu.9 Im Frühjahr 1919 wurde der Jenaer Extraordinarius Adolf Zade auf den Lehrstuhl für Pflanzenbaulehre berufen, im Jahr darauf folgte die Besetzung des Lehrstuhls für landwirtschaftliche Betriebslehre mit Friedrich Falke. Während die Tierzuchtlehre einstweilen noch durch Wilhelm Kirchner vertreten wurde, entbrannte zwischen Zade und Falke bald eine Auseinandersetzung um die Führung des Landwirtschaftlichen Instituts. Falke konnte sich dabei auf seine Hausmacht stützen, denn er hatte dem Institut bereits von 1902 bis 1918 als Extraordinarius für Ackerbau - und Tierzuchtlehre angehört und war anschließend in die sächsische Ministerialbürokratie gewechselt, mit der er auch nach seiner Rückkehr nach Leipzig enge Verbindungen unterhielt.10 Ausgetragen wurde der Konflikt zunächst um die Besetzung des Lehrstuhls für Tierzuchtlehre. Nachdem die Verhandlungen mit dem primo loco gesetzten Wilhelm Zorn11 gescheitert waren, betrieb Falke die Berufung Arthur Golfs. 7 Vgl. Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes - und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997, S. 261 f. 8 Zur Entstehung des Landwirtschaftlichen Instituts der Universität Leipzig vgl. Eberhard Schulze, Agrarwissenschaften an der Universität Leipzig 1740–1945, Leipzig 2006, S. 70–103. 9 Vgl. Philosophische Fakultät an das MKU vom 4. Februar 1919 ( UAL, PA 449, Bl. 33). Schon 1897 hatte Kurt von Rümker, Ordinarius für Landwirtschaftslehre an der Universität Breslau, in seiner programmatischen Schrift „Die moderne Landwirtschaftswissenschaft und ihre Vertretung an den Universitäten“ eine der fachlichen Entwicklung entsprechende institutionelle Diversifizierung der Agrarwissenschaften gefordert. Nach Auseinandersetzungen mit Fachkollegen und dem Preußischen Kultusministerium gelang es ihm ab 1899, das Landwirtschaftliche Institut der Universität Breslau richtungsweisend umzugestalten. Andere Universitäten folgten diesem Beispiel. Vgl. Reichrath, Entstehung, S. 105 f. 10 Zu Falke vgl. Wolfgang Lampeter, Friedrich Falke. In : Gerhard Harig ( Hg.), Bedeutende Gelehrte in Leipzig, Band 2, Leipzig 1965, S. 159–164. 11 Zorn, der sich erst 1919 habilitiert hatte, galt zu Beginn der 1920er Jahre als talentierteste Nachwuchskraft auf dem Gebiet der Tierzuchtlehre. Seit 1920 bekleidete er ein Ordinariat an der Universität Breslau. Infolge seiner Verhandlungen mit Leipzig willigte das preußische Landwirtschaftsministerium in die Errichtung einer Versuchs - und
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Golf stammte aus der Provinz Sachsen, hatte das städtische Gymnasium in Halle besucht und sich anschließend dem Studium der Landwirtschaft in Halle und Poppelsdorf zugewandt, wo er sich als Schüler Ferdinand Wohltmanns12 auf die koloniale Landwirtschaft spezialisierte. 1902 war er mit einer Arbeit über die Bewässerungswirtschaft Nordamerikas in Halle promoviert worden, 1907 folgte die Habilitation für koloniale und tropische Landwirtschaft. Als 1912 in Leipzig das erste und letztlich auch einzige deutsche Extraordinariat für diese junge Disziplin errichtet wurde, entschied sich die Berufungskommission dank der Fürsprache Wohltmanns für Golf. Die deutsche Kolonialära endete 1918, sodass Golf sich nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg unvermittelt in einer beruflichen Sackgasse wiederfand. An der Universität trat er daraufhin kaum mehr in Erscheinung, setzte sich dafür aber umso engagierter für die Revision des Versailler Vertrags ein. So zählte er zu den führenden Köpfen der Kolonialgesellschaft in Leipzig und gehörte seit 1919 dem Deutschvölkischen Schutz - und Trutzbund an. Nur die Protektion Falkes, der sich dem jüngeren Kollegen wohl aus der gemeinsamen Zeit in Halle verbunden fühlte, brachte ihn auf den Berufungsvorschlag für das Ordinariat für Tierzuchtlehre, wenngleich Zade mehrfach Golfs wissenschaftliche Befähigung öffentlich in Frage stellte.13 Mangels Alternativen kam es im Oktober 1922 dennoch zur Berufung Golfs – mithin zu einer Hausberufung. Golf befand sich damit gegenüber Falke in einer Abhängigkeit, die durch seine mangelnde fachliche Qualifikation noch verstärkt wurde. In der akademischen Welt blieb er ein Außenseiter.14 Halt und Bestätigung fand er dagegen bei den Studierenden und beim akademischen Nachwuchs, wobei ihn ein besonders enges Vertrauensverhältnis mit seinem Assistenten Erhard Berndt verband. Am Beginn der 1930er Jahre durchliefen die Agrarwissenschaften an der Universität Leipzig eine schwere Krise, deren Ursachen einerseits in der Forschungsanstalt für Tierzucht in Tschechnitz bei Breslau ein, deren Leitung Zorn 1923 übernahm. Vgl. Gustav Comberg, Dem Ehrenpräsidenten der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde Prof. Dr. Dr. med. vet. h. c., Dr. agr. h. c. Wilhelm Zorn zum Gedächtnis. In : Züchtungskunde, 40 (1968), S. 389–391. 12 Wohltmann hatte die ersten Schritte seiner akademischen Laufbahn am Landwirtschaftliche Institut der Universität Halle durchlaufen und bekleidete seit 1894 die Professor für Bodenlehre und Pflanzenbau der Landwirtschaftlichen Hochschule Poppelsdorf. 1905 kehrte er nach Halle zurück und rückte 1909 zum Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts auf. Sein Engagement galt ganz der kolonialen Sache. So war er Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen, Ausschussmitglied des Kolonialwirtschaftlichen Komitees, Vorsitzender der Kolonialabteilung der Deutschen Landwirtschafts - Gesellschaft, Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft und beteiligte sich maßgeblich an der Gründung der Zeitschrift „Der Tropenpflanzer“. Vgl. UAH, PA 5627, sowie Arthur Golf, Zu Ferdinand Wohltmanns Gedächtnis, Leipzig 1919. 13 Noch am 27. April 1922 vermerkte das Sitzungsprotokoll der Berufungskommission : „Herr Zade kann für Golf nicht eintreten“ ( UAL, PA 512, Bl. 41). 14 Noch drei Jahrzehnte später charakterisierte Theodor Litt, 1931/32 Rektor der Universität Leipzig, in einem Interview mit dem Historiker Helmut Heiber Golf als einen „Mann [...] von geistiger Zweitrangigkeit“ ( IfZ, ZS 1814, 3079/62, S. 50).
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Weltagrarkrise, andererseits im Wegbrechen der Staatsfinanzen infolge der Weltwirtschaftskrise zu suchen sind. Die Reinerträge der landwirtschaftlichen Betriebe sanken bereits seit der Währungsstabilisierung ab,15 so dass immer weniger Landwirte in der Lage waren, ihrem Nachwuchs ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Bereits seit Mitte der 1920er Jahre erlebte das Institut daher einen kontinuierlichen Rückgang der Studierendenzahlen, der Anfang der 1930er Jahre dramatische Dimensionen annahm : waren vor dem Ersten Weltkrieg stets mehr als 250 Studierende der Landwirtschaft in Leipzig immatrikuliert gewesen, sank deren Zahl im Sommersemester 1932 erstmals seit Jahrzehnten unter die Hundertermarke; der Tiefpunkt wurde mit weniger als 50 Studierenden allerdings erst im Wintersemester 1934/35 erreicht.16 Hinzu kam die rigide Haushaltpolitik des Reiches wie der Länder, die auch an den Universitäten zu einem Abbau von Personalstellen führte.17 Für die Nachwuchskräfte des Landwirtschaftlichen Instituts boten sich demnach weder in der praktischen Landwirtschaft, noch in der akademischen Welt Karrierechancen – eine zeitgenössische Bedarfsschätzung hatte gar ergeben, dass der Arbeitsmarkt für Diplomlandwirte erst Mitte der 1930er Jahre überhaupt wieder aufnahmefähig sein würde.18 Zudem kursierten Gerüchte über Pläne der Staatsregierung, das gesamte Institut abzuwickeln, da im benachbarten Halle ausreichende Studienkapazitäten für die gesamte bäuerliche Elite Mitteldeutschlands bestünden.19 In dieser kritischen Situation distanzierte sich insbesondere der noch nicht arrivierte akademische Nachwuchs immer mehr von dem als sozialistisch und agrarfeindlich verstandenen Weimarer System. Unter den gleichen Vorzeichen vollzog sich der Aufstieg des Agrarpolitischen Apparats der NSDAP,
15 Vgl. Friedrich - Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts - und Sozialgeschichte Deutschlands, Band 3/1, Deutsche Wirtschafts - und Sozialgeschichte im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik 1914 bis 1932, Paderborn 2003, S. 405–408. 16 Vgl. Personalverzeichnisse der Universität Leipzig. 17 Vgl. Heinrich Knoche, Die Wirtschafts - und Sozialpolitik der Regierungen Brüning, Papen, Schleicher und Hitler in den Jahren der Weltwirtschaftskrise von 1928/30–1934, Marburg 1989, S. 56. Zum „Beamtenkabinett“ Schieck in Sachsen vgl. Hans Fenske, Sachsen und Thüringen 1918–1933. In : Klaus Schwabe ( Hg.), Die Regierungen der deutschen Mittel - und Kleinstaaten 1815–1933, Boppard 1983, S. 185–204, hier 192 f.; Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004, S. 74 f. 18 Vgl. Bedarf und Nachwuchs an akademisch gebildeten Landwirten, Berlin 1933, S. 66. 19 Nachdem Erwin Baur, der einflussreiche Direktor des Kaiser - Wilhelm - Instituts für Pflanzenzüchtung, zu Beginn der 1930er Jahre die Zusammenlegung der „Kümmerinstitute“ Jena, Halle und Leipzig gefordert hatte, erwog auch die sächsische Staatskanzlei 1932 die Auflösung des Landwirtschaftlichen Instituts der Universität Leipzig. Vgl. Günter Rubach, Die landwirtschaftliche Fachschaft an der Mathematisch - naturwissenschaftlichen Fakultät. In : „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus. Hg. von Uwe Hossfeld, Jürgen John, Oliver Lemuth und Rüdiger Stutz, Köln 2003, S. 575–595, hier 587; und Protokoll der Unterredung zwischen von Seydewitz, Ministerium für Volksbildung, den Ordinarien des Landwirtschaftlichen Instituts und dem Dekan der mathematisch - naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät vom 22. Juni 1933 (UAL, Phil. Fak. E 3, Band IV, Bl. 31–45).
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der zu Beginn der 1930er Jahre im Begriff stand, die DNVP als dominierende Kraft auf dem Lande abzulösen. Ihre Erfolge verdankten die Nationalsozialisten der Tatsache, dass sie sich im Gegensatz zu der durch ihre Regierungsbeteiligung bei der ländlichen Wählerschaft diskreditierten DNVP in der Agrarkrise glaubhaft als Fundamentalopposition zu inszenieren vermochten.20 Auch an den Hochschulen begann dieses Muster zu greifen. Waren die Professoren mental noch weitgehend im Kaiserreich verhaftet und lehnten das betont antibürgerliche Auftreten der NSDAP ab, zeigten sich die Studierenden und der akademische Nachwuchs grundsätzlich empfänglicher für deren Radikalismus. Seit 1929 erhielt daher der NS - Studentenbund wachsenden Zulauf und konnte schon im Wintersemester 1930/31 die Mehrheit in den Wahlen zur Leipziger AStA - Kammer erringen.21 Als erster Mitarbeiter des Landwirtschaftlichen Instituts trat Erhard Berndt, der langjährige Assistent Golfs, in die NSDAP ein.22 Über seine Motive lässt sich nur spekulieren, denn in prekären Verhältnissen lebte Berndt nicht. Er stammte aus gutbürgerlichem Hause, hatte im letzten Kriegsjahr das Abitur abgelegt und einige Monate im Heer gedient, sich dann einer Lehre und anschließend dem Studium der Landwirtschaft zugewandt und besetzte seit 1925 eine Assistentenstelle am Institut für Tierzucht und Milchwirtschaft der Universität Leipzig, auf der er sich 1929 auch habilitierte.23 Seinem politischen Beispiel folgte Ende 1931 Karl Gneist, Assistent am Institut für landwirtschaftliche Bakteriologie und Bodenkunde, und im Frühjahr 1932 der Kanzleiangestellte des landwirtschaftlichen Gesamtinstituts Hanns Piegler.24 Im Sommer 1932 entschloss auch Arthur Golf sich zum Eintritt in die NSDAP, wobei dessen enge Beziehung zu den Studierenden und besonders zu seinem Assistenten Berndt eine wohl nicht unerhebliche Rolle spielte. Für einen 20 Vgl. Stephanie Merkenich, Grüne Front gegen Weimar. Reichs - Landbund und agrarischer Lobbyismus 1918–1933, Düsseldorf 1998, S. 319–344; Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918–1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 291–311 und 324–336. 21 Vgl. Ulrich von Hehl, In den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Die Universität Leipzig vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1909– 1945. In : Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 3. Das zwanzigste Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 17–329, hier 176 f. Zum Aufstieg des NS - Studentenbundes an den sächsischen Hochschulen vgl. Ronald Lambrecht, Studenten in Sachsen 1918–1945. Studien zur studentischen Selbstverwaltung, sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie zum politischen Verhalten der sächsischen Studentenschaften in Republik und Diktatur, Leipzig 2011, S. 310–346. 22 Als Eintrittsdatum wird der Parteikorrespondenz der NSDAP der 1. Dezember 1930 genannt. Vgl. Gauschatzmeister der NSDAP an kommissarischen Gauschatzmeister der NSDAP - Auslandsorganisation vom 29. April 1937 ( BArch Berlin, BDC PK A0305, unpaginiert ). 23 Vgl. Hochschullehrerkarteikarte Berndts [ ca. 1935] ( UAL, PA 312, Bl. 1b ). 24 Vgl. Personalbogen Habilitation, undatiert ( UAL, PA 6083, Bl. 1) und NSDAP - Reichsleitung an Gauleitung Groß - Berlin vom 9. Mai 1935 ( BArch Berlin, BDC PK, J00092, Pos. 1928).
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arrivierten Hochschullehrer war dieser Schritt ungewöhnlich, und selbst im Kreise seiner Fachkollegen, denen man aufgrund ihrer engen persönlichen Verflechtung mit der agrarischen Elite eine reservierte Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie wohl kaum wird absprechen können, war ein öffentliches Bekenntnis zur NSDAP die absolute Ausnahme.25 Für Golf selbst stellte diese Entscheidung hingegen keine gravierende Zäsur dar. Schon in seiner Habilitationsschrift hatte er völkische Überzeugungen vertreten und auch seiner Karriere als Koloniallandwirt haftete unbestreitbar ein politischer Zug an.26 Sein gutes Verhältnis zu den Studierenden konnte Golf fortan als Vertrauensdozent des NS - Studentenbundes pflegen. So war er maßgeblich daran beteiligt, dass die Ausschreitungen von radikalisierten Studenten gegen den demokratische gesinnten Nationalökonomen Gerhard Kessler im Dezember 1932 ohne disziplinarisches Nachspiel blieben.27 Dass es Golf im Frühjahr 1933 aber gelang, sich als einer der eifrigsten Nationalsozialisten an der Universität zu inszenieren, ist nur mit der außergewöhnlichen Personalkonstellation am Landwirtschaftlichen Institut zu erklären. Im November 1932 war die türkische Regierung mit dem Angebot an Friedrich Falke herangetreten, ihn zum Gründungsrektor des „Höheren Land25 Die übergroße Mehrheit der landwirtschaftlichen Fachvertreter an der Universität Leipzig bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges entstammten Gutsbesitzerfamilien, so etwa Wilhelm Kirchner, Friedrich Falke, Adolf Zade, Arthur Golf und Hans Holldack. Parteipolitisches Engagement in den Jahren der Weimarer Republik ist allein für Wilhelm Müller - Lenhartz nachweisbar, der ein landwirtschaftliches Extraordinariat an der Veterinärmedizinischen Fakultät bekleidete und bei der Reichstagswahl im Dezember 1932 bezeichnenderweise für die DNVP kandidierte. Vgl. Reichstags - Handbuch. VII. Wahlperiode, Berlin 1933, S. 348. Zum Verhältnis agrarischer Eliten zur Weimarer Republik vgl. u. a. Jens Flemming, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890–1925, Bonn 1978, S. 323. 26 Golfs Habilitationsschrift behandelte, wie schon seine Dissertation wenige Jahre zuvor, die Bewässerungswirtschaft in Nordamerika. Dort konnte der interessierte Leser erfahren, dass „in wirklich energischer Weise [...] die Bewässerung des Ackerlandes im regenarmen nordamerikanischen Westen erst durch die germanische Rasse in Angriff genommen [ wurde ], und zwar dürfen sich die Mormonen rühmen, die Begründer der modernen amerikanischen Bewässerungswirtschaft zu sein. [...] Dem Gedeihen des jungen Unternehmens kam die eigentümliche Organisation sehr zu statten, denn nur durch einmütiges Zusammenarbeiten und williges Unterordnen der einzelnen unter die Leitung umsichtiger und erfahrener Führer wurde es möglich, trotz des Fehlens technischer und pekuniärer Hilfsmittel Dämme, Kanäle und Überführungen zu bauen und die natürlichen Wasservorräte in beträchtlichem Umfange auszunutzen.“ Arthur Golf, Die Technik der künstlichen Bewässerung in Nordamerika. Habilitationsschrift, Halle 1907, S. 10. In den Verhandlungen um die Besetzung des Ordinariats für Tierzuchtlehre räumte selbst Friedrich Falke ein, dass Golf „früher als Kolonialmann viele Propagandaschriften veröffentlichen musste“, zu wissenschaftlicher Betätigung dagegen kaum Zeit gefunden hätte. Vgl. Sitzungsprotokoll der Berufungskommission vom 7. Februar 1922 ( UAL, PA 512, Bl. 35 f.). 27 Zum „Fall Kessler“ vgl. Ronald Lambrecht / Ulf Morgenstern, Der Lebensweg des Leipziger Nationalökonomen Gerhard Kessler (1883–1963). Praktische Sozialpolitik und politisches Engagement in Deutschland und türkischem Exil. In : Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 81 (2010), S. 147–179.
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wirtschaftlichen Instituts“ in Ankara zu berufen, der ersten landwirtschaftliche - veterinärmedizinischen Hochschuleinrichtung der Türkei nach westlichem Muster.28 Einer solchen Mission von nationaler Bedeutung konnte Falke sich nicht verschließen und reiste Ende Dezember 1932 zu Verhandlungen nach Ankara. Am Landwirtschaftlichen Institut hinterließ er ein spürbares Machtvakuum, in das nun die nationalsozialistischen Kräfte vorstoßen konnten. Anfang 1933 leitete Piegler, der es inzwischen zum Obmann der NS - Betriebszellenorganisation an der Universität Leipzig gebracht hatte, mit Rückendeckung Golfs eine Rufmordkampagne gegen den amtierenden Geschäftsführenden Direktor des landwirtschaftlichen Gesamtinstituts Hans Holldack ein.29 Diesem wurden seine jüdische Abstammung und ein vorgeblicher Notzuchtversuch an seiner Sekretärin zur Last gelegt.30 Unter dem Schlachtruf „Der Jude muss raus !“ sprengte die fanatisierte Studentenschaft im Januar 1933 wiederholt Holldacks Lehrveranstaltungen, so dass sich das sächsische Volksbildungsministerium umgehend zu dessen Suspendierung entschloss.31 Die Geschäftsführung ging daraufhin ausgerechnet an Arthur Golf über, der wohl als eigentlicher Drahtzieher hinter den Ereignissen gelten muss. 28 Zur Errichtung des Höheren Landwirtschaftlichen Instituts vgl. Sabriye Doganay, Die geschichtliche Entwicklung der deutsch - türkischen tierärztlichen Beziehungen, Hannover 1986, S. 32–38. 29 Obgleich die landwirtschaftlichen Einzeldisziplinen zu Beginn der 1920er Jahre ihre institutionelle Unabhängigkeit erlangt hatten, bestand das Landwirtschaftliche Institut als verbindendes Rahmenwerk fort. Die Geschäftsführung dieses Gesamtinstituts, das zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgaben über einen Kanzleiarbeiter und eine Sekretärin verfügte, wechselte in zweijährigem Turnus zwischen den Ordinarien der Landwirtschaft. Vgl. Geschäftsordnung des Landwirtschaftlichen Instituts vom 26. Oktober 1924 ( SächsHStAD, MfV 10219/20, Bl. 118–127). Zu Hans Holldack vgl. Ronald Lambrecht, Politische Entlassungen in der NS - Zeit. Vierundvierzig biographische Skizzen von Hochschullehrern der Universität Leipzig, Leipzig 2006, S. 105 f. 30 Im Namen der NSBO erklärte Piegler gegenüber dem sächsischen Volksbildungsministerium, „dass Prof. Holldack sowohl als Dozent wie auch als Staatsbeamter vollkommen untragbar erscheint. Es kommt noch hinzu, dass Prof. Holldack Halbjude ist. [...] Wir möchten noch ergänzend bemerken, dass die Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Diplomlandwirte, Führer Dr. Tempel - Dresden, und der landw. Gaufachberater für Sachsen, Gutsbesitzer Körner - Piskowitz, M. d. R., Prof. Holldack als Vertreter der Landwirtschaftswissenschaft an der Universität Leipzig auch für untragbar halten.“ Piegler an MfV vom 10. April 1933 ( UAL, URA 811, Band XI, Bl. 91). Der eigentliche Grund für die heftigen Angriffe Pieglers auf Holldack war wohl eine scharfe Zurechtweisung, die er „infolge seiner Nachlässigkeiten“ durch diesen erfahren hatte. Holldack selbst betrachtete den vorgeblichen Notzuchtversuch als Falle seiner nationalsozialistischen Gegner, in die er ahnungslos getappt war. Vgl. Holldack an den Rektor vom 4. November 1945 ( UAL, PA 7, Bl. 146). 31 Wann genau die Suspendierung Holldacks erfolgte ist aufgrund der gezielten Aktenvernichtung vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zu rekonstruieren. Golf firmierte aber schon am 23. Januar als „Geschäftsführender Direktor i. V.“ Vgl. Golf an den Universitäts - Rentmeister vom 23. Januar 1933 ( UAL, URA 811, Band XI, Bl. 89). Wie Holldack sich erinnerte, nutzte ihm „kein Protest, keine Abwehr irgendwelcher Art [...] auch nur im Geringsten; alles wurde für eigensüchtige und rassepolitische Zwecke umgebogen.“ Holldack an den Rektor vom 4. November 1945 ( UAL, PA 7, Bl. 146).
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Um seinem politischen Machtanspruch symbolischen Ausdruck zu verleihen, inszenierte Golf anlässlich des Sieges der NSDAP in der Reichstagswahl vom 5. März 1933 den oben geschilderten Appell. Die nationalsozialistische Presse jubelte, dass damit „zum ersten Male im ‚roten Sachsen‘ von einer Behörde das freiwillige Bekenntnis zu unseres Führers Drittem Reich in aller Öffentlichkeit abgelegt worden sei.“32 Weder Friedrich Falke, welcher der „nationalen Revolution“ einige Sympathie entgegenbrachte und sich später in Ankara selbst um die Aufnahme in die NSDAP bemühen sollte, noch Adolf Zade, der aufgrund seiner jüdischer Abstammung wenig Interesse daran haben konnte, selbst in die Schusslinie der fanatisierten Anhängerschaft Golfs zu geraten, intervenierten.33 Unter den veränderten Machtverhältnissen entschlossen sich nun auch weitere Mitarbeiter des Landwirtschaftlichen Instituts zum Eintritt in die NSDAP. Bis zum Aufnahmestopp am 1. Mai 1933 vollzogen acht der insgesamt zehn Assistenten diesen Schritt.34 Nachdem Adolf Zade mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Anfang April 1933 seiner Pensionierung entgegensah, war die Führungsposition Arthur Golfs, der als einziger Ordinarius der Landwirtschaft in Leipzig verblieb, am Institut unumstritten. Seine politische Mission betrachtete er damit aber keineswegs als beendet : offen strebte er nun das höchste Amt der Universität Leipzig an, das 1929/30 schon sein Förderer Falke bekleidet hatte. Unterstützung fand er dabei in der nationalsozialistischen Studentenschaft, die Leipzig wie auch andere Universitäten des Reiches in der ersten Jahreshälfte 1933 nach Belieben dominierte.35 Beredtes Zeugnis von diesem Machtgefühl legte ein Artikel des Hochschulgruppenführers des NS - Studentenbundes an der Universität Leipzig Eduard Klemt im Organ der Leipziger Studentenschaft ab : „Wir sehen uns mit genau derselben Frechheit, wie einst als SA - Leute auf der Straße, heute im Hörsaal um und entscheiden, ob ein Professor bleiben kann, oder nicht. Kriterium wird sein : jener Mann hat nicht mehr Professor zu sein, weil er uns nicht mehr versteht. [...] Wir Jungen haben die Hochschule in der Hand und können daraus machen, was wir wollen.“36 32 Artikel „Mit Hitler ins neue Reich !“, Leipziger Tageszeitung vom 11. März 1933. 33 Zu Adolf Zade vgl. Lambrecht, Entlassungen, S. 201 f. Falke bekannte im Sommer 1933, er habe in den Jahren der Weimarer Republik politisch zur DNVP gehalten, „aber auch wiederholt nationalsozialistisch gewählt.“ Fragebogen zur Durchführung des BBG vom 29. Juni 1933 ( SächsHStAD, MfV, 10281/138, unpaginiert ). Die von ihm 1934 in Ankara beantragte Aufnahme in die NSDAP wurde aufgrund der „Schließung der Partei“ abgelehnt. Vgl. Reichskartei der NSDAP ( BArch Berlin, BDC ). 34 Jedes der landwirtschaftlichen Einzelinstitute verfügte über zwei Assistentenstellen. Nur Anton Arland, einer der Assistenten Adolf Zades, und Friedrich Waldhäusl, einer der Assistenten und Schwiegersohn Falkes, verweigerten sich dem Eintritt in die NSDAP. Zu den vorwiegend opportunistischer Motivation folgenden Parteieintritten nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ vgl. Michael Kater, The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders 1919–1945, Oxford 1983, S. 73. 35 Vgl. Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933–1952, Köln 2004, S. 203–207. 36 Leipziger Studentenschaft vom 21. Juni 1933.
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Das Kriterium Klemts erfüllte Arthur Golf als Vertrauensdozent des NS Studentenbundes nur zu gut. Noch im Sommer 1933 trat er an den für seine demokratische Gesinnung bekannten Prorektor Theodor Litt heran und forderte ihn ultimativ auf, sein Amt niederzulegen, worüber sich der Pädagoge noch Jahrzehnte später heftig erregte.37 Wenngleich dieser Vorstoß folgenlos blieb, hatte Golf seinen Anspruch auf das Rektorat damit demonstrativ untermauert, zumal er im Gegensatz zu anderen überdurchschnittlich engagierten Nationalsozialisten an der Universität Leipzig auch die formalen Kriterien für dieses Amt erfüllte.38 So war er als „alter Parteigenosse“ hinreichend in der NSDAP verankert, um ein solch repräsentatives Posten zu übernehmen und gehörte zugleich dem Kreis der Ordinarien an, die traditionell den Rektor stellten. Golf erschien demnach Partei wie Universität gleichermaßen als tragbarer Kandidat, der schließlich im Oktober 1933 auch die Stimmenmehrheit des eigens zusammengetretenen Rektorwahlkörpers auf sich vereinigen konnte.39 Golf selbst verstand sich explizit als nationalsozialistischer Rektor. In seiner Antrittsrede legte er dann auch ein klares Bekenntnis zum politischen Erziehungsauftrag der Universität ab. Golfs Ausführungen waren dabei weder neu noch originell, was er aber zur „kommende[ n ] Reform der deutschen Hochschulen“ zu bemerken hatte, warf ein Schlaglicht auf den Charakter seiner bevorstehenden Amtszeit. Die harmonische Zusammenarbeit mit dem NS - Studentenbund, die er „zu den beglückendsten Erfahrungen“ seines Lebens zählte, sollte künftig auch die Universität im Ganzen prägen. Nicht mehr die universitas litterarum galt ihm als verpflichtendes Ideal, sondern die universitas magistrorum et scholarium.40 Für seine habilitierten Kollegen fügte er indes beschwichtigend hinzu : „Doch der Rektor trägt über dem Braunhemd das ehrwürdige Ornat seines hohen, verantwortungsvollen Amtes.“41 In der Praxis erwies sich Golf als ein schwacher Führer der Hochschule, der ein offenes Ohr für die Anliegen verschiedener akademischer Interessen37 Litt äußerte in seinem Interview mit Helmut Heiber am 1. Dezember 1960 : „Sehr charakteristisch war halt einer auch der eifrigsten Nationalsozialisten an der Universität, den ich nennen könnte, das war der Landwirt Golf. Also dieser Golf, als ich Prorektor war, kommt eines schönen Tages zu mir, um mich im Namen – ach Gott der Partei oder was, das Ansinnen zu stellen, ich müsste sofort mein Prorektorat niederlegen“ ( IfZ, ZS 1814, 3079/62, S. 10). 38 Vgl. Helmut Heiber, Die Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1. Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991, S. 400. Zu dem Zirkel besonders umtriebiger Nationalsozialisten gehörten im Frühjahr 1933 die Extraordinarien Hans Volkelt, Georg Gerullis, Johann Daniel Achelis und Johannes Ueberschar. Vgl. Hehl, Umbrüchen, S. 175 und 192 f. 39 Von den nationalsozialistischen Studierenden wurde die Wahl Golfs mit Genugtuung aufgenommen. Unter dem Titel „Die Studentenschaft grüßt ihren Rektor“ führte die Leipziger Hochschulzeitung aus : „Die Leitung der Universität liegt nun in den Händen des politischen Hochschullehrers, wie wir Studenten ihn uns wünschen.“ Artikel der Leipziger Hochschulzeitung vom 10. November 1933. 40 Vgl. Rektorwechsel 1933, S. 27 f. 41 Ebd., S. 29.
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gruppen – allen voran der Studentenschaft – hatte, deren widerstreitende Ansprüche sich aber oft gegenseitig neutralisierten. Die Eingriffe der Politik in die Angelegenheiten der Universität blieben daher ganz im Sinne der nicht dezidiert nationalsozialistischen Altordinarien begrenzt und es verwundert nicht, dass der vom Reichserziehungsministerium am 15. Februar 1935 von allen deutschen Universitäten eingeforderten „Rektorvorschlag“ immerhin 138 von 261 abgegebenen Stimmen für Golf erbrachte, die absolute Mehrheit der Leipziger Hochschullehrer also für den Verbleib des Tierzüchters im Amt votierte.42 Reichsminister Bernhard Rust entsprach dieser Willensbekundung allerdings nicht. Er vertraute stattdessen auf das Urteil des scheidenden sächsischen Volksbildungsministers Hartnacke, der Golf fehlende Zielklarheit und mangelndes Durchsetzungsvermögen attestierte. Insbesondere sei Golf „mehrfach dem Einfluss eines stärkeren, von außen an ihn herantretenden Willens erlegen“. Nach Lage der Dinge konnten damit nur der NS - Studentenbund und die Dozentenschaft gemeint sein, in der sein Intimus Erhard Berndt sich mit Erfolg engagierte.43 Als schließlich auch der Landesbauernführer Hellmuth Körner klagte, Berndt „habe Golf völlig in seiner Hand und beeinflusse ihn in der ungünstigsten Weise“, gab Rust dem Drängen Hartnackes nach und veranlasste Golfs Ablösung. An seine Stelle trat der Philosoph Felix Krueger, dem man eher zutraute, „ein echter Führer seiner Universität im Sinne des Nationalsozialismus zu sein“.44 Unter den Vertretern des akademischen Mittelbaues des Landwirtschaftlichen Instituts traten insbesondere Max Schönberg und Erhard Berndt durch hochschulpolitisches Engagement hervor. Dabei war Schönberg von der Idee getrieben, Friedrich Falke auf dem Lehrstuhl für landwirtschaftliche Betriebslehre zu beerben, und hierzu nutzte er die ihm aus der Wahrnehmung politischer Ämter an der Universität erwachsenden Vorteile. Nachdem Hanns Piegler, dessen Stelle aufgrund der Sparmaßnahmen wegfiel, Leipzig verlassen hatte, um an einem akademischen Siedlungsprojekt im Mecklenburg teilzunehmen, konnte Schönberg sich als dessen Nachfolger in der NS - Betriebszellenorganisation etablieren.45 Damit erhielt er die Möglichkeit, durch die Erstattung von „Gutachten“ an verschiedene Parteistellen massiven Einfluss auf die Personalpolitik der Universität zu nehmen. Hiervon machte er reichlich Gebrauch, ins-
42 Vgl. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 2. Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Band 2, München 1994, S. 112. 43 Auch die Versicherung des nachfolgenden Rektors Felix Krueger, er wünsche sich in gleichem Maße „das Vertrauen der Studenten, der Jungakademiker insgesamt“ zu gewinnen wie Golf, verweist in diese Richtung. Vgl. Rektorwechsel 1935, S. 15. 44 Vgl. H. Heiber, Universität, Teil II /2, S. 113 f. und Protokoll einer Besprechung zwischen Körner, von Seydewitz und Studentkowski vom 6. März 1935 ( SächsHStAD, MfV, 10281/90, Bl. 29). Im Übrigen war auch Krueger nicht unumstritten, was seine Ablösung als Rektor im Oktober 1936 verdeutlicht. Vgl. Hehl, Umbrüchen, S. 213 f. 45 Vgl. Piegler an das MfV vom 21. Juni 1933 ( UAL, URA 811, Nr. 13, Bl. 60–62) und Fragebogen Hochschullehrer, undat. [ ca. 1935] ( HUA Berlin, PA 194, Bl. 3).
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besondere um sich tatsächlicher oder vermeintlicher Konkurrenten um die Nachfolge Falkes zu erwehren.46 Opfer Schönbergs politischer „Begutachtung“ wurden aber auch andere seiner Leipziger Kollegen. So denunzierte er etwa Werner von Nitzsch, den vormaligen Habilitanden Hans Holldacks am Institut für Landmaschinenkunde, in Berlin als „Judenknecht“, was dessen Karriere allerdings nicht schadete.47 Da Schönbergs Engagement über jedes Maß hinausging, hatten seine durchsichtigen Bestrebungen letztlich keinen Erfolg. 1934 wurde der Jenaer Betriebslehrer Wolfgang Wilmanns auf den Lehrstuhl Falkes berufen. Nach dem Niedergang der NSBO fand Schönberg in der Dozentenschaft ein neues Vehikel für seine Ambitionen. Diese mit „fast universellem politischen Mandat“ versehene allgemeine Vertretung der Hochschullehrer diente überall im Reich als Bühne der politischen Selbstinszenierung des akademischen Nachwuchses. Der Einfluss der Dozentenschaft reichte dabei teils so weit, dass ein „Führungsdualismus“ zwischen Rektor und Dozentenschaftsführer konstatiert werden kann.48 Schönberg stieg Anfang 1935 rasch zum Fakultätsführer und stellvertretenden Dozentenschaftsführer der Universität Leipzig auf. Da die Dozentenschaft bei jeder Berufungsangelegenheit gehört werden musste, erlangte Schönberg seinen vormaligen Einfluss auf die Personalpolitik zurück. Seine Bemühungen richteten sich nun vornehmlich gegen Wolfgang Wilmanns, den er aus dem Amt zu drängen trachtete.49 Auch hier war ihm kein Erfolg beschieden, doch immerhin wurde der Koordinator der nationalsozialistischen Agrarforschung und spätere Architekt des Generalplans Ost50 Konrad Meyer auf
46 Unter dieser „Begutachtung“ zu leiden hatte in erster Linie Friedrich Waldhäusl, der sich wie Schönberg 1933 in Leipzig für landwirtschaftliche Betriebslehre habilitiert hatte und zudem als Schwiegersohn Falkes aus Sicht Schönbergs einen eminenten Wettbewerbsvorteil besaß. Vgl. Stellungnahme Wilmanns’ vom 12. März 1946 ( UAL, PA 253, Bl. 78 f.). 47 Vgl. NSDAP - Parteileitung an die NSDAP - Gauleitung Sachsen vom 17. Februar 1936 (BArch Berlin, BDC PK, I0322, Pos. 1910). Von Nitzsch hatte seine Promotion noch im Frühjahr 1933 in Leipzig abschließen können und war anschließend zum Leiter der Forschungsstelle des für Bodenbearbeitung des Reichskuratoriums für Technik in der Landwirtschaft ( RKTL ) berufen worden. 1938 habilitierte er sich für landwirtschaftliche Bodenkunde an der Universität Halle und übernahm 1940 die Abteilung für Bodenbearbeitung der landwirtschaftlichen Versuchs - und Forschungsanstalt Dresden. Vgl. Übersichtsblatt der Personalakte, undatiert ( UAH, PA 12018, unpaginiert ). 48 Vgl. Lothar Mertens, „Nur politisch Würdige“. Die DFG - Forschungsförderung im Dritten Reich 1933–1937, Berlin 2004, S. 35, sowie Hellmut Seier, Der Rektor als Führer. Zur Hochschulpolitik des Reichserziehungsministeriums 1934–1945. In : VfZ, 12 (1964) 2, S. 104–146, hier 135. 49 Vgl. Stellungnahme Wilmanns’ vom 12. März 1946 ( UAL, PA 253, Bl. 78 f.). 50 Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurde von großzügigen „Umvolkungsplanungen“ flankiert, die den vermeintlich benötigten Lebensraum im Osten für deutsche Siedler frei machen sollten. Die Federführung dieser von der SS initiierten Planungen lag bei dem Berliner Agrarwissenschaftler Konrad Meyer. Vgl. u. a. Isabel Heinemann / Patrick Wagner ( Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.
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Schönberg aufmerksam und beschloss, ihn in eine einflussreichere Stellung nach Berlin zu berufen.51 Damit schied er Ende Juni 1935 aus dem Lehrkörper der Universität Leipzig aus. Schönbergs Erbe als Fakultätsführer trat Erhard Berndt an, der als „alter Parteigenosse“ bereits auf eine längere politische Karriere zurückblicken konnte und einen erheblichen Anteil an der nationalsozialistischen „Politisierung“ des Landwirtschaftlichen Instituts gehabt hatte.52 Auch Berndt mangelte es nicht an Geltungsbedürfnis. So attestierte ihm der NS - Dozentenbund : „Berndt hat ausgesprochen das Bestreben, als Weltmann zu scheinen. Dies zeigt sich z. B. in seiner großzügigen Art Geld auszugeben. Er besitzt ein offenes Ohr für Bedrängnisse und Nöte, er sucht abzuhelfen. Indessen wird er doch wiederum oft als Bluffer, Blender und Egoist angesehen.“53 Geschickt nutzte er die Universität als Bühne zur politischen und fachlichen Selbstinszenierung. So lag nach der Wahl Arthur Golfs zum Rektor der Universität Leipzig die Führung des Instituts für Tierzucht und Milchwirtschaft de facto in seiner Hand und es gelang ihm gleichzeitig, sich als Vertreter der Landwirtschaftswissenschaft am Herderinstitut54 in Riga zu empfehlen. Seinen aufwendigen Lebensstil bestritt er indes aus der Dienstaufwandsentschädigung des Leipziger Milchversorgungsverbandes, zu dessen kommissarischem Direktor er 1933 mit politischer Rückendeckung avancieren konnte. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges hatte die Stadt Leipzig einen kommunalen Milchhof errichtet, gegen den im Winter 1932/33 Vorwürfe wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten und Korruption laut wurden. Diese waren vom Verband der Leipziger Privatmolkereien lanciert worden, offensichtlich mit dem Hintergedanken, sich in Zeiten knapper öffentlicher Kassen der unliebsamen Konkurrenz zu entledigen. Arthur Golf, seit April 1933 Kommissar für die 51
Am 1. Juli 1935 übernahm Schönberg das Schrifttumsamt des im Entstehen begriffenen Forschungsdienstes. Vgl. Meyer an Schönberg vom 1. Juli 1935 ( UAL, PA 253, Bl. 74). Zu Aufbau und Funktion des Forschungsdienstes vgl. W. Oberkrome, Ordnung, S. 115–126. 52 Nach eigener Angabe stand Berndt der Kulturpolitischen Abteilung der Leipziger NSDAP - Kreisleitung seit März 1932 als Referent für Rasse - und Vererbungsfragen zur Verfügung. Ferner oblag ihm die Ausbildung der Leipziger Amtswalter in Rassenhygiene, biologischer Bevölkerungspolitik und Vererbung. Vgl. Lebenslauf Berndts vom 25. Juni 1935 ( BArch Berlin, BDC DS8000, A0006, Pos. 4744). 53 Gutachten des NS - Dozentenbundes vom 12. Januar 1940 ( ebd., Pos. 4880). 54 In einem zeitgenössischen Gutachten der Philosophischen Fakultät wurde diese Einrichtung wie folgt charakterisiert : „Das Herderinstitut ist eine private, von der auch in Deutschland verbreiteten Herdergesellschaft unterhaltene ‚Hochschule‘, die staatlich anerkannt ist, aber als Gesamtinstitut hinter der Universität Riga stark zurücksteht. Es fehlen einige Fakultäten, zunächst die medizinische, und die naturwissenschaftliche ist unvollständig, besonders soweit moderne Institute nötig sind, die der Verein nicht kaufen kann. Gut und vollständig ist nur die theologische Fakultät. Die geisteswissenschaftliche Fakultät hat manche gute Einzelkraft, ist aber vielfach schwach oder garnicht besetzt. Akademische Titel werden nicht verliehen, Staatsprüfungen außer theologischen finden nicht statt.“ Gutachten vom 13. Februar 1929 ( UAL, Phil. Fak. C5/54 :02, Bl. 9).
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Milchversorgung Westsachsens, bestellte daraufhin in Übereinstimmung mit der Kreishauptmannschaft Leipzig keinen anderen als seinen Assistenten Berndt zum kommissarischen Leiter des städtischen Milchversorgungsverbandes. Dessen Untersuchung der Korruptionsvorwürfe verlief ergebnislos, so dass nun gegen die Urheber der Vorwürfe selbst ein Verfahren eingeleitet wurde.55 Berndt dagegen richtete sich in seinem neuen Amt komfortabel ein. So verschaffte er sich noch im November 1933 beim Milchversorgungsverband ein Darlehn in Höhe von 6 000 RM, um ein Auto zu erwerben, das er anschließend als Dienstwagen nutzte, um das Darlehn über die Verrechnung mit der Kilometerpauschale zu tilgen.56 Insgesamt erwarb Berndt während seiner knapp zweijährigen Amtszeit drei neue Kraftwagen, deren Bezahlung er stets auf den Verband abwälzte, und vernachlässigte auch die repräsentative Neueinrichtung seiner Diensträume nicht.57 Als Führer der Nichtordinarien - Bewegung und Hauptamtsleiter für Geländesport und Arbeitsdienst in der Dozentenschaft bekleidete Berndt daneben nominell einflussreiche Ämter an der Universität Leipzig, die er aber nicht durch praktisches Engagement ausfüllte. Ebenso verhielt es sich mit dem Amt des Fakultätsführers. Nachdem er als Gastdozent am Herderinstitut in Riga ein einträglicheres Betätigungsfeld gefunden hatte, zeigte er für Leipzig nunmehr wenig Interesse. Als ordentlicher Professor im Reichsdienst verließ er die Universität schließlich im Sommer 1941.58 Obgleich das Landwirtschaftliche Institut sich in den letzten Monaten der Weimarer Republik zu einer Hochburg der NSDAP an der Universität Leipzig entwickelt hatte und Arthur Golf, Erhard Berndt und Max Schönberg erheblichen Anteil an der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ der sächsischen Landesuniversität hatten, errangen die Vertreter der Agrarwissenschaft keineswegs eine hochschulpolitische Hegemonialstellung. Vielmehr waren die Nachwuchskräfte, welche sich bereits vor 1933 dem Nationalsozialismus zugewandt hatten, vorwiegend mit der Beförderung ihrer eigenen Karriere beschäftigt, während es den saturierten Vertretern des Faches, die sich erst nach 1933 ausnahms55 Vgl. Wirtschaftsministerium an das Reichslandwirtschaftsministerium vom 14. Juni 1933 ( SächsHStAD, MfW 2043, unpaginiert ). 56 Vgl. Vertragsentwurf, undatiert ( ebd.) und Bericht der Rechnungsprüfung vom 1. Dezember 1933 ( ebd.). 57 Vgl. Mitteilung des Landgerichts Leipzig vom 30. August 1935 ( BArch Berlin, BDC DS8000, A0006, Pos. 4778–4780). 58 Berndt wirkte seit dem Wintersemester 1934/35 regelmäßig als Gastprofessor für Landwirtschaft in Riga. Vgl. MfV an den Rektor vom 17. Oktober 1934 ( UAL, PA 312, Bl. 31). Hier leistete Berndt „grundlegende Aufbauarbeit im Sinne des Dritten Reiches. Auch an der Arbeit der Ortsgruppe und der reichsdeutschen Kolonie beteiligt er sich lebhaft. Pg. Berndt wird als einsatzbereiter und opferwilliger Nationalsozialist und vorbildlicher Kamerad geschildert.“ Gutachten der NSDAP - Auslandsorganisation vom 2. April 1937 ( SächsHStAD, MfV, 10281/91, Bl. 102). Als Professor im Reichsdienst wurde er nach Bulgarien entsandt, um sich im Auftrage des Forschungsdienstes der Erforschung der Tierzucht und Milchwirtschaft des Landes zu widmen. Vgl. Berndt an den Dekan vom 21. August 1940 ( UAL, PA 312, Bl. 129).
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los zum Nationalsozialismus bekannten, an „revolutionärer Stoßkraft“ mangelte, um entscheidend zur politischen Durchdringung der Universität beizutragen. Mit der Neubesetzung der vakanten Lehrstühle und dem Ausscheiden Schönbergs und Berndts normalisierten sich die Verhältnisse am Landwirtschaftlichen Institut ab Mitte der 1930er Jahre wieder. Obgleich mit Wolfgang Wilmanns in der Endphase des Dritten Reiches nochmals ein Landwirt das höchste Amt der Universität Leipzig bekleidete,59 begriffen er und seine Fachkollegen sich nicht mehr als Protagonisten einer nationalsozialistischen Hochschulreform. Leipzig blieb letztlich, wie Helmut Heiber es treffend charakterisierte, eine Universität, an der man als Gegner des Nationalsozialismus eine Nische, wie als strammer SA - Mann ein Betätigungsfeld finden konnte.60
59 Wilmanns übernahm das Rektorat von dem Mediävisten Helmut Berve, der im Sommersemester 1943 an die Universität München berufen wurde. Anders als Golf übte Wilmanns sein Amt mit Weitblick aus und verhinderte wiederholt politische Interventionen in das Gefüge der Universität Leipzig. Kurz vor Kriegsende legte er das Rektorat aus gesundheitlichen Gründen nieder. Vgl. Gutachten Gadamers über die Amtsführung Wilmanns’, 28. September 1945 ( UAL, PA 103, Bl. 165). 60 Vgl. H. Heiber, Universität, Teil II /2, S. 112.
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Philosophischer Nationalsozialismus an der Leipziger Universität. Das Beispiel Arnold Gehlens Wolfgang Bialas
1.
Politische Philosophie und die „philosophische Politik“ des Nationalsozialismus
Arnold Gehlen (1904–1976) gehörte zu denjenigen Intellektuellen im nationalsozialistischen Deutschland, die den Nationalsozialismus nicht nur aus Karrieregründen, sondern auch in der Überzeugung unterstützten, mit ihm biete sich die einzigartige historische Chance, eine Gesellschaft am Maßstab philosophischer Ideen aufzubauen. Aus ihrer Sicht vollendete sich im Nationalsozialismus die deutsche Tradition der Anreicherung politischer Entwicklungen mit philosophischen Bedeutungen, wodurch Deutschland sich zur Übernahme einer weltgeschichtlichen Führungsrolle empfehle. Diese „philosophischen Nationalsozialisten“, zu denen neben Gehlen auch Martin Heidegger, Carl Schmitt und Gottfried Benn gerechnet werden können, behaupteten, den „wahren Nationalsozialismus“ zu vertreten, den sie nicht als Bedrohung von Humanität und geistiger Freiheit sahen, sondern als Beginn eines neuen Humanismus. Gleichzeitig sahen sie in der Koinzidenz politischer und philosophischer Entwicklungen die Chance für die Philosophie, eine strategische Schlüsselposition in den Sozial und Geisteswissenschaften zu übernehmen.1 Ihr Beispiel zeigt, dass opportunistische Karriereplanung nicht am Anfang der Entscheidung für den Nationalsozialismus stehen musste, auch wenn die Parteinahme für den nationalsozialistischen Staat sich als karrierefördernd erwies. Bei ihnen kamen zu solchen profanen Beweggründen die „höheren Motive“ noch hinzu. Es widersprach ihrem elitären Selbstverständnis zutiefst, sich der nationalsozialistischen Bewegung unterzuordnen. Politische und ideo1
Zur Philosophie im Nationalsozialismus vgl. u. a. Hans J. Sandkühler ( Hg.), Philosophie im Nationalsozialismus, Hamburg 2009; Hans - Joachim Dahms, Philosophie. In : FrankRutger Hausmann ( Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933– 1945, München 2002, S. 193–228; Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bände, Berlin 2001; Monika Leske, Philosophen im „Dritten Reich“. Studie zu Hochschul - und Philosophiebetrieb im faschistischen Deutschland, Berlin 1990; Werner Brede, Institutionen von rechts gesehen. In : Karl Corino ( Hg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980, S. 95–106.
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logische Vorgaben in ihren Disziplinen umzusetzen, ging ihnen zu weit. Sie waren nicht bereit, die kulturelle Hegemonie den nationalsozialistischen Ideologen und Politikern zu überlassen. Disziplinierte Kader und Befehlsempfänger der Partei wurden aus ihnen in der Regel nicht. Der nationalsozialistische Umbruch bedeutete für sie nicht in erster Linie einen politischen Machtwechsel, sondern die Eröffnung neuer, philosophischer Gestaltungsmöglichkeiten von Politik. Als geistige Führer der nationalsozialistischen Bewegung wollten sie Einfluss auf die Gestaltung der Politik nehmen. Der Pragmatik tagespolitischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen stellten sie eine philosophische Politik entgegen, in der es um die Durchsetzung und Verteidigung höherer Werte und Ideen gehe. Sie sahen im Nationalsozialismus die Chance, die Philosophie als geistige Führungskraft der Politik zu etablieren. In seiner Rektoratsrede hatte Heidegger die Vision einer solchen Schlüsselstellung der Philosophie entwickelt. Die Philosophie sollte zur „Mitte geschichtlichen Daseins“ werden, die Theorie zur höchsten Verwirklichung echter Praxis. Unter dieser Voraussetzung ließ sich tatsächlich ein geistiger Führungsanspruch der Philosophie ableiten. Die besondere Affinität der Deutschen zur politischen Philosophie sah Heidegger als Grund ihrer Haltung „fragenden Standhalten“ gegenüber den Herausforderungen des politischen Umbruchs : Durch einen „geistigen Auftrag“ sei das deutsche „Volk an das Geschick des Staates gebunden“, während die Philosophie durch ihr „Vermögen geistiger Gesetzgebung“2 beanspruchen könne, die Politik und auch den Führer selbst zu führen. Diese Hoffnung wurde durch die geschichtsphilosophische Rhetorik der nationalsozialistischen Ideologie genährt, welche die Übernahme der politischen Macht mit anthropologischen und geschichtsphilosophischen Begriffen als Auftakt eines ganzheitlichen revolutionären Umbruchs der deutschen Gesellschaft beschrieb. In ihrem Anspruch der grundlegenden Umwälzung der moralischen Verhältnisse kämpfe die nationalsozialistische Revolution „um die Durchsetzung höherer Erkenntnis und echter Werte, um die Geltung der Moral im öffentlichen Leben“.3 Der nationalsozialistischen Rassenideologie und Machtpolitik stellten sie systematische Überlegungen zu grundsätzlichen Fragen der Beziehung von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft in einer von der Politik noch nicht korrumpierten idealtypischen Umgebung entgegen. Als Wächter über das geistige Niveau der nationalsozialistischen Bewegung glaubten sie sich unberührt von den politischen Auseinandersetzungen und der Gewalt der Straßenkämpfe ebenso wie von den obszönen Schmähungen der Juden im „pornographischen Antisemitismus“ des „Stürmer“, einschließlich des Terrors gegen Juden und politische Gegner. Zugeständnisse an die rassenideologische Rhetorik der Zeit 2 3
Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg am 27. 5. 1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 16 f. R. Balling, Die Moral der Revolution. In : Ethik, 11 (1935) Juli / August, S. 272–280, hier 274.
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hinderten sie nicht daran, die methodologischen und inhaltlichen Debatten in ihren Disziplinen auch weiterhin auf hohem Reflexionsniveau zu führen. Viele von ihnen sahen auch im Nachhinein keinen Grund, ihr politisches Engagement als Irrtum oder ihre akademische Karriere im nationalsozialistischen Deutschland als opportunistisches Fehlverhalten zu bedauern. Aus ihrer Sicht hatten sie den Nationalsozialismus nicht blind, sondern bewusst, nicht aus niederen Motiven, sondern in der Verfolgung höherer Ziele und Ideale unterstützt und waren sich sicher, dass sich der von ihnen konzipierte „wahre Nationalsozialismus“ nach den Turbulenzen der politischen Auseinandersetzungen um die Macht durchsetzen würde.4 Am Beispiel Arnold Gehlens lässt sich nachvollziehen, was diese Intellektuellen am Nationalsozialismus fasziniert hat.
2.
Gehlens Akademische Karriere im Nationalsozialismus
Die philosophischen Nationalsozialisten beriefen sich auf höhere Werte und ihre Distanz zur Tagespolitik. In der Tat ließen sie sich von machtpolitischen Auseinandersetzungen nicht von ihren intellektuellen Projekten ablenken und beurteilten den politischen Umbruch auch danach, auf welche Weise er ihre Arbeitsbedingungen und Karriereplanung tangierte, um Chancen der eigenen Profilierung, falls sich diese ergaben, wahrzunehmen, bevor sie sich dadurch erledigt hatten, dass Konkurrenten im universitären Betrieb vor ihnen zum Zuge kamen. Der karrierepolitischen Relevanz politischer Auseinandersetzungen und Entwicklungen waren sie sich sehr wohl bewusst. Bei der Verfolgung ihrer Karrierepläne beobachteten sie aufmerksam politische Entwicklungen und wissenschaftspolitische Weichenstellungen, aus denen sich Gelegenheiten zur eigenen Profilierung ergeben konnten. Sie sahen sich als unbestechliche und nicht korrumpierbare, nur der Wahrheitsfindung und moralischen Werten verpflichtete Denker, was sie nicht daran hinderte, nationalsozialistische Politik und Ideologie zu unterstützen, wenn sich daraus für sie berufliche Vorteile ergaben oder Nachteile vermeiden ließen. Als Opportunismus empfanden sie das nicht, sondern eher als Verpflichtung, gerade in Zeiten politischer Umbrüche durch die Übernahme von politischer Verantwortung in den entsprechenden Positionen die Qualität und Kontinuität akademischer Forschung und Lehre zu sichern. Dabei bereitete es ihnen in der Regel keine Probleme, rassenbiologische und - kulturelle Begriffe und Konzepte in den etablierten Kanon ihrer Disziplinen zu übernehmen. Vielmehr sahen sie diese Aufgabe der Integration des Rassendenkens als Gelegenheit, ihre strategischen Intelligenz und Flexibilität auch unter schwierigen Bedingungen nachzuweisen.5 4 5
Vgl. Wolfgang Bialas, Der Nationalsozialismus und die Intellektuellen. In : ders. / Manfred Gangl ( Hg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 13–49. Vgl. Alan E. Steinweiss, Studying the Jew : Scholarly Antisemitism in Nazi Germany, Cambridge 2006.
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Auch für die philosophischen Nationalsozialisten muss nach politischen und akademischen Karrieren im Nationalsozialismus, nach Mitgliedschaften in NSDAP und SS und anderen nationalsozialistischen Organisationen sowie nach wissenschaftspolitischen Funktionen in den Berufsverbänden gefragt und klar herausgearbeitet werden, wer auf welche Weise von der Entfernung jüdischer Wissenschaftler aus dem akademischen Betrieb profitierte und wer welche politischen Erklärungen und Bekenntnisse initiiert oder unterschrieben hat.6 Die entsprechenden Befunde für Arnold Gehlen sahen so aus : Von 1930 bis 1934 war er Privatdozent für Philosophie an der Universität Leipzig.7 Am 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein „und bewies seitdem als Zellenleiter auf unterster Ebene in seiner Ortsgruppe ( Böhlitz - Ehrenberg ) Einsatzbereitschaft“.8 Er war Mitglied im NS - Lehrerbund und Amtsleiter der Leipziger Dozentenschaft im NS - Dozentenbund, wo er jedoch keine „berufungspolitisch relevanten Funktionen ausgeübt“9 habe. Das wird von Kritikern Gehlens bestritten, die ihm als Interessenvertreter der Partei an der Universität Leipzig die Zuständigkeit für die politische Beurteilung von Berufungen und Ernennungen zuschrieben,10 eine Einschätzung, gegen die geltend gemacht wird, dass aus den Beständen der Universitätsbibliothek Leipzig für den Zeitraum 1933 bis 1935 keine von Gehlen verfassten politischen Beurteilungen nachweisbar seien.11 Auch die Gehlen für 1936 unterstellten Lehrgänge für NS - Funktionäre an der Akademie des Dozentenbundes seien tatsächlich Kurse für Habilitanden gewesen, die dieser wissenschaftlich geleitet habe.12 Gehlen gehörte auch zu den Unterzeichnern des „Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“,13 dem Abschlussdokument einer vom sächsischen Lehrerbund am 11. November 1933 an der Leipziger Universität veranstalteten Kundgebung der „Deutschen Wissenschaft“, auf der u. a. Heidegger als Redner auftrat.14 An diesem „Bekenntnis“ wird deutlich, welche politischen Erwartungen der nationalsozialistische Staat an die unpolitischen Wissenschaftler knüpfte. Gerade deren bekannte Abneigung zu parteipolitischer 6 Vgl. George Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS - Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg 1993; Thomas Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus, Hamburg 1990. 7 Zur Universität Leipzig im Nationalsozialismus vgl. Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009. Hg. von Franz Häuser, Ulrich von Hehl, Günther Heydemann und Klaus Fitschen, Band 3 : Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, Leipzig 2010. 8 Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 633. 9 Ebd., FN 195. 10 Vgl. Gerwin Klinger, Freiheit als freiwillige Aufgabe der Freiheit. Arnold Gehlens Umbau des deutschen Idealismus. In : Wolfgang Fritz Haug ( Hg.), Deutsche Philosophen 1933, Hamburg 1989, S. 189–218, hier 190. 11 Vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 633, FN 195. 12 Vgl. ebd., S. 633. 13 Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, Dresden o. J., S. 8. 14 Vgl. Laugstien, Philosophieverhältnisse, S. 29–33.
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Bindung wertete ihr Bekenntnis zum nationalsozialistischen Staat als eine Entscheidung auf, die offensichtlich durch höhere Beweggründe der Vernunft motiviert war. Das „freiwillige Bekenntnis“ konnte als Indiz einer durch den Nationalsozialismus ausdrücklich gesicherten „Freiheit der Wissenschaft“ genommen werden. Wem die Wahrheit höchstes Gesetz war, den konnte keine Macht der Welt zwingen, gegen sein „Gewissen zu handeln oder Tatsachen zu verhüllen oder umzufälschen“.15 Bei dem Bekenntnis der deutschen Professoren konnte man sicher sein, dass sie es als Gewissensentscheidung „absolut freiwillig“ abgegeben hatten, es sich hier also keineswegs um das erzwungene „Ergebnis eines parteimäßigen Terrors“16 handle. 1934 erhielt Gehlen nach einer Assistenz bei Hans Freyer (1887–1969) einen Lehrstuhl für Philosophie am Institut für Kultur - und Universalgeschichte in Leipzig. Zuvor hatte er im Mai 1933 den Frankfurter Lehrstuhl von Paul Tillich (1886–1965) übernommen, dem wichtigsten Vertreter des religiösen Sozialismus und bis Juni 1933 Herausgeber der „Neuen Blätter für den Sozialismus“. Tillich war als politisch unzuverlässig nach Paragraph 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen worden, in dem es hieß : „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden.“17 Dagegen protestierte Tillich zunächst mit dem Verweis auf seine Nähe zum Nationalsozialismus : Er „habe als Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt und habe auf diese Weise den nationalsozialistischen Theoretikern einen Teil ihrer Begriffe geliefert“.18 Sein Einspruch änderte nichts daran, dass der vorläufige Entzug seiner Lehrerlaubnis am 13. April 1933 mit seiner Entlassung zum 20. Dezember 1933 bekräftigt wurde. Bedenken hatte Gehlen auch nicht, als sich ihm im April 1934 die Gelegenheit bot, die Nachfolge seines Leipziger Doktorvaters Hans Driesch (1867– 1941) anzutreten, der 1933 auf eigenen Wunsch, praktisch aber unter politischem Druck, entlassen worden war.19 Mit seinem Werk hatte er sich in seiner Dissertation auseinandergesetzt, bei ihm hatte er sich auch habilitiert.20 1937 trat Gehlen die Nachfolge von Theodor Litt (1880–1962) an, der selbst um seine Entlassung gebeten hatte. Auch nach seiner Leipziger Zeit setzte sich Gehlens 15 Bekenntnis, S. 8. 16 Ebd., S. 7. 17 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. In : Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 34, Jg. 1933, S. 175–177. 18 Zit. nach Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Band 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 157. 19 Vgl. Professorenkatalog der Leipziger Universität ( http ://www.uni - leipzig.de / unigeschichte / professorenkatalog / leipzig / Driesch_30). 20 Vgl. Arnold Gehlen, Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927). In : ders., Gesamtausgabe, Philosophische Schriften I (1925–1933), Frankfurt a. M., S. 19–95.
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Karriere ungebrochen fort. 1938 übernahm er den Kant - Lehrstuhl an der Universität Königsberg, 1940 ging er an die Universität Wien. 1942 wurde er Vorsitzender der „Deutschen Philosophischen Gesellschaft“. Als Lektor der Hauptschrifttumspflege im Amt Rosenberg verfasste er „quasi - gutachterliche Rezensionen“.21
3.
Arnold Gehlens Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus
Seit Fichte hatte die deutsche Philosophie ein geistiges Gegengewicht zu den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Deutschland gesetzt, wodurch Deutschland als „Gedächtnis der Völker“ ( Schiller )22 oder ihr „theoretisches Gewissen“23 nicht nur den Anschluss an die entwickeltsten Länder Europas gehalten habe, sondern darüber hinaus nach einer zu erwartenden „radikalen Revolution“ oder „universellen Emanzipation“24 eine weltgeschichtliche Führungsrolle beanspruchen könne. Durch die weltbürgerliche Kompensation nationaler Zerrissenheit und politischer Zurückgebliebenheit der Deutschen habe die deutsche Philosophie die weltgeschichtliche Provinzialisierung Deutschlands verhindert, so etwa die Argumentation Hegels in seiner „Philosophie der Weltgeschichte“.25 Vor allem Fichte reklamierte in seinen „Reden an die deutsche“ Nation Tiefenschichten und Bedeutungen des Politischen, die über den Ausgang zeitgenössischer politischer Auseinandersetzungen hinauswiesen.26 Den Deutschen sollte damit der Zugang zu „Urgründen“ möglicher Entwicklungen eröffnet werden, die bisher nur selektiv politisch aktualisiert worden seien. An diese Tradition der geschichtsphilosophischen Aufwertung des deutschen Volkes schloss Gehlen an mit seinen zwischen 1933 und 1935 unternommenen Versuchen, die Relevanz des deutschen Idealismus für die politische Gegenwart des nationalsozialistischen Deutschland aufzuzeigen. Er forderte die Deutschen auf, sich durch die Mobilisierung mythischer und urgeschichtlicher Wurzeln des
21 Leaman, Heidegger, S. 41; vgl. auch Gerwin Klinger, Die Modernisierung des NS Staates aus dem Geist der Anthropologie. Die Konzepte Zucht und Leistung bei Arnold Gehlen. In : Wolfgang Bialas / Manfred Gangl ( Hg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 299–325, hier 300. 22 Vgl. Friedrich Schiller, Von deutscher Größe. In : Werke, Weimar 1983, S. 431–436. 23 „Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die andern Völker getan haben.“ Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44. In : Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Berlin ( Ost ) 1976, Band 1, S. 378–391, hier 385. 24 Ebd., S. 388 und 390. 25 Vgl. Wolfgang Bialas, Das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie : Hegels Geschichtsphilosophie zwischen historischem Erfahrungsraum und utopischem Erwartungshorizont. In : Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin ( Hg.), Geschichtsdiskurs, Band 3 : Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997, S. 29–44. 26 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), Hamburg 2008.
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Deutschseins „auf ihr ursprüngliches und ewiges Wesen“27 zu besinnen. Deshalb konzentrierte sich Gehlens Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus auf Fichtes politische Geschichtsphilosophie.28 Fichtes geschichtsphilosophische Verklärung des deutschen Sozialismus und seine Bestimmung des deutschen Volkes als „Urvolk“, seine Erklärung des „heiligen Krieges“ zum „Medium der Menschwerdung“ und des politischen Lebens als „Vollzug des Schicksals“, dessen Einsetzung des Führers als „letzten Entscheiders in allen Angelegenheiten eines Volkes“ werden von Gehlen in seiner „Rede über Fichte“ von 1937 zustimmend als Beispiele der geistigen Vorgeschichte des Nationalsozialismus zitiert, Fichte selbst faktisch als geistiger Vorkämpfer der Bewegung vereinnahmt.29 Das deutsche Volk sei „wirklicher“ als jedes andere, da es sich gegenüber anderen Völkern durch die Fähigkeit auszeichne, „Ideen ins Dasein einzuarbeiten, und das ist Wirklichkeit : die Verwandlung der Tatsachen in gewollte, belebt von der Idee, wie die Welt sein muss und sein soll“.30 Legitimer Führer des Volkes sei derjenige, der über die visionäre Kraft und die pragmatische Fähigkeit verfüge, das Notwendige durchzusetzen. Gehlens Versuch, die Bedeutung des deutschen Idealismus für den Nationalsozialismus herauszuarbeiten, grenzte sich ausdrücklich von der „weltbürgerlichen Ideologie eines logokratischen Vernunft - Absolutismus“ ab, der von einer „ästhetisch - unpolitischen Auffassung des Menschen und des Menschlichen“31 ausgegangen sei. Ihr stellte er die revolutionäre Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus gegenüber, die im „deutschen, von vornherein völkisch begriffenen Sozialismus“32 Fichtes ihre Vollendung gefunden habe. Die „menschliche Grundsituation“ sei eben nicht „die reflektierte Erkenntnissituation“,33 sondern der Wille zum Handeln, der „notwendig im Anderen nur den Parteigänger, Gegner oder Neutralen, den er noch zu gewinnen hat“,34 sieht. „Gesichtspunkte der moralisierenden objektiven Wertlehre“,35 die dem Anderen in seiner Eigenheit gerecht werden wollen, waren aus dieser Perspektive gleichgültig. Gehlen zitierte zustimmend die Aufforderung Otto Dietrichs, des Reichspressechefs der NSDAP, „den Geist des neuen Deutschland“ zu einer „gefestig-
27 Arnold Gehlen, Der Idealismus und die Gegenwart. In : ders., Gesamtausgabe. Philosophische Schriften II (1933–1938, Frankfurt a. M. 1980, S. 347–358, hier 349. 28 Vgl. Marion Heinz / Rainer Schäfer, Die Fichte - Rezeption im Nationalsozialismus am Beispiel Bauchs und Gehlens. In : Fichte - Studien, 35 (2010), Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Band I, S. 243–265. 29 Vgl. Arnold Gehlen, Rede über Fichte. In : Philosophische Schriften II, S. 385–395, hier 388. 30 Ebd., S. 391. 31 Gehlen, Idealismus und Gegenwart, S. 351. 32 Ebd., S. 352. 33 Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935). In : ders., Philosophische Schriften II, S. 311–345, hier 324. 34 Ebd., S. 335. 35 Ebd.
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ten Lehre“36 auszubauen, der an dessen Bestimmung des Nationalsozialismus nicht als „abstrakte weltanschauliche Konstruktion“, sondern als Ausdruck des „innersten Wesens der Deutschen“,37 anschloss. Diese Verwandlung des moralischen Bewusstseins durch revolutionäre Tätigkeit bleibe der traditionellen Ethik fremd. Zu den unveränderlichen Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen rechnet Gehlen, dass es „nur innerhalb der gleichen Rasse [...] eine Gemeinsamkeit vitaler Wertungen“ gebe und „nur in demselben Volke eine solche von politischen oder Charakterwerten“.38 Utopien wie Pazifismus oder Liberalismus seien schon deshalb nicht zu verwirklichen, weil sie im Gegensatz zu biologisch - anthropologischen „Wesenskonstanten des Menschen“39 stünden. Jede Zeit sei von grundsätzlichen Überzeugungen geprägt, die „in den Gesamtaufbau des Staates, in die Organisation der Existenz eines Volkes“ eingingen, zu denen sich jeder verantwortungsbewusste Mensch mit einer klaren Entscheidung verhalten müsse. Wer beispielsweise gegenwärtig am Wert der Rasse zweifle, bezweifle damit zugleich „das System von Lebensbeziehungen, das auf solchen Überzeugungen steht“.40 Widerständen gegen eine solche zeitgenössische Aufwertung des Idealismus durch seine rassenpolitische Vereinnahmung begegnete Gehlen mit dem Ver weis auf Hitlers „Mein Kampf“, dessen folgenden „Satz von vollkommener Wahrheit“ er zitiert : „Reiner Idealismus deckt sich unbewusst mit tiefster Erkenntnis.“41 Als idealistisch bestimmte Gehlen die Gesinnung, das Dasein als Aufgabe zu sehen und entsprechend das Gegebene nach einer Idee zu verändern, wenn die Wirklichkeit den Ansprüchen der Idee nicht genüge. Nicht das Gegebene, sondern das Aufgegebene sei der Bezugspunkt einer auf die Übereinstimmung von Denken und Handeln gegründeten politischen Philosophie, die das Gegebene nicht einfach hinnehme, um sich in ihm einzurichten, faktisch also sich ihm zu unterwerfen mit der Rechtfertigung, „sie halte es mit den Dingen, wie sie wirklich seien“,42 sondern die auf die Durchsetzung der Gesetze des Handelns ziele. Dieser politischen Philosophie gehe es ganz im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihres Totalitätsanspruchs darum, „jedes Lebensgebiet zu durchdringen und in Übereinstimmung mit ihren Grundanschauungen zu bringen“.43 Hier liege auch das Geheimnis des Sieges der nationalsozialistischen Bewegung über die Realpolitik, die sich das Gesetz des Handelns vom Gegebenen diktieren lasse, anstatt ihm den eigenen politischen 36 Gehlen, Idealismus und Gegenwart, S. 349 – mit Bezug auf Otto Dietrich, Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus, Breslau 1935. 37 Rede Otto Dietrichs an der Universität Köln vom 15. November 1934. Zit. bei Gerhard Hennemann, Grundzüge einer deutschen Ethik, Leipzig 1938, S. 14. 38 Gehlen, Idealismus und Gegenwart, S. 356. 39 Idealismus und Lehre, S. 339. 40 Ebd., S. 342 f. 41 Gehlen, Idealismus und Gegenwart, S. 357. Zit. aus Adolf Hitler, Mein Kampf (1925/26), München 1938, S. 328. 42 Ebd., S. 357. 43 Ebd., S. 360.
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Willen strategisch aufzuzwingen. Der vom Idealismus inspirierte Nationalsozialismus habe sich dagegen in seiner revolutionären Haltung visionär der politischen Verwirklichung noch unverwirklichter Möglichkeiten des Deutschen verschrieben.44
4.
Zum Verhältnis von wissenschaftlichem Werk und politischer Biographie
In seinem philosophischen Hauptwerk „Der Mensch“ spielte die nationalsozialistische Rassentheorie keine konzeptionsbildende Rolle, auch wenn Gehlen zustimmend auf sie verwies. So bestimmte er in der ursprünglichen Fassung des Buches von 1940 den Menschen als ein „Wesen der Zucht“, das Führungssysteme brauche, „ein Ausdruck, der dem von Alfred Rosenberg gebrauchten des Zuchtbildes sehr nahesteht“.45 Nur dadurch sei neben der Bereitstellung eines „abschließenden Deutungszusammenhangs der Welt“ die Formierung des Menschen zu bestimmten Handlungen gesichert – dem „Inbegriff autoritärer Charakterbildung, Haltungszucht und Sittennormierung“.46 Die nationalsozialistische Weltanschauung diene der „Durchsetzung germanischer Charakter werte“.47 Im Nachwort zu seinen „Philosophischen Schriften“ wird Gehlens spätere Rechtfertigung akzeptiert, mit diesen pragmatisch - taktischen Konzessionen an den nationalsozialistischen Zeitgeist habe er der von ihm damals befürchteten Kritik an seiner Anthropologie zuvorkommen wollen. Als diese Kritik ausblieb bzw. moderat ausfiel, habe er die entsprechenden Stellen bereits 1944 in der überarbeiteten 3. Auflage des Buches wieder gestrichen. Von diesen Auslassungen abgesehen, habe es von Gehlen nach 1935 in seinen philosophischen Texten keine direkten Bezüge auf den Nationalsozialismus mehr gegeben.48 Gehlens „unzweifelhaft totalitäre, aber staatszentrierte Verheißung neuer Lebenssicherheit“ im Gegensatz „zu dem völkischen Axiom, im rassisch fundierten Volk eine ursprüngliche Gemeinschaft vorzufinden“, habe der „inneren Vergemeinschaftung“ durch „eine rassisch vermittelte Einheit von Führer und Gefolgschaft“ entgegen gestanden, weshalb seine Philosophie nur bedingt „als herrschaftslegitimierende Identifikationsillusion“49 geeignet gewesen sei. Zur Entlastung Gehlens wird weiterhin angeführt, dass seine philosophische Anthropologie von der nazistischen völkischen Anthropologie, und hier insbe44 Vgl. ebd., S. 349 und 356. 45 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In : ders., Gesamtausgabe. Hg. von Karl - Siegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 1993, S. 710 und 733. 46 Ebd., S. 712 und 714. 47 Ebd., S. 739. 48 Vgl. Lothar Samson, Nachwort zu Arnold Gehlen, Philosophische Schriften II (1933– 1938), Frankfurt a. M. 1980, S. 409–419, hier 415. 49 Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 635.
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sondere von Ernst Krieck (1882–1947), als „bürgerlich“ denunziert wurde, da Gehlen systematisch beim einzelnen Menschen und nicht bei der „Rasse“ angesetzt habe. Seine Anthropologie fanden die „NS - Aktivisten untauglich für eine theoretische Legitimierung des Rassismus“,50 heißt es dazu bei Karl - Siegbert Rehberg, dem Herausgeber seines Gesamtwerks und wohl besten Kenner Gehlens. Die dazu konträre Position bescheinigte Gehlen eine kongeniale Übernahme und eigenständige Weiterentwicklung rassenideologischer Denkfiguren. „Gehlens Anthropologie bemüht sich, den NS - Züchtungsphantasien einen rational operationalisierbaren Boden zu stellen.“51 Nach dieser Einschätzung hätte Gehlen diese Phantasien entweder geteilt oder aber ihnen opportunistisch zugearbeitet, um seine Chance in der Konkurrenz um akademische oder wissenschaftspolitische Führungspositionen zu wahren. Tatsächlich hatte Krieck, der selbst eine völkische Anthropologie52 vorgelegt hatte, Gehlens „individualistische und im wesentlichen unpolitische ElementarAnthropologie“ wegen ihres „immanenten Universalismus“ und einem „allgemeinen, von der Rasse absehenden Menschenbild“ als bürgerlich gekennzeichnet.53 Auch diese harsche und, wenn sie denn an den entsprechenden Stellen so akzeptiert worden wäre, durchaus karrierevernichtende Kritik an Gehlens nicht akzeptablen Abweichungen von zentralen Bausteinen nationalsozialistischer Anthropologie, war sicher Teil des konkurrenzpolitischen Schlagabtauschs zwischen zwei gleichermaßen ambitionierten Intellektuellen, die das Feld der philosophischen Anthropologie als ihr Terrain konzeptionell zu besetzen versuchten. Sie verwies dennoch auch auf unüberbrückbare inhaltliche Differenzen im biologisch - philosophischen Verständnis des Menschen zwischen Gehlens Anthropologie und der nationalsozialistischen Rassenbiologie. In dieser Debatte, vor allem aber in seiner systematischen Ausarbeitung einer biologischen Anthropologie entwickelte Gehlen eigenständige Positionen, in denen er zwar Zugeständnisse an eine völkische Anthropologie machte, die den konzeptionellen Kern seiner Anthropologie jedoch nicht berührten. Gewichtigere Indizien für Gehlens Versuch der opportunistischen Angleichung an die nationalsozialistische Rassenanthropologie durch die Herausstellung inhaltlicher Übereinstimmungen mit seiner biologischen Anthropologie finden sich in seinen aus dem Nachlass veröffentlichten Notizen zu einer geplanten „Philosophie des Nationalsozialismus“. Hier referiert Gehlen zustimmend Hans F. K. Günthers „Rassenkunde“, die er durch eigene Überlegungen Gehlens zu Rassentheorie, Rassenmythos und Rassenentartung ergänzt. Dabei plädiert er dafür, „den Volksgeist ( als ) eine allgemeine mythenbildende und die Verfassung des Volksganzen organisierende Potenz zusammenzudenken mit der [...] ( rassi50 Karl - Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers. In : Gehlen, Mensch, S. 753; zu Gehlens Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. S. 752–755. 51 Klinger, Modernisierung, S. 322 52 Vgl. Ernst Krieck, Völkische Anthropologie. Drei Bände, Leipzig 1936–38. 53 Ernst Krieck, Die neue Anthropologie. In : Volk und Werden, 8 (1940), S. 183–188.
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schen ) Verfassung eines Volkes“.54 Zunächst hebt Gehlen die „hervorragende Bedeutung“ von Günthers „Rassenkunde des deutschen Volkes“55 hervor. Der „Kern, die Substanz einer jeden den ganzen Menschen ergreifenden (also nicht bloß theoretischen ) Weltanschauung“56 sei der Mythos, weshalb der Rassenmythos das entscheidende Forschungsinteresse aller Rassentheorien bilde. Er sei eine „metaphysische Realität“, die als übergeschichtliche „gemeinschaftsbildende Macht“ das „Gesamtschicksal eines Volkes“ bestimme. Ausdrücklich wendet sich Gehlen gegen die „Entartung der Rassen“, die aus Mischheiraten folge.57 Gehlens Zugeständnisse an die Rassentheorie mochten einer opportunistischen Haltung ohne inhaltliche Affinität zum Nationalsozialismus geschuldet sein. Es gab jedoch auch eine teilweise Übereinstimmung seiner Philosophie mit der nationalsozialistischen Weltanschauung. Mit ihrer „gründungs - und tatbezogenen Handlungstheorie“58 hatte die von Freyer und Gehlen vertretene „Leipziger Schule“ eine Affinität zum nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis, das die menschliche Lebenspraxis als Referenzsubjekt hervorhob, ebenso wie seine Kulturkritik kontemplativer Geistphilosophie und sein „staatsbezogener Institutionalismus“ ( Rehberg ) in „weitgehender Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus“59 stand. Es bleibt eine offene Frage, ob Gehlen den Nationalsozialismus, dem er zweifellos seine glänzende akademische Karriere zu verdanken hatte, eher aus Opportunismus oder aus Überzeugung unterstützte. Überzeugt war er auf jeden Fall davon, mit seiner Entwicklung einer biologischen Anthropologie eine originäre und theoretisch gewichtige intellektuelle Leistung zu vollbringen, die er unbedingt vollenden und auch publizieren wollte. Er verstand es, sich in seiner akademischen Karriere die entsprechenden Bedingungen zu sichern, die es ihm ermöglichten, diese von ihm gesetzte Priorität konzentriert und effizient zu verfolgen. Dafür war er bereit, Zugeständnisse an den nationalsozialistischen rassentheoretischen Jargon zu machen. Die politische Realität des Nationalsozialismus, Terror, Konzentrationslager und Judenverfolgung, spielten in diesem Fokus keine Rolle und wurden konsequent ausgeblendet. Das führt zur ebenfalls kontrovers diskutierten Anschlussfrage, ob und in welchem Ausmaß die Unterstützung des Nationalsozialismus durch Philosophen, die noch immer zu den intellektuellen Größen des 20. Jahrhunderts zählen, ihr intellektuelles Werk beschädigt hat. Gemessen an Umfang und Qualität ihres eigentlichen philosophischen Werkes, so wird häufig von ihnen behauptet, könne man ihre intellektuelle Kollaboration mit dem Nationalsozialismus vernachlässigen. Welche politischen Irrtümer ihnen auch unterlaufen sein moch54 55 56 57 58 59
Gehlen, Mensch, S. 794. Ebd., S. 790. Ebd., S. 792. Ebd., S. 793. Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie, Freiburg, München, S. 155. Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 634.
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ten, der intellektuelle Gehalt ihrer Texte sei von diesen Irrtümern nicht berührt worden. Selbst eindeutige politische Bekenntnisse für den Nationalsozialismus wurden ihnen oft als verzeihlicher Irrtum politisch unbedarfter Intellektueller nachgesehen. Verwiesen wird dabei auch auf die Höhen und Tiefen, die Nähen und Distanzen sowie wechselseitige Erwartungen und Enttäuschungen ihrer Beziehungsgeschichte zum Nationalsozialismus, die ihr authentisches Ringen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung, aber auch ihre Verweigerung politischer und intellektueller Gleichschaltung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem belegen würden.60 Aufklärung über die Dynamik intellektueller Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem verspricht die Frage, wie ihre Texte den politischen Kontext umgeschrieben haben, der sich zugleich in diese Texte eingeschrieben hat. Die Annahme, im nationalsozialistischen Deutschland verfasste und publizierte Texte müssten entweder ideologisch und also wissenschaftlich wertlos oder aber wissenschaftlich gehaltvoll und dann frei von politischen Zugeständnissen und Kompromissen gewesen sein, trifft für zahlreiche Autoren und Texte so nicht zu. Heideggers und auch Gehlens in dieser Zeit entstandenen Texte waren irritierenderweise häufig beides zugleich. Einerseits sind sie durch das Engagement ihrer Autoren für das nationalsozialistische Regime diskreditiert. Andererseits gehören sie zum intellektuell anerkannten Bestand ihrer jeweiligen Disziplinen. So gilt Gehlens Buch „Der Mensch“ noch immer zu Recht als eines der Grundlagenwerke philosophischer Anthropologie, und auch Heideggers in der Zeit des Nationalsozialismus entstandene und im nationalsozialistischen Deutschland publizierte Werke gehören zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts.61 Es bleibt die vielleicht naive Frage, wieso Anhänger des Nationalsozialismus überhaupt theoretisch gehaltvolle Texte schreiben konnten. Die Erwartung, dass der Nationalsozialismus in jedem Fall geistige Produktivität unterdrückt habe, wird durch ihr Beispiel widerlegt. Offensichtlich konnten auch nationalsozialistische oder dem Nationalsozialismus nahestehende Intellektuelle solche Texte verfassen. Angenommen wird dabei entweder, dass ein solcher Gehalt von den politischen Turbulenzen und historischen Kontexten der Zeit, in der diese Texte entstanden sind, unberührt geblieben ist. Oder aber es wird eine Qualität philosophischer Zeitdiagnose behauptet, die in der analytischen Fokussierung auf die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus so nicht in den Blick gekommen wäre. Nach einer solchen Akzentverschiebung stehen dann tatsäch60 Solche Debatten haben sich immer wieder an Heideggers Werk und seinen Verstrickungen im Nationalsozialismus entzündet. Vgl. dazu Hugo Ott, Biographische Gründe für Heideggers ‚Mentalität der Zerrissenheit‘. In : Peter Kemper ( Hg.), Martin Heidegger – Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt a. M. 1990, S. 13–29. 61 Die umfangreiche Debatte zu Heideggers Stellung zum Nationalsozialismus wird systematisch differenziert zusammengefasst von Dieter Thomä, Heidegger und der Nationalsozialismus. In : ders. ( Hg.), Heidegger Handbuch, Stuttgart 2003, S. 141–161.
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lich nicht mehr die politischen Verbrechen des Nationalsozialismus im Zentrum der Aufmerksamkeit. Behauptet wird weiterhin, dass Intellektuelle, die den Nationalsozialismus aus philosophischen Gründen unterstützt haben, ihn dadurch als politische Reaktion auf Krisenphänomene des 20. Jahrhunderts ernst genommen hätten, anstatt sich eine solche analytisch vielversprechende Perspektive durch die Fixierung auf seine Verbrechen zu verbauen.62 Detlev Peukert hat das so formuliert : „In zielloser Rebellion gegen die krisenhaft geschürzten Modernisierungsschübe der zwanziger Jahre entstanden, sog der Faschismus an der Macht die Techniken und Trends der Moderne in sich auf [...] [ und ] demonstrierte [...] mit überdeutlicher Schärfe und in mörderischer Konsequenz die Pathologien und Verwerfungen des modernen Zivilisationsprozesses.“63
5.
Zum Verhältnis von Philosophie und Politik
Die größte Nähe zu nationalsozialistischer Ideologie und Herrschaftspolitik entwickelte Gehlen in seiner Leipziger Antrittsvorlesung von 1935 „Der Staat und die Philosophie“,64 die erst in der nach seinem Tode veröffentlichten Gesamtausgabe seiner Schriften wieder publiziert wurde. Hier beklagte er zunächst, dass die deutsche Philosophie ihren Sinn für politische Realitäten verloren und deshalb keine politische Bedeutung mehr habe. Insbesondere als Instanz der Sinnstiftung komme die Politik in der Philosophie nicht mehr vor. Die profane Wirklichkeit des Politischen dagegen sei für die Philosophie ohne Interesse. Die wesentlichen Themen der Zeit würden außerhalb der Philosophie verhandelt. Neben der Realpolitik gebe es eine eigentliche, wesentliche Sphäre des Politischen als Instanz der Stiftung von Sinn und Bedeutung. Diese zum politischen Bedeutungsverlust der deutschen Philosophie parallele Entwicklung einer Aufladung der Politik mit philosophischen Bedeutungen habe in Deutschland einer philosophischen Politik den Weg bereitet. Im Nationalsozialismus sah Gehlen die historisch einzigartige Konstellation einer möglichen Symbiose von Politik und Philosophie. Die Politik sichere die Durchsetzung geistiger Bedeutungen, die durch die Philosophie begrifflich bestimmt worden seien. Der Politik könne man durch die Haltung reflektierter Distanz nicht gerecht werden, sondern nur dadurch, dass man sich ohne Vorbehalt und Distanz auf sie einlasse.65 Nur in der Rückbesinnung auf diese Tradition sei die nötige Erneuerung der Geisteswissenschaften möglich, nicht aber durch äußere politische Disziplinierung durch die nationalsozialistische 62 So zum Beispiel Ernst Nolte in seinen zahlreichen Schriften zum Thema. 63 Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 296. 64 Vgl. Arnold Gehlen, Der Staat und die Philosophie. In : ders., Gesamtausgabe. Philosophische Schriften II, S. 295–310. 65 Vgl. ebd., S. 304 f.
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Bewegung.66 Gehlen konzipierte die Philosophie als politische Anthropologie, welche die politische Natur des Menschen zum Gegenstand habe. Die Gesetze des Daseins könnten nur in den politischen Realitäten von Volk und Staat erfahren werden. Ohne sich auf das Politische einzulassen, würden die Menschen in untätiger Kontemplation das ihnen mögliche ganzheitliche Leben verfehlen. Politische Repression könne eine solche existentielle Verpflichtung der Menschen auf den Staat jedoch nicht erzwingen. Nicht um die Sicherung individueller Freiheiten gehe es in der Politik, sondern darum, Menschen einen höheren Sinn ihres Lebens zu erschließen, und sei es um den Preis der Einengung individueller Freiheiten, der als Bedingung der freien Selbstbestimmung zum Politischen jedoch gerechtfertigt sei. Ihr verständlicher Impuls zur Selbstbestimmung müsse politisch übernommen und gelenkt werden durch die Einsicht, dass Menschen ihre Bestimmung nur in den Ordnungen des Politischen finden könnten. Der Mensch dürfe nicht sich selbst überlassen werden, sondern müsse die politische Ordnung als „geführte Natur“ verinnerlichen.67 1933 sah Gehlen im Bejahen dessen, was geschieht ein Symbol der Freiheit. Freiheit bestimmte er hier als die „Vernichtung des Eigenwillens“ im „Bewusstsein, dass das Sollen schon das eigene Wollen ist“, getragen vom „Bewusstsein des höheren Seins, das durch uns handelt“.68 In seinen frühen philosophischen Schriften forderte Gehlen den Menschen nicht zu selbstbestimmter Identität, sondern zur Identifizierung mit seinem Schicksal auf. Gehlen stellte eine grundlegende Übereinstimmung von deutscher Philosophie und nationalsozialistischem Staat fest, weshalb ihre staatliche Bevormundung und politische Disziplinierung überflüssig sei. Das, was ihr der Staat von außen aufzuzwingen versuche, habe sich durch die innere Entwicklung der deutschen Philosophie bereits vollzogen. Ihre eigene disziplinäre Entwicklung habe den politischen Entwicklungen entgegen gearbeitet, weshalb es verfehlt sei, die deutsche Philosophie disziplinieren zu wollen und sie dazu aufzufordern, ihre Indifferenz oder Feindseligkeit gegenüber der Politik aufzugeben, auf die als ihr konzeptionsbildendes Referenzsubjekt sie sich doch längst beziehe.69 Gehlen behauptete eine Ausnahmestellung der Philosophie im Ensemble der Geisteswissenschaften und bestand darauf, dass sie auch in Zeiten der politischen Gleichschaltung des intellektuellen Lebens geistige Autonomie für sich beanspruchen könne. Als höchstes Ziel nationalsozialistischer Politik stellte Gehlen die Herausbildung eines „neuen Menschen“ heraus, der nur im Staat als der Bestätigung seiner politischen Existenz in Übereinstimmung mit sich selbst leben könne. Den Deutschen sollte die politische Ordnung durch ihre Verinnerlichung gleichsam zur zweiten Natur werden. Zum Staat müsse man sich praktisch verhalten, um 66 Vgl. ebd., S. 309. 67 Vgl. ebd., S. 307. 68 Arnold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit (1933). In : ders., Philosophische Schriften II, S. 1–179, hier 169 und 174. 69 Vgl. Gehlen, Staat, S. 309 f.
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ihn entweder zu bejahen oder zu verwerfen. Die Relativierung „formierter Wirklichkeiten“ zu unbestimmten Möglichkeiten dagegen lenke Menschen von ihrer tätigen Bestimmung ab zur kontemplativen Reflexion.70 Diese begnügten sich dann mit Meinungen und Überzeugungen, anstatt zu handeln. Menschen aber würden sich existentiell nur im Handeln, nicht in der Reflexion erfahren. Die Politik gehöre zu den Wirklichkeiten, die sich erst dadurch konstituieren, dass Menschen sich ohne inneren Vorbehalt und kritische Distanz auf sie einlassen. Die kritische Haltung der Philosophie zur Politik, die sie mit unbestimmten Möglichkeiten konfrontiere, zeige ihre strukturelle Unfähigkeit, konkrete menschliche Zustände als vollkommen zu akzeptieren. Sie verweigere sich damit der Einsicht, dass es eine beste aller möglichen Welten geben könne, mit der das Streben nach der Vervollkommnung menschlicher Zustände sein natürliches Ende finde. Die Wirklichkeit sei vollendbar, auch wenn es zunächst nicht um die Gestaltung einer vollkommenen Ordnung gehe, sondern darum, sich in der politischen Konkurrenz durchzusetzen. Anstatt auf die Unvollkommenheit jeder Politik zu verweisen, müsse diese als Ort der Profilierung verantwortlich handelnder Menschen begriffen werden.71 Die Infragestellung der Politik durch die Philosophie könne von dieser nicht hingenommen, sondern müsse durch ihre politische Einbindung beantwortet werden. Um wieder politischen Einfluss zu bekommen, sollte die Philosophie sich auf Staat, Volk und Rasse verpflichten. In ihnen sah Gehlen ideelle Ganzheiten, die „im Vorhandenen nicht aufgehen“.72 Deshalb müsse bei ihnen zwischen politischer Realität und ideellem Wesen unterschieden werden. Nur durch ihre politische Verortung habe die Philosophie Zugang zur Konstituierung des Menschen zu möglicher ganzer Existenz. Es sei Menschen möglich, bewusst zu wollen, was sie ihrer Bestimmung gemäß tun sollen. Ihre Bestimmung aber fänden sie nicht in sich selbst, sondern im Staat als dem Anderen ihrer selbst. Sich gegen den Staat als einen Teil seiner selbst behaupten zu wollen, ergebe keinen Sinn. Menschen dürften nicht sich selbst überlassen werden, sondern könnten nur durch politische Führung zu der ihnen möglichen Kraft und Leistung finden.73
6.
Schluss
Ausgehend von der Vorstellung einer weltgeschichtlichen Mission der Deutschen als philosophischer Nation und Verteidiger von Geist und Kultur gegen Kapitalismus und westliche Zivilisation74 meinten die philosophischen Nationalsozialisten, eine solche Mission habe mit Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung eine politische Chance. Mit dem Nationalsozialismus verknüpften sie 70 71 72 73 74
Vgl. ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 304 und 308. Ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 304 f. Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel 1963, S. 173–238.
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das Versprechen, Politik aus der Engführung pragmatischer Tagespolitik herauszuführen und auf philosophische Grundlagen zu stellen. Sie selbst hofften, die akademische Nische verlassen und politische Verantwortung übernehmen zu können. Ihre Phantasien einer quasi metaphysischen und anthropologischen Revolution stellten sie gegen den anderen, primitiven Nationalsozialismus, der seine weltanschaulichen Gegner bekämpfte und die Auseinandersetzung mit rassisch Minderwertigen führte. Damit, so behaupteten sie, habe ihr philosophischer Nationalsozialismus nichts zu tun. Vielmehr müsse eine bereits politische Philosophie darüber wachen, dass die nationalsozialistische Bewegung ihre philosophische Bestimmung nicht verfehle. Sie wollten die nationalsozialistische Bewegung nutzen, um der Bestimmung der Deutschen als einer philosophischen Nation in weltgeschichtlicher Mission eine politische Bewegungs - und Existenzform zu geben und entwickelten dabei heilsgeschichtliche Phantasien einer philosophischen Politik oder politischen Religion.75 Mit dieser metaphysischen Aufwertung des Nationalsozialismus trugen sie zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Herrschaftspraxis bei. Die meisten von ihnen, unter ihnen neben Martin Heidegger zweifellos auch Arnold Gehlen, weigerten sich nach dem Ende des Nationalsozialismus, sich kritisch mit ihrer Verstrickung im nationalsozialistischen Werte - und Gesellschaftssystem auseinanderzusetzen. Bei ihnen haben wir es offensichtlich mit einer nur schwer auflösbaren Gemengelage von origineller Theorieentwicklung und ausgeprägter Fähigkeit zu tun, das nationalsozialistische System für ihre intellektuellen Ambitionen zu nutzen und sich dabei auch von ihm benutzen zu lassen, ohne sich einer solchen Vereinnahmung zu verweigern.
75 Vgl. dazu u. a. Jürgen Schreiber, Politische Religion : Geschichtswissenschaftliche Perspektiven und Kritik eines interdisziplinären Konzepts zur Erforschung des Nationalsozialismus, Marburg 2009 sowie Hans Günter Hockerts, War der Nationalsozialismus eine politische Religion ? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In : Klaus Hildebrand ( Hg.), Zwischen Politik und Religion, München 2003, S. 45–72.
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Lebensentwürfe. Walter Frenzel (1892–1941) und Pawoł Nedo (1908–1984) Judith Schachtmann / Thomas Widera Obwohl soziale Faktoren wie Alter, Geschlecht, Nationalität und Herkunft – um nur einige zu nennen – augenscheinlich die gesellschaftliche Zugehörigkeit von Menschen prädestinieren, sich auf deren Lebenschancen auswirken und wenig beeinflussbar sind, besteht für jeden Menschen die Möglichkeit, auch darauf einzuwirken : Durch die Entscheidung bezüglich der Priorität eines Merkmals wird einem davon der Vorrang vor anderen gegeben. Die auf dieser Grundlage getroffene Wahl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Personen, die für sich jeweils verschieden die Bedeutung von Geschlecht, Alter, Nationalität oder Herkunft definieren, ist somit eine Frage nach Alternativen, selbst wenn diese nur hinsichtlich von Optionen bei der Rangordnung vorliegen. Jeder Mensch wählt, klassifiziert und legt Rangfolgen fest, wobei Prioritäten, die über die Dominanz der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe entscheiden, alternieren. Gravierende Ausnahmen und Abweichungen vom Prinzip der freien Wählbarkeit gibt es immer dann, wenn Menschen aufgrund willkürlich gesetzter Kriterien in einer Diktatur zu „objektiven“ Feinden erklärt werden.1 Das kann beispielsweise für kollektive Identitäten wie die ethnische, die nationale und die regionale oder die soziale Zugehörigkeit zutreffen.2 Für die beiden nachfolgend vorgestellten Personen war die sächsische Oberlausitz mit ihrem traditionellen Zentrum Bautzen3 einer der zentralen Bezugspunkte ihres Lebens. Sie gehörten in einer Zeit der verschärften Auseinandersetzungen zwischen deutscher Mehrheit und sorbischer Minderheit um deren Selbstbestimmungsrechte unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an. Allerdings verliefen in dieser Region mit ihrem komplexen soziokulturellen Umfeld die ethnischen Demarkationslinien zwischen Deutschen und den zu jener Zeit Wenden genannten Sorben nicht eindeutig. Quer zu allen Abgrenzungstenden1 2 3
Vgl. Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, Bonn 2007, S. 33–53. Vgl. Thomas Mergel, Milieu und Region. Überlegungen zur Ver - Ortung kollektiver Identitäten. In : James Retallack ( Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000, S. 265–279. Vgl. Joachim Bahlcke, Die Oberlausitz. Historischer Raum, Landesbewusstsein und Geschichtsschreibung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. In : ders. ( Hg.), Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2001, S. 11–53.
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zen gab es Tangenten einer überlieferten Gemeinsamkeit von Menschen, die seit Generationen nachbarschaftlich beieinander wohnten.4 Das Ende des Ersten Weltkrieges bildete eine Zäsur. Mit der Schaffung neuer Nationalstaaten entbrannte die Diskussion um Autonomiefragen nationaler Minderheiten in neuer Schärfe. Unter der sorbisch sprechenden Bevölkerung der Oberlausitz polarisierte sich patriotisches Bewusstsein entsprechend der politischen Orientierung und neigte entweder wegen der kulturellen und sprachlichen Nähe zum Anschluss an den tschechoslowakischen Staat oder zur Selbstverwaltung innerhalb des Deutschen Reiches. Der „Wendische Nationalausschuss“ trat für demokratische Freiheiten, für das Selbstbestimmungsrecht und die Vereinigung der sorbischen Siedlungsgebiete in Sachsen und Preußen zu einem eigenen Föderalstaat ein. Das stieß auf den Widerstand der deutsch sprechenden Mehrheitsbevölkerung der Oberlausitz; jede Unterstützung der separatistischen Strömungen durch nationalistische Kreise in der Tschechoslowakei steigerte das Misstrauen der deutschen Behörden.5 Ziel der „Wendenabteilung“6 der Kreishauptmannschaft Bautzen ab 1920 war die Beobachtung dieser Aktivitäten und eine „Stärkung der Deutschtumsarbeit in den wendischen Gebieten und [ die ] wirksame Begegnung der Gefahr des wendischen Irredentismus in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens“.7 Die beiden Volksschullehrer, die im Mittelpunkt der Darstellung stehen, der Deutsche Walter Frenzel und der Sorbe Pawoł Nedo, identifizierten sich mit ihrer Oberlausitzer Heimat und deren Geschichte und fühlten sich ihr verbunden. Etwa 1930, am Ende eines von gemäßigter Konfrontation zwischen Angehörigen beider Bevölkerungsgruppen geprägten Jahrzehnts, begegneten sie sich in Bautzen, offenkundig auf Anregung ihres akademischen Lehrers, des Leipziger Historikers Rudolf Kötzschke (1867–1949).8 Dieser hatte sich in seinen Schriften mehrfach für eine deutsch - nationalpatriotische Interpretation der Geschichte ausgesprochen und die slawische Kultur als minderwertig klassifi-
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Vgl. Timo Meškank, Die Zwischenkriegszeit. Sorbische Nationalbewegung unter Irredentaverdacht. In : Edmund Pech / Dietrich Scholze ( Hg.), Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Dresden 2003, S. 39–72. Vgl. Andreas Bednarek / Jonas Flöter / Stefan Samerski, Die Oberlausitz vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart. In : Bahlcke, Geschichte der Oberlausitz, S. 221– 266, hier 222 f. Vgl. Dietrich Scholze, „Die Wendenabteilung“. In : Dieter Grande / Daniel Fickenscher ( Hg.), Eine Kirche – zwei Völker. Deutsche, sorbische und lateinische Quellentexte und Beiträge zur Geschichte des Bistums Dresden - Meißen von der Wiedererrichtung 1921 bis 1929, Bautzen 2003, S. 502–504. Konzept des Statuts der Wendenabteilung vom 27. 1. 1920 ( Staatsfilialarchiv Bautzen [StFilA ], W XII - 3/ A, Bl. 3). Zitiert nach Frank Förster, Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933–1945. Die Publikationsstelle Berlin - Dahlem und die Lausitzer Sorben, Bautzen 2007, S. 22 f. Vgl. Annett Bresan, Pawoł Nedo 1908–1984. Ein biografischer Beitrag zur sorbischen Geschichte, Bautzen 2002, S. 30.
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ziert.9 Einflüsse Kötzschkes auf das Geschichtsverständnis der beiden Studenten10 sind indes ebenso wenig nachweisbar wie Äußerungen von Nedo und Frenzel zu Kötzschkes Ansichten, mit denen sie sich aber auseinandersetzen mussten. Anhand der Biografien Frenzels und Nedos soll die Bedeutung der individuellen Entscheidungen auf den Lebensverlauf von Menschen unter vergleichbaren Rahmenbedingungen gezeigt werden. Persönliche Entscheidungen erscheinen oft als von politischen Vorgaben herbeigeführte Reaktionen. Doch sind sie tatsächlich die zwangsläufige Folge der von Politik und Gesetzen bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ? Im folgenden Beitrag wird eine andere Perspektive eingenommen, bei der die Wahlmöglichkeiten der Protagonisten in den Mittelpunkt rücken. Politische und gesellschaftliche Determinanten werden in den Hintergrund gestellt, um Handlungs - und Verhaltensoptionen besser abbilden zu können,11 ohne allerdings umfassend all jene Aspekte zu berücksichtigen, die auf menschliche Antriebskräfte und auf die Wahl einer bestimmten Option innerhalb eines Handlungsmusters einwirken. Weil die Biografie Walter Frenzels weniger bekannt ist als die des sorbischen Verbandsfunktionärs und Volkskundlers Pawoł Nedo, wird der Lebensweg des Ersteren ausführlicher skizziert.
Der Bautzener Lehrer und Archäologe Walter Frenzel (1892–1941) Frenzel wurde 1892 in Bautzen als Sohn eines Lehrers geboren. Nach dem Besuch der Bürgerschule und der unteren vier Klassen des Gymnasiums absolvierte er das evangelische Landständische Lehrerseminar in Bautzen; im Frühjahr 1912 erhielt er seine erste Anstellung als Hilfslehrer.12 Der Erste Weltkrieg unterbrach die eingeschlagene Berufslaufbahn. Nach dem Kriegsdienst 1914 bis 9 Vgl. Rudolf Kötzschke, Die deutschen Marken im Sorbenland ( Aus der Festgabe Gerhard Seeliger zum 60. Geburtstage, Sonderdruck S. 79–114), Leipzig 1920. 10 Eine Aufarbeitung der Funktion des sächsischen Landeshistorikers bei der Herausbildung eines von rassistischen Vorurteilen geprägten Geschichtsbildes über die „Primitivität der Wenden und Slaven [ sic ]“ unter den seine akademische Schule absolvierenden Historikern und Lehrern steht noch aus. Kritisch zu Kötzschke Edith Hoffmann, Rudolf Kötzschke und die Ur - und Frühgeschichtsforschung an der Universität Leipzig. In : Zeitschrift für Archäologie, 19 (1985), S. 271–283. Wie problematisch die diesbezüglichen wissenschaftlichen Positionen des angesehenen Landeshistorikers sind, wurde neuerlich thematisiert von Esther Ludwig, Rudolf Kötzschke. Das schwere Bemühen um die Bewahrung der „unantastbaren Reinheit des geschichtlichen Sinnes“. In : Wieland Held / Uwe Schirmer ( Hg.), Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig, Beucha 1999, S. 21–70, hier 41. Eine unkritische Rezeption der Mythen um Rudolf Kötzschke hingegen bei Karlheinz Blaschke, Rudolf Kötzschke – der Vater der sächsischen Landesgeschichte. In : ebd., S. 9–20. 11 Vgl. Tobias Winstel, Der Geschichte ins Gesicht sehen. In : APuZ, 25/26 (2010), S. 41– 46. 12 Vgl. Vita Walter Frenzel, undatiert [1921/22] ( Universitätsarchiv Leipzig [ UAL ], Phil. Fak. Prom. 359, Bl. 2).
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Anfang 1919 begann Frenzel an der Universität in Leipzig ein vielseitiges Studium : Biologie, Geologie, Völkerkunde, Vorgeschichte und Geschichte. Das Thema seiner Dissertation 1922 bei Rudolf Kötzschke, „Klima und Landschaftsbild der Oberlausitz in vorgeschichtlicher Zeit. Ein Beitrag zur Methode der Urlandschaftsforschung“, verweist auf Interessen in der prähistorischen Archäologie, einer jungen Fachdisziplin, in der es bis dahin kaum akademische Ausbildungsmöglichkeiten gegeben hatte.13 Die Notwendigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen zu müssen, nötigte ihn zum Verzicht auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Frenzel kehrte 1924 in den Schuldienst zurück und trat eine Stelle als Lehrer in seiner Heimatstadt Bautzen an, ohne jedoch seine Ambitionen völlig aufzugeben.14 Mit der Ausgrabung prähistorischer Altertümer in der Oberlausitz strebte Frenzel nach Anerkennung in der Wissenschaft, wobei er nach „germanischen“ Siedlungsspuren suchte. Er wollte über eine Befreiung von seinen Schulpflichten auf einem praxisbezogenen Weg in die Wissenschaft gelangen. Noch als Student war er der „Gesellschaft für Anthropologie, Urgeschichte und Geschichte für Bautzen und Umgegend“, der späteren „Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen“ beigetreten. Bald dominierte er deren Vorstand, seit 1929 als Geschäftsführender Vorsitzender. Unangefochten von Zweifeln an seiner wissenschaftlichen Befähigung, die es im Promotionsverfahren gegeben hatte,15 zeugen Äußerungen Frenzels von Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten und von einem Engagement für den Verein, das weit über das hinausging, was von einem historisch interessierten Laien erwartet werden konnte.16 Frenzel führte die prähistorischen Ausgrabungen und Notbergungen im Namen der Gesellschaft, zu einem Teil aber auch privat durch.17 Indiz dafür ist 13 Vgl. Michael Strobel, Das dreijährige Wirken des Prähistorikers Kurt Tackenberg (1899–1992) in Sachsen. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 48/49 (2006/2007), S. 371–392. 14 Vgl. Judith Schachtmann, Das Wirken Walter Frenzels in den Jahren 1936 bis 1941 und seine Rolle bei der Verschleppung der Ethnographischen Sammlung Łódź. In : Regina Smolnik ( Hg.), Umbruch 1945 ? Die prähistorische Archäologie in ihrem politischen und wissenschaftlichen Kontext, Dresden 2012, S. 90–98, hier 90 f. Den biografischen Angaben in Förster, „Wendenfrage“, S. 61, fehlen Quellennachweise. Eine biografische Skizze auf der Basis zeitgenössischer Literatur verfasste Alexander Hesse, Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 289 ff. 15 Vgl. Gutachten 21. 12. 1921–25. 2. 1922 ( UAL, Phil. Fak. Prom. 359, Bl. 6–9); Uwe Schirmer, Graduiertenschriften am Leipziger Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde (1906–1950). Ein Forschungsbericht. In : Held / Schirmer, Kötzschke und das Seminar, S. 91–144, hier 106 ff. 16 Vgl. Frenzel an Bierbaum vom 20. 5. 1927 ( SächsHStAD, Nachlass Werner Coblenz 12821, 350), diese im Nachlass Coblenz gefundene, original geheftete und mit dem Stempel des Archivs urgeschichtlicher Funde aus Sachsen versehene Akte ist nicht paginiert. 17 Vgl. Walter Frenzel, Volksgut in Not ! In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz, Band III, Heft 1, 1925, S. 75–84.
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die seit Anfang 1925 unter seiner Privatanschrift existierende sogenannte „Mittelstelle für Heimatforschung im einstigen Markgraftum Oberlausitz“,18 eine Unternehmung mit einem bedruckten Briefkopf, eigenen Angaben zufolge ein „wissenschaftliches Forschungsinstitut [...] in Entwicklung“.19 Der Hinweis im Namen auf die „Deutsche Mittelstelle für Volks - und Kulturbodenforschung“ in Leipzig20 spiegelte Frenzels Wünsche wider. In der Ausführung der Idee offenbarte sich indessen seine Neigung, die Realität nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, denn Aussicht auf eine finanzielle Grundausstattung für wissenschaftliche Ausgrabungen oder Forschungen bestand nicht. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den Frenzel in seinen Briefen zu verbreiten versuchte, hat die „Mittelstelle“ niemals existiert. Nachdem Frenzel auf amtliche Anweisung der Gebrauch der irreführenden Bezeichnung untersagt wurde, versuchte er – wiederum erfolglos – unter dem Begriff „Archäologische Forschungsstation“ zu reüssieren.21 Die Zusammenarbeit mit dem an der Leipziger Universität lehrenden Rasseanthropologen Otto Reche (1879–1966) bei der anthropologischen Aufnahme der Lausitzer Bevölkerung, wobei kaum verwertbare Resultate entstanden, verwies gleichfalls auf Frenzels wissenschaftliche Ambitionen.22 Die von ihm lancierte Nachricht seiner Ernennung zum Assistenten Reches am Ethnologisch - anthropologischen Institut der Universität Leipzig musste er rasch relativieren.23 Der Titel schmeichelte augenscheinlich Frenzels Geltungsbedürfnis. Die tatsächlich verfügbaren Möglichkeiten zur Veränderung der Situation schätzte Frenzel falsch ein und in der mutwilligen Konfrontation mit dem Leiter des „Archivs urgeschichtlicher Funde aus Sachsen“, Georg Bierbaum (1889– 1953),24 verfehlte er die richtige Strategie. Obwohl er wusste, wie prekär seine
18 Vgl. Frenzel an Feyerabend vom 14. 2. 1925 ( Archiv des Kulturhistorischen Museums Görlitz, Akte : „Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz“). 19 Frenzel an den Landeshauptmann des Preussischen Markgraftums Oberlausitz vom 29. 10. 1925 ( ebd.); Frank Förster, Weggang eines Wendenbekämpfers. Dr. Walter Frenzels scheinbar überraschender Wechsel von Bautzen nach Frankfurt ( Oder ) 1936. In : Letopis, 50 (2003) 2, S. 30–41, hier 37. 20 Vgl. Michael Fahlbusch, Wo der deutsche ... ist, ist Deutschland ! Die Stiftung für deutsche Volks - und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933, Bochum 1994. 21 Vgl. Bierbaum an Ministerium für Volksbildung vom 20. 8. 1931( SächsHStAD, Ministerium für Volksbildung 19294, Bl. 57 f.). 22 Vgl. Susanne Grunwald, Rassenkundliche Kooperation. Zur Zusammenarbeit von Otto Reche und Walter Frenzel in der Oberlausitz. In : Ethnographisch - Archäologische Zeitschrift, 49 (2008), S. 499–517, hier 508 f.; Frank Förster, Die „rassische Beurteilung der Wenden“. Ein volkstumswissenschaftliches Vorhaben bis 1942/43. In : Letopis, 49 (2002) 1, S. 52–59. 23 Vgl. Frenzel an Ministerium für Volksbildung vom 30. 8. 1932 ( SächsHStAD, Ministerium für Volksbildung 19294, Bl. 165). 24 Zu Georg Bierbaum vgl. Kristina Geupel - Schischkoff, Dr. Georg Bierbaum (13. August 1889–22. Juni 1953). Der Weg vom Zoologen, Mediziner und Lehrer zum Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte Dresden und Landespfleger für Bodenaltertümer Sachsens. In : Ausgrabungen in Sachsen, 2 (2010), S. 19–26.
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Lage aufgrund des jeweils nur halbjährig gewährten Dispenses war, grenzte er sich von Bierbaum ab in der Absicht, sich gegen ihn zu profilieren.25 Die Freistellung vom Schuldienst zugunsten wissenschaftlicher Tätigkeit bei der systematischen Aufnahme und Registrierung der vorgeschichtlichen und frühmittelalterlichen Bodenfunde der Oberlausitz ab 1927 ermöglichte es Frenzel, seinen archäologischen Interessen nachzugehen.26 In Kötzschke und in Wilhelm Volz (1870–1958), dem Leiter der „Deutschen Mittelstelle für Volksund Kulturbodenforschung“ in Leipzig,27 besaß er einflussreiche Förderer. Zudem konnte mit Volz’ Unterstützung der Kreishauptmann gewonnen werden, eine Untersuchung der vor - und frühgeschichtlichen Besiedlung der Oberlausitz gutzuheißen. Mit Zustimmung von Kötzschke und Volz erteilte Bierbaum Frenzel einen Forschungsauftrag im Rahmen der „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord - und ostdeutschen vor - und frühgeschichtlichen Wall - und Wehranlagen“.28 Zu jenem Zeitpunkt hatte Frenzel sich bereits Verdienste erworben um die vorgeschichtliche Erforschung der Region, nachdem es ihm neben seiner Beschäftigung im Schuldienst gelungen war, wissenschaftliche Kontakte anzubahnen. In den Jahren 1924 und 1925 hatten zwei wissenschaftliche Tagungen in Bautzen die Wege wichtiger Wissenschaftler in Frenzels Heimatstadt und die Blicke der lokalen Öffentlichkeit auf die prähistorische Archäologie gelenkt. Bei der Wahl des Tagungsortes Bautzen für die Fachtagung der Leipziger Mittelstelle vom 25. bis 27. September 1924 ist von einer bewussten Entscheidung auszugehen, um die Bedeutung der regionalen Fundstätten in der Grenzlanddiskussion im Fokus von Wissenschaft und Politik zu verankern.29 Frenzel konnte auf dieser Tagung erstmalig vor angesehenen Wissenschaftlern des Fachgebietes für seine Ansichten zur „germanischen“ Besiedlung der Oberlausitz 25 Vgl. Frenzel an Bierbaum vom 14. 5. 1927 ( SächsHStAD, Nachlass Werner Coblenz 12821, 350). 26 Vgl. Staatskanzlei an Ministerium für Volksbildung vom 2. 8. 1927 ( BLHA, Rep. 50 Päd. Akademie Frankfurt / Oder 2). 27 Vgl. Ingo Haar, Leipziger Stiftung für deutsche Volks - und Kulturbodenforschung. In : Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. Hg. von Ingo Haar und Michael Fahlbusch, unter Mitarbeit von Matthias Berg, München 2008, S. 374–382. Hubert Fehr, Prehistoric archaeology and German Ostforschung : the case of the excavations at Zantoch. In : Archaeologia Polona, 42 (2004), S. 197–228, hat die Funktion der Mittelstelle für die Schaffung interdisiziplinärer Wissenschaftsnetzwerke herausgestellt. 28 Vgl. Frenzel an Bierbaum vom 5. 5. 1927 ( SächsHStAD, Nachlass Werner Coblenz 12821, 350); Susanne Grunwald, Potentiale der Burgwallforschung. Sächsische Archäologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In : Judith Schachtmann / Michael Strobel / Thomas Widera ( Hg.), Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 149–168, hier 152 ff. 29 Vgl. Herbert Helbig, Völkerbewegungen und Kulturströmungen im Grenzland Oberlausitz in vorgeschichtlicher und frühdeutscher Zeit. In : Von Land und Kultur. Beiträge zur Geschichte des mitteldeutschen Ostens ( Kötzschke - Festschrift ). Hg. von Werner Emmerich, Leipzig 1937, S. 38–58.
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werben.30 Dass im folgenden Jahr die 3. Tagung der „Berufsvereinigung deutscher Prähistoriker“ gleichfalls Bautzen als Versammlungsort wählte, war dem Renommee der „Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz“ geschuldet. Dieser neuerliche Schub an Aufmerksamkeit in der lokalen Presse sowie unter den Honoratioren wird dazu beigetragen haben, den Volksschullehrer Frenzel in seinem Selbstwertgefühl und in seinem Wunsch zu bestärken, sich vollständig der Wissenschaft zu widmen.31 Der von Frenzel angestrebten Freistellung vom lästigen Schuldienst hatte zunächst die Frage der Kostenübernahme im Weg gestanden. Das Ministerium für Volksbildung stimmte der Beurlaubung erst dann zu, als die sächsische Staatskanzlei Frenzels Engagement nachdrücklich unter Hinweis auf die Förderung des Deutschtums durch das Reichsinnenministerium befürwortete, die eingestellt werden würde, sollte sich Sachsen nicht entsprechend daran beteiligen. Der bestimmten Aufforderung, durch Gegenfinanzierung die „wissenschaftlich hoch bedeutsamen Aufgaben energisch zu fördern“, konnte sich das Volksbildungsministerium nicht entziehen, obwohl es sich mit der Antwort ein Vierteljahr Zeit ließ und die Freistellung nur für ein halbes Jahr gewährte.32 Die Notwendigkeit, jeweils im Halbjahresrhythmus eine Verlängerung des Dispenses zu erbitten, setzte Frenzel unter permanenten Handlungsdruck. Er hatte dem Kreishauptmann nicht so sehr die wissenschaftliche Dringlichkeit, sondern die politische „Tragweite“ seiner Ausgrabungen nahegelegt und ihn veranlasst, sie in Zusammenhang mit der „Bekämpfung der slavophilen Wendenbewegung“ zu stellen.33 Daran musste er sich messen lassen und für die künftige Zustimmung der Behörden hinreichende Ergebnisse vorlegen. Um die heimatliche Befestigungsanlage Ostro aufzuwerten, stellte er die von ihm ergrabene Wallanlage auf eine Stufe mit dem antiken Troja34 und berichtete schon während der Grabungsphase im Sommer 1927 von durchschlagenden Erfolgen. Nachweislich hätten „die Burgunden in nachchristlicher Zeit [...] hier mehrere Jahrhunderte lang gewohnt“ und es seien „für den niedrigen Stand der slawischen Kultur in der Oberlausitz weitere Belege erbracht“ worden. Die Staatskanzlei wiederum legte dem Volksbildungsministerium nahe, Frenzels Freistellung als eine „Maßnahme zur Pflege des Deutschtums“ zu betrachten und
30 Vgl. Stiftung für deutsche Volks - und Kulturbodenforschung Leipzig. Die Tagungen der Jahre 1923–1929. Als Handschriftendruck herausgegeben vom Verwaltungsrat der deutschen Stiftung für Volks - und Kulturbodenforschung, Langensalza 1930, S. 47–75. 31 Vgl. Walter Frenzel, Bericht über die 3. Tagung der „Berufsvereinigung deutscher Prähistoriker“ in Bautzen vom 3.–6. Juni 1925. In : Ergänzungsband zu den Bautzener Geschichtsheften, (1925) 2, S. 39–60. 32 Staatskanzlei an Ministerium für Volksbildung vom 18. 11. 1926 ( BLHA, Rep. 50 Päd. Akademie Frankfurt / Oder 2); Ministerium für Volksbildung an Bezirksschulamt Bautzen vom 21. 2. 1927 ( ebd.). 33 Staatskanzlei an Ministerium für Volksbildung vom 18. 11. 1926 ( ebd.); Kreishauptmannschaft Bautzen an Staatskanzlei vom 28. 10. 1926 ( ebd.). 34 Vgl. Zwischenbericht Frenzels vom 6. 8. 1927 ( StFilA, SKA W VI - 1/ C, Bl. 8–11).
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die Förderung durch das Reich mit der Bereitstellung sächsischer Eigenmittel zu flankieren.35 Frenzel bemühte sich, die vorgesetzten Behörden davon zu überzeugen, dass er durch „vorsichtige Grabungen [...] unwiderlegliche Beweise für die zeitliche Abfolge der einzelnen Kulturen und Völkerstämme“ und für die Kontinuität der „germanischen“ Besiedlung erbringen werde. Er stellte die Behauptung auf, dass die Errichtung der in ihrer Bauweise von slawischen Wehranlagen grundsätzlich verschiedenen deutschen Burgen nur durch kulturelle Überlegenheit möglich gewesen sei. Diese wissenschaftlich zweifelhafte Interpretation36 muss im Zusammenhang von Frenzels politischer Einstellung, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und seinem Ehrgeiz gesehen werden, wobei er sich auf wissenschaftlich anerkannte wie auch umstrittene Positionen stützte.37 Frenzel erwarb unbestritten Verdienste bei der Ausgrabung und Bergung wichtiger Funde der sächsischen Oberlausitz, bei deren Publikation, bei ihrer Kartierung und beim Aufbau der 1932 im Bautzener Museum neu eröffneten vorgeschichtlichen Abteilung.38 Er hat mit außerordentlichem Fleiß Fundstellen dokumentiert und auf die Zerstörung archäologischer Fundstätten durch die fortschreitende Mechanisierung der Bodenbearbeitung hingewiesen. Für gründliche Forschungsgrabungen jedoch fehlten ihm nicht nur die erforderlichen Mittel, sondern vor allem die elementare Unvoreingenommenheit und wissenschaftliche Redlichkeit. Er führte Notgrabungen durch, beließ es aber nicht bei der Bergung und Kartierung der Funde. Frenzels Ableitungen vorformulierter Ziele richteten sich an den politischen Interessen der Behörden und Institutionen aus, von denen er materielle Zuwendungen erhoffte.39 Er wollte die Aufeinanderfolge germanischer Wohnsitze in vorgeschichtlicher Zeit durch archäologische Funde in der Oberlausitz belegen und war überzeugt davon, „dass entgegen der überwiegenden Meinung der deutschen Fachwelt dieses Ergebnis einmal dem Erdboden entrissen werden würde“.40 Um seine Abhängigkeit von den sächsischen Behörden zu verringern, trat Frenzel 1932 dem Kampfbund für deutsche Kultur bei41 und suchte in dessen 35 Kreishauptmannschaft Bautzen an Staatskanzlei vom 26. 7. 1927 ( BLHA, Rep. 50 Päd. Akademie Frankfurt / Oder 2); Staatskanzlei an Ministerium für Volksbildung vom 2. 8. 1927 ( ebd.). 36 Zwischenbericht Frenzels vom 6. 8. 1927 ( StFilA, SKA W VI - 1/ C, Bl. 8–11). 37 Vgl. Gustav Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte – eine hervorragend nationale Wissenschaft. 7. Auflage, Leipzig 1936. 38 Vgl. Walter Frenzel, Jahresbericht 1932. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band X / XI, 1932/33, S. 1–9. 39 Vgl. Walter Frenzel, Vorgeschichte der Lausitzen. Land und Volk, insbesondere die Wenden ( Forschungen zu Geschichte und Volkstum der Wenden). Hg. von Rudolf Kötzschke, Langensalza 1932, S. 41; Förster, Weggang eines Wendenbekämpfers, S. 32 f. 40 Walter Frenzel, Jahresbericht 1933. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band XII, 1934, S. 1–7; Grunwald, Rassenkundliche Kooperation, S. 50. 41 Vgl. Reinerth an Frenzel vom 3. 6. 1932 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16).
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Vorsitzenden Hans Reinerth (1900–1990)42 einen einflussreichen Verbündeten in der Hoffnung auf Beistand in der Konkurrenz zum sächsischen Bodendenkmalpfleger Georg Bierbaum.43 Mit der Diffamierung Bierbaums, dem er die fachliche Eignung absprach, um sich selbst im Hinblick auf die in Fluss befindliche Institutionalisierung der sächsischen Bodendenkmalpflege ins Spiel zu bringen,44 schadete sich Frenzel allerdings selbst. Auch das Engagement in der „Freien Vereinigung für Fundpflege in Sachsen“ ab Mai 1932 erhöhte nur den Handlungsdruck auf die staatlichen Behörden, ohne seine Position zu verbessern.45
Frenzel und der Nationalsozialismus Als Frenzel 1933 Reinerth erneut bat, im Dresdner Ministerium für Volksbildung zu intervenieren, unterstellte er eine nationalsozialistische Affinität zu der von ihm als „germanisch“ interpretierten Vorgeschichte und überschätzte zugleich dessen Möglichkeiten : Reinerth möge mit Hilfe seiner Parteiverbindungen Bierbaum aus dem Amt drängen, an dessen Stelle den Nachwuchswissenschaftler Werner Radig (1903–1985)46 einsetzen lassen und ihn selbst in die Bodendenkmalpflege der sächsischen Oberlausitz.47 Dabei hatte Frenzel dem Nationalsozialismus in den vorangegangenen Jahren offenkundiges Desinteresse entgegengebracht. Keiner der Besuche Adolf Hitlers 1930 und 1932 in Bautzen hatte seine Aufmerksamkeit gefunden,48 bei keinem seiner Vorträge
42 Vgl. Gunter Schöbel, Die Ostinitiativen Hans Reinerths. In : Schachtmann / Strobel / Widera, Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie, S. 267–283; Michael Strobel, Hans Reinerth und Gustav Riek – Modernitätsflüchtlinge in einer ungewissen Wissenschaft. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 45 (2003), S. 443–461. 43 Vgl. Michael Strobel, Anmerkungen zur Institutionalisierung der archäologischen Denkmalpflege in Sachsen zwischen 1918 und 1945. In : Schachtmann / Strobel / Widera, Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie, S. 169–192, hier 180–185. 44 Vgl. Frenzel an Reinerth vom 23. 7. 1932 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16). 45 Vgl. Bericht über die 1. Hauptversammlung der Freien Vereinigung für Fundpflege in Sachsen am 19. 6. 1932. In : Die Fundpflege. Mitteilungen zur Vorzeit Sachsens und der Nachbargebiete, 1 (1933), S. 6 f.; Strobel, Anmerkungen zur Institutionalisierung der archäologischen Denkmalpflege, S. 185 f. 46 Vgl. Achim Leube, Der Prähistoriker Werner Radig (1903–1985). Ein Beitrag zur deutschen Prähistorie im Wandel der Zeiten. In : Ethnographisch - Archäologische Zeitschrift, 45 (2004), S. 83–129; Michael Strobel, Werner Radig (1902–1985) – Ein Prähistoriker in drei politischen Systemen. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 47 (2005), S. 281–320. 47 Vgl. Frenzel an Reinerth vom 11. 3. 1933 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16). 48 Vgl. Phillip Wegehaupt, Funktionäre und Funktionseliten der NSDAP. Vom Blockleiter zum Gauleiter. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Wie wurde man Parteigenosse ? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009, S. 39–59, hier 46.
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war er bei der seit 1925 existierenden Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( NSDAP )49 zu Gast gewesen. Nun hoffte er, dass nach seinem Eintritt in die NSDAP ein neuerlicher Vorstoß wegen einer dauerhaften Freistellung vom Schuldienst erfolgreicher sein könne und er sich nicht immer wieder neu darum bemühen müsse.50 Wie andere „Märzgefallene“ erwartete er von seinem Aufnahmeantrag 1933 eine merkliche Verbesserung seiner persönlichen Umstände.51 Demonstrativ stellte Frenzel in einem Schreiben an den sächsischen Volksbildungsminister seine nationalsozialistische Gesinnung heraus.52 Ein Appell an den „Nationalen Ausschuss für die Erneuerung der Universität Leipzig“ verfolgte denselben Zweck. Dabei forderte Frenzel die Einrichtung einer Professur für Deutsche Vorgeschichte und die Erweiterung von Reches Universitätsinstitut um den „sachlichen und personellen Etat für Vorgeschichte“. Sein anmaßender Vorschlag, die Prüfungsordnung zu ändern, Vorgeschichte in das Geschichtsstudium als Pflichtfach aufzunehmen und es wahlweise an Stelle von Alter Geschichte als Prüfungsfach zu setzen,53 zielte auf eine Stärkung seines Mentors Reche, um durch dessen Hilfe einen wissenschaftlichen Posten zu erlangen. Frenzels Aktivitäten zeugen von fehlendem Augenmaß und wenig Sachverstand. Obwohl noch nicht einmal ordentliches Mitglied der NSDAP, umwarb er den jungen Sorben Pawoł Nedo, und ernannte ihn zum Fachberater für wendische Kulturfragen in der Bautzener NSDAP - Ortsgruppe, einer in der Partei nicht vorgesehenen Funktion.54 Weder in der Partei noch hinsichtlich seiner beruflichen Stellung verbesserte sich dagegen Frenzels Position. Er fühlte sich von Reinerth im Stich gelassen und „unter der neuen Regierung schlechter als unter der alten“ gestellt, weil seine Freistellung nur auf 12 Wochenstunden von insgesamt 30 Pflichtstunden reduziert wurde.55 Unbeirrt von seinen Misserfolgen intensivierte Frenzel die Vorbereitungen für die Festlichkeiten der „Jahrtausendfeier Bautzens und der Oberlausitz“ im Juni 1933. Er hatte sich für das Jubiläum starkgemacht56 und mit Hilfe von Pawoł Nedo die Front der Ableh49 Vgl. Festschrift zur 10 - Jahres - Feier der Ortsgruppe Bautzen der NSDAP, Bautzen 1935. 50 Vgl. Frenzel an Reinerth, 13. 3. 1933 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16, nicht paginiert ); Reinerth an Frenzel, 17. 3. 1933 ( ebd.). 51 Vgl. Björn Weigel, „Märzgefallene“ und Aufnahmestopp im Frühjahr 1933. Eine Studie über den Opportunismus. In : Benz, Wie wurde man Parteigenosse ?, S. 91–109. 52 Vgl. Schreiben Frenzels an Hartnacke vom 29. 3. 1933 ( SächsHStAD Ministerium für Volksbildung 19294, Bl. 212), teilweise abgedruckt in Förster, „Wendenfrage“, S. 122. 53 Vgl. Frenzel an den nationalen Ausschuss für die Erneuerung der Universität Leipzig, 22. 3. 1933 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16); Grunwald, Rassenkundliche Kooperation, S. 509 f. 54 Vgl. Annett Bresan, Politischer Pragmatismus für sorbische Ideale. Das Wirken des Domowina - Vorsitzenden Pawoł Nedo zwischen 1933 und 1950. In : Pech / Scholze, Zwischen Zwang und Beistand, S. 184–204, hier 189. 55 Frenzel an Reinerth, ohne Datum ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16). 56 Da ein Gründungsurkunde Bautzens nicht vorlag, argumentierte Frenzel mit staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Bautzen und dem Reich Heinrich I. als östlichem Vorposten, Vortrag Frenzels „Die Gründe für die Jahrtausendfeier Bautzens und der
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nung einer deutsch - nationalistischen Gründungsfeier Bautzens durch sorbische Kreise aufgebrochen und die „wissenschaftlich tätigen Jungwenden“ dafür gewonnen. Sie erklärten ungeachtet konträrer nationaler Standpunkte im „Gegensatz zu der tschechophilen älteren Generation“ ihre Bereitschaft zur Mitarbeit.57 In der neuen Konstellation inszenierte Frenzel für Bautzen eine nationalsozialistische Propagandaveranstaltung. Die Festrede verfasste er im nationalsozialistischen Duktus und beteuerte, er werde die zehnjährige „Mitarbeit an der Abwehr der polnischen, tschechischen und hochverräterischen Bestrebungen in der Oberlausitz und an dem Aufbau der Vor - und Frühgeschichte des früher germanischen Landes“58 fortsetzen. „In diesen Tagen der nationalen Erneuerung steht die Oberlausitz und ihre Hauptstadt Budissin an der Wende zweier Jahrtausende : Mögen die Ereignisse des tausendundersten Jahres Sinnbild und Verheißung für die Zukunft sein !“59 Wenige Tage vor Beginn der Festwoche war Frenzel zum Kreiskulturwart der NSDAP ernannt worden und trat in seiner offiziellen Parteifunktion neben der Partei - und Staatsprominenz vor das Publikum. Das gab seinen Worten größeres Gewicht als jemals zuvor. Frenzel beschrieb weltanschauliche Gegensätze zwischen Deutschen und ihren ausländischen Nachbarn als Differenzen der Rassen und beschwor pathetisch die unvermindert drohende Gefahr der rassischen Unterwanderung : „Heute wie ehedem eine blutende Ostgrenze ! Heute wie ehedem wird sie bedroht von slawischen Stämmen !“60 Er präsentierte sich aufgrund seiner Beteiligung an der anthropologischen Untersuchung als Experte für das „Volk der Oberlausitz in seiner rassischen Zusammensetzung und seiner Rassengeschichte“ : „Zunächst ist festzustellen, dass es keine slawische oder gar wendische Rasse gibt, dass man vielmehr nur von einer slawischen Sprachgemeinschaft sprechen kann. [...] Eine starke Mischung der rassischen Elemente war überdies in einem Durchgangslande, wie es die Oberlausitz darstellt, zu erwarten. Da ist einmal ein hoher Prozentsatz des nordischen Menschen bei uns zu beobachten.“ Bereits Grabfunde aus der Zeit um 1000 hätten die Durchmischung und die Angehörigen der ostischen Rasse neben den schlanken Gestalten der dinarischen Rasse als Unterschicht gezeigt. Sie seien durch ihre „Fruchtbarkeit in ständigem Anstieg begriffen“. Ihre Nachkommen heute gefährdeten „infolge ihrer auf verschiedenen Gründen beruhenden starken Vermehrung den heimischen Rassenbestand“.61 Dieser
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Oberlausitz“, 31. 1. 1933, Vortragsabend zum Thema „Die Gründe der Jahrtausendfeier Bautzens und der Oberlausitz II“, 14. 2. 1933 ( Sorbische Zentralbibliothek / Sorbisches Kulturarchiv Bautzen [ SKA ], ZM XXI /2 D, Bl. 9 und 14). Jahresbericht Frenzels an den Kampfbund für deutsche Kultur, 31. 12. 1932 ( Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen, APM 16); Bresan, Pawoł Nedo, S. 50 f. Schreiben Frenzels an Hartnacke vom 29. 3. 1933 ( SächsHStAD, Ministerium für Volksbildung 19294, Bl. 212). Walter Frenzel, Festrede anlässlich der Jahrtausendfeier der Oberlausitz in Bautzen, zugleich Antrittsvorlesung als Kreiskulturwart der NSDAP, Bautzen 1933. Ebd. Ebd.
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Notlage sei mit eugenischem Eingreifen entgegen zu steuern.62 Die Widersprüchlichkeit der Äußerungen Frenzels resultierte aus den Befunden der rasseanthropologischen Untersuchung der Bevölkerung. Die Ergebnisse verursachten Interpretationsschwierigkeiten,63 weil sie nicht mit den nationalsozialistischen Annahmen über klare Trennlinien zwischen den Rassen übereinstimmten. Nationalistische und rassistische Vorgeschichtspropaganda war im Fall Frenzels nicht ein Instrument der Politik, sondern der eigennützige Versuch zur Instrumentalisierung der Politik für seine Interessen. Er vollzog 1933 eine demonstrative Hinwendung zum Nationalsozialismus und versuchte, unter den veränderten politischen Bedingungen seine wissenschaftliche Karriere voranzubringen. Das völkische Geschichtsbild, das deutsche Ansprüche auf Siedlungsgebiete damit begründete, Germanen hätten ursprünglich jene Territorien bewohnt, hatte er schon zuvor propagiert. Nun behauptete er, dass er diesbezüglich immer mit den Nationalsozialisten übereingestimmt habe. Spekulative Interpretationen von prähistorischen Befunden bestärkten allerdings Skeptiker in ihrem Zweifel gegenüber einem noch nicht vollständig etablierten neuen Fachgebiet. Die in den Augen der Öffentlichkeit maßlosen Forderungen nach der Gründung eines Reichsinstituts für deutsche Vorgeschichte, verbunden mit Seitenhieben gegen die Römisch - Germanische Kommission, der anerkannten fachlichen Zentralinstanz,64 vermittelten den Eindruck von akademischen Grabenkämpfen.
Der sorbische Lehrer und Volkskundler Pawoł Nedo (1908–1984) Anders als Frenzel gehörte Pawoł Nedo der in der Oberlausitz lebenden sorbischen Minderheit an. Bekannt wurde er durch seine sorbisch - volkskundlichen Forschungen sowie als Vorsitzender der Domowina, der 1912 gegründeten kulturellen Dachorganisation sorbischer Vereine. 1908 als Sohn von sorbisch sprechenden Eltern in Kotitz geboren, zogen diese ihn zur Verbesserung seiner Berufschancen deutschsprachig auf. Erst während des zweiten Schuljahres begann er, angeregt von seiner Mutter, die sorbische Sprache anhand von Kirchenliedern zu erlernen.65 Annett Bresan schildert in ihrer Biografie Nedos die Ambivalenz von Elternhaus und heimatlicher Umgebung mit Blick auf die spä62 Zu dem damals weit verbreiteten Glauben, auf die „Volksgesundheit“ mit Hilfe einer wissenschaftlichen Eugenik positiv einwirken zu können Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. 63 Vgl. Förster, „Wendenfrage“, S. 51–61; Grunwald, Rassenkundliche Kooperation, S. 507. 64 Vgl. Kundgebung des Kampfbundes für deutsche Kultur und der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz, 11. 7. 1933 ( Serbski kulturny archiv [ SKA], ZM XXI /2 D, Bl. 46); Förster, „Wendenfrage“, S. 123. 65 Vgl. Soweit nicht anders vermerkt sind alle biografischen Angaben Annett Bresans ausführlicher Arbeit über Pawoł Nedo entnommen. Bresan, Pawoł Nedo.
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tere Wahl der sorbischen Identität.66 Jedoch dürfte ein frühes Interesse am Erlernen des Sorbischen nicht ohne Einfluss auf diese Entscheidung gewesen sein. Wie Frenzel schlug Nedo die Lehrerlaufbahn ein. Er besuchte von 1922 bis 1928 die Oberschule am ehemaligen Landständischen Lehrerseminar in Bautzen und nahm dort freiwillig am Sorbisch - Unterricht teil. Nach dem Abitur begann Nedo 1928 mit dem Studium der Pädagogik an der Leipziger Universität und beendete es 1931. Ergänzend hörte er Germanistik und Volkskunde und besuchte ab 1930 Seminare bei dem Landeshistoriker Kötzschke und bei dem Germanisten und Volkskundler Fritz Karg (1892–1970). Bereits ab 1929 hielt Nedo verschiedentlich volkskundliche Vorträge vor allem in sorbischer Sprache. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bei Nedo die Hinwendung zum Sorbentum ab, die sich fortan verstärkte. Es scheint, dass für ihn die sorbische Sprache zu einem wesentlichen Merkmal seiner sorbischen Identität wurde.67 Entscheidenden Anteil an Nedos ersten wissenschaftlichen Auftritten in Bautzen hatte Frenzel, damals Vorsitzender der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, möglicherweise aber auch der Sorbe Johannes Schneider ( sorb. Jan Krawc, 1896–1969).68 In den Sitzungen der Gesellschaft wurden verschiedene Themen von Vorgeschichte und Geschichte über Volkskunde bis hin zu Sprachforschung diskutiert. Neben „deutschen“ und allgemein „slawischen“ widmete man sich außerdem „sorbischen“ Themen. Schließlich war mit dem Vorstandsmitglied Johannes Schneider zumindest ein Mitglied der Bautzener Gesellschaft sorbischer Herkunft.69 Schneider wurde zwar in den Protokollen der Bautzener Gesellschaft mit seinem deutschen Namen geführt, war jedoch nachweislich zweisprachig70 und zugleich Mitglied der Maćica Serbska,71 der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte, Sprache und Kultur der Sorben. Sowohl in der Bautzener Gesellschaft als auch in ihrer Vorgängerinstitution war er zwischen 1928 und 1937 als Schriftführer im Vorstand tätig.72 Des Weiteren gab 66 Vgl. ebd., S. 19. 67 Vgl. Bresan, Politischer Pragmatismus, S. 200. Zum Verhältnis von Sprache und ethnischer Identität David Crystal, Language Death, Cambridge 2000 (2005), S. 119–126. 68 Biografische Angaben zu Johannes Schneider : Jurij Knebel, Jan Krawc. In : Jan Šołta / Pětr Kunze / Franc Šěn ( Hg.), Nowy biografiski słownik k stawiznam a kulturje Serbow, Budyšin 1984, S. 292. 69 Johannes Schneider wurde am 10. November 1924 in den „erweiterten Vorstand“ der Gesellschaft für Anthropologie, Urgeschichte und Geschichte aufgenommen. R. N., Am 10. November fand die Hauptversammlung der Gesellschaft für Anthropologie, Urgeschichte und Geschichte im Saale von Gudes Gasthof statt. In : Bautzener Geschichtshefte, Band II, Heft 4, 1924, S. 34–37, hier 37. 70 Vgl. Protokoll vom 7. 6. 1930 und Protokoll der Sitzung vom 10. 6. 1930 ( SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI - 2A, Bl. 103). 71 Vgl. Bresan, Pawoł Nedo, S. 30, FN 30. 72 Die Sitzungen der Bautzener Gesellschaft von 1928 bis 1937 wurden von Johannes Schneider protokolliert. Die Protokolle befinden sich im SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI 2A - D.
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er zusammen mit Frenzel im Zeitraum von 1930 bis 1935 die Bautzener Geschichtshefte heraus.73 Ob Nedo in Schneider einen Fürsprecher hatte, ist nicht nachweisbar. Am 23. September 1930 erhielt Nedo die Möglichkeit zu einem Vortrag in der Bautzener Gesellschaft über das „Wendische Volkslied“. Um die Wirkungsweise der Lieder zu demonstrieren, gab Nedo während des Vortrags Gesangsproben mit Klavierbegleitung.74 Nur wenig später konnte er diesen Vortrag als längere Abhandlung mit dem Titel „Studien zum wendischen Volkslied“ in den Bautzener Geschichtsheften veröffentlichen. Im Gegensatz zu anderen Publikationen in den Bautzener Geschichtsheften, meist kurzen Abhandlungen, fällt die Länge des Aufsatzes auf, die zwei Ausgaben umfasste.75 Der Aufsatz Nedos war also in dieser Hinsicht durchaus etwas Besonderes. Seinen zweiten Bautzener Vortrag hielt er am 18. Juli 1932 über die „Geschichte der Waldbienenzucht“,76 einen dritten am 16. Mai 1933 über „Volkskundliche Probleme“.77 An der Wahl seiner Vortragsthemen lässt sich sein ausgeprägtes Interesse für Volkskunde erkennen.
73 Vgl. Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band VIII, Heft 1–3, 1930 bis einschließlich Bautzener Geschichtshefte zugleich Oberlausitzer Geschichtsblätter. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen und Mitteilungsblatt des staatlichen Vertrauensmannes für Bodenaltertümer in der Amtshauptmannschaft und der Stadt Bautzen, Band XIII, Heft 1, 1935. 74 Vgl. Protokoll der Sitzung vom 23. 9. 1930 ( SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI- 2A, Bl. 136 f.). 75 Vgl. Pawel Nedo, Studien zum wendischen Volkslied. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band IX, Heft 1/2, 1931, S. 35–47; Pawel Nedo, Studien zum wendischen Volkslied. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band IX, Heft 3/4, 1931, S. 49–70. 76 Das Protokoll der Sitzung vom 18. Juli 1932 ist im SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI - 2C nicht überliefert. Erwähnung findet der Vortrag in : Walter Frenzel, Jahresbericht 1932 des Geschäftsführenden Vorsitzenden der Gesellschaft, erstattet auf der 31. Hauptversammlung am 7. Januar 1933. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band X / XI, Heft 1, 1932/1933, S. 1–9, hier 7. Auch überliefert als Vortragsankündigung in : Protokoll der Sitzung vom 12. 7. 1932 ( SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI - 2C, Bl. 44). 77 Auf der Sitzung am 16. Mai 1933 wurde ein Vortrag „über weiße Magie in unserer Heimat“ gehalten. Der Name des Referenten wird im Sitzungsprotokoll jedoch nicht erwähnt. Protokoll der Sitzung vom 16. 5. 1933 ( SKA, Nachlass Johannes Schneider ZM XXI - 2D, Bl. 35). Einen Hinweis, dass es sich hierbei um einen Vortrag von Pawoł Nedo handelt, ist dem Jahresbericht 1933 der Gesellschaft für Geschichte und Vorgeschichte der Oberlausitz zu Bautzen zu entnehmen. Walter Frenzel, Jahresbericht 1933 des Geschäftsführenden Vorsitzenden der Gesellschaft, erstattet auf der 32. Hauptversammlung am 6. Januar 1934. In : Bautzener Geschichtshefte. Abhandlungen und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen, Band XII, Heft 1, 1934, S. 1–7, hier 5.
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Nedo, seit Juli 1930 gleichfalls Mitglied der Maćica Serbska, wurde 1932 zum Leiter des Wendischen Museums in Bautzen berufen,78 über dessen Zustand er sich bereits 1931 sehr kritisch geäußert hatte : „Das Museum ist in der heutigen Form eine Schande für die Sorben. Ich sage : Das Museum muss ein lebendiges und wahres Abbild des kulturellen Reichtums jedes Volkes sein. Daraus folgt, wenn das sorbische Volk so veraltet und verstaubt wie unser Museum ist, hat es kein Recht auf weiteres Dasein !“79 Nedo verlangte eine komplette Überarbeitung des Museums. Im Sommer und Herbst 1932, Nedo war zu diesem Zeitpunkt schon als Volksschullehrer tätig, nahm er neben der Inventarisierung des Museumsbestandes eine Neugestaltung der Ausstellung vor. Die Sammlung des Wendischen Museums bestand vornehmlich aus volkskundlichen, aber auch aus vorgeschichtlichen Gegenständen. Für die Ausstellung stand dem Museum lediglich ein zimmergroßer Raum zur Verfügung. Da ein Magazin ebenso wie eine ausreichende Finanzierung der Neuaufstellung fehlten, entschied sich Nedo für eine gezielte Auswahl volkskundlicher Objekte und die Aussonderung vorgeschichtlicher Sammlungsstücke : „Mit den sporadischen und meist beschädigten Exponaten zur Vorgeschichte ließ sich ebenfalls kein aussagekräftiges Bild gestalten“. Er übergab diese daher der von Frenzel geleiteten Bautzener Gesellschaft. Rückblickend bezeichnete Nedo 1980 die Sammlung von 253 Nummern als Einzelstücke, die er damals der Abteilung Ur - und Frühgeschichte des Stadtmuseums Bautzen, nicht jedoch der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz überlassen habe.80 Frenzel wiederum ließ bei der Übernahme keinen Zweifel daran, dass die Stücke in den Bestand der Gesellschaft übergingen, und dass es sich bei den zahlreichen Objekten um eine Sammlung handelte. Neben dem Bronzeschwert von Neudorf a.d. Spree und den Bronzescheiben von Ostro „fanden sich besonders aus der jüngeren Steinzeit bisher noch unbekannt gebliebene Seltenheiten“, die von der Gesellschaft nach der Übergabe ergänzt beziehungsweise wiederhergestellt und veröffentlicht werden sollten.81 Entgegen Nedos Äußerung von 1980 besaß die Sammlung durchaus wissenschaftlichen Wert. Deswegen bemühte er sich darum, den Eindruck zu vermeiden, dass ihre Übergabe ein ihm anzulastender Verlust gewesen sein könne. Frenzel, der die Funde 1933 in den Bestand der Gesellschaft aufnahm, kennzeichnete sie bei der Inventarisierung am Ende der Inventarnummer mit einem „W“, dem Kürzel für Wendisches Museum.82 Damit blieb der ursprüngliche Eigentümer erkennbar. Mit der Übergabe der Funde aus dem Wendischen Museum hatte Nedo offensichtlich Frenzel eine Gefälligkeit erwiesen : Die Konkurrenz zwischen den bei78 Vgl. Paul Nedo, Notizen zur Entwicklung des „Wendischen Museums“ im Zeitraum 1931–1934. In : Letopis C, 23 (1980), S. 111 f., hier 111. 79 Zitiert nach Bresan, Pawoł Nedo, S. 33, FN 43. 80 Nedo, Notizen zur Entwicklung, S. 111 f. 81 Frenzel, Jahresbericht 1933, S. 4. 82 Der Bestand aus dem Wendischen Museum umfasste nach der Inventarisation durch Frenzel die Nummern O.3001–3253.33.W ( SKA, MS II 1F, Bl. 38).
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den Einrichtungen bezüglich der Sammlung archäologischer Artekfakte wurde durch die Absprache beider Männer zugunsten der Bautzener Gesellschaft entschieden. Dieser fiel zugleich damit die alleinige Deutungshoheit über deren Interpretation zu. Denn mit der Abtretung der vorgeschichtlichen Sammlungsstücke setzte Nedo ein Signal, das dahingehend interpretiert werden konnte, dass er die Zuständigkeit des Wendischen Museums für die slawische Vorgeschichte der sächsischen Oberlausitz generell aufzugeben bereit war. Die Überlassung der Altertümer könnte andererseits auf die Verständigungsbereitschaft von Teilen der sorbischen Verbände und deren Willen zum Abbau von Anlässen für Konfrontationen hinweisen, oder auf die Hoffnung, in der Beseitigung solcher Anlässe befürchteten Repressalien zu entgehen. Konkrete Anhaltspunkte für die Interpretation jenes Schrittes fehlen. Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Domowina im Dezember 1933 legte Nedo indes sein Amt am Museum nieder.83 Die Zusammenarbeit von Nedo und Frenzel setzte sich bei der Gründungsfeier zum erwähnten Bautzener Stadtjubiläum fort. Nedo und Bjarnat Krawc (1861–1948)84 hatten die Maćica Serbska im Dezember 1932 dazu bewegen können, sich mit einem Trachtenumzug der Sorben an der von Frenzel maßgeblich initiierten 1000 - Jahrfeier Bautzens zu beteiligen, die an die deutschen Ursprünge der Stadt erinnern sollte. Die Festlichkeiten fanden vom 3. bis 11. Juni 1933 statt. Innerhalb dieses Zeitraums wurde auch die Neueröffnung des Wendischen Museums begangen. Weiterhin organisierte die Maćica Serbska ein sorbisches Konzert und Vorträge während der Festwoche.85 Indem Nedo sich von Frenzel am 19. Juli 1933 zum Fachberater für wendische Kulturfragen des Bautzener NSDAP - Bezirks ernennen ließ, setzte er ein deutliches Zeichen seines Willens zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, obwohl diese zuvor gegen verschiedene Führer der sorbischen Nationalbewegung vorgegangen waren und sie verhaftet hatten. Zugleich strebte er danach, seinen Einfluss auf die Reorganisation des sorbischen Kulturlebens auszudehnen. Möglicher weise erhoffte er sich darüber hinaus von Schritten des Entgegenkommens, dass auf der Gegenseite gleichfalls eingelenkt und der sorbischen Sache Wohlwollen entgegengebracht werden würde.86 Im Frühjahr 1934 kooperierten Nedo und Frenzel abermals : Nach der Verabschiedung des Sächsischen Denkmalschutzgesetzes ( Gesetz zum Schutze von Kunst - , Kultur - und Naturdenkmalen ) am 13. Januar 1934 setzte Frenzel Nedo als Helfer des Staatlichen Vertrauensmannes im Bezirk Bautzen für den Schulbezirk Rackel ein.87 Die Position des Helfers war ehrenamtlich; er sollte den 83 Vgl. Bresan, Pawoł Nedo, S. 33 f. 84 Vgl. Achim Brankaćk, Bjarnat Krawc. In : Šołta / Kunze / Šěn, Nowy biografiski, S. 289– 291. 85 Vgl. Bresan, Pawoł Nedo, S. 50. 86 Vgl. ebd., S. 52 f. 87 Vgl. Walter Frenzel, Bericht über die Denkmalspflege im 1. Halbjahr 1934. In : Bautzener Geschichtshefte zugleich Oberlausitzer Geschichtsblätter. Abhandlungen
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Vertrauensmann bei der Aufklärung über den Schutz von Bodenaltertümern unterstützen.88 Wie sich die Zusammenarbeit praktisch gestaltete und wie lange sie bestand, ist nicht überliefert. Denn zeitgleich zur Verabschiedung des Heimatschutzgesetzes, das eine Zentralisierung der Bodendenkmalpflege von Dresden aus festschrieb, schwand mit der Suspendierung Frenzels vom Amt des Kreiskultur wartes der NSDAP am 13. Januar 1934 sein Einfluss. Er trat die Flucht nach vorn an. Frenzel präsentierte dem Amtshauptmann in Bautzen am 10. Mai 1934 einen Forderungskatalog und drohte seinen Weggang aus Sachsen an, sollte nicht einem Teil seiner acht Forderungen nachgegeben werden.89 Während sich Frenzel auf die Wiedererlangung seiner Position konzentrierte, führte die radikaler werdende Politik der Nationalsozialisten gegenüber den Sorben zu einer grundsätzlichen Distanzierung Nedos vom Nationalsozialismus. Das wiederum hat zum Ende der Zusammenarbeit zwischen ihm und Frenzel beigetragen. Im Juli 1935 erklärte Nedo in einer Stellungnahme gegenüber der Kreisleitung der NSDAP, dass sein Amt des Fachberaters für wendische Kulturfragen „praktisch überhaupt nicht mehr besteht“.90 Nicht nur die Zusammenarbeit mit Frenzel, sondern auch Nedos Übernahme des Führerprinzips innerhalb der Domowina und seine generelle Akzeptanz der nationalsozialistischen Politik bewirkten, dass er 1933 den Nationalsozialisten im Gegensatz zu anderen aktiven Sorben als gemäßigter Wende galt.91 Dem Vorsitzenden der Domowina war es durch taktische Zurückhaltung lange Zeit möglich, die sorbische Vereinstätigkeit am Leben zu erhalten. Nach dem Verbot aller der Domowina angeschlossenen sorbischen Vereine am 18. März 1937 schätzten die deutschen Behörden dann Nedo als nicht mehr tragbar ein. Um einer Versetzung zuvorzukommen, kündigte er seine Lehrerstelle und zog nach Berlin. Dort arbeitete er zunächst in einer polnischen Bank, später als Gutssekretär auf dem Land. Nach kurzer Haft 1939 freigelassen, wurde er im Herbst 1942 Soldat der Wehrmacht und im November 1944 erneut inhaftiert, wegen der Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt und verblieb bis Kriegsende 1945 im Landsgerichtsgefängnis Potsdam.92 Im Mai 1945 kehrte Nedo nach Bautzen zurück, begründete die Domowina wieder und wurde zum Vorsitzenden gewählt. Im Juni desselben Jahres erhielt er die Ernennung zum Schulrat für den Bezirk Bautzen - Nord und baute das Schulwesen auf. Vorrangig förderte er Initiativen zum Erlernen der sorbischen
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und Berichte der Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz zu Bautzen und Mitteilungsblatt des staatlichen Vertrauensmannes für Bodenaltertümer in der Amtshauptmannschaft und der Stadt Bautzen, Band XII, Heft 2, 1934, S. 17–21, hier 18. Vgl. Nr. 6 der Anweisung für die Vertrauensmänner für Bodenaltertümer und ihre Stellvertreter ( Heimatschutzgesetz vom 13. Januar 1934) vom 20. Februar 1934. In : Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit, 9 (1933) Heft 11, S. 224. Vgl. Förster, Weggang eines Wendenbekämpfers, S. 35 f. Zitiert nach Bresan, Pawoł Nedo, S. 52, FN 28. Vgl. Bresan, Politischer Pragmatismus, S. 189, FN 28. Vgl. Bresan, Pawoł Nedo, S. 154–160.
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Sprache, insbesondere die Organisation sorbischsprachiger Klassen und Schulen. Obwohl oder gerade dadurch, dass Sorbisch nicht seine Muttersprache, sondern Zweitsprache war, verstand er sie als Hauptbestandteil der sorbischen Identität. Erste Erfolge erzielte er 1946 mit der Eröffnung einer sorbischen Grundschule in Bautzen und 1947 mit der Einrichtung einer gymnasialen Oberschulklasse. Das 1948 vom Sächsischen Landtag verabschiedete Gesetz zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung, das den Weg in die kulturelle Autonomie ebnete, basierte gleichfalls auf der maßgeblichen Initiative Nedos. In den folgenden Monaten entstand unter seiner Leitung das „Sorbische Kulturund Volksbildungsamt“.93 Aufgrund politischer Differenzen legte er 1950 sein Amt als Vorsitzender der Domowina nieder und widmete sich in den Folgejahren ausschließlich seiner wissenschaftlichen Karriere.
Ausblick Die Wege von Walter Frenzel und Pawoł Nedo berührten sich anlässlich ihrer Verbundenheit mit der Oberlausitz, ihre Lebensentwürfe orientierten sich bei unterschiedlicher ethnischer Abstammung übereinstimmend an derselben Heimat. Beide identifizierten sich mit ihr, mit der Region ihrer Herkunft, und machten sie zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Dies brachte sie einander näher, doch diese Gemeinsamkeit allein reichte nicht für eine dauerhafte Verbundenheit. Der eine identifizierte sich mit dem Rassismus der Nationalsozialisten und entschied sich für die Rolle eines deutschen Nationalisten, der andere schloss sich der sorbischen Gemeinschaft an. Beide trafen ihre Wahl unter mehreren Optionen ohne zwingende Notwendigkeit. Das wird besonders deutlich in der anfänglichen Annäherung Nedos an die Nationalsozialisten, womit er die Hoffnung verband, seine Vorstellungen von einer Bewahrung der sorbischen Kultur in der Erneuerung ihrer Institutionen besser umsetzen zu können. Die anschließende Abwendung war für ihn mit unabwägbaren Risiken verbunden. Frenzel näherte sich 1933 den Nationalsozialisten, um seine wissenschaftliche Karriere voranzubringen, und wähnte sich auf der sicheren Seite. Beide änderten ihre Prioritäten. Es unterstreicht die Freiwilligkeit ihrer Entscheidungen, dass sie diesen Schritt vollzogen, nachdem die Nationalsozialisten die Machtpositionen in Staat und Gesellschaft besetzten. Die Kooperation von Nedo und Frenzel wirkte sich für beide positiv aus. Frenzel konnte mit den Vorträgen Nedos eine Beteiligung der Sorben an den Vortragsabenden der Bautzener Gesellschaft für Vorgeschichte und Geschichte der Oberlausitz und in diesem Integrationserfolg ein sichtbares Resultat seiner Aktivitäten vorweisen. Ein weiterer Erfolg war die Übertragung der vorgeschichtlichen Sammlung des Wendischen Museums. Damit erhielt die Gesellschaft einen beachtlichen Sammlungszuwachs und ein Alleinstellungsmerkmal 93 Vgl. Bresan, Politischer Pragmatismus, S. 201.
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vor Ort bei der Präsentation archäologischer Funde. Die schließlich mit Unterstützung von Nedo zustande gekommene Beteiligung der Sorben an der Tausendjahrfeier Bautzens verstärkte temporär den deutschen Einfluss auf Teile der sorbischen Bevölkerung. Eine Einschätzung der Tätigkeit Nedos als Helfer des Vertrauensmannes für Bodenaltertümer ist aufgrund fehlender Quellen nicht möglich. Ihm ermöglichte die Zusammenarbeit mit Frenzel jedenfalls, außerhalb der sorbischen Gemeinschaft wissenschaftlich wahrgenommen zu werden. Dass dies Einfluss auf seine Karriere innerhalb des Maćica Serbska und damit letztendlich auf seine Laufbahn in der Domowina hatte, ist zwar naheliegend, kann aber, da ohne Belege, derzeit lediglich vermutet werden. Ob Johannes Schneider bezüglich der Kooperation zwischen Nedo und Frenzel eine Schlüsselrolle einnahm, ist ebenfalls zu prüfen und muss durch eine Aufarbeitung von dessen Biografie, insbesondere des Nachlasses herausgearbeitet werden. Frenzels regimekonforme Vorgeschichtspropaganda war nicht vorrangig Ausdruck einer politischen Überzeugung, sondern zweckdienliches Mittel. In Sachsen scheiterte er mit seinem Bemühen um eine Position in der Wissenschaft. Den angestrebten Lehrstuhl an der Technischen Universität erhielt er nicht, auch nicht das Lehramt an der Pädagogischen Hochschule in Dresden. Im Sommer 1936 verließ er Bautzen, um kommissarischer Dozent für Vorgeschichte und Methodik des Geschichtsunterrichts an der Hochschule für Lehrerbildung in Frankfurt ( Oder ) zu werden. Seine Seminare behandelten nicht nur die „Grundzüge der Deutschen Vor - und Frühgeschichte“, sondern ebenso „Volkspolitisch wichtige Fragen aus der deutschen Vor - und Frühgeschichte“ oder den „Beitrag der deutschen Vorgeschichte zur nationalsozialistischen Weltanschauung“.94 Die Jahre bis zum Kriegsbeginn waren trotz der Probleme nicht erfolglos. Weil Frenzel sich in der nationalsozialistisch orientierten Vorgeschichtswissenschaft jedoch nur auf bescheidenem Niveau etablierte, gab er sich mit dem Erreichten nicht zufrieden. Die Teilnahme des Siebenundvierzigjährigen als Soldat am Feldzug gegen Polen 1939 ist im Hinblick auf seinen beruflichen Ehrgeiz zu verstehen. Er suchte für sich eine neue Chance in der Okkupation des Landes und beteiligte sich bald an der staatlich organisierten Entwendung von Kunstgegenständen aus polnischen und jüdischen Privatsammlungen.95 Während des Umbruchs und des Aufbaus der neuen deutschen Verwaltung eröffnete sich für ihn die Aussicht, in Łódź im Museum für Völkerkunde Direktor zu werden. In diesem Museum fand sich an einem prähistorischen Grabgefäß jene Hakenkreuzornamentik, die zur Vorlage des Motivs im neuen Stadtwappen der am 1. April 1940 in Litzmannstadt umbenannten Stadt wurde. Das Symbol sollte die deutschen Ansprüche legitimieren und die in die Familien94 Vgl. Schachtmann, Das Wirken Walter Frenzels, S. 92. 95 Vgl. Achim Leube, Deutsche Prähistoriker im besetzten Polen 1939–1945. In : Parerga Praehistorica. Jubiläumsschrift zur Prähistorischen Archäologie. 15 Jahre UPA. Hg. von Bernhard Hänsel, Bonn 2004, S. 287–347, hier 311–314.
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Judith Schachtmann / Thomas Widera
farben des Namenspatrons und Weltkriegsgenerals Litzmann integrierte Swastika eine identitätsstiftende Wirkung entfalten.96 Der aufstiegsorientierte Walter Frenzel hatte die Schranken seiner kleinbürgerlichen Herkunft durchbrechen wollen, traf seine Entscheidungen karriereorientiert, wobei sich die politischen Bekenntnisse an seinen persönlichen Zielen orientierten. Dabei verstrickte er sich beruflich in den nationalsozialistischen Raubzug von Kunst - und Kulturgut und privat in die rassistische Volkstumspolitik. Nach Unregelmäßigkeiten beim Abtransport der von ihm requirierten Kunstwerke zeitweilig durch die Gestapo verhaftet und wegen der intimen Beziehung zu einer polnischen Mitarbeiterin aus der NSDAP ausgeschlossen, stürzte er in eine Lebenskrise, sah das Scheitern seiner Karriere und setzte Anfang 1941 seinem Leben ein Ende.97 Nedo hingegen entschied sich für einen anderen Weg und riskierte nach anfänglicher Annäherung an die nationalsozialistische Kulturideologie mit der ersichtlichen Abwendung vom Nationalsozialismus als sorbischer Dissident Verfolgung. Nach dem Verbot der Domowina schied er freiwillig aus dem Schuldienst aus, um sich dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entziehen. Dennoch geriet er ins Visier der Verfolgung, konnte indessen die Diktatur überstehen. Nach 1945 beteiligte er sich am Wiederaufbau des Schulwesens und der Domowina. Er trat im September der Kommunistischen Partei Deutschlands ( KPD ) bei und vertrat in der Partei die sorbische Sache – bis innerparteiliche Gegner 1950 seine Ablösung als Vorsitzenden der Domowina betrieben. Erneut beugte er sich dem Druck und zog sich immer weiter aus der Verbandspolitik zurück. Zunächst als Kulturfunktionär noch im sächsischen Volksbildungsministerium beschäftigt, arbeitete Nedo nach der DDR - Verwaltungsreform 1952 als Volkskundler und Sorabist. Im Rückblick auf sein wissenschaftliches Werk scheint es, als sei er zufrieden gewesen, die politische Rolle des Funktionärs endgültig gegen die des Wissenschaftlers getauscht zu haben. Er gehörte zu den Initiatoren des 1951 an der Karl - Marx - Universität Leipzig eingerichteten Sorbischen Instituts. Seit 1956 leitete Nedo das auf seine Anregung gegründete unabhängige „Institut für Volkskunstforschung“ beim Zentralhaus für Volkskunst in Leipzig, 1964 wurde er zum Professor für Volkskunde an die Humboldt - Universität nach Berlin berufen.98 In den exemplarischen Lebensgeschichten Nedos und Frenzels treten wie in denen anderer Personen, die durch einen subjektiven Blickwinkel gesehen die Perspektive für die Komplexität der historischen Ereignisse schärfen, Momente einer prinzipiellen Offenheit der Geschichte hervor. Die Menschen agierten in einem historisch gesetzten Rahmen, ohne die Folgen zu kennen, wollten Nutzen 96 Vgl. Maria Magdalena Blombergowa, Archäologische Funde im Dienst der Propaganda am Beispiel der Ereignisse in Łódź in den Jahren 1939–1945. In : Achim Leube, Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel - und osteuropäische Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 289–292. 97 Vgl. Schachtmann, Das Wirken Walter Frenzels, S. 92. 98 Vgl. Bresan, Pawoł Nedo, S. 256 und 262.
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Lebensentwürfe
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aus ihrem Handeln ziehen, und um sich abzusichern, trafen sie Vorsorge gegen denkbare Risiken. Frenzel und Nedo handelten utilitaristisch, doch grundsätzlich verschieden. Gewollt und mitunter unbeabsichtigt beteiligten sie sich an der Gestaltung der geschichtlichen Abläufe. Ihre persönliche Annäherung 1933 markierte ihre individuellen Entscheidungsmöglichkeiten, sie öffnete beiden die Sicht auf die Optionen des jeweils Anderen. Völkische Vorstellungen erleichterten Frenzel die Adaption an die nationalsozialistische Ideologie; er scheiterte an der Inkonsequenz seiner eigenen ambivalenten Prioritäten. Nedo entschied sich gegen die Nationalsozialisten und bewusst für das Leben als Sorbe. Die Konturen ihrer Lebenswege zeigen auf, wie oktroyierte Umstände und politische Bedingungen die Entscheidungsfreiheit begrenzen und gleichwohl den Raum für Alternativen belassen.
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„Mit der Tötung von Kranken habe ich also nichts zu tun gehabt.“ Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein Boris Böhm
1.
Einleitung
Am 10. April 1946 beschrieb Elisabeth Fischer dem Ermittlungsrichter am Landgericht Dresden, wie sie fünf Jahre zuvor Mitarbeiterin der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein geworden war : „Eine Sekretärin des Personalchefs Oels eröffnete uns, dass wir nach Pirna kämen und dass es sich dort um die Tötung von Geisteskranken durch Vergasung handele. Als wir erklärten, dass uns daran nichts liege, sagte uns die Sekretärin, dass wir nur ins Büro kämen und mit den Kranken nichts zu tun hätten.“1 Elisabeth Fischer war zusammen mit vier weiteren Frauen und zwei Männern im Oktober 1940 in die „Euthanasie“ - Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin geladen worden. Trotz ihrer Bedenken fügten sich schließlich alle und traten kurze Zeit später ihren Dienst in der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein an. Auch wenn sie nicht direkt mit den Opfern der Mordaktion in Kontakt kamen, trugen sie dennoch zum reibungslosen Ablauf in der Tötungsanstalt bei. Insgesamt waren in den Jahren 1940/41 auf dem Sonnenstein mindestens 114 männliche und weibliche Personen beschäftigt.2 Sie beteiligten sich an der Ermordung von 13 720 Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen sowie im Sommer 1941 von über eintausend Häftlingen aus Konzentrationslagern während einer weiteren Tötungsaktion.3 Was waren das 1 2
3
Aussage Elisabeth Fischer vor dem Ermittlungsrichter am Landgericht Dresden vom 10. 4. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 75). Vgl. die aktuellste Aufstellung des Personals der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein: Julius Scharnetzky, „Da begann er, [...] sich als jemand Besonderes zu fühlen.“ – Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein und der personelle Konnex zur Shoah am Beispiel der „Aktion Reinhardt“, Masterarbeit TU Dresden, Dresden 2011, S. 115–124. Ich danke Julius Scharnetzky für wichtige Informationen zu diesem Beitrag. Ausführlich zur Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein siehe Boris Böhm, Pirna - Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Begleitband zur ständigen Ausstellung der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein, hg. von der
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Boris Böhm
für Menschen, die wie Elisabeth Fischer 1940/41 in der Tötungsanstalt arbeiteten ? Auf welchem Wege kamen sie zu diesem Einsatz und welche Motive leiteten sie, sich an einem Massenmord zu beteiligen ? Im Oktober 1939 hatte Adolf Hitler ein formloses Schreiben auf privatem Briefpapier unterzeichnet, mit dem er seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Leiter der Kanzlei des Führers Philipp Bouhler anwies, die Ermordung von „unheilbar Kranken“ zu organisieren.4 Dieses Schriftstück war auf den 1. September 1939 zurückdatiert. Das Datum markierte somit neben dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auch den symbolischen Beginn eines Krieges gegen psychisch kranke und geistig behinderte Menschen im Deutschen Reich. Bouhler und Brandt schufen eine viergliedrige Tarnorganisation zur Vorbereitung und Durchführung der Krankenmorde. Jede dieser Institutionen – „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil - und Pflegeanstalten“, „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, „Gemeinnützige Krankentransport G. m. b. H.“ und „Zentralverrechnungsstelle Heil - und Pflegeanstalten“ – erfüllte einen speziellen Auftrag. Ihr Zusammenspiel hatte für Tausende Menschen den Tod zur Folge. Im internen Sprachgebrauch wurde die Mordorganisation „T4“ genannt, nach der Adresse des Dienstsitzes in der Berliner Tiergartenstraße 4. Der „Aktion T4“, dem zentral geplanten Krankenmord der Nationalsozialisten, fielen zwischen Januar 1940 und August 1941 in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten über 70 000 Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen durch Vergasung mit Kohlenmonoxid zum Opfer.5 Insgesamt waren für die „T4“ - Organisation in den Jahren 1940/41 zwischen 300 und 400 Angestellte tätig,6 die das Regime und seine verbrecherische Politik unterstützten, obwohl sie, das deutet bereits das Beispiel Elisabeth Fischer an, nicht zwangsläufig ideologisch radikalisiert waren beziehungsweise aus tiefster Überzeugung handelten.
4
5 6
Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden 2001; ders., Die Tötungsanstalt Pirna Sonnenstein 1940/41. In : Klaus - Dietmar Henke ( Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Weimar 2008, S. 149–170. Zu den Krankenmordaktionen der Nationalsozialisten siehe u. a. Hans - Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, 2. Auflage Göttingen 1992; Götz Aly (Hg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“ - Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin ( West ) 1987; Michael Burleigh, Tod und Erlösung. Die Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002. Vgl. Hartheim - Statistics, NARA, College Park, USA, RG 338, Microfilm Publication T-1021, Rolle 18, Aufnahme 98. Vgl. Aly, Aktion T4, S. 12.
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Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein
2.
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Handlungs - und Sozialisationsmilieus der Akteure
Neben den individualbiografischen Entwicklungen ist es von Bedeutung, sowohl die Sozialisations - als auch die Handlungsmilieus der Akteure näher zu betrachten. Gemäß der Altersstrukturen des Personenkreises der Sonnensteiner Mitarbeiter lassen sich drei Sozialisierungsgruppen unterscheiden : (1.) die Frontgeneration der in den Jahren 1877 bis 1900 Geborenen, (2.) die sogenannte Kriegsjugendgeneration mit Jahrgängen ab 1901 sowie (3.) die Generation der nach 1918 Geborenen und maßgeblich im „Dritten Reich“ Geprägten. Die Einordnung in generationelle Erfahrungsgruppen ist umso wichtiger, da sich anhand der zur Verfügung stehenden Unterlagen nur ein sehr unzureichendes Bild von ihrem Leben vor der Zeit in der Tötungsanstalt zeichnen lässt. Es kann aber angenommen werden, dass allgemeine Tendenzen in Bezug auf den Erfahrungshorizont der deutschen Gesellschaft auch auf die untersuchten Personen zutreffen. Ein Viertel aller Sonnensteiner Angestellten gehörte der ersten Gruppe, der Frontgeneration, an, 83 Prozent davon waren Männer. Sie hatten nicht nur einen Großteil ihres Sozialisierungsprozesses im autoritär geprägten wilhelminischen Kaiserreich durchlaufen, sondern mindestens sechs von ihnen hatten zudem als Soldaten die Erfahrung von Tod und Niederlage gemacht.7 Von dem Verlust stabiler Werte - und Orientierungsmuster war auch die nach 1900 geborene Generation betroffen, die freilich noch zu jung für einen Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg gewesen war, den Krieg an der „Heimatfront“ dennoch in seiner vollen Brutalität und mit allen Entbehrungen erlebt und während der Zeit der Republik von Weimar ihre Volljährigkeit erreicht hatte. Hinweise lassen vermuten, dass zumindest ein Teil der Sonnensteiner Mitarbeiter zwischen 1919 und 1932 in paramilitärischen Organisationen beziehungsweise in national - oder rechtsorientierten Verbänden / Parteien organisiert war. Nachweislich gehörten mindestens sechs Personen bereits vor 1933 der SS an, 17 der NSDAP und einer dem Stahlhelm.8 Bei der dritten Gruppe, der nach 1918 Geborenen, handelt es sich ausschließlich um Frauen. Auch für sie boten sich nach dem 30. Januar 1933 Karrierechancen innerhalb der Partei und des Staates, die mit schnellem Aufstieg und attraktiven Verdienstmöglichkeiten lockten. Dennoch dürften die Institutionen des NS - Staates nur für eine kleine Zahl der späteren Sonnenstein - Mitarbeiter vor ihrer Einstellung bei der „T4“ Arbeits - und Lebensmittelpunkt gewesen sein. Zu diesen Ausnahmen zählen Kurt Franz und Josef Oberhauser, die 1937 zur SS - Totenkopfstandarte III „Weimar“ beziehungsweise 1935 zur SS - Totenkopfstandarte II „Brandenburg“ kamen und Wachdienst in den Konzentrationsla-
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Vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 37. Vgl. ebd., S. 38.
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Boris Böhm
gern Buchenwald und Sachsenhausen versahen.9 Andere, wie die Stenotypistinnen Elisabeth Fischer, Liselotte Grebe und Hedwig Hackel engagierten sich in ihrer Freizeit als Scharführerinnen im Bund Deutscher Mädel.10
3.
Die Akteursgruppen
Die Transportstaffel unter der Leitung des Dresdner Polizeimeisters Paul Rost (1904–1984) bestand aus sechs Fahrern, die mit vier „T4“ - Bussen die Opfer aus den Zwischenanstalten abholten.11 Das ärztliche Personal bildeten neben Direktor Dr. Horst Schumann (1906–1983)12 vier Ärzte, von denen einer nur kurzzeitig tätig war. Ihre Verantwortlichkeit bestand vor allem in der Herstellung einer „medizinischen Kulisse“ in der Tötungsanstalt. Sie legten bei der pseudomedizinischen Untersuchung der Patienten nach Eintreffen des Transportes die Todesursache fest, öffneten persönlich die todbringenden Gashähne und unterzeichneten mit Pseudonym die Sterbeurkunden und sogenannten Trostbriefe. Die größte Gruppe stellte das mittlere medizinische Personal. Insgesamt waren bis zur Einstellung der Mordaktion mindestens 33 gelernte Krankenpfleger und elf Krankenschwestern auf dem Sonnenstein beschäftigt. Neben den Ärzten hatten nur sie unmittelbaren Kontakt mit den Opfern. Sie versahen Dienst als Transportbegleiter, führten die Patienten zur „Untersuchung“ vor, beaufsichtigten sie beim Entkleiden und brachten sie in die als Baderaum getarnte Gaskammer. Sieben Personen wurden auch zu anderen Tätigkeiten wie Bürodiensten und Hausarbeiten herangezogen.13 Nach der Ermordung der Opfer durch Vergasung, der Entlüftung und der Öffnung der Gaskammer begann die Arbeit der Leichenbrenner, im „T4“ - Jargon auch als „Desinfektoren“ bezeichnet. Insgesamt waren zwölf Brenner beschäf-
9 Vgl. Aussage von Kurt Franz vom 5. 12. 1962 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner F, S. 9); vgl. Ernst Klee, Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken - oder Judenmord, Frankfurt a. M. 1986, S. 161 f. 10 Vgl. Aussage von Elisabeth Fischer vom 10. 4. 1946 ( SächsHStAD, 11120, 2526, Bl. 75); Aussage von Liselotte Grebe vom 17. 3. 1966 ( HessHStAW, Abt. 631a, Band 415, S. 1) und Aussage von Hedwig Hackel vom 1. 3. 1966 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Gu–Haf, S. 1). 11 Vgl. Aussage Paul Rost vom 4. 5. 1946 ( SächsHStAD, 11120, 2526, Bl. 103b ); Aussage von Willi Großmann vom 22. 4. 1963 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Gr–Gz, S. 3). 12 Vgl. Boris Böhm, Täter mit ruhigem Gewissen ? Zur Biografie des Leiters der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein Dr. Horst Schumann. In : Boris Böhm / Norbert Haase ( Hg.), Täterschaft – Strafverfolgung – Schuldentlastung. Ärztebiografien zwischen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und deutscher Nachkriegsgeschichte ( Zeitfenster, Beiträge der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Band 1), Leipzig 2007, S. 119–134. 13 Vgl. Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999, S. 206–208; vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 42; vgl. Böhm, Die Tötungsanstalt Pirna Sonnenstein, S. 162–164.
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Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein
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tigt. Alle gehörten der SS an und waren in die Tötungsanstalt abkommandiert worden.14 Nachweislich 30 Mitarbeiter waren unter der Leitung des Hauptmanns der Polizei Ernst Schemmel (1883–1943) in der Büroabteilung mit der bürokratischen Abwicklung der Krankenmorde beauftragt.15 Die verhältnismäßig große Zahl an Büroangestellten verdeutlicht den Verwaltungsaufwand, den man im Bemühen um die Verschleierung der Mordaktion betrieb. Der Büroabteilung unterstand das mindestens zehnköpfige Polizeikommando, welches den Absperrdienst besorgte und von Paul Rost geführt wurde. Neben zwei Hauptwachtmeistern zählten unter anderem zwei als Hilfspolizisten eingesetzte Pfleger dazu.16 Für die Bekleidung, Verpflegung sowie die Unterbringung der Mitarbeiter, die Instandhaltung der Gebäude und die Buchführung war die elfköpfige Wirtschaftsabteilung – bis auf eine Ausnahme ausschließlich Männer – zuständig.17 Ihr Leiter Gerhard Börner (1905–1945) gehörte bereits seit 1930 der NSDAP und SS an. Der gebürtige Dresdner hatte seit 1934 als Dienststückeverwalter in der Landesanstalt Sonnenstein gearbeitet.18
4.
Die Ärzte der Tötungsanstalt
Auf dem Sonnenstein befanden sich neben dem ständig anwesenden Direktor Schumann bis November 1940 zunächst Dr. Curt Schmalenbach (1910–1944) und für einen Monat Dr. Ewald Worthmann (1911–1985), von November 1940 bis Oktober 1941 dann Dr. Kurt Borm (1909–2001) und Dr. Klaus Endruweit (1913–1994) im Einsatz.19 Diese Ärzte waren zwischen 27 und 34 Jahre alt, außer Schmalenbach keine Psychiater und bis auf Schumann, der bereits 1933 die ärztliche Zulassung erhalten hatte, noch ohne Berufserfahrung. 14 15
16 17 18 19
Vgl. Aussage Emil Hackel vom 3. 3. 1966 ( HessHStAW, Abt. 631a, Band 514); vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 42 f. Zu Büroleiter Ernst Schemmel vgl. Boris Böhm, „Karrieren“ – Von der „Euthanasie“ Anstalt Sonnenstein in die Vernichtungslager im besetzten Polen. In : Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V. ( Hg.), Von den Krankenmorden auf dem Sonnenstein zur „Endlösung der Judenfrage“ im Osten, Sonnenstein - Heft 3, Pirna 2001, S. 112. Zum Büropersonal insgesamt vgl. Schilter, Unmenschliches Ermessen, S. 199 f. Zum Polizeikommando vgl. Aussage von Erhard Gäbler vom 27. 3. 1946 ( SächsHStAD, 11120, 2526, Bl. 53) sowie Aussage von Paul Rost vom 4. 5. 1946 ( ebd., Bl. 103). Zur Biografie von Paul Rost vgl. Böhm, „Karrieren“, S. 137–139. Zur Wirtschaftsabteilung vgl. Aussage Gustav Münzberger vom 4. 2. 1963 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Mi–Mz ). Vgl. weiter Aussage Helmut Fischer vom 24. 1. 1966 ( ebd., Ordner F, S. 6). Vgl. Personalakte Gerhard Börner ( SächsHStAD, RiS, B 502, Personalakte Börner, Gerhard ). Zu den Biografien von Kurt Borm und Klaus Endruweit vgl. Ernst Klee, Was sie taten – was sie wurden, S. 117–128. Zu Curt Schmalenbachs und Ewald Worthmanns Biografie vgl. Schilter, Unmenschliches Ermessen, S. 185–187 und 195–197.
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Jeder der fünf Sonnensteiner Ärzte hatte sich bereits vor 1933 oder noch im Jahr des Machtantritts der NS - Bewegung angeschlossen. Borm und Schmalenbach gehörten der SS an, die anderen drei der SA und mit Ausnahme Endruweits waren alle Parteimitglieder. Für ihren Einsatz galt weitreichende Berufserfahrung offensichtlich nicht als notwendig, entscheidend waren vielmehr die politischen Referenzen. Mehrere Ärzte verstanden den Mord entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie als medizinische Präventivmaßnahme zur Aufwertung des „deutschen Volkskörpers“ und als Erlösung von unheilbar Kranken und Siechenden. Borm äußerte 1962 bei einer Vernehmung diesbezüglich : „Die Empfindungen [...] gingen dahin, dass ich das Gefühl hatte, mich positiv zu der Aktion einstellen zu können. Irgendwelche Bedenken waren mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetaucht. [...] Ich habe mich auf meine Empfindungen verlassen, [...] dass Hitler mit seinem Befehl das Beste wollte und ich als Arzt es auch als eine mir zumutbare sittliche Pflicht auffassen durfte, diesen armen menschlichen Wesen durch ihre Tötung eine Erlösung von ihrer schweren unheilbaren Krankheit zu verschaffen.“20 Es zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sich die auf dem Sonnenstein tätigen Ärzte weniger durch ihre innere Einstellung als durch ihre Rollen, die sie innerhalb der „Organisation T4“ einnahmen, unterschieden. Schumann und Schmalenbach scheinen zielstrebige Machtmenschen gewesen zu sein, ein Tatbestand, der sich offensichtlich auch in ihrem raschen Aufstieg innerhalb der Organisation niederschlug.21 Auch Borm erfüllte geflissentlich seine Aufgaben und erreichte als Stellvertreter Schumanns eine höhere Position; sein Wesen war eher soldatischer Natur und ließ ihn seine Tätigkeit ohne jeglichen Skrupel ausführen. Endruweit wollen zwar gemäß seiner Prozessaussagen moralische Zweifel bezüglich seines Dienstes gekommen sein, letztlich funktionierte er aber im Sinne seiner Auftraggeber.22 Lediglich Ewald Worthmann stellte in seiner Tätigkeit eine Ausnahme dar. Als er im Zuge seiner Anwerbung für die „Organisation T4“ in der Kanzlei des Führers vom stellvertretenden Medizinischen Leiter Prof. Paul Nitsche gefragt wurde, welche Position er in Bezug auf die Sterbehilfe einnehme, antwortete dieser, dass er „der Euthanasie nicht ablehnend gegenüberstehe“.23 Bereits während seines ersten Tages auf dem Sonnenstein erkannte Worthmann jedoch, 20 Aussage Kurt Borm vom 19. 6. 1962 ( HessHStAW, Abt. 631a, Band 512, S. 13). 21 Horst Schumann genoss als Direktor von zwei Tötungsanstalten hohes Ansehen bei der „T4“ - Zentrale. Er wurde auch als „T4“ - Gutachter eingesetzt und in die Beratungen zu einem „Euthanasie“ - Gesetz hinzugezogen. Curt Schmalenbach gelangte bereits nach einem halbjährigen Einsatz in Pirna in die Führungsebene der „T4“ - Organisation, war u. a. „T4“ - Gutachter und mit Sonderaufgaben der „T4“ und der Kanzlei des Führers betraut. 22 Vgl. Aussage von Klaus Endruweit vom 18. 6. 1962 und 20. 6. 1962 ( HessHStAW, Abt. 631a, Band 513, S. 5 f. und S. 10). 23 Aussage Ewald Worthmann vom 21. 3. 1962 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Wi–Zz, S. 4).
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dass sich seine Auffassung von Euthanasie als „Hilfe beim Sterben“ nicht mit der Auffassung Nitsches beziehungsweise der Realität in der Tötungsanstalt deckte, „denn dort wurde das Leben verkürzt“,24 wie er 1961 aussagte. Der schockierte Worthmann erwirkte daraufhin beim Medizinischen Leiter Prof. Werner Heyde seine Entlassung aus der „T4“.25
5.
Das nichtärztliche Personal der Tötungsanstalt
In einem bewusst symbolischen Akt pseudomedizinischer Aura waren es die Ärzte, die den Gashahn öffneten und damit den Tötungsvorgang einleiteten. Doch ohne die Tätigkeit des nichtärztlichen Personals wäre der Mord in dieser Dimension sowie ein reibungsloser Ablauf in der „Euthanasie“ - Anstalt unmöglich gewesen. Ein jeder fügte sich wie ein Zahnrad in die Tötungsmaschinerie ein. Nachweislich waren neben den Ärzten mindestens 109 Personen – 79 Männer und 30 Frauen – auf dem Sonnenstein beschäftigt, über die Hälfte von ihnen im Bereich der Transportbegleitung und der Verwaltung.26 Mehr als die Hälfte war jünger als 40 Jahre. Bei 90 Mitarbeitern ließ sich eruieren, in welchen Bereichen sie vorher gearbeitet hatten. Der Großteil des Pflegepersonals wurde vom Sächsischen Innenministerium aus den sächsischen psychiatrischen Landesanstalten zur „Organisation T4“ abgeordnet. Dies lässt auf eine enge Kooperation zwischen der „Organisation T4“ und der Sächsischen Verwaltung schließen. Von den mindestens 60 Sachsen auf dem Sonnenstein wurden 32 zur Transportbegleitung bzw. „Patientenbetreuung“ eingesetzt. Eine höhere regionale Heterogenität wies die Zusammensetzung der Büromitarbeiter und Brenner auf. Abgesehen von einigen Ausnahmen stammten die Angestellten aus verschiedenen Orten in Sachsen, aus Frankfurt / Main und aus Gladbeck in Westfalen. Die Brenner kamen soweit bekannt aus Sachsen (1), Berlin (2) sowie den Reichsgauen Sudetenland (3) und Danzig - Westpreußen (2). Insofern die Dokumente darüber Auskunft gaben, stammte das nichtärztliche Personal, das in der Regel nur über einen Volksschulabschluss verfügte, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ihre Eltern waren meist Handwerker, Angestellte oder Beamte gewesen. 41 Prozent hatten einen Pflegeberuf versehen, 24 Prozent kamen aus der Verwaltung, technische Berufe wurden von 17 Prozent ausgeübt und sechs Prozent stammten aus dem Polizeidienst. Für elf Prozent der 24 Ebd. 25 Vgl. ebd., S. 5. 26 Vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 115–124. Die Angaben zum Aufenthalt in der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein beruhen insbesondere auf Akten des Bundesarchivs Berlin ( NSDAP - Mitgliedskartei und Akten des Rasse - und Siedlungshauptamtes der SS ), des Bundesarchivs, Außenstelle Ludwigsburg („Sammlung Euthanasie“), des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden ( Personalakten im Bestand „Der Reichsstatthalter in Sachsen“) und des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden ( Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Abt. 631a ).
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109 untersuchten Personen ließ sich nicht rekonstruieren, welchen Beruf sie vor ihrer „T4“ - Zeit ausgeübt hatten.27 Die meisten Mitarbeiter scheinen über ein bescheidenes, aber gesichertes Einkommen verfügt zu haben. Der erlernte Beruf dürfte jedoch nicht in jedem Fall für die Rekrutierung ausschlaggebend gewesen sein, da nur für bestimmte Aufgaben Fachkenntnisse erforderlich waren. Vor allem die Begleitung der Patienten während der Transporte und der Aufnahme in der Tötungsanstalt setzte ein Mindestmaß an Berufserfahrung im Umgang mit Kranken voraus, weshalb diese Aufgabe von gelernten Pflegern und Schwestern versehen wurde. Auch für die Führungsposten kam nur qualifiziertes und politisch zuverlässiges Personal in Frage, das mit Ausnahme Gerhard Börners aus dem Polizeidienst stammte. Die sonstigen Aufgaben wurden sowohl von gelerntem als auch ungelerntem Personal ausgeführt. Zum Beispiel arbeitete der aus dem Sudetenland stammende Tischler Gustav Münzberger (1903– 1977), der zunächst beim Bau der Tötungsanlagen eingesetzt gewesen war, als Hilfskoch.28 Und Irmgard Kretzschmar, die bis zum Sommer 1940 Verkäuferin im Pelzkaufhaus Herprich und Söhne in Berlin war und nur mangelhaft auf der Maschine schrieb, führte die Krankenkartei. Ihr wurde jedoch empfohlen, ihre Schreibmaschinenkenntnisse im Laufe ihrer Tätigkeit zu verbessern.29 Besonders die unqualifizierten Mitarbeiter konnten von der „T4“ beliebig ausgetauscht werden, ohne dass die Verantwortlichen in Berlin eine Verzögerung der Mordaktion befürchten mussten. Für Pirna ist kein Fall einer direkten Bewerbung bekannt. Ein großer Teil des nichtärztlichen Personals gelangte über eine Notdienstverpflichtung zur „Organisation T4“. Diese Dienstverpflichtung erreichte die betroffenen Personen meist über das Arbeitsamt, den Arbeitgeber oder die NSDAP - Kreisleitung. Ein Teil der männlichen Mitarbeiter wurde von der SS, der Polizei oder der Wehrmacht zur „T4“ abkommandiert oder notdienstverpflichtet.30 Die Auswahlkriterien der „Organisation T4“ skizzierte der „T4“ - Personalchef Arnold Oels : „In der Regel erfolgte die Einstellung nur durch Fürsprache und Vermittlung höherer Parteidienststellen.“31 Auf Anordnung wurden daher über jeden potentiellen Mitarbeiter Erkundigungen bei den zuständigen NSDAP- Kreisleitungen eingeholt. Oels erinnerte sich nach dem Krieg, dass die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen Voraussetzung gewesen sei, um bei der „T4“ angestellt zu werden.32 Für 61 Sonnensteiner
27 Vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 53. 28 Vgl. Aussage von Gustav Münzberger vom 4. 2. 1963 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Mo–Mz, S. 1). 29 Vgl. Aussage von Irmgard Kretzschmar vom 12. 6. 1961 ( ebd., Ordner Kr–Kz, S. 2). 30 Vgl. Aussage von Irmgard Kretzschmar vom 22. 5. 1962 ( ebd., S. 2); Aussage von Lieselotte Grebe vom 17. 3. 1966 ( HessHStA, Abt. 631a, Band 415c, S. 1); Aussage von Willy Großmann vom 7. 12. 1962 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Gr–Gz, S. 1). 31 Aussage Arnold Oels vom 24. 4. 1961 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Na–Oz). 32 Vgl. Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 2010, S. 220.
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Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein
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Mitarbeiter ließ sich eine Mitgliedschaft in der NSDAP nachweisen, davon waren 28 Prozent bereits vor 1933 oder bis Mai 1933 in die Partei eingetreten, 16 Prozent trotz der 1933 verhängten Mitgliedersperre bis 1937 und 47 Prozent nach der Verabschiedung des „Deutschen Beamtengesetzes“ im Januar 1937, vor allem diejenigen, die in einem Beamtenverhältnis standen. Für zehn Prozent ließ sich zwar eine Mitgliedschaft belegen, allerdings nicht der Zeitpunkt des Eintritts. Mindestens 19 Akteure gehörten der SS an und acht der SA.33 Daneben waren viele Sonnensteiner Mitarbeiter Mitglieder in den Massenorganisationen NS - Volkswohlfahrt und Deutsche Arbeitsfront. Die formale Zugehörigkeit zur NSDAP und insbesondere zu einer ihrer Gliederungen kann jedoch nicht mit einer tiefen ideologischen Überzeugung gleichgesetzt werden. Dies zeigt sich auch bei den weltanschaulichen Einschätzungen einiger Pfleger und Schwestern durch die zuständigen NSDAP - Kreisleitungen wie beispielsweise im Falle von Erhard Gäbler (1888–1948).34 Zwar attestieren sie eine grundlegend positive Einstellung zum NS - Staat, sie vermerken aber auch kein herausgehobenes Engagement für den Nationalsozialismus. Der Pfleger Heinrich Gley erinnerte sich, dass im Dezember 1939 eine „T4“Kommission in seiner Pflegeanstalt erschien und anhand der Personalakten nach zukünftigen Mitarbeitern suchte.35 Gustav Münzberger und Karl Schiffner wurden im Frühjahr 1940 in die SS - Sturmbannkanzlei in Teplitz - Schönau beordert, wo sie zusammen mit anderen einen kurzen Lebenslauf schreiben mussten. Die Kommission, zu der auch der Sonnensteiner Direktor Horst Schumann gehörte, wählte schließlich Münzberger und Schiffner aus.36 Es ist zu vermuten, dass derartige Kommissionen auch anderorts nach Personal suchten.
6.
Die Motive des nichtärztlichen Personals
Die Beweggründe jedes Einzelnen, sich an den Krankenmorden zu beteiligen, waren vermutlich sehr unterschiedlich und mitunter vielschichtig. Während die einen wegen der überdurchschnittlichen Bezahlung, oder um die eigene Karriere voranzubringen, zur „T4“ wechselten, suchten andere nach einer neuen Tätigkeit, die sie mehr befriedigte, sie vor einem Fronteinsatz bewahrte oder 33 Vgl. Scharnetzky, Mitarbeiter Tötungsanstalt, S. 55. 34 Der Pfleger Erhard Gäbler war von 1926–1939 in der Landesanstalt Sonnenstein tätig und seit 1937 Mitglied der NSDAP. In seiner Einschätzung der NSDAP - Ortsgruppe Pirna - Altstadt heißt es über ihn : „Es liegt keinerlei Grund vor, an der nationalsozialistischen Zuverlässigkeit des V[ olks ]g[ enossen ] Erhard Gäbler [...] zu zweifeln. Der deutsche Gruß findet in der Familie jederzeit Anwendung. Seine Opferbereitschaft ist gut.“ – Schreiben der NSDAP - Ortsgruppe Pirna - Altstadt an die Kreisleitung der NSDAP (Personalamt ) mit politischer Beurteilung Erhard Gäblers vom 18. 6. 1937 ( SächsHStAD, RiS, G9, PA Erhard Gäbler, Bl. 44). 35 Vgl. Aussage von Heinrich Gley vom 4. 12. 1962 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Ga–Go, S. 1). 36 Vgl. Aussage von Gustav Münzberger vom 5. 4. 1963 ( ebd., Ordner Mo–Mz, S. 2).
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vor dem Dienst in den Rüstungsfabriken. Aber auch Opportunismus, der Glaube an staatliche Autoritäten und damit verbunden an die Rechtsgültigkeit ihrer Anordnungen kommt als Motiv in Betracht. Sicherlich fehlte manchen auch der Mut, bei den Vorgesetzten nachdrücklich um eine Versetzung zu bitten. Für viele dürfte es eine Kombination verschiedener Gründe gewesen sein. Auch wenn sich die meisten Mitarbeiter vermutlich unter Druck fühlten, die Anstellung bei der „T4“ anzunehmen, gehörte direkter Zwang nicht zur Personalpolitik der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle, die im Übrigen die künftigen Mitarbeiter über den tatsächlichen Zweck der Aktion keinesweg im Unklaren ließ. Diejenigen, die zu Beginn noch Skrupel hatten, fanden sich im Laufe der Zeit mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben ab. Dabei empfanden es viele Angestellte offenbar als psychisch und moralisch entlastend, dass sie mit den Vorgängen der Tötung und Verbrennung nicht unmittelbar konfrontiert waren. So erklärte Gustav Münzberger 1963 in einer Vernehmung : „Mit der Tötung von Kranken habe ich also nichts zu tun gehabt.“37 Auf Grund der aufgefundenen Unterlagen und der bisherigen Forschungserkenntnisse kann davon ausgegangen werden, dass die persönliche Überzeugung von der medizinischen und ökonomischen Dringlichkeit oder Bedeutsamkeit der Krankenmorde für die nichtärztlichen Mitarbeiter nur in Ausnahmen ein entscheidendes Motiv war. Umgekehrt aber schien für fast alle Beteiligten die offensichtliche Unterstützung eines Massenmords keineswegs ein Grund dafür zu sein, sich um die Kündigung zu bemühen oder gar zu protestieren.
7.
Schlussbetrachtung
Auch für die 114 Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein gilt die Einschätzung des Holocaustforschers Harald Welzer, dass „aus ganz normalen Menschen Massenmörder“38 wurden. Ihre Einbindung in die nationalsozialistischen Krankenmorde zeigt, wie erfolgreich das System bei der Instrumentalisierung seiner „Volksgenossen“ war. Ohne das nationalsozialistische Regime wären sie möglicherweise nie kriminell geworden. Keiner von ihnen war vorher für einen Massenmord ausgebildet oder darauf vorbereitet worden. Über spezielle Kenntnisse, vor allem berufliche Qualifikationen, verfügte nur ein Teil der Mitarbeiter. Obwohl die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen sicherlich Voraussetzung für eine Anstellung war, kann für den Großteil des Personals konstatiert werden, dass er sich nicht in erster Linie aus ideologischer Überzeugung an der „Aktion T4“ beteiligte. Ganz im Gegenteil war gemäß der Quellenlage die Zahl der überzeugten „Weltanschauungstäter“ gering – zu dieser Gruppe können unter anderem die Ärzte Horst Schumann 37 Ebd. 38 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 3. Auflage Frankfurt a. M. 2009.
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Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein
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und Kurt Borm gezählt werden. Das Personal setzte sich demnach vor allem aus Befehlsempfängern zusammen. Mehrere Mitarbeiter hatten mit hoher Wahrscheinlichkeit eine radikal - utilitaristische Motivation. Denn die Frage nach der Nützlichkeit von kranken und behinderten Menschen bildete einen zentralen Bestandteil der NS- Propaganda und prägte die Einstellung einer breiteren Bevölkerungsschicht. Letztlich sahen die Mitarbeiter der Tötungsanstalt die Verrichtung ihrer jeweiligen Aufgabe gleichgültig als eine Arbeit an, die erledigt werden musste.
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„Schließlich kamen wir alle [...] aus der Euthanasie.“ Zum personellen Konnex zwischen der „Aktion T4“ und der „Aktion Reinhardt“ am Beispiel des Personals der Tötungsanstalt Sonnenstein Julius Scharnetzky „Wie früher erwähnt, bin ich dann Ende 1941/ Anfang 1942 nach Lublin kommandiert worden. [...] Wir kamen zu einem Polizei - Major [ Christian ] Wirth aus Stuttgart, dem in Sobibor, Belzec und Treblinka Lager zur Vernichtung von Juden unterstanden.“1 Unerwartet freimütig äußerte sich der aus Deutschenbora bei Nossen stammende Paul Rost über seine Beteiligung am Judenmord im Generalgouvernement im Rahmen der 1946 durchgeführten Ermittlungen zum Dresdner „Euthanasie“ - Prozess. Rost war im Mai 1940 als Polizeimeister und Leiter des Transportkommandos in der „Euthanasie“ - Anstalt Sonnenstein bei Pirna angestellt worden. Zwei Jahre später erhielt er die Abkommandierung zur „Aktion Reinhardt“, der Ermordung von etwa 1,35 Millionen Juden hauptsächlich polnischer Herkunft mit Giftgas in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Als Fahrer unterstand ihm auf dem Sonnenstein Werner Becher aus Aue, der später Wirtschaftsfahrer und Aufseher einer Sortierbaracke in Sobibor war. Wie sein einstiger Vorgesetzter machte auch er vor den deutschen und sowjetischen Ermittlern keinen Hehl über seine Beteiligung an der Shoah.2 Zwar geben ihre Aussagen nur wenige Einblicke in den Ablauf und die Strukturen der „Aktion Reinhardt“, der Zweck ihres Einsatzes lag jedoch klar auf der Hand. Fraglich ist allerdings, warum die Ermittler die Brisanz der besagten Aussagen nicht erkannten. Möglicherweise lag es daran, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum Informationen über die drei Vernichtungslager existierten und die deutschen Ermittlungsbehörden auf Grund des Kontroll-
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Aussage Paul Rost vor dem Ermittlungsrichter für das Volksgericht Sachsen vom 4. 6. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 104). Vgl. Auszug und Übersetzung aus dem russischen Protokoll der Vernehmung Werner Bechers, undatiert ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 19 f.); handschriftliches Protokoll der Vernehmung Werner Bechers vom 6. 4. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 67–71).
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ratsgesetzes Nr. 10 in diesem Fall ohnehin nicht hätten aktiv werden dürfen.3 Somit war die Chance verpasst, bereits in der Frühphase der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wertvolle Informationen über die Abläufe in den Lagern und die Kooperation zwischen der „Euthanasie“Zentraldienststelle und der Dienststelle des SS - und Polizeiführers im Distrikt Lublin, Odilo Globocnik, der für die Durchführung der „Aktion Reinhardt“ verantwortlich zeichnete, zu sammeln. Rost und Becher wurden weder für ihre Beteiligung am Krankenmord noch für die Mitwirkung an der „Endlösung“ belangt.4 Die beiden Männer waren aber nicht die einzigen Mitarbeiter der Tötungsanstalt Sonnenstein, die sich ab 1942 an den Gasmorden in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ beteiligten. Von den über hundert Mitarbeitern der Krankenmord - „Organisation T4“ („T4“), die der Dienststelle von Globocnik zur Verfügung gestellt wurden, hatten mindestens 46 dauerhaft oder zeitweise zum Personalbestand der sächsischen „Euthanasie“ - Anstalt gehört. Von diesen stammten wiederum wenigstens 27 aus Sachsen5 – immerhin ein Viertel des gesamten deutschen Lagerpersonals von Belzec, Sobibor und Treblinka. Gemäß der Quellenlage waren sie alle eher zufällig, in jedem Falle aber freiwillig, über Notdienstverpflichtungen oder Empfehlungen von Verwandten und Bekannten zur „T4“ gekommen, respektive von der SS, der Polizei oder der Wehrmacht zur „Euthanasie“ - Zentraldienststelle abkommandiert worden. Für den Krankenmord mussten nur die wenigsten über weitreichende Parteireferenzen beziehungsweise spezielle – technische oder organisatorische – Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügen. Die „T4“ benötigte vielmehr Personal, das in der Lage war, entweder körperlich zu arbeiten oder Bürotätigkeiten und ähnliches aus3
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Auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft konnte 1946 im Rahmen der Ermittlungen zum Hadamar - Prozess die Aussage des „T4“ - Leichenbrenners Josef Hirtreiter nicht deuten, der zu Protokoll gab, seinen Dienst als SS - Wachmann im Lager Malkina bei Warschau versehen zu haben. Erst zwei Jahre später wurde deutlich, dass es sich dabei um das Vernichtungslager Treblinka gehandelt hatte. Hirtreiter wurde daraufhin am 3. 3. 1951 vom Landgericht Frankfurt am Main zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Vgl. Patricia Heberer, Eine Kontinuität der Tötungsoperationen. T4–Täter und die „Aktion Reinhardt“. In : Bogdan Musial ( Hg.), „Aktion Reinhardt“. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004, S. 285–308, hier 285 f. Das Urteil gegen Josef Hirtreiter liegt in edierter Fassung in : Justiz und NS Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966. Hg. von Adelheid Rüter - Ehlermann u. a., Band VIII, Amsterdam 1972, S. 260–303 vor. Erst im Rahmen der bundesdeutschen Prozesse gegen die Angehörigen der „Reinhardt“- Lager in den 1960er Jahren wurde ein Teil des Sonnensteiner „Euthanasie“- Personals, das sich am Judenmord in Polen beteiligt hatte, vernommen und teilweise zu mehrjährigen bis lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt. In der DDR gab es lediglich einen Prozess, der sich dem Tatkomplex widmete – 1949 wurde Fritz Schmidt, einer der „T4“- Chauffeure auf dem Sonnenstein, in Abwesenheit zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Hierbei wurde der Geburtsort berücksichtigt beziehungsweise der letzte Wohnort vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit bei der „T4“, wenn ersterer nicht zu ermitteln war.
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„Schließlich kamen wir alle [...] aus der Euthanasie“
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zuführen. Daher entsprach die Tätigkeit in der Tötungsanstalt nur in den seltensten Fällen dem erlernten oder vorher ausgeübten Beruf.6 Der vorliegende Beitrag beleuchtet den unübersehbaren personellen Konnex zwischen der „Aktion T4“ und der Shoah am Beispiel der Mitarbeiter der „Euthanasie“ - Anstalt Sonnenstein und deren Einsatz in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“. Im Vordergrund steht die Frage, ob die Beteiligung am Krankenmord die Männer in irgendeiner Form für ihre Abkommandierung zum Stabe Globocniks und die Beteiligung am Judenmord qualifizierte. Auf Grund der Fragestellung kann es in diesem Aufsatz nur insofern um Strukturen und Abläufe in den drei betrachteten Vernichtungslagern gehen, wie dies für die Zusammenhänge notwendig erscheint.7
1.
Zur Frage nach dem Erfahrungstransfer von der „Aktion T4“ zur „Aktion Reinhardt“
Bereits nach dem Zusammenbruch der NS - Diktatur hatte viele Zeitgenossen beschäftigt, wie sich Menschen finden ließen, die bereit waren, sich an den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu beteiligen. Auch der Shoah - Überlebende Simon Wiesenthal hatte sich mehrfach mit dieser Thematik auseinandergesetzt, wobei für ihn unter anderem von Interesse war, ob die Wachmannschaften in den Vernichtungslagern vor ihrem Einsatz technisch und psychologisch gedrillt worden waren, um der Belastung in den Todeszentren standhalten zu können. Im Zuge seiner Recherchen zu einem ehemaligen Mitarbeiter der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz war Wiesenthal der personelle Konnex zwischen dem nationalsozialistischen Krankenmord und der „Aktion Reinhardt“ bewusst geworden und er meinte zu verstehen, warum die Wachmannschaften eben dieser Lager fähig waren, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters zu töten.8 „Und dies ist die furchtbare Wahrheit“, so sein Fazit, „[d]ie ‚Euthanasie‘ - Zentren waren regelrechte Schulen für Massenmord. [...] alle waren sie Ausbildungsstätten für Hitlers Völkermordprogramm.“9 In seiner Argumentation bezeichnete er die Mitarbeiter der „Euthanasie“ - Anstalten als handverlesene Sonderkader, die als „Studenten“ ebenjener Einrichtungen eine technische und psychologische Ausbildung für ihre kommende Tätigkeit in den Vernichtungslagern erhielten.10 Bis heute hat sich die Vorstellung halten können, es hätte sich bei den „T4“ Mitarbeitern in den „Reinhardt“ - Lagern um „Experten des Massenmordes“ 6 Siehe dazu den Beitrag von Boris Böhm in diesem Band. 7 Ausführlich zu den Lagern siehe u. a. Wolfgang Benz, Treblinka. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 8, München 2008, S. 407–443; Barbara Distel, Sobibor. In: ebd., S. 375–404; Robert Kuwałek, Bełzec. In : ebd., S. 331–371. 8 Vgl. Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben, München 1967, S. 388–398. 9 Ebd., S. 395. 10 Vgl. ebd., S. 396 f.
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gehandelt. In diesem Zusammenhang tauchen immer wieder Formulierungen auf wie : „[ d ]ie Mörder, die in den Euthanasie - Mordzentren ihr Handwerk gelernt hatten“,11 „eine Gruppe von [ Personal ], die [...] spezielle Fähigkeiten erlernt hatte“,12 „Experten der ‚Euthanasie‘ - Aktion, die schon technische Erfahrungen mit der Vergasung von Patienten in [...] Heilanstalten gemacht hatten“.13 Patricia Heberer kommt zu dem Schluss : „Den wesentlichen Beitrag der ‚Euthanasie‘ - Aktion zur ‚Endlösung‘ leisteten jedoch die ‚T4‘ - Mitarbeiter.“14 In ihren Ausführungen bezeichnet Heberer das „T4“ - Personal als unverzichtbar für das reibungslose Funktionieren der „Aktion Reinhardt“, da sie mit umfassenden Kenntnissen von den Vergasungs - und Leichenverbrennungsverfahren in das besetzte Polen gekommen wären.15 Auf den ersten Blick mag es schlüssig erscheinen, diesen Ausführungen zu folgen und davon auszugehen, dass das zum Stabe Globocnik abgeordnete „T4“Personal „Expertenwissen“ mitbrachte bzw. durch die „Euthanasie“ - Zentraldienststelle handverlesen worden war. Allerdings lassen alle zitierten Autoren weitestgehend offen, was in diesem Kontext überhaupt unter Begriffen wie „Experte“, „lernen“ und „speziellen Fähigkeiten / Kenntnissen“ zu verstehen ist. Ganz allgemein wird von überdurchschnittlichen Qualifikationen zum Töten oder zur Beseitigung von Leichen gesprochen, die den „Experten des Massenmords“ charakterisieren. Allerdings führt es meines Erachtens zu weit, alle „T4“Mitarbeiter in den „Reinhardt“ - Lagern als Spezialisten für den industriellen Massenmord zu bezeichnen, nur weil sie sich an den nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Verbrechen im Rahmen der „Aktion T4“ beteiligt hatten. Denn diese Annahme zieht unweigerlich weitere Fragen nach sich. Warum funktionierte der Massenmord auch dann, wenn kein „T4“ - Personal involviert war – und dass das möglich war, beweisen zahlreiche Studien und Erinnerungsberichte.16 War beispielsweise der Mord im Vernichtungslager Auschwitz Birkenau wegen des Fehlens der personellen Kontinuität zum Krankenmord weniger effektiv als in Belzec, Sobibor und Treblinka ? Was zeichnete die für die 11 12 13
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Henry Friedlander, Der Weg zum NS - Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 60. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, S. 265. Richard Evans, Wie einzigartig war die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten ? In : Günter Morsch / Bertrand Perz ( Hg.), Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, S. 1–10, hier 8. Patricia Heberer, Von der „Aktion T4“ zum Massenmord an den europäischen Juden. Der Transfer des Tötungspersonals. In : Morsch / Perz ( Hg.), Massentötungen durch Giftgas, S. 165–175, hier 166. Vgl. ebd., S. 175. Vgl. dazu u. a. Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve - Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg 1999; Wolfgang Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945, Paderborn 2011; Patrick Desbois, Der vergessene Holocaust : Die Ermordung der ukrainischen Juden. Eine Spurensuche, Berlin 2009.
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„Schließlich kamen wir alle [...] aus der Euthanasie“
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„Aktion Reinhardt“ ausgewählten 107 männlichen „T4“ - Mitarbeiter im Gegensatz zu ihren Kollegen aus, die anstatt in das Generalgouvernement abkommandiert zu werden mit anderen Aufgaben innerhalb der „Organisation T4“ betraut oder entlassen wurden, respektive die Einberufung zur Wehrmacht erhielten ? Nachfolgend soll gezeigt werden, dass die These, die „T4“ - Mitarbeiter seien als „Experten des Massenmords“ in das Generalgouvernement gekommen, relativiert werden muss und nicht für alle Männer gleichermaßen gelten kann. Zwar wird lediglich das Personal der Tötungsanstalt Sonnenstein einer näheren Untersuchung unterzogen, jedoch dürften die gezogenen Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund der weitestgehend identischen Abläufe und Tätigkeitsbereiche in den einzelnen „Euthanasie“ - Anstalten auch auf „T4“ - Personal zutreffen, das nicht auf dem Sonnenstein eingesetzt war.
2.
Die Tötungsanstalt Sonnenstein – eine „Schule des Massenmords“ ?
Der Einsatz der männlichen „T4“ - Mitarbeiter im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ erfolgte ab Anfang 1942, und damit nach der Einstellung der „Aktion T4“ am 24. August 1941.17 Zu diesem Zeitpunkt gingen die Verantwortlichen in der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle noch davon aus, der Krankenmord im Rahmen der „Aktion T4“ könnte nach dem „Endsieg“ wieder aufgenommen werden – daher blieben die Tötungsapparate vorerst betriebsbereit. Viktor Brack, Leiter des Hauptamtes II in der Kanzlei des Führers ( KdF ), sagte diesbezüglich im Rahmen der Ermittlungen zum Nürnberger Ärzteprozess aus : „Im Jahre 1941 erhielt ich den mündlichen Befehl, das Euthanasie - Programm einzustellen. [...] Um das durch die Einstellung freigewordene Personal zu erhalten und um die Möglichkeit zu haben, nach dem Krieg ein neues Euthanasie - Programm in die Wege zu leiten, forderte mich Bouhler18 nach einer Konferenz mit Himmler – wie ich glaube – auf, dieses Personal nach Lublin abzustellen, zur
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Insgesamt gab es drei Zeitpunkte, an denen „T4“ - Personal zum Stabe Globocniks entsendet wurde : (1.) Anfang 1942, (2.) Frühjahr 1942 und (3.) Sommer 1942. Auf Grund der Quellenlage ist es schwer nachzuvollziehen, wann die Sonnensteiner „T4“ Mitarbeiter im Generalgouvernement eintrafen. Hinweise lassen jedoch vermuten, dass ihre Kommandierung vor allem im Frühjahr und Sommer 1942 erfolgte. Vgl. u. a. die Aussage von Paul Rost vor dem Ermittlungsrichter für das Volksgericht Sachsen vom 4. 6. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 104); Aussage von Kurt Bolender vom 5. 6. 1961 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 252/59, Band 7, S. 4); Aussage von Gustav Münzberger vom 31. 3. 1960 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Mi - Mz, S. 1). 18 Reichsleiter Philipp Bouhler wurde 1934 zum Chef der Kanzlei des Führers ernannt und war in dieser Funktion ab 1939 einer der Hauptverantwortlichen für den nationalsozialistischen Krankenmord. Vgl. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 67 f.
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Verfügung des Brigadeführers Globocnik.“19 Es lag somit im Interesse der „T4“Verantwortlichen, neue Aufgabenfelder für ihr Personal zu erschließen, um dieses weiterhin als Gruppe zusammenhalten zu können. Für einige Mitarbeiter ließen sich innerhalb der „T4“ Einsatzbereiche finden, beispielsweise bei der Abwicklung des Krankenmords in der Berliner Zentraldienststelle, in den „Kinderfach - “ und „T4“ - Forschungsabteilungen oder bei der Ermordung von arbeitsunfähigen Konzentrationslagerhäftlingen in den „Euthanasie“ - Anstalten Bernburg und Hartheim. In der Regel betraf dies jedoch lediglich den Teil der Angestellten, der über die für diese Aufgaben notwendigen medizinischen oder verwaltungstechnischen Kenntnisse verfügte. Was sollte jedoch mit den zahlreichen Leichenbrennern, Polizisten, Handwerkern, Busfahrern, etc. geschehen, die ohne Beschäftigung blieben ? Es ist zu vermuten, dass ebenjenen Männern der Einsatz im Stabe Globocniks angeboten wurde. Bereits der Vergleich der Tätigkeitsbereiche der Männer in den Tötungsanstalten mit denen in den Vernichtungslagern macht deutlich, dass nur in den wenigsten Fällen vom Transfer fachlicher Qualifikationen gesprochen werden kann. Immerhin waren nicht sie es, die die Vergasungs - und Verbrennungstechnologie entwickelt hatten. Ausnahmen bilden die Kommandanten der Lager, unter ihnen der Kriminalobersekretär Gottlieb Hering, zeitweise Leiter des Sonderstandesamtes auf dem Sonnenstein, und der „T4“ - Maurer Erwin Lambert, der neben der Sonnensteiner Gaskammer auch die Tötungsanlagen in Sobibor und Treblinka errichtete. Sie kamen wegen ihrer Führungskompetenzen beziehungsweise ihrer technischen Fähigkeiten zur „Aktion Reinhardt“.20 Eine gewisse Ähnlichkeit der Einsatzbereiche lässt sich auch bei Karl Schiffner erkennen, der als Tischler Reparaturarbeiten auf dem Sonnenstein ausführte und in Treblinka ein Tischlerkommando beaufsichtigte.21 Oberpfleger Heinrich Gley überwachte später in Belzec unter anderem die Entkleidung der Opfer, wie er dies auf dem Sonnenstein und in Grafeneck getan hatte.22 Die zwei ehemaligen „T4“ - Chauffeure Fritz Schmidt – gelernter Krankenpfleger – und Lorenz Hackenholt bedienten in Treblinka beziehungsweise Belzec die Motoren zur Vergasung der Opfer.23 Kurt Bolender, einer der Sonnensteiner „Desinfekteure“, teilte im 19 Übersetzung aus dem Englischen der Eidesstattlichen Erklärung Viktor Bracks vom 14. 10. 1946. Dieses Dokument ist im Rahmen des Nuremberg Trials Project der Harvard Law School Library online abrufbar. ( http ://nuremberg.law.harvard.edu [Stand: 26. 1. 2012]). 20 Lambert hielt sich allerdings nur für die Zeit der Errichtung der Gaskammern in den Lagern auf. In andere Abläufe im Lager war er nicht eingebunden. Vgl. das Urteil des Landgerichts Düsseldorf im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965. In : Rüter Ehlermann, Justiz und NS - Verbrechen, Band XXII, S. 160–164. 21 Vgl. Aussage von Karl Schiffner vom 19. 6. 1962 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner Sche - Schqu, S. 5). 22 Vgl. Aussage von Heinrich Gley 24. 11. 1961 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 8, S. 18–20). 23 Vgl. Aussage von Arthur Matthes vom 29. 3. 1962 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 10,
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Lager III in Sobibor, dem sogenannten „Totenlager“,24 die Sonderkommandos ein, die nun an seiner Stelle die Leichen schleppen mussten.25 Zur Ausübung ihrer Tätigkeiten hätten sie alle jedoch vorher nicht in den „Euthanasie“ - Anstalten eingesetzt werden müssen. Doch gehen wir einen Moment davon aus, dass sie mit diesen Arbeiten betraut wurden, weil sie denen in der Tötungsanstalt Sonnenstein glichen. Inwiefern hatten sich dann die restlichen Sonnensteiner „T4“ - Mitarbeiter für ihren Einsatz in den Vernichtungslagern qualifiziert ? Weshalb war beispielsweise die Wahl auf die Krankenpfleger Arthur Matthes und Otto Horn gefallen, die beide erst nach der Einstellung der Krankenmorde ihren Dienst bei der „T4“ antraten. Da ihre Anwesenheit auf dem Sonnenstein überflüssig geworden war, wurden sie bis zu ihrer Kommandierung in das Generalgouvernement für Abwicklungsarbeiten in der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle eingesetzt.26 Horn, der in Berlin Akten sortiert hatte, führte in Treblinka die Aufsicht über ein Arbeitskommando an den Verbrennungsrosten.27 Während er einen niedrigen Posten bekleidete, hatte der mit dem Massenmord ebenfalls unerfahrene Matthes die Führung über das „Totenlager“ und sorgte mit brachialer Gewalt für eine schnellstmögliche Abfertigung der ankommenden Transporte. Die beiden Männer waren aus dem Kreis aller „T4“ - Mitarbeiter im Generalgouvernement nicht die einzigen, die lediglich in der Zentraldienststelle in Berlin tätig gewesen waren und nie in den „T4“ - Tötungsanstalten – ein Fakt, der sie als „Experten des Massenmords“ eigentlich disqualifizierte.28
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S. 5); Personalakte von Fritz Schmidt ( SächsHStAD, Der Reichsstatthalter in Sachsen, Personalakten, Sch 241). Bei den „Totenlagern“ handelte es sich um den Bereich des Vernichtungslagers, in dem sich die Gaskammern, die Massengräber bzw. später die Roste zur Verbrennung der Leichen sowie die Unterkünfte für die Sonderkommandos befanden. Dieser Lagerkomplex war durch einen Zaun vom restlichen Lager abgetrennt. Vgl. Aussage von Kurt Bolender vom 21. 12. 1961 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 5, S. 2). Bei beiden wurde im Winter 1941/1942 die Tätigkeit in der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle durch den Einsatz im Rahmen des sogenannten „O.T.“ - Einsatzes, der Bergung von verwundeten deutschen Soldaten an der Ostfront, an dem eine größere Zahl von „T4“- Mitarbeitern teilnahm, unterbrochen. Vgl. Aussage von Aussage von Arthur Matthes vom 29. 3. 1962 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 10, S. 3); Aussage von Otto Horn vom 9. 1. 1963 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 9, S. 3). Er ist einer der wenigen, von denen überliefert ist, dass er die Vernichtungsaktion zumindest aus moralischer Sicht abgelehnt haben will. Auch legte Horn gegenüber den jüdischen Arbeitshäftlingen kein grausames Verhalten an den Tag und versuchte zu helfen, wenn er konnte; ein Sachverhalt, der von mehreren Überlebenden bezeugt wird. Vgl. das Urteil des Landgerichts Düsseldorf im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965, S. 170; Gitta Sereny, Am Abgrund : Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, 2. Auflage München 1995, S. 230. Vgl. zu Matthes das Urteil des Landgerichts München im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965, S. 97–120.
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Der 1903 im sächsischen Planitz geborene Friedrich Tauscher, auf dem Sonnenstein als stellvertretender Büroleiter eingesetzt, war in Belzec für die Exhumierung der Massengräber verantwortlich.29 Auch Kurt Franz, einer der berüchtigtsten SS - Männer in Treblinka, kann nicht nachgesagt werden, dass er sich als Koch während des Krankenmords eine herausgehobene Stellung erarbeitet hätte. In Treblinka herrschte er als Sadist und war stets bemüht, den Mordprozess zu effektivieren.30 Seine Position als stellvertretender und danach letzter Kommandant von Treblinka resultierte aus seiner Brutalität und Menschenverachtung. Das Morden als Tätigkeit hatten die Sonnensteiner „T4“ Mitarbeiter also nicht in den Tötungsanstalten gelernt. Abgesehen von den Transportbegleitern und den Leichenbrennern waren sie nur punktuell respektive überhaupt nicht mit den Opfern der Krankenmorde in Kontakt gekommen. Wenn sie etwas auf dem Sonnenstein gelernt hatten, dann war es, den Mord als Alltäglichkeit anzusehen und mit den Geräuschen der Tötungsmaschinerie vertraut zu sein. Allerdings führt es zu weit, anzunehmen, dass die Beteiligung am Mord in den „Euthanasie“ - Anstalten die Männer per se auf den Einsatz im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ hätte vorbreiten können. Oberflächlich betrachtet, ähneln sich die Abläufe des Massenmords – dies liegt vor allem am Transfer der Tötungstechnologie –, jedoch waren die Männer in den „Reinhardt“ - Lagern deutlich stärker in das Morden, das im gesamten Lagergelände stattfand, eingebunden und damit unmittelbarer mit dem Tod konfrontiert. Auch wenn Hitler sich geweigert hatte, den Krankenmord juristisch regeln zu lassen, wurde bei „T4“ darauf geachtet, dass bestimmte Grenzen nicht überschritten wurden. So ist beispielsweise nicht überliefert, dass die Opfer vor ihrer Ermordung Quälereien ausgesetzt waren, wie dies in den Vernichtungslagern der Fall gewesen ist. Auf die Bereicherung am Besitz der ermordeten Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen standen harte Strafen.31 Im rechtsfreien Raum der Vernichtungslager existierten derlei Begrenzungen nicht, so dass es zu einer Radikalisierung der Handlungen kam. Deshalb stellte sich für Philipp Bouhler die Frage, ob das „T4“ - Personal im Anschluss an die „Aktion Reinhardt“ überhaupt noch für den Krankenmord verwendbar sei.32 Außerdem nahmen die 29 Vgl. Aussage von Fritz ( Friedrich ) Tauscher vom 18. 12. 1963 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 9, S. 2 f.). 30 So entwickelte er den sogenannten Treblinka - Schnitt, mit dem den Frauen mit fünf Schnitten das Haar geschoren werden konnte. Außerdem bestimmte er, dass die Opfer in die Gaskammer getrieben werden sollten, da sie mit geweiteten Lungen schneller starben. Vgl. Jean - Francoise Steiner, Treblinka. Die Revolte eines Vernichtungslagers, Berlin 1994, S. 174–176. 31 Vgl. Anette Hinz - Wessels / Petra Fuchs / Gerrit Hohendorf / Maike Rotzoll, Zur bürokratischen Abwicklung eines Massenmords – die nationalsozialistische „Euthanasie“ Aktion im Spiegel neuer Dokumente. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53 (2005), S. 79–107, hier 83–85. 32 Vgl. Friedlander, NS - Genozid, S. 470.
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Ausmaße der „Aktion Reinhardt“ eine andere Dimension an. In den Vernichtungslagern war es möglich, innerhalb von zwei bis drei Tagen so viele Menschen zu ermorden wie auf dem Sonnenstein innerhalb von 14 Monaten. Dass einige der Männer mit ihrem neuen Aufgabenbereich zum Teil überfordert waren, zeigt eine Aussage von Franciszek Zabecki, Vorsteher des zivilen Bahnhofes im Ort Treblinka, über den ersten Transport. Laut Zabecki zeigte sich sowohl das deutsche Lagerpersonal als auch die restliche Wachmannschaft überaus nervös, angespannt und mit dem Lärm und dem Weinen der 5 000 Menschen in den Wagons überfordert.33 Bereits einen Monat nach Beginn der Morde war das System Treblinka zusammengebrochen, da die Kapazitäten des Mordapparates nicht ausreichend waren, aber auch die Lagermannschaft, allen voran der Kommandant Irmfried Eberl, nicht in der Lage gewesen war, die ankommenden Transporte abzufertigen.34 Eberl wurde daraufhin von Wirth, mittlerweile Inspekteur der Vernichtungslager, durch den Kommandanten von Sobibor, Franz Stangl, ersetzt. Für Stangl war Treblinka das real gewordene Inferno Dantes. Er berichtet von tausenden verwesender Leichen sowie Geld und Kleidung, in denen er bis zu den Knien auf dem Sortierplatz stand.35 Bis zur Ankunft des neuen Kommandanten reorganisierte Wirth den Lagerbetrieb, vereinfachte und mechanisierte die Tötungsabläufe.36 An dieser Stelle sowie beim Ausbau der Vernichtungsanlagen in den drei „Reinhardt“ - Lagern ab Sommer 1942 lässt sich ein Transfer von technischem Knowhow durch die deutschen Aufseher zwischen den Lagern feststellen. Dieser resultierte jedoch daraus, dass sich das Morden in den Vernichtungslagern bereits eingespielt hatte.37
3.
Motivlagen verschiedener Akteure
Da die fachliche Qualifikation somit nicht als ausreichende Begründung gelten kann, warum gerade jene „T4“ - Angehörigen zum Lagerpersonal der drei Vernichtungslager zählten, müssen weiterführende Überlegungen – besonders zu den Motiven verschiedener Akteure – angestellt werden. Wie bereits erwähnt, lag es im Interesse der KdF, einen möglichst großen Teil des Personals als Gruppe für die Wiederaufnahme des Krankenmords zusammen zu halten. Brack war deshalb unter anderem bemüht, die KdF in Bezug auf den Judenmord bei Heinrich Himmler ins Spiel zu bringen – allerdings lässt sich bislang der 33 Vgl. Benz, Treblinka, S. 414 f. 34 Trotz allem starben innerhalb dieser Zeit 230 000 Menschen in Treblinka bzw. während der Transporte. Vgl. Benz, Treblinka, S. 418 f. 35 Vgl. Jacek A. Młynarczyk, Treblinka – Ein Todeslager der „Aktion Reinhardt“. In : Bogdan Musial ( Hg.), „Aktion Reinhardt“. Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941–1944, Osnabrück 2004, S. 257–281, hier 264. 36 Vgl. ebd., S. 258 f. 37 Vgl. Benz, Treblinka, S. 408; Distel, Sobibor, S. 382.
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Zeitpunkt nicht klären. So bezeugt ein Briefentwurf, der sogenannte „Gaskammerbrief“, von Dr. Ernst Wetzel, rassenpolitischer Dezernent des Ministeriums für die besetzten Ostgebiete vom 25. Oktober 1941, dass Brack Adolf Eichmann überzeugen konnte, arbeitsunfähige Juden im Raum Riga in Gaskammern umzubringen.38 Brack wollte dabei nicht nur das technische Knowhow liefern, sondern bot überdies an, dass seine Mitarbeiter den Aufbau der Vernichtungsanlagen übernehmen könnten. Über eine weitere Beteiligung an Morden scheint gemäß dem Brief noch nicht gesprochen worden zu sein.39 Obwohl sein Angebot in dieser Form nicht umgesetzt wurde, ließ er nicht locker. Bei einem Treffen mit Himmler am 14. Dezember 1941 plädierte er abermals für den Einsatz von Giftgas zur „Endlösung der Judenfrage“ im Osten. Möglicherweise war bei dieser Unterredung auch die Abkommandierung von „T4“ - Personal zum Stabe Globocniks besprochen worden.40 Für diese Annahme spricht, dass Wirth noch im Dezember 1941 im Distrikt Lublin eintraf.41 Durch die Kooperation mit Himmler hatte die KdF für jenes „T4“ - Personal, für das es intern keine Verwendung gab, ein neues Tätigkeitsfeld erschlossen. Die Männer blieben während ihres Einsatzes in Polen Mitarbeiter der „T4“, die sämtliche Personalangelegenheiten regelte. Wer noch keinen Militärdienst abgeleistet hatte, musste an einer zweiwöchigen Schulung im Ausbildungslager Trawniki teilnehmen. Außerdem wurden alle Männer nominelle Mitglieder der SS, wenigstens im Rang eines SS - Unterscharführers.42 Ausschlaggebend für die Kooperation dürfte jedoch nicht nur Pragmatismus in Bezug auf die Wiederaufnahme des Krankenmords gewesen sein. Mit der Einstellung der „T4“ hatte die KdF einen herben Kompetenz - und Machtverlust erlitten. Gleichzeitig war es Martin Bormann gelungen, sowohl seine Stellung
38 Der von Wetzel verfasste Briefentwurf an den Reichskommissar für das Ostland, Hinrich Lohse, berichtet von einer Zusammenkunft zwischen Brack und Eichmann. Abgesehen vom Ergebnis, der Einigung, dass arbeitsunfähige Juden in Gaskammern ermordet werden sollten, ist über dieses Treffen nichts bekannt. Vgl. den Briefentwurf von Alfred Wetzel an Hinrich Lohse vom 25. 10. 1941, abgedruckt in Jochen Christoph Kaiser / Kurt Nowak / Michael Schwarz ( Hg.), Eugenik Sterilisation „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. 277. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. Peter Witte u. a. ( Bearb.), Dienstkalender Heinrich Himmlers aus den Jahren 1941/42, Hamburg 1999, S. 290 ( Eintrag vom 14. 12. 1941). 41 Wie genau die Kooperation zwischen der KdF und dem Reichssicherheitshauptamt beziehungsweise der Dienststelle von Globocnik zustande kam, muss auf Grund der Quellenlage bislang noch im Dunkeln bleiben. Vgl. Friedlander, NS - Genozid, S. 469; Heberer, Eine Kontinuität der Tötungsoperationen, S. 294. Zum Einsatz von Wirth siehe Volker Rieß, Christian Wirth. Der Inspekteur der Vernichtungslager. In : Klaus Michael Mallmann / Gerhard Paul ( Hg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, 2. Auflage Darmstadt 2005, S. 239–251, hier 244. 42 Auf Grund dieser Regelung führte die „T4“ sämtliche Personalunterlagen. Diese wiederum müssen als Kriegsverlust angesehen werden. Vgl. Heberer, Eine Kontinuität der Tötungsoperationen, S. 295.
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als auch die der Partei - Kanzlei auszubauen. Bormann machte der Privatkanzlei Hitlers klar, dass diese nur für ausgewählte Fragen zuständig sei.43 Es bleibt noch zu fragen, welche Motive die Männer hatten, die sich für die „Aktion Reinhardt“ entschieden. Wie bei der Rekrutierung für den Krankenmord übten die Vorgesetzten keinen direkten Druck aus, um die Beteiligung zu erzwingen. Vielmehr gelang es, Zweifler mit Zugeständnissen zu ködern. Werner Becher will nach eigener Aussage das Angebot zunächst ausgeschlagen haben, woraufhin ihm Mitarbeiter der „T4“ - Personalabteilung anboten, dass er lediglich als Wirtschaftsfahrer tätig sein müsste – eine Offerte, die Becher annahm.44 Dem Sonnensteiner Arzt Kurt Borm wurde ebenfalls angetragen, sich am Judenmord zu beteiligen. Er lehnte jedoch ab und war stattdessen als Assistent des medizinischen Leiters der „T4“ tätig.45 Ob sich einige Männer gezwungen fühlten und weitreichende Konsequenzen im Falle einer Verweigerung befürchteten, obwohl diese nie offen kommuniziert wurden, kann nur vermutet werden.46 Auch lässt sich auf Grundlage der Quellen kaum sagen, welche Rolle ideologische Überzeugungen für die Tatbereitschaft gespielt haben. Außer Frage dürfte jedoch stehen, dass sich die „nationalsozialistische Moral“ bei vielen Deutschen in einer Art manifestiert hatte, die keinen Zweifel an der Existenz von verschiedenwertigen Rassen zuließ, mit denen die Deutschen als „Herrenrasse“ nach Belieben verfahren konnten. Diese Veränderung im Denken dürfte die Bereitschaft zu töten, zumal der Mord als staatliche Notwendigkeit legitimiert wurde und im Rahmen eines Krieges stattfand, erhöht haben. Wie stark sich diese normative Hintergrundüberzeugung bei jedem Einzelnen der betrachteten Männer ausgeprägt hatte, lässt sich nicht rekonstruieren.47 Einer tiefverwurzelten ideologischen Haltung der Männer kommt dies allerdings nicht gleich und bereitete sie auch nicht auf das Töten vor. In Verbindung mit dem Hinweis, die Anweisung zum Mord käme von allerhöchster Stelle, erklärt es eher, warum einige den Mord zwar aus moralischer Sicht abgelehnt haben wollen, jedoch 43 Bereits im Sommer 1939 war es zu Kompetenzrangeleien zwischen Bormann und der KdF gekommen. Eigentlich sollte Bormann mit der Planung und Durchführung des Mords an erwachsenen Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen beauftragt werden. Als Bouhler, der bereits für die „Kindereuthanasie“ verantwortlich war, davon erfuhr, konnte er erfolgreich bei Hitler gegen diese Entscheidung intervenieren und den Krankenmord als Kompetenzbereich der KdF sichern. Vgl. Friedlander, NS- Genozid, S. 119. Hans - Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 2. Auflage Göttingen 1992, S. 211 f. 44 Vgl. handschriftliches Protokoll der Vernehmung Werner Bechers vom 6. 4. 1946 (Sächs HStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 67). 45 Vgl. Aussage von Kurt Borm vom 22. 6. 1962 ( HessHStAW, Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Abt. 631a, Band 512, S. 30 f.). 46 Siehe dazu exemplarisch Otto Horn und Johannes Eisold. Vgl. Urteil des Landgerichts München im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965, S. 170. 47 Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 3. Auflage Frankfurt a. M. 2009, S. 106 f.
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nicht aus rechtlicher – so zum Beispiel Johannes Eisold und Otto Horn. Exzesstätern wie Kurt Franz und Arthur Matthes48 dürfte der Antisemitismus der Nationalsozialisten weniger als Ursache für ihre Brutalität und Menschenverachtung gedient haben, denn als Legitimationsgrundlage. Von den 46 untersuchten Männern vom Sonnenstein gehörten 36 der NSDAP an – 16 waren bis Mai 1933 Mitglied geworden. Unter Ihnen waren zwölf SS - und sechs SA - Mitglieder. Eine Ursache für die Tatbereitschaft konnten diese Mitgliedschaften allerdings nur bedingt sein. Da die vorhergehenden Ausführungen keine ausreichenden Erklärungsansätze liefern, müssen noch Überlegungen zu individuellen Beweggründen angestellt werden. Auf Grund der Annahme, dass der Großteil über keine Fähigkeiten verfügte, die gerade gebraucht wurden, dürfte ein Motiv die Angst vor Entlassung gewesen sein, die in den meisten Fällen den Kriegseinsatz nach sich gezogen hätte. Gestützt wird diese Vermutung durch eine Aussage des „T4“ - Personalmitarbeiters Arnold Oels : „[ Es war ] im Allgemeinen so, dass das ‚T4‘ - Personal lieber bei der ‚T4‘ bleiben wollte, statt zur Truppe zu gehen.“49 Mit Fronteinsatz soll Franz Suchomel, Fotograf in der Tötungsanstalt Hadamar und der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle, gedroht worden sein, als dieser seine Mitwirkung verweigern wollte. Suchomel zog daraufhin den Judenmord vor.50 Otto Horn und Arthur Matthes musste diese Option wahrscheinlich gar nicht erst vor Augen geführt werden, da sie vor ihrer Anstellung bei der „T4“ als Soldaten an verschiedenen Feldzügen teilgenommen hatten.51 Die Angst vor einem möglichen Fronteinsatz scheint die Männer auch während ihrer Zeit in den Vernichtungslagern beherrscht zu haben. Richard Glazar, einer der wenigen Überlebenden Treblinkas, erwähnte im Gespräch mit Gitta Sereny die Unruhe, welche die SS - Aufseher im Frühjahr 1943 befiel, als die Zahl der eintreffenden Transporte abnahm und diese umso mehr bestrebt waren, den Lagerbetrieb aufrecht zu erhalten, um ihre Anwesenheit rechtfertigen zu können.52 Mit einer Entlassung wäre zudem auch der Verlust der überdurchschnittlichen Bezahlung sowie einer Reihe weiterer Privilegien verbunden gewesen. Unter Berücksichtigung des Dienstgrades erhielten die „T4“ - Mitarbeiter im Stabe Globocniks den üblichen Wehrsold sowie eine Tageszulage in Höhe von
48 Für die Vielzahl an Verbrechen, die sie im Rahmen des Judenmords begangen haben bzw. begangen haben sollen, siehe das Urteil des Landgerichts Düsseldorf im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965. 49 Aussage von Arnold Oels vom 20. 1. 1961 ( BA - L, „Sammlung Euthanasie“, Ordner NAOz, S. 5). 50 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Band 2, S. 358. 51 Vgl. Aussage von Otto Horn vom 9. 1. 1963 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 9, S. 1); Aussage von Arthur Matthes vom 4. 7. 1962 ( BA - L, Sammlung von Akten zu Prozessen gegen Beteiligte an der „Aktion Reinhardt“, 208 AR - Z 251/59, Band 7, S. 2) 52 Vgl. Sereny, Am Abgrund, S. 260.
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18 Reichsmark.53 Als Mitglied der „Aktion Reinhardt“ gestattete ihnen ihr Arbeitgeber alle zwölf Wochen einen dreiwöchigen Urlaub, den sie entweder zu Hause oder mit ihren Frauen im „T4“ - Erholungsheim am Attersee verleben konnten. Es wurde außerdem geduldet, wenn sich die Wachmannschaften am Besitz der ermordeten Juden bereicherten. So konnte die Kreispolizei Pirna 1946 im Haus von Walter Nowak, in Sobibor Aufseher im „Totenlager“, mehrere geraubte Uhren und Preziosen aus Gold sicherstellen.54 „Während er früher als Krankenpfleger und Erzieher Weisungen von seinen Vorgesetzten [...] entgegennehmen und befolgen musste, hatte er als Führer des oberen Lagers eine kaum vorstellbare Machtstellung inne, die ihm ein erhöhtes Selbstbewusstsein verschaffte. Konnte er doch Hunderten von Häftlingen Befehle erteilen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Für ihn war das die beste Gelegenheit, unterdrückte Minderwertigkeitskomplexe auf eine äußerst wirkungsvolle Art und Weise abzureagieren.“55 Zu diesem Urteil kam das Landgericht Düsseldorf 1965 über Arthur Matthes in seiner Funktion als Chef des Treblinkaer „Totenlagers“. Ähnlich äußerte sich der Sohn von Gustav Münzberger über seinen Vater und dessen Tätigkeit in Treblinka, wo er seinen Dienst am Eingang zu den Gaskammern versah : „Zu Hause im Sudetenland war mein Vater [...] ein Tischler, weder ein sehr guter noch ein schlechter. Aber ich kann mich erinnern, wie er diese schwarze SS - Uniform bekam : Da begann er, nehme ich an, sich als jemand Besonderes zu fühlen, statt halt irgendjemand. Und dann in Treblinka [...] es ist doch unfassbar, was er plötzlich war und hatte.“56 Die Anstellung bei der „Organisation T4“ gab wahrscheinlich nicht nur Matthes und Münzberger das Gefühl, bedeutend zu sein und im Dienste einer staatlichen Notwendigkeit zu stehen. Der Großteil des deutschen Lagerpersonals – da war das Sonnensteiner keine Ausnahme – stammte aus einfachen, aber stabilen kleinbürgerlichen Verhältnissen, übte alltägliche Berufe aus und führte ein unauffälliges Leben, in das die meisten nach dem Krieg zurückkehrten. Keiner von ihnen sollte nach 1945 wieder eine Stellung mit vergleichbarem Status erreichen. Ohne die Mitwirkung am staatlich organisierten Mord wären sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nie auffällig geworden, doch so bot sich die Möglichkeit, sich vom Durchschnitt abzuheben. Für viele muss die Zugehörigkeit zu einer „geheimen Reichssache“ einer Nobilitierung der eigenen Person 53 Vgl. Urteil des Landgerichts München gegen Josef Oberhauser vom 21. 1. 1965. In : Rüter- Ehlermann, Justiz und NS - Verbrechen, Band XX, S. 633. 54 Die Erinnerungsberichte sind voll mit Erzählungen darüber, wie mit dem geraubten Besitz geschachert wurde. Vgl. u. a. Richard Glazar, Die Falle mit dem Grünen Zaun. Überleben in Treblinka, 4. Auflage Frankfurt a. M. 1998; Jules Schelvis, Vernichtungslager Sobibor, Berlin 1998. Ein Schifferklavier aus Sobibor hatte Frau Nowak bereits zum Preis von 1 250 RM veräußert. Vgl. Notiz der Kreispolizei Pirna über die Hausdurchsuchung bei Familie Nowak vom 6. 3. 1946 ( SächsHStAD, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden 11120, 2526, Bl. 129). 55 Urteil des Landgerichts Düsseldorf im zweiten Treblinka - Prozess vom 9. 3. 1965, S. 105. 56 Aussage von Horst Münzberger im Gespräch mit Gitta Sereny in : Sereny, Am Abgrund, S. 263.
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gleichgekommen sein. Beispielsweise hatte Kurt Franz seine Lehre als Koch nicht beendet – in Treblinka war er der letzte Lagerkommandant und wurde 1943 auf Weisung Himmlers zum Untersturmführer der Waffen - SS befördert.57 In einem anderen politischen System wäre ihm ein derartiger sozialer Aufstieg vermutlich verwehrt geblieben. Ungeachtet dessen, dass sich die Männer bei ihrer Anwerbung für die „Aktion Reinhardt“ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht darüber im Klaren waren, welche Machtfülle sie in den Lagern erhalten würden – so waren ihre Handlungen an keine rechtlichen Grenzen gebunden und blieben in jedem Fall unsanktioniert –, hätte eine Entlassung von der „T4“ für die meisten die Rückkehr in die Alltäglichkeit bedeutet und damit die Aufgabe ihrer kurz zuvor gewonnenen „Bedeutung“. Der Treblinka - Überlebende Jean - Francois Steiner urteilte diesbezüglich treffend über Kurt Franz : „Zog er Zivil an, [...], so war er plötzlich wieder Herr Jedermann, den Nazi - Deutschland in Millionen Exemplaren hervorgebracht hatte. Groß, blond, farblos, mit leeren Augen, mit nichtssagendem Gesicht, einen grünen Hut auf dem Kopf [...] war Herr Kurt Franz ganz und gar nicht imposant. Glanzlos, unbedeutend tauchte er im Alltagsleben unter. Doch sobald Kurt Franz nach Treblinka, sein Königreich [...], zurückkam, war er sofort wieder [...] der Fürst des Todes.“58
4.
Fazit
Weder können die „Euthanasie“ - Anstalten als „Schulen des Massenmords“ bezeichnet werden, noch die „T4“ - Mitarbeiter als „Experten des Massenmords“. Nach der Einstellung der „Aktion T4“ ging es der „Euthanasie“ - Zentraldienststelle vor allem darum, ihr Personal und ihren Einfluss halten zu können. Zugleich lag es im Interesse der männlichen „T4“ - Angestellten, die sich auf einmal ohne Aufgabe wiederfanden, nicht entlassen zu werden. Ihre Versetzung zum Stabe Globocniks schien die Probleme beider Parteien zu lösen. Die Ermordung der Juden in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ hätte allerdings auch ohne die Beteiligung des „T4“ - Personals durchgeführt werden können beziehungsweise sie verlief nicht reibungsloser, nur weil dieses beteiligt war. Der industrielle Massenmord in den Vernichtungslagern bedurfte wie der Krankenmord keiner speziellen Eignungen. Dies wird vor allem daran deutlich, dass die Arbeiten der Männer in den Vernichtungslagern in der Regel von denen in den Tötungsanstalten abwichen. Somit waren die einzigen Qualifikationen, die die Männer in das Generalgouvernement mitbrachten, die Vertrautheit mit dem Mord, sowie das Wissen der „T4“, dass sie schweigen würden und damit verlässlich waren. Jedoch zeigen verschiedene Berichte – hierbei sei an die Anfangsphase in Treblinka erinnert –, dass einige der Männer mit ihrer neuen 57 Vgl. Urteil des zweiten Treblinka Prozesses vom 9. 3. 1965, S. 48. 58 Steiner, Treblinka. Die Revolte, S. 185.
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Aufgabe überfordert waren. Die Beteiligung am Krankenmord konnte die „T4“Mitarbeiter nicht darauf vorbereiten, was sie in den Vernichtungslagern erwarten würde. Dass sie letztendlich doch alle im Sinne der an sie gestellten Erwartungen funktionierten, war nicht die Ursache für ihre Auswahl durch die „T4“ gewesen, sondern das Ergebnis ihrer Unterordnung, ihrer Erfahrungen, die sich aus dem Einsatz in den Vernichtungslagern speisten, der Wiederholung der ausgeführten Handlungen beziehungsweise der „nationalsozialistischen Moral“. Im Laufe der Zeit entwickelte sich für alle der Mord zur alltäglichen Arbeit. Zwar unterschied sich je nach Person die Art und Weise der Durchführung, sie wurde aber in jedem Falle erfüllt. Dabei trafen sie die Entscheidung zur Beteiligung – und damit was richtig und was falsch war – als Gruppe. Mitglieder der Tätergruppe, die an der Richtigkeit ihres Handelns zweifelten, wie Horn und Eisold, scherten letztlich nicht aus dem Kollektiv aus, da sie die langfristigen Konsequenzen und die Meidung durch die anderen als passive Sanktion nicht absehen konnten. Auch sie blieben auf nicht absehbare Zeit nolens volens ein Teil des Lagerpersonals.
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III. Anpassung und Abgrenzung
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Erst rot, dann braun ? Überläufer von der KPD zu NS - Organisationen im Jahr 1933 Udo Grashoff In den Wochen nach der Reichstagswahl im März 1933 berichtete die deutsche Presse mehrfach über kommunistische Überläufer und druckte Austrittserklärungen aus der KPD ab. An einigen Orten sollen sogar öffentliche Kapitulationsfeiern stattgefunden haben. So meldete der „Völkische Beobachter“, die Koblenzer KPD - Bezirksgruppe und einige Unterverbände hätten am 27. März 1933 während einer Kundgebung gemeinsam mit NS - Organisationen und dem Stahlhelm ihre roten Fahnen verbrannt : „Die Kommunisten erklärten, dass sie ihren Irrweg erkannt hätten und nunmehr wünschten, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angegliedert zu werden.“1 Einen ähnlichen Bericht aus der pommerschen Kleinstadt Berlinchen veröffentlichte das NS - Blatt am 15. März 1933.2 Handelte es sich hierbei um Einzelfälle, propagandistische Übertreibungen oder gar makabre Inszenierungen unter Ausübung von Zwang ? Glaubt man einer zeitgenössischen kommunistischen Broschüre, dann war der letztgenannte Fall eine zynische Inszenierung, denn eine Untersuchung der KPD hatte herausgefunden, dass der kommunistische Redner bereits vor 1933 zu den Nationalsozialisten übergelaufen war und zwei führende Ortsfunktionäre aus einer SA Kaserne „zur Kundgebung geschleppt worden sind“.3 Erst rot, dann braun – war das ein typischer Vorgang im Jahr 1933 ? Kapitulierten tatsächlich massenhaft kommunistische Verbände und schlossen sich den strukturell ähnlichen, nur für eine andere Ideologie marschierenden NS - Formationen an ?4 Insbesondere bei den jungen, ideologisch noch wenig gefestigten Arbeitslosen, die sich zur Zeit der Weltwirtschaftskrise dem Roten Frontkämpferbund ( RFB ) bzw. den Sturmabteilungen ( SA ) anschlossen, könnte das der Fall gewesen sein. In diesem Sinne behauptete Gestapo - Chef Rudolf
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Kommunisten verbrennen ihre Fahnen. In : Völkischer Beobachter vom 28. 3. 1933 (SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 223). Ebd., Bl. 221. Josef Koch [ Sepp Schwab ], Der Kampf gegen Spitzelei und Provokation, Moskau 1935, S. 56. Diese Idee kommt im Begriff der sogenannten „Beefsteak - Stürme“ ( außen rot, innen braun ) der SA zum Ausdruck, deren Existenz jedoch zweifelhaft ist. Vgl. Peter Longerich, Die braunen Bataillone, Geschichte der SA, München 1989, S. 193.
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Diels in seinen Memoiren, dass etwa 70 Prozent der im Jahr 1933 neu aufgenommenen SA - Männer in Berlin ehemalige Kommunisten gewesen seien.5 Ein Ende 1933 verfasster Bericht der KPD kam hingegen zu einem ganz anderen Ergebnis : „Keineswegs kann von einem Desertieren und Überlaufen großer Organisationsteile gesprochen werden, wie dieses durch Gerüchte in der ersten Zeit verbreitet wurde. Eingehende Nachforschungen haben ergeben, dass es sich nur um einzelne Überläufer handelte, die uns allerdings oft ganze Organisationsteile durch Denunziationen vernichtet haben.“6 Aber : Wie eingehend waren die „Nachforschungen“ der KPD, darf man ihnen trauen ? Heinrich August Winkler mutmaßte : „Die Zahl der kommunistischen Parteimitglieder, die zu den Nationalsozialisten überwechselten, ist nicht bekannt, aber sie dürfte beträchtlich gewesen sein.“7 Skepsis nach allen Seiten ist auch angeraten hinsichtlich der in lokalen Tageszeitungen abgedruckten Briefe von verhafteten KPD - Mitgliedern, die dem Kommunismus abschworen. Auch hier drängt sich die Frage auf, ob man aus solchen „Bekenntnissen“ einen tatsächlichen Gesinnungswechsel ableiten kann. Ebenso ist aber auch die kommunistische Abwehrpropaganda zu hinterfragen, die von „Fälschungen“ sprach. Einige Beispiele, vor allem aus Sachsen, sollen unter diesem Gesichtswinkel genauer betrachtet werden.
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Scheinbare Renegaten
Bevor das geschieht, muss jedoch eingeräumt werden, dass die zeitgenössische Wahrnehmung hinsichtlich des Wechselns von KPD - Mitgliedern und Sympathisanten zu den Nationalsozialisten im Jahr der Machtergreifung überzogen gewesen sein dürfte, weil mehrere Sachverhalte eine Überschätzung begünstigten. Erstens gab es, wie schon angedeutet, einige vermeintliche Überläufer, die bereits vor 1933 mit Nazis zusammenarbeiteten. Ein besonders exponiertes Beispiel hierfür war der Berliner Metallarbeiter und Gewerkschaftsfunktionär Wilhelm Hein, der von 1928 bis 1933 als KPD - Abgeordneter im Reichstag saß. Hein stieg nicht nur binnen weniger Jahre vom Betriebsrat zum Mitglied des ZK der KPD auf, er wurde als Freund Ernst Thälmanns sogar ins Politbüro aufgenommen. Nach dem Reichstagsbrand wurde Hein verhaftet, aber bald wieder freigelassen. Nach seiner Freilassung eröffnete er eine Gastwirtschaft in BerlinWedding. „Es hieß, dass er mit der Polizei in Verbindung stehe, und dass seine Kneipe dazu diene, Arbeiter anzulocken“, notierte Herbert Wehner.8 Auf den 5 6
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Vgl. Rudolf Diels, Lucifer ante portas, Stuttgart 1950, S. 207. Bericht über Lage und Tätigkeit der Organisation, o. D., Eingangsstempel 27. 12. 1933 ( SAPMPO - BArch, RY 1/ I 4/2/51, Bl. 27–32, zit. 30). Dem Bericht zufolge war die Fluktuation im RFB in den Jahren 1927/28 tatsächlich sehr groß gewesen, aber seit dem Verbot im Jahr 1929 auf ein Minimum gesunken. Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Band 2 : Der Weg in die Katastrophe, Berlin ( Ost ) 1987, S. 910. Herbert Wehner, Notizen, Frankfurt a. M. 1986, S. 79.
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ersten Blick sah es für die Zeitgenossen so aus, als hätte der „Renommierprolet“ Hein „vor der NSDAP kapituliert“.9 Tatsächlich aber war Hein schon seit 1924 mit dem Kriminalkommissar Willi Scheffler befreundet und hatte diesem seit etwa 1926 als Agent mit dem Decknamen „König“ zugearbeitet. Er hatte Schriftstücke des ZK der KPD an die Polizei weitergeleitet und auch häufig mündlich berichtet. Die 1933 stattgefundene Haussuchung und die kurzzeitige Verhaftung dienten offenbar nur dem Zweck, Heins Spitzeltätigkeit zu verschleiern. Kurz danach war ihm Kriminalkommissar Scheffler bei der Erlangung der Konzession für die Gaststätte behilflich. Und als ehemalige Genossen im Lokal erschienen und Hein mit „Abrechnung“ drohten, stattete ihn die Gestapo mit einer Waffe aus.10 Zweitens gab es auch Kommunisten, die im Parteiauftrag versuchten, nationalsozialistische Organisationen zu unterwandern. So erhielt Kurt Laskowski Anfang 1933 den Parteiauftrag, in die SA einzutreten. „Er tat das schweren Herzens und litt sehr unter dieser Zugehörigkeit“, berichtete Luise Kraushaar.11 Auch der Journalist Wilhelm Grieshammer, der bereits seit 1926 Informationen aus dem Wolffschen Telegrafenbüro an die KPD - Zeitung „Rote Fahne“ weitergegeben hatte und 1930 in SPD und „Reichsbanner“ eingetreten war, um von dort an die KPD zu berichten, wechselte nur scheinbar die Seiten. 1933 trat Grieshammer der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation ( NSBO ) bei und hielt dort weiter die Stellung, nachdem Ende 1934 der Kontakt zur KPD abriss; 1937 wurde er NSDAP - Mitglied.12 Während man die beiden geschilderten Fälle eher als Agententätigkeit bezeichnen kann, versuchten Kommunisten in Einzelfällen auch auf unterer Ebene, NS - Organisationen zu unterwandern. So waren im Gebiet Heldrungen insgesamt elf SA - Leute für die KPD aktiv13 und verbreiteten bis zur Entdeckung im Mai 1935 illegale Druckschriften.14 Auch aus Stettin ist überliefert, dass zwei junge Kommunisten in der SA arbeiteten.15 In Berlin ging ein Kommunist im Jahr 1933 zur SA und hielt noch bis 1936 Kontakt 9 Diese Annahme wurde z. B. von Hermann Weber übernommen. Vgl. Hermann Weber, Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht, 4. Auflage Hannover 1970, S. 106; Hermann Weber / Andreas Herbst ( Hg.), Deutsche Kommunisten. Biografisches Handbuch 1918– 1945, 2. Auflage Berlin 2008, S. 357. 10 Wie Heins Frau nach 1945 berichtete, trafen sich hier bisweilen nach Geschäftsschluss Gestapo - Mitarbeiter zu Bierabenden. Vgl. Protokoll Käthe Hein, 18. Dezember 1948 (BStU, MfS, HA IX /11, SV 19/82, Band 5a, Bl. 61 f.). 11 Luise Kraushaar, Bericht über meine konspirative Arbeit zwischen April 1931 bis Ende 1937 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 242, Bl. 49). 12 Vgl. Personalfragebogen ( BStU, MfS AP 7169/61, Band 1, Bl. 3–5, zit. 5). 13 Vgl. Karl - Heinz Leidigkeit u. a., Gegen Faschismus und Krieg. Die KPD im Bezirk HalleMerseburg 1933 bis 1945, Halle 1983, S. 217. 14 Vgl. Gerichtsurteil Kammergericht, Gesch.Nr. 10.0 Js. 176/35 vom 17. 10. 1935, Abschrift von der auszugsweisen Abschrift ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/127, Bl. 53– 55); Staatspolizeistelle Halle, Lagebericht für den Monat Mai 1935 ( LHASA, MER, C 48 Ie, Nr. 1137e, Band VI, Bl. 6–31, hier 9 f.). 15 Vgl. Werner Lamprecht, Der Kampf der Stettiner Parteiorganisation der KPD gegen die faschistische Diktatur 1933–1945, Dissertation Greifswald 1965, S. 109.
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zur illegalen KPD, für die er zum Beispiel mit seinem Motorrad Transporte illegaler Druckschriften durchführte.16 Insgesamt waren es jedoch stets nur Einzelpersonen,17 die eine solche „Taktik des Trojanischen Pferdes“ verfolgten – das gilt sowohl für die Zeit ab 1935, als die KPD - Führung das Unterwandern von NS - Organisationen zur offiziellen Taktik erklärte, als auch für das Jahr 1933, als eine zentrale Weisung der illegalen KPD festlegte, von Eintritten zuverlässiger Kommunisten in SA und Stahlhelm abzusehen.18 Dass hierdurch das Überläuferphänomen überschätzt wurde, brachte Ende 1933 Wilhelm Pieck in Moskau zum Ausdruck : Unterwanderungsversuche führender Betriebsfunktionäre, die in die NSBO eingetreten waren, hätten „zur Diskreditierung unserer Bewegung“ geführt.19 Drittens verbreiteten die Nationalsozialisten auch falsche Informationen. So im Fall des KPD - Reichstagsabgeordneten Ernst Schneller, der in der Nacht des Reichstagsbrandes vom 27. auf den 28. Februar 1933 in Berlin verhaftet worden war. Nachdem wenige Tage später auch Ernst Thälmann in seinem illegalen Quartier aufgespürt und verhaftet wurde, ging das Gerücht um, Schneller habe Ernst Thälmann verraten und sei zu den Nazis übergelaufen.20 Teilweise hieß es sogar, Schneller sei daraufhin wieder freigelassen worden.21 Tatsächlich spielte bei der Verhaftung Thälmanns Verrat aus den eigenen Reihen keine Rolle – innerhalb der KPD - Führung stieß das Gerücht dennoch zumindest teilweise22 auf fruchtbaren Boden, da Schnellers mehrfache politische Stellungswechsel in den 1920er Jahren den Verdacht nährten, er könnte sich auch dieses Mal auf die Seite der vermeintlich Stärkeren geschlagen haben.23 Die Untersuchung des 16 Vgl. Erklärung von Paul Scheffel ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/117, Bl. 130). 17 In Halle arbeitete ein SS - Mann als Kurier für die illegale KPD und einige Kommunisten arbeiteten als Kassierer für die Deutsche Arbeitsfront ( DAF ), in Stettin wurde ein Kommunist sogar Blockleiter der DAF. Dennoch kann das Fazit des Berichts aus Halle als generelles Urteil gelten : „Organisierte Versuche der Arbeit in SA, SS, Arbeitsfront, NSDAP gibt es im Bezirk nicht.“ Bericht ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/11/58, Bl. 38–41, zit. 41). 18 Vgl. Sächsisches Ministerium des Innern, Dr. Fabian, an Kreishauptmannschaften, Polizeipräsidien und - direktionen, Dresden, 11. Mai 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 353). 19 Wilhelm Pieck, Wir kämpfen für ein Rätedeutschland, Moskau 1934, S. 11. 20 Vgl. Wehner, Notizen, S. 71; Weber / Herbst, Kommunisten, S. 814–816, hier 816. 21 In Moskau erfuhr der KPD - Reichstagsabgeordnete Fritz Heckert am 10. März 1933 von einem Emigranten von der angeblichen „mysteriösen Freilassung“ Schnellers. Vgl. Weber / Herbst, Kommunisten, S. 223. 22 Herbert Wehner und Walter Ulbricht haben das Gerücht offenbar nicht geglaubt. Vgl. Wehner, Notizen, S. 71. 23 Als Anhänger Heinrich Brandlers hatte er sich 1923, nachdem dieser in Ungnade gefallen war, der Mittelgruppe angeschlossen, war ein Jahr später zum linken Flügel geschwenkt, um sich 1925 der Parteiführung unter Ernst Thälmann anzuschließen, gegen den er dann im Jahr 1928 ein Parteiausschlussverfahren im Zuge der Wittorf Affäre leitete, nach dessen Scheitern 1929 er für drei Jahre aus dem Zentralkomitee der KPD ausschied; ein offensichtlich opportunistisches Verhalten, das Bucharin dazu bewog, Schneller als „politisch charakterlosestes Subjekt der KPD“ zu bezeichnen. Vgl. Weber / Herbst, Kommunisten, S. 814–816, zit. 815.
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Verdachts gegen Schneller durch die KPD - Führung ergab jedoch, dass die Anschuldigungen unhaltbar waren und „wahrscheinlich zu dem Zweck in die Welt gesetzt w[ u ]rden, Unsicherheit und Misstrauen um sich greifen zu lassen.“ Der Reichstagsabgeordnete war in das Konzentrationslager Sonnenburg transportiert worden, wo er – so Herbert Wehner – „besonders hart behandelt wurde und doch für alle Mitgefangenen eine Stütze war.“24 Ernst Schneller wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer sechsjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, die er in Waldheim verbüßte. Seine dortige Gefängnisakte enthält den Vermerk eines Wachtmeisters, dass er „durch die lange Strafe zur Einsicht gekommen“ sei.25 Ein Abfall von der kommunistischen Gesinnung kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, es handelte sich lediglich um ein taktisches Manöver, um Schneller einen Posten zu verschaffen; die Anstaltsleitung schenkte der Beurteilung keinen Glauben und verhinderte, dass Schneller in der Gefängnishierarchie aufstieg.26 1939 verfügte die Berliner Gestapo, dass Schneller nach Verbüßung seiner Strafe in das KZ Sachsenhausen überstellt wurde. Dort stand er in Kontakt mit Mitgliedern des Internationalen Lagerkomitees und verfasste gemeinsam mit Mitgliedern der illegalen KPD eine Stellungnahme zu einem in das Lager geschmuggelten Papier des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. Am 11. Oktober 1944 wurde Schneller gemeinsam mit 26 anderen Häftlingen von der SS erschossen.27 Ernst Schneller war nicht in jeder Hinsicht der geradlinige Held, als den ihn die parteiliche Historiografie der DDR darzustellen bemüht war, dennoch kann als gesichert gelten, dass er weder im Zuchthaus noch im KZ von seiner kommunistischen Grundüberzeugung abrückte. Viertens muss berücksichtigt werden, dass es diffuse Ausweichbewegungen gab. So traten Kommunisten zunächst in den Stahlhelm ein und wurden dann von der SA übernommen – nicht immer war das mit einem tiefen Gesinnungswechsel verbunden. So glaubte die Stapo Hannover im Juni 1934 feststellen zu können : „Die SA ist vor allem in der Stadt Einbeck m. E. mit Elementen verseucht, die innerlich Marxisten geblieben sind.“28 Im Einzelfall gestaltete sich der politische Übergang teilweise als Grauzone, in der sich das „Schon“ mit dem 24 Wehner, Notizen, S. 81. 25 Zit. nach Wolfgang Kießling, Ernst Schneller. Lebensbild eines Revolutionärs, Berlin (Ost ) 1974, S. 297. 26 Vgl. Martin Habicht, Zuchthaus Waldheim 1933–1945. Haftbedingungen und antifaschistischer Kampf, Berlin ( Ost ) 1988, S. 58–61. 27 Vgl. Barbara Kühle / Siegfried Brüchner, „... besonders jetzt tu Deine Pflicht !“ Daten und Dokumente der 27 am 11. Oktober 1944 im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordeten Antifaschisten, Oranienburg 1989, S. 6–14, 48, 69; Martin Schumacher (Hg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945, 3. Auflage Düsseldorf 1994, S. 433–435. 28 Lagebericht der Staatspolizeistelle Hannover an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin für den Monat Juni 1934, 4. Juli 1934. In : Klaus Mlynek ( Hg.), Gestapo Hannover meldet ... Polizei - und Regierungsberichte für das mittlere und südliche Niedersachsen zwischen 1933 und 1937, Hildesheim 1986, S. 167–178, zit. 169.
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„Noch nicht“ vermischte, wodurch die Situation auch für die illegale KPD bisweilen unübersichtlich wurde : „Es bedurfte in mehreren Fällen längerer Feststellungen, um zu erfahren, ob einzelne Mitglieder noch der Partei oder bereits der SA angehören“, hieß es in einem Ermittlungsbericht der Berliner KPD von Mai 1933.29 Der Kommunist Alfred Hecktheuer berichtete aus Riesa, dass dort ein „aktiver ehrlicher Genosse“ im Jahr 1933 aus Angst vor Verhaftung in die SA eingetreten war – möglicherweise in der damals häufigen Erwartung, dass sich Hitler nicht lange an der Macht halten würde. Später jedoch sei dieser Genosse „in der Öffentlichkeit als ganz überzeugter Nazi bekannt“ gewesen – laut Hecktheuer kein Einzelfall zu jener Zeit.30 In manchen Quellen erscheinen taktisches Kalkül und resignative Stimmung auf untrennbare Weise amalgamiert – beispielsweise in Briefen, die der damals 25 - jährige Leipziger KPD - Stadtverordnete Bruno Plache aus der Haft schrieb. Plache war am 9. März 1933 verhaftet worden, am 21. März schrieb er an das Polizeipräsidium, er hätte mit der KPD gebrochen, und bat gleichzeitig um Haftentlassung oder wenigstens Aufhebung der Einzelhaft. Einen Monat später verfasste Plache einen weiteren, ähnlich lautenden Brief. Beinahe erreichte er seine Entlassung ( gegen Abgabe einer Loyalitätserklärung ), schließlich aber blieb er doch noch bis Anfang Dezember 1933 in Schutzhaft.31 Scharfe Nachüberwachung schloss sich an; ein Jahr dauerten Plaches Bemühungen, die Fahrerlaubnis zurückzubekommen. Plache setzte seine privaten Kontakte zu lokalen Kommunisten fort, ohne sich aktiv an Widerstandsaktionen zu beteiligen. Nationalsozialist wurde er aber nicht.32 Aufgrund der unklaren Haltung Plaches stoppte die SED im Jahr 1975 die Erarbeitung einer biografischen Skizze.33 Ein ähnliches Schicksal erfuhr auch die Biografie des Reichstagsabgeordneten Albert Janka, dessen rätselhaftes Verhalten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten durch die SED - Historiografie nicht offiziell thematisiert wurde.
29 Abschlussbericht, Betr. Verhaftung von Olbrisch, Karl und Gen. 25. 5. 33 in Berlin - Buch, 19. 9. 1933 ( BStU, MfS, HA IX /11, SV 1/81, Band 119, Bl. 9 f.). 30 Alfred Hecktheuer, Meine illegale Tätigkeit ab 1933 in Riesa, Borna bei Leipzig, Leipzig und Chemnitz, 30. 12. 1947 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/122, Bl. 81–87, zit. 82v.). 31 Vgl. Brief Bruno Plache an Polizeipräsidium Leipzig, 19. 4. 1933 ( SächsStAL, PP - S 2854/1, Bl. 48 f.). 32 Vgl. Bruno Plache. Skizze eines Lebensbildes ( Sächs StAL, SED, Sammlung Biographien, Nr. 842, Bl. 2–17). 33 Vgl. Aktennotiz, Leipzig, 16. 6. 1975 ( Sächs StAL, SED, Sammlung Biographien, Nr. 842, Bl. 1).
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Kapitulation oder Unterwanderungsversuch ? Albert Jankas Brief an die NSDAP
Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte nicht nur die NSDAP mit ca. 56 Prozent der Stimmen ein überdurchschnittliches Resultat im vogtländischen Plauen, auch die KPD erzielte mit knapp 20 Prozent der Wählerstimmen einen letzten Achtungserfolg.34 Drei Tage nach der Wahl besetzten militante Nationalsozialisten das Rathaus und erklärten den Bürgermeister sowie ihnen unliebsame Beamte, unter anderen den Polizeipräsidenten, für abgesetzt.35 Am Vorabend dieses lokalen Putsches fand eine große Kundgebung auf dem Altmarkt von Plauen statt. Während dieser Massenveranstaltung gab der Kreisleiter der NSDAP Hitzler bekannt, dass der Reichstagsabgeordnete und ehemalige Unterbezirksleiter der KPD in Plauen, Albert Janka, seinen Übertritt zur NSDAP erklärt hätte. Hitzler las „unter Gelächter und Beifall der Menge“ einen Brief Jankas vor, welcher ihm unmittelbar vor der Demonstration zugegangen war. Janka war zu diesem Zeitpunkt mit 25 Jahren der jüngste Reichstagsabgeordnete; bei der Wahl am 5. März war er erneut in den Reichstag gewählt worden. Er war ein begabter Redner. „Seine Reden waren faszinierend. Ob in Sälen mit tausend Zuhörern oder auf Plätzen mit zwanzigtausend Menschen, er fand in freier Rede Gehör und Beifall“, erinnerte sich voller Bewunderung sein jüngerer Bruder.36 Am 8. März 1933 veröffentlichte die lokale Presse Jankas Brief an die NSDAP im Wortlaut.37 Darin hieß es : „Ich sehe die Sinnlosigkeit eines weiteren Kampfes in der KPD. ein, was der wesentlichste Grund meines Austrittes bedeutet. Ich werde ergänzend zu diesem Schreiben eine ausführliche Begründung geben, die meinen nicht leichten Schritt erklären soll.“38 Am folgenden Tag schrieb Janka die angekündigte Begründung, die wiederum in der Lokalpresse abgedruckt wurde. „Mein Ersuchen um Aufnahme in die NSDAP. ist das Ergebnis eines starken Ringens mit mir in den letzten Tagen und zugleich der Wunsch, meine Kräfte mit einzusetzen, um die noch im falschen Lager stehenden kommunistischen Arbeiter für den gleichen Weg, den ich gegangen bin, zu gewinnen.“ Janka ersuchte den NSDAP - Kreisleiter Hitzler, der Jankas Verhalten bei der Kundgebung auf dem Altmarkt als „jämmerlich“ bezeichnet hatte, ein34 35 36 37 38
Vgl. Gerd Naumann, Plauen i. V. 1933–1945, Plauen 1996, S. 24. Vgl. ebd., S. 45 f. Walter Janka, Spuren eines Lebens, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 28. Jankas Brief an die NSDAP. In : Neue Vogtländische Zeitung vom 8. März 1933, S. 7. Vgl. auch Schreiben von Wilhelm Bamberger an Willi Glier, 19. 1. 1990 ( SAPMO - BArch, SgY 30/2038, Bl. 211–214). Die Deutung von Weber / Herbst, Kommunisten, S. 413 folgt der offiziellen Darstellung der KPD, die sich auf Zeugenaussagen stützt, die dem Geschehen weniger nah standen als die nachfolgend verwendeten Berichte. So die Angabe in : Braunbuch II. Dimitroff contra Goering. Enthüllungen über die wahren Brandstifter, Paris 1934, S. 422; ähnlich die KPD - Mordstatistik von 1935 : „Die Nazis verbreiteten, dass er zur NSDAP übergetreten sei, da er den Übertritt verweigerte, wurde er ermordet.“ ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/48, Bl. 462).
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dringlich : „Ich will mithelfen, die Plauener Arbeiterschaft in die große Bewegung der NSDAP einzugliedern. Geben Sie mir dazu die Gelegenheit.“39 Parallel wandte sich Janka auch an Reichstagspräsident Hermann Göring und ersuchte um Einladung zur Eröffnungssitzung des Reichstages am 21. März.40 Viele KPD - Mitglieder reagierten ungläubig. Eine Genossin, mit der Janka gesprochen hatte, bevor er sich zum Stellplatz der SA auf dem Albertplatz begeben hatte, „war empört und hat ihn für verrückt gehalten“.41 Bis heute ist nicht geklärt, was Albert Janka zu seinem Schritt bewog. Sein jüngerer Bruder, der spätere Schriftsteller Walter Janka, äußerte mehrfach die Vermutung, es könnte sich um einen Versuch gehandelt haben, im Parteiauftrag in die Nazi - Organisation einzudringen.42 Darin sah schon ein zeitnaher KPD - Bericht einen wenig plausiblen Versuch der familiären Ehrenrettung; und im Auftrag der Partei handelte der junge Reichstagsabgeordnete ohnehin nicht.43 Albert Janka musste sich Anfang März 1933 verstecken, weil er verhaftet werden sollte. Sein Handeln scheint eine verzweifelte Flucht nach vorn gewesen zu sein – möglicherweise trieb ihn die Hoffnung auf neuen Handlungsspielraum. Wollte der redebegabte Janka seinen öffentlichen Auftritt nutzen, um die Nazis öffentlich zu entlarven, wie noch 1989 in der Abteilung Kader beim KZ der SED gemutmaßt wurde ? Schließlich hatte Janka in einer Ergänzung zu seinem ersten Brief darum gebeten, bei der Kundgebung am 7. März zu den Arbeitern sprechen zu dürfen.44 Der Plauener Kommunist Wilhelm Bamberger schloss eine solche Intention kategorisch aus und beharrte auf dem Urteil, das sich die Plauener Genossen unmittelbar nach Jankas Übertritt gebildet hatten. Sie hatten das Verhalten Jankas eindeutig als Verrat gewertet und ein diesbezügliches Flugblatt verbreitet.45 Auch in der Haft war Janka von seinen Genossen feindselig behandelt worden. Gegenüber einem Mitgefangenen, der dennoch das Gespräch mit ihm suchte, hatte Janka geäußert, „dass er von Sinnen gewesen sein müsse“, als er den Brief schrieb46 – eine vage Aussage, die aber unterstreicht, dass es sich bei der Übertrittserklärung nicht, wie eine zeitgenössische Propaganda - Broschüre der KPD behauptete, um eine Fälschung der Nazis handelte.47 Auch die Reak39 Ein zweiter Brief Jankas an die NSDAP. In : Neue Vogtländische Zeitung vom 9. März 1933, S. 8. 40 Vgl. Zeitungsausschnitt aus Leipziger Neueste Nachrichten vom 19. 3. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 220). 41 Wilhelm Bamberger, Erinnerungen, März 1983 ( SAPMO - BArch, SgY 30/2038, zit. Bl. 28). 42 Vgl. Janka, Spuren, S. 27–40. 43 Vgl. Betr. Affäre Janka, Plauen, Anfang 1933, 1. 7. 1935 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/99, Bl. 53). 44 Vgl. Jankas Brief an die NSDAP. In: Neue Vogtländische Zeitung vom 8. März 1933, S. 7. 45 Vgl. Schreiben von Wilhelm Bamberger an Willi Glier, 19. 1. 1990 ( SAPMO - BArch, SgY 30/2038, Bl. 211–214). 46 Zum Fall Albert Janka, Plauen, 8. 2. 1936 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/99, Bl. 103). 47 „Eine ganz infame Lüge“, behauptete Josef Koch, S. 59. Vgl. eine ähnliche Wertung im Jahr 2002 im Vogtlandboten : „Offensichtlich eine durchsichtige und primitive Lüge [...]“
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Überläufer von der KPD zu NS-Organisationen
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tion der Nationalsozialisten, die Jankas Briefe strikt zurückwiesen, spricht für die Echtheit der Schreiben. Der Pressedienst der NSDAP nutzte die Gelegenheit, um die allgemeine Linie gegenüber Überläufern deutlich zu machen : „Wir begrüßen es an und für sich, wenn verhetzte kommunistische Volksgenossen erkennen, dass sie irregegangen sind, und sich von der nationalsozialistischen Weltanschauung mitreißen und überzeugen lassen, für kommunistische Führer aber, insbesondere für Reichstagsabgeordnete, besteht erst nach einer sehr langen Prüfungszeit die Möglichkeit zu einer Aufnahme in die nationalsozialistische Reichstagsfraktion. Mit einer längeren Prüfung, vielleicht in einem Konzentrationslager, wird sich auch Janka erst bewähren müssen, ehe er Mitglied der NSDAP. oder gar Abgeordneter wird.“48 Über Jankas weiteres Schicksal gibt der Bericht eines Mitgefangenen Aufschluss : „Er sagte, dass er täglich furchtbar geprügelt würde ( das war wahr, man sah es ihm an ). Ich ging drei oder vier Tage mit ihm beim Spaziergang. Er äußerte mehr als einmal, dass er genug habe und bald Schluss machen werde. [...] Nach einigen Tagen wurde J. zur weiteren Vernehmung nach dem KZ. Reichenbach b / Plauen überführt. Hier soll er sich bereits in der ersten Nacht erhängt haben.“49 Bei dem Konzentrationslager handelte es sich um das „Durchgangslager“ im ehemals sozialdemokratischen „Volkshaus“ in Reichenbach. Darüber, ob Janka sich tatsächlich das Leben genommen hat oder ob er ermordet wurde, gibt es widersprüchliche Berichte. Die Leiche wies schwere Folterspuren auf, die Jankas Bruder wie folgt beschrieb : „Der Rücken war vom Nacken bis an die Oberschenkel zerschlagen, verkrustet, als hätte man die Haut abgezogen. Tiefe, eingebrannte Wunden. Ganze Stücke aus dem muskulösen Körper herausgerissen.“50 Offiziell hieß es, dass Janka am 11. April nach Reichenbach ins Polizeigefängnis gebracht und sich dort in einem „günstig erscheinenden Augenblick“ erhängt hätte.51 Ein Kommunist aus Reichenbach berichtete hingegen, dass am Abend ein „Saufgelage der SA“52 stattfand, „bei dem die verhafteten Kommunisten zur ‚Belustigung‘ schwer misshandelt“ worden seien. Schließlich sei Janka am Kronleuchter aufgehängt worden. Am anderen Morgen sei Janka dann, um eine Selbsttötung vorzutäuschen, an eine Klosett - Türklinke gehängt worden.53
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53
( http ://www.vogtlandbote.de / archiv / vobo05_02.html#Albert%20Janka%20%20ein%20fast%20vergessener%20Kommunist; 14. 1. 2012). Zeitungsausschnitt aus Leipziger Neueste Nachrichten vom 19. 3. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 220). Zum Fall Albert Janka, Plauen, 8. 2. 1936 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/99, Bl. 103). Janka, Spuren, S. 38. Selbstmord eines Plauener Kommunistenführers. In : Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt vom 16. April 1933, S. 6. Möglicherweise ist dieses Detail ein Irrtum; zuständig für die Bewachung des Volkshauses war nicht die SA, sondern die SS - Standarte 7. Vgl. Otto Meinel, Durchgangslager Reichenbach. In : Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Ein Buch über die Greuel. Die Opfer klagen an, Karlsbad 1934, S. 164–169, hier 166 f. Betr. Affäre Janka, Plauen, Anfang 1933, 1. 7. 1935 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/99, Bl. 53).
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Demonstrativer Gesinnungsverrat
Im Fall Janka bleibt vieles dunkel : das Motiv für den Übertritt, die genaue Todesursache. Es gibt aber auch Beispiele für eine unzweifelhafte, öffentlich demonstrierte Abkehr kommunistischer Funktionäre von der KPD. Mehrere solche Fälle ereigneten sich in Sachsen. So kündigte der frühere Vorsitzende der kommunistischen Bezirkstagsfraktion, Walter Otto aus Leipzig, bereits im April 1933 in einem Brief „politische Erklärungen, zu denen ich mich durchgerungen habe“ an. Der Brief wurde jedoch, wie Otto selbst später resümierte, „in der Tagespresse unfreundlich kommentiert“ – es war die Rede von „traurige[ m ] und erbärmliche[ m ] Führertum“.54 Erst nach einer längeren „Probezeit“ im Konzentrationslager hielten die Nationalsozialisten den Zeitpunkt für angezeigt, Otto und weitere KPD - Renegaten für Propagandazwecke einzuspannen. So trat Otto im November 1933 nicht nur vor den Mithäftlingen im Schutzhaftlager Sachsenburg, sondern auch auf Wahlkampfveranstaltungen der NSDAP auf. Er wurde begleitet von dem Leipziger KPD - Stadtverordneten Fritz Dasecke, der zur Zeit der Weimarer Republik „zu einem der berüchtigtsten Scharfmacher unter den Stadtverordneten zählte“ und nun „glühende Reden“ im Sinne der Nationalsozialisten hielt.55 Beide vollzogen ihren politischen Positionswechsel während der monatelangen Inhaftierung an verschiedenen Haftorten, zuletzt im Schutzhaftlager Sachsenburg bei Frankenberg. Nach ihrer Haftentlassung versuchten sie, den Vorwurf „des Verrats, der Gesinnungslumperei und des Konjunkturrittertums“ in einer Broschüre zu widerlegen.56 Darin beteuerten sie, dass es nicht Terror gewesen sei, der sie zum Umdenken bewegt hätte, vielmehr hätten sie einen stufenweisen Wandlungsprozess durchlaufen. Nach der Enttäuschung über den ausbleibenden kommunistischen Massenwiderstand im eigenen Land ebenso wie über die fehlende internationale Solidarität sei – so Walter Otto – die alte Weltanschauung zusammengebrochen; zugleich hätten ihm Maßnahmen Hitlers wie der Kampf gegen Korruption, die Erhebung des 1. Mai zum Feiertag und der Austritt aus dem Völkerbund imponiert. Im KZ Colditz sei er von den meisten Mitgefangenen „mit eisiger Kälte“ behandelt worden. Erst im Schutzhaftlager Sachsenburg traf Otto auf Fritz Dasecke sowie den Chemnitzer Abgeordneten Heinz Wesche, dessen Weltanschauung ebenfalls ins 54 Haake, So sehen sie aus ! Vom erbärmlichen Führertum der Marxisten. In : Leipziger Tageszeitung vom 27. 4. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium PP - St 9, Bl. 292); Walter Otto / Fritz Dasecke, Vom Kommunismus über die Schutzhaft zum Nationalsozialismus, Leipzig 1934, S. 11. 55 Sebastian Thiem, Opposition aus dem Rathaus. Verfolgung und Widerstand Leipziger Ratsherren und Stadtverordneten während der nationalsozialistischen Diktatur 1933 bis 1945, Magisterarbeit Leipzig 1995, S. 54. 56 Otto / Dasecke, Kommunismus, S. 5. Otto glaubte sich wohl auch besonders rechtfertigen zu müssen, da er zunächst von der S.A.J. zur KPD gewechselt war, weshalb ihn die „Rote Hilfe“ als „typischen Konjunkturpolitiker“ charakterisierte. SOPADE, Mitteilungen über das Spitzelwesen Nr. 7 vom 18. 7. 1934 ( BArch Berlin, R 58/517, Bl. 72–138, zit. 79).
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Wanken geraten war. Bei Diskussionen im Lager, gestand Otto ein, hätte sich die „Rassenfrage“ als größte ideologische Hürde erwiesen; demgegenüber hätte der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und ein damit verknüpftes, auf den 12. November 1933 festgesetztes Plebiszit, an dem auch Schutzhäftlinge abstimmungsberechtigt waren, die Chance zum Handeln geboten : „Unter wiederholtem Hinweis auf unseren früheren Kampf um die nationale Befreiung, gegen Youngplan und Versailles vermochten wir wenigstens für diesen außenpolitischen Schritt der Regierung eine größere Anzahl kommunistischer Arbeiter zu gewinnen.“57 Für Otto und seine inzwischen etwa zehn Mitstreiter begann eine „Mission“, die darin gipfelte, dass „viele Dutzende Häftlinge in die SA.“ eintraten und Otto am 6. November eine Rede hielt, die über den Lagerfunk in sämtliche Säle übertragen wurde. Auf den ersten Blick scheint die Propaganda der Renegaten Wirkungen gezeitigt haben. Bei der geheimen Stimmabgabe wurden 516 Ja - Stimmen, 167 Nein - Stimmen und 36 ungültige Stimmen registriert. Zieht man jedoch von den Ja - Stimmen die ca. 240 Voten der Wachmannschaften und weitere Stimmen von Kriminellen ab,58 so wird die Resistenz der Kommunisten erkennbar.59 Ganz ähnlich wie in Sachsen stimmten auch im Ruhrgebiet einzelne ehemals führende KPD - Funktionäre bei der Abstimmung im KZ mit Ja, so ein früheres Mitglied der Bezirksleitung Ruhrgebiet und der politische Ortsgruppenleiter von Bottrop. Aber auch hier blieben das offenbar Einzelerscheinungen.60 Im KZ Lichtenburg in Prettin plante der Kommunist Erich Behnke eine ähnliche Ansprache, wie sie Walter Otto gehalten hatte, vor den über 1 000 Schutzhäftlingen des Lagers : „Dieses Vorhaben konnte nur mit Mühe verhindert werden“, hieß es im Bericht eines Mithäftlings. Behnke hätte seinen Plan gegenüber den Genossen damit gerechtfertigt, dass die Kommunisten „geschlagen seien, jegliche Form des Widerstandes zwecklos sei“ und dass es nur noch darum gehen könne, „die Repressalien des Faschismus gegen uns [ zu ] mildern oder [zu ] beseitigen.“61 Walter Otto und Fritz Dasecke traten Anfang November auf zwei Wahlversammlungen ( in Liebertwolkwitz und Holzhausen ) auf und legten „ein Bekenntnis zu Adolf Hitler und damit zur wahren Volksgemeinschaft“ ab.62 Ihr öffentlich propagiertes Überlaufen brachte ihnen umgehend die Freiheit. In ihrer im folgenden Jahr publizierten Broschüre behaupteten sie, dass acht Monate Haft 57 Otto / Dasecke, Kommunismus, S. 18. 58 Vgl. Karl Otto, Das Lied von Sachsenburg ... Tausend Kameraden Mann an Mann, Beiträge zur Geschichte des antifaschistischen Widerstandskampfes im Konzentrationslager Sachsenburg. Hg. von der Kreisleitung der SED Hainichen, Hainichen 1962, S. 18. 59 Der Wurzener Kommunist Janßen berichtete nach 1945, dass 80 Prozent der Kommunisten im Lager mit Nein votierten. Vgl. Max Janßen, Parteigeschichte und Illegalität, Wurzen im August 1948 ( SAPMO - BArch, RY 1/1 2/3/122, Bl. 246–259, hier 254). 60 Vgl. Kaderabteilung, 4. 8. 1934 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/104, Bl. 16). 61 Bericht über den Fall B. ( LHASA, MER, P 516, IV /2/4/1858, Bl. 31 f., zit. 31). 62 Schreiben von Rechtsanwalt Harry Frommelt an Polizeipräsidium Leipzig, 11./13. 11. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2854/1, Bl. 66 f.).
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„nicht Monate des Grauens, sondern des Erwachens“ gewesen seien.63 Der Propagandaeinsatz von Otto währte im Übrigen noch mindestens zwei Jahre : „Walter Otto ist immer noch als Agitator in den Arbeitslagern tätig“, hieß es in einem KPD - Bericht vom Dezember 1935. Dabei versuche er, so die KPD, staatsfeindliche Meinungen zu provozieren : „Er verwendet jetzt den Trick, nach seinem Vortrag eine Aussprache hervorzurufen und wenn ihm eine Frage oder gar eine Meinung entgegengehalten wird, dann denunziert er das ganze Lager als kommunistisch verseucht.“64
4.
Kapitulation unter Zwang
Im Jahr 1933 wurden in Deutschland insgesamt etwa 80 000 politische Gegner, in der Mehrheit Kommunisten, willkürlich verhaftet, viele von ihnen gefoltert. Im März und April 1933 gab es etwa 70 dezentral betriebene Konzentrationslager.65 Dieses Umfeld existenzieller Bedrohung übte generell starken Druck auf Kommunisten aus, ihre bisherige politische Position zu überdenken. Im Einzelfall war die existenzielle Bedrohung jedoch unterschiedlich groß. So ereignete sich auch das „Überlaufen“ von KPD - Funktionären wie Dasecke, Otto und Wesche unter den Bedingungen monatelanger willkürlicher Gefangenschaft, war also nur bedingt freiwillig. In vielen anderen Fällen ließen sich kommunistische Funktionäre aber nur durch Folter oder zumindest die glaubhafte Androhung von schweren körperlichen Misshandlungen zum Verfassen von Erklärungen bewegen, die dann zumeist auch keinen Gesinnungswechsel, sondern lediglich eine Kapitulation zum Inhalt hatten. Eine solche Erklärung gab zum Beispiel der Leiter der Roten Hilfe und des Kampfbundes gegen den Faschismus im sächsischen Niederau ab – ein Vater von sieben Kindern.66 Verbunden war mit den öffentlich abgegebenen Erklärungen oft die Hoffnung auf Entlassung, oder wenigstens auf Verbesserung der Haftsituation, wie im folgenden Beispiel aus dem Erzgebirge : Der Politische Leiter des KPD Unterbezirks Flöha, Rudolf M., war am 28. Februar 1933 verhaftet und in das Polizeipräsidium Chemnitz gebracht worden. Als langjähriger kommunistischer Funktionär – nach eigenen Angaben hatte er 1922 die kommunistische Jugendgruppe in seinem Heimatdorf gegründet, war 1928 in die KPD eingetreten und mehrfach wegen politischer Vergehen wie Verbreitung verbotener Flugblätter, Tätlichkeiten und Beleidigungen geringfügig bestraft worden – stand ihm die 63 Otto / Dasecke, Kommunismus, S. 20. 64 Bericht von Leipzig, 28. 12. 1935 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/8–10/169, Bl. 243). 65 Vgl. Johannes Tuchel, Organisationsgeschichte der „frühen“ Konzentrationslager. In : Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1, Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 43–57. 66 Vgl. Landgericht Chemnitz, Urteil vom 15. 5. 1950 ( BStU, MfS, Abt. XII / RF /354, Bl. 13 f.). Ähnlich auch der 1. Kreissekretär von Kreuznach a. d. Nahe. Vgl. Herta Geffke, Erinnerungen, 20. 2. 1963 ( BArch Berlin, SgY 30, 0257/1, Bl. 241).
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existenzielle Gefahr deutlich vor Augen, in welcher er sich in diesen Tagen befand. Andere Funktionäre waren bereits „mit den brutalsten Methoden“ vernommen worden, die SA hatte umfangreiche Vernehmungen im Schutzhaftlager Plaue durchgeführt und verfügte über zahlreiche Informationen, die sie bei den weiteren Vernehmungen nutzen wollte. In dieser Situation, so rechtfertigte M. sich im Jahr 1953 in einem handschriftlichen Lebenslauf, hätten einige Genossen den Vorschlag gemacht, „den Versuch zu unternehmen, nach Plaue überführt zu werden, um sich mit den Genossen in Plaue abzusprechen, und einen größeren Prozess zu verhindern. Auch ich wurde schwach und gab eine Erklärung ab, dass ich aus der KPD ausgetreten sei.“ Tatsächlich erfolgte danach die Verlegung nach Plaue in eine zum „Schutzhaftlager“ umfunktionierte Turnhalle. Vermutlich hatten die „Überläufer“ den Nazis versprochen, im Schutzhaftlager weitere Kommunisten zum Austritt aus der KPD zu bewegen, was indirekt aus der Schilderung von M. ableitbar ist : „Im Lager Plaue wurde diese Erklärung von mehreren Genossen unterschrieben und in der Presse veröffentlicht.“67 Am 5. April 1933 erschien im „Flöhaer Tageblatt“ ein Aufruf vom M., in dem „er seinen Austritt aus der KPD erklärte und alle Kommunisten und KPD - Wähler auf[ rief ], sich von der Partei loszusagen.“68 Insgesamt 127 Kommunisten sowie andere KZ - Häftlinge hätten diesen Aufruf unterschrieben.
5.
Zusammenarbeit mit der politischen Polizei
Nach willkürlichen Verhaftungen kam es vor, dass Kommunisten versuchten, durch aus ihrer Sicht begrenzte Zugeständnisse wieder frei zu kommen.69 Ein Stadtverordneter in Coswig beispielsweise erwirkte seine Entlassung aus der Schutzhaft, indem er der Polizei einen Abzugsapparat der KPD in die Hände spielte.70 In Zeitz soll eine Frau eine Kommunistin denunziert haben, um ihren Ehemann aus dem Konzentrationslager freizubekommen.71 In Leipzig stellte der illegal für die „Kampfgemeinschaft für die Rote Sporteinheit“ tätige Willy Cymborowski – nach schweren Folterungen – seinen Vernehmern Aussagen in Aussicht, wenn man ihn freilassen würde. Cymborowski, der bereits seit 1920 67 Rudolf M., Lebenslauf, 10. 11. 1953 ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 22162, Bl. 130–133, zit. 131). 68 Beschluss der ZPKK, 17. Juni 1957 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV 2/4/465, Bl. 75 f.). 69 Einzelfälle, in denen willkürlich Verhaftete im Jahr 1933 ihre Freilassung bewirkten, indem sie ihren Bruch mit dem Kommunismus bekundeten, sind auch aus vielen Teilen des Reiches überliefert. Vgl. z. B. den Fall des KPO - Abgeordneten im Württembergischen Landtag, Max Hammer, der in der Schutzhaft „durch seine kranke Frau bedrängt“ eine Erklärung für die NSDAP abgab. Weber / Herbst, Kommunisten, S. 345 f. 70 Vgl. Der Hammer. Funktionär - Organ der K.P.D. für den Bezirk Magdeburg - Anhalt, o. D. [ Sommer 1933] ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/12/42, Bl. 75–79, hier 79). 71 Vgl. VVN - Fragenbogen Charlotte Seebe, 15. 2. 1949 ( SAPMO - BArch, DY 55/ V 278/2/107, Bl. 153).
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Mitglied der KPD war, kam tatsächlich nach einigen Wochen Haft im Mai 1933 frei und belastete drei illegale Funktionäre, die daraufhin verhaftet wurden.72 Ein Schwurgericht urteilte im Jahr 1947 relativ milde, dass „er dies erst getan hat, weil er selbst schwer von den Methoden der Gestapo zermürbt worden ist und er nur einen kleinen Teil von Gesinnungsgenossen verraten hat, während er den wichtigsten Teil der Geheimorganisation der Kommunistischen Partei nicht preisgegeben hat und sich auch später nach besten Kräften dem Naziregime wieder entgegengestellt hat.“73 Es gab aber auch KPD - Funktionäre, die sich unmittelbar nach ihrer Verhaftung zur umfassenden Mitarbeit bei der Gestapo bereit erklärten. Ein Beispiel hierfür ist der Leipziger KPD - Stadtverordnete und Rechtsanwalt Dr. Oskar Kolbe, der am 2. März 1933 verhaftet und bereits am 17. März wieder entlassen wurde, nachdem er „wertvolle Angaben gemacht hatte und weiterhin zu machen versprach“.74 Die Einlösung seines Versprechens bestand in einem 15-seitigen Pamphlet, das der politischen Polizei Ende Mai 1933 über einen Rechtsanwalt zugeleitet wurde. Hierin legte Dr. Kolbe sein umfassendes Wissen über die reorganisierte illegale KPD in Leipzig dar und gab der politischen Polizei zahlreiche Ratschläge. So solle man sich mit Verhaftungen Zeit lassen und zunächst die Arbeit von illegalen Funktionären beobachten, um ganze Organisationsteile zu erfassen. Das sei ratsam, weil verhaftete Funktionäre nicht aussagen würden und es ab Mai keine KPD - Mitgliedsbücher mehr gäbe. Eile bestünde nicht, weil die kommunistischen Führer an bestimmte Plätze beordert worden seien, die sie nicht verlassen dürften. „Oberster Grundsatz muss sein, die Herde auszubrennen und nicht Tausende oder Hunderttausende von vielleicht unwichtigen Menschen in Konzentrationslager zu bringen“, schrieb Dr. Kolbe, nannte Namen von wichtigen illegalen KPD - Funktionären in Leipzig, von emigrierten Kommunisten, sowie Details zur Agitationsarbeit der Kommunisten.75 Welche konkrete Bedeutung das Pamphlet für die Arbeit der politischen Polizei in Leipzig hatte und ob Dr. Kolbe weiter als Informant tätig war, ist nicht bekannt.76 Scheint es im Fall des Rechtsanwaltes ein verzweifelter Kampf um die Fortführung des Berufes gewesen zu sein, der ihn zu seinem Verhalten bewegte, 72 Allerdings waren seine Geständnisse nur von begrenztem Wert, zwei der Belasteten mussten wieder freigelassen werden. 73 Schwurgericht 70/47, 14 Ks 59/47 vom 10. 10. 1947 ( SächsStAL, Landgericht Leipzig, Nr. 7865, Bl. 107–109, zit. 109). 74 Polizeipräsident von Leipzig Knofe, an Ministerium des Innern, Oberpräsidium, Leipzig, 29. Mai 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 386). 75 Abschrift o. D. ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - St. 9, Bl. 387–394, zit. 390). Dr. Kolbe pries auch mehrere Maßnahmen der sowjetischen Diktatur als Vorbild an. So legte Kolbe der politischen Polizei nahe, den Passzwang einzuführen, ein Netz von V - Leuten aufzubauen, und er machte sich „Gedanken“ über das künftige Personal der politischen Polizei : unzuverlässige Beamte sollten durch SS - Männer ersetzt werden (ebd., Bl. 392). 76 Vgl. Carsten Schreiber, Politische Polizei und KPD. Die Politische Abteilung des Polizeipräsidiums Leipzig 1929 bis 1936, Leipzig 1998, S. 128 f.
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scheinen andere Kommunisten nach aufzehrenden Wochen in der Illegalität im Moment ihrer Verhaftung psychisch zusammengebrochen zu sein. So ein junger Plauener Kommunist, der im Juni 1933 als Hauptkurier nach Dresden beordert wurde, wo er sich als nicht beweglich genug erwies, weshalb ihn die KPDBezirksleitung nach Zittau schickte, um abgerissene Verbindungen wieder aufzunehmen, was ihm jedoch nicht gelang. „Er ging ( etwa Ende Juni 1933) hoch und packte restlos aus“, hieß es in einem KPD - Instrukteursbericht. Vor allem hätte er illegale Quartiere in Dresden verraten. Er „entschuldigte seinen Verrat durch einen Brief an seinen Bruder, dem er die Beständigkeit der faschistischen Diktatur plausibel machte.“77 Offenbar hatte der junge Mann die Aussichtslosigkeit des illegalen Kampfes gespürt. Eine weitgehende Bereitschaft zur Auslieferung ehemaliger Genossen an die Gestapo legte auch der vormalige technische Mitarbeiter der KPD - Bezirksleitung Leipzig, der gelernte Schlosser Erich Klöden, nach seiner Verhaftung am 14. Juli 1933 an den Tag.78 Dabei scheint es in seinem Verhalten zwei Phasen gegeben zu haben. Wie Klöden vor einem Leipziger Schwurgericht im Jahr 1946 berichtete, hätte das erste nächtliche Verhör bei der Gestapo mit einem Faustschlag ans Kinn und einem Tritt ins Gesäß begonnen. Seine sofortige Auskunftsbereitschaft hätte ihn dann vor weiteren körperlichen Misshandlungen bewahrt. Da ihm zahlreiche Decknamen untergetauchter Kommunisten bekannt waren, identifizierte er eine Reihe wichtiger KPD - Funktionäre, darunter den Polleiter des Bezirkes Sachsen, Karl Ferlemann, und seine engsten Mitarbeiter. Zu anderen Kommunisten gab er die genauen Funktionen an. Klöden belastete auch den Spitzenfunktionär Fritz Selbmann schwer, die Angaben trugen zu dessen Verurteilung zu sieben Jahren Zuchthaus bei.79 Die Gestapo Leipzig zeigte sich November 1933 vollauf zufrieden : „Seine bisher gemachten Angaben haben sich stets als wahr erwiesen und haben in allen Fällen zur Überführung der Personen geführt.“80 Während Klöden also zunächst bereitwillig Auskunft gab, und dafür von Folter verschont blieb, bot er der Gestapo im November 1933 seine aktive Mitarbeit an, womit er seine Haftentlassung erreichte. Die Gestapo schätzte ein : „Nach den gewonnenen Eindrücken scheint Klöden sich vollkommen von der KPD freigemacht zu haben und ist bemüht den nationalsozialistischen Gedanken in sich aufzunehmen.“81 Bereits in der Haft82 und dann auch auf 77 Bericht ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/99, Bl. 32–37, zit. 36). 78 Vgl. Bericht zur Hochverratssache Nolde und Genossen, 19. 7. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2349, Bl. 198–201). 79 Vgl. ebd., Bl. 101. 80 Polizeipräsidium Leipzig, Abteilung IV, an Staatanwaltschaft beim OLG Dresden, 27. 11. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2350, Bl. 1 f.). 81 Ebd. 82 Seine Entlassung aus der Untersuchungshaft erfolgte wahrscheinlich im Dezember 1933. Im Urteil des Landgerichts Leipzig heißt es, er sei nach fünf Monaten Untersuchungshaft entlassen worden. Vgl. Urteil Schwurgericht 37/46, 14 Ks 24/46 vom 28. 11. 1946 ( SächsStAL, Landgericht Leipzig, Nr. 7863, Bl. 100–102, hier 100).
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freiem Fuß erfüllte Klöden Aufträge für die Gestapo. Beispielsweise spielte er an der tschechischen Grenze den emigrierten Berliner Funktionär Karl Palm, welcher die Einschleusung illegaler kommunistischer Schriften organisiert hatte, der deutschen Polizei in die Hände.83 Aus seinem Seitenwechsel machte Klöden gegenüber ehemaligen Genossen keinen Hehl. Einem ehemaligen Waffenver walter der KPD trat er bei einer Gegenüberstellung mit dem Abzeichen eines DAF - Blockwalters gegenüber.84 Was motivierte Erich Klöden, der bereits 1928 in die KPD eingetreten und mehrere Jahre bei der Partei beschäftigt war, zu diesem Verhalten ? Nach dem Übergang in die Illegalität hatte die KPD Klöden bis Ende April 1933 als Kurier der Bezirksleitung eingesetzt und ihm dafür 25 Reichsmark pro Woche gezahlt. Zu dieser Zeit hatte es Konflikte gegeben; Karl Ferlemann hatte Klöden der Spitzeltätigkeit verdächtigt, nachdem dieser ihm anvertraute Briefumschläge eigenmächtig geöffnet hatte. Eine V - Mann - Tätigkeit bereits zu diesem Zeitpunkt ist anhand der überlieferten Akten nicht nachweisbar. Dass Klöden den Inhalt der von ihm geöffneten Briefe – es handelte sich um Berichte über Folterungen in Konzentrationslagern – verbrannt hatte, weil ihm der Inhalt als „strafbar“ erschienen war, und dass er zudem eine KPD - Sekretärin zu überreden suchte, ihm die Schreib - und Rechenmaschinen des ehemaligen Bezirksbüros „zwecks Versilberung“ zu geben, kann aber als symptomatisch für seine Haltung zur KPD angesehen werden : Die illegale Arbeit war ihm offenbar zu riskant geworden, und er schien bestrebt gewesen zu sein, möglichst unbeschadet aus der Sache herauszukommen.85
6.
Einzelfälle oder massenhaftes Überlaufen ?
Interne KPD - Berichte von 1933 suggerieren zumeist, dass es sich bei den Übertritten in nationalsozialistische Organisationen um ein marginales Phänomen handelte. So konstatierte am 21. März 1933 ein Sammelrundschreiben der KPD Halle - Merseburg : „Soweit heute die Übersicht vorhanden ist, sind nur im Mansfelder Gebiet Übertritte von Partei - und Kampfbundmitgliedern zur NSDAP zu verzeichnen.“86 Für Sachsen nannte ein Bericht vom August 1933 die Zahl von 80 Übertritten „in den letzten Wochen“.87 Detlev Peukert kam bei seiner Untersuchung zum KPD - Widerstand an Rhein und Ruhr zu der Einschätzung : „Weder in den durchweg kritischen Instrukteurberichten der 83 Vgl. Polizeipräsidium Leipzig, Abteilung IV, 15. 10. 1933 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2350, Bl. 8). 84 Vgl. Urteil Schwurgericht 37/46, 14 Ks 24/46 vom 28. 11. 1946 ( SächsStAL, Landgericht Leipzig, Nr. 7863, Bl. 100–102). 85 Vgl. ebd. 86 Sammelrundschreiben „Organisiert den Massenkampf gegen die faschistische Diktatur“, Halle, 21. März 1933 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/11/58, B. 1–3, zit 3v.). 87 An alle 5 Freunde. Aus der Aussprache mit dem Berater von 8 bis 13, 18. August 1933 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/8–10/168, Bl. 6 f.).
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KPD noch in den Polizeiakten finden sich Hinweise, dass eine größere Zahl von KPD - Mitgliedern zu den Nationalsozialisten übergelaufen wäre.“88 Peukert verwies auf einen KPD - Bericht, der eine Gesamtzahl von 60 Überläufern in Düsseldorf angab. Ähnliche Zahlen im Bereich weniger Prozente enthielten auch andere Berichte aus der westdeutschen Industrieregion. So meldete ein Bericht aus dem Restkreis Wadern zehn Überläufer, davon allerdings zwei Polleiter.89 Alle diese Angaben fassten jedoch nur begrenzte Zeiträume ins Auge, während Übertritte in NS - Organisationen allmählich und stetig stattfanden. Insofern sind sie für eine Beurteilung der Gesamtsituation wenig tauglich. Ein konträres Bild zeichnete der an der Spitze der illegalen KPD in Berlin tätige Herbert Wehner, der in seinen „Notizen“ berichtete, im Jahr 1933 seien „Massen desillusionierter Mitglieder der Partei und ihrer Nebenorganisationen in die halbmilitärischen Organisationen der Deutschnationalen und schließlich in die SA und NSDAP“90 geflüchtet. Ähnlich äußerte sich auch Wehners damaliger Gegenpart, Gestapo - Chef Rudolfs Diels.91 Auch wenn sich Diels’ eingangs zitierte Zahlenangaben bei Nachprüfungen als maßlos übertrieben erwiesen – Peter Longerich hat anhand von zwei Stichproben einen Anteil von maximal 1,7 Prozent ehemaliger Kommunisten in der SA berechnet – bleibt die Frage, welchen relativen Wahrheitswert die in Memoiren veröffentlichten Angaben von Wehner, Diels und anderen haben. Wenn man das ungleiche Kräfteverhältnis von SA und KPD im Jahr 1933 berücksichtigt – einer dynamisch wachsenden SA traten bis Mitte 1934 etwa 2,9 Millionen Deutsche bei – dann bedeutete ein Anteil von 1,7 Prozent ehemaligen Kommunisten in der SA, dass reichsweit bis zu 50 000 Kommunisten in die SA gingen. Bei einer geschätzten Zahl von 300 000 bis 360 000 Kommunisten war das ein Siebtel bis ein Sechstel der Parteimitglieder. Die Frage nach dem Ausmaß kommunistischen Überläufertums erweist sich somit auch als ein Problem der Perspektive. Aus Sicht der SA, da ist Longerich beizupflichten, war der Zustrom von Kommunisten ein marginales Phänomen. Die Rede von der „kommunistischen Unterwanderung“ diente angesichts eines Anteils von weniger als zwei Prozent ehemaliger Kommunisten lediglich der Verschleierung anderer Gründe für Unzufriedenheit und interne Spannungen in der SA.92 Aus der Sicht der Kommunisten hingegen bedeutete die Abwanderung von schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der eigenen Anhänger zur SA und anderen NS - Organisationen ein ernstes Problem; insofern gingen 88 Detlev Peukert, Die KPD im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945, Wuppertal 1980, S. 107. 89 Vgl. Bericht aus dem Restkreis Wadern ( Regierungsbezirk Trier ), Eingang : 19. 10. 1933 (SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/21/45, Bl. 33–36, hier 34). 90 Wehner, Notizen, S. 69. Vgl. auch Hans J. Reichardt, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes der Arbeiterbewegung. In : Walter Schmitthenner / Hans Buchheim ( Hg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Köln 1966, S. 169–213, hier 184 f. und 187, sowie Oskar Hippe, ... und unsere Fahn’ ist rot. Erinnerungen an sechzig Jahre in der Arbeiterbewegung, Hamburg 1979, S. 138. 91 Vgl. Diels, Lucifer, S. 207. 92 Vgl. Longerich, Bataillone, S. 193 f.
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die Schilderungen des Gestapo - Chefs, trotz zehnfach übertriebener Zahlen, nicht völlig an der Sache vorbei. Auch das in Zeitzeugenerinnerungen mehrfach erwähnte Klischee des Überlaufens ganzer Organisationsteile, wobei auch Schalmeienkapellen genannt wurden, muss nicht völlig revidiert werden,93 wenngleich es möglich ist, dass durch solche öffentlichkeitswirksamen Übertritte ein verzerrtes Bild entstand. Oft waren es auch nicht ganze Kapellen, sondern nur einzelne Mitglieder, so in Hannover94 und Erfurt.95 Zudem gibt es Indizien dafür, dass das Überlaufen ins gegnerische politische Lager lokal und regional in unterschiedlichem Ausmaß stattgefunden hat. Einige kommunistische Milieus erwiesen sich 1933 als relativ resistent gegen nationalsozialistische Einflüsse. So berichtete der Kommunist Johann Reiners, dass in seinem Erfahrungsumfeld – dem Milieu der Bremer Werftarbeiter – Überläufer von der KPD zur SA die Ausnahme gewesen seien.96 Andere Quellen hingegen, so ein KPD - Bericht aus Mecklenburg von Juni 1933, vermerkten : „Es gab viele Austritte und auch Übergänge zur SA.“97 Ein besonderer Fall war möglicherweise Berlin. Im „Kampf um Berlin“ adaptierten die Nazis teilweise kommunistische Strategien, um traditionell linkssozialistische Milieus zu zersetzen.98 War in der Reichshauptstadt die Fluktuation zwischen linken und rechten Kampfbünden stärker ausgeprägt als im Rest des Reiches ? Nach einer Schätzung von Hans - Joachim Reichhardt gingen 1933 in Berlin etwa 20 Prozent der Kommunisten zu den Nazis über, darunter viele ehemalige Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes.99 Das hieße, dass es in Ber93 Vgl. z. B. Bericht des Genossen Arno Hercher ( K.V. Saalfeld ) über seine illegale Tätigkeit v. 1933–45, 14. 5. 1948 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 2/3/116, Bl. 205) sowie Peukert, KPD im Widerstand, S. 107. Ein undatiertes Foto in : Friedrich A. Krummacher / Albert Wucher ( Hg.), Die Weimarer Republik, München 1965, S. 338. 94 Vgl. Landeshauptstadt Hannover, Freizeitheim Linden ( Hg.) : Wir aus der Kochstraße. Die Geschichte einer Straße im Arbeiterstadtteil Linden in Hannover, Hannover 1986, S. 95. 95 „Schon am Tage nach dem Reichstagsbrand war er in SA - Uniform“, berichtete ein KPDFunktionär über den ehemaligen Leiter der Kapelle des RFB in Erfurt. Ernst Frommhold, Der Übergang der Bezirksorganisation der KPD in die Illegalität 1933 ( BArch Berlin, SgY 30/1081, Bl. 25–34, zit. 31). 96 Vgl. Johann Reiners, Erlebt und nicht vergessen. Eine politische Biographie, Fischerhude 1982, S. 98. Vgl. ähnliche Einschätzungen bei Inge Marßolek / René Ott, Bremen im Dritten Reich, Bremen 1986, S. 151 f.; Francis L. Carsten, Widerstand gegen Hitler. Die deutschen Arbeiter und die Nazis, Frankfurt a. M. 1996 ( engl. EA 1995), S. 47 : „Die Bremer Werftarbeiter standen in ihrer Mehrheit dem Regime ablehnend gegenüber“. 97 Bericht von 15. ( übertragen aus dem Code ), Juni 1933 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/15/29, Bl. 3 f., zit. 3). 98 Dazu gehörte auch der von Horst Wessel praktizierte Einsatz einer nationalsozialistischen Schalmeienkapelle. 99 Zitiert in : Hans - Rainer Sandvoß, Die „andere“ Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945, Berlin 2007, S. 276. 30 Prozent waren zunächst zum Widerstand bereit, 50 Prozent blieben passiv. Diese Einschätzung entspricht laut Sandvoß KPD - internen Zahlen.
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lin in der Tat etwas mehr Überläufer gegeben hätte als in anderen Teilen des Reiches. Bei der Einschätzung des Überläufer-Phänomens muss berücksichtigt werden, dass viele KPD - Mitglieder erst seit kurzer Zeit das Mitgliedsbuch besaßen und dass es bereits in den Jahren vor 1933 eine starke Fluktuation gegeben hatte. Im Jahr 1930 zum Beispiel gewann die KPD 143 000 neue Mitglieder, verlor aber gleichzeitig 95 000.100 Ähnlich stark war die Fluktuation auch im Kommunistischen Jugendverband, sie betrug im Jahr 1930 durchschnittlich 45 Prozent.101 Obgleich es keine sicheren Angaben darüber gibt, ist anzunehmen, dass ein großer Teil dieser Mitgliederwanderung zwischen kommunistischen und NS- Organisationen stattfand.102 Dass die Berliner Polizei Anfang 1932 in einigen SA-Stürmen bis zu 50 Prozent ehemalige Kommunisten registrierte, kann als Indiz dafür gelten, dass dieses Phänomen in Berlin besonders ausgeprägt war.103 Hinsichtlich der Motive vermutete Christian Strief ler, dass neben persönlichen Verbindungen von Kommunisten und Nationalsozialisten das Wirken der SA als Wohlfahrtseinrichtung eine wichtige Rolle spielte.104 Das unterstrich Sven Reichardt, der Selbstzeugnisse von zur SA übergelaufenen Kommunisten aus der Zeit vor 1933 analysiert und festgestellt hat, dass das soziale Kontaktfeld der SA eine wichtige Rolle spielte.105 Nicht nur die Kommunisten hatten Suppenküchen und Straßenproteste organisiert und mehrheitlich Arbeitslose in ihren Reihen vereint,106 auch die SA wartete mit konkurrierenden Angeboten auf.107 Für einen gewissen Teil der KPD - Mitglieder ist anzunehmen, dass ideo100 Vgl. Ossip Pjatnizki, Brennende Fragen, Hamburg 1931, S. 39 f. 101 Vgl. August Creutzburg, Die Organisationsarbeit der KPD, Hamburg 1931, S. 48 f. 102 Im Jahr 1932 soll die Fluktuation zwischen SA und KPD 80 Prozent der Mitglieder der KPD betroffen haben. Vgl. Siegfried Bahne, Die KPD und das Ende von Weimar. Das Scheitern einer Politik 1932–1935, Frankfurt a. M. 1976, S. 16. 103 Vgl. Albert Grzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, 2. Auflage München 2009, S. 283. 104 Vgl. Christian Striefler, Kampf um die Macht, Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1993, S. 122 f. 105 Vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, 2. Auflage Köln 2009, S. 526. 106 Die KPD war zur Zeit der Weltwirtschaftskrise eine „Erwerbslosenpartei“; z. B. waren von ca. 200 000 Mitgliedern der KPD im Jahr 1931 etwa 80 Prozent arbeitslos. Vgl. Pjatnizki, Fragen, S. 42. Der Anteil der Arbeitslosen an der Gesamtarbeiterschaft betrug im Jahr 1931 etwa 35 Prozent, im Jahr 1932 stieg er auf knapp 45 Prozent. Vgl. Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1969, S. 317. Im Jahr 1930 waren in der SA von Berlin - Brandenburg 80 Prozent Arbeitslose. Vgl. Thomas Balistier, Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster 1989, S. 52. 107 Vgl. Jürgen W. Falter, Die „Märzgefallenen“ von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAP - Mitgliedschaft während der Machtergreifungsphase. In : Geschichte und Gesellschaft, 24 (1998) 4, S. 595–616, hier 610, Tabelle 1. Michael Kater hat darauf hingewiesen, dass nach der Machtübernahme Hitlers ein „unbekannter, aber wohl nicht unbeträchtlicher Anteil von arbeitslosen Arbeitern nicht zur NSDAP, sondern zur SA gefunden hat, gerade aus wirtschaftlichen Motiven, weil jene sich, mehr noch als die Massenpartei, bei den Arbeitsämtern intensiv um Arbeits-
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logische Gründe zweitrangig für ihre oft auch nur kurz währende Parteimitgliedschaft waren. Selbstzeugnisse von zur SA gewechselten ehemaligen Kommunisten aus der Zeit nach 1933, die lapidar angaben, „man sei lediglich aus sozialer Not der KPD beigetreten und habe dann gemerkt, dass die Ziele der NSDAP doch die richtigen gewesen seien“,108 stützen eine solche Vermutung. Festzuhalten bleibt, dass es bereits vor 1933 eine Fluktuation zwischen KPD und NS - Organisationen gab, wenngleich dieses Phänomen von beiden Seiten propagandistisch benutzt und übertrieben dargestellt wurde.109 Mit dem massiven Terror gegen Kommunisten im Jahr 1933 wandten sich die Unentschiedenen jedoch eindeutig in Richtung der NS - Organisationen.
7.
Wirkung
Adelheid von Saldern hat auf die Rolle von lokalen und regionalen Honoratioren als „Milieu - Öffner“110 verwiesen, die neben Terror und Gewalt das Eindringen des Nationalsozialismus in resistente Milieus bewirkten. Dieses Phänomen scheint es auch in traditionell kommunistischen Milieus gegeben zu haben. „In der Partei teilweise schlechte Stimmung wegen der vielfachen Verrätereien von Seiten einzelner Funktionäre“, meldete im August 1933 – also drei Monate vor dem öffentlichkeitswirksamen Auftreten von Dasecke und Otto – ein KPD Bericht aus Sachsen.111 Insbesondere in Kleinstädten bzw. Quartieren, in denen sich ein linkssozialistisches Milieu herausgebildet hatte, unterstützten Übertritte lokaler Politiker die Festigung der NS - Herrschaft und demoralisierten die noch unentschlossenen KPD - Mitglieder. So resümierte der KPD - Unterbezirksleiters von Flöha, Rudolf M., zur Wirkung seines in der Presse bekannt gegebenen Parteiaustrittes : „Mit dieser Erklärung wurde unter die Bevölkerung Verwirrung getragen und die Arbeit der Genossen, die mit der illegalen Arbeit der Partei beauftragt waren, erschwert. So kam es auch später nicht zu einer größeren illegalen Arbeit im Kreis Flöha.“112 In Oberwied in der Rhön brachte ein Funktionär die loka-
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beschaffung für die ‚Kameraden‘ zu bemühen schien.“ Michael H. Kater, Sozialer Wandel in der NSDAP im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung. In: Wolfgang Schieder ( Hg.), Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976, S. 25–68, zit. 45 f. Darunter waren mit großer Wahrscheinlichkeit auch ehemalige Mitglieder oder Sympathisanten der KPD. Reichardt, Kampfbünde, S. 527. Vgl. Striefler, Kampf, S. 119, Reichardt, Kampfbünde, S. 523–525. Adelheid von Saldern, Sozialmilieus und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Norddeutschland (1930–1933), in : Frank Bajohr ( Hg.), Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 2003, S. 20–52, hier 36. An alle 5 Freunde. Aus der Aussprache mit dem Berater von 8 bis 13 am 18. 8. 33 (SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/11/58, Bl. 13 f., zit. 14). Rudolf M., Lebenslauf, 10. 11. 1953 ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 22162, Bl. 130–133, zit. 131).
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len Kommunisten in „Schwierigkeiten“, indem er eine Ansprache auf der NaziKundgebung zum 1. Mai hielt.113 In Hochlarmark, einer Bergarbeitersiedlung in Recklinghausen, deren Bewohnerschaft traditionell stark sozialistisch und kommunistisch geprägt war, „hatte der Übertritt eines angesehenen Betriebsratsmitglieds von der KPD zur SA im Frühjahr 1933 eine demoralisierende Wirkung“ – wobei eher „Missmut und zähneknirschende Duldung“ des NS Regimes erzeugt wurde als Zustimmung.114 Im Stuttgarter Stadtviertel Rohracker löste ein KPD - Gemeinderat, der offenbar aus wirtschaftlichen Gründen der NSDAP beitrat, tiefe Enttäuschung im linkssozialistischen Milieu aus.115 Das Überlaufen bekannter kommunistischer Funktionäre zu den Nationalsozialisten verstärkte die Tendenz von Sympathisanten und Mitgliedern der KPD zu Resignation und Rückzug, teilweise zerfielen gleich ganze Organisationsteile. So wurde die Ortsgruppe Dorndorf in Thüringen durch das Überlaufen des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Hamann, wie es in einem KPD Bericht hieß, „zerschlagen“.116 Im KPD - Bezirk Magdeburg hatte, wie im August 1933 berichtet wurde, der Übertritt des Leiters des „Kampfbundes gegen Faschismus“ den gleichen Effekt.117 Die These der Milieu - Öffner muss jedoch, betrachtet man speziell kommunistische Überläufer, ergänzt werden, denn diese wurden nicht so einfach integriert wie etwa deutschnationale oder bürgerliche Honoratioren. Ehemaligen Kommunisten schlug ein ungleich höheres Misstrauen entgegen, wenn sie sich zum Wechsel in nationalsozialistische Organisationen anschickten. Besonders hart bekam das der KPD - Reichstagsabgeordnete Albert Janka zu spüren; aber auch Walter Otto erntete zunächst höhnische Reaktionen auf seinen Versuch, mit den Nationalsozialisten ins Gespräch zu kommen. Die Nationalsozialisten verlangten in vielen Fällen zunächst eine zynisch „Probezeit“ genannte längere KZ - Haft oder die Bereitschaft zur Denunziation bzw. den Einsatz als „Agent provocateur“. Und selbst dann wurden die Überläufer häufig nicht in NS Organisationen eingegliedert, sondern lediglich eine Zeit lang benutzt und dann fallen gelassen. Diese Politik der kontrollierten Instrumentalisierung zeigte sich auch in der späteren Behandlung derjenigen, die der KPD öffentlich abgeschworen hatten. Heinrich Wesche beispielsweise wurde zwar im November 1933 aus dem KZ Sachsenburg entlassen, arbeitete als Kraftfahrer, trat der SA bei und wurde
113 Bericht vom 11.–20. 5. 33 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/13/41, Bl. 7–9, zit. 7). 114 Michael Zimmermann, Schachtanlage und Zechenkolonie. Leben, Arbeit und Politik in einer Arbeitersiedlung 1880–1980, Essen 1987, S. 183 f. 115 Vgl. Hermann G. Abmayr / Ulrich Weitz ( Hg.), Alltag macht Geschichte. Stuttgart - Rohracker : Eine andere Heimatkunde, Stuttgart 1990, S. 72 f. 116 Bericht vom 11.–20. 5. 33 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/13/41, Bl. 7–9, zit. 7). 117 Vgl. An alle 5 Freunde. Aus der Aussprache mit dem Bauführer von 12, 21. August 1933 ( SAPMO - BArch, RY 1/ I 3/12/42, Bl. 5 f.).
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Sturmführer.118 Dennoch kam er im September 1939 als ehemaliger Spitzenfunktionär erneut ins KZ, wo er bis Juni 1943 inhaftiert war.119 Rudolf M. wurde ungeachtet seines öffentlichkeitswirksamen KPD - Austritts wegen Sprengstoffverbrechen und Vorbereitung zum Hochverrat zu insgesamt zwei Jahren und zwei Monaten Zuchthaus verurteilt, die er in Waldheim verbüßen musste – immerhin kam er danach nicht ins KZ.120 Der erzwungene „Verrat“ wurde also nur in begrenztem Maße belohnt. Lediglich jene, die ( allem Anschein nach ) mit dem Kommunismus völlig gebrochen und ihre Genossen preisgegeben hatten, wie das bei dem Kurier Erich Klöden der Fall war, erreichten Straffreiheit. Zwar wurde Klöden wegen seiner illegalen KPD - Tätigkeit am 22. Februar 1935 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, diese wurde jedoch zur Bewährung ausgesetzt.121 Wie tief das Misstrauen der Nationalsozialisten im Einzelfall sein konnte, zeigt der Fall von Walter Otto : Der willfährige Renegat stand noch bis August 1937 unter polizeilicher Beobachtung.122
118 Vgl. Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg. Das unzeitgemäße Leben des Berliner Rätekommunisten Alfred Weiland (1908–1978), Hamburg 2001, S. 319, Fußnote 111. 119 Laut Kubina kam Wesche ins KZ Buchenwald; Weber / Herbst, Kommunisten, S. 1016 f. geben an, dass Wesche in Sachsenhausen war. 120 Vgl. Rudolf M., Lebenslauf, 10. 11. 1953 ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 22162, Bl. 130–133). 121 Vgl. StA IIIa 120/35, 2. OLG A 61/34, Dresden, den 28. Juni 1935 ( SächsStAL, Polizeipräsidium Leipzig, PP - S 2350, Bl. 98). 122 Vgl. Gendarmerieposten Engelsdorf an Amtshauptmann zu Leipzig, 26. 7. 1937 ( STAL, A. H. Leipzig 2272, Bl. 10).
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„Der deutsche Buchhandel begrüßt die nationale Erhebung.“1 Die Reaktion des organisierten Buchhandels in Sachsen auf die NS - Machtergreifung Thomas Keiderling Die Unternehmensgeschichte zum „Dritten Reich“ kann mittlerweile auf eine stattliche Anzahl von Überblicks - und Einzelstudien verweisen.2 Aufgrund ihres wirtschaftspolitischen Einflusses und einer vergleichsweise günstigen Quellenlage galt zunächst den Großunternehmern aus Industrie, Handel und dem Finanzwesen das Forschungsinteresse. Wenn man allerdings das typische Unternehmerverhalten in der NS - Diktatur analysieren will, ist es sinnvoll, auch und gerade mittelständische wie Kleinunternehmer in die Untersuchung einzubeziehen. Sie stellten nämlich das Gros der selbstständigen Wirtschaftsakteure und ihr Handeln präsentiert sich insofern unverfälscht, weil sie sich oftmals nicht im Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit befanden. Der Buchhandel ist eine Branche, die traditionell eine sehr kleinteilige Struktur aufweist. Zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“ umfasste sie genau 11417 Firmen im Deutschen Reich. 1 569 Unternehmen davon verteilten sich auf 147 sächsische Städte. Führend in der Statistik waren Leipzig (966), Dresden (167) und Chemnitz (41).3 Kleinbetriebe mit bis zu 25 Angestellten dominierten. Die überschaubare Anzahl an Großunternehmen mit bis zu 2 500 Mitarbeitern4 agierte an den wichtigsten Standorten – Berlin, Leipzig, München, 1 2 3 4
Aus dem Sofortprogramm des deutschen Buchhandels vom 12. April 1933. In : Börsenblatt Nr. 101, 3. 5. 1933, S. 321. Vgl. zuletzt Norbert Frei, Die Wirtschaft des „Dritten Reiches“. Überlegungen zu einem Perspektivenwechsel. In : ders./ Tim Schanetzky ( Hg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 9–24. Vgl. Adreßbuch des Deutschen Buchhandels. Hg. vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, Leipzig 1933. Der größte Konzern des deutschen Buchhandels war das Logistikunternehmen Koehler & Volckmar AG & Co. in Leipzig, Stuttgart und Berlin mit 2 300 Mitarbeitern im Untersuchungszeitraum. Beispiele für größere Verlage mit Herstellungsabteilungen: F. A. Brockhaus, Leipzig beschäftigte 1933 : 600 Personen und 1939 : 1100 Personen, das Bibliographische Institut, Leipzig 1931 : 410 und 1936 : 890 Mitarbeiter und Bertelsmann, Gütersloh 1933 : 142 Personen und 1944 : 200 Personen ( Angaben gerundet). Steigende Mitarbeiterzahlen sind auf eine Binnenkonjunktur des NS - Buchmarktes und Zuwächse durch den Frontbuchhandel zurückzuführen.
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Stuttgart, Hamburg und Dresden ( in dieser Reihenfolge ). Während Berlin über die meisten Verlage und Buchhandlungen verfügte, war Leipzig das logistische und organisatorische Zentrum der Branche. Fast jedes Buch und ein Großteil aller Zeitungen wurden über Leipzig bestellt und ausgeliefert. Die hiesigen Lager, Bestell- und Auslieferungseinrichtungen bezeichnete man auch als den „Leipziger Platz“5. Schätzungsweise 1 200 Buchfirmen im erweiterten Sinne drängten sich im Graphischen Viertel6, einem Gewerbegebiet östlich des Leipziger Zentrums. Zudem war der Börsenverein der Deutschen Buchhändler (gegr. 1825) als Branchen - Dachverband in Leipzig angesiedelt. Dem Buchhandel kam im Nationalsozialismus eine außerordentlich hohe Bedeutung zu, denn er ermöglichte die Produktion und Verbreitung aller Printmedien und war somit für die NS - Propaganda auf diesem medialen Sektor grundlegend. Seine Schlüsselfunktion machte einerseits aus der Sicht der Herrschenden eine Überwachung notwendig. Die Buchunternehmer andererseits hatten sich an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Wie hoch der Status der Branche war, beweist unter anderem, dass selbst bis in die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs viele sächsische Buchhandelsbetriebe aufgrund von Sondergenehmigungen weiterarbeiteten, um kriegswichtiges Propagandamaterial, aber auch zerstreuende und die Kampfmoral stärkende Literatur in unzähligen Feldpostausgaben herzustellen. Auch die Alliierten erkannten die Kriegswichtigkeit der Buchbranche. Ein britischer Luftangriff vom 4. Dezember 1943 zerstörte aus diesem Grund das Leipziger Graphische Viertel zu ca. 80 Prozent.7 Der vorliegende Beitrag geht der zentralen Frage nach, wie der sächsische Buchhandel – mit Fokus auf Leipzig – auf die „Machtergreifung“ und die Gleichschaltungsmaßnahmen der Nationalsozialisten reagierte. Während viele betroffene Unternehmer im Nachhinein ihr damaliges Verhalten zu beschönigen suchten und sich zumeist eine Opferrolle zuschrieben,8 gibt es Belege für 5 6
7 8
Eine Kurzform für Leipziger Kommissionsplatz. Diese Zahl übersteigt deshalb diejenige der Leipziger Buchhandlungen ( gemeint sind mit Buchhandel : Verlags - , Zwischen - und Sortimentsbuchhandlungen / Antiquariate ), weil hierzu auch Betriebe des Buchdrucks, der Buchbinderei, des polygraphischen Maschinenbaus und weitere Zulieferbetriebe wie Pappe - und Papierfabriken zählten, die nicht unter den Buchhandel fallen. Die Zeitungsproduktion und - verbreitung gehören hingegen auch zum Aufgabenbereich des Buchhandels. Vgl. Olaf Groehler, Leipzig im Luftkrieg (1940–1945). In : Verwundungen. 50 Jahre nach der Zerstörung von Leipzig, Leipzig 1993, S. 18–51. Der Leipziger Musikverleger Martin von Hase ( Unternehmen Breitkopf & Härtel ) schrieb später : „Der deutsche Buchhandel einschließlich des Börsenvereins hat sich bis zum äußersten gegen die massiven Angriffe der nationalsozialistischen Machthaber gewehrt und ist gewissermaßen nur der ‚Übermacht der Feinde‘ erlegen, wobei zu beachten ist, dass es auch unter den Nationalsozialisten, die in führender Stellung im Buchhandel tätig waren, genug mutige Kämpfer für den freien Buchhandel und gegen die nationalsozialistische Gleichmacherei gegeben hat.“ Aus : Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, Nr. 73, 11. 9. 1959, S. 1092; Hans Widmann. Zit. in Helmut Hiller / Wolfgang Strauß, Der deutsche Buchhandel. Wesen, Gestalt, Aufgabe, 5., überarbeitete und verbesserte Auflage Hamburg 1975, S. 53.
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Die Reaktion des organisierten Buchhandels
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ein aktives, auf - das - Regime - zugehendes Verhalten der Buchhändler und ihres Leipziger Interessenverbandes. Im Zentrum der Untersuchung liegt das Jahr 1933, wobei punktuell der zeitliche Rahmen ausgedehnt wird, um das unternehmerische Verhalten in seinen Vorbedingungen und unmittelbaren Auswirkungen transparenter zu gestalten.
1.
Die Perspektive der Unterdrücker : Beginnende Gleichschaltung des Buchbereiches
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten veränderten sich die Rahmenbedingungen des Buchhandels grundlegend. Im März 1933 hatte Reichskanzler Hitler den Berliner Gauleiter Joseph Goebbels zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ( RMVP ) ernannt. Goebbels trieb die Gleichschaltung und Kontrolle des Presse - und Verlagswesens, des Kunst - und Kulturbetriebes durch die NSDAP voran, wobei die Vorbereitungen hierzu Monate währten und sich bis zum Spätherbst hinzogen. Das Gesetz über die Bildung einer Reichskulturkammer als einer zentralen Zensurinstanz wurde am 22. September 1933 verabschiedet. Es besagte, dass sämtliche mediale Berufs und Tätigkeitszweige der Kulturkammer unterstellt und fortan überwacht werden sollten. Die neue Einrichtung gliederte sich in insgesamt sieben Ressorts. Neben der Buchüberwachungsstelle „Reichsschrifttumskammer“ ( RSK ) gab es Kammern für Presse, Theater, Film, Musik, bildende Künste und Rundfunk, letztere wurde 1939 aufgelöst und ihre Aufgaben an die Reichs - Rundfunk Gesellschaft übertragen. Neu an der RSK war, dass sie nicht nur die Textproduktion per Nachzensur ( nach der Drucklegung / Veröffentlichung ) überwachte, sondern auch eine personelle Vorzensur einführte. Die flächendeckende personelle Überwachung, die zugleich den Ausschluss von Juden und politisch Andersdenkenden aus der Berufsausübung ermöglichte, brach mit den Grundsätzen bisheriger Zensur in Deutschland bzw. stellte sie aus Sicht der Unterdrücker auf eine qualitativ neue Stufe.9 Parallel zur Reichsschrifttumskammer nahmen zwei parteiamtliche Schrifttumsstellen ihre Arbeit auf, mit deren Hilfe die NSDAP ihre Interessen in Bezug auf die Literaturproduktion direkt wahrnahm. Im April 1934 wurde in München eine „Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS - Schrifttums“ (PPK ) etabliert. Im November 1934 erfolgte deren Umzug nach Berlin. Sie sollte diejenigen Buchtitel überwachen, die sich politischer, wirtschaftlicher, kultureller und allgemein weltanschaulicher Probleme widmeten, insbesondere der Darstellung führender Persönlichkeiten der NSDAP sowie der nationalsozialis9
Vgl. Volker Dahm, Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer. Die „Berufsgemeinschaft“ als Instrument kulturpolitischer Steuerung und sozialer Reglementierung. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 34 (1986), S. 53–84. Vgl. Jan - Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 40 (1993), S. 81–107.
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tischen Ideologie.10 Ab Juni 1934 betätigte sich zudem der führende NS Ideologe Alfred Rosenberg als „der Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. Seine „Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums“ (Amt Rosenberg ) begutachtete die Buchproduktion, um sie Partei - und Schulungsbüchereien zu empfehlen oder abzulehnen. Eine Besonderheit der NS - Medienzensur bestand darin, dass sie aus außenpolitischen Gründen lange Zeit verschleiert wurde. So veröffentlichte die RSK eine 1935 abgeschlossene reichseinheitliche Buchverbotsliste („Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“) zunächst nicht und teilte die indizierten Titel auch nicht den zu überwachenden Buchhändlern mit.11 Das sorgte in der Branche für Unmut, weil selbst weltanschaulich überzeugte Sortimenter von Beschlagnahme und strafrechtlicher Verfolgung betroffen werden konnten. Befanden sich doch auch NS - Schriften auf der Buchverbotsliste, die aus unterschiedlichsten Gründen indiziert worden waren.12 Und Goebbels verleugnete noch 1938 die doch offensichtliche Buchzensur auf dem Internationalen Verlegerkongress in Leipzig vor ausländischen Gästen.13 Trotz dieser Bemühungen konnte ein Abwenden des internationalen Buchhandels von Deutschland nicht verhindert werden. Die Zahl der ausländischen Buchhändler mit direkten Kontakten zum Deutschen Reich sank bis 1940 um mehr als 60 Prozent.14 Auf der anderen Seite konnte der Geschäftsrückgang im Import / Export durch einen konjunkturellen Aufschwung des Inlandsbuchhandels teilweise kompensiert werden. Dieser Aufschwung war nicht zuletzt durch NS - Literatur bewirkt worden, die sich steigender Beliebtheit bei den Kunden erfreute. Der hier nur skizzierte, vielgliedrige NS - Instanzenzug wurde im Verlauf des Jahres 1933 geschaffen und nahm mehrheitlich erst Ende 1933 bzw. Anfang 1934 seine Tätigkeit auf. Dieser Umstand erweist sich für die Untersuchung als bedeutsam, denn de facto gab es in den ersten Monaten der NS - Diktatur noch keine etablierte Buchzensur, sondern nur informelle Akte der Zensur. Einerseits 10 Vgl. Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich“, S. 128. 11 Heinz Wismann, der stellvertretende Präsident der RSK, legte den Grund der Geheimhaltung später wie folgt dar : „Es sind dies in erster Linie außenpolitische Gesichtspunkte, weil vermieden werden musste, dass die Veröffentlichung einer solchen Liste dazu führe, dass im Ausland eine Hetzpropaganda gegen das Dritte Reich entsteht.“ Vgl. Bericht Starkloffs über die Versammlung der Fachschaft Zwischenbuchhandel vom 20. 3. 1937, S. 2 ( StA–L ), Koehler & Volckmar, 119. 12 Gründe hierfür waren u. a. Flügelkämpfe innerhalb der NSDAP und seiner Gliederungen. Vgl. Dietrich Aigner, Die Indizierung „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ im Dritten Reich. In : Archiv für Geschichte des Buchwesens, 11/1971, Sp. 934– 1034, besonders Sp. 972–1006. Vgl. ferner Thomas Keiderling, Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co, 2., verbesserte Auflage Beucha 2008, S. 51–62. 13 Vgl. Joseph Goebbels, Rede auf der XII. Tagung des Internationalen Verleger - Kongreß’ 1938 in Leipzig und Berlin, Sonderdruck, Bl. 3. 14 Bei dieser Statistik ist zu beachten, dass durch Gebietsangliederungen an das Deutsche Reich Verzerrungen entstehen.
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kam es im Zuge der Gleichschaltungsmaßnahmen zu Denunziationen und Aktionen spontaner Verbote, zu denen unter anderem das Anfertigen von zahlreichen inoffiziellen „schwarzen Listen“ durch verschiedene Organisationen gehörte und nicht zuletzt die durch die Deutsche Studentenschaft organisierten öffentlichen Bücherverbrennungen. Andererseits führte das Ankündigen von reichseinheitlichen Regelungen zu entsprechenden Erwartungshaltungen in der Unternehmerschaft.
2.
Die Perspektive der Branchen - Dachorganisation : „Frühjahrsstürme“15 im deutschen Buchhandel
Im Frühjahr 1933 bewegte den Buchhandel zunächst noch die Frage des schleppenden Vorjahres - Weihnachtsgeschäfts. Die allgemeine Krise auf dem Buchmarkt drückte sich unter anderem in einer geringeren Bereitschaft der Verleger aus, neue Werke zu veröffentlichen. 1932 hatte die Buchtitelproduktion im Vergleich zum Vorjahr um 2 622 Werke ( rund 11 Prozent ) abgenommen und betrug nur noch 21452 Titel.16 Angesichts der politischen Verfolgungen setzte in der Wirtschaft ein rasches Umdenken und Neuorientieren ein. So ließ der Präsident des Hauptausschusses des Deutschen Industrie - und Handelstages Bernhard Grund wissen, dass die Unternehmer von Industrie und Handel, Schifffahrt, Banken und Verkehr „sich vorbehaltlos zur freudigen Mitarbeit am nationalen Staat bekennen und bereit und entschlossen sind, an den Aufgaben der Erholung und Kräftigung der gewerblichen Wirtschaft Deutschlands mitzuarbeiten.“17 Hinter solchen Positionierungen, die man in jenen Tagen wiederholt finden konnte, steckte die einhellige Hoffnung der Wirtschaftsakteure auf eine nachhaltige Konjunktur, die auch und gerade mittels politischer Maßnahmen oder Eingriffe in die Wirtschaft erzielt werden konnte. In gleicher Weise positionierte sich der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig zu den veränderten politischen Verhältnissen. Da eine Neuordnung des Buchhandels unvermeidlich schien und die Gründung entsprechender NS - Reichsstellen bereits angekündigt worden war, wollte der Branchenverband aus seiner passiven Rolle schlüpfen und mit „Forderungen“ an das NSRegime herantreten. Am 12. April 1933 verabschiedete der Börsenvereinsvorstand ein zehn Punkte umfassendes „Sofortprogramm“, das der Branche bei staatlicher Intervention den Schutz vor branchenexterner Konkurrenz sichern sollte. Darin wurde die „nationale Erhebung“ der NSDAP begrüßt, der Börsenverein als „Zwangsorganisation für alle Buchhändler“ in Vorschlag gebracht und diese Loyalitätserklärung gegenüber den neuen Machthabern mit eigenen wirt15 Börsenblatt ( Kantate - Nummer ) Nr. 110, 13. 5. 1933, S. 2. Ein Ausspruch von Gerhard Menz, bis 1933 Chefredakteur des „Börsenblatts“ und Professor für Buchhandelsbetriebslehre an der Leipziger Handelshochschule. 16 Vgl. Börsenblatt Nr. 58, 9. 3. 1933, S. 168. 17 Börsenblatt Nr. 84, 8. 4. 1933, S. 256.
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schaftlichen Forderungen verbunden. So sollten die vergleichsweise neuen Konkurrenten auf dem Buchmarkt wie die Buchgemeinschaften, die modernen Leihbibliotheken oder der Warenhausbuchhandel abgebaut, zerschlagen bzw. „restlos beseitigt“ werden. Beeinträchtigte diese neue und vom Publikum stark nachgefragte Konkurrenz de facto nur alteingesessene Buchunternehmen, die sich im Börsenverein organisierten, wurde deren Tätigkeit im Sofortprogramm als „ungesund“ und „volksschädigend“ bezeichnet. Eine staatliche Konzessionierung der Buchhändler – sie war bislang vom Börsenverein mehrheitlich abgelehnt worden – sollte die zu große Firmenkonkurrenz eindämmen. Auch in der „Judenfrage“ schloss sich der Börsenverein der neuen Reichsregierung vorbehaltlos an. Und fügte hinzu, dass seine Vorstandsämter „von jeher“ mit „nationalgesinnten Männern“ besetzt würden. „Rassenfremde gehören seit einem halben Jahrhundert dem Vorstand nicht an.“18 Im „Börsenblatt“ wurde dieses Dokument einen knappen Monat später abgedruckt und gelangte erst zu diesem Zeitpunkt zur Kenntnis des Gesamtbuchhandels. Währenddessen erlebten die Buchverbote einen weiteren Höhepunkt. Die von den Studenten organisierten öffentlichen Bücherverbrennungen „wider den undeutschen Geist“ vom 10. Mai 1933 in Berlin und anderen Universitätsstädten19 signalisierten in aller Öffentlichkeit die verbrecherischen Züge des NS - Systems. „Undeutsches Schrifttum“ humanistischer, sozialistischer, marxistischer und jüdischer Provenienz wurde dem Scheiterhaufen übergeben. Allein auf dem Berliner Opernplatz warfen in den Abendstunden Studenten zu den Klängen von Marschmusik rund 20 000 Bücher ins Feuer. Es waren dies Schriften von Sigmund Freud, Heinrich Heine, Ricarda Huch, Erich Kästner, Karl Kautsky, Thomas und Heinrich Mann, Karl Marx, Carl von Ossietzky, Anna Seghers, Kurt Tucholsky und von vielen anderen. Mit „Säuberungen“ der Volksbüchereien, der Schul - und Hochschulbibliotheken ging es weiter. Verfemte Autoren wurden verfolgt, mit Schreib - und Druckverbot belegt oder zur Emigration gezwungen. War der Leipziger Börsenverein bereits im April 1933 vorgeprescht, so reagierte er auch auf die Exzesse der Autodafés umgehend und mit voller Zustimmung. Schon am 13. Mai veröffentlichte der Leipziger Dachverband ohne sichtbaren Druck der Machthaber eine Liste mit den Namen von zwölf Schriftstellern, die „für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten“ seien. Gemeint waren : Lion Feuchtwanger, Ernst Glaeser, Arthur Holitscher, Alfred Kerr, Egon Erwin Kisch, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Ernst Ottwalt, Theodor Plivier, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky ( alias 18 Börsenblatt Nr. 101, 3. 5. 1933, S. 321 f. Vgl. auch die Erläuterungen hierzu des Börsenvereins - Vorstandsmitglieds Max Albert Heß. In : Börsenblatt ( Kantate - Nummer) Nr. 110, 13. 5. 1933, S. 1 f. 19 In Dresden wurden am 10. Mai 1933 Bücher verbannt, in Leipzig fand in diesem Rahmen keine solche Handlung statt. Jedoch wurden acht Tage zuvor die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bibliothek im Leipziger Volkshaus gestürmt, geplündert und Bücher im Hof des Gebäudes vernichtet. Hierzu existiert ein Foto, über dessen Datierung und Zuordnung sich Historiker streiten.
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Theobald Tiger, Peter Panter, Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser ) und Arnold Zweig. Die Erklärung schloss mit den Worten : „Der Vorstand erwartet, dass der Buchhandel die Werke dieser Schriftsteller nicht weiter verbreitet.“20 Zugleich wurde ein Arbeitsausschuss unter Leitung des Kampfbundes für deutsche Kultur und Vertretern des RMVP, des Reichsverbandes Deutscher Schriftsteller sowie des Börsenvereins eingesetzt, der in kürzester Zeit mehrere Buchverbotslisten für den Buchhandel vorlegte. Eine erste veröffentlichte Liste „Schöner Literatur“ enthielt 135 Autoren. Die durch die Bücherverbrennungen Verfemten wurden mit einem Kreuz versehen und hinzugefügt : „Sie müssen als die eigentlichen Schädlinge gelten, die auch für den Buchhandel auszumerzen wären.“21 Es war übrigens nicht das erste Mal, dass der Buchhandel einem Autodafé aus wirtschaftlichen bzw. Überzeugungsgründen zustimmte. Seit den 1890er Jahren gab es nach der weitgehend liberalen Handhabung der Zensur in Deutschland eine Bewegung gegen die sogenannte Schmutz - und Schundliteratur22, denen sich einige Buchhändler – nicht jedoch die Börsenvereinsspitze – angeschlossen hatten. Die Diskussionen durchzogen das „Börsenblatt“ seit der Jahrhundertwende und hatten um 1910 einen ersten Höhepunkt erlebt.23 Im Winter 1921/1922 hatte dann sogar eine „feierliche Bücherverbrennung“ wider die Schundliteratur stattgefunden. Der Berliner Magistrat hatte dazu eingeladen, auf dem Tempelhofer Feld 40 000 Schundschriften zu verbrennen. Im „Börsenblatt“ war zu lesen : „Auch wenn man diesen Akt für etwas theatralisch halten könne, so sollte man nicht vergessen, dass es die Jugend war, die dort zur Selbsthilfe griff.“24 Darin läge ein tiefer psychologischer Wertbegriff, meinte ein Buchhändler. Denn was würden alle Bestrebungen zur Beseitigung der Schundliteratur nützen, wenn die Jugend sie ablehnte. Ein weiterer Artikel hierzu räumte lediglich ein, dass „bei aller Freude“ über die Initiative des Berliner Magistrats doch zu bedenken wäre, welch ökonomischer Schaden durch die Verbrennung von Papier entstanden sei. Bei Einstampfung der Makulatur wäre der Allgemeinheit wieder etwas zu Gute gekommen.25 20 Die Erklärung stammte vom 11. Mai 1933, In : Börsenblatt Nr. 110, 13. 5. 1933, Sonderdruck. 21 Börsenblatt Nr. 112, 16. 5. 1933, S. 358. Vgl. Barbian, Börsenverein. In : Stephan Füssel/ Georg Jäger / Hermann Staub ( Hg.), Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825–2000. Ein geschichtlicher Aufriss, Frankfurt a. M. 2000, S. 91–117, hier 97. 22 Die Begriffe „Schmutz“ und „Schund“ machten erst nach 1900 Karriere. Ernst Schultze teilte sie in seiner 1909 erschienenen polemischen Publikation „Die Schundliteratur. Ihr Vordringen, Ihre Folgen, Ihre Bekämpfung“ in zwei Klassen : Einerseits handle es sich um literarisch schlechte, aber moralisch ungefährliche Bücher, andererseits um literarisch wertlose, gleichzeitig aber auch moralisch gefährliche Bücher ( vgl. S. 7 f.). 23 Stephan Füssel skizzierte einen engen Zusammenhang zwischen zentralen Argumenten der Schmutz - und Schunddebatte und den Feuersprüchen der Bücherverbrennungen von 1933. Vgl. Stephan Füssel, Vom Schaufenstergesetz zur Bücherverbrennung. Zur Kontinuität der „Schmutz - und Schunddebatte“. In : Buchhandelsgeschichte 2/1993, Frankfurt a. M., S. B55–B65. 24 Börsenblatt Nr. 16, 13. 1. 1922, S. 77. 25 Vgl. Börsenblatt Nr. 18, 21. 1. 1922, S. 85.
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Aber zurück zum Jahr 1933. Nicht alle Werke der genannten Autoren wurden ( sofort ) aus dem Verkehr gezogen. Eine Auswertung der Barsortimentskataloge des Leipziger Logistikunternehmens Koehler & Volckmar, die zugleich als reichseinheitliche Bestellgrundlage für deutsche Sortimentsbuchhandlungen dienten, ergab viele Sonderregelungen. So blieben die Werke von Ricarda Huch stets lieferbar, im letzten Katalog von 1944 waren 31 Titel gelistet. Die NS Stellen wussten zwar, dass Huch dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand, aber aufgrund eines zu befürchtenden negativen Propagandaeffekts ging man nicht gegen sie vor. Erich Kästners Bücher, 1933 verbrannt, wurden 1935 auf der bereits erwähnten offiziellen Buchverbotsliste („Liste 1“) geführt. Die letzten drei Kästner - Titel im Barsortimentskatalog von Koehler & Volckmar 1935 waren : „Emil und die Detektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“ und „Drei Männer im Schnee“. Sie konnten bis zu diesem Zeitpunkt über Leipzig deutschlandweit bestellt und vertrieben werden. Allerdings durfte er zwischen 1936 und 1942 unter dem Pseudonym Berthold Bürger für Theater und Film arbeiten. Nachdem 1942 bekannt wurde, dass er für Hans Albers’ „Münchhausen“ - Film das Drehbuch geschrieben hatte, erhielt er 1943 ein Schreibverbot. Schließlich ist noch exemplarisch das Beispiel Thomas Mann zu nennen, der von 1933 bis 1938 in Küsnacht am Zürichsee lebte und bis 1936 beim S. Fischer- Verlag publizierte. Im Barsortimentskatalog von Koehler & Volckmar waren 1934 30 Titel und 1935 29 Titel enthalten. Am 2. Dezember 1936 erfolgte die Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich, zwei Tage später die Einziehung seiner Schriften und am 19. Dezember die Aberkennung der Ehrendoktorwürde. Im bereits gedruckten, aber noch nicht versandten Barsortimentskatalog 1936/37 waren 17 Titel enthalten. Nach einem Telefonat mit der RSK wurde in einer Sonderaktion die Auslieferung des Katalogs in Leipzig und Stuttgart erst gestattet, nachdem die entsprechenden Stellen geschwärzt worden waren.26 Auf der Kantate - Hauptversammlung des Börsenvereins vom 14. Mai 1933, die zugleich den feierlichen Jahreshöhepunkt des deutschen Buchhandels markierte, wurde das enge Zusammengehen mit den neuen Machthabern eindrucksvoll demonstriert. Vertreter des RMVP waren anwesend und man verlas Begrüßungstelegramme an Hitler und Hindenburg, die unter dem Beifall der Hauptversammlung abgeschickt wurden. Auf dieser Versammlung wurde ein Aktionsausschuss des Börsenvereins ins Leben gerufen, der die im Aktionsprogramm angekündigte Gleichschaltung des Vereins umsetzen sollte. Er setzte sich aus vier Vertretern des Buchhandels ( z. T. NSDAP - Mitgliedern ) zusammen, hinzu kam ein Funktionär des RMVP. Am Abend sprach auf dem Festessen zur Kantatefeier der neue Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels. In seiner Rede betonte Goebbels die Notwendigkeit, den Buchhandel und seine Vertreter auf die neue Richtung zu bringen. „Sage mir, 26 Vgl. Herbert Lindenberger, Der Barsortiments - Katalog in den Jahren 1932–1944, Manuskript, Stuttgart ca. 2000.
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was Du liesest und ich werde Dir sagen, was Du bist. ( Beifall ) [...] Diese Regierung weiß, [...] dass das Buch, das dem Geist der Zeit gerecht wird, auch in Zukunft seinen Weg machen wird. Und so glauben wir, nicht nur dem deutschen Volke wirtschaftlich und politisch einen Weg nach oben zu zeigen, sondern auch kulturell und geistig.“27 Der am Ende dieser Ausführungen einsetzende „stürmische Beifall“ der Anwesenden war nicht gekünstelt, sprach der Reichsminister doch vielen Unternehmern aus dem Herzen, wenn er vor allem die Konjunktur des Buches unter den neuen politischen Verhältnissen prognostizierte. Anschließend stimmten alle schon fast programmatisch in das Tafellied „Ich habe mich ergeben“ ein.28 Obwohl sich der Leipziger Börsenverein dem Regime mehrfach angeboten hatte, erfolgte 1934 seine Entmachtung. Er existierte zwar als Fachverband weiter, verlor jedoch bei einem weitgehend eingeschränkten Aufgabenfeld seine ursprüngliche Bedeutung. Die Gründe für diese Entwicklung lagen einerseits in seiner internationalen Mitgliedschaft29, andererseits in lang zurückreichenden bürgerlichen Traditionen, die ihn inkompatibel mit dem Zensursystem des „Dritten Reichs“ machten. Ein taktisches Fehlverhalten des Börsenvereinsvorstehers Friedrich Oldenbourg bot den Nationalsozialisten im Mai 1934 einen Anlass, um das Vorsteheramt neu zu besetzen.30 Nach einem dreimonatigen Interim des Vorstehers Kurt Vowinckel berief man den nur 29 - jährigen überzeugten Nationalsozialisten Wilhelm Baur auf den vakanten Posten. Baur, zugleich ein Manager des offiziellen Zentralverlags der NSDAP Franz Eher Nachf. in München (gegr. 1921), in dem unter anderem der „Völkische Beobachter“ oder Hitlers „Mein Kampf“ erschienen, war auch leitender Funktionär der RSK. Von Anfang an machte er deutlich, der Gesamtbuchhandel werde unter seiner Leitung eine aktive und „verantwortungsfreudige“ Rolle bei der medialen Vermittlung der NS - Ideologie übernehmen.31 27 Börsenblatt Nr. 112, 16. 5. 1933, S. 355. 28 Vgl. Barbian, Börsenverein, S. 94–96. 29 Jeder Buchhändler der Welt konnte Mitglied des Börsenvereins werden. Es war sinnvoll, aber nicht Voraussetzung, dass er in geschäftlichen Beziehungen mit der deutschen Branche stand und einen Kommissionär, d. h. einen Logistikvertreter, in Leipzig besaß. Ausländische Mitglieder konnten allerdings nicht durch die NS - Zensur überwacht werden. 30 Oldenbourg forderte gegenüber dem RMVP und der RSK, bei der Einrichtung der Parteiamtlichen Prüfungskommission die gut absetzbare NS - Literatur nicht allein beim Eher- Verlag zu konzentrieren. Zudem sprach er sich gegen eine staatliche Förderung des deutschen Buchexports aus. Diese wirtschaftlichen Forderungen im Sinne der alteingesessenen Verlage und Buchhandlungen führten schließlich zur Amtsenthebung Oldenbourgs. Vgl. Barbian, Börsenverein, S. 99–104. 31 Wilhelm Baur (1905–1945) seit November 1920 im Eher Verlag tätig, seit 1935 Verlagsleiter und Aufsichtsratsmitglied des Eher - Konzerns; September 1934 bis 1945 Vorsteher des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler und Vorsitzender des Bundes Reichsdeutscher Buchhändler ( ab 1. 10. 1936 Leiter der „Gruppe Buchhandel“ in der RSK ); 1922 bis 1923 und 1928 bis 1930 SA - Mitglied; nach seiner Aufnahme in die SS am 1. 6. 1938 stieg er zum SS - Standartenführer und 1945 zum SS - Obersturmführer auf. Zuletzt beging er Selbstmord.
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Die Zäsur 1933 aus der Firmenperspektive
Es ist bereits deutlich geworden, dass ein tief gestaffeltes System von Zensureinrichtungen eine flächendeckende Überwachung der schriftstellerischen und buchhändlerischen Tätigkeit ermöglichte. Dennoch blieb die Landschaft der insgesamt rund 11400 Buchunternehmen – ausgenommen ist bei dieser Betrachtung die nationalsozialistische Gleichschaltung und Neuordnung des Pressewesens – in den ersten Jahren der NS - Diktatur weitgehend erhalten. Mit dem „Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens“ vom 26. Mai 1933 und dem „Gesetz über die Einbeziehung volks - und staatsfeindlichen Vermögens“ vom 14. Juli 1933 konnten Verlags - , Druck - und Vertriebsunternehmen von KPD und SPD liquidiert werden.32 Nutznießer dieser ersten Enteignungswelle war die Deutsche Arbeitsfront. Wie viele politische Verlage daraufhin tatsächlich geschlossen wurden, ist nicht belegt. Anders hingegen kann die Zahl der verfolgten jüdischen Buchunternehmen genauer bestimmt werden. Der Anteil der Juden im deutschen Buchhandel betrug laut einer Statistik der RSK von 1935 insgesamt 619 Personen. Bezogen auf die ca. 25 000 Mitglieder der buchhändlerischen Zwangsorganisation Bund Reichsdeutscher Buchhändler entsprach das 2,5 Prozent. Dieser an sich geringe Wert überstieg den Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung immerhin um etwas mehr als das Dreifache, was durch die NS - Propaganda als eine Art Bedrohung dargestellt wurde.33 In Leipzig waren nach einer ersten vorsichtigen Schätzung bis 1938 ca. 30 Buchfirmen vorrangig des Buchverlags, Musikalienverlags und Antiquariats von „Arisierungen“ betroffen.34 Die auf diese Weise aus der Wirtschaft gedrängten jüdischen Unternehmer waren Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Verfolgungen ausgesetzt. Namhafte Persönlichkeiten, so der berühmte Leipziger Musikverleger des C. F. Peters - Verlags, Henri Hinrichsen, wurden ins Konzentrationslager verschleppt und ermordet.35 Die überwiegende Mehrheit der Buchunternehmer hingegen, schätzungsweise mehr als 96 Prozent, war 1933 keinen Verfolgungen ausgesetzt. Mit großer Rasanz stellte sich diese Majorität ohne Druck irgendeiner Zensurbehörde auf die neuen Zeiten ein und brachte die Verlagsproduktion oder das Buchsorti32 Reichsgesetzblatt, Teil 1, Nr. 55 vom 27. 5. 1933, S. 479 f., und Nr. 81 vom 15. 7. 1933, S. 479 f. Zit. in Barbian, Literaturpolitik im NS - Staat, S. 28. 33 Vgl. Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich. Erster Teil : Die Ausschaltung der jüdischen Autoren, Verleger und Buchhändler. In : Archiv für Geschichte des Buchwesens, 20/1979, S. 27. 34 Vgl. Otto Seifert, Aspekte des geistigen Klimas für die „Arisierung“ und die Folgen für die Buchstadt Leipzig. In : Gibas, Monika ( Hg.), „Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Leipzig 2007, S. 73–93, hier 89. 35 Vgl. Irene Lawford - Hinrichsen / Norbert Molkenbur, C. F. Peters – ein deutscher Musikverlag im Leipziger Kulturleben. Zum Wirken von Max Abraham und Henri Hinrichsen. In : Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig. Hg. von der Ephraim- Carlebach - Stiftung, Leipzig 1994, S. 92–109.
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ment auf die Höhe der Zeit. Begibt man sich auf Spurensuche, so begegnet man vielen Akten der Selbstzensur. Verlage warben in auffälliger Weise mit politischen Argumenten für ihre Produktion.36 Neue NS - Titel wurden in das Programm aufgenommen und im Gegenzug Verlagsautoren nicht mehr gebracht, wenn Probleme und Risiken nicht auszuschließen waren. Der Lexikonverlag F. A. Brockhaus entschied sogar, ein 1933 neu aufgelegtes Nachschlagewerk „Kleiner Brockhaus. Handbuch des Wissens in einem Band“ (818 Seiten) durch einen kurzfristig erstellten Anhang zu komplettieren. Dieser enthielt auf 13 Seiten 638 NS - relevante Begriffe wie „Deutsche Arbeitsfront“, „Arier“, „Betriebszelle“, „Braunhemden“, „Drittes Reich“, „Gleichschaltung“, „Hitlergruß“, „Konzentrationslager“, „Nationalsozialismus“, „Nationalsozialistische Revolution“, „NSDAP“, „Rassenpflege“, „SA“, „SS“, „Sterilisierung“, „Totaler Staat“ usw. Gemessen an der gesamten Stichwortzahl von ca. 54 000, entfiel auf den NS - Nachtrag ein Anteil von etwas mehr als ein Prozent. Das Studium der NS - Werbung in den Buchverlagen belegt die zuvor genannte strategische Anpassung und den Spürsinn der Verleger und Buchhändler, sich dem veränderten politischen Rahmen sowie Publikumsgeschmack anzupassen. Die Unternehmer handelten dabei aus unterschiedlichen Motiven – aus weltanschaulicher Überzeugung, Opportunismus oder rein ökonomischen Überlegungen. Wie ist abschließend das Verhalten des Leipziger Börsenvereins und der sächsischen Buchhändler bei Machtantritt der Nationalsozialisten zu bewerten ? In den ersten Wochen und Monaten der NS - Diktatur war der Branchenverband des deutschen Buchhandels aktiv mit Äußerungen und Handlungen vorauseilenden Gehorsams, ja einer Art „Selbstgleichschaltung“37 in Erscheinung getreten. Er attackierte in einem Sofortprogramm Buchhändlerkollegen aus wirtschaftlichen Beweggründen und stimmte auch der Verfolgung verfemter Autoren der Bücherverbrennung vorbehaltlos zu, die bislang der Elite der deutschen Autorenschaft und Buchkultur angehörten. Es fragt sich, warum der Verband keinen Widerstand an den Tag legte bzw. kein differenziertes Verhalten gegenüber einzelnen Verfolgten. Aus heutiger Sicht lässt sich der Widerstand der Buchunternehmer leicht einfordern. Wichtig ist festzuhalten, dass die vorsichtig taktierenden und strategisch denkenden Unternehmer dies nicht für ratsam hielten, im Gegenteil, vielmehr sogar Möglichkeiten eines engeren Zusammengehens mit den NS - Machthabern nutzten. Ihr damaliges Verhalten sollte durch die Forschung in einen strukturellen und zeitgenössischen Kontext gestellt werden. Zwei grundsätzliche Überlegungen hierzu : 1. In der Unternehmensgeschichte ist wiederholt die Forderung erhoben worden, das zentrale Untersuchungssubjekt, den Unternehmer, in erster Linie 36 Selbst bei bislang eher sachlichen Darstellungen, u. a. den allgemeinbildenden Lexika wurde mit politischen Argumenten geworben. Vgl. die ganzseitige Anzeige für Meyers Lexika, Atlanten und Lexikon - Volksausgaben. In : Börsenblatt, Sonderausgabe Kantate, Nr. 110, 13. 5. 1933, S. 12. 37 So Barbian, Börsenverein, S. 94.
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als einen „homo oeconomicus“ zu begreifen und nicht als einen politisch denkenden und handelnden Menschen.38 Das soll nicht ausschließen, dass sich einzelne Unternehmer politisch betätigen konnten oder nachweislich als Spitzenfunktionäre des Börsenvereins und führende Vertreter des sächsischen Buchhandels eine nationaldeutsch - konservative, ja völkische Grundeinstellung besaßen. Bei dem hier zu untersuchenden Unternehmerverhalten geht es jedoch darum, berufstypische Muster aufzudecken. Im Kern bewegte die Unternehmer drei miteinander verbundene, ökonomisch motivierte Fragen : Zunächst ging es um den möglichst unbeeinträchtigten Fortbestand des eigenen Betriebes, sodann angesichts der Neuordnung des Buchmarktes ( verbunden mit politischen Verfolgungen und daraus resultierenden Umschichtungen von Marktsegmenten ) um eine Konsolidierung oder sogar Erweiterung der eigenen Auftragslage. Diese Überlegungen erhielten durch die länger andauernden Krisenjahre der Weimarer Republik eine große Bedeutung, waren doch viele Verlage und Buchhandlungen finanziell angeschlagen. Schließlich hatten die Wirtschaftsakteure die Frage für sich zu beantworten, welcher Preis für eine optimale Verfolgung ihrer unternehmerischen Interessen zu zahlen war. In jedem Falle war es für viele offensichtlich ratsam, die Initiative zu ergreifen. Das Sofortprogramm stellte eine taktische und zur Schau gestellte Unterordnung des Wirtschaftsverbandes dar und entsprach voll den Erwartungen der Mitgliederbasis. Der Verein sollte vor politischen Eingriffen beschützt und die politische Anpassung durch ein staatliches Entgegenkommen erkauft werden.39 Ein Schachzug, der sich vollständig aus der genannten Matrix unternehmerischen Verhaltens erklärt. Die volle Unterstützung der Bücherverbrennungen durch Erklärungen sowie durch einen rasch gegründeten Arbeitsausschuss zur Indizierung von Literatur und den daraufhin stattgefundenen Säuberungen von Buchhandlungen war eine erste Möglichkeit, um den NS - Machthabern zu beweisen, dass der Börsenverein bereit war, sich vollständig unterzuordnen und zu einer Zwangsorganisation des neuen Regimes zu werden. 2. Generell ist danach zu fragen, wie sich die gehobene soziale Stellung der Buchhändler auf ihre Bereitschaft oder Nichtbereitschaft auswirkte, sich aktiv dem Nationalsozialismus zu widersetzen. Es ist doch auffällig, dass viele sächsische Verleger und Buchhändler über nennenswerte Besitzstände verfügten. Wie sehr sich ökonomisches Kapitel in der Region ballte, enthüllte bereits das 1912 von Rudolf Martin zusammengestellte „Jahrbuch des Vermögens 38 Vgl. u. a. Toni Pierenkemper, Was kann eine moderne Unternehmensgeschichte leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden. In : Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 1 (1999), S. 15–31. 39 Vgl. Jan - Pieter Barbian, Auch eine „Wende“ – Die Buchhandelsstadt Leipzig in den Jahren 1933 und 1934. Vortrag für den Verein zur Förderung der Leipziger Stadtbibliotheken e. V. am 10. 5. 1995, Manuskript, S. 3 f. ( Deutsches Buch - und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig Ea 383).
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und Einkommens der Millionäre im Königreich Sachsen“. Wenn auch dieses Verzeichnis 21 Jahre vor der Machtergreifung veröffentlicht wurde, vermittelt es einen guten Eindruck über den Reichtum der regionalen Buchhändlerschaft. Unter den Millionären Sachsens gab es 94 Personen aus den Branchen Buchhandel und Buchdruck. Fast alle kamen sie aus Leipzig; nur drei aus Dresden.40 Reichtum, Verantwortung für einen Betrieb und eine gehobene soziale Stellung hielt viele Unternehmer davon ab, sich im „Dritten Reich“ zu exponieren. Die Betroffenen äußerten sich nicht öffentlich zu ihrem damaligen Verhalten. In Tagebucheintragungen wird man aber fündig. So hielt es Hans Brockhaus für wichtig, in seinen unveröffentlichten Erinnerungen eine kleine, auf den ersten Blick randständige Begebenheit zu erwähnen : Im Alten Theater der Stadt Leipzig hielt Goebbels 1938 eine Ansprache, bei der er beiläufig mit seinem bekannten Zynismus sagte, vor seiner Zeit hätte im deutschen Buchhandel „Tohuwabohu“ geherrscht. Brockhaus notierte hierzu : „Nach der Feier sagte meine Frau [ Susanne, Th. K.] zu mir, warum ich nicht, warum kein Buchhändler aufgestanden sei und dem widersprochen habe ? Ich erwiderte, dass ich ebenso gut meinen Kopf auf ein Schafott hätte legen können, und wem damit außer den Nazis wohl gedient wäre.“41 Dieses Zitat stellt eine nachträgliche Rechtfertigung für den unterlassenen offenen Widerstand im „Dritten Reich“ dar. Ein öffentliches, womöglich unüberlegtes Opponieren hätte die unternehmerische und bürgerliche Existenz unnötig aufs Spiel gesetzt und bei dem vorliegenden Kräfteverhältnis nichts bewirkt. Ein Unternehmer im „Dritten Reich“ sollte in schwierigen Zeiten andere und vor allem legale Möglichkeiten verfolgen, um eigene Ziele zu erreichen. Hans Brockhaus nutzte seine persönlichen Kontakte zu einflussreichen NS - Stellen weidlich aus, um deren Einfluss auf die Buchproduktion seines Hauses partiell zurückzudrängen oder schwerwiegende Eingriffe in den eigenen Betrieb zu verhindern. So verhandelte er in Sachen des Lexikons mit der zuständigen Behörde, der Parteiamtlichen Prüfungskommission, über die Ausgestaltung einzelner Lexikonartikel und konnte ein drohendes Arisierungsverfahren gegen seine Familie und seinen Betrieb erfolgreich abwenden.42 Im Zweiten Weltkrieg gelang es ihm, mehrere drohende Betriebsstilllegungen, von denen er durch 40 Insgesamt war die Familie Brockhaus mit 5 Vertretern und einem Gesamtvermögen von 29,1 Mio. Mark führend vor der Familie Meyer ( Bibliographisches Institut ) mit 4 Personen und einem Schätzvermögen von 27,9 Mio. Mark sowie Brandstetter mit ebenfalls 4 Vertretern und 19,5 Mio. Mark. Sie übertrumpften somit die drei Tauchnitz Namensträger mit zusammen 18,8 Mio. Mark. Vgl. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre im Königreich Sachsen, Berlin 1912. 41 Unveröffentlichte Erinnerungen von Hans Brockhaus, Wiesbaden um 1960, S. 147, Brockhaus - Archiv Wiesbaden. 42 Die Unternehmer Brockhaus, deren Verlag aufgrund einer jüdischen Vorfahrin „arisiert“ werden sollte, konnte dies aufgrund eines Gnadengesuchs bei Adolf Hitler verhindern. Vgl. hierzu Thomas Keiderling, Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur ? Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut („Meyer“ ) während des Nationalsozialismus. In : VfZ, 1 (2012), S. 69–92.
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Thomas Keiderling
seine Kontakte frühzeitig erfuhr, über eine Vorsprache bei entsprechenden staatlichen Stellen und unter Geltendmachung inhaltlicher und sachlicher Argumente im Sinne der NS - Diktatur abzuwenden. Bei dem Konkurrenzunternehmen Bibliographisches Institut („Meyers Lexikon“) war dies nicht anders. Da sich die Unternehmer bei dieser Einflussnahme keinen persönlichen Gefahren aussetzten, ist es nicht sinnvoll, von einem Widerstand zu sprechen. Es handelte sich vielmehr um ein strategisches Unternehmerverhalten. Aus heutiger Sicht lässt sich einschätzen, dass die übergroße Mehrheit der Buchunternehmer mit ihrer Verfahrensweise des Paktierens und Verhandelns mit entsprechenden Reichsstellen Teilerfolge bei der Durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen verbuchen konnten. Bei der kritischen Einschätzung ihres Verhaltens erscheinen sie mehrheitlich nicht als Opfer. Sie waren Mitläufer, zum Teil Nutznießer und Gewinnler. Nicht wenige verstrickten sich mit dem NS - System und übernahmen eine Mitschuld an Zensur - , Überwachungs - und Verfolgungsmaßnahmen.
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Die Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus. Ein Werkstattbericht1 Norman Pohl
1.
Einleitung
Die Geschichte der Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus ist unter den Vorzeichen Macht, Praxis und Ideologie zu betrachten. Dabei interessieren vor allem die Strukturen, Ereignisse und Mittel, durch die es den Nationalsozialisten gelang, Einfluss auf die Institution Bergakademie Freiberg zu nehmen, diesen Einfluss zu verstärken und die Hochschule schließlich zu kontrollieren. Die Frage der „Durchherrschung“ ist dabei ebenso zu beleuchten wie das Problem, ob der in den zeitgenössischen Publikationen und internen Stellungnahmen beschworene bergakademische Korporatismus sich dem nationalsozialistischen Zugriff entgegenstellen konnte oder auf diesen befördernd wirkte. Zu fragen ist u. a. nach handelnden Gruppen, nach einzelnen Personen und nicht zuletzt auch danach, ob es an der Bergakademie Freiberg im Vergleich zu anderen Hochschulen bemerkenswert unterschiedliche Entwicklungen gab. In diesem Kontext ist die Praxis der Natur - und Ingenieurwissenschaften zu betrachten, deren selbst postulierter Anspruch auf eine ideologiefreie Wissenschaft auch im heutigen Selbstverständnis trotz vorhandenen besseren Wissens nach wie vor nahezu ungebrochen besteht. Schließlich ist der Frage der Indoktrination der Hochschulangehörigen mit nationalsozialistischer Ideologie nachzugehen. Die Ausführungen im hier vorgelegten Werkstattbericht können indes einzelne dieser Probleme nur anreißen. So zeigt beispielsweise eine Analyse auf der Basis der Professorenkartei des Freiberger Universitätsarchivs sowie von Unterlagen des Sächsischen Staats1
Im Jahr 2015 feiert die Technische Universität Bergakademie Freiberg ihr 250 - jähriges Jubiläum. Damit sich dieses nicht im wohlfeilen Jubel über Leistungen und Taten früher Heroen erschöpft, erfolgt derzeit auch die Erforschung der jüngeren Vergangenheit der Bergakademie. Die hierfür gewählten Eckdaten sind die Herauslösung der Bergakademie aus dem bis dato dienstvorgesetzten Oberbergamt zum Beginn des Jahres 1869 als eigenständige Institution als Anfangspunkt und die Erlangung auch des formalen Ranges einer Technischen Universität und die Bildung der auch heute noch bestehenden sechs Fakultäten als innerer Struktur in den Jahren 1993/1994 als Endpunkt. Die hier vorgestellten Überlegungen zur Geschichte der Bergakademie in der NS - Zeit resultieren aus den bisherigen, noch am Anfang stehenden Auswertungen von Archivalien verschiedener Provenienz und einschlägiger Forschungsliteratur.
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archivs, auch wenn sie vor Sichtung aller Unterlagen einschließlich der Bestände des Bundesarchivs in Berlin noch nicht abgeschlossen ist, dass auf der Ebene der Ordinarien noch zu Beginn des Jahres 1933 kein NSDAP - Mitglied zu verzeichnen war. Das Zusammenwirken einer gezielten Berufungspolitik2 sowie die Aufhebung des Aufnahmestopps in die NSDAP 1937 führten aber dazu, dass bereits ab 1937 Nationalsozialisten an der Bergakademie unter den Professoren in der Mehrheit waren. Grundlegende strukturelle Veränderungen an der Bergakademie ergaben sich in der NS - Zeit aus der neuen Zuordnung der Institution in ihrer Gesamtheit und einigen ihrer Teile zu den Sächsischen Ministerien.3 So ging die Bergakademie als solche 1936 aus dem Verantwortungsbereich des Finanzministeriums, in dem sie sich seit Auflösung des Sächsischen Oberbergamtes am 3. Januar 1869 und ihrer nachfolgenden Verselbständigung befand, in die Zuständigkeit des Volksbildungsministeriums über. Das Braunkohlenforschungs- Institut sowie die Institute für Eisenhütten-, für Hütten- und für Metallkunde kamen am 12. März 1935 durch Erlass des Reichsstatthalters hingegen zunächst unter die Oberaufsicht des Sächsischen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Ab 1. April 1939 waren schließlich alle Institute der Bergakademie, einschließlich des Braunkohlenforschungs - Institutes, „auf Grund von Vorstellungen des Herrn Reichserziehungsministers“, dem Sächsischen Ministerium für Volksbildung zugeordnet.4 Die 1940 erfolgte Bildung der beiden Fakultäten, nämlich für Naturwissenschaften und Ergänzungsfächer sowie für Berg - und Hüttenwesen, führte die Bergakademie vom Charakter her mehr an eine Technische Hochschule heran. Zudem konnte die Bergakademie in dieser Zeit neue Studiengänge einrichten, welche die gewandelten Ausbildungsschwerpunkte deutlicher zur Geltung brachten. Seit 1939 besaß sie das Promotionsrecht zum Dr. rer. nat. zusätzlich zum Dr. - Ing., ein weiterer Schritt hin zur akademischen Emanzipation.5 2 3
4
5
Siehe dazu unten. Zum Zeitkontext vgl. Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004; Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933–1952, Köln 2004. Vgl. Rektor der Bergakademie Freiberg an die „Herren Institutsdirektoren“ vom 11. März 1939 ( UAF D / R 17 unpag.); Der Sächsische Minister für Wirtschaft und Arbeit an Rektor der Bergakademie Freiberg vom 27. März 1939 ( UAF D / R 17 unpag.), mit Verweis auf die Verordnung des Reichsstatthalters in Sachsen, Landesregierung, II A 216/3 vom 3. März 1939; Leiter des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung an Rektor der Bergakademie, Az. : Berg : 3 a In /39. vom 8. März 1939 ( UAF D / R 17, unpag.); Abschrift Reichsstatthalter in Sachsen – Landesregierung – an Minister für Wirtschaft und Arbeit, Az. : II A 216/3. vom 3. März 1939 ( UAF D / R 17, unpag.), mit Bezug auf Verfügung W E 3629, W P, Z II a ( b ) des Reichserziehungsministers vom 6. Dezember 1938. Vgl. Otfried Wagenbreth / Norman Pohl / Herbert Kaden / Roland Volkmer, Die Technische Universität Bergakademie Freiberg und ihre Geschichte dargestellt in Tabellen und Bildern, 3. Auflage Freiberg 2012, S. 47. Die Bergakademie erhielt erst
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Die Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus
2.
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Stand der Forschung
Bisherige Arbeiten über die Bergakademie Freiberg in der NS - Zeit bieten ein eher mosaikartiges Bild. Eine erste fragmentarische, die Zeit der NS - Herrschaft allerdings behandelnde Darstellung entstammt der Feder des Professors für Staats - und Volkswirtschaftslehre und frühen Nationalsozialisten der Bergakademie, Walter Alexis Hoffmann, der dabei jedoch seine eigene Beteiligung an der nationalsozialistischen Durchdringung der Bergakademie verschweigt.6 Dem entgegen stellt die 1967 abgeschlossene Dissertation von Heinz Bäßler gerade Hoffmanns Wirken in den Mittelpunkt, ohne indes die Ingenieure und Natur wissenschaftler intensiv zu betrachten. Allgemein kommt Bäßler zu dem Fazit, dass die Bergakademie Freiberg fest in der nationalsozialistischen Herrschaft und Aggressionspolitik verankert war.7 Danach stagnierte für etwa drei Jahrzehnte die historische Forschung zum Thema Bergakademie Freiberg in der NS - Zeit. Das der Betrachtung von Leben und Leistung des Professors für angewandte Geophysik, Otto Meißer, gewidmete Agricola - Kolloquium des Berg - und Hüttenmännischen Tages 1999 bedeutete insofern einen Markstein, als es gegen inneruniversitäre Widerstände gelang, die NS - Vergangenheit Meißers zu thematisieren und damit der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Bergakademie im Nationalsozialismus letzten Endes den Weg zu bereiten.8 Daher kann es kaum überraschen, dass die Anonymität von Tätern und Verantwortlichen in der bisherigen Literatur weitgehend gewahrt blieb. In neuerer Zeit rückte der Historiker Carsten Schreiber jedoch explizit den Dozentenbundsführer und seinerzeitigen außerordentlichen Professor für Brikettierkunde und Bergbaukunde, Kurt Säuberlich, in den Focus, „eine der interessantesten Figuren des SD in Sachsen.“9 Ungeachtet seiner NS - Vergangenheit stand Säuberlich auch nach 1945 noch eine Karriere als Wissenschaftler in der DDR offen, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er von 1950 bis 1961 als IM „Saalfeld“
6 7 8
9
1905 im Nachgang zur allgemeinen Entwicklung das Promotionsrecht zum Dr. - Ing. Dazu Nele - Hendrikje Lehmann, „Die Bergakademie Freiberg ist eine technische Hochschule.“ Organisation und Selbstwahrnehmung der Bergakademie im Kaiserreich. In : Norman Pohl / Nele - Hendrikje Lehmann ( Hg.), Von Freiberg nach Bologna : Zur Geschichte von Studienbedingungen und Bildungsreformen. Beiträge des Agricola Kolloquiums 2010, im Druck. Vgl. Walter Hoffmann, Bergakademie Freiberg. Freiberg und sein Bergbau. Die Sächsische Bergakademie, Frankfurt a. M. 1959, S. 106–110. Heinz Bäßler, Zu den Auswirkungen der faschistischen Hochschulpolitik auf die Bergakademie Freiberg (1933–1945), Rostock 1967, S. 220 f. Zu Meißer vgl. Helmuth Albrecht, Otto Meißer (1899–1966) – eine kritische Würdigung. In : Helmuth Albrecht / Norman Fuchsloch ( Red. Leitung ), Otto Meißer (1899– 1966). Vorträge anlässlich des 50. Berg - und Hüttenmännischen Tages 1999 und ergänzende Beiträge zur Geschichte der TU Bergakademie Freiberg, Freiberg 2002, S. 3–20. Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 341.
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Norman Pohl
für die Staatssicherheit der DDR Spitzeldienste leistete.10 Es wirft ein durchaus fragwürdiges Licht auf die Bemühungen der Entnazifizierung der Bergakademie im Mai 1945, wenn der Professor für Eisenhüttenkunde Eduard Maurer, selbst NSDAP - Mitglied, auf der ersten Sitzung des Senats der Nachkriegszeit erklärte, Säuberlich, für den Schreiber mit Bezug auf dessen Rang als SS - Obersturmführer im SD den Beinamen „‚Schwarze Eminenz‘ der Bergakademie“ anführt,11 habe der Bergakademie mit seiner Tätigkeit doch geholfen.12 Säuberlich „führte“, nach Schreiber, „ein – an der Universität allgemein bekanntes – Doppelleben als Wissenschaftler und zugleich wichtigster SD - Führer der ganzen Stadt.“13 Säuberlichs Agieren im Detail zu beleuchten, bleibt noch einer künftigen Studie vorbehalten.
3.
Ergebnisse neuerer Quellenauswertungen
3.1
Existenzkrise der Bergakademie 1931 als Ausgangspunkt des nationalsozialistischen Umbaus der Hochschule
Einer der Dreh - und Angelpunkte für die Geschichte der Bergakademie Freiberg im nationalsozialistischen Sachsen sind die letzten Endes gescheiterten Vorstöße zur Schließung der Hochschule in den Haushaltsdebatten des Jahres 1931.14 Von den seinerzeit 23 bestehenden Professuren sollten vier zur Streichung vorgesehen werden. Zwei dieser Stellenstreichungen erbrachte die Bergakademie dadurch, dass die Besetzung der Professuren für Hüttenkeramik und für Geophysik nicht weiter betrieben wurde. Ferner sollte die Professur für technische Chemie mit dem absehbaren Ausscheiden des Stelleninhabers Döring wegfallen, jedoch : „Eine vierte Professur für den Wegfall erklärten Rektor und Senat nicht vorschlagen zu können“.15 Im Jahr 1937, als die nationalsozialistische Herrschaft an der Hochschule gefestigt war, kam die Diskussion um die fachliche Neuprofilierung im Zusammenhang mit den zu berufenden nationalsozialistischen Parteigängern erneut auf. Immerhin stand die Regelung der Nachfolge
10 Vgl. ebd., S. 342 f. Michael Düsing, „Mein Weg, Herr Oberbürgermeister, ist schon bestimmt.“ Judenverfolgung in Freiberg 1933–1945, Dresden 2011, geht auf diese Verstrickung Säuberlichs nicht ein. 11 Vgl. Schreiber, Elite, S. 16. 12 Vgl. Helmuth Albrecht, Wiedereröffnung oder Neubeginn ? Die Bergakademie am Ende des Dritten Reiches. In : Zeitschrift für Freunde und Förderer der Technischen Universität Bergakademie Freiberg, 3 (1994/96) 1/2, S. 25–33, hier 28. 13 Schreiber, Elite, S. 341. 14 Vgl. Norman Fuchsloch, Autonomie der Hochschule oder staatlicher Zwang ? Die Auflösung des Radium - Instituts der Bergakademie Freiberg und das Gesetz Nr. 25 der Alliierten Kontrollbehörde. In : Dieter Hoffmann ( Hg.), Physik im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 2003, S. 89–98. 15 Aktennotiz Werner Studentkowski vom 11. November 1937 ( SächsHStAD, 11125 MinKultusÖffU 16077, Bl. 23).
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Die Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus
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von vier Lehrstühlen zugleich auf der Tagesordnung, nämlich für Physik und Radiumkunde, für Elektrotechnik, für Metallkunde des Eisens und der Nichtmetalle und Physikalische Chemie sowie für Eisenprobierkunde und chemische Technologie.16 Allerdings wurde auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft bei der Stellenbewirtschaftung der Freiberger Hochschule auf den noch zu Weimarer Zeiten konzipierten und dann fortgeschriebenen Stellenplan Bezug genommen. Nicht zuletzt aus diesem Grund scheiterte der Zugriff des Nationalsozialisten Willy Bielenberg auf das Rektorat der Bergakademie 1935, da Gauleiter Martin Mutschmann eine Ernennung Bielenbergs zum Professor hinauszögerte. Mutschmann sah dabei wohl weder eine ausreichende fachliche Leistung noch aus seiner Sicht eine hinreichende politische Zuverlässigkeit vorliegen, ganz der zwei Jahre später herrschenden Praxis entsprechend : „Die derzeitige Berufungspolitik des Reichserziehungsministeriums geht davon aus, dass der erste Gesichtspunkt die fachliche Leistung ist, dass eine Berufung nur auf Grund politischer Zuverlässigkeit nicht in Frage kommt.“17 Im Ergebnis gelang es Rektor Höltje, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen, die verfügbaren Stellen eigennützig zu arrangieren und sein eigenes Institut so zu strukturieren, dass ein gefestigter Herrschaftsbereich innerhalb der Bergakademie entstanden war, der einem immer wieder als „Großfürstentum“ bezeichneten Institut unter Leitung eines Ordinarius entsprach. Er desavouierte dabei nicht nur seine Kollegen Brenthel und Maurer, sondern brüskierte auch das Sächsische Ministerium für Volksbildung und das Wirtschaftsministerium. Höltje wartete die einvernehmlich gewünschte Besetzung der Professur für Metallkunde mit Dr. - Ing. Maximilian Freiherr von Schwarz ab, um danach auf eine „neu entstandene Lage“ zu verweisen und die für den Wunschkandidaten des Wirtschaftsministeriums vorgesehene Professur für technische Röntgenkunde und physikalische Chemie für erledigt zu erklären. Daraus entstand die Situation, dass die nach Ende des Zweiten Weltkriegs getroffene Entscheidung, die Professur für Radiumkunde zu streichen, nicht auf angenommene Forschungen des Stelleninhabers Aeckerlein zur atomaren Bewaffnung NS - Deutschlands zurückzuführen war, sondern auf die Stellenpolitik des nationalsozialistisch geprägten Rektorats Ende der 1930er Jahre.18 16 Vgl. Fuchsloch, Autonomie, S. 92. Genannt sind hier die in der Lehre vertretenen Gebiete. 17 Fritz Kubach an Reichsstudentenführer vom 12. April 1937 ( BA Berlin NS 38/3714), zit. nach Michael Grüttner, Nationalsozialistische Wissenschaftler : ein Kollektivporträt. In : Michael Grüttner / Rüdiger Hachtmann / Konrad H. Jarausch / Jürgen John / Matthias Middell ( Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 149–165, hier 164. Bis 1944 hatte sich die Situation wohl geändert, denn der bereits emeritierte Professor für Physik und Radiumkunde, Dr. Gustav Aeckerlein, äußerte zu den Umständen der Suche nach seinem Nachfolger: „Unumgängliche Voraussetzung ist freilich, dass er Parteigenosse ist; sonst nützt alle Tüchtigkeit nichts.“ Durchschlag eines Briefes von Gustav Aeckerlein an C. Schaefer, Physikalisches Institut der Universität Breslau vom 14. November 1944 ( UAF Ph 36). 18 Vgl. Fuchsloch, Autonomie, S. 93 f.
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Norman Pohl
Nationalsozialismus und Leitung der Hochschule – Rektorwahlen als Gradmesser
Können die Rektorwahlen als Gradmesser für den nationalsozialistischen Einfluss auf die hochschulinternen Abläufe der Bergakademie dienen ? Der auf Grundlage von § 26 Ziffer 5 a der gültigen Satzung der Bergakademie am 29. Mai 1933 auf einer Professorensitzung zum Rektor gewählte Prof. Dr. - Ing. Friedrich Schumacher erhielt bei seiner Wahl von 18 anwesenden Professoren zwölf Stimmen – jeweils zwei Stimmen entfielen auf Otto Fritzsche und Johannes Madel, jeweils eine Stimme auf Paul Erich Wandhoff und Walter Alexis Hoffmann.19 Schumacher übernahm am 13. November 1933 das Rektorat von Prof. Dr. Freiherr von Walther.20 Auf der Leitungsebene hielt sich der direkt sichtbare nationalsozialistische Einfluss zunächst in Grenzen. Die „Ordinarienherrschaft“ wurde scheinbar nicht angetastet. Darin lag auch eine gewisse Logik, waren an der Bergakademie doch keine Fächer vertreten, die den ideologischen Prämissen der Nationalsozialisten in besonderer Weise entgegengestanden hätten : weder Medizin noch Biologie, Geschichte, Rechtswissenschaften, Philosophie oder Sozialwissenschaften. Schumacher, seit 1920 Professor für Geologie und Lagerstättenlehre, erhielt nach seiner Wahl zum Rektor im Mai 1933 die Bestätigung der nationalsozialistischen Landesregierung. Ebenso im Amt blieben die professoralen Mitglieder des akademischen Senats. Dieser wurde aber um Vertreter der Dozenten, Studenten und SA erweitert, so dass eine nationalsozialistische Mehrheit sichergestellt war und Entscheidungen auch ohne den Einsatz von repressiven Maßnahmen mehrheitlich und scheindemokratisch legitimiert getroffen werden konnten. Mit der weiteren Absicherung der Macht nahmen die nunmehr nationalsozialistisch geführten Ministerien direkt Einfluss auf die Hochschulen, ebenso das neuformierte Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter Leitung von Bernhard Rust.21 Es ist in diesem Zusammenhang nochmals festzuhalten, dass die Gleichschaltung der Länder22 nicht mit ihrer vollständigen Entmachtung oder gar Auflösung gleichzusetzen war, sondern dass gerade auch außerhalb Preußens die jeweiligen Landesstrukturen durchaus noch Einfluss besaßen.23 Ungeachtet dessen war es als externer Eingriff anzusehen 19 Vgl. Protokoll der Professorensitzung am 29. Mai 1933 ( UAF D / R 27, unpag.). 20 Vgl. Jahrbuch für das Berg - und Hüttenwesen in Sachsen, 108 (1934), S. B 148. 21 Vgl. Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt a. M. 2012. 22 Vgl. Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich. Vom 31. März 1933, RGBl. I (1933), S. 153–154. Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich. Vom 7. April 1933, RGBl. I (1933), S. 173. Gesetz über den Neuaufbau des Reichs. Vom 30. Januar 1934, RGBl. I (1934), S. 75. 23 Die Zusammenlegung der Reichsministerien mit den Ministerien des Landes Preußen ist in ihren Auswirkungen auf die jeweiligen Strukturen der Landesverwaltung von den
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Die Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus
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und diente der machtpolitischen Durchsetzung der Nationalsozialisten an den Universitäten, für das Frühjahr 1934 deutschlandweit allgemeine Rektorwahlen anzusetzen, um bislang noch missliebige Amtsinhaber pseudodemokratisch aus dem Amt zu drängen. Gegen die Amtsführung Schumachers bestanden aber offenbar keine Bedenken, denn dieser konnte per Aushang vom 6. März 1934 bekannt geben, das Finanzministerium habe ihn bis zum 13. November 1935 als Rektor der Bergakademie ernannt.24 Auf Grundlage von § 4 der vorläufigen Regelung zur Verfassung der Bergakademie ernannte Schumacher Paul Erich Wandhoff am 3. April 1934 zu seinem Stellvertreter.25 Der damit gemäß akademischen Gepflogenheiten auch für das Rektoramt an der Bergakademie auserkorene Prorektor, der die Fachrichtung Markscheidekunde vertrat und den Nationalsozialisten durchaus genehm war,26 verstarb jedoch überraschend am 15. Juni 1934. Da Wandhoff letzten Endes ein Kandidat der Nationalsozialisten war, liegt die Interpretation nahe, dass die Propagierung nationalsozialistischen Gedankenguts nicht unbedingt der Absicherung durch eine Parteimitgliedschaft bedurfte. Zum 3. August 1934 ernannte Schumacher Johannes Madel zu seinem Stellvertreter.27 Scheiterte der nationalsozialistische Anspruch auf Durchherrschung aber auch in der Rektoratsfindung im Frühjahr 1935 ? Der Reichs - und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, betonte in einem Rundschreiben ausdrücklich, dass der Auswahlprozess eben nicht den Charakter einer Wahl habe, sondern dass die abgegebenen Stimmen nur zu wichtende Empfehlungen seien und ihm lediglich als eine Orientierungshilfe für die ihm allein zustehende Ernennung eines Rektors dienten. Es ist hervorzuheben, dass aus dem Kreis der Ordinarien alle Kandidaten als prinzipiell empfehlbar – „wählbar“ – eingestuft wurden, dass aber andererseits keine Vorabsprachen über Kandidaten zulässig und die abgegebenen Zettel namentlich zu kennzeichnen waren.28 Im Sächsischen Staatsarchiv ist der von Rektor Schu-
24 25 26
27 28
übrigen deutschen Ländern sorgfältig zu unterscheiden. Siehe für Sachsen nur Wagner, „Machtergreifung“. Vgl. Kopie Aushang des Rektors vom 6. März 1934 ( UAF 312/1 Rektor und Senat, unpag.). Vgl. Kopie Aushang des Rektors vom 3. April 1934 ( UAF D / R 26, unpag.). „Nach Einführung der neuen Hochschulverfassung bestellte ihn das Vertrauen der nationalsozialistischen Regierung zum Stellvertreter des Rektors. [...] Wandhoff war ein Vertreter kerndeutscher Gesinnung.“ Carl Schiffner, Aus dem Leben alter Freiberger Bergstudenten und der Lehrkörper der Bergakademie, Band III, Freiberg 1940, S. 124. Seit 1918 ordentlicher Professor für Markscheidekunde und Geodäsie, behandelte Wandhoff in seiner Antrittsvorlesung programmatisch das „Kriegsvermessungswesen“ und engagierte sich für eine Veränderung der Ausbildung : „den ‚Deutschen Markscheider‘, dem seit Jahrzehnten sein Streben galt, hat er leider nicht mehr erlebt.“ Schiffner, Band III, S. 123 f., Zitat S. 124. Vgl. Kopie Aushang des Rektors vom 3. August 1934 ( UAF D / R 26, unpaginiert ). Vgl. Abschrift Der Reichs - und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Nr. W I a Nr. 391 vom 13. Februar 1935 ( UAF D / R 26, unpaginiert ); vgl. ferner Der Reichs - und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an die Herren Rektoren der preußischen Hochschulen – außer Universität
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macher gezeichnete „Rektorvorschlag der Bergakademie am 15. Februar 1935“ überliefert :29 Bei einer Stimme aus den Reihen der aktiven ordentlichen Professoren für den amtierenden Rektor – Schumacher – und einer weiteren aus dem Kreis der planmäßigen außerordentlichen Professoren für den überzeugten Nationalsozialisten Robert Höltje, Professor für anorganische Chemie, überraschte das Ergebnis in seiner Eindeutigkeit, und zwar in Bezug auf die Unzulässigkeit von Vorabsprachen : auf den Nationalsozialisten Brenthel entfielen 14 Stimmen, auf das Nicht - Parteimitglied Madel 15. Brenthel erhielt alle fünf Stimmen der emeritierten ordentlichen Professoren, sieben von siebzehn der aktiven Ordinarien sowie zwei von drei der planmäßigen außerordentlichen Professoren. Die Voten von neun aktiven Ordinarien und alle sechs Stimmen der Privatdozenten addierten sich zu der hauchdünnen Mehrheit für Madel. Der Vorschlag fand die Billigung des Sächsischen Finanzministeriums : „Prof. Madel ist nicht Mitglied der N.S.D.A.P.; er steht aber völlig auf nat. - soz. Boden und bietet Gewähr dafür, dass die Bergakademie unter seiner Führung zielbewusst den Weg weitergehen wird, den die Staatsführung für die Hochschulen vorgezeichnet hat.“30 Die Kreisleitung der NSDAP favorisierte hingegen den wissenschaftlichen Assistenten Dr. - Ing. Willy Bielenberg. Da Bielenberg aber lediglich Kandidat in einem laufenden Besetzungsverfahren war, plante das Sächsische Finanzministerium, „für dieses Mal davon Abstand nehmen, Dr. Bielenberg als Rektor der Bergakademie Freiberg vorzuschlagen.“31 Der fortbestehende Dissens zwischen der Sächsischen Landesregierung und der Freiberger Kreisleitung ist auch einer Notiz über eine spätere Beratung des Gauamtsleiters Artur Göpfert und des Oberregierungsrats Werner Studentkowski32 bei Reichsstatthalter Mutschmann über den Fortgang der Kandidatenkür zu entnehmen : „Der Herr Reichsstatthalter entschied in folgender Weise : 1. Bergakademie Freiberg. Dr Bielenberg, der in dem Schreiben des Reichswissenschaftsmin. für diese Hochschule vorgeschlagen ist, lehnte der Herr Reichsstatthalter von vornherein und rundweg ab. [ Anm. N. P. : im Orig. mit rotem Stift unterstrichen ] Ich machte in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam, dass Dr. Bielenberg auch aus dem Grunde nicht als Rektor in Betracht komme, weil er nur wissenschaftlicher Hilfsarbeiter sei und Rektor nur ein Ordinarius werden könne und dass der Herr Reichsstatthalter sich schon in einem früheren Schreiben mit dem Vorschlag des Finanzmin., in dem der ordentl. Prof. Dipl. - Ing. Hans Madel genannt wurde, einverstanden erklärt hätte. Bei dieser Stellungnahme blieb der Herr Reichsstatthalter.“33
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Berlin – und die Unterrichtsverwaltungen der außerpreußischen Hochschulländer, W I a, Nr. 585 vom 8. März 1935 ( UAF D / R 26, unpaginiert ). Rektorvorschlag der Bergakademie am 15. Februar 1935 ( SächsHStAD, 11125 MinKultusÖffU 16065, Bl. 6). Ref.Ob.Reg.Rat Beutler an RM WEV, Az. : 25 Pers.Berg vom 2. März 1935 (ebd., Bl. 13). Ebd. Zu dessen Integration in die Ministerialbürokratie und seiner Funktion „als der eigentliche Hochschulreferent“ vgl. Parak, Hochschule, S. 85–86. Durchschlag Studentkowski an Sächs.Min.Wirt. o. D., wahrscheinlich vom 26. März 1935 ( SächsHStAD, 11125 MinKultusÖffU 16065, Bl. 27).
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Letztlich setzte sich das Sächsische Finanzminsterium mit Hilfe des Reichsstatthalters Mutschmann gegen das Reichs - und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und die Kreisleitung der NSDAP durch. Für die Amtseinführung Madels waren alle Vorkehrungen getroffen und die entsprechenden Urkunden bereits ausgefertigt. Gleichsam in letzter Minute regte sich gegen die telegrafisch ausgesprochene Ernennung Madels „studentischer“ Protest, indem der Studentenbundführer der Bergakademie Freiberg Walter Büttner sowohl bei dem Reichsführer des Studentenbundes Albert Derichsweiler und bei „Professor Wirz im Stabe des Stellvertreters des Führers“ intervenierte, um die Inauguration Madels doch noch zu verhindern, da dieser nicht Parteimitglied war. Büttner fand auch die Unterstützung des Leipziger Studentenbundführers Erich Hengelhaupt, der Büttners Protest „im Namen der Studentenschaft des Gaues Sachsen“ unterstützte und dessen Intervention zu weiteren Beratungen im Sächsischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung führte.34 Die Ernennung Madels erfolgte schließlich nach Stellungnahme des Nationalsozialistischen Dozentenbundes. Die Dozenten, die als Gruppe Madel geschlossen gewählt hatten und die nach bisherigem Kenntnisstand die Träger der nationalsozialistischen Infiltration und der Unterminierung der bisherigen Strukturen an der Bergakademie waren, verwiesen nochmals darauf, dass Madel auch ohne Parteimitgliedschaft ein gefestigtes nationalsozialistisches Weltbild besaß und er mehr als sein unterlegener Gegenkandidat, das Parteimitglied Brenthel, ein überzeugter Repräsentant der nationalsozialistischen Weltanschauung wäre. Die studentische Intervention bewirkte aber immerhin die zweimalige Verlegung der feierlichen Übergabe der Amtsgeschäfte, zunächst auf den 8. April 1935 und dann nochmals auf den 15. April 1935, und zeigte damit auch einen für Außenstehende sichtbaren Dissens. Der nationalsozialistische Zugriff auf das Rektoramt erfolgte schließlich 1937 endgültig durch die Kandidatur und „Wahl“ Höltjes. Madel fiel in den ersten Wochen des Zweiten Weltkrieges im September 1939 beim Überfall auf Polen.35
3.3
Nazifizierung durch Stellenbesetzungspolitik
Nicht zuletzt verstrich wohl aufgrund der bereits oben angesprochenen fachlichen Ausrichtung der Bergakademie einige Zeit, bevor die Auswirkungen einer Stellenbesetzung unter nationalsozialistischem Vorzeichen im Sinne einer Dominanz von NSDAP - Parteigängern zu greifen begannen. Dabei ist auch zu beachten, dass an der Bergakademie gemäß den Beschlüssen der Jahre 1931 und 1932 ein Stellenabbau vorgesehen war, was naturgemäß die Handlungsmöglichkeiten beschnitt, zumal die bisher tätigen Ordinarien und Professoren offenbar bemüht waren, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. 34 Vgl. Aktenvermerk Reg.Rat Podlich vom 2. April 1935 ( ebd., Bl. 30). 35 Vgl. ( UAF, Professorenkartei, Robert Höltje ); vgl. ( UAF, Professorenkartei, Johannes Madel ).
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Als treibende Kräfte des Umbaus der Bergakademie im nationalsozialistischen Sinne scheinen, wie oben erwähnt, die Dozenten gewirkt zu haben, zeitweise durchaus auch im Zusammenwirken mit der sächsischen Landesregierung, wobei es im Einzelnen noch die Motive für das Handeln zu ergründen gilt. Möglicherweise war den Freiberger Dozenten im eigenen Interesse daran gelegen, den Anschein der bisherigen Gepflogenheiten in der Besetzung von universitären Planstellen zu wahren. Bei späteren Berufungsverfahren auf externe Stellen konnten sie damit ihre Chancen durch den Beleg fachlicher Expertise verbessern und etwaigen Vorbehalten hinsichtlich einer fehlenden fachlichen Kompetenz von vorneherein entgegenwirken. Für diese Hypothese spricht das Scheitern Willy Bielenbergs bei seinem Griff nach dem Rektorat 1935, beispielhaft aber auch die Karriere von Robert Höltje und das von ihm vermittelte Selbstbild in der Darstellung „alter Studenten und Professoren der Bergakademie“. Höltje, 1901 geboren, war nach einem Studium der Chemie an der TH Hannover und kurzzeitiger dortiger Anstellung zwischen 1926 bis 1933 an der Bergakademie Freiberg tätig, wo er sich nach seiner 1927 noch an der TH Hannover abgeschlossenen Dissertation 1930 habilitierte. Höltje ging 1933 nach Danzig und erhielt dort 1934 eine Ernennung zum außerordentlichen Professor. Damit erfüllte er die üblichen Anforderungen an eine akademische Karriere und konnte so, ohne Hausberufung, 1934 auf die Stelle des ordentlichen Professors für Chemie und Leiter des Instituts für anorganische Chemie an die Bergakademie Freiberg zurückkehren.36 Nach seiner 1935 noch gescheiterten Kandidatur erlangte er 1937 die Position des Rektors der Bergakademie. Die nationalsozialistische Politik der Stellenbesetzungen konnte auch den absehbaren Generationswechsel auf der Ebene der Professoren an der Bergakademie ins Kalkül nehmen. Mit fortschreitender Nazifizierung der Hochschule würde der Widerstand gegen die Besetzung von Ordinarienstellen, aber auch von Planstellen unterhalb der Professorenebene bis hin zur Ebene der Angestellten und Arbeiter mit ausgewiesenen Parteigängern der NSDAP wahrscheinlich erlahmen. In der kontinuierlichen, schleichenden Nazifizierung der Bergakademie war aber eine Vorgehensweise aus Sicht des Ministeriums für Volksbildung und des seinerzeitigen Rektors Höltje besonders vielversprechend und geeignet, bisherige Konventionen nur marginal zu verletzen : die Schaffung eines Extraordinariats mit einer gewissen fachlichen Nähe zu einem bestehenden Ordinariat, dessen Inhaber in absehbarer Zeit emeritiert werden würde. Auf das Extraordinariat konnte ein ausgewiesener NSDAP - Mann berufen werden, da in der akademischen Hierarchie zu Zeiten der Ordinarienuniversität eben auch nur Ordinarien als vollwertige Repräsentanten ihrer Fachdisziplin galten. Nach der Emeritierung des Ordinarius konnte der Inhaber des Extraordinariats ohne großes Aufsehen auf das Ordinariat übergeleitet werden, zumal dann, wenn er die 36 Vgl. Schiffner, Band III, S. 156.
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Zwischenzeit nutzte, um sich fachlich weiter zu profilieren. Jedenfalls galt es, sich im Kreise seiner gegenwärtigen und künftigen Kollegen einen Namen zu machen, sei es durch die Bereitschaft zur fachlichen Kooperation, sei es durch Konfrontation, wie im Falle Säuberlich durch dessen sichtbar zur Schau getragenes Engagement im SD. Das Extraordinariat konnte danach wieder eingezogen werden beziehungsweise stand, falls benötigt, für ein weiteres derartiges Verfahren haushaltsrechtlich zur Verfügung. In Freiberg bot sich der Umweg über das Braunkohlenforschungs - Institut als Sprungbrett auf ein Ordinariat an der Bergakademie an. Dass das beschriebene Vorgehen, zuverlässige Nationalsozialisten über den Weg der vorgezogenen Besetzung eines Extraordinariats in die Position eines Ordinarius zu bringen, dem Ministerium für Volksbildung und dem nationalsozialistischen Rektor Höltje als ein taktisch gangbarer Weg galt, zeigen die Vorgänge bei der „Errichtung eines Lehrstuhls für chemische Technologie, insbes. Technologie der Kohle“. Da grundsätzliches Einvernehmen über die Absicht zwischen Ministerium und Bergakademie bestand, erkundigte sich der Vertreter des Ministeriums, Hochschulreferent Ministerialrat Max von Seydewitz, telefonisch bei Höltje, „ob etwa mit der Schaffung eines planm. Extraordinariats für chemische Technologie, insbes. Technologie der Kohle, die Errichtung eines besonderen Instituts für diese Zwecke mit besonderem Personal - und Sachaufwand erforderlich werde oder ob dies alles bei der Dr. Jäppelt unterstehenden Technischen Versuchsanlage der Chemischen Abteilung des Braunkohlenforschungs - Instituts vorhanden sei. Der Rektor bestätigte das letztere.“37 In einer Randnotiz zeichnete von Seydewitz dann den weiteren Weg vor : „Wir wollen nunmehr die Angelegenheit genau so aufziehen wie die Angelegenheit Säuberlich, planm. Extraordinariat für Brikettieren ( Kohlen und Erze ) und Braunkohlenbergbau.“38 In der Rückschau ergibt sich das Planmäßige des Vorgehens, erlangte doch der seit dem 1. Juni 1930 als Mitglied der NSDAP registrierte Kurt Säuberlich auf eben diesem Weg kurze Zeit später das Extraordinariat für Brikettierkunde und avancierte so in einer ingenieurwissenschaftlichen Spezialdisziplin zum potentiellen Nachfolger des Professors für Bergbau, Bergwirtschaftslehre und Brikettieren Karl Kegel im Ordinariat.39
37 Aktennotiz von Seydewitz vom 17. 2. 1939 ( SächsHStAD, 11125 MinKultusÖffU 16088, Bl. 5). Jäppelt gehörte der NSDAP seit 1932 an. UAF, Professorenkartei, Alfred Jäppelt. 38 Randnotiz von Seydewitz vom 17. 2. 1939 ( SächsHStAD, 11125 MinKultusÖffU 16088, Bl. 5). 39 Siehe auch oben Abschnitt Stand der Forschung. Vgl. Wagenbreth / Pohl / Kaden / Volkmer, Universität, S. 165. Parak, Hochschule, zeichnet für die anderen sächischen Universitäten ein ambivalentes Bild.
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Nationalsozialistische Profilierung der Bergakademie : Das Beispiel Kolonialgeologie
Aus der Gesamtheit der Institute und Einrichtungen hervorzuheben ist die Forschungsstelle für Kolonialbergbau. Sie war im nationalsozialistischen Sinne „profilbildend“.40 „Koloniale Traditionen“ der Bergakademie reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Dies war nicht zuletzt auch dadurch bedingt, dass in Freiberg ausgebildete Geologen, Markscheider und Hüttenleute in aller Welt tätig waren und oftmals bedeutende Beiträge zum Aufbau des jeweiligen lokalen Montanwesens leisteten. Auch war der Anteil ausländischer Studenten an der Bergakademie traditionell hoch, wenn auch die „Entsendeländer“ sich im Laufe der Zeit veränderten. In den Jahren um 1900 besuchten etwa 60 Prozent nicht - deutsche Ausländer die Bergakademie, und von diesen wiederum stammte etwa die Hälfte aus Russland.41 Einige der Freiberger Professoren brachten Kolonialerfahrung in die Bergakademie ein. Dazu gehörten solche, die in Kolonien geboren waren, wie etwa Fredericus Johannes Knoops, aber auch Professoren wie Friedrich Schumacher, der am Ersten Weltkrieg bis zu seiner Gefangennahme 1916 aktiv in Deutsch Ostafrika teilgenommen hatte.42 Mitglieder der „kolonialen Arbeitsgemeinschaft“ waren zum 1. September 1941 die Professoren Friedrich Schumacher, Franz Brenthel, Karl Alfons Jurasky und Hans Müller, Dozent Dr. Georg Bürg, Dr. habil. Richard Pfalz und Dipl. - Ing. Nikolai Thamm.43 Den in der NS - Zeit forcierten kolonialpolitischen Aktivitäten stand die Bergakademie aufgeschlossen gegenüber, wie sich einerseits aus internen Memoranden und Überlegungen zur künftigen Positionierung der Institution in der reichsdeutschen Wissenschaftslandschaft, andererseits auch durch die publizistische Tätigkeit ihrer Mitglieder ergibt.44 Auf Betreiben hauptsächlich Friedrich Schumachers entstand im Haushaltsjahr 1940, also zum 1. April diesen Jahres, die „Forschungsstelle für kolonialen Bergbau“, die an die Seite der seit Beginn des Sommersemesters 1938 wirkenden „Kolonialen Arbeitsgemeinschaft“ trat, 40 Vgl. Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg / Christiane Helmert ( Bearb.), „Forschungsstelle für kolonialen Bergbau“ (1898–1940) 1940–1945 (1946–1947, 1978). FOKO, Freiberg 2010. Der Aktenbestand dieser Einrichtung ist erst jüngst erschlossen worden und mit einem neuen Verzeichnis nunmehr zugänglich. 41 Überblicksartig Wagenbreth / Pohl / Kaden / Volkmer, Universität, S. 53. 42 Dessen „koloniale Aktivitäten“ beschreibt unkritisch Andreas Udo Fitzel, Der Goldschatz von Deutsch - Ostafrika. Aus den Aufzeichnungen Friedrich Schumachers (1884–1975), Münzstättenleiter von Tabora / Deutsch - Ostafrika. In : MünzenRevue, 9 (2009), S. 122–128. 43 Vgl. Friedrich Schumacher an die Mitglieder der kolonialen Arbeitsgemeinschaft vom 1. September 1941 ( UAF FoKo 65). 44 Zu ersteren vgl. vor allem UAF 847. Für die „kolonialen Anliegen“ werbende Veröffentlichungen finden sich unter anderem in verschiedenen Ausgaben der „Blätter der Bergakademie“, so z. B. Friedrich Schumacher, Koloniale Probleme in der Tradition der Bergakademie Freiberg. In : Blätter der Bergakademie, 24 (1941), S. 4–13.
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welche ihrerseits die Aktivitäten der seit 1937 am zwei Jahre zuvor gegründeten „Außeninstitut“ der Bergakademie bestehenden Kolonialabteilung in sich aufnahm.45 Neben der Forschung lag ein Schwerpunkt auf der Ausbildung des „kolonialen Nachwuchses“.46 Teilweise entstand bereits während des Ersten Weltkrieges die Grundlage für eine Reihe sogenannter kolonialgeologischer Arbeiten, die aber erst während des Zweiten Weltkrieges als erste Ergebnisse der Freiberger Kolonialgeologie publiziert werden sollten.47 Weitere Schriften kamen nicht mehr zum Abschluss.48 In der Lehre plante die Bergakademie seit Herbst 1941 eine „koloniale Studien - und Prüfungsordnung“.49 Besondere Aufmerksamkeit in der historischen Forschung erlangte die Freiberger Kolonialgeologie durch ihre Verwicklung in den sogenannten Madagaskar - Plan.50 Der Vorgang ist zugleich ein Beispiel dafür, wie einerseits höhere Stellen Verantwortung delegierten und andererseits Mitarbeit nur deshalb nicht in Mittäterschaft umschlug, weil übergeordnete politische Entscheidungen schließlich eine andere Entwicklung auslösten. Der seit seinem Dienstantritt am 8. Mai 1940 im Referat D III im Auswärtigen Amt „für Judenfrage und Rassenpolitik“ fortan zuständige Franz Rademacher legte am 3. Juni 1940 ein Memorandum mit dem Titel „Gedanken über die Arbeiten und Aufgaben des Ref. D III“ vor.51 Er erwähnte darin den auf langen antisemitischen Traditionen fußenden Vorschlag : „Die Westjuden werden aus Europa entfernt, beispielsweise nach Madagaskar.“52 Ab Anfang Juli 1940 bemühte sich Rademacher diesbezüglich um Gutachten verschiedener Stellen, so eben auch bei der seit 1. April bestehenden Forschungsstelle für kolo45 Vgl. Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg / Christiane Helmert ( Bearb.), Forschungsstelle, S. 5; Heinz Bäßler, Die Bergakademie und der Kolonialismus des faschistischen deutschen Imperialismus. In : Rektor und Senat der Bergakademie Freiberg (Hg.), Bergakademie Freiberg, Band I, S. 270–273, hier 271. 46 Universitätsarchiv TU Bergakademie Freiberg / Christiane Helmert ( Bearb.), Forschungsstelle, S. 7. 47 Vgl. Friedrich Schumacher / Nikolai Thamm, Die nutzbaren Minerallagerstätten von Deutsch - Ostafrika, Berlin 1941; Georg Bürg, Die nutzbaren Minerallagerstätten von Deutsch - Südwestafrika, Berlin 1942; Georg Bürg, Die nutzbaren Minerallagerstätten von Kamerun und Togo, Berlin 1943; Nikolai Thamm, Die Zinnerzvorkommen und der Zinnbergbau Afrikas, Berlin 1943; Richard Pfalz, Hydrologie der deutschen Kolonien in Afrika, Berlin 1944. Dazu gehört auch Nikolai Thamm, Die Diamantvorkommen und der Diamantbergbau des belgischen Kongo, Diss. Bergakademie Freiberg 1943. 48 So zum Diamantbergbau in Belgisch - Kongo, über Minerallagerstätten in Nordrhodesien oder über die nutzbaren Mineralvorkommen Afrikas insgesamt. Vgl. Ulrich Thiel, Freiberg in Sachsen : Kolonialgeologische und - bergbauliche Forschungsstätte. In : Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller ( Hg.), Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007, S. 177–182. 49 Friedrich Schumacher an die Mitglieder der kolonialen Arbeitsgemeinschaft vom 1. September 1941 ( UAF FoKo 65). 50 Vgl. Bäßler, Bergakademie; Bäßler, Auswirkungen, S. 245–257. 51 Magnus Brechtken, „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885–1945, München 1997, S. 226, 228. 52 Franz Rademacher, Gedanken über die Arbeiten und Aufgaben des Ref. D III vom 3. Juni 1940 ( PAAA Inland II A / B 347/3), zit. nach Brechtken, Madagaskar, S. 228.
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nialen Bergbau an der Bergakademie, deren von Friedrich Schumacher ausgefertigte Stellungnahme ihm zum 29. Juli 1940 vorlag.53 Der Historiker Magnus Brechtken führt hierzu aus, Rademacher habe „Schumacher am 2. August über den Dozentenbund der NSDAP an der Bergakademie ein Dankschreiben zuleiten“ lassen.54 Eine weitere Beteiligung Schumachers an den zwischen Auswärtigem Amt und Reichssicherheitshauptamt diskutierten Planungen wird von Brechtken nicht mehr erwähnt. Schumachers Angaben flossen jedoch offenkundig in ein weiteres Gutachten vom 21. August 1940 über die „Raumplanerische Beurteilung von Madagaskar“ ein, das der „Leiter der Reichsstelle für Raumordnung, Ernst Jarmer, [...] an den Ministerpräsidenten, Reichsmarschall und Chef der Vierjahresplanbehörde“,55 Hermann Göring, sandte. Überlegungen hinsichtlich einer Zwangsumsiedlung europäischer Juden nach Madagaskar waren aber offenbar spätestens seit Anfang Dezember 1940, wenn nicht schon seit Ende August 1940 nicht mehr aktuell, sondern nur noch im „Verbalrepertoire“ Hitlers präsent.56 In Schumachers Stellungnahme fand wohl auch aktuelle französischsprachige Literatur als Basis Verwendung. Sein Gutachten ist bereits seit den 1970er Jahren als Quelle publiziert.57 Von Stil und Duktus könnte es in nahezu jeder länderkundlichen Informationsschrift über Madagaskar enthalten sein, mit Ausnahme zweier Passagen, nämlich eines Vergleichs der Graphit - Vorkommen im Bayerischen Wald mit denen Madagaskars58 und des Passus’ „unserer alten Kolonien“, um mit diesem Vergleich den geringeren Mineralreichtum Madagaskars zu beschreiben, was implizit ein Hinweis auf die Rückeroberung dieser Gebiete gegenüber der Kolonialisierung neuer Länder sein könnte.59 Wie Brechtken herausarbeitete, war das vom Präsidenten des Bayerischen Statistischen Landesamtes Burgdörfer erstellte Gutachten über die Bevölkerungszahl Madagaskars zwar eine auf den ersten Blick rein fachliche Expertise. Brechtken verweist jedoch zu Recht darauf, dass nach dem darin zugrunde liegenden Gedankengang auch die Sahara oder Grönland dünn besiedelten Flächen wären, die nur darauf warteten, eine größere Anzahl von Menschen als Siedler aufzunehmen.60 53 54 55 56 57
Vgl. ebd., S. 241 f. Notiz enthalten in PAAA Inland IIg 177, 2. 8. 1940, zit. nach ebd., S. 243. Ebd., S. 254 f. Das Gutachten ist nach Brechtken enthalten in BAK R 113/1645. Ebd., S. 273, 277. Abgedruckt als Dokument Nr. 100 unter dem Titel „Gutachten des Geologie - Professors Schumacher von der Bergakademie in Freiberg vom 29. 7. 1940 über die ‚mineralischen Bodenschätze von Madagaskar‘“ bei Rolf Vogel, Ein Stempel hat gefehlt. Dokumente zur Emigration deutscher Juden, München 1977, S. 318–320. Das Gutachten ist ohne begleitenden Schriftwechsel, undatiert und nicht unterschrieben, aber mit dem Vermerk „Für Auswärtiges Amt“ versehen, enthalten in UAF FoKo 13. 58 Derartige Vergleiche gehörten zum Beispiel im „Kosmos“ Alexander von Humboldts zu den gängigen Stilmitteln. 59 Vgl. Vogel, Stempel, S. 318, 320. 60 Die Einwohnerzahl Madagaskars stieg im 20. Jahrhundert von etwa 2,2 Millionen zu Beginn über 6,2 Millionen 1966 auf etwa 12 Millionen 1990 und liegt heute, im Jahr 2012, bei 20 Millionen. Der Großteil der Bevölkerung lebt in Armut am Rande des Exis-
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Es ist aber zu resümieren, dass in der Beurteilung von Schumachers Arbeit keine klare Grenze zu erkennen ist, die das Werk des Wissenschaftlers von der Zusammenarbeit mit den verbrecherischen Zielen der Nationalsozialisten deutlich abgrenzen würde. Das bedeutet, bis auf wenige Passagen war Schumachers Stellungnahme so unverfänglich formuliert, dass sie für alle möglichen Ziele zu gebrauchen gewesen wäre. Die politische Instrumentalisierung und Selbstmobilisierung der Wissenschaftler der Bergakademie ist exemplarisch vor dem Hintergrund sowohl der kolonialen Bestrebungen als auch hinsichtlich der auf Autarkie und Ausbeutung ausgerichteten Wirtschaftspolitik im nationalsozialistisch beherrschten Europa und zum Nutzen der nationalsozialistischen Außenpolitik noch weiter zu untersuchen.61 Es ist zu erwarten, dass die internationalen Verbindungen in den wissenschaftlichen Traditionen der Bergakademie dabei umfassend für nationalsozialistische Ziele genutzt wurden. In diesem Kontext verdient die intensive Betreuung ausländischer Studenten durch Friedrich Schumacher Beachtung. So trat Schumacher als Mentor einer Gruppe von 15 türkischen Studenten auf, die zum Studium an die Bergakademie seitens der türkischen Regierung gesandt wurden. Nach praktischer Tätigkeit im Kohlenbergbau wollten die Studenten zum Wintersemester 1939/40 ihr Studium in Großbritannien fortsetzen und kamen dort am 31. August 1939 an. Schumacher gelang es, die Gruppe wieder nach Deutschland zurück zu lotsen. Verschiedene Persönlichkeiten des türkischen Montanwesens erwarben so an der Bergakademie Freiberg einen Studienabschluss, der ihnen eine weitere Karriere, etwa an der Technischen Universität Istanbul, in Ankara oder im türkischen Chromerzbergbau eröffnete.62 Eine intensive Beschäftigung mit der Person Schumachers und seinem Handeln verspricht weiteren Aufschluss über bestimmende Faktoren der an der Bergakademie in der NS - Zeit vertretenen und auch offensiv propagierten ideologischen Positionen. Auch Schumachers Verhalten nach 1945 ist längst noch nicht in allen Facetten hinreichend beleuchtet. So ist die Bewertung, Schumacher habe sich zu einem konservativen Gegner des Nationalsozialismus entwickelt, vor dem Hintergrund der bis dahin erfolgten, nur sporadischen Auswertung von Archivalien entstanden.63 Gesichert ist, dass Schumacher am 28. Mai tenzminimums. Wolf - Dieter Sick, Natur - und kulturgeographische Grundlagen. In : Alfred Bittner ( Hg.), Madagaskar. Mensch und Natur im Konflikt, Basel 1992, S. 11– 29, hier 19 und 18; Auswärtiges Amt, Madagaskar ( http ://www.auswaertiges - amt.de / DE / Aussenpolitik / Laender / Laender#; 12. 5. 2012). 61 Zum Ansatz der Selbstmobilisierung vgl. Noyan Dinçkal / Detlev Mares, Selbstmobilisierung und Forschungsnetzwerke. Überlegungen zur Geschichte der Technischen Hochschulen im „Dritten Reich“. In : Noyan Dinçkal / Christof Dipper / Detlev Mares (Hg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“, Darmstadt 2010, S. 9–21; Helmut Maier, Forschung für den „autarken Wehrstaat“. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“. In : Noyan Dinçkal / Christof Dipper / Detlev Mares ( Hg.), Selbstmobilisierung, S. 25–45. 62 Vgl. Önay Yilmaz, Nazilerle Bes Yil, 2. Basim Istanbul 2005, S. 311 ff. 63 Dies bezieht sich insbesondere auf die mit seinem Kollegen, dem Professor für Physik und Radiumkunde Gustav Aeckerlein, geführte Korrespondenz in den letzten Wochen
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1945 auf der ersten Senatssitzung nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertreter einer durchgreifenden Entnazifizierung auftrat,64 wohl ohne sich bewusst zu machen, dass nicht nur die formale Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Organisation ausschlaggebend für die Bewertung des Handelns einer Person während der vergangenen Jahre sein musste, sondern auch die durch Wort und Tat erwiesene Gesinnung. Eben dieses Spannungsfeld gilt es noch stärker zu erforschen.
4.
Ausblick
Die bisherigen Ergebnisse der noch laufenden Forschungen zeigen die Einbettung der Bergakademie Freiberg in die nationalsozialistische Herrschaftsstruktur auf, erfassen diese aber noch längst nicht in Gänze. Gleiches gilt für die Praxis der damaligen Natur - und Ingenieurwissenschaften, also für deren Forschungsfelder, - ansätze und - ergebnisse, wie auch für die ideologischen Prämissen des Hochschullebens. Um den Vergleich mit anderen Technischen Universitäten anzustellen,65 ist also zunächst die Geschichte der Bergakademie Freiberg in der NS - Zeit selbst noch eingehender zu erforschen. Auch waren die Nachkriegskarrieren NS - belasteter Mitglieder der Bergakademie Freiberg in der DDR in verantwortlichen, inner - wie außeruniversitären Positionen bislang kein Gegenstand der Wahrnehmung und Reflexion an der TU Bergakademie Freiberg. Bis heute verhindert die Auffassung, natur - und ingenieurwissenschaftliches Forschen sei eine unpolitische, nur dem fachlichen und wissenschaftlichen Fortschritt gewidmete Tätigkeit gewesen, die sich schon immer an der gemeinsamen Zukunft der Bundesrepublik Deutschland und der DDR orientiert habe, eine Diskussion darüber, ob die Ehre, ein Gebäude mit dem Namen eines Wissenschaftlers zu kennzeichnen, tatsächlich in jedem Fall angemessen ist. Diese Debatte ist demnächst allerdings zu führen. Im Lichte heutiger Erkenntnis ist deutlich, dass viele der bislang in der Literatur getroffenen Einschätzungen kritisch, nicht zuletzt auch selbstkritisch zu hinterfragen sind. Dies gilt vor allem für die vor dem Jahr 2010 erschienene Literatur, setzt sich aber in einigen Werken sogar noch heute weiter fort. des Zweiten Weltkrieges und mit den auch bei Düsing, Weg, S. 195, erwähnten Berichten, Schumacher habe jugoslawische ( serbische ) Studenten aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen gerettet, was sein Verlassen der SBZ 1946 nach Jugoslawien erleichtert habe. 64 Vgl. Norman Fuchsloch, Im Auftrag der Sowjetunion. Forschungen zur Uranprospektion durch Freiberger Wissenschaftler zwischen 1945 und 1947. In : Der Anschnitt. Zeitschrift für Kunst und Kultur im Bergbau, 50 (1998) 2–3, S. 59–69, hier 61. 65 Vgl. zur heutigen RWTH Aachen Ulrich Kalkmann, Die Technische Hochschule Aachen im Dritten Reich (1933–1945), Aachen 2003. Zu Beiträgen betreffend die TH Darmstadt vgl. Dinçkal / Dipper / Mares, Selbstmobilisierung. Zur TH Braunschweig vgl. Daniel Weßelhöft, Von fleißigen Mitmachern, Aktivisten und Tätern. Die Technische Hochschule Braunschweig im Nationalsozialismus, Hildesheim 2012.
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Die Sächsischen Freimaurer zwischen Anpassung und Unterdrückung 1918–1945 Franziska Böhl
1. Seit über 270 Jahren leben und wirken Freimaurer in Deutschland. Dresden und Leipzig gehören dabei zu den Orten, an denen sich die Freimaurerei frühzeitig entwickeln konnte. Dabei entstand die moderne Freimaurerei erst 1717 in London. „Von der englischen Großloge breitete sich die Freimaurerei über Hamburg und Berlin aus. Über Frankreich gelangte die Freimaurerei über den sächsisch - polnischen Marschall Rutowski nach Sachsen ( Dresden, Leipzig ).“1 So war es nicht verwunderlich, dass bereits 1737 in Hamburg mit dem Namen „Absalom zu den drei Nesseln“ die erste Loge in Deutschland begründet wurde. Bereits ein Jahr später entstand in Dresden die Bauhütte2 „Zu den drei weißen Adlern“, aus der die heute wieder bestehende Loge „Zu den drei Schwertern und Asträa zur grünenden Raute“ hervorgegangen ist. Auch Leipzig kann mit der „Minerva zu den drei Palmen“ auf eine solche Tradition zurückblicken, denn ihre Wurzeln liegen in der 1741 gegründeten Loge „Zu den drei Zirkeln“.3 Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich die Freimaurerei als klassische, bürgerliche Vereinigung von Männern, übte eine große Anziehungskraft auf die ( männlichen ) Bürger aus und wirkte verschiedentlich auf die sozialen, geistigen und kulturellen Bereiche ein. Im 20. Jahrhundert war diese Entwicklung nicht möglich : Zu Beginn jener Periode herrschte in der deutschen Logenlandschaft eine innere Zerrissenheit unter den Freimaurern. Nach dem Ersten Weltkrieg vergrößerte sich diese bis hin zu einer offenen Spaltung während der Weimarer Republik. Unterdessen nahm die völkische und später auch die nationalsozialistische Bewegung zunehmend eine freimaurerfeindliche Haltung ein. Besonders die Nationalsozialisten drohten Anfang der 1930er Jahre, die Freimaurerei verbieten zu lassen. Als sie 1933 an die Macht gelangten, dauerte es nicht lange, bis sie ihre Drohung wahr machten. Im August 1935 wurde ein Verbot der Freimaurerei im „Dritten Reich“ ausgesprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die Freimaurerei in der Bundesrepublik wieder entwickeln. Die 1 2 3
Reinhold Dosch, Deutsches Freimaurer - Lexikon, Bonn 1999, S. 88. Der Begriff „Bauhütte“ wird gleichbedeutend für Loge verwendet. Vgl. Dosch, Deutsches Freimaurer - Lexikon, S. 88.
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Freimaurer in der DDR mussten dagegen noch über 40 Jahre darauf warten, da sie dort nicht geduldet wurden. Das „freimaurerische Licht“,4 so die Selbstbeschreibung, konnte also erst mit der Wiedervereinigung dorthin zurückkehren. Dieser Beitrag widmet sich der Entwicklung der beiden ehemaligen sächsischen Großlogen mit ihren Bundeslogen zwischen 1918 und 1945. Dabei sollen zunächst die verschiedenen Abwehrstrategien von Seiten der Freimaurer auf die Angriffe aus der völkischen und nationalsozialistischen Bewegung in der Weimarer Republik untersucht werden. Sodann muss bezüglich der Machtergreifung der Nationalsozialisten rekonstruiert werden, auf welche Weise sich die Logen an die neuen Machtverhältnisse angepasst haben. Anschließend wird dem Problem nachgegangen, wie die ehemaligen Freimaurer nach ihrem Verbot im NS - Staat weiterlebten, inwieweit die veränderten politischen Verhältnisse Auswirkungen auf ihr privates Leben hatten und welche Anziehungskraft die NSDAP auf sie ausübte.
2. Zu den sächsischen Großlogen zählten die Große Landesloge von Sachsen (GrLLvS ) und die Großloge „Deutsche Bruderkette“ ( DBK ). Die GrLLvS wurde 1811 in Dresden gegründet; 1933 gehörten ihr 46 Logen mit rund 6 000 Mitgliedern an.5 Die DBK entstand 1924 in Leipzig aus der Freien Vereinigung der fünf unabhängigen Logen Deutschlands, die 1883 gestiftet worden war; 1933 zählten zehn Logen mit rund 1800 Mitgliedern dazu.6 Die meisten Logen beider Großlogen befanden sich jeweils in und um Leipzig und Dresden sowie im Vogtland, in Westsachsen und Ostthüringen. Es gab also auch Logen, die außerhalb der Grenzen Sachsens lagen : Der Einzugsbereich reichte bis in den Norden Deutschlands, aber auch über die Grenzen des damaligen Reiches hinaus, denn eine Loge befand sich in der Tschechoslowakei. Zu den wichtigsten Orten zählten neben Leipzig mit acht Logen und rund 2 000 Mitgliedern,7 Dresden mit vier Logen und knapp 1700 Mitgliedern,8 Chemnitz mit einer Loge und rund 450 Mitgliedern,9 Altenburg mit zwei Logen und knapp 370 Mitgliedern,10 Plauen mit zwei Logen und 310 Mitgliedern11 sowie Zwickau mit
4 Das Licht als Symbol spielt in der Freimaurerei eine bedeutende Rolle. So wird beispielsweise eine Loge eingeweiht, indem darin Licht eingebracht wird. Das wird auch als Lichteinbringung bezeichnet. Das Ende einer Loge symbolisiert folglich die Löschung des Lichts. 5 Vgl. Dalen’s Kalender für Freimaurer, 72. Jg., Leipzig 1933, S. 50. 6 Vgl. ebd., S. 53. 7 Vgl. ebd., S. 122–124. 8 Vgl. ebd., S. 84 f. 9 Vgl. ebd., S. 79. 10 Vgl. ebd., S. 56 f. 11 Vgl. ebd., S. 144.
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zwei Logen und knapp 270 Mitgliedern.12 Alle anderen Orte, die Bundeslogen der beiden sächsischen Großlogen aufwiesen, zählten weniger als 250 Mitglieder. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass es in den jeweiligen Orten weitere Bauhütten geben konnte, die jedoch zu anderen Dachverbänden gehörten, auf die hier nicht eingegangen wird. Insgesamt gab es zu Beginn der Weimarer Republik in Deutschland acht Großlogen, die alle im Deutschen Großlogenbund,13 der 1871 geschaffen wurde, vereint waren. 1924 kam die DBK und 1930 die Symbolische Großloge von Deutschland ( SGL ) hinzu. Zudem bestand der irreguläre Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne ( FzaS ).14 In den bis zu elf Großlogen organisierten sich in den 1920er Jahren rund 80 000 Freimaurer in über 600 Logen. Jede Loge war dabei ein beim Amtsgericht eingetragener Verein. Bevor sich die SGL und FzaS gründeten, ließ sich die deutsche Logenlandschaft in zwei Richtungen unterteilen, in die sogenannten altpreußischen und humanitären Logen;15 zu letzteren zählten die sächsischen Großlogen. Der Hauptunterschied lag im Glaubensbekenntnis : Die altpreußischen Logen16 nahmen nur Männer christlichen Glaubens auf, die humanitären Logen17 waren offen gegenüber allen Glaubensrichtungen. Nur in der Großen Landesloge von Sachsen wurde 1869 explizit beschlossen, auch Juden aufzunehmen. Zudem gab es in der politischen Verortung der Freimaurer einen Unterschied : Die Mitglieder der altpreußischen Logen waren dem „deutsch - nationalen Milieu“, die der humanitären Logen eher den „nationalliberalen Kreisen“ zuzuordnen.18 Die Große Landesloge von Sachsen und die Großloge „Deutsche Bruderkette“
12 Vgl. ebd., S. 172 f. 13 Der Großlogenbund vereinigte alle in Deutschland bestehenden Großlogen. Er ist gleichzusetzen mit einem übergeordneten Dachverband. Zudem galt er als Vertretung aller deutschen Freimaurer, besonders gegenüber Freimaurerlogen im Ausland und der sogenannten „profanen“ Welt. Auch heute besteht wieder eine übergeordnete Vereinigung, der alle Großlogen unterstehen, die „Vereinigte Großloge von Deutschland“. 14 Als „irregulär“ wird eine Loge bezeichnete, wenn sie nicht unter der gesetzmäßigen Autorität einer Großloge existiert. Der Deutsche Großlogenbund hat die Großloge zur aufgehenden Sonne demnach nicht anerkannt. 15 Zu den altpreußischen Großlogen gehörten die Große Loge von Preußen, genannt „Zur Freundschaft“, die Große National - Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ und die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland. Zu den humanitären Großlogen zählten der Eklektische Bund in Frankfurt am Main, die Große Loge von Hamburg, die Großloge „Zur Sonne“ mit Sitz in Bayreuth, die Großloge von Darmstadt, die Große Landesloge von Sachsen sowie die Freie Vereinigung der fünf unabhängigen Logen von Deutschland, aus der erst 1924 die Großloge „Deutsche Bruderkette“ wurde. Ebenfalls erst in der Weimarer Republik wurde 1930 die Symbolische Großloge von Deutschland begründet. Darüber hinaus bestand der irreguläre Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne. 16 Vgl. Dosch, Deutsches Freimaurer - Lexikon, S. 23. 17 Vgl. ebd., S. 133. 18 Vgl. Ralf Melzer, Zwischen Allen Stühlen, Deutsche Freimaurerei in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“. In : Helmut Reinalter ( Hg.), Freimaurerei und europäischer Faschismus, Innsbruck 2009, S. 19.
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lassen sich in die rechte Fraktion innerhalb der humanitären Logen einordnen und standen damit den altpreußischen Logen nahe.19
3. Bereits während des Ersten Weltkrieges wurde der Zusammenhalt unter den Großlogen jedoch unterminiert. Besonders die Frage nach einer internationalen Zusammenarbeit mit ausländischen Logen entzweite die Gemüter. Zu jener Zeit wurden bereits „Forderungen nach einer rein deutschen ‚germanischen‘ Freimaurerei“ erhoben,20 die sich nach 1918 noch verstärkten. Da nach dem Krieg einige Großlogen wieder Kontakt zu ausländischen Logen aufnahmen und den Völkerbundgedanken guthießen, kam es 1922 zum offenen Bruch innerhalb der Großlogen in Deutschland.21 1922 traten die altpreußischen Logen aus dem Deutschen Großlogenbund aus; 1924 folgte die Große Landesloge von Sachsen. Die Großloge „Deutsche Bruderkette“ löste 1927 ihre Verbindung zum Großlogenbund.22 Eine ähnliche innere Unruhe, wie sie in der Freimaurerei nach dem Ende des Weltkrieges herrschte, war indes auch in der Gesellschaft zu spüren : Dort machten sich ebenfalls Auswirkungen bemerkbar, zumal weite Teile der Bevölkerung mit den geschaffenen Friedensbedingungen unzufrieden waren und Sündenböcke für den verlorenen Krieg suchten. Zu letzteren zählten auch die Freimaurer. Ihnen wurde zudem eine Beteiligung an der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand, des habsburgischen Thronfolgers, am 28. Juni 1914, vorgeworfen. Ferner wurde die Freimaurerei seit Anbeginn von Seiten der katholischen Kirche angefeindet. Als geschlossener Männerbund bot sie zudem stets Angriffsflächen. Nicht zuletzt kam am Ende des 19. Jahrhunderts die Theorie der sogenannten „jüdisch - freimaurerischen Weltverschwörung“ auf, die sich vor allem nach dem Ende des Weltkrieges in den Köpfen der Bevölkerung festsetzte und seitdem als „ideologisch - politisches Kampf - und Propagandamittel“23 genutzt wurde. Die Kriegsniederlage galt zudem als Ergebnis dieser Verschwörung. Derartige Vorwürfe fanden sich beispielsweise in dem Werk „Weltfreimaurerei – Weltrevolution – Weltrepublik“ von Nationalrat Friedrich Wichtl von 1919.24 Die Anfeindungen, die zu Beginn der Weimarer Republik vor allem aus 19 Vgl. Ralf Melzer, Konflikt und Anpassung, Freimaurerei in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Wien 1999, S. 33. 20 Vgl. ebd., S. 31. 21 Vgl. ebd., S. 32. 22 Vgl. ebd., S. 34 : Zudem konnte auch die Großloge „Deutsche Bruderkette“ die Weimarer Republik nicht als neue Nachkriegsordnung akzeptieren und betrachtete den Friedensvertrag von Versailles als „Diktat“. 23 Ebd., S. 41. 24 Vgl. Armin Pfahl - Traughber, Die freimaurerfeindliche Verschwörungsideologie der Nationalsozialisten. Bestandteile, Entwicklung und Verwendung in Bewegungs - und Systemphase. In : Reinalter ( Hg.), Freimaurerei und europäischer Faschismus, S. 28.
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der völkischen Bewegung kamen, spielten bei den Freimaurern zunächst noch keine große Rolle. Auch auf die Mitgliederentwicklung hatten sie keinen Einfluss, denn die Mitgliederzahlen nahmen weiter zu. Dies änderte sich jedoch 1927, als General Erich Ludendorff25 sein Werk „Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse“ veröffentlichte. Über 180 000 Exemplare wurden verkauft, rund doppelt so viele wie von Wichtls Buch.26 Zudem hieß es bei Ludendorff, dass die Freimaurer, die zuvor Arier waren, in Juden umgewandelt und damit zu einem Instrument des Weltjudentums werden würden.27 Seit seiner Veröffentlichung beschäftigten sich die Freimaurer sehr stark mit ihren Gegnern. Zuvor hatten sich die „Brüder“28 kaum mit den Angriffen gegen ihren Bund befasst. Doch von nun an wehrten sie sich stärker mit Abwehr - und Aufklärungsschriften. Ab 1930 traten zu den völkischen Gegnern schließlich die Nationalsozialisten. Von nun an waren die Freimaurer gezwungen, sich auch öffentlich zu verteidigen.
4. Auch für die Mitglieder der sächsischen Großlogen erwies es sich als typisch, dass sich die Logenmitglieder erst spät mit den völkischen und nationalsozialistischen Angriffen auseinandersetzten. Mit Abwehr - und Aufklärungsschriften sowie mit Zeitungsartikeln versuchten sie, gegen die Vorwürfe Widerstand zu leisten. Ein Beispiel hierfür bietet die Situation in Leipzig : Die Brüder in der Messestadt waren von Anfang an gut über die Situation und die Gegner der Freimaurerei in Deutschland informiert, denn die Mitglieder konnten die monatlichen Ausgaben der Leipziger Freimaurerzeitung „Bruderhilfe“, die „Mitteilungen der Großloge ‚Deutsche Bruderkette‘“ und die „Mitteilungen der Großen Landesloge von Sachsen“ beziehen. Trotzdem rüttelte auch hier erst Ludendorffs Werk die Brüder auf. Zunehmend machten sich gesellschaftliche Auswirkungen breit : Freimaurer durften nicht mehr Mitglied im Verband Deutschbanner Schwarz - Rot - Weiß29 oder im Bund der völkischen Lehrer30 werden. Auch der „Stahlhelm“ nahm keine humanitär gesinnten Freimaurer mehr auf; bei den Altpreußen war es eine sogenannte Gewissensentscheidung der jeweili25 Erich Ludendorff (1865–1937) war im Ersten Weltkrieg ein bedeutender General und Stellvertreter des Chefs der Dritten Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg. 1925 begründete er den „Tannenbergbund“ mit. Ludendorff galt als völkisch gesinnt. In seinen Schriften wandte er sich unter anderem den „Weltverschwörern“ zu, wozu neben den Juden und Jesuiten auch die Freimaurer zählten. Zusammen mit seiner Frau Mathilde Ludendorff hielt er zahlreiche Vorträge gegen die Freimaurer. 26 Vgl. Melzer, Konflikt und Anpassung, S. 49. 27 Vgl. Pfahl - Traughber, Die freimaurerfeindliche Verschwörungsideologie der Nationalsozialisten, S. 21. 28 Als „Brüder“ werden die Mitglieder der Freimaurerlogen bezeichnet. 29 Vgl. Bruderhilfe und Leipziger Logen - Anzeiger, 24. Jg., Nr. 9, Oktober 1927, S. 150. 30 Vgl. ebd., 25. Jg., Nr. 1, Januar 1928, S. 3.
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gen Stahlhelm - Ortsgruppe.31 Die verstärkten Angriffe gegen die Freimaurerei zeigten sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung und der medialen Debatte. Zudem führte Ludendorff „Aufklärungsvorträge“ ein, die eines der wichtigsten Mittel waren, um die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Diese „versprachen durch unmittelbare Ansprache eine erheblich eindringlichere Wirkung auf das Publikum“.32 In den Zeitungen wurde über die Vorträge berichtet, viele Bürger lasen regelmäßig die Tageszeitungen und leiteten aus den betreffenden Artikeln ihr Bild über den geschlossenen Männerbund der Logen ab. Einer der ersten großen Vorträge wurde von Erich und Mathilde Ludendorff am 26. Januar 1928 im Zoologischen Garten in Leipzig gehalten. In seiner Ansprache zeigte Ludendorff die politische Wirksamkeit des internationalen Freimaurertums auf und warf den sogenannten „überstaatlichen Mächten“, also den Juden, Freimaurern und Jesuiten, eine zersetzende und das Volk spaltende Tätigkeit vor.33 Er gab ihnen auch die Schuld am Weltkrieg, dem Untergang des Bismarckreiches, der Zerstörung der deutschen Volkseinheit sowie dem Mord am österreichischen Erzherzog.34 Seine Frau wandte sich eher der moralischen Seite zu und warf den Freimaurern unter anderem deren praktizierte Geheimhaltung vor und dass sich die Freimaurer nach den Traditionen des jüdischen Volkes bilden würden : Wucherei sei kein Verbrechen, sondern erlaubt, und das Ritual, bei dem die Männer in eine Dunkelkammer eingesperrt würden, sei menschenunwürdig, weil es ihnen die Freiheit raube.35 Am 19. November 1931 erfolgte der nächste große Vortragsabend des Tannenbergbundes im großen Saal des Kyffhäuserhaues :36 Der Redner war der Rechtsanwalt Robert Schneider aus Karlsruhe, der einst der Loge „Leopold zur Treue“ angehört hatte. Er sprach über das „Wesen der Freimaurerei. Seine schädlichen Einflüsse auf Volk und Parteien“.37 Seine Argumente folgten denen Ludendorffs. Daraufhin veranstalteten am 2. Dezember 1931 die Leipziger Freimaurer im Zentraltheater einen ersten großen Gegenvortrag, bei dem Georg Ehrig von der Balduin - Loge über die ethisch - religiösen und humanitären Bestrebungen der Freimaurerei sprach, die Satzungen verlas, Symbole, Riten und Grundsätze erklärte und die erhobenen Vorwürfe zu entkräften suchte.38 Bereits am 6. Januar 1932 lud der Tannenbergbund jedoch erneut zu einem Vortrag ein, bei dem die stereotypen Beschuldigungen gegen die Freimaurer wiederholt wurden.39 31 Vgl. ebd., Nr. 2, Februar 1928, S. 20. 32 Helmut Neuberger, Winkelmaß und Hakenkreuz. Die Freimaurerei und das Dritte Reich, München 2011, S. 154. 33 Vgl. Niederschrift vom Vortrag Ludendorffs von 1928 ( Archiv der Freimaurerloge „Minerva zu den drei Palmen“, Leipzig, Nr. 657, S. 6). 34 Vgl. ebd., S. 7, 13 und 10. 35 Vgl. ebd., S. 23, 28, 32 und 41. 36 Vgl. Bruderhilfe, Januar 1932, S. 1 ( GStA, PK, FM, 5.2. L 17, Nr. 55, Bl. 113). 37 Vgl. ebd., Nr. 456, S. 1. 38 Vgl. Zeitungsausschnitte über die Angriffe von 1928 bis 1932 ( ebd., Nr. 455, Bl. 126). 39 Vgl. Zur Versammlung des Tannenbergbundes von 1932 und Hefte vom Verein deutscher Freimaurer ( ebd., Nr. 456, S. 2).
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Anfang Februar 1932 wollte auch die NSDAP mit einem Vortrag im Leipziger Zoo in der Bevölkerung für Aufklärung sorgen. Der bayerische Landtagsabgeordnete Hans Dauser sprach über das Thema „Hinter den Kulissen der Freimaurer“40 und stellte klar : „Der Nationalsozialismus wird ebenfalls jede geheime Verbindung und alle internationalen Organisationen verbieten, wenn er die Macht hat. Eine der ersten wird die Freimaurerei mit ihren 90 000 Brüdern in Deutschland sein ! Das Freimaurertum tritt ein für die Demokratie und das Weltbürgertum ! Es will die Vernichtung aller Religionen und aller Monarchien.“41 Das war quasi eine offene Kampfansage der Nationalsozialisten. Nachdem die Nationalsozialisten ab 1930 zunehmend als Gegner hervortraten, versuchten sich die Freimaurer nun auch primär mit diesen auseinanderzusetzen.
5. Doch nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus wurden die Logen, besonders in Dresden und Altenburg, angefeindet. In Dresden war es Arthur Hantzsch, der noch bis 1925 der örtlichen Loge „Zum goldenen Apfel“ angehört hatte. Für ihn war die Freimaurerei eine Kulturschande, wie er auf einem Plakat vom Januar 1933 unzweideutig formulierte. Seitdem er sich 1929 als Wirtschaftsverwalter bei der Apfel - Loge beworben hatte und dort abgelehnt worden war, ging er gegen die Freimaurerei vor. Er tat sich besonders als Wanderredner in Dresden und Ostsachsen hervor. Die Dresdner Loge leitete seit 1930 rechtliche Schritte gegen ihn ein : Die erste Klage von 1930 wurde 1931 aus formellen Gründen abgewiesen. Allerdings konnte 1932 die Apfel - Loge für sich und sieben Mitglieder eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken. Der eigentliche Hauptprozess war bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten aber noch nicht beendet. Was danach passierte, ist bislang ungeklärt.42 Hantzsch sprach auch in kleineren Orten und ländlichen Regionen, zum Beispiel im Freimaurer - Klub in Dippoldiswalde, der zur Apfel - Loge gehörte. Der Mediziner Johannes Back aus dem Klub wandte sich Ende Februar 1932 an die Loge und kritisierte deren passives Verhalten. Er empfand es als unklug, weil so die Meinung entstehe, dass das Vorgebrachte wahr sei. Zudem hätte der Klub gerne einen Gegenredner von Freimaurerseite zur eigenen Verteidigung. Bedacht werden muss hierbei, dass die Situation auf dem Land eine gänzlich andere war : So waren – im Gegensatz zu den freimaurerischen Verbindungen in der Stadt – „Deckungen“ häufiger notwendig,43 weil man hier wusste, wer 40 Vgl. Protokolle der Leipziger Stuhlmeisterkonferenzen von 1927 bis 1932 ( ebd., L 18, Nr. 717, Bl. 41). 41 Ebd., L 17, Nr. 455, Bl. 96. 42 Angriffe gegen die Freimaurerei, Abwehrfragen und Aufklärung 1921–1933 ( ebd., D 40, Nr. 875 unpaginiert ). 43 Freimaurer verstehen unter einer Deckung einerseits die Gewissheit, dass bei Mitgliederveranstaltungen nur Freimaurer anwesend sind, und andererseits das Ausscheiden aus einer Loge.
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sich zur Freimaurerei bekannte. Ohne den Schutz der Anonymität, wie ihn die Brüder aus der Großstadt nutzen konnten, waren sie in ländlichen Regionen unmittelbaren Anfeindungen ausgesetzt. Die negative Einstellung gegenüber der Freimaurerei konnte sich zudem für einige Brüder auf dem Land wirtschafts oder geschäftsschädigend auswirken. Dr. Johannes Back brachte dazu in seinem Schreiben an die Loge ein Beispiel : So sei ein einfacher Handwerker an ihn herangetreten, dessen langjähriger Arzt er war. Dieser bat ihn aus der Freimaurerei auszutreten, besonders jetzt, wo die Mitglieder der Organisation doch als „Verbrecher und Judengenossen“ entlarvt worden seien.44 Auch für Altenburg lässt sich ein ehemaliges Mitglied benennen, das später gegen die Freimaurer vorging : Dabei handelt es sich um Ernst Lindau, der 1919 mit 34 Jahren in der Loge „Baldur zu den drei Sternen“ in Altenburg aufgenommen und im August 1921 wegen schwerer Verletzung der freimaurerischen Pflichten und unbrüderlichem Verhalten gegen die Logenbrüder ausgeschlossen worden war. Seit 1923 behauptete Lindau, dass die Brüder gegen ihn hetzen und seine Existenz beschädigen würden. Rund 40 Brüder erhielten daraufhin anonyme Schreiben „voller Lügen und Verleumdungen“. Ab 1929 ging er schließlich mit öffentlichen Beleidigungen gegen die Brüder vor. Zudem verbreitete er die Idee seines Freundes, des Freimaurergegners Robert Eskau aus Hamburg, der eine „Reinigung innerhalb der Freimaurerei“ anstrebte. Eskau wollte damit das „beschämende Niveau“ der Freimaurerei in Deutschland heben. Es kam zu mehreren Strafverfahren gegen Lindau. Zuletzt wurde er im Oktober 1932 wegen verleumderischer Beleidigung von einem Thüringer Gericht zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.45
6. Auch in Sachsen kam es zwischen den Freimaurern und den nationalsozialistischen Gegnern zu einer direkten Konfrontation. Beispielsweise setzten sich die beiden Zwickauer Logen mit der örtlichen NSDAP auseinander, nachdem der NSDAP - Ortsgruppenleiter in Zwickau, Ewald Dost, und der Leiter der NSDAPSektion Zwickau - Marienthal, Max Poppe, am 8. September 1932 ein Flugblatt verbreiten ließen, auf denen die Freimaurer als Weltverschwörer bezeichnet und ihnen die Schuld am Weltkrieg vorgeworfen wurde. Die Vorsteher der örtlichen Logen empfanden dies als Beleidigung46 und beantragten bei dem Friedensrichter, Herrn Rosner,47 einen Sühnetermin. Dadurch konnten die beiden Logen 44 Angriffe gegen die Freimaurerei, Abwehrfragen und Aufklärung 1921–1933, Der moralische Zusammenbruch der Freimaurerei, Dr. med. Joh. Back, Dippoldiswalde, 24. 2. 1932 ( GStA, PK, FM 5.2. D 40, Nr. 875, unpaginiert ). 45 Angriffe gegen die Freimaurerei 1924–1933 ( ebd., FM A 8, Nr. 881 unpaginiert ). 46 Vgl. Abwehr von Angriffen auf die Freimaurerei in der Zwickauer Zeitung 1932 ( ebd., FM 5.2. Z 14, Nr. 143, Bl. 2). 47 Vgl. ebd., Bl. 15.
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am 6. Dezember 1932 von Dost und Poppe eine Erklärung erwirken, in der es hieß : „Die in dem Versammlungsaufruf der NSDAP vom 8. 9.1932 enthaltenen beleidigenden Äußerungen gegen Mitglieder der Zwickauer Freimaurerlogen (Bruderkette zu den drei Schwanen und Zu den drei Türmen ) nehmen wir zurück, da sie nicht den Tatsachen entsprechen.“48 Zudem schrieb die NSDAPGauleitung Zwickau an die beiden Logenvorsteher, dass sie weder die Vorsteher noch die Mitglieder der Logen in ihrer Ehre hätten angreifen wollen und sich der Aufruf nicht persönlich gegen sie gerichtet habe.49 Eine ähnlich direkte Konfrontation mit der NSDAP gab es vor der Machtübernahme auch in Plauen. Pfarrer Curt Klemm, gleichzeitig Leiter der Loge „Zum deutschen Glauben“ in Plauen, wandte sich im März 1932 an den damaligen Regierungsrat Adolf Hitler und schrieb, dass es höchste Zeit werde, „in der Presse der NSDAP den widerlichen Kampf gegen die deutsche Freimaurerei“ zu beenden. Die deutschen Freimaurer seien national gesinnt und vaterlandstreu, am Aufbaugedanken hätten sie schon vor den Nationalsozialisten mitgeholfen, erkennbar sei dies auch am Wahlspruch der Loge „Gott, Ehre, Vaterland“.50 Tatsächlich erhielt Klemm im Mai 1932 von der NSDAP - Reichsleitung in München eine Antwort. Darin hieß es : Der NSDAP sei es bekannt, dass dort viele national gesinnte deutsche Männer Gewissenskonflikte durch die Zugehörigkeit zur Freimaurerei und der Stellung der NSDAP ihr gegenüber auskämpfen würden. Allerdings gelte der Kampf der Partei der Weltorganisation der Freimaurerei, weil diese – wie die Juden und Marxisten – die Einigung des deutschen Volkes im nationalen Gedanken gefährden würde.51 Hierbei handelt es sich um eine Antwort, die bei einer eventuellen Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht nach einer Zukunft der Freimaurerei in Deutschland klang. Nach dem 30. Januar 1933 war der Abwehrkampf gegen die völkischen und vor allem die nationalsozialistischen Freimaurergegner verloren. Trotzdem hielten die Nationalsozialisten noch immer öffentliche Kundgebungen gegen die Freimaurerei ab, auch in Sachsen, wie ein Beispiel von Ende August 1933 in Zwickau zeigt. Solche Versammlungen seien nach wie vor notwendig, um die Volksseele ganz zu gewinnen, hieß es in der Zeitung „Der Freiheitskampf“ über die Kundgebung der Ortsgruppe Zwickau - Schwedewitz.52
48 Ebd., Bl. 3. 49 Vgl. Abwehr von Angriffen auf die Freimaurerei in der Zwickauer Zeitung 1932 ( GStA, PK, FM 5.2. Z 14, Nr. 143, Bl. 2, 3, 8, 15, 16). 50 Angriffe 1927–1933, Brief aus Plauen vom 21. 3. 1932 an Hitler ( ebd., P 12, Nr. 27, unpaginiert ). 51 Vgl. Brief von der NSDAP - Reichsleitung aus München vom 12. 5. 1932 an Klemm (ebd.). 52 Abwehr von Angriffen in Zeitungen 1932 : Der Freiheitskampf, 29. 8. 1933, Nr. 205 (ebd., Z 14, Nr. 143, unpaginiert ).
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7. In Deutschland reagierten die Großlogen mit ihren Bundeslogen auf die neue politische Situation recht unterschiedlich : Bereits Ende März 1933 löschten die Großloge „Zur aufgehenden Sonne“ und die „Symbolische Großloge“ ihr „Licht“53 und gingen ins Exil. Hingegen unternahmen die humanitär ausgerichteten Logen Anpassungsversuche : Sie gaben offiziell die Freimaurerei auf und veränderten ihre äußere Form, indem sie sich in sogenannte „Christliche Orden“54 umwandelten. Die äußere Hülle der Freimaurerei wurde damit abgestreift; auch sollten dadurch freimaurerische Bezüge entfallen. Keine Anpassungsversuche unternahmen hingegen die altpreußischen Logen, die – so lange es möglich war – als Logen in Deutschland bestehen blieben.55 Die beiden sächsischen Großlogen gaben offiziell am 12. und 13. April 1933 die Freimaurerei auf und wandelten sich in „Christliche Orden“ um. Ihre angeschlossenen Bundeslogen wurden zu sogenannten Ordensgruppen. Durch die Anpassung und Umwandlung erhofften sie sich eine Überlebens - und Wirkungsmöglichkeit im „Dritten Reich“. Einer der ersten Schritte bestand Ende März 1933 zudem in der Übernahme des „Arierparagraphen“ in die Satzungen : Mitglieder durften von nun an nur noch Männer arischer Abstammung sein, die auf „nationalem Boden“ standen und christlichen Glaubens waren; Juden und „Marxisten“ wurden ausgeschlossen. Diese Veränderungen lassen sich auch in den Satzungen finden. Die wichtigsten Punkte neben der Übernahme des „Arierparagraphen“ waren die Loslösung von der Freimaurerei und der Verpflichtung auf ein freimaurerisches Geheimnis56 sowie das Verbot, mit ausländischen Vereinen oder Verbänden Kontakt zu haben. Insgesamt gestalteten sich die neuen Zusammenkünfte als gemeinnützige Gesellschaften ähnlich wie zu Zeiten, als sie noch offiziell Freimaurerlogen waren : Es gab Vorträge, Klubabende und geselliges Beisammensein. Nach wie vor wurde dabei ein breites Themenspektrum gepflegt; man referierte zu Gegenständen und Problemen aus den Bereichen Kultur, Kunst und Wissenschaften.57 Lediglich die typisch freimaurerischen Themen entfielen. Neben Vortragsabenden gab es auch weiterhin Feierstunden, in denen sogar neue Mitglieder aufgenommen wurden. Zudem unterstützten die Gruppen nach wie vor karitative 53 Das heißt, die Großloge hat aufgehört, in Deutschland zu bestehen. 54 Die „Christlichen Orden“ sind die Nachfolgeorganisationen einiger Freimaurerlogen, die sich an die neuen politischen Gegebenheiten von 1933 anpassen wollten. Auch sie wurden mit einem ähnlichen Aufbau wie bei den Logen als Vereine gegründet. Die ehemaligen Bundeslogen der Großlogen gehörten den Nachfolgeorganisationen an. Ebenfalls wurde der Mitgliederbestand der Logen übernommen. Wer dem nicht angehören wollte, musste explizit ein Austrittsgesuch einreichen. 55 Vgl. Melzer, Zwischen allen Stühlen, S. 23–26. 56 Als freimaurerisches Geheimnis werden die Erfahrungen jedes einzelnen Mitgliedes bezeichnet, die er während der Tempelarbeit erlebt. 57 Vgl. Satzungsänderung von 1933, Paragraph 5 der Satzung vom 18. April 1933 (GStA, PK, FM 5.2. L 18, Nr. 20, Bl. 4).
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Zwecke. Allerdings bahnte sich mit der Zeit ein Finanzierungsproblem an, da im Zuge der Umwandlung sehr viele Mitglieder, häufig weit über die Hälfte, austraten. Gründe waren meistens wirtschaftliche oder berufliche Schwierigkeiten. So hätten Juristen oder Lehrer ihre Stellung gefährdet gesehen, da die entsprechenden NS - Verbände keine Freimaurer aufnahmen. Ein weiterer Grund war der Beitritt zur NSDAP, der allerdings vielen Freimaurern versagt blieb; denn Freimaurer, die erst nach der Machtübernahme aus den Logen austraten, waren grundsätzlich nicht „aufnahmefähig“.58 Im Zuge der Umwandlung kam es noch zu weiteren Veränderungen. Unter anderem entfielen freimaurerische Begriffe, wie „Beamtentitel“,59 Anreden oder Grußformeln. Der Begriff „Freimaurer“ wurde meist durch die Bezeichnung „Ordensjünger“ ersetzt. Ebenfalls neu war die Präsenz von Angehörigen der Polizeipräsidien zu Veranstaltungen der Orden. Wie aus Berichten von Veranstaltungen der ehemaligen Leipziger Loge „Apollo“ hervorgeht, gab es in der politischen Abteilung der Gestapo Leipzig einen Bereich für sogenannte „Freimaurerfragen“, womit alle Belange rund um die Freimaurerei gemeint waren.60 Für die „Apollo“ - Gesellschaft sind Berichte von Klub - und Vortragsabenden vorhanden, in denen die Polizei nicht nur Angaben zum Ablauf, Inhalt und der Anzahl der Anwesenden vermerkte, sondern auch, ob Gäste oder ( ehemalige ) Logenmitglieder aus dem Ausland anwesend waren und ob politische Fragen behandelt oder staatsfeindliche Äußerungen getätigt wurden. Für die „Apollo“ wurde dies allerdings nicht festgestellt.61 Dem Weg der Umwandlung zu einer Ordensgruppe folgten aber nicht alle Logen. Die Plauener Loge „Zum deutschen Glauben“ schloss sich nicht an und wurde nach der Auflösung Anfang 1933 zum „Klub vaterländischer Freunde“.62 Der Klub wurde von den Nationalsozialisten sogar lange als national angesehen. Auch die Leipziger Loge „Balduin zur Linde“ gehörte dem Orden nur bis Mai 1934 an, danach versuchte sie sich als eigenständige Gesellschaft zu etablieren.63 Doch all diese Sonderwege waren vergebens : Nachdem sich am 21. Juli 1935 die letzten altpreußischen Logen aufgelöst hatten, mussten auch die beiden ehemaligen sächsischen Großlogen mit ihren angegliederten Gruppierungen am 10. August 1935 deren Beispiel folgen, allerdings auf Drängen der Nationalsozialisten. Damit wurde das Sonderdasein der ehemaligen sächsischen Logen been58 Personalakte von dem Rechtsanwalt Paul Schmid ( BArch, PK, Q 41, Bl. 2348, unpaginiert ). 59 Beamtentitel waren unter anderem „Meister vom Stuhl“ als Vorsteher einer Loge, Schriftführer, Redner, Aufseher, Schatzmeister, Schaffner, Archivar oder Musikmeister. 60 Vgl. Hans Dieter Schmid, Gestapo Leipzig, Politische Abteilung des Polizeipräsidiums und Staatspolizeistelle Leipzig 1933–1945, Beucha 1997, S. 7 und 12. 61 Vgl. Staatsarchiv Leipzig, Apollo - Loge von 1934 bis 1940 ( StA - L, PP - V, Nr. 3930/5, Bl. 39–62). 62 Teilung 1933–1934 ( GStA, PK, FM, 5.2. P 13, Nr. 18, unpaginiert ). 63 Vgl. Bericht über die Tätigkeit der Gesellschaft Balduin zur Linde in Leipzig auf die Zeit vom 7. Februar 1934 bis zum 9. Februar 1935, S. 7.
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det und das offizielle Verbot der Freimaurerei in Deutschland ausgesprochen.64 Genauer gesagt : Am 17. August 1935 verkündete der Reichs - und Preußische Minister des Innern das Ende der Freimaurerei und damit deren Verbot.65 Durch die „freiwillige Auflösung“ der ehemaligen sächsischen Großlogen mit ihren Bundeslogen wurde das Vermögen nicht enteignet – ansonsten wären die Logen als staatsfeindliche Vereinigungen behandelt und das Vermögen auf Grundlage der „Reichstagsbrandverordnung“ eingezogen worden –, sondern sie konnten in Liquidation gehen und ihr Vermögen, so gut es ging, verwerten. Beispielsweise richtete die Zwickauer Loge „Zu den drei Schwanen“ gegen Ende ihrer Liquidation eine Stiftung mit dem Namen „Zu den drei Schwanen“ ein, die nach der Auflösung das restliche Vermögen bekam. In das ehemalige Logengebäude auf dem Grundstück des heutigen Doktor - Friedrich - Rings 19 sollte 1937 die Stadtbücherei einziehen. Im Februar 1949 wurde das Grundstück auf Beschluss der Landeskommission durch Befehl 82 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland enteignet.66
8. Mit dem Verbot war das offizielle Ende der Freimaurerei im „Dritten Reich“ besiegelt. Die Nationalsozialisten befassten sich aber auch danach noch mit ihren Mitgliedern. Um die Freimaurer als Gegner besser darstellen zu können, entstanden an manchen Orten sogenannte „Anti - Freimaurer - Museen“. Das größte in Sachsen befand sich im ehemaligen Gebäude der Loge „Harmonie“ in Chemnitz, das unter anderem mit Inventar aus Leipziger Logen ausgestattet wurde.67 Das Museum zog seit der Eröffnung 1936 über eine Million Besucher an.68 Allerdings schreckte das rigide Vorgehen der NS - Führung gegen die Freimaurerei nicht alle Logenmitglieder ab. Einige Brüder konnten sich sogar für die NS- Bewegung begeistern. Mit der „Amnestie - Verfügung des Führers“ vom 27. April 1938 lockerten sich die Aufnahmegrundsätze ein wenig. Doch hatten nur jene Brüder reelle Chancen auf eine Karriere im NS - Staat, die vor der Machtübernahme ausgetreten waren und nicht mehr als den dritten Grad,69 den 64 Vgl. Leipziger Neueste Nachrichten, Ausgabe vom 8. August 1935, S. 3. 65 Vgl. Große National - Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ im Verband der Vereinigten Großlogen von Deutschland. Hg. von der Bruderschaft der Freimaurer, 1933–2000. Versuch einer Standortbestimmung, Band III, Berlin 2002, S. 1302; Schulungsbrief des Reichsorganisationsleiters, Nr. 7/1939. 66 Vgl. Drei Schwanen Stiftung 1936–1951 ( Stadtarchiv Zwickau, Ra 932, Bl. 84). 67 Vgl. StA - L, PP - V, Nr. 3930/5, Bl. 129. 68 Vgl. http ://www.schlossbergmuseum.de / templates / archiv / freimaurer / nazi - museum. htm#top; 24. 5. 2012. 69 In der blauen Johannisfreimaurerei wird nach drei Graden gearbeitet : Lehrling, Geselle und Meister. Es gibt auch andere Riten, wie den Schottischen Ritus, der mit 33 Graden arbeitet.
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sogenannten Meistergrad, inne und kein wesentliches Amt in der Loge70 bekleidet hatten. Ein Beispiel hierfür war Werner Kühn, der vom Juni 1923 bis Dezember 1931 der Leipziger Loge „Minerva zu den drei Palmen“ angehört hatte und noch Ende 1931 in die NSDAP eingetreten war. Der Amtsgerichtsdirektor wurde 1938 zum SS - Untersturmführer befördert und im April 1943 als SS - Hauptsturmführer der Reserve in die Waffen - SS aufgenommen.71 Anfänglich hatte er wegen seiner früheren Logenzugehörigkeit Probleme, jedoch folgte im März 1936 durch Reichskanzler Adolf Hitler die „Begnadigung“. Seitdem konnte er Parteiämter bekleiden. Die Loge empfand er aber nach wie vor als eine „Organisation der Wohltätigkeit“ und „Pflegestätte gesellschaftlicher und geistiger Kultur“, die Juden den Eintritt verwehrte.72 Für ihn schlossen sich Freimaurerei und Nationalsozialismus folglich nicht aus. Für die anderen ehemaligen Freimaurer war eine Mitarbeit an der NS - Bewegung aber nur in der Partei angeschlossenen Verbänden, wie der NS - Volkswohlfahrt oder dem Opferring, möglich. Aufstiegsmöglichkeiten, wie sie Werner Kühn erfuhr, blieben den meisten verwehrt. Zu diesen zählte auch Johannes Richter, der ebenfalls der Leipziger Loge „Minerva zu den drei Palmen“ angehörte. Der Professor an der Universität Leipzig und Direktor des Pädagogischen Instituts wurde im September 1933 wegen seiner Logenzugehörigkeit entlassen.73 Hingegen lassen sich Beispiele für „Schmähungen, Ächtungen oder Drohungen“, die einige wenige Brüder hinnehmen mussten, nur in seltenen Fällen belegen.74 Der Nationalsozialismus konnte folglich die Organisation der Freimaurerei zerstören, nicht aber den „freimaurerischen Geist“ in den Köpfen der bis zuletzt verbliebenen Ordensmitglieder. In manchen Orten bildeten sich nach dem Verbot informelle Kreise in Form von Stammtischen. Für die Leipziger Freimaurer lassen sich derartige Treffen während der NS - Zeit und in der DDR nachweisen. Zum Beispiel soll von 1940 bis 1955 das Lokal „Thüringer Hof“ nahe der Thomaskirche in Leipzig, das als Treffpunkt für kirchliche Kreise galt, jeden Samstagabend Versammlungsort für eine Gruppierung von ehemaligen Freimaurern um den Pfarrer Rudolf Mühlhausen gewesen sein. Mühlhausen hatte der Leipziger Loge „Minerva zu den drei Palmen“ seit 1920 angehört. Nach der Umwandlung der Bauhütten war er bis zur Auflösung der letzte Vorsitzende.75 Über die Zusammenkünfte ist jedoch nichts Konkretes bekannt. 70 Wesentliche Ämter waren zum Beispiel „Meister vom Stuhl“ ( Vorsteher der Loge ), dessen Stellvertreter oder Schatzmeister, Schriftführer, Bücherwart oder Musikmeister. 71 Vgl. Personalakte von Werner Kühn ( geb. 5. 4. 1892) ( BArch, R 3001, 65207, Bl. 16). 72 Ebd., Bl. 5. 73 Personalakte von Johannes Richter ( geb. 20. 3. 1882) ( BArch, DS, B 38, Bl. 2410). 74 Darunter litt z. B. ein Oberlehrer in Rente und ehemaliger Bruder der Leipziger Loge „Minerva zu den drei Palmen“ von Seiten der NSDAP ab 1932, der vor der Machtübernahme „deutsch - national“ eingestellt war. Er war politisch interessiert und besuchte die Veranstaltungen der Ortsgruppen. Außerdem war er hilfsbereit und unterstützte durch Spenden das Winterhilfswerk ( Vgl. BArch, RK, I 330, Bl. 2196). 75 Aufnahmeantrag von Bruder Goebel vom 30. 5. 1955 ( Archiv der Freimaurerloge „Goethe zur Bruderliebe“ in Kassel ohne genaue Standortbezeichnung ).
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9. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bundeslogen beider Großlogen durchaus eine ähnliche Entwicklung nahmen, es regional jedoch zu Unterschieden und Besonderheiten kam : In der Buch - und Messestadt Leipzig versuchten sich die Freimaurer vor allem ab 1927 mit Vorträgen und Schriften zur Wehr zu setzen. In den meisten anderen Orten erfolgte eine Abwehr jedoch meist erst nach 1930. So konnten in Plauen und Zwickau direkte Konfrontationen mit den Nationalsozialisten nachgewiesen werden. Andernorts wie in Dresden oder Altenburg hatten die Männer eher mit Angriffen aus den eigenen Reihen zu kämpfen, also mit ehemaligen Logenmitgliedern, die sich nun gegen die Freimaurerei wandten. Die rechtlichen Schritte, die sie einleiteten, waren zwar erfolgreich, aber sie änderten nicht den Standpunkt der Nationalsozialisten als Freimaurergegner. Zudem konnte mit dem Beispiel des Freimaurerklubs in dem kleinen Städtchen Dippoldiswalde bei Dresden gezeigt werden, dass zwischen Stadt und Land ein großer Unterschied bestand. Freimaurer auf dem Land waren im Gegensatz zu denen in der Stadt ihren Gegnern stärker ausgeliefert. Sie konnten nicht die Anonymität der Großstadt zu ihrem Schutz nutzen. In diesem Zusammenhang muss auch beachtet werden, dass die einzelnen Logen selten gemeinsam gegen die Angriffe vorgingen. Auch von Seiten der Großlogen kam es nahezu zu keiner öffentlichen Abwehrmaßnahme. Es gab lediglich einzelne Mitglieder, besonders unter den Leipziger Brüdern, die sich im Abwehrkampf stärker hervortaten und führende Rollen einnahmen. Doch muss die kritische Frage gestellt werden, ob in solch einer Notsituation nicht auch die Logen und vor allem die Großlogen von ihrer öffentlichen Zurückhaltung hätten abweichen müssen. Fest steht, dass die Freimaurer zu spät Abwehrmaßnahmen ergriffen. Die Beispiele von Dresden und Altenburg zeigen jedoch, dass ihr Weg durchaus mehr Erfolg hätte haben können. Möglicherweise haben sie aber die Auswirkungen der nationalsozialistischen Angriffe schlichtweg unterschätzt, deren drastische Folgen zu spät erkannt und sind deshalb erst spät gegen ihre Feinde vorgegangen. Auch die Anpassungsversuche nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte den sächsischen Freimaurern nicht die erhoffte Überlebens - und Wirkungsmöglichkeit bringen. Die beiden sächsischen Großlogen bestritten zu jener Zeit im Vergleich zu den anderen Logen in Deutschland damit einen Sonderweg. Dieser führte beide Großlogen näher zusammen : Im Laufe der Anpassung vereinten sich beide in Großorden umgewandelte Großlogen. Gleichsam trennten sich die Logen offiziell von der Freimaurerei. Dies kann allerdings eher als Loslösung von der äußeren Hülle betrachtet werden. Denn nach wie vor wiesen die Orden viele Ähnlichkeiten mit den ehemaligen Logen auf. Es kann also nicht verwundern, dass die nationalsozialistischen Machthaber auch diese Veränderungen nicht lange geduldet haben. Nach dem Verbot der Freimaurerei im August 1935 war deren offizielles Ende besiegelt.
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Von Seiten der Angehörigen der Freimaurer wurde dieser Weg von immer weniger Mitgliedern mitgetragen. Zwischen 1933 und 1935 verloren die meisten Gemeinschaften rund zwei Drittel ihrer „Brüder“. Ein Teil von ihnen versuchte, meist vergeblich und nur einige wenige mit Erfolg, sich in die „Volksgemeinschaft“ zu integrieren, indem sie sich bei der NSDAP um Aufnahme bewarben. Mit Schwierigkeiten im alltäglichen Leben hatten die meisten Mitglieder der sächsischen Logen jedoch kaum zu kämpfen, wie aus dem derzeitigen Stand der Quellenanalyse hervorgeht. Anders sah es mit dem Vermögen und dem Besitz der ehemaligen Logen aus. Da sich die sächsischen Bauhütten offiziell freiwillig aufgelöst hatten, konnten sie in Liquidation gehen. Doch vom Verkauf der Häuser oder dem Erlös der restlichen Einrichtungsgegenstände und Besitztümer blieb oft kaum etwas übrig; es wurde anschließend für karitative Zwecke gespendet. Die Nationalsozialisten gaben sich jedoch mit dem Verbot und der Auflösung der Freimaurerlogen nicht zufrieden. Um den Feind „Freimaurer“ der Öffentlichkeit näher zu bringen, wurde in Chemnitz ein Museum in der ehemaligen Loge „Harmonie“ errichtet. Das Museum zog während seines Bestehens über eine Million Besucher an. Das öffentliche Interesse an der nach außen geheimnisvoll scheinenden Freimaurerei war demnach ungebrochen. Doch konnten die Nationalsozialisten den freimaurerischen Geist der ehemaligen Logenmitgliedern nicht auslöschen : Besonders in den größeren Städten wie Leipzig oder Dresden bildeten sich kleinere Gruppen ehemaliger Freimaurer, die sich meist in Form von Stammtischen trafen und so trotz des Verbots noch weiter Kontakt hielten. Diese Treffen wurden auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft weitergeführt. Eine Reaktivierung der Freimaurerei war jedoch erst nach der politischen Wende von 1989/90 möglich, denn auch in der DDR wurde die Freimaurerei nicht geduldet.76 Für die Freimaurerei kann das 20. Jahrhundert folglich als eine Zeit zwischen Anpassung und Widerstand, aber auch zwischen Zerfall und Wiederaufbau betrachtet werden.
76 Vgl. Ivan Wojnikow, Freimaurer in der DDR : eine Spurensuche, Leipzig 2011; Vgl. Franziska Böhl, Leipziger Freimaurer in der DDR. In : Winkelmaß – Das unabhängige Freimaurer - Magazin. Hg. vom Leipziger Freimaurer - Verlag, Ausgabe 0, Juni 2010, S. 16 f.
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Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand. Gab es einen Weg der „Mitte“ ? Nikola Schmutzler Auch in Sachsen wurde die Machtübernahme der Nationalsozialisten von Vertretern der evangelischen Landeskirche freudig begrüßt,1 gab sich doch die neue nationale Massenbewegung zunächst kirchenfreundlich und bekannte sich in ihrem Parteiprogramm zu einem „positiven Christentum“, während die sächsische Landesregierung unmittelbar nach der Novemberrevolution von 1918 einen dezidiert kirchenfeindlichen Kurs eingeschlagen hatte. Überschattet wurde das Verhältnis zum NS - Regime jedoch durch den Versuch, die evangelische Kirche mit Hilfe der „Deutschen Christen“ gleichzuschalten, und die Kirchen sukzessive aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Der „Kirchenkampf“2 entzündete sich als innerkirchliche Auseinandersetzung um die Autonomie der Kirche und die Abwehr staatlicher Übergriffe.3 Wie im gesamten Reich agierten auch in Sachsen die beiden Kirchenkampfparteien, die Deutschen Christen ( DC )4 und die Bekennende Kirche ( BK )5. Eine Besonderheit stellte die Mittelpartei dar, die in dieser organisierten Form und
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Vgl. Georg Wilhelm, Die Evangelisch - lutherische Landeskirche Sachsens im „Dritten Reich“. In : Clemens Vollnhals, Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 133–142, hier 133 f.; Gerhard Lindemann, „Christenkreuz und Hakenkreuz“. Dresdner Kirchen im „Dritten Reich“. In : Dresdner Hefte, 29 (2011) H. 106, S. 27–34. Der Begriff ist mehrdeutig und für die beiden Konfessionen unterschiedlich zu füllen. Auch innerhalb der evangelischen Kirche bezeichnet „Kirchenkampf“ sowohl innerkirchliche Auseinandersetzungen als auch den Kampf des nationalsozialistischen Staates gegen die Kirche. Vgl. die große Darstellung von Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Band 1 : Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M. 1977, Band 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934 : Barmen und Rom, Berlin ( West ) 1985, Band 3 ( von Gerhard Besier ) : Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937. Berlin 2001; Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf. Gesamtdarstellung in drei Bänden, Göttingen 1976, 1984. Zu den Deutschen Christen vgl. Kurt Meier, Die deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle ( Saale ) 1967; Hans - Joachim Sonne, Die politische Theologie der deutschen Christen. Einheit und Vielfalt deutsch christlichen Denkens, dargestellt anhand des Bundes für deutsche Kirche, der Thüringer Kirchenbewegung „Deutsche Christen“ und der Christlich - deutschen Bewegung, Göttingen 1982. Siehe S. 284 f.
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ihrem Einfluss einen gewissen Exklusivstatus innehatte.6 Diese Mittelpartei hatte es sich zum Ziel gemacht, den kirchenpolitischen Kampf aus den Gemeinden herauszuhalten und eine Spaltung der Kirche zu verhindern. Mit Johannes Herz soll an dieser Stelle ein sächsischer Pfarrer in den Blick genommen werden, der zu den Protagonisten der „Mitte“ zählte. An seinem Beispiel kann in angemessener Kürze aufgezeigt werden, wie der Weg der „Mitte“ in theologischer Verantwortung vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Verständnisses der lutherischen Zwei - Reiche - Lehre aussehen konnte.7 Verkürzt gesagt, ist mit der Zwei - Reiche - Lehre eine politische Ethik gemeint : Die weltliche Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, um mit Rechtsgewalt die äußere Ordnung zu bewahren. Aufruhr gegen die Obrigkeit ist deswegen nur in Ausnahmefällen legitimiert, wobei noch zu unterscheiden ist zwischen der sogenannten Christperson, wenn ein Christ ausschließlich für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen hat, und der sogenannten Welt - respektive Amtsperson, wenn diese auch Verantwortung für andere trägt. Diese Unterscheidung fiel dem deutschen Protestantismus umso schwerer, da er als Staatskirche in besondere – auch ideelle – Abhängigkeit vom Staat geraten war.8
1.
Die Situation der evangelischen Kirche im Dritten Reich
Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten sollte die evangelische Kirche wie alle anderen Institutionen gleichgeschaltet werden. Dafür nutzte Adolf Hitler den seit 1848 immer wieder aufflammenden Wunsch nach einer Reichskirche. Im Juli 1933 wurden reichsweit Kirchenwahlen durchgeführt, die von der NSDAP gelenkt wurden. Ziel war es, die kirchlichen Leitungsgremien mit Deutschen Christen zu besetzen. Die DC waren eine Bewegung, die ausgehend von Thüringen seit 1930 bald im ganzen Reich Anhänger fand. Es kam zu einer Wechselwirkung zwischen NSDAP und DC, sodass zumindest in der Anfangszeit davon gesprochen werden kann, dass die DC der kirchenpolitische Ableger der NSDAP waren, die auf diesem Weg in innerkirchliche Angelegenheiten eingriff.9 Aus den Kirchenwahlen gingen die DC – protegiert von der NSDAP – in den meisten deutschen Landeskirchen als Sieger hervor und dominierten die kirchenleitenden Gremien sowie die Kirchenvorstände auf gemeindlicher und die Synoden auf überregionaler Ebene. 6 7 8 9
Zu anderen „Mittelparteien“ im Reich vgl. Nikola Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfr. Johannes Herz, Leipzig 2013, ( AKThG 38), S. 257 f. An dieser Stelle sei nur auf das zeitgenössische Verständnis der lutherischen Zwei Reiche - Lehre verwiesen, einführend Franz Lau, Zwei - Reiche - Lehre, RGG3 6, 1945– 1949. Einführend zur Unterscheidung von Christperson und Weltperson vgl. Gerhard Ebeling, Luther, Martin. Theologie II, 4b. RGG3 4, 510 f. Vgl. Wolf - Dieter Hauschild, Lehrbuch der Kirchen - und Dogmengeschichte. Band 2 Reformation und Neuzeit, Gütersloh 2005, S. 864.
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Gegenüber dieser kirchenpolitischen Richtung etablierte sich die Bekennende Kirche aus verschiedenen Wurzeln wie dem Pfarrernotbund und der Jungreformatorischen Bewegung. Hier wurde dezidiert die Position vertreten, dass „Kirche Kirche bleiben müsse“10 gegen alle Versuche des Staates zu intervenieren oder eine Kirchenhoheit zu übernehmen. Ganz deutlich wurde das, als die Kirche der Altpreußischen Union im September 1933 das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums mit dem als „Arierparagraphen“ bekannten § 3 auch in der Kirche als geltendes Recht einführte. Die Gründung des Pfarrernotbunds geschah daraufhin als Solidaritätsbund für nichtarische Pfarrer, die aus dem Pfarrdienst entlassen wurden. Als Gründungsdatum der BK kann man die erste Bekenntnissynode in Barmen vom 29. bis 31. Mai 1934 ansehen, auf der die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet wurde, die als einigendes Band für die BK fungierte. Die Bezeichnungen für die kirchenpolitischen Richtungen variieren und entwickeln sich, sowohl bei DC, als auch bei BK. In Sachsen sammelte sich nach der Einführung des Arierparagraphen die sächsische BK zunächst als „Notbund“, die sich schnell der reichsweiten BK anschloss. Anders sah es bei den DC aus, die sächsische „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ trennte sich nach der Sportpalastkundgebung im November 193311 von der Reichsbewegung DC und nannte sich seitdem „Volksmissionarische Bewegung Sachsen ( Deutsche Christen )“.12 In Sachsen waren durch Verordnung des Innenministers Karl Fritsch vom 30. Juni 1933 dem DC - Pfarrer Friedrich Coch13 „die Rechte und Befugnisse des Landesbischofs, des Landeskonsistoriums, des Landeskirchenausschusses und des Ständigen Synodalausschusses übertragen“ worden. Auch in Sachsen waren die DC die Gewinner der Kirchenwahlen und überwogen in den kirchlichen Gremien von den Kirchenvorständen in den Gemeinden bis zum Landeskirchenamt. In einem Großteil der Kirchgemeinden wurden die verschiedenen 10 Wahlkampfslogan der Liste „Evangelium und Kirche“. Herbert Gutschera, Joachim Maier, Jörg Thierfelder, Geschichte der Kirchen. Ein ökumenisches Sachbuch, 2. Auf lage Freiburg 2006, S. 315. 11 Bei der Sportpalastkundgebung wurde unter anderem beschlossen, das Alte Testament aus dem Gottesdienst zu verbannen, Jesus „artgemäß“ als Helden, statt als Gekreuzigten zu verehren und dass die Kirche sich dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates zu unterwerfen habe. Vgl. Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen 1934, S. 133 f. 12 Einen knappen Überblick zum Kirchenkampf in Sachsen bieten Markus Hein, Zur Geschichte der sächsischen Landeskirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Manfred Gailus / Wolfgang Krogel ( Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 360–382; Georg Wilhelm, Die Evangelisch - lutherische Landeskirche Sachsens im „Dritten Reich“. In : Clemens Vollnhals ( Hg.), Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 133–142. Ausführlich zum Kirchenkampf Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf Bände 1–3, Halle ( Saale ) 1976 und 1984. 13 Friedrich Otto Coch (1887–1945) war von 1933–1945 DC - Landesbischof in Sachsen.
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Wahllisten zugunsten einer Einheitsliste zurückgezogen, wodurch eine Wahl obsolet wurde. Eine tatsächliche Wahl wäre wahrscheinlich nachträglich „von oben“ korrigiert worden.14 Am 11. August 1933 tagte die 16. Synode der Evangelisch - lutherischen Landeskirche Sachsens,15 die sich selbst als „Braune Synode“ bezeichnete, zum ersten Mal. Am 10. Dezember wurden die 28 Thesen von Walter Grundmann,16 die sich u. a. zu „Blut und Rasse“ bekannten, zur verbindlichen Arbeitsrichtlinie für die Kirchenleitung erhoben. Am 4. Mai 1934 schließlich löste sich die Landessynode auf. Damit verbunden war die Eingliederung der sächsischen Landeskirche in die Reichskirche – die Deutsche Evangelische Kirche. Die Landeskirche wurde nun nach dem Führerprinzip durch den Landesbischof, der zugleich Präsident des Landeskirchenamts wurde, geleitet.
2.
Entstehung und Wirken der „Mitte“
Ende Oktober 1934 beschlossen die sächsischen BK - Pfarrer, die „Dahlemer Haltung“ konsequent gegenüber Landesbischof und Landeskirchenamt einzunehmen. Auf der zweiten Reichsbekenntnissynode von Berlin - Dahlem vom 19. bis 20. Oktober 1934 hatte sich die BK von den bestehenden DC - Kirchenleitungen getrennt und das kirchliche Notrecht aus - und damit zur Bildung eigener Kirchenregierungen aufgerufen. Das bedeutete, dass es in einigen Landeskirchen zwei nebeneinander bestehende Kirchenregierungen ( DC und BK ) gab. In Sachsen bildete der Landesbruderrat am 8. November 1934 ein Notkirchenregiment. Das Landeskirchenamt versandt dagegen ein Rundschreiben datiert auf den 7. November, in dem die Rechtmäßigkeit der Wahl des Landesbischofs betont und die Verweigerung der Anerkennung des Kirchenregiments unter Strafe gestellt wurde. Um die drohende Kirchenspaltung in Sachsen zu vermeiden, sah sich eine Gruppe von Pfarrern, die sich zu der Zeit noch als „Zwischenfrontler“ bezeichneten, zum Handeln gezwungen. Ihr Ziel war es, eine Spaltung der Kirche zu verhindern und die kirchenpolitischen Streitigkeiten aus den Gemeinden herauszuhalten. Deutlich formulierte das Fritz Mieth – Pfarrer der Inneren Mission Leipzig, der mit den Leipziger Pfarrern Johannes Herz ( Versöhnungsgemeinde 14
Vgl. Brief von Hermann Steiner an Johannes Herz vom 18. 7.1933 ( Universitätsarchiv Leipzig [ UAL ] Na Herz 31/1, unpag.). 15 Um die Unrechtmäßigkeit dieser Landessynode deutlich zu machen, wurde sie 1945 aus der Zählung entfernt und die erste Landessynode nach dem Zweiten Weltkrieg als 16. gezählt. 16 28 Thesen der sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche. Abgedruckt in Schmidt, Bekenntnisse ... 1933, S. 98–102. Walter Grundmann (1906–1976) war Theologe und Deutscher Christ, im November 1933 erlangte er das Amt eines Oberkirchenrats. Seit 1936 war er als Professor für neutestamentliche Wissenschaft in Jena tätig und stand dem „Institut zur Entjudung von Kirche und Theologie“ seit seiner Gründung im Mai 1939 als Direktor vor.
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Gohlis - Nord ), Heinrich Schumann ( Thomaskirche ) und Oskar Bruhns (zunächst Markus - , später Nikolaikirche )17 das Leitungsgremium – als sogenanntes Kleeblatt – der Gruppe bildete : „Die Sammlung unserer ‚Mitte‘ ist durch die Bestellung des Notbundsuperintendenten veranlasst worden.18 Wir sahen darin den ersten Schritt zur Loslösung von der Kirche. Wir haben das als einen Irrweg angesehen, als eine verkehrte Taktik von der Dahlemer Haltung aus. Ein Verharren auf dem eingeschlagenen Weg führt unweigerlich zur Freikirche. Es sind nicht taktische Erwägungen, die uns leiten, sondern die Sorge um die Herde, die keine Hirten hat, um die Tausende, die dann überhaupt nicht mehr vom Evangelium erreicht werden.“19 Eine konstituierende Versammlung der „Mitte“ war für den 11. November 1934 geplant, bei der die „Zwischenfrontler“ aller Ephorien zusammenkommen sollten. Am 9. November ging ein von Johannes Herz verfasstes und von 39 Leipziger Pfarrern unterzeichnetes Schreiben an alle sächsischen Pfarrer aus, in welchem vor dem durch die kirchenpolitische Entwicklung drohenden Schisma der Landeskirche gewarnt wurde. Noch gebe es die Möglichkeit der „inneren Bereinigung der entstandenen Konflikte“ und der „Neugestaltung der Kirche aus rein kirchlichen Kräften“. Um das zu verwirklichen, seien folgende Punkte umzusetzen : „1. Es muss unverzüglich eine grundlegende Aenderung des Kurses und ein Personalwechsel in den führenden Stellen unserer Landeskirche vorgenommen werden. 2. Es muss schnellstens eine Zusammenfassung aller aufbauwilligen Kräfte erfolgen, denen die Verpflichtung gegenüber der Kirche und Gemeinde über
17
Fritz Hermann Mieth (1897–1963) war Jugendpfarrer von Leipzig und seit 1931 Direktor der Inneren Mission Leipzig. Heinrich Eduard Schumann (1875–1964) war seit 1913 Pfarrer an der Leipziger Thomaskirche, seit 1921 Vorsitzender der Inneren Mission Leipzig, wurde 1936 zum Superintendent Leipzig - Stadt ernannt und 1939 zur Bearbeitung der Personalangelegenheiten ins Landeskirchenamt Sachsen berufen. Oskar Alexander Bruhns (1881–1946) war seit 1934 Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche. 18 Unklar ist, wer mit dem „Notbundsuperintendenten“ gemeint ist. Es könnte sich um Hugo Hahn handeln, der am 8. 11. 1934 vom Notbund zum Bischof bestellt wurde, es könnte sich aber auch um Gerhard Hilbert, den zwangsemeritierten Superintendenten Leipzig - Stadt handeln, der das Dahlemer Notrecht für sich in Anspruch nehmend am 6. 11.1934 seine Kollegen zu einer Solidaritätsbekundung für die Wiederaufnahme seines Superintendentenamts aufrief. Für Hilbert spricht, dass Bruhns am 5. 11. 1934 einen Brief an Herz schrieb, in dem es heißt, dass sie „zur Konstituierung einer Gruppe der Mitte in kürzester Zeit kommen“ müssten. Brief von Bruhns an Herz vom 5. 11. 1934, ( UAL Na Herz 32/2, unpag.). Zur Verlaufsgeschichte Hilbert vgl. Mandy Rabe, Die „Mitte“ im Kirchenkampf in Sachsen. Das Beispiel Leipzigs, Leipzig 2011 ( MS ). – Universität Leipzig, Theologische Fakultät, Landeskirchliches Prüfungsamt, Examensarbeit 2011, 16–18. 19 Vgl. Protokoll der Besprechung von Vertretern der Bekenntnisgemeinschaft Sachsen und der Mitte am 13. und 14. 5. 1935, ( UAL Na Herz 32/3, unpag.), dort auch Zitat von Mieth.
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allen Parteiinteressen steht, und sich in dem Bekenntnis eins wissen : Einer ist unser Meister, wir aber sind alle Brüder.“20 Um der Forderung nach einem Personalwechsel eine breite Basis zu geben, initiierten Herz, Schumann und Bruhns ein Misstrauensvotum gegen DC - Landesbischof Coch. Im „Schreiben an die Amtsbrüder“ stellten die Verfasser fest, dass die Deutsche Evangelische Kirche, welche die Kirchenhoheit über die Sächsische Landeskirche ausübe, in voller Auflösung begriffen sei. Der Parteienstreit in der Kirche sei so erbittert und unheilvoll wie noch nie : „Die Sächsische Landeskirche ist innerlich zerrissen und das kirchliche Leben wird auf wichtigen Arbeitsgebieten durch ungeeinte Anordnungen der Kirchenleitung stark gehemmt. Das durch Gewaltmaßnahmen und ungesetzliche Handlungen heraufbeschworene Durcheinander droht unsere Kirche und unser Amt um das Vertrauen des Volkes zu bringen. [...] Wir richten daher an die Pfarrer unserer Landeskirche die Frage : Schließen Sie sich unserer Überzeugung an, dass der Herr Landesbischof Coch und seine Kirchenregierung das Opfer bringen und ihre Ämter niederlegen müssen ?“21 Die am Schreiben angebrachten Stimmzettel waren an den Leipziger Notar Rudolf Junghanns zu senden, der als neutrale Amtsperson für die Gültigkeit der Abstimmung stehen sollte. Von ca. 1 200 sächsischen Pfarren stimmten 769 mit Ja, 63 Pfarrer hatten sich ausdrücklich enthalten und 41 votierten für Coch, circa 330 antworteten nicht. Das Ergebnis wurde Coch am 8. Januar 1935 mitgeteilt und er wurde aufgefordert, die Konsequenzen zu ziehen; eine Abschrift war an das Ministerium des Innern in Sachsen, an die Deutsche Evangelische Kirche und den Reichsinnenminister gesandt worden. Coch dachte aber gar nicht daran zurückzutreten; sein Kommentar lautete, er bringe das Opfer, nun erst recht auf seinem Posten zu bleiben.22 Die Führung der „Mitte“ versuchte mit weiteren Schreiben Coch davon zu überzeugen, dass er das Vertrauen der Pfarrerschaft verloren habe; er jedoch blieb unbeirrt in seinem Amt. Zur Durchsetzung der Dahlemer Haltung zusammen mit der BK – also der Einsetzung einer eigenen Kirchenregierung gegen das bestehende Landeskirchenamt und den amtierenden Landesbischof – konnte sich die „Mitte“ nicht durchringen. Sie versuchte innerhalb der geltenden Gesetze, Coch zum Rücktritt zu bewegen und die Einheit der Kirche zu erhalten. Solches Vorgehen der „Mitte“ war von der BK zunehmend spöttelnd kritisiert worden, da die „Mitte“ ihre Forderungen in Gestalt einer lahmen und zahmen Bitte, statt einer handfesten Erklärung mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen, vorbrächte. Zudem würde das „Nein !“ des Wortes durch das „Ja!“ der Tat verdeckt. Wer Coch als Landesbischof nicht mehr anerkenne, dürfe auch seinen Anweisungen nicht mehr folgen.23 20 21 22 23
UAL Na Herz 32/2, unpag. Die Entwürfe und das Schreiben vom 24. 11. 1934 ( UAL Na Herz 32/3, unpag.). Vgl. Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe, S. 253 f. Vgl. Brief von Truöl an Herz vom 28. 3. 1938 ( UAL Na Herz 33/3, unpag.).
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Hier wird das Dilemma einer „Mitte“ deutlich. Sie sah es als ihre wichtigste Aufgabe an, eine Spaltung der Kirche zu verhindern. Dabei bewegte sie sich in den Grenzen : „Feststehen auf Schrift und Bekenntnis“, und „Treue zum Dritten Reich und seinem Führer“.24 Der erste Teilsatz trennte sie von den DC, der zweite in der Endkonsequenz, nämlich als Reichs - und Landesregierung mehr und mehr die innerkirchliche Politik und Gesetze bestimmte, von der BK. Die Wege von BK und „Mitte“ schieden sich endgültig nach dem Erlass der 17. Durchführungsverordnung ( DVO ) des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche25 am 10. Dezember 1937. Mit dieser wurde die Leitung der Landeskirche Sachsens „dem im Amt befindlichen Leiter der obersten kirchlichen Verwaltungsbehörde“ übertragen. Damit war aus dem Landeskirchenamt eine reine Verwaltungsbehörde geworden, es gab keine geistliche Leitung mehr. Zum Leiter des Landeskirchenamts war Johannes Klotsche26 ernannt worden, den weder BK noch „Mitte“ als Kirchenleitung anerkannt hatten.27 Die BK verfasste eine Kanzelerklärung gegen Klotsche. Die „Mitte“ sperrte sich dagegen : „Nachdem sich schon seit längerer Zeit für die Zusammenarbeit von BK und ‚Mitte‘ in Sachsen steigende Schwierigkeiten ergeben hatten, haben wir Vertreter der ‚Mitte‘ uns neuerdings von den Plänen der BK“ – nämlich durch demonstrative Bekenntnisakte den kirchlichen Anliegen dieser Kreise öffentlich Gehör zu verschaffen – „grundsätzlich geschieden. Wir haben klar und deutlich erklärt, dass wir aus sehr ernsten Erwägungen heraus da nicht mitgehen können und dass nach unserer Überzeugung davon die Kirche nur Schaden haben wird.“28 Der unterschiedliche Umgang mit der 17. DVO erklärt sich aus der Grundhaltung der beiden Richtungen. Die „Mitte“ blieb immer darauf bedacht, den gesetzlich vorgegebenen Rahmen einzuhalten. Das wird in einem Brief von Johannes Herz an den Reichskirchenminister Hanns Kerrl deutlich, in dem Herz diesem Vorschläge unterbreitet, wie die 17. DVO ergänzt werden müsse, um eine wirkliche Befriedung der sächsischen Landeskirche zu erreichen. Neben dem Leiter der obersten kirchlichen Verwaltungsbehörde müsse eine geistliche Leitung eingesetzt werden, die nicht aus einem kirchenpolitischen Lager – damit meinte Herz nur BK und DC – komme und die Wortverkündigung, Seelsorge, theologische Prüfungen, Aus - und Fortbildung unter sich habe.29 Dieser Bitte wurde allerdings nicht entsprochen.
24 Vgl. die Programmschrift der Mitte „Unsere Haltung“ ( UAL Na Herz 33/3, unpag.). 25 17. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche, 10.12.1937. In : Dokumente zur Kirchenpolitik, Band III, Nr. 64, S. 149 f. 26 Johannes Klotsche (1895–1965), Oberkirchenrat, war seit 1937 Leiter des Landeskirchenamts Sachsen. 27 Vgl. Joachim Fischer, Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933. 1937, Göttingen 1972, S. 254 f.; Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe, S. 264. 28 Brief von Herz an Pokojewski vom 10. 2.1938 ( UAL Na Herz 33/3, unpag.). 29 Brief von Herz an Kerrl vom 11. 3.1938 ( UAL Na Herz 33/3, unpag.).
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Dass „Mitte“ ein rein binnenkirchlicher Begriff ist und nichts über die Stellung des Einzelnen zum Staat aussagt, wird in einem Grundsatzpapier erkennbar : In der ersten Hälfte des Jahres 1938 entstand als Reaktion auf die 17. DVO über einen längeren Zeitraum hinweg eine Standortbestimmung unter dem Titel „Die Haltung der Mitte“. Dieses Schriftstück besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wurde die Position allgemein dargestellt, im zweiten konkret in acht Punkten Handlungsanweisungen gegeben, wobei ausdrücklich betont wurde, dass dies keine kirchenregimentlichen Weisungen seien. Mit „Die Haltung der Mitte“ grenzte man sich auch gegen die oben schon erwähnten und immer wiederkehrenden Vorwürfe der BK ab, durch neutrale Stellung dem Kampf auszuweichen und der kämpfenden Kirche in den Rücken zu fallen, weil so die Pfarrer die Möglichkeit hätten, sich einer Positionierung zu entziehen. Schon in der Einleitung heißt es : „Aufgabe der ‚Mitte‘ kann es nicht sein, gegenüber der kirchlichen Not der Gegenwart eine völlig neutrale und farblose Haltung einzunehmen und sich möglichst unbeteiligt und unbehelligt durch die entstehenden Schwierigkeiten hindurchzufinden.“ Stattdessen verwahrte man sich dagegen, den aufgezwungenen Kampf mit „weltlichen Mitteln der Machtanwendung“ zu führen. Druck und Gewalt wurden genauso abgelehnt wie generelle Gehorsamsverweigerung, Diffamierung und Verketzerung. Gerade in den weltanschaulichen Kämpfen sei es notwendig, das Evangelium rein zu verkündigen, ohne sich von Parolen oder Verärgerung über Ungerechtigkeit verwirren zu lassen. „Gerade in den weltanschaulichen Kämpfen und in den kirchlichen Wirren der Gegenwart haben wir evangelische Pfarrer die hohe Verantwortung und die unveränderte Aufgabe, unseren Gemeinden das Evangelium von Jesus Christus nach bestem Wissen und Gewissen zu verkündigen und unseren Gemeindegliedern in der ernsten Frage, ob sie sich für oder gegen Christus entscheiden sollen, seelsorgerlich beizustehen. [...] Wir fühlen uns darum bei all den Kämpfen, die wir zu führen haben, in erster Linie durch unsere Pflicht gegenüber den uns anbefohlenen Gemeinden gebunden und müssen gegenüber dieser Verpflichtung alle persönlichen Rücksichten und Interessen in den Hintergrund stellen.“30 Bei allen Auseinandersetzungen sei zu prüfen, ob sie tatsächlich dem Aufbau der evangelischen Gemeinde dienten oder vielleicht sogar „Volksgemeinschaft zerstört und evangelisches Gemeindeleben erschüttert“ würde. Die Fragen des Kirchenrechts und der Kirchenverwaltung spielten nur eine untergeordnete Rolle. Der zweite Teil beginnt mit der Ablehnung des Kirchenregiments Klotsche, weil „das Landeskirchenamt in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung nicht im Stande ist, die kirchliche Verwaltung ersprießlich zu führen“. Darum müsse eine „geeignete Kirchenregierung“, wie sie in anderen Landeskirchen vorhanden sei, gebildet werden. Da das Landeskirchenamt eine reine Verwaltungsbehörde sei, seien Anweisungen für Predigt, Gottesdienst, kirchliche Unter weisung, Seelsorge und andere geistliche Aufgaben von dieser Stelle nicht 30 UAL Na Herz 33/3, unpag.
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anzunehmen. Unbedenklich sei es, reine Verwaltungsakte wie Urlaubsanträge vom Landeskirchenamt erledigen zu lassen. Als wichtigste Aufgabe wurde die Frage des theologischen Nachwuchses bezeichnet. Kandidaten und Vikare sollten ohne Auflagen und Verpflichtungen, die über das Ordinationsgelübde hinausgehen in den geordneten Vorbereitungs - und Pfarrdienst, also nicht in eine alternative von der BK oder der „Mitte“ bereitgestellte Vikariats - oder Pfarrstelle, übernommen werden. Hier schloss sich wieder der Hinweis an, dass dadurch keinerlei kirchenregimentliche Befugnisse in Anspruch genommen würden. Im letzten Punkte wurden „so ernste kirchliche Bedenken“ gegen kirchenpolitische Kanzelabkündigungen geäußert, dass daran teilzunehmen unmöglich sei.31
3.
Johannes Herz als ein Vertreter der „Mitte“
Johannes Heinrich Herz wurde am 13. Juni 1877 in Leutersdorf in der Lausitz geboren. Er studierte in Tübingen, Marburg und Leipzig Theologie und zählt zu den liberalen Theologen. 1903 wurde er Pfarrer zunächst in Chemnitz, 1915 wechselte er nach Leipzig Gohlis - Nord. Seine gesamte Tätigkeit ist geprägt vom evangelisch - sozialen Gedanken, in welchem sich der Versuch, die Arbeiterschaft für die Kirche zurückzugewinnen, mit dem Eintreten für eine Verbesserung ihrer sozialen Situation vereint. Für diesen Gedanken fand Herz in der Sächsischen Evangelisch - Sozialen Vereinigung und dem Evangelisch - Sozialen Kongress seine organisatorische Heimat, in beiden Organisationen übernahm er leitende Positionen. 1927 wurde er für seine Tätigkeit auf evangelisch - sozialem Gebiet mit der Ehrendoktorwürde der Universität Jena ausgezeichnet. Herz arbeitete in der Zeit der Weimarer Republik in kirchlichen Leitungsgremien auf Reichsebene wie dem Deutschen Evangelischen Kirchentag und dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss mit und nahm 1925 als Delegierter an der Weltkirchenkonferenz für Praktisches Christentum „life and work“ in Stockholm teil. 1927 wurde ihm die Stelle des Sozialpfarrers für die Ephorie Leipzig im Nebenamt übertragen. Neben diesem kirchenpolitischen Engagement war Herz auch politisch aktiv. 1909 hatte Herz für den Freisinnigen Volksverein bei der Landtagswahl kandidiert. Im Dezember 1918 war er in den Vorstand der Leipziger DDP gewählt worden – als Berater für Kirchenfragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Herz Mitglied der LDP. 1950 wurde er in den Weltfriedensrat gewählt. Am 6. November 1960 starb Johannes Herz.32 31
Erste Entwürfe unter dem Titel „Unsere Haltung“ von Herz finden sich schon im Dezember 1937, die „Endgiltige [ sic ] Fassung“ ist ohne Datum. Im Mai 1938 schrieb Aé an Herz, dass er sich für „Unsere Haltung“ eine klare theologische Grundhaltung wünsche. Brief von Aé an Herz vom 19. 5.1938; Entwürfe und „Endgiltige Fassung“ (UAL Na Herz 33/3, unpag.), dort auch Zitate. 32 Ausführlich zum Lebenslauf von Herz vgl. Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe.
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Was bedeutete es für den Pfarrer Johannes Herz konkret, sich zwischen den Polen von DC und BK zu bewegen ? Das Engagement von Johannes Herz für die „Mitte“ hatte für ihn ganz persönliche Folgen : Am 19. April 1937 wurde ihm der Auslandspass entzogen. Nach mehreren abgelehnten Einsprüchen und einer Anfechtungsklage erfuhr Herz, dass die Gestapo ihn zur BK rechne. Um diesen Irrtum aufzuklären, schrieb er mehrfach an das Landeskirchenamt. Er erklärte, dass die „Mitte“, zu der er zähle, versucht habe, „gegenüber der konsequent oppositionellen Haltung der BK, den zur sogenannten ‚Mitte‘ sich zählenden Pfarrern einen Weg zu zeigen, wie der Kirchenkampf entgiftet und kirchliche Aufbauarbeit geleistet werden könne, und wie es möglich sei, mit der Anerkennung der 17. DVO [...] und der daraus sich ergebenden Kirchenleitung doch die Handlungsfreiheit in persönlichen Gewissensfragen zu vereinigen.“ Außerdem gab er eine Stellungnahme zum Schriftstück „Die Haltung der Mitte“ ab.33 Da dies alles nicht den gewünschten Erfolg brachte, wandte sich Herz schließlich an den Reichskirchenminister und schilderte den Sachverhalt. Der Grund für den Entzug könne nur kirchenpolitischer Natur sein, da er als Hauptschriftleiter einer Zeitschrift auf der Berufsliste der Schriftleiter stünde und Mitglied der Reichspressekammer sei, was ja nur nach sorgfältiger Prüfung der politischen Zuverlässigkeit möglich wäre. Aber auch kirchenpolitisch habe sich Herz keine Vorwürfe zu machen, da er nie der BK angehört, in seiner Gemeinde immer den Kirchenfrieden gewahrt und die 17. DVO immer als geltendes Gesetz anerkannt habe. Herz bat Kerrl dringend, die Auslandsgültigkeit seines Passes wieder herzustellen.34 Kerrl übergab die Angelegenheit dem sächsischen Ministerium für Volksbildung, das vom Landeskirchenamt und von der Gestapo Erkundigungen einholte. Klotsche antwortete, dass es ein Dienstverfahren gegeben habe, bei dem Herz allerdings versichert habe, dass er die staatlichen Bestimmungen anerkennen und sich demgemäß verhalten wolle. Disziplinarische Maßnahmen wären aus diesem Grund unterblieben. Da Klotsche aber die sonstigen Gründe für die Ablehnung nicht kenne, könne er das Gesuch von Herz nicht befürworten.35 Auch von Seiten der Staatspolizeistelle Leipzig bestanden Bedenken gegen die Wiederherstellung der Auslandsgültigkeit, da Herz als politisch unzuverlässig gelte. Er sei einer der Geistlichen, „die sich nach außen hin als mit dem nationalsozialistischen Staat sympathisierend ausgeben, innerlich denselben aber ablehnen“. Gegen die Selbstauskunft von Herz, nicht zur BK zu gehören, ver-
33 Vgl. Brief von Herz an das Landeskirchenamt vom 8.10.1938 ( UAL Na Herz 22/2, unpag.). Weiterer Briefwechsel mit dem LKA wegen des Auslandspasses in UAL Na Herz 32/4, unpag. 34 Vgl. Brief von Herz an Kerrl vom 19.12.1938. ( SächsHStAD, MfV. Sachbetreff: Neugestaltung der Verhältnisse der Ev. - luth. Landeskirche Sachsens nach 1933 : III 1937–1942 Nr. 13058/41, 160). 35 Vgl. Brief von Klotsche an den Leiter des sächsischen Ministeriums für Volksbildung (MfV ) vom 23. 2.1939 ( SächsHStAD, MfV. Sachbetreff : Neugestaltung der Verhältnisse der Ev. - luth. Landeskirche Sachsens nach 1933 : III 1937–1942 Nr. 13058/ 41, 164).
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meldete die Gestapo, dass er „eine führende Persönlichkeit innerhalb der Bekennenden Ev. - Luth. Kirche“ sei. Abschließend wurde festgestellt, dass „Herz [...] äußerst klug und vorsichtig zu Werke“ gehe. Es sei zu erwarten, dass er „als Verfechter der Belange der Bekennenden Ev. - Luth. Kirche im Ausland über die kirchliche Lage in Deutschland unwahre bezw. entstellte Berichte geben wird“, darum werde von einer Wiederherstellung der Auslandsgültigkeit abgeraten.36 Ein Auslandspass wurde Herz nicht wieder erteilt. Auffällig ist die disparate Einschätzung : Herz behauptete von sich selbst, ein zuverlässiger Staatsbürger zu sein, während die Gestapo ihn als gefährlich einstufte. Zu einem Zusammenstoß mit Behörden kam es auch aufgrund eines „Flugblatts“. Am 30. November 1940 kam ein Kriminalbeamter in die Wohnung von Herz und forderte Aufklärung über ein Flugblatt. Herz musste mit dem Kriminalbeamten zum Verhör in das Gebäude der SS in der Karl - Heine - Straße 12. Bei dem gesuchten Flugblatt handelte es sich um eine Einladung zu einem Mütterabend unter dem Thema : „Wie erzählen wir unseren Kindern die biblischen Geschichten ?“ In der Einladung hieß es : „Der evangelische Religionsunterricht in der Schule, der bisher unseren Kindern das christliche Gedankengut vermittelte, ist schon seit längerer Zeit stark eingeschränkt und neuerdings in den meisten Leipziger Schulen ganz eingestellt worden. [...] Auf ihm [ dem Mütterabend ] wird Pfarrer D. Herz über die Aufgaben sprechen, die dem christlichen Haus durch den Wegfall des Religionsunterrichts in der Schule erwachsen.“37 In den folgenden Monaten sollte es weitere Abende geben, in denen konkrete Beispiele vorgestellt werden sollten, diese durften allerdings nicht stattfinden. Herz gab über die Angelegenheit einen Bericht an die Superintendentur mit der Bitte, die Angelegenheit zu prüfen und gegebenenfalls für ihn einzutreten.38 Systematisch waren im „Dritten Reich“ Kinder und Jugendliche in den staatlich verordneten Jugendorganisationen Hitlerjugend ( HJ ) und Bund Deutscher Mädel ( BDM ) indoktriniert worden.39 Die kirchliche Jugendarbeit hatte in allen ihren Ausprägungen immer auf diese Rücksicht zu nehmen. Auch Religionsunterricht wurde, obwohl offiziell vom nationalsozialistischen Staat gewährleistet, faktisch seit Herbst 1940 in Leipzig nicht mehr erteilt. Da die Kirche aber eine Verpflichtung gegenüber den getauften Kindern hatte, mussten andere Wege gefunden werden, um die Kinder mit christlichen Inhalten in Berührung zu bringen. Herz hatte dafür die Veranstaltung der „Mütterabende“ gewählt. Auf diese Weise war er dem Staat in die Quere gekommen, der über die alleinige Einflussnahme auf die Kinder und Jugendlichen argwöhnisch wachte. 36 Vgl. Brief von der Geheimen Staatspolizeistelle an den Leiter des sächsischen Ministeriums für Volksbildung vom 23. 2.1939 ( SächsHStAD, MfV. Sachbetreff : Neugestaltung der Verhältnisse der Ev. - luth. Landeskirche Sachsens nach 1933 : III 1937–1942 Nr. 13058/41, 167). 37 EphAL I - B 131, Schrank 8, Bl. 51. 38 Vgl. EphAL I - B 131, Schrank 8, Bl. 48–50. 39 Vgl. dazu auch den Beitrag von Alexander Lange in diesem Band.
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Außerdem sei in diesem Zusammenhang noch auf die Schließung von kirchlichen Schulen und die Übernahme der kirchlichen Kindergärten durch die NSV verwiesen.40 Anzeichen für die persönliche Haltung von Herz gegenüber dem Nationalsozialismus waren bereits vor 1933 erkennbar. Im November 1931 war eine Beschwerde beim Leipziger Superintendenten Oberkirchenrat Gerhard Hilbert über das Verhalten von Johannes Herz gegenüber einer nationalsozialistischen Schülerzeitung eingegangen. Vorausgegangen waren ein Besuch im Oktober 1931 von Herz und einigen anderen Herren beim Rektor der Thomasschule, sowie ein Aufruf an die Eltern, mit dem Herz gegen das Organ des nationalsozialistischen Schülerbunds ( NSS ) : Parole. Kampfblatt der Leipziger Jugend, ein Verbot erwirken wollte, da darin die Autorität von Schule, Lehrern und Elternhaus untergraben werde. Zudem führe die aggressive politische Agitation zu einer Verrohung innerhalb der Schülerschaft. In der Schule sei es Schülern durch ministerielle Verordnung verboten, Abzeichen politischer Parteien zu tragen und politische Zeitschriften zu lesen, zu kaufen, zu verkaufen und sich überhaupt parteipolitisch zu betätigen,41 der NSS aber dürfe ungehindert arbeiten. Dem Redakteur der Parole, Horst Knöpke, war die Aktion von Herz nicht verborgen geblieben. In der folgenden Ausgabe titelte er daher „Verbot des NSS? Ist das wahr Herr Pfarrer Herz ?“ Unter dieser Überschrift behauptete Knöpke, dass Herz Unterschriften für ein Verbot des NSS sammle. Diese Aussage war verbunden mit der Anfrage an die Kirchenbehörde, ob sie dieses Vorgehen billige und ob auch die evangelische Kirche gedenke, sich auf Kriegsfuß mit dem Nationalsozialismus zu begeben.42 In der übernächsten Ausgabe der Parole wurde Herz erneut angegriffen : „Die Familie Herz wird allmählich zu einem öffentlichen Skandal. [...] Wie lange bleibt Herr Dr. Herz noch evangelischer Pfarrer ? Im dritten Reich ist für solche Herren kein Platz mehr ! Wann greift die zuständige Kirchenbehörde nun endlich ein ?“ Daraufhin stellte Herz in Berufung auf die Notverordnung des Reichspräsidenten zur Verstärkung des Ehrenschutzes am 8. Januar 1931 Strafantrag gegen den verantwortlichen Schriftleiter Knöpke. Da dieser eine von Herz eingesandte Berichtigung druckte, wurde die Anzeige hinfällig.43 – Die Frau von Johannes Herz, Katharina, hatte diese Vorgänge mit Besorgnis verfolgt und schrieb mit großem Weitblick im März 1933 an ihre Geschwister : „Nun ist die Gewaltherrschaft in unserem Vaterland aufgezogen, ‚und willst du nicht mein
40 Vgl. Deutsche Evangelische Kirchenkanzlei KK III 608/41 vom 6. 6.1941; Protokoll der Ephoralkonferenz vom 29.1.1941. ( Ephoralarchiv Leipzig ( EphAL ) I - C 18, Schrank 1, Fach 2, Bl. 64).; Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe, S. 80 f., 289. 41 Vgl. Brief von Dr. jur. Kremnitzer an Herz vom 14.10.1931 ( UAL Na Herz 32/1, unpag.). 42 Vgl. Parole. Kampfblatt der Leipziger Jugend, Nr. 10/ 1931, S. 1 f. Ein Exemplar befindet sich im EphAL I – B 131, Schrank 8, Bl. 31. 43 Vgl. UAL Na Herz 32/1, unpag.
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Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.‘ Wer weiß, was noch vor uns liegt.“44 Zu einer weiteren Beschwerde kam es im Februar 1937, weil Herz nicht an den vorgeschriebenen Tagen flaggen würde. Herz betonte dagegen, dass er als Pfarramtsleiter seiner Gemeinde immer darauf achte, dass an „allen Tagen, an denen das Beflaggen öffentlicher Gebäude [...] angeordnet worden ist“ Kirchturm und Gemeindehaus mit der Hakenkreuzfahne beflaggt worden seien. Nicht beflaggt war die Privatwohnung von Herz.45 An dieser Begebenheit lässt sich das Selbstverständnis des „Mitte“ - Pfarrers Herz gut erkennen. Als Pfarramtsleiter und Pfarrer ( Amtsperson ) seiner Gemeinde folgte er der vorgegebenen Ordnung – nicht ohne sie anzufragen und Verbesserungsvorschläge zu machen,46 aber er befolgte sie, da er als Pfarrer Verantwortung für das Wohl und Wehe der Gemeinde und ihrer Glieder trug. Anders sah es bei ihm als Privatmann ( Christperson ) aus, da erschien es ihm legitim, Anordnungen nicht zu befolgen. Ein letztes Beispiel soll die Haltung von Johannes Herz während der NS Diktatur näher beleuchten. Im seinem Nachlass befindet sich, unter der später hinzugefügten Überschrift „Auseinandersetzung mit NS - Staat und NS - Ideologie“, die Kopie eines Briefes an Reichsgerichtsrat Eberhard Teuffel47 aus dem Jahr 1940, der zur Frage des „lebensunwerten Lebens“ Stellung nimmt. Dieser Brief ist ein Einzelstück, der direkte Kontext kann nur aus dem Inhalt erschlossen werden. Er soll hier trotzdem zur Sprache kommen, da der sonst sehr vorsichtig agierende Herz an dieser Stelle recht klare Worte fand. Herz war aufgrund einer Urnenbeisetzung, bei der er als Pfarrer amtierte, auf die „Aktion T4“48 aufmerksam geworden.49 Mit dem Thema Eugenik hatte Herz sich in seiner Eigenschaft als Sozialpfarrer schon Anfang der 1930er Jahre beschäftigt, als er an der Fachkonferenz für Eugenik des Centralausschusses der Inneren Mission in Treysa teilnahm.50 Die Frage nach Eugenik und Rassenhygie44 Rundbrief Nr. 1008 vom 9. 3.1933 ( StAL Na Herz 11/2, unpag.). 45 Vgl. Abschrift des Briefs von Curt Friedel an Reichminister Kerrl vom 10. 2.1937 (EphAL I – B 131, Schrank 8, Bl. 36) und Brief von Herz an die Superintendentur Leipzig - Stadt vom 22. 3.1937 ( EphAL I – B 131, Schrank 8, Bl. 39–42), dort auch Zitat. 46 Vgl. oben zitierten Brief von Herz an Kerrl vom 11. 3.1938. ( UAL Na Herz 33/3, unpag.). 47 Eberhard Teuffel (1887–1945) war Reichsgerichtsrat in Leipzig, 1936–1942 Mitglied im I. Strafsenat, bis 1945 ohne Senat. 48 Vgl. dazu Götz Aly ( Hg.), Aktion T4 1939–1945. Die „Euthanasie“ - Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin ( West ) 1989 und den Beitrag von Boris Böhm in diesem Band. 49 Die „Aktion T4“ benannt nach dem Sitz der Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin bezeichnet den massenhaften Mord an Kranken und geistig Behinderten, sogenanntem „lebensunwerten Leben“. 50 Zur Eugenikkonferenz vgl. Kurt Nowak / Michel Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895 – 1945, eine Dokumentation, Berlin 1992; Jochen - Christoph Kaiser, Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008; Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M . 2010; ders. ( Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt a. M . 1986; UAL Na Herz 24/3, unpag.
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ne war mit den Veröffentlichungen zum sozialdarwinistischen Selektionsprinzip gesellschaftsfähig geworden. In den 1920er Jahren war in Deutschland eine Diskussion darüber in Gang gekommen, ausgelöst durch die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ von Karl Binding und Alfred Hoche.51 Dass diese Diskussion geführt wurde, als Deutschland nach dem Weltkrieg in einer schweren wirtschaftlichen Krise steckte, ist ein nicht zu vernachlässigender Punkt bei der Betrachtung der Gemengelage. Die Konferenz in Treysa (18.–20. Mai 1931) wurde einberufen, als Deutschland sich infolge der Weltwirtschaftskrise wiederum mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen konfrontiert sah. Dazu kam, dass der deutsche Protestantismus seit der Jahrhundertwende der allgemeinen Wissenschaft und ihrem Autoritätsanspruch sehr offen gegenüberstand, um so den Kontakt zur Problemlage der jeweiligen Zeit zu halten.52 Die Konferenz in Treysa verabschiedete eine Erklärung zur Eugenik, die diese unter bestimmten Voraussetzungen befürwortete, zugleich aber die Gleichsetzung von erbbiologischer Gesundheit und „Hochwertigkeit“ von Leben strikt verneinte. Die Vernichtung von sogenanntem lebensunwerten Leben wurde vehement abgelehnt.53 Im Nationalsozialismus gehörte die Rassenideologie zu den Grundlagen und die Schaffung eines sogenannten gesunden Volkskörpers zu den Zielen des Staates. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs waren neben ideologischen Voraussetzungen verstärkt auch wieder wirtschaftliche Fragen, wie bei den vorausgehenden Debatten, in den Blick geraten. Seit dem Sommer 1940 gab es Gerüchte über die „Aktion T4“; in Leipziger Zeitungen erschienen ab August 1940 regelmäßig entsprechende Todesanzeigen in großer Zahl, das hatte zu einer allgemeinen Unruhe innerhalb der Bevölkerung geführt. Herz hatte Todesanzeigen gesammelt und innerhalb von drei Wochen drei Folioseiten damit gefüllt. Er schrieb über seine Beobachtungen an Teuffel :54 „Wie mir gestern Herr Pfarrer Meder55 mitteilte, interessieren Sie sich für die Frage, die viele in den letzten Wochen und Monaten sehr bewegt und beschäftigt hat, und haben sich näheres Material in dieser Sache erbeten. Es handelt sich um die Beseitigung sogenannten ‚lebensunwerten Lebens‘. Es wird Ihnen vielleicht erinnerlich sein, dass darüber schon Anfang der zwanziger Jahre gerade in Sachsen eine literarische Auseinandersetzung ( Binding - Meltzer ) erfolgt ist, die zeigte, dass man bei ruhiger und sachlicher Beurteilung in der Angelegenheit verschiedene Standpunkte einnehmen kann. Wer zum Schutze der menschlichen Gesellschaft vor dem Verbrechertum die Todesstrafe in ein-
51 52 53 54 55
Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Vgl. Kaiser, Evangelische Kirche, 153. Vgl. Ergebnis der Fachkonferenz für Eugenik ( Rassenhygiene, Erbgesundheitslehre, E. K.) des Centralausschusses der Inneren Mission. In : Klee, Dokumente, 46–49. Vgl. Brief von Herz an Teuffel vom 12.11.1940 ( UAL Na Herz 32/1, unpag.). Alle entsprechenden Bezüge und Zitate dort. Oskar Meder (1885–1947) war Pfarrer an der Leipziger Thomaskirche und gehörte der Bekennenden Kirche an.
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zelnen Fällen für notwendig hält, wird konsequenterweise auch die Zulässigkeit der Beseitigung sogenannten lebensunwerten Lebens aus hygienischen oder staatspolitischen Gründen nicht ganz ausschließen können. Voraussetzung dabei wäre aber immer, dass eine solche Maßnahme, um aller Willkür und allem Missbrauch vorzubeugen, nur da ergriffen werden dürfte, wo alle Sicherungen für ein geordnetes Verfahren gegeben sind und wo es sich tatsächlich um völlig lebensunwertes Leben handelt, das in den Zustand völliger geistiger Verblödung herabgesunken ist und für das irgendwelche Angehörige kein Interesse mehr haben und dass die Beseitigung solchen lebensunwerten Lebens von einem spezialärztlichen Gutachten abhängig gemacht und überwacht würde. Nur dann könnte auch eine solche Maßnahme in aller Offenheit und mit gutem Gewissen durchgeführt werden. Diese nicht durch irgendwelche religiösen ‚Vorurteile‘ sondern durch rein staatspolitische Erwägung bedingten Grundsätze sind leider bei den neuesten Maßnahmen auf diesem Gebiete gänzlich verlassen worden.“
Besonders kritisch betont Herz, dass unter den Toten „auch einige Weltkriegsteilnehmer [ waren ], meines Erinnerns sogar ein oder zwei Inhaber E. K. [Eisernes Kreuz ], bei denen offenbar der geistige Defekt nicht auf irgendwelcher Erbanlage beruht hat, sondern Folge irgendeiner Kriegsverletzung oder eines Kriegsleidens gewesen ist. Auch sonst zeigte der Inhalt dieser Anzeigen und was man gelegentlich über die in Frage kommenden Fälle hörte, dass es sich dabei keineswegs überall um völlig verblödete und vereinsamte Persönlichkeiten gehandelt hat, sondern um Menschen, die mit ihren Angehörigen noch in Verbindung und Austausch standen.“ Daran anschließend rekonstruierte Herz die Vorgehensweise : „Man hat die Anstaltsinsassen, die etwa in der Heilanstalt Dösen untergebracht waren, zunächst nach anderen Anstalten ( Hubertusburg, Waldheim, Großhennersdorf) und schließlich nach ein oder zwei solchen Durchgangsstationen, die die Spur verwischten und die Verbindung mit den Angehörigen unterbrachen, nach Hartheim oder Grafeneck verbracht. Dort ist dann plötzlich der Tod und sofort darauf die Einäscherung erfolgt und dann erst den Angehörigen Mitteilung zugegangen. Auffällig ist, dass in der Sterbeurkunde über die Todesursache keine ärztliche Beglaubigung vorliegt, wie es sonst bei Todesfällen in Anstalten und Krankenhäusern allgemein der Fall ist und dass nach dem Urnenbegleitschein die Einäscherung unter Außerachtlassung der gesetzlichen Frist bereits am Tage nach dem Tod erfolgt ist.“ Als Grund für die sofortige Einäscherung wurde die erhöhte Seuchengefahr im Krieg genannt. Die Rekonstruktion von Herz entsprach den Tatsachen, nur fand die Tötung bereits in den Sächsischen Krankenhäusern statt.56 Bemerkenswert ist, dass Johannes Herz zu einem sehr frühen Zeitpunkt schon im November 1940 zu dieser Frage schriftlich Stellung bezogen hat. Bereits im Juli 1940 hatte der Richter Lothar Kreyssig seinen Verdacht über die Ermordung Kranker gemeldet und später Anzeige gegen den Leiter der Aktion, Philipp Bouhler, erstattet. Von kirchlicher Seite protestierten der Leiter der
56 Diesen Hinweis verdanke ich dem Leiter der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein Boris Böhm.
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Betheler Anstalten Friedrich von Bodelschwingh, der Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Pastor Paul Gerhard Braune und der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der im Oktober 1941 von der Gestapo verhaftet wurde und 1943 auf dem Weg ins Konzentrationslager Dachau starb. Weithin bekannt wurde der Protest des katholischen Bischofs Clemens August Graf von Galen : Er verurteilte am 3. August 1941 in einer Predigt die Aktion T4 öffentlich. Am 24. August 1941 wurde die Aktion T4 durch mündliche Weisung Hitlers abgebrochen. Die Krankenmorde waren damit jedoch nicht beendet, sondern fanden weniger zentral organisiert Fortsetzung bis zum Kriegsende.57 Herz wollte „an staatspolitischen Maßnahmen, die durch die harten Kriegsnotwendigkeiten bis zu einem gewissen Grade bedingt sein mögen“ nicht „billige Kritik üben“, brachte aber doch seine „ernste Sorge“ über das Verfahren zum Ausdruck. Auf den ersten Blick bleibt die Stellung von Herz zur Euthanasie diffus; wer allerdings mit anderen Äußerungen von Herz vertraut ist, kann unschwer erkennen, dass er die Krankenmorde ablehnte. Der erste Teil des Briefs wirkt wie ein Gutachten, wie sie Herz häufig z. B. in seiner Funktion als Sozialpfarrer zu verfassen hatte, sehr distanziert und betont objektiv, tatsächlich lässt sich die durch Meder weitergeleitet Anfrage Teuffels als Bitte um ein Gutachten verstehen. Allerdings scheint durch den immer wieder verwendeten Konjunktiv die eigene, die Krankenmorde ablehnende Position durch. Der zweite Teil, in dem Herz von Beispielen berichtet, ist emotionaler gehalten, hier tritt er als Seelsorger in den Blick, der Anteil nahm am Schicksal seiner Gemeindeglieder und den Umgang mit ihnen kritisch hinterfragte. Seine Conclusio, die „ernste Sorge“, ist wieder im Gutachterton gehalten und daher so distanziert. Der Brief hatte für Herz keine unmittelbaren Auswirkungen.
4.
Resümee
Der christliche und kirchliche Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus war ausgesprochen vielfältig, divergent und aus heutiger Sicht selten laut, wenn es nicht um innerkirchliche Belange ging. Das hängt im evangelischen Bereich stark mit dem Verständnis des christlichen Widerstandsrechts zusammen, das sich aus der Zwei - Reiche - Lehre ableitet. Der meist praktizierte Widerstand war der Nonkonformismus. Der Kirche im Nachhinein aus der rückschauenden Perspektive eine größere Widerstandspflicht anzutragen, ist mehr Anspruch, als sie damals erfüllen konnte. Innerkirchlich ist der Widerstand gegen eine zu große Einflussnahme des Staates stärker und wirkungsvoller geführt worden. Sowohl die BK, als auch – besonders in Sachsen – die „Mitte“ haben sich gegen 57 Vgl. Hauschildt, Lehrbuch, S. 901 f.; Kurt Nowak, Widerstand, Zustimmung, Hinnahme. Das Verhalten der Bevölkerung zur „Euthanasie“. In : Kurt Nowak, Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984–2001, Stuttgart 2002, S. 260.
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die Gleichschaltungsversuche gewehrt. Direkter Gegner waren die DC,58 darüber hinaus auch die Kirchenpolitik des Dritten Reichs. Hat er funktioniert, der Weg der „Mitte“ ? Im Blick auf die Evangelisch - lutherische Landeskirche Sachsens, zu der der Begriff originär gehört : Ja. Das zeigte sich insbesondere daran, dass sie trotz des seit 1935 immer offensichtlicheren starken Drucks von Seiten des Staates, der auf ihre Austilgung zielte, nicht zusammengebrochen war. Sie war die einzige noch funktionierende moralische Institution nach 1945.59 Es war das große Verdienst der „Mitte“, die durch ihre vermittelnde Position dafür gesorgt hatte, dass eine Spaltung von Landeskirche und Gemeinden im Wesentlichen verhindert wurde. Das kirchliche Leben fand überall seine Fortsetzung und die Kirchgemeinden waren die ersten Ansprechpartner für die Vertriebenen und Flüchtlinge. Im Blick auf die Person Johannes Herz, der ebenfalls einen Mittelweg ging, ist Gleiches zu konstatieren. Er hat als Amtsperson seine Kirchgemeinde verantwortlich durch die NS - Zeit geleitet, ohne ihren volkskirchlichen Charakter zu gefährden. Dabei war es stets notwendig abzuwägen, was dem Wohl der Gemeinde diente. Für sich hat er daneben eine Form gefunden, seinen Bedenken und seiner Ablehnung gegenüber der staatlichen und kirchlichen Politik Ausdruck zu verleihen. Das dies häufig in stiller Weise geschah, hat mit der Persönlichkeit von Johannes Herz zu tun. Er war ein Mann der zweiten Reihe, nicht der vorstrebende Kämpfer. Dazu gesellten sich seine liberale Prägung, die mit ihr einhergehende Toleranz und seine auf Verständigung beruhende und nach Verständnis suchende Haltung. Er agierte nicht wagemutig, aber doch so, dass er rückschauend sein Handeln vor Gott und dem Gesetz – auch nach 1945 – verantworten konnte.60
58 Zu beachten ist, dass es zwischen Vertretern der Gruppierungen immer wieder Gespräche gab, auch waren Wechsel zwischen den Gruppierungen einfach möglich. 59 Die katholische Kirche war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Sachsen in einer noch größeren Diasporasituation als heute und wurde in der breiten Bevölkerung nur wenig wahrgenommen. 60 Vgl. Schmutzler, Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe, S. 332 f.
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IV. Eigensinn
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Eigensinn und Rückzug ins Private. Die Arbeiter des Stahl - und Walzwerks Riesa 1933 bis 1949 Sebastian Fink
1.
Einleitung
Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht ein Aspekt des Diktaturvergleiches des Dritten Reiches mit der Sowjetischen Besatzungszone ( SBZ ) beziehungsweise der Deutschen Demokratischen Republik ( DDR ), der zuvor in der historischen Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Hauptsächlich ist dies der häufig lückenhaften Quellenlage besonders der nationalsozialistischen Diktatur geschuldet. Ein weiterer Grund ist die fehlende Quellengrundlage für die DDR Zeit in der westdeutschen Geschichtsforschung bis 1989. Der vorliegende Vergleich fragt nach dem Anspruch beider Regime, das Leben der Bevölkerung während und außerhalb der Arbeitszeit ideologisch zu durchdringen. Dieses Bestreben diente der Machtsicherung und der Verbreitung der Weltanschauung in der Bevölkerung. Zugleich sollte es innerhalb der Betriebe für Arbeitsdisziplin und eine Produktionssteigerung sorgen, von der die Machthaber wiederum abhängig waren. Die innerbetrieblichen Organisationen von Partei und Gewerkschaft sowie die eng mit diesen verknüpften Betriebsleitungen hatten die Aufgabe, die Beschäftigten zu einer hohen Arbeitsleistung zu motivieren und sie gleichzeitig nach dem vorgegebenen ideologischen Weltbild zu erziehen. Sie sollten nicht nur für einen Lohn arbeiten, sondern aus Überzeugung. Auf welche Weise den Leitungsebenen eines Großbetriebes dieser Spagat jeweils gelang und wie die Arbeiterschaft darauf reagierte, soll hier verglichen werden. Die für die vorliegende Forschungsarbeit ausgewählten Aspekte des Diktaturvergleiches finden auf einer Ebene statt, die es erlaubt, NS - und SED - Staat ( Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ) gegenüberzustellen. Denn der Vergleich wird am Beispiel analoger Strukturen in einem weitgehend abgeschlossenen Handlungsraum der Beteiligten vorgenommen. Untersuchungsgegenstand ist die Belegschaft eines Stahl - und Walzwerkes, welches als Produktionsstätte in der sächsischen Kleinstadt Riesa bei Dresden zwischen 1843 und 1991 existierte. Gegründet als Eisenhammerwerk 1843, stellte es zur Zeit des Machtantritts der Nationalsozialisten das größte Werk der
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Mitteldeutschen Stahlwerke AG ( kurz : Mittelstahl ) dar und war darin Teil der Friedrich Flick KG. Das Werk Riesa wurde in den 1930er Jahren – wie schon vor dem Ersten Weltkrieg – weitgehend auf Rüstungsproduktion umgestellt. Neben fertigen und halbfertigen Granaten, für welche die Flick KG zweitgrößter deutscher Hersteller war, wurden hier auch U - Boot - Türme und Geschützrohre für Panzer hergestellt. In Friedenszeiten lieferte das Werk mit bis zu 5 000 Beschäftigten Rohre, Bleche, Formeisen und Rohmaterial zur Weiter verarbeitung aller Art. Während des Krieges arbeiteten überdies mehr als 1700 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im Betrieb.1 Noch vor Kriegsende wurde das Werk von der Roten Armee besetzt und bis 1946 fast gänzlich demontiert.2 Seine weitere Existenz stand auf dem Spiel, bis im Mai 1946 ein umfangreicher Reparationsauftrag der Sowjetunion den Stahlstandort Riesa und den Wiederaufbau des Werkes sicherte. 1950 zog sich die Rote Armee aus dem Werk zurück und überließ es der Wirtschaftsplanung der DDR. Es wurde nach dem Neuaufbau zum größten metallurgischen Betrieb des ostdeutschen Staates und zählte Mitte der 1960er Jahre eine etwa 13 000 Mitarbeiter starke Belegschaft. Die Produktionsmöglichkeiten waren ab 1950 nahezu identisch mit denen des Betriebes vor 1945, auch wenn eine Rüstungsproduktion in stark vermindertem Maße erst in den 1960er Jahren wieder einsetzte.
2.
Politische Struktur im Werk 1933 bis 1945
Übereinstimmend äußern die Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil ( Sopade ) wie auch der Historiker Heinz Müller in seinem Band zur Werksgeschichte, dass es neun organisierte Widerstandsgruppen in Riesa und Umgebung gab. Müller schreibt von kommunistischen Gruppen im Werk bis zum Jahr 1935, während in den Archivmaterialien keine Hinweise auf politische Strömungen außer der nationalsozialistischen zu finden sind. Sie sollen jeweils nur aus sehr wenigen Mitgliedern bestanden haben. Die bekannteste unter ihnen war die sogenannte Gruppe Oswald Bleier.3 Laut Müller verteilten die Gruppen kommunistische Schriften unter den Arbeitern und hatten Verbindungen bis in die Direktionsbüros der Stahlwerke Riesa und Gröditz. Allerdings sollen sie nach 1935 verschwunden sein.4 Ein Bericht der FDJ Bezirksleitung Dresden vom August 1955 bestätigt ebenfalls die Existenz kom1 2 3 4
Vgl. Heinz Müller, Geschichte des VEB Stahl - und Walzwerkes Riesa 1843 bis 1945, Berlin ( Ost ) 1961; siehe jetzt Sebastian Fink, Das Stahl- und Walzwerk Riesa in beiden deutschen Diktaturen 1933 bis 1963: Ein Vergleich, Leipzig 2012. Rund 90 Prozent der Ausrüstung und 70 Prozent der Gebäude verließen das Werk. Vgl. Alwin Hesse, Betriebsgeschichte, Teil II 1949–1955. Der Neuaufbau des Werkes und der Kampf der Werktätigen für die Stärkung der DDR, Riesa 1985. Vgl. Stadtgeschichte, 1933 ( SAR, Schriftgutsammlung Stadtgeschichte, 1837 bis 1945, o. P ). Vgl. Müller, Geschichte, S. 281.
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Die Arbeiter des Stahl- und Walzwerks Riesa
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munistischer Widerstandsgruppen im Werk nach 1933, räumt aber auch deren zahlenmäßig geringe Stärke und ihren begrenzten Einfluss ein. Laut Bericht war das Stahlwerk in der Weimarer Republik eine Hochburg der Sozialdemokratie. „Trotz dieses starken Einflusses des [ sozialdemokratischen, S. F. ] Opportunismus in Riesa, der auch nach 1933 in bedeutendem Maße den antifaschistischen Widerstandskampf der Riesaer Arbeiter gelähmt hat, gibt es zahlreiche Beispiele des standhaften unermüdlichen Kampfes kleiner illegaler Zellen der KPD und des KJVD [ Kommunistischer Jugendverein Deutschlands, S. F. ] gegen den Faschismus.“5 Dies kann trotz der stark kommunistisch - ideologischen Wertung des Sachverhalts als weiteres Indiz für die Existenz eines organisierten Widerstands im Stahlwerk Riesa nach 1933 angesehen werden. Der Luftschutzbeauftragte des Werkes Riesa, ein Ingenieur von dem nur der Nachname ( Haide ) überliefert ist, musste 1935 den neuen Richtlinien des Reichsluftfahrtministeriums zufolge und auf direkte Anweisung des Vorsitzenden der Bezirksgruppe Nordsachsen vom 18. Mai 1934 eine Liste der gesamten Belegschaften erstellen, aus der eine Hauptkartei für den zivilen Luftschutz entstehen sollte. Der Oberingenieur erweiterte diese Liste um die Zugehörigkeit der Belegschaftsmitglieder zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( NSDAP ) und verlangte dies auch von allen anderen Betrieben. Aufgrund seiner handschriftlichen Aufzeichnungen ist überliefert, dass es zum 17. April 1935 insgesamt 59 NSDAP - Mitglieder unter der Arbeiterschaft des Stahl - und Walzwerkes Riesa gegeben hat. Ihre Zahl unter den Angestellten ist nicht bekannt.6 Damit waren 1935 2,22 Prozent aller Arbeiter im Werk NSDAP - Mitglieder. Dass die Anhängerschaft der NSDAP in Riesa zu Beginn ihrer Herrschaft zwar beachtlich, jedoch keineswegs überwältigend war, zeigt auch das Wahlergebnis zur Reichstagswahl vom 5. März 1933. Im Stadtgebiet Riesa wurde die SPD mit 5 917 Stimmen stärkste Partei, knapp vor der NSDAP (5 645) und der KPD (2 894). Nach diesem Resultat zu urteilen gehörten über 60 Prozent der Riesaer Wähler eher ins linke politische Lager.7 Einem internen Bericht zufolge gab es 1938 bereits 624 Parteimitglieder im Werk. In den Schwesterwerken Lauchhammer (636) und Gröditz (600) wurden ähnliche Zahlen gemeldet. Dazu lag die Mitgliederquote der Arbeiter und Angestellten in der Deutschen Arbeitsfront ( DAF ) bei einhundert Prozent. Die Nationalsozialisten stellten 1938 15,69 Prozent der Gesamtbelegschaft im Werk. 5
6 7
Bericht über Brigadeeinsatz der Abteilungen Agit - Prop und Arbeiter und Landjugend im VEB SWR zur Untersuchung des ideologischen Einflusses der FDJ auf die jungen Stahlwerker durch eine allseitig lebendige Jugendarbeit, 2. 8. 1955 ( SäHStAD, 12484, FDJ - BL, SL DD und KL 1952–1990, FDJ - BL Dresden, Abteilung Agit - Prop / Arbeiter und Landjugend, unpaginiert ). Vgl. Abschnitt 5, Nr. 62 ( SAR, Repertorium II, Abschnitte 2, 5, 6, 10, 14, 15, Akten des Oberbürgermeisters zu Riesa und des Rates der Stadt Riesa, 1931 bis 1945, unpaginiert). Nicht berücksichtigt sind die nicht zugänglichen Ergebnisse für die anderen zur Wahl stehenden Parteien, die aber nur eine untergeordnete Rolle spielten ( SAR, Stadtgeschichte, 96. Jahrgang 1933, unpaginiert ).
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Allerdings fehlt eine Aufschlüsselung der Angaben von 1938 auf Arbeiter und Angestellte, die diesen Zahlen mehr Ausdruck verleihen könnte.8 Wie sich nach Kriegsende herausstellte, war die Parteimitgliedschaft unter den Angestellten stärker verbreitet als unter der Arbeiterschaft. Unter den etwa 250 Angestellten, die Mitte des Jahres 1935 im Werk arbeiteten, war demnach vermutlich die Mehrzahl der Parteigenossen des Betriebes zu finden. Gleiches galt wahrscheinlich für die etwa 450 Angestellten, die 1938 beschäftigt wurden. Diese Indizien bestätigen Müllers Schlussfolgerung, dass es neben den Widerständlern und politisch Unzufriedenen auch viele Beschäftigte in Riesa gab, die der NS - Ideologie mehr oder minder folgten.9 Die von den Nationalsozialisten propagierte Betriebsgemeinschaft, die eine Einheit von Betriebsleitung und DAF suggerierte, existierte im Stahlwerk Riesa und auch in vielen anderen Betrieben in der Realität aber offenbar nicht. Auf einer Sitzung am 30. September 1941 in Berlin, an der neben Direktor Konrad Gehlofen als Vertreter Mittelstahls unter anderen auch leitende Angestellte von Volkswagen sowie Reichswirtschaftsminister Walther Funk und der sächsische Wirtschaftsminister Georg Lenk teilnahmen, kam „der Wunsch zum Ausdruck, dass die Betriebsführung, die die Verantwortung habe, auch verschont bleiben solle von dem Hineinreden außenstehender Stellen.“ Weiter resümierte Gehlofen: „Das weite Eindringen der DAF in gewerblichen Unternehmungen wird beanstandet (Volkswagen, Unternehmungen der Großeinkaufsgesellschaft usw.).“10 Nach Aufstellungen der Überreste des Werksarchivs in Riesa gab es 1944 57 NSDAP - Mitglieder im Werk, die verantwortliche Positionen im Auftrag der Partei und ihrer Gliederungen wahrnahmen. Dazu gehörten Schutzstaffel ( SS), Sturmabteilung ( SA ), Hitlerjugend ( HJ ) und Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ( NSV ) sowie andere nicht genannte Organisationen. 80 weitere Werksangestellte handelten außerdem im Auftrag der Wehrmacht, des Kriegsministeriums, des Beauftragten für den Vier - Jahres - Plan, der Gestapo, des Luftschutzes, der Technischen Nothilfe, der DAF, der Stadtverwaltung Riesa und weiterer ungenannter Stellen.11 Dass die Parteimitglieder zum Großteil unter den Angestellten und nur in geringem Maße unter der Arbeiterschaft zu finden waren, zeigen auch die Protokolle der Entnazifizierungskommissionen, die ab 1946 ins Riesaer Stahlwerk kamen. Der nach dem Krieg als Betriebsrat des Werkes eingesetzte Curt Zschuckelt wies in einem Brief an die Werksleitung im Januar 1946 darauf hin, dass kein ehemaliges NSDAP - Mitglied leitende Positionen in Wirtschaft und Industrie bekleiden dürfe. Daher seien zwölf Angestellte mit Abteilungsleiterstatus oder höher bereits entlassen worden. 24 ehemalige Angestellte, die auf8 Vgl. Rechenschaftsbericht über soziale Einrichtungen / Schönheit der Arbeit, 1935– 1938 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 20.24, o. D., unpaginiert ). 9 Vgl. Müller, Geschichte, S. 294. 10 Notiz Gehlofen über die Tagung in Berlin ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 18.102, o. D., 1941, unpaginiert ). 11 Vgl. Soziale Fragen NS - Zeit, 1944 ( ZGKR, SWR, Kasten 10, unpaginiert ).
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grund betriebs - oder politisch bedingter Kündigung entlassen worden waren, baten 1946 um Wiederaufnahme in die Werksverwaltung. Einer beantragte die Mitgliedschaft im antifaschistischen Block und die Entlastung von seiner „ehemaligen politisch unmotivierten NSDAP - Zugehörigkeit.“12 Ende 1947 wurde eine Gruppe von verantwortlichen Angestellten und Arbeitern zu ihrer politischen Vergangenheit befragt. 153 kaufmännische und 70 technische Angestellte sowie 37 Arbeiter kamen schadlos davon und durften in ihren alten Positionen verbleiben. Die groß angelegte Untersuchung ergab im Januar 1948, dass hauptsächlich kaufmännische Angestellte in der Partei und ihren angeschlossenen Organisationen vertreten waren. Von den 26 ermittelten früheren NSDAP - Mitgliedern waren 17 in der Verwaltung des Werkes und der einzelnen Betriebe beschäftigt. Fünf von ihnen zählten zu den technischen Angestellten, vier zu den Arbeitern. Unter den 39 Beschäftigten, die gleichzeitig in zwei oder mehr NS - Organisationen Mitglied waren, befanden sich 27 kaufmännische und 10 technische Angestellte. Nur zwei Arbeiter waren darunter zu finden. 45 von 49 NSV - Mitgliedern unter den Befragten waren Gehaltsempfänger. Bei 44 HJ - beziehungsweise Bund Deutscher Mädel ( BDM ) - Mitgliedern war nur eine Arbeiterin vertreten. Die Kommission kam bei den Genannten zu dem Ergebnis, dass die meisten nur nominelle Mitgliedschaften gepflegt hatten, denen keine politische Überzeugung zugrunde gelegen hatte.13 Bei weiteren 47 Angestellten, vorrangig Bereichs - und Abteilungsleitern, wurden am 22. und 25. Januar 1948 öffentliche Verhandlungen abgehalten. Bei 27 der überprüften Beschäftigten konnte keinerlei Tätigkeit im politischen Sinne nachgewiesen werden. 14 NSDAP - Mitglieder wurden ermittelt, die gleichzeitig noch mindestens einer anderen NS - Organisation angehört hatten. Der Rest war ausschließlich in NSV, HJ / BDM und anderen Nebengruppierungen organisiert.14 Ein halbes Jahr zuvor hatte bereits eine Überprüfung der Werksfeuerwehr stattgefunden. Die drei technischen Angestellten und 23 Arbeiter wurden angesichts der allgemeinen Sabotageangst offenbar als Risikogruppe angesehen. Die Kommission entschied jedoch, nur eine Entlassung zu befürworten, da der Betroffene eine führende Position in der HJ - Organisation des Werkes eingenommen hatte und NSDAP - Mitglied gewesen war. Insgesamt waren vier der Mitglieder in der Partei und drei in der Hitlerjugend.15 12 Brief des Betriebsrates an die Werkleitung des Lauchhammerwerks Riesa, 11. 1. 1946 ( ZGKR, SWR, Kasten 23, Demontage und Wiederaufbau 1945–1948, Belegschaft / Personalfragen II, H. Entnazifizierung ). 13 Kreisentnazifizierungskommission Großenhain, Protokoll über die Durchführung im Formstahlwerk Riesa, 16. 1. 1948 ( SäHStAD, 11417, Kreis Großenhain, 1945–1953, Nr. 303, Entnazifizierungskommission, 1945–1948, unpaginiert). 14 Ob und wie viele der Beschäftigten entlassen wurden, geht aus der Quelle nicht hervor. Vgl. 14. Sitzung der Kreisentnazifizierungskommission Großenhain, 22. /25. 1. 1948 (ebd., Nr. 293, Entnazifizierungskommission, Dezember 1947–März 1948, Liste der im Zuge des Befehls 201 überprüften Angestellten des Formstahlwerkes Riesa, unpaginiert). 15 Vgl. Protokoll über die 17. Arbeitssitzung der Entnazifizierungskommission des Stadtkreises Riesa, 4. 7. 1947 ( ebd., Nr. 312, Entnazifizierungskommission, Betriebsfeuer wehren, 1947, unpaginiert ).
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3.
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Verhaltensweisen der Arbeiter vor und während des Krieges
Der nach der Reichstagswahl im Januar 1933 einsetzende Terror des NS Regimes spielte auch im Stahlwerk eine Rolle. Müller schreibt in seiner Werksgeschichte ( bis 1945) von einem regelrecht systematischen Terror mit einsetzender Rüstungsproduktion. Die Berichte der Sopade bestätigen die Terrormaßnahmen, lassen aber Zweifel an deren Systemhaftigkeit aufkommen. Dort heißt es, im Herbst 1935 soll es in allen Riesaer Betrieben Woche für Woche zahlreiche Verhaftungen von Sozialdemokraten gegeben haben, die zumeist ins KZ Sachsenburg gebracht wurden. Dies sei aber alles sehr planlos verlaufen und eine Reaktion auf die „schwelende Unzufriedenheit in den Betrieben“ gewesen.16 Diese Angaben stimmen mit dem Zeitpunkt des Verschwindens der Widerstandsgruppen aus dem Werk überein. Daraus lässt sich auf eine politische Säuberungsaktion im Betrieb schließen. Wie groß die Missstimmung im Stahlwerk Riesa war, lässt sich daraus jedoch nicht folgern. Es wäre ebenso falsch von einem „braunen Werk“ zu sprechen, wie die Arbeiterschaft in Gänze dem aktiven oder passiven Widerstand zuzuordnen. Das Werk Gröditz mit seinen etwa 2 000 Mitarbeitern im Jahre 193617 galt dagegen laut Sopade - Berichten als „hundertprozentig nationalsozialistisch. Man kennt als Gruß nur ,Heil Hitler‘.“18 Inwieweit sich dadurch Rückschlüsse auf das Werk Riesa ziehen lassen, ist ungewiss. Die Sopade - Berichte sind ebenso wie die Werksgeschichte Müllers politisch untersetzt und müssen unter diesem Aspekt betrachtet und deshalb quellenkritisch gelesen und verstanden werden. Die ab 1937/38 stark ansteigenden Krankenziffern sprechen dafür, dass sich die Arbeiter und Angestellten des Stahlwerks Riesa mit Erreichen der Vollbeschäftigung mehr Handlungsspielräume schufen. Dass sowohl die Zahl der Krankheitsfälle relativ zum Anwachsen der Belegschaft als auch die Dauer derselben soweit anstieg, dass die Betriebskrankenkasse ( BKK ) nicht mehr aus der Verlustzone kam, lag nicht nur daran, dass die Arbeit im Stahlwerk härter wurde. Zwar stieg die Arbeitszeit von 1933 bis 1939 um durchschnittlich fast zwölf Stunden pro Woche an, jedoch wurde bis 1936 noch unter der normalen Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche gearbeitet. Eine andere Ursache lag in der Arbeitsplatzsicherheit, mit der auch das Bewusstsein der eigenen Rechte als Arbeitnehmer wieder zum Vorschein kam. Nach Jahren der Angst vor dem Jobverlust, in denen man möglichst keinen Tag bei der Arbeit fehlen wollte und zum Teil sogar halb krank zur Arbeit kam, konnten nun die Vorzüge des Sozialsystems in Anspruch genommen werden. Bis zu 16 Klaus Behnken ( Hg.), Deutschland - Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ( Sopade ) 1934–1940, 1. bis 5. Jahrgang 1934–1938, Frankfurt a. M. 1980, S. 44. 17 Angabe des Sopade - Berichterstatters; Antusch berichtet, dass bereits 1935 2 651 Beschäftigte in Gröditz waren. Vgl. Mathias Antusch, Zwangsarbeit im Stahlwerk Gröditz. Diplomarbeit, eingereicht in der Fakultät für Staats - und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr, München 2004, S. 19. 18 Behnken, Deutschlandberichte, 4. Jahrgang 1937, S. 79.
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zwölf Tage Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei Fachkräften stellten für die Betreffenden eine große Verlockung dar. Hinzu kam, dass immer mehr Arbeitskräfte von außerhalb angeworben werden mussten. Viele wurden ab Mitte 1938 dienstverpflichtet und kamen unfreiwillig ins Werk.19 Die Gefahr, dass sie unzufrieden wurden und der Arbeit fern blieben, war groß, da ihnen in der fremden Umgebung und häufig ohne die nötige Ausbildung die Identifikation mit dem Beruf und dem Betrieb fehlte. Wie noch zu zeigen sein wird, war der Trend, der 1937 in der Krankenstatistik des Stahlwerks Riesa einsetzte, der Beginn einer Entwicklung, die bis Kriegsende anhielt. Das künstliche Verlängern einer Krankheit in Absprache mit dem Hausarzt, welches offenbar zur gängigsten Methode der Arbeitsbummelei wurde, war nur der Anfang der sich im Verlauf des Krieges ausweitenden auffälligen Verhaltensmuster. Mittelstahl berichtete im April 1940 an die Wirtschaftskammer Sachsen, dass sich in den Konzernbetrieben die Disziplinlosigkeiten seit Beginn des Krieges „in geringer Zahl erhöht“ hätten.20 Im Werk Riesa wurden diese als „Einzelfälle“ abgetan, wie der des Schlossers M., der die Sonntagsarbeit verweigerte, woraufhin das Riesaer Arbeitsamt eingeschaltet wurde, welches aber nichts unternahm. Dies zeigt, wie wenig die Arbeiter bei solchen Vergehen mit der herkömmlichen Sanktionsweise im Betrieb zu befürchten hatten. Sollte aber ein Exempel statuiert werden, so konnte es auch zu schnellen und harten Bestrafungen kommen. So auch im Fall des M., bei dem Mittelstahl nach der Untätigkeit des Arbeitsamtes „Meldung bei der Gestapo [ machte ], die den Mann einsperrte.“ Er wurde nach kurzer Haft bei Mittelstahl entlassen und fand eine neue Tätigkeit in der Munitionsanstalt Zeithain. Dieser Fall macht dreierlei deutlich. Erstens konnte auf einen Facharbeiter mit Berufserfahrung, wie es der Betreffende zweifellos war, nicht verzichtet werden, sonst hätte er nicht sofort eine neue Stelle in der Rüstungsproduktion erhalten, noch dazu in einer durch Sabotage gefährdeten Einrichtung wie einer Munitionsfabrik. Zweitens dürfte die Gestapo nach eingehender Befragung des M. nach seiner Motivation für die Arbeitsverweigerung dessen unpolitische Haltung bestätigt und den Grund allein in der Ablehnung der häufigen Sonntagsarbeit gefunden haben. Dadurch konnte sie ihn problemlos wieder in die Rüstungsindustrie eingliedern. Damit wird die These des unpolitischen, aber auch eigenbrötlerischen Arbeiters gestützt, der nur rebelliert, wenn es seine persönlichen Lebensumstände betrifft. Drittens war das aufmüpfige Verhalten eine Möglichkeit, einen gewünschten 19 Die erste Dienstpflichtverordnung trat am 22. 6. 1938 in Kraft, die zweite am 13. 2. 1939. Danach durften deutsche Staatsangehörige von den Arbeitsämtern für einen bestimmten Zeitraum zur Arbeit in Regionen mit hohem Arbeitskräftebedarf verpflichtet werden. Dazu durften bestehende Arbeitsverhältnisse gelöst werden. Vgl. Markus Albert Diehl, Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933–1945, Stuttgart 2005, S. 107. 20 Dieses und folgende Zitate vgl. Schreiben von Mittelstahl an Wirtschaftskammer Sachsen, DD, Abt. Industrie, 12. 4. 1940 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 22.14, Betriebskrankenkasse, Statistiken, Verwaltungsberichte, Prüfung, 1940–1944, unpaginiert ).
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Arbeitsplatzwechsel zu erreichen, auch wenn dies sehr risikoreich war, da der Betreffende mit der Gestapo in Berührung kommen konnte. Bestimmte Disziplinvergehen waren im Stahlwerk Riesa aber offenbar schon länger an der Tagesordnung. Besonders die Sonntagsarbeit wurde von einigen boykottiert. So blieben laut des Berichts gleich zehn Arbeiter der Rohrzieherei der Sonntagsschicht fern. Sie erhielten zur Strafe lediglich einen halben Schichtlohn abgezogen. Ein Hilfsarbeiter wagte es, seinen Urlaub widerrechtlich zu verlängern. In der Erklärung Mittelstahls dazu hieß es : „Am Wochenende fehlen meist einige Leute einen Tag ohne Urlaub.“ Zudem hatten an Weihnachten und Ostern des Vorjahres 30 Prozent der bestellten Ofenmaurer für dringende Reparaturen im Siemens - Martin - Werk gefehlt. Demnach war es bereits in den ersten Kriegsmonaten zu größeren Verfehlungen gekommen, die entweder gar nicht oder wirkungslos bestraft wurden. In einem diesbezüglichen Bericht Mittelstahls kam zum Ausdruck, dass vor allem Neueingestellte auffielen, während das alte Stammpersonal fast gänzlich zuverlässig und willig arbeitete. Die Einzelfälle, wie sie im Bericht verharmlost genannt werden, würden je nach Schwere der Tat an das Arbeitsamt, den „Treuhänder der Arbeit“ oder die Gestapo gemeldet. Die Möglichkeiten der Bestrafung im Betrieb waren jedoch begrenzt. Ausgesprochene Verwarnungen konnten die Arbeiter nicht schrecken und Geldstrafen höchstens einen Schichtlohn betragen. Es war zudem möglich, die Feiertagszuschläge auszusetzen. Das letzte betriebliche Mittel war die Entlassung aus dem Unternehmen beziehungsweise der Verzicht auf eine uk Stellung des Betreffenden, was den Archivmaterialien nach allerdings selten vorkam, da besonders während der Kriegsjahre jeder Beschäftigte im Werk gebraucht wurde. Darüber hinaus entschied die Gestapo über eine Verhaftung oder Internierung.21 In einem vertraulichen Schreiben des Nachbarwerks Gröditz an das Riesaer Werk vom 11. April 1940 hieß es : „Wir haben festgestellt, dass sich seit einem Jahre die gemeldeten Disziplinlosigkeiten gegenüber den Vorjahren vermehrt haben. Insbesondere ist dies seit Beginn des Krieges zu verzeichnen.“22 Zur Aufzählung der Vergehen gehörten neben den auch von Riesaer Seite eingeräumten Vorfällen die Bedrohung von Vorgesetzten mit der Faust, Diebstahl, Trunkenheit im Dienst, Aufwiegelung der Gefolgschaft und Sabotage. Bei Letzterem ist es fraglich, inwieweit dies in einem politisch - ideologischen Sinne zutrifft oder übertrieben dargestellt wurde. Bei den anderen Delikten ist es dagegen unwahrscheinlich, dass sie in einem beinahe gleich gearteten Betrieb, der zum selben Konzern gehörte und nur 20 Kilometer entfernt lag, nicht vorgekommen sein sollen. Dass diese in einem Bericht der Werke untereinander auftauchen, während im Schreiben des Riesaer Betriebes an die sächsische
21 Vgl. ebd. 22 Dieses und die folgenden Zitate vgl. Lauchhammerwerk Gröditz an Werk Riesa, Abteilung Werkswache, Sozialabteilung und Direktor Gehlofen, Betr. : Disziplinlosigkeiten, 11. 4. 1940 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 22.14, unpaginiert ).
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Wirtschaftskammer nur leichtere Fälle geschildert wurden, die als aufgeklärte und bestrafte Ausnahmen dargestellt worden sind, gehörte offenbar zur Außendarstellung des Großbetriebes. Eine externe Untersuchung der politischen und produktionstechnischen Verhältnisse im Werk sollte bei der Abhängigkeit von staatlichen Aufträgen unbedingt vermieden werden. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Werken bestand in der Klientel, die sich vornehmlich der Vergehen schuldig machte. Laut Gröditzer Bericht wurden die Disziplinlosigkeiten insbesondere von „Jugendlichen, Dienstverpflichteten, Umgeschulten und Deutsch polnischen Flüchtlingen begangen, also von Personen, die bis vor kurzem werkfremd waren.“ In Fällen, die zur Verhaftung der Betreffenden führten, ignorierten diese die Ermahnungen von Werkswache und Gestapo, nachdem sie unerlaubt von der Arbeit ferngeblieben waren, wiegelten Mitarbeiter gegen die Beschränkungen durch Lebensmittelkarten und Bezugsscheine auf, fehlten laufend am Arbeitsplatz an einigen Tagen der Woche über längere Zeit oder hielten staatsfeindliche Reden. Allein die Tatsache, dass ein Arbeiter „nur an einigen Tagen der Woche“ arbeitete und an den übrigen Tagen „laufend unentschuldigt“ fehlte, zeigt, wie langsam und ineffektiv die betrieblichen Strafverfahren waren beziehungsweise wie lange es dauerte, bis diese eröffnet wurden. Verwarnungen waren scheinbar das einzig regelmäßig verwendete Mittel. Betreffende „Gefolgschaftsmitglieder [...] wurden von der Werkswache im Einvernehmen mit dem Betriebsführer und dem Vertrauensrat zunächst verwarnt. Wiederholte Verwarnungen erfolgten durch den Betriebsführer und Vertrauensrat.“ Letztere waren mit einer Strafe von fünf RM oder einem Tageslohn verbunden. Die Gestapo wurde nur in besonderen Fällen hinzugezogen, „worauf diese verwarnte oder zur Verhaftung schritt.“ Selbst vor dem gefürchteten Geheimdienst mussten die Arbeiter erst bei schwereren Delikten oder mehrfacher Wiederholung leichterer Vergehen Angst haben, wobei auch dann zunächst noch eine Verwarnung folgen konnte. Das Werk hielt „eine dauernde Verbindung mit [...] der Geheimen Staatspolizei aufrecht [...] [ um ] [...] sofort [...] eingreifen zu können.“ Man räumte ein, dass zwar die Verwarnungen „immer einen guten Erfolg gezeitigt“ hätten, der „erzieherische Wert der ,Sofortmaßnahmen‘ [...] aber ohne Zweifel größer“ sei.23 Große Betriebe wie das Stahlwerk Riesa hatten das Problem, dass die ständig wechselnden Arbeitszeiten, bedingt durch den Schichtbetrieb, die Kontrolle der Belegschaft erschwerten. Dazu kam die große Zahl der Beschäftigten. Laut Rüstungsinspektion stammten besonders aus solchen Großbetrieben die häufigsten Meldungen über „Bummelschichten“.24 Dass es Kontrollprobleme im Stahlwerk Riesa gab, darauf deutet ein Teildokument des Betriebsarchivs hin.
23 Lauchhammerwerk Gröditz an Werk Riesa, Abteilung Werkswache, Sozialabteilung und Direktor Gehlofen, Betr. : Disziplinlosigkeiten, 11. 4. 1940 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 22.14, unpaginiert ). 24 Lageberichte der RüIn IV DD, 15.1. –15. 2. 1942 ( BArch - MA, RW 20–4/14, Bl. 23).
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Bei einer Besprechung, der am 15. August 1944 vermutlich alle Meister und Vorarbeiter beiwohnten, ging es darum, eine Stempelkontrolle sowie eine Arbeitszeitkartei einzurichten. Der Grund dafür war, dass viele Arbeiter laut Aussagen ihrer Vorgesetzten füreinander abstempelten, auch wenn die betreffenden Kollegen nicht oder zu spät zur Arbeit erschienen beziehungsweise vor Arbeitsende vom Betriebsgelände verschwanden. Nach Meinung der Meister dürften sich hochqualifizierte Schlüssel - und Fachkräfte mehr erlauben, als die durchschnittlichen Arbeiter, da sie unbedingt gebraucht würden. Daher sei es nichts Ungewöhnliches, dass besonders Angehörige dieser Beschäftigtengruppen die Schicht frühzeitig beenden oder zwischendurch unerlaubt das Werksgelände verlassen, ohne Lohneinbußen hinnehmen zu müssen.25 Das größte Problem neben den offensichtlichen Disziplinlosigkeiten am Arbeitsplatz blieben die hohen Krankenziffern im Werk. Die Zahl der Ausfalltage durch Krankheit stieg mit Kriegsbeginn drastisch an. Waren 1938 noch 49194 Krankentage zu verzeichnen, so belief sich deren Zahl im Folgejahr bereits auf 57 658. Im Durchschnitt war jeder Beschäftigte etwa 23 Tage pro Jahr krank geschrieben. Bis Februar 1940 waren bereits 13 443 Ausfalltage gemeldet, was auf eine weitere Steigerung in diesem Jahr schließen lässt. Dazu sank die Zahl der Betriebskrankenkassenmitglieder im selben Zeitraum um 140. Damit war der Anstieg der Krankentage noch weit höher zu bewerten, als die absoluten Zahlen ausdrückten. Es wurde deutlich, dass die Arbeiter häufiger und länger krank waren als noch zu Friedenszeiten. Dass dies nicht nur von den stetig steigenden Arbeitsbelastungen und der schlechter werdenden Versorgung mit Nahrungsmitteln herrührte, bestätigt der hier zitierte Bericht. Nachuntersuchungen durch die Vertrauensärzte des Werkes hatten ergeben, dass besonders neue, noch nicht betrieblich eingewöhnte Arbeitskräfte, mit häufigen Krankheitsperioden auffielen. Die Vertrauensärzte waren eine Instanz, die eingerichtet wurde, um Simulanten auf die Schliche zu kommen. Dass es eine solche überhaupt gab, beweist bereits die Existenz des Problems des „Krankfeierns“. Durch den Bericht der Vertrauensärzte wird dies statistisch untermauert. 1939 gab es im Stahlwerk Riesa 2 433 Krankheitsfälle. Davon wurden 1184 zur Nachuntersuchung beordert, wobei 341 Beschäftigte nicht erschienen. Es stellte sich heraus, dass die Hälfte aller Beschäftigten, die beim Vertrauensarzt vorstellig wurden, arbeitsfähig gewesen wäre. Mehr als 20 Prozent der von Ärzten Riesas und Umgebung ausgestellten Krankenscheine waren somit unzutreffend. Nimmt man die über 300 Beschäftigten hinzu, die nicht beim Vertrauensarzt erschienen, war das beinahe ein Drittel der krank Gemeldeten. Meist lag der Grund für ihr Nichterscheinen darin, dass sie trotz Krankschreibung nach der Bestellung zum Vertrauensarzt wieder zur Arbeit gingen, um einer Untersuchung zu entgehen. Inwieweit es Absprachen zwischen Ärzten und Patienten gegeben hat oder Letztere durch gute schauspielerische 25 Protokoll einer Arbeitsbesprechung, o. Betreff, o. Verfasser, 15. 8. 1944 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 15.07, Teildokument, unpaginiert ).
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Leistung zu überzeugen wussten, lässt sich nur schwer nachweisen und statistisch nicht belegen. Sicher ist, dass mindestens jeder sechste Krankheitsfall 1939 vorgetäuscht war. Daraus kann abgeleitet werden, dass in der frühen Kriegsphase drohende Sanktionen von den betreffenden Arbeitern als tragbare Risiken empfunden wurden, und dies, obwohl nach der Einführung der Kontrollinstanz des Vertrauensarztes die Wahrscheinlichkeit ertappt zu werden, um ein Vielfaches anwuchs. Der Schutz, den ein gutes Verhältnis zum eigenen Hausarzt bot, war teilweise wirkungslos; trotzdem versuchten Beschäftigte weiterhin Krankheiten vorzutäuschen, um einige freie Tage zu ergattern, sei es, um sich von den Strapazen der Arbeit zu erholen oder sich um die Familie zu kümmern. Letzteres hieß auch, den kranken Partner oder die Kinder zu versorgen, sich um den eigenen kleinen Garten zu kümmern, um eine ausreichende Versorgung mit Obst und Gemüse zu sichern, oder sich schlicht rechtzeitig in den Lebensmittelund Konsumgütergeschäften anzustellen zu können. In vielen Fällen spielte auch Demotivierung eine Rolle, die ihre Ursache im schlechten Verhältnis zu Kollegen oder Vorgesetzten oder in der durch den Krieg immer schlechter werdenden Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern hatte. Dies deutet auch der oben genannte Bericht der Vertrauensärzte an, der stark auf die neuen Belegschaftsmitglieder abzielte.26 Auch in den folgenden Jahren konnte man das Problem des hohen Krankenstandes nicht in den Griff bekommen. Im August 1944 erreichte ein Schreiben des Hauptstellenleiters Dr. Dittmar aus der DAF - Abteilung Gesundheit und Volksschutz das Stahlwerk Riesa. Es verwies auf vom Gesundheitsführer angeordnete „vertrauensärztliche Stoßaktionen in den Rüstungsbetrieben über 1 000 Gefolgschaftsmitgliedern, [...] deren Krankenstand auffällig ist.“ Die Untersuchungen sollten sofort in Gang gesetzt werden, das Werk solle sich bereithalten und den abgesandten Arzt voll unterstützen.27 Damit gehörte das Stahlwerk Riesa beim allgemein hohen Krankenstand in fast allen Betrieben offiziell zu denen mit einem „auffälligen“ Krankenstand. Wie genau die DAF diesen definierte, ist allerdings nicht überliefert. In einem Schreiben an den Leiter der Landesstelle Sachsen des Reichsverbandes der BKK, Bokemeyer, berichtete die Kasse des Betriebs, die Hausärzte würden sich zu sehr nach den Wünschen der Patienten richten, anstatt den Bedürfnissen der Kriegsproduktion Rechnung zu tragen. Damit warf er den Ärzten praktisch vor, dass sie ihren Eid, zum Wohle des Patienten zu handeln, einhielten. Denn gleichzeitig musste die BKK eingestehen, dass die Schwer - und Schwerstarbeit des Stahlbetriebes den Krankenstand grundsätzlich nach oben trieb und lange Arbeits - und Anfahrtszeiten der Arbeiter aus den Gemeinden in der Umgebung Riesas dem zusätz26 Vgl. Schreiben von Mittelstahl an Wirtschaftskammer Sachsen, DD, Abt. Industrie, 12. 4. 1940 ( SäHStAD, 11616, SWR, Nr. 22.14, Schreiben Mittelstahl an Wirtschaftskammer Sachsen, DD, Abt. Industrie, 12. 4. 1940, unpaginiert ). 27 Vgl. Schreiben des DAF - Kreishauptstellenleiters Dr. Dittmar, Abt. Gesundheit und Volksschutz an Mittelstahl Riesa, 10. 8. 1944 ( ebd., unpaginiert ).
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liche Nahrung gaben.28 Mithin kann angenommen werden, dass ein beachtlicher Teil der Arbeiter eine Verlängerung ihrer Krankschreibung nicht nur aus Habgier nach dem Krankengeld, der Erreichung oben genannter Ziele oder Faulheit zu erwirken versuchte, sondern um sich die im normalen Arbeitsalltag dieser Zeit fehlenden Erholungsphasen zu verschaffen. Dies traf hauptsächlich auf jüngere Betriebsangehörige und solche zu, die erst seit kurzer Zeit im Stahlwerk arbeiteten. Die Mehrzahl der altgedienten Stahlwerker arbeitete bis zur vorübergehenden Stilllegung des Werkes im April 1945 durch die Rote Armee pflichtbewusst und unauffällig.29
4.
Verhaltensweisen der Beschäftigten während der SBZ - Phase 1945 bis 1949
Angesichts der ungewissen Zukunft des Werks, der umfangreichen Demontagen und der mangelhaften Versorgung der Bevölkerung verwundert es nicht, dass es nach Kriegsende zu disziplinarischen Vergehen innerhalb der Belegschaft des Stahlwerks kam. Neben vielen Diebstählen, die sowohl von Deutschen als auch von sowjetischen Soldaten begangen wurden, kam es auch zu anderem Fehlverhalten. Ein großes Problem war es, dass Arbeiter ihre Schicht vorzeitig beendeten. Der kaufmännische Leiter Hings30 bat zum wiederholten Male in einer Bekanntmachung am 6. September 1945 darum, bis zum Ende der Schicht zu arbeiten und nicht schon weit vorher an der Kartenkontrolle zu warten.31 Diese Aufforderung war wegen der schlechten Ernährungslage der Arbeiter einerseits kaum umzusetzen, andererseits war die Motivation, das eigene Werk für die Besatzer, welche teilweise ein extrem rüdes Verhalten an den Tag legten, zu demontieren, nicht besonders hoch.32 Eine Bekanntmachung von Werksdirektor Erich Pfrötzschner und Betriebsrat Curt Zschuckelt vom 29. Dezember 1946 macht deutlich, dass Undiszipliniertheiten seit Kriegsende stetig anstiegen. Demnach hatte die unberechtigte Entfernung der Arbeiter vom Arbeitsplatz derart zugenommen, dass ab 2. Januar 1947 ein Laufzettelsystem eingeführt wurde. Jeder, der das Werk aus persönlichen Gründen verlassen musste, war nun gezwungen, sich im Verwaltungsbüro einen Zettel abzuholen, den er dann bei seiner Rückkehr ins Werk dem Pförtner vorzeigen musste.33 Gleichzeitig stieg die Diebstahlrate, besonders bei der 28 Vgl. Schreiben der BKK Riesa an den Leiter der Landesstelle Sachsen des Reichsverbandes der BKK, Bokemeyer, 30. 5. 1944 ( ebd., unpaginiert ). 29 Vgl. Frank, Dieter, „Glück auf Herr Doktor !“, Aufzeichnungen eines Arztes über ein Stahlwerk und seine Menschen, Riesa 2004, S. 79. 30 Vorname nicht überliefert. 31 Vgl. Bekanntmachung Hings, 6. 9. 1945 ( SäHStAD, 11616 SWR, o. P.) 32 Vgl. Halder, Winfrid, „Modell für Deutschland“, Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945– 1948, Paderborn 2001, S. 163. 33 Vgl. Bekanntmachung Pfrötzschner und Zschuckelt ( SächsStAL, 11624, VEB SWR, 29. 12. 1946, o. P.).
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Werkskohle. Dieses Vergehen wurde ab 18. Dezember 1946 als Sabotage des Aufbaus des Werkes geahndet. Jeder Fall musste an die sowjetischen Stellen weitergeleitet werden. Durch die höheren Strafen sollte eine abschreckende Wirkung erzielt werden. Diese Maßnahmen deuten darauf hin, dass in den Jahren 1945 bis 1947 die Versorgungslage der Bevölkerung mit Hausbrand und Lebensmitteln so schlecht war, dass die Arbeiter sich gezwungen sahen, trotz Kohlezuteilungen vom Werk, selbige zu stehlen und sich unerlaubt vom Arbeitsplatz zu entfernen, um zur Lebensmittelausgabe zu gelangen oder anderweitig die Verpflegung der eigenen Familie zu sichern. Allgemeine körperliche Schwäche und die hohe Anfälligkeit für Krankheiten waren jedoch die Hauptursachen dafür, dass die Arbeiter allgemein nicht mehr zu leisten imstande waren. Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin waren nur eine Folge. Dass die Quote der Disziplinvergehen ab Sommer 1946 stieg, lag auch am Abzug der sowjetischen Posten aus dem Werk am 20. August desselben Jahres. Lediglich einige Überwachungsoffiziere verblieben im Werk, um die Reparationsaufträge zu kontrollieren.34 Dem Kreisrat Riesa berichtete die Werksleitung ab Juni 1947 von stetig steigenden Diebstahlzahlen. Im Mai entließen die Verantwortlichen 13 Belegschaftsmitglieder wegen Kohlendiebstählen und wiederholter Bummelei.35 Im Juni mussten weitere neun das Werk aus ähnlichen Gründen und wegen tage - und wochenlangem Nichterscheinen zur Arbeit oder Arbeitsverweigerung verlassen. Die eingezogenen Strafgelder erhielt die Wohlfahrtseinrichtung des Werks.36 Bis Ende desselben Jahres verließen noch 41 Mitarbeiter aus ähnlichen Anlässen den Betrieb.37 Dass die Arbeiter bei ihren „Ausflügen“ vom Werksgelände während der Arbeitszeit durch Teile der Wachmannschaften unterstützt beziehungsweise nicht behindert wurden, belegt die mehrfache Versetzung von Betriebsschutzangehörigen in die Produktion wegen nicht näher spezifizierter Verfehlungen. Allerdings war der Betriebsschutz nur 27 Mann stark, so dass dieser es schwer hatte, das Werksgelände zu überwachen.38 Im Oktober 1947 wurde er auf 39 Mann erweitert. Allerdings waren allein 13 davon mit der Bewachung der Fahrradstände beschäftigt, so dass bei drei Schichten maximal neun Werksposten zur eigentlichen Betriebsüberwachung zur Verfügung standen.39 Bei 97 verhängten Strafen allein in den ersten 19 Tagen des Monats Februar 1948 handelte es sich in 90 Fällen um Kohlendiebstähle. Zehn Ertappte waren Wiederholungstäter. Da in der Statistik nur die geklärten Fälle verzeichnet sind, Vgl. Bekanntmachung, 20. 8. 1946 ( ebd., unpaginiert ). Vgl. Schreiben SWR an Kreisrat Riesa, 4. 6. 1947 ( ebd., unpaginiert ). Vgl. Schreiben SWR an Kreisrat Riesa, 3. 7. 1947 ( ebd., unpaginiert ). Vgl. Schreiben SWR an Kreisrat Riesa, 6. 8. 1947 ( ebd., 5. 9. 1947; ebd., 4. 12. 1947 und ebd., 5. 1. 1948, unpaginiert ). 38 Vgl. Schreiben SWR an Kreisrat Riesa, 5. 3. 1948 ( ebd., und ebd., 6. 4. 1948, unpaginiert). 39 Vgl. Aktennotiz über den Besuch beim Eisenkonstruktions - und Formstahlwerk Riesa, 24. 10. 1947 ( SäHStAD, 11384, Landesregierung Sachsen 1945–1952, Nr. 3340, Eisenkonstruktions - und Formstahlwerk Riesa, 1947–1948, Bl. 57).
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muss von einer weit höheren Dunkelziffer ausgegangen werden.40 Dass die Arbeiter nicht vordergründig aus Faulheit oder Boshaftigkeit gegenüber dem Werk so handelten, zeigt der Fall eines Arbeiters, der sich aus Werksmaterial eine Bratpfanne herstellte, da Kochgeschirr überall Mangelware war. Ein anderer schmiedete sich Kuchenformen. Auch diese Vergehen wurden zur Anzeige gebracht.41 Bis Ende Oktober 1948 folgten insgesamt weitere 116 Entlassungen von Beschäftigten wegen Disziplinlosigkeiten.42 Die Unzufriedenheit über die schlechte Versorgungslage führte dazu, dass sich die Arbeiter direkt an die sächsische Landesregierung wandten, da sie über die betrieblichen Instanzen offenbar nichts erreichen konnten. 1949 kamen mehrmals Briefe beim sächsischen Ministerpräsidenten Seydewitz an, in denen eine verbesserte Versorgung beispielsweise mit Nährmitteln, Hülsenfrüchten und Teigwaren gefordert wurde. Zwar hatte die Landesregierung dem zugestimmt, jedoch konnte der Bedarf, der bereits ohne die Berücksichtigung des SMAD - Befehls Nr. 23443 über den Beständen lag, nicht gedeckt werden. Viele Lebensmittel mussten aus anderen Ländern der SBZ eingeführt werden, weshalb sie der Bevölkerung verspätet bereitgestellt wurden, da die Transportschwierigkeiten enorm waren.44 Die Arbeiter trugen diese Probleme offenbar auch in ihre Wohnorte. In einer Aussprache zwischen den Vertretern der Kreisvorstände Großenhain und Oschatz sowie der SED - Betriebsgruppe des Stahlwerks Riesa im Herbst 1949 kam zum Ausdruck, dass im Kreis Oschatz „schlechte Stimmungen durch Angehörige des Stahl - und Walzwerks Riesa unter die Bevölkerung getragen“ worden seien.45 Die Verhältnisse blieben unverändert. Es scheint auch Ende September 1949 noch in mehreren Abteilungen des Werkes eine schlechte Arbeitsmoral geherrscht zu haben. Die Arbeiter trafen sich häufig 20 Minuten vor Arbeitsschluss an den Stempeluhren oder ließen ihre Karten von anderen Kollegen 40 Vgl. Strafliste für Monat Februar 1948, 19. 2. 1948 ( ebd., Abteilung Versicherung, Bl. 31). 41 Vgl. Strafliste April 1948, 22. 4. 1948 ( ebd., Bl. 13). 42 Vgl. verschiedene Schreiben SWR an Kreisrat Riesa, 5. 2. 1948, 5. 3. 1948, 6. 4. 1948, 5. 5. 1948, 10. 6. 1948, 8. 7. 1948, 9. 8. 1948, 21. 9. 1948 und 5. 11. 1948 ( KAR, Nr. 36, Zentrale Planung, Kreisrat, Schriftwechsel mit dem Stahlwerk Riesa, 1947–1950, unpaginiert ). 43 Vgl. SMAD - Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947 beinhaltete Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten in der Industrie und im Verkehrswesen. Dazu gehörten auch erhöhte Rationen für Schwer - und Schwerstarbeiter, die aber mit den vorhandenen Lebensmitteln kaum abgedeckt werden konnten, wie das Beispiel des Stahlwerks Riesa zeigt. Schreiben der Abteilung Handel und Versorgung ( HuV ) b. Landkreis Großenhain an den Minister für HuV Dr. Knabe, 4. 2. 1949 ( SäHStAD, 11417, Landkreis Großenhain, Nr. 72, Sekretariat, Jan. - Dez. 1949, unpaginiert ). 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Schreiben der Landesparteikontrollkommission ( LPKK ) an die Kreisparteikontrollkommission ( KPKK ) Großenhain, 4. 10. 1949 ( ebd., 11856, SED - Landesleitung Sachsen, A /1993, Berichte und Hinweise aus den Kreisen, 1947–1952, unpaginiert ).
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abstempeln. Besonders in der Nachtschicht herrschte verbreitete Bummelei am Arbeitsplatz. Meister und Vorarbeiter beaufsichtigten die Beschäftigten weiterhin nachsichtig. Die Betriebsparteileitung beschloss, in solchen Fällen bei mehrfacher Wiederholung die sofortige Entlassung zu erwirken, wie dies in zwei Fällen bereits geschehen war.46 Das Problem des „Krankfeierns“ blieb ebenfalls bestehen. Laut einer statistischen Erhebung im März 1946 blieben etwa 300 Beschäftigte „systematisch der Arbeit fern“. Nur ein geringer Teil der Arbeiter fehlte aus einem, aus Werksicht, triftigen Grund. Alle anderen zählten als „Bummler“. Daher ordnete der Befehl Nr. 27 der SMAD am 8. April 1946 an, dass Arbeitsbefreiungen nur noch mit Befund eines sowjetischen Arztes ausgestellt werden durften.47 Zudem kam die 1947 begonnene Leistungslohnkampagne nur langsam in Tritt. Die Arbeiter wehrten sich gegen diese Lohnform, da sie zu hohe Normen und dadurch Verdiensteinbußen und noch mehr Arbeitsdruck befürchteten. Erst in der zweiten Jahreshälfte 1948 fand der Leistungslohn mehr Akzeptanz, als die Arbeiter dahinter kamen, wie sie selbst die Normen steuern konnten. Entweder erkannte die Werksführung die Notwendigkeit, ihre Fachkräfte durch die Einführung sogenannter „weicher Normen“, also niedriger Produktionsvorgaben im Akkord, die einen hohen Überverdienst erlaubten, zu halten und zu motivieren oder die Arbeiter hielten sich bei der Festlegung der Normen in der Geschwindigkeit der Arbeitsgänge zurück, um später eine besonders hohe Erfüllung zu erzielen. Der Sozialhistoriker Peter Hübner bezeichnet dieses Verhalten als den Beginn der Stellung des Einzelbetriebs als relativ eigenständige Arena für soziale Interessentransfers durch Konflikte und Arrangements. Daraus entstand eine Diskrepanz zwischen Lohn - und Produktionswachstum, was wiederum zur Folge hatte, dass die Wirtschaftsführung der SED ab 1949 Normenkorrekturen durchführen musste. Mit dem „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ ab 1952, der unter anderem eine starke Erhöhung der Arbeitsnormen in der Schwerindustrie vorsah, waren große Lohneinbußen für die Beschäftigten vorprogrammiert. Ihre Unzufriedenheit darüber bei gleichzeitig noch immer schwankender Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern gipfelte in den Ereignissen des 17. Juni 1953.48
46 Vgl. Schreiben der SED - Betriebsgruppe im SWR an die SED - Landesleitung Sachsen, o. D., bezugnehmend auf September 1949 ( SächsStAL, 11624, VEB SWR, unpaginiert). 47 Vgl. Befehl Nr. 27, 8. 4. 1946 ( ZGKR, SWR, Kasten 20., C., unpaginiert ). 48 Vgl. Hübner, Peter, Niederlausitzer Industriearbeiter 1935 bis 1970, Studien zur Sozialgeschichte, Berlin 1995, S. 41 f.
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Fazit
Sowohl in der NS - Zeit als auch in der folgenden Nachkriegsphase bis zur Gründung der DDR bildeten sich unter den Beschäftigten ähnliche Verhaltensweisen heraus. Angesichts von Vollbeschäftigung und stetig steigenden Arbeitszeiten füllten sie die sich daraus ergebenden Handlungsspielräume. Sie erkannten, dass die Erfüllung der Produktionsauflage oberstes Gebot im Werk und empfindliche finanzielle Strafen oder sogar ein Verlust des Arbeitsplatzes relativ unwahrscheinlich waren. Besonders Schlüssel - und Fachkräfte nutzten diese Umstände aus. Sie nahmen Einfluss auf ihre tatsächliche Arbeitszeit, auf Löhne und Normen und schufen sich Freiräume durch Krankentage und unentschuldigtes Fehlen. Dies alles geschah aber nicht vordergründig aus Gier oder Faulheit, sondern lag in den meisten Fällen einerseits in körperlicher Erschöpfung und Mangelversorgung begründet, andererseits war das Verhalten der Beschäftigten Ausdruck des Umgangs mit der jeweiligen politischen Situation. Diejenigen, die sich nicht zum jeweils herrschenden Regime bekannten, zogen sich ins Private zurück, sorgten für sich und ihre Angehörigen und sahen den Arbeitsplatz im Stahlwerk Riesa als das, was er ursprünglich war : ein Mittel zum Zweck des ökonomischen Überlebens. Besonders bei den jüngeren und neu eingestellten Beschäftigten fehlten häufig Werte wie Berufsehre und Tradition, die bei den älteren in beiden Phasen – NS - und SBZ - Zeit – für konstant hohe Leistungen im Betrieb sorgten. Diejenigen mit vielen Dienstjahren fügten sich eher missmutig in ihr Schicksal, was die Klimax des Produktionsausstoßes noch kurz vor Kriegsende 1944 erklärt. Trotz allen Eigensinns funktionierten die Beschäftigten zum Großteil im Sinne des Betriebs, auch wenn dessen Verantwortungsträger sowohl vor 1945, vor allem aber danach Kompromisse eingehen mussten.
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Jungkommunisten – Meuten – Broadway - Cliquen. Drei Jugendgenerationen zwischen Resistenz und Widerstand in Leipzig Alexander Lange Auch 70 Jahre nach der Zeit des Nationalsozialismus existieren noch große Forschungslücken über das Jugendleben jenseits der Hitlerjugend. Als eigenständige Gruppe wurden Jugendliche bisweilen vernachlässigt. Besonders informelle Gruppierungen in der Ausprägung der westdeutschen Edelweißpiraten und der Hamburger Swingjugend gab es in allen deutschen Großstädten. Liegen von diesen beiden Gruppen seit den 1980er Jahren wissenschaftliche Untersuchungen vor, so ist für Mittel - bzw. Ostdeutschland bislang nur Leipzig umfassend erforscht worden.1 Leipzig eignet sich in vielerlei Hinsicht für eine Studie über Opposition und Widerstand von Arbeiterjugendlichen während des Nationalsozialismus. In diesem wichtigsten sächsischen Industrie - und Handelsstandort hatte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine linkssozialistische Arbeiterbewegung mit einer weit verzweigten Organisationsstruktur etabliert. So verfügten die Sozialistische Arbeiterjugend ( SAJ ) und der Kommunistische Jugendverband Deutschland ( KJVD ), die Jugendverbände der beiden großen Arbeiterparteien Sozialdemokratische Partei Deutschlands ( SPD ) und Kommunistische Partei Deutschlands ( KPD ), in Leipzig zu Beginn der 1930er Jahre über die jeweils mitgliederstärksten Gruppen in ganz Mitteldeutschland. Wie stabil sich das linkssozialistische Milieu in Leipzig auch noch nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten erwies, zeigen die Wahlergebnisse vom März 1933, bei denen KPD und SPD zusammen mehr Stimmen als die NSDAP erhielten.2 Am Beispiel von Leipzig – Mitte der 1930er Jahre die fünftgrößte Stadt im Deutschen Reich – sollen im Folgenden Kontinuitäten und Brüche verschiedener Jugendgenerationen der Arbeiterschicht innerhalb einer Großstadt unter den Bedingungen des NS - Regimes aufgezeigt werden, insbesondere der Bezug von Leipziger Meuten zum linkssozialistischen Milieu sowie der zunehmende 1 2
Vgl. Alexander Lange, Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde. Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich, Köln 2010. Auf die NSDAP fielen bei den Reichstagswahlen am 5. 3. 1933 in Leipzig 37 % der Stimmen, SPD 31 % und KPD 18,8 %. Vgl. Horst Riedel, Chronik der Stadt Leipzig, GudenGleichen 2001, S. 106.
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Einfluss moderner amerikanischer Musikkultur auf Jugendliche Anfang der 1940er Jahre. Beachtung finden hierbei auch die unterschiedlichen Formen von jugendlicher Resistenz und Opposition bis hin zu Widerstand.3
1.
KJVD und SAJ im Widerstand
Die erste Generation bildeten Jugendliche der Geburtsjahrgänge um 1914, die ab dem Frühjahr 1933 mit den Folgen des NS - Terrors und den Verboten zu kämpfen hatten. Trotz der vielen Tausend in Sport - und Kulturvereinen sowie politischen Gruppen organisierten Leipziger Arbeiterjugendlichen entschieden sich im Frühjahr 1933 nur wenige Hundert für die illegale Fortführung ihrer Strukturen. Diese Jugendlichen waren schon seit mehreren Jahren in linkssozialistischen Gruppen aktiv gewesen. Besonders der KJVD versuchte seine Arbeit aus der Illegalität heraus fortzuführen. Der Machtantritt Hitlers wurde von KPD und KJVD zunächst als weitere Etappe der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus angesehen. Man glaubte, dass die angestrebte proletarische Revolution nach sowjetischem Vorbild innerhalb der nächsten Wochen und Monate möglich sei. Entsprechend dieser Einschätzung hatte der KJVD in Sachsen vor allem das Ziel, die zentralistische und hierarchische Struktur des Verbandes in der Illegalität fortzuführen und weiter den Führungsanspruch über die Arbeiterjugend anzustreben. Doch mit seinen öffentlichkeitswirksamen Aktionen machte sich der KJVD gegenüber dem Verfolgungsapparat angreifbar.4 Nach den ersten Verhaftungswellen und dem offenen Terror der SA im Frühjahr 1933 startete der KJVD in der zweiten Jahreshälfte seine Reorganisation mittels eines Zellensystems. Neben gestandenen KJVD - Mitgliedern stießen in dieser Zeit auch andere kommunistisch orientierte Jugendliche zum illegalen Verband. Gleichwohl ging es dem KJVD nicht nur um das Überleben der eige3
4
Der Resistenz - Begriff wird in der Auslegung von Martin Broszat als „wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS - Herrschaft oder ihres Anspruchs, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen und Kräften her“, verstanden. Vgl. Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz der Forschungsprojekte. In : Martin Broszat (Hg.), Bayern in der NS - Zeit. Die Herausforderung des Einzelnen. Geschichten über Widerstand und Verfolgung, Band 4, München 1983, S. 691–709, hier 697. Opposition, Protest und Widerstand sind hier nach der Definition von Detlev Peukert zu verstehen. Er bezeichnet als „Widerstand [ … ] jene Verhaltensnormen [ … ] in denen das NS - Regime als Ganzes abgelehnt wurde und Maßnahmen zur Vorbereitung des Sturzes des NS Regimes im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten des jeweils einzelnen Subjektes getroffen wurden“. Anhand einer Skala versucht Peukert die Intensität und die Reichweite des ablehnenden Verhaltens gegen das NS - Regime darzustellen. „Protest“ bzw. Opposition wird hierbei an der Stelle vor „Widerstand“ genannt. Detlev Peukert, Alltag unterm Nationalsozialismus. In : Beiträge zum Thema Widerstand 17. Hg. vom Informationszentrum Berlin, S. 25. Vgl. Hermann Weber, Die Ambivalenz der kommunistischen Widerstandsstrategie bis zur „Brüsseler“ Konferenz. In : Jürgen Schmädeke / Peter Steinbach ( Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München 1985, S. 78.
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nen Struktur. Er war der einzige Jugendverband in Leipzig, der regelmäßig durch illegale Zeitungen und Flugblätter zum Widerstand aufrief und für eine Alternative zum Nationalsozialismus warb.5 Das antifaschistische Image des KJVD führte Ende 1933 in Leipzig zudem zu Kontakten mit einigen Funktionären der SAJ. Diese planten, mit den Jungkommunisten eine gemeinsame, neue Jugendorganisation zu bilden. Mitglieder der SAJ und Kommunisten arbeiteten zu dieser Zeit im Leipziger Süden bereits im illegalen „Vorstoß - Kreis“ zusammen. Dies verdeutlicht, dass die genannten Gruppen in Leipzig versuchten, sich auf die neue Situation in der Illegalität einzustellen und antifaschistische Kräfte zu bündeln. Die übergeordneten illegalen Reichsleitungen beider Jugendorganisationen hatten jedoch starke Vorbehalte gegen diesen „Leipziger Alleingang“. Die hierarchischen Apparate machten – auch in der Illegalität – lokale Alleingänge unmöglich, zumal ihnen die Verbandsdisziplin zu diesem Zeitpunkt noch wichtiger erschien.6 Erst Ende 1934 stießen verstärkt SAJ - Mitglieder zum illegalen KJVD, stellenweise sogar in Führungspositionen. Anfang 1934 hatte sich der sächsische Landesverband des KJVD von den Verhaftungswellen des Jahres 1933 soweit erholt, dass es wieder eine funktionierende Struktur, wenn auch in der Illegalität, gab. Anhand der vier sächsischen Bezirksleitungen ist jedoch die dünne Personaldecke außerhalb der Industriezentren erkennbar. Während Leipzig über 250 und Chemnitz über 150 illegale Mitglieder und Funktionäre verfügte, konnte die Landeshauptstadt Dresden nur noch 25 Mitglieder vorweisen, genau soviel wie Plauen.7 Seit dem Sommer 1933 wurde die benachbarte Tschechische Republik für die illegale Arbeit des KJVD – und auch für alle anderen verbotenen politischen Parteien und Gruppen – zu einem wichtigen Rückzugsgebiet für von Verhaftung bedrohte Funktionäre und ihre illegale Arbeit. So veranstaltete der KJVD im Februar 1934 eine mehrtägige „Sachsenkonferenz“ in einem Arbeiterheim im tschechischen Maffersdorf, auf der Funktionäre aus Dresden, Chemnitz und Leipzig für die weitere illegale Arbeit geschult wurden.8 Nach dem Verbot der eigenen Zeitungen durch die Nationalsozialisten wurden verschiedene Publikationen zunächst im tschechischen Exil weiter herausgegeben und über die Grenze nach Deutschland geschmuggelt. Der Transport erwies sich jedoch als zu gefährlich und so ging der Leipziger KJVD dazu über, eigene Publikationen zu erstellen. In der ersten Jahreshälfte 1934 erschienen fünf Lokalausgaben der Zeitung „Die Junge Garde“ in Leipzig, sowie mehrere
5 6 7 8
Vgl. Solvejg Höppner, Juden im Leipziger Widerstand 1933/34. In : Judaica Lipsiensia. Hg. von der Ephraim Carlebach Stiftung, Leipzig 1998, S. 155–166. Vgl. Friedrich Schlotterbeck, Je dunkler die Nacht, Berlin ( Ost ) 1948, S. 18. Vgl. Anklageschrift gegen Helene Fischer. Widerstand als Hochverrat 1933–1945, Mikrofiche Edition, Fiche Nr. 0060. Hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München 1995. Vgl. Gestapobericht vom 25. 9. 1934 ( StAL, PP - St 121, Bl. 183 ff.)
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Flugblätter. Die Druckerzeugnisse wurden mit einem Abziehapparat der illegalen KPD hergestellt, in einer Auflage von jeweils wenigen hundert Stück.9 Die politische Ausrichtung des KJVD hatte sich zu diesem Zeitpunkt im Vergleich zur Endphase der Weimarer Republik noch nicht verändert. Nach wie vor wurde gegen die Sozialdemokratie als einem der Hauptfeinde argumentiert. So findet sich im Hauptartikel in der ersten Ausgabe der Leipziger „Jungen Garde“ zum Ende der Weimarer Republik die realitätsferne Einschätzung „14 Jahre bürgerliche Demokratie unter Führung der Sozialdemokratie führte zum blutigen Faschismus.“10 Dies steht allerdings nicht im Widerspruch zu den Kontakten mit SAJ - Mitgliedern Ende 1933, da diese sich vom gescheiterten Legalitätskurs der SPD distanziert hatten. Im Sommer 1934 gelang es der Gestapo, durch eine Anzeige aus der Bevölkerung, innerhalb weniger Wochen nahezu die gesamte Struktur des Leipziger KJVD zu zerschlagen und die Mitglieder zu verhaften. Der illegale Apparat erwies sich durch einige personelle Überschneidungen verschiedener Zellen als Falle. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Gestapo weder durch Einschleusung eines V - Mannes noch durch eigene Ermittlungstätigkeit im Vorfeld zum Leipziger KJVD brauchbare Ergebnisse erzielt hatte.11 In der Folgezeit gab es bis zum Frühjahr 1935 mehrere Neuorganisierungsversuche des Leipziger Verbandes, jedoch mit nur noch wenigen Dutzend Mitgliedern.12 Politisch beendete der KJVD in dieser Zeit – analog der KPD – die Hetze gegen die Sozialdemokratie und propagierte nun einen stärkeren AntiNazi - und Einheitsfrontgedanken, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern.13 Im Mai 1935 wurde durch die Verhaftung der letzten aktiven Funktionäre der KJVD in Leipzig und in ganz Sachsen endgültig zerschlagen. Dieses Ende ereilte zugleich auch andere Landesverbände in Deutschland. Die hierarchische Struktur hatte sich unter den Bedingungen des NS - Regimes in der Illegalität als ineffektiv erwiesen. Die von der Gestapo 1934 und 1935 ermittelten Mitglieder und Funktionäre des Leipziger KJVD wurden 1935 und 1936 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ in elf Prozessen, zumeist vor dem Oberlandesgericht Dresden, angeklagt und verurteilt. Es gab zahlreiche Gefängnisstrafen, zum Teil mehrjährige Zuchthausstrafen, aber auch einige Freisprüche mangels Beweisen.14 Hatte 1933 der KJVD durch seine zentralistische Struktur – analog der Mutterpartei KPD – den Weg in die Illegalität in Erwartung der baldigen prole9 Vgl. Urteilsschrift gegen Rudolf Deubel u. a. ( StAL, PP - St 121, Bl. 181 ff .). 10 „Die Junge Garde. Kampforgan des KJV - Leipzig“, Ausgabe Juni 1934, S.1 ( StAL, PP S 1174, unpaginiert ). 11 Vgl. Carsten Schreiber, Politische Polizei und KPD, Magisterarbeit, Leipzig 1998, S. 156. 12 Vgl. Widerstand als Hochverrat, Mikrofiche Nr. 0588, Anklageschrift gegen Hans Lauter, unpag. 13 Vgl. Flugblatt des KJVD - Leipzig „An alle Leitungen und Mitglieder der Leipziger SAJ“ ( BArch, 1 I /4/1/74, Bl. 236 f.). 14 Vgl. StAL, PP - S 1313, Bl. 31; ebd., PP - S 208/119, Bl. 1.
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tarischen Revolution ideologisch zunächst unbeschadet überstanden, stand der Konkurrent um die Führung der Arbeiterjugend, die SAJ, im Frühjahr 1933 vor größeren Problemen. Strikt einem legalistischen Kurs verschrieben, zerfiel die Mutterpartei SPD in mehrere Flügel – auch in Leipzig. Dies setzte sich bei der SAJ fort. Hinzu kam, dass in Sachsen bereits am 13. März 1933 die SPD Jugendorganisationen SAJ, Kinderfreunde und Rote Falken verboten wurden, mehrere Wochen vor dem offiziellen Verbot des KJVD.15 Auf die plötzliche Illegalität war die SAJ – im Gegensatz zum KJVD – jedoch kaum vorbereitet. Dennoch gab es in der zweiten Jahreshälfte 1933 in Leipzig mehrere Anläufe zur Reorganisation auf Funktionärsebene, den erwähnten versuchten Zusammenschluss mit dem KJVD und das Engagement aktiver SAJ - Mitglieder bei illegalen sozialdemokratischen Gruppen, wie der „Gruppe Zorn“. Schon ein Jahr später kam es allerdings zu mehreren Verhaftungen und Gefängnisstrafen.16 Eine Besonderheit der Leipziger Sozialdemokraten waren die Anfang der 1930er Jahre gegründeten „Kampfstaffeln“, in denen zahlreiche SAJ - Mitglieder organisiert waren. Etwa 2 000 zum Großteil bewaffnete Mitglieder waren unmittelbar nach den Reichstagswahlen im März 1933 in Leipzig in geheimen Quartieren versammelt worden und bereit, nach zuvor ausgearbeiteten Plänen öffentliche Gebäude zu besetzen. Doch in der entscheidenden Vorstandssitzung der Leipziger SPD waren die Befürworter für einen Aufstand in der Minderheit, der Legalitätskurs wurde nicht verlassen. Die Kampfstaffeln kamen somit nicht zum Einsatz und wurden aufgelöst.17 Eine vergleichbare Vorbereitung im Kampf gegen die sich festigende NS - Diktatur ist zu diesem Zeitpunkt von keiner anderen Partei oder Organisation bekannt, weder in Leipzig noch in anderen deutschen Städten. Viele Leipziger SAJ - Gruppen verstanden sich aber auch als soziale Gemeinschaft. Nach deren Zerschlagung traten die Mitglieder zum Teil geschlossen Sport - und Kulturvereinen bei und verbrachten ihre Freizeit weiterhin gemeinsam. Dort kamen in den Folgejahren auch frühere Mitglieder des KJVD oder anderer linkssozialistischer Gruppen hinzu. Wenn sie in der Folgezeit auch zumeist nicht illegal aktiv wurden, so blieben sie doch innerhalb dieser sozialen Verbindungen gegen die zunehmenden NS - Einflüsse resistent und warteten dort auf das Ende des NS - Regimes.18 Erwähnenswert sind für diesen Zeitraum auch die bündischen und konfessionellen Jugendverbände in Leipzig und Sachsen, welche zumeist aus dem Bürgertum entstammten. Anders als die linkssozialistischen Jugendverbände, lehnten sie den Nationalsozialismus nicht von vorn herein konsequent ab, son15 Vgl. Hartmut Mehringer, Sozialdemokratischer und sozialistischer Widerstand. In : Peter Steinbach / Johannes Tuchel ( Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur, Bonn 2004, S. 57. 16 Vgl. StAL, PP - St 59, Bl. 244. 17 Vgl. Michael Rudloff / Thomas Adam, Leipzig – Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996, S. 150–162. 18 Vgl. Carola Stern, In den Netzen der Erinnerung, Reinbeck 1986, S. 143.
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dern waren zunächst nur an der Wahrung ihrer Autonomie interessiert. Nach der Zwangsauflösung des Großdeutschen Bundes19 durch die NS - Reichsjugendführung im Sommer 1933 gingen viele bündische Gruppen zunächst ins Jungvolk. Sie hofften dort einerseits ihre Gruppenautonomie zu erhalten, andererseits wollten sie durch ihre jahrelange Erfahrung bei der Jugendbetreuung Einfluss auf die weitere Entwicklung innerhalb der neuen Staatsjugend nehmen.20 Von den bündischen Gruppen der Deutschen Jungenschaft vom 1. November 1928 ( dj. 1.11) und der Jungentrucht sowie einigen Mitgliedern der Deutschen Freischar ist bekannt, dass sie sich in der Folgezeit in Leipzig illegal weitertrafen. 1934/35 kam es zu mehreren Verhaftungen und Ermittlungsverfahren.21 Auch die HJ duldete keine bündischen Sonderwege in ihren Reihen und stilisierte die Bündische Jugend in den Folgejahren zum Hauptfeind. Die evangelischen Jugendverbände wurden im Frühjahr 1934 per Reichsbeschluss in die Hitlerjugend übernommen. Die Überführung in die Staatsjugend verlief in Sachsen weitgehend störungsfrei.
2.
Die Leipziger Meuten
Während die 1933 begonnene illegale Arbeit der organisierten Arbeiterjugendgruppen bis 1935 durch die Gestapo zerschlagen worden war, mussten sich Polizei und Hitlerjugend ab 1936 mit einem neuen Phänomen jugendlicher Nonkonformität beschäftigen. In fast allen Leipziger Stadtteilen trafen sich zu dieser Zeit verstärkt Jugendcliquen auf Straßen, Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen. Diese unterschieden sich vor allem optisch von der Hitlerjugend. Von der Gestapo wurden sie folgendermaßen beschrieben : „Die Gleichtracht besteht im Sommer aus Bundschuhen, weißen Kniestrümpfen, äußerst kurzen Lederhosen, buntkarierten Schihemden, Koppel, und im Winter aus Bundschuhen, weißen Kniestrümpfen, besonders langen Knickerbocker bzw. Louis - Trenker Hosen und grauen Slalom - Jacken. Daneben findet sich noch eine Übersteigerung dieser Tracht der Art, dass ohne weiteres der Eindruck erweckt wird, man habe es mit Russen zu tun. Auch Mädchen kleiden sich in entsprechender Weise, indem sie zu der übrigen Ausrüstung einen dunklen Rock tragen.“ Neben den aufgeführten Gemeinsamkeiten wurden auch Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt : „So pflegen die einen im wesentlichen bündisches Gedankengut, [...] während wieder andere ausgesprochen marxistische und kommunistische Tendenzen verfolgten.“ Diese Jugendgruppen wurden hauptsächlich in Leipziger Stadtbezirken bemerkt, die vor 1933 als „besonders von marxisti19 Ein Zusammenschluss der wichtigsten bündischen Gruppen in Deutschland vom Frühjahr 1933. 20 Vgl. Ludwig Liebs, Bündische Jugend und politische Parteien. In : Jugend zwischen den Kriegen. Hg. vom Arbeitskreis für Dokumentation des Sachsenkreises, Heidenheim an der Brenz 1967, S. 160 f. 21 Vgl. Gestapoverhörprotokolle ( StAL, PP - S 4040 und PP - S 1400).
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schen und kommunistischen Elementen bevorzugt bekannt sind.“ Gemeinsam sei allen Gruppen eine „bewusste oppositionelle Einstellung gegenüber der Staatsjugend und dem Staat.“22 Diese Jugendgruppen, welche später von der Gestapo die Bezeichnung „Meuten“ erhielten, entstammten den Geburtsjahrgängen um 1920. Viele von ihnen waren vor 1933 Mitglied einer linkssozialistischen Kinder - und Jugendorganisation gewesen, wie den Roten Falken, den Kinderfreunden oder den Roten Jungpionieren. Einige kamen aus bündischen Gruppen oder kirchlichen Jugendverbänden. Wieder andere waren bis 1935/36 Mitglied im Jungvolk oder in der Hitlerjugend gewesen, jedoch wieder ausgetreten, da es ihnen dort aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr gefallen hatte.23 1936 begann mit dem Einstieg in das Berufsleben für diese Jugendlichen ein neuer Lebensabschnitt, der sich in zunehmender, geistiger Reife und wirtschaftlicher Autonomie äußerte. Somit vergrößerte sich ihr Freiraum auch nach Feierabend. Da die Mitgliedschaft in der HJ bis März 1939 offiziell noch freiwillig war, wurden Verpflichtungen am Arbeitsplatz oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein immer wieder vorgeschoben, um sich vor dem HJ - Dienst zu drücken. Das Desinteresse von Lehrlingen an der Staatsjugend lässt sich auch zahlenmäßig belegen. So sind 1936 von fast 67 000 registrierten Schülern und Lehrlingen in Leipzig nur 64 Prozent Mitglied in der HJ gewesen, an den Berufsschulen waren es sogar nur 34,4 Prozent.24 Dieser Trend setzte sich in den Folgejahren fort. Viele Leipziger Arbeiterjugendliche blieben der HJ fern. Da Gestapo und HJ Streifendienst diese Gruppen aufgrund ihrer Wanderkleidung zunächst für eine Fortführung der Bündischen Jugend hielten, übernahmen die Jugendlichen diese Bezeichnung und nannten sich selbst „Bündische Jugend“, obgleich es kaum personellen Kontinuitäten zu bündischen Gruppen vor 1933 gab. Die in den einzelnen Stadtbezirken zusammenkommenden Cliquen kannten sich zumeist schon aus Kindertagen oder aus Jugendgruppen der Weimarer Zeit. Die bekanntesten waren die Meute „Reeperbahn“ mit etwa 100 Mitgliedern, welche sich auf der heutigen Georg - Schwarz - Straße in Lindenau traf. Im angrenzenden Kleinzschocher gab es die Meute „Hundestart“ mit 30 bis 40 Mitgliedern und im Leipziger Osten traf sich auf dem Bernhardiplatz die Meute „Lille“, ebenfalls mit 30 bis 40 Mitgliedern. Diese drei Stadtteile waren vor 1933 Hochburgen der linkssozialistischen Arbeiterbewegung gewesen, weswegen sich in diesen Meuten auch überdurchschnittlich viele Jugendliche aus sozialdemokratischem bzw. kommunistischem Milieu zusammenfanden. Sie zeigten ihre linke Gesinnung auch dadurch, indem sie zu ihrer Meutenkluft stellenweise rote Halstücher trugen. Verbreitet waren außerdem Totenkopfabzeichen, jedoch nicht in der Aufmachung der SS. In den Wohnvierteln um die Leipziger Innen22 Gestapo - Bericht 1938 BArch, NJ 9156, Bl. 19). 23 Vgl. BArch, R 3001/955, Fiche Nr. 8, Bl. 347. Zur politischen Herkunft der Meuten siehe auch Lange, Leipziger Meuten, S. 224–229. 24 Vgl. Mitgliederentwicklung der HJ - Leipzig, Stand 1. 5. 1935 ( Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 323, Band 2, Bl. 16).
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stadt gab es ebenfalls mehrere Meuten. Eine aus dem Seeburgviertel nannte sich selbst „Bündische Antifaschistische Jugendorganisation“.25 Diese Selbstbezeichnung verdeutlicht die inzwischen vollzogene jugendkulturelle Vermischung zwischen Bündischer Jugend und linkssozialistischer Arbeiterjugend. Nach Schätzungen der Gestapo gab es etwa 1 500 Jugendliche in Leipzig, die Mitglied in einer Meute waren, etwa ein Viertel bis ein Drittel davon waren Mädchen. Diese Angabe kann als realistisch eingeschätzt werden. Zum Vergleich : 1938 waren in Leipzig von 60 000 Schülern, Lehrlingen und Gymnasiasten ab dem zehnten Lebensjahr noch immer etwa 16 000 nicht Mitglied der Hitlerjugend.26 Bei den fast täglichen Treffen wurde sich zunächst über jugendtypische Alltagsprobleme ausgetauscht. Es sind außerdem politische Gespräche nachweisbar, so z. B. über den Bürgerkrieg in Spanien.27 Vage Informationen über die Bündische Jugend der Weimarer Zeit wurden ebenfalls weitergegeben. Durch die auffällige Kleidung bekamen die Jugendlichen schnell Kontakt zu Mitgliedern anderer Meuten. Besonders die Leipziger Kleinmesse, ein mehrmals jährlich stattfindender Rummel, sowie die belebte Petersstraße in der Innenstadt waren beliebte Treffpunkte für Jugendliche außerhalb der HJ auf der Suche nach Gleichgesinnten. Die einzelnen Meuten fuhren an den Wochenenden oftmals mit Fahrrädern zu Ausflugszielen außerhalb Leipzigs, übernachteten in Jugendherbergen oder zelteten an Seen. Teilweise traf man sich mit anderen Gruppen aus Leipzig an den Lübschützer Teichen vor den Toren der Messestadt. In den Sommermonaten wurden von einigen auch Großfahrten veranstaltet, z. B. an die Ostsee oder in die Alpen. Während der kälteren Monate trafen sich die Freundeskreise in Gaststätten, in den Vorräumen von Kinos oder in Wohnungen. Stellenweise wurden die verbotenen ausländischen Radiosender BBC London oder Radio Moskau gehört und darüber diskutiert.28 Die Ablehnung gegenüber der HJ mündete in dieser Zeit immer wieder in handfeste Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in den einzelnen Stadtvierteln, bei denen die Meuten oftmals die Oberhand gewannen. Stellenweise bewaffneten sich Meutenmitglieder mit Schlagringen und Gummiknüppeln.29 Diese Schlägereien mit Hitlerjungen und Überfälle auf HJ - Heime können jedoch nicht als „großstädtisches Rowdytum“ interpretiert werden. Die Meuten versuchten sich gegen den NS - Einfluss in ihrer Umgebung mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr zu setzen und ihren Freiraum in der Öffentlichkeit zu behaupten. Hingegen sind keinerlei körperliche oder verbale Auseinandersetzungen mit anderen Jugendcliquen aktenkundig. Gewalt wurde 25 26 27 28
Vgl. Anklageschrift ( Widerstand als Hochverrat, Mikrofiche Nr. 0691, unpaginiert ). Vgl. Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 323, Band 2, Bl. 60. Vgl. Urteilsschrift ( Widerstand als Hochverrat, Mikrofiche Nr. 0691, unpaginiert ). Vgl. auch Erinnerungsbericht von Rolf Franz. In : Sascha Lange, Die Leipziger Meuten, Leipzig 2012, S. 66. 29 Vgl. Anklageschrift gegen Mitglieder der „Meute Lille“ ( Widerstand als Hochverrat, Mikrofiche Nr. 0695).
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nicht aus Spaß eingesetzt, sondern zur Selbstbehauptung des eigenen Freiraums. Bei den späteren Prozessen gab es im Übrigen keine expliziten Verurteilungen aufgrund von Schlägereien mit Hitlerjungen. Ihre linkssozialistische Haltung zeigten einige Jugendliche, laut späteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, auch demonstrativ bei ihren Zusammenkünften : „Um ihre Gesinnungsgemeinschaft zu betonen, grüßten sich die Angehörigen der Meuten mit dem Gruß der Roten Jungpioniere ‚Seid bereit – immer bereit‘, den sie jedoch auf Veranlassung des Meutenmitglieds Friede aus Sicherheitsgründen in der russischen Übersetzung ‚buji gotow – wsegda gotow‘, verstümmelt zu ‚but catoff – secetacedoff‘ gebrauchten.“30 Die Lektüre von marxistischer Literatur oder kommunistischen Zeitungen ist hingegen nicht überliefert. Die Gestapo ermittelte bereits 1937 gegen einzelne Gruppen, die sie zu diesem Zeitpunkt noch als Fortführung der Bündischen Jugend der Weimarer Zeit ansahen. Zunächst maßen die Meuten der beginnenden Überwachung durch die Polizei keine besondere Bedeutung bei : „Standen wir irgendwo am Abend auf der Reeperbahn, wussten wir, dass der gerade vorbeigehende Mann von der Gestapo ist und Pilz heißt, und dass der danebengehende Walther heißt und ebenfalls zur Gestapo gehört. Nein, ernst genommen haben wir das sicher alle miteinander nicht, dazu waren wir viel zu jung und fassten das mehr oder weniger als Kraftprobe auf.“31 Im Laufe des Jahres 1938 gewann die Gestapo jedoch zunehmend Erkenntnisse über die linkssozialistische Ausrichtung einiger Meuten und die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. Der Plan der NS - Justiz war zunächst, durch harte Bestrafung einiger „Rädelsführer“ die übrigen Meuten zu verschrecken und somit zu zerschlagen.32 Im Oktober 1938 kam es darum zu zwei Prozessen vor dem Leipziger Reichsgericht wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ gegen die Wortführer der Meuten „Hundestart“ und „Lille“. Einer der Hauptangeklagten der Meute „Lille“ hatte nach Meinung der Staatsanwaltschaft „mit Unterstützung der Mitangeschuldigten die Tätigkeit der Meute bewusst in den Dienst der umstürzlerischen Bestrebungen des Kommunismus gestellt und die Meutenmitglieder zu diesem Zweck auf den Zusammenkünften und Fahrten zu einer straffen Organisation zusammengefasst und in kommunistischem Sinne geschult.“33 Es wurden in beiden Prozessen mehrjährige Zuchthausstrafen verhängt. Einige der Verurteilten kamen nach Verbüßung ihrer Haftstrafe ins KZ Buchenwald.34 30 Anklageschrift gegen Mitglieder der „Meute Hundestart“ ( BArch, NJ 5794, unpaginiert). 31 Erinnerungsbericht Rolf Franz. In : Lange, Leipziger Meuten, S. 67 f. 32 Generell zur juristischen Verfolgung der Leipziger Meuten siehe Lothar Gruchmann, Jugendopposition und Justiz im Dritten Reich. In : Wolfgang Benz ( Hg.), Miscellanea, Stuttgart 1980, S. 103–129. 33 Anklageschrift Helmut Heß. In : Widerstand als Hochverrat, Mikrofiche Nr. 0695. 34 Vgl. StAL, VdN - Akten Nr. 13098, Nr. 13945.
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Die erhoffte abschreckende Wirkung stellte sich unter den Leipziger Jugendlichen jedoch nicht ein. Die Attraktivität der Meuten für alle, die ein selbstbestimmtes Jugendleben jenseits der Hitlerjugend suchten, blieb bestehen. In einigen Gruppen wurde zu dieser Zeit besprochen, bei Verhören möglichst alles abzustreiten und keine belastenden Aussagen zu machen. Unter führenden Mitgliedern der Meute „Reeperbahn“ entwickelten sich außerdem erste Ansätze konspirativen Arbeitens in Form eines Gesprächskreises in einem Gesellschaftszimmer der Gaststätte „Stadt Schwarzenberg“ in Lindenau.35 Einige von ihnen stellten mittels eines Kinderstempelkastens Streuzettel her, welche im Stadtviertel verteilt wurden. Sie hatten Aufschriften wie „HJ verrecke“ oder enthielten Werbung für die Bündische Jugend. Die Herstellung und Verbreitung von solchen Streuzetteln ist auch für die Meute „Arndtstraße“ aus der Südvorstadt bekannt, deren Mitglieder jedoch keine Bezüge zur linkssozialistischen Arbeiterbewegung vor 1933 hatten.36 Opposition und Widerstand entwickelte sich demnach unter den Jugendlichen auch zeitnah ohne Verwurzelung in früheren politischen Organisationen oder sozialen Zusammenhängen. Darüber hinaus gab es aus dem Umfeld der Meute „Reeperbahn“ weitere Aktivitäten : „So wurden vor einiger Zeit in einem Straßenzug nachts eine größere Zahl von Hakenkreuzfahnen, die vom Erdboden zu erreichen waren, abgerissen; am 20. 4. 1939 wurden in einer anderen Straße Schaufenster, in denen anlässlich des Geburtstages des Führers Führerbilder oder Büsten aufgestellt waren, durch Glasschneider angeritzt und beschädigt; in der gleichen Gegend wurden seit 1937 mehrfach Zettel mit dem Aufdruck ‚Nieder mit Hitler‘ verteilt.“37 Im Frühjahr 1939 intensivierten Gestapo und Staatsanwaltschaft den Kampf gegen die Meuten. Es gab weitere Razzien an den einschlägigen Treffpunkten, Verhaftungen und Prozesse. Außerdem schaltete sich das Leipziger Jugendamt in die Verfolgung ein, die diese „politisch unzuverlässigen Jugendlichen“ in Konzentrationslager einweisen lassen wollte. Die Gestapo empfahl hingegen die Einrichtung eines „Jugendschulungslagers“. Daraufhin wurde innerhalb des stadteigenen Erziehungsheims im sächsischen Mittweida ein Haus eingerichtet, um Meutenmitglieder für unbestimmte Zeit aufzunehmen.38 Ab April 1939 waren knapp 30 Mitglieder der Meuten „Arndtstraße“ und „Reeperbahn“ für mehrere Monate in Mittweida. Auch 1940 gab es Zwangseinweisungen. Das frühere Meutenmitglied Harry Stude aus Lindenau erinnerte sich hierzu : „Die am 25. April 1939 erfolgte Einweisung in das speziell für politisch verurteilte Jugendliche neu gebildete ‚Jugend - Schutz - und Schulungslager‘ in Mittweida diente ausschließlich dem Zweck, unsere ‚Aufsässigkeit‘ auszutreiben und uns im Sinne des Nazismus zu erziehen. In Wirklichkeit sollten wir nur gedemütigt werden. [ … ] Eingekleidet 35 Vgl. Erinnerungsbericht Wolfgang Donndorf. In : Lange, Leipziger Meuten, S. 28. 36 Vgl. StAL, VdN - Akte 12559. 37 Schreiben des Oberstaatsanwaltes in Leipzig vom 13. 7. 1939 ( BArch NJ 12339, unpaginiert ). 38 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 335.
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wurden wir mit ausgedienten Wehrmachts - Uniformteilen und Holzpantinen. Unser Gebäude, das speziell für uns mit vergitterten Fenstern und Außentüren versehen worden war, war Teil eines großen Gelände - Komplexes. Unsere Aufgabe war tägliche Schwerarbeit ( Steinbrucharbeiten, Straßenschotter - Herstellung per Hand, Straßenbau und Tiefbauarbeiten ) unter ständiger Bewachung von zwei zivilen SA - Leuten. Dreimal wöchentlich war abends ‚Schulung‘ im Nazigeist durch einen höheren SA - Führer, der dazu extra von Chemnitz anreiste. Ende Juli / Anfang August wurden wir wieder nach Hause entlassen.“39
1939 und 1940 gab es gleich mehrere Prozesse gegen Mitglieder der Meute „Reeperbahn“. Die Wortführer verurteilte das Oberlandesgericht Dresden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu Zuchthaus - und Gefängnisstrafen. Weitere Meutenmitglieder mussten sich vor dem Landgericht Leipzig wegen „Neubildung von Parteien“ verantworten.40 Im Gegensatz zu den vermeintlichen oder tatsächlichen „kommunistischen“ Motiven der Jungen konzentrierten sich die NS - Verfolgungsorgane bei den weiblichen Meutenmitgliedern oftmals auf den Tatvorwurf der „Kuppelei“. „Die Mädels wurden bei der Meute aufgenommen, um mit ihnen auf Fahrten zu gehen und weitere abenteuerlich veranlagte Jungen auf die Meute aufmerksam zu machen“, argumentierte die Staatsanwaltschaft.41 Dass Mädchen selbstbestimmt aus politischen oder sozialen Gründen den Anschluss an eine Meute suchten und fanden, erschien den Ermittlern offenbar undenkbar. Die Vorwürfe der „Kuppelei“ erwiesen sich indes allesamt als haltlos, viele der eingeleiteten Ermittlungsverfahren kamen nicht einmal bis zur Anklage. Einige weibliche Mitglieder der Meute Reeperbahn wurden allerdings in die „Fürsorgeerziehung“ des Jugendamtes überstellt, jedoch nicht nach Mittweida, sondern in das städtische Mädchenheim Leipzig - Thonberg.42 Generell unterhielten die ermittelnden Staatsanwaltschaften in Leipzig und Dresden 1939 im Vorfeld der Anklageerhebungen einen regen Briefverkehr, da man sich wegen der juristischen Beurteilung der Meutenaktivitäten unsicher war. Dies führte auch zu mehreren Verfahrenseinstellungen. Das Reichsjustizministerium in Berlin war ebenfalls eingeschaltet worden, da dieses sich nach eigenen Angaben erstmalig mit dieser Art oppositioneller Jugendgruppen beschäftigen musste.43 Etwa 90 Verurteilungen sind aktenkundig. Durch die zahlreichen Verhaftungen, Prozesse sowie nach dem 1. September 1939 erfolgten Einberufungen zur Wehrmacht wurden die meisten Leipziger Meuten zunächst zerschlagen.44 39 Aus dem Erinnerungsbericht von Harry Stude von 1987. In : Lange, Leipziger Meuten, S. 81. 40 Vgl. Lange, Meuten – Brodway - Cliquen – Junge Garde, S. 214–219. 41 Vgl. BArch, NJ 15657, Bl. 4. 42 Vgl. Schreiben des Jugendamtes vom 17. 2. 1940 an den Vater von Gertraud Seifert (ebd., NJ 87, Band 1, Bl. 32 ). 43 Vgl. ebd., R 3001/955, Fiche Nr. 8, S. 352. Generell siehe auch Gruchmann, Jugendopposition, S. 103–129. 44 Vgl. Lange, Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde, S. 218.
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Leipzig stellte in Bezug auf oppositionelle Jugendliche in Sachsen zu dieser Zeit keinen Einzelfall dar, obgleich die Messestadt qualitativ und quantitativ konkurrenzlos war. In Dresden trafen sich um 1940 ebenfalls Arbeiterjugendliche im öffentlichen Raum, welche die Bezeichnung „Mob“ führten und ebenfalls der HJ ablehnend gegenüberstanden. Die Namensgebung der einzelnen Gruppen erfolgte nach ihren Wohnvierteln bzw. der Straßen, auf denen sie zusammen kamen. Ihre Kleidung war analog der Leipziger Meuten gestaltet, jedoch sind keine Bezüge zur linkssozialistischen Bewegung überliefert. An den Wochenenden fuhren die Jugendlichen ins nahe gelegene Elbsandsteingebirge. Auch in den Dresdner Klettervereinen kamen zahlreiche Jugendliche unter, die nicht zur HJ gehen wollten.45 Ähnliche Gruppen gab es außerdem in Chemnitz und Plauen und auch aus sächsischen Kleinstädten sind oppositionelle Jugendcliquen aktenkundig. In Pegau, etwa 25 Kilometer südlich von Leipzig, trafen sich Ende der 30er Jahre etwa ein Dutzend Mädchen und Jungen, welche von der Leipziger Gestapo später als „Pegauer Meute“ verfolgt wurden. Ihre Kleidung ähnelte derjenigen der Leipziger Gruppen. Zu einigen Meutenmitgliedern aus Leipzig bestanden lose Verbindungen. Mehrere Pegauer waren vor 1933 Mitglied in einer linkssozialistischen Jugendorganisation gewesen. Es ist bekannt, dass Zettel mit der Aufschrift „Die Bündische Jugend lebt noch ! Rot Front !“ hergestellt und verklebt wurden.46 In Oschatz traf sich im gleichen Zeitraum eine Gruppe von etwa 15 Mädchen und Jungen. Fast alle waren vor 1933 in sozialdemokratischen Kinder - und Jugendverbänden organisiert gewesen. Auch sie trugen eine ähnliche „Kluft“ wie die Meuten in Leipzig.47 Dies zeigt, dass oppositionelle Jugendgruppen keine rein großstädtische Erscheinung waren. Es muss daher für weitere sächsische Städte die zeitweilige Existenz solcher Gruppen angenommen werden. Hierzu liegen jedoch noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor.
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Broadway - Cliquen
Zu Beginn der 1940er Jahre verringerte sich die verbliebene Freizeit für Jugendliche in Deutschland – und somit auch in Leipzig und Sachsen – durch neue Ereignisse und Verordnungen weiter. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem beginnenden Zweiten Weltkrieg wurden viele über 18 - Jährige zur Wehrmacht eingezogen und so ihren sozialen Zusammenhängen entrissen. Neben den zahlreichen Verurteilungen ist dies der Hauptgrund, warum die Generation der Leipziger Meuten kaum noch in Erscheinung trat. Hinzu kam, dass seit dem März 1939 der Dienst in der Hitlerjugend für alle Jugendlichen 45 Vgl. Bericht der Reichsjugendführung vom September 1942 ( BArch, R22/1177, Bl. 376). 46 BArch, R 22/1177, Bl. 380. 47 Gestapobericht ( HStADD, 2Js / SG 359–370/39).
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zur Pflicht erhoben wurde. Außerdem trat im März 1940 eine neue polizeiliche „Jugendschutzverordnung“ in Kraft, welche Jugendlichen unter 16 bzw. unter 18 Jahren nach 21 Uhr Besuche in Gaststätten und von Tanzveranstaltungen verbot.48 Besonders Lehrlinge der Geburtsjahrgänge zwischen 1926 und 1929 empfanden dies als schikanierend; entsprechend versuchten sie die Bestimmungen zu umgehen.49 Alle Jugendlichen konnten durch die neue HJ - Verordnung vom März 1939 theoretisch zur Mitgliedschaft gezwungen werden. Doch mit Kriegsbeginn meldeten sich viele HJ - Führer freiwillig zur Wehrmacht. Der HJ - Dienst konnte darum an vielen Orten nicht „ordnungsgemäß“ durchgeführt werden. Hinzu kam die zunehmend zeitintensive Arbeit in der Rüstungsindustrie, welche viele ältere Jugendliche vom HJ - Dienst abhielt. Im weiteren Verlauf des Krieges verschärfte sich diese Situation, so dass ab 1940 von einem geregelten HJ - Betrieb gar nicht mehr gesprochen werden kann.50 Oftmals waren Jugendliche nur noch auf dem Papier Mitglied. Dafür wurden sie für zahlreiche Hilfsdienste, z. B. bei der Feuerwehr, dienstverpflichtet – zusätzlich zur Schule oder ihrer Lehrausbildung. Auch als Luftwaffenhelfer zog man zahlreiche Hitlerjungen heran.51 Wie stark der eigentliche HJ - Dienst zum Erliegen kam, zeigt folgender Bericht des Hausmeisters des gerade erst eingeweihten „Hermann - Göring Heimes“ der Hitlerjugend in Leipzig vom März 1942 : „Im Anfang, nach Betriebsbeginn im Januar 1940, war der Besuch des Heimes sehr stark, hat aber im Verlaufe der Zeit sehr nachgelassen, was wohl eine Kriegserscheinung ist. Beim Jungvolk ist das weniger der Fall, umso mehr aber bei der HJ. Der Grund ist darin zu suchen, dass die jungen Menschen heute sehr in den Produktionsprozess eingespannt sind. Nicht zuletzt aber ist er auch eine Frage des Führermangels. Bei den Mädels liegen die Dinge so, dass die älteren Mädel (14 bis 18 Jahre ) in ganz geringem Umfang Dienst leisten, während die Jungmädel wie beim Jungvolk noch verhältnismäßig stark vertreten sind. Das BDM - Werk ‚Glaube und Schönheit‘ tritt im Heim kaum noch in Erscheinung.“52 Für Leipzig kann um 1942/43 eine Zunahme oppositionellen Verhaltens von Jugendlichen der eben beschriebenen Jahrgänge nachgewiesen werden.53 Diese neue Generation hatte im Gegensatz zu den Leipziger Meuten schon aufgrund ihres Alters keine Wurzeln in der linkssozialistischen Arbeiterbewegung bzw. zu anderen Jugendgruppen aus der Weimarer Zeit. Auch in Bezug auf Äußerlichkeiten vollzog sich eine jugendkulturelle Veränderung. Die informellen 48 Reichsgesetzblatt, Teil 1, 1940, S. 126 f. Zit. nach Jahnke, Jugend, S. 390–392. 49 Vgl. Lange, Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde, S. 285. 50 Vgl. Michael Buddrus, Totale Erziehung für den Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, Band 1, München 2003, S. 8 f.; Hans - Christian Brandenburg, Die Geschichte der HJ, Köln 1982, S. 229. 51 Vgl. Alfons Kenkmann, Wilde Jugend. Lebenswelten großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996, S. 165. 52 Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 336, Bl. 66. 53 Vgl. Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 120, Bl. 17–29, 61, 63; StAL, PP - V 4994.
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Jugendcliquen trugen keine Wanderkluft mehr, um sich sichtbar von der Hitlerjugend zu unterscheiden. Weit verbreitet waren nun Anzüge, weiße Seidenschals und Totenkopfabzeichen. Insgesamt zeigte die Kleidung die neuen, anglophilen Vorlieben der Jugendlichen. Diese kam u. a. daher, weil bis 1941 in deutschen Kinos noch amerikanische Filme gezeigt wurden, so z. B. die „Broadway Melodien“, wo die Jugendlichen neben amerikanischem Lifestyle auch mit Swingmusik in Berührung kamen.54 Verbreitet waren außerdem Koffergrammophone, sogenannte „Hotkoffer“, mit denen man Swingplatten abspielen konnte. Da amerikanische Swingmusik in der NS - Öffentlichkeit geächtet war, wurde diese für oppositionelle Jugendliche erst recht interessant. Schallplatten mit solchen Aufnahmen waren begehrte Kauf - und Tauschobjekte.55 Im Gegensatz zu den Meuten der späten 1930er Jahre trafen sich diese Jugendlichen nicht mehr vorrangig in der Öffentlichkeit, sondern verstärkt in Gaststätten, um vom HJ - Streifendienst nicht sofort entdeckt zu werden. Besonders die Großgaststätten in der Leipziger Innenstadt wurden zu einem beliebten Treffpunkt, auch weil dort kleine Salonorchester Tanzmusik spielten. Nicht selten hatten diese Kapellen die bekannten Swingtitel der 1930er Jahre im Repertoire, was ihre Attraktivität unter Jugendlichen enorm steigerte.56 Hatte sich in den 1930er Jahren in Leipzig noch in erster Linie die Gestapo mit solchen oppositionellen Jugendgruppen beschäftigt, so war diese durch die vielen Abberufungen in die besetzten Gebiete sowie die Überwachung der zahlreichen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter im Reich personell nicht mehr in der Lage, die Leipziger Jugend zu überwachen. Dies blieb auch anderen NSInstitutionen nicht verborgen : „Im Allgemeinen wird in Leipzig von der NSV und der HJ festgestellt, dass die Polizei der Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend nicht die erforderliche Bedeutung beimisst. Dies liegt insbesondere daran, dass nur ungefähr 13 Kriminalbeamte zur Verfügung stehen im Gegensatz zu anderen Großstädten wie Dresden, die die Schutzpolizei einschalten und somit bei weitem mehr Kräfte zur Verfügung haben. Wenn die NSV - Jugendhilfe und HJ nicht immer wieder den Antrieb geben würden, wäre das Eingreifen der Polizei ohne jede Wirkung. [ … ] Es ist keine Seltenheit, wenn Tanzsäle mit 75 % Jugendlichen angetroffen werden.“57 Mit gelegentlichen Razzien konnte aufgrund von Personalmangel den unerlaubten Vergnügungen der Jugendlichen jedoch kaum begegnet werden. Diese neuen oppositionellen Jugendgruppen verwendeten stellenweise die Selbstbezeichnung „Broadway - Gangster“.58 Unter „Broadway“ verstanden damals Jugendliche die Leipziger Hauptverkehrsstraßen und besonders die Petersstraße im Zentrum Leipzigs. Analog der Leipziger Meuten der 1930er 54 Vgl. Interview mit Horst Geisenhainer. In : Lange, Leipziger Meuten, S. 42 und Abdruck des Kinoplakates, S. 86. 55 Vgl. Lange, Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde, S. 285 f. 56 Vgl. ebd., S. 286. 57 Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr. 120, Bl. 17. 58 StAL, LG / SG, Nr. 632, Bl. 6.
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Jahre nahmen diese Jugendlichen gegenüber der Hitlerjugend eine stark ablehnende Haltung ein, stellenweise gab es ebenfalls Schlägereien um die Vorherrschaft in einzelnen Wohnvierteln. Bei solchen Auseinandersetzungen wurden immer wieder die HJ - Abzeichen als Trophäen entwendet.59 Einer der „Broadway - Gangster“ verfasste im Februar 1943 ein Gedicht : „Heute ist Nazijazz in Leipzig auf dem Kohlenplatz“.60 In den nicht wortwörtlich überlieferten Zeilen wurden nach späteren Angaben der Staatsanwaltschaft verschiedene führende Repräsentanten des NS - Regimes lächerlich gemacht. Bei einer anderen Gruppe, welche sich in der Gaststätte „Naumannbräu“ in der Innenstadt traf, entstand im Herbst des Jahres 1943 aus einem eigenen Diskussionsprozess heraus ein Flugblatt : „Deutsche Jugend ! Komme zu uns ! Wir rufen euch ! Kämpfe mit uns für einen gemeinsamen Frieden ! Wer hat den Krieg gewollt ? Wer ist an den Bombenangriffen schuld ? Wer hetzt die Jugend in den Tod ? Wir wollen geschlossen marschieren für einen Frieden ! Aber nicht hoffnungslos kämpfen für eine aussichtslose Sache ! Nur der Freiheit gehört unser Leben ! Es lebe der Broadway ! ! ! ! !“61 Hervorhebenswert ist der Zeitpunkt, zu dem dieses Flugblatt entstand. Die ersten alliierten Bombenangriffe auf Leipzig erfolgten erst Monate später im Dezember 1943. Die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges hatten diese Arbeiterjugendliche also noch nicht erreicht. Trotzdem hatten die 14 bis 16 - Jährigen die Situation, in der sich Deutschland zu diesem Zeitpunkt befand, treffend eingeschätzt. Es ist in diesem Zusammenhang nicht bekannt, dass Erwachsene, etwa aus dem früheren linkssozialistischen Milieu, die Jugendlichen beeinflusst hätten. Heimlich abgehörte Radiosendungen von BBC London könnten zu diesem Erkenntnisprozess beigetragen haben.62 Im Vergleich zu den zeitgleich agierenden Edelweißpiraten in Westdeutschland waren die Broadway - Cliquen jedoch zahlenmäßig geringer. Dies hing auch damit zusammen, dass in Leipzig – wie auch in großen Teilen Sachsens – bis Kriegsende kaum solche chaotischen Lebensverhältnisse anzutreffen waren wie sie in Köln bekannt waren, welches frühzeitig Ziel alliierter Bombenangriffe geworden war. Stellte Köln um 1944 eine weitläufige Ruinenlandschaft dar, aus der inzwischen zahlreiche Einwohner evakuiert worden waren, so traf dies für Leipzig nicht zu.
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Vgl. Lange, Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde, S. 289. Anklageschrift ( StAL, LG / SG, Nr. 632). BArch, NJ 9169, unpaginiert. Vgl. Erinnerungsbericht von Werner Teumer. In : Lange, Leipziger Meuten, S. 90–95.
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4.
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Resümee
Trotz der vielfältigen Aktivitäten bildeten die aufgeführten Gruppen im Vergleich zur Gesamtjugend in Deutschland nur Minderheiten. Obgleich es, besonders in den Kriegsjahren, zahlreiche Probleme bei der Durchführung des HJ Dienstes gab, fühlten sich zwischen 1933 und 1945 viele Jugendliche als junge Nationalsozialisten bzw. von den Freizeitangeboten der Staatsjugend angesprochen. Die Indoktrination in Schule und Jungvolk - Gruppen in den späten 1930er Jahre, sowie die anfänglichen militärischen Erfolge der Wehrmacht bis 1941 zeigten Wirkung. Deutlich wird dies bei Kriegsende auch bei den Leipziger „Volkssturm“ - Kommandos, wo sich viele überzeugte Hitlerjungen noch bis zuletzt unter völliger Verkennung der militärischen Situation sinnlos opferten. Dennoch gelang der Hitlerjugend zu keinem Zeitpunkt die vollständige Erfassung der Jugend in Deutschland. In Leipzig waren in drei abgrenzbaren Phasen verschiedene Generationen von oppositionellen Jugendgruppen aktiv. Die Versuche, nach 1933 Organisationsstrukturen aus der Weimarer Zeit fortzuführen und aus diesen heraus Widerstand zu leisten, stellten sich unter den Bedingungen des NS - Regimes mittelfristig als unmöglich heraus. Darauf folgte Mitte der 1930er Jahre eine neue Generation verschiedener informeller Gruppen, die aus Arbeiterjugendlichen bestanden. Diese verweigerten den Dienst in der NS - Staatsjugend, organisierten ihre Freizeit selbst und wurden gegen die HJ aktiv, um ihren individuellen Freiraum zu behaupten. Die Leipziger Meuten zeigen deutlich, dass auch in der eigentlichen Stabilisierungsphase des NS - Regimes Ende der 1930er Jahre eine ganze Anzahl von Jugendlichen sich nicht vom Nationalsozialismus vereinnahmen ließen Zahlenmäßig werden die Leipziger Meuten im deutschlandweiten Vergleich nur noch von den westdeutschen Edelweißpiraten um 1943/44 übertroffen. Mehrere Gruppen der Leipziger Meuten waren aufgrund ihrer linkssozialistischen Herkunft vor 1933 von allen unorganisierten oppositionellen Jugendgruppen während der NS - Zeit am stärksten politisch orientiert, obgleich dies letztlich nur diffus ausgeprägt war. Deutlich wird auch, dass zu Beginn der 1940er Jahre der zunehmende Einfluss moderner amerikanischer Swingmusik und dem dazugehörigen Lifestyle trotz zahlreicher nationalsozialistischer Beschränkungen und Verbote die interessierten Jugendlichen in Deutschland erreichte und prägte. Die Aktivitäten der „Broadway - Cliquen“ um 1942/43 in Leipzig zeigen, dass auch Jugendliche ohne politische Wurzeln in der Weimarer Zeit sich aufgrund der Widersprüche vor Ort eine eigene politische Meinung bilden konnten.
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Zwischen Weimarer Republik und Zweitem Weltkrieg. Die Bürgerliche Jugend in Sachsen am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft Friederike Hövelmans Im bisher einzigen Versuch einer Überblicksdarstellung zur Jugendbewegung in Sachsen, der 2007 erschienenen Ausgabe der Dresdner Hefte unter dem Titel „In Wanderkluft und Uniform“, werden in einem ersten Abriss die verschiedenen generationellen und milieuspezifischen Ausformungen der lokalen Jugendbewegung vorgestellt.1 Die Sächsische Jungenschaft findet sich nur in zwei Sätzen wieder;2 wohl, weil damals der große Nachlass dieser bündischen Gruppe noch nicht zugänglich und archivarisch erschlossen war.3 Die Bündische Jugend in der Zeit der Weimarer Republik wird daher in dieser Darstellung fast ausschließlich am Beispiel von Pfadfindergruppen behandelt, die allerdings schon zahlenmäßig in Sachsen nicht die gleiche Bedeutung hatten wie die Sächsische Jungenschaft. Eine historiografische Annäherung an die Jugendbewegung in Sachsen anhand der Jungenschaftler erscheint demnach im Vergleich zu den übrigen existenten Gruppierungen schon allein aufgrund der Mitgliederzahlen sinnvoll. Darüber hinaus beinhaltet die Betrachtung der Bündischen Jugend als Teilkultur der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit Aspekte der Mentalitäts - und Alltagsgeschichte und beleuchtet ihre spezifisch generationellen Handlungsoptionen. Dabei ist es von besonderem Interesse, sich das Selbstbild der Jungenschaftler und deren Einstellung gegenüber den Nationalsozialisten zu vergegenwärtigen. Diese ist von innerer Zerrissenheit angesichts der damaligen politischen Verhältnisse geprägt, die sich in ihren Versuchen zeigte, sowohl den eigenen Standpunkt gegenüber der Hitlerjugend zu definieren als auch die persönliche Handlungsfähigkeit nach der Machtübernahme der NSDAP zu sichern.
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In Wanderkluft und Uniform. Jugendbewegung in Sachsen. Dresdner Hefte. Hg. vom Dresdner Geschichtsverein e. V., Heft 90/2007. Vgl. ebd., S. 40. Nachlass der Sächsischen Jungenschaft, Archiv der deutschen Jugendbewegung ( AdJB), Bestand N 84.
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Friederike Hövelmans
Herkunft und Organisation
Die Ursprünge der deutschen Jugendbewegung liegen im Kaiserreich. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert breitete sich eine neue Lebenseinstellung in der Jugend aus, die geprägt war von der Rebellion gegen die bürgerlichen Konventionen der Zeit : Die jungen Leute strebten nach „Wahrhaftigkeit“ und entwickelten den Wunsch nach Selbstbestimmung über ihr persönliches Leben. Es zog sie hinaus in die Natur zu Wanderungen mit Lagerfeuer - Romantik. In ihren Druckschriften und der Malerei wurde die Kunst des Jugendstils begeistert aufgegriffen. Die Rückorientierung zur Natur wie auch die Identifikationsmöglichkeiten über eine Gruppe von Gleichgesinnten bedeuteten für die Jugendlichen Fluchten aus dem reglementierten Alltag des Kaiserreiches und des Ersten Weltkriegs und wurden in den sogenannten Wander vogelgruppen kreativ ausgelebt.4 Durch die Wirren des Krieges sowie im Zuge der Entstehung der Weimarer Republik setzte innerhalb der Jugendbewegung eine gegenläufige Entwicklung ein. Gesellschaftliches Chaos statt starrer Konventionen ließ in vielen Jugendlichen den Wunsch nach größerer Organisation und stärkerem Halt in der Gruppe entstehen. Diese Zeit der internen Umstrukturierungen, der Bündnisse in überregionalen Zusammenschlüssen und immer wieder neuer Allianzen, gab der Bündischen Jugend ihren Namen.5 Der Gedanke an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der Welt der Erwachsenen lebte aber fort : Für die späteren Auseinandersetzungen der bündischen Jugendlichen mit der Hitlerjugend sollte es ein entscheidender Aspekt bleiben. In dieser Zeit der jungen Weimarer Republik gründete sich die Sächsische Jungenschaft. Sie konstituierte sich 1919/20 aus dem Sächsischen Wandervogel e. V. heraus, gab sich einen neuen Namen, trennte sich von den weiblichen Mitgliedern und formierte sich so zu einer rein männlichen Gemeinschaft.6 Im Jahrbuch der Sächsischen Jugend von 1926 wird eine Mitgliederzahl von 1152 Personen genannt, die sich in 64 Ortsgruppen zusammengeschlossen hatten und zwischen 12 und 30 Jahren alt waren.7 Dies ist die konkreteste überlieferte Gesamtzahl. Die einzelnen Gruppenstärken vor Ort variierten indes sehr stark. Es sind Karteikarten mit Mitgliederzahlen zwischen 6 und 29 Jungen überliefert, wobei die Mehrheit der Gruppen aus 10–15 Jugendlichen bestand.8
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Vgl. Barbara Stambolis, Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach / Ts. 2003, S. 21 ff. Vgl. ebd, S. 113 ff. Hermann Kügler, Lebensformen und Gestalt der Sächsischen Jungenschaft der Deutschen Freischar. In : Rudolf Kneip / Paul Köhler / Hermann Kügler / Ludwig Liebs / Fredo Triemer, Jugend zwischen den Kriegen. Eine Sammlung von Aussagen und Dokumenten, Heidenheim 1967. Vgl. Jahrbuch der Sächsischen Jugend. Hg. vom Landesausschuß Sachsen der deutschen Jugendverbände, Dresden 1926, S. 54. Mitgliederkarteikarten ( AdJB, A22/12).
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Neben der parteipolitisch orientierten Arbeiterjugend und unpolitischen, kirchlich organisierten Gruppen haben wir es hier mit der größten Gruppe der bürgerlichen Jugend innerhalb Sachsens zu tun. Die Auswahl der Mitglieder erfolgte ausschließlich über Anwerbungen aus der Gruppe heraus; d. h. potentielle Kandidaten wurden angesprochen und zuerst probeweise aufgenommen. Man kann bei den Ortsgruppen also von gewachsenen Freundeskreisen sprechen. Zusätzlich entstand aber auch das elitäre Gefühl der Auslese, ganz im Gegensatz zum späteren Anspruch der Hitlerjugend als allumfassende Staatsjugend und Massenbewegung. In den ersten Jahren ihrer Bundesgeschichte schlossen sich die Jungenschaftler erst mit anderen Gruppen zu einem Jungenbund und später dann zu einem reichsweiten, gemischtgeschlechtlichen Bund zusammen, in dem sich sowohl Wandervogelgruppen als auch Pfadfinder vereinten – der Deutschen Freischar, wie sie sich ab 1926 bis zu ihrer Zwangsauflösung 1933 nannte. Je nach Quelle und Zeitpunkt ist von 10–12 000 Mitgliedern in ganz Deutschland die Rede : eine parteiungebundene, von jeglicher übergeordneter Vereinnahmung freie und deswegen beeindruckende Organisationsstruktur einerseits, aber auch eine nach wie vor bürgerlich geprägte, elitäre Veranstaltung andererseits.9 Sowohl der Gau Sachsen als auch die Deutsche Freischar waren föderal organisiert, was für die individuellen Handlungsoptionen der einzelnen Untergliederungen – auch in politischen Fragen – ein hohes Maß an Eigenständigkeit bedeutete. Diese Tatsache ist auch für das offizielle Ende der unabhängigen Jugendbewegung und das Schicksal ihrer Mitglieder relevant. Im April 1933 schlossen sich die Deutsche Freischar und viele ähnlich gesinnte Bünde zum Großdeutschen Bund zusammen. Diese Abwehrstrategie gegen die Hitlerjugend führte jedoch nicht mehr zum Erfolg. Denn durch die Einsetzung Baldur von Schirachs als Reichsjugendführer der NSDAP und das Verbot des Großdeutschen Bundes am 17. Juni 1933 wie auch anderer, nicht parteikonformer Jugendbünde ließ sich die Gleichschaltung der Jugendarbeit nicht mehr durch das Engagement der Jugendlichen selbst aufhalten.10 Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse sorgten die individuellen Biographien für eine sehr unterschiedliche Herangehensweise und große Varianz an Handlungsoptionen der jungen Männer. Die verschiedenen Versuche, sich ihren Platz in den neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen, beeinflussten auch die weiteren Lebenswege der Jungenschaftler und führten sie in unterschiedliche Richtungen.
9 10 000 Mitglieder bei der Gründung. Vgl. Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Hg. i. A. des ‚Gemeinschaftswerkes Archiv und Dokumentation der Jugendbewegung‘ von Werner Kindt, Düsseldorf 1974, S. 1051. Ende 1929 waren es 12 000 Mitglieder, vgl. Rudolf Kneip, Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919–1938, Frankfurt a. M. 1974, S. 76. 10 Vgl. Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich. Die Hitlerjugend und ihre Gegner, 3. Auf lage Köln 2008, S. 20–26.
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Friederike Hövelmans
Bündisches Selbstverständnis
Für die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Jugendlichen und jungen Männer ist es unerlässlich, sich die Entstehung des jungenschaftlichen Selbstverständnisses und ihrer Aktivitäten in ihrer chronologischen Entwicklung vor Augen zu führen. Im ersten Elternbrief der Sächsischen Jungenschaft von 1923, in dem die Eltern der Jungen über die Intentionen und Aktivitäten der Gruppe informiert wurden, erklärt sich die Jungenschaftsführung folgendermaßen : Sie diene keinen Erziehungszwecken im klassischen Sinne, sondern sei „ein Stück Leben selbst“, entstanden aus dem Verlangen der Jungen nach der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, „erzogen“ durch das enge Zusammensein und das Vorbild der Gefährten. Gehorchen, aber auch selbständiges Denken und Handeln sollten gefördert werden.11 Dieser Elternbrief wurde nahezu identisch auch noch 1928 und 1930 in der gesamten Deutschen Freischar als Informationsmaterial an die Eltern herausgegeben – inhaltlich änderte sich in diesen Neuauflagen nichts.12 Wichtig für die Jungen war also das Abenteuer, die Selbsterfahrung und Selbstfindung, wie wir sie heute jedem Pubertierenden als Entwicklungsschritt zugestehen. Im Gruppenerlebnis formten die Jungen und jungen Männer ihr Selbstbewusstsein und bildeten ihre Interessen aus. Sie gingen auf Fahrten in ganz Europa und führten ab 1928 den Landdienst durch, bei dem die Jungen Erntehilfe leisteten und den Alltag in der Landwirtschaft erlebten. Die Älteren sammelten weitere Erfahrungen in Austauschprogrammen im Ausland, allen voran in Frankreich. Außerdem engagierten sie sich in der studentischen Selbstverwaltung an den Hochschulen und in sozialpolitischen Projekten.13 Einen wichtigen Grundsatz betonten die Jungenschaftler auch noch im Alter in ihren Veröffentlichungen und Gesprächen des sogenannten Älterenfreundeskreises : ihren unpolitischen Standpunkt und Unwillen, sich jeglicher politischer Partei unterzuordnen.14
11
Vgl. Erster Elternbrief der Sächsischen Jungenschaft, in einer stillen Stunde zu lesen, 1923 ( AdJB, A 84/2). 12 Vgl. Erster Elternbrief der Deutschen Freischar. Bund der Wandervögel und Pfadfinder, 1928 ( IFZ, ED 423, Band 47); Deutsche Freischar, Elternbrief 1930, ebd. 13 Die Geschichte der Sächsischen Jungenschaft ist rekonstruierbar durch den Nachlass (AdJB, N84). Selbstzeugnisse : Rudolf Kneip / Paul Köhler / Herman Kügler, Jugend zwischen den Kriegen, Heidenheim 1967; Rudolf Kneip, Wandervogel – Bündische Jugend 1905–1943, Frankfurt a. M. 1976. 14 „Niemand wird bestreiten können, daß die Bündische Jugend ihnen allen gegenüber bis zur Auflösung im Jahre 1933 ihre unabhängige, ‚souveräne‘ Haltung bewahrt hat. Es stand für sie außer Frage, wenn es auch immer wieder in Gesprächen überprüft wurde, dass sie gegen ihr innerstes Wesen handeln würde, wenn sie sich als Bund, als Gau, einer einzelnen Partei, sei es welcher auch immer, anschließen und unterordnen würde.“ Ludwig Liebs, Bündische Jugend und politische Parteien – Verbot und Auf lösung der Bünde im Jahre 1933. In : Kneip u. a., Jugend zwischen den Kriegen, S. 154.
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In einem in England veröffentlichten Aufsatz von Helmut James Graf von Moltke über die deutsche Jugend 1919–1929 bekommen wir diese Auffassung von einem außenstehenden Zeitgenossen bestätigt : „The youth of Germany are grouped in various unions and societies, some political, some unpolitical. The political groups are more or less appandages to the political parties. There is no organized political movement of German youth works. Indeed, the groups unconnected with the parties have more or less deliberately kept themselves free from political programs and activities. It would be grave for Germany’s future, if this section of Germany’s new generation were to leave politics to the offspring of existing parties. The truth is that these ‚unpolitical‘ youth have turned aside only from present - day politics; they are nevertheless deeply interested in all the problems of public and social life, seriously desiring to be prepared, when responsibility falls upon them, to work upon lines of their own.“15
Moltke selbst war nicht bündisch organisiert, stand aber in seiner Heimat im Kontakt mit der Schlesischen Jungenschaft und lernte dort auch die befreundeten Sachsen kennen.16 Er unterschied zwischen der Parteijugend und der unpolitischen Jugend und erklärte, dass diese unpolitische Haltung eine bewusste Entscheidung darstellte. Einer der Gründe dafür läge in den politisch unberechenbaren Verhältnissen der Weimarer Politik. Die jungen Männer wollten sich von „der Politik“, wie sie sie verstanden, fernhalten und dennoch sozialpolitische Verantwortung übernehmen. Diese Differenzierung und Definition von Politik als parteipolitisches Ränkeschmieden und rein parlamentarisches Handeln, auf den Einfluss und die Führung des Staatswesens bezogen, ist im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr vorhanden, macht aber auf ein Problem aufmerksam, das u. a. für den Umgang der Bündischen mit dem Nationalsozialismus bedeutsam war : Die Verweigerungshaltung gegenüber dieser Politik machte die jungen Menschen angreifbar für jede Art politischer Instrumentalisierung.
3.
Jungenschaftler und Nationalsozialisten
Die Jungenschaftler hatten in den 1920er Jahren nicht mehr Kontakt zu der sich formierenden NS - Bewegung als andere Jugendliche der Zeit auch. Nur die Älteren kamen – z. B. in den Studentenschaften – mit den neuen politischen Kräften in Berührung und erkannten die Instrumentalisierung ihrer Bewegung. In einem
15 Vgl. Helmuth James von Moltke, Youth looks In, and Out. In : The New Germany 1919–1929, Survey Associates, February 1929 ( IFZ, ED 423 [ Sammlung Helmut Neumann ], Band 93). 16 Helmuth James von Moltke war Mitinitiator der ‚Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten‘, die von der Schlesischen Jungmannschaft und der Unterstützung von Prof. Eugen Rosenstock - Huessy im Boberhaus ( Löwenberg / Schlesien ) durchgeführt wurden. Vgl. IFZ, ED 423, Band 6. Jochen Köhler, Helmuth James von Moltke. Geschichte einer Kindheit und Jugend, Reinbek 2008, S. 201–229.
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Aufsatz resümiert Hermann Kügler, der Mitbegründer und damalige Gauführer der Sächsischen Jungenschaft : Bündischer Lebensstil und Handlungsmuster hätten sich verselbständigt und wären Gemeingut der gesamten Jugend geworden. Sowohl parteipolitisch organisierte Jugendverbände als auch religiös orientierte Jugendgruppen hätten Verhaltensmuster der bündischen Jugend kopiert, ohne deren ideologische Idee der Selbsterziehung zu übernehmen. Verschiedene Bünde versuchten sich durch eine immer intensivere Steigerung der eigenen Bundesformen, militärisch anmutende Gebräuche und größtmögliche Risiken „auf Fahrt“ weiter von anderen Jugendgruppen abzugrenzen. Außerdem würden politische Verbände sich der bündischen Erscheinungsformen bedienen und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren.17 Die SA wurde von Kügler zu diesem Zeitpunkt als eine von verschiedenen Organisationen innerhalb der NSDAP wahrgenommen, und ihre explizite Nennung in diesem Artikel zeigt auch, dass die Jungenschaftler die Ausweitung der NS - Bewegung in Sachsen sehr wohl zur Kenntnis nahmen.18 Im weiteren Verlauf des Aufsatzes zeigte der Autor außerdem mit einem alternativen Programm den Standpunkt der eigenen Gruppe auf – die Weiterentwicklung der eigenen Identität ohne die von ihm angeprangerte Radikalisierung. Eine Politisierung der eigenen Arbeit kam für die Jungenschaftler also nicht in Frage. Diese Einstellung stellte einige der bündischen Führer durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 auf eine harte Probe. Welche Auswirkungen sie auf die Bündische Jugend hatte, ist unter anderem an einem Artikel aus dem Völkischen Beobachter vom 8. März 1933 zu erkennen, der als Offener Brief der NSDAP erschien. Unterzeichnet ist diese Erklärung von führenden Köpfen der Deutschen Freischar, u. a. von Hermann Kügler und einem seiner besten Freunde, Hans Dehmel, einem Mitbegründer der Schlesischen Jungenschaft. Bemerkenswert ist, dass die Jungenschaftler sich in dem Brief nicht aus politischer Überzeugung in die NSDAP eingliedern lassen, sondern sich in der Pflicht verstanden wissen wollten, die politische Meinung der Mehrheit des Volkes anzuerkennen. Gleichzeitig schrieben sie, dass sie die neue Situation nutzen wollten, um ihre Idee der Jungmannschaft,19 die bis zu diesem Zeitpunkt auf einen relativ übersichtlich Kreis beschränkt war, auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten. Die Zweideutigkeit dieses Schreibens liegt in der paradox erscheinenden Aussage, über eine Annäherung an das NS - System gleichzeitig die erarbeitete Eigenständigkeit erhalten zu wollen. Der Völkische Beobach17
Vgl. Hermann Kügler, Landdienst – eine neue Lebensform bündischer Jugend. Sonderdruck Blätter des Deutschen Roten Kreuzes. Wohlfahrt und Sozialhygiene, Heft 11, Berlin 1932 ( Privatsammlung Dorte Kügler ). 18 Zur Entwicklung und Machtergreifung der NSDAP in Sachsen vgl. Andreas Wagner, ‚Machtergreifung‘ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004. 19 Die Jungmannschaft als Weiterführung des jungenschaftlichen Gedankens im Leben der jungen Männer, die der Jungenschaft entwachsen waren.
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ter verkündete am 8. März 1933 : „Sie kommen zu uns ! Wir erhalten Kenntnis von folgendem Brief : ‚Überzeugt von der Bedeutung der nationalsozialistischen Bewegung für den Aufbau des deutschen Volksstaates empfinden wir es als unsere Pflicht, uns nunmehr ihrer Parteiorganisation einzuordnen. Bisher haben wir als Führer der ‚Deutschen Freischar‘ und der ‚Schlesischen Jungmannschaft‘ die parteipolitische Bindung abgelehnt.‘“ Die bündischen Unterzeichner dieses Briefes fuhren mit einer Aufzählung ihrer zahlreichen Aktivitäten fort, um ihr Engagement für die ihnen anvertrauten Jugendlichen klarzumachen, und schlossen mit dem Aufruf für einen Zusammenschluss der bündischen Jugend in einer nicht näher definierten, einheitlichen Organisation : „Wir haben neue Formen der jungmannschaftlichen Erziehung mit jungen Bauern, Arbeitern und Studenten durchdacht und verwirklicht. Jetzt gibt uns die Entscheidung unseres Volkes für eine Regierung unter nationalsozialistischer Führung die Gewissheit, dass die Zeit für die Verwirklichung der einigen Jungmannschaft eines straff geführten deutschen Volkes gekommen ist. Wir verbinden damit die Hoffnung, dass die deutsche bündische Jugend sich nach unserem Beispiel dem Gebot der Stunde nicht versagt.“20 In dieser Aussage steckte also kein unterwürfiges Resignieren, wie es der Ausspruch „Sie kommen zu uns !“, mit dem der Völkische Beobachter einleitete, gerne Glauben machen wollte, sondern der Versuch, einen eigenen Standpunkt festzustecken und die programmatische Unabhängigkeit innerhalb der Gruppe zu erhalten. Die jungen Männer schienen davon überzeugt zu sein, dies im Rahmen der neuen Machtverhältnisse wenigsten versuchen zu können. Wie kam es zu dieser Erklärung ? Heute vermögen nur noch Erinnerungsschriften der Beteiligten und Spuren in NS - Unterlagen davon zu berichten. In einer Abhandlung der involvierten Schlesier finden sich Ausführungen darüber, dass sie die Erklärung als Provokation und Standortbestimmung ihrer eigenen Aktivitäten im neuen Machtgefüge verstanden wissen wollten. Hausdurchsuchungen, verweigerte Parteimitgliedschaften und Entlassungen, die der Veröffentlichung folgten, unterstützen ihre Argumentation. Die nationalsozialistischen Behörden in Schlesien und Berlin scheinen diese Herausforderung als solche erkannt zu haben.21 Zugleich – und dies verdeutlicht die Gemengelage, in der sich die Jungenschaftler befanden – wollten sie nicht nur provozieren und sich abgrenzen, sondern von innen, aus der HJ und den Organen der NSDAP heraus, für ihre Ideale eintreten – so jedenfalls argumentierten die nun älteren Herren nach 1945. Aus heutiger Perspektive beinhaltet diese Doppelstrategie einen schwer nachvollziehbareren Widerspruch; für die Jungenschaftler aber war sie der Versuch, ihre
20 Offener Brief an die NSDAP, 8. 3. 1933, veröffentlicht im Völkischen Beobachter am 14. 3. 1933 ( IFZ, ED 423, Band 21). 21 Vgl. Hans Raupach, Warum und unter welchen Umständen erklärten fünf bekannte Mitglieder der Deutschen Freischar am 8. 3. 1933 ihren Beitritt zur NSDAP ? Söcking 1979 ( IFZ, ED 423, Band 89).
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eigene Identität, ihr Werk und ihre Vorstellungen von der Jungenschaft zu retten.22 Bemerkenswert ist zudem, dass Hermann Kügler, der den offiziellen offenen Brief unterzeichnete, in der gedruckten Version des Völkischen Beobachters nicht aufgeführt wird. Eine Begründung dafür, dass sein Name nicht abgedruckt wurde, lässt sich auf der Grundlage der Aktenüberlieferung nicht feststellen. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP ist auf den 1. Mai 1933 ausgestellt. Alf Lüdtke bezeichnet diese Provokation, dieses Beharren auf den eigenen Standpunkt und das Weiterführen der eigenen Überzeugung als „Eigen - Sinn“.23 In diesem Fall ist es wohl Eigen - Sinn im Sinne der Distanz gegenüber herrschaftlichen Zumutungen, allerdings ohne weiterführende Dynamik. Das individuelle Verhalten folgt damit keiner nachvollziehbaren entweder - oder - Logik. Hierauf verweist auch ein anderes offizielles Schriftstück, das einen weiteren Hinweis auf das taktierende Verhalten der Jungenschaftler enthält : Im Flugblatt, das die offizielle Auflösung des Großdeutschen Bundes und damit auch der Sächsischen Jungenschaft am 17. Juni 1933 bekanntgab, nutzten die Gruppenführer ein Zitat des bekannten NS - Pädagogen Ernst Krieck als Einleitung dieser letzten offiziellen Mitteilung an ihre Mitglieder. Krieck attestierte der Bündischen Jugend in seinem Buch „Nationalpolitische Erziehung“ von 1932 ihre Existenzberechtigung, da sie „in der Mitte des völkischen Geschehens“ und nicht mehr „romantisch abseits“ stünde.24 Dieser taktische Schritt, eine Legitimation der eigenen Ideale aus den Äußerungen des NS - Gewährsmann heraus zu formulieren, war allerdings ein Fehler der Jungenschaftler. Denn die politischen Ambitionen Kriecks standen in starkem Widerspruch zu den Ansprüchen der Bündischen Jugend : Krieck, selbst aus dem Arbeitermilieu stammend, stellte sich in seinen Schriften gegen das Bildungsmonopol des Bürgertums. Zudem vertrat er das Ziel, aus der Hitlerjugend mit bündischen Mitteln eine Staatsjugend zu machen. Beide Gedanken widersprachen jeglichem bündischen Verständnis der Selektion und Elite in den eigenen Reihen. Der jungenschaftliche Versuch, auf diesem Wege der vermeintlich unumgänglichen Annäherung zugleich Distanz zu schaffen, musste scheitern – setzten sie sich doch, durch den Hinweis auf Krieck, gleichzeitig in eine Kontinuitätslinie mit der Hitlerjugend. Sie wurden also Opfer ihres eigenen Selbstbewusstseins. 22 „Wenn ich daran denke, wie Du bei der Verteilung der Rollen im Frühjahr 33 mir sagtest, ich solle am besten eine Uniform anziehen, um nach oben durchzustoßen und soviel Einfluss wie nur möglich zu erlangen, ist mir rückschauend klar, welche jugendliche Vermessenheit uns damals geleitet hat zu versuchen, in diesem brodelnden Hexenkessel Ansatzpunkte für eine vernünftige europäische Politik und für eine auf dem Gedankengut der Deutschen Freischar aufbauende Jugenderziehung zu schaffen. Du hast es im Arbeitsdienst, ich in der Außenpolitik probiert.“ Walter Greiff / Rudolf Jentsch / Hans Richter ( Hg.), Gespräch und Aktion in Gruppe und Gesellschaft 1919– 1969. Freundesgabe für Hans Dehmel, Frankfurt a. M. 1970, S. 305. 23 Alf Lüdtke, Eigen - Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse, Hamburg 1993, S. 9–21. 24 Flugblatt „Großdeutscher Bund Sachsen. Deutsche Freischar – Freischar junger Nation“ ( Privatsammlung Dorte Kügler ).
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Diesen Zwiespalt zeichnen auch die verschiedenen Erinnerungsberichte der ehemaligen Jungenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg einhellig nach : Im Frühjahr und Sommer 1933 seien sie sich auf der einen Seite des Sieges der Nationalsozialisten bewusst gewesen, ein Kampf erschien daher unmöglich. Auf der anderen Seite wollte man sich die Selbständigkeit bewahren und eine „freie Auseinandersetzung mit den Ideologien der Gewalt [...] fortsetzen“.25 Dieser Wunsch nach dem Unmöglichen – die moralische Standhaftigkeit bei gleichzeitiger Anpassung – findet sich in vielen Erinnerungen ehemaliger Jungenschaftler und anderer Bündischer.26
4.
Jungenschaftler in der Hitlerjugend
Beachtenswert ist neben allen politischen Ambitionen der jungen Erwachsenen allerdings ein weiteres Argument : Die Älteren entließen die Jüngeren in Richtung HJ aus dem Bund, da sie keinen „Kinderkreuzzug“ starten wollten, nachdem die „wirklichen politischen Mächte, Parteien, Gewerkschaften usw. bereits überwältigt waren“, wie es Hans Raupach, einer der fünf Unterzeichner des offenen Briefes, formulierte.27 Denn bei den angeführten 10–12 000 Freischar - Mitgliedern waren nur wenige hundert schon junge Erwachsene. Bei den Sächsischen Jungenschaftlern war es nur eine überschaubare „Hand voll“. Den Jugendlichen, und damit der großen Mehrheit der Freischar, muss schlicht auch kindliches Unvermögen in dieser brisanten politischen Situation eingeräumt werden. Raupachs Erläuterung kommt dementsprechend eine höhere Bedeutung als bloß die einer schlichten Selbstrechtfertigung zu. Es gab allerdings auch Jungenschaftler, die schon früher, vor dem Verbot der Bündischen Jugend, in die Hitlerjugend eingetreten waren.28 In der Aufbauphase der HJ waren diese in der Jugendarbeit erfahrenen Jugendlichen gerne gesehen, eine Kollision der Interessen und Vorstellungen war allerdings unvermeidlich : Es ging dabei um die inhaltliche Ausgestaltung der Hitlerjugend, aber auch um interne Machtkämpfe, die sich nach der „Machtergreifung“ sowie dem Verbot der Jugendbewegung und weiteren integrationswilligen Bündischen wei-
25 Zum Verständnis der Loyalität des Kreises vom 9. 4. 1933 und des Rundbriefs vom 15. 5. 1933 ( IFZ, ED 340 ( Nachlass Fritz Borinski ), Box 2). 26 Vgl. Rudolf Kneip / Ludwig Liebs / Karl - Heinrich Zimmermann, Vom Geheimnis Bündischer Führung. Dokumentarische Gespräche mit Hermann Kügler, Frankfurt a. M. 1980. 27 Hans Raupach, Warum und unter welchen Umständen erklärten fünf bekannte Mitglieder der Deutschen Freischar am 8. 3. 1933 ihren Beitritt zur NSDAP ?, Söcking 1979 (IFZ, ED 423, Band 89). 28 Vgl. Wolfgang Hess, Der Mord an Karl Lämmermann am 1. Juli 1934 in Plauen. Tathergang – Aufklärung – Motive – Täter und Schuldige, Plauen 1993, S. 6 ff.; Kneip, Wandervogel, S. 7 f.
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ter verschärfte. Der Wille zur Autonomie – auch innerhalb der Strukturen der HJ – und das Interesse, ihre internationalen Beziehungen aufrecht zu erhalten und auszubauen, waren beides Gründe für eine gegensätzliche Haltung gegenüber der Parteipolitik. Die HJ wiederum misstraute den sozialpolitischen Aktivitäten der ehemaligen Bündischen genauso wie ihrer Offenheit gegenüber dem Ausland. Ein Einzelschicksal aus Plauen zeigt den Umgang der Nationalsozialisten mit einem, aus ihrer Sicht problematischen HJ - Mitglied : Karl Lämmermann, Jahrgang 1914, war erst Jungenschaftler und dann HJ - Führer in Plauen. Dort, in der Geburtsstadt der Hitlerjugend, tobte schon vor 1933 ein erbitterter Ideologiekrieg zwischen der sogenannten „Stulpenstiefel - Fraktion“ – Anhängern von Gauleiter Martin Mutschmann und am schnellen Machtzuwachs interessierten HJ - Angehörigen – einerseits und den bündisch geprägten HJ - Mitgliedern andererseits. Immer mehr Hitlerjugendangehörige mit bündischem Hintergrund verhinderten den schnellen Machtgewinn des Mutschmann - Lagers auf der Landesebene. Karl Lämmermann personifizierte als ranghöchster bündischer HJ - Führer diese Haltung. Unter seinem Schutz wurde z. B. noch im Sommer 1934 eine bündische Auslandsfahrt durchgeführt – gegen den Willen seiner politischen Kontrahenten. Das hatte Konsequenzen : Zusammen mit anderen Bündischen wurde er in der „Nacht der langen Messer“, heute bekannt als „Röhm - Putsch“, Ziel der Übergriffe durch die Gestapo. Er wurde bei dem Versuch, inhaftierten Freunden beizustehen, selber festgehalten und überlebte die Gestapohaft nicht. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt.29
5.
Bedrohung : Internationales Denken
Weshalb die Verbindungen der Bündischen ins Ausland – sei es nun durch ihre Fahrten oder durch ihre bei Austauschprogrammen geschlossenen Kontakte und Freundschaften – für die Nationalsozialisten ein solches Bedrohungspotential enthielten, wird besser verständlich, wenn man sich die daraus resultierenden Gedanken und Pläne der Jungenschaftler genauer ansieht : Hermann Kügler, durch das Fahrtentum, Auslandsstudien und Austausche weit in der Welt herumgekommen, schrieb 1928 in einem Brief an den damaligen preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker, wie er sich eine Verbesserung der deutschfranzösischen Beziehungen vorstellen könnte und entwarf einen klaren Plan für eine neu einzurichtende Organisationsstelle. Er wollte die kulturellen außenpolitischen Beziehungen zu Frankreich korrigieren, indem kriegsbedingt vorhandene Ressentiments zerstreut und Antipathien gegen Deutschland bekämpft werden sollten. Seiner Meinung nach gehörte dazu auch die „Erziehung der Deutschen selbst“. Es sei ein „innerlich gute[ s ] Verhältnis zu den Nachbar völkern“ wichtig – in Abgrenzung zu den Beziehungen auf Staatsebene, die 29 Vgl. ebd., S. 241 f.
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Sache des Auswärtigen Amtes blieben. Als Lösungsvorschläge nannte er Studentenfahrten und Schüler - Austauschprogramme.30 Damit schöpfte er aus seinem eigenen bündischen Erfahrungsschatz. Gleichzeitig offenbarte er seine Offenheit gegenüber den europäischen Nachbarn und sein Interesse an einer beiderseitigen Annäherung, gerade gegenüber Frankreich – in dieser Zeit keine alltägliche Einstellung. Mit dem Gedanken der „Erziehung der Deutschen selbst“ machte er klar, dass es ihm um ein wirkliches Umdenken und einen Austausch auf beiden Seiten ging. Mit Kultusminister Becker standen die Jungenschaftler aus Sachsen und Schlesien in regelmäßigem Briefwechsel.31 Dieses Schreiben ist also weniger Phantasterei, als es auf den ersten Blick vermutet werden könnte. Einige Jahre später sah die Führung der HJ in dieser Einstellung ihre außenpolitische Indoktrination der Jugend bedroht, denn für Verständnis und Austausch zu werben war bekanntlich kein politisches Ziel der NSDAP. Die Jungenschaftler schafften es dennoch, unter dem Deckmantel der HJ bis 1935 noch mehrere bündische Fahrten zu organisieren, und auch die älteren Mitglieder engagierten sich individuell : Mehrere Sächsische Jungenschaftler waren bereits seit Ende der 1920er Jahre im Aufbau und bei der Betreuung des Freiwilligen Arbeitsdienstes aktiv und blieben das auch nach dem Machtwechsel und der Umstrukturierung der Freiwilligenorganisation zum Reichsarbeitsdienst.32 Die Deutsche Studentenschaft wurde zu einem großen Teil von Bündischen organisiert, das Grenz und Auslandsamt wurde von den Sächsischen Jungenschaftlern geleitet.33 Ein Jungenschaftler der ersten Stunde war mittlerweile Mitarbeiter der Deutschen Gesandtschaft in Agram, dem heutigen Zagreb, und beeinflusste dort die Koordination der HJ - Fahrten in das ehemalige Jugoslawien – mit der bündischen Achtung vor den dortigen Gegebenheiten.34 Hermann Kügler verschlug es wegen seiner außenpolitischen Erfahrungen über Umwege in das Büro Ribbentrop35, in dem er versuchte, einen englisch deutschen Jugendaustausch zu organisieren. Zu vorbereitetenden Gesprächen und einer Englandreise 1935 kam es noch, bevor er aufgrund seiner „bündi-
30 Brief von Hermann Kügler an Carl Heinrich Becker, Caen 16. 11. 1928 ( GStA Preußischer Kulturbesitz, VI. HA [ Nachlaß C. H. Becker ], Nr. 5945). 31 Siehe Nachlass C.H. Becker ( GStA Preußischer Kulturbesitz, VI. HA ). 32 Vgl. Helmuth Croon, Hans Dehmel im Reichskommisariat für den Freiwilligen Arbeitsdienst. In : Walter Greiff / Rudolf Jentsch / Hans Richter, Gespräch und Aktion in Gruppe und Gesellschaft 1919–1969. Freundesgabe für Hans Dehmel, Frankfurt a. M. 1970, S. 148–155. 33 Vgl. Rundschreiben der Deutschen Studentenschaft Grenzlandamt, C15–D18 1933– 34, 12.1.–1. 2. 1934 ( BA, R 129/ 1020); C1–C2 1934, 11. 5. 1934 ( BA, R 129/1183). 34 Vgl. Korrespondenz zwischen dem Deutschen Konsulat Zagreb und der NSDAP Reichsjugendführung, März / April 1936 ( PA AA, R 60.078). 35 Joachim von Ribbentrop war von 1934–35 Kopf des Büro Ribbentrop, ab Juni 1935 stand er als „Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter des Deutschen Reiches“ der Dienststelle Ribbentrop vor, die eine paradiplomatische Institution des NS Regimes für die informelle Außenpolitik parallel zum Auswärtigen Amt darstellte.
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schen Umtriebe“ Schwierigkeiten bekam.36 An diesen Beispielen und Versuchen des Beharrens auf der persönlichen Einstellung erkennt man erneut den eigensinnigen Charakter der Bündischen.
6.
Verschwimmende Abgrenzung
Doch auf welch dünnem Eis sich dieser Eigen - Sinn bewegte, zeigt ein NSDAP Bericht aus Polen von 1934. Einer von ehemaligen Sächsischen Jungenschaftlern unter dem Deckmantel der Deutschen Studentenschaft und der Hitlerjugend durchgeführten Polenfahrt folgte eine Bewertung der Reise durch ein Parteimitglied vor Ort. Im Absatz über den Eindruck der Gruppe heißt es : „Disziplin und Haltung ausgezeichnet. Kameradschaft innerhalb der Gruppe ebenso. Schlichtes, heiteres dabei aber sicheres Auftreten. Die gute rassische Zusammensetzung machte auf die Polen einen besonderen Eindruck. Der allgemeine Eindruck in der Öffentlichkeit wirkte daher werbend, [...] Das soldatisch straffe Auftreten ohne militärische Angeberei war richtig getroffen. Die auslandskundige Führung [...] war treffend ausgesucht. Die landeskundige Führung [...] war sachlich notwendig und bewährte sich ausgezeichnet. [...] Die Zusammensetzung aus Studenten, HJ und Jungvolkführern ist auch für Polen richtig.“37
Die Grenzen zwischen der Unterwanderung des Systems und der Selbstintegration verwischen bei solchen Berichten. An den Einzelheiten des Berichtes ist gut zu erkennen, auf welche Aspekte die NSDAP bei ihren Fahrtbeobachtungen Wert legte und diese mit neuen Attributen belegte – bündisches Gedankengut ist nur noch versteckt zu finden : Kameradschaft war die alte bündische Freundschaft, das soldatisch straffe Auftreten hieß vorher ordentliches Benehmen, und die auslandskundige Führung setzte die Routine der Sächsischen Jungenschaftler bei der Beschäftigung mit dem Reiseland voraus. Die Fahrtenführung lag zwar bei vier ehemaligen Bündischen, der Fahrtencharakter war vermutlich im bündischen Sinne, die Fahrtenteilnehmer aber nichtsdestotrotz HJ - Jungs, die auf diesem Wege die Integration in die neue Staatsjugend mit Begeisterung vollzogen. Die Frage, ob die Hoffnung auf ein Weiterwirken der bündischen Einflüsse bei den Jugendlichen auch innerhalb der HJ naiv war, lässt sich demnach nicht pauschal beantworten.
36 Karteikarte mit persönlichen Daten und bisherigem Lebenslauf von Hermann Kügler o. D. ( BArch, ZA VI 3237). 37 Bericht über die erste Polenfahrt einer Gruppe der HJ und der Deutschen Studentenschaft, 30. 7. 1934, Der Vertrauensmann der NSDAP für Kongresspolen ( Privatsammlung Dorte Kügler ).
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Verfolgung
Die Hitlerjugend und auch der gesamte Verwaltungsapparat des NS - Regimes fühlten sich zu dieser Zeit konsequent von der bündischen Kraft der ehemaligen Mitglieder, deren Netzwerk und ihrem Zusammenhalt bedroht, so dass regelmäßig neue Gesetze und Bekanntmachungen erschienen, die jegliche „bündischen Umtriebe“ verhindern sollten. Ehemaligen Bündischen wurde mit Rufmord durch den Vorwurf der Homosexualität gedroht – ein beliebtes Mittel, das auch bei anderen Gegnern angewendet wurde. In internen Berichten wurde zugleich die bündische Vergangenheit der eigenen Mitarbeiter beleuchtet : Über Hermann Kügler und einige andere bündische Kollegen gibt es einen vertraulichen Bericht, der Fakten zusammenträgt und Verbindungen aufzeigt.38 Nach einer Englandfahrt 1935 wurden Kügler und einige bündische Freunde nach eigener Aussage verhaftet und wegen „bündischer Umtriebe“ im Gestapo Hauptquartier in der Prinz - Albrecht - Straße in Berlin inhaftiert. Sie wurden schrittweise entlassen, Kügler unter Hausarrest gestellt, alle verloren ihre Anstellungen und wähnten sich unter ständiger Beobachtung. Den Schritt, 1939 nach Rumänien zu gehen, begründete Kügler neben beruflichen Chancen – er arbeitete dort für die IG Farbenindustrie AG – u. a. mit dem höheren Sicherheitsgefühl im Ausland.39
8.
Fazit
In einem Brief Hermann Küglers an Hans Dehmel aus dem Jahr 1969 findet sich eine interessante Metapher zur Beschreibung der gemeinsamen Aktivitäten in den Jahren ab 1933 : Er erwähnte eine Szene aus dem Disney - Film „Das Dschungelbuch“, in dem der Affe versucht, seinen Palast vor dem Einbruch zu stützen und am Ende nur noch ganz genau den Stein in der Hand hält, der direkt über ihm ist. Kügler reflektierte in seinen Erinnerungen die gemeinsamen Erlebnisse und verglich sie mit der nun aus der Rückschau möglichen Selbstkritik an der Bündischen Jugend. „Siehst Du : so hätten wir die Weimarer Republik stützen sollen. Aber das konnten im Frühjahr 1933 nur Dumme oder Heilige tun. Wir beide gehören weder zu den einen noch zu den anderen. Wir sahen eine Entwicklung kommen, die die alten Formen auf-
38 Dienststelle des Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafters des Deutschen Reiches, ihre Mitarbeiter und politische Auswirkungen. I. [...] II. Die politische Vergangenheit und Haltung der wichtigsten Mitarbeiter und Hauptreferenten der Dienststelle, (1937 ?), S. 22 ff. ( BArch, R58/1069). 39 Vgl. Korrespondenz und Aktennotiz zwischen Kügler und von Abel ( BArch, ZA VI, 3237). Außerdem heißt es in den Erinnerungen der Jungenschaftler, dass Hermann Kügler zusammen mit anderen bündischen Freunden vom OKW in einer geheimen Mission für den Ölschutz in Rumänien eingesetzt wurde. Vgl. Kneip / Liebs / Zimmermann, Vom Geheimnis Bündischer Führung, S. 167–175.
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lösen würde. Wir wussten nicht, was alles noch kommen würde an Schlimmem – wer wusste das damals schon ! Wir haben versucht, mit unserem persönlichen Einsatz Einfluss zu gewinnen, um Lebensraum für unsere Gruppen und Bünde zu retten und unsere Auslandskenntnisse und - freundschaften für eine sinnvolle Politik einzusetzen. Und das bis ins Gefängnis der Gestapo. Dann war es aus : ultra posse nemo obligatur [Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.]. Hinterher sind alle klüger. Die maßlose Überschätzung unserer Möglichkeiten durch unsere Kritiker lässt sie die Realität nicht erkennen. Wir kannten sie auch nur bruchstückhaft, und haben nach unserer Erkenntnis und in unserer bündischen Verantwortung gehandelt.“40
Der Versuch der Sächsischen Jungenschaftler, die Staatsjugend im bündischen Sinne zu beeinflussen, war eine große Fehleinschätzung ihrer Einflussmöglichkeiten im NS - Regime. Selbstüberschätzung, Hochmut bezüglich der eigenen Leistungen und Naivität sind wohl die Gründe. Indes sollte der eigensinnige Charakter der Jungenschaftler und der Mut, dennoch in ihrem individuellen Handlungsrahmen aktiv geworden zu sein, mit dem heutigen Wissen betrachtet und anerkannt werden. Denn selbst ein solches Verhalten war in diesen Tagen selten. Der Traum der Jungenschaftler, sich unabhängig von der Erwachsenenwelt einen eigenen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten, scheiterte am Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten. Dennoch haben sich die heranwachsenden Jugendlichen durch ihre Partizipation in der Jugendbewegung ein Selbstbild angeeignet, das sie zu eigenständig denkenden Erwachsenen werden ließ. Am allumfassenden Machtanspruch und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen zweifelnd, suchten sie nach verschiedenen Wegen, sich einzubringen, um so den Nationalsozialismus – unterschiedlich stark und unterschiedlich konsequent – in seine Schranken zu weisen.
40 Brief von Hermann Kügler an Hans Dehmel „Die Bewältigung unserer Vergangenheit“, 28. 9. 1969 ( IFZ, ED 423, Band 80).
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V. Kontinuitäten und Brüche
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Vom Wachmann zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Täter der frühen sächsischen Konzentrationslager und ihr Wirken für die Staatssicherheit Carina Baganz Die Nationalsozialisten errichteten 1933 zur Inhaftierung und Terrorisierung vor allem der politischen Gegner etwa 100 frühe Konzentrationslager.1 Die meisten dieser Lager existierten lediglich einige Wochen oder Monate. Nach Schließung einzelner Lager wurden die Häftlinge entweder entlassen oder in die verbleibenden Lager überstellt. Das Regime begann sich, nach einer anfänglichen Phase des Terrors, zu etablieren, nachdem die politischen Gegner aus dem Verkehr gezogen waren. Die meisten frühen Lager verschwanden und oftmals auch die Erinnerung an sie. Für Sachsen sind, inklusive der drei Sachsenburger Außenlager Augustusburg, Chemnitz, Dresden - Trachenberge, 23 frühe Konzentrationslager zu verzeichnen.2 Wird die bereits genannte Gesamtzahl von insgesamt etwa 100 im Deutschen Reich zugrunde gelegt, wird deutlich, dass sich ca. ein Viertel aller frühen Lager auf sächsischem Gebiet befand. Das ist viel, bedenkt man, dass der kleine Staat Sachsen mit einer Fläche von 14 993 km² nur etwa drei Prozent der Gesamtfläche des Deutschen Reiches einnahm.3
1.
Wachmannschaften in Konzentrationslagern
Wer waren die Verantwortlichen für den in den sächsischen frühen Konzentrationslagern ausgeübten Terror ? Laut den „Vorläufigen Bestimmungen über die Errichtung und Verwaltung von Konzentrationslagern und Arbeitsdienstlagern“ 1 2 3
Vgl. Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 2 : Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005. Zu den frühen Konzentrationslagern in Sachsen vgl. Carina Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37, Berlin 2005. Baedecker. Sachsen. Handbuch für Reisende. Von Karl Baedecker, Leipzig 1920, S. 1. Zu Beginn des Deutschen Reiches hatte sich an diesen Zahlen nicht viel geändert; vgl. auch Werner Bramke, Sachsens Industriegesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik. In : ders./ Ulrich Heß ( Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Leipzig 1998, S. 27–52.
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Carina Baganz
sollte „die erforderliche Bewachung [...] durch die für die wirtschaftliche Betreuung des Lagers zuständige Behörde der Polizei und nach Befinden Mitgliedern der uniformierten nationalen Verbände im Einvernehmen mit dem zuständigen Vertrauensmann bei der Kreishauptmannschaft bezw. Amtshauptmannschaft [...] übertragen“ werden.4 Sämtliche Wachmannschaften, soweit nicht Polizeibeamte, waren für die Existenzdauer des Lagers als Hilfspolizeibeamte zu verpflichten.5 Damit waren ihnen kurzfristig staatliche Hoheitsaufgaben zugeteilt worden. Überwiegend herrschten SA - Angehörige über die Häftlinge, so in Altenberg, Hainewalde, Hohnstein, Königsbrück, Königstein - Halbestadt, Bautzen - Kupferhammer, Oelsnitz, Pappenheim, Sachsenburg und Struppen. Doch auch die Bewachung durch SS - Angehörige wie in Reichenbach war möglich. In einigen Lagern wie Colditz, Hainichen, Leubsdorf, Plaue, Zschorlau und Zwickau Schloss Osterstein bewachten SA - und SS - Angehörige die Häftlinge entweder gleichzeitig oder nacheinander. Auch die reguläre Polizei wurde in den Lagern eingesetzt. So übernahm in Colditz anfangs die Polizei die Bewachung, die von SA und SS nach zwei Wochen abgelöst wurde. In Zwickau Schloss Osterstein wechselte die Bewachung sogar mehrmals : Zunächst fühlte sich die SS für das Lager zuständig; Mitte März durch Polizisten ersetzt, wurde die Bewachung Anfang April von SA - Mitgliedern übernommen, an deren Stelle Mitte April erneut SS - Angehörige traten.6 Der größte Teil der frühen Konzentrationslager lag in den Händen der SA, die nach den Worten ihres Stabschefs Ernst Röhm, „den Willens - und Ideenträger der nationalsozialistischen Revolution“ darstellte.7 Nach dem sogenannten Röhm - Putsch 1934 traten die Mitglieder der SA nur noch selten in Erscheinung. Die Aufgaben des Wachpersonals in den zu diesem Zeitpunkt verbleibenden zwei sächsischen Lagern Hohnstein und Sachsenburg übernahmen nun ausschließlich SS - Angehörige. Nach Schließung dieser beiden Lager im August 1934 und September 1937 existierte in Sachsen zunächst kein Konzentrationslager mehr. Erst die Ausweitung des KZAußenlagersystems ab 1942 brachte es mit sich, dass wieder Konzentrationslager in Form von Außenlagern in Sachsen eingerichtet wurden.8 Das SED - Regime rühmte sich damit, ehemalige Nationalsozialisten nach 1945 konsequent verfolgt und ihnen den Prozess gemacht zu haben. Doch trifft das wirklich so pauschal zu ? Hing nicht der Umgang mit ehemaligen NS - Verbrechern eher davon ab, ob an ihnen ein geheimdienstliches Interesse bestand? In der „antifaschistischen DDR“, die Westdeutschland den „Staat der Täter“ 4 5 6 7 8
Vorläufige Bestimmungen über die Errichtung und Verwaltung von Konzentrationslagern und Arbeitsdienstlagern in der Fassung der Verfügung des Landeskriminalamtes vom 5. August 1933 ( SächsHStAD, AH Flöha, Nr. 2392, Bl. 4, RS ). Ebd., Bl. 1. Franz Thies, Der Prozess Schloß Osterstein, Zwickau 1948, S. 7 ( Stadtarchiv Zwickau, I F 772). Hans Wagner, Taschenwörterbuch des Nationalsozialismus, Leipzig o. J., Sp. 233. Dabei handelte es sich vor allem um Außenlager des KZ Flossenbürg, vgl. Wolfgang Benz / Barbara Distel ( Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4, Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006.
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Vom Wachmann zum Inoffiziellen Mitarbeiter
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nannte, waren einige ehemalige Nationalsozialisten als Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit tätig. Dass sich dies auch für ehemalige KZ - Wachmänner nachweisen lässt, soll am Beispiel des frühen Lagers Burg Hohnstein in der Sächsischen Schweiz gezeigt werden.
2.
Das Wachpersonal im KZ Hohnstein
Am 8. März 1933 besetzten SA - Angehörige die zu diesem Zeitpunkt als Jugendherberge dienende Burg, und richteten diese zu einem Konzentrationslager her. Insgesamt waren dort etwa 5 600 Häftlinge, darunter 109 Frauen und ca. 400 Kinder und Jugendliche, inhaftiert. Während der Existenz des Lagers vom März 1933 bis August 1934 waren Angehörige der Dresdner SA - Stürme 5/100, 4/100, 25/100, 24/100, 23/100, 22/100, 16/100, 15/100, 14/100, 13/100 und der Pirnaer SA - Sturm 177 als Wacheinheiten eingesetzt.9 Die Gründe für einen Wechsel konnten unterschiedlich sein. So musste die Zahl der Bewacher den Schutzhäftlingen angepasst werden, was entweder eine Aufstockung oder einen Abbau der Wachmannschaften zur Folge hatte. Doch wie der nachfolgende Fall beweist, konnten auch andere Gründe auslösend sein : Im Juli 1933 wurde der SA - Sturm 25/100 abgelöst, „weil er den Anschauungen der Lagerleitung über Behandlung der Häftlinge nicht entsprach, er war ihr offenbar nicht scharf genug“.10 Selbst einzelne Wachleute, die sich den Häftlingen gegenüber humaner verhielten, wurden abgesetzt, doch nicht, ohne in einigen Fällen vorher selbst in den Bunker geworfen und misshandelt zu werden.11 Die meisten dieser Stürme waren sogenannte Erwerbslosenstürme : Durch den Eintritt in die SA erhofften sich die zum größten Teil arbeitslosen Männer eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Die Struktur der Wachmannschaften soll exemplarisch an dem SA - Sturm 14/100 gezeigt werden. Laut einer Aufstellung vom 20. November 1933 waren zu dieser Zeit 98 SA - Angehörige dieses in vier Wachtrupps unterteilten Sturmes als Wachmänner in Hohnstein eingesetzt.12 Ihr Durchschnittsalter lag bei etwa 23 Jahren, wobei es starke Abweichungen nach unten und oben gab. So war der Jüngste 1513, der Älteste 60 Jahre alt. Die Männer gehörten den verschiedensten Berufsgruppen an : Heizer, Markthelfer, Schlosser, Maurer, Tischler, Maschinenbauer, Maler, Fleischer, Bäcker, Gärtner, Drogist, Kaufmännischer Angestellter, Porzellanmaler, Chemiker, Bierausgeber, Verkäufer und Packer. Auch 9 Anklageschrift im 1. Hohnstein - Prozess ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein 1/4, Bl. 4). 10 Plädoyer des Rechtsanwaltes Hermann im 1. Hohnstein - Prozess ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 138). 11 Vernehmung des ehemaligen SA - Angehörigen Alfred Hentzschel am 5. April 1949, 3. Hohnstein - Prozess ( BStU, ASt Dresden 479/86, Bl. 166 f.). 12 Aufstellung des SA - Sturmes 14/100 vom 20. November 1933 ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, ZA VI 3588, Bl. 1–14). 13 Hierbei könnte es sich jedoch auch um einen Übertragungsfehler handeln.
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Carina Baganz
Studenten und ein Raubtierwärter waren vertreten. 33 von ihnen, somit ein Drittel, waren der SA und auch der NSDAP bereits vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten beigetreten, die verbleibenden zwei Drittel überwiegend im März und April 1933. Unter den Wachleuten des Lagers waren auch einige Vorbestrafte zu finden.14 Dass es sich bei Hohnstein um eines der berüchtigtsten frühen Lager im Deutschen Reich handelte, zeigt die Tatsache, dass selbst die Nationalsozialisten nicht umhin kamen, gerichtlich gegen bestimmte Vorgänge im Lager vorzugehen.
3.
Nationalsozialistische Justiz : Hohnstein - Prozess 1935
Im Frühjahr 1935 wurde vor dem Landgericht Dresden ein Prozess gegen den Lagerkommandanten von Hohnstein, SA - Obersturmbannführer Rudolf Jähnichen und 23 weitere Angeklagte15 geführt, die im Jahre 1934 Häftlinge schwer misshandelt hatten. Die Anklage lautete auf „gemeinschaftlich schwere Körperverletzung im Amt in Verbindung mit Nötigung und tätlicher Beleidigung“.16 Obwohl das Standesamt - Register Hohnstein lediglich acht Tote verzeichnete, die durch die Leitung des Konzentrationslagers gemeldet wurden, wird die Zahl der Opfer auf etwa 140 geschätzt.17 Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, galt die Maßgabe des Lagerkommandanten, wenn es vermeidbar war, keinen Häftling in Hohnstein sterben zu lassen.18 Die schweren Fälle seien sofort in das Pirnaer Krankenhaus zu überführen. Der dortige Chefarzt Dr. Renner verweigerte aber bald die Aufnahme von Häftlingen aus der Burg Hohnstein mit der Begründung, sein Krankenhaus sei keine Totenhalle.19 So wurden die Schwerverletzten nach Hause entlassen, wo sie letztendlich verstarben. Auch diese Toten fallen unter die Rubrik „Mord“, allerdings erscheinen sie in keiner Statistik. Obwohl die Taten in Hohnstein laut Reichsjustizminister Franz Gürtner „von einer Rohheit und Grausamkeit der Täter [ zeugten ], die 14 15
16
17 18 19
Vernehmungen der Angeklagten im 3. Hohnstein - Prozess ( BStU, ASt. Dresden, 479/86, Bl. 179–300). Angeklagt waren neben Jähnichen unter anderem : SA - Sturmführer und erster stellvertretender Lagerleiter Friedrichs, SA - Sturmführer und zweiter stellvertetender Lagerleiter Heinicker, Truppführer und Adjutant Meier II, Meier I, Volkmar, Putzler, Türke, Leuschner, Karge, Lehmann, Hänsel, Liebscher, Rohmkopf, Heger und Ude; Auszug aus den Strafakten ( BStU, RHE - West, 318/1–318/2, Bl. 8). Niederschrift eines ehemaligen bei der Staatsanwaltschaft Dresden angestellten Schreibers, der während seiner Tätigkeit die Gelegenheit hatte, die Akten des Prozesses gegen die Wachmannschaften in Hohnstein einzusehen ( BStU, RHE - West, 318/1–318/2, Bl. 8 ff.). Auszug aus dem Standesamt - Register Hohnstein, 28. 3. 1946 ( SächsHStAD, V /5.1.139, Bl. 25). Aussage Georg Kocksch, SA - Angehöriger in Hohnstein, im Zuge des Hohnstein - Prozesses ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KzuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 94). Erinnerungsbericht Kurt Schubert vom 28. 5. 1947 ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/2/1, Bl. 104).
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deutschem Empfinden und Fühlen völlig fern“ lag und „derartige an orientalischen Sadismus erinnernde Grausamkeiten [...] auch in der größten kämpferischen Erbitterung keine Erklärung und Entschuldigung“20 fanden, endete der Prozess mit relativ milden Strafen und einer darauf folgenden Begnadigung durch Hitler.
4.
Strafrechtliche Verfolgung der Täter nach 1945
Im Jahre 1935 noch gescheitert, erfolgte jedoch eine Ahndung der im Lager Hohnstein verübten Verbrechen nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes.21 Die Landesverwaltung Sachsen entwickelte bereits im Sommer 1945, früher als alle anderen Länder und Provinzen der Sowjetischen Besatzungszone, erste Gesetzgebungspläne, um unter dem nationalsozialistischen Regime begangene Straftaten vor deutschen Gerichten zu ahnden.22 So legte Mitte Juli 1945 der sächsische Beauftragte für die Neuordnung der Justiz einen Entwurf für ein Gesetz „betreffend die Bildung eines Staatsgerichtshofes zur Aburteilung der Kriegsschuldigen, der Kriegsverbrecher und der politischen Verbrecher“ vor. Das Gesetz sollte rückwirkend ab dem 30. Januar 1933 seine Anwendung finden. Am 30. Juli 1945 trat der stark umgearbeitete Gesetzentwurf als „Verordnung zur Aburteilung faschistischer Verbrecher“ in Kraft.23 Doch erst im Laufe des Jahres 1946 begann die Sowjetische Militäradministration, die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel II 1 c des Kontrollratsgesetz Nr. 10 ( KRG 10)24 der deutschen Justiz zu übertragen. Was im Einzelnen unter „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu
20 Schreiben von Reichsjustizminister Franz Gürtner an Gauleiter Martin Mutschmann, 18. 1. 1935 ( Nürnbg. Dok. PS - 783, abgedruckt in IMG, Band XXVI, S. 300 f.). 21 Ausführlicher dazu vgl. Carina Baganz, „Milde gegen die Verbrecher wäre Verbrechen gegen die Opfer.“ Die Hohnstein - Prozesse 1949. In : Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals ( Hg.), NS - Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011; Annette Weinke, Dem „Klassengegner“ hingegeben ? Die Dresdner Prozesse gegen das SA - Wachpersonal des „Schutzhaft“ - Lagers Hohnstein. In: Norbert Haase / Birgit Sack ( Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 153–170. 22 Vgl. Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; dies., Klassengegner, S. 153–170. 23 Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 25. 24 Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 verabschiedeten die Besatzungsmächte am 20. Dezember 1945. Die wichtigste Neuerung für das „alliierte Ahndungsprojekt“ bestand in der Tatsache, dass „deutsche Gerichte nun auch formal von den Besatzungsbehörden dazu ermächtigt werden konnten, Verbrechen, die vor 1945 von Deutschen an deutschen Staatsangehörigen oder Staatenlosen begangen worden waren, auf der Grundlage alliierter, also rückwirkender Normen zu bestrafen“. In : Weinke, Verfolgung von NS Tätern, S. 25.
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verstehen war, wurde im „Statut des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg“ vom 8. August 1945 definiert : „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht. Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.“25
Auch für die im Konzentrationslager Hohnstein verübten Verbrechen wurde auf das Kontrollratsgesetz zurückgegriffen. Es waren die Opfer, die erste Schritte zu einer strafrechtlichen Verfolgung einleiteten. So wandte sich am 19. Oktober 1945 der SPD - Ortsverband Wünschendorf / Lehmen an seinen Landesvorstand mit der Bitte, sich eines einstimmig angenommen Antrages anzunehmen, der die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses forderte, um die Verbrechen von Hohnstein aufzuklären.26 Die sächsische Landesverwaltung beauftragte den sächsischen Generalstaatsanwalt ( GStA ) John - Ulrich Schroeder ( SED ), ein Ermittlungsverfahren vor dem Volksgericht Sachsen gegen Unbekannt wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzuleiten. Der zu diesem Zweck gegründete Hohnstein - Ausschuss traf sich erstmals am 28. Juni 1946. Ihm gehörten neben Vertretern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ( SED ), der Liberal - Demokratischen Partei Deutschlands ( LDPD ) und der Christlich Demokratischen Union ( CDU ) auch ein Staatsanwalt als Vertreter des Generalstaatsanwalts und ein Oberlandesgerichtsrat als zuständiger Ermittlungsrichter an.27 Neben dem sächsischen Untersuchungsausschuss bildete sich eine in Ost - Berlin ansässige und von Werner Gentz ( SED ) geleitete Gruppe der Deutschen Justizverwaltung ( DJV ), die Fragebögen an überlebende Opfer verteilte, um Hinweise zu Misshandlungen in Gefängnissen und Konzentrationslagern zu erhalten und diese an die Generalstaatsanwaltschaften der Länder weiterzuleiten. So sammelten sie auch Beweismaterial für die Strafverfolgungsbehörde im Falle von Hohnstein. Am 20. Juli 1946 rief das Landeskriminalamt Dresden über eine Sonderleitung der Landesverwaltung Sachsen alle Polizeibehörden auf, „etwaige Vorgänge und Akten, welche Delikte gegen die Menschlichkeit – begangen im KZ Hohnstein – beweisen, [...] bis zum 31. Juli 1946 an den Chef der sächsischen Polizei zu übersenden“.28 25 Die Haltung der beiden deutschen Staaten zu den Nazi - und Kriegsverbrechen. Hg.: Der Generalstaatsanwalt der DDR, Berlin ( Ost ) 1965, S. 11 f. 26 Weinke, Klassengegner, S. 156. 27 Aktennotiz Kohn, GStA Sachsen vom 1. 8. 1946 betr. Sitzung des Ausschusses vom 28. 6. 1946, nach Weinke, Klassengegner, S. 156. 28 Akten des Oberbürgermeisters der Stadt Pirna, Ermittlungen KZ Hohnstein ( BStU, ASt. Dresden, 4303, Bl. 1).
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Ein erster Prozess in Verbindung mit dem Lager Hohnstein fand bereits Anfang des Jahres 1947 statt. Im Oktober 1946 hatte die Dresdner Staatsanwalt Anklage gegen den ehemaligen SA - Oberscharführer und Hohnsteiner Kraftfahrer Helmut Haupold wegen Misshandlung von Häftlingen erhoben.29 Bereits am 6. Januar 1947 verurteilte ihn das Schwurgericht Dresden aufgrund von Zeugenaussagen rückwirkend nach Artikel II Ziffer 1 c ( Verbrechen gegen die Menschlichkeit ) und 2 a des KRG 10 zu 20 Jahren Zuchthausstrafe und zehnjährigem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Währenddessen bemühte sich die Dresdner Staatsanwaltschaft um neue Beweise, um weitere Hohnstein - Täter zur Verantwortung ziehen zu können. Als Schwierigkeit erwies sich jedoch die Feststellung der Aufenthaltsorte der einzelnen Beschuldigten. Um bereits bekannte Fakten nutzen zu können, wies der neue sächsische Generalstaatsanwalt Rolf Helm ( SED ) die Staatsanwaltschaft mit dem Vermerk „Eilt !“ an, nach den Akten des nationalsozialistischen Prozesses aus dem Jahre 1935 zu forschen, um auf weitere Tatverdächtige oder eventuelle Zeugen zu stoßen.30 Trotz aller Bemühungen blieben die Akten jedoch verschwunden.31 Die Zahl der Beschuldigten, derer die Ermittler habhaft werden konnten, belief sich bis zum März 1949 auf 86. Einige Haupttäter, darunter auch der ehemalige Lagerkommandant Rudolf Jähnichen, konnten nicht ermittelt werden. Die meisten der in der SBZ verbliebenen ehemaligen Angehörigen des Hohnsteiner Wachpersonals wurden jedoch verhaftet. Sie hatten wohl nicht mehr mit einer strafrechtlichen Verfolgung gerechnet, da viele von ihnen noch in Dresden oder der näheren Umgebung lebten.32
5.
Die Hohnstein - Prozesse 1949
Weil es schwierig geworden wäre, einen Prozess gegen fast einhundert Angeklagte zu führen, war eine Trennung in mehrere Prozesse geboten. Darüber hinaus konnte mit mehreren Prozessen auch größeres Aufsehen erregt werden. Da eine breite Öffentlichkeit an den Prozessen teilhaben sollte, war geplant, die Hauptverhandlung in der Stadthalle am Dresdner Nordplatz stattfinden zu lassen, wo täglich etwa 1 000 Besucher Platz finden konnten. Um den Raum zu füllen und vor allen Dingen auch „den Besuch möglichst breiter Arbeiterschichten zu garantieren“, war vorgesehen, kostenlose Eintrittskarten in den Betrieben 29 Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Dresden vom 7. 10. 1946 (Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden ). 30 GStA Dresden an den Staatsanwalt bei dem Landgericht Dresden vom 21. Dezember 1947, zit. nach Weinke, Klassengegner, S. 161. 31 Staatsanwalt bei dem Landgericht Dresden an den Generalstaatsanwalt Sachsen vom 23. Dezember 1947 ( Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden ). 32 Vgl. die Anklageschriften der einzelnen Prozesse ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein, 1/4, Bl. 83–151; KZuHafta Hohnstein, 1/5, Bl. 11–83; KZuHafta Hohnstein, 1/5, Bl. 85–128).
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zu verteilen.33 Außerdem würde beabsichtigt, im Saal und vor dem Eingang des Gebäudes Lautsprecher zu installieren.34 Auch Landessender und Stadtfunk sollten breite Kreise informieren. Die Prozessberichterstattung wurde angehalten, deutlich zu machen, dass die Hauptschuldigen „sämtlich in der Westzone“ seien und „trotz Aufforderung durch unsere Behörden“ nicht ausgeliefert würden.35 Begleitend zu den Prozessen veranstaltete die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ( VVN ) sogenannte Justizausspracheabende, auf denen der Antifaschismus im Mittelpunkt stand und auf diese Weise das offizielle Geschichtsbild vertieft werden sollte. Bei einem dieser Ausspracheabende der Justiz und der VVN hatten die 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beispielsweise die Möglichkeit, schriftlich Fragen zu beantworten. „Wie würden Sie einen Täter von einer Räuberbande bestrafen, der, wie vorher besprochen, nur ‚Schmiere‘ steht, während seine Komplicen rauben ?“ Diese und ähnliche Fragen machen die Stoßrichtung der Berichterstattung deutlich : Es ging um die Kollektivschuld.36 Weitere Abende dieser Art waren „zur Klärung wichtiger Fragen“ geplant. So war angedacht, darüber zu diskutieren, „wie man Leute, die durch Propaganda für den Nazismus und Militarismus oder durch Verbreitung tendenziöser Gerüchte den Frieden und unseren demokratischen Aufbau gefährden, behandeln muss“.37 In drei Prozessen wurden im Jahre 1949 nach dem SMAD - Befehl Nr. 201 vor dem Dresdner Landgericht insgesamt 85 Angehörige der ehemaligen Wachmannschaft verurteilt. Sämtliche Angeklagte wurden der Verbrechen nach der Kontrollratsdirektive 38 in Tateinheit mit Verbrechen nach Kontrollratsgesetz 10 schuldig gesprochen und als „Hauptverbrecher“ eingestuft. Sie erhielten Strafen von einem Jahr bis zu lebenslanger Haft. Als strafmildernd sah die Strafkammer die Tatsache an, dass „die Angeklagten zur Zeit der Begehung der Verbrechen einer gewissen Notlage in wirtschaftlicher Hinsicht durch die Erwerbslosigkeit ausgesetzt“ gewesen und aus diesem Grunde „Mitglieder dieser Verbrecherorganisation“ geworden seien, weshalb die von der Staatsanwaltschaft geforderten drei Todesstrafen für die Angeklagten Figelius, Küchler und Staak auch nicht verhängt wurden.38 Einer der Haupttäter wurde schließlich doch noch ausfindig gemacht und im Jahre 1950 in den Waldheimer Prozessen zur Rechenschaft gezogen : Die 11. Große Strafkammer des Landgerichtes Chemnitz verhängte gegen Ernst
33 Protokoll zur Besprechung der Durchführung des 1. Hohnstein - Prozesses ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein 1/2/1). 34 Köst, Landgericht Dresden, an KWU - Ausstellung vom 6. 5. 1949, zit. nach Weinke, Klassengegner, S. 165. 35 Protokoll zur Besprechung der Durchführung des 1. Hohnstein - Prozesses ( BArch Berlin, ASt. Dahlwitz - Hoppegarten, KZuHafta Hohnstein 1/2/1. 36 Wie würden Sie als Richter urteilen ? ( Sächsische Zeitung vom 13. Juli 1949). 37 Ebd. 38 Ebd.
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Heinicker, ehemaliger zweiter Lagerkommandant von Hohnstein und bereits im Prozess 1935 angeklagt, die Todesstrafe.39 Mit diesem Urteil setzte die SED - Führung mehrere Signale : Erstens konnte sich die DDR in Abgrenzung zur Bundesrepublik als der „antifaschistische“ Staat darstellen, der konsequent NS - Verbrecher verfolgte, zweitens konnte sie ihre absolute Gefolgschaft gegenüber der bisherigen sowjetischen Spruchpraxis zeigen und drittens verband sich mit den Schauprozessen propagandistisch das Signal, „dass die strafrechtliche Abrechnung mit der NS - Zeit nahezu beendet sei“.40 Die ehemaligen Nationalsozialisten konnten nunmehr den Aufbau der DDR aktiv mitgestalten, ohne noch strafrechtliche Verfolgungen befürchten zu müssen.41
6.
Haftentlassung für Spitzeltätigkeit
Im Februar 1950 wurde das Ministerium für Staatssicherheit ( MfS ) gegründet, eine Institution, die als Überwachungs - und Repressionsorgan die Bevölkerung der DDR kontrollieren sollte und gegen Menschen, die den „demokratischen Aufbau“ gefährdeten, vorging. Während das MfS bei der Anwerbung der hauptamtlichen Mitarbeiter mehr oder weniger darauf achtete, dass keine ehemaligen Nationalsozialisten eingestellt wurden, sollte und konnte bei der Anwerbung von „inoffiziellen Mitarbeitern“ ( IM ) auf diese nicht verzichtet werden. Als für Anwerbungen besonders ergiebig erwiesen sich die 1950 begonnenen und bis 1956 in geringen Abständen durchgeführten Amnestien und Straferlasse für Häftlinge in Gefängnissen und Lagern der DDR und der UdSSR.42 Zu diesem Zweck wurde im Sommer 1952 eine „Kommission zur Überprüfung von Gefangenen, die durch Gerichte der DDR bestraft wurden und entlassen werden sollen“ gebildet. Aufgabe dieser Kommission war die Überprüfung derjenigen Gefangenen, „die nach Befehl 201 oder KG 10 in Verbindung mit KD 38 verurteilt wurden und in den Vollzugsanstalten der DDR ihre Strafe verbüßen“. Allerdings sollten nur die Gefangenen überprüft werden, die bereits mindestens die Hälfte ihrer Strafe abgesessen hatten. Im Oktober 1955 befanden sich noch 1891 durch Sowjetische Militärtribunale Verurteilte, 968 Waldheim - Häftlinge und 436 von deutschen Strafkam39 Die Grausamkeiten von Hohenstein ( sic ), Tägliche Rundschau vom 22. Juni 1950; Harte Strafen in Waldheim, Neues Deutschland vom 22. Juni 1950; „Sie sind kein Mensch, sondern eine Bestie“. Kommandant vom KZ Hohenstein ( sic ) zum Tode verurteilt, Sächsisches Tageblatt vom 24. Juni 1950; Heinicker war bis Anfang 1950 ohne Urteil in einem sowjetischen Speziallager festgehalten, vgl. Weinke, Klassengegner, S. 164. 40 Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 196. 41 Beate Ihme - Tuchel, „Feinde unseres Aufbaus“. Die Waldheimer Prozesse 1950 (http://www.ifdt.de /0005/ Artikel / Tuchel.htm ). 42 Henry Leide, NS - Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005, S. 57–66.
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Carina Baganz
mern nach SMAD - Befehl 20143 Verurteilte in Haft, insgesamt 3 295 Personen.44 Zwischen Dezember 1955 und Frühjahr 1956 wurden etwa 3 250 Häftlinge dieser Kategorien entlassen.
7.
Ehemalige Hohnsteiner Wachmänner als IM
Unter den Entlassenen befanden sich auch ehemalige Wachleute des KZ Hohnstein, die 1949 in den Hohnstein - Prozessen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren. Hierzu gehörte Alfred Figelius, für den die Staatsanwaltschaft im ersten Hohnstein - Prozess die Todesstrafe gefordert und den das Gericht am 17. Juni 1949 zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Am 21. Februar 1956 wurde mit ihm in der Haftanstalt ein Anwerbungsgespräch geführt. Noch am gleichen Tage verpflichtete er sich, „auf freiwilliger Basis mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten“. In seiner Verpflichtungserklärung schrieb er : „Ich werde alle Aufträge, die sich aus unserer Zusammenarbeit ergeben, im Interesse zur Erhaltung des Friedens gewissenhaft durchführen. Ich werde alle meine Kräfte dafür einsetzen, um alle Agenten, Spione und Verbrecher der DDR den Organen der Staatssicherheit zu benennen und zu helfen, diese unschädlich zu machen.“45 Figelius, der bereits 1930 in die NSDAP und die SA eingetreten und 1933 als Truppführer im KZ Hohnstein an schwersten Misshandlungen von Häftlingen beteiligt war, zeigte sich in der Haft geläutert : „Heute nach all dem Erlebten schäme ich mich, einmal Nationalsozialist gewesen zu sein. [...] Sollte ich einmal frei sein, werde ich meine ganze Kraft für die DDR einsetzen und ein rechter Kämpfer für Frieden und Einheit werden.“46 Noch während seiner Haft begann er, Mithäftlinge auszuspionieren, wurde aber bald darauf entlassen. Zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt, war sein Strafende ursprünglich auf Juni 1969 festgelegt; nun war er nach nicht einmal sieben Jahren auf freiem Fuß und spionierte unter dem Decknamen „Wetzig“47 selbst seine Familie aus. Von großem 43 Am 16. August 1947 trat der SMAD - Befehl 201 („Richtlinien zur Anwendung der Direktiven Nr. 24 und 38 des Kontrollrats“) in Kraft. Das Ziel war die Entnazifizierung und vollständige Säuberung aller öffentlichen Ämter und der Wirtschaft „von aktiven Faschisten, Militaristen und Kriegsverbrechern“. Der Gesetzestext ist abgedruckt in Strafrechtliche Rehabilitierung und Entschädigung : Text - und Dokumentationsband. Gesetzestexte, Verordnungen, Anweisungen, zusammengestellt von Hans - Hermann Lochen und Christian Meyer - Seitz, Berlin 1994, S. 155 f. 44 Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 343, zit. nach Leide, NS - Verbrecher, S. 59. 45 Verpflichtungserklärung von Alfred Figelius zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit, 21. Februar 1956 ( BStU, 10022/69, Zentralarchiv, Bl. 27). 46 Lebenslauf des Strafgefangenen Figelius, ohne Datum ( BStU, 10022/69, Zentralarchiv, Bl. 21 f.). 47 Es kann davon ausgegangen werden, dass sich dieser Deckname auf die Person Albert Wetzig bezieht, der ab Juli 1945 Oberbürgermeister der Stadt Pirna war. Durch sein Festhalten an demokratischen Traditionen der SPD erwuchsen ihm in der SED zunehmend Gegner, was zur Niederlegung seines Amtes im Jahr 1948 führte.
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Vom Wachmann zum Inoffiziellen Mitarbeiter
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Interesse war für die Staatssicherheit vor allem der Umkreis seiner Tochter, die an einem Berliner Theater beschäftigt war. Auch Max Morgenstern, im dritten Hohnstein - Prozess zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, konnte für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit gewonnen werden. Am 19. Juli 1955 in der Haftanstalt Brandenburg angeworben, war er „bestrebt, seinen begangenen Fehler in der faschistischen Zeit wieder gut zu machen und hat auch in der Haftanstalt wertvolle Hinweise über andere Gefangene gegeben“, so seine MfS - Beurteilung.48 Morgenstern war dort ein Zelleninformator, der Mithäftlinge bespitzelte. Es wurde ihm jedoch dringlichst nahe gelegt, sein bisheriges herrisches Verhalten gegenüber den anderen Strafgefangenen abzulegen, um „engsten Kontakt“ zu ihnen aufbauen zu können, was auch gelang. Morgenstern brachte von sich aus zum Ausdruck, dass er auch in der Freiheit mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten wolle. Die Zelleninformatoren sollten nach ihrer Entlassung besonders unterstützt, aber auch unter ständiger Kontrolle gehalten werden. In einer Anweisung hieß es dazu : „Personen, die für das MfS tätig waren [ gemeint ist hier in der Haft ], ist besondere Beachtung zu schenken durch Nachweisung eines ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatzes, wenn notwendig auch durch Schaffung von Wohnraum und sonstige Hilfeleistungen, damit diese Betreffenden nicht die DDR verlassen.“49 Andererseits benötigte das MfS jedoch auch Personen, die „sich auf Anweisung [...] nach Westen absetzen zur Durchführung genau festgelegter Aufgaben: Panik, Demoralisation, Missstimmung zu erzeugen, Misstrauen zu erwecken, Briefe in die DDR zurückzuschreiben über ihre schlechte Lage und um die westlichen Agentenzentralen zu beschäftigen.“50 Da Morgenstern laut Bericht des MfS während seiner geheimen Informantentätigkeit in der Haft bereits „sehr gewissenhaft“ war und „gute Hinweise geben“ konnte51, wurde er nach seiner Entlassung aufgrund einer Amnestie im Jahre 1956 als sogenannter Stimmungs - GI eingesetzt. Aufgrund seines von der Staatssicherheit so geschätzten „offenen und ehrlichen Charakters“ könne er auf „jede feindliche Person angesetzt werden und erhält auch auf Grund seiner Vergangenheit sofort Verbindung, besonders mit alten Faschisten“.52 So erhielt er dann auch bald einen Auftrag für eine Fahrt nach Westdeutschland, von der er zwar zurückkehrte, drei Tage später jedoch mit seiner Familie aus der DDR flüchtete. Die Staatssicherheit überprüfte, ob Morgenstern ihnen „in Westdeutsch-
48 Auskunftsbericht der Dienststelle Freiberg vom 26. 7. 1957 ( BStU, Personalakte des inoffiziellen Mitarbeiters GI 251/56, Bl. 44). 49 1. Stellvertreter des Ministers : Anweisung an den Leiter der HA IX, 16. 12. 1955 ( BStU, MfS, AS 2/59, Band 1, Bl. 490). 50 Ebd. 51 Bericht über die Zusammenarbeit und Beurteilung eines GI vom 3. Februar 1956 (BStU, Personalakte des inoffiziellen Mitarbeiters GI 251/56, Bl. 21). 52 Auskunftsbericht der Dienststelle Freiberg vom 26. 7. 1957 ( BStU, Personalakte des inoffiziellen Mitarbeiters GI 251/56, Bl. 43–46, hier Bl. 46).
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Carina Baganz
land noch etwas nützen könnte“. Da dies nicht der Fall war, wurde „der GI zur Ablage gebracht“.53 Ob Morgenstern nur gute Miene zum bösen Spiel gemacht hatte und sich bereits mit dem Ziel anwerben ließ, die DDR zu verlassen, muss offen bleiben. Sicher ist jedoch, dass er seine Meinung je nach Situation änderte. Das wird schon daran deutlich, dass Morgenstern, obwohl als ehemaliger SA - Mann in Hohnstein tätig, während der Hohnstein - Prozesse anfangs als scheinbar überzeugter Gegner des Nationalsozialismus neben dem ehemaligen Häftling Max Barth als Hauptbelastungszeuge auftrat, sich jedoch bald als Hauptschuldiger entpuppte und erst daraufhin zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde.54 Als letztes Beispiel sei Erich Knott genannt, im zweiten Hohnsteinprozess zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt, doch bereits 1952 durch eine Amnestie entlassen. Danach war er als Fahrladeschaffner auf dem Bahnhof Pirna beschäftigt. Da es laut Anwerbungsvorschlag der Staatssicherheit „noch keinen GI im Zugpersonal des Bahnhofs Pirna gab, dieses Personal jedoch einen politischen Schwerpunkt bildete“, wurde auf Knott zurückgegriffen. Seine Anwerbung sollte auf „Grundlage des Drucks“ geschehen, denn der Staatssicherheit war bekannt, dass Knott für fremde Personen Waren in den Westsektoren Berlins besorgte und diese kostenlos im Gepäckwagen nach Pirna beförderte. Das Gespräch sollte dann so gelenkt werden, dass Knott von sich aus seine Verfehlungen wieder gut machen wolle, woraufhin er schriftlich verpflichtet werden sollte.55 Seine spätere Aufgabe bestand darin, sich auf dem Pirnaer Bahnhof unter den „ehemaligen aktiven Nazis“ umzuhören, doch endete seine Spitzeltätigkeit bald wieder, da er laut eines Berichtes nicht in der Lage wäre, „seinen Anforderungen als GI gerecht zu werden“.56
8.
Vom Umgang mit der Vergangenheit
Die Rekrutierung ehemaliger Nationalsozialisten war seit Beginn der Tätigkeit des MfS ein wichtiger Bestandteil beim Ausbau des Informantennetzes. Die drei hier exemplarisch beschriebenen Fälle behandeln keine einfachen NSDAP Mitglieder oder geringfügig belastete Personen, sondern KZ - Wachleute, die aufgrund von schweren Misshandlungen bis hin zur Beteiligung am Mord im frühen KZ Hohnstein zu langjährigen Haftstrafen verurteilt waren; für Figelius war 53 Schlussbericht der Dienststelle Freiberg vom 5. 5. 1960 ( BStU, Personalakte des inoffiziellen Mitarbeiters GI 251/56, Bl. 62). 54 Morgenstern war geständig und offensichtlich für diesen Prozess präpariert und instruiert worden. Es kann davon ausgegangen werden, dass er längere Zeit in sowjetischer Haft verbrachte, bevor er im Frühjahr 1949 der deutschen Polizei übergeben wurde; vgl. Weinke, Klassengegner, S. 165. 55 Vorschlag zur Werbung eines GI der Bezirksverwaltung Dresden, Abteilung XIII, 23. 9. 1959 ( BStU, MfS, BV Dresden, Abt. VII, 7333, Bl. 40–44, hier Bl. 44). 56 Beschluss für das Einstellen eines GI - Vorganges vom 23. 12. 1963 ( BStU, MfS, BV Dresden, Abt. VII, 7333, Bl. 40–44, hier Bl. 75 f.).
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Vom Wachmann zum Inoffiziellen Mitarbeiter
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ursprünglich sogar die Todesstrafe gefordert worden. An diesen Beispielen wird die Praxis des Ministeriums für Staatssicherheit beim Umgang mit den Hinterlassenschaften nationalsozialistischer Verbrechen deutlich, die zu einem beträchtlichen Teil auf deren Täter zurückgriff.57 Was bleibt von der These, in der DDR sind NS - Verbrechen systematisch und konsequent verfolgt worden ? NS - Verbrecher wurden in der DDR verfolgt und verurteilt, doch nicht immer und in allen Fällen konsequent. Auf der einen Seite wurden Hunderte von ehemaligen Nationalsozialisten in hochrangigen Positionen von Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik aufgedeckt und angeprangert. Auf der anderen Seite allerdings rekrutierte das MfS wissentlich zum Teil schwer belastete NS - Täter als Informanten und bewahrte sie entweder vor strafrechtlichen Ermittlungen oder verkürzte ihre Haft beträchtlich.58 Eine vollständige Untersuchung des verurteilten Wachpersonals der frühen sächsischen Konzentrationslager in Bezug auf ihre Verstrickungen mit dem MfS steht noch aus, denn neben den Hohnstein - Prozessen fanden weitere Prozesse gegen Angehörige von Wachmannschaften ehemaliger sächsischer Konzentrationslager statt.59 Wie groß war die Zahl derjenigen, die sich auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS entweder als Geheime Informanten oder vielleicht sogar auch in höheren Positionen einließen ? Da Erich Mielke 1955 vorschlug, von 436 nach Befehl 201 Verurteilten 321 zu entlassen,60 im Vorfeld aber Anwerbungsgespräche mit ihnen zu führen, kann davon ausgegangen werden, dass noch mehr Angehörige des Wachpersonals früherer sächsischer KZ im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit standen, vielleicht sogar auch als hauptamtliche Mitarbeiter. Dass auch viele Bürger der „antifaschistischen DDR“ Jahre zuvor in die NSMaschinerie verstrickt waren, ist nicht neu. 1951 waren laut einer Parteizählung 174 928 ehemalige NSDAP - Mitglieder oder Wehrmachtsoffiziere in der SED organisiert.61 Hatte die Staatssicherheit ein geheimdienstliches Interesse an einer Person, dann war es egal, ob es sich dabei um einen ehemaligen KZ - Wachmann handelte, der einst auch nicht vor Mord zurückgeschreckt war. Vielmehr erhielt er nun die Möglichkeit, seine während des Nationalsozialismus begangenen Untaten durch eine ständige und gute Auftragserfüllung in Diensten des MfS wieder gut zu machen, egal ob es sich dabei um das Ausspionieren ehemaliger Nazi - Funktionäre oder aber der eigenen Familie handelte.
57 58 59 60 61
Leide, NS - Verbrechen, S. 413. Ebd., S. 418. Vgl. Baganz, Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ?, S. 304–306. Werkentin, Politische Strafjustiz, S. 343, zit. nach Leide, NS - Verbrechen, S. 59. Vgl. Ilko - Sascha Kowalczuk, Wir werden siegen, weil uns der große Stalin führt ! Die SED zwischen Zwangsvereinigung und IV. Parteitag. In : ders./ Armin Mitter / Stefan Wolle ( Hg.), Der Tag X 17. Juni 1953. Die „innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995, S. 171–242, hier S. 183, zit. nach Leide, NS- Verbrechen, S. 46.
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Carina Baganz
Vom Konzentrationslager zum Isolierungslager
Abschließend sei noch erwähnt, dass die Staatssicherheit nicht nur Geheime Informanten aus den Reihen der KZ - Wachleute des KZ Hohnstein rekrutierte, sondern auch die Örtlichkeiten dieses frühen Lagers für ihre Zwecke missbrauchen wollte. So lagen in den 1980er Jahren bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Pläne vor, das ehemalige frühe KZ Burg Hohnstein als Isolierungslager für „Staatsbürger der DDR“ zu nutzen, die dem SED - Regime negativ aufgefallen und aus diesem Grund im Ernstfall ausgeschaltet werden sollten. Die zu diesem Zeitpunkt als Jugendherberge „Ernst Thälmann“ dienende Burg Hohnstein in kürzester Zeit als Isolierungslager herzurichten, stand unter dem Kennwort „Leuchtboje“, das Kontrollkennwort war in diesem Falle „Lichtbogen“.62 Die Aktion „Leuchtboje“ sollte nach Auslösung in x + 24 Stunden abgeschlossen sein. Der Befehl der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit beinhaltete „die Durchsetzung der in den Führungsdokumenten festgelegten Maßnahmen zur schlagartigen Festnahme feindlich - negativer Personen.“63 Was die Isolierten im Ernstfall erwartet hätte, zeigen die „Grundsätze zur Vorbereitung und Durchführung der Isolierung sowie der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit der Isolierungsobjekte“, die im Jahre 1983 von der Arbeitsgruppe des Ministers erarbeitet wurden. Diese enthielten die Grundlagen, Zielsetzung und Verantwortlichkeit, die Kriterien und den Vollzug der Isolierung, Rechte und Pflichten der Isolierten, die Struktur, personelle und materielle Planung sowie das Sicherungssystem für die Isolierungsobjekte, die Gewährleistung der politisch - operativen Abwehrarbeit in den Isolierungsobjekten sowie die Entfaltung derselben.64 Das bis in das kleinste Detail ausgearbeitete Regelwerk zur Vorbereitung und Durchführung der Isolierung macht die Akribie des SEDRegimes deutlich. Sie spielten jede erdenkliche Möglichkeit durch und bereiteten sich intensiv auf den „Ernstfall“ vor. Als dieser im Herbst 1989 eintrat, war anfangs auch eine Umsetzung der Isolierungspläne angedacht : „Die Partei - und Staatsführung hat zur gegebenen Lage Stellung genommen und fordert die konsequente Isolierung aller konterrevolutionären Kräfte.“65 Glücklicherweise konnten diese Pläne nicht mehr umgesetzt werden.
62 Bei der Übermittlung von Befehlen musste sowohl das Kennwort als auch das Kontrollkennwort genannt werden. 63 Geheime Verschlusssache GVS, BVfS Ddn. - Nr. : 953–87, 9. Ausf. Bl./ S. 1, Schreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden ( BStU ASt. Dresden, AG XXII, B 57, Bl. 439). 64 Grundsätze zur Vorbereitung und Durchführung der Isolierung, Bl. 77 ( BStU - Zählung); Auerbach, Vorbereitung, zit. dieses Dokument folgendermaßen : BStU, ASt Dresden (unerschlossenes Material ), S. 6–36 ( MfS - Zählung ). 65 Fernschreiben des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung, Hans Modrow an die 1. Sekretäre der Kreisleitungen der SED im Bezirk Dresden vom 22. September 1989, zit. nach Auerbach, Vorbereitung, S. 128.
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Der lange Schatten der NS - Medizin. Biografien von zwischen 1933 und 1945 Zwangssterilisierten und „Euthanasie“ - Geschädigten Manfred Seifert / Lars Polten Mit ihren rassehygienischen Vorstellungen übernahm die NS - Ideologie ein biologistisches Paradigma, das sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Im NS - Staat wurden biopolitische Konzepte ab 1933 in juristische Bestimmungen sowie staatliche Handlungs - und Verfahrensmuster umgesetzt und auf dieser Grundlage ein „medizinisch getarntes und verbrämtes Ideologieverbrechen“1 begangen. Insgesamt betragen die daraus hervorgegangenen Opferzahlen während des NS rund 360 000 Sterilisationen und 250 000 bis 300 000 Euthanasiemorde ( davon ca. 80 000 im Rahmen der T4 - Aktion ).2 Während der Begriff „Zwangssterilisierte“ Personen mit entsprechender Schädigung am eigenen Körper umschreibt, bezieht sich der Begriff „,Euthanasie‘ - Geschädigte“ gemäß jüngerer Lesart sowohl auf direkt Betroffene wie auch auf deren Familienmitglieder ersten Grades.3 Eine offizielle Statistik der unter diese Kategorien fallenden Bevölkerungsgruppe existiert für Sachsen nicht. Gut 65 Jahre nach dem Ende des NS - Regimes ist ohnedies die Zahl der noch lebenden Betroffenen inzwischen aufgrund der natürlichen Sterblichkeit stark reduziert. Bekannt ist lediglich die Anzahl der beim Bund der „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. ( BEZ ) zum Stand Sommer 2008 registrierten Betroffenen mit Wohnsitz in Sachsen, die sich auf 17 Zwangssterilisierte und 33 „Euthanasie“ - Geschädigte belief.4 1 2 3 4
Klaus - Dietmar Henke, Einleitung : Wissenschaftliche Entmenschlichung und politische Massentötung. In : ders. ( Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008, S. 9–29, hier 9. Richard J. Evans, Zwangssterilisierung, Krankenmord, und Judenvernichtung im Nationalsozialismus : Ein Überblick. In : Henke ( Hg.), Tödliche Medizin, S. 34 und 39–41. So verwendet den Begriff „Euthanasie“ - Geschädigte der Interessenverband Bund der „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. ( BEZ; seit 2010 Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten ). Das ISGV - Forschungsprojekt zu diesem Personenkreis konnte in enger Absprache mit dem BEZ realisiert werden. Diese Unterstützung erwies sich als entscheidend, um den Zugang zu diesen Personen herstellen zu können. Der letzten Geschäftsführerin des BEZ, Margret Hamm, sei an dieser Stelle für die gute Kooperation gedankt. – Die Wohnorte der 50 registrierten Opfer sind über ganz Sachsen verteilt – mit Schwerpunkten rund um die Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz. Vgl. die Personenlisten des BEZ für die ISGV - Recherchen, Juni 2008.
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Manfred Seifert / Lars Polten
Von diesen 50 zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Opfern der NS - Medizin konnten im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. ( ISGV ) bisher 14 Personen befragt und mithilfe persönlicher wie amtlicher Dokumente untersucht werden. Diese Erkundungen fanden im Rahmen der am Bereich Volkskunde des ISGV durchgeführten Biografieforschung statt. Wiewohl die Maßnahmen wie die Opfergruppen der nationalsozialistischen Biopolitik inzwischen im Rahmen der Auseinandersetzung mit NS - Medizin und der Gedenkstättenarbeit insgesamt als gut erforscht gelten können, war dieser Personenkreis bisher nur in geringem Maße Ziel von subjektorientierten Untersuchungen geworden, die sich den persönlichen Erfahrungswelten und Verarbeitungsmodi der Betroffenen zuwenden.5 Dies gilt auch für die Zwangssterilisierten und „Euthanasie“ - Geschädigten in Ostdeutschland.6 Gerade aus den divergierenden entschädigungsrechtlichen Entwicklungen in Ost - und Westdeutschland bezog der subjektorientierte Ansatz seine untersuchungsleitende Perspektive. Denn die jeweilige Art des staatlichen Umgangs mit den Opfergruppen hatte Auswirkungen auf die Wahrnehmungs und Verarbeitungsprozesse der Betroffenen. Hierauf basiert die Arbeitshypothese des vorliegenden Beitrags, der zufolge die politischen und insbesondere die rechtlich - administrativen Entscheidungen nicht nur die gesellschaftliche Stellung der Opfergruppen maßgeblich mitformten ( bzw. mitformen) und damit die Gestaltung der kommunikativen und sozialen Praktiken entscheidend mitpräg( t )en, sondern sich auch auf das Selbstbild und die mentale Verfassung der 5
6
Vgl. Hans - Ulrich Dapp, Emma Z. Ein Opfer der Euthanasie, 2. Auflage Stuttgart 1991; Herbert Immenkötter, Menschen aus unserer Mitte. Die Opfer von Zwangssterilisierung und Euthanasie im Dominikus - Ringeisen - Werk Ursberg, Donauwörth 1992; Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS - Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003; Margret Hamm ( Hg.), Lebensunwert zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“, Frankfurt a. M. 2005, S. 15–84; Tino Hemmann, Der unwerte Schatz. Gegen das Vergessen – über die Kinder - Euthanasie im NS - Staat. Erzählung einer Kindheit. Leipzig 2005; Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS - Zwangssterilisierten in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2010. Vgl. Euthanasie : Familienerinnerungen aus Ostdeutschland an die Verbrechen der NaziZeit, Frankfurt a. M. 1992 (= Dokumentation : ein Informationsdienst. Hg. vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e. V., Nr. 52/1992); Erbgesundheitsgeschichte. Dokumentation mit Zeitzeugenberichten des Bundes der „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. Hg. vom Bund der „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V., Detmold 1997; Corinna Horban, Gynäkologie und Nationalsozialismus : Die zwangssterilisierten, ehemaligen Patientinnen der I. Universitätsfrauenklinik heute – eine späte Entschuldigung. München 1999; Boris Böhm, „Ich allein weiß, wer ich bin“. Elfriede Lohse - Wächtler 1899–1940. Ein biographisches Porträt, Pirna 2003; „...ist uns noch allen lebendig in Erinnerung“. Biografische Porträts von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“ - Anstalt Pirna Sonnenstein. Bearbeitet und eingeleitet von Boris Böhm und Ricarda Schulze. Hg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden 2003; Susanne zur Nieden, „Unwürdige“ Opfer – zur Ausgrenzung der im Nationalsozialismus als „Asoziale“ Verfolgten in der DDR. In : Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 11, Bremen 2009, S. 138–148.
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Der lange Schatten der NS-Medizin
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Betroffenen auswirk( t )en. Aufgrund der geringen Größe des Samples können in dieser Darstellung nur erste Hinweise gegeben und vorläufige Thesen aufgestellt werden. Eindrücklich bleiben aber in jedem Fall die individuellen Schicksale, von denen zwei im Folgenden vorgestellt werden.
1.
Divergierende entschädigungsrechtliche Entwicklungen in Ost - und Westdeutschland
Ein erstes Motiv für die Betrachtung dieses Personenkreises im Rahmen der Biografieforschung findet sich in den unterschiedlichen entschädigungsrechtlichen Wegen NS - Verfolgter, die nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland und in der SBZ bzw. der DDR beschritten wurden. Diese Divergenzen – so die These, die im Folgenden zunächst diskutiert werden soll – sollten sich auch in den individuellen psychischen Konstitutionen und Verarbeitungsprozessen der Betroffenen sowie in ihrem kommunikativen Umgang mit diesem persönlichen Los niedergeschlagen haben. Die Frage, wer zu den Opfern des NS - Staates und wer zu den NS - Gegnern gezählt werden sollte, war zunächst kein dringlicher Absprachepunkt der Alliierten. In den Ausschüssen zur Anerkennung von NS - Verfolgten bildeten sich erst allmählich neue Beurteilungskriterien und Verfahren heraus, die an die ungeregelte Praxis der ersten Monate traten. Dabei unterschieden sich die Zusammensetzung der einbezogenen Verfolgten wie auch die Formen der Wiedergutmachung in den ersten Jahren bis ca. Ende 1947 in den westlichen und östlichen Besatzungszonen kaum. Im Mittelpunkt standen dabei die Widerstandskämpfer und politisch Verfolgten, ihnen angegliedert waren aus rassistischen Gründen Verfolgte ( konkret die Juden – aber nicht die Sinti und Roma). Gemäß einem breiten gesellschaftlichen Konsens in ganz Deutschland – und einem hierin weiterwirkenden NS - geprägten Vorurteilsmuster – wurden jedoch „Kriminelle“ und „Asoziale“ neben Homosexuellen und eben auch Zwangssterilisierte und „Euthanasie“ - Geschädigte ausgeschlossen, denn deren Schicksal wurde gemeinhin nicht als Ausdruck eines spezifisch nationalsozialistischen Unrechts betrachtet.7 Ab den 1950er Jahren begannen sich dann die Opferprogrammatiken in beiden deutschen Staaten auseinander zu entwickeln : In der BRD begann die zuvor dominante Kritiklosigkeit bezüglich der NS - Erbgesundheitspolitik spätestens seit Anfang der 1960er Jahre aufzubrechen.8 Auf der Basis des Bundesentschädigungsgesetzes von 1953 – das allerdings in seinem versorgungsrechtlichen Rah7 8
Vgl. zur Nieden, „Unwürdige“ Opfer, hier S. 138–140. Zur entschädigungsrechtlichen Entwicklung in der BRD siehe Valentin Hennig, Zur Wiedergutmachung von Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Berlin 1999; Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe : die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011; Paul Weindling, Entschädigung der Sterilisierungs - und „Euthanasie“ - Opfer nach 1945? In : Henke ( Hg.), Tödliche Medizin, S. 247–258; Westermann, Verschwiegenes Leid.
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men weithin starr blieb – änderte sich der Wiedergutmachungsdiskurs bis zu den 1980er Jahren deutlich : Zum einen schwenkte er auf das Prinzip der Sozialfürsorge ein; und zum anderen folgte er der Menschenrechtsthematik : Nicht die Tatsache, dass jemand Opfer eines „NS- Unrechts“ geworden war, sollte über eine Leistungsvergabe entscheiden. Ausschlaggebend war nun, dass der Antragsteller einen Verstoß gegen die allgemein anerkannten Menschenrechte hatte hinnehmen müssen. Zwar änderte dies bislang nichts an der Streuung der Versorgungsleistungen : Die Opfer der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen und Euthanasiemorde blieben bis in die 1980er Jahre ausgegrenzt.9 Allerdings hatte die Problematik dieses Personenkreises wie auch namentlich der Homosexuellen und der „Zigeuner“ spätestens seit den 1960er Jahren in der gesellschaftlichen Diskussion zunehmend Akzeptanz und Verständnis gefunden. Im Schutz des pluralistischen Rechtsstaates konnten sich auch spezifische Interessenvertretungen etablieren. Nur von 1950 bis 1955 war der „Zentralverband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisierung im Bundesgebiet“ aktiv; erst 1987 fanden die bis dahin unterschiedlich vertretenen und nicht als einheitliche Gruppe definierten zwangssterilisierten Opfer im „Bund der ,EuthanasieGeschädigten und Zwangssterilisierten“ einen Interessenverband, auf dessen Betreiben weitere Entschädigungsleistungen in Gang kamen. Der Deutsche Bundestag ächtete nach über 20 Jahren öffentlicher Aufklärungsarbeit schließlich im Mai 2007 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Im Zuge dieser Entwicklungsschritte hat sich über die Jahrzehnte hinweg der Status und die Reputation der ursprünglich ausgeschlossenen Opfergruppen im gesellschaftlichen Raum sukzessive verbessert, womit sich auch die Formen des Umgangs wie die Eigenwahrnehmung dieser Personengruppen zum Positiven gewandelt haben. Dennoch diagnostiziert die Arbeitsgemeinschaft BEZ große Defizite in der staatlichen Wahrnehmung, wie die jüngsten Ereignisse in den Entschädigungsdebatten 2011 und 2012 zeigen.10 In der SBZ bzw. der DDR verlief die Entwicklung deutlich anders.11 Hier nahmen neben den Vorgaben der KPD / SED - Führung bzw. der sowjetischen 9 Erst ab den 1980er Jahren wurde die Entschädigung von Zwangssterilisierten und von „Euthanasie“ - Geschädigten ersten Grades – also von selbst Betroffenen – beschlossen. Vgl. Weindling, Entschädigung, S. 256. 10 So werden entschädigungsrechtlich etwa nach wie vor nur „Euthanasie“ - Opfer berücksichtigt ( der Arbeitsgemeinschaft BEZ ist aktuell nur noch eine lebende [ !] Person bekannt, die die Tötung unmittelbar oder durch Zufall überlebte ). Alle anderen Angehörigen (= die „Geschädigten“) bekamen Anträge zugeschickt, auf die sie durchgängig abschlägige Bescheide erhielten. In Sachsen wurde von mehreren Betroffenen auf die Negativbescheide hin Einspruch erhoben ( so auch von Herrn Manz, dessen Biografie im Rahmen des Projekts „Lebensgeschichtliches Archiv für Sachsen“ ( LGA ) am ISGV aufgenommen werden konnte; LGA Bestand 30 : Dokumente : Protokoll des Telefonats vom 25. 10. 2010) – der Ausgang ist derzeit offen. Siehe die aktuelle Darstellung unter http://www.euthansiegeschaedigte - zwangssterilisierte.de; 29. 1. 2012. 11 Zur entschädigungsrechtlichen Entwicklung in der SBZ bzw. DDR siehe Christoph Hölscher, NS - Verfolgte im „antifaschistischen Staat“. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945–1989), Berlin 2002; zur Nieden, „Un-
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Besatzungsmacht ( SMAD ) zunächst die deutschen Widerstandskämpfer aus der Arbeiterbewegung eine Schlüsselstellung ein. Mit der Auflösung ihrer organisatorischen Basis, der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“, und der Eingliederung der Dienststellen der „Verfolgten des Naziregimes“ in die lokalen Verwaltungen in den Jahren 1952/1953 wurden die NS - Verfolgten von Mitwirkungs - und Kontrollrechten zwar wieder ausgeschlossen und damit die Anerkennungspolitik verstaatlicht, die in der DDR ihren Versorgungsansatz gemäß der Wiedergutmachungspolitik ausbaute. Die zentralen Akteure der ersten Zeit hatten allerdings in die ostdeutsche Wiedergutmachungslogik das Ideal des antifaschistischen Widerstandskämpfers implantieren können, das mit der Übernahme politischer Aufgaben verschränkt worden war. Ihr Kampf um die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ ging von Beginn an mit einer scharfen Grenzziehung gegenüber anderen Verfolgtengruppen einher. Denn in ihren Augen erwiesen sich die weiteren Opferkategorien dieses zum makellosen Heldenbild stilisierten Ehrentitels nicht würdig. Die Forderung der politisch organisierten Widerstandskämpfer nach einer Vorzugsbehandlung fand schließlich zwar ( auch ) ihren Niederschlag in Sonderrechten : in der Schaffung einer besonderen Ehrenmedaille und später in der Einführung von Ehrenpensionen für „Kämpfer gegen den Faschismus“, die deutlich über den Bezügen der „Opfer des Faschismus“ lagen. Doch wurde im Zuge der damals aus politischem Kalkül verfolgten gesamtdeutschen Orientierung auch in der SBZ ein weites Spektrum NS - Verfolgter in die Anerkennung einbezogen, was auch politisch nonkonforme Verfolgte ( Juden, Zeugen Jehovas, Nichtkommunisten ) einschloss.12 Dahinter stand neben organisationsstrategischen Überlegungen auch die erklärte Absicht, die öffentliche Wahrnehmung von einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung des NS - Herrschaftssystems abzuhalten und deshalb einen Schlussstrich unter dieses Kapitel der Vergangenheit zu ziehen. Denn die öffentliche Präsenz dieser Widerstandskämpfer als gesonderte Gruppe von NS - Verfolgten drohte eine Beschäftigung mit dem Verhalten von Tätern und Mitläufern zu stimulieren. Die SED - Führung generierte auf diese Weise einen von konkreten personalen Bezügen befreiten Antifaschismus, der in seiner staatspolitischen Funktion durchaus erfolgreich war, wie Christoph Hölscher herausstreicht : „Für die Masse der Bevölkerung bot ein von würdige“ Opfer, S. 138–148; zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung; Nora Manukjan, „Euthanasie“ – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR. In : Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Hg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden 2004, S. 173–196. 12 Im September 1950 wurden die Zeugen Jehovas in der DDR verboten. Kurz danach wurde allen Mitgliedern dieser Glaubensrichtung der Status von Verfolgten des Nationalsozialismus ( VdN ) aberkannt, teilweise wurden sie wieder inhaftiert. Vgl. Hölscher, NS- Verfolgte, S. 134 f.; Wolfram Slupina, Verfolgt und fast vergessen. In : Hans Hesse ( Hg.), „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas“. Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, Bremen 1998, S. 318–343, hier 319, 325–328; Antje Zeiger, Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Sachsenhausen. In : Hesse (Hg.), „Am mutigsten“, S. 76–101, hier 96.
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persönlicher Erinnerung vollständig entleerter Antifaschismus dagegen die Möglichkeit der Identifizierung, ohne das eigene Verhalten während der NS - Zeit in Frage stellen zu müssen. [...] Die weitgehende Ignoranz etwa gegenüber dem Antisemitismus oder dem Sozialrassismus des NS - Regimes verhinderte nicht nur eine adäquate Rehabilitation der hiervon Betroffenen, sondern blockierte auch nachhaltig die Überwindung von politisch- kulturellen Deutungsmustern, die diesen Verfolgungen zugrunde gelegen hatten.“13 Für die „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten in der DDR bedeutete diese Entwicklung keinerlei Emanzipation und moralische Aufwertung, die geeignet gewesen wäre, das Selbstbild wie den gesellschaftlichen Umgang mit diesen Personengruppen anzuheben.
2.
Subjektives Erleben und Verarbeitung – Biografieforschung am ISGV
Damit zum zweiten Impuls für eine Beschäftigung mit diesem Personenkreis im Rahmen der Biografieforschung : Für die Opfergruppe der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“ - Geschädigten stellt das „Lebensgeschichtliche Archiv für Sachsen“ am ISGV einen geeigneten Untersuchungsrahmen dar.14 Denn mit einem systematischen Blick auf gesellschaftliche und mentale Positionen kann bereits in die Erhebungsphase die spezifische Schädigung durch den NS zusammen mit den begleitenden und den nachfolgenden psychosozialen Perspektiven und Problemen konsequent miteinbezogen werden. In gleicher Weise lässt sich diese Schädigung durch den NS über den Zugriff auf biografische Verläufe hinsichtlich von Entwicklungsdynamiken bzw. Brüchen untersuchen. Diese Perspektivierung erscheint besonders geeignet, die Opfergruppe nicht nur im Hinblick auf die Maßnahmen und Zumutungen der Zeit des Nationalsozialismus hin begleitend zum Aktenmaterial zu untersuchen, sondern auch der Frage nach 13 Hölscher, NS - Verfolgte, S. 234. 14 Der Forschungsansatz des „Lebensgeschichtlichen Archivs für Sachsen“ rückt die Eigenperspektive der handelnden Subjekte, der schreibenden oder mündlich berichtenden Individuen in den Mittelpunkt, die ihr eigenes Leben jeweils zum Zeitpunkt ihrer persönlichen Ausführungen reflexiv rekonstruieren, kreativ plausibilisieren und in eine der Situation angemessen erscheinende Erzählform gießen. Die Berücksichtigung dieser Konstruktionsdynamik lebensgeschichtlichen Erzählens kennzeichnet die kulturwissenschaftliche Bewusstseinsforschung. Lebensgeschichte wird dabei im Spannungsfeld von Gestern und Heute wie auch im Spannungsfeld von Subjektivität und gesellschaftlicher Vermittlung untersucht. Vgl. Manfred Seifert, Im Schnittpunkt von Biografieforschung, Alltagsgeschichte und Bewusstseinsanalyse. Zum volkskundlich - kulturwissenschaftlichen Design lebensgeschichtlichen Forschens. In : Bayerische Blätter für Volkskunde, Neue Folge 8/9 (2006/2007), S. 56–67 ( http://www.isgv.de / index.php ?page=1072). – Im Lebensgeschichtlichen Archiv führt das Erhebungsmaterial zu Zwangssterilisierten und „Euthanasie“ - Geschädigten die Bestandsnummer 30 ( LGA 30) und ist in Personenordner untergliedert. Sämtliche hier verwendeten Personennamen der Betroffenen sind anonymisiert ( das Zeichen * in Dokumentangaben entspricht ebenfalls einer Anonymisierung ).
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den Auswirkungen des gesellschaftlichen Umgangs in beiden Teilen Deutschlands nach 1945 auf die je persönliche Erfahrung und subjektive Verarbeitung nachzugehen. Dieser kulturwissenschaftlich dimensionierte Erhebungsansatz versteht biografische Berichte als Erzählungen, die stets als Geschichten aus Botschaften und Erfahrungen komponiert sind. Solche Erzählungen identifiziert die kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse als im Moment des Kommunikationsprozesses inhaltlich, stilistisch und artikulationsbezogen neu konstruierte Aussagen und nicht vordergründig als historische Quellen.15 Um diese Aussagen jenseits ihrer diskursiven Oberfläche zu analysieren, stehen mit den Auswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung Instrumente zur Verfügung – wie etwa die Narrationsanalyse ( sie zielt auf die innere Logik von Gesprächen), die Objektive Hermeneutik ( sie zielt auf die latenten Sinnstrukturen von Gesprächen ) oder die Konversationsanalyse ( sie zielt auf die soziale Ordnung in Gesprächen ), die geeignete Wege in die tieferen Schichten solcher Kommunikationsformen weisen.16 Zusammen mit der parallel erfolgenden Aktenrecherche gewährt dieser Ansatz somit einen erweiterten Einblick in die spezifischen Schädigungen durch den NS und ihre individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen.
3.
„Euthanasie“ - Geschädigte und Zwangssterilisierte in Sachsen – zwei Fallbeispiele
Im Folgenden sollen einige Fallbeispiele aus dem erhobenen Sample präsentiert und bezogen auf die Ausgangsthese analysiert werden. Diese Fallbeispiele sind ohne repräsentativen Anspruch gewählt, da dieser angesichts der Höhe der geschätzten Opferzahl und einer im Jahr 2008 angeführten Anzahl von 55 000 noch lebenden Zwangssterilisierten aus der Zeit des Nationalsozialismus17 auch schlichtweg vermessen wäre. Allerdings können die Lebensläufe dieses Projekts korreliert werden mit mehr als zehn Untersuchungen der subjektiven Wahrnehmung und Verfasstheit von Betroffenen, die von der Zeit des „Dritten
15 Zur kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsforschung vgl. Albrecht Lehmann, Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin 2007. 16 Zu interpretativen Verfahren der Gesprächsanalyse vgl. Aglaja Przyborski / Monika Wohlrab - Sahr, Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 2008; Frank Kleemann / Uwe Kränke / Ingo Mattuschek, Interpretative Sozialforschung. Eine praxisorientierte Einführung, Wiesbaden 2009; Hans Joachim Schröder, Technik als biographische Erfahrung 1930–2000. Dokumentation und Analyse lebensgeschichtlicher Interviews, Zürich 2007. Für Reflexionen über eine historisch informierte Kulturanalyse von geschichtlichem Quellenmaterial vgl. Kaspar Maase, Das Archiv als Feld ? Überlegungen zu einer historischen Ethnographie. In : Katharina Eisch / Marion Hamm ( Hg.), Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturforschung, Tübingen 2001, S. 255–271. 17 Zur Zahlenangabe für 2008 siehe Weindling, Entschädigung, S. 258.
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Reiches“ bis zum Jahr 2010 reichen.18 Dem aktuellen Anspruch an die empirische Methodik und Auswertung werden allerdings nur die jüngsten Studien gerecht. Insbesondere die Berücksichtigung des gesamten Lebenslaufs der Betroffenen ist bisher nur in seltenen Fällen erfolgt.
3.1
Lisa Schmidt
Die Mutter von Frau Lisa Schmidt ( geb. 1923) war laut Krankenakte aufgrund „Depressionszustandes“ 1928, Anfang 1931 und ein drittes Mal von Dezember 1931 bis April 1940 in der Landesanstalt Hubertusburg. Anschließend in die Heil - und Pflegeanstalt Hochweitzschen verlegt, erfolgte im August 1940 ein „Sammeltransport“ zu einem nicht angegebenen Ort. Nach gegenwärtigem Sachstand wurde sie wohl am Ankunftstag in der Heil - und Pflegeanstalt PirnaSonnenstein – zu diesem Zeitpunkt NS - Tötungsanstalt – durch Gas getötet.19 Lisa Schmidts Vater starb 74 - jährig im Jahr ihrer Geburt. Der familiäre Rechtsstreit um das Erbe und um Versorgungsleistungen für das Kleinkind brachte Lisa Schmidts Mutter offenbar derart in Bedrängnis, dass sich daraus die Einweisung in die Landesanstalt ergab. Die fünfjährige Lisa kam in Folge dessen 1928 für kurze Zeit zu einer Pflegefamilie und danach in das Kinderheim Coswig. Schließlich wurde sie ab 1930 bei einer zweiten Pflegefamilie mehrere Jahre lang als Kind körperlich und seelisch geschädigt sowie sexuell missbraucht – bis dies während ihrer Lehre zur Stenotypistin bei Köhler & Volkmar in Leipzig durch einen Sohn der Pflegefamilie nebst Schwiegertochter entdeckt wurde. Ihr Vorgesetzter im Betrieb hat sie daraufhin als Helferin zur Luftwaffe in den Raum Berlin vermittelt. Im Jahr 1944 heiratete sie, doch ihr erster Ehemann fiel im April 1945. Von ihrem zweiten Ehemann ließ sie sich nach dessen mehrfachem Ehebruch im Jahr 1952 scheiden. Um 1959 besaß sie laut Sozialversicherungsausweis drei abgeschlossene Ausbildungen als Stenotypistin (1938–1940), als Lehrerin (1956–1959) und als Jugendfürsorgerin (1959). Im letztgenannten Beruf arbeitete sie bis 1986.20 Während der DDR waren Frau Lisa Schmidt zufolge kaum Informationen über das Schicksal ihrer Mutter zu erlangen. Wie politisch erwünscht, fand zudem keine gesellschaftliche Diskussion über Entschädigung statt. Selbst die Angehörigen ihrer Mutter waren ihr bis weit nach dem Ende der DDR völlig 18 Vgl. die Übersicht bei Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 14–21 sowie die in Anmerkung 5 aufgeführte Literatur. 19 Frau Lisa Schmidt führte im Februar und April 2011 mit dem ISGV zwei Interviews (5 Stunden ) und übergab reichhaltige Dokumente ( ca. 300 Einheiten ). – LGA 30, Lisa Schmidt : Akte „T4“ Bundesarchiv; Briefe und Dokumente „Lebensgeschichte“ : zwei Briefe der Gedenkstätte Sonnenstein an Lisa Schmidt von März 2009. 20 LGA 30, Lisa Schmidt : Ausweise; Zeugnisse; Lebenslaufdaten des Ehemannes; Autobiografie „Kein Märchen“, hier S. 11 f. sowie S. 4 und 6 des Nachtrags 2003. SächsHStAD, Bestand 13195 Amtsgericht Grimma, VII 698/35 und VI 740/35 : Vormundschaftsakten der Lisa Schmidt und ihrer Mutter.
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unbekannt. Frau Schmidt versuchte allerdings früh, Licht in das Dunkel zu bringen. So erkundigte sie sich im April 1948 bei Gericht nach dem Verbleib der Wohnungseinrichtung ihrer Mutter. Die gerichtlichen Recherchen führten schließlich zu Frau Schmidts ehemaligem Vormund. Im Juli 1948 nahm sie auch Einblick in ihre eigene Vormundschaftsakte. In diesem Zusammenhang bat sie zudem ihre Pflegeeltern um Auskunft, die diese jedoch lange Zeit verweigerten: Sie setzten Frau Schmidt erst „in den sechziger, siebziger Jahren“ vom Tod der Mutter vermeintlich in der Landesanstalt Hartheim bei Linz in Kenntnis, indem sie ihr das bewusst desinformierende Schreiben vom August 1941 aushändigten, das den Tod der Mutter am 12. August 1941 kurz vor dem sogenannten „,Euthanasie‘ - Stopp“ meldet. Die Urne mit den sterblichen Überresten der Mutter ging laut dieser Todesnachricht an einen Empfänger in Leipzig, der Frau Schmidt unbekannt war. Dass es sich bei ihm um den Ehemann ihrer Tante handelte, konnte sie im Rahmen ihrer weiteren Recherchen erst in den Folgejahren nach 2003 erschließen. In ihrer Autobiografie schreibt sie über diese Zeit der 1960er und 1970er Jahre : „Damals habe ich die Sache so hingenommen, hatte ich doch seit vielen Jahren gar nichts von meiner Mutter gehört und mit mir selbst genug eigene Probleme. Als Mitarbeiter im Staatsapparat [ Fürsorgerin ] durfte ich ja sowieso nicht in das kap.[ italistische ] Ausland schreiben.“21 1978 konnte Frau Schmidt allerdings eine bereits in Rente befindliche Kollegin dazu gewinnen, an die Gemeinde Alkoven ( Amtsbezirk der Tötungsanstalt Hartheim ) zu schreiben. Von dort erhielt sie die Auskunft, „dass es sich [ bei Hartheim ] um eine NS - Verbrennungsanstalt handelte, in der sogenannte Euthanasieprozesse durchgeführt wurden.“ Der nächste Versuch Frau Schmidts, Informationen über ihre Mutter und ihre eigene Vergangenheit zu bekommen, begann erst nach der Wiedervereinigung im Oktober 1994, als ihre Hausärztin spärliche Informationen zum Aufenthalt der Mutter aus dem Sächsischen Krankenhaus Hubertusburg in Wermsdorf erhielt. 2003 fing sie an, eine Autobiografie zu schreiben. Und erst 2007, nach vier Jahren ausschließlich individueller emotionaler Aufarbeitung, kontaktierte Frau Schmidt erneut die Gemeinde Alkoven. Hierüber kam sie mit dem BEZ in Kontakt, der sie darin unterstützte,
21 SächsHStAD, Bestand 13195 Amtsgericht Grimma, VI 740/35 : Vormundschaftsakte der Lisa Schmidt, VIII 698/35 : Vormundschaftsakte der Mutter. LGA 30, Lisa Schmidt: Autobiographie „Kein Märchen“, S. 4 ( Zitate ). Die späte Entschlüsselung der Namen der Verwandtschaft zeigen ihre nach 2003 hinzugeschriebenen Notizen auf den maschinengeschriebenen Seiten der Autobiografie; Briefe und Dokumente „Lebensgeschichte“: Landesanstalt Hartheim an Lisa Schmidt vom 20. 8. 1941; Bundesarchiv Akte „T4“ der Lisa Schmidt. Aus den Dokumenten geht hervor, dass die Tante mit der Landesanstalt Hubertusburg ( Wermsdorf ) in Verbindung stand, auch eine Entlassung der Mutter Frau Schmidts anstrebte. – Zum sog. „Euthanasie - Stopp“ siehe Hans - Walter Schmuhl, „Euthanasie“ und Krankenmord, In : Robert Jütte u. a., Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, S. 214–255, hier 229; Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 2010, S. 386–391.
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Entschädigungsleistungen zu erhalten. Im Jahr 2011 schließlich sprach sie das erste Mal in zwei Interviews über ihre Lebensgeschichte.22 Dieses Fallbeispiel präsentiert das familiengeschichtliche Interesse der im Alter von 17 Jahren zur Vollwaise gewordenen und unter skandalösen Bedingungen aufgewachsenen Lisa Schmidt, das ihr Engagement zu Recherchen über den Euthanasiemord an ihrer Mutter motiviert : Sie betrieb als sich staatsnah positionierende DDR - Bürgerin ( SED - Mitgliedschaft, Gerichtsschöffin u. a.) und angekommen in „stabilen“ beruflichen und privaten Verhältnissen Nachforschungen im „Westen“ mit Hilfe einer ins Vertrauen gezogenen Kollegin. Eine gesellschaftliche Akzeptanz oder gar behördliche Unterstützung war aus ihrer Sicht während der DDR - Zeit ausgeschlossen.
3.2
Mathilde Berg
Die Mutter von Frau Mathilde Berg23 wurde 1897 geboren, 1936 zwangsweise sterilisiert und lebte bis 1974. Die Krankheitsgeschichte („manisch - depressives Irresein“24) der Mutter begann wohl nach dem Tod ihres letzten Elternteils 1916. Die Aufgabe ihrer beruflichen Anstellung im Jahr 1922 nach ihrer Heirat unterstützte ihre Neigung zu psychischer Labilität ebenso wie die beengten Wohnverhältnisse der jungen Familie. Mathilde wurde 1926 geboren. Nachdem ihre Mutter 1930 einen Selbstmord versucht hatte, verschlimmerte sich mit der Geburt ihres zweiten Kindes 1935 die Situation erneut, was in der Folgezeit eine Reihe von medizinischen, therapeutischen und rechtlichen Konsequenzen nach sich zog : Im Jahr 1936 wurde die Mutter zwangsweise sterilisiert. Es folgten mehrere Aufenthalte in Kliniken und Landesanstalten ( Sonnenstein, Arnsdorf, Untergöltzsch, Großschweidnitz ) bis nach Kriegsende. Im Jahr 1937 wurde ihr Ehemann als Pfleger bestellt. Im Jahr 1940 folgte ihre Entmündigung, die Schwester ihres Ehemanns wurde als Vormund eingesetzt. Schließlich löste auch die Krankenkasse ihr Versicherungsverhältnis mit der Mutter.25 Der Gefahr, ein 22 LGA 30, Lisa Schmidt : Autobiografie „Kein Märchen“; Briefe und Dokumente „Lebensgeschichte“ : Entschädigungsantrag, „Teil 2“ : Sächs. Krankenhaus Hubertusburg an DM Martina Beckel vom 24. 11. 1994; Lisa Schmidt an die Gemeinde Alkoven vom 11. 2. 2007; Gemeindeamt Alkoven an Frau N.N. vom 21. 12. 1978 ( Zitat ). 23 Frau Mathilde Berg stellte sich 2009/2010 zu zwei Interviews ( insgesamt 5 Stunden ) zur Verfügung und übergab dem ISGV - Projekt zahlreiche Dokumente ( ca. 200 Einheiten ). Es handelt sich v. a. um privaten und amtlichen Schriftwechsel, handschriftliche Notizen aus den 1930er und 1940er Jahren, Ahnentafeln, die schulische Abschlussarbeit „meine Sippe“ von 1943 sowie ein kommentiertes Fotoalbum. Erst 2012 konnte die Krankenakte der Mutter ermittelt werden ( ca. 150 Blätter ) : SächsHStAD, Bestand 10822 : Landesanstalt / Fachkrankenhaus Großschweidnitz, Nr. 2213. 24 LGA 30, Mathilde Berg : Dokumente : mehrere Nennungen, z. B. Erbgesundheitsgericht an den Vater Frau Bergs vom 6. 7. 1935, bzgl. Abweisung der Beschwerde zur Unfruchtbarmachung. 25 LGA 30 Mathilde Berg, Dokumente : „,Leb wohl, du Schöne Zeit !‘ Zweimal in selbstmörderischer Absicht in die Elbe gesprungen und doch gerettet“ ( Zeitungsausschnitt
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Opfer der Euthanasie zu werden, entkam sie vermutlich nur knapp : Wahrscheinlich infolge des „,Euthanasie‘ - Stopps“ wurde die im April 1941 nach Arnsdorf überstellte Mutter im Dezember gleichen Jahres nach Untergöltzsch verlegt, von wo aus sie im April 1942 nach Hause entlassen wurde. Bis Kriegsende wurde Frau Bergs Mutter in den Zeitphasen zwischen den Aufenthalten in Heil - und Pflegeanstalten im Kreis der Familie betreut und gepflegt. Da sie neben dem Haushalt auch ihre Kinder vernachlässigte, entwickelten die Töchter freilich ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter. Mathilde Berg war seit der Einstufung ihrer Mutter als erbkrank in der Nachbarschaft wie in der Schule merklichem psychosozialem Druck ausgesetzt, der sich für sie vor allem in der Mittelschule im Biologieunterricht bemerkbar machte. Sie leidet bis heute darunter, dass es ihr nicht möglich war, in der Öffentlichkeit offen über die Situation ihrer Mutter zu sprechen.26 Kurz nach Kriegsende folgte von Februar 1946 bis Februar 1947 ein weiterer Aufenthalt ihrer Mutter zunächst im Stadtkrankenhaus Dresden - Löbtau und dann in der Heil - und Pflegeanstalt Großschweidnitz. Ein Ansuchen um Kostenübernahme der medizinischen Behandlung im Jahr 1946 lehnte die Sozialversicherungsanstalt Dresden Mitte Juli 1946 mit dem Hinweis ab : „Bei Geistesstörung werden grundsätzlich keine Kosten übernommen.“ Dem schloss sich über drei Jahre ein Ringen mit der Sozialversicherungskasse um Fragen der Erwerbsminderung der Mutter an, das schließlich 1949 mit dem Entzug der Invalidenrente endete − amtlicherseits wurde eine achtzigprozentige Erwerbsfähigkeit attestiert und anschließend auch die Entmündigung aufgehoben. Bis zum Ende der DDR kam es im Briefwechsel mit den Behörden zu keinem Austausch über Entschädigungsfragen. Dies liegt vor allem in dem gescheiterten Versuch der Familie begründet, die Akten zur Sterilisierung der Mutter zu ermitteln.27 Nach ihrem letzten Anstaltsaufenthalt 1946/47 lebte Frau Bergs Mutter wieder zusammen mit ihrem Mann in der angestammten Wohnung, wobei sie allerdings begleitend betreut werden musste. Diese Aufgabe übernahmen die beiden Töchter, also Frau Berg und ihre Schwester. Darüber hinaus wurde eine Füraus dem Dresdner Anzeiger Nr. 371/ Morgenausgabe vom 9. 8. 1930, S. 6); Bestallungsurkunde vom 16. 2. 1937; Brief des Vaters von Mathilde Berg an Dr. med. Hans Haenel vom 14. 1. 1939; Ärztliches Zeugnis des Dr. med. Hans Haenel vom 27. 3. 1939; Schreiben des Vaters an Landesanstalt Sonnenstein vom 29. 3. 1939; Gerichtskasse Dresden an S. H. ( Schwester des Vaters ) vom 28. 7. 1941. 26 LGA 30, Mathilde Berg : Interview 1 Z 233–253. Sie berichtet u. a. : „[...] ich habe mich dann manchmal gefürchtet, einkaufen zu gehen [...], da haben Jungs mit Steinen nach mir geworfen. [ mimt :] ,Dort kommt wieder die, die die verrückte Mutter hat‘.“ (Interview 1 Z 1999–2006). 27 LGA 30, Mathilde Berg : Rechnung des Stadtkrankenhauses Löbtau ( Dresden ) vom 29. 5. 1946; Mahnung des Stadtkrankenhauses Löbtau ( Dresden ) vom 12. 7. 1946; Notiz der Sozialversicherungskasse Dresden vom 15. 7. 1946 ( Zitat, Hervorhebung im Original ); Briefwechsel zwischen der Sozialversicherungskasse Dresden und Frau S. H. (= Tante mütterlicherseits von Frau Mathilde Berg ) vom 15. 7. 1946, 30. 7. 1948, 24. 12. 1948 und 20. 4. 1949.
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sorgerin benötigt. Als Frau Berg um 1950/51 kurz vor ihrer Verehelichung stand, wurde sie von dieser Fürsorgerin massiv verunsichert und bedrängt. Diese wollte sie von der Verehelichung und der Erfüllung eines Kinderwunsches abhalten mit dem Hinweis, dass die vermeintliche erbliche Belastung ihrer Mutter auch bei Frau Berg vorläge und deshalb an einen gesunden Nachwuchs nicht zu denken sei.28 Solche Erlebnisse belasten Frau Berg bis heute. In der Folgezeit, namentlich nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1962, verschlechterte sich der Allgemeinzustand der Mutter schließlich so sehr, dass die Belastung für Mathilde Berg zunehmend unhaltbar wurde. Denn sie war inzwischen selbst Ehefrau und Mutter sowie weiterhin beruflich als Schneiderin und schließlich als Sekretärin tätig. Auch Mathilde Bergs Schwester verehelichte sich. Infolge dessen ließ sich die über Jahre geübte gemeinschaftliche Betreuung der Mutter durch ihre beiden Töchter und weitere Verwandte immer schlechter realisieren, die Verwahrlosung ihrer Mutter nahm drastische Züge an. In dieser Situation richtete Frau Berg ab 1966 mehrere Aufnahmegesuche an Pflegeheime und 1973 an die psychologische Beratungsstelle, nachdem die Mutter ihre Aufnahme im letzten Moment zweimal selbst verweigert hatte. Schließlich wandte sich sogar die Dresdner Wohnbaugenossenschaft an das Gesundheitswesen des Stadtbezirks Ost mit der Beschwerde wegen Nicht - Einweisung der Mutter in eine Pflegeanstalt. Denn das unkontrollierte Verhalten ihrer Mutter garantiere nicht mehr die Brandsicherheit der Wohnanlage. In der Folge wurde die Beratungsstelle für Neurologie und Psychiatrie der Stadt Dresden aktiv, indem sie vorschlug, ihre Mutter zunächst für drei bis vier Wochen im Bezirkskrankenhaus Arnsdorf aufzunehmen und von da aus in ein Pflegeheim zu verbringen. Zeitgleich wurde ihre Mutter ein zweites Mal entmündigt. Schließlich kam sie im Herbst 1973 infolge eines Beinbruchs ins Krankenhaus, wo sie im Februar 1974 verstarb. Während dieser Jahre und auch danach reagierten Bekannte verschiedentlich auf Frau Bergs Problemschilderungen mit verharmlosenden Bemerkungen und dem Hinweis, dass es doch üblich sei, die eigene Mutter im Krankheitsfalle zu pflegen. Dieses Unverständnis sowie die staatliche Ignoranz gegenüber dieser Opfergruppe bewirkten, dass sich Frau Berg erst nach der Wiedervereinigung zu weiteren Recherchen ermutigt fühlte.29 Schließlich nahm sie 2005 auch 28 LGA 30, Mathilde Berg : Interview 1 Z 523–542. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes führte diese Fürsorgerin gegenüber Frau Berg eine weitere gleichgerichtete Invektive ( Interview 1 Z 551–572). – In welcher Form und wie lange eine Betreuung staatlicherseits gegeben war, ist noch zu recherchieren. In dem vom Vater gesammelten und vor dem Tod 1962 an sie übergebenen Schriftwechsel sind keine wesentlichen Dokumente erhalten und Frau Berg kann sich an keine Daten erinnern. Für die 1970er Jahre ist eine Fürsorge auszuschließen ( vgl. Schreiben des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands Gruppe 37 I / II an Beratungsstelle für Neurologie und Psychiatrie der Stadt Dresden vom 4. 6. 1973). 29 LGA 30, Mathilde Berg : Korrespondenz Mathilde Berg mit Pflegeheim Leuben in Dresden vom 6. 6. 1972, 10. 7. 1972, 27. 7. 1972, 7. 9. 1972; Schreiben Frau Bergs an psychologische Beratungsstelle Dresden vom 20. 2. 1973; Schreiben der Dresdner Wohnbaugenossenschaft an Gesundheitswesen Stadtbezirk Ost vom 22. 3. 1973; Schreiben der
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zum BEZ Kontakt auf : diese Korrespondenz erstreckte sich bis zur Vereinsauflösung des BEZ Ende 2009. Eine Entschädigung ist allerdings bis heute nicht erfolgt. Das Fallbeispiel Mathilde Berg zeigt die von 1930 an bis zum Tod ihrer Mutter im Jahre 1974 durchgehenden Anstrengungen der Familie, der Mutter pflegerische und medizinische Betreuung zukommen zu lassen. Dieses starke persönliche und auch finanzielle Engagement hat während der NS - Zeit immerhin dazu beigetragen, mögliche weitergehende Einwirkungen der NS - Erbgesundheitspolitik zu verhindern. In der DDR - Zeit verweigerten die staatlichen Stellen sowohl Entschädigungsleistungen als auch eine angemessene sozialdienstliche Unterstützung. Wie insbesondere das schleppende, ja weithin unkooperative Verhalten der Institutionen über Jahre hinweg verdeutlicht, erwiesen sich die Behörden in diesem Fall als weitgehend uninteressiert im Hinblick auf Hilfestellungen oder Wiedergutmachung. Neben der Diagnose „Geistesstörung“ dürfte hierfür auch die gutbürgerliche Sozialstellung der Familie, die nicht in das Profil des Versorgungsansatzes der DDR passte, ausschlaggebend gewesen sein. Erst das von der verwahrlosten Mutter ausgehende Gefährdungspotenzial für die Wohnungsnachbarschaft evozierte institutionelle Schritte.
4.
Das Erhebungssample des ISGV - Projekts im Überblick
Jenseits der beiden näher skizzierten Fälle soll im vorliegenden Abschnitt ein Überblick über den Gesamtbestand des ISGV - Projekts mit seinen 14 biografischen Fallgeschichten gegeben werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Diversität der Fälle – und insbesondere die Vielfalt an Umgangsformen und Verarbeitungsweisen der Betroffenen während der DDR - Zeit – sowie einige übergreifende Charakteristika des empirisch erhobenen Materials. Die Diversität der Fälle sollen weitere drei Szenarien veranschaulichen : – Der Vater von Gabriele Winz ( geb. 1935) war Schuhmacher in Angerapp / Ostpreußen. Er wurde 1935 ca. 29 - jährig aufgrund der Diagnose „Schizophrenie“ zwangssterilisiert und 1941, wahrscheinlich in Pirna - Sonnenstein, ermordet. Über die Umstände seines Todes wusste Gabriele Winz lange Zeit nicht Bescheid. Nach der Flucht 1945 gelangten die verbleibenden Familienmitglieder ( Mutter, Tochter, Sohn ) in die Nähe von Wiesenburg / Sa., wo Frau Winz den späteren Abschnittsbevollmächtigten des Ortsteils heiratete. In dieser Konstellation kam es zu keinen Nachforschungen zur Ermordung ihres Dresdner Wohnbaugenossenschaft an Gesundheitswesen Stadtbezirk Ost vom 22. 3. 1973; Schreiben des Demokratischen Frauenbunds Deutschlands Gruppe 37 I / II an Beratungsstelle für Neurologie und Psychiatrie der Stadt Dresden vom 4. 6. 1973; Interview 2 Z 3547–3613 und Z 3618–3636. Frau Berg versuchte z. B., das Krankenhaus zu ermitteln, in dem ihre Mutter sterilisiert wurde. Doch seien im ,Krankenhaus Johannstadt‘ ( Dresden ) alle „Unterlagen verbrannt“ gewesen. Interview 1 Z 1242– 1291.
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Manfred Seifert / Lars Polten
Vaters. Ihr Ehemann starb 1989, ein Jahr später dann ihre Mutter, die vor ihrem Tod noch zahlreiche Dokumente vernichtet hatte. Schließlich begann der Bruder von Frau Winz im Jahr 2001 mit Recherchen über den Vater, doch auch er teilte ihr seine Erkenntnisse nicht mit. Erst im Jahr 2008 – wenige Wochen vor unserem Interviewtermin im November – schickte er Frau Winz eine Kopie der Krankenakte des Vaters, wodurch sie das erste Mal im Jargon der NS - Medizin mit der wahren Krankengeschichte konfrontiert wurde.30 – Die Eltern von Gerhard Manz ( geb. 1937) waren Zeugen Jehovas. Während der Vater wegen seines Glaubens ab 1935 mehrmals in Haft kam und schließlich 1939 in ein Konzentrationslager überwiesen wurde, wurde die Mutter von Mai 1941 bis Januar 1944 aus bisher ungeklärten Gründen in die Heil und Pflegeanstalten Hochweitzschen und Zschadraß eingewiesen, bevor sie ( vermutlich am 8. 1. 1944) in der Heil - und Pfleganstalt Meseritz - Obrawalde ermordet wurde. Gerhard Manz wurde vor 1945 von einer Tante väterlicherseits aus dem Kinderheim geholt, 1948 aber vom heimgekehrten Vater in eine Pflegefamilie gegeben. Wie er sich erinnert, sei dem Vater der Status eines „Opfers des Faschismus“ aberkannt worden; in der Folge wechselte dieser in die Bundesrepublik über, wo er 1986 starb. Der bei unseren Kontakten gefasst wirkende Herr Manz konnte vor 1989 aufgrund seiner emotionalen Betroffenheit kaum über das Schicksal seiner Eltern sprechen; erst nach seiner Kontaktaufnahme zum BEZ gelang es ihm, seine Gefühle besser zu beherrschen. So konnte er schließlich sogar ehrenamtlich bei der Vereinstätigkeit des BEZ mitwirken und Gesprächskreise in den neuen Bundesländern organisieren.31 – Herr Manfred Fritsch ( geb. 1925), dessen Vater ab 1935 mehrmals aufgrund seines Engagements in der Arbeiterbewegung verhaftet und schließlich in Pirna - Sonnenstein ermordet worden war, erlebte als Kind, wie seine Mutter relevante Dokumente vernichtete bzw. unkenntlich machte. Heute bemängelt er die fehlenden Nachforschungen seiner Mutter, die nie den möglichen Status eines „Opfers des Faschismus“ für ihren ermordeten Ehemann anstrebte.32 Herr Fritsch war bis 1989 als Lehrer und Direktor einer Leipziger Polytechnischen Oberschule tätig. Danach nahm er Kontakt zum BEZ auf, der in der Folgezeit mit ihm einige Interviews führte. Nach weiteren Interviews mit dem ISGV verweigerte er seit 2011 jede weitere Kommunikation zum Schicksal seines Vaters. Denn wie er resignierend feststellte, habe sich trotz seiner vielen Interviews aus seiner Sicht an dem teils vermeintlichen, teils offenkundigen Desinteresse der Gesellschaft nichts geändert.33
30 LGA 30, Gabriele Winz : Interview und Dokumente. 31 LGA 30, Gerhard Manz : Interview und Dokumente. 32 LGA 30, Manfred Fritsch : Interview 2 Z 50 f. und 82 f. : „weggeschmissen, weil sie Angst hatte“, Mutter sagte : „Ich will am Tode meines Mannes nichts verdienen“. 33 LGA 30, Manfred Fritsch : zwei Interviews und Dokumente.
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Die im Rahmen des ISGV - Untersuchungsprojekts dokumentierten Interviews offenbaren sowohl eine große Unterschiedlichkeit der Lebensläufe als auch der Mechanismen der persönlichen Verarbeitung und des Umgangs mit dem eigenen Schicksal. Als spezifisch kann dagegen beinahe durchgängig mangelnde Artikulation der spezifischen Problemlage – bis hin zur Artikulationsver weigerung – sowie ein relativ starkes Empfinden der Stigmatisierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung festgestellt werden. Als auffällig erweist sich, dass in den subjektiven Berichten zwar für die Zeit vor 1945 wie auch für die Zeit ab 1989/1990 die jeweilige Problemlage hinreichend geschildert und gedeutet wird, der Erzählmodus für die Phase der DDR jedoch deutlich geringer, inkonsistent und unausgewogen ausfällt. Diese auffällige Tendenz zu fragmentarischer Berichterstattung oder gar einer kommunikativen „Lücke“ gerade für die DDR - Zeit bildet ein erstes übergreifendes Charakteristikum des Materials. Es entsteht der Eindruck, dass die Interviewpartner ohne die politische und gesellschaftliche „Wende“ von 1989 mit ihren nun sich bietenden Optionen rechtlicher Anerkennung und dem neuen öffentlichen Diskurs vermutlich nicht zu einer expliziten Reflexion und Diskussion ihrer Problemlagen gefunden hätten. Eine zweite Beobachtung war die wiederholt auftretende Versicherung der Befragten, dass in der DDR - Zeit der Umgang mit dem Thema nicht möglich gewesen sei. Es sei nicht nur unmöglich gewesen, während der Existenz der DDR dieses Thema öffentlich zu machen, es sei vielmehr verschwiegen worden, doch sei dies normal für die DDR gewesen. Lediglich ein Interviewpartner, Herr Aumüller, berichtet, dass er habe offen reden können.34 Drittens war auffallend, dass alle drei Zwangssterilisierten des Samples zur Erhebungszeit einsam lebten. Von ihnen waren aufgrund der körperlichen Konstitution und der gebotenen vorsichtig - sensiblen Herangehensweise keine tiefergehenden Nachfragen oder Nachforschungen erwünscht und daher auch nicht angeraten.35 Alle 14 Befragten traten nach 1989 in Kontakt mit dem BEZ. Viermal erfolgte diese Kontaktnahme aufgrund von Zeitungsartikeln über den BEZ, in einem Fall über die Verwandtschaft, in einem weiteren Fall durch institutionelle Vermittlung sowie einmal auch aufgrund der örtlichen Nähe zu einer ehemaligen Tötungsanstalt. Für die übrigen sieben Fälle wurden Anlass und Motivationen zur Kontaktnahme mit dem BEZ nicht mehr erinnert. Allgemein staatlich entschädigt wurden zehn der 14 Befragten; bei drei Befragten konnte keine Information darüber erlangt werden; eine Befragte – Mathilde Berg ( s. o.) – hat keine Entschädigung erhalten. Allen Zwangssterilisierten geht, sofern sie noch leben, aktuell eine monatliche Zahlung von 291,– Euro zu; die Angehörigen von Ermordeten erhielten eine Einmalzahlung über 2 556,46 Euro ( vormals 5 000,– DM ).
34 Vgl. LGA 30, Gerd Aumüller, Lissa Flade, Gerhard Manz, Gabriele Winz. 35 Vgl. LGA 30, Astrid Meininger, Ursula Richter, Günther Sonnfeld.
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5.
Manfred Seifert / Lars Polten
Fazit
Die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus warfen – wie die im Rahmen des ISGV - Projekts untersuchten Fälle zeigen – für die Betroffenen unter den Bedingungen der DDR lange Schatten. Denn hier gingen staatliche wie auch privat - subjektive Mechanismen einer Ausblendung bzw. Verdrängung der nationalsozialistischen Schädigung im Rahmen erbgesundheitlicher Eingriffe konform mit der entschädigungsrechtlichen und gesellschaftspolitisch geleiteten Auseinandersetzung mit der NS - Vergangenheit in der DDR. Entsprechend verhielten sich in den untersuchten Fällen zum einen die Ämter und Behörden, die gegenüber den Betroffenen hinsichtlich der speziellen Schädigung durch den NS Ignoranz walten ließen. Zum anderen zeigt sich bei denjenigen Betroffenen, die bereit und fähig sind, sich mit der subjektiven Problematik auseinanderzusetzen, ein spezifisches Verhältnis wie auch eine kennzeichnende Haltung gegenüber dieser Thematik. In einigen Fällen erfolgten bewusst Recherchen, und die Beschäftigung mit dem erlittenen Unrecht blieb individuell ein Bedürfnis. Es fehlte jedoch eine gesellschaftliche Kommunikation, zumal auch die Behörden die Betroffenen nicht unterstützten. Damit wurde deren Möglichkeit, ihr Schicksal befriedigend aufzuarbeiten, nachhaltig behindert. In anderen Fällen ist eine deutliche Zurückhaltung im persönlichen Umgang mit der NS - Schädigung zu erkennen. Die durch die Medizinverbrechen im NS zum Ausdruck kommende Exklusion der Betroffenen aus dem Gefüge der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft führte bei den Opfern wie bei deren Familienangehörigen nach 1945 großenteils zu aktiven Bemühungen um eine Inklusion in die sozialistische Gesellschaft, wobei sich jedoch die offene Thematisierung der im Nationalsozialismus erlittenen Schädigung vielfach als behindernd erwies. Dies bildete für die Betroffenen häufig ein Dilemma. Wie sich in den Interviews inhaltlich zeigt, fehlte dem gesellschaftlichen Umfeld die Bereitschaft, den Befragten eine reflektierte und dem jeweiligen persönlichen Schicksal angemessene soziale Kommunikation über die Schädigung durch den NS zu ermöglichen. Insofern offenbaren die Interviews auf sprachlich - stilistischer Ebene oft eine Art von Sprachlosigkeit über die subjektive Bewältigung dieser Schädigung in der DDRZeit, die sich deutlich im Spannungsfeld zwischen kommunikativem Ausdrucksmangel und inversiver psychosozialer Reduktion bewegt.
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Justizieller Antifaschismus ? Der Moskauer Geheimprozess gegen den sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann Mike Schmeitzner Antifaschismus war der zentrale Begriff, mit dem führende Funktionäre von KPD und SED den von ihnen gesteuerten Neubeginn in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ( SBZ ) zu legitimieren versuchten. Als „antifaschistischdemokratisch“ galt bald eine ganze Periode ostdeutscher Geschichte, die mit der Gründung der DDR 1949 einen neuen Wendepunkt erhielt. Bei den Weichenstellungen im Zeichen dieses Antifaschismus handelte es sich sowohl um die personellen Säuberungen der Verwaltungen und Wirtschaftsunternehmen als auch um gravierende Einschnitte in der Eigentumsstruktur, womit früh Kurs auf ein neues Gesellschaftssystem genommen wurde. Als justizieller Antifaschismus lässt sich dagegen der Versuch umschreiben, NS - und Kriegsverbrechen auf dem Rechtsweg zu ahnden. In der SBZ / DDR gingen Abrechnung und Aufklärung allerdings mit den von der KPD / SED verfolgten politisch - ideologischen Implikationen Hand in Hand und waren häufig an den Interessen der sowjetischen Besatzungsmacht ausgerichtet. Obschon in diesem Bereich – wie Annette Weinke betonte – die neuen herrschenden Kräfte in der SBZ selbst erhebliches Interesse bekundeten,1 übernahm die sowjetische Besatzungsmacht in den ersten Jahren einen Großteil der Fälle in eigene Regie.2 Die Ahndung von Verbrechen gegen alliierte Militärangehörige und Zivilisten durch alliierte Gerichte war unter den in Potsdam auftretenden Siegermächten ohnehin Konsens. Jörg Osterloh und Clemens Vollnhals haben in ihrem jüngst erschienenen Band über „NS - Prozesse und deutsche Öffentlichkeit“ darauf hingewiesen, dass „Strafverfahren zur Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen [...] von Anfang an auch zum Ziel“ hatten, die „deutsche – wie die internationale – 1 2
Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 112 f. Das betreffende Kapitel ihres Buches ist nicht von ungefähr mit dem Titel „Justizieller ‚Antifaschismus‘“ überschrieben. Vgl. Andreas Hilger / Ute Schmidt / Günther Wagenlehner ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 1 : Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001; Andreas Hilger / Mike Schmeitzner / Ute Schmidt ( Hg.), Sowjetische Militärtribunale. Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; Andreas Hilger ( Hg.), „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ / DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006.
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Mike Schmeitzner
Öffentlichkeit über den Charakter und die Verbrechen des NS - Regimes unmissverständlich aufzuklären“.3 Als regelrechte „Lehrstücke“ waren etwa der „First Belsen Trial“ der britischen Besatzungsmacht gegen die Wachmannschaften des vormaligen KZ Bergen - Belsen im Herbst 1945 und die alliierten Nürnberger Verhandlungen gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 angelegt.4 In dieselbe Richtung zielte auch der mit großem Medienaufwand gestartete Dresdner Prozess gegen die Wachmannschaften des Radeberger Arbeitslagers, in dem ebenfalls im Herbst 1945 deutsche Richter über deutsche Täter zu Gericht saßen.5 Für eine solche Aufklärungsarbeit hatten sich schon vor Kriegsende deutsche Nazi - Gegner vehement ausgesprochen. Einer der prominentesten unter ihnen, der bekannte deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque ( der Verfasser des Weltbestsellers „Im Westen nichts neues“), hatte bereits 1944 im amerikanischen Exil dem US - Geheimdienst OSS6 ein Thesenpapier vorgelegt, das von „öffentlichen Gerichtsverhandlungen“ gegen „schuldig“ gewordene NS - Funktionäre ausging. Remarque plädierte darin explizit für deutsche Gerichte, da sie eine größere Wirkung entfalten würden als alliierte. Die Geschworenen, so der Schriftsteller, könne man „in Konzentrationslagern finden, unter bekannten Antifaschisten und ( mit Vorsicht, aber um der Wirkung willen ) unter einigen eindeutigen Anti - Nazi - Offizieren“.7 Remarque hatte guten Grund gehabt, sich derart unmissverständlich zu positionieren, war doch seine Schwester von der NS - Justiz wegen regimekritischen Äußerungen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.8 Was hätte unter derartigen Umständen näher gelegen, als jenen NS - Funktionär öffentlich vor Gericht zu stellen, der in Sachsen wie kein anderer das NS Regime geradezu personifizierte ? Martin Mutschmann, der vormalige NS - Gauleiter, Reichsstatthalter, Ministerpräsident und Reichsverteidigungskommissar, war hier jedermann bekannt – und 1945 – inzwischen vielen verhasst. Schon 1942 hatte ihn Viktor Klemperer, eines seiner prominentesten Opfer, in seinem Tagebuch als den „verhasstesten Mann in Dresden“, „auch bei den Ariern, auch 3 4
5 6 7 8
Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals ( Hg.), NS - Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 11–31 ( Einleitung), hier 11. Vgl. ebd.; John Cramer, Der erste Bergen - Belsen - Prozess 1945 und seine Rezeption durch die deutsche Öffentlichkeit. In : ebd., S. 75–92; Heike Krösche, Abseits der Vergangenheit. Das Interesse der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit am Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46. In : ebd., S. 93–105. Vgl. Christian Meyer - Seitz, Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1998, S. 24–27. Der Office of Strategic Services ( OSS ) war der Nachrichtendienst des US - amerikanischen Kriegsministeriums. Erich Maria Remarque, Praktische Erziehungsarbeit im Deutschland nach dem Krieg (1944). In : Thomas F. Schneider ( Hg.), Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966, Köln 1998, S. 66–83, hier 70. Vgl. Claudia Glunz / Thomas F. Schneider, Elfriede Scholz, geb. Remark. Im Namen des deutschen Volkes. Dokumente einer justitiellen Ermordung, Osnabrück 1997.
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Justizieller Antifaschismus ?
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bei den Nazis“ bezeichnet.9 Warum also wurde der sächsische „Gaufürst“ nicht 1945 in einem öffentlichen Prozess in Dresden angeklagt ? Weshalb änderte die Besatzungsmacht ihre Verfolgungspraxis, nachdem sie bis Sommer 1945 den Fall selbst immer wieder öffentlich gemacht und einen Prozess angekündigt hatte ? Vor welchen sowjetischen Rechtsinstanzen landete letztlich der Fall ? Und auf welche Verbrechenskomplexe konzentrierte sich die Anklage ? Wie stichhaltig waren Beweismaterial und Belastungszeugen ? Handelte es sich gar um einen Akt von stalinistischer Willkür - und Siegerjustiz, der sich von vergleichbaren westlichen Prozessen abhob ?10
1.
Der „Sachsenführer“
Biographisch gesehen wäre Mutschmann zweifellos eine Art „Muster - Angeklagter“ gewesen – wäre es denn zu einem raschen öffentlichen Prozess gekommen: Gerade er war ein Hitler besonders treu ergebener, extrem skrupelloser Antisemit, der als „gescheiterter Kleinunternehmer“, „Provinzdespot“ und Durchhaltefanatiker von sich reden gemacht hatte.11 Er, der Hitler später half, die rote in eine braune sächsische Hochburg zu verwandeln, wurde im Dreiländereck Bayern - Thüringen - Sachsen geboren, und zwar auf Thüringer Seite, in Hirschberg an der Saale. Die kinderreiche Familie zog es bald nach Martin Mutschmanns Geburt in die wirtschaftlich aufblühende sächsische Metropole Plauen. Hier – in der prosperierenden Textil - und Spitzenstadt – legte der zielstrebige junge Mann das Fundament seiner späteren Karriere.12 Nach dem Besuch der Bürger - und Handelsschule und der Lehre als Stickermeister arbeitete er sich nach oben. Der Sohn eines Schlossermeisters wollte mehr aus seinem Leben machen als sein Vater, und schaffte es tatsächlich bald mit eisernem Willen : Er 9 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942–1945. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995, S. 190 ( Eintrag vom 31. 7. 1942). Diese Charaktersierung erscheint zumindest etwas überzeichnet, da Mutschmann bis in die letzten Tage hinein noch über einigen NS - Anhang verfügte. 10 Zu Mutschmanns Ende vgl. ausführlich Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, 3. Auflage, Beucha / Markkleeberg 2012. 11 Mike Schmeitzner, Martin Mutschmann. In : Matthias Donath / André Thieme ( Hg.), Sächsische Mythen. Menschen – Orte – Ereignisse, Leipzig 2011, S. 259–269, hier 259; Frederick Taylor, Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror ?, München 2004, S. 74 f.; Klaus - Dietmar Henke / Christiane Schmitt Teichert, Die dramatische Dekade. Über Dresden in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In : Dresdner Geschichtsbuch. Hg. vom Stadtmuseum Dresden, Altenburg 2007, S. 203–230, hier 208. 12 Zur Biographie Mutschmanns vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann; Thomas Mai, Der faschistische sächsische Gauleiter Martin Mutschmann, die Entwicklung des Gaues Sachsen und der NSDAP [ unveröffentlichte Diplomarbeit ], Jena 1984; Andreas Wagner, Martin Mutschmann. Der braune Gaufürst (1935–1945). In : Mike Schmeitzner / Andreas Wagner ( Hg.), Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 279–308.
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Mike Schmeitzner
wurde Lagerchef und Abteilungsleiter in Spitzen - und Wäscheunternehmen, danach Geschäftsführer eines mittelständischen Betriebes; 1907 gründete er schließlich mit seinem Sozius Karl Eisentraut einen kleinen Textilbetrieb in Plauen, den er trotz Rezession und Weltkriegsteilnahme am Laufen halten konnte.13 Eine spezifische politische Prägung hatte Mutschmann im wilhelminischen Kaiserreich noch nicht erfahren; allerdings lässt sich sein später so penetrant hervortretender Antisemitismus bis in die Vorkriegszeit zurückverfolgen : Gemeinsam mit weiteren Unternehmern hatte er schon vor Ort in Plauen die ostjüdische „Ramsch“ - Konkurrenz rüde bekämpft und in den Mobilmachungstagen des August 1914 beim Judenpogrom in der Plauener Forststraße kräftig mit Hand angelegt. Eine Art politisches Erwachen kann bei Mutschmann allerdings erst im Zuge der Novemberrevolution 1918/19 nachgewiesen werden. Der Zusammenbruch des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, die deutsche Kriegsniederlage und eine scheinbar triumphierende Arbeiterbewegung ließen ihn – verbunden mit Enteignungsbefürchtungen und der kurzen im Vogtland grassierenden Räteherrschaft von Max Hoelz – für antisemitische Verschwörungstheorien endgültig empfänglich werden : Er schloss sich zuerst dem „Deutsch - völkischen Schutz - und Trutz - Bund“ ( DSTB ) an und wurde danach (1922) Mitglied der NSDAP. Im Oktober 1921 hatte sich die neue antisemitische Partei erstmals in Sachsen verankern können ( nämlich in Zwickau ), bevor wenige Monate später auch Ortsgruppen im Vogtland ( Plauen) entstanden.14 Obgleich er also keineswegs zu den Gründern der jungen sächsischen Partei gehörte, vermochte er sich doch recht schnell an die Spitze dieser „Bewegung“ zu setzen. Welche Fähigkeiten und Beziehungen ebneten ihm dabei den Weg ? Zum einen waren es zweifellos sein Organisationsgeschick und seine damals noch vorhandenen finanziellen Ressourcen, die ihm bei seinem innerparteilichen Aufstieg behilflich waren. Zum anderen trugen sein frühes Vertrauensverhältnis zu Hitler, den er 1924 in Landsberg besuchte,15 und sein unerbittlicher Machtinstinkt dazu bei, innerparteiliche Konkurrenten wie Fritz Tittmann zu verdrängen. Zudem vermochte er ab 1922 die NSDAP - Ortsgruppe Plauen als seine Hausmacht aufzubauen, in der seine Mutter Henriette, eine stadtbekannte Hebamme, zusammen mit seiner Ehefrau Minna die NS - Frauengruppe leitete und sein Bruder Hugo, ein ebenso stadtbekannter Konditorei - und Cafébesitzer, die verlässlichsten Stützen waren.16 Er, den Joseph Goebbels anlässlich einer ersten Begegnung in Plauen als einen „ordentlichen, brutalen Führer“ charakterisierte,17 schaffte in kurzer Zeit das, was als Basis für die späteren Wahl13 14 15 16 17
Vgl. ebd., S. 279–285; Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 23 f. Vgl. ebd., S. 24–29; Wagner, Mutschmann, S. 284 ff. Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 101. Vgl. Vogtländischer Anzeiger und Tageblatt vom 31. 5. 1937 : „15 Jahre NSDAP Plauen. Eine Rückschau auf Arbeit und Erfolg“; ebd. vom 12. 3. 1939 : „Plauen – nationalsozialistische Hochburg“. Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I Aufzeichnungen 1923–1941, Band 1/ I Oktober 1923–November 1925, München 2004, S. 379 ( Eintrag vom 23. 11. 1925).
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erfolge betrachtet werden darf : die „Formierung einer schlagkräftigen, über ganz Sachsen vernetzten Partei“. Dass sich dabei der sächsische Südwesten „relativ rasch zu einer Hochburg der NS - Bewegung entwickeln konnte, lag weniger in der Nähe zu Bayern begründet, als an den hier besonders verbreiteten Altindustrien mit überproportionaler Heimarbeiterstruktur und geringer Gewerkschaftsdichte“.18 So vermochte es nicht wirklich zu überraschen, dass die Partei hier zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 ihren Durchbruch erzielte und um die 24 Prozent der Stimmen erhielt.19 Für Mutschmann, der 1925 endgültig zum Landesleiter ( später zum Gauleiter ) der sächsischen NSDAP aufgestiegen war, erwies sich das Jahr 1930 in persönlicher wie in politischer Hinsicht als deutliche Zäsur : Einerseits musste er sein Unternehmen wegen tatsächlicher oder vorgeschobener Boykottmaßnahmen der Gegner schließen, andererseits rückte er nun gleichfalls in den Reichstag auf.20 Seine unumstrittene innerparteiliche Stellung vermochte er im selben Jahr mit der Schaffung einer eigenen Tageszeitung („Der Freiheitskampf“) noch weiter zu zementieren. Trotz dieser Vormachtstellung in der Partei war Mutschmann in der Öffentlichkeit bis 1932/33 eine kaum bekannte „Größe“ : Sein mangelndes rhetorisches Talent mag dafür mit entscheidend gewesen sein, sein Bestreben, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu bewahren, ein weiterer Grund. So bestimmten bis Anfang der 1930er Jahre andere Gesichter das Bild der sächsischen Partei nach außen – zuerst der rührige Fritz Tittmann,21 sodann der idealistisch gesinnte vormalige Marineoffizier Hellmuth von Mücke, ab 1928 dann auch der sächsische SA - Führer und frühere Rechtsterrorist Manfred von Killinger22 und nicht zuletzt der bekannte Reichsorganisationsleiter der Partei, Gregor Strasser, der seit 1930 für Dresden im Reichstag saß. Mutschmanns Aufstieg zum unumschränkten „Sachsenführer“, nämlich zu einer Art Landesvater und brutaler Herrscherfigur („König Mu“), vollzog sich erst nach 1933 und war zudem ein Ergebnis bewusster propagandistischer Anstrengungen und persönlicher Legendenbildungen. Ein Leitmotiv bildete dabei die These, er sei einer der treuesten und frühesten Gefolgsleute Hitlers 18 Schmeitzner, Martin Mutschmann, S. 260. 19 Das ist das Ergebnis für den Reichstagswahlkreis Chemnitz - Zwickau ( einschließlich Plauens ) zu den Wahlen vom 14. 9. 1930, bei denen die Partei reichsweit auf 18 % kam und im Reichstagswahlkreis Dresden - Bautzen „nur“ bei 14 % landete. 20 Vgl. Schmeitzner, Martin Mutschmann, S. 260. 21 Vgl. Andreas Peschel, Fritz Tittmann – Der „vergessene“ Gauleiter. Eine biografische Skizze. In : Sächsische Heimatblätter 56 (2010), H. 2, S. 122–126. 22 Hellmuth von Mücke, der als Kriegsheld galt – er hatte 1915 als Erster Offizier des Kleinen Kreuzers SMS „Emden“ den Landungszug von Überlebenden des verloren gegangenen Schiffes vom Indischen Ozean aus nach Deutschland organisiert – war 1926–1929 Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Landtag gewesen, bevor er mit der Partei auch öffentlich brach. Sein Nachfolger in dieser Funktion (1929/30), Manfred von Killinger, hatte Anfang der 1920er Jahre zu den führenden Funktionsträgern der „Organisation Consul“ ( OC ) gezählt, die mit Attentaten auf demokratische Politiker die Republik zu destabilisieren versuchten.
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gewesen und habe quasi im Alleingang die sächsische Partei aufgebaut und aller Widrigkeiten und Feinde zum Trotz die „rote Hochburg“ für die braune Bewegung gewonnen. An dieser These war zumindest richtig, dass Mutschmanns Partei aufgrund ihrer breiten Verankerung im Land noch während der Weltwirtschaftskrise zu der schwächelnden SPD aufschließen und sie 1932 in den Wahlreisen Chemnitz - Zwickau und Dresden - Bautzen überflügeln konnte.23 Eine Machteroberung in Sachsen war damit jedoch nicht verbunden gewesen. Erst mit der Machtübertragung an die Regierung Hitler Ende Januar 1933 sowie im Zuge der Reichstagswahlen vom März 1933 nutzten Mutschmanns NSDAP und Killingers SA die Gunst der Stunde, um die geschäftsführende liberale Landesregierung ihres Amtes zu entheben und mit Hitlers Zutun selbst an die Macht zu gelangen. Anders als erwartet, wurde aber nicht Mutschmann, sondern Killinger sächsischer Ministerpräsident von Hitlers Gnaden; dafür übernahm der erstere im Mai 1933 das von Hitler neu geschaffene Amt eines Reichsstatthalters. Hitlers Motivation für eine solche Ämterteilung hatten wohl mit einer gezielten polykratischen Machtteilung zum eigenen Nutzen und mit ganz pragmatischen Überlegungen zu tun ( Mutschmanns Partei - Gauleitung residierte bis März 1933 in Plauen, Killingers SA - Stab saß in Dresden ). Doch vermochte sich Mutschmann mit seinen ungezügelten Machtvorstellungen schneller durchzusetzen als gedacht, als er eine kurzzeitige Verhaftung seines Gegenspielers im Zuge der „Röhm - Affäre“ ( Juni 1934) nutzte, um auch die Regierung unter Kontrolle zu bringen.24 Mit Einverständnis Hitlers hielt er ab Frühjahr 1935 nunmehr alle drei zentralen Machtpositionen in seiner Hand : Die Funktion des Partei - Gauleiters, des Reichsstatthalters und das Amt des Ministerpräsidenten. Die Ämter eines Gaujägermeisters (1934) und eines Reichsverteidigungskommissars (1939) zog er ebenso an sich. Die geballte Macht, die Mutschmann nun in der Hand hielt, ließ er seine Kontrahenten spüren; politische Gegner und Juden wurden seit 1933 rücksichtslos verfolgt, unterdrückt oder entrechtet, potentielle und tatsächliche innerparteiliche Konkurrenten ausgeschaltet. Seine Ankündigung auf dem Gautreffen vom Frühjahr 1935, „Der Staat sind wir, einzig und allein wir, wo diese Einheit unseres Volkes angegriffen wird, da schlagen wir zu“,25 war nicht nur einfach daher gesagt, es war tatsächlich Programm : Mutschmann ließ es sich nicht nehmen, in Konzentrationslagern SA - Leute bei der Folterung von Häftlingen anzufeuern und eigene antisemitische Kampagnen zu initiieren.26 Viktor Klemperer, den Mutschmann persönlich von seinen Dresdner Lehrstuhl hatte entfernen lassen, kam schon 1936 zu dem Urteil : „In Berlin [...] scheint 23 Vgl. Schmeitzner, Martin Mutschmann, S. 262 f.; Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 32 ff. 24 Vgl. Andreas Wagner, Mutschmann gegen von Killinger. Konfliktlinien zwischen Gauleiter und SA - Führer während des Aufstiegs der NSDAP und der „Machtergreifung“ im Freistaat Sachsen, Beucha 2001, S. 113–125. 25 Der Freiheitskampf vom 27. 5. 1935 : „Die Kampfrede unseres Gauleiters“. 26 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 38–41.
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der Antisemitismus nicht ganz so schwer zu grassieren wie hier. Streicher in Franken und Mutschmann in Sachsen, das sind wohl die Nonplusultras.“27 Auch wenn gegen Mutschmann sogar innerhalb der Partei Vorwürfe wegen seiner Jagdleidenschaften und rüpelhaften Umgangsmanieren kursierten, und er wahrlich nicht als braunes „Aushängeschild“ gelten konnte, blieb er doch bis zum bitteren Ende unangefochtener Herrscher in Sachsen. Die totale Macht, die er in den Händen hielt und andere jederzeit spüren lassen konnte, hatte nur zum Teil damit zu tun; der Vorwurf von Goebbels, er sei ein „Fanatiker des Sachsentums“, berührte einen weiteren wichtigen Punkt : Denn Mutschmann war gleichfalls „Landesfürst“, der nach 1933 seinen Kampf gegen die Berliner Zentrale führte und damit alte sächsisch - preußische Aversionen befeuerte. Das von ihm gegründete „Heimatwerk Sachsen“ sollte „Sachsenstolz“ vermitteln, und hatte damit wohl auch einigen Erfolg. Mochten „Preußen wie Goebbels über derartige provinzielle Kulturpropaganda doch die Nase rümpfen wie sie wollten, oder aber versuchen, auf Hitler Einfluss zu nehmen“, damit er „dem ‚Sachsenführer‘ ausredete, Sachsenwitze verbieten“ zu lassen, nicht „wenigen sächsischen Untertanen, die Mutschmann keineswegs sympathisch fanden, imponierte genau das !“28 Während des Krieges ließ die Parteiführung den „Sachsenführer“ weiter gewähren, sorgte doch der „bewährte“ Antisemit und Rassist mit organisatorischem Geschick für die Stabilisierung der Heimatfront.
2.
Verhaftung – Öffentlichkeit – Gerichtsverfahren ?
Als Mitte Februar 1945 weite Teile Dresdens in Trümmern versanken, war nicht nur eine berühmte europäische Kulturstadt schwer getroffen worden, sondern auch das Herrschaftszentrum des Sachsen - Gaues. Mutschmann hatte den Angriff in seinen Bunkern überlebt und musste danach mit seiner engeren Parteientourage in das wenige Jahre zuvor entstandene „Neue Jägerhaus“ in Grillenburg ausweichen, von dem aus er die Geschäfte als Reichsstatthalter und Ministerpräsident weiter führte. Selbst als schon im April 1945 amerikanische und sowjetische Truppen die sächsischen Grenzen längst überschritten hatten, ließ Mutschmann mit Durchhalteparolen und Sondergerichten weiter kämpfen. Einzelne Gegenstöße der Wehrmacht im Bautzner Raum interpretierte er dabei als entscheidende Wende auf dem Weg zum „Endsieg“.29 Gerade Mutschmann war in diesen Wochen ein Musterbeispiel für den Durchhaltefanatismus der allermeisten Gauleiter, die – nach Ian Kershaw – „Schlüsselfiguren in den noch nicht besetzten Provinzen“ blieben : „Bollwerke der Loyalität zu Hitler und Betonköpfe ohne Zukunft, repräsentierten sie je nach Fähigkeiten, Tempera27 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995, S. 313 (Eintrag vom 10. 10. 1936). 28 Schmeitzner, Martin Mutschmann, S. 261 f. 29 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 49–54.
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ment und Einstellung die radikale Linie der Partei, wenn es um die Mobilisierung der Kräfte für den ‚letzten Einsatz‘ ging“.30 Nachdem all seine Durchhalteparolen und Drohungen mit dem „Ausmerzen“ und „Auslöschen“ aus der Volksgemeinschaft nicht mehr fruchteten, und die Rote Armee auch noch den Raum Dresden beherrschte, tauchte er am 8. Mai 1945 unter, um sich anschließend in Richtung westliches Erzgebirge abzusetzen. Am 16. Mai abends wurde er in Tellerhäuser ( am Fichtelberg ) von Ober wiesenthaler Antifa und Gendarmerie ergriffen. Einen Tag später, nach seiner öffentlichen Demütigung auf dem Annaberger Marktplatz, nahm ihn der sowjetische Geheimdienst in Empfang. Über Chemnitz und Dresden wurde er am 28. Mai 1945 nach Moskau gebracht. Ein zuvor in Chemnitzer Haft unternommener Suizidversuch war fehlgeschlagen.31 Auch wenn die Besatzungsmacht die deutsche Öffentlichkeit in dem Glauben ließ, dass Mutschmann auch weiter in Sachsen in Haft sitzen würde,32 unternahm sie doch zunächst einiges, um den „Fall“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen; von Geheimhaltungsgebaren hielt sie zu dieser Zeit noch nichts. Im Vordergrund ihrer Bemühungen stand die öffentliche Abrechnung mit der NS - Diktatur und einer ihrer bekanntesten ( regionalen ) Führer. Ausdrücklich thematisierte die Besatzungsmacht in dieser Zeit die Frage einer juristischen Ahndung, wobei der interne Entscheidungsprozess über das Wie und Wo auf Hochtouren lief. Den Hauptstoß der öffentlichen Abrechnung führte sie über ihr in Dresden gegründetes Organ „Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung“, an dem auch deutsche Redakteure arbeiteten. Für das Blatt war Mutschmann der Paradegegner, schien doch in seinem „Fall“ die kommunistische These von der kapitalistischen Urheberschaft des Faschismus geradezu idealtypisch bewiesen werden zu können. So wurde er noch Ende Mai 1945 in einem Artikel als Person glossiert, die im Ersten Weltkrieg mit Schiebungen sein Unternehmen zu retten versuchte und schließlich zum „politischen Schieber“ avancierte, als das Unternehmen nicht mehr zu retten war. Natürlich unterstützte der Unternehmer Mutschmann früh die braune „Verbrecherbande“ und selbstverständlich war er derjenige, der Hitler für seine „arbeiterfeindlichen Pläne in kritischen Zeiten der Partei von sächsischen Großindustriellen wiederholt Gelder beschaffte“. Umgekehrt habe ihn Hitler mit den Gauleiter - und Reichsstatthalterposten belohnt. Konkret warf ihm das Blatt persönliches Versagen beim Schutz der Dresdner Bevölkerung im Februar 1945 und den Bau eigener Bunker vor, womit es auf breite Zustimmung in den Kreisen der Dresdner Bevölkerung hoffen konnte. Weiterhin bezeichnete ihn das Blatt als „Massenmörder“ und brachte hier das von ihm beförderte System von Konzentrationslagern, Gefängnissen und der Hinrichtungsstätte am Münchner 30 Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS - Deutschland 1944/45, München 2011, S. 389. 31 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 55–69. 32 Das kam in den unten aufgeführten Veröffentlichungen der deutschsprachigen sowjetischen Zeitung für Dresden zum Ausdruck.
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Platz in Dresden ins Spiel. Überdies wurde er im Blatt als „größenwahnsinnig gewordener Spießer“, „Geschäftemacher“ und „Leuteschinder“ bezeichnet, der immer auf selbstherrliche Auftritte und ein besonderes Maß an Brutalität bedacht gewesen sei.33 Wenige Tage später legte der sowjetische Chefredakteur des „Tageblattes“ noch einmal nach und bezeichnete Mutschmann als „Abschaum der Menschheit“, als „Kriegsverbrecher und Kriegsbrandstifter“. Er sei auch der „Hauptschuldige“ an der Zerstörung Dresdens gewesen. Gemeinsam mit Hitler habe Mutschmann „Dresden in eine Rüstkammer Deutschlands“ verwandelt und somit in ein „Pulverfass“ und eine „Nachschubquelle“.34 Dieser Hinweis erscheint insofern interessant, als damit die sowjetische Seite den ( nicht völlig abwegig erscheinenden ) Versuch unternahm, den westalliierten Angriff inhaltlich zu rechtfertigen.35 Andererseits leistete sie mit ihrer reinen Mutschmann Fokussierung jener konjunkturellen Strömung Vorschub, die alle Verbrechen des Nationalsozialismus nach oben, auf einzelne führende Figuren, abschieben wollte. In diese Richtung zielte auch das beinahe ganzseitige Mutschmann - Interview, das die Zeitung in derselben Ausgabe druckte. Ihren deutschen Lesern bot das Blatt das Porträt eines „Gewaltmenschen“, von dem nichts mehr geblieben sei als „kriecherisches, speichelleckerisches Subjekt, an dem nur mehr das stumpfe Gesicht verborgene Bestialität verrät“.36 Als Beleg veröffentlichte die Zeitung sogar ein Foto von der „Jammergestalt“ im Verhör.37 Nachdem Mutschmann seine „Verbrechen gegen die Dresdner“ und seinen Anteil an den KZ Verbrechen eingestanden hatte, kündigte der deutsche Berichterstatter nunmehr an, dass der Gauleiter „bald vom Gericht nach Recht und Gerechtigkeit abgeurteilt“ werden würde.38 Doch die Frage, welches Gericht ( ein deutsches, ein sowjetisches oder ein alliiertes ) über den „Fall“ entscheiden sollte, ließ das Blatt offen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies die sowjetische Seite bis August 1945 auch noch nicht entschieden hatte. Auffällig ist, dass Anfang Juli ein hoher sowjetischer Verhörspezialist Mutschmann gegenüber mit der Anklage vor einem „deutschen Volks33 Paul Mochmann, „König Mu“. Enthüllungen eines Dresdners über das Treiben des ehemaligen Nazigauleiters Mutschmann. In : Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung vom 31. 5. 1945. 34 W. A. Ruban, Abschaum der Menschheit. In : Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung vom 2. 6. 1945. 35 Nur wenige Monate später hatten sich KPD und sowjetische Besatzungsoffiziere auf eine „indirekte Schuldzuweisung“ an die Adresse der Westalliierten verständigt, womit man innerhalb der betroffenen Bevölkerung auf eine breite Resonanz hoffen konnte. Vgl. Thomas Widera, Gefangene Erinnerung. Die politische Instrumentalsierung der Bombardierung Dresdens. In : Lothar Fritze / Thomas Widera ( Hg.), Alliierter Bombenkrieg. Das Beispiel Dresden, Göttingen 2005, S. 109–134, hier 121. 36 Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung vom 2. 6. 1945 : „Der Fronvogt Sachsens, Martin Mutschmann, verhaftet“. 37 Das Foto zeigte Mutschmann in sich zusammengesunken während eines Verhörs mit einem sowjetischen Offizier an einem Tisch im Freien. Vgl. ebd. 38 Ebd.
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gericht“ in Dresden drohte.39 In der ersten August - Woche forderte die sowjetische Besatzungsmacht in Sachsen deutsche Dienststellen und Parteileitungen auf, Belastungsmaterial für einen Mutschmann - Prozess beizubringen – auch dies ein Zeichen für ein öffentliches Tribunal. In der zweiten August - Hälfte entschied dann die Moskauer Führung, Mutschmann als „Nr. 2“ auf einer ihrer Listen für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu setzen.40 Die KPD- Presse in Sachsen machte diese Entscheidung noch Ende August öffentlich. Doch die westlichen Alliierten akzeptierten nur zwei der von Moskau vorgeschlagenen Personen – den vormaligen Chef der deutschen Kriegsmarine Erich Raeder und den früheren Rundfunkintendanten Hans Fritzsche; Mutschmann wurde als nicht zentral genug abgelehnt.41
3.
Geheimverfahren und Todesurteil
Es war diese westliche Ablehnung, die die sowjetische Führung dazu bewog, den Fall durch eigene Justizorgane aburteilen zu lassen. Hinzu kam der Vorwurf der Kriegsverbrechen, den die sowjetischen Untersuchungsorgane seit Sommer 1945 gegen Mutschmann erhoben. Mutschmanns früherer Wirtschaftsminister und enger Vertrauter Georg Lenk, der seit seiner Amtsenthebung 1943 eine offene Rechnung mit dem „Sachsenführer“ zu begleichen hatte und 1945 gleichfalls in sowjetische Haft geraten war, hatte die Untersuchungsführer auf diese Spur gesetzt. Während eines Verhörs im Juli hatte er ganz gezielt Mutschmanns mittelbare Verantwortung als Reichsverteidigungskommissar für den Umgang mit sowjetischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen thematisiert.42 Dieser Umstand machte es der sowjetischen Führung unmöglich, ein deutsches Gericht mit der juristischen Ahndung von Verbrechen an sowjetischen Staatsbürgern zu beauftragen. Der Ausschluss eines deutschen Gerichts erklärt aber noch nicht das Geheimhaltungsgebaren, von dem jetzt auch die Presse betroffen war. Wollte die Moskauer Führung durch ein internes Verfahren Zeit gewinnen, um die betreffende Person und deren NS - Verflechtungen präziser ausleuchten zu können ? Legte sie Wert darauf, den Fall zeitlich parallel zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zu bearbeiten, um aktuellere Ergebnisse auswerten oder Mutschmann vielleicht sogar als Zeugen präsentieren zu können ? 39 Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 9. 7. 1945 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). Die Akte Mutschmann ist dem Verfasser dankenswerter Weise vom Washingtoner United States Holocaust Memorial Museum ( USHMM ) als Kopie zur Verfügung gestellt worden. Das USHMM hat die eigene Aktenkopie unter der Signatur RG - 06.025*69 verbucht, die Originalsignatur des Zentralarchivs des FSB ( Moskau ) lautet N - 18758. Im Folgenden wird nach „HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann“ zitiert. 40 Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 84. 41 Vgl. ebd., S. 85, vgl. Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1994, S. 116. 42 Vgl. Verhörprotokoll Georg Lenk vom 7. 7. 1945 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ).
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Für diese Thesen sprechen zumindest mehrere Indizien und die Protokolle über Mutschmanns Vernehmungen; es darf zudem nicht übersehen werden, dass die sowjetische Justiz ( Gruppen - )Prozesse unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohnehin favorisierte.43 Die Verhörprotokolle vermitteln jedenfalls einen detaillierten Eindruck über die in seinem Fall agierenden Geheimdienstabteilungen, den zeitlichen Rhythmus und die Art und Weise der Verhöre und nicht zuletzt auch über Mutschmanns Verteidigungsstrategie, dem – wie so häufig üblich – kein Verteidiger zur Verfügung gestellt worden war. Gewiss lassen die Verhörprotokolle einen gewissen Schematismus der Vernehmungsoffiziere erkennen ( so wurde ein Kronzeuge gegen Mutschmann mit der Frage traktiert „Was wissen Sie über die verbrecherischen Tätigkeiten Mutschmanns als Gauleiter Sachsens ?“);44 doch dürfen Mutschmanns Auslassungen durchaus als authentisch gelten, wie – in der Regel – überprüfbare Schilderungen zu bestimmten Ereignissen und Personen sowie deutliche Widerspruchsäußerungen belegen, die ebenso Erwähnung finden. Auch wenn die Protokolle keine hinreichende Auskunft über jene Atmosphäre geben, in denen die Verhöre stattgefunden haben, lassen sie erkennen, dass der Gefangene wohl eher schonend behandelt wurde. Hierfür spricht besonders der Umstand, dass Mutschmann kein einziges Nachtverhör erdulden musste, obwohl es sich hierbei um die spezifische Form sowjetischer Verhörpraxis handelte. Nachvollziehbar wird diese Behandlung nur vor dem Hintergrund der körperlichen Verfassung des Herzkranken und einer längerfristigeren Abschöpfungsmöglichkeit für die sowjetischen Untersuchungsführer. Selbst der mehrfache Wechsel der für die Verhöre zuständigen sowjetischen Dienste scheint keinen erkennbaren Einfluss auf diese Vorzugsbehandlung gehabt zu haben. Nach ersten Verhören durch die Spionageabwehr „Smersch“ („Tod den Spionen !“) und der neu gebildeten Abteilung „F“ des NKVD ( die für die „befreiten Gebiete“ zuständig war ) übernahm im August 1945 die 4. Verwaltung („Aufklärung, Terror und Diversion“) des sowjetischen Staatssicherheitskommissariats NKGB die Untersuchungen.45 Deren Verhörspezialisten mussten sich nicht sonderlich mühen, den früheren Gauleiter zum Sprechen zu bringen. Das lag nicht nur in der fehlenden anwaltschaftlichen Unterstützung Mutschmanns begründet, sondern vor allem an der Aussagefreudigkeit der mit ihm inhaftierten NS - Prominenz. Lediglich darauf bedacht, die eigene Verantwortung zu relativieren und eigene Handlungen zu exkulpieren, lieferten ebenfalls in Moskau und in den sowjetischen Lagern der SBZ inhaftierte frühere Minister, Parteifunktionäre, Juristen und Wirtschaftsmanager entscheidende Informationen und Zusammenhänge, so dass der eins43 Vgl. Mike Schmeitzner, Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ? Zur Verfolgung von NS Verbrechen durch die sowjetische Sonderjustiz. In : Osterloh / Vollnhals ( Hg.), NS Prozesse und deutsche Öffentlichkeit, S. 149–166. 44 Verhörprotokoll Georg Bellmann vom 10. 7. 1945 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). 45 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 90 f.
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tige „Sachsenführer“ beinahe von Beginn an in die Defensive geriet. Vormals führende Mutschmann - Vertraute waren nun eifrig darum bemüht, die erhebliche Machtfülle des früheren Gauleiters noch größer erscheinen zu lassen und dessen Einfluss offensichtlich zu überhöhen. Mit teils maßlosen Übertreibungen versuchten sie – zum Nachteil Mutschmanns – der Höchststrafe zu entkommen.46 Unter denen, die den vormaligen Gauleiter besonders stark belasteten, ragten der schon genannte Georg Lenk, der frühere stellvertretende Gauleiter Werner Vogelsang und der frühere sächsische IHK47 - Vorsitzende und Arisierungsspezialist Georg Bellmann hervor. Sie charakterisierten Mutschmann als „despotisch“, „herrschsüchtig“, „grob“ und „grausam“. Er habe „keine anderen Meinungen“ zugelassen, ständig „Wendungen wie liquidieren, vernichten, verhaften“ gebraucht und „aus zwei Möglichkeiten der Bestrafung stets die härtere“ ausgewählt.48 Der „treue und fanatische Gefolgsmann“49 Hitlers habe Gegner mit Hilfe der Gestapo ins Gefängnis oder gleich ins KZ gesteckt, und sein „Lieblingsthema“, die Judenfrage, ständig berührt.50 Mutschmanns ehemalige Vertraute und Freunde erklärten ihn nun zum „leidenschaftlichsten Gegner der Juden in Deutschland“, der auch in privaten Gesprächen geäußert habe, „die in Deutschland ansässigen Juden auszumerzen“. Alle repressiven Maßnahmen gegen die Juden seien von Mutschmann persönlich sanktioniert worden.51 Vor allem Lenk, der gleichfalls aus Plauen stammte, brachte auch Mutschmanns antisemitische Karriere vor 1933 ins Spiel.52 Lenk berichtete zudem ausführlich über Mutschmanns Involvierung in die Behinderten - Mordaktion T 4 auf dem Pirnauer Sonnenstein 1940/41 sowie die unmenschliche Behandlung der in Zeithain gefangen gehaltenen sowjetischen Kriegsgefangenen, die er mit Verweis auf Mutschmanns Funktion als Reichsverteidigungskommissar thematisierte.53 Mutschmanns Unternehmerfreunde Schöne und Hoffmann prangerten wiederum die „verstärkte Ausbeutung“ von sowjetischen Zwangsarbeitern an.54 Es war dieser Punkt, der die sowjetischen Untersuchungsführer in besonderer Weise interessierte. Darüber hinaus thematisierten sie Mutschmanns Rolle in der Phase des Machtergreifungsterrors 1933/34, vor allem mit Blick auf die frühen KZ. Hier vermochten die Unter46 Vgl. ebd., S. 92. 47 Gemeint ist hier die Industrie - und Handelskammer. 48 Verhörprotokoll Werner Vogelsang vom 8. 8. 1945 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). 49 Verhörprotokoll Hans Schöne vom 16. 8. 1945 ( ebd.) 50 Verhörprotokolle Georg Bellmann vom 10. 7. 1945 und Werner Vogelsang vom 8. 8. 1945 ( ebd.). 51 Verhörprotokolle Hans Schöne vom 16. 8. 1945 und Fritz Hoffmann vom 14. 8. 1945 (ebd.). 52 Vgl. Verhörprotokoll Georg Lenk vom 7. 7. 1945 ( ebd.). Lenk erwähnte z. B. die tatsächlich erfolgte Synagogenschändung in Plauen. 53 Vgl. ebd. 54 Verhörprotokolle Hans Schöne vom 16. 8. 1945 und Fritz Hoffmann vom 14. 8. 1945 (ebd.).
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suchungsführer auch auf deutsche belastende Unterlagen zurückzugreifen. Im Ganzen gesehen standen während der Verhörphase von Mai 1945 bis März 1946 die folgenden vier Verbrechenskomplexe zur Disposition : 1. Judenverfolgung, 2. Euthanasieverbrechen, 3. Verfolgung politischer Gegner und 4. Kriegsverbrechen gegen Sowjetbürger.55 Die noch im Frühsommer 1945 öffentlich propagierten Vorwürfe hinsichtlich der Dresdner Bomben - Katastrophe spielten erwartungsgemäß überhaupt keine Rolle mehr. Wie reagierte nun Mutschmann auf die zentralen Vorwürfe ? Wer annimmt, einen gebrochenen und von der Haft gezeichneten Mann zu erleben, täuscht sich gründlich : Ungeachtet jeder fehlenden anwaltschaftlichen Unterstützung agierte Mutschmann erstaunlich flexibel und immer darauf bedacht, nur so viel einzuräumen, wie ihm gerade nachgewiesen werden konnte. Auch er machte von dem Prinzip Gebrauch, sich selbst als Handlanger und quasi Befehlsempfänger der Berliner Zentrale zu stilisieren. Die eigenen Kompetenzen versuchte er – entgegen seiner Bemühungen vor 1945 – nun klein zu reden. Führungspositionen in Sachsen habe er selbst nie angestrebt, sondern sei immer wieder von Hitler – auch gegen seinen eigenen Willen ! – berufen worden. Diese Art der Schuld - und Verantwortungsabwehr begann sich immer dann etwas aufzulockern, wenn Mutschmann der Ansicht war, überhaupt keine Verbrechen begangen zu haben, oder aber von den Untersuchungsführern in die Enge getrieben werden konnte.56 Seine mittelbare Beteiligung an den Euthanasieverbrechen ( nämlich über das federführende sächsische Innenministerium und die eigene Anwesenheit vor Ort) versuchte er deswegen nicht abzustreiten oder klein zu reden, weil er bis zum Schluss davon ausging, damit keine Verbrechen begangen, sondern „erleichternd“ für das deutsche Volk gehandelt zu haben.57 In der Frage der Judenverfolgung räumte er immerhin ein, als überzeugter Antisemit alle entsprechenden Aktionen bis 1939 mit ins Werk gesetzt zu haben; seine Beteiligung am Holocaust stritt er jedoch vehement ab.58 Einräumen musste er ebenso seine Anwesenheit bei Häftlingsmisshandlungen z. B. im KZ Hohnstein, da hierüber einiges Beweismaterial vorlag. Doch in diesem Punkt zeigte sich auch in aller Deutlichkeit, dass ein Geheimverfahren nicht ein Mehr an justizieller Aufklärung, sondern ein Weniger beinhaltete. Ohne entsprechende Zeugen und Kreuzverhöre konnte Mutschmann behaupten, dass es in Sachsen nur zwei frühe KZ mit wenigen Hundert Häftlingen gegeben habe,59 obwohl allein schon im KZ Hohnstein 1933/34 ca. 5 600 Menschen eingesessen hatten. Eine beinahe vollständige Schuld - und Verantwortungsabwehr betrieb er jedoch mit Blick auf
55 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 101. 56 Vgl. z. B. Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 14. 2. 1946 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). 57 Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 9. 7. 1945 ( ebd.). 58 Vgl. ebd. und Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 14. 2. 1946 ( ebd.). 59 Vgl. ebd.
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die ihm vorgeworfene Versklavung von sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, betraf dieser Komplex doch die Gerichtsmacht direkt.60 Wie geschickt und kaltschnäuzig zugleich er sowjetisches Insistieren zurückzuweisen imstande war, dokumentierte er allein mit seiner Antwort auf die Vernehmerfrage, die von Hitler in „Mein Kampf“ erhobene Forderung nach Eroberung von Lebensraum in der Sowjetunion könne ihm doch „unmöglich nicht bekannt“ gewesen sein : „Ich habe das Buch ‚Mein Kampf‘ nicht gelesen.“61 Als die 4. Abteilung des Staatssicherheitsministeriums im Mai 1946 die Anklageschrift vorlegte, zeichnete sich bereits eine Tendenz ab, die später – während des Prozesses – offensichtlich wurde : Zwei der vier bislang erörterten Verbrechenskomplexe gerieten in den Hintergrund – Judenverfolgung und Euthanasieverbrechen,62 erstere wohl im Kontext mit eigenen sowjetisch - antisemitischen Tendenzen.63 Als zentral erschien den Anklägern Kriegsverbrechen gegen Sowjetbürger, eine ( unterstellte ) Beteiligung am deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 und die Beteiligung am Machtergreifungsterror 1933/34. Auffällig war des Weiteren, dass gegen Mutschmann nicht das eigens beschlossene alliierte Kontrollratsgesetz ( KG ) Nr. 10 herangezogen wurde, sondern der sowjetische Ukaz 43, der eigentlich nur gegen jene Deutsche und deren Verbündete Anwendung finden sollte, die Verbrechen auf dem besetzten sowjetischen Territorium begangen hatten; das aber traf nun gerade auf Mutschmann nicht zu.64 Eine weitere Auffälligkeit bestand in der Hinauszögerung des Prozesses : Wohl mit Blick auf den im Spätherbst 1946 zu Ende gehenden Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess kam es erst am 30. Januar 1947 zu einer denkwürdigen Verhandlung vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, in der das Gericht für den „Fall Mutschmann“ weniger als drei Stunden benötigte. Obwohl der vormalige Gauleiter vor allem bei der Judenverfolgung noch am ehesten Verantwortung übernehmen wollte, blieb es bei den oben genannten Vorwürfen und den einmal fixierten Rechtsgrundlagen. Selbst als Mutschmann im Gerichtssaal seine „Schuld [...] für die Teilnahme an den Judenpogromen“ einzuräumen bereit war, stieß er auf taube Ohren : Den Vorsitzenden des Gerichts interessierten nur mehr die Komplexe Kriegsverbrechen und Machtergreifungsterror. Bei der Beurteilung des Falles stützte sich das Gericht im 60 Vgl. Verhörprotokolle Martin Mutschmann vom 12.1. und 11. 3. 1946 ( ebd.). 61 Verhörprotokoll Martin Mutschmann vom 27. 2. 1946. In : Unbekannte Kapitel des Zweiten Weltkrieges. Hitler. Dokumente aus den Geheimarchiven des KGB, Moskau 1996, S. 45 ff. 62 Im ausführlicheren Teil der Anklageschrift kamen alle vier Vorwürfe zum Tragen, in der Kurzdarstellung nur noch die beiden oben erwähnten. Vgl. Anklageschrift des MGB gegen Martin Mutschmann vom 16. 5. 1946 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). 63 Zu den unterschwelligen „antizionistischen“ Tendenzen im sowjetischen Partei - und Staatsapparat seit 1946 vgl. Arno Lustiger, Rotbuch : Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 2002, S. 208 ff. 64 Vgl. Anklageschrift des MGB gegen Martin Mutschmann vom 16. 5. 1946 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ).
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Wesentlichen auf die Aussagen des Hauptbelastungszeugen Georg Lenk,65 was in doppelter Hinsicht problematisch erschien : Erstens hatte Lenk mit Übertreibungen nie gespart und zweitens war er während der Verhandlung gar nicht mehr präsent, was Gegenüberstellungen und Kreuzverhöre ausschloss. Lenk – doch das wusste Mutschmann nicht – war schon ein halbes Jahr vorher zum Tode verurteilt und hingerichtet worden; all seine belastenden Aussagen hatten ihm nichts genützt. Dasselbe Urteil ereilte auch Mutschmann; er wurde am 14. Februar 1947 exekutiert.66
4.
Vergleich und Fazit
Wie originär war nun dieses sowjetische Geheimverfahren im Vergleich zu anderen Gauleiter - Prozessen ? Lassen sich anhand des Mutschmann - Verfahrens bestimmte Besonderheiten erkennen oder entsprach er in der Form der juristischen Abwicklung und des Strafmaßes vergleichbaren Prozessen in Ost und West ? Zuerst einmal gilt es festzuhalten, dass von 43 Gauleitern 22 gerichtlich belangt und neun davon zum Tode verurteilt wurden. 14 Gauleiter waren bis Ende des Krieges gestorben ( zumeist durch Suizid, wenige im Kampf ), der Rest kam ohne Verfahren davon. Von den bereits genannten 22 Prozessen fand ein Teil vor dem Nürnberger Tribunal statt, ein weiterer Teil vor westalliierten ( d. h. amerikanischen und französischen ) Gerichten, ein anderer Teil vor polnischen, jugoslawischen und sowjetischen Gerichten sowie ab Ende der 1940er Jahre vor westdeutschen Spruchkammern. Diese Verfahren unterschieden sich z. T. gravierend : Während vier ehemalige Gauleiter aufgrund ihrer zusätzlichen zentralen Funktionen ( Fritz Sauckel, Baldur von Schirach, Julius Streicher, Ernst Wilhelm Bohle ) vom Nürnberger Tribunal bzw. einem Folgetribunal verurteilt wurden, standen andere wegen Besatzungsverbrechen bzw. Germanisierungsbestrebungen oder Verbrechen gegen alliierte Militärangehörige vor den Militärtribunalen der Siegermächte. Vor westdeutschen Spruchkammern erschienen nach 1948 diejenigen, die von den westlichen Besatzungsmächten übergeben worden waren und jetzt vor allem wegen Verbrechen gegen Deutsche und „kenntnisbelasteter Zugehörigkeit zum Führungskorps der NSDAP und der SS“ in Verbindung mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 und dem Urteil des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg angeklagt werden sollten.67 65 Protokoll der abschließenden Gerichtsverhandlung des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 30. 1. 1947 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). 66 Zu den genauen Umständen der Hinrichtung vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 126 f. 67 Ebd., S. 138, und Annette Weinke, Die Verfolgung von NS - Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949–1969 oder : Eine deutsch - deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 41. Die Fokussierung auf die „kenntnisbelastete Zugehörigkeit“ zum NS - Führungskorps und zur SS bezog sich auf eine entsprechende Verordnung der britischen Militärregierung, die wiederum auf dem Urteil des Nürnberger IMT beruhte, das drei deutsche Organisationen („Korps der
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Mike Schmeitzner
Bei der Mehrzahl dieser Prozesse handelte es sich um rechtsstaatliche Verfahren, bei der Verteidiger, Dolmetscher und die Öffentlichkeit zugelassen waren; auch war das Prinzip des individuellen Schuldnachweises68 und des Berufungsund Begnadigungsrechtes gegeben. Mehrere dieser Verfahren, die 1946 vor einzelnen Militärgerichten stattfanden, können jedoch als „kurze Prozesse“ gelten, die nicht in jeder Hinsicht dem Prinzip eines „fair Trial“ entsprachen. Zu nennen sind hier die Prozesse gegen Arthur Greiser in Polen und Robert Wagner in Frankreich.69 Auch im Prozess gegen Friedrich Hildebrandt, der 1947 vor einem amerikanischen Militärtribunal stattfand, müssen wohl in puncto Behandlung und Beweiserhebung gravierende Abstriche gemacht werden.70 Ungeachtet dessen waren sowohl die westalliierten und westdeutschen als auch die polnischen Verfahren von Rechtsstaatlichkeit geprägt, wobei die westdeutschen Spruchkammer - Verfahren ab 1948 nachgerade durch Milde und Verständnis auffielen. Ein übereinstimmendes Moment lässt sich dagegen beim Strafmaß konstatieren : Hier gilt die Faustregel : Je früher der Prozess vor alliierten Gerichten stattfand, desto häufiger wurde die Todesstrafe ausgesprochen. Das war so 1946 in Nürnberg, Frankreich, Polen und der UdSSR.71 Unabhängig vom Strafmaß und anders als die meisten westalliierten, westdeutschen und auch polnischen Verfahren handelte es sich beim Mutschmann Verfahren nicht um einen Prozess, den man in zentralen Punkten als rechtsstaatlich bezeichnen könnte. Das Fehlen so zentraler Prinzipien wie dem der Öffentlichkeit, der strafrechtlichen Verteidigung und der Anwendung von Rechtsgrundlagen, die den Tatvorwürfen entsprachen, trat deutlich zu Tage. Offenkundig hatte es auch Bemühungen gegeben, eine individuelle Schuld des Angeklagten
Politischen Leiter der NSDAP“, SS und SD / Gestapo ) als „verbrecherisch“ einstufte. Diesem Urteil zufolge konnte ein Angeklagter aus den genannten Organisationen dann von einem Gericht verurteilt werden, wenn er der betreffenden Organisation „freiwillig“ beigetreten war und „außerdem wusste, dass sich diese Organisation an Verbrechen beteiligte, wie sie in Artikel 6 der [ IMT ]Charta [ d. h. ‚Verbrechen gegen den Frieden‘, ‚Kriegsverbrechen‘, ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘] definiert waren“. Taylor, Die Nürnberger Prozesse, S. 643. Das Führungskorps der NSDAP war insbesondere wegen Kriegsverbrechen ( Zwangsgermanisierung, Judenverfolgung, Beteiligung am Sklavenarbeitsprogramm und Misshandlung von Kriegsgefangenen ) schuldig gesprochen worden. Vgl. ebd., S. 674. 68 Wie aus der vorangegangenen Anmerkung ersichtlich wird, reichte für eine Verurteilung allerdings schon die „kenntnisbelastete Zugehörigkeit“ zum Führungskorps der NSDAP aus; entsprechend wurde z. B. in den Gauleiterprozessen vor dem Spruchgericht Bielefeld ( britische Zone ) 1948–1950 verfahren. Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 138 f. 69 Vgl. ebd., S. 134 f. Zum „kurzen Prozess“ gegen Wagner vgl. Claudia Moisel, Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004, S. 97–102. 70 Michael Buddrus ( Hg.), Mecklenburg im Zweiten Weltkrieg. Die Tagungen des Gauleiters Friedrich Hildebrandt mit den NS - Führungsgremien des Gaues Mecklenburg 1939–1945. Eine Edition der Sitzungsprotokolle, Bremen 2009, S. 19 f. 71 Auch in der UdSSR wurden bei späteren Prozessen gegen Gauleiter ( Rudolf Jordan, Helmuth Brückner ) nur mehr Zeitstrafen verhängt.
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Justizieller Antifaschismus ?
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nachzuweisen, doch fokussierten Anklageschrift und Urteil stärker die Funktionen des Angeklagten, womit sie allerdings der Kategorie der „kenntnisbelasteten Zugehörigkeit“ recht nahe kamen. So habe Mutschmann als Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar „die ihm übertragene Macht zur Zerschlagung demokratischer Organisationen in Sachsen“ genutzt, Mitglieder dieser Organisationen „in die auf seine Anweisung hin gegründeten Konzentrationslager inhaftiert, wo sie massiver Folter und Vernichtung ausgesetzt waren“, und letztlich auch zum „Überfall auf die Sowjetunion und zur vorsätzlichen Ausrottung sowjetischer Kriegsgefangener und friedlicher sowjetischer Bürger“ beigetragen.72 Was im Kontext des Prozesses jedoch besonders schwer wog, war die fehlende Öffentlichkeit, wodurch sowohl ein justizieller Antifaschismus als Moment der Aufklärung ( wie in Nürnberg und Belsen ) als auch eine detaillierte juristische Untersuchung auf der Strecke blieben. Durch das Geheimhaltungsgebaren wurde vielmehr Legendenbildungen Vorschub geleistet und eine große Chance der zeitnahen Aufarbeitung vertan.73 Ungeachtet solcher Einwände ist als Fazit das festzuhalten, was in diesem „Fall“ schon anderenorts geäußert wurde :74 Betrachtet man das Verfahren gegen Mutschmann im Ganzen, d. h. das typisch sowjetische Zusammenspiel von Geheimdienstuntersuchung und Gerichtsverfahren, dann kann von einem Akt stalinistischer Willkür - und Siegerjustiz nicht so einfach die Rede sein. Mit Mutschmann wurde durchaus der „richtige“ Verantwortungsträger angeklagt und verurteilt, auch wenn sich die personellen und materiellen Kontinuitäten stalinistischer Rechtspraxis nicht übersehen ließen. Im Gegensatz zu den in den späten 1930er Jahren abgehaltenen „Moskauer Prozessen“ konnte aber hier von konstruierten Vorwürfen und erpressten Geständnissen nicht gesprochen werden. Die entscheidende Frage war nicht die, ob die Vorwürfe in toto zutrafen, sondern inwieweit Mutschmann persönlich dafür haftbar oder „kenntnisbelastet“ war. Dass die sowjetische Seite in puncto juristischer Ahndung dieselbe Legitimation wie die westliche hatte, dürfte kaum in Abrede stehen und wurde durch das Potsdamer Abkommen sanktioniert. Eine juristische Ahndung des „Falls“ erschien letztlich sogar dringend geboten.
72 Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR im Fall Mutschmann vom 30. 1. 1947 ( HAIT - Archiv, Akte Martin Mutschmann ). Im Urteil tauchten noch die Delikte der Finanzierung der NS - Partei, der Begünstigung des Kampfes gegen die UdSSR bis zur Kapitulation und der Schaffung von Terrorgruppen im Hinterland der Roten Armee auf. 73 Bis zur Öffnung der sowjetischen bzw. russischen Archive nach 1989/91 war noch nicht einmal das genaue Todesdatum Mutschmanns bekannt, was zahlreiche Gerüchte und Legenden über sein Ableben beflügelte. 74 Vgl. Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, S. 141.
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VI. Anhang
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Anhang
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Anhang
Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 374–382. Habicht, Martin : Zuchthaus Waldheim 1933–1945. Haftbedingungen und antifaschistischer Kampf, Berlin 1988. Haikal, Mustafa : Von der Petroleumlampe zur Panzerfaust. In : Leipzig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie - und Wissenschaftsstandortes. Hg. vom UFZ - Umweltforschungszentrum Leipzig - Halle GmbH, Leipzig 2001, S. 12–53. – : Exkurse und Dokumente zur Geschichte der Hasag. In : Leipzig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie - und Wissenschaftsstandortes. Hg. vom UFZ Umweltforschungszentrum Leipzig - Halle GmbH, Leipzig 2001, S. 54–73. – : Die Standorte der Firma im Zweiten Weltkrieg. In : Leipzig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie - und Wissenschaftsstandortes. Hg. vom UFZ - Umweltforschungszentrum Leipzig - Halle GmbH, Leipzig 2001, S. 74–79. Halder, Winfrid : „Modell für Deutschland“. Wirtschaftspolitik in Sachsen 1945– 1948, Paderborn 2001. Hehl, Ulrich von : In den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Die Universität Leipzig vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1909–1945. In : Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Band 3: Das zwanzigste Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 17–329. Hein, Markus : Zur Geschichte der sächsischen Landeskirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In : Manfred Gailus / Wolfgang Krogel ( Hg.) : Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 360–382. Held, Steffen : Von der Entrechtung zur Deportation. Die Juden in Sachsen. In: Vollnhals, Clemens ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 200–223. Helbig, Herbert : Völkerbewegungen und Kulturströmungen im Grenzland Oberlausitz in vorgeschichtlicher und frühdeutscher Zeit. In : Emmerich, Werner (Hg.): Von Land und Kultur. Beiträge zur Geschichte des mitteldeutschen Ostens ( Kötzschke - Festschrift ), Leipzig 1937, S. 38–58. Henke, Klaus - Dietmar / Schmidt - Teichert, Christiane : Die dramatische Dekade. Über Dresden in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In : Dresdner Geschichtsbuch. Hg. vom Stadtmuseum Dresden, Altenburg 2007, S. 203–230. Hess, Wolfgang : Der Mord an Karl Lämmermann. Am 01. 07. 1934 in Plauen. Tathergang – Aufklärung – Motive – Täter und Schuldige, Plauen 1993. Hesse, Alwin : Betriebsgeschichte, Teil I 1945–1949. Die antifaschistisch - demokratische Umwälzung, Riesa 1981. – : Betriebsgeschichte, Teil II 1949–1955. Der Neuaufbau des Werkes und der Kampf der Werktätigen für die Stärkung der DDR, Riesa 1985. Hilger, Andreas ( Hg ) : „Tod den Spionen !“ Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ / DDR und in der Sowjetunion bis 1953, Göttingen 2006. – / Schmeitzner, Mike / Schmidt, Ute ( Hg.) : Sowjetische Militärtribunale. Band 2 : Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003. – / Schmidt, Ute / Wagenlehner, Günther ( Hg.) : Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953, Köln 2001. Hoffmann, Walter : Bergakademie Freiberg. Freiberg und sein Bergbau. Die Sächsische Bergakademie, Frankfurt a. M. 1959.
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Hohmann, Joachim ( Hg.) : Der „Euthanasie“ - Prozess Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, Frankfurt a. M. 1993. Hübner, Peter : Niederlausitzer Industriearbeiter 1935 bis 1970, Studien zur Sozialgeschichte, Berlin 1995. In Wanderkluft und Uniform. Jugendbewegung in Sachsen. Dresdner Hefte, Heft 90, 2007. Jahn, Annekatrin / Meyer, Cuno / Walter, Hellmut : Dresdens NSDAP - Kreisleiter. In: Pieper, Christine / Schmeitzner, Mike / Naser, Gerhard ( Hg.) : Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 51–57. Jones, Larry Eugene : Saxony 1924–1930. A Study in the Dissolution of the Bourgeois Party System in Weimar Germany. In : Retallack, James ( Hg.) : Saxony in German History. Culture, Society, and Politics, 1830–1933, Ann Arbor 2000. Karay, Felicja : Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten. Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich, Köln 2001. Keiderling, Thomas : Enzyklopädisten und Lexika im Dienst der Diktatur ? Die Verlage F. A. Brockhaus und Bibliographisches Institut ( „Meyer“ ) während des Nationalsozialismus. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012) 1, S. 69– 92. – : Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co, 2., verb. Auflage Beucha 2008. Keller, Katrin : Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2001. Klemperer, Victor : Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher, 2 Bände, Berlin 1995. Klinger, Gerwin : Freiheit als freiwillige Aufgabe der Freiheit. Arnold Gehlens Umbau des deutschen Idealismus. In : Haug, Wolfgang Fritz ( Hg.) : Deutsche Philosophen 1933, Hamburg 1989, S. 189–218. – : Die Modernisierung des NS - Staates aus dem Geist der Anthropologie. Die Konzepte Zucht und Leistung bei Arnold Gehlen. In : Bialas, Wolfgang / Gangl, Manfred ( Hg.) : Intellektuelle im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 299–325. Kötzschke, Rudolf : Die deutschen Marken im Sorbenland ( Aus der Festgabe Gerhard Seeliger zum 60. Geburtstage, Sonderdruck S. 79–114), Leipzig 1920. Krüger, Ralf : Die Gleichschaltung der Dresdner Presse nach 1933. In : Dresdner Hefte, 77 (2004), S. 60–72. Lambrecht, Ronald : Politische Entlassungen der NS - Zeit, Leipzig 2006. – : Studenten in Sachsen 1918–1945. Studien zur studentischen Selbstverwaltung, sozialen und wirtschaftlichen Lage sowie zum politischen Verhalten der sächsischen Studentenschaft in Republik und Diktatur, Leipzig 2011. – / Morgenstern, Ulf : Der Lebensweg des Leipziger Nationalökonomen Gerhard Kessler (1883–1963). Praktische Sozialpolitik und politisches Engagement in Deutschland und türkischem Exil. In : Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 81 (2010), S. 147–179. Lampeter, Wolfgang : Friedrich Falke. In : Harig, Gerhard ( Hg.) : Bedeutende Gelehrte in Leipzig, Band 2, Leipzig 1965, S. 159–164. Lange, Alexander : Meuten – Broadway - Cliquen – Junge Garde. Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich, Weimar 2010. Lange, Sascha ( Alexander ) : Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Leipzig 2012.
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Anhang
Lapp, Benjamin : Revolution from the Right. Politics, Class, and the Rise of Nazism in Saxony, 1919–1933, Boston 1997. – : Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Sachsen. In : Pommerin, Reiner ( Hg.) : Dresden unterm Hakenkreuz, Köln 1998, S. 1–24. Lauerwald, Hannelore : In fremdem Land – Kriegsgefangene im STALAG VII A in Görlitz(1939–1945), Görlitz 1996. Lauterbach, Werner / Mehnert, Eberhard : Zur Geschichte der Wärmewirtschaftlichen Abteilung am Braunkohlenforschungsinstitut der Bergakademie Freiberg unter dem Direktorat von Friedrich Seidenschnur 1921 bis 1935, Freiberg 2006. Lawford - Hinrichsen, Irene / Molkenbur, Norbert : C. F. Peters. Ein deutscher Musikverlag im Leipziger Kulturleben. Zum Wirken von Max Abraham und Henri Hinrichsen. In : Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig. Hg. von der Ephraim - Carlebach - Stiftung, Leipzig 1994, S. 92–109. Lehmann, Nele - Hendrikje : „Die Bergakademie Freiberg ist eine technische Hochschule.“ Organisation und Selbstwahrnehmung der Bergakademie im Kaiserreich. In : Pohl, Norman / Lehmann, Nele - Hendrikje ( Hg.) : Von Freiberg nach Bologna. Zur Geschichte von Studienbedingungen und Bildungsreformen. Beiträge des Agricola - Kolloquiums 2010, im Druck. Leipzig Permoserstraße. Zur Geschichte eines Industrie - und Wissenschaftsstandortes. Hg. vom UFZ - Umweltforschung Leipzig - Halle GmbH, Leipzig 2001. Lienert, Matthias : Der Einfluß des Nationalsozialismus auf die Technische Hochschule Dresden während der Weimarer Republik. In : Blaschke, Karlheinz ( Hg.): Neues Archiv für Sächsische Geschichte, 66 (1995), S. 273–291. Ludwig, Esther / Kötzschke, Rudolf : Das schwere Bemühen um die Bewahrung der „unantastbaren Reinheit des geschichtlichen Sinnes“. In : Held, Wieland / Schirmer, Uwe ( Hg.) : Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig, Beucha 1999, S. 21–70. Maaß, Anita : Politische Kommunikation in der Weimarer Republik. Das Dresdner Stadtverordnetenkollegium 1918–1933, Leipzig 2009. Mai, Thomas : Der faschistische sächsische Gauleiter Martin Mutschmann, die Entwicklung des Gaues Sachsen und der NSDAP [ unveröffentlichte Diplomarbeit ], Jena 1984. Manukjan, Nora : „Euthanasie“ – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR. In : Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen. Hg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden 2004, S. 173–196. Mergel, Thomas : Milieu und Region. Überlegungen zur Ver - Ortung kollektiver Identitäten. In : Retallack, James ( Hg.) : Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000, S. 265–279. Meškank, Timo : Die Zwischenkriegszeit. Sorbische Nationalbewegung unter Irredentaverdacht. In : Pech, Edmund / Scholze, Dietrich ( Hg.) : Zwischen Zwang und Beistand. Deutsche Politik gegenüber den Sorben vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, Dresden 2003, S. 39–72. Meyer - Seitz, Christian : Die Verfolgung von NS - Straftaten in der Sowjetischen Besazungszone, Berlin 1998.
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Auswahlbibliographie
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Anhang
Rudloff, Michael / Adam, Thomas : Leipzig. Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996. Der sächsische Sonderweg bei der NS - „Euthanasie“. Hg. vom Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, Ulm 2001. Sack, Birgit : Dr. Margarete Blank (1901–1945). Justizmord und Erinnerungspolitik, Dresden 2000. Schaarschmidt, Thomas : Regionalkultur und Diktatur. Heimatbewegung und Heimat - Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ / DDR, Köln 2004. Schachtmann, Judith : Das Wirken Walter Frenzels in den Jahren 1936 bis 1941 und seine Rolle bei der Verschleppung der Ethnographischen Sammlung Łódź. In : Umbruch 1945 ? Die prähistorische Archäologie in ihrem politischen und wissenschaftlichen Kontext, Dresden 2012, S. 90–98. Scharnetzky, Julius : „Da begann er, [ … ] sich als jemand Besonderes zu fühlen.“ Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein und der personelle Konnex zur Shoah am Beispiel der „Aktion Reinhardt“, Masterarbeit, TU Dresden 2011. Schiffner, Carl : Aus dem Leben alter Freiberger Bergstudenten, Freiberg 1935. – : Aus dem Leben alter Freiberger Bergstudenten, Band II, Freiberg 1938. – : Aus dem Leben alter Freiberger Bergstudenten und der Lehrkörper der Bergakademie, Band III, Freiberg 1940. Schilter, Thomas : Die „Euthanasie“ - Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein 1940/41. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997. – : Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische „Euthanasie“ - Tötungsanstalt Pirna - Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999. Schirmer, Uwe : Graduiertenschriften am Leipziger Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde (1906–1950). Ein Forschungsbericht. In : Held, Wieland / Schirmer, Uwe ( Hg.) : Rudolf Kötzschke und das Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde an der Universität Leipzig, Beucha 1999, S. 91–144. Schlesinger, Joachim : Die Freimaurer in der Stadt Leipzig. Versuch einer Annäherung. Werte – Wandel – Perspektive, Leipzig 1993. Schlesinger, Walter ( Hg.) : Handbuch der historischen Stätten Deutschlands – Sachsen, Stuttgart 1990. Schmeitzner, Mike : Ausschaltung – Verfolgung – Widerstand. Die politischen Gegner des NS - Systems in Sachsen. In : Vollnhals, Clemens ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 183–199. – : Totale Herrschaft durch Kader ? Parteischulung und Kaderpolitik von NSDAP und KPD / SED. In : Totalitarismus und Demokratie, 2 (2005), S. 71–99. – : Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011. – : Martin Mutschmann. In : Donath, Matthias / Thieme, André ( Hg.) : Sächsische Mythen. Menschen – Orte – Ereignisse, Leipzig 2011, S. 259–269. – : Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ? Zur Verfolgung von NS - Verbrechen durch die sowjetische Sonderjustiz. In Osterloh, Jörg / Vollnhals, Clemens ( Hg.) : NS Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 149–166. – / Rudloff, Michael : Geschichte der Sozialdemokratie im Sächsischen Landtag. Darstellung und Dokumentation 1877–1997, Dresden 1997. Schmid, Hans - Dieter : Gestapo Leipzig. Politische Abteilung des Polizeipräsidiums und Staatspolizeistelle Leipzig 1933–1945, Beucha 1997.
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Auswahlbibliographie
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Schmiedel, Volker : Die psychiatrische Behandlungspraxis in der Heil - und Pflegeanstalt Hubertusburg / Sachsen im Zeitraum 1933–1945, Leipzig 1994. Schmutzler, Nikola : Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfr. Johannes Herz (1877–1960), Diss. theol. MS, Leipzig 2011. Schneider, Michael C. : Die Wirtschaftsentwicklung von der Wirtschaftskrise bis zum Kriegsende. In : Vollnhals, Clemens ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 9–40. – : Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS - Zeit 1933–1945, Essen 2005. Schöbel, Gunter : Die Ostinitiativen Hans Reinerths. In : Schachtmann, Judith / Strobel, Michael / Widera, Thomas ( Hg.) : Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 267–283. Scholze, Dietrich : „Die Wendenabteilung“. In : Grande, Dieter / Fickenscher, Daniel ( Hg.) : Eine Kirche – zwei Völker. Deutsche, sorbische und lateinische Quellentexte und Beiträge zur Geschichte des Bistums Dresden - Meißen von der Wiedererrichtung 1921 bis 1929, Bautzen 2003, S. 502–504. Schreiber, Carsten : Politische Polizei und KPD. Die Politische Abteilung des Polizeipräsidiums Leipzig 1929 bis 1936, Leipzig 1998. – : Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008. Schulz, Heinz : Rüstungsproduktion im Raum Dresden 1933–1945, Dresden 2003. Schulze, Eberhard : Agrarwissenschaften an der Universität Leipzig 1740–1945, Leipzig 2006. Seifert, Manfred : Ego - Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. Lebensgeschichtliche Forschungen am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. In : ders./ Sönke Friedrich ( Hg.): Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung, Dresden 2009, S. 11–36. Seifert, Otto : Die große Säuberung des Schrifttums. Der Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig 1933 bis 1945, Schkeuditz 2000. – : Aspekte des geistigen Klimas für die „Arisierung“ und die Folgen für die Buchstadt Leipzig. In : Gibas, Monika ( Hg.) : „Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte der Jahre 1933 bis 1945, Leipzig 2007, S. 73–93. Strobel, Michael : Werner Radig (1902–1985). Ein Prähistoriker in drei politischen Systemen. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 47 (2005), S. 281–320. – : Das dreijährige Wirken des Prähistorikers Kurt Tackenberg (1899–1992) in Sachsen. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 48/49 (2006/2007), S. 371–392. – : Anmerkungen zur Institutionalisierung der archäologischen Denkmalpflege in Sachsen zwischen 1918 und 1945. In : Schachtmann, Judith / Strobel, Michael / Widera, Thomas ( Hg.) : Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 169–192.
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Anhang
– / Reinerth, Hans / Riek, Gustav : Modernitätsflüchtlinge in einer ungewissen Wissenschaft. In : Arbeits - und Forschungsberichte zur Sächsischen Bodendenkmalpflege, 45 (2003), S. 443–461. – / Widera, Thomas : Einleitung. In : Schachtmann, Judith / Strobel, Michael / Widera, Thomas ( Hg.) : Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009, S. 9–29. Szejnmann, Claus - Christian W. : Nazism in Central Germany. The Brownshirts in ‚Red‘ Saxony, New York 1999. – : Vom Traum zum Alptraum. Sachsen in der Weimarer Republik, Dresden 2000. – : Theoretisch - methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS - Zeit. In : Ruck, Michael / Pohl, Karl - Heinz ( Hg.) : Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 43–57. – : Verwässerung oder Systemstabilisierung ? Nationalsozialismus in Regionen des Deutschen Reiches. In : Neue Politische Literatur, 48 (2003) 2, S. 208–250. – : Arbeitermilieus in Südwestdeutschland in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In : Trummer, Peter I./ Pflug, Konrad ( Hg.) : Die Brüder Stauffenberg und der Deutsche Widerstand, Stuttgart 2006, S. 51–64. – : Die Bedeutung der Regionalgeschichte für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocausts. In : Hartung, Olaf / Köhr, Katja ( Hg.) : Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 85– 103. – : Perpetrators of the Holocaust. A Historiography. In : Jensen, Olaf / Szejnmann, Claus - Christian W. ( Hg.) : Ordinary People as Mass Murderers. Perpetrators in Comparative Perspective, Basingstoke 2008, S. 25–54. – / Umbach, Maiken ( Hg.) : Heimat, Region and Empire. Spatial Identities under National Socialism, Basingstoke 2012. Taylor, Frederick : Dresden, Dienstag 13. Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror ? München 2004. Thiel, Ulrich : Freiberg in Sachsen. Kolonialgeologische und - bergbauliche Forschungsstätte. In : van der Heyden, Ulrich / Zeller, Joachim ( Hg.) : Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007, S. 177–182. Thiem, Sebastian : Opposition aus dem Rathaus. Verfolgung und Widerstand Leipziger Ratsherren und Stadtverordneten während der nationalsozialistischen Diktatur 1933 bis 1945, Magisterarbeit Leipzig 1995. Voigt, Carsten : Das Reichsbanner Schwarz - Rot - Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen (1924–1933), Leipzig 2008, zugl. Diss. Masch. Vollnhals, Clemens : Der gespaltene Freistaat. Der Aufstieg der NSDAP in Sachsen. In : ders. ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, S. 9–40. – / ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002. Wächtler, Eberhard / Zillmann, Fritz : Die Freiberger Studentenschaft 1765 bis 1945. In : Bergakademie Freiberg, Band I, S. 274–288. Wagenbreth, Otfried : Die Geschichte der TU Bergakademie Freiberg dargestellt in Tabellen und Bildern, 1. Auflage Leipzig 1994. – / Pohl, Norman / Kaden, Herbert / Volkmer, Roland : Die Technische Universität Bergakademie Freiberg und ihre Geschichte dargestellt in Tabellen und Bildern, 2. Auflage Freiberg 2008.
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Auswahlbibliographie
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Wagner, Andreas : Mutschmann gegen von Killinger. Konfliktlinien zwischen Gauleiter und SA - Führer während des Aufstiegs der NSDAP und der „Machtergreifung“ im Freistaat Sachsen, Beucha 2001. – : ‚Machtergreifung‘ in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004. – : Martin Mutschmann. Der brauche Gaufürst (1935–1945). In: Schmeitzner, Mike / Wagner, Andreas ( Hg.) : Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 279–309. Weidauer, Walter : Inferno Dresden, Berlin 1965. Weil, Francesca : Entmachtung im Amt. Bürgermeister und Landräte im Kreis Annaberg 1930–1961, Köln 2004. Weinke, Annette : Dem „Klassengegner“ hingegeben ? Die Dresdner Prozesse gegen das SA - Wachpersonal des „Schutzhaft“ - Lagers Hohnstein. In : Haase, Norbert / Sack, Birgit ( Hg.) : Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort, Leipzig 2001, S. 153–170. Werner, Oliver : Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1932 bis 1963, Stuttgart 2004. Widera, Thomas : Gefangene Erinnerung. Die politische Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens. In : Fritze, Lothar / Widera, Thomas ( Hg.) : Alliierter Bombenkrieg. Das Beispiel Dresdens, Göttingen 2005, S. 109–134. Wilhelm, Georg : Die Evangelisch - lutherische Landeskirche Sachsens im „Dritten Reich“. In : Clemens Vollnhals ( Hg.) : Sachsen in der NS - Zeit, Leipzig 2002, 133– 142.
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Abkürzungsverzeichnis AdJB AKThG APM AStA BA ASt. BA Berlin BArch BDM BEZ BK BKK BRD BStU CDU CEGES DAF DBK DC DDP DDR DFW DGO DJV DMW DNVP DSTB DVO E. K. EphAL FDJ FSB FzaS Gestapo GG GI GrLLvS GStA GStA HessHStA HJ HSSPF
Archiv der deutschen Jugendbewegung Arbeiten zur Kirchen - und Theologiegeschichte Archiv Pfahlbaumuseum Unteruhldingen Allgemeiner Studierendenausschuss Bundesarchiv Außenstelle Bundesarchiv Außenstelle Ludwigsburg Bundesarchiv Bund Deutscher Mädel Bund des „Euthanasie“ - Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. Bekennende Kirche Betriebskrankenkasse Bundesrepublik Deutschland Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Christlich Demokratische Union Centre d’etudes et de documentation guerre et société contemporaine Deutsche Arbeitsfront Deutsche Bruderkette Deutsche Christen Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsches Frauenwerk Deutsche Gemeindeordnung Deutsche Justizverwaltung Deutsche Munitionswerke Deutschnationale Volkspartei Deutschvölkischer Schutz - und Trutzbund Durchführungsverordnung Eisernes Kreuz Ephoralarchiv Leipzig Freie Deutsche Jugend Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoj Federazii (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne Geheime Staatspolizei Generalgouvernement Generalinspekteur Große Landesloge von Sachsen Geheimes Staatsarchiv Generalstaatsanwalt Hessisches Hauptstaatsarchiv Hitlerjugend Höherer SS - und Polizeiführer
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Abkürzungsverzeichnis HUA IfZ IHK IM IMT ISGV KD KdF KdF KG KGB KJVD KPD KPO KZ LDP LGA LPDP MfS MGB MIAG NARA NKGB NKVD NSBDT NSBO NSDÄB NSDAP NSDAP NSDStB NSF NSKK NSKOV NSLB NSRB NSS NSV O. T. OC OLG OPG OSS P. O.
Humboldt Universitätsarchiv Berlin Institut für Zeitgeschichte Industrie - und Handelskammer Inoffizieller Mitarbeiter Internationales Militärtribunal Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. Kontrollratsdirektive Kanzlei des Führers Kraft durch Freude Kontrollratsgesetz Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti pri Sowjete Ministrov SSSR ( Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR) Kommunistischer Jugendverband Deutschlands Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Parteiopposition Konzentrationslager Liberal - Demokratische Partei Lebensgeschichtliches Archiv für Sachsen Liberal - Demokratische Partei Deutschlands Ministerium für Staatssicherheit Ministerstvo / Ministr gosudarstvennoj bezopasnosti (Ministerium / Minister für Staatssicherheit ) Mühlenbau und Industrie Aktiengesellschaft National Archives and Records Administration Narodnyj komissariat gosudarstvennoj bezopasnosti (Volkskommissariat für Staatssicherheit ) Narodnyj komissariat vnutrennich del ( Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten ) NS - Bund Deutsche Technik Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistische Frauenschaft Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund Nationalsozialistischer Schülerbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Operation Todt Organisation Consul Oberlandesgericht Oberstes Parteigericht Office of Strategic Services Parteiorganisation
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PAAA PK PPK
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Parteikorrespondenz Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS - Schrifttums RAW Reichsbahnausbesserungswerk RDB Reichsbund der Deutschen Beamten RFB Roter Frontkämpferbund RGBl Reichsgesetzblatt RGG Religion in Geschichte und Gegenwart RGI Reichsgruppe Industrie RMVP Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda RPL Reichspropagandaleitung RSK Reichsschrifttumskammer SA Sturmabteilung SächsHStA Dresden Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden SächsStA Chemnitz Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz SächsStAL Sächsisches Staatsarchiv Leipzig SAJ Sozialistische Arbeiterjugend SAPMO Stiftungen Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR SAR Stadtarchiv Riesa SBZ Sowjetische Besatzungszone SD Sicherheitsdienst des Reichsführers - SS SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SGL Symbolische Großloge von Deutschland SKA Sorbisches Kulturarchiv / serbski kulturny archiv SMAD Sowjetische Militäradministration SMT Sowjetisches Militärtribunal Sopade Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel SS - WVHA SS - Wirtschafts - und Verwaltungshauptamt StadtADresden Stadtarchiv Dresden StFilAB Staatsfilialarchiv Bautzen SWR Stahlwerk Riesa T4 Tiergartenstraße 4 u. k. unabkömmlich UAF Universitätsarchiv Freiberg UAH Universitätsarchiv Halle UAL Universitätsarchiv Leipzig UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken USHMM United States Holocaust Memorial Museum VDN Verfolgte des Nationalsozialismus V - Mann Vertrauensmann VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ZF Zahnradfabrik Friedrichshafen ZK Zentralkomitee ZSL Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg
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Autorenverzeichnis Christian Augustin, M. A., Veröffentlichungen u. a. : Ausgewählte Anwendungsfälle aus der populären und wissenschaftsgeschichtlichen Nutzung des Professorenkatalogs. In : Ulf Morgenstern / Thomas Riechert (Hg.), Catalogus Professorum Lipsiensis. Konzeption, technische Umsetzung und Anwendungen für Professorenkataloge im Semantik Web, Leipzig 2010, S. 119–128; Von einem „Wissen ganz anderer Art“. Die politische Karriere des Agrarwissenschaftlers Max Schönberg (1897–1952) im Dritten Reich und in der SBZ / DDR. In : Ronald Lambrecht / Ulf Morgenstern ( Hg.), „Kräftig vorangetriebene Detailforschungen“. Aufsätze für Ulrich von Hehl zum 65. Geburtstag, Leipzig 2012, S. 167–186. Carina Baganz, Dr. phil., Lehrbeauftragte am Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin. Veröffentlichungen u. a. : Zehn Wochen KZ Wöbbelin. Ein Konzentrationslager in Mecklenburg 1945. Hg. von den Mahn - und Gedenkstätten Wöbbelin, 2. Auflage 2005; Erziehung zur „Volksgemeinschaft“ ? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933–34/37, Berlin 2005; Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung. Die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus, Berlin 2013. Wolfgang Bialas, PD Dr. phil., Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden bzw. freiberuflicher Dozent und Übersetzer. Veröffentlichungen u. a. : Nazi Germany and the Humanities, One World Press 2007 ( hg. mit Anson Rabinbach ); Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus, Göttingen 2010; Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014. Franziska Böhl, M. A., Doktorandin am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Leipzig. Laufendes Dissertationsprojekt : Die sächsischen Großlogen nach 1918. Veröffentlichungen : Die Leipziger Freimaurer in der DDR. In: Winkelmaß – Das unabhängige Freimaurer - Magazin, 0/2010, Leipzig, S. 14– 17; Die Leipziger Freimaurer im 20. Jahrhundert. In : Religiöse Devianz in Leipzig, Hannover 2012, S. 109–138. Boris Böhm, Dr. phil., Leiter der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein. Veröffentlichungen u. a. : Wollen wir leben, Das Leben ! Elfriede Lohse - Wächtler 1899– 1940. Eine Biografie in Bildern, Dresden 2009; Pirna - Sonnenstein. Von einer Heilanstalt zu einem Ort nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Begleitband zur ständigen Ausstellung der Gedenkstätte Pirna - Sonnenstein, Dresden und Pirna 2011; Die Geschichte der Heil - und Pflegeanstalt Sonnenstein 1811– 1939, Pirna 2011.
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Stephan Dehn, M. A., Promovend am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Leipzig, Stipendiat der Konrad - Adenauer- Stiftung. Laufendes Dissertationsprojekt : Die nationalsozialistische Propaganda in Sachsen 1921– 1945. Sebastian Fink, Dr. phil., Dozent am Historischen Seminar der Universität Leipzig und Journalist u. a. für die Leipziger Volkszeitung und die DPA. Veröffentlichungen u. a. : Tageszeitungspropaganda in Diktaturen. Das Münchner Abkommen 1938 und die KSZE - Abschlusskonferenz in Helsinki 1975 in Völkischer Beobachter / Riesaer Tageblatt und Neues Deutschland / Sächsische Zeitung – Ein Vergleich, Leipzig 2006; Das Stahlwerk Riesa in beiden deutschen Diktaturen 1933–1963 – Ein Vergleich, Leipzig 2012. Ulrich Fritz, M. A., Mitarbeiter der Stiftung Bayerische Gedenkstätten im Projekt „KZ - Außenlager in Bayern“. Dissertationsprojekt : Die Außenlager des KZ Flossenbürg. Veröffentlichungen u. a. : Schwarzenfeld : Tatort ohne Täter, Tatort ohne Opfer, Tatort ohne Tat. In : Freilegungen ( Jahrbuch des International Tracing Service Band 2), Göttingen 2013, S. 99–111; Unbequeme Denkmale : KZ - Friedhöfe in Bayern. Kurze Geschichte einer institutionellen Odyssee mit Seitenblick nach Sachsen. In : MEDAON 13/2013, http ://www.medaon.de / pdf/ MEDAON_13_Fritz.pdf. Udo Grashoff, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a. : „In einem Anfall von Depression ...“ Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006; Das vergessene Lager. Eine Dokumentation zum Außenkommando des KZ Buchenwald in Halle / Saale 1944/45, Halle 2010; Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011. Günther Heydemann, Prof. Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig und Direktor des Hannah - Arendt Instituts für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a. : Konsens, Krise und Konflikt. Die deutsch - amerikanischen Beziehungen im Zeichen von Terror und Irak - Krieg. Eine Dokumentation 2001–2008, Bonn 2010 ( hg. zusammen mit Jan Gülzau ); Streitkräfte im Nachkriegsdeutschland, Berlin 2011 ( hg. zusammen mit Hans - Jörg Bücking ); Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013 ( hg. zusammen mit Karel Vodička ). Friederike Hövelmans, M. A. Doktorandin der Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig und museumspädagogische Assistentin am Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Laufendes Dissertationsprojekt : Zwischen Weimarer Republik und Weltkrieg II. Bürgerliche Jugend in Sachsen am Beispiel der
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Sächsischen Jungenschaft. Veröffentlichungen : Die Begegnung mit dem Fremden : Auslandsfahrten der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik – am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft. In : Leonard Schmieding / Alfons Kenkmann ( Hg.), Kohte, Kanu, Kino und Kassette. Jugend zwischen Wilhelm II. und Wiedervereinigung, Leipzig 2012, S. 59–81; Grenzlandfahrten und Schüler - und Studentenaustausch als Selbsterfahrung und Bildungsformate. Das Beispiel der Sächsischen Jungenschaft. In : Historische Jugendforschung, NF Band 8/2011, Schwalbach 2012, S. 77–92. Thomas Keiderling, PD Dr. phil., Projektmitarbeiter in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zur Erschließung und Aufarbeitung des Verlagsarchivs Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Veröffentlichungen u. a. : F. A. Brockhaus 1905–2005, Leipzig 2005 ( Hg.); Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co., 2. verb. Auflage Beucha 2008; Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig, Markkleeberg 2012. Alexander Lange, Dr. phil., Freier Historiker und Autor. Laufendes Projekt : Jugendkulturen im 20. Jahrhundert, u. a. Depeche - Mode - Fankultur in der DDR. Veröffentlichungen unter dem Namen Sascha Lange : Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus – eine Dokumentation, Leipzig 2012; Depeche Mode Monument, Berlin 2013 ( zusammen mit Dennis Burmeister ). Armin Nolzen, M. A., Redakteur der „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“. Veröffentlichungen u. a. : Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In : Jörg Echternkamp ( Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9 : Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Teilband 1: Politisierung – Vernichtung – Überleben, München 2004, S. 99–193; Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011 ( hg. zusammen mit Manfred Gailus ); Ungleichheiten im „Dritten Reich“. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen, Göttingen 2012 ( hg. zusammen mit Nicole Kramer ). Norman Pohl, Dr. rer. nat., Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts - und Technikgeschichte TU Bergakademie Freiberg. Veröffentlichungen u. a. : Die Preußische Landesanstalt für Wasser - , Boden - und Lufthygiene ( WaBoLu ) und die Absicherung des Inhumanen. In : Judith Hahn / Silvija Kavcic / Christoph Kopke ( Hg.), Medizin im Nationalsozialismus und das System der Konzentrationslager. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums. Frankfurt a. M. 2005, S. 188–208; Die TU Bergakademie Freiberg und ihre Geschichte dargestellt in Bildern und Tabellen, 3. korr. und erw. Auflage Freiberg 2012 ( zusammen mit Otfried Wagenbreth, Herbert Kaden, Roland Volkmer ); Umweltgeschichte Sachsens. Texte und Materialien, Leipzig 2013 ( zusammen mit Mathias Deutsch ).
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Lars Polten, M. A., freiberuflicher Kulturwissenschaftler, Lebensgeschichtliches Archiv am ISGV Dresden und Kombinat Süd Jena. Laufendes Dissertationsprojekt : Reden über Zwangssterilisation und „Euthanasie“. Veröffentlichungen: Weihnachtliches Erzählen. In : Kathrin Pöge - Alder ( Hg.), Alltägliches Erzählen. Ausschnitte aus der Gegenwart, Thüringer Hefte für Volkskunde, Band 15, Erfurt 2007, S. 44–61. Judith Schachtmann, M. A., Promovendin am Institut für Geschichtswissenschaften, Abteilung Ur - und Frühgeschichte an der Universität Bremen. Laufendes Dissertationsprojekt : Vor - und frühgeschichtliche Museen und Ausstellungen in Sachsen während des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen u. a. : Walter Frenzel und die Ethnographische Sammlung Łódź. In : Regine Dehnel (Hg.), NS- Raubgut in Museen, Bibliotheken und Archiven. Viertes Hannoversches Symposium, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderband 108, Frankfurt a. M. 2012, S. 231–240; Zwangsarbeit – NS - Terror in der Prähistorischen Archäologie ? In : Graben für Germanien – Archäologie unterm Hakenkreuz. Ausstellungskatalog. Hg. vom Focke Museum, Stuttgart 2013, S. 120–125 ( zusammen mit Thomas Widera ). Julius Scharnetzky, M. A., pädagogischer Mitarbeiter der KZ - Gedenkstätte Flossenbürg. Veröffentlichungen : Horst Schumann. Ein aktiver Anhänger der nationalsozialistischen Rassen - und Vernichtungspolitik. In : Christine Pieper / Mike Schmeitzner / Gerhard Naser ( Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 168–171; „Wir fordern schwerste Bestrafung.“ Der Dresdner „Euthanasie“ - Prozess 1947 und die Öffentlichkeit. In : Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals ( Hg.), NS - Prozesse und die deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 189–206 ( zusammen mit Boris Böhm ). Mike Schmeitzner, PD Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden Veröffentlichungen u. a. : Alfred Fellisch 1884–1973. Eine Biographie, Köln 2000; (Hg.),Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007; Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011 (3. Auflage 2012). Nikola Schmutzler, Dr. theol., Pfarrerin der Ev. - Luth. St. Laurentius Kirchgemeinde Auerbach. Veröffentlichungen u. a. : Mittelalterliche Türbeschläge im Vogtland : Das romanische Portal der Kirche zu Waldkirchen. In : Michael Beyer/ Martin Teubner / Alexander Wieckowski (Hg.), Zur Kirche gehört mehr als ein Kruzifix : Studien zur mitteldeutschen Kirchen - und Frömmigkeitsgeschichte, Festausgabe für Gerhard Graf zum 65. Geburtstag, Leipzig 2008, S. 215–228; Evangelisch - sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013; Innere Mission in Leipzig. In : Enno Bünz/
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Armin Kohnle ( Hg.), Das religiöse Leipzig. Stadt und Glauben vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig 6, Leipzig 2013, S. 389–412. Jan Erik Schulte, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah - Arendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a. : Zwangsarbeit und Vernichtung : Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS - Wirtschafts - Verwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn 2001; Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009 ( Hg.); Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler, München 2013 (hg. zusammen mit Michael Wala ). Manfred Seifert, Prof. Dr. phil., Universitätsprofessor am Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft der Philipps - Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a. : Technik - Kultur. Das Beispiel Wohnraumheizung, Dresden 2012; Zwischen Emotion und Kalkül. Heimat als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010 ( Hg.); Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung, Dresden 2009 ( hg. zusammen mit Sönke Friedreich ). Claus - Christian W. Szejnmann, Prof. Dr. phil., Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Loughborough University ( Großbritannien ). Laufende Projekte : Anti - Kapitalismus in Deutschland sowie eine Monographie zu „Contesting the Rise of the Nazis“. Veröffentlichungen u. a. : „Machtergreifung“. The Nazi seizure of Power in 1933, Sonderheft Politics, Religion & Ideology, 14 (3) 2013 ( hg. zusammen mit Benjamin Ziemann ). Francesca Weil, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hannah - Arendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a. : Entmachtung im Amt. Bürgermeister und Landräte im Kreis Annaberg 1930–1961, Köln 2004; Zielgruppe Ärzteschaft. Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Göttingen 2007; Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR, Göttingen 2011. Thomas Widera, Dr. phil., assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Laufendes Projekt : Geschichte des Haftortes U- Haftanstalt Bautzner Straße und der BV Dresden des MfS 1945–1990. Veröffentlichungen u. a : Dresden 1945– 1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft, Göttingen 2004; Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien, Göttingen 2009 ( hg. zusammen mit Judith Schachtmann und Michael Strobel ).
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Dank Die Entstehung dieses Bandes haben zahlreiche Kolleginnen und Kollegen begleitet, denen wir herzlich für Ihre Unterstützung, Mitarbeit und ihre Kommentare danken. Zu allererst geht unser Dank an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops „Sachsen und der Nationalsozialismus“, den das Hannah - Arendt - Institut im Dezember 2011 in Dresden ausrichtete. Die überarbeiteten Referate dieser Tagung bilden die Grundlage für den vorliegenden Sammelband. An dieser Stelle möchten wir insbesondere Detlef Schmiechen Ackermann, Oliver Werner, Jörg Skriebeleit, Thomas Schaarschmidt, Alfons Kenkmann und Clemens Vollnhals danken, die als Moderatoren die weiterführenden Diskussionen anregend kommentierend strukturierten. Über die Referentinnen und Referenten des Workshops hinausgehend, haben sich Kolleginnen und Kollegen bereit gefunden, weitere, speziell für das vorliegende Buch konzipierte Aufsätze beizusteuern. Ihnen und allen übrigen Autorinnen und Autoren möchten wir für die Beteiligung am Band, für ihre Geduld bei der Diskussion und beim Korrekturlesen ihrer Texte danken. Unser Dank gilt aber ebenso den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hannah - Arendt - Instituts, die an der Vorbereitung und Durchführung der Tagung beteiligt waren sowie auf vielfältige Art und Weise die Fertigstellung des Bandes bis hin zum druckfertigen Manuskript unterstützten. Insbesondere seien hier genannt Evelyn Brock, Hannelore Georgi, Walter Heidenreich, Christine Lehmann, Michael Thoß sowie Christoph Leonhardt, Robin Reschke und Markus Wahl. Dresden, im November 2013
Günther Heydemann Jan Erik Schulte und Francesca Weil
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