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German Pages 128 Year 2013
in der Beck’schen Reihe
Nur acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ging es im kommunistischen Osten Deutschlands um Demokratie, Freiheit und Wiedervereinigung. Etwa eine Million Menschen beteiligten sich in über 700 Orten der DDR. Ilko-Sascha Kowalczuk schildert den Volksaufstand in seiner ganzen Vielschichtigkeit und lenkt den Blick auf die Großstädte ebenso wie auf die vielen mutigen Menschen in der Provinz. So entsteht ein breites Panorama einer gesellschaftlichen Bewegung, die die SED-Diktatur bis ins Mark erschütterte.
Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967, Dr. phil., Historiker, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission «Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit» und arbeitet seit mehreren Jahren als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR (2. Auflage 2009); Die 101 wichtigsten Fragen DDR (2009) sowie Stasi konkret (2013).
Ilko-Sascha Kowalczuk
17. JUNI 1953
Verlag C. H. Beck
1. Auflage. 2013 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2013 Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München Umschlagabbildung: Leipziger Straße, 17. Juni 1953 © akg-images ISBN Buch 978-3-406-64539-6 ISBN eBook 978-3-406-64540-2 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.
Inhalt
Vorwort
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1. Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft: Der Aufbau des Sozialismus
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2. Stalins Tod und der «Neue Kurs»
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3. Der Aufstand in den Großstädten Berlin Dresden Halle Leipzig Magdeburg
34 36 52 56 66 70
4. Der Aufstand in der Provinz Mecklenburg-Vorpommern Brandenburg Sachsen-Anhalt Thüringen Sachsen
74 74 78 84 89 99
5. Die Rache der Herrschenden Hinrichtungen in der Sowjetarmee?
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6. Internationale Reaktionen
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7. Die Zukunft des 17. Juni: Nachbetrachtung
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Auswahlbibliographie Register
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Vorwort
Der «17. Juni 1953» war jahrzehntelang ein geschichtspolitisch umstrittenes Ereignis. In der DDR ist er schon zwei Tage nach den Ereignissen offiziell als «faschistischer Putschversuch» denunziert worden. In sowjetischen Dokumenten findet sich diese Charakterisierung bereits am Mittwoch, den 17. Juni 1953. Damit folgten die Kommunisten ihrer Logik, dass Angriffe gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht nur von außen gesteuert, inspiriert und organisiert sein könnten. Und da in der Bundesrepublik die ehemaligen Faschisten an der Macht seien – so die damals offizielle SED-Lesart –, konnte es sich nur um einen «faschistischen Putschversuch» handeln. Erst in den späten 1970er und den 1980er Jahren ist diese Deutung häufiger durch die Charakterisierung als «konterrevolutionärer Putschversuch» abgeschwächt worden, ohne dass die zuerst erfolgte Bezeichnung verschwunden wäre. Eine öffentliche Auseinandersetzung fand selbstredend nicht statt. Aber jedem Schulkind ist beigebracht worden, dass an diesem Tag der US-amerikanische Imperialismus – so wie in Ungarn 1956 – vergeblich versucht habe, den Sozialismus in der DDR zu beseitigen. Schulbuchautoren und SED-Historiker trugen mit ihren Propagandaschriften ebenso zu diesem Geschichtsbild bei wie Schriftsteller, Dramaturgen, Theaterregisseure oder Schauspieler. Die vielen Funktionäre, Propagandisten und Lehrer taten dies ohnehin. Das ging zum Teil so weit, dass selbst Familien, in denen die Ereignisse ganz anders erlebt worden waren, aus Angst gar nicht mehr über den Tag sprachen. Der «17. Juni» wurde zum Tabu. Diese ideologische Indoktrination blieb nicht folgenlos. Auch in Gruppen, die der SED-Diktatur kritisch oder ablehnend gegenüberstanden, fand eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen, ihren Ursachen und Folgen, nur selten statt. Gerade Nachgeborenen, also jenen, die die Ereignisse selbst nicht erlebt
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Vorwort
hatten, blieb der «17. Juni» nicht selten verdächtig – vielleicht war ja etwas dran an den SED-Einschätzungen. Auch die Herrschenden vergaßen das Ereignis nicht. Noch in den 1980er Jahren fragten interne Überprüfungen selbst bei jenen, die damals noch Jugendliche gewesen waren, ab, wie sie sich am 17. Juni 1953 verhalten hatten. Und nichts könnte den Schock, den die SED-Führung damals erlitt, besser verdeutlichen als ein berühmter Wortwechsel vom 31. August 1989. An diesem Tag traf sich die Generalität des Ministeriums für Staatssicherheit in Ost-Berlin zu einer turnusmäßigen Dienstbesprechung bei Minister Erich Mielke. Es ging um die politische Lage in der DDR. Die Agonie des Systems war kaum noch zu übersehen. Die MfSSpitze zeigte sich besorgt. Bezeichnenderweise fragte Mielke: «Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?» Der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Gera, Oberst Dieter Dangrieß, beruhigte seinen Minister: «Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.» Wie wir wissen, irrte der Oberst, der nur Tage später noch zum Generalmajor befördert worden ist. Aber auch in der Bundesrepublik ist der «17. Juni 1953» geschichtspolitisch benutzt worden. Er gab der jungen Demokratie gleichsam einen legitimatorischen Schub. Vor allem aber nützte er der Regierung: Kanzler Adenauer und die Unionsparteien gewannen im September 1953 die Bundestagswahlen überlegen – noch Monate zuvor war das nicht zu erwarten gewesen. 1953 zum gesetzlichen Feiertag erhoben und 1963 zum nationalen Gedenktag erklärt, erfuhr der «17. Juni» auch in der Bundesrepublik wissenschaftliche Umdeutungen und ist geschichtspolitisch für innenpolitische und deutschlandpolitische Strategien und Debatten instrumentalisiert worden. Infolge der neuen bundesdeutschen Deutschland- und Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt verlor der Feier- und Gedenktag allerdings zunehmend an Bedeutung. Zuletzt war er wenig mehr als eine sozialpolitische Errungenschaft – ein arbeitsfreier Tag. Es scheint daher nur folgerichtig, dass er 1990 als Feiertag zugunsten des 3. Oktober, des nunmehrigen Tags der deutschen Einheit, aufgegeben wurde. Dahinter verbirgt sich jedoch eine
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nicht unproblematische Geschichtssicht. Denn am 3. Oktober 1990 wurde lediglich staatsmännisch nachvollzogen, was die ostdeutsche Gesellschaft im Verbund mit den Gesellschaften der anderen Ostblockstaaten zuvor ermöglicht hatte. Der 17. Juni 1953 steht wie der 9. Oktober 1989 (Leipzig) symbolisch für ein Ereignis, in dem die Gesellschaft versuchte, Freiheit zu erlangen. Erst im Laufe der Jahre nach 1990 drang zunehmend ins öffentliche Bewusstsein, was sich im Juni 1953 tatsächlich in der DDR zugetragen hatte. Die Ereignisse konnten umfassend erforscht und analysiert sowie von propagandistischen und geschichtspolitischen Verzerrungen befreit werden. Vor allem der Erinnerungsboom aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes 2003 mit vielen Veranstaltungen, Publikationen, Spiel- und Dokumentarfilmen zeigte schließlich, dass ihm in der nicht gerade reichhaltigen deutschen Freiheitsgeschichte ein besonderer Platz zukommt.
1. Kalter Krieg gegen die eigene Gesellschaft: Der Aufbau des Sozialismus Vom 9. bis 12. Juli 1952 fand die 2. SED-Parteikonferenz statt. Laut Parteistatut vom Juli 1950 konnte das SED-Zentralkomitee zwischen den turnusmäßigen Parteitagen eine «Parteikonferenz» einberufen, um «über dringende Fragen der Politik und Taktik der Partei» abstimmen zu lassen. 1949 diente die 1. Parteikonferenz dazu, die offene Umwandlung der SED in eine Leninsche Partei neuen Typus zu verkünden. Auch die 2. SEDParteikonferenz hatte zum Ziel, etwas zu propagieren, was tatsächlich längst begonnen hatte. Beide Konferenzen brachten keine neue Politik, kündigten aber eine verschärfte Gangart, neue Formen von Repressionen und die kompromisslose Umsetzung der proklamierten Zielvorstellungen an. Am ersten Tagungstag hielt Walter Ulbricht, der mächtigste SED-Funktionär zwischen 1946 und 1971, eine sechsstündige
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Grundsatzrede. Unter frenetischem Beifall rief er die historisch gewordenen Worte in die tobende Halle hinein: «In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.» Die SED-Führung hatte die DDR von Anfang an nach sowjetischen Vorgaben und Mustern geformt und geleitet. Sie hatte aber aus taktischen Gründen vermieden, vom Aufbau des Sozialismus zu sprechen. Im Frühsommer 1952 war jedoch aus ihrer Sicht der Zeitpunkt gekommen, die seit Kriegsende 1945 verfolgten Ziele offen zu propagieren. Die wichtigste Frage, die sogenannte Machtfrage, schien geklärt. Wozu eine «historische Parteikonferenz», die lediglich einen Kurs verkündete, der bereits seit Jahren verfolgt wurde? Dafür gab es zwei Gründe. Der eine betraf die «deutsche Frage»: Mit dem Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus machte die SED-Führung deutlich, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands nur denkbar sei, wenn ein sozialistisches Gesamtdeutschland entstehen würde. Die Wiedergewinnung staatlicher Souveränität im Rahmen der westeuropäischen Integration durch die Bundesrepublik, die mit dem Deutschlandvertrag und der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Mai 1952 politische Realität geworden war, hatte die SED-Führung in Zugzwang versetzt und trieb sie dazu, ihre Zukunftsvorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft zu zementieren. Zweitens sollten Entwicklungen beschleunigt und unumkehrbar gemacht werden, die bereits vor der Parteikonferenz in Gang gesetzt worden waren. Dazu zählten etwa der Ausbau des Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze, der Aufbau von bewaffneten Streitkräften, die Vorbereitungen für eine groß angelegte Verwaltungsreform, die Reorganisation der Ministerien, die weitere Formierung einer zentral geleiteten Industrie, der weitere Umbau des Rechtswesens, die Militarisierung der Gesellschaft, die
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Fortführung der Hochschulreform und anderes mehr. Zugleich forcierte die SED-Führung den Sowjetisierungsprozess der Gesellschaft. Dazu zählten die geplante Kollektivierung der Landwirtschaft, die Verschärfung des Kirchenkampfes oder der Kampf gegen selbstständige Unternehmer, Handwerker und Gewerbetreibende. Die SED-Führung hatte in Konsultationen mit der Moskauer Führung diesen neuen Kurs besprochen und schließlich am 2. Juli 1952 einen Brief an Stalin gerichtet, in dem sie ihn um Zustimmung für die Beschlüsse bat. Er segnete sie ab. Die Beschlüsse betrafen die gesamte Bevölkerung, da alle sozialen Schichten mehr oder weniger gezwungen wurden, sich dem gesteigerten Entwicklungstempo und der einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Auch die Auswirkungen dieser Politik bekam die gesamte Gesellschaft zu spüren. Die Läden wurden leerer und das erarbeitete Geld wertloser. Sowenig die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz auf demokratische Weise herbeigeführt worden waren, so wenig war daran gedacht, sie demokratisch umzusetzen. Vielmehr sollte der Sozialismus mittels Repressionen und Verfolgungen, von ideologischen Kampagnen begleitet und in einer Atmosphäre des Terrors etabliert werden. Die Delegierten reisten ab, um die Beschlüsse im ganzen Land zu verkünden. Dabei schlug ihnen nur selten Sympathie entgegen. Viele Menschen waren bestürzt über die drohende Militarisierung, von der besonders die Jugend betroffen war. Aber auch Handwerker, Bauern sowie Klein- und mittelständische Unternehmer zeigten sich besorgt. Sie befürchteten Enteignungen und Zwangskollektivierungen. Immer wieder wiesen die Funktionäre von der Basis die Zentrale in Berlin darauf hin, welche Vorstellungen weit verbreitet seien. So berichtete ein Genosse aus der Farbenfabrik in Wolfen, dass SEDMitglieder der Meinung seien, «die Diktatur des Proletariats […] führe» dazu, «dass nun die Betriebsleiter nichts mehr zu sagen hätten». Diese Konsequenz trug die SED-Führung nicht mit. Sie war auf Fachleute angewiesen, bestand aber darauf, in allen Fragen des Staates und der Gesellschaft die letzte Entscheidungsbefugnis auszuüben. Die DDR war als zentralistischer
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Staat gebildet worden, den die SED dominierte, auch wenn ihre «führende Rolle» erst 1968 «verfassungsrechtlich» verankert worden ist. Bereits am 17. Oktober 1949, also nur zehn Tage nach der Gründung der DDR, hatte die SED-Parteiführung verfügt, dass alle Erlasse, Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse vor der Verabschiedung durch die Volkskammer oder die Regierung vom SED-Politbüro bzw. vom Sekretariat des Politbüros bestätigt werden mussten. Als die 2. Parteikonferenz tagte, war die «Diktatur des Proletariats» bereits so weit aufgebaut worden, dass es niemanden mehr wunderte, dass eine Parteikonferenz und nicht die Regierung solche weitgehenden, die gesamte Gesellschaft berührenden Beschlüsse fasste. Gleichzeitig zeigte sich, dass viele Parteilose die Konsequenzen nicht überblickten und sich die meisten Parteifunktionäre außerstande sahen, ihnen diese zu erläutern. Der Mehrheit der Bevölkerung aber war bewusst, «dass der Aufbau des Sozialismus eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands mit sich bringen wird». Zum damaligen Zeitpunkt, sieben Jahre nach Kriegsende, war die deutsche Teilung in den Köpfen noch lange nicht zementiert. Fast alle hofften, die Spaltung sei eine vorübergehende Erscheinung. Mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus trat Ernüchterung ein, ohne dass die Hoffnungen verschwanden. Die «Verschärfung des Klassenkampfes», wie Ulbricht im Anschluss an seinen Lehrmeister Stalin pausenlos verkündete, bedeutete eine Verschärfung des Terrors. Ein Parteisoldat aus Angermünde brachte dies überspitzt auf den Punkt: «Jetzt haben wir endlich die Diktatur des Proletariats. Wer jetzt nicht mitmacht, wird kurzerhand umgelegt. Auf den Tag habe ich schon lange gewartet.» Der Genosse freute sich zu früh. Mord und Totschlag zählten nicht zum geplanten Programm. Dieses Zitat verdeutlicht aber, welche Atmosphäre in der Gesellschaft herrschte. Durch einen erheblichen Produktionsanstieg und die Beseitigung der Kriegsfolgen sollte der Vorkriegslebensstandard der Bevölkerung erreicht und bis Ende 1955 überschritten werden. Das galt besonders für den Verbrauch von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern. Laut den Plänen sollten zum Beispiel die
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landwirtschaftlichen Erträge um 25 Prozent und die Arbeitsproduktivität um 72 Prozent erhöht werden. Diese Versprechen konnten jedoch nicht eingelöst werden. Ende 1952 war der Vorkriegsstand in der Verbrauchsgüterindustrie nicht annähernd erreicht worden. Das lag auch an der weitreichenden Militarisierung der Gesellschaft, die im Umfeld der 2. SED-Parteikonferenz einsetzte und erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Folgelasten nach sich zog. Die FDJ übernahm im Mai 1952 die Patenschaft über die Kasernierte Volkspolizei (KVP). Bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962 zählte fortan zu ihrer zentralen Aufgabe, Jugendliche für Polizei und Militär zu gewinnen. Auch die Bildung der «Gesellschaft für Sport und Technik» (GST) 1952 stand im Zeichen der Militarisierung, die allerdings bereits in den Jahren zuvor begonnen hatte. Zudem hatte die 2. Parteikonferenz den Aufbau «nationaler» Streitkräfte proklamiert. Bereits im Frühjahr 1952 notierte Staatspräsident Wilhelm Pieck bei einem Besuch in Moskau, die «pazifistische» Phase der DDR-Politik sei zu beenden und Armee und Rüstungsindustrie aufzubauen. In der DDR waren zu diesem Zeitpunkt rund 500 000 Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee stationiert. Die Moskauer und Ostberliner Führungen schickten sich an, die DDR zur militärisch am dichtesten besetzten Fläche Europas werden zu lassen. Die KVP bzw. deren Vorläufer verfügten Anfang 1952 über etwa 50 000 Angehörige. Ende des Jahres waren es bereits 90 000 und Mitte 1953 über 110 000 Mann. Der Produktion wurden in einem sehr kurzen Zeitraum 60 000 junge, in der Industrie dringend benötigte Facharbeiter entzogen. Da viele Kasernen erst gebaut oder saniert werden mussten – die meisten alten Kasernen waren von der sowjetischen Armee besetzt –, kam es zeitweilig, abgesehen von einigen zentralen Prestigebauten wie der neu gegründeten Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt) oder der Berliner Stalinallee, zu einem Stillstand im zivilen Bauwesen. Die Orientierung der Wirtschaft auf die Schwerindustrie war der Aufrüstung geschuldet, was eine Vernachlässigung der Leicht- und Textilindustrie in nicht geringem Maße nach sich zog. Die gesamten Militarisierungs-
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und Kriegsfolgekosten (Reparationsleistungen) betrugen 1952 20 Prozent und 1953 16 Prozent aller öffentlichen Ausgaben. Das war der mit Abstand größte Posten im zentralistischen DDR-Staatshaushalt, der umso schwerer wog, als dringend benötigte Investitionsmittel für die zivile Wirtschaft und den Wiederaufbau der Städte und Gemeinden fehlten. Die staatseigene Industrie war zum beherrschenden Sektor der DDR-Wirtschaft geworden. Seit Juni 1951 propagierte die SED die Losung «Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen» und erklärte, es komme darauf an, den volkseigenen Sektor in Industrie, Landwirtschaft, Verkehr, Handel und Finanzen weiterzuentwickeln. Der Anteil der Volkseigenen Betriebe (VEB) wuchs ständig. Mitte 1949 gab es knapp 1800, 1950 zählte man schon insgesamt 5000 VEB. 1953 arbeiteten dort 1,7 Millionen Beschäftigte. Drei Jahre zuvor waren es nur knapp die Hälfte gewesen. Dieser Anstieg hatte auch damit zu tun, dass die Mitte 1946 gebildeten Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG), in denen über 200 der wichtigsten Großbetriebe der SBZ zusammengefasst worden waren, bis Ende 1953 schrittweise von der DDR zurückgekauft und in VEB umgewandelt wurden. Zwar gelang es bis 1953 unter Mühen, die zerrüttete Wirtschaft wieder aufzubauen. Die Stahlerzeugung etwa, die 1946 auf 150 000 Tonnen abgesunken war, stieg bis 1953 wieder auf 2,1 Millionen Tonnen an. Ähnliche Leistungen verbuchten die Energiewirtschaft und die Chemieindustrie. Demgegenüber blieb die Entwicklung der Konsumgüterindustrie aber zurück. Trotz vieler Versprechungen der SED-Führung war der Lebensstandard niedrig. Fett, Fleisch und Zucker mussten rationiert werden, die Lebensmittel- und Energiezuweisungen (Kartensystem) waren sehr knapp bemessen, viele Güter waren Mangelware, die Qualität ließ oft zu wünschen übrig. Die hohen Preise in den HO-Läden erwiesen sich für die meisten Arbeiter als unerschwinglich. Das Durchschnittseinkommen betrug 1952 308 Mark. In den HO-Läden kosteten ein Kilo Zucker 12 Mark, ein Kilo Butter 24 Mark oder ein Kilo Schweinefleisch 15 Mark. Außerdem belasteten eine noch immer zerrüttete Infrastruktur, Stromsperren, schlechte Wasserqualität und
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Rationierungen den Alltag. Beklagen durfte man sich nicht über diese schlechten Lebensumstände. Ein 56-jähriger Kaufmann etwa hatte 1952 und 1953 in mehreren privaten Briefen plastisch die Lebenssituation geschildert und das politische System für die unhaltbaren Zustände verantwortlich gemacht. Im Mai 1953 verhaftete ihn das Anfang 1950 offiziell gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS), dessen Mitarbeiterstamm sich bis Ende 1952 auf knapp 11 000 nahezu verzehnfachen sollte. Wie in der Sowjetunion galten Versorgungsprobleme nicht als Folge einer verfehlten Politik, sondern wurden einer stetig steigenden Sabotagearbeit zugeschrieben. Neben den Großbauern machte die Propaganda des Regimes vor allem den privaten Großhandel und das private Transportgewerbe für die Versorgungsprobleme verantwortlich. Im Dezember 1952 begann die SED-Führung, ihnen die wirtschaftliche Existenzgrundlage zu entziehen. Zehntausende Menschen waren davon direkt betroffen. Es war vorgesehen, innerhalb von drei Monaten den gesamten privaten Großhandel zu liquidieren – eine Zeitspanne, die sich allerdings als zu kurz erweisen sollte. Das Perfide an dieser Aktion war, dass Privatunternehmern Verfehlungen und Verbrechen nachgewiesen werden mussten, selbst wenn sie diese gar nicht begangen hatten. Insgesamt wurden in diesem kurzen Zeitraum über 3000 Betriebe überprüft, und gegen über 2100 sind Strafverfahren eingeleitet worden. Polizei und Stasi verhafteten fast 2300 Personen. Der Staat beschlagnahmte ein Vermögen in Höhe von über 335 Millionen Mark. Betroffen waren alle Industrie- und Handelszweige. In diesen Betrieben hatten über 36 000 Personen gearbeitet. Nach der 2. Parteikonferenz verschärften sich auch die Steuerpolitik und die Praxis beim Eintreiben von Steuer- und Ablieferungsschulden, unter denen vor allem Bauern und die Mittelschichten zu leiden hatten. Für ihre Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik benötigte die SED-Führung finanzielle Mittel, die sie auf diese Weise vor allem bei den Mittelschichten aufzutreiben suchte. Deren ökonomische Leistungskraft war aber durch die politischen Entscheidungen der letzten Jahre bereits erheblich beeinträchtigt. Die SED propagierte ein «Sparsamkeits-
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regime», das wiederum vor allem Selbstständige traf. Hausbesitzern, in West-Berlin arbeitenden, aber in Ost-Berlin lebenden Personen, Großbauern und vielen anderen, insgesamt über zwei Millionen Menschen, wurden die Lebensmittelkarten entzogen, sodass sie nur noch in den überteuerten HO-Läden einkaufen konnten. Fahrpreise, Preise für Genussmittel und Lebensmittel schnellten in die Höhe. Wer beim Diebstahl erwischt wurde, musste mit drastischen Strafen als Saboteur rechnen. Fünf Männer sind im Januar 1953 in Halle zu hohen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie angeblich Zement in einem Gesamtwert von 2394 Mark veruntreut hatten. Eine Frau wurde vom Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow im Februar 1953 gar zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, weil sie sechs Taschentücher mit nach Hause nahm. Von solchen Urteilen gab es 1952/53 Tausende; allein im März 1953 liefen 3500 entsprechende Verfahren. Im Mai 1953 saßen etwa 66 400 Häftlinge in Zuchthäusern, Gefängnissen und Arbeitslagern, die Mehrheit davon waren Arbeiter. Nach der 2. Parteikonferenz lag der Schwerpunkt neben dem Auf- und Ausbau der Schwerindustrie auf der Kollektivierung in der Landwirtschaft. Zwar war es bis zum Juli 1952, beginnend im April 1952, bereits zu vereinzelten Gründungen von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) gekommen, aber in dieser Phase verliefen diese weitgehend auf freiwilliger Basis. Das änderte sich nun. Als Ergebnis der Bodenreform gab es 1950 auf dem Gebiet der DDR nahezu 889 000 landwirtschaftliche Betriebe, davon rund 95 Prozent in privater Hand. Die Agrarproduktion hatte in den wichtigsten Produktionsbereichen das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Daher erwies es sich als wirtschaftlich geradezu töricht, die Sozialstruktur auf dem Land nach der Bodenreform ein zweites Mal zu verändern. Allerdings waren die Bauern neben dem gewerblichen Mittelstand die zweite große Gruppe Selbstständiger, die dem von der SED betriebenen Aufbau des Sozialismus «objektiv» entgegenstanden. Die Großbauern sollten als soziale Gruppe beseitigt, die Klein- und Mittelbauern kollektiviert werden. Das führte dazu, dass 1952 bis zum 17. Juni 1953 mehr
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als 15 000 Bauern ihre eigenen Höfe verließen und in den Westen flüchteten. Hinzu kam noch, dass Tausende Neubauern die Landwirtschaft verließen, sodass ernsthafte Versorgungslücken entstanden. Bereits 1952 waren knapp 900 Bauernhöfe in Grenzkreisen enteignet worden, weil an der innerdeutschen Grenze seit Mai 1952 Zwangsumsiedlungen «zum Schutz der Demarkationslinie» in großem Stil durchgeführt wurden – insgesamt wurden 1952 während dieser Aktion, die intern als «Aktion Ungeziefer» firmierte, etwa 12 000 Menschen, die als politisch unzuverlässig galten, aus einem 5 km breiten Grenzstreifen vertrieben. Ebenso viele flüchteten in den Westen, Dutzende erhielten zum Teil hohe Zuchthausstrafen, weil sie Widerstand gegen die Zwangsumsiedlung leisteten oder organisierten. Nach der 2. Parteikonferenz sind dann bis zum Juni 1953 Tausende weitere Höfe enteignet und zwangskollektiviert worden. Dabei kam es zu sehr vielen Prozessen mit drastischen Strafzumessungen. Bewusst überzogene Steuererhebungen und Abliefungssollvorgaben waren weitere Druckmittel. Damit sind Tausende in den Ruin getrieben worden. Bis zum 1. Juni 1953 kam es zu annähernd 5000 LPG-Zwangsgründungen. Noch dominierten in der Landwirtschaft aber privatwirtschaftliche Betriebe, allerdings mit einer Betriebsgröße unter 20 Hektar. Durch die Volkserhebung vom 17. Juni 1953 ist die erste Zwangskollektivierung abgebrochen und zum Teil sogar rückgängig gemacht worden. Erst in einer zweiten Kollektivierungsphase – 1958/60 – ist dann die Masse der landwirtschaftlichen Betriebe zu etwa 20 000 LPG zwangsvereinigt worden. Die erste Welle der Zwangskollektivierung 1952/53 war von mannigfachen Repressionen begleitet. Immer wieder kam es deshalb in den Dörfern zu spontanen Widerstandshandlungen und Unmutsäußerungen der Bevölkerung. In Dähre zum Beispiel, einem kleinen Dorf in der Altmark, ist ein Bauer (40 Hektar) zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er das völlig überzogene, aber politisch bewusst so kalkulierte Ablieferungssoll nicht erfüllen konnte. 80 Bewohner des Dorfes versammelten sich daraufhin vor dem Gebäude, in dem der
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Bauer verurteilt worden war. Sie befreiten ihn unter anderem mit dem Ruf «Wir wollen frei sein, wie unsre Väter waren!». Der Bauer flüchtete in den Westen. Vier Bewohner, die sich an der Befreiung beteiligten, erhielten kurz darauf Haftstrafen zwischen sechs Monaten und dreieinhalb Jahren Zuchthaus. Das Ansinnen der SED, ihre Vorstellungen rigoros in allen Lebensbereichen durchzusetzen, beförderte ständig neue Konflikte. So verhärtete sich 1952/53 die Haltung von Staat und SED gegenüber den Kirchen. Betroffen war hauptsächlich die evangelische Kirche. Zunächst hatte die SMAD den Kirchen nach 1945 Zugeständnisse gemacht. Sie durften ihren Besitz behalten, ihren eigenen Wiederaufbau selbstverantwortlich regeln und bekamen Sendezeiten im Rundfunk eingeräumt. In der SBZ/DDR blieben die Kirchen die einzigen autonomen Großorganisationen, die nicht von der SED kontrolliert wurden. Da die evangelische Kirche eine gesamtdeutsche Klammerfunktion behalten wollte und sich gegen die diktatorischen Methoden der SED wandte, warf ihr diese Staatsgefährdung vor. Immerhin gehörten ihr fast 15 Millionen Bürger der DDR an, hinzu kamen zwei Millionen Katholiken. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erlebte die DDR einen einschneidenden Entkirchlichungsprozess, der auch durch die atheistisch geprägten Verfolgungskampagnen provoziert worden war. Zunächst wurden nur die Kirchenleitungen angegriffen. 1952/53 ging die SED dann zum Generalangriff, zur «Liquidierungsphase» über. Der Hauptstoß richtete sich gegen die «Jungen Gemeinden» der Evangelischen Kirchen, in denen über 125 000 junge Menschen engagiert waren. Am 27. Januar 1953 beschloss das SED-Politbüro Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde. Sie sollte in der Öffentlichkeit als eine «Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage, die von westdeutschen und amerikanischen imperialistischen Kräften dirigiert wird», entlarvt werden. Von Januar bis Mai 1953 verhaftete das MfS viele Jugendliche und über 70 Theologen und Jugendleiter. Etwa 3000 Oberschüler und einige hundert Studenten wurden relegiert, viele Mitglieder der Jungen Gemeinde flohen in den Westen.
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Für viele Menschen kam als letzter Ausweg nur noch die Flucht in die Bundesrepublik Deutschland in Frage. 1952 gingen diesen Weg über 182 000 Ostdeutsche aus allen sozialen Gruppen, allein im Krisenjahr 1953 weitere 331 000 Personen. Für die SED-Führung war die Massenflucht ein besonderes Ärgernis, weil, wie der Chefredakteur des «Neuen Deutschlands» Rudolf Herrnstadt am 6. Juni 1953 in seinen Notizen festhielt, «jeder Flüchtling ein Propagandist gegen die SED» sei. Die Norm- und Lohnfrage war schon vor der Gründung der DDR ein sozialer und politischer Konfliktstoff zwischen der Arbeiterschaft und der SED-Führung gewesen. Sogenannte Aktivisten, wie zum Beispiel den Bergmann Adolf Hennecke, der in einer inszenierten Schicht am 13. Oktober 1948 die Norm mit 387 Prozent übererfüllte, behandelten die Kollegen als Verräter. Zu offenen Konflikten kam es jedoch nur selten. Das änderte sich, als die SED-Führung und die Leitung des FDGB 1951 «Betriebskollektivverträge» (BKV) einführten. In diesen wurde der innerbetriebliche Ablauf geregelt, soweit er nicht in Gesetzen verankert war. Die BKV lösten nach sowjetischem Muster die bisher üblichen Tarifverträge ab. In insgesamt fast 5000 Volkseigenen Betrieben sollen solche Verträge 1951 abgeschlossen worden sein. Allerdings sind sie zumeist gegen den Widerstand der Belegschaften eingeführt worden. Sie opponierten dagegen, weil neben der Festlegung höherer Produktionskennziffern und den damit verbundenen höheren Normen zum Beispiel Zuschläge und Prämien wegfielen. In Sachsen waren Anfang Juli 1951 von den vorgesehenen 2667 BKV aufgrund des Widerstands tatsächlich erst 109 abgeschlossen. Diese Zahl deutet an, dass es bereits 1951 zu offenen Konflikten in den Betrieben kam. Dabei schreckten die Arbeiter auch vor Streiks nicht zurück. Da der Staat faktisch als Arbeitgeber auftrat, nahmen soziale Konflikte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern die Qualität politischen Widerstands an. Diese Konflikte stellten das Postulat vom Arbeiter-und-Bauern-Staat offen in Frage. Die 2. Parteikonferenz schrieb fest, dass die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die Senkung der Selbstkosten, die umfassen-
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dere Einführung der «technisch begründeten Arbeitsnormen» (TAN) und anderes mehr zu den dringendsten Aufgaben bei der wirtschaftlichen Entwicklung gehörten. Obwohl die Zeitungen voll waren mit Berichten, in denen über die ständige Übererfüllung der Pläne berichtet wurde, war allen bewusst, dass die wichtigsten Wirtschaftszweige weit davon entfernt blieben, die im Fünfjahrplan gesetzlich festgeschriebene Erhöhung der Arbeitsproduktivität um 72 Prozent zu erreichen. Was die meisten Arbeiter besonders störte, war, dass durch die Einführung der neuen Normen gerechte Leistungslöhne illusionär blieben. Denn das Fragwürdige an den «technisch begründeten Arbeitsnormen» war, dass sie als Mittelwert aus der durchschnittlichen Normerfüllung und der Leistung der Aktivisten ermittelt wurden. Da jeder Arbeiter wiederum aus eigener Anschauung wusste, dass die Aktivisten ihre beträchtlichen Übererfüllungen nur erreichen konnten, weil die Betriebsleitungen ihnen dafür günstigste und einmalige Produktionsbedingungen boten, die keinem Arbeiter im Arbeitsalltag zur Verfügung standen, waren solche TAN oft unrealistisch. Und obwohl im Arbeitsgesetz festgelegt war, dass durch Normenerhöhung kein Lohnabfall erfolgen dürfe, war dies schon vor der Streichung des entsprechenden Paragraphen im Mai 1953 längst der Fall. Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der Politik nach der 2. Parteikonferenz zeigte sich im Ansteigen der offenen innerbetrieblichen Auseinandersetzungen. Kleinere Streiks – in der DDR-Verfassung war das Streikrecht bis 1968 offiziell garantiert, praktisch aber war jeder Streik illegal – traten nun häufig auf, aber nur in seltenen Fällen legten ganze Belegschaften die Arbeit nieder. Zumeist ging es um Lohnfragen, Prämien, Normen und innerbetriebliche Sozialverhältnisse. Das Spannungsverhältnis zwischen Arbeiterschaft und Staatsmacht nahm kontinuierlich zu. Es wurde noch verschärft, als Walter Ulbricht im November 1952 eingestand, dass sich die Wirtschaft in einer Krise befinde. «In den neun Monaten des Jahres 1952 wurden von 140 Positionen, die außerordentliche volkswirtschaftliche Bedeutung haben, 88 Positionen nicht erfüllt.» Die SED-Führung wusste sich nicht anders zu helfen, als eine Erhöhung der
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Arbeitsproduktivität, die Senkung der Selbstkosten und die flächendeckende Einführung der «technisch begründeten Arbeitsnormen» – alles auf Kosten der Arbeiter – zu beschließen. Nicht einmal die örtlichen Betriebsleiter trugen in vollem Umfang die Wirtschaftspolitik mit. Ihnen war die schwelende Gefahr, einen Streik auszulösen, bewusst. Ende 1952 begann aber eine regelrechte Streikwelle in der DDR. An vielen Orten streikten Arbeiter stunden- oder schichtweise, weil sie gegen ungerechte Prämien- und Weihnachtsgeldverteilung aufbegehrten. Dabei formulierten die Streikenden zuweilen Forderungen und Meinungen, die über innerbetriebliche Fragen hinausgingen. Gegen die Presse erhoben sich ebenso Stimmen wie gegen die «SED-Demokratie». Die sozialen Anlässe konnten benutzt werden, um prinzipiellen politischen Protest zu artikulieren. Die SED-Führung versuchte gemeinsam mit dem FDGB-Bundesvorstand, Kampagnen auszulösen, um die Normen zu erhöhen. Dabei schreckten sie immer weniger vor diskriminierenden Maßnahmen zurück. Betriebsessen sollte entsprechend der erzielten Leistung verabreicht werden, sodass eine Reihe Arbeiter ohne warmes Mittagessen auskommen musste. Solche und ähnliche Schritte schürten die Unzufriedenheit und provozierten Widerstand. Er äußerte sich im rapiden Ansteigen von Kurzstreiks, die immer mehr Betriebe und Regionen betrafen. Nachdem der FDGB-Bundesvorstand im März 1953 einen Beschluss «zur Organisierung einer Bewegung für die Erhöhung der Arbeitsnormen» gefasst hatte, wuchs der unmittelbare Druck auf die Belegschaften. Immer wieder mussten die Berichterstatter der SED festhalten, dass die «negativen Diskussionen» mit prinzipieller Kritik am System zunahmen. Der SED-Führung blieb die wachsende Unruhe der Bevölkerung nicht verborgen. Ihre Appelle fruchteten indes nicht. Erst als am 14. Mai 1953 die 13. Tagung des ZK der SED eine generelle und bindende Erhöhung der «Arbeitsnormen um durchschnittlich mindestens zehn Prozent bis zum 1. Juni 1953» beschloss und der Ministerrat diesen Beschluss zwei Wochen später zum Gesetz erhob, ver-
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änderte sich die Situation. Zwar hatte der Ministerrat die Normenerhöhung erst zum 30. Juni 1953 – zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts – angeordnet, nun aber waren den Betriebsleitern die Hände gebunden. Dass später oft beklagt wurde, allein die «administrative Einführung» der neuen Arbeitsnormen habe den Protest der Arbeiter hervorgerufen, ist nicht zutreffend. Den betrieblichen Leitungen blieb aufgrund der Gesetzeslage nichts anderes mehr übrig, als die neuen Normen befehlsmäßig anzuordnen. Wegen der Normenerhöhung, zu geringen Lohnes und ähnlicher den Lebensalltag beeinträchtigender Maßnahmen kam es auch im Mai 1953 zu einer Vielzahl von Arbeitsniederlegungen, die die Streiks der Vormonate quantitativ noch überstiegen.
2. Stalins Tod und der «Neue Kurs» In großen Lettern prangte am 7. März 1953 auf der Titelseite des Neuen Deutschlands: «Das Herz des größten Menschen unserer Epoche, des Genossen J. W. Stalin, hat aufgehört zu schlagen.» Die Kommunisten der ganzen Welt hatten am 5. März 1953 kurz vor 22.00 Uhr Moskauer Zeit ihren Anführer verloren. An der SED-Basis breiteten sich Ratlosigkeit und Verzweiflung aus. Zugleich vermehrte sich unmittelbar nach Stalins Tod die «Gegnerarbeit», wie die SED feststellte. Offenbar glaubten viele Menschen, dass der Tod des Tyrannen das System geschwächt habe und sich nun Widerstand lohnen könnte. Es kam zu Protesten gegen das Regime, die sich in allen sozialen Gruppen äußerten und in einigen Fällen sogar von SED-Funktionären selbst ausgingen. Viele Pfarrer gingen in ihren Sonntagspredigten auf den Tod des Tyrannen ein. So sprach in der Ostberliner Immanuelkirche der Pfarrer über das Sterben, «und zwar vom Sterben der Teufel, besonders vom Sterben des Obersten aller Teufel». Die SED-Führung wiederum versuchte, Stalins Tod auszunut-
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zen, um gar nicht erst den Eindruck entstehen zu lassen, ihr System könnte geschwächt sein: Binnen weniger Tage entfachte sie eine Kampagne zur «freiwilligen» Selbstverpflichtung und zum Eintritt in die SED. Allein zwischen dem 6. und 11. März stellten 9000 Personen den Antrag, Mitglied der Partei zu werden. Die SED-Führung intensivierte ihre Sowjetisierungspolitik nach dem Tod Stalins noch. Sichtbarster Ausdruck dafür war der verschärfte Kampf gegen die Jungen Gemeinden. Zur Herrschaftssicherung wandte die SED-Führung drei grundlegende Methoden an, die sie von der UdSSR übernommen hatte: Terror, Neutralisierung und Ideologisierung. Sie ging bis 1952 davon aus, dass ihre Macht in der DDR unter dem Schutz der Sowjetunion im Innern kaum angreifbar sei. Als jedoch im Frühjahr 1952 Bewegung in die Deutschlandpolitik kam, zeigte sich, dass die sowjetische Außenpolitik keineswegs nur die Herrschaftssicherung der deutschen Kommunisten im Auge hatte. Am 10. März 1952 schickte Moskau eine Botschaft, die als «Stalin-Note» bekannt werden sollte, an die Westmächte, in der sie vorschlug, «unverzüglich die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erwägen». Die Sowjetregierung unterbreitete den drei Westmächten den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland, der mit einer gesamtdeutschen Regierung abgeschlossen werden sollte. Dieser orientierte darauf, Deutschland «als einheitlichen Staat» neu zu begründen. War es wirklich denkbar, dass Stalin die DDR aufgeben wollte? Oder war dies nur ein neuer Versuch, ganz Deutschland kommunistisch zu beherrschen, also alles nur bloße politische Rhetorik, um den Westen zu verunsichern und in die außenpolitische Defensive zu bringen? Unabhängig von diesen schwer zu beantwortenden Fragen verfolgte Stalin den Zweck, Adenauers Politik der Westbindung zu erschweren. Die DDR-Regierung stellte sich «naturgemäß» am 13. März 1952 hinter die Vorschläge Stalins. Bedeutungsvoll wurden diese sowjetischen Vorstellungen, als sich die sowjetische Führung am 9. April 1952 mit der Abhaltung freier Wahlen in Deutschland einverstanden erklärte. Dabei dachte sie aber nicht an demokratische Wahlen, sondern versuchte lediglich, die Westmächte in Zugzwang zu
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bringen mit ihrer rhetorischen Offensive. Moskau lehnte die Kontrolle der vorgeschlagenen Wahl durch eine UN-Kommission ab, erklärte sich aber mit der Kontrolle durch eine Viermächtekommission einverstanden. Die DDR-Führung hatte kaum Einfluss auf diesen Vorgang, es war eine Frage zwischen der UdSSR und den Westmächten, die die Interessen der Bundesrepublik wahrnahmen. Ernsthafte Verhandlungen oder gar Erfolge hätten die DDR betroffen – sie wäre als Staat verschwunden. Aber dies setzt voraus, dass die UdSSR ein Aufgeben der ostdeutschen Satrapie überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Das ist umstritten. In der realen Situation von 1952 stellte diese Annahme tatsächlich für die DDR lediglich eine theoretische Bedrohung dar, nach dem 17. Juni 1953 bestand eine solche Gefahr für sie überhaupt nicht mehr. Im Frühjahr 1953 offenbarten sich die Grenzen beim Aufbau des Sozialismus. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die Geduld der Bevölkerung waren erschöpft. Die Rückwirkungen der Massenrepressalien waren billigend in Kauf genommen worden, sofern sie überhaupt bedacht worden sind. Die Vertreibung der Mittelschicht erwies sich als gesellschaftspolitischer Bumerang. Handels- und Versorgungsstrukturen waren der ideologisch begründeten Verstaatlichung geopfert worden, die systemspezifischen Alternativen befanden sich in einem flächendeckend nicht funktionstüchtigen Aufbaustadium. Das massenhafte Abwandern der Bauern führte zu ernsten Versorgungslücken. Vor allem das Ansteigen der Fluchtbewegung veranlasste Moskau schließlich zum Eingreifen. Allein im März 1953 flüchteten knapp 31 000 Menschen aus der DDR, das waren fast 10 000 mehr als im Vormonat. Versorgungsmängel, die erheblich eingeschränkte Freiheit und die tiefe ökonomische Krise der DDR standen in einem starken Kontrast zu den Verhältnissen in der Bundesrepublik, wo die Wirtschaft seit der zweiten Jahreshälfte 1952 einen sichtbaren Aufschwung erlebte. Alarmiert von den Krisenzeichen in der DDR und dringenden Bitten der SED-Spitze um Hilfe, übermittelte am 13. April 1953 der Chef der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK), Wassili Tschui-
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kow, dem ZK der SED, dass es mit sowjetischer Hilfe rechnen könne. Tatsächlich folgten beträchtliche volkswirtschaftliche Erleichterungen, die Reparationsleistungen gingen deutlich zurück. Ziel war es, die ostdeutsche Volkswirtschaft zu entlasten und stärker auf den Binnenmarkt zu orientieren. Im April 1953 verfassten Mitarbeiter im sowjetischen Außenund Innenministerium Berichte über die Lage in der DDR. Die SKK erhielt die Anweisung, Vorschläge zu erarbeiten, um die Situation zu verändern. Auf der Grundlage der Analysen und der SKK-Vorschläge beriet der Ministerrat der UdSSR im Mai 1953 mehrmals über die Situation in der DDR. Walter Ulbricht, der treueste Vasall Stalins, galt nunmehr als Hauptexponent der falschen gesellschaftlichen Entwicklung. Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte nicht mehr betrieben werden. Außenminister Molotow und sein für Deutschland zuständiger Stellvertreter Andrej Gromyko waren sich einig, dass Ulbrichts Maßnahmen gegen die Mittelschichten zu radikal seien. Ausdrücklich ging es um die Entschärfung einer Politik, mit der die bürgerlichen und bäuerlichen Schichten bekämpft worden waren. Die besonderen Probleme der Arbeiter spielten kaum eine Rolle. Am 27. Mai 1953 tagte das Präsidium des sowjetischen Ministerrates, um die Vorlage «Über weitere Maßnahmen der sowjetischen Regierung in der deutschen Frage» zu beraten. Der berüchtigte Massenmörder und Innenminister Berija, der sich anschickte, Stalins Nachfolger zu werden, soll auf dieser Sitzung gesagt haben, die DDR sei kein richtiger Staat und würde allein durch die sowjetischen Truppen künstlich am Leben erhalten. Angeblich sollen er und andere daran gedacht haben, die DDR für ein milliardenschweres Dollargeschäft kompensatorisch aufzugeben. Der sowjetische Ministerrat nahm die erwähnte Vorlage an und beschloss, die DDR außenpolitisch zu stärken. Er löste die SKK auf und setzte stattdessen ein Hochkommissariat – wie es in der Bundesrepublik von den Westmächten bereits eingerichtet worden war – ein. Dadurch hoffte die sowjetische Regierung, der Grotewohl-Ulbricht-Regierung bei der DDR-Bevölkerung ein höheres Ansehen verschaffen zu können. Zugleich beorderte
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sie eine SED-Delegation nach Moskau, die vom 2. bis 4. Juni in der Stadt weilte, um die Beschlüsse über den «Neuen Kurs» in Empfang zu nehmen. Die Delegation bestand aus SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und dem ZK-Sekretär für Propaganda, Politbüromitglied Fred Oelßner. Dieser fungierte bei den Gesprächen als Dolmetscher. Auf sowjetischer Seite waren die ranghöchsten Funktionäre anwesend. Die sowjetische Regierung übernahm selbstkritisch die Verantwortung für die 2. SED-Parteikonferenz. Sie sei der Grund für die rapide verschlechterte Situation. Das Papier – ein Geheimpapier, das bis 1990 gut gehütet blieb – bilanzierte ein umfassendes Scheitern des beschleunigten Aufbaus des Sozialismus in der DDR. Es enthielt nicht weniger als eine umfassende Bankrotterklärung. Die gesellschaftliche Entwicklung war nach Ansicht der Moskauer Führung in eine Sackgasse geraten. Das politische Regime drohte auseinanderzubrechen. Die von der sowjetischen Führung dekretierten «Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage» umfassten ein Bündel von Änderungen: Rücksichtnahme auf die Einstellung der Bauern zur Zwangskollektivierung, Stärkung bäuerlicher Wirtschaften, Förderung von Privatkapital und Privatunternehmern, Änderung des Fünfjahrplanes der Volkswirtschaft unter stärkerer Berücksichtigung der Konsumgüterproduktion, Abkehr von der Dominanz der Schwerindustrie, Maßnahmen zur Stabilisierung der DDR-Währung und zur Durchsetzung der Gesetzlichkeit, Beseitigung des bloßen Administrierens, Gewinnung der Intelligenz für die politische Arbeit, Propagierung der Wiederherstellung der deutschen Einheit und eines Friedensvertrages, stärkere gesellschaftliche Einbindung der Partei- und Massenorganisationen sowie die Einstellung des Kirchenkampfes. Außerdem stellte die Moskauer Führung wirtschaftliche Unterstützung, die Lieferung von Lebensmitteln und eine Lockerung des Besatzungsregimes in Aussicht. Der SED-Delegation, die vom neuen sowjetischen Kurs total überrascht war und anfangs offenbar ängstlich, aber auch bockig reagierte, trat eine geschlossen auftretende Führungsgruppe entgegen. Machtkämpfe im Kreml, die bereits ausgebrochen waren, spielten in diesen Tagen keine Rolle. Re-
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gierungschef Malenkow mahnte die drei SED-Führer, nicht um ihr Prestige zu fürchten, und warnte vor einer «Katastrophe», falls die Kurskorrekturen nicht sehr schnell erfolgten. Mit der Rückkehr der SED-Funktionäre nach Ost-Berlin begann ab 5. Juni eine hektische Betriebsamkeit. In Sitzungen am 5., 6. und 9. Juni versuchte das SED-Politbüro den neuen Moskauer Kurs umzusetzen. Gleichwohl scheint die SED-Führung nicht annähernd einkalkuliert zu haben, wie diese Beschlüsse von der Bevölkerung aufgenommen werden würden. Auf der ersten Politbürositzung sind eingehend die praktischen Folgen des «Neuen Kurses» diskutiert worden. Zugleich übten die meisten Politbüromitglieder zum Teil scharfe Kritik am persönlichen Regiment Walter Ulbrichts – seine Macht stand zur Disposition. Die SED-Führung verabschiedete am 9. Juni 1953 ein Dokument, das als «das» Kommuniqué in die SED-Geschichte einging. Formal hätte eine Parteikonferenz, wie noch im Sommer 1952, oder ein außerordentlicher Parteitag eine solche politische Kurskorrektur beschließen müssen. Da der Schwenk aber von Moskau angeordnet worden war und unverzüglich umgesetzt werden sollte, blieb keine Zeit für scheindemokratische Spiele. Das Kommuniqué ist ab dem 10. Juni über die Rundfunksender verbreitet und am 11. Juni auf der Titelseite des Neuen Deutschlands publiziert worden. Ohne mit einem Wort auch nur anzudeuten, dass dieses Dokument von Moskau diktiert worden war, kündigte die SED-Führung eine Kurskorrektur an und bekannte, verantwortlich für «Fehler» zu sein. Diese listete sie auf, indem sie aufzählte, welche konkreten Veränderungen zügig umgesetzt werden sollten: Zurücknahme der Einschränkungen in der Lebensmittelkartenversorgung, der Zwangskollektivierung, der drastischen Steuererhebungen, was alles zur massenhaften «Republikflucht» geführt habe. Die deutsche Einheit sei nach wie vor das Ziel der SED-Politik. Das Lebensniveau sollte deutlich angehoben, der private Mittelstand wieder gefördert werden. «Republikflüchtlinge», die zurückkehren möchten, würden nicht belangt, ihr eingezogener Besitz zurückgegeben werden. Der Kirchenkampf solle einge-
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stellt und Exmatrikulationen sollten rückgängig gemacht werden. Verurteilte oder in Untersuchungshaft einsitzende Personen, «die nach dem Gesetz zum Schutz des Volkseigentums zu ein bis drei Jahren Haft verurteilt worden sind», seien schnell zu entlassen. Mit dieser Erklärung hatte die SED-Führung Fehler zugegeben und sich für die gesellschaftlichen Missstände verantwortlich gezeigt. Ein Vorgang von singulärer Bedeutung in der Geschichte der Partei. Am 11. Juni tagte der DDR-Ministerrat, der sich das Kommuniqué des Politbüros zu eigen machte. Der damalige SED-Funktionär Heinz Brandt fasste später zusammen, wie die Veröffentlichung des SED-Kommuniqués wirkte: «Ein solcher Vorgang war in der Geschichte der kommunistischen Parteien ohne Beispiel. Parteifunktionäre, Mitglieder und die gesamte Öffentlichkeit wurden über Nacht vor vollendete Tatsachen, vor eine völlig neue Politik gestellt. Nicht nur die manipulierten Massen, die einfachen Parteimitglieder waren ahnungslos. Selbst die Parteileitungen lasen an diesem denkwürdigen Tage überrascht und fassungslos ihr Zentralorgan. Die dürren Worte des Kommuniqués trafen die Funktionäre wie ein Schock.» Das verschärfte sich dadurch, dass die SED-Führung Kommentare und Anweisungen zur Umsetzung des «Neuen Kurses» unterließ. Zwar beorderte das Politbüro die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen am 8. Juni nach Berlin, und Ulbricht gab noch am 9. Juni neue Richtlinien heraus. Aber das bezog sich weniger auf Inhalte als vielmehr auf eine intensivierte Informations- und Berichtstätigkeit. Am Samstag, dem 13. Juni 1953, publizierte zwar das Neue Deutschland auf seiner ersten Seite einen großen Kommentar unter der Überschrift «Zu den Beschlüssen des Politbüros des Zentralkomitees der SED», in dem die Terrorurteile gegen die Mittelschichten kritisiert wurden, aber insgesamt vermittelte der Beitrag den Eindruck, als richte die SED-Spitze nun, was die Regierung angeblich versäumt und verschuldet habe. Eine zentralistisch aufgebaute Partei, wie es die SED war, benötigte dringend Handlungsanleitungen, um agieren und reagieren zu können. Weil diese ausblieben, war die Partei weitgehend führer- und reglos.
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Die zahllosen Stimmungsberichte seit 12. Juni 1953 verdeutlichen, als was der «Neue Kurs» der SED angesehen worden ist: als Bankrotterklärung. Ein SED-Mitglied aus Seelow brachte eine weitverbreitete Haltung vieler Genossen zum Ausdruck: «Ich weiß jetzt überhaupt nicht mehr, was ich dazu sagen soll, ich komme einfach nicht mehr mit.» In vielen Orten standen SED-Mitglieder, die bisher die harte Linie der Partei verfochten hatten, in bedrohlicher Kritik: «Du bist auch ein Bonbonträger (gemeint ist Parteimitglied). Du kommst auch dran.» Weithin herrschte Unsicherheit: «Es ist so, dass bei Bekanntwerden des Kommuniqués ein großer Teil unserer Funktionäre kopflos war. […] (Sie) wissen nicht mehr, was hinten und vorne ist.» Innerhalb der SED richtete sich die Kritik oftmals nicht gegen die Politik seit der 2. Parteikonferenz, sondern gegen den «Neuen Kurs» und die damit verbundene Rücknahme des «verschärften Klassenkampfes». Die Unruhe an der Parteibasis war erklärbar, denn immerhin mussten die Parteisoldaten bislang die Unterdrückungspolitik betreiben und verteidigen, die die Parteispitze vorgegeben hatte. Zugleich begannen alte SPD-Mitglieder, die seit der Zwangsvereinigung 1946 in der SED Mitglied waren, auf eine Wiederzulassung der SPD zu hoffen. Manche fügten noch hinzu, «wir waren schon halbe Kommunisten». In mehreren Orten kam es zu Parteiaustritten mit der Begründung, dass die Neugründung der SPD bevorstünde; vereinzelt konstituierten sich provisorische SPD-Ortsvereine. Das Kommuniqué war ab dem 11. Juni 1953 Gesprächsstoff in der gesamten Gesellschaft. Es wirkte «sensationell». In den Berichten spiegelte sich, dass die Bevölkerung die Ankündigungen, Preise zu senken, die Lebensmittelkarten für alle Bürger wieder einzuführen, die Ausstellung von Interzonenpässen zu erleichtern, den Kampf gegen die Jungen Gemeinden einzustellen und Gerichtsurteile zu überprüfen, mit Genugtuung aufnahm. Viele Arbeiter waren allerdings enttäuscht, dass SED-Führung und Regierung in ihren Verlautbarungen die Normenfrage nicht berührt hatten. Typisch für die offen zutage tretende Gesellschaftskrise war
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ein auffälliges Ansteigen von Gerüchten. Kein Berichterstatter vergaß, ausführlich darauf hinzuweisen. Im gesamten Land kursierten ähnliche Gerüchte, die von SED und MfS als Teil der Feindpolitik gebrandmarkt wurden. In einem Bericht der SEDBezirksleitung Gera vom 12. Juni hieß es zum Beispiel: «Genosse Grotewohl habe sich vergiftet, Walter Ulbricht sei nicht aufzufinden, Wilhelm Pieck seien beide Beine abgeschossen. 70 Mann von der Regierung sind verhaftet, in Berlin und in den Leuna-Werken sind Unruhen ausgebrochen.» Andere Gerüchte besagten, Ulbricht sei in Moskau verhaftet worden bzw. er habe sich umgebracht, Pieck sei auf der Flucht in die Schweiz angeschossen worden und anschließend verstorben, oder Matern sei in die Bundesrepublik geflüchtet und habe eine Rundfunkansprache gehalten. Es blieb nicht bei Gerüchten. In vielen Betrieben forderten die Arbeiter ab dem 12. Juni personelle Konsequenzen, es herrschte weitgehender Konsens, dass Ulbricht sofort zurücktreten müsse. In unzähligen internen Berichten notierten die Verfasser so oder ähnlich: «Jetzt haben wir in der DDR den Staatsbankrott.» Über erregte Diskussionen hinaus begannen offene Proteste. Sechs Arbeiter eines privaten Fuhrunternehmens, in manchen Berichten ist von bis zu 20 die Rede, versammelten sich am 12. Juni 1953 vor dem Gefängnis in Brandenburg und forderten die Freilassung ihres zu einer Zuchthausstrafe verurteilten Chefs. Nach kurzer Zeit beteiligten sich an dieser Demonstration bis zu 5000 Personen. Die Justizangestellten ließen den Mann tatsächlich frei. Am selben Tag versammelten sich auch 450 Personen in Weimar und 1000 Menschen in Neuruppin vor dem örtlichen Gefängnis. Einen Tag später kam es in Stralsund vor dem Gefängnis zu einer ähnlichen Demonstration von 200 Personen, die sich mit Blumensträußen «bewaffnet» hatten. Im sächsischen Johanngeorgenstadt demonstrierten am 15. Juni etwa 1000 Menschen auf dem Marktplatz, die sich gegen Zwangsräumungen aus ihren Wohnungen zugunsten sowjetischer Militärangehöriger zu wehren versuchten – allerdings vergeblich. An diesem Tag standen auch 300 Personen in Halle vor dem Gefängnis und verlangten die Freilassung der politischen Gefangenen.
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Erste Anzeichen für Streiks wurden sichtbar. Allgemein erwarteten die Arbeiter, dass die Normenerhöhungen zurückgenommen würden. Am 12. Juni wurden in der Mathias-ThesenWerft Wismar «in einer Versammlung die Redner der Partei und die Beschlüsse des Politbüros verhöhnt, und es gab Forderungen auf freie Wahlen und Rücktritt der Regierung». In den folgenden Tagen kam es in vielen Betrieben immer häufiger zu kurzzeitigen Arbeitsniederlegungen. Am 16. Juni fand eine Belegschaftsversammlung im RAW «Einheit» Engelsdorf statt, «wo die Arbeiter und Angestellten in einer Resolution den Rücktritt der Regierung, die Durchführung geheimer Wahlen und die Freilassung aller politischen Häftlinge forderten». Eine Delegation, der auch der Werksleiter und der BGL-Vorsitzende angehörten, überreichte diese Resolution der SED-Kreisleitung Leipzig-Land: «Sie stellten die obligatorische Forderung, diese Resolution sofort im Rundfunk zu verlesen, anderenfalls [würde] mit dem Streik begonnen.» Die in dieser Belegschaftsversammlung beschlossene Resolution zeigt, dass es keiner westlichen Mentoren bedurfte, um politische Forderungen in den Betrieben aufzustellen. Auffällig an den offen zutage tretenden Unruhen war zum einen, dass sie vor allem von Arbeitern der Groß- und Baubetriebe getragen wurden, die oftmals gegenüber anderen lohnprivilegiert waren. Zum anderen breiteten sich Aktionen der Arbeiterschaft vor allem in den ehemaligen Zentren der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung aus. Die SED-Führung erwog zunächst keine Zugeständnisse an die Arbeiter: Der Normenbeschluss vom Mai blieb noch unangetastet. Am 14. Juni 1953 erschien auf der letzten Seite des Neuen Deutschlands ein Artikel, der die Überschrift trug: «Es wird Zeit, den Holzhammer beiseitezulegen». Der Artikel ließe sich als Kritik an Ulbricht lesen. Allerdings trügt dieser Eindruck. Unter anderem heißt es: «Die Parteiorganisation des VEB Wohnungsbau muss sich dafür einsetzen, dass die Beschlüsse unserer Regierung und Partei nicht diktatorisch und administrativ durchgeführt werden.» Die Normenerhöhung führte die SED-Führung administrativ ein und hatte sie zum Gesetz erhoben. Sie selbst dekretierte die Art und Weise der Einführung, die
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sie nun verschleiern wollte. Zugleich delegierten die Autoren dieses Beitrages die Verantwortung für begangene Fehler, für die Art und Weise der Normeneinführung, auf untergeordnete Ebenen. Nicht ungeschickt lenkten sie von den eigentlichen Ursachen ab: Schuld seien nicht die Beschlüsse, sondern diejenigen, die die Beschlüsse umsetzten. Nicht nur die Arbeiter, auch die Landbevölkerung begehrte auf. Immerhin arbeitete 1953 in der DDR von den knapp acht Millionen Erwerbstätigen jeder Vierte in der Landwirtschaft. LPG-Mitglieder gerieten unter massiven Druck der übrigen bäuerlichen Bevölkerung. Für die LPG-Bauern bedeuteten die Beschlüsse der SED-Führung eine Verschlechterung ihrer Situation, weil sie möglicherweise ihre wirtschaftlichen Vorteile gegenüber den Einzelbauern einbüßen würden. Wiederholt berichteten SED-Funktionäre, dass sich Genossenschaftsbauern weigerten, den Großbauern (mehr als 20 ha Nutzfläche) Felder und Gebäude zurückzugeben. Es kam in mehreren Bezirken zu Streiks. Daneben wurde jedoch auch für die Auflösung der LPG die Arbeit niedergelegt. Bei den unter Druck in die LPG eingetretenen Bauern gab es viele, die aus den LPG austreten wollten. Dieses Verhalten überwog die vereinzelten Bemühungen zur Verteidigung der LPG und trat von Tag zu Tag stärker in den Vordergrund. Aus allen Bezirken trafen alarmierende Meldungen in der Berliner Zentrale ein. Ganze Dörfer feierten und stießen bereits auf das «Wohl von Adenauer» an. In manchen Gemeinden zogen Bauern mit schwarz-rot-goldenen Fahnen durchs Dorf und sangen das «Deutschlandlied». In der SED-Zentrale waren die führenden Funktionäre ratlos. Die Berichterstatter konnten nicht kaschieren, dass sich von Tag zu Tag die Situation zuspitzte. Aus vielen Dörfern musste von zunehmenden Tätlichkeiten gegen SED-Funktionäre und Mitglieder der Gemeindeverwaltungen berichtet werden. Auch gegenüber der Intelligenz sollten Fehler korrigiert werden. Ihnen versprach die SED-Führung im SED-Kommuniqué eine Erleichterung des Reiseverkehrs in die Bundesrepublik und Möglichkeiten zur Teilnahme an internationalen Tagungen. Aus politischen Gründen entlassene Lehrer konnten wieder einge-
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stellt werden. Bei vielen Angehörigen der Intelligenz weckte das Kommuniqué Hoffnung auf mehr Rechtssicherheit, auf bessere Arbeitsmöglichkeiten und auf die Entwicklung demokratischer Verhältnisse. Ein nicht geringer Teil sah in diesem Kommuniqué allerdings ebenfalls eine Bankrotterklärung der SED. Auch innerhalb der Intelligenz wurde gefordert, die Protagonisten der bisherigen Politik zur Verantwortung zu ziehen. Ressentiments brachen auf, sahen sich doch viele in ihrer Auffassung bestätigt, «dass die Arbeiterklasse unfähig ist, im Staat die Führung zu übernehmen». Dass die Arbeiter in der DDR die Führung gar nicht ausübten, sondern eine kleine Clique von Funktionären, wurde unterschlagen. Während sich der größere Teil der Intelligenz darüber erleichtert zeigte, dass der Kirchenkampf eingestellt werden sollte, war der andere Teil sichtlich irritiert. Bei regimetreuen Intelligenzlern an den Universitäten und Schulen, die bisher gegen Anhänger der Jungen Gemeinde und Andersdenkende vorgegangen waren, stieß diese Kehrtwendung oftmals auf Unverständnis. Der «Neue Kurs» erwies sich zunehmend als Bumerang. Kaum hatte das Regime die Zügel etwas lockerer werden lassen, nutzte die Gesellschaft die Situation, um politische Veränderung zu erzwingen. Sie hoffte auf Rechtssicherheit, demokratische Verhältnisse, auf die Überprüfung von Gesinnungs- und Terrorurteilen, auf Freizügigkeit, auf bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse, insbesondere auf eine gesicherte Versorgung, und nicht zuletzt auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Volkserhebung begann im Juni 1953, weil sich das Land in einer tiefen gesellschaftlichen Krise befand und weil die SED-Diktatur zum ersten Mal so geschwächt und entblößt war, dass die Machthaber und ihr Apparat wie paralysiert erschienen – und es einige Tage lang auch waren. Dass der Volksaufstand genau in jenem Moment losbrach, in dem sich die SED anschickte, begangene Fehler zu korrigieren, und vor allem ihre Fehler eingestand, lag in der Logik des Systems begründet. Die Krise war akut, aber erst in dem Moment, als die Regierung zugab, dass eine Krise herrsche, fanden Hunderttausende den Mut, gegen das Regime aufzubegehren. Sie
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wussten nun, dass sie nicht allein waren. Der Alltag, die Erfahrungen des Einzelnen waren nicht singulär, sondern typisch. Insofern wirkte das Kommuniqué mobilisierend für den Ausbruch des Aufstands. Das Eingeständnis der Machthaber, Fehler begangen zu haben, weckte die Hoffnung, wirklich etwas verändern zu können. Die Ursachen freilich sind in den Entwicklungen in den Monaten und Jahren zuvor zu finden.
3. Der Aufstand in den Großstädten Schon vor dem 16. Juni kam es in Dutzenden Städten und Gemeinden zu Streiks und Demonstrationen, LPG lösten sich auf, Parteiaustritte standen auf der Tagesordnung. Vor allem in der Arbeiterschaft rumorte es kräftig, war doch bis zum Abend des 15. Juni immer noch nicht die Normenfrage gelöst. Erst am 16. Juni 1953 beschloss die SED-Führung, die Normenerhöhung zurückzunehmen. Dieser Beschluss war am Abend im Radio verkündet worden, aber erst im Neuen Deutschland am 17. Juni morgens auf der ersten Seite nachzulesen. Längst hatten sich politisch bewusste Arbeiter zusammengefunden und ultimative Forderungen aufgestellt. Sie wollten nicht länger Sklaven sein, wie sie auf den Straßen skandierten, sondern, wie es ihnen pausenlos verkündet wurde, mitbestimmen im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in über 700 Städten und Gemeinden zu Demonstrationen und Streiks. Die Ausmaße des Aufstandes belegen folgende Zahlen: In der DDR existierten 1953 zehn Städte mit mehr als 100 000 und vierzehn Städte mit 50 000 bis 100 000 Einwohnern – in allen 24 Städten kam es zu Streiks, Demonstrationen und Unruhen. Städte mit Einwohnerzahlen zwischen 20 000 und 50 000 gab es 75. In mindestens 68 davon beteiligten sich die Bürger an der Erhebung. Selbst von den 115 Städten, in denen 10 000 bis 20 000 Menschen lebten, waren mindestens 89 am Aufstand aktiv beteiligt. In diesen ins-
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gesamt 214 Städten wohnten fast 50 Prozent der DDR-Bevölkerung. Die sowjetische Militäradministration verhängte am 17. bzw. 18. Juni über 167 der 217 Land- und Stadtkreise den Ausnahmezustand, der in den Städten Berlin, Halle und Leipzig bis zum 11. Juli 1953 aufrechterhalten worden ist. Am Volksaufstand waren etwa eine Million Menschen beteiligt. Zu Streiks kam es in weit über eintausend Betrieben und Genossenschaften. Die Aufständischen erstürmten über 250 öffentliche Gebäude. Darunter befanden sich fünf MfS-Kreisdienststellen, zwei SED-Bezirksleitungen, eine VP-Bezirksdirektion sowie Dutzende SED- und FDGB-Gebäude, VP-Reviere, Kreisratsämter, Gemeinderäte und andere öffentliche Gebäude. Vor über 70 Gefängnissen und anderen Haftorten versammelten sich Demonstranten zwischen dem 17. und 20. Juni mit dem Ziel, die politischen Häftlinge zu befreien. Aus einigen Haftanstalten sind insgesamt etwas mehr als 1500 Häftlinge befreit worden, von denen bis auf 63 alle wieder eingefangen wurden oder sich selbst gestellt haben. Die 63 flüchteten in den Westen. Moskau verfügte zur Abschreckung am 17. Juni, dass 18 standrechtliche Erschießungen erfolgen sollten. Nachweisbar sind bis heute «nur» fünf. Bei den Unruhen kamen Männer und Frauen durch den Einsatz der KVP, des MfS und der sowjetischen Armee ums Leben. Verlässliche Zahlen darüber existieren nicht. Noch bis vor zehn Jahren ist von mehreren hundert Getöteten ausgegangen worden – überhöhte Zahlen, die auf Angaben basierten, die Ostagenten dem Gehlen-Dienst übermittelt sowie Flüchtlinge im Rahmen des Bundesnotaufnahmeverfahrens gemacht hatten. Tatsächlich gab es wohl deutlich weniger, wahrscheinlich zwischen 40 und 50 Opfer des Regimes. In einigen Ortschaften kam es außerdem zu Racheakten an SED-Mitgliedern und MfSbzw. VP-Angehörigen, wobei auch diese exakte Anzahl bislang nicht ermittelt werden konnte. Sie liegt etwa bei zehn. Die Hauptforderungen im gesamten Land lauteten: «Nieder mit der SED», «Freie Wahlen», «Freilassung aller politischen Häftlinge», «Rücktritt der Regierung», «Abzug der Besatzungstruppen aus Deutschland» und «Wiedervereinigung». Nicht nur
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vereinzelt forderten insbesondere Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten eine Revision der Oder-Neiße-Grenze, die im Görlitzer Vertrag 1950 von der DDR-Regierung als endgültige Staatsgrenze zwischen Polen und der DDR anerkannt worden war. Daneben existierten in allen Orten sozialpolitische Forderungen, die den Arbeits- und Lebensalltag betrafen. Aber dass diese Forderungen den politischen zumeist nur aus taktischen Gründen vorangestellt worden waren, zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass viele Streiks und Demonstrationen gerade von solchen Arbeitern ausgingen, die überdurchschnittlich gut verdienten. In der DDR gab es nach damaligen Maßstäben zehn Großstädte. Diese mussten mehr als 100 000 Einwohner aufweisen. Neben der Hauptstadt Ost-Berlin (knapp 1,2 Millionen Einwohner) zählten dazu die Bezirkshauptstädte Leipzig (rund 615 000), Dresden (500 000), Karl-Marx-Stadt (Chemnitz; 292 000), Halle (289 000), Magdeburg (260 000), Erfurt (188 000), Rostock (140 000), Potsdam (118 000) sowie die Kreisstadt Zwickau (136 000). Was am 17. Juni in den wichtigsten von ihnen geschah, wird im Folgenden knapp dargestellt, bevor der Blick in die Provinz wandert. Berlin
Acht Jahre nach Kriegsende war Berlin zwar schon seit 1948 politisch geteilt, aber die meisten Menschen lebten gefühlsmäßig in einer Stadt, die lediglich vorübergehend in zwei Einflusssphären zerfallen war. Jeder kannte Menschen im anderen Teil, die S-Bahnen beförderten ihre Passagiere über die Sektorengrenzen hinweg. Mindestens 80 000 Ostberliner arbeiteten in West-Berlin für Westgeld. Auch in die umgekehrte Richtung pendelten täglich etwa 40 000 zur Arbeit, die ihre verdiente Ostmark auf dem blühenden Schwarzmarkt im Mindestkurs vier zu eins in hartes Westgeld umtauschen mussten. Ihnen war allerdings Ende März 1953 die Lohnzahlung gesperrt worden. Die Betriebe mussten die Gehälter auf ein Sperrkonto überweisen, was einer praktischen Entlassung gleichkam.
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Am 26. Mai 1952 ordnete der DDR-Ministerrat an, einen Kontroll- und Sperrgürtel zwischen West-Berlin und der DDR zu errichten sowie die aus den Westsektoren in den Bezirk Potsdam führenden Straßenübergänge, soweit sie nicht dem Interzonenverkehr dienten, und die Telefonverbindungen innerhalb der gespaltenen Stadt zu unterbrechen. Auch zahlreiche Straßen, die von Ost- nach West-Berlin führten, wurden abgeriegelt. Westberlinern gestattete man Reisen in das Gebiet der DDR – außerhalb Ost-Berlins – nur noch in Ausnahmefällen. Im Januar 1953 wurde der über die Sektorengrenzen führende Straßenbahn- und Autobusverkehr eingestellt. Lediglich S- und U-Bahnlinien verbanden weiterhin beide Teile Berlins. Von den Anmaßungen der Kommunisten in Ost-Berlin waren die Westberliner auf vielfältige Weise direkt betroffen. Daraus erklärt sich, warum viele dem Aufstand in Ost-Berlin im Juni 1953 emotional und zum Teil auch als aktiv Handelnde verbunden waren. Es ging auch um ihre Stadt und ihre Zukunft. Unter den Bauarbeitern auf der Stalinallee und auf den angrenzenden Baustellen rumorte es bereits vor dem 17. Juni 1953 seit Wochen heftig. Sie zählten zu den privilegierten Lohnempfängern, verdienten manche doch das Zwei- bis Dreifache des damaligen Durchschnittseinkommens. Aber die geplanten Normenerhöhungen bedeuteten für die Bauarbeiter erhebliche Lohneinbußen. Am Freitag, den 12. Juni, fand auf einer Baustelle in einer Pause eine kurze Belegschaftsversammlung statt, auf der der Baustellenleiter eine Resolution vorstellte, in der sich die Bauarbeiter «freiwillig» verpflichteten, die Normen um zehn Prozent zu erhöhen. Die Anwesenden protestierten heftig. Kurz darauf rollten Limousinen mit Berliner SED-Funktionären vor. Man debattierte und versuchte, sich gegenseitig zu überzeugen. Vergeblich. Man kündigte vorsichtig an, am Montag, den 15. Juni, in den Streik zu treten. Am nächsten Tag, einem Samstag, standen, als die Bauarbeiter zur Arbeit erschienen, bereits Dutzende Funktionäre auf der Renommierbaustelle herum, um mit ihnen zu sprechen. Sie versprachen, sich für die Rücknahme des Normenbeschlusses einzusetzen, und verkündeten, die Bauarbeiter könnten an diesem
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Tag bereits um 12.00 Uhr die Baustelle verlassen und nach Hause fahren. Dieses Angebot nahmen alle an, die Streikgefahr schien gebannt zu sein. Unterdessen fuhren auf Ostberliner Gewässern seit 7.30 Uhr morgens am 13. Juni 1953 zwei Fahrgastschiffe der Weißen Flotte ins Ausflugslokal «Rübezahl» am Müggelsee im Berliner Süden. Dort trafen etwa 140 Bauarbeiter sowie 320 Angehörige und Gäste ein. Den jährlichen Ausflug hatte die Gewerkschaft organisiert. Im Ausflugslokal hielten am frühen Abend der stellvertretende BGL-Vorsitzende und der Bauleiter kurze, nichtssagende Ansprachen. Als sie fertig waren, stieg ein Maurerbrigadier auf den Tisch und rief in den Saal hinein, dass am Montag gestreikt werde. Auch auf der Rückfahrt war von Streik die Rede. Es ist nicht mehr zu rekonstruieren, welche Bedeutung diese Dampferfahrt tatsächlich hatte. Gab sie wirklich, wie später von der SED und dem MfS behauptet, das Startsignal für die Streiks im Zentrum Berlins? Den Kommunisten kam die Dampferfahrt sehr gelegen, bot sie doch die Möglichkeit «zu beweisen», dass die Streiks von langer Hand geplant gewesen seien. Oder fungierte die Dampferfahrt lediglich als Katalysator für die Ereignisse? Es spricht einiges dafür, dass sie eine solche katalytische Wirkung hatte, mehr aber auch nicht. Am Montag, dem 15. Juni, herrschte auf mehreren Baustellen der Stalinallee erhebliche Unruhe. Auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain blieben die Bauarbeiter am Morgen in ihren Baubuden sitzen und erklärten, der Streik habe nun begonnen. Die Normenerhöhungen und die Lohnsenkungen müssten rückgängig gemacht werden, vorher rühre sich keine Hand. Die Baustellenleitung berief daraufhin für 9.00 Uhr eine Belegschaftsversammlung ein. Dort erklärte ein Gewerkschaftsfunktionär, dass die Normenerhöhungen nicht zurückgenommen werden könnten. Die Bauarbeiter beschlossen, eine Resolution zu verfassen und ihre Forderung schriftlich zu fixieren. Sie selbst formulierten diese aber nicht, sondern der Gewerkschaftsvorsitzende Max Fettling und ein Mitglied der SED-Kreisleitung Berlin-Friedrichshain. Hier sind Versuche seitens der SED und der
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Gewerkschaft erkennbar, die Protestbewegung zu kanalisieren. Die Versammlung lehnte den ersten Entwurf ab, «weil darin vorgesehen war, dass der Ministerpräsident sich innerhalb von 4 Tagen äußern solle. Es wurde verlangt», wie Max Fettling in einem MfS-Verhör in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1953 ausführte, «dass die Antwort bis zum nächsten Morgen erfolgt und das Wort ‹bitten› gestrichen und an dessen Stelle ‹fordern› geschrieben wird.» Als die Resolution entsprechend verändert worden war, setzte der BGL-Vorsitzende Fettling seine Unterschrift und den Gewerkschaftsstempel darunter und ging mit drei Arbeitern ins Haus der Ministerien in der Leipziger Straße, «zum Büro des Ministerpräsidenten, wo wir mit einer Angestellten des Büros verhandelten. Wir erhielten die Auskunft, dass die Handhabung des Beschlusses zur Normenerhöhung falsch sei und dass sie uns am nächsten Tage Bescheid geben würde, wie über unser Anliegen entschieden worden sei.» Die Bauarbeiter auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain nahmen auch am nächsten Morgen, am 16. Juni, die Arbeit nicht auf. Sie warteten auf eine Antwort des Ministerpräsidenten. Auf dieser Baustelle, aber auch auf vielen Bauabschnitten der Stalinallee und in anderen Betrieben Ost-Berlins trafen morgens Funktionäre ein, die den Arbeitern erklärten, dass die Normenerhöhung zwar falsch sei, aber nun nicht mehr zurückgenommen werden könne. Auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain fand eine Belegschaftsversammlung statt. Bauarbeiter der Stalinallee forderten hier ihre Kollegen auf, mit zu ihnen zu kommen und an der dortigen Versammlung teilzunehmen. Der BGL-Vorsitzende Fettling verhinderte das. Unterdessen hatte der Direktor des Krankenhauses die großen Zufahrtstore zu dem Krankenhausareal schließen lassen – ein Versehen mit fatalen Folgen. Die Bauarbeiter von der Stalinallee mussten über einen Zaun springen, gingen zu ihren Kollegen zurück und berichteten, dass man die Bauarbeiter am Krankenhaus Friedrichshain eingesperrt habe. Gegen 8.30 Uhr zogen die ersten 80 Bauarbeiter durch die Stalinallee. Sie wollten demonstrieren. Sie führten ein Transpa-
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rent mit sich: «Wir Bauarbeiter fordern die Senkung der Normen». Sie marschierten zunächst die einzelnen Bauabschnitte ab und forderten: «Heraus zur Demonstration, übt Solidarität». Eine gute Stunde später waren es bereits 2000 Demonstranten. Etwa 500 Bauarbeiter marschierten zum unweit gelegenen Krankenhaus, brachen die Tore auf und forderten ihre Kollegen auf, am Marsch teilzunehmen. Man wollte nun nicht mehr abwarten, sondern zum Haus der Ministerien ziehen, um mit den Repräsentanten des Staates direkt zu verhandeln. Die Nachrichten von den Vorgängen im Ostberliner Zentrum verbreiteten sich innerhalb Berlins in Windeseile. Mehrere Bauarbeiter der Stalinallee fuhren mit Fahrrädern und Motorrädern zu weiter entfernt liegenden Baustellen und erzählten von den Vorgängen. Immer mehr Baustellen schlossen sich der Streikbewegung an, erste Industriebetriebe gesellten sich am frühen Nachmittag hinzu. Der Hauptzug der Bauarbeiter, der ständig anwuchs, marschierte geschlossen und diszipliniert von der Stalinallee zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Die Spitze des Demonstrationszuges kam gegen 13.30 Uhr dort an. Das Haus lag direkt an der Sektorengrenze, kurz vor dem Potsdamer Platz. Es bildeten sich ständig neue Demonstrationszüge an verschiedenen Stellen der Innenstadt. Vor dem Haus der Ministerien versammelten sich über 10 000 Protestierende. Der RIAS meldete in einer knappen Nachricht gegen 13.30 Uhr als erster Rundfunksender diese Vorgänge in Ost-Berlin; bereits am Abend zuvor um 19.30 Uhr hatte der RIAS von den Streiks und Protesten berichtet. Dass mittlerweile die Normenerhöhung vom SED-Politbüro zurückgenommen worden war und die östlichen Rundfunksender diese Nachricht verbreiteten, interessierte zu diesem Zeitpunkt kaum noch jemanden. Die Demonstranten wollten mit Ulbricht oder Grotewohl sprechen. Die Polizei zog sich zurück. Weder Ulbricht noch Grotewohl hielten sich in dem Gebäude auf. Am Fenster ließen sich lediglich der Minister für Hüttenwesen und Bergbau, Fritz Selbmann, und der stellvertretende Ministerpräsident, Heinrich Rau, blicken. Gegen 14.00 Uhr erschien Selbmann vor dem Gebäude, stellte sich auf einen Tisch und rief
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den Arbeitern zu, die Normen seien zurückgenommen. Wie Selbmann später berichtete, hatte er die Initiative dazu in Absprache mit Rau selbst ergriffen. Die Demonstranten unterbrachen seine Rede ständig. Als er rief: «Ich bin doch selbst ein Arbeiter!», antwortete man ihm: «Das hast du aber längst vergessen.» Auf die Anrede «Liebe Kollegen» schrie die Menge zurück: «Du bist nicht unser Kollege – du bist ein Lump und Verräter.» Ein Arbeiter zog Selbmann schließlich vom Tisch, stieg selbst hinauf und erklärte unter dem donnernden Beifall der Versammelten: «Was du uns erklärt hast, interessiert uns überhaupt nicht. Wir wollen frei sein. Unsere Demonstration richtet sich nicht nur gegen die Normen. Wir kommen nicht nur von der Stalinallee, sondern aus ganz Berlin. Das hier ist eine Volkserhebung. Wir fordern freie und geheime Wahlen!» Ein anderer Arbeiter gab endgültig der Bewegung ihre Richtung vor: «Kollegen, unsere Forderungen werden ja doch nicht erfüllt. Unser Streik geht weiter. Für morgen rufen wir den Generalstreik aus.» Dieser Aufruf verbreitete sich in Windeseile. Ab 14.30 Uhr begannen die Demonstranten den Platz vor dem Haus der Ministerien zu verlassen. Durch die Stadt fuhren Lautsprecherwagen der SED, die die Rücknahme der Normenerhöhungen verkündeten. Die Demonstranten erbeuteten einige solcher Wagen und verkündeten fahrend in der Stadt, dass morgen, am 17. Juni, Generalstreik sei und alle Berliner aufgerufen seien, sich um 7.00 Uhr am Strausberger Platz einzufinden. Die vom Haus der Ministerien zurückkehrenden Menschen bildeten an mehreren Stellen im Zentrum Ost-Berlins neue Demonstrationszüge. Es stießen immer mehr Menschen hinzu, sodass am Abend an verschiedenen Punkten der Stadt etwa 20 000 Menschen demonstrierten. Im Westen hatte man die Ereignisse in Ost-Berlin aufmerksam beobachtet. Die politische Klasse wusste mit den Vorgängen nicht viel anzufangen. Der bundesdeutsche Geheimdienst versagte. In einer Analyse vom 20. Juni 1953, die dem MfS seit November 1953 vorlag, hieß es kurioserweise: «Der bisherige Gesamteindruck über die Vorgänge in Ost-Berlin und in der Zone verstärkt die Auffassung, dass es sich um von östlicher
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Seite inszenierte Aktionen mit dem Ziel handelt, die Wiedervereinigung im großdeutschen Rahmen zugunsten anderer wichtiger außen- und innerpolitischer Absichten ins Rollen zu bringen. […] Die Aktion ging jedoch über den gewünschten Rahmen durch das Eingreifen unvermuteter Widerstandskräfte hinaus.» Anders reagierte der RIAS, der beliebteste Radiosender Berlins, der in weiten Teilen der DDR empfangen werden konnte. Gegen 16.30 Uhr berichtete er am 16. Juni ausführlich über die Vorgänge in Ost-Berlin. Unterdessen erschienen im RIAS-Gebäude zwei Männer und eine Frau von der Stalinallee, die sich selbstständig und ohne Mandat auf den Weg in das Funkhaus gemacht hatten. Sie baten den RIAS, eine Resolution verlesen zu lassen. Es kam zu Verhandlungen, in deren Folge RIAS-Mitarbeiter die Resolution mitformulierten und offenbar auch entschärften. Doch das, was der RIAS ab 19.30 Uhr in jeder Nachrichtensendung verlas, besaß immer noch genügend Sprengkraft. Im Kern forderten die Arbeiter in dieser Resolution: 1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereits wieder nach den alten Normen; 2. sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; 3. freie und geheime Wahlen; 4. keine Maßregelungen von Streikenden und Streiksprechern. Anschließend kommentierte der RIAS-Programmdirektor, Eberhard Schütz. Obwohl er sichtlich bemüht war, die Stimmung nicht weiter aufzuheizen, sondern eher zu beruhigen, wirkte auch sein Kommentar mobilisierend für den nächsten Tag. Es hieß bei ihm unter anderem: «Macht euch die Ungewissheit, die Unsicherheit der Funktionäre zunutze. Verlangt das Mögliche – wer von uns in West-Berlin wäre bereit, heute zu sagen, dass das, was vor acht Tagen noch unmöglich schien, heute nicht möglich wäre.» Kurz vor 23.00 Uhr folgte ein Aufruf von Jakob Kaiser, einem Mann, der dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten angehört hatte. Er begründete 1945 die CDU in Berlin und in der SBZ mit. Von Ende 1945 bis Ende 1947 war er deren 1. Vorsitzender, ehe er von der sowjetischen Besatzungsmacht abgesetzt wurde. Er ging nach West-Berlin und
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wurde 1949 Mitglied des Bundestages und erster Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen. Nun wandte er sich über den RIAS an die Ostberliner und Ostdeutschen und bat sie, «sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und seine Umgebung in Gefahr bringen.» Kaiser hoffte, die deutsche Frage auf dem Verhandlungsweg lösen und so den Ostdeutschen Einheit und Freiheit ermöglichen zu können. Zugleich war er realpolitisch viel zu erfahren, um daran zu glauben, ein Aufstand könnte die sowjetische Besatzungsmacht zum Rückzug zwingen. Schließlich wusste er, dass die westlichen Alliierten den Aufständischen militärisch nicht zu Hilfe eilen würden. Strikt vermied der RIAS, das Wort «Generalstreik» zu wiederholen. Der zuständige amerikanische Offizier hatte es am Nachmittag verboten. Ab 23.00 Uhr berichtete der Sender aber in seinen Nachrichten, dass am nächsten Morgen um 7.00 Uhr alle Ostberliner aufgerufen seien, sich am Strausberger Platz zu einer Demonstration zu versammeln. Unterdessen war fieberhaft darüber nachgedacht worden, wie der RIAS doch noch politisch reagieren könnte. Die Lösung kam in Person von Ernst Scharnowski, dem Vorsitzenden des DGB in West-Berlin. Seinen Aufruf strahlte der Radiosender kurz nach 5.30 Uhr am 17. Juni erstmals aus. Scharnowski formulierte: «Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei, und sucht eure Strausberger Plätze überall auf. Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für euch mit gutem Erfolg verlaufen.» Im Friedrichstadtpalast fand seit 20.00 Uhr eine außerordentliche Sitzung des Berliner SED-Parteiaktivs statt. Diese Tagung war am 14. Juni einberufen worden. Ulbricht und Grotewohl wollten den «Neuen Kurs» begründen. Robert Havemann nahm an dieser Sitzung teil: «Fast das ganze Politbüro und viele Mitglieder der Regierung saßen im Präsidium. In offensichtlicher Blindheit gegenüber den Ereignissen des Tages erging man sich gegenseitig in Ovationen. Man werde sich durch den Mob der Straße nicht unter Druck setzen lassen. Die Versammlung endete, ohne dass den Anwesenden irgendwelche Anweisungen
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gegeben wurden, was sie am morgigen Tage zu tun hätten.» Ulbricht hatte lediglich am frühen Nachmittag bei den sowjetischen Verantwortlichen darum ersucht, der Polizei den Schießbefehl erteilen zu dürfen, was Moskau untersagte. Nun mussten er und die anderen Mitglieder der Führungsspitze in ständig neuen Eilmeldungen zur Kenntnis nehmen, dass sich die Lage auch am späten Abend kaum entschärfte. An vielen Stellen demonstrierten immer noch Tausende, darunter in der Stalinallee, am Strausberger Platz und selbst vor dem Friedrichstadtpalast, wo es zu regelrechten Straßenkämpfen zwischen Demonstranten und der Polizei kam, während die SED-Spitze im Gebäude abgeschirmt tagte. In mehreren Großbetrieben nahmen die Nachtschichten ihre Arbeit erst gar nicht auf bzw. legten sie im Laufe der Nacht nieder. In der Nacht vom 16. zum 17. Juni 1953 trafen sich Hochkommissar Wladimir Semjonow, der ranghöchste sowjetische Vertreter in der DDR, und Andrei Gretschko, Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppe, mit Ulbricht, Grotewohl und MfS-Minister Zaisser, um das Eingreifen der Polizei-, Militär- und Sicherheitsapparate vorzubereiten. Ein solcher Einsatz war nur für Berlin vorgesehen. Die Sowjets gaben am 17. Juni 1953 um 7.26 Uhr morgens nach Moskau durch, dass die Unruhen am 16. Juni von West-Berlin aus organisiert worden seien. Die Rote Armee bildete die letzte Reserve, an ihren Einsatz war zunächst nicht gedacht. Etwa gegen 13.00 Uhr traf Marschall Sokolowski aus Moskau in Ost-Berlin ein. Sokolowski war einer der großen Heerführer im Zweiten Weltkrieg gewesen und leitete nun die militärische Niederschlagung des Aufstands in der DDR. Zugleich war in den frühen Morgenstunden der gesamte ostdeutsche Polizei- und Sicherheitsapparat in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Der zentrale Leitungsstab für Berlin nahm seine Arbeit am Sitz des MfS in der Berliner Normannenstraße unter Minister Zaisser auf. Außerdem formierte sich eine Einsatzleitung für die Polizeikräfte im Polizeipräsidium und noch eine dritte im DDR-Innenministerium. Die Einsatzstäbe handelten nicht aufeinander abgestimmt, die Kom-
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munikation war zum Teil unterbrochen, es sah zeitweilig mehr nach einem Gegen- statt einem Miteinander aus. Gehandelt werden durfte ohnehin nur nach Rücksprache mit der sowjetischen Zentrale in Karlshorst. Seit den Morgenstunden verbreitete sich die Protestbewegung rasend schnell über das gesamte Land. Die Polizei konnte kaum die eigenen Gebäude sichern. Die Kräfte reichten nicht aus – die Staatsmacht war völlig unvorbereitet. Die Lage war aus Polizeisicht chaotisch. Die im Laufe des 17. Juni an allen Brennpunkten des Landes zum Einsatz gebrachten Einheiten der KVP waren überfordert und den Aufständischen unterlegen. Erst als die sowjetischen Truppen mittags oder nachmittags eingriffen, schlugen diese die Volkserhebung nieder. Ihnen fiel es leichter zu improvisieren, da die Truppen ständig auf Einsätze und Kampfhandlungen, wenn auch nicht auf Polizeieinsätze, um die es sich am 17. Juni handelte, vorbereitet waren. Als sich am Morgen in Ost-Berlin mächtige Demonstrationszüge formierten, erwies sich schnell, dass die VP-Einheiten weder von ihrer Ausrüstung noch von ihrer Zusammensetzung her geeignet waren, die Protestierenden aufzuhalten. Kordons, mit Gummi- und Holzknüppel bewaffnet, vermochten es nicht, die Massen auseinanderzutreiben. Schnell verlegte sich die Polizei in Berlin darauf, wichtige Objekte und Betriebe zu sichern, was unter anderem auch mit dem Einsatz von Feuerwehren gelang. Ab 6.00 Uhr morgens am 17. Juni begann sich die Streikbewegung sehr schnell in Ost-Berlin über alle Stadtbezirke auszuweiten. Fast sämtliche Baustellen, Großbetriebe, aber auch viele Einzelhandelsgeschäfte, private Handwerksbetriebe und Fuhrunternehmen beteiligten sich. In einigen Stadteilen Ost-Berlins standen am Vormittag und mittags sämtliche Räder still. Einige Betriebe, wie zum Beispiel Siemens-Plania, produzierten weiter, weil Studenten, die sich gerade im obligatorischen Praktikum befanden, als Streikbrecher auftraten. Vor allem Bauarbeiter, nun aber nicht mehr allein von der Stalinallee und angrenzenden Baustellen, sondern von unzähligen in ganz Ost-Berlin, waren es zunächst, die sich morgens vor 7.00 Uhr zu Demonstrationszü-
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gen formierten und in Richtung Strausberger Platz marschierten. Ihnen schlossen sich schnell Passanten und Belegschaften anderer Betriebe an. Erlebte Ost-Berlin am 16. Juni noch eine Arbeiter-, ja eine Bauarbeitererhebung, so begannen die Ereignisse am 17. Juni sofort als Volksaufstand. Dabei suchten die Menschen nicht nur den Strausberger Platz, der nicht weit vom Alexanderplatz entfernt liegt, auf, sondern fanden in der Innenstadt überall, als wollten sie Ernst Scharnowskis Worte wahr machen, «Strausberger Plätze». Aus Hennigsdorf bewegte sich ein mächtiger Demonstrationsstrom durch West-Berlin auf Ost-Berlin zu. Aus dem Industrierevier Oberschöneweide (Köpenick) zogen Zehntausende am Morgen in Richtung Innenstadt los. Die Polizei begann die Übersicht zu verlieren. Vor dem Brandenburger Tor, in der Leipziger Straße vor dem Haus der Ministerien, auf dem Marx-Engels-Platz, an der Oberbaumbrücke, auf dem Alexanderplatz und in der Friedrichstraße standen und demonstrierten zwischen 8.00 und 9.00 Uhr bereits jeweils Zehntausende. Gegen 11.00 Uhr protestierten kaum noch übersehbare Menschenmassen. Kurz nach 8.00 Uhr tauchten die ersten sowjetischen Mannschaftswagen auf, gegen 9.00 Uhr die ersten Panzerspähwagen und dann ab 11.30 Uhr schwere sowjetische Panzer. Insgesamt brachte die sowjetische Militärmacht in Ost-Berlin drei Divisionen mit 600 Panzern zum Einsatz. Diese Armada verbreitete Angst und Schrecken, allein der Krach, den die Panzerketten verursachten, erinnerte viele Berliner an den erst acht Jahre zurückliegenden Krieg. Die ersten Ausschreitungen begannen noch vor 8.00 Uhr. Immer wieder kam es im Laufe des Tages zu größeren Schlägereien zwischen Demonstranten und Polizisten. Dabei gab es mehrere Verletzte, etwa als Funkstreifenwagen umgekippt wurden, andere Polizisten sind mit Steinen verletzt worden. Besonders in Mitleidenschaft zogen die Demonstranten die verhassten Sektorenabgrenzungen. Wachhäuser gingen in Flammen auf, Grenzschilder wurden abmontiert, zwischen Ost- und West-Berlin funktionierte für wenige Stunden der Grenzverkehr per pedes
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reibungslos. Der öffentliche Verkehr – Straßenbahnen, U- und S-Bahnen, Busse – war ab 11.00 Uhr vollkommen stillgelegt. Erst nach 13.00 Uhr, als die sowjetische Stadtkommandantur den Ausnahmezustand verhängt hatte, bekam die Staatsmacht die Grenze allmählich wieder unter Kontrolle. Diese wurde am späten Nachmittag geschlossen und zunächst jede Bewegung zwischen Ost und West untersagt, ehe dann Westberliner im Laufe des nächsten Tages Ost-Berlin, soweit sie nicht verhaftet worden waren, verlassen durften. Etwa gegen 10.00 Uhr ging ein Aufklärungslokal der Nationalen Front am Potsdamer Platz in Flammen auf. Viele weitere Kioske folgten. Das Columbus-Haus auf dem Potsdamer Platz wurde von Tausenden belagert. Dieses Haus, ein altes Warenhaus, von dem nur die unteren Etagen nutzbar waren, beherbergte eine HO-Verkaufsstelle und eine Polizeidienststelle. Zwischen 10.00 und 11.00 Uhr ergaben sich die darin befindlichen Polizisten, ihre Uniformteile flogen unter dem Gejohle Tausender aus dem Fenster. Einige Polizisten begaben sich aus Sicherheitsgründen in die Obhut der Westberliner Polizei, ehe die meisten später nach Ost-Berlin zurückkehrten. Aus Unterlagen Westberliner Behörden geht auch hervor, dass Hunderte Polizisten desertiert sein sollen und im Westen blieben. Die Demonstranten versuchten in viele weitere Gebäude einzudringen, so in die SED-Kreisleitung Mitte in der Friedrichstraße. Vor dem Gebäude standen etwa 20 000 Menschen. Einige Hundert drangen bis in den zweiten Stock vor, verwüsteten Teile der Inneneinrichtung, warfen Materialien aus dem Fenster und wurden schließlich mit Waffengewalt wieder vertrieben. In das Haus der Ministerien, vor dem etwa 30 000 bis 40 000 Menschen demonstrierten, drangen mehrere hundert Protestierende ein, zerstörten einige Räume und legten Feuer. Ab 13.00 Uhr räumten sowjetische Einheiten das Gebäude. Sämtliche Verhaftete aus dem Haus der Ministerien sind umgehend sowjetischen Dienststellen übergeben worden. Auch das Gebäude des SED-Zentralkomitees wurde belagert, mit Steinen beworfen, aber es wurde von sowjetischen Einheiten gesichert. Mehrere Polizeidienststellen sind erstürmt worden. Vor einigen Telegrafenämtern und ande-
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ren Einrichtungen der Post versammelten sich Demonstranten mit dem Ziel, diese zu besetzen. Solche Aktionen blieben ebenso wie Demonstrationen und Streiks nicht auf die Ostberliner Innenstadt beschränkt, sondern waren in allen Stadtteilen zu verzeichnen. Um 11.20 Uhr holten Jugendliche die Rote Fahne vom Brandenburger Tor herunter. Drei Stunden später waren es wieder Jugendliche, die nunmehr die schwarz-rot-goldenen Fahnen hissten, aber von Geschosssalven vertrieben wurden und schnell vom Tor in Richtung Westen flüchten mussten. Symbolträchtig hing die Fahne auf Halbmast. Zu schweren Zusammenstößen kam es auf dem Alexanderplatz. Das unweit gelegene Polizeipräsidium sollte gestürmt werden, weil man hier Verhaftete vermutete. Vier LKW der Polizei fingen Feuer, viele Fensterscheiben zerbrachen im Steinhagel. Die Polizeiführung fiel, wie es in einem Bericht wenige Tage später hieß, der «Kopflosigkeit» anheim. Der Präsident der Berliner Polizei, Waldemar Schmidt, erschien gar «plötzlich als Zivilist». Stundenlang tobten die Auseinandersetzungen. Gegen 14.00 Uhr erstürmten Demonstranten das HO-Kaufhaus auf dem Alexanderplatz und verwüsteten es. Die SED-Führung hatte unterdessen gegen 10.00 Uhr ihre Politbürositzung unterbrochen, die Innenstadt verlassen und war auf Geheiß Semjonows in einer geschlossenen Wagenkolonne nach Karlshorst gebracht worden. SED-Politbürokandidat Herrnstadt erinnerte sich später, dass die SED-Führung in Karlshorst weitgehend untätig herumstand und zusehen musste, wie die sowjetische Führung versuchte, den Aufstand niederzuschlagen. So kam Semjonow einmal in das Tagungszimmer und sagte, der RIAS habe erklärt, in der DDR gäbe es keine Regierung mehr. Süffisant fügte er hinzu: «Na, fast stimmt es doch.» Ulbricht schien an diesem Tag an das Ende seiner Macht gekommen zu sein. Als er von Schirdewan am Telefon erzählt bekam, was sich vor dem ZK-Gebäude abspielte und dass die Demonstranten wohl bald versuchen würden, das Haus zu stürmen, sagte er nur: «Aus!» Erst am 19. Juni kehrten er und die anderen in ihre Büros zurück. Unterdessen hatte die Führung in Moskau ein energischeres
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Vorgehen gefordert. Sie verlangte, die Menschenmassen mit allen Mitteln zu zerstreuen, den Ausnahmezustand zu verhängen, «Rädelsführer» zu verhaften und standrechtliche Erschießungen vorzunehmen. Etwa um 12.00 Uhr fielen die ersten Schüsse im Ostberliner Zentrum aus sowjetischen Maschinenpistolen. Ob in Berlin aus schweren Maschinengewehren, wie oft kolportiert worden ist, geschossen wurde, scheint eher unwahrscheinlich. Am Brandenburger Tor, in der Friedrichstraße, in der Leipziger Straße, am Alexanderplatz und am Potsdamer Platz fielen die meisten Schüsse. Sowjetsoldaten schossen aus automatischen Waffen, meist über die Köpfe der Menschen hinweg. Dabei sind dennoch am 17. Juni mindestens zehn, am 18. und 19. Juni jeweils zwei Menschen tödlich getroffen, wahrscheinlich Hunderte verletzt worden. Wie in vielen anderen Städten haben auch in Berlin ranghohe sowjetische Offiziere zunächst vergeblich versucht, die Menschenmassen, auf ihren Panzern stehend, mit Argumenten zu beruhigen und zu zerstreuen. Der Aufzug Hunderter Panzer war bedrohlich genug. Die weltweit bekannt gewordenen Bilder aus Berlin, auf denen junge Männer die Panzer mit Steinen und Flaschen attackierten, waren alles andere als typisch für die Situation. Ein Panzer soll zwar manövrierunfähig gemacht worden sein, einzelne junge Männer warfen Steine und Brandflaschen auf Panzer, und in der Leipziger Straße errichteten Jugendliche Barrikaden. Aber Angriffe auf sowjetische Panzer oder Soldaten zählten in Berlin zu den Randerscheinungen. Auch wenn die sowjetische Armee den Aufstand niederschlug, es wäre unangemessen, ihr nachsagen zu wollen, sie habe dies mit rücksichtsloser Brutalität betrieben. Es gab keine Blutbäder. Die meisten Toten und viele Verwundete sind von Querschlägern getroffen worden. Die Panzer fuhren zumeist im Schritttempo. Die militärische Führung war offenbar darauf bedacht, ihren Auftrag entschlossen durchzuführen und dabei unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. «Ich hatte den Eindruck», so zutreffend der britische Premier Winston Churchill am 19. Juni 1953, «dass sie angesichts der zunehmenden Unruhen mit beachtlicher Zurückhaltung gehandelt haben.»
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Die Menschen auf den Straßen haben diesen Armee-Einsatz damals zumeist anders erlebt. Ihnen standen hochgerüstete sowjetische Einheiten gegenüber, denen sie sich wehrlos ausgeliefert fühlten. Nirgendwo in Ost-Berlin ist aus Waffen, die einzelne Demonstranten deutschen Polizisten abgenommen hatten, auf Polizei oder Armee geschossen worden. Es kam aber zu vielen Handgemengen und Schlägereien, mehrere Polizisten wurden verwundet, mindestens drei starben. Als ein sowjetischer Panzer auf der Straße Unter den Linden einen Demonstranten überfuhr und tötete, errichteten beherzte Berliner ein Holzkreuz, das an den Toten erinnerte. Die Polizei beseitigte es schnell wieder. Der Einsatz der sowjetischen Armee bewirkte, dass sich Tausende von den Straßen zurückzogen. Zugleich aber nahmen die Auseinandersetzungen an Aggressivität zu. Bis zum späten Abend mussten die Einsatzzentralen immer wieder zur Kenntnis nehmen, wo sich überall die Wut als Zerstörung äußerte: Ganze Ladenzeilen wurden leer geräumt und brannten aus, unzählige Kioske und Wachhäuschen erlagen den Flammen, von Dutzenden Kraftfahrzeugen der Polizei und des Staates blieben nur ausgebrannte Reste. Mehrmals räumten sowjetische Kampfverbände Plätze und Magistralen in der Innenstadt. Noch bis zum frühen Abend hielten sich hier Zehntausende auf. Unter dem Eindruck der Panzer bröckelte die Protestbewegung. Dazu trug auch der Umstand bei, dass es der Bewegung an Zielgerichtetheit ermangelte. Die Menschen wussten zwar, was sie wollten, jedoch nicht, wie sie ihre Ziele erzwingen sollten. Sie standen vor den Machtzentralen, kamen aber nicht hinein. Und wenn sie hineingekommen wären, hätte es ihnen an den geeigneten, profilierten und anerkannten Führungspersönlichkeiten gemangelt, die energisch das politische Heft des Handelns in die Hand genommen hätten. Insofern deutete sich bereits am Nachmittag in Ost-Berlin an, was dem Aufstand in der gesamten DDR drohte: Er brach zusammen, weil die sowjetische Armee ihn niederschlug und weil es der Bewegung an Konzepten und Ideen fehlte, die Staatsgeschäfte zu übernehmen. Darauf war niemand vorbereitet. Und selbst wenn jemand darauf vorbereitet gewe-
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sen wäre, hätte es nichts genutzt, da sich die sowjetischen Verantwortlichen keineswegs auf Verhandlungen mit Revolutionsführern eingelassen hätten. Gegen 19.00 Uhr fielen im Ostberliner Zentrum, auf dem Potsdamer Platz, vermutlich die letzten Schüsse des 17. Juni. Dort brannte zu dieser Zeit das Columbus-Haus lichterloh. Gegen 16.30 Uhr hatten Unbekannte im Keller der halben Ruine Feuer gelegt. Das Feuer breitete sich schnell über die genutzten Etagen aus und vernichtete schließlich alle intakten Räume. Ebenso entfachten Unbekannte in einem unweit gelegenen anderen Haus ein Feuer, auch hier ist über die Absicht nichts bekannt. Laut Westberliner Polizeiberichten verhinderten die Demonstranten mehrmals, dass Westberliner Feuerwehrfahrzeuge zu den Brandorten auf östlicher Seite kamen, um diese zu löschen. Die Westberliner Polizei verhinderte dagegen, dass die SED-Büros in West-Berlin erstürmt wurden. Solche Vorgänge passten schlecht in das Bild der SED, wonach die Unruhen von West-Berlin aus organisiert worden seien. Es war an diesem Tag ab dem späteren Vormittag ohnehin nicht mehr erkennbar, wer von wo kam, da Tausende die Sektorengrenzen ständig in beide Richtungen passierten. An allen zentralen Punkten waren Panzer aufgefahren und Kanonen in Stellung gebracht worden. Sowjetische und deutsche Einheiten riegelten die Sektorengrenze, soweit es ging, hermetisch ab. Wer nach 21.00 Uhr auf den Straßen gefasst wurde, kam in Untersuchungshaft. Am Abend des 17. Juni und in der Nacht zum 18. Juni verhafteten die Polizei, das MfS und sowjetische Dienststellen allein in Ost-Berlin über 2500 Männer und Frauen. In den folgenden Tagen kamen Tausende hinzu. Unter dem Eindruck dieser Verhaftungswelle flaute auch die Streikbewegung ab. Es legten zwar am nächsten Tag in Dutzenden Betrieben und auf vielen Baustellen noch etwa 30 000 Menschen in Ost-Berlin ihre Arbeit nieder, aber die Spitze des Streiks war abgebrochen. Mindestens 25 Streikleitungen wurden komplett verhaftet und zum Teil später verurteilt. Ab dem 18. Juni konnten Westberliner an drei besonderen Kontrollstellen wieder zurück nach West-Berlin, ab dem 23. Juni war die Sektoren-
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grenze mit besonderen Passierscheinen wieder beidseitig überschreitbar. Am 11. Juli hob die sowjetische Kommandantur den Ausnahmezustand für Ost-Berlin auf. Dresden
In den Betrieben Dresdens blieb die Situation zunächst entspannt. Direkt vor den Toren der Elbmetropole, im SAG-Betrieb Sachsenwerk in Niedersedlitz, wussten allerdings 30 SEDGenossen von erstaunlichen Vorgängen in der Hauptstadt zu berichten. Diese 30 Genossen waren Kursanten der SED-Betriebsschule. Im Rahmen einer Exkursion besuchten sie am 16. Juni die Prachtallee des DDR-Kommunismus: die Stalinallee in Ost-Berlin. Sie sollten die Arbeitsmethoden der Bauarbeiter studieren und sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Stattdessen erlebten sie Streiks und Demonstrationen. Am Morgen des 17. Juni berichteten sie in ihren Brigaden von ihren ungewöhnlichen Beobachtungen. Der Parteisekretär des Betriebes reagierte schnell und sprach über den Betriebsfunk zur Belegschaft. Er räumte ein, es habe «Überspitzungen» in der Normenfrage gegeben. Er versuchte zu beschwichtigen, verteidigte aber vehement die Linie der SED. Die Arbeiter, von den Nachrichten aus Berlin ermuntert und von den Ausführungen des SED-Parteisekretärs verärgert, nahmen sich nun ein Beispiel an den Berliner Bauarbeitern und begannen, die Arbeit niederzulegen. Das Sachsenwerk war der größte Industriebetrieb Dresdens, im Hauptwerk waren fast 5500 Mitarbeiter beschäftigt. Auch Bauarbeiter der Dresdner Bauunion, die im Werk arbeiteten, schlossen sich an. Die spontane Versammlung blieb zunächst konturlos. Die einen verlangten Aufklärung über die Berliner Vorgänge, andere forderten die Herabsetzung der Normen, noch andere riefen zum Sturz der Regierung auf. Der Werkleiter versprach, einen Vertreter der Regierung ins Werk zu bitten. Ein Teil der Belegschaft gab sich mit diesem Versprechen zufrieden. Andere blieben auf dem Hof und formierten sich bald darauf zu einem Demonstrationszug. Der Zug bewegte sich zu anderen Betrieben, um die Beleg-
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schaften ebenfalls zum Streik aufzufordern. Etwa anderthalb Kilometer vom Sachsenwerk entfernt befand sich der VEB Sächsische Brücken- und Stahlhochbau (ABUS). Als gegen 10.00 Uhr die Kollegen vom Sachsenwerk die etwa 1500 ABUS-Mitarbeiter aufforderten, ebenfalls zu streiken und sich ihrem Protestzug anzuschließen, folgte ein kleiner Teil der Belegschaft. Der größere verharrte zunächst auf dem Gelände und wartete eine eilig einberufene Belegschaftsversammlung ab, auf der Partei- und Betriebsfunktionäre ausgebuht wurden. Anschließend sprach Wilhelm Grothaus, ein kaufmännischer Angestellter. Die Situation veränderte sich schlagartig. Die Belegschaft stimmte ihrem Redner zu. Grothaus, der bis 1932 der SPD und anschließend der KPD angehört hatte, forderte den Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Senkung der HO-Preise sowie die Verbesserung der Sozialfürsorge. Er schlug vor, eine Streikleitung mit zehn Mitgliedern zu wählen. Später bekannte Grothaus, dass es von vornherein vor allem um politische und weniger um soziale Forderungen gegangen sei. Die Belegschaft wählte die Streikleitung sogleich. Darunter waren drei SED-Mitglieder und drei Gewerkschaftsfunktionäre. Auch Grothaus, der aktiv am Widerstandskampf gegen die Nationalsozialisten teilgenommen und deshalb im Gefängnis gesessen hatte, war Mitglied der SED. Die Mehrheit in der Streikleitung waren Angestellte. Grothaus wurde zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Als Informationen im Werk eintrafen, dass in der Dresdner Innenstadt eine Demonstration stattfinden solle, beschloss man, im Werk die Arbeit niederzulegen und mitzumarschieren. Etwa zeitgleich traf die Meldung ein, im benachbarten Sachsenwerk werde in Kürze ein hochrangiger Regierungsvertreter sprechen. Kurz entschlossen entschied man sich, zunächst dorthin zu gehen. Etwa 1000 Belegschaftsangehörige zogen los. Das waren alle Mitarbeiter der Frühschicht. Im Sachsenwerk versammelten sich unterdessen Arbeiter und Angestellte aus mehreren Dresdner Betrieben, es mögen bis zu 5000 gewesen sein. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Otto Buchwitz sprechen würde. Buchwitz, ein alter Sozialdemo-
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krat, der von den Nationalsozialisten ins Zuchthaus eingesperrt worden war, versuchte die aufgebrachten Kundgebungsteilnehmer zu beruhigen. Seine Argumente verfehlten die erwünschte Wirkung. Er erläuterte langatmig die weltpolitische Lage und appellierte an die Versammelten, die Arbeit wieder aufzunehmen. Die Arbeiter grölten, johlten, pfiffen und riefen Forderungen. Konsterniert legte der 74-jährige, der seit 1898 der SPD und dann seit 1946 der SED angehörte, das Mikrofon beiseite. Nun trat Grothaus aufs Podium und verlangte nach dem Mikrofon. Die meisten kannten ihn nicht, aber als er sprach, merkten die Kundgebungsteilnehmer schnell, dass der Redner einer von ihnen war. Die Menge beruhigte sich und hörte Grothaus gespannt zu. Er berichtete von den Vorgängen bei ABUS und forderte den sofortigen Rücktritt der Regierung. Selbst Buchwitz gestand später, dass Grothaus «sehr geschickt» gesprochen habe. Nach dem Vorbild des Komitees von ABUS bildeten auch die Sachsenwerker eine Streikleitung. Im Anschluss formierte sich ein Demonstrationszug in die Dresdner Innenstadt. Dieser löste sich erst im Zentrum auf, weil die Rote Armee strategisch wichtige Plätze und Gebäude bereits besetzt hatte. Grothaus und die anderen Streikleitungsmitglieder fuhren nach Hause. Sie wollten einen Bericht und eine Resolution verfassen, um beide Schriftstücke als Forderungen Dresdner Arbeiter nach Berlin weiterzuleiten. In der Nacht zum 18. Juni sind die ersten sechs Mitglieder der Streikleitungen verhaftet worden, darunter Wilhelm Grothaus. Gegen ihn verhängte das Bezirksgericht Dresden am 23. Juli 1953 in einem Prozess gegen sechs angebliche Rädelsführer des 17. Juni 1953 in Dresden eine fünfzehnjährige Zuchthausstrafe. In seinem Schlusswort sagte Wilhelm Grothaus: «Es ist vielleicht ein merkwürdiger Zufall, aber die Verhandlung gegen uns hier heute findet genau in demselben Saal statt, in dem seinerzeit die Verhandlung gegen die Widerstandsgruppe Schumann [1944, Grothaus war Mitglied dieser Gruppe – d. Verf.] stattgefunden hat. Und ich weiß auch das, was Sie nicht wissen, nämlich die letzten Worte, die Schumann hier gesprochen hat: ‹Es wird einige Zeit vergehen, und dann werden Sie an der Stelle sitzen, wo wir heute sitzen. Und das Volk wird Sie richten. Und
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Sie werden dann das tun, was wir alle hier nicht tun: Sie werden um Ihr Leben zittern, weil Sie so entsetzlich feige sind.›» 1960 kam Wilhelm Grothaus frei und flüchtete in den Westen. Vor und während der Vorfälle im Sachsenwerk hatten sich überall in der Stadt weitere Betriebe dem Streik angeschlossen. Aus verschiedenen Richtungen strömten Demonstrationszüge in die Innenstadt. In Sprechchören und auf Schildern forderten die etwa 60 000 Demonstranten an verschiedenen Stellen der Stadt den Rücktritt der Regierung, Generalstreik und die Einheit Deutschlands. Auf dem Post- und Theaterplatz strömten am Nachmittag Tausende Menschen zusammen. Die Sicherheitskräfte begannen die Anwesenden zu zerstreuen, ohne dass sie dabei Waffen einsetzten. Den Theaterplatz räumten sowjetische Soldaten vollständig, dafür kamen immer mehr Menschen auf dem Postplatz zusammen. Hier befand sich einer der größten Verkehrsknotenpunkte Dresdens. An seiner Nordseite standen die berühmten Bauten aus dem 18. Jahrhundert, darunter der Zwinger, das Residenzschloss und die Hofkirche. Von dieser Kirche ließen Dachdecker eine zehn bis fünfzehn Meter lange Papprolle mit Parolen, die sich gegen die SED und ihren Staat richteten, herab. Gegen 16 Uhr sperrten KVP und Rote Armee sämtliche Zufahrtsstraßen zum Postplatz hermetisch ab. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in dem Kessel auf dem Postplatz etwa 20 000 Personen. Die Atmosphäre in Dresden blieb weitgehend friedlich. Zwar kam es an mehreren Stellen der Stadt zu Entwaffnungen von KVP-Angehörigen, auch zu leichteren tätlichen Angriffen, aber insgesamt blieben dies Randerscheinungen. Die wichtigsten öffentlichen Gebäude standen unter dem Schutz von sowjetischem Militär und KVP, sodass es zu keiner Erstürmung kam. Etwa 600 Demonstranten versuchten eine Untersuchungshaftanstalt zu stürmen und die politischen Gefangenen zu befreien. Aber sie kamen nicht einmal in die Nähe des Gefängnisses. Die sowjetische Armee hatte sich seit dem Vormittag gründlich auf ihren Einsatz vorbereitet und so die meisten Demonstrationszüge ohne Waffengewalt auseinandergetrieben.
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Am Abend herrschte in der Stadt wieder Ruhe. Das Militär hielt alle neuralgischen Punkte besetzt. Am nächsten Tag führten mehrere Betriebe den Streik fort, andere begannen erst mit Streiks, als bekannt wurde, dass Streikführer in der Nacht verhaftet worden waren. Sowjetische Soldaten besetzten einzelne Betriebe. Die Arbeiter nahmen unter diesem Druck fast überall ihre Arbeit wieder auf. Am Abend kam es auf dem Postplatz erneut zu einer Ansammlung von mehreren hundert Menschen. Nachdem sie sich nicht vertreiben ließen, schossen sowjetische Soldaten. Drei Jugendliche brachen zusammen und mussten verletzt in ein Krankenhaus gebracht werden. Auch der Volksaufstand war endgültig zusammengebrochen. Halle
Die Arbeiter des Lokomotiv- und Waggonbaus (LOWA) Ammendorf bei Halle waren die Ersten, die ihre Arbeit unterbrachen und von der Partei- und Betriebsleitung wissen wollten, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert werden würden. Etwa 300 Arbeiter zogen gegen 8.30 Uhr lautstark durch das Werksgelände zum Verwaltungsgebäude. Andere forderten die noch arbeitenden Kollegen auf, sich am Streik zu beteiligen. Über 2000 Waggonbauer versammelten sich vor dem Verwaltungsgebäude. Es erschien jedoch niemand von der Werksleitung. Eine junge Frau stellte sich auf einen Tisch und erklärte, dass die Lebensbedingungen in Halle miserabel seien und ihre Geduld am Ende sei. Alle sollten sich dem Streik der Berliner anschließen, es sei egal, unter welcher Regierung man lebe, wenn man nur besser leben könne. Während ihrer Rede riefen Zuhörer: «Arbeiter greift zur Macht! Tretet in den Streik! Nieder mit der Regierung!» Mittlerweile eingetroffene Vertreter der Betriebsleitung bemühten sich, die Situation zu entschärfen. Es entwickelte sich ein Tumult, und die Funktionäre mussten sich zurückziehen. Ein junger Arbeiter schlug dann unter großem Beifall der Streikenden vor, ins Zentrum von Halle zu marschieren und dem Rat des Bezirkes die Forderungen zu überbringen. Die Streikteilnehmer verließen den Betrieb und sammelten sich
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auf der Straße vor dem Werkstor. Gegen 9.30 Uhr setzte sich der Demonstrationszug mit 2000 bis 3000 Teilnehmern in Bewegung. Dieser war der Auslöser des Volksaufstandes in Halle. Die Waggonbauer marschierten auf einer fast zehn Kilometer langen, vom Vorort Ammendorf ins hallische Stadtzentrum verlaufenden, vierspurigen Verkehrsader. Die Demonstranten riefen Parolen gegen die SED-Regierung und forderten bessere Lebensbedingungen. Entlang des Demonstrationszuges befanden sich die meisten und größten Fabriken Halles. Vortrupps der Waggonbauer versuchten die Arbeiter der angrenzenden Betriebe, wenn diese nicht ohnehin schon streikten oder über einen Streik diskutierten, zum Mitmachen zu ermuntern; gelang dies nicht, drangen größere Gruppen in den entsprechenden Betrieb ein und «überzeugten» die anderen Arbeiter von der Streiknotwendigkeit. Entfernter liegende Betriebe wurden von entsandten Kurieren informiert. Die Demonstranten erreichten gegen 11.45 Uhr den Thälmannplatz (heute: Riebeckplatz). Der Platz war der verkehrsreichste Halles, direkt am Bahnhof gelegen. Mittlerweile war die Menge auf über 8000 Menschen angewachsen. Hier befand sich auch das Gebäude der SED-Kreisleitung, das mehrere Demonstranten zu stürmen versuchten. Wachleute schossen daraufhin mehrmals in die Luft. Dieser erste Waffengebrauch am 17. Juni in Halle überraschte die Angreifer, sie zogen sich schnell zurück. Der Demonstrationszug bewegte sich derweilen unbehelligt zum Gebäude des Kreis- und Bezirksgerichtes weiter. Gegen zwölf Uhr war das Gerichtsgebäude erreicht. Der Eingang war mit einem Eisengitter verschlossen. Ein Lastwagen der Aufständischen fuhr gegen das Tor und drückte es ein. Zwanzig bis dreißig Demonstranten stürmten in das Gebäude. Andere zerstörten Fenster im Erdgeschoss. Im ersten Stock fand gerade ein Prozess statt. Einige rammten die Gerichtstür ein, woraufhin der Bezirksrichter aus dem Gerichtssaal floh. Den Angeklagten, der wegen «imperialistischer Hetze» verurteilt werden sollte, holten die Demonstranten triumphierend aus dem Gerichtssaal.
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Da eine einheitliche Führung der Demonstration fehlte, begann der Demonstrationszug noch während der Besetzung des Gerichtsgebäudes allmählich auseinanderzufallen. Im Gegensatz zu kleineren Städten, die oft von einzelnen Betrieben beherrscht waren, oder zu Betrieben, in denen Streikleitungen mit bekannten Betriebsangehörigen wirkten, existierte für eine solche große Bewegung wie in Halle keine allgemein bekannte oder akzeptierte Führung. Immer mehr Arbeiter der Saalestadt, aber auch Studierende, Schüler, Angestellte, Hausfrauen und Rentner stießen hinzu. Die Anzahl der Streikführer im Demonstrationszug nahm kontinuierlich zu. Sie einigten sich untereinander nicht über das weitere Vorgehen. Nach der Besetzung des Gerichtsgebäudes teilte sich der Demonstrationszug in drei größere Kolonnen, eine zog zur SED-Bezirksleitung und zum Rat des Bezirkes, die Zweite begab sich zur Strafvollzugsanstalt II, und die Dritte bewegte sich zum Marktplatz. Vor der SED-Bezirksleitung hatten sich gegen 12.30 Uhr etwa 1000 Menschen versammelt. Zuerst wurden die Propagandatransparente auf dem Platz vor der Bezirksleitung heruntergerissen. Dann stürmten einige Dutzend Demonstranten das SED-Gebäude, bald hielten sich 300 bis 400 Aufständische in dem Haus auf. Die SED-Funktionäre verschanzten sich in ihren Zimmern. Nach wenigen Minuten verließ die Mehrzahl die SED-Bezirksleitung wieder, formierte sich zu einem neuen Marschblock und zog zum Rat des Bezirkes weiter. Die SEDMitarbeiter verließen nun fluchtartig durch die Hintertür ihre Arbeitsstätte. Einige wenige Demonstranten waren im Haus verblieben. Erst jetzt traf die Polizei ein, die nach einem Handgemenge von einem Funktionär aufgefordert wurde, einen jungen Arbeiter festzunehmen. Diese Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Der Demonstrationszug kehrte um und marschierte zur SEDBezirksleitung zurück. Kaum war der Zug dort angekommen, drangen etwa 1000 wütende Menschen in das Gebäude ein und entwaffneten die dort stationierten 16 Polizisten. Auch die zur Hilfe gerufene Verstärkung von 40 Polizisten überwältigten die Aufständischen und entwaffneten sie. Die Demonstranten ver-
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wüsteten die SED-Bezirksleitung erst richtig bei ihrem zweiten, durch die Verhaftung ausgelösten Ansturm. Danach nahm der Zug seinen Weg zum Rat des Bezirkes wieder auf. Dort kamen insgesamt 800 Menschen an und durchbrachen schnell einen kleinen Polizeikordon, bestehend aus 20 bewaffneten Polizisten, und erstürmten das Gebäude. Die Aggressivität der Angreifer hatte sich durch die gerade zurückliegenden Ereignisse verstärkt. Die Aufständischen entwaffneten nun Polizisten, indem sie selbst mit vorgehaltener Pistole den Schusswaffengebrauch androhten. Ältere Arbeiter wirkten beruhigend auf die Demonstranten ein und verhinderten ein Blutvergießen. Beim Sturm auf das SED-Gebäude sind zehn Polizisten so verletzt worden, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Im Gebäude des Rates des Bezirkes selbst zerstörten die Aufständischen die Propagandatafeln, warfen Akten und Bilder aus den Fenstern und zerschlugen Mobiliar. Gegen 13.30 Uhr hatte der letzte Angreifer das Haus wieder verlassen. Die Demonstranten eigneten sich im Laufe des Tages insgesamt fünf Lastwagen, zwei Lautsprecherwagen sowie zwei BMW an. Die beiden BMW gehörten SED-Funktionären, die aus den Pkw herausgezogen wurden und flüchten mussten. Mindestens ein Pkw diente allerdings weniger dem Aufstandsgeschehen. Zwei junge Arbeiter fuhren, nachdem sie das Auto erbeutet hatten, zu ihren Freundinnen und luden sie zu einer Spritztour ein. Währenddessen verbreiteten sich Aufrufe, am frühen Abend zu einer Kundgebung auf dem Hallmarkt zu erscheinen bzw. zum «Roten Ochsen», dem berüchtigten Zuchthaus Halles, zu kommen, um die politischen Häftlinge zu befreien. Hier war zugleich die MfS-Untersuchungshaftanstalt des Bezirkes Halle untergebracht. Am frühen Nachmittag standen 700 Demonstranten vor dem Zuchthaus. Steine flogen gegen das Tor. Vergeblich bemühten sich einige, mit einem Balken das Tor aufzurammen. Der Zuchthausleiter ließ die Demonstranten unterdessen über die Gefängnismauer hinweg mit kaltem Wasser bespritzen. Dann fuhr ein Lastkraftwagen rückwärts gegen das Tor und drückte die Torflügel auf. Etwa zeitgleich hatte der Chef der Polizei den Schieß-
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befehl erteilt. Als die Aufständischen den Innenhof des Zuchthauses stürmten, standen ihnen Polizisten gegenüber, die Warnschüsse abgaben. Als sich einige Demonstranten davon nicht beeindrucken ließen, schossen die Polizisten gezielt in die Menge. Drei Personen starben auf der Stelle, andere erlitten Schussverletzungen. Die Menge flüchtete, es gab nochmals Verletzte, weil einige von anderen überrannt wurden. Bei zwei weiteren Versuchen, das Gefängnis zu stürmen, sind zwei Männer erschossen und mehrere verletzt worden. Immer mehr Demonstranten zogen sich aus Angst um ihr Leben zurück. Gegen 16.00 Uhr vertrieben sowjetische Panzer die letzten Aufständischen vor dem «Roten Ochsen». Während des Sturmes auf die SED-Bezirksleitung und das Gebäude des Rats des Bezirkes hatte sich ein anderer Demonstrationszug, nachdem das Gerichtsgebäude gestürmt worden war, zu einem zweiten Gefängnis (Strafvollzugsanstalt II) in Halle bewegt. Dort hatten bereits am 15. Juni 1953 etwa 300 Menschen die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert. Nun begnügte man sich nicht mehr allein mit Forderungen. Steine flogen gegen Türen und Fenster. Polizisten wurden ihrer Uniformen entledigt und zum Teil entwaffnet. Aufständische rammten das Holztor auf, und etwa 30 bis 40 drangen gegen 12.30 Uhr in den Vorhof des Gefängnisses ein. Ein zweites Holztor versperrte ihnen zunächst den Weg in den Gefängnishof, ehe auch dieses unter wuchtigen Rammstößen aufflog. Mit Eisenrohren gelang es schließlich, die Eingangstür zum Gefängnisgebäude auszuhebeln. Aus dem Gebäude und schließlich vom Hof wurden die Demonstranten relativ schnell mit Waffengewalt wieder verjagt. Die Aufständischen verharrten vor dem Gefängniskomplex. Einige Dutzend zur Verstärkung herbeigeeilte KVP-Angehörige kamen, mit Karabinern ausgerüstet, hatten aber ihre Munition nicht dabei. Sie durften deshalb passieren, drei Kasernierte Volkspolizisten liefen zur Seite der Aufständischen über. Angesichts der Übermacht der Demonstrierenden hatte sich die Polizei mittlerweile darauf verlegt, zu diskutieren statt zu schießen. Die Situation schien in einem Patt zu enden.
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Ein einzelner Mann, ein Ingenieur, veränderte durch sein resolutes Auftreten die Situation. Zunächst forderte er vor dem Gefängnis die Entlassung einer Bekannten aus der Haft. Man verwies ihn an den Staatsanwalt. Er ging mit einer Abordnung dorthin und trug sein Ansinnen vor. Nach kurzen, aber heftigen Verhandlungen, die von einem Ultimatum der Aufständischen begleitet wurden, erließ der Bezirksstaatsanwalt die Anweisung, alle (politischen) Gefangenen mit einer Haftstrafe bis zu drei Jahren freizugeben. Dafür wurde er später entlassen. Wieder am Gefängnis angelangt, wurde das Schreiben des Bezirksstaatsanwalts verlesen. Die Gefängnisleitung versuchte ob des ungewöhnlichen Vorgangs die Aufständischen hinzuhalten. Die Demonstranten beharrten indes darauf, dass die Gefangenen bis 15.00 Uhr zu entlassen seien, sonst würde das Gebäude gestürmt. Als nichts geschah, griffen die Demonstranten das Gefängnis von zwei Seiten an, Polizisten wurden entwaffnet, entkleidet und tätlich angegriffen. Wenig später kamen die ersten Gefangenen, vorwiegend Frauen, heraus. Die Aufständischen brachen die meisten Zellentüren mit Brecheisen auf. Um weitere Zerstörungen zu verhindern, schlossen die Vollzugsbeamten schließlich alle Zellen auf, sodass bis gegen 16.00 Uhr alle 245 Häftlinge aus dem Gefängnis heraus waren. Nicht alle Sträflinge waren darüber erfreut, befürchteten sie doch, erneut eingesperrt und zu höheren Strafen verurteilt zu werden. Manche mussten regelrecht aus den Zellen getrieben werden. Andere stachelten die Demonstranten an, verhasste Aufseher zu schlagen. Die meisten der befreiten Häftlinge sind noch in der Nacht wieder eingefangen worden. Wenigen gelang die Flucht in den Westen. Unter den freigekommenen Häftlingen befand sich auch eine Frau, die der SED-Propaganda jahrzehntelang als «Beweis» für die These diente, der Volksaufstand sei ein «faschistischer Putsch» gewesen. Es handelte sich um Erna Dorn, die am 21. Mai 1953 wegen Naziverbrechen zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Sie soll als KZ-Aufseherin Gefangene misshandelt und in den Tod getrieben haben. Dorn hatte sich ausschließlich selbst belastet. Zeugen existierten nicht bzw. ver-
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schwanden spurlos. Nach ihrer Befreiung begab sich Dorn wie viele andere Mithäftlinge in die Stadtmission, wo sie Kleidung und Essen erhielt. Anschließend ging sie zum Hallmarkt und will ihrer eigenen Aussage nach auf der großen Kundgebung am Abend gesprochen haben. Nach allen quellengestützten Erkenntnissen hat aber auf keiner Kundgebung in Halle eine Frau gesprochen. Manche Zeitzeugen behaupten dies zwar heute, aber es ist unklar, inwiefern ihre Erinnerung über die Jahrzehnte getrübt oder gar durch die SED-Propaganda beeinflusst worden ist. Am Mittag des 18. Juni ist Dorn in das Gefängnis zurückgebracht worden. Allein wegen ihrer Selbstbezichtigung wurde sie am 22. Juni 1953 in einer Abendsitzung des Bezirksgerichts Halle zum Tode verurteilt und am 1. Oktober 1953 in Dresden hingerichtet. Seitdem firmierte sie in der SED-Propaganda als «SS-Kommandeuse». Der Schriftsteller Stephan Hermlin setzte ihr ein «literarisches Denkmal» mit seiner 1954 erschienenen Erzählung «Die Kommandeuse». Er trug damit maßgeblich dazu bei, die Propagandaformel vom «faschistischen Putsch» zu verbreiten. Die verschiedenen Demonstrationszüge zogen anschließend weiter durch Halle. Es kam zu einem Sturm auf eine SED-Stadtbezirksleitung, auch vor dem Polizeipräsidium versammelten sich zwischenzeitlich Menschen und forderten die Freilassung politischer Gefangener. Vor der Stadtverwaltung zogen einige Rotarmisten auf, die die Aufständischen daran hinderten, auch diese zu stürmen. Am Nachmittag war den Streikführern aus den Betrieben die Führung weitgehend entglitten. Um den Forderungen einen stärkeren Ausdruck zu verleihen, bildete sich gegen 14.00 Uhr ein zentrales Streikkomitee der Stadt Halle. Ein Redner gab die Forderungen über eine öffentliche Lautsprecheranlage auf dem Hallmarkt bekannt: Rücktritt der Regierung der DDR, freie Wahlen in ganz Deutschland und Abzug der Besatzungsmächte, Freilassung aller politischen Häftlinge sowie Senkung der HO-Preise um 40 Prozent. Außerdem wurde bekannt gegeben, dass um 18.00 Uhr eine Kundgebung stattfinden werde. An die Aufständischen richtete sich der Aufruf, Plünderungen zu unterlassen und die Besatzungsmacht nicht zu
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provozieren. Die Mitglieder des zentralen Streikkomitees, elf sind namentlich bekannt, stellten sich kurz vor. Zum Vorsitzenden bestimmte das Komitee den Inhaber eines Blumengeschäftes, den 40-jährigen Herbert Gohlke. Das Komitee bemühte sich in den nachfolgenden Stunden, die Bevölkerung Halles zu mobilisieren. Allerdings schlugen sowohl eine Besetzung der Radiostation als auch der Versuch, Zehntausende Flugblätter drucken zu lassen, fehl. Die großen Demonstrationszüge waren auseinandergefallen. Das MfS führte erste Verhaftungen durch, darunter befanden sich auch Aktivisten des Aufstands. Auch wenn es noch zu zwei vergeblichen Versuchen kam, öffentliche Gebäude zu stürmen, flaute die Bewegung allmählich ab. Zugleich überwanden SED und MfS ihren Schock und planten Gegenmaßnahmen. Wie sehr der Bezirk Halle mittlerweile in den Blickpunkt geraten war, zeigte auch der Umstand, dass am Nachmittag SED-Politbüromitglied Fred Oelßner in Halle eintraf und die Organisation und Koordinierung der Gegenmaßnahmen übernahm. Außerdem verhängte die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand, der am frühen Abend den Einwohnern Halles mittels Plakaten, Flugblättern und Lautsprecherdurchsagen bekannt gemacht wurde. Demonstrationen und Versammlungen waren fortan verboten, eine allgemeine Ausgangssperre galt zwischen 21.00 und 4.00 Uhr. Aus den Sommerlagern zurückbeorderte sowjetische Soldaten und aus anderen Städten angeforderte KVP-Einheiten begannen strategisch wichtige Punkte und Gebäude der Stadt zu sichern. Zufahrtsstraßen nach Halle wurden abgesperrt, um befürchtete Anfahrten streikender Arbeiter aus Leuna und Buna zu unterbinden. Menschenansammlungen trieben deutsche und sowjetische Soldaten auseinander, es kam zu immer mehr Verhaftungen. Gegen 18.00 Uhr hatten sich dennoch bis zu 60 000 Menschen auf dem Hallmarkt und in den angrenzenden Straßen versammelt. Die SED hatte dies verhindern wollen, scheiterte aber am Widerstand sowjetischer Offiziere. Diese erklärten, eine so große Menschenmenge sei kaum zu beherrschen. Um Tumulte zu vermeiden, zog man sich zurück. Eine der größten Kundgebungen des Volksaufstandes konnte beginnen.
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Die Protestveranstaltung dauerte eine Stunde. Es sprachen vier oder fünf Männer. Als Erster redete Herbert Gohlke. Er lobte den Mut aller Teilnehmenden, trotz der russischen Panzer auf den Hallmarkt gekommen zu sein. Um ihre Forderungen durchzusetzen, schlug er für den 18. Juni einen Generalstreik in Halle vor. In allen Betrieben sollten die Arbeiter Streikleitungen bilden. Ein anderer Redner forderte die deutsche Einheit und eine Revidierung der Oder-Neiße-Grenze. Zum Abschluss trat Gohlke nochmals an das Mikrofon und forderte die Massen auf, gemeinsam das «Deutschlandlied» zu singen. Kaum hatte er seine Rede beendet, begannen die Menschen auf dem Hallmarkt geradezu euphorisch zu singen. Schon während der letzten Ansprachen näherten sich sowjetische Panzer dem Hallmarkt. Während die meisten am Rand der Menschenmenge anhielten, fuhr ein Panzer im Schritttempo durch die Massen hindurch. Er bewegte sich sehr langsam und für die Menschen gefahrlos vorwärts. Drohend richtete er das Kanonenrohr auf die Tribüne. Von mehreren Seiten kamen weitere Panzer, die nun die Ansammlung auflösten. Viele gingen nach Hause, andere, etwa 5000 bis 6000, formierten einen Demonstrationszug und marschierten in Richtung Marktplatz los. Auf dem Platz selbst verharrten kurz vor 20.00 Uhr immer noch etwa 20 000 Menschen, sowjetische Soldaten versuchten mit Warnschüssen, die Menge auseinanderzutreiben. Auf dem Marktplatz fielen erneut Schüsse – aus deutschen Waffen –, als der Demonstrationszug dort ankam. Es gab eine Reihe von Verletzten. Ein Teil des Demonstrationszuges setzte seinen Marsch durch Halle unbeeindruckt fort. Vor dem Demonstrationszug wehte eine schwarz-rot-goldene Fahne. Vor der SED-Kreisleitung, die man erneut vergeblich versuchte zu stürmen, fielen wiederum Schüsse. Als die verbliebenen etwa 1500 Demonstranten am Gebäude der MfS-Bezirksverwaltung vorbeimarschierten und abermals das «Deutschlandlied» sangen, peitschten Schüsse aus dem Stasi-Haus auf die Demonstranten nieder. Ein junger Mann starb, mehrere erlitten schwere Verletzungen. Der Demonstrationszug löste sich auf, die meisten eilten nach Hause. Das Stadtzentrum wurde nun von deut-
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schen Polizisten geräumt. Es kam dabei zu zahlreichen Verhaftungen. SED und sowjetische Besatzungsmacht nutzten die Nachtstunden, um weitere bewaffnete Kräfte in Halle zu konzentrieren. Überall im Stadtzentrum, auf zentralen Plätzen und vor wichtigen Gebäuden waren sowjetische Panzer, Kanonen oder Maschinengewehre in Stellung gebracht worden. Viele Arbeiter erschienen am 18. Juni überhaupt nicht in ihren Fabriken. Trotz umfangreicher Versuche der SED und der Betriebsleitungen, erneute Arbeitsniederlegungen zu unterbinden, traten dennoch die Belegschaften von 34 Fabriken, von zwei Kaufhäusern, vom Bahnpostamt und von den Reichsbahnwerkstätten in den Streik. Damit beteiligten sich zwar weniger Unternehmen als am 17. Juni (55 Betriebe), aber es kamen neun Betriebe hinzu, deren Belegschaften am 17. Juni nicht gestreikt hatten. Außerdem erklärten die Beschäftigten des Waggonbaus Ammendorf und der Stahlbaufabrik, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden, würden sie abermals demonstrieren. Überall setzten die Arbeitnehmer die Betriebsgewerkschaftsleitungen ab und wählten Streikleitungen. Es fanden Belegschaftsversammlungen statt, deren Forderungen schriftlich festgehalten wurden. Sie ähnelten sich: Rücktritt der DDR-Regierung; freie, geheime, gesamtdeutsche Wahlen zur Herstellung der Einheit Deutschlands; Überprüfung aller Arbeitsnormen und Rücknahme der Normerhöhung; Senkung der HO-Preise um 30 bis 40 Prozent; Erhöhung der Renten; Freilassung aller politischen Häftlinge; Garantie der Rede- und Pressefreiheit; Abberufung aller SED- und Gewerkschaftsfunktionäre aus den Betrieben; würdige Beerdigung der Opfer des 17. Juni und Unterstützung der Angehörigen. Mit den Betriebsleitungen verhandelten die Streikleitungen zumeist vergeblich, da die meisten Forderungen die Kompetenzen eines Betriebsdirektors erheblich überschritten. Auf den Straßen kam es dauernd zu weiteren Verhaftungen. Mehrere Mitglieder der zentralen Streikleitung, darunter Herbert Gohlke, waren nach West-Berlin geflüchtet, andere wurden verhaftet. Am frühen Abend kam es auf dem Marktplatz erneut zu Schießereien. Etwa tausend Personen hatten sich versammelt. Die Poli-
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zei erschoss eine Frau, zwei weitere Verletzte waren zu beklagen. In der Bevölkerung begann die nackte Angst vor Verhaftungen und Schießereien zu siegen. Auf den Straßen kehrte Ruhe ein. Am 20. Juni 1953 nahmen schließlich alle Arbeiter – am 19. Juni hatten noch etwa 4000 gestreikt – ihre Arbeit wieder auf. In vielen Betrieben waren KVP-Einheiten stationiert, die jeden, der nicht arbeitete, sofort verhafteten. Vor einigen Betrieben standen weiterhin bedrohlich sowjetische Panzer. Der Ausnahmezustand ist erst am 11. Juli 1953 aufgehoben worden. Leipzig
Als in Leipzig die ersten Demonstrationszüge vormittags lautstark durch die Innenstadt zogen, glaubten Oberbürgermeister Erich Uhlich und andere SED-Funktionäre, dass Leipziger Einwohner spontan und ohne Genehmigung gegen die drohende Hinrichtung des Ehepaares Rosenberg in den USA protestierten. Julius und Ethel Rosenberg waren wegen Atomspionage für die Sowjetunion von einem Gericht zum Tode verurteilt worden. In den DDR-Medien ist nach der Urteilsverkündigung eine Propagandakampagne für die beiden «Friedenskämpfer an der unsichtbaren Front» entfesselt worden. Genützt hat es nichts. Die beiden Rosenbergs wurden in der Nacht vom 19. zum 20. Juni auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Die Beweislast gegen Ethel Rosenberg galt schon damals als sehr fragwürdig. Neuere Forschungen bestätigen das. Es handelte sich um politisch motivierte Justizmorde. In der Nacht vom 16. zum 17. Juni kam es zu ersten Streiks und Belegschaftsversammlungen in Leipziger Vorortbetrieben. Vielfach waren diese Bewegungen von dem Gedanken getragen, Solidarität mit den Berliner Arbeitern zu üben. Konnten solche Proteste oft noch durch den Einsatz von Betriebs- und Parteifunktionären beigelegt werden, so nahmen am Morgen viele Frühschichten ihre Arbeit erst gar nicht auf. Am Vormittag formierten sich erste Demonstrationszüge, die aus dem Leipziger Umland ins Zentrum der Messemetropole marschieren wollten, zunächst aber nur bis in den südöstlichen Stadtbezirk Probst-
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heida vorstießen. Unter lautstark skandierten Losungen wie «Nieder mit der Regierung», «Nieder mit der VP» oder «Wir fordern ein besseres Leben» zogen die Arbeiter durch die Straßen der Vororte und überzeugten die Kollegen anderer Betriebe, sich ihrem Protestzug anzuschließen. Während ein Teil der Belegschaften aus den Vororten in ihre Betriebe zurückkehrte und dort den Streik organisierte, zog ein anderer in die Leipziger Innenstadt. Zeitgleich hatten Bauarbeiter der Leipziger Bauunion auf mehreren Baustellen ihre Arbeit niedergelegt. Auch sie zogen zu anderen Betrieben und forderten die Industriearbeiter auf, zu streiken und zu demonstrieren. Im nordwestlich von Leipzig gelegenen Schkeuditz, einem Ort mit etwa 17 000 Einwohnern, schloss sich die Belegschaft des VEB Nagema beinahe vollständig den Demonstranten und Streikenden an. Gegen Mittag versammelten sich in Schkeuditz über 5000 Demonstranten. Ein Teil von ihnen marschierte in die Leipziger Innenstadt, sodass sich zu diesem Zeitpunkt aus mindestens zwei Richtungen Demonstrationszüge dorthin bewegten. Ab 11.00 Uhr befanden sich in der Leipziger Innenstadt mehrere Demonstrationszüge. Der stellvertretende Oberbürgermeister, Manfred Gerlach, 1953 auch stellvertretender Vorsitzender der LDPD, versuchte, sich einem entgegenzustellen. Die Demonstranten erkannten ihn, ließen ihn nicht zu Wort kommen und verprügelten ihn. Mit einem Transparent «Freie Wahlen» in der Hand zwangen sie ihn schließlich, dem Protestzug voranzumarschieren. Gerlach war von 1967 bis 1990 Vorsitzender der Blockpartei LDPD und letzter DDR-Staatsratsvorsitzender. Gegen 12.00 Uhr waren schätzungsweise 100 000 Menschen protestierend auf den Beinen. Aus der anfänglichen Arbeiterrevolte war ein Volksaufstand geworden. Über die genauen Abläufe existieren verschiedene Angaben, sodass sich kaum mehr exakt recherchieren lässt, ob es zu einer Kundgebung mit Rednern kam oder ob nur Forderungen skandiert worden sind. In der Beethovenstraße/Dimitroffstraße versuchten Tausende den Gebäudekomplex der Staatsanwaltschaft, des Bezirksgerichts und der Untersuchungshaftanstalt zu erstürmen. Schon
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Tage vor dem 17. Juni hatten sich hier immer wieder Menschen versammelt, um die Freilassung politischer Häftlinge zu erzwingen. Fast 400 waren aufgrund der Beschlüsse des «Neuen Kurses» freigekommen. Nun wollten die Leipziger Demonstranten auch die anderen herausholen. Zwar gelang es mit Hilfe von Rammböcken und Brechstangen, in das Gebäude der Staatsanwaltschaft einzudringen und Akten aus dem Fenster zu werfen, aber in die Untersuchungshaftanstalt gelangten die Demonstranten nicht, lediglich auf den Vorhof. Immer wieder peitschten den Demonstranten Schüsse aus Karabinern und Pistolen der Polizisten entgegen. Gegen 14.00 Uhr trafen die ersten sowjetischen Soldaten ein, die mit Warnschusssalven die Protestierenden verdrängten. Kurz nach 15.00 Uhr war das erste Todesopfer in Leipzig zu beklagen. Der 19-jährige Arbeiter Dieter Teich erlitt beim Angriff auf das Volkspolizeikreisamt in der Dimitroffstraße oder auf die Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße einen Brustdurchschuss und starb sofort. Die Demonstranten legten den Toten auf eine Krankentrage und trugen ihn auf ihren Schultern mit ständig wechselnden Trägern unter der Anteilnahme von Tausenden mit einem Schweigemarsch durch die Stadt zum Hauptbahnhof. Die blumenbedeckte Bahre kam dort gegen 18.00 Uhr an, wo die Leiche von sowjetischen Offizieren «beschlagnahmt» und die letzten sechs Träger der Bahre verhaftet wurden. Zur Radikalisierung trug die Besetzung und teilweise Zerstörung der FDJ-Zentrale bei. Funktionäre, die sich ängstlich in ihren Zimmern verbarrikadiert hatten, wurden verprügelt, Polizisten entwaffnet und deren Karabiner auf den Bordsteinkanten zerschlagen. Noch vor der Verkündung des Ausnahmezustandes um 16.00 Uhr – er galt ab 19.00 Uhr – fuhren zwei sowjetische Panzer in der Ritterstraße vor dem FDJ-Gebäude vor, was zur Folge hatte, dass die Besetzergruppe das Haus fluchtartig verließ. Neben dem FDJ-Gebäude belagerten Demonstranten unter anderem die Zentrale des FDGB, das Telegrafenamt, Garagen der MfS-Bezirksverwaltung, HO- und Konsum-Läden, Zeitungskioske, das Druckhaus der Leipziger Volkszeitung, den Hauptbahnhof und das Gebäude des Mitteldeutschen Rund-
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funks in Leipzig, welches gestürmt und zum Teil verwüstet worden ist. Mehrere Stunden konnte hier der Rundfunkbetrieb gestört werden. Auf dem Leipziger Markt ging der Pavillon der Nationalen Front in Flammen auf und brannte aus. Auf einem eigens herbeigeschafften Piano spielten dabei ausgelassene Bürger die mittlerweile in der DDR verpönte Jazzmusik. Vor dem «Volkshaus», dem Sitz des FDGB, war den Demonstranten ein ranghoher Funktionär der Stadt mutig entgegengetreten. Seinen Mut bezahlte er mit einem für ihn erniedrigenden Vorgang, der die Macht des Volkes symbolisierte. Die Protestierenden zwangen ihn, einem von Bauarbeitern angeführten Demonstrationszug voranzuschreiten. Um seinen Hals hängten ihm die Arbeiter ein Schild mit Losungen gegen die Regierung. Allerorten in der Stadt begleitete die Demonstrationszüge das «Deutschlandlied». Auch waren revisionistische Töne, die etwa nach einer Rücknahme der Oder-Neiße-Grenze verlangten, unüberhörbar. Die heftigsten Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und bewaffneten Kräften ereigneten sich zwischen den Mittagsund frühen Abendstunden. Kurz nach 19.00 Uhr fand der letzte massive Einsatz von Sicherheitskräften statt; gegen 22.00 Uhr herrschte in der Stadt Ruhe. Am nächsten und übernächsten Tag kam es noch zu Streiks in verschiedenen Betrieben, die aber nicht mehr die Qualität des 17. Juni erreichten. Noch am 22. Juni gab es Versuche, Arbeitsniederlegungen zu initiieren. Sie blieben erfolglos. Vor allem forderten Arbeiter nun, ihre verhafteten Kollegen freizulassen. Insgesamt legten zwischen dem 17. und 19. Juni mindestens 30 000 Beschäftigte in Leipzig in 81 Betrieben ihre Arbeit nieder. In den Streikleitungen dominierten Arbeiter (75 %), die zumeist zwischen 28 und 43 Jahre alt waren. Frauen waren wie überall in der DDR deutlich unterrepräsentiert und stellten nur fünf Prozent der Streikleitungsmitglieder. An den öffentlichen Demonstrationen und Unruhen beteiligten sich ungefähr 100 000 Menschen. Der Volksaufstand konnte auch in Leipzig nur durch den Einsatz sowjetischer Soldaten niedergeworfen werden. Bis zum frühen Nachmittag war der Polizei der Gebrauch von Waffen nicht erlaubt. Erst als es zu Versuchen kam,
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Gebäude zu erstürmen, erteilten die örtlichen Verantwortlichen zum Teil den Schießbefehl. Nach 17.00 Uhr gab der Chef der Bezirksbehörde der Volkspolizei den generellen Befehl, mit allen Mitteln gegen «Ruhestörer» vorzugehen. Einen zentralen Einsatzbefehl des MdI in Berlin zum Schusswaffengebrauch hat es nicht gegeben. Die sowjetische Armee übernahm die Kontrolle in Leipzig erst, nachdem die ersten Todesopfer zu beklagen waren. Magdeburg
Die Elbestadt war ein Zentrum des Schwermaschinenbaus. Hier gab es mehrere große Werke mit Zehntausenden Beschäftigten. In den frühen Morgenstunden, noch vor Schichtwechsel, kam es zu ersten Beratungen zwischen SED-Bezirksleitung, SED-Betriebsleitungen und örtlicher Polizei. Das Problem war, dass niemand wusste, worauf man sich eigentlich vorzubereiten hatte, da es keinerlei außergewöhnliche Anzeichen für Streiks oder Unruhen bis zum Morgen des 17. Juni gegeben hatte. Ab 7.00 Uhr gingen dann beim Einsatzstab in Magdeburg im Abstand von wenigen Minuten immer bedrohlichere Meldungen ein. Zunächst hieß es, sechzig Arbeiter im Karl-Marx-Werk hätten die Arbeit niedergelegt. Kurz darauf, gegen 7.30 Uhr, kam die Meldung, in Magdeburg-Neustadt hätte sich der (erste) Demonstrationszug, bestehend aus 150 Menschen, gebildet. Noch schien die Situation überschaubar. Doch schon bald mussten die Verantwortlichen einsehen, dass ihr Konzept, in Magdeburg kein «Berlin» entstehen zu lassen, fehlgeschlagen war. Immer mehr Menschen forderten in Betrieben und auf Straßen unüberhörbar: «Magdeburger folgt den Berlinern!» Die Arbeiter der Formerei im Ernst-Thälmann-Werk beendeten als Erste die Diskussion über die Berliner Ereignisse, legten um 7.30 Uhr die Arbeit nieder, formierten sich zu einem Demonstrationszug und zogen durch das gesamte Werk. Gegen 9.00 Uhr war der Protestzug auf etwa 5000 Teilnehmer angeschwollen, der gesamte Betrieb mit 6200 Beschäftigten in der Frühschicht war in den Ausstand getreten. Nachdem die Produktion stillgelegt worden
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war, verließ der Demonstrationszug das Betriebsgelände. Die Thälmann-Werker forderten freie Wahlen, die Freilassung der politischen Häftlinge, ein wiedervereintes Deutschland sowie den Rücktritt der DDR-Regierung. Als sie am Dimitroff-Werk ankamen, fanden sie von der Polizei verschlossene Tore vor. Die gesamte Belegschaft legte die Arbeit nieder, folgte ihren Kollegen und setzte sich in Richtung Zentrum in Bewegung. Auch das Liebknecht-Werk, der zweitgrößte Betrieb Magdeburgs nach den Thälmann-Werken mit unwesentlich weniger Beschäftigten, schloss sich den Streikenden und Demonstranten an. Der Demonstrationszug war bis zum Buckauer Tor auf über 20 000 Menschen angewachsen. Die Kunde von diesen ungeheuerlichen Vorgängen verbreitete sich schnell in der Stadt. Da die Bewegung über keine einheitliche Führung verfügte, war den meisten Demonstrationsteilnehmern, nachdem sie sich erst einmal auf der Straße befanden, nicht klar, was nun eigentlich geschehen sollte. Aus verschiedenen Himmelsrichtungen bewegten sich Protestzüge in die Innenstadt. Wie viele Menschen es insgesamt waren, die sich mittags und nachmittags an den Brennpunkten in der Stadt aufhielten, lässt sich wie in den anderen Großstädten nicht zweifelsfrei belegen. Aus den Akten kann etwa auf 50 000 geschlossen werden. Gegen 11.00 Uhr trafen auf dem Hasselbachplatz, einem Magdeburger Verkehrsknotenpunkt, Tausende Demonstranten ein. Die Züge hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt friedlich durch die Stadt bewegt. Selbst als das erste Volkspolizeikreisamt gestürmt wurde, kam es nicht zu tätlichen Auseinandersetzungen. Die Polizei hatte ihre Waffen weggeschlossen und sich aufs Diskutieren verlegt. Die SED-Kreisleitung, der FDGB-Bezirksvorstand und die FDJ-Bezirksleitung wurden besetzt. Je länger die Demonstrationen andauerten, umso mehr Gewalt wandten die Demonstranten nun an. Gegen 11.00 Uhr strömten einige Personen in die Redaktion und Druckerei der «Volksstimme», der SED-Tageszeitung. Was die Demonstranten dort genau wollten, blieb offen und wurde in einem späteren Prozess auch gar nicht thematisiert. Die stellvertretende Chefredakteurin meinte einen Tag später, die Demonstranten hätten Flugblät-
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ter oder eine eigene Zeitung drucken wollen. Mehrere Arbeiter aus dem Thälmann-Werk verprügelten den Chefredakteur und sieben weitere Redaktionsmitglieder. Kurz nach 12.00 Uhr besetzten Demonstranten für kurze Zeit den Stadtfunk. Ein Arbeiter sprach zu den Magdeburgern in ruhigem Ton und erklärte, womit er nicht einverstanden und warum es zu Streiks und Demonstrationen gekommen sei. Das Gebäude der SED-Bezirksleitung wurde ebenso gestürmt und zum Teil verwüstet wie kurze Zeit später der Rat des Bezirkes. Das geschah alles noch vor 12.00 Uhr. Zur gleichen Zeit ging die Nachricht, dass sich immer mehr Demonstranten in Sudenburg vor dem Bezirksgericht, der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, der Untersuchungshaftanstalt und dem MfS-Gefängnis (alles auf einem Areal gelegen) sammelten, wie ein Lauffeuer durch Magdeburg. Vor dem Gelände hatten sich schließlich 10 000 bis 15 000 Menschen eingefunden. Da die Tore verschlossen waren, drangen einige Demonstranten von den angrenzenden Bahngleisen auf das Gelände ein. Vor und auf dem Gelände entwaffneten die Magdeburger zahlreiche Polizisten und rissen ihnen die Schulterstücke ab. Als erste Gebäude wurden das Gericht und die BDVP gestürmt und verwüstet. Bis zu 5000 Strafakten flogen aus den Fenstern und gingen überwiegend in Flammen auf. Zugleich versuchten andere Demonstranten, das Tor zur Haftanstalt aufzubrechen, was zunächst misslang. Entwaffnete Polizisten dienten als Kugelfang, damit nicht mehr vom Innenhof auf die Demonstranten geschossen wurde. Zugleich feuerten nun auch Protestierende aus Fenstern des Gerichtsgebäudes auf den Innenhof des Gefängnisses. Von durch das Gefängnistor fliegenden Kugeln wurden zwei VP-Angehörige getroffen und kamen ums Leben. Auch MfS-Mitarbeiter versuchten die Menge abzuwehren. Ein MfSler starb dabei. Wie viele Tote die Demonstranten zu beklagen hatten, ist bisher nicht zweifelsfrei festgestellt worden. Obwohl es gelungen war, das Haupttor zu zerstören – es wurde niedergebrannt –, konnte das MfS-Untersuchungsgefängnis nicht erstürmt werden. Mit Feuerwehrschläuchen und kaltem Wasser wurden die
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Massen immer wieder zurückgedrängt. Die sowjetische Armee schickte schließlich nach dringenden Hilferufen ihrer deutschen Genossen Panzer und Mannschaftswagen nach Sudenburg, die die Lage zu kontrollieren begannen. Zwar empfing diese ein gewaltiger Steinhagel, einzelne Jugendliche klammerten sich sogar an die Panzerrohre. Aber Schüsse ließen die von dem Panzereinsatz überraschten Demonstranten schnell von ihrem Vorhaben Abstand nehmen, die Haftanstalt zu erstürmen. Panzer versperrten den Weg. Gegen 18.00 Uhr waren alle Demonstranten vertrieben. Der Einsatz von Schusswaffen schockte die Magdeburger. Die Nachricht verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt. Auf dem nur wenige Kilometer entfernten Alten Markt fand zur selben Zeit eine Demonstration statt. Die Versammlung berief eine zehnköpfige Delegation, die Oberbürgermeister Philipp Daub gegen 13.00 Uhr Forderungen überbrachte, darunter neben den bekannten auch die, alle Polizisten, die auf Magdeburger geschossen hatten, öffentlich bekannt zu geben. Daub versprach, eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung einzuberufen und dieser die Forderungen zu übermitteln. Es blieb bei diesem Versprechen. Sowjetische Soldaten lösten die Versammlung auf dem Markt auf. Neben dem Gefängnis in Sudenburg befand sich in der nördlich gelegenen Neustadt am Moritzplatz ein zweites Gefängnis. Hier hatte sich bereits am Vormittag eine kleinere Gruppe eingefunden, die sich gegen Mittag aber zerstreute. Offenbar von den Ereignissen in Sudenburg angestachelt, sammelten sich nach 12.30 Uhr am Moritzplatz immer mehr Menschen, die nunmehr lautstark die Freilassung aller politischen Gefangenen forderten. Der Anstaltsleitung stellten die Demonstranten das Ultimatum, bis 15.30 Uhr alle Häftlinge freizulassen, sonst werde das Gebäude gestürmt. Im Gegensatz zu Sudenburg verzichtete die Polizei am Moritzplatz auf jeglichen Waffeneinsatz. Kurz bevor das Ultimatum ablief, begannen die Protestierenden auf das Gefängnistor mit Äxten, Brecheisen und Hämmern einzuschlagen, die daneben befindliche kleinere Pforte gab nach, und so konnte auch das größere Tor geöffnet werden. Die
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Polizisten zogen sich zurück. Insgesamt kamen 221 Häftlinge frei. Die massive Präsenz der Roten Armee ließ in den frühen Abendstunden auf den Straßen und Plätzen Magdeburgs relative Ruhe einkehren. Es herrschte Ausnahmezustand und ab 21.00 Uhr Ausgangsverbot. Auf den Straßen fuhren mobile Einsatzkommandos, die Verhaftungen vornahmen. Da sowjetische Armee-Einheiten wichtige Großbetriebe und zentrale Staatsund Parteigebäude sowie Verkehrsknotenpunkte besetzten, ist die mächtige, fast die gesamte Stadt umfassende Streikbewegung erstickt worden. Zwar streikten noch Tausende am nächsten Tag und am 19. Juni immerhin noch einige Hundert, aber Demonstrationsversuche wurden nun schon im Ansatz gewaltsam unterdrückt und vermeintliche Führungspersönlichkeiten sofort verhaftet. Bildeten sich neue Streikleitungen, sind diese sofort festgenommen worden. Ab 20. Juni arbeiteten in Magdeburg alle Betriebe wieder.
4. Der Aufstand in der Provinz Die Dramatik und historische Bedeutung des Aufstands im Juni 1953 ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Erhebung nicht nur Großstädte erfasste, sondern sich gleich einem Flächenbrand über das gesamte Territorium der DDR erstreckte. In über 700 Orten kam es zu Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen, öffentlichen Ansammlungen und anderen Ereignissen, die im Zusammenhang mit dem Volksaufstand standen, davon 500 Orte mit weniger als 10 000 Einwohnern. Mecklenburg-Vorpommern
Die drei nördlichen DDR-Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg zählten nicht zu den Zentren der Volkserhebung. Zwar gab es in mehr als siebzig Städten und Gemeinden Aktio-
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nen, die von Streiks über Demonstrationen bis hin zu Versuchen, politische Gefangene zu befreien, reichten. Aber insgesamt blieb die Volkserhebung relativ unterentwickelt. Dazu trugen drei Umstände bei. Erstens war der Norden relativ dünn besiedelt und agrarisch geprägt, sodass die soziostrukturellen Verhältnisse im Vergleich zu anderen Regionen der DDR für einen Aufstand ungünstig ausfielen. Hinzu kam zweitens, dass die Nachrichten aus den Zentren des Volksaufstands nur langsam in den Norden durchsickerten. Schließlich führte dieser Umstand drittens dazu, dass sich Polizei, MfS, SED und die sowjetische Armee im Norden besser auf Unruhen vorbereiten und so Streik- und Demonstrationsversuche oftmals bereits im Keim ersticken konnten. Zentren des Geschehens im Norden stellten die Hafen- und Werftstädte Rostock und Warnemünde, Wismar, Wolgast sowie Stralsund dar. In den meisten Städten und Gemeinden kam es erst am 18. Juni zu Aktionen, so etwa in Wismar. Dort streikte die Werft morgens geschlossen. Als sich sowjetische Truppen im Laufe des Vormittags auf Forderung der Arbeiter allmählich aus der Werft bzw. aus deren Nähe zurückzogen, nahmen die meisten Arbeiter ihre Arbeit wieder auf. Die Peenewerft in Wolgast wurde am 18. und 19. Juni bestreikt, allerdings gelang es hier nicht, die Belegschaft restlos zu mobilisieren. Anders sah es in Stralsund aus, wo am Morgen des 18. Juni die gesamte Werft in den Ausstand trat und über 5000 Arbeiter eine Streikleitung wählten. Währenddessen versuchten SEDMitglieder und Polizisten auf das Werftgelände zu gelangen, um die Belegschaft zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Als das nicht ausreichte, zogen sowjetische Soldaten und Panzer vor der Werft auf. Zugleich trafen Bauarbeiter ein, die den Werftarbeitern solidarisch zur Seite sprangen. Am frühen Nachmittag begann sich die Bewegung trotz hoher Militärpräsenz auf die Innenstadt auszuweiten. Der Straßenbahnverkehr kam zum Erliegen. Die KVP hatte vorsorglich die Kreisdienststelle des MfS besetzt und so vor einer Erstürmung geschützt. Die Unruhen dauerten bis zum 23. Juni an, auch wenn sie ihre Heftigkeit am nächsten Tag bereits wieder verloren hatten und sich die
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Auseinandersetzungen vorrangig in den Betrieben und vor allem auf der Werft abspielten. Von Stralsund sprang der Funke auch auf die größte deutsche Insel, auf Rügen, über. Aktionen sind aus Bergen, Binz, Prora und Putbus überliefert. Bei Glowe arbeiteten seit 1951 10 000 Arbeiter unter schlechten Bedingungen, um einen neuen Hafen für die sowjetische Armee zu errichten. Unter den Arbeitern befanden sich Tausende Häftlinge, die Zwangsarbeit leisten mussten. Am Morgen des 18. Juni ruhte die Arbeit, die Bauarbeiter wählten eine Streikleitung, und die Häftlinge blieben in ihren Baracken. KVP-Angehörige der unweit gelegenen Garnison in Prora zogen nach Glowe, um den Aufstand niederzuschlagen. Gemeinsam mit sowjetischen Einheiten gelang es ihnen. Wenige Tage später, nachdem die Streikführer vom MfS verhaftet worden waren, sind die Bauarbeiter entlassen und die Häftlinge in andere Zuchthäuser verschickt worden. Das Bauvorhaben Glowe fand ein abruptes Ende. Aber nicht nur in Küsten- oder küstennahen Städten und Gemeinden kam es zu Streiks und Demonstrationen, sondern ebenso im Hinterland. Beteiligt waren fast alle größeren Städte. In Boitzenburg an der Elbe streikten die zwei größten Werke. Hier ließen die sowjetischen Besatzer erst am 19. Juni vier Panzer auf dem Marktplatz auffahren, was ein Indiz dafür ist, dass die Unruhen drohten, sich auszuweiten. In Parchim trieben sowjetische Soldaten streikende Arbeiter in die Betriebe zurück und zwangen sie mit Waffengewalt zur Arbeitsaufnahme. In Anklam legten die Belegschaften aller wichtigen Betriebe die Arbeit nieder, in Greifswald dauerten die Streiks mehrerer Betriebe bis zum 23. Juni an. Während in den meisten Städten und Gemeinden die Aktionen erst am 18. Juni begannen, kam es in Güstrow bereits am 16. Juni zu einer öffentlichen Demonstration. Für diesen Tag war die Freilassung eines Mannes angekündigt worden, dem zwei größere Betriebe gehörten. Am Morgen des 16. Juni versammelten sich mehr als 400 Personen vor dem Gefängnis von Güstrow, um den zu Unrecht inhaftierten Mann zu begrüßen. Als dieser gegen 10.30 Uhr tatsächlich das Gefängnis verlassen durfte, begrüßten ihn die Güstrower mit laut-
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starkem Jubel und vielen Blumen. Als er dann in einer kurzen Ansprache für den Empfang dankte, kam aus der Menge der Vorschlag, nun gleich für bessere Lebensverhältnisse zu demonstrieren. Gegen Mittag löste sich die Ansammlung auf. Am nächsten Tag blieb es in Güstrow weitgehend ruhig, erst am Abend gab es wieder kleinere Demonstrationsgruppen und eine Kundgebung auf dem Marktplatz. In Grabow, einer Stadt mit etwas mehr als 8.000 Einwohnern unweit von Ludwigslust, versammelten sich am späten Nachmittag des 17. Juni auf dem Marktplatz mehrere hundert Einwohner zu einer Kundgebung. Sie forderten die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, verlangten den Abzug der Besatzungstruppen, sprachen sich für die Wiedervereinigung Deutschlands aus und sangen das «Deutschlandlied». Es kam zu gewalttätigen Übergriffen auf Funktionäre, so sind der SED-Kreissekretär und der Vorsitzende des Rates der Stadt verprügelt worden. Nicht einmal gegenüber den herbeigerufenen sowjetischen Truppen zeigte man Respekt. Deren Aufforderung, den Marktplatz zu räumen, wurde mit einem Pfeifkonzert beantwortet. Erst als die Truppen mit massiver Gewaltanwendung drohten, zerstreute sich die Menge. Noch am selben Abend verhaftete das MfS die Wortführer. In der nur wenige Kilometer entfernt liegenden Kreisstadt Ludwigslust kam es dagegen am 17. Juni zu einer koordinierten Streikaktion örtlicher Betriebe. Ausgangspunkt waren die offene Solidarität mit den Arbeitern in Berlin und die Forderung nach freien Wahlen. In Belegschaftsversammlungen schlug den Funktionären massenhafte Ablehnung entgegen. Die DDR wurde als Polizeistaat charakterisiert. Diese Vorgänge wiederum übertrugen sich auf den gesamten Kreis, in vielen kleinen Dörfern kam es zu spontanen Versammlungen und Kundgebungen. Zur einzigen Belagerung eines Gefängnisses im Norden der DDR kam es am Morgen des 17. Juni in Teterow. Mehrere hundert Personen hatten sich hier versammelt, um die Freilassung aller politischen Häftlinge zu verlangen. Als die Staatsorgane tatsächlich drei Gefangene aus taktischen Gründen freiließen, löste sich die Menge weitgehend auf. Als gegen 18.00 Uhr der
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Ausnahmezustand verhängt wurde, zogen erneut bis zu 2000 Demonstranten vor das örtliche Gefängnis und forderten den Abzug der sowjetischen Truppen, freie Wahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen und Wiedervereinigung. Während die deutschen Polizisten vor der Menge zurückwichen, beendete eine Einheit der Roten Armee die Demonstration. Mit Schusssalven über die Menge hinweg und der Warnung, scharf in die Menge zu schießen, erreichte sie es, die Demonstration zu beenden. Noch am selben Abend verhafteten MfS und Polizei 22 Personen. Zwei Tage später, am 19. Juni 1953, versammelten sich vor der Haftanstalt in Teterow erneut Menschen, um die Freilassung politischer Häftlinge zu erwirken. Die Polizei nahm 19 Verhaftungen vor. Brandenburg
Zwischen dem 17. und 21. Juni 1953 kam es in über 150 brandenburgischen Städten und Gemeinden zu Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen. Am bekanntesten wurde ein Marsch durch die Westsektoren Berlins ins Zentrum Ost-Berlins von zehn- bis fünfzehntausend Arbeitern aus Hennigsdorf, Hohenschöpping/Velten, Oranienburg und einigen anderen Orten am nördlichen Rand Berlins, die sich teilweise erst in West-Berlin vereinten. Bereits am 16. Juni hatten Belegschaftsversammlungen in den großen Betrieben Hennigsdorfs und auf den Baustellen stattgefunden. In der Nacht zum 17. Juni wurde der Streik beschlossen. Mit Anbruch der Morgenschichten standen alle Räder still. In militärähnlichen Marschformationen bewegten sich die Arbeiter singend durch die Straßen und rissen die Absperrungen an den Sektorengrenzen ein. Unterwegs auf ihrem Marsch nach Ost-Berlin erfuhren sie von vielen Berlinern auf vielfältige Weise Solidarität. Die Westberliner Polizei schirmte den Verkehr ab und ließ die Menge passieren. Gegen Mittag in Ost-Berlin angekommen, ließen sie ihre Wut besonders am Walter-Ulbricht-Stadion, direkt an der Grenze zu West-Berlin in Berlin-Mitte, aus. Von dort zogen sie weiter zum Potsdamer Platz, von dem sie sich aber bald wieder ins sichere West-Berlin
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zurückziehen mussten, weil die sowjetische Armee mittlerweile dazu übergegangen war, scharf zu schießen. In allen Landkreisen des Bezirks Potsdam, die an Berlin angrenzten, brachen Streiks und Demonstrationen aus. Im Kreis Zossen, südlich von West-Berlin gelegen, bildeten Bauarbeiter in Ludwigsfelde den Ausgangspunkt von Streiks und Demonstrationen. Die Arbeitsniederlegung von rund 1000 Bauarbeitern, die ihren Protest mit einer Demonstration öffentlich bekundeten, griff vormittags auf das Industriewerk über, in dem gegen 11.00 Uhr die gesamte Produktion ruhte. Als Verhandlungen zwischen der Werksleitung und einer aus 27 Personen bestehenden Streikleitung scheiterten, beschloss die Belegschaft, das Werk zu verlassen und auf den Straßen Ludwigsfeldes zu demonstrieren. Etwa 3000 weitere Arbeiter beteiligten sich. Zentrum des Aufstandes im Kreis Potsdam war allerdings zunächst Potsdam selbst. Außerdem kam es in Werder und insbesondere in Teltow zu größeren Streikaktionen. In Wusterhausen und Bantikow, Kreis Kyritz, initiierten Bauern maßgeblich die Demonstrationen. Im südwestlichen Brandenburg, in Niemegk, bildete sich bereits am frühen Vormittag ein Demonstrationszug. Der größte Industriestandort im Bezirk Potsdam befand sich in der Stadt Brandenburg, in der 1953 etwa 90 000 Menschen lebten. Bereits kurz nach 7.00 Uhr hatte sich ein erster Demonstrationszug mit etwa 3000 Teilnehmern formiert. Kurz nach 9.00 Uhr standen Tausende Menschen vor dem Kreisgericht, wo sich auch die Untersuchungshaftanstalt befand. Die zur Sicherung eingesetzten Polizisten durften nicht schießen. Einige entledigten sich ihrer Uniformen und Waffen und liefen zu den Protestierenden über. Eine Delegation der Demonstranten kam in den Zellentrakt und verlangte die Entlassung aller politischen Häftlinge. Ein Kreisrichter legte alle Akten der Häftlinge vor, und die Delegation entschied, wer freizulassen war. Sie führte den Richter anschließend in Handschellen vor das Gebäude. Dort schlugen ihn aufgebrachte Demonstranten – er war stadtweit bekannt – derart nieder, dass er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste.
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Gegen 12.00 Uhr lösten Kampfverbände der sowjetischen Armee die Demonstration vor dem Gerichtsgebäude auf. Zuvor hatten bereits gegen 10.00 Uhr mehr als 1000 Demonstranten die SED-Kreisleitung gestürmt. Auch den Gebäuden des FDGB, der FDJ, der KVP-Kreisregistrierabteilung und des Rates des Kreises erging es nicht anders. Nach 12.00 Uhr sammelten sich immer mehr Menschen vor dem Volkspolizeikreisamt, in dem auch der Krisenstab der Stadt tagte. Kurz vor 13.00 Uhr standen vor dem Gebäude zwischen 6000 und 10 000 Menschen. Die Feuerwehr versuchte, die Massen mit Wasser zurückzudrängen. Aus dem Gebäude heraus schossen Polizisten. Eine Kugel traf einen Demonstranten tödlich in den Kopf, ein zweiter Mann ist schwer verletzt worden. Die Aufständischen ließen daraufhin ein regelrechtes Steinbombardement auf das Haus niederprasseln. Die Polizisten versteckten sich im Keller und legten ihre Waffen ab. Der Chef des Volkspolizeiamtes ist deshalb einige Tage später seines Amtes enthoben worden. Wiederum mussten sowjetische Einheiten den Aufstand niederschlagen. Nördlich von Brandenburg, in der Kreisstadt Rathenow (30 000 Einwohner), demonstrierten am Vormittag etwa 8000 Menschen. Der Demonstrationszug führte zum Marktplatz, wo ein Redner sprach. Wie dieser Mann skandierten auch die Protestierenden: «Wir wollen unseren Bürgermeister Szillat wiederhaben!» Der ehemalige SED-Bürgermeister Rathenows (1945– 1950), Paul Szillat, war 1950 verhaftet und 1951 in einem Schauprozess zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Szillat kam erst 1956 frei. Nach der Kundgebung begann sich der Protestzug aufzulösen. Doch jetzt sollte das eigentliche Drama erst beginnen. Zur selben Zeit ging der Wachmann Wilhelm Hagedorn (geb. 1894), Leiter des HO-Betriebsschutzes, ins HO-Kaufhaus zu seiner Frau Helene und forderte sie auf, mit ihm nach Hause zu gehen. Bereits kurz nach Kriegsende war Hagedorn als Mitarbeiter der politischen Polizei tätig gewesen. Er war nach eigenen Angaben seit 1920 Mitglied der KPD und später des militanten «Roten Frontkämpferbundes». Von Ende 1949 bis Mai 1951 arbeitete er als Kommissar im MfS. Er schied krankheitsbedingt aus und war
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fortan Wachmann. Ihm wurde nachgesagt, als sowjetischer Agent gearbeitet und die Bevölkerung ausspioniert zu haben. 1951 soll er in einer Gaststube damit geprahlt haben, dass er 300 Menschen als «Faschisten» und «imperialistische Agenten» entlarvt hatte, die anschließend verhaftet und verurteilt worden seien. Hagedorn war in Rathenow so verhasst, dass sich mit ihm niemand in der Öffentlichkeit zeigte und selbst viele SED-Genossen vom Tisch aufstanden, wenn der Spitzel sich hinzusetzte. Als das Ehepaar Hagedorn die HO verließ, spürte die Menge sie schnell auf. Ein junger Mann, der Hagedorn aufhalten wollte, ist von diesem mit einem Gummiknüppel geschlagen worden, den dieser aber entwendete und nunmehr Hagedorn damit schlug. Die Menge kam heran und verprügelte Hagedorn und dessen Ehefrau. Man brachte Hagedorn weg, während die Frau sich selbst überlassen blieb. Die Menge trieb ihn durch die Stadt und verlangte nach seinem Tod. Eine Frau schrie, Hagedorn habe ihren Mann ins Zuchthaus gebracht. Die Menschen wurden durch solche und andere Rufe immer erregter. Man wollte ihn hängen sehen. Als sich dies zu kompliziert erwies, ging man mit Hagedorn – er musste gestützt werden, immer wieder prasselten Fäuste auf ihn nieder – zum Kanal, um ihn zu ertränken. Dort setzte man ihn auf die Mauer und zählte bis drei, Hagedorn sprang und versuchte, schwimmend das andere Ufer zu erreichen. Ein Ruderboot folgte ihm. Als die jungen Männer in dem Boot merkten, dass ihr Kahn zu langsam fuhr, sprangen zwei ins Wasser und schwammen Hagedorn hinterher. Der erreichte zwar noch das gegenüberliegende Ufer, aber die beiden jungen Männer schleiften ihn zurück ins Wasser. In diesem Augenblick kam Polizei, die Hagedorn aus dem Wasser zog und ins Krankenhaus brachte, wo er wenig später an einer schweren Kopfverletzung verstarb. Noch im Krankenhaus weigerten sich fast alle Angestellten, Hagedorn zu entkleiden, um ihn zu untersuchen. Als er einige Tage später mit einem von der SED inszenierten Aufmarsch beigesetzt wurde, kam kaum jemand aus Rathenow. Vielen galt sein Tod als Genugtuung und gerechte Rache. Die Trauergäste mussten aus der Umgebung regelrecht herangekarrt werden.
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Es kam wegen des Lynchmordes an Hagedorn zu mindestens drei Prozessen mit insgesamt zehn Angeklagten. Bereits am 22. Juni 1953 verhandelte das Bezirksgericht Potsdam gegen fünf Personen. Die vier Männer und eine Frau waren am 19. Juni verhaftet worden. In erster Instanz sind zwei junge Männer im Alter von 18 Jahren zum Tode verurteilt worden. Ihnen warf man vor, den Tod Hagedorns herbeigeführt zu haben. Obwohl beide gestanden, auf Hagedorn eingeschlagen zu haben, konnte ihnen das Gericht nicht nachweisen, dass sie den Tod Hagedorns zu verantworten hatten. Dagegen sprach auch der Obduktionsbefund. Die 46-jährige Frau, die gerufen hatte, Hagedorn habe ihren Mann ins Zuchthaus gebracht, und die offenbar auch zugeschlagen hatte, erhielt fünf Jahre Zuchthaus, ein 47-jähriger HO-Arbeiter, der lediglich etwas gesagt, aber nichts getan hatte, zwei Jahre und schließlich ein 18-jähriger Lehrling acht Jahre. Auch er schlug Hagedorn, war aber selbst zuvor von diesem mit dem Gummiknüppel malträtiert worden. Am 27. Juni 1953 kam es beim Obersten Gericht der DDR zum Berufungsverfahren wegen der zwei Todesurteile. Da Todesurteile nie ohne Zustimmung des SED-Politbüros gefällt wurden, war das Bezirksgericht Potsdam entweder mit seiner Urteilsfindung zu schnell, oder aber das SED-Politbüro revidierte seine eigene Entscheidung. Die beiden Todesstrafen sind in 15-jährige Zuchthausstrafen umgewandelt worden. Die beiden Hauptangeklagten kamen im August 1964 frei. Einer von beiden musste später die Reststrafe mit einer zusätzlichen zehnmonatigen Haftstrafe absitzen. Der andere erhielt 1988 erneut zehn Monate Haft aus politischen Gründen, weil er sieben Ausreiseanträge in die Bundesrepublik gestellt hatte. Das MfS observierte ihn jahrelang. Die anderen Verurteilten kamen 1955, 1958 und 1960 frei. Helene Hagedorn starb 1968. Der Lynchmord an Wilhelm Hagedorn als einer der wenigen extremen Vorfälle am 17. Juni 1953 zeigt, wie verhasst das SEDRegime und einzelne Funktionäre in der Bevölkerung waren. In Rathenow standen Tausende dabei, als Hagedorn geschlagen, getreten und gefoltert worden ist. Die aufgeputschte Meute gab keine Ruhe, verlangte nach blutiger Rache bis zum Tod. Dieser
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Lynchmord war auch Ausdruck der Ohnmacht dieser Menschen, die ihre Wut und ihre Verzweiflung blindwütig an einem einzelnen Mann – so schuldig er sich auch gemacht haben mag – ausließen. In den Stadt- und Landkreisen des ehemaligen Bezirkes Cottbus, die zum Land Brandenburg gehören, streikten ebenfalls Zehntausende Arbeiter und Bauern. Die Forderungen unterschieden sich nicht von jenen in anderen Regionen der DDR. Kam es auf der einen Seite in vielen Industriebetrieben zu Streiks und Demonstrationen, so waren allerdings in den Braunkohleförderstätten, dem größten Arbeitgeber im Bezirk, kaum Streiks entflammt. In der Großkokerei Lauchhammer streikten zwar bis zum 23. Juni täglich etwa 5000 bis 7000 Arbeiter und bildeten eine Streikleitung, die noch am 23. Juni aktiv war und politische Forderungen erhob, aber insgesamt meldete die SED aus dieser Region, dass die Kumpel sich eher gegen Streikversuche gewehrt und zum Teil sogar ihre Normen beträchtlich übererfüllt haben sollen. Maßgeblich trug dazu bei, dass es die SED in Cottbus relativ zeitig verstand, ihre eigenen Kräfte zu mobilisieren und im Verbund mit Polizei, KVP und sowjetischer Armee potentielle Unruheherde insbesondere in den großen Braunkohlekraftwerken und -tagebaustätten bereits im Ansatz zu ersticken. In der auf dem Reißbrett entworfenen sozialistischen Musterstadt «Stalinstadt» arbeiteten im Juni 1953 über 20 000 Menschen, die oft noch in Barackenlagern wohnten. Der Ort war erst vier Monate zuvor zur Stadt erklärt worden. Am 8. Mai erhielt die Stadt ihren Namen. 1961 erfolgte die Umbenennung in Eisenhüttenstadt. Bei Schichtwechsel um 14.00 Uhr begannen die ersten Bauarbeiter mit Streiks. Sie marschierten über den riesigen Bauplatz und forderten ihre Kollegen auf teilzunehmen. Die meisten Bauarbeiter schlossen sich an, die meisten Stahlwerker blieben bei ihren Öfen. Dem Demonstrationszug vorweg gingen die Zimmerleute, die ihre Äxte und Hämmer gut sichtbar trugen. In Stalinstadt kam es zu Prügeleien zwischen Streikenden und Streikbrechern. Am nächsten Tag wurde auf mehreren Baustellen weiter gestreikt, aber die Streikfront be-
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gann zu bröckeln. Ab 20. Juni arbeiteten alle Baustellen wieder normal, nur der Krankenstand erwies sich als außergewöhnlich hoch. Doch dieser «versteckte Streik», den viele Arbeiter in der gesamten DDR nach der Niederschlagung des Volksaufstandes betrieben, zeitigte kaum direkte Wirkung. Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt war sowohl von industriellen Ballungszentren als auch von traditionsreichen Agrarregionen (Börde, Altmark) geprägt. Der Volksaufstand breitete sich flächendeckend aus, erfasste sämtliche Regionen und alle Bevölkerungsgruppen des Landes. Von den beiden Bezirkshauptstädten Halle und Magdeburg sprang der revolutionäre Funke schnell auf das gesamte Land über. In Calbe (15 000 Einwohner), südlich von Magdeburg, brachen die Streiks im Eisenwerk aus, viele weitere Betriebe schlossen sich an. Nur einige Eisenwerker blieben im Werk, damit die Öfen für die Roheisengewinnung nicht ausgingen. Das war abgesprochen und zeigte die verantwortungsvolle Haltung vieler Arbeiter. Tausende Menschen zogen durch Calbe. Manche hatten sich Ruß ins Gesicht geschmiert, um von Spitzeln nicht identifiziert werden zu können. Das Rathaus stürmten die Demonstranten zuerst. Der Bürgermeister versteckte sich in einem Kornfeld. Andere Demonstranten zogen derweil zum «Bürgergarten», wo sie ein Kommando der Transportpolizei entwaffneten und deren Waffen in die Saale warfen. Polizeiunterlagen brannten. Außerdem befreiten sie etwa 200 Häftlinge, die als Arbeitssklaven in einem Provisorium untergebracht waren. Die Aufständischen besetzten auch die SED-Kreisleitung. Von Calbe sprang der Funke wiederum auf umliegende Städte und Gemeinden über. Für den Bezirk Magdeburg war es typisch, dass sich die Streikbewegung, von den Ereignissen in Berlin und der Bezirkshauptstadt Magdeburg inspiriert, erst richtig am Abend des 17. Juni bzw. am 18. Juni entfaltete. Exemplarisch stehen dafür etwa die Vorgänge in Wernigerode, von dem das einzige komplett erhaltene, außergewöhnlich eindrückliche Ton-
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dokument einer Betriebsversammlung überliefert ist, und in Halberstadt. In dieser Kreisstadt lebten etwas mehr als 45 000 Einwohner. Am 18. Juni kam es in mehreren Belegschaftsversammlungen zu Streikforderungen. Mindestens 19 Betriebe legten die Arbeit nieder; beteiligt waren etwa 4000 Arbeiterinnen und Arbeiter. In Erklärungen verlangten sie – wie in Wernigerode – gesamtdeutsche Wahlen und die Aufhebung des Ausnahmezustandes. Auf dem Fischmarkt/Holzmarkt versammelten sich am Nachmittag rund 1200 Personen. Sowjetische Soldaten trieben die Ansammlung mit Warnschüssen auseinander. Am nächsten Tag traten weitere Betriebe in den Ausstand, nur zwei kleinere Betriebe nahmen dagegen ihre Arbeit wieder auf. Im VEB Kreisbaubetrieb Halberstadt wählte die Belegschaft am 19. Juni eine Vertrauenskommission, die das MfS als Streikleitung ansah. Der Kommission gehörten sieben Männer an, darunter zwei SED-Mitglieder, von denen einer der Werkleiter war. Im Namen der Kollegen schrieben sie am 19. Juni eine Resolution an den Rat des Kreises. Sie forderte, die Sicherheit der Einwohner Halberstadts zu gewährleisten und alle am 18. Juni in der Stadt verhafteten Personen unverzüglich freizulassen. Dies bezeichneten sie als Minimalforderungen. Sollten sie eingelöst werden, würde die Arbeit wieder aufgenommen werden. Darüber hinaus verlangten sie «freie, geheime, gesamtdeutsche Wahlen, wie sie vor 1933 durchgeführt wurden», «die schnellste Herbeiführung der Einheit Deutschlands», den Wegfall der Zonengrenzen, den Abzug der Besatzungstruppen, die Senkung der HO-Preise um 40 Prozent, die Umbildung der DDR-Regierung, «da die jetzige nicht mehr das Vertrauen des Volkes besitzt», die «Berichtigung der Normen» sowie das Unterlassen von Maßregelungen gegen diese Kommission oder «gegen Kolleginnen oder Kollegen, die ihre freie Meinung äußern». Um die Ereignisse nicht eskalieren zu lassen, empfing der Vorsitzende des Rates des Kreises am Nachmittag des 19. Juni sämtliche Streikleitungen Halberstadts. Währenddessen bereitete die MfS-Kreisdienststelle die ersten Verhaftungen vor. In der Nacht vom 19. zum 20. Juni nahm das MfS insgesamt 39 Halberstädter in Gewahrsam. Die Streikbewegung bröckelte. Es kam im
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Laufe der nächsten Woche – wie in vielen anderen Orten der DDR – zu Schweigeminuten und anderen Gedenkformen, womit der Toten des Volksaufstandes gedacht wurde. Die meisten Verhafteten kamen ohne Verurteilung wieder frei. Das größte Industriezentrum der DDR befand sich im Bezirk Halle. Im Großraum Halle, Merseburg und Bitterfeld arbeiteten Zehntausende auf Industriebaustellen und in den chemischen Großbetrieben. In den Leuna-Werken waren etwa 30 000 Menschen beschäftigt. Am Morgen des 17. Juni beschlossen erste Arbeiter, in den Ausstand zu treten, gingen durch Teile des Werkes und forderten die Kollegen auf, sich anzuschließen. Schnell waren es 3000 Männer und Frauen. Die Belegschaften wählten Streikleitungen, besetzten SED- und Gewerkschaftsräume und beschlagnahmten Autos, Telefone und Funkanlagen. Währenddessen zogen sich die Funktionäre mehr und mehr aus dem Werk zurück. Die zentrale Streikleitung beschloss, Abgesandte nach Buna bei Schkopau zu schicken, wo 18 000 Menschen arbeiteten. Doch ehe die Delegation aufbrach, kam bereits ein Abgesandter der Buna-Werke und berichtete vor Tausenden Zuhörern in den Leuna-Werken vom Streik in Buna. Dort waren ebenfalls am Morgen Streiks ausgebrochen, eine Streikleitung gewählt, die Polizei entwaffnet und ein Marsch nach Merseburg beschlossen worden. Die Leuna-Arbeiter schlossen sich sofort an. Die Protestierenden sangen auf ihren Märschen das «Deutschlandlied» sowie «Brüder, zur Sonne, zur Freiheit». In Merseburg versammelten sich mehr Menschen, als die Stadt Einwohner hatte. Dort wohnten weniger als 50 000 Menschen. Auf den zentralen Plätzen standen 60 000 Frauen und Männer, manche sprachen von 80 000, andere wollten sogar 100 000 «gezählt» haben. Kurz nach Mittag befand sich die Stadt in der Hand der Aufständischen. Die SED-Kreisleitung wurde genauso erobert wie das Volkspolizeikreisamt, die MfSKreisdienststelle und viele weitere Gebäude. Es kam zu mehreren Häftlingsbefreiungen. Gegen 14.00 Uhr waren alle öffentlichen Gebäude besetzt, ernsthafter Widerstand rührte sich nicht. Die Aufständischen arretierten mehrere
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Funktionäre, die meisten aber tauchten ab. Sowjetische Einheiten besetzten das Gefängnis und sperrten die ersten Aufständischen ein. Tausende bedrängten daraufhin die Haftanstalt; die sowjetischen Offiziere gaben nach und ließen alle wieder laufen. Auf dem Uhlandplatz sprachen mehrere Redner der Buna- und Leuna-Werke, Zehntausende sangen die dritte Strophe des «Deutschlandliedes». Es kam zur Bildung einer zentralen Streikleitung für den gesamten Merseburger Kreis. Sie hatte 25 Mitglieder und repräsentierte Dutzende Betriebe und Zehntausende Arbeiter. Die sowjetische Armee hatte mittlerweile die großen Werke umstellt und zum Teil besetzt. In der Nacht noch kam es zu ersten Verhaftungen, die die nächsten Tage andauerten. Das MfS, die Polizei und die sowjetische Besatzungsmacht nahmen Hunderte Beteiligte, darunter die Mitglieder sämtlicher Streikleitungen, deren sie habhaft werden konnten, fest. In Bitterfeld, wo sich 50 000 bis 70 000 Menschen versammelt hatten, war der 47-jährige Paul Othma eine der markantesten Persönlichkeiten am 17. Juni. Der Elektromonteur hatte nach 1945 in einem antifaschistischen Ausschuss mitgewirkt und sich anschließend als Gemeindevertreter in Sandersdorf engagiert. Bis 1950 war er Mitglied der LDPD, die er verließ, nachdem sie sich von der SED immer mehr gleichschalten ließ. Paul Othma geriet am 17. Juni 1953 eher zufällig – wie fast alle anderen – in die Rolle eines Streikführers. In mehreren Betrieben Wolfens brachen am Morgen Streiks aus, wurden Streikleitungen gewählt, teilweise Werkleitungen abgesetzt, Betriebsfunkanlagen besetzt und Forderungskataloge formuliert. In Wolfen und Bitterfeld beteiligten sich sämtliche Großbetriebe und fast alle mittleren und kleinen Betriebe an der Streikbewegung. Etwa 12 000 Arbeiter der Agfa-Filmfabrik Wolfen, der Farbenfabrik Wolfen und anderer Betriebe begannen vormittags einen Marsch nach Bitterfeld. Aus der gesamten Umgebung machten sich Belegschaften auf den Weg. Den Zug der Streikenden des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld ins Zentrum der Stadt führte Paul Othma an. Um 11.00 Uhr standen auf dem «Platz der Jugend» und in den angrenzenden Straßen etwa 50 000 Menschen; in Bitterfeld lebten
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etwa 32 000. Mehrere Redner sprachen über eine Lautsprecheranlage zu der Menge. Für den Kreis Bitterfeld konstituierte sich ein Streikkomitee, das sich aus 25 Vertretern einzelner Betriebsstreikleitungen zusammensetzte. Paul Othma formulierte die politischen Forderungen der Menschen und mahnte zur Besonnenheit. Der Lehrer Wilhelm Fiebelkorn, ebenfalls Mitglied der Kreisstreikleitung, verlas ein berühmtes Telegramm an die DDR-Regierung, das die «üblichen Forderungen» enthielt und auf eine mittels freien Wahlen herzustellende Einheit Deutschlands hinauslief. Anschließend gab Fiebelkorn ein Telegramm an die Sowjets bekannt. Darin forderte das Komitee, den Ausnahmezustand aufzuheben. Nach der Kundgebung stürmten die Demonstranten alle wichtigen Gebäude Bitterfelds, darunter das Rathaus, das Landratsamt, die SED-Kreisleitung, die MfS-Kreisdienststelle und das Gefängnis. Die Demonstranten sperrten Polizisten, Gefängniswärter und MfS-Mitarbeiter in die Zellen ein. Als sich Bitterfeld restlos in der Hand der Aufständischen befand, begannen die meisten Arbeiter, sich in ihre Betriebe zurückzuziehen. Die waren zumeist bereits von Militäreinheiten besetzt worden. Auch in Bitterfeld rückte immer mehr Militär ein. Überall bot sich das gleiche Bild: Sobald die Aufständischen die Oberhand hatten, erlahmte die Bewegung, und die Staatsmacht, gestützt auf die russischen Panzer, ging zum Gegenschlag über. Obwohl sich die Streiks auch in Bitterfeld und Wolfen bis zum 20. Juni hinzogen, bröckelte die Streikbewegung bereits am 18. Juni. Dazu trugen auch die Verhaftungen bei. Einige Streikführer flüchteten in den Westen, darunter Wilhelm Fiebelkorn, andere nahm das MfS fest. Das Bezirksgericht Halle verurteilte Paul Othma Ende Oktober zu zwölf Jahren Zuchthaus. Am 1. September 1964 wurde er schwer krank entlassen. Nicht einmal fünf Jahre später starb er an den Haftfolgen 63-jährig in Sandersdorf. In Sachsen-Anhalt beteiligten sich auch die ländlichen Regionen am Volksaufstand. In vielen Orten kam es zur Besetzung der Gemeindeämter. Viel schneller als in den Städten wurden dorfbekannte Funktionäre tätlich angegriffen. Einige Landwirt-
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schaftliche Produktionsgenossenschaften lösten sich auf. Viele Bauern traten außerdem aus der Genossenschaft aus. Zuweilen machten sich ganze Dörfer auf den Weg, um an Demonstrationen in den Städten teilzunehmen. Der Volksaufstand in Sachsen-Anhalt, speziell im ehemaligen Bezirk Halle, war flächenmäßig der intensivste der gesamten DDR. Dass sich auch nach der Niederschlagung die Lage für die SED nicht beruhigte, zeigte die Streikbewegung, die im Juli in mehreren großen Betrieben ausbrach. In den Buna-Werken überstieg die Streikbewegung vom 15. bis 17. Juli 1953 sogar die Streiks vom 17. Juni. Wiederum mussten sowjetische Einheiten anrücken. Auch Walter Ulbricht, Politbüromitglied Fred Oelßner und andere SED-Funktionäre bekamen die Stimmung der Arbeiter persönlich zu spüren. Auf Belegschaftsversammlungen in den großen Werken im Chemiedreieck schlug ihnen offene Ablehnung, teilweise Hass entgegen. Die Leuna-Arbeiter wollten mit dem Mann, der ihrem Betrieb den Namen gab – seit 1951 hießen die Leuna-Werke offiziell «Leuna-Werk Walter Ulbricht» –, nichts zu tun haben. Thüringen
Am Volksaufstand beteiligten sich Menschen aus über 100 thüringischen Städten und Gemeinden. Der Schwerpunkt lag im damaligen Bezirk Gera. Im Bezirk Suhl lösten sich unter dem Eindruck der Ereignisse elf Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften auf, andere blieben zwar dem Namen nach bestehen, büßten aber durch erhebliche Austrittsraten ihrer Mitglieder ihre Arbeitsfähigkeit ein. Besondere Schwerpunkte bildeten die Landkreise Hildburghausen, Sonneberg und Meiningen. Im ehemaligen Bezirk Erfurt kam es zu weitaus mehr Streiks und Demonstrationen als in Suhl. Dies hing nicht nur mit der höheren Bevölkerungsdichte und einer stärker entwickelten Industrie zusammen, sondern auch mit dem Umstand, dass aus dem nördlich gelegenen Sachsen-Anhalt und dem östlich angrenzenden Bezirk Gera die Unruhen schnell auf den Bezirk Erfurt übergriffen.
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In Eckolstädt organisierte der Dorfpfarrer Edgar Mitzenheim die Protestbewegung. Das war für den Volksaufstand nicht typisch. In dem Dorf, sechs Kilometer südlich von Camburg gelegen, wo am 17. Juni aufgebrachte Bürger ein FDJ-Gebäude stürmten und Propagandamaterialien verbrannten, wohnten nicht einmal 500 Menschen. Mitzenheim war hier seit 1922 im Dienst der evangelischen Kirche tätig. Sein Bruder Moritz Mitzenheim fungierte seit 1947 als Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen. Auch der zweite Bruder amtierte als Pfarrer in Thüringen. Edgar Mitzenheim war ein offener Gegner des Kommunismus, dem Nationalsozialismus hatte er dagegen nicht so ablehnend gegenübergestanden. Er war bereits in den zwanziger Jahren in rechtsextremen Organisationen engagiert und bemühte sich nach 1933 vergeblich darum, Mitglied der NSDAP zu werden. 1944 verurteilte ihn ein Militärgericht zu einer viermonatigen Haftstrafe, weil von ihm vorgetragene Gedichte nach Ansicht der Richter geeignet seien, das Vertrauen der Bevölkerung in die NSDAP und den NS-Staat zu untergraben. Am Abend des 12. Juni versammelten sich neun Dorfhonoratioren im Haus von Mitzenheim und besprachen einen vom Pfarrer vorgelegten Resolutionsentwurf, der einer Einwohnerversammlung am 13. Juni zur Abstimmung vorgelegt werden sollte. Bereits am Nachmittag des 13. Juni ereignete sich ein Vorfall, der die Dorfbewohner freudig erregte. Sie erfuhren am Vormittag, dass vier Bauern aus ihrer Gemeinde, die in der Untersuchungshaftanstalt Apolda einsaßen, freigelassen und nach Hause zurückkehren würden. Mitzenheim organisierte, dass ein Großteil der Gemeinde sie am Ortseingang begrüßte. Frauen überreichten den Heimgekehrten Blumen, der Kinderchor sang, die Kirchenglocke läutete etwa dreißig Minuten, und Mitzenheim geleitete jeden freigelassenen Bauern zu seinem Hof. Die Einwohnerversammlung begann wegen einer Stromsperre erst gegen 21.15 Uhr. 250 bis 300 Personen nahmen teil, mehr als die Hälfte aller Einwohner. Edgar Mitzenheim trug die zehn Punkte umfassende Resolution vor, die sowohl konkrete Forderungen bezogen auf die Landwirtschaft, aber auch die
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nach freien Wahlen enthielt. Gegen 22.45 Uhr löste sich die Versammlung auf. Die meisten verblieben im Gasthaus und feierten den «Sieg» Eckolstädts über den übermächtig wirkenden Staat. Am 15. Juni fuhren Mitzenheim und zwei weitere Vertreter des Dorfes nach Berlin. Zunächst gingen sie ins DDR-Landwirtschaftsministerium, um dem Minister ihre Resolution zu übergeben. Sie sprachen ihn auch einige Minuten, aber er nahm ihre Resolution nicht an. Stattdessen erhielt sie sein Stellvertreter, mit dem sie ein längeres Gespräch führten. Am 17. Juni kehrten abends Pendler aus Jena zurück und berichteten von den dortigen Vorgängen. Einige Dorfbewohner fassten Mut, zerstörten zunächst das Straßenschild «Karl-Marx-Straße» und warfen anschließend Papiere und Unterlagen aus dem Büro des örtlichen SED-Funktionärs auf die Straße. Mitzenheim beruhigte die Einwohner. Ihm und dem VdgB-Vorsitzenden half dies nichts. Am frühen Morgen des 18. Juni, das Dorf schlief noch, verhafteten MfS-Mitarbeiter beide. Die Nachricht von den Verhaftungen sprach sich schnell herum. 50 bis 60 aufgebrachte Bürger standen gegen 5.00 Uhr morgens auf der Dorfstraße und debattierten, was zu tun sei. Ein Unbekannter läutete die Kirchenglocke. Als die Menge auf einem Krad einen bekannten SED-Funktionär aus Apolda erblickte, hinderten ihn einige an der Weiterfahrt. Die Idee, ihn im Dorfteich zu ertränken, wurde ebenso schnell wieder fallen gelassen wie die, ihn aufzuhängen. Ein junger Mann hatte bereits ein Seil herbeigeschafft. Ein Dorfbewohner konnte die Menge schließlich beruhigen, und der Funktionär brachte sich in Sicherheit. Kurz darauf kam ein PKW ins Dorf. Darin saß ein im Dorf bekannter Polizist in Zivil. Mehrere Dorfbewohner warfen sein Auto um, und eine ihn begleitende Frau, die in Eckolstädt allgemein als MfS-Zuträgerin galt, konnte sich gerade noch davor retten, aufgehängt zu werden. Noch bevor die Bauern die Telefonleitungen des Dorfes kappten, gelang es dem Polizisten, seine Dienststelle in Apolda von den Vorgängen zu unterrichten. Zwischen 9.00 und 10.00 Uhr trafen ein Überfallkommando aus Apolda sowie eine Einheit der sowjetischen Armee ein, die den Aufstand in Eckolstädt beendeten.
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Die Verhaftung des Pfarrers erzeugte auch Unruhe in den Nachbargemeinden. Der SED-Propaganda wiederum diente der Pfarrer als «Beweis» dafür, dass der «Tag X» von faschistischen Kreisen, die vom Westen aus unterstützt wurden, vorbereitet worden wäre. In einem öffentlichen Prozess in Erfurt verhängte das Gericht am 18. Juli 1953 eine sechsjährige Zuchthausstrafe gegen Mitzenheim. Die drei Mitangeklagten erhielten Haftstrafen von zwei Jahren, einem Jahr bzw. sechs Monaten. Mutige Einwendungen von Mitzenheims Verteidiger und auch dessen Berufungsschrift, in der er die Absurdität des Urteils herausarbeitete, nützten nichts. Mehrfach setzten sich Kollegen von Mitzenheim, auch sein Bruder Bischof Moritz Mitzenheim, für eine Herabsetzung der Strafe ein. Erst Ende Juni 1956 kam Pfarrer Edgar Mitzenheim frei. Um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, zogen am 17. Juni Dorfbewohner oftmals in nahe gelegene Kreisstädte. In Mühlhausen versammelten sich gegen 15.00 Uhr etwa 3000 Bauern aus den umliegenden Dörfern und hielten eine Kundgebung ab. Wer diese organisiert hatte, konnte vom MfS nie geklärt werden. Es sprach sich in der Umgebung Mühlhausens wie ein Lauffeuer herum, dass sich die Bauern in der Kreisstadt zum gemeinsamen Protest treffen würden. Ein Redner verlas dort einen Forderungskatalog, der aber nur für die unmittelbar bei ihm stehenden Personen verständlich war, da es an geeigneter Übertragungstechnik mangelte. Den von der SED-Kreisleitung abkommandierten rund 200 Propagandisten gelang es, die Menge zu zerstreuen, und sowjetischen Truppen und Einheiten der KVP beendeten schließlich die Unruhen auf den Straßen und Plätzen Mühlhausens. Die sowjetische Armee, die in einigen Gegenden Thüringens besonders konzentriert Truppenverbände stationiert hatte, vereitelte die entstehenden Streiks häufig bereits in ihren Ansätzen. In Eisenach umstellten sowjetische Kampfverbände die wichtigsten Betriebe der Stadt, darunter die BMW-Werke. Die Truppen hinderten die streikenden Arbeiter daran, die Werke zu verlassen und in die Stadt zu ziehen. Schnell durchgeführte Verhaftungen beendeten die Streiks, die Ende des Monats in den Automobil-
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werken wiederholt aufflammten. In Friedrichroda bei Gotha hatten sogar alle Arbeiter, annähernd 5000, in den örtlichen Betrieben die Arbeit niedergelegt. Arbeiter entwaffneten eine Einheit der KVP, etwa 150 Mann. Erst als mehr als 300 Sowjetsoldaten anrückten, die Werksgelände besetzten und Verhaftungen vornahmen, konnte der Widerstand gebrochen werden. Gegen die sowjetische Armee erhob sich nur in Ausnahmefällen ernsthafte Gegenwehr. Auch in Gotha kam es zu Streiks in mehreren Betrieben. In der Nacht erfolgten erste Verhaftungen. Als sich diese Nachricht am nächsten Morgen in den Belegschaften herumsprach, entflammten Solidaritätsstreiks. Die Arbeit sollte erst wieder aufgenommen werden, wenn die Kollegen aus dem Gefängnis entlassen wären. Daraufhin umstellten sowjetische Panzer Betriebe Gothas. Es kam noch zu Betriebsversammlungen. Die Arbeiter machten ihrem Unmut Luft, nahmen aber anschließend überwiegend die Arbeit wieder auf. Als es in der folgenden Nacht zu weiteren Verhaftungen kam, streikten am nächsten Morgen Hunderte Arbeiter erneut. Es half nichts, auch in den kommenden Tagen kam es immer wieder zu Festnahmen. Die Arbeiter mussten unter Zwang weiterarbeiten. Immerhin sind die meisten Verhafteten bis zum 7. Juli 1953 wieder freigekommen. Einige sind unter dem Druck der Verhaftung und einer drohenden Verurteilung als «Geheime Informatoren» oder «Geheime Mitarbeiter» des MfS angeworben worden. Das war ganz typisch für die gesamte DDR. Ebenso typisch war jedoch auch, dass die meisten angeworbenen Personen sehr schnell in den Westen flüchteten, um dem MfS nicht dienen zu müssen und um drohenden neuerlichen Strafen zu entgehen. In der deutschen Klassik-Stadt Weimar bildeten Streikende im Mähdrescherwerk einen 17-köpfigen Streikausschuss, dem nicht nur Arbeiter, sondern auch Angestellte und Leitungspersonal angehörten. In Weimar war es bereits am 12. Juni zu einer kleinen Demonstration gekommen. Aufgrund der Beschlüsse des SED-Politbüros kamen an diesem Tage 15 Personen aus dem Gefängnis frei, die in den Monaten zuvor aus politischen Gründen verurteilt worden waren. Die Stimmung blieb explosiv.
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Zwei Besonderheiten zeichneten die Vorgänge in Weimar aus. Neben den politischen und sozialen Forderungen, die die Protestierenden überall in der DDR erhoben, verlangten die Streikenden Weimars, dass alle in den letzten Monaten entlassenen Kollegen wieder eingestellt würden. Hinzu kam, dass sie Bauern, Handwerker und Volkspolizisten ausdrücklich aufforderten, sich den Protesten anzuschließen. Ein Redner, Angestellter im Mähdrescherwerk, hatte in der Versammlung darauf hingewiesen, dass die Bauern ruiniert würden. Eine solche Solidarität mit den Bauern in den Städten war nicht typisch. Das hing in diesem Fall damit zusammen, dass der VEB Mähdrescherwerk vorrangig für die Landwirtschaft produzierte und so in diesem Werk die besonderen Nöte der Bauern bekannt waren. Eine zweite Besonderheit war das aktive Auftreten eines Arbeiters, der als Maler in den Mähdrescherwerken arbeitete. Bevor er dort anfing, war er von Juni 1951 bis Ende 1952 als operativer Mitarbeiter Angehöriger des MfS. Seinen eigenen Worten zufolge, einem Vernehmungsprotokoll entnommen, meinte er am 17. Juni: «Ich brachte deutlich zum Ausdruck, dass ich kein Vertrauen besitze zu dieser Regierung der Arbeiter. Ich sagte, dass die Regierung die Fehler, die sie in der letzten Zeit gemacht hat, nie wieder gutmachen kann. Dann teilte ich den Versammelten mit, dass ich früher Mitglied der SED war und dem Ministerium für Staatssicherheit angehörte, und wandte mich gegen die Arbeitsmethoden des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich erklärte mich bereit, einen Bericht über meine Tätigkeit beim Ministerium für Staatssicherheit auszuarbeiten und der ‹Allgemeinheit› vorzulegen.» Dieser mutige Mann wurde Mitglied des Streikausschusses. Bevor sich Tausende Arbeiter und Angestellte um 15.00 Uhr zu einem Demonstrationszug versammeln konnten, verhängte der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand. Militär und Polizei fuhren auf. In der Nacht wurden alle 17 Mitglieder des Streikausschusses verhaftet. Als am nächsten Morgen die Kollegen davon erfuhren, brachen neuerlich Streiks aus, die wiederum Verhaftungen nach sich zogen. Auch am 19. und 20. Juni kam es zu Arbeitsniederlegungen und erneuten Verhaf-
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tungen. Der Sprecher des Streikausschusses erhielt sechs Jahre Zuchthaus, am 19. Dezember 1958 kam er frei. Gegen den ehemaligen MfS-Mitarbeiter verhängte der I. Strafsenat beim Bezirksgericht Erfurt eine vierjährige Zuchthausstrafe. Einige Monate erließ man ihm, am 6. Dezember 1956 öffneten sich für ihn die Zuchthaustore. Im Oktober 1957 flüchtete er in die Bundesrepublik. Nach Erfurt war Gera die größte Stadt Thüringens. Hier lebten 1953 etwa 98 000 Menschen. Alle größeren Betriebe wählten Streikkomitees. Es kam zur Bildung eines zwölfköpfigen überbetrieblichen Komitees, das die Aktionen in der Stadt koordinieren wollte und mit dem Ratsvorsitzenden verhandelte. Die Einwohner Geras strömten in die Innenstadt und belagerten die Machtzentralen. Allein vor dem Gefängnis standen Tausende Demonstranten. Mit einem Autokran hebelte ein Wismut-Kumpel das Tor aus. Aus der Untersuchungshaftanstalt konnten 65 Gefangene befreit werden. Die Mehrheit aber verblieb in den Zellen, weil sowjetisches Militär die Demonstranten mittlerweile wieder aus dem Gefängnis vertrieb. An verschiedenen Stellen fielen Schüsse, auch vor der SED-Bezirksleitung. Geschossen haben ausschließlich Polizisten und sowjetische Soldaten. Die Bevölkerung hoffte derweil auf die schlagkräftigen Wismut-Kumpel, standen diese doch seit Jahr und Tag im Ruf, nicht lange zu zögern und ihrem Unmut freien Lauf zu lassen, auch handgreiflich. Als die Wismut-Kumpel am Nachmittag in Geras Innenstadt eintrafen, brach «ein wahrer Freudentaumel auf den Straßen» aus. Nachdem bereits etwa 40 Fahrzeuge der Wismut in Richtung Karl-Marx-Stadt aufgebrochen waren, um in der sächsischen Bezirkshauptstadt zu demonstrieren, diese aber von sowjetischen Soldaten an der Bezirksgrenze an der Weiterfahrt gehindert worden waren, weitete sich der Streik in die Wismutgebiete Thüringens aus. Die Kumpel fuhren zunächst in die Bezirkshauptstadt Gera. Als sie um 16.40 Uhr eintrafen, zögerten sie keinen Augenblick und griffen die KVP-Angehörigen sofort an. Die Polizisten zogen sich zurück, zumeist entwaffnet. Die Kumpel zerstörten die meisten Waffen, diesmal aber nicht alle. Ge-
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gen 18.30 Uhr kam es zu ersten Schießereien auf dem «Platz der Republik», bei denen offensichtlich auch Wismut-Kumpel aus erbeuteten Waffen zurückschossen. Die sowjetische Armee nahm das zum Anlass, Gera hermetisch abzuriegeln. Erst in den späten Abendstunden kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Als die Wismut-Kumpel am 17. Juni aus Gera abzogen, fuhren sie nicht sofort in ihre Unterkünfte zurück, sondern machten in der Kleinstadt Weida mit etwa 12 000 Einwohnern halt. Dort hatten bereits andere Wismut-Arbeiter die Streikenden tagsüber unterstützt. Am Nachmittag war ein Angriff auf das Polizeirevier noch abgewehrt worden. Nun aber fielen die aus Gera kommenden Wismut-Kumpel förmlich in Weida ein und demolierten zunächst mehrere HO-Gaststätten. Gegen 19.00 Uhr griffen etwa 800 Demonstranten, vorrangig Wismut-Kumpel, erneut das Polizeirevier an und drohten, es in die Luft zu sprengen, falls sich die Polizisten nicht ergäben. Die dachten nicht daran. Gegen 22.00 Uhr kam es zu regelrechten Schießgefechten. Offenbar benutzten Wismut-Kumpel in Gera erbeutete Waffen. In SED-Berichten war, wie in Frontberichten, von «Nestern» und «Feuergefechten» die Rede. Bis weit nach Mitternacht tobten in Weida die Auseinandersetzungen. Ein Bäcker kam ums Leben, zwei junge Männer trugen Verletzungen davon. Sowjetisches Militär beendete die Schießereien und umstellte auch Weida. Unterdessen waren bereits mehrere Wismut-Kumpel vor Beendigung der Auseinandersetzungen weitergezogen. So entbrannten neue Kämpfe etwa in Ronneburg oder in Berga. Dort erstürmten sie gegen Mitternacht das Polizeirevier. Insgesamt fuhren an diesem Abend und in der Nacht 52 LKW und Busse mit Wismut-Kumpeln durch Ostthüringen, um die Streikenden und Demonstranten zu unterstützen bzw. dort, wo es keine Aktionen gab, solche selbst zu initiieren. In ihren eigenen Objekten kam es dagegen aufgrund der ohnehin vorhandenen und am 17. Juni noch erheblich verstärkten Präsenz sowjetischen Militärs zu keinen nennenswerten Ereignissen. Selbst in der Zeiss-Stadt Jena waren Wismut-Kumpel aktiv. Dies ist deshalb erstaunlich, weil es belegt, in welchem großen Radius die Kumpel am 17. Juni unterwegs waren. In Jena aller-
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dings, einer Stadt mit damals etwa 82 000 Einwohnern, hatte sich der Aufstand bereits seit den frühen Morgenstunden angekündigt, nachdem es schon in den Tagen zuvor heftig brodelte. Im VEB Carl Zeiss Jena verabschiedeten Arbeiter am 16. Juni eine Resolution, mit der sie soziale Verbesserungen und innerbetriebliche Demokratie einforderten. Am 17. Juni 1953 begannen morgens mehrere Abteilungen mit Streiks und formierten sich zu Demonstrationszügen. Sämtliche Großbetriebe Jenas beteiligten sich. Zentraler Anlaufpunkt war der Holzmarkt, mitten im Zentrum. Um 12.00 Uhr hatten sich hier und in den angrenzenden Straßen und Plätzen etwa 20 000, eine Stunde später etwa 30 000 Menschen eingefunden. Demonstranten erstürmten und zerstörten am Vormittag das Gebäude der SED-Kreisleitung, einige Funktionäre wurden verprügelt. Auch die Gebäude und Funktionäre der FDJ, der GST, der «Nationalen Front» und der DSF blieben nicht verschont. Erzürnte Bürger stürmten das Amtsgericht. Dort befand sich das Untersuchungsgefängnis. Gegen 11.00 Uhr trafen hier rund 5000 Menschen ein. Sie befreiten Häftlinge. Von der Haftanstalt in Jena zogen unterdessen Demonstranten zur nicht weit entfernt liegenden Stasi-Kreisdienststelle weiter. Dort befanden sich 13 MfS-Mitarbeiter. Die Demonstranten umstellten das Gebäude und stürmten es schließlich. Sie zerstörten die Inneneinrichtung, verprügelten mindestens zwei MfS-Mitarbeiter, einer davon behielt bleibende Schäden, suchten vergeblich nach Häftlingen – die waren offenbar bereits am Morgen weggeschafft worden –, plünderten und warfen Akten auf die Straße. Es gingen Dienstausweise, Spitzelakten und andere Stasi-Unterlagen «verloren». Einiges davon ist mit zwei PKW beiseitegeschafft worden; später tauchten einzelne Materialien im Westen auf. Ein Stasi-Oberfeldwebel ist mit Wirkung vom 24. Juni 1953 fristlos entlassen worden. Ihm warf man Feigheit vor dem Feind vor. Einige Männer hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt und ihn verhört. «Als das Volk dann schrie ‹auf den Markt führen›», wie ein Beteiligter in der Untersuchungshaft dem MfS zu Protokoll gab, «haben wir diesen Mann auf den
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Marktplatz geführt.» Es dauerte etwa zehn bis zwölf Minuten, bis der Gefesselte dort ankam. Dann stellte man ihn auf den Brunnenrand und fragte ihn aus: «Aus Feigheit und Angst beantwortete er alle ihm gestellten Fragen über die Höhe des Verdienstes, wer die [MfS-]Mitarbeiter im Betrieb Zeiss Jena sind sowie über andere Mitarbeiter, deren Adressen er bekannt gab.» Bei der ausgesprochenen fristlosen Entlassung berücksichtigten die Vorgesetzten nicht, dass der Mann Todesängste ausgestanden haben muss. Er flüchtete 1955 in die Bundesrepublik. Mittags rückten die ersten sowjetischen Panzer in Jena ein. Zunächst räumten die Soldaten die SED-Kreisleitung. Nachrückende Einheiten vermochten es nicht, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. Gegen 15.30 Uhr drangen sowjetische Einheiten ins Stadtzentrum vor. Beherzte Frauen bildeten eine Sitzblockade, um das weitere Vorrücken der Panzer zu verhindern. Nur kurze Zeit konnten sie diese aufhalten. Die sowjetischen Soldaten änderten ihre Marschrichtung. Nun geschah etwas, was allein in Jena passierte. Ein Zeitzeuge erinnerte sich an das Schauspiel, von dem auch Fotos zu berichten wissen: «Vor dem SED-Gebäude und im Holzmarktausgang nach dem Löbdergraben setzten sich Frauen vor den Panzer, der sofort gestoppt wurde und die Richtung änderte. Drei Panzer versuchten, rückwärts nach dem Teichgraben und nach der Neugasse auszuweichen. Da wurden ihnen unter der Begeisterung der Menschen die Straßenbahnwagen vor die Ketten geschoben. Vorsichtig weichen die auf den Millimeter genau fahrenden Russen den Hindernissen aus, sie versuchen zu schwenken, aber wieder und wieder begann das Straßenbahnwagenspiel. Jetzt krachen die ersten Schüsse. Erschrocken weichen die in der Nähe der Panzer Stehenden zurück, die Außenstehenden drängen nach. Und nun schießen die Russen aus ihren Maschinenpistolen, was die Rohre hergeben – in die Luft. Als die Bevölkerung merkte, dass die Kugeln nur durch das Laub der Bäume pfeifen, freute man sich über das ‹Vogelschießen› und ließ die Panzer unbehelligt hin und her fahren. Die Menschen wichen zurück, stellten sich aber auf den breiten Fußsteigen auf und betrachteten dieses seltsame Schauspiel. Vereinzelte Steinwürfe
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nach den Panzern wurden von der Menge schnell unterdrückt. Die Vopo ließ sich nirgends blicken.» Das relativ vorsichtige Agieren der sowjetischen Truppen ist aus vielen Orten überliefert. Die Panzer fuhren zumeist nur im Schritttempo, die Soldaten schossen selten gezielt. Die meisten Opfer, die am 17. Juni durch sowjetische Waffen auf den Straßen umkamen, erlagen Querschlägern. Ab 17.00 Uhr fuhren Lautsprecherwagen durch Jena und verkündeten den Ausnahmezustand. Sowjetische Einheiten und KVP-Truppen trieben nun die Menschen energischer auseinander, am Abend herrschte Ruhe in der Stadt. Vor allen Großbetrieben und zentralen Gebäuden der Stadt zogen Panzer auf, die dort Tage lang stehen blieben. Trotzdem kam es immer wieder zu Streiks. Als im Juli eine zweite große Streikwelle erfolgte, die sich am heftigsten in Buna und Leuna, aber darüber hinaus auch in allen anderen Regionen der DDR zeigte, waren wieder Tausende Arbeiter Jenas beteiligt. Sachsen
Sachsen war eine leistungsstarke Industrieregion mit einer langen Tradition in der Arbeiterbewegung. Das Land bildete am 17. Juni 1953 neben Berlin und der mitteldeutschen Industrieregion das Zentrum der Volkserhebung. Es kam in über 150 Städten und Gemeinden zu Aktionen. Wie verunsichert die SED-Mitglieder zumeist waren, zeigen viele Beispiele. Ein besonders eindrucksvolles lieferte die Parteiorganisation im Betrieb Mitteldeutscher Feuerungsbau in Holzhausen (Kreis Leipzig-Land): «In diesem Betrieb arbeiten 800 Werktätige. Die Parteiorganisation umfasst 110 Mitglieder. Am 17.6. wurde in diesem Betrieb von Provokateuren eine Versammlung einberufen und gefordert, dass die gesamte SED den Betrieb verlassen solle. Diese Genossen (110) verließen, ohne dagegen anzukämpfen, den Betrieb und versteckten sich in ihren Privatwohnungen. Sie sagten, sie hätten dort Maßnahmen beraten, um die Lage zu verändern. Erst unter dem Schutze der VP gingen sie wieder in den Betrieb.»
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Einen besonderen Stellenwert in der politischen Topographie Sachsens und der gesamten DDR nahm die Stadt Bautzen ein. Hier befanden sich mit Bautzen I («Gelbes Elend») und Bautzen II zwei berüchtigte Haftanstalten. Am 17. und 18. Juni kam es auf dem «Platz der Roten Armee» zu zwei Kundgebungen mit etwa 600 bzw. 800 Teilnehmern. Beide Ansammlungen wurden von denen aufgelöst, nach denen der Platz benannt worden war. In mehreren Betrieben kam es zu Streiks, die allerdings brutaler als anderswo beendet wurden. In Bautzen drohten nicht nur sowjetische Offiziere mit Erschießungen, sogar SED-Funktionäre kündigten an, dass «Provokateure» und «Streikanstifter» umgehend erschossen würden. Die beiden Haftanstalten erforderten eine hohe Präsenz von Sicherheitskräften und Parteifunktionären, sodass die politische Einwohnerstruktur deutlich zugunsten der SED ausfiel. Wohl auch deshalb kam es gerade in Bautzen nicht zu Versuchen, die Haftanstalten zu stürmen und die politischen Häftlinge zu befreien. Die Häftlinge selbst sind an diesem Tag besonders streng behandelt worden. Nach dem 17. Juni wurden die Verhältnisse im Zuchthaus noch unerträglicher, da viele Verhaftete des Volksaufstands nach Bautzen kamen und die Gefangenen in den ohnehin überbelegten Haftanstalten noch mehr zusammenrücken mussten. Im östlichen Sachsen ging der Aufstand im Vergleich zu anderen Regionen mit am weitesten. In der geteilten Stadt Görlitz entwickelte sich die Volkserhebung zu einer Revolution. In der Stadt lebten rund 97 000 Menschen. Sie zählte nach Berlin und Leipzig zu den am dichtesten besiedelten Städten. Aufgrund ihrer besonderen geographischen Lage – aus dem früheren Tor zu Schlesien war eine Grenzstadt mit geschlossenen Grenzen geworden – und einer besonderen Einwohnerstruktur – hohe Vertriebenenrate – hatte die SED ein besonderes Augenmerk auf Görlitz gelegt. Nicht nur, dass die wichtigsten Positionen in Görlitz mit Leuten besetzt worden waren, die nicht aus der Region stammten, auch die historisch bedeutungsvollen und weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten architektonischen Prachtbauten waren von Parteien und Massenorganisationen vereinnahmt worden. In Görlitz herrschten Wohnungsnot und eine
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vergleichsweise hohe soziale Armut, was sich in der Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger ausdrückte. Das einst starke Bürgertum dünnte sich zwar durch Flucht in den Westen immer mehr aus, aber 1953 verfügte es noch über einen starken moralischen Rückhalt in der Stadt. Görlitz als Bischofssitz beanspruchte zudem eine hohe Bedeutung. Beide Kirchen waren in der Bevölkerung fest verankert. Schließlich gab es daneben alte sozialdemokratische Traditionen, die – wie sich im Juni 1953 manifestieren sollte – auch acht Jahre nach Kriegsende vital geblieben waren. Mitten in der Nacht vom 16. zum 17. Juni 1953, gegen 3.30 Uhr, sind alle SED-Kreissekretäre im damaligen Bezirk Dresden von der SED-Bezirksleitung alarmiert worden, dass am nächsten Tag mit Provokationen zu rechnen sei. Der 1. SEDSekretär in Görlitz bestellte daraufhin den Chef der Polizei, den örtlichen Dienststellenleiter des MfS und den Oberbürgermeister zu sich. Sie legten erste Maßnahmen fest, verständigten die Direktoren der großen Betriebe und schickten Instrukteure in die Betriebe. Als die Frühschichten in den Betrieben eintrafen, gab es für die Belegschaften nur noch ein Thema: die Vorgänge in Berlin und wie sie sich selbst solidarisch zeigen könnten. Es begannen Streiks und noch vormittags Demonstrationen. Von Beginn an forderten die Demonstranten den Sturz der Regierung und die Revidierung der Ostgrenze. Innerhalb weniger Stunden war fast die gesamte Stadt auf den Beinen. Alle wichtigen Gebäude und alle neuralgischen Punkte waren bald in der Hand der Aufständischen. Görlitz war für Stunden eine freie Stadt. Zwischen 11.30 Uhr und 13.00 fand auf dem Obermarkt, der «Leninplatz» hieß, eine Kundgebung statt. Zehntausende nahmen daran teil. Die Versammlung war von einer überbetrieblichen Streikleitung organisiert und über den Stadtfunk angekündigt worden. Den Oberbürgermeister der Stadt zwang die Streikleitung, Stellung zu nehmen. Sein hilfloses Argumentieren quittierte die Menge mit Buhrufen und Beschimpfungen. Einmütig sprachen ihm Zehntausende ihr Misstrauen aus und wählten ihn ab. Anschließend redete ein Mann des Volkes, des-
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sen Bekundung «Wir sind freie deutsche Bürger» mit Ovationen und Hochrufen begrüßt wurde. Die Menge sanktionierte den Streik aller Görlitzer Betriebe und beschloss, gegen 15.00 Uhr zu einer Demonstration zusammenzukommen. Außerdem gab man bekannt, dass am frühen Nachmittag ein Stadtkomitee gebildet, eine Bürgerwehr aufgestellt, die bisherige Polizei entwaffnet, das Rathaus besetzt und alle politischen Häftlinge befreit werden sollten. Zehntausende sangen gemeinsam das «Deutschlandlied». Zunächst war die SED-Kreisleitung das Ziel der Demonstranten. Man vermutete dort politische Häftlinge. Das Gebäude wurde schnell erstürmt. Die Protestierenden nahmen den 1. SED-Kreissekretär als «Schutzschild» mit und zogen ab, als sie merkten, dass es gar keine Häftlinge in dem Gebäude gab. Als Nächstes gingen sie zur MfS-Kreisdienststelle. Deren Mitarbeiter hatten sich im Haus verschanzt. Die Demonstranten umstellten es und befreiten zunächst einen Gefangenen, einen ehemaligen KVP-Angehörigen, indem sie ein Zellenfenster aufbrachen. Die sowjetische Kommandantur, die sich nur zwei Häuser weiter befand, griff nicht ein, sodass die Aufständischen glaubten, die Besatzungsmacht würde sich nicht einmischen. Mittlerweile hatten die sieben im Haus befindlichen MfS-Mitarbeiter begonnen, entgegen geltenden Befehlen aus dem Haus heraus auf die Demonstranten zu schießen. Bis zu 4000 Menschen befanden sich inzwischen davor. Der 1. SEDKreissekretär forderte die MfS-Mitarbeiter auf, mit dem Schießen aufzuhören und ihm die Häftlinge zu übergeben. Als die Stasi-Angehörigen ihm antworteten, es gäbe keine Gefangenen, glaubte ihnen nicht einmal dieser Funktionär. Er erreichte schließlich, dass er und eine zehnköpfige Delegation ins Haus gelassen wurden. Sie fanden tatsächlich keine Gefangenen vor, und auch von den Folterkammern und dem unterirdischen Gang zur sowjetischen Kommandantur, über die die Görlitzer seit Jahren gemunkelt hatten, fehlte jede Spur. Da immer noch Schüsse fielen, erstürmten die Demonstranten, während ihre Delegation sich im Haus befand, das Gebäude. Die gesamte Kreisdienststelle wurde zerstört, die Schützen verprügelt. Spä-
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ter veröffentlichten bundesdeutsche Zeitschriften Akten aus der Görlitzer Kreisdienststelle. Mithilfe solcher am 17. Juni erbeuteten Akten konnten Publizisten und Wissenschaftler grundlegende Strukturen und Arbeitsprinzipien des MfS öffentlich machen. In Görlitz ist am 17. Juni aber nicht nur wegen der Besetzung aller wichtigen Gebäude von einer Revolution zu sprechen, sondern weil sich ein zwanzigköpfiges Stadtkomitee gründete, das provisorisch die politischen Geschäfte der Stadt übernahm. Das Stadtkomitee leitete auch die gebildete Bürgerwehr an, die Polizeiaufgaben übernahm und Plünderungen und Zerstörungen verhinderte. Die Bürgerwehr war an weißen Armbinden zu erkennen. Gegen 14.30 Uhr, derweil hatten sich etwa 40 000 Menschen im Zentrum zu einer Kundgebung versammelt, verhängte der sowjetische Stadtkommandant den Ausnahmezustand, gültig ab 15.00 Uhr. Ein Sprecher verkündete die Anordnung über den Stadtfunk. Die Kundgebung fand dennoch statt. Gegen 16.00 Uhr trafen die ersten KVP-Einheiten in Görlitz ein. Kurze Zeit später beendete eine KVP-Einheit die Besetzung des Rathauses. Gegen 18.00 Uhr rückten sowjetische Kampfverbände in die Stadt ein. Bis gegen 20 Uhr hatte sich die Lage in der Stadt allmählich beruhigt, sämtliche Gebäude waren von Aufständischen geräumt und alle Ansammlungen auseinandergetrieben worden. Die Revolution in Görlitz breitete sich schnell im Landkreis aus. In vielen kleineren Städten und Dörfern kam es zu ähnlichen Vorgängen. Pendler berichteten über die Ereignisse in der Kreisstadt und initiierten Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen. Gemeindeämter wurden gestürmt, Dienstzimmer der Polizei besetzt, Polizisten entwaffnet, Streikkomitees gebildet, Bürgermeister ab- und verhasste Funktionäre festgesetzt. In der nördlich von Görlitz gelegenen Kreisstadt Niesky entwickelte sich eine geradezu bürgerkriegsähnliche Situation. In der Kleinstadt mit etwa 9000 Einwohnern existierten zwei Betriebe, die die bedeutendsten Arbeitgeber in der Region mit insgesamt 4000 Arbeitsplätzen darstellten. Am Morgen traten einzelne Belegschaften in beiden Betrieben sowie auf Baustellen in
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den Ausstand. Die Arbeiter zogen mittags geschlossen ins Stadtzentrum. Zunächst begab sich eine vierköpfige Delegation zum Ratsvorsitzenden. Polizisten wurden zeitgleich mit Steinen beworfen, die örtliche SED-Kreisleitung gestürmt und verwüstet, die meisten Funktionäre tauchten in die Illegalität ab, andere, die versuchten, sich zu wehren, bekamen es mit Arbeiterfäusten zu tun. Als Höhepunkt gestaltete sich der Sturm auf die MfSKreisdienststelle. Nach 15.00 Uhr versammelten sich immer mehr Menschen vor dem verhassten Stasi-Gebäude. Bald waren es über 1200. Die zehn sich im Haus aufhaltenden MfS-Mitarbeiter waren völlig unvorbereitet. Sie sollten das Gebäude unter allen Umständen verteidigen, durften aber nicht schießen. Sie verbarrikadierten sich in den oberen Stockwerken. Später erzählte beinahe jeder MfS-Mitarbeiter eine andere Version über die Vorgänge. Sie waren sich nicht einmal einig, ob ihr Chef befohlen hatte, jeden zu erschießen, der ins Haus gelangte, oder ob er sagte, geschossen werde nur auf seinen ausdrücklichen Befehl hin. Als einem Bürger Nieskys der Zugang zum Haus gewährt wurde, damit er sich überzeugen könne, dass es keine Gefangenen gäbe, glaubten die anderen Demonstranten seiner Aussage nicht und begannen, das Haus zu erstürmen. Drinnen angelangt, legten einige Demonstranten im Keller Feuer. Die MfS-Mitarbeiter bekamen Angst und forderten Polizeiunterstützung an. Ein Kommando mit etwa 20 Polizisten, ausgerüstet mit Karabinern, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Als sie begannen, Warnschüsse abzugeben, merkte die Menge, dass sich in den Läufen lediglich Platzpatronen befanden. Sie entwaffneten und verjagten die Polizisten und verfolgten sie bis zum Volkspolizeikreisamt. Die Flucht der Polizisten ermutigte die Demonstranten, ihren Sturm auf die MfS-Kreisdienststelle fortzusetzen. Nach weiteren zwei Stunden war der letzte Widerstand gebrochen: Das MfS-Gebäude befand sich in der Hand freier Bürger Nieskys. Sie nahmen den Dienststellenleiter und drei weitere MfS-Mitarbeiter gefangen, sperrten sie in einen Hundezwinger, und «dort sollten sie ein rotes Fahnentuch auffressen». Um den Hohn perfekt zu machen, setzten sie ihnen Futternäpfe mit
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Hundefutter vor. Etwa um 20.00 Uhr räumten KVP-Einheiten das MfS-Gebäude. Gegen 22.00 Uhr herrschte wieder Ruhe in der Kleinstadt. Sowjetische Truppen hatten in Niesky nicht wesentlich eingegriffen. Angeblich standen keine Dolmetscher zur Verfügung, die eine entsprechende Anforderung hätten übermitteln können. Wie in Görlitz breitete sich auch im Landkreis Niesky die städtische Revolution auf viele kleine Städte und Gemeinden aus. Für Görlitz und Niesky war wie für viele andere Stadt- und Landkreise typisch, dass sich in den ersten Tagen nach dem 17. Juni viele Arbeiter und Angestellte krankmeldeten. Der Schock des Aufstands saß bei den Funktionären tief, der der Niederlage bei den Aufständischen. Wie stolz aber viele Menschen auf die Ereignisse waren, veranschaulicht beispielhaft ein Zitat von Anfang Juli 1953. In einer SED-Versammlung in Görlitz meinte ein Redner: «Der 17.6. soll nach den Ausführungen des Gen[ossen] R. (Referent) ein schwarzer Tag für die Arbeiterklasse sein. Der 17.6. war ein schwarzer Tag für den Kommunismus. Man wird noch einmal für den 17.6. den Arbeitern danken, dass sie rebellierten. Es gibt in der DDR keine Bewegungsfreiheit. Es fehlt bloß noch, dass man das Sterbedatum für den Einzelnen bestimmt.»
5. Die Rache der Herrschenden Bis zum Morgen des 6. Juli 1953 verhafteten das MfS und die Polizei etwa 10 000 Personen, darunter 226 aus West-Berlin und zwei aus Westdeutschland. Sowjetische Kommandos nahmen nochmals bis zu 2000 Personen fest. Schließlich kamen Festnahmen hinzu, die im Juli und der Folgezeit bis etwa Mitte 1955 durch DDR-Dienststellen vorgenommen worden sind. Die Gesamtzahl der Festgenommenen belief sich insgesamt auf etwa 15 000. Die Mehrheit der Festnahmen, die im direkten zeitlichen Um-
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feld des Aufstands vorgenommen worden sind, erwiesen sich als willkürlich und erfolgten oftmals wegen Überschreitung der Ausgangssperre, fehlender Ausweispapiere oder Aufenthalt in der Nähe eines Regierungsgebäudes. In Berlin kam noch als Delikt der illegale Übertritt über die Sektorengrenze – sowohl von Ost nach West als auch umgekehrt – hinzu. In Ost-Berlin zogen bereits am Vormittag des 17. Juni kleinere, eigens gebildete Operativgruppen der Staatssicherheit durch die Stadt. Den gesamten Tag über nahmen sie Verhaftungen vor. Auch in den meisten anderen Städten bildete das MfS im Laufe des Tages solche Gruppen. Etwa 5000 Verhaftungen in den ersten Tagen durch das MfS deuten an, dass der MfS-Führung daran gelegen war, durch schnelles und hartes Durchgreifen sicherheitspolitisch den Status quo ante herzustellen. Dabei waren sie vom Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht beeinflusst, die nicht nur schnell Verhaftungen vornahm, sondern ebenso schnell Urteile verhängte. Neben den bereits erwähnten standgerichtlichen Erschießungen von DDR-Bürgern verhängten sowjetische Militärtribunale Haftstrafen. Wie viele Urteile die SMT aussprachen, ist bislang unbekannt. Nach welchen Prinzipien die sowjetische Besatzungsmacht dabei entschied, wer von ihr und wer von einem ostdeutschen Gericht abgeurteilt werden sollte, liegt nicht offen. Aus den Unterlagen des MfS und der Polizei wird lediglich ersichtlich, dass beide Institutionen der Besatzungsmacht Hunderte Festgenommene übergaben. Einer Notiz im Nachlass von Otto Grotewohl zufolge überstellte allein die Volkspolizei bis zum 27. Juni 317 Verhaftete an die sowjetischen Behörden zur Verurteilung. Die im Haus der Ministerien in Ost-Berlin vom MfS am 17. Juni festgenommenen 173 Personen sind auch der sowjetischen Kommandantur übergeben worden. Aus anderen Unterlagen wird deutlich, dass neben Entlassungen und an Gerichte übergebenen Personen die statistischen Erhebungen «sonstige Abgänge» verzeichneten, womit Überstellungen an die Besatzungsmacht gemeint waren. Hinzu kamen Verurteilte, die die Besatzungsmacht selbst verhaftet hatte. Damit scheint in etwa die Personengruppe umrissen zu
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sein, die von der Besatzungsmacht verurteilt worden ist: zwischen 500 und 750. Die SMT verhängten durchschnittlich höhere Strafmaße als die ostdeutschen Gerichte. Strafen zwischen drei und fünf Jahren waren eher die Ausnahme, acht bis zwölf Jahre die Regel und 15 bis 25 Jahre nicht selten. Die meisten Urteile verhängten die SMT zwischen dem 17. Juni und dem 14. Juli 1953. Dass etwa zwei Arbeiter aus Schkeuditz noch am 23. November 1953 von einem SMT zu acht bzw. vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden sind, zählte zu den Ausnahmen. Die Hauptlast der Verhaftungen und Verurteilungen trugen DDR-Dienststellen. Staatssicherheit, Polizei und Justizorgane arbeiteten dabei unter Anleitung der SED sowie der sowjetischen Besatzungsmacht eng zusammen. Der stellvertretende MfS-Minister, Erich Mielke, wies per Blitzfernschreiben am Morgen des 18. Juni 1953 alle MfS-Dienststellen an: «Energisches ‹Handeln› erfordert die besondere Lage, Hetzer, Provokateure, Saboteure, Rädelsführer und andere Elemente, die sich hierbei besonders hervortaten, sind sofort festzunehmen.» Einen Tag später, am 19. Juni 1953 vormittags, befahl Mielke eine mildere Gangart. Demzufolge sollten alle Streikleitungen, die Forderungen «Nieder mit der Regierung» oder «Nieder mit der SED» vertreten hatten, sofort und «ohne vorherige Prüfung» verhaftet werden. Streikleitungen, die allein sozialökonomische Forderungen vertreten hatten, sollten erst «nach Überprüfung der einzelnen Mitglieder» festgenommen werden. In Ost-Berlin sind mindestens 25 Streikleitungen komplett verhaftet und später zum Teil verurteilt worden. Schließlich wies Mielke am 23. Juni 1953 an: «Massenrepressalien sind untersagt.» Die sowjetischen Verantwortlichen drängten die zuständigen DDR-Dienststellen auf schnelle Verurteilungen. In den Räumen der Generalstaatsanwaltschaft in Ost-Berlin bildeten Justizminister Max Fechner und Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer am 20. Juni 1953 einen Operativstab, dem die Anleitung für sämtliche Strafverfahren oblag. Der Operativstab stand unter Leitung von Hilde Benjamin, zu diesem Zeitpunkt Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR.
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Dieser Operativstab wies am 20. Juni 1953 sämtliche Bezirksgerichte an, eigene Strafsenate für die «17. Juni»-Prozesse einzurichten. Justizminister Fechner ergänzte einen Tag später in einer Direktive, dass bei der Strafzumessung genau zu unterscheiden sei zwischen «Agenten, Provokateuren, Rädelsführern auf der einen Seite und den verführten Werktätigen der DDR auf der anderen Seite». Es sollte bei den sogenannten Irregeleiteten das bisherige Arbeits- und Gesellschaftsverhalten berücksichtigt werden. Hohe Zuchthausstrafen oder gar die Todesstrafe mussten beim Operativstab vor der Urteilsverkündung beantragt werden. Am 24. Juni verfügte der Operativstab, Verfahren wegen Geringfügigkeit häufiger als bislang geschehen einzustellen. Einen Tag später kam ein Erlass hinzu, Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten nicht zu vollstrecken. Gerade wenn man bedenkt, mit welcher unverhältnismäßigen Härte die Gerichte 1952 und in der ersten Hälfte des Jahres 1953 Urteile verhängten, so stellt sich der Eindruck ein, die Machthaber wollten neue Konfrontationen mit der Bevölkerung vermeiden. Aus der gesamten DDR meldeten die Berichterstatter, dass überall die Arbeitskollegen von Verhafteten offen gegen die Festnahmen protestierten. Auch die zweite große Streikwelle im Juli 1953 entzündete sich an der Forderung, verhaftete Kollegen freizulassen. Die Machthaber reagierten auf die Stimmung in der Bevölkerung. Sie lösten ihre Absichtserklärungen vom 9. und 11. Juni ein, als sie zunächst die Urteile der politischen Häftlinge aus der Zeit vor dem 17. Juni überprüften. Bis zum Abschluss der Überprüfungen Ende Oktober 1953 kamen so 24 000 Personen vorzeitig aus der Haft. Im Januar 1954 sind außerdem 6000 SMTVerurteilte freigelassen worden, die die sowjetische Regierung begnadigte. Wenn man bedenkt, dass das System am «17. Juni» am Abgrund und die Macht des Politbüros zur Disposition stand, dann muss erstaunen, dass die Mehrheit der Festgenommenen bis Ende Juni 1953 bereits wieder freigelassen worden ist. Laut einem Bericht an das SED-Politbüro kam es bis Ende Januar 1954 zur Überstellung von 3449 Personen an die Staatsanwalt-
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schaften. Noch vor Prozesseröffnung wurden 1221 Verfahren eingestellt. In weiteren 433 Fällen stellten die Gerichte die Verfahren ein, und 76 Angeklagte sprachen sie frei. Demnach sind bis Ende Januar 1954 1526 Angeklagte verurteilt worden, davon sind zwei Todesstrafen vollzogen worden, drei Angeklagte erhielten lebenslänglich Zuchthaus, 13 Strafen von zehn bis 15 Jahren, 99 Strafen von fünf bis zehn Jahren, 824 Strafen von ein bis fünf und schließlich 546 Angeklagte Strafen von bis zu einem Jahr. Am 21. Juni 1953 verurteilte das Kreisgericht Hildburghausen vier Bauern aus Hellingen zu Zuchthausstrafen von bis zu zweieinhalb Jahren. Das waren offenbar die ersten Urteile, die es im Zusammenhang mit dem Aufstand vor DDR-Gerichten gab. Systematisch begannen die Prozesse am 22. Juni. Zwar sind bereits vom 20. Juni 1953 die ersten Anklageschriften der Staatsanwaltschaft Dresden bekannt, aber erst am 21. Juni erließ das SEDZentralkomitee politische Richtlinien für die Prozessführung, die ab 22. Juni von den Gerichten zu beachten waren. An diesem Tag fanden die ersten Prozesse in fast allen Bezirken statt. In den folgenden Wochen und Monaten kam es bis ins Jahr 1955 hinein zu insgesamt etwa 1800 Urteilssprüchen, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Volksaufstand standen. Die erste Prozesswelle zog sich von Mitte Juni bis Mitte Oktober 1953 hin. In dieser Zeit sind etwa 1400 Urteile ergangen. Die strafpolitische Bilanz fällt weitaus milder aus als die nach dem Mauerbau 1961. Intern beklagte das SED-Politbüro drei Monate nach dem Volksaufstand, am 23. September 1953, dass es der Stasi bislang nicht gelungen sei, die «Organisatoren der Provokationen» zu entlarven. Nochmals zwei Monate darauf, am 11. November 1953, räumte der neue Chef des Staatssicherheitsdienstes, Ernst Wollweber, ein: Wir müssen «feststellen, dass es uns bis jetzt noch nicht gelungen ist, nach dem Auftrag des Politbüros die Hintermänner und die Organisatoren des Putsches vom 17. Juni festzustellen». Doch unabhängig von diesen streng geheimen Eingeständnissen mussten – so der politische Auftrag – der Öffentlichkeit Männer und Frauen als «Rädelsführer» und «westliche Agenten» präsentiert werden.
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Tatsächlich inszenierte die SED-Führung im Verbund mit Justiz und MfS mehrere Schauprozesse, in denen vermeintliche «westliche Agenten» abgeurteilt worden sind. Es ist zu betonen, dass sich nicht alle Richter an die Vorgaben der SED hielten. Insbesondere nach einem Interview von Max Fechner im «Neuen Deutschland» am 30. Juni 1953, in dem er sich gegen eine Verurteilung der Aufständischen ausgesprochen hatte, zeigten sich viele Justizfunktionäre verunsichert. Obwohl Justizminister Fechner sehr schnell entlassen, verhaftet und im Mai 1955 verurteilt (acht Jahre) worden ist, blieben seine Ausführungen nicht ohne Wirkung. Insbesondere Richter, aber auch Staatsanwälte zeigten sich verunsichert. Viele Festgenommene und Verhaftete wurden freigelassen, die oftmals sofort in den Westen flüchteten und im Herbst 1953, als eine neue Verhaftungswelle das Land überzog, nicht mehr verfügbar waren, weshalb nun Personen ins Blickfeld gerieten und oftmals verurteilt worden sind, die nur mittelbar etwas mit den Ereignissen zu tun hatten. Es kam zudem nach dem Interview mit Fechner zu verhältnismäßig vielen Freisprüchen, milden Strafen, und nicht selten wurde die Anklage verworfen. In Ost-Berlin zum Beispiel kam eine Reihe Westberliner in den folgenden Monaten frei, die nach den Ermittlungen des MfS an der «Entführung» Otto Nuschkes in den Westen beteiligt gewesen sein sollten. Als sie vor Gericht aber die Ermittlungsergebnisse des MfS als falsch überführten, stellte das Gericht die Verfahren ein. Daneben mussten mehrere Richter aus laufenden Verfahren herausgelöst werden, weil sie vorgegebene Strafmaße aufgrund der vorhandenen Beweislast nicht verhängen wollten. Das bekannteste Beispiel dafür bildet das tragische Schicksal von Ernst Jennrich. Die Staatssicherheit nahm den vierfachen Familienvater am 20. Juni 1953 fest, einen Haftbefehl erwirkte sie erst am 2. Juli 1953. Man warf ihm vor, an den Tumulten in Magdeburg-Sudenburg beteiligt gewesen zu sein, und glaubte, mit ihm den Mörder eines MfS-Angehörigen gefunden zu haben. Am 25. August 1953 stellte das Magdeburger Bezirksgericht fest, dass Jennrich eine Mitschuld am Tod des Stasi-Mannes nicht nachgewiesen werden könne. Das Urteil lautete lebenslänglich.
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Der Staatsanwalt protestierte, das Oberste Gericht hob das Urteil auf, und am 6. Oktober 1954 fällte die zweite Instanz trotz unveränderter Beweislage das Todesurteil. Am 20. März 1954 ist Ernst Jennrich in Dresden durch Enthauptung hingerichtet worden. Zwischen dem MfS und einzelnen Justizeinrichtungen bzw. Justizmitarbeitern kam es insbesondere in den ersten Wochen nach dem «17. Juni» mehrfach zu Spannungen. Mehrere Richter weigerten sich, Haftbefehle zu unterzeichnen, weil Beweise für die Schuld der Verhafteten fehlten. Das MfS hielt deshalb Hunderte ohne rechtsamtliche Verfügung fest. In Halle, Magdeburg und einigen anderen Städten weigerten sich einzelne Richter, überzogene Strafmaße zu verhängen oder überhaupt Urteile auszusprechen. Und obwohl Mielke am 23. Juni angewiesen hatte, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit «nur in besonderen und ganz seltenen Ausnahmefällen» auf die Strafzumessung einwirken sollten, versuchten MfS-Offiziere in allen Bezirken, genau dahingehend zu wirken. Einige Richter haben unter dem Druck des Staatssicherheitsdienstes angstvoll Urteile gefällt, die sie selbst als völlig inakzeptabel ansahen. Insgesamt gesehen, erwies sich die Justiz als willfähriger Handlanger der Diktatur. Die meisten Angeklagten versuchten, das zu erwartende Strafmaß durch Reue und «Einsicht» zu mildern. Nur in wenigen Fällen trotzten die Angeklagten mutig der Willkürjustiz. Im zweiten Quartal 1954 kam es zu einer zweiten größeren Prozesswelle, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni stand. Die Urteile, die die Gerichte nun aussprachen, fielen durchschnittlich höher aus und waren daran orientiert, die «Drahtzieher» der Ereignisse zu überführen. So geschehen etwa in dem Prozess Ende Mai 1954 gegen Max Fettling, Karl Foth, Berthold Stanicke und Otto Lembke, die als die Organisatoren der Streikbewegung auf den Ostberliner Baustellen Krankenhaus Friedrichshain und Stalinallee angesehen wurden. Das MfS hatte die vier zwischen dem 18. und 20. Juni 1953 verhaftet. Fettling, der sich als Gewerkschaftsfunktionär vergeblich bemüht hatte, die Streikbewegung einzudämmen und die politischen Forderungen zu kanalisieren, erhielt zehn Jahre Zuchthaus. Die Strafmaße standen bereits vor
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Prozessbeginn fest. Deshalb nützte es auch nichts, dass den Angeklagten mutige und energisch auftretende Rechtsanwälte zur Seite standen. Auch in anderen Strafverfahren haben zuweilen Verteidiger Plädoyers gehalten und Berufungsschriften eingereicht, die selbst als Zeugnisse widerständigen Verhaltens gelten können. Allerdings zeigten sich auch viele Verteidiger eingeschüchtert, blieben in den Verhandlungen weitgehend stumm oder erwiesen sich als der Staatsanwaltschaft oder den Richtern untertänig. Der Höhepunkt in der juristischen Aufarbeitung des Volksaufstandes fand vom 10. bis 14. Juni 1954 vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR statt. In einem Schauprozess sollte bewiesen werden, dass die vier Angeklagten die «Hintermänner» des «Tag X» gewesen seien. Aber trotz der vergleichsweise langen Verhandlungsdauer konnten selbstredend keine stichhaltigen Beweise erbracht werden, dass Werner Silgradt, Werner Mangelsdorf, Hans Füldner und Horst Gassa im Auftrag westlicher Geheimdienste und bundesdeutscher Institutionen den Volksaufstand organisiert hatten. Dieser Schauprozess war monatelang vorbereitet worden. Ursprünglich war geplant, den Streikführer Friedrich Schorn aus den Leuna-Werken zum Hauptangeklagten zu erklären. Da das MfS aber seiner nicht habhaft werden konnte – er war nach dem Aufstand nach WestBerlin geflüchtet – und mehrere geplante Entführungsaktionen von West- nach Ost-Berlin scheiterten, begnügte man sich schließlich mit den genannten Personen. Alle vier sind aus WestBerlin entführt oder durch List nach Ost-Berlin gelockt worden. Der Schauprozess endete mit Urteilen von 15 Jahren Zuchthaus für Mangelsdorf und Silgradt, zehn Jahren für Füldner und fünf Jahren für Gassa. Die letzten der etwa 1800 Urteilssprüche, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni fielen, verhängten ostdeutsche Gerichte 1955. Die Verhandlung gegen Max Fechner ist bereits erwähnt worden. Die wahrscheinlich letzte direkte Verhandlung fand am 6. September 1955 vor dem 1. Strafsenat des Stadtgerichts von Ost-Berlin statt. Angeklagt war ein 25 Jahre alter Arbeiter, der am 26. Juni 1953 nach West-Berlin geflüchtet war. Angestellt in
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einem Privatbetrieb, hatte er sich am 17. Juni 1953 an den Demonstrationen in Ost-Berlin beteiligt. Am Potsdamer Platz bat ihn ein westlicher Fotograf, ein zerbrochenes Schild mit der Aufschrift «Der Präsident der Deutschen Demokratischen Republik, Büro für öffentliche Sprechstunden» in die Kamera zu halten. Der Angeklagte tat das. Als er wenige Tage später das Foto in der Illustrierten «Stern» mit seinem Konterfei sah, flüchtete er in den Westen, weil er befürchtete, von den DDR-Sicherheitsorganen identifiziert und verhaftet zu werden. Seine Furcht war begründet. Bis Mitte 1954 wertete die Staatssicherheit Fotos aus und versuchte, die darauf befindlichen Personen zu identifizieren. Verantwortungsbewusste Zeitungen, Illustrierte und Buchautoren haben deshalb auf den Fotos die Gesichter unkenntlich gemacht. Die Redaktion des «Stern» hielt das nicht für nötig. Der Angeklagte flüchtete in den Westen und erhielt den Status eines «politischen Flüchtlings». Im Dezember 1953 gewann der Mann einen Prozess gegen den «Stern» wegen «Gefährdung der persönlichen Freiheit» und erhielt 2900 DM als Schadensersatz. Am 30. April 1955 nahm die Staatssicherheit den jungen Mann fest. Die näheren Umstände, die zur Verhaftung führten, sind anhand der Akten nicht zu rekonstruieren. Ein Gericht verurteilte ihn zu einem Jahr und neun Monaten Zuchthaus. Auch wenn mit diesem Prozess die direkte strafrechtliche Ahndung für eine Beteiligung am Volksaufstand beendet gewesen war, spielte das Verhalten am «17. Juni 1953» auch in den folgenden Jahren in politischen Strafprozessen oft eine Rolle. War jemand bereits am «17. Juni» aufgefallen, konnte dies strafverschärfend zu Buche schlagen. In einem besonderen Fall ist der «17. Juni» pauschal sogar als eine Begründung für eine Todesstrafe erwähnt worden. Am 7. November 1955 verhängte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus ein Todesurteil gegen Johannes Schmidt, der als MfS-Mitarbeiter im Februar 1953 geflüchtet war. Am 15. Mai 1955 erfolgte seine Festnahme auf dem Gebiet der DDR. Gegen die ausgesprochene Todesstrafe legte der Verteidiger Berufung ein. Im Urteil des Obersten Gerichts vom 9. Dezember 1955, mit dem die Berufung abgewiesen worden ist, hieß es: «Er hat mit seinem Verrat nicht unerheblich
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dazu beigetragen, dass die Putschisten am 17. Juni 1953 genauestens über Objekte des Ministeriums für Staatssicherheit, über Strafanstalten und über den Unterbringungsort einzelner Strafgefangener unterrichtet waren.» Das war durchweg erlogen. Am frühen Morgen des 22. Dezember 1955 richtete der Scharfrichter Johannes Schmidt in Dresden hin. Hinrichtungen in der Sowjetarmee?
Der Volksaufstand hatte auch deshalb keine Chance, erfolgreich zu sein, weil die politische Großwetterlage eine Veränderung des Status quo weder vorsah noch zuließ. Daran waren weder die Westmächte noch die Supermacht Sowjetunion interessiert. Angesichts der Tragweite des Einsatzziels und im Vergleich zu späteren Einsätzen der sowjetischen Armee etwa 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei blieb ihr Einsatz 1953 verhältnismäßig unspektakulär. In (West-)Berlin erinnert seit 1954 ein Gedenkstein an sowjetische Soldaten, die sich weigerten, auf die Aufständischen zu schießen, und deshalb hingerichtet worden sein sollen. Die Informationen, die zur Einrichtung dieses Ehrenmals führten, entstammten einem Flugblatt, das die Emigranten- und Widerstandsorganisation NTS herausgegeben hatte. Die Informationen dazu lieferte Major Nikita Ronschin, der zeitgenössischen Veröffentlichungen zufolge nach dem Juni-Aufstand in den Westen geflüchtet war. Aus 2003 aufgefundenen Akten in den MfS-Archiven geht hervor, dass Ronschin bereits im April 1953 flüchtete und somit als Augenzeuge ausschied. Es ist durchaus möglich, dass die Organisation NTS das Flugblatt wider besseres Wissen verbreitete, um die innere Moral der sowjetischen Truppen aufzuweichen. Darin bestand eine ihrer selbstgestellten Hauptaufgaben, weshalb die Flugblätter auch massenhaft in russischer Sprache in der Nähe sowjetischer Kasernen verbreitet worden sind. Denkbar wäre aber auch, dass Ronschin mit seinen Informationen Aufmerksamkeit und Akzeptanz erzielen wollte. Übergelaufene Sowjetsoldaten mussten im Westen unter Beweis stellen, dass sie tatsächlich die Fronten gewechselt hatten
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und nicht im Auftrag eines kommunistischen Geheimdienstes agierten. In keinem bislang bekannt gewordenen Dokument aus deutschen oder russischen Archiven findet sich auch nur der geringste Hinweise darauf, dass es solche Hinrichtungen gegeben hat. Bei den russischen Behörden ist zudem seit 1991 kein Fall aufgetreten, dass ein Hinterbliebener die Rehabilitierung beantragt hätte. Rehabilitierungsanträge für drei angeblich hingerichtete Soldaten, deren Namen in dem Flugblatt erwähnt worden sind, blieben bis zum heutigen Tage unerfüllt, da nicht einmal eruiert werden konnte, ob die drei Genannten überhaupt existierten. Von den genannten sowjetischen Armee-Einheiten wiederum ist bekannt, dass sie 1953 gar nicht mehr in der DDR stationiert waren. Auch auf sämtliche Anfragen an russische Staatseinrichtungen gab es bisher nur negative Antworten. Zeitzeugen, die sich in den letzten Jahren immer mal wieder meldeten, konnten letztlich nur berichten, dass sie aus Erzählungen von Dritten davon wüssten. Schließlich kommt hinzu, dass fast alle 1953 in der DDR stationierten Sowjetsoldaten zu jenem Zeitpunkt Militärangehörige waren, die selbst unmittelbar an den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges beteiligt gewesen sind. Fast alle hatten Verwandte, Freunde oder Familienangehörige durch den Krieg der Deutschen verloren. Sie befanden sich auf besetztem Feindgebiet, mit dem es keine vertraglich geregelte Friedensvereinbarung gab, und waren zudem streng isoliert und von der Außenwelt abgeschirmt. Ihnen standen keine Informationen zur Verfügung, Deutsch beherrschten nur ganz wenige Offiziere. Den Soldaten und Offizieren ist erzählt worden, es handele sich um einen von den westlichen Alliierten unterstützten faschistischen Putsch. Die Armeen waren in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, auf Kampfalarm, der auf einen bevorstehenden oder sogar bereits ausgebrochenen Krieg hindeutete. Was also hätte Soldaten bewegen sollen, ihr eigenes Leben so aufs Spiel zu setzen? Insgesamt scheint es sehr unwahrscheinlich, dass es Befehlsverweigerungen in einem solchen Ausmaß gegeben hat. Solange aber die Archive des russischen Militärstaatsanwalts geschlossen bleiben, wird sich keine
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verlässliche Aussage treffen lassen, ob es einzelne sowjetische Soldaten gegeben hat, die sich am 17. Juni 1953 weigerten, den Befehlen ihrer Führung zu folgen.
6. Internationale Reaktionen Als Bundeskanzler Konrad Adenauer hörte, dass in Ost-Berlin, Magdeburg, Halle, Leipzig, Jena, Görlitz, Dresden und vielen weiteren Orten am 17. Juni 1953 mächtige Demonstrationen stattfanden, glaubte er zunächst wie viele andere westliche Politiker, Geheimdienste und Journalisten an eine Inszenierung der kommunistischen Machthaber, die diesen aus der Hand entglitten sei. Es lag außerhalb des Vorstellungsvermögens, dass in der DDR das Volk massenhaft gegen die Diktatur aufbegehrte. Nicht nur im kommunistischen Machtbereich, auch in der Bundesrepublik, in Großbritannien, Frankreich, den USA und vielen anderen Staaten waren die Herrschenden von der Volksbewegung überrascht. Für die politische Klasse im Westen war ein Aufstand gegen die Diktatur nicht vorstellbar, weil der Staat übermächtig erschien, die Gesellschaft stillgelegt und ihre eigenen Erfahrungen, nicht zuletzt gespeist aus den Jahren 1933 bis 1945, eine eruptive Volkserhebung als unrealistisch erscheinen ließen. Der Aufstand beherrschte einige Tage die Weltpresse und verdrängte für kurze Zeit den Koreakrieg aus den weltweiten Schlagzeilen. Bundesdeutsche Diplomaten in der ganzen Welt kabelten nach Bonn, die Welt erblicke im Aufstand den Schrei der Deutschen nach Wiedervereinigung, Freiheit und Demokratie. Und die Weltpresse war sich einig darin, dass der Aufstand – so unterschiedlich manche Kommentatoren die Ursachen auch einschätzten und mit Verschwörungstheorien nicht geizten – vor allem und zuerst eine Niederlage für die sowjetische Politik, die kommunistische Diktatur darstelle. Für die Bundesrepublik und die Regierung Adenauer bedeu-
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tete der 17. Juni einen Legitimationsschub. Die Niederschlagung des Aufstands passte in die antikommunistischen Klischeebilder und zementierte diese noch. Der Aufstandsversuch selbst wiederum belegte, dass die Gesellschaft unterjocht wurde. Aus beiden Interpretationen zog die junge Bundesrepublik Kapital für die eigene Stabilisierung. Nicht zuletzt Kritiker der bundesdeutschen Außen- und Innenpolitik konnten und wurden nachfolgend mit der scheinbar einzigen Alternative – der Zone als Moskaus Vorhölle – in die Schranken gewiesen. Auch die USA zeigten sich von den Ereignissen überrascht. Die Besatzungsmacht reagierte sehr zurückhaltend, ihr «Rundfunk im amerikanischen Sektor» berichtete sachlich über den Aufstand, beförderte ab dem 17. Juni 1953 keine Aktionen mehr. Es regierte die Einsicht, dass der Aufstand ohnehin keine Aussicht auf Erfolg habe. Intern analysierten Geheimdienstexperten, dass der Aufstand zwar gegen die Kommunisten gerichtet gewesen sei, aber ihn dies nicht automatisch zu einem prowestlichen Aufstand werden lasse. Diese Analytiker betonten die nationalistische Komponente, was das Unternehmen in ihren Augen verdächtig erschienen ließ. Auch für die USA lag der Krieg gegen Nazi-Deutschland erst acht Jahre zurück. Da insgesamt aber der Eindruck überwog, der Westen verhalte sich viel zu passiv, reagierte die USA mit einem Lebensmittelhilfsprogramm, dessen Grundzüge bereits im Mai ausgearbeitet worden waren. Zum einen sollte damit der ostdeutschen Bevölkerung konkret geholfen und ihr gezeigt werden, dass sie nicht vergessen würde. Zum anderen konnten so die Sowjets gedemütigt werden, weil vor aller Augen offenbar wurde, dass nicht nur ein Großteil der Bevölkerung gegen sie sei, sondern dass sie diese nicht einmal satt bekäme. In zwei Phasen wurden vom 27. Juli bis 15. August sowie vom 28. August bis 3. Oktober 1953 mehr als 5,5 Millionen amerikanische Lebensmittelpakete an mehreren Verteilungspunkten in West-Berlin an Ostberliner und Ostdeutsche ausgegeben. Allein in der ersten Phase nahmen 850 000 Ostdeutsche dieses Angebot wahr. Das war eine deutliche Demonstration gegen das SED-Regime. Dieses versuchte dies zu unterbinden, war aber letztlich machtlos.
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Die USA bemühten sich auch, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR vor die UNO zu tragen. Dies wurde von ihren Verbündeten Frankreich und Großbritannien verhindert. Das Argument dafür war nicht unlogisch, zeigt aber auch, wie sehr diese sich wiederum über Elemente ihrer illegitimen Herrschaft bewusst waren. Denn sie verhinderten die Anklage der DDR vor der UNO mit dem Hinweis, dies könnte als Präzedenzfall gelten, und in der Folge würden sie selbst wegen ihrer Kolonialpolitik und Kolonialpraxis vor der UNO angeprangert werden. Der Einzige, dem die Entwicklungen in der DDR in die Hände zu spielen schienen, war der britische Premier Churchill. Er war immer noch auf ein gesamtdeutsches, neutrales Deutschland orientiert, dass er auf Verhandlungsbasis mit der neuen sowjetischen Führung erreichen wollte. Die Grundlage dafür, vernünftige Beziehungen zu Moskau, um überhaupt verhandeln zu können, ließen ihn selbst noch nach dem Aufstand das Vorgehen der Sowjets verteidigen und loben. Die Lebensmittelaktion der USA lehnte er zugleich entschieden ab. Letztlich setzten sich Adenauer und die USA mit ihrer Politik der Westintegration der Bundesrepublik durch – Churchill erlitt eine Niederlage, die, historisch gesehen, zweitrangig blieb. Anders als im Westen blieb der 17. Juni im Osten ein dauerhaftes Menetekel für die Herrschenden. Immer wieder kam es zu größeren Aufständen – 1956 in Polen und Ungarn, ganz anders geartet 1968 in der ČSSR, in Polen 1970, 1976 und dann ab 1980, womit der Untergang des sowjetischen Kommunismus tatsächlich begann – und zu ungezählten kleineren (v. a. UdSSR, Rumänien, Bulgarien), die meist überregional kaum ins Bewusstsein drangen. Ob die Machtkämpfe nach Stalins Tod in Moskau durch den 17. Juni entscheidend beeinflusst worden sind, ist in der Forschung weiterhin umstritten. Aber nachdem dort der einst mächtige Berija ausgeschaltet und seine engsten Mitstreiter mit ihm hingerichtet worden waren, stabilisierte sich das Regime. Die wohl wichtigste Neuerung bezogen auf die DDR war der ab Sommer 1953 einsetzende Umschwung, die Besatzungszone nicht mehr wie die 16. Sowjetrepublik zu behandeln. Der DDR wurden größere Handlungsspielräume ge-
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währt – die SED-Führung sollte durch ein autonomeres Erscheinungsbild innenpolitisch gestärkt werden. Zugleich war damit die Hoffnung verbunden, ihr mittelfristig auch außenpolitisches Renommee zu verschaffen. Es dauerte noch viele Jahre, bis die SED wenigstens überwiegend den Makel einer reinen «Russenpartei» verloren hatte und bis die DDR als gleichberechtigtes Völkerrechtssubjekt akzeptiert worden ist. Aber die Ursprünge für diese Entwicklung bis zur UNO-Aufnahme 1973 lagen im Sommer 1953. Die SED-Führung hatte auch ihre Lektion gelernt. In der Folge des 17. Juni ist die gesamte Sicherheitsarchitektur des Staates allmählich umgebaut und verändert worden. Im Kern ging es um Präventionsmaßnahmen, die künftig einen Aufstand verhindern sollten. Die gesamte Gesellschaft ist von diesem System mehr und mehr erfasst worden. Als 1960/61 intern die neuerliche tiefe Gesellschafts- und Legitimationskrise als Vorzeichen eines neuen bevorstehenden Aufstands gedeutet wurden, konnte sich Ulbricht gegen die Mehrheit der osteuropäischen Führer und mit Hilfe Moskaus durchsetzen: Der Mauerbau richtete sich gegen die eigene Gesellschaft und gegen einen befürchteten neuen Volksaufstand. Die Mauer stabilisierte die DDR – und zugleich symbolisierte sie immer auch ihre Vergänglichkeit. Aber erst in dem Moment, in dem Moskau Ende der 1980er Jahre vor dem Hintergrund einer tiefen Wirtschaftsund Gesellschaftskrise im gesamten Ostblock den einzelnen Staaten das Recht auf Autonomie zubilligte und damit auch die Bestandsgarantie der DDR aufhob, war der Zeitpunkt gekommen, die Mauer zu erstürmen. Wie so oft kam vieles zusammen – 1989/90 war ein solch kurzer und glücklicher Moment in der Geschichte. Fast alles, was den Erfolg 1989 aber zur Voraussetzung hatte, fehlte im Sommer 1953. Darin liegt im dialektischen Sinne die Verbindung zwischen 1953 und 1989.
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In den osteuropäischen kommunistischen Staaten gehörte die Wiederaneignung der eigenen Geschichte zu den Ausgangspunkten der systemstürzenden Reformen und Revolutionen von 1989. Der «17. Juni» nahm eine Sonderrolle ein. Wer seine politische und historische Rehabilitierung erwartet hatte, sah sich getäuscht. Er hatte nicht nur überhaupt keine Bedeutung, er verlor auch noch die, die er bis dahin formal in der Bundesrepublik besessen hatte (Abschaffung des Feiertages). Aus der DDR bzw. den neuen Bundesländern gab es dagegen keine Proteste. Das zeigt ein verbreitetes, auf den Staat orientiertes Geschichtsverständnis. Der 3. Oktober steht für staatliches Handeln. Die Geschichte der Macht wird häufig genug mit Geschichte überhaupt verwechselt. Der Volksaufstand zählt zu den wenigen revolutionären Massenbewegungen in der deutschen Geschichte, die – die Mainzer Republik einmal außen vor gelassen – von 1848 über 1918/19 bis zu 1989 reichen. Das waren Ereignisse mit ganz unterschiedlichen Zielen, Formen und Erfolgen. Das Jahr 1953 reiht sich in diese Aufzählung ein. Es unterscheidet sich von seinen Vorgängerereignissen dadurch, dass es mit dem Jahr 1989 eine unverhoffte Vollendung fand. Es geht dabei nicht einmal so sehr vordergründig um einen historischen Vergleich zwischen den einzelnen Revolutionen, auch zwischen 1953 und 1989 überwogen die Unterschiede die Gemeinsamkeiten. Aber beide Ereignisse spielten sich im selben System unter sehr ähnlichen Rahmenbedingungen ab; auch die prinzipiellen Ziele ähnelten einander. 1989 aber spielten nationale Überlegungen bis zum Fall der Mauer am 9. November öffentlich aus guten Gründen fast keine Rolle. Da aber die Sowjetunion ihr bröckelndes Imperium in Europa nicht mehr zusammenhalten konnte, transformierte sich die Demokratiebewegung wie von selbst in einen nationa-
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len Aufbruch. Erst in diesem Moment, so könnte man idealtypisch formulieren, trafen sich auf den Straßen die Akteure von 1989 und 1953. Dabei ist ebenso idealtypisch festzuhalten, dass «die 1989er» ihre Vorgänger, «die 1953er», nicht erkannten, weil sie über deren Existenz überwiegend nichts wussten. Umgekehrt sahen viele 1953er in den 1989ern keine wirklichen Gesinnungsgenossen. Die gegenseitige Annäherung dauerte nach der Revolution von 1989 über ein Jahrzehnt – aber auch nach 2003 dominierten in der öffentlichen Wahrnehmung die erfolgreichen Revolutionäre von 1989, was nicht selten Verdruss bei den insgesamt weitaus mehr Risiken und Opfer erbracht habenden, gescheiterten Revolutionären von 1953 aufkommen ließ. Als problematisch erweist sich die Einordnung des «17. Juni» in die deutsche Geschichte auch deshalb, weil sie als bloßer Teil der DDR-Geschichte wahrgenommen wird. Es bleibt eine Herausforderung, die DDR-Geschichte so in die deutsche Geschichte zu integrieren, dass sie Eingang ins historische Gedächtnis und in die historische Erinnerung findet. Mag dies noch einleuchten, erweist sich der Platz des «17. Juni» in der europäischen Geschichte als noch problematischer. Dafür gibt es wiederum einen Grund: Wenn man einmal davon absieht, dass der «17. Juni» ein beliebtes wissenschaftlich-historisches Thema für Fragen der internationalen Beziehungen darstellt, so ist zu konstatieren, dass über eine Einordnung des Volksaufstandes in die europäische Geschichte bislang überhaupt noch keine Debatte geführt worden ist. Deutschland wird in europäischer Perspektive als Sonderfall behandelt. Die nationalsozialistische Herrschaft dominiert die Behandlung deutscher Geschichte, die bundesdeutsche Geschichte erscheint als Glücksfall und Erfolgsmoment. Die DDR spielt allenfalls als «16. Sowjetrepublik» eine Rolle. Der Volksaufstand von 1953 aber scheint weder ein deutsches noch ein europäisches, nicht einmal ein osteuropäisches Ereignis gewesen zu sein. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass selbst in den kommunistischen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas, in den
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7. Die Zukunft des 17. Juni: Nachbetrachtung
dortigen Widerstands- und Oppositionsbewegungen, die Vorgänge in der DDR kaum beachtet und noch weniger rezipiert worden sind. Die DDR galt zu sehr als Sonderfall. Aber so wie der «17. Juni» in die Reihe der deutschen Revolutionen und Demokratiebewegungen gehört, so zählt er auch zu den osteuropäischen Freiheitsbewegungen nach 1945, die eben 1953 in der ČSR, der DDR und dann im sowjetischen Workuta begannen, sich über Schlaglichter wie 1956, 1968, 1970, 1980/81 fortsetzten und schließlich 1989/91 ihre Erfüllung fanden. Zu jeder Art von Erinnerung gehört die Legende. Sie ist geradezu eine unverzichtbare Basis von gesellschaftlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis. Historiker zerstören nicht nur Legenden – nicht selten, um neue zu konstruieren –, sie beschäftigen sich auch mit Legendenbildung. Der «17. Juni» bietet dafür ein reichhaltiges, aber bislang kaum entdecktes Reservoir. Immer wieder erscheinen Bücher, in denen sich Zeitzeugen mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen im Juni 1953 zu Wort melden. Und nicht selten fällt dabei ins Auge, dass eine ganze Reihe von Beiträgen Erlebnisse als selbst erlebt und erfahren wiedergeben, obwohl Fachleute längst belegten, dass diese Vorgänge nicht oder so nicht stattgefunden hatten und dass sie der nachträglichen Konstruktion der SED-Machthaber entsprungen waren. Nun wäre es viel zu simpel, einfach zu behaupten, diese Zeitzeugen reproduzierten bewusst die SED-Deutung. Es ist komplizierter: Sie eigneten sich aller Wahrscheinlichkeit nach diese Propaganda so an, dass sie zur eigenen Erfahrung umgedeutet worden ist. Zum Problem wird dieser Befund, wenn man ihn auf die Gesellschaft überträgt. Denn es wäre naiv anzunehmen, die einstige Propaganda wirke außerhalb dieser früheren systemtreuen Kreise nicht nach. Wenn man nun konstatiert, dass der «17. Juni» zu den zentralen Ereignissen in den letzten 200 Jahren deutscher Geschichte und als massenhafte Freiheitsbewegung für «Freiheit und Einheit» zu den demokratischen Glanzpunkten der deutschen Geschichte zählt, stellt sich nicht mehr nur die Frage, wie der Historiker seiner Verantwortung gerecht wird, diesen Stellenwert auch gesellschaftlich zu vermitteln und mit im deut-
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schen Erinnerungskanon zu verankern. Es erhebt sich auch das Problem, ihn in die europäische Erinnerungskultur einzuführen, wo er noch nicht präsent ist. Der «17. Juni» hätte gute Chancen dort verankert zu werden. Und dies aus mehreren Gründen. Erstens, weil er eine revolutionäre Volksbewegung für einen demokratischen Verfassungsstaat darstellte. Zweitens, weil er vor dem Hintergrund einer Diktatur Grenzen zu überwinden beabsichtigte. Drittens, weil er in vielen Staaten vergleichbare Pendants kannte bzw. ihm viele folgten. Viertens, weil er belegt, dass es trotz übermächtig wirkender Erscheinungen immer und überall lohnt, die Würde des Einzelnen zu verteidigen und zu behaupten. Und fünftens, darin liegt retrospektiv seine besondere Suggestionskraft, weil er im Verbund mit anderen nationalen Erhebungen und Entwicklungen schließlich 1989/90 eine unverhoffte und späte Vollendung im gesamten kommunistischen Machtbereich Europas fand. Insofern steht «der 17. Juni» auch für das neue Europa. Und wenn dieses Erzählungen und Mythen benötigt, dann gehört die gescheiterte Revolution von 1953 für Freiheit, Demokratie und Einheit dazu. Nicht zuletzt angesichts des aktuellen Zustands Europas dürfte es hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass Krisen keine typische Erscheinung unserer Gegenwart sind. Charakteristisch war immer, sich dagegen zu wehren, sich einzusetzen, ohne zu fragen, was am Ende dabei herauskommt. In solchen Perspektiven, die die Geschichte «randvoll» machen, wird die Gegenwart vielleicht nicht besser, aber unter Umständen zukunftsträchtiger.
Auswahlbibliographie
Die Auswahl enthält einige wesentliche Titel und deutet die Vielfalt der Literatur an. Nicht aufgenommen worden sind biographische bzw. autobiographische Texte. Unerlässlich für die Beschäftigung ist: Peter Bruhn: 17. Juni 1953. Bibliographie. Berlin 2003 (darin sind 2345 Einträge enthalten). Die Bibliographie steht auch online, die Peter Bruhn bis zu seinem Tod 2009 ständig ergänzte. Diese Datenbank enthält etwa 7600 Einträge: http://www.ib.hu-berlin.de/ bkunst/juni.htm (letzter Aufruf: 17.11.2012). Ahrberg, Edda; Hans-Hermann Hertle, Tobias Hollitzer (Hrsg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Münster 2004 Baring, Arnulf: Der 17. Juni 1953. Bonn 1957, zuletzt: Stuttgart 1983 Beier, Gerhard: Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953 – Bauleute gingen voran. Köln 1993 Bispinck, Henrik; Jürgen Danyel, Hans-Hermann Hertle, Hermann Wentker (Hrsg.): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus. Berlin 2004 Brant, Stefan (d. i. Klaus Harpprecht), unter Mitarbeit von Klaus Bölling: Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953. Stuttgart 1954 Ciesla, Burghard (Hrsg.): «Freiheit wollen wir». Der 17. Juni 1953 in Brandenburg. Eine Dokumentenedition. Berlin 2003 Diedrich, Torsten: Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR. München 2003 Diedrich, Torsten; Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.): Alarmstufe «Hornisse». Die geheimen Chef-Berichte der Volkspolizei über den 17. Juni 1953. Berlin 2003 Diedrich, Torsten; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005 Eisenfeld, Bernd; Ilko-Sascha Kowalczuk, Ehrhart Neubert: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni in der deutschen Geschichte. Bremen 2004 Engelmann, Roger; Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953. Göttingen 2005 Engelmann, Roger (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2013
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Register
Adenauer, Konrad 8, 23, 116 Angermünde 12 Anklam 76 Apolda 90–91 Bantikow 79 Bautzen 100 Benjamin, Hilde 107 Berga 96 Bergen 76 Berija, Lawrenti P. 25, 118 Berlin 13, 16, 27–28, 35–52, 54, 56, 65–66, 70, 77–79, 84, 91, 99–101, 105–107, 110–114, 116–117 Binz 76 Bitterfeld 86–88 Boitzenburg 76 Brandenburg 30, 79–80 Brandt, Heinz 28 Brandt, Willy 8 Buchwitz, Otto 53–54 Bulgarien 118 Calbe 84 Camburg 90 Chemnitz 36, 95 Churchill, Winston 49, 118 Cottbus 83, 113 ČSR/ČSSR 114, 118, 122 Dähre 17–18 Dangrieß, Dieter 8 Daub, Philipp 73 Dorn, Erna 61–62 Dresden 36, 52–56, 101, 109, 111, 114, 116 Eckolstädt 90–91 Eisenach 92 Eisenhüttenstadt 13, 83–84 Engelsdorf 31 Erfurt 36, 89, 92, 95 Fechner, Max 107–108, 110, 112 Fettling, Max 38–39, 111 Fiebelkorn, Wilhelm 88
Foth, Karl 111 Frankreich 23–24, 43, 114, 116, 118 Friedrichroda 93 Füldner, Hans 112 Gassa, Horst 112 Gehlen, Reinhard 35 Gera 30, 89, 95–96 Gerlach, Manfred 67 Glowe 76 Gohlke, Herbert 63–65 Görlitz 100–103, 105, 116 Gotha 93 Grabow 77 Greifswald 76 Gretschko, Andrei A. 44 Gromyko, Andrei A. 25, 30 Großbritannien 23–24, 43, 114, 116, 118 Grotewohl, Otto 25–26, 30, 39–40, 43–44, 106 Grothaus, Wilhelm 53–55 Güstrow 76–77 Hagedorn, Helene 80–81 Hagedorn, Wilhelm 80–83 Halberstadt 85–86 Halle 16, 30, 35–36, 56–66, 84, 86, 111, 116 Havemann, Robert 43 Hellingen 109 Hennecke, Adolf 19 Hennigsdorf 46, 78 Hermlin, Stephan 62 Herrnstadt, Rudolf 19, 48 Hildburghausen 89, 109 Holzhausen 99 Jena 91, 96–99, 116 Jennrich, Ernst 110–111 Johanngeorgenstadt 30 Kaiser, Jakob 42–43 Karl-Marx-Stadt siehe Chemnitz
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Register
Korea 116 Kyritz 79 Lauchhammer 83 Leipzig 31, 35–36, 66–70, 99–100, 116 Lembke, Otto 111 Leuna 30, 86, 89, 99, 112 Ludwigsfelde 79 Ludwigslust 77 Magdeburg 36, 70–74, 84, 110–111, 116 Malenkow, Georgi M. 27 Mangelsdorf, Werner 112 Matern, Hermann 30 Meiningen 89 Melsheimer, Ernst 107 Merseburg 86–87 Mielke, Erich 8, 107, 111 Mitzenheim, Edgar 90–92 Mitzenheim, Hartmut 90 Mitzenheim, Moritz 90, 92 Molotow, Wjatscheslaw M. 25 Moskau 13, 26, 30, 35, 44, 48, 117–119 Mühlhausen 92 Neubrandenburg 74 Neuruppin 30 Niemegk 79 Niesky 103–105 Nuschke, Otto 110 Oelßner, Fred 26, 63, 89 Oranienburg 78 Othma, Paul 87–88 Parchim 76 Pieck, Wilhelm 13, 30 Polen 36, 118 Potsdam 36, 79 Prora 76 Putbus 76 Rathenow 80 Rau, Heinrich 40–41 Ronneburg 96 Ronschin, Nikita 114 Rosenberg, Ethel 66 Rosenberg, Julius 66 Rostock 36, 74–75 Rumänien 118 Sandersdorf 87 Scharnowski, Ernst 43, 46
Schirdewan, Karl 48 Schkeuditz 67, 107 Schkopau 86 Schmidt, Johannes 113–114 Schmidt, Waldemar 48 Schorn, Friedrich 112 Schumann, Georg 54 Schütz, Eberhard 42 Schweiz 30 Schwerin 74 Seelow 29 Selbmann, Fritz 40–41 Semjonow, Wladimir S. 44, 48 Silgradt, Werner 112 Sokolowski, Wassili D. 44 Sonneberg 89 Sowjetunion 23–25, 66, 108, 114, 116, 118, 120 Stalin, Josef W. 11, 22–23, 25, 118 Stanicke, Berthold 111 Stalinstadt siehe Eisenhüttenstadt Stralsund 30, 75–76 Suhl 89 Szillat, Paul 80 Teich, Dieter 68 Teltow 79 Teterow 77–78 Tschuikow, Wassili I. 24–25 Velten 78 UdSSR siehe Sowjetunion Uhlich, Erich 66 Ulbricht, Walter 9–10, 12, 20, 22, 25–28, 30–31, 40, 43–44, 89, 119 Ungarn 7, 114, 118 USA 23–24, 43, 66, 114, 116–118 Warnemünde 75 Weida 96 Weimar 30, 93–95 Werder 79 Wernigerode 84–85 Wismar 31, 75 Wolfen 11, 87–88 Wolgast 75 Wollweber, Ernst 109 Workuta 122 Wusterhausen 79 Zaisser, Wilhelm 44 Zossen 79 Zwickau 36