Satelliten nach Stalins Tod: Der "Neue Kurs". 17. Juni 1953 in der DDR. Ungarische Revolution 1956 9783050048222, 9783050035413

Nach dem Tod Stalins im März 1953 war seinen Erben bewußt: Um die Kontinuität der kommunistischen Parteiherrschaft zu si

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Satelliten nach Stalins Tod: Der "Neue Kurs". 17. Juni 1953 in der DDR. Ungarische Revolution 1956
 9783050048222, 9783050035413

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Der „Neue Kurs"

Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin

Herausgegeben

von

Klaus Schroeder und Manfred Wilke

Satelliten nach Stalins Tod Der „Neue Kurs" 17. Juni 1953 in der DDR Ungarische Revolution 1956

Herausgegeben von András B. Hegedüs und Manfred Wilke

Akademie

Verlag

Titelfotos: Die auf dem Einband verwendeten Fotos zeigen den Kopf des gestürzten Stalin-Denkmals in Budapest 1956 sowie die Ehrenwache derFDJ für Stalin. Quellen: Fotoarchiv des Institutes 1956 Budapest/SAPMO/BArch, Bild Y 10-26/00 N

Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -

Satelliten nach Stalins Tod : der „neue Kurs" ; 17. Juni 1953 in der DDR, ungarische Revolution 1956 /András B. Hegedüs ; Manfred Wilke (Hg.). Berlin :Akad. Verl., 2000 (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin) ISBN 3-05-003541-2 -

ISSN 0946-9052

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Druck und Bindung: Druckhaus

„Thomas Müntzer", Bad Langensalza

Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

(Árpád Göncz)

9 12

Einleitung I

„Neuer Kurs" und 17. Juni 1953

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die zweite

(Manfred Wilke/Tobias Voigt) —

Staatsgründung der DDR

Frühjahr 1953 Krisenmanagement in Moskau: Ein „Neuer Kurs" für die DDR Befehlsempfang im Kreml Kader und Karrierewege Kontrahenten im SED-Politbüro Debatte ohne Konsequenz Der Führungsstil des Generalsekretärs

Die DDR im

-

Die Partei schaltet

„Neue Kurs" wird Politik

-

um:

Der

7.

Der 17. Juni 1953: Lohn und Einheit. Vom Streik

7.1

Arbeiterkampf gegen Lohnsenkung „Wir sind die Regierung keine Kapitulation"

zum

Volksaufstand

7.4 7.5 7.6

Die SED, die Arbeiter und die Macht „Berliner reiht Euch ein wir wollen freie Menschen sein" Arbeitskampf gegen die Arbeiterregierung Das Politbüro „kapituliert" Die Rücknahme der Normenerhöhungen Parteiführung im Ausnahmezustand Der Ausnahmezustand und die deutsche Frage

8. 9.

Die SED nach dem „Tag X" Führungsfragen Ulbrichts Kampf um die Macht

7.2

-

7.3

24

24 36 42 48 52 60 66 67 68

-

-

70

-

-

71 75 78 85 89

-

10. Die neue Führung der SED 10.1 Die Zaisser-Herrnstadt-Fraktion 10.2 Abrechnung mit den Parteifeinden 10.3 Die neue Führung der SED

101 102 107 114

11. Stabilität für die DDR 11.1 Konsolidierung durch die Sowjetunion 11.2 Repression und Integration

119 119 122

„zweite" Staatsgründung der DDR nach dem Grablegung des „Neuen Kurses"

12. Die

17. Juni und die

Die Krise und die Versuche ihrer

Bewältigung

132

137

II

Ungarn 1953-1956: (János M. Rainer)

1.

Die Vorgeschichte: Ungarn im Frühjahr 1953 Die Beratung im Juni 1953 in Moskau Der Beschluß der Partei vom Juni 1953 und Imre Nagys Programmrede Einführung des „Neuen Kurses und erste Ergebnisse „Widerstand" und Kompromiß Bewegung in Richtung Reform: Nagy gewinnt die Oberhand Das Scheitern des „Neuen Kurses" und eine Bilanz der Geschehnisse Restauration und Parteiopposition Der Sturz von Rákosi Vor der Revolution: Parteiführung, Opposition, Massenbewegungen

137 142 150 157 166 176 185 193 202 212

Ungarische Revolution: Aufstand Zerfall der Partei (János M. Rainer/Bernd-Rainer Barth)

219

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

III

-

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Invasion -

Der sozialgeschichtliche Hintergrund und die Vorgeschichte der Revolution Die Studentenbewegung Der bewaffnete Aufstand und die Aufständischen Die Besonderheiten der „sich selbst organisierenden Revolution" Der Zerfall des politischen Systems sowjetischen Typs Die Reaktion der sowjetischen Parteiführung Moskau beschließt die Niederschlagung der Revolution. Die Vorbereitung der zweiten sowjetischen Invasion

219

226 228 230 237 248 253

7

IV

Die Niederschlagung der ungarischen Revolution restaurative Vergeltung (András B. Hegedüs)

1.

Die

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

-

Die

Bildung der Ungarischen Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung (URABR) Die Liquidierung der gesetzlichen ungarischen Regierung Die militärischen Operationen der sowjetischen Armee und der

bewaffnete Widerstand Die Neuorganisation der USAP durch Kádár Die Vergeltung Der Imre-Nagy-Prozeß Der Widerstand Der geistige Widerstand und die

Ideologischer Klassenkampf

Emigration

Die Kirche

Fazit: Der

260 260 264 267 270 273 277 278 281 284 287

290

gescheiterte Gesellschaftsvertrag zwischen Partei und Volk im sowjetischen Imperium

Abkürzungsverzeichnis

307

Autorenverzeichnis

310

Personenregister

312

Vorwort

Ungarn und Deutschland verbindet eine mehr als tausendjährige Geschichte, die

kriegerisch begann.

Der erste deutsche König, Heinrich I., mußte im Jahre 926 mit den Ungarn einen Waffenstillstand schließen und ihnen Tribut entrichten, bevor sie seinen Sohn Otto 1. auf dem Lechfeld im Jahr 955 besiegte und unser Volk seßhaft und zur mitteleuropäischen Nation wurde. Die Weltkriege und Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben die vielfältigen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen, die unsere Länder über die Jahrhunderte verbanden, überschattet. Der Prozeß Ungarns zurück nach Europa wurde mit der Überwindung der europäischen und der deutschen Teilung möglich. Beide Länder befinden sich im Frieden auf dem Weg in ein vereintes Europa, und so wie die Deutschen sich daran erinnern, daß mit dem politischen Umbruch in Ungarn 1989 und vor allem mit der Öffnung der ungarischen Grenze für die Flüchtlinge aus der DDR der Weg zur deutschen Einheit begann, so vergessen die Ungarn nicht, daß Deutschland ein verläßlicher Partner ihres Landes auf dem Weg in die westliche Werte- und Sicherheitsgemeinschaft ist. All das, was seit 1990 geschah, knüpft an die positiven Traditionen der ungarisch-deutschen Geschichte an, deren Reichtum und Vielfalt beide Länder erst wieder entdecken müssen. Vorraussetzung dafür ist eine Erinnerung an diese gemeinsame Geschichte, die uns verbindet. Aber hierbei können und dürfen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die hinter uns liegen, nicht ausgespart werden. Für die Periode von 1914-1945 ist das für die Historiker bereits selbstverständlich. Schließlich waren die Ungarn in beiden Weltkriegen Verbündete des Deutschen Reiches. Die ungarischen Kollaborateure der Nazionalsozialisten beteiligten sich aktiv am Völkermord an den europäischen Juden. Eine nicht zu vergessende Schande der deutschen und ungarischen Geschichte.

gemeinsame Erforschung der Zeit, als Ungarn und die Deutsche Demokratische Republik Teil des sowjetischen Machtbereichs waren, befindet sich noch in den Anfängen. Zu viele Probleme waren nach 1990 in Ungarn zu lösen, um sich an die Epoche vor dieser Zeitenwende zu erinnern. Aber die Erinnerung auch an jenen Abschnitt unserer Geschichte ist unabweisbar. Allerdings greift eine nur nationale Betrachtung dieser Zeit zu kurz, das wußte schon Imre Nagy 1955, als er erkannte: Der sowjetischen Führung geht es nicht primär um den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in Ungarn, sondern sie entscheidet nach ihren imperialen Interessen über ungarische Angelegenheiten. Eine

10 Land am 4. November 1956 als schreckliche Katastrophe. Sowjetische Truppen unterdrückten gewaltsam den ungarischen Nationalaufstand. Dieser Vorfall war nicht singular; drei Jahre zuvor am 17. Juni 1953 rettete die sowjetische Armee die SED-Herrschaft in der DDR, und 1968 wiederholte sich diese hegemoniale Machtpolitik in der Tschechoslowakei. Erst gegenüber der polnischen Volksbewegung „Solidarnosz" versagte diese Politik der Rettung der Diktatur mit militärischen Mitteln. Das erlebte

unser

vorliegende Buch „Satelliten nach Stalins Tod" basiert auf einem gemeinsamen Forschungsprojekt, das von Manfred Wilke vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin und András B. Hegedüs vom Institut für die Geschichte der Ungarischen Revolution 1956 in Budapest initiert wurde. Es konzentriert sich auf die Das

Parallelen bzw. Unterschiede zwischen dem 17. Juni 1953 in der DDR und der Ungarischen Revolution von 1956. Die Autoren aus Budapest und Berlin zeigen, wie die von Stalins Erben versuchte Reform des sowjetischen Modells „von oben" in zwei Satellitenstaaten des Imperiums scheiterte und im Aufbegehren der Völker gegen die Diktatur mündete. Die Autoren verstehen ihr Buch als Pilotprojekt für eine gemeinsame historische Erforschung der Geschichte der Ungarn und der Deutschen im sowjetischen Imperium. Daß die Erarbeitung eines gemeinsamen Bildes unserer Vergangenheit möglich ist, haben sie überzeugend nachgewiesen. Dies ist ein hoffnungvoller Anfang und ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung nationaler Geschichtsbilder für eine

europäische Perspektive.

Arpad Göncz Präsident der Republik Ungarn

Budapest,

17. Juni 2000

Einleitung

i. Worin bestand die historische Bedeutung von Stalins Tod im März 1953 für die weitere Geschichte der Sowjetunion? Für Andrej Sacharow wurde sie in jenem Moment im April 1953 klar, als er erfuhr, daß die überlebenden „Kreml-Ärzte" aus der Haft entlassen wurden und es in den sowjetischen Zeitungen hieß: „Alle Angeklagten sind freizulassen, da der Tatbestand einer strafbaren Handlung nicht vorliegt. Die an der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit und an der Anwendung strikt verbotener

Untersuchungsmethoden [lies: Folter, Urkundenfälschung, Fälschung, A.S.] Schuldigen

sind streng zur Rechenschaft zu ziehen."1 Ein Kollege aus dem Wissenschaftler-Team, das die sowjetische Wasserstoff-Bombe entwickelte, formulierte die existenzielle Zäsur, die sichtbar wurde: „(...) er konnte immer nur wiederholen: ,Ist es wirklich wahr? Ist es wirklich wahr, daß wir das noch erleben durften?' Eine neue Ära schien angebrochen."2 Stalins Erben wußten: Um die Kontinuität der kommunistischen Parteiherrschaft zu sichern, mußten umgehend Reformen durchgeführt werden, deren wichtigste die Beendigung des willkürlichen Massenterrors war. Bei der Durchführung dieser

Andrej Sacharow, Mein Leben, München/Zürich 1991, S. 182. Heinz Brandt sieht in diesem Kommunique des Ministeriums des Inneren, das damals von Lawrenti Berija geleitet wurde, das urkundliche Ende der Stalin-Ära. „In wenigen, bürokratisch-dürren ,Prawda'-Zeilen war all das vorweg genommen, im Kern enthüllt, was Chruschtschow später in seiner Geheimrede (25. Februar 1956) auf dem XX. Parteitag detailliert ausbreiten sollte. Im Klartext bedeutete dieses Kommunique: Nicht nur die hier angeführte Ärzteverschwörung, sondern überhaupt alle Säuberungen und Schauprozesse einschließlich jener in den Volksdemokratien (Fall Rajk, Slansky etc.), die gesamte Ära des Schreckens, der Massenpsychose, beruhte auf falschen, durch Folter erzeugten Geständnissen. Eine ähnliche moralische Bankrotterklärung hat es in der Geschichte nicht gegeben. Übrigens auch kein vergleichbares Foltersystem. Denn hier ging es um die

Massenproduktion nicht echter, sondern falscher Geständnisse. Für die moralische Verurteilung der Folter ist es völlig unbeträchtlich, welchem Zweck sie dient; nicht aber für die analytische Beurteilung des Herrschaftssystems, das sich ihrer bedient, sowie der Produktionsweise, die sie erfordert. Wir müssen also feststellen: Dieses Regime bedurfte nicht nur des Massenterrors, der Massenpsychose schlechthin (einer Psychose masochistischer Selbstbezichtigung und sadistischer Hexenjagd), es bedurfte millionenfach fiktiver Feinde und stellte sie millionenfach her, präpariert per Folter." Heinz Brandt, Die soziale Revolution des Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hrsg.): Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt 1977, S. 298.

Andrej Sacharow, a.a.O.,

S. 182.

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einschneidenden Veränderung spielte der „Überlebensinstinkt" der neuen Führung sie alle waren Stalins Machtgehilfen gewesen eine zentrale Rolle.1 Hinzu kam eine Wirtschaftskrise, die ökonomische und gesellschaftliche Reformen notwendig machte. Es galt, die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu verbessern, das Los der Bauern zu erleichtern und das mit dem Aufstieg zur Weltmacht verbundene Primat der Schwer- und Rüstungsindustrie zu relativieren, damit eine Verbesserung der industriellen Konsumgüterproduktion überhaupt möglich werden konnte. Stalin regierte Land und Imperium seit Mitte der dreißiger Jahre durch sein Privatsekretariat und mit den Sicherheitsorganen, die auch für die „Säuberung" der Partei zuständig waren. Die Auflösung von Stalins Privatsekretariat war eine der ersten Maßnahmen, die seine Erben ergriffen. Dies war ein notwendiger Schritt, um die führende Rolle der Partei im sowjetischen Herrschaftssystem wiederherzustellen. Wie dies geschehen sollte, mußte die Zukunft zeigen. Zunächst wurde das Parteipräsidium, „das Stalin auf dem IX. Parteitag auf 25 Mitglieder vergrößert hatte, wieder auf 10 Personen verringert".2 Die eigene Handlungsfähigkeit bewahrte Stalins Erbengemeinschaft mit der Formel von der „kollektiven Führung", die zugleich die Dynamik des beginnenden Nachfolgekampfes bändigte. Das Präsidium des Zentralkomitees der KPdSU vom 6. März 1953 bestand aus zehn Vollmitgliedern und vier Kandidaten: Chruschtschow vertrat die Partei, während die anderen neun Vollmitglieder den Staatsapparat und die Wirtschaft repräsentierten. Malenkow, der Vorsitzende des Ministerrates, führte die Rangordnung an. Ihm folgten Berija als Innenminister, Molotow als Außenminister, das Staatsoberhaupt Woroschilow, Chruschtschow und der Verteidigungsminister Bulganin, die restlichen vier Positionen waren den Verantwortlichen für die sowjetische Wirtschaft vorbehalten.3 Diese sowjetischen Politiker sollten Ende Mai/Anfang Juni die Entscheidung über den „Neuen Kurs" in der DDR und in Ungarn fallen. Die Streiks und Demonstrationen in der DDR am 16. und 17. Juni sollten die Dynamik der Diadochen-Kämpfe beeinflußen, die ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgte und von der Wiederherstellung der Suprematie des -

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..Während Stalins letzten Monaten hatten fast alle Funktionäre gespürt, in welchem Maße sie selbst verwundbar geworden waren. Niemand war geschützt, weder Woroschilow, der als ,Agent des Intelligence Service' bezeichnet worden war, noch Molotow oder Mikojan, die vom Diktator ihres Amtes im Präsidium des Zentralkomitees enthoben worden waren, noch Berija, den innerhalb des von Stalin gesteuerten Sicherheitsdienstes dunkle Intrigen bedroht hatten. Auch die nach dem Krieg neu entstandene Verwaltungselite der mittleren Ebene fürchtete die terroristischen Aspekte des Regimes und lehnte sie folglich ab. Und schließlich stand die Allmacht der politischen Polizei der stabilen Karriere eines jeden im Wege." Zit. nach: Nikolas Werth, Ein Staat gegen das Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stefanie Courtois/Nikolas Werth/Jean-Luis Panné/Andrzej Paczkowski/Karel Bartosek/Jean-Luis Margolin: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München/Zürich 1998, S. 276f, künftig zitiert als: Schwarzbuch des Kommunismus. Wolfgang Leonhard, Kreml ohne Stalin, Köln 1959, S. 83. Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, München 1998, S. 761, künftig zitiert als: Geschichte der Sowjetunion.

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kommunistischen Parteiapparates gegenüber allen anderen Institutionen der sowjetischen Gesellschaft nicht zu trennen ist. Bei einer Sitzung des Präsidiums des Zentralkomitees am 25. Juni wurde Innenminister Berija durch ein Kommando der sowjetischen Armee festgenommen und unter Anklage gestellt. Damit war ein entscheidender Schritt getan, um die führende Rolle des Parteiapparates wiederherzustellen, die Stalin mit seiner Kommunistenverfolgung nach 1934 zerstört hatte.1 Wenige Tage, bevor die Sowjetunion ihre erste Wasserstoffbombe zündete,2 verkündete Ministerpräsident Malenkow vor dem Obersten Sowjet offiziell einen „Neuen Kurs" in der Wirtschaftspolitik. Die sowjetische Regierung kündigte an, künftig die Konsumgüterindustrie stärker zu fördern, befreite in diesem Zusammenhang die Kolchos-Bauern von ihrer Abgabenlast und erlaubte ihnen eine individuellere Hofwirtschaft. Diese Wirtschaftpolitik sollte den Lebensstandard der Bevölkerung und namentlich den der Bauern verbessern. Die politischen und wirtschaftlichen Reformen der kollektiven Führung zielten auf die Einschränkung des stalinschen Terrors, auf eine Kontrolle der politischen Polizei und die Zulassung eines „Tauwetters" in der Kultur. Es ging der kollektiven Führung um die Organisierung eines neuen Verhältnisses der Herrschaft der KPdSU-Nomenklatura zu ihren Untertanen. Der Gesellschaft wurde mehr Eigendynamik zugestanden, die aber weiterhin „planvoll" von der Partei gesteuert werden sollte ein im Rahmen der zentral istischen sowjetischen Herrschaftsordnung unauflösbar bleibender Konflikt um die Reichweite des totalitären Machtanspruchs der Partei. -

Chruschtschow saß im Präsidium in seiner Eigenschaft als Sekretär des ZK. „Das neue Amt aber verschaffte Chruschtschow enorme Möglichkeiten personalpolitischer Einflußnahme und informeller Lenkung. Wie seine Memoiren eindrucksvoll belegen, nutzte er sie zielstrebig und geschickt mit dem Ergebnis seiner förmlichen Wahl zum Ersten Sekretär der KPdSU. Als die Entscheidung am 13. September 1953 bekanntgegeben wurde, war auch diese Gemeinsamkeit nicht zu übersehen: Der .Überraschungskandidat' Chruschtschow war dort angekommen, wo Stalin (ebenfalls keiner der ersten Anwärter auf die Nachfolge Lenins) einst begonnen hatte. Ungeachtet sehr anderer Methoden und Vorstellungen von Herrschaftsausübung erwies er sich nicht zum ersten Mal als gelehriger Schüler: Wirkliche Macht ging im bolschewistischmonokratischen Staat nur von der Verfügung über die Monopolpartei aus. Chruschtschow erlangte sie, weil der die Partei zu stärken und wiederzubeleben versprach." Zit. nach: Geschichte der Sowjetunion, a.a.O., S. 760f. In Sacharows Erinnerungen heißt es dazu: „Zum Abschluß seines Vortrags gab Malenkow noch eine Erklärung ab, die uns ganz besonders betraf. Er sagte unter dem Beifall der Zuhörer, daß die UdSSR jetzt alles zu ihrer Verteidigung besitze, sie habe eine eigene Wasserstoffbombe! Diese Erklärung wurde zur großen Sensation, und unverzüglich von den Zeitungen in aller Welt gedruckt. Sie wurde am 5. August abgegeben, genau eine Woche vor dem eigentlichen Versuch! Wir hörten den Vortrag Malenkows in der halbdunklen Halle eines kleinen Hotels. Man hatte das Produkt noch nicht auf dem Turm installiert; durch das unwegsame Gelände der kasachischen Steppe wurden auf hunderten von Lastwagen die Familien der Evakuierten und deren eilig zusammengepacktes Hab und Gut gen Süden, Osten und Westen transportiert. Der Versuch vom 12. August rief überall auf der Welt großes Interesse hervor. In den USA taufte man ihn Joe 4' (nach dem Vornamen Stalins und der laufenden Nummer des sowjetischen Experiments)." Zit. nach: Andrej Sacharow, a.a.O., S. 191ff. -

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15

Angst vor der Staatsmacht abzubauen und die Begrenzung der allgegenwärtigen Repression zu begründen, wurde der Terminus von der „sozialistischen Gesetzlichkeit"1 eingeführt. Diese Sprachregelung erlaubte auch eine Politik der Amnestie, ohne Ausmaß und Mechanismen des Terrors gegen das eigene Um

die

Volk und die Zahl seiner Opfer offenlegen zu müssen. Demgemäß folgte der Entmachtung Berijas auch nicht die Auflösung der tschekistischen „Organe". Statt dessen wurde der Platz des Sicherheitsdienstes in der Machtstruktur neu definiert und die Parteikontrolle über ihn wiederhergestellt. „Es war ganz klar, daß sie nicht länger wie unter Stalin über Partei und Staat stehen, sondern wieder der Kontrolle der Partei unterstellt werden sollten. Nicht um irgendwelche Demokratisierungs- oder Liberalisierungsbestrebungen ging es, sondern um die Emanzipation einer gesellschaftlichen Avantgarde', die dies unter Stalin nicht mehr hatte sein können." Borys Lewytzkjy führt die Konflikte zwischen der Partei und ihren Geheimdienstlern und Soldaten in den fünfziger Jahren auf diese strukturelle Dimension der Machtkonflikte zurück: „Nach Stalins Tod waren hochdramatische Ereignisse zu beobachten. Eines der bemerkenswertesten war die Erschießung Berijas im Dezember 1953. Der Konflikt zwischen Partei- und Staatsapparat um die Vorherrschaft führte zur Absetzung des damaligen Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, Malenkow, im Jahre 1955. Ein weiterer Markstein der Entwicklung war es, als 1957 Marschall Schukow aus den Parteigremien und aus der Armeeführung entfernt wurde. (...) Kurzum, es war eine ganze Anzahl von Reformen und Experimenten zu beobachten, doch nirgends ein Versuch, der auf eine Schwächung des autoritären Prinzips der Gesellschaftsstrukturen abgezielt hätte. In diesem Sinne war es gewissermaßen eine Rückkehr zu den Prinzipien Lenins, doch diesmal, das ist die Ironie der Geschichte, war der Träger dieser Wandlung die in der harten Schule des Stalinismus erzogene Bürokratie. Sie war es, die daran ging, Partei und Gesellschaft so umzustrukturieren, daß sie den Anforderungen der Zeit (so wie sie diese verstand) genügen konnte. Die Rolle eines sowjetischen Übergangspapstes fiel Chruschtschow zu."2 Welches Verständnis die kollektive Führung von der künftigen Funktion des Terrors im Rahmen der „sozialistischen Gesetzlichkeit" hatte, verdeutlicht anschaulich die Übernahme dieser Formel durch die SED im Juli 1953: „Die demokratische Gesetzlichkeit ist strikt einzuhalten. Jeder Versuch, die verfassungsmäßig garantierten Rechte der Bürger durch willkürliche Amtshandlungen zu verletzen, ist streng zu ahnden. Die Arbeit der Justiz, der Volkspolizei und anderer Exekutivorgane des Staates ist in diesem Sinne zu verbessern. Sie haben gegen die Feinde unserer Ordnung, gegen faschistische Provokateure und Kriegshetzer, vorzugehen und die Interessen der Werktätigen unter ihren Schutz zu nehmen."3 Die Einführung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" in den politischen Sprachgebrauch und das Zugeständnis, daß es „Verstöße" gegen sie gegeben hatte, ließen die -

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Sacharow erinnert sich an einen entsprechenden Leitartikel in der „Prawda" und er fügt hinzu: „So etwas gab es wohl zum ersten und zum letzten Mal." Zit. nach: A.a.O., S. 182. Borys Lewytzkjy, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion, Stuttgart 1967, S. 40. ZK der SED (Hrsg.): Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band IV, Berlin (Ost) 1954, S. 463. künftig zitiert als: Dokumente IV.

16

Frage der Rehabilitierung der entehrten, verhafteten oder hingerichteten Parteigenossen

für Stalins Erben zum Problem werden.1 Als Imre Nagy den „Neuen Kurs" in Ungarn durchführte, ergab sich ein weiteres Problem der Betonung der „sozialistischen Gesetzlichkeit", nämlich das der Abgrenzung zwischen der Regierungsverantwortung für die staatliche Politik und der seitens des Parteiapparates beanspruchten Suprematie. Die institutionell nicht regelbare Abgrenzung zwischen staatlichem Handeln und dem totalitären Machtanspruch der Partei personalisierte sich in Ungarn in dem Gegensatz zwischen Rákosi und Nagy. Der reformbereite neue Ministerpräsident versuchte, die Rolle der Partei ganz im Geist der kollektiven Führung faktisch zurückzudrängen, ohne das kommunistische Machtmonopol in Frage zu stellen. Insofern liefert uns die Untersuchung der Politik des „Neuen Kurses" in Ungarn und der Niederlage Nagys, als sich 1955 der von Chruschtschow geführte Parteiapparat gegen Malenkow durchsetzte, eine Antwort auf die Frage: Warum war die kommunistische Parteidiktatur nicht zu reformieren? Ideologisch gesehen war die Antwort von vornherein klar: Die Parteikonzeption und der quasi religiöse Charakter des Marxismus-Leninismus als Staats- und Imperiumsideologie ließen dies nicht zu, wollten sich die Kommunisten nicht als Kommunisten aufgeben. Aber das Beispiel Nagy und selbst, im gewissen Grad, die Biographie von Chruschtschow, zeigen, daß die Probleme des Landes jenseits der ideologischen Planprojektionen eine harte Realität darstellten, für die die kommunistischen Führer Antworten brauchten, die aus den Formeln des MarxismusLeninismus nicht abzuleiten waren. Ein einfacher Satz von Chruschtschow beschreibt seine persönliche Lage und die der kollektiven Führung im Frühjahr 1953: „So verloren wir Stalin und begannen, die Regierungsgeschäfte selbst in die Hand zu nehmen."2 -

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Die von Imre Nagy überlieferte Debatte über die Frage der Freilassung der eingesperrten Kommunisten und ihre Rehabilitierung aus dem Jahre 1954 veranschaulicht die Fülle der Probleme, die mit dieser Frage der Ehre verbunden waren: „Anläßlich unserer Besprechung in Moskau vor dem III. Parteitag im Mai 1954 hat ebenfalls der Genosse Chruschtschow folgendes gesagt: ,Für die Verhafteten ist Rákosi verantwortlich. Er will sie deshalb nicht freilassen, weil er weiß, daß er der Schuldige ist und daß er sich kompromittiert. Man darf die Leute nicht brandmarken und verdächtigen.' Der Genosse Chruschtschow riet uns, ,die Rehabilitationen in einer Weise durchzuführen, das Rákosis Autorität nicht zu Grunde gerichtet wird'. Damit wir seine Worte nicht mißverstanden, fügte er jedoch hinzu: ,Wir schützen Rákosis Autorität so lange, als es nicht auf Kosten der Autorität der Partei geschieht. Es kann nämlich passieren, daß unter dem Vorwand der Wahrung der Autorität Rákosis die alte Politik zurückkehrt und die Befreiung der Verurteilten zum Stillstand kommt. Rákosi hat es natürlich schwer, weil er die Anweisung für die Verhaftungen gegeben hat. Aber dennoch muss gesagt werden, was geschehen ist. Nicht Schweigen und Vertuschen erhöhen die Autorität der Partei, sondern eine aufrichtige Sprache". Ich habe von Anfang an den gleichen Standpunkt vertreten und ich vertrete ihn auch heute noch. Ich habe im Politbüro ebenso wie im Rehabilitierungsausschuß, dessen Mitgliedschaft ¡ch damals wegen der aufgetretenen Gegensätze niedergelegt habe, für die Durchsetzung des gleichen Standpunktes gekämpft." Zit. nach: Imre Nagy, Politisches Testament, mit einem Vorwort von Prof. Dr. Hugh Seton-Watson, München 1959, S. 363f. Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Strobe Talbott (Hrsg.): Reinbek 1971, zit. nach: Taschenbuch-Ausgabe, 1992, S. 301.

17 Im Frühjahr 1953 befand sich die sowjetische Weltmacht im Kalten Krieg mit den von den Vereinigten Staaten geführten Westmächten. Allein für die innersowjetischen Veränderungen bedurfte die kollektive Führung einer Atempause, und das hieß, eine Deeskalation des Systemkonflikts auf der Basis des Status quo anzustreben. Die Idee der Abwendung eines mit Atomwaffen geführten Krieges begann sich in den sowjetischamerikanischen Beziehungen Raum zu schaffen. Bezogen auf die damalige Weltlage ging es in Asien um die Beendigung des Korea-Krieges und in Europa um die Rückkehr an den Verhandlungstisch, um die offenen Fragen wenn nicht zu entscheiden, so doch wenigstens zu besprechen. Offen waren die deutsche Frage und die Wiederherstellung der österreichischen Souveränität als neutraler Staat. Die Wiederaufnahme der Gipfeldiplomatie mit den Westmächten bedingte auch eine Neubestimmung der Beziehungen zu den Volksdemokratien, die Beendigung von Stalins zentralistischen Befehlsstrukturen zu den Generalsekretären der einzelnen regierenden Parteien, den Ausbau der bilateralen Beziehungen der Volksdemokratien untereinander und vor allem den Ausbau der wirtschaftlichen Integration im Rahmen des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Es ging nicht um die Aufhebung der Abhängigkeit dieser Satellitenstaaten und ihrer Parteien von der Sowjetunion, aber um die Veränderung des Umgangs miteinander. An die Stelle des Befehls seitens der KPdSU sollte nun die konsultative Anleitung der „Bruderparteien" treten. Um eine solche Politik glaubhaft zu vertreten, war für die kollektive Führung die Beilegung des Konfliktes mit dem abtrünnigen Jugoslawien unabdingbar. Josip Broz Tito hatte als Führer der jugoslawischen Kommunisten 1948 den Konflikt mit Stalin gewagt, worauf die Kommunistische Partei Jugoslawiens aus dem 1947 gegründeten Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien (Kominform) ausgeschlossen und Tito als Verräter geächtet wurde. Seit 1948 gehörte der Kampf gegen Tito zum festen Bestandteil der kommunistischen unter auf den Propagandakampagnen, und Bezug jugoslawischen Nationalkommunismus fanden die politischen Schauprozesse in Budapest 1949 und in Prag 1952 statt. Die Revision von Stalins Politik gegenüber Jugoslawien begann im Frühjahr 1953 mit der Änderung der Propaganda1, auch wenn die sowjetische Führung erst im Mai 1955 nach Belgrad reiste, um den jugoslawischen Kommunisten einen eigenständigen

Weg zum Sozialismus zuzugestehen.2

„Unter den Losungen der Parteiführung zum 1. Mai 1953 fehlte die übliche Aufforderung, gegen das .faschistische Regime der Clique Tito-Rankowic' zu kämpfen. Die Zeitschrift stalinistischer jugoslawischer Emigranten in Moskau wurde nicht mehr erwähnt, in der Sowjet-Presse erschienen keine anti-jugoslawischen Artikel mehr." Zit. nach: Wolfgang Leonhard, a.a.O., Köln 1959, S.

150. Die zwischen dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens und der KPdSU abgestimmte gemeinsame Erklärung vom 3. Juni 1955 enthielt u.a. die Passage: „Treu gegenüber den Prinzipien der gegenseitigen Achtung und der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten, aus welchem Grund auch immer, sei er wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Natur, da die Fragen der inneren Organisation, der verschiedenen sozialen Systeme und der verschiedenen Formen der sozialistischen Entwicklung allein Sache jedes einzelnen Landes sind." Zit. nach: Francois Fejtö, Die Geschichte der Volksdemokratien, in 2 Bänden, Bd. II: Nach Stalin 19531972, Graz/Wien/Köln 1972, S. 73.

IS

KPdSU-Spitze stellte Rákosi in Ungarn einen Stolperstein auf dem Weg zur Aussöhnung mit Jugoslawien dar. Der von ihm maßgeblich beeinflußte Konzeptionsprozeß gegen Innen- und Außenminister Laszlo Rajk 1949 richtete sich damals politisch auch unmittelbar gegen Tito.1 Auch wenn sich auf der Grundlage des vorliegenden Materials kein direkter Zusammenhang zwischen dem „Neuen Kurs" für Ungarn und der sowjetischen Jugoslawien-Politik nachweisen läßt, gibt es doch Zusammenhänge, die vor allem die Neubestimmung des Verhältnisses der kommunistischen Parteien zur KPdSU insgesamt betreffen. Stalin führte seine Kampagne gegen Tito im Namen der monolithischen kommunistischen Weltbewegung unter seiner Führung. Die Zäsur, die sein Tod für diese Bewegung bedeutete, war für Richard Löwenthal „der Anfang vom Ende eines historisch einzigartigen Unternehmens: Für die

des Versuchs, den Zentralismus einer herrschenden totalitären Partei auf eine internationale Bewegung zu übertragen. Chruschtschows Aufstieg zur Führung des sowjetischen Imperiums war eng verbunden mit seiner Bemühung, das veraltete Modell einer totalitären Weltpartei durch eine elastischere, doch immer noch von einem einzigen Zentrum bestimmte Form der internationalen Zusammenarbeit zu ersetzen: Jetzt sollten die kommunistischen Parteien und Regierungen organisatorisch autonom sein, aber sich dennoch der ideologischen Autorität der .führenden Partei' freiwillig

unterwerfen."2 Der „Neue Kurs" in der DDR und in Ungarn, mit dem die kollektive Führung in Moskau

neu zu

begann, die sowjetischen Außenbeziehungen

in

bezug auf ihre Satellitenstaaten

ordnen, sollte die Grenzen dieses konzeptionellen Neuanfangs offenlegen, als

es

Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und zur ungarischen Revolution 1956 kam. In beiden Fällen mußte die Sowjetunion mit militärischer Macht die nationalen kommunistischen Regime vor dem Zusammenbruch bewahren, in beiden Fällen übernahm somit die Kreml-Führung das Krisenmanagement. Die konsultative Anleitung verwandelte sich erneut in ein Diktat. Doch die Erwartung einer freiwilligen Unterwerfung der nach Autonomie strebenden Parteien unter die KPdSU sollte sich nicht erfüllen den Polyzentrismus in der kommunistischen Weltbewegung konnte die KPdSU nicht mehr aufhalten. Dies zeigte sich 1956 im Zusammenhang mit der militärischen Niederschlagung der ungarischen Revolution. Chruschtschow traf sich mit Gomulka und Tito und die KPdSU stimmte ihre Position mit der in Moskau zu dieser Frage anwesenden Delegation der KP Chinas ab. Ursächlich sind es die politischen und wirtschaftlichen Reformen der kollektiven Führung in der Sowjetunion, einschließlich der Neuordnung der Außenbeziehungen des zum

-

von sowjetischen Spezialisten perfekt vorbereiteten Verfahren im Stile der großen Schauprozesse der dreißiger Jahre, das vornehmlich der Bloßstellung des aufmüpfigen jugoslawischen Parteichefs Tito und der Diskreditierung der nationalkommunistischen Richtung dienen sollte, gab der ehemalige Innen- und Außenminister Laszlo Rajk im September 1949 in

„In einem Moskauer

abenteuerlichen Selbstbezichtigungen alle ihm zur Last gelegten Anklagepunkte zu und wurde dennoch am 15. Oktober mit Mitangeklagten hingerichtet." Zit. nach: György Litvan, Jarios M. Bak (Hrsg.): Die ungarische Revolution 1956, Wien 1994, S. 29, künftig zitiert als: Die ungarische Revolution. Richard Löwenthal, Chruschtschow und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963, S. 196.

19

Landes, die die Voraussetzung für die Experimente in der DDR und in Ungarn bildeten. Mit diesen beiden Versuchen trug die kollektive Sowjet-Führung die Veränderungen ihrer Politik gegenüber den „Bruderländern" nach außen.

II. Die komparatistisch angelegte Untersuchung über die SED in der DDR und die MDP/MSZMP in Ungarn in den Krisen 1953 und 1956, die seitens des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin und unter der Leitung von András B. Hegedüs vom Institut für die Geschichte der ungarischen Revolution 1956 in Budapest durchgeführt wurde, konzentrierte sich explizit auf die Entstehung, Implantierung und Folgen des „Neuen Kurses", mit dem die sowjetische Führung nach Stalins Tod die Lage in diesen beiden Ländern konsolidieren wollte. Die Existenzkrisen für die kommunistischen Diktaturen in der DDR und in Ungarn, die mit dieser Politik verbunden waren, ereigneten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten. In der DDR erfolgte der Volksaufstand im Zusammenhang mit der Implantierung des „Neuen Kurses", führte zur Lähmung der SED als zentralem Anleitungsapparat und zwang die Sowjetunion als Besatzungsmacht, die Niederschlagung der Volkserhebung selbst durchzuführen. Erst danach betrat die SED wieder die politische Bühne. Im Zentrum der Existenzkrise der DDR stand die Problematik der deutschen Spaltung. Das Eingreifen der sowjetischen Siegermacht führte zur Verfestigung der Teilung und mündete gewissermaßen in einer zweiten Staatsgründung der DDR, die mit der Neuformierung der SED-Führung unter Walter Ulbricht ihren Anfang nahm. Der Beitrag zur Geschichte des „Neuen Kurses" in der DDR versucht, diese Komplexität der Ereignisse darzustellen und versteht sich als Versuch, auch die Asymmetrien der Entwicklungen in beiden deutschen Staaten in diesem Zeitraum zu erfassen. In der DDR verdichtete sich der Prozeß von der Verordnung des „Neuen Kurses" über die Existenzkrise bis zur Stabilisierung der SEDHerrschaft in einem Zeitraum von wenigen Monaten. In Ungarn dagegen wurde der „Neue Kurs" nicht zuletzt unter dem Eindruck der Berliner Ereignisse zügig umgesetzt, führte zur Konsolidierung der Lage und in der Folge zu einer Entwicklung der Widersprüche der sozialistischen Ordnung in Ungarn, an deren Ende die Revolution stand. András B. Hegedüs charakterisiert diesen Zeitraum von drei Jahren „als die Zeit des ersten antistalinistischen Reformversuchs. Auf Initiative Moskaus sollte innerhalb des sowjetischen Blocks das wirtschaftlich-politische und gesellschaftliche System verändert werden, ohne dabei das Wesen des Parteistaates anzutasten. Dieser Reformprozeß, der weltweit mit dem Namen des Ministerpräsidenten Imre Nagy verbunden ist, scheiterte 1955 und wurde erst im Frühling 1956 wieder zu neuem Leben erweckt. Aufgrund seiner Inkonsequenz und der Reformunfähigkeit des Systems mündete er im Herbst 1956 in eine Revolution, ging schrittweise in einen bewaffneten Aufstand und einen die gesamte Nation mobilisierenden antisowjetischen über. Der Freiheitskampf ungarische Reformprozeß war in jeder Hinsicht entschlossener und konsequenter als die Reformversuche, die bis dahin bereits in anderen Ländern des Ostblocks stattgefunden hatten. Doch nach der Niederschlagung der Revolution nahm in Ungarn eine intensive Restalinisierung ihren Anfang". -

-

20 Die Berliner und Budapester Arbeitsgruppen einigten sich für ihre Parallelforschung auf sieben Fragestellungen, um die Existenz- und Konsolidierungskrisen in beiden Ländern im Zusammenhang mit dem Übergang von der stalinistischen zur poststalinistischen Phase kommunistischer Herrschaft zu untersuchen:

Modifizierung des Satellitenstatus, die Neubestimmung der Parteibeziehungen zwischen der KPdSU, der MDP/MSZMP und der SED vor und nach der ungarischen Revolution und vor und nach dem 17. Juni 1953. 2. Der „Neue Kurs": Verlaufsgeschichte auf der Führungsebene in beiden Staaten. 3. Die Neuformierung der jeweiligen Parteiführung nach Aufstand und Revolution. Wie liefen die Machtkämpfe in den Parteiführungen ab, welche erkennbaren 1. Die

4.

5.

Zusammenhänge bestanden zwischen Kursänderungen und Auseinandersetzungen der sowjetischen Führung und den Entwicklungen in Berlin und Budapest? Die nationale Dimension: Der Rückgriff auf Themen und Symbole der Nationalgeschichte und ihre Kombination mit dem gleichfalls weiter für den Zusammenhalt des Imperiums wichtigen „sozialistischen Internationalismus" in den beiden kommunistischen Parteiführungen. Rehabilitierungspraxis und politische Amnestie und ihre Auswirkungen auf Partei

und Gesellschaft. 6. Wandel der Praxis der

7.

heitsorgane.

politischen

Justiz und

Veränderungen

im Status der Sicher-

Änderungen in den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zur Sowjetunion.

Mit diesen

Leitfragen gelang es uns, eine gewisse Koordination in der analytischen Materialerschließung herbeizuführen. Aber nicht alle Fragen ließen sich gleichermaßen klären. Ein Ergebnis verdient es, hervorgehoben zu werden, um die sowjetische Politik

in den beiden Existenzkrisen in Ungarn und in der DDR zu verstehen: „Die Ultima Ratio, das Schlüsselmoment sowjetischer ,Krisenwahrnehmung', war immer, wie auch bei späteren Anlässen, die Frage, ob die personelle Zusammensetzung des engeren Führungszirkels der jeweiligen nationalen Partei den sowjetischen Interessen noch entsprach, d.h. ob deren Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen im Sinne jeweiliger sowjetischer Zielvorgaben noch gesichert war." (János M. Rainer/BerndRainer Barth) Unsere Ergebnisse werden in vier Teilberichten präsentiert, von denen sich einer mit dem „Neuen Kurs" in der DDR befaßt, während der ungarische Prozeß in drei aufeinander bezogenen Studien behandelt wird. János M. Rainer untersucht im ersten Beitrag den Zeitraum vom Frühjahr 1953 bis zum Vorabend der Revolution. Diese selbst, der Zerfall der kommunistischen Partei und der Moskauer Entscheidungsprozeß im ungarischen Fall, das Imperium militärisch zu sichern, ist Gegenstand der zweiten Studie von János M. Rainer unter Mitarbeit von Bernd-Rainer Barth. Der Niederschlagung der ungarischen Revolution und der restaurativen Vergeltung widmet sich András B. Hegedüs in seinem Beitrag. Ausführlich schildert er die Entstehung der von Kádár geführten Gegenregierung in Moskau, die der Kreml aus zwei Gründen

benötigte:

21

Zum einen ließ sich mit ihrer Existenz vor der Weltöffentlichkeit behaupten, daß es sich bei den Vorgängen in Ungarn um eine „Konterrevolution" handele, zu deren Niederschlagung die sowjetische Armee lediglich „brüderliche Hilfe" leistete.

Zum anderen war die kommunistische Partei während der Revolution aufgelöst worden und mußte als USAP neu entstehen, um eine Restauration in Ungarn zu ermöglichen.

III. Die komparatistische Untersuchung des „Neuen Kurses" in Ungarn und der DDR war ein Wagnis, das nicht allein in den Sprachbarrieren begründet war. Gewichtiger waren die Zugänge zu den Archiven, der Stand der historischen und politikwissenschaftlichen Erforschung dieser Periode und die nationalen Besonderheiten, die die Entwicklung der DDR und Ungarns nach dem Tod Stalins auszeichneten. Vorbild für unser Unterfangen war das Forschungsprojekt zum Krisenvergleich in den Systemen sowjetischen Typs, das unter der Leitung von Zdenek Mlynar in Wien in den 70er Jahren und von polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Wissenschaftlern im Exil durchgeführt wurde.1 Von entscheidender Bedeutung, um unser Projekt zu wagen, waren die Forschungen zur Geschichte der ungarischen Revolution von 1956 in dem nach Dies ¡st Budapest verständlich, wurde doch die Revolution Systemwechsel. von 1956 als ungarischer Freiheitskampf interpretiert und damit zur ethisch-politischen Grundlage der neu entstandenen souveränen Ungarischen Republik. In den achtziger Jahren war das Verhältnis zum Erbe von 1956 zu einer Schlüsselfrage im Selbstverständnis der ungarischen Opposition geworden. So kam es bereits 1986 in Budapest zu einer ersten, noch unter illegalen Bedingungen abgehaltenen wissenschaftlichen Konferenz zum 30. Jahrestag dieses Ereignisses.2 Aus dem Kreis der damaligen Konferenzteilnehmer und jüngeren Historiker rekrutierten sich die Mitarbeiter des 1989 in Budapest gegründeten Instituts für die Geschichte der ungarischen Revolution 1956. Das Institut entwickelte sich zum Zentrum der Dokumentation und Erforschung der jüngsten ungarischen Zeitgeschichte (in deren Mittelpunkt das Jahr 1956 steht.) Die in diesem Band vorgelegten Studien zur ungarischen Geschichte von 1953 bis 1958 präsentieren den aktuellen Forschungsstand. Sie sind auch für die deutsche Diskussion über die Geschichte der DDR in den fünfziger Jahren von Bedeutung, hatten doch die ungarischen Kollegen einen wesentlich breiteren Zugriff auf sowjetische Quellen, als dies der deutschen Forschung bislang möglich war.

Vgl. dazu: Zdenek Mlynar, Krisen und Krisenbewußtsein im Sowjetblock, Köln 1983. Ist erschienen: Ötvenhatrol nyolcvanhatban. Az 1956-os magyar forradalomelözmenyei, alakulása és utóélete címü 1986. december 5-6-án Budapesten rendezett tanácskozás jegyzökönyve. Szerk. és a jegyzeteket kész. Hegedüs B. András; bev. Litván György. Budapest: Századvég: 1956-os Int., 1092. 334 p. ('56: A Századvég Kiadó és az 1956-os Magyar Forradalom Torténete Dokumentációs és Kutató Intézetének sorozata). -

22 Unsere Forschungen über den „Neuen Kurs" in der DDR und in Ungarn wurden von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen ihres Schwerpunktes „Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts: Strukturen, Erfahrungen, Überwindung und Vergleich" gefördert. Damit ermöglichte die Volkswagen-Stiftung dem Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität eine weitere grenzüberschreitende Forschungskooperation, nachdem sie zuvor bereits ein Projekt zum „Prager Frühling" und den Beitrag der SED zu seiner Unterdrückung gefördert hat.1 Mein Dank geht an dieser Stelle an die sachverständigen Archivare der Stiftung „Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv", Berlin, die in nunmehr bewährter Weise auch dieses Projekt beförderten und an Herrn Gerhard Ehlert für seine wissenschaftliche Unterstützung. Danken möchte ich auch Frau Magyar und Jan Marinka für die Übersetzung der ungarischen Texte, Frau Marion Oploh und Frau Cornelia Bronder für die kleinen und großen Leistungen im Sekretariat des Forschungsverbundes und Frau Alexandra Herrmann für die Endredaktion unserer Texte.

Agnes

Vgl.

Lutz Prieß/Vaclav Kural/Manfred Wilke, Die SED und der „Prager gegen einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz", Berlin 1996.

Frühling"

1968. Politik

Manfred Wilke/ Tobias

Voigt

„Neuer Kurs" und 17. Juni

-

Die zweite

Staatsgründung der DDR 1953

1. Die DDR im

Frühjahr 1953

Sie mögen echt gewesen sein die Tränen, die Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Franz Dahlem und andere über Stalins Tod vergossen. Wladimir S. Semjonow erinnerte sich auch noch Jahrzehnte später.1 Doch dieser Trauer sollten sich -

bald große Sorgen um die eigenen Positionen der Genossen hinzugesellen. Als am 5. März 1953 Jossif Wissarionowitsch (Dschugaschwili) Stalin gottgleich verehrte Führerfigur des Sowjetkommunismus starb, hinterließ er ein Imperium, das sich in einer ernsten Krise befand. Sein Tod traf die DDR in einer Periode steigender Flüchtlingszahlen, prekärer Wirtschaftslage und kollabierender Versorgung. All das war die Folge einer ausgeweiteten Repressierung der gesamten Bevölkerung, der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft sowie des drakonischen Einsatzes der politischen Justiz gegen die Bauern. Von der „Verschärfung des Klassenkampfes" blieb auch die SED selbst nicht verschont. Die Anzeichen für eine umfassende „Säuberung" in der Partei mehrten sich seit der Jahreswende 1952/53. Im Januar 1953 meldete das „Neue Deutschland" den „Ausschluß zionistischer Agenten aus der VVN".2 Der Artikel erschien wenige Tage, nachdem die Moskauer „Prawda" eine Jüdische Verschwörung" aufgedeckt und die Verhaftung der „Kremlärzte" bekannt gegeben hatte.3 In Prag war 1952 ein politischer Schauprozeß gegen führende Kader der KPC durchgeführt worden.4 Am 20. Dezember 1952 zog das ZK der SED "Lehren aus dem Prozeß gegen -

Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, Berlin 1995, S. 282. ..Neues Deutschland" vom 21.1.1953. VVN: Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes. „Am 13. Januar 1953 erschien in der „Prawda" ein Leitartikel über die ,Mörderärzte\ deren Mehrheit mit der jüdischen bürgerlich-nationalistischen Organisation Joint' verbunden sei, die den Befehl zur ,Ausrottung der führenden Kader der UdSSR' über den Moskauer Arzt Schimoeliowisch und dem bekannten bürgerlichen Nationalisten Michoels gegeben hätte (...). ,Die Mörderärzte, Monster in menschlicher Gestalt, trampelten auf dem heiligen Banner der Wissenschaft und waren bezahlte Agenten der ausländischen Spionage', hieß es in dem Beitrag. Drei der so beschuldigten Ärzte waren Russen, sechs waren Juden." Zit. nach: Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden, Berlin 1998, S. 259. Vgl. Karel Kaplan/Frantisek Svatek, Die politischen Säuberungen in der KPC, in: Hermann Weber/Ulrich Mählert (Hrsg.): Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-53, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S. 487ff, zukünftig zitiert als: Terror.

25

das Verschwörerzentrum Slansky".1 In den Schlußfolgerungen dieser "Lehren" wurde den leitenden Kadern in Partei, Staatsapparat und Wirtschaft eine gründliche „Säuberung" angekündigt. Ein weiteres Signal für ein Aufräumen in den eigenen Reihen war die Auflösung der VVN im Februar 19532 und ihre Ersetzung durch ein "Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer". Begründet wurde dies mit der „historischen Feststellung, daß die Erfolge auf dem Weg zum Frieden, zur Demokratie und zum Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik eine besondere Organisation der Verfolgten des Nazi-Regimes unnötig macht".3 Warum Auflösung? Was war deren Zweck? Unmittelbar vor dem Tod Stalins beauftragte Ulbricht den Chef der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK), Hermann Matern, sowie den Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, damit, Vorschläge zur „Säuberung der Partei" von „feindlichen Elementen"4 auszuarbeiten. Wenige Tage später erläuterte Hermann Matern diese Entscheidung vor der ZPKK: „In erster Linie müssen die Leitungen gesäubert werden, d.h.: im Staatsapparat, in der Wirtschaft und in der Partei. Hierunter fallen nicht nur diejenigen, die in Emigration waren, sondern grundsätzlich alle, ganz gleich, woher sie kommen."5 Zu solch inquisitorischem Anspruch paßte das Bild das Ulbricht am 25. März vor dem Politbüro zeichnete: von einer „totalen Unterwanderung der DDR-Wirtschaft durch Agenten und Akteure, die unbehelligt agieren könnten, da sich niemand um sie kümmert".6 Die Vorstellung, mit einer umfassenden Säuberung der Partei, des Staatsapparates und der Wirtschaft die Hindernisse auf dem Weg zum beschleunigten Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR zu beseitigen, war Teil der letzten von Stalin ausgehenden „Säuberungen" in den kommunistischen Parteien seines Imperiums. Der rationale Kern all dieser Vorgänge, soweit er sich überhaupt in mörderischen Machttechniken finden läßt, zielte auf die Ausmerzung nationaler Traditionen in den regierenden kommunistischen Parteien der Satellitenstaaten sowie auf die „absolute Einschwörung" ihrer Führungskader „auf Person und Politik Stalins".7 In der DDR schien ein großer Schauprozeß bevorzustehen, der an die Planungen von 1951 anknüpfte. Im Zuge seiner Vorbereitung waren vor allem westdeutsche KPD-Funktionäre verhaftet, verhört und mißhandelt worden. Diese Maßnahmen fanden jedoch bislang keinen Abschluß in einem Tribunal.8 Entsprechende Planungen gingen indes weiter, und die Ermittler der ZPKK erhielten im November 1952 mit den erpreßten Geständnissen aus dem Slansky-Prozeß in Prag neues Belastungsmaterial. Bereits Monate zuvor hatte Ulbricht auf der II. Parteikonferenz die Agentenhysterie mit dem Verweis auf die Erkenntnis aus den osteuropäischen Prozessen 1

2 3 4

?

6 7

8

Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin (Ost) 1954, S. 199ff, künftig zitiert als: Dokumente IV. Elke Reuter/Detlef Hansel, Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953, Berlin 1997, S. 505. Walter Bartel, Die VVN hat ihre Aufgaben gelöst, aus: „Berliner Zeitung" vom 27.2.1953. Protokoll Nr. 11/53, Besetzung des Politbüros des Zentralkomitees am 3. März 1953, SAPMO BArch-DY 30 J IV 2/2/265. Zit. nach: Ulrich Mählert, Parteisäuberungen in der SED, in: Terror, S. 439. A.a.O., S. 442. Hermann Weber, Einleitung: Bemerkung zu den kommunistischen Säuberungen, in: Terror. S. 30. Vgl. Hermann Weber. Schauprozeß-Vorbereitung in der DDR, in: Terror, S. 474f.

26

daß angeblich in den Apparat eingeschmuggelte „feindliche Elemente" die Partei zersetzen wollten. Von den Prager Beschuldigungen war es nur ein kleiner Schritt zu Verhaftungen, so von Paul Merker1 und Hans Schrecker2, Ende November 1952. Die Rechtfertigung lieferte nachträglich der bereits zitierte Beschluß des ZK vom 20. Dezember über die "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky".3 Neben den Ermittlungen gegen altgediente Parteikader wurden Verhaftungen von führenden Politikern der Blockparteien durchgeführt, so dem LDPD-Minister für Handel und Versorgung, Karl Hamann (verhaftet im Dezember 1952) und dem CDUAußenminister, Georg Dertinger (verhaftet im Januar 1953).4 Paul Merker saß nach dem Tod Stalins noch zwei Jahre in Haft, bevor er schließlich im März 1955 in einem Geheimprozeß vom Obersten Gericht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.5 Merkers Fall ist bezüglich der Frage nach der persönlichen Macht Ulbrichts aufschlußreich. Daß auch nach dem 17. Juni keine Freilassung erfolgte, lag wahrscheinlich allein in dessen Hand.6 Dies war nicht der einzige Fall, in dem die SED bzw. ihre Führung vehementes Eigeninteresse an der Vorbereitung und Durchführung von Schauprozessen zeigte und die Initiative ergriff. Im März 1953 sollte dann nicht Paul Merker, sondern Franz Dahlem, bis 1952 die Nummer Zwei in der Kaderhierarchie der SED, der Hauptangeklagte in einem solchen Prozeß sein. „Wie die SED bei der Prozeßvorbereitung gegen Dahlem schrittweise vorgehen wollte, erläuterte Matern noch Ende Mai auf der Sitzung der ZPKK: ,Gleich nach dem 13. Plenum haben eine Reihe von Genossen gesagt, warum wurde Genosse Dahlem nicht ausgeschlossen? Wir sollten aber lernen von den Bruderparteien, die solche Fragen auch nicht auf einmal lösten und dabei eine weit gründlichere Entlarvung durchführten, z.B. Gomulka in Polen, Slansky in der CSR, André Marty in Frankreich.' Noch 1953 hat das MfS in Prag versucht, Material für einen Schauprozeß zu finden."7 Die Zäsuren, die die Parteisäuberung in der

angefacht,

Paul Merker, Jahrgang 1894, KPD-Mitglied seit 1920, nach 1933 illegale Arbeit, Emigration in Frankreich, ab 1942 in Mexiko, ab 1946 Mitglied des SED-Parteivorstandes bzw. des ZK des Zentralsekretariats/Politbüros, 1949/50 Sekretär im Staatssekretariat für Land- und Forstwirtschaft, Verhaftung Ende 1952, Verurteilung 1955 zu 8 Jahren Zuchthaus, Entlassung Anfang 1956 und Wiederaufnahme in die SED. Vgl. dazu Andreas Herbst, Führungsstrukturen und Führungskader der SED, in: Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stefan/Jürgen Winkler (Hrsg): Die SED-Geschichte, Organisation Politik, Ein Handbuch. Berlin 1997, S. 1027, künftig zitiert als: Die SED. Hans Schrecker, Jahrgang 1899, KPD-Mitglied seit 1923, 1933 Emigration in die Schweiz und nach Frankreich, ab 1940 Aufenthalt in England, 1945 Rückkehr, Arbeit als Chefredakteur in Sachsen, ab 1950 für die Nationale Front tätig, November 1952 Verhaftung, 1954 Verurteilung zu acht Jahren Gefängnis, 1956 Begnadigung. Vgl. dazu: Die SED, S. 1028. Vgl. Dokumente Bd. IV, Berlin 1954, S. 199-219. Vgl. Hermann Weber. Schauprozeßvorbereitung in der DDR, a.a.O., S. 478f Vgl. Wolfgang Kießling, Partner im "Narrenparadies". Der Freundeskreis um Paul Merker und Noel Field, Berlin 1994, S. 337. Vgl. Kießling, a.a.O., S. 336.

Hermann Weber,

Schauprozeß-Vorbereitung in der DDR, a.a.O., S. 480.

27

bezug auf einen solchen Schauprozeß beendeten und zugleich in eine andere Richtung lenkten, setzten der „Neue Kurs" und der 17. Juni. Das Vorgehen in der SED gegen die eigene Gefolgschaft rundete das Bild der existenzbedrohenden Krise der sozialistischen Staatsmacht in der DDR im Frühjahr SED in

1953 lediglich ab. Es war ein integraler Bestandteil des planmäßigen "Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus", den die II. Parteikonferenz 1952 beschlossen hatte. Der

Schlußstrich, den Ulbricht und seine Gefolgschaft 1952 auf dieser Konferenz unter die „antifaschistisch-demokratische" Periode der DDR-Geschichte zogen, war von Stalin

gebilligt worden.1 Von da an galt es, in der DDR in erklärter Abgrenzung zur Bundesrepublik die Grundlagen des Sozialismus aufzubauen. Im Frühjahr 1953 zeigten sich die Grenzen des ehrgeizigen Sozialismus-Projektes. Die Möglichkeiten des eigenen Herrschaftsgebietes und die Geduld seiner Bevölkerung waren dabei über Gebühr strapaziert worden. Die Realität der Verhältnisse in der DDR stellte die Übereinstimmung von Partei und Volk in Frage. Hatte doch Walter Ulbricht

in seiner Rede auf der II. Parteikonferenz, das Sozialismus-Vorhaben mit der propagandistischen Behauptung gerechtfertigt, es erfolge in „Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen".2 Doch jene dachten gar nicht daran, die Verkündung begeistert aufzunehmen. Selbst die Mitgliedschaft der SED stand der eröffneten Perspektive abwartend und gespalten gegenüber.3 Hintergrund für die Zurückhaltung war zum einen der schroffe Linienwechsel, den Ulbricht vollzog und zum anderen der Widerspruch zur März-Note der sowjetischen Regierung, die den Westmächten den Abschluß eines Friedensvertrages offerierte.4 Darin hieß es wörtlich: „Es versteht sich, daß ein solcher Friedensvertrag unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten

Vgl. Cold War International History Projekt Bulletin 4 (1994), S. 48. Demnach ermunterte Stalin die SED-Führung „ihren eigenen Staat zu organisieren", weil er sich der Ablehnung der sowjetischen Noten-Offerte seitens des Westens sicher war. Bonwetsch und Filitov lehnen ebenso Thesen vom Alleingang der SED ab, fragen jedoch, ob sich „in der zögernden, sehr späten Moskauer Zustimmung zum Programm der II. Parteikonferenz am 8. Juli 1952" nicht zeigte, daß Stalin „insgeheim etwas anderes wollte". Vgl. dazu Bernd Bonwetsch/ Alexej Filitov, Die sowjetische Politik und die SED: Handlungs- und Verantwortungsspielräume der KPD/ SED/ DDR 1945-1963, Manuskript, Expertise für die Enquetekomission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", Bonn 1998, S. 72f. Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der SED, Protokoll der -

Verhandlungen

der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 9.-12. Juli 1952 in Berlin, Berlin (Ost) 1952, S. 58. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, „Wir werden siegen, weil der große Stalin uns führt!" Die SED zwischen Zwangsvereinigung und IV. Parteitag, in: Kowalczuk/Mitter/Wolle (Hrsg.): Der Tag X 17. Juni 1953. Die "Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, S. 195f. Bonwetsch und Filitov diskutierten ausführlich die zahlreich vorliegenden kontroversen Deutungen zu den Stalin-Noten 1952 mit dem Ergebnis, daß neben einer fortbestehenden Verwirrung der Historiker als einzig sichere Erkenntnis festgehalten werden könne, daß Moskaus Politik „in sich widersprüchlich bzw. doppelgleisig war". Vgl. dazu Bernd Bonwetsch/Alexej Filitov. a.a.O.. S. 58ff. und insbesondere S. 73. -

28

durch eine gesamtdeutsche Regierung, ausgearbeitet werden muß."1 Zusammen mit der Note übergab die sowjetische Regierung einen Entwurf über die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, dessen erster politischer Leitsatz lautete: „Deutschland wird als einheitlicher Staat wiederhergestellt. Damit wird der Spaltung Deutschlands ein Ende gemacht, f..)."2 Der beschleunigte Aufbau des Sozialismus in der DDR widersprach dieser Deklaration diametral und konterkarierte die sowjetische Offerte gen Westen. Die Westmächte, ebenso die von Konrad Adenauer geführte Bundesregierung, lehnten Stalins Angebot ab. Adenauer wollte statt einer isolierten nationalstaatlichen Lösung der deutschen Frage die unwiderrufliche Einbindung Deutschlands in den Prozeß der westeuropäischen Integration. Die vertraglich fixierte Westbindung, die auch für ein künftiges Gesamtdeutschland gelten sollte, war nirgends deutlicher fixiert als in dem am 26. Mai 1952 zwischen der Bundesrepublik und den drei westlichen Alliierten unterzeichneten Deutschlandvertrag. Im Artikel 7 proklamierten die Vertragspartner als gemeinsames Ziel „ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung ähnlich wie die Bundesrepublik besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist".3 Die Bewertung dieses Vertragstextes durch Andreas Hillgruber scheint zwingend: „Demnach durfte auch eine frei gewählte Regierung Gesamtdeutschlands dessen Status innerhalb der Mächtekonstellation nicht selbst bestimmen. Vielmehr lag die Integration in den 'Westblock' fest, der sich somit von der Elbe und Werra bis zur Oder und Neiße bzw. noch weiter nach Osten verschieben ließe, da, wie es ebenfalls in Artikel 7 hieß, die Bestimmung der Grenzen Deutschlands bis zu einer ,friedensver-traglichen Regelung' aufgeschoben werden sollte. Eine Realisierung dieses weit-gespannten Ziels setzte eine politische Totalkapitulation der Sowjetunion voraus."4 Als Hillgruber diese Sätze schrieb, dauerte die deutsche Teilung noch an. Auf die Konstellation der Jahre 1951/52 verweist HansPeter Schwarz in seiner Sicht auf diese Festlegung des Deutschlandvertrages: „Man hat aus Adenauers Entscheidung für diese Formulierung weitreichende Schlüsse auf die Gesamtanlage seiner Außenpolitik gezogen. Hat er damit nicht sehenden Auges eine mit der Sowjetunion frei vereinbarte Wiedervereinigung unmöglich gemacht? Denn, daß diese aus freien Stücken in die Integration der DDR in die westlichen Zusammenschlüsse einwilligen würde, war doch wohl kaum zu erwarten. Oder hat der Kanzler im Herbst 1951 tatsächlich noch auf einen totalen Zusammenbruch der sowjetischen Politik dank westlicher Politik der Stärke spekuliert? Daß Adenauer 1951 die Bundesrepublik politisch als deutschen Kernstaat und die DDR als unter Fremdherrschaft stehendes Gebiet ohne echte Staatsqualität verstand, ist sicher. Diese Auffassung herrschte damals in allen demokratischen Parteien ganz unbestritten. Wenn man jedoch von der Idee des Kernstaates Bundesrepublik ausgeht, war es gedanklich Deutsches Institut für Zeitgeschichte, Berlin (Hrsg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, Bd. I, Berlin (Ost) 1957, S. 289. Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, a.a.O., S. 291. 40 Jahre Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Eine Dokumentation, Auswärtiges Amt (Hrsg.): Stuttgart 1989, S. 51. Vgl. Andreas Hillgruber, Deutsche Geschichte 1945-1986. Die "Deutsche Frage" in der Weltpolitik, Stuttgart, Berlin, Köln 1983, S. 53.

29

durchaus schlüssig, deren Bindungen auch auf das um die befreite Ostzone und vielleicht um die verlorenen Provinzen vergrößerte Deutschland zu übertragen. Nur so schienen die legitimen Sicherheitsbedürfnisse der westlichen Nachbarn und der Wunsch Deutschlands nach Gleichberechtigung miteinander vereinbar. Daß dieses Konzept gegenüber der Sowjetunion schwer durchsetzbar sein würde, war evident. Aber vorläufig galt es erst einmal zu verhindern, daß sich die Westalliierten auf Kosten Deutschlands und auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens mit der Sowjetunion

einigten."1

Bildung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1949 und die gleichwohl ungelöste Frage eines Friedensvertrages mit einer gesamtdeutschen Regierung waren Teil der Formierung einer bipolaren Weltordnung zwischen dem von den Vereinigten Staaten geführten Westen und dem sowjetischen Imperium. In der deutschen Frage ging es zwischen den Weltmächten auch immer um die Auseinandersetzung um die Einbindung des deutschen Potentials in das eigene Lager bzw. seine Neutralisierung. Die in dieser Zeit betriebene militärische Aufrüstung beider deutschen Staaten war wenige Jahre nach dem Krieg auch immer mit der Frage der Kontrolle dieser Streitkräfte durch die Westmächte auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite verbunden.2 Erst vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der sowjetischen MärzNote von 1952 verständlich, die ein neutrales Gesamtdeutschland anbot. Unabhängig von der nicht mehr zu entscheidenden Frage, ob es Stalin ernst meinte, verfolgte sein diplomatischer Vorstoß eindeutig den Zweck, Adenauers Politik der Westbindung in der Bundesrepublik zu erschweren. Darüber hinaus wollte die Sowjetunion gegenüber den Deutschen nicht als die Siegermacht dastehen, die für die deutsche Spaltung verantwortlich sei.3 Die Wiedergewinnung staatlicher Souveränität im Rahmen der Die

Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer, Gründerjahre der Republik 1949-1957, in: Karl-Dietrich Bracher/Theodor Eschenburg/Joachim C. Fest/Eberhard Jäckel (Hrsg.): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in fünf Bänden, Stuttgart 1981, S. 146.

Bei der Beurteilung des Aufbaus und der Integration in die jeweiligen Bündnissysteme beider deutscher Armeen wenige Jahre nach Kriegsende gilt sicher die Feststellung von Horst Möller als von besonderer Bedeutung: „In den Überlegungen der Westalliierten und der Sowjetunion galt für lange Zeit die deutsche Teilung als Unterfand für die Sicherheit vor einem soeben besiegten aggressiven deutschen Nationalismus." Horst Möller, in der öffentlichen Anhörung: „Die Dtl.politik von 1949 bis in die sechziger Jahre", Bd. V, 1, S. 241. Vgl. dazu Gerhard Wettig, Bereitschaft zur Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945-1955, München 1999, S. 217ff. Wie wichtig diese Frage für die sowjetische Selbstdarstellung gegenüber den Deutschen gewesen ist, davon zeugen die Erinnerungen von Gorbatschow, in denen es heißt: „War die Teilung Deutschlands nach dem Krieg wirklich notwendig? War der Preis, den Deutschland dafür zahlen mußte, daß Hitler den Krieg entfesselt hatte, gerechtfertigt? Ich sagte nicht .ausreichend' oder ,nicht ausreichend', ich sage gerechtfertigt' vom Standpunkt der perspektivischen Interessen der Siegermächte und der ganzen Welt. Zieht man all das, was danach geschah und was ich in diesen Kapiteln knapp dargelegt habe, in Betracht, so fällt die Antwort meines Erachtens negativ aus. Ich kann nicht umhin, noch einmal festzustellen: Nicht die Sowjetunion war hierbei die Initiatorin, sie wollte nicht die Spaltung Deutschlands, obwohl die Völker der UdSSR mehr als andere unter der Hitlerschen Agression gelitten haben." Zit. nach: Michail Gorbatschow, Wie es war Die deutsche Wiedervereinigung. Berlin 1999, S. 53. -

-

30

westeuropäischen Integration durch die Bundesrepublik, die mit dem Deutschlandvertrag und der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)1 im Mai 1952 politische Realität wurde, bildete auch den Hintergrund für Ulbrichts Sozialismus-Proklamation der II. Parteikonferenz, die ab Dezember 1951 vorbereitet worden war. Im Zusammenhang mit der März-Note Stalins vermittelte die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) der SED-Spitze die Überzeugung, daß „das ostdeutsche Herrschafts- und Gesellschaftssystem nicht in Frage"2 gestellt würde. Die Gespräche mit Stalin, Anfang April 1952, verstärkten die Garantie der sowjetischen Führung gegenüber der SED nachdrücklich, ging es doch um den Aufbau eigener militärischer Streitkräfte.3 Weiter wurde in diesem Gespräch festgelegt, die Agitation für die deutsche Einheit und den Abschluß eines Friedensvertrages seitens der SED fortzusetzen, zugleich jedoch die innerdeutsche

Grenze deutlich zu markieren und militärisch zu sichern. Nachdem die Westmächte ebenso wie die Bundesregierung unbeirrt an ihrem Kurs einer festen Einbindung der Bundesrepublik in den Westen festhielten und einer isolierten nationalstaatlichen Lösung der deutschen Frage auf der Basis der Neutralität eine Absage erteilten, konnte die Eigenständigkeit der Entwicklung in der DDR und das totalitäre Machtmonopol der SED nur auf der Grundlage der Blockloyalität zur Sowjetunion gegründet werden. Ulbrichts Aufbau des Sozialismus hieß nichts anderes als die offene Übernahme der politischen und ökonomischen Ordnung der stalinschen Sowjetunion in dem von ihr kontrollierten Teil Deutschlands. Binnen Jahresfrist trieb dieses Projekt die DDR an den Rand des Untergangs. In vielfältiger Weise bedeutete die Orientierung auf den beschleunigten Aufbau des Sozialismus eine unverhohlene „Kampfansage an die Mittelschichten"4. Nicht umsonst hatte Walter Ulbricht in seinem Referat den Delegierten der II. Parteikonferenz angekündigt, „daß der Aufbau des Sozialismus unter den Bedingungen des verschärften -

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Der Vertrag über die EVG wird am 27. Mai 1952 in Paris zwischen Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und der Bundesrepublik unterzeichnet. Die nationalen Streitkräfte sollen bei gleicher Ausrüstung, Ausbildung und Dienstzeit der Soldaten unter einem gemeinsamen Oberbefehl integriert werden, um die europäische Einigung zu beschleunigen. Dieser Vertrag trägt den französischen Vorbehalten gegen die Wiederaufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik Rechnung. Die französische Nationalversammlung lehnt am 31. August 1954 den EVG-Vertrag ab. Text des Vertrages, vgl. 40 Jahre Außenpolitik, a.a.O., S. 53ff. Gerhard Wettig, Bereitschaft zur Einheit in Freiheit?, a.a.O., S. 227. „Da die Amerikaner Europa kontrollieren wollten, statt ihre Truppen abzuziehen, müsse die DDR zu einem (richtigen) Staat organisiert werden. Das SED-Regime solle .ohne Geschrei' eine .Volksarmee schaffen' und der Bevölkerung das Ende der pazifistischen Periode deutlich machen." Übersetzt in praktische Taten hieß das: „An die Stelle der bisher vorhandenen 24 Bereitschaftseinheiten mit 58.000 Mann sollte eine vollständige Armee von 300.000 Mann treten, die in 9-10 Korps und 30 Divisionen gegliedert sein würde. Die Ausbildung der militärischen Kader sollte zumindest teilweise in der UdSSR erfolgen." Zit. nach: Gerhard Wettig, Bereitschaft zur Einheit in Freiheit?, a.a.O., S. 228. Ilko-Sascha Kowalczuk, „Wir werden siegen ...", a.a.O., S. 192.

31

Klassenkampfes erfolgt."1 Die von Stalin übernommene These von der Verschärfung des Klassenkampfes wurde in dem einstimmig angenommenen Beschluß der Konferenz zu der Aussage verdichtet: „Es ist zu beachten, daß die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen."2 Die

neue

Generallinie der SED zielte

vor

allem auf die

Durchsetzung „sozialistischer Produktionsverhältnisse" mittels einer umfassenden Kollektivierung in der Landwirtschaft, dem forcierten Aufbau der Schwerindustrie sowie weiterer Enteignungen kleinerer Handels- und Handwerksbetriebe. Um das dafür notwendige „sozialistische Bewußtsein" zu stärken, wurde obendrein der Kampf gegen die Kirchen verschärft. Den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen begegnete die gesamte Skala von Drohungen, brutaler Gewalt oder verwaltungshoheitlicher Restriktionen, derer sich Staats- und Parteiführung bedienen konnten. So wurden Einzelbauern, die ihr Ablieferungssoll nicht erfüllten, ins Zuchthaus gesteckt3 und allen

Selbständigen

ihren Familien im Frühjahr 1953 der Kranken- und sowie am 9. April die Lebensmittelkarten5 entzogen. Justizielle Unabhängigkeit, so wie auf dem Papier der ersten DDR-Verfassung garantiert, war in der Praxis nicht existent.6 Die SED bediente sich der Justiz als Erfüllungsgehilfin zur legitimatorischen Absicherung der innenpolitischen Umwälzungen. Alle oppositionellen Handlungen gegen die Herrschaft der SED ließen sich unter Berufung auf den Artikel 6 Abs. 2 der Verfassung als „Boykotthetze" kriminalisieren und entsprechend verfolgen. Implizit gegen das Privateigentum richteten sich solche Verordnungen wie das Gesetz zum Schutz des innerdeutschen Handels von 1950 und das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums von 1952. Letzteres erklärte „jeden Widerstand gegen die rücksichtslose Verstaatlichung von Industrie und Handel nebst

Sozialversicherungsschutz4

Protokoll der

Verhandlungen

der II.

Parteikonferenz der Sozialistischen

Einheitspartei

Deutschlands, Berlin (Ost) 1952, S. 61. Protokoll der II. Parteikonferenz a.a.O., S. 492. Karl Wilhelm Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Fricke, Vgl. Verfolgung 1945 1968, Bericht und Dokumentation, Köln 1979, S. 277f. Siehe: auch die im ZK ...,

als Vertrauliche Verschlußsache (WS) geführte und auf Enteignungen zielende "Verordnung zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung" vom 23.2.53, in: SAPMO BArch DY 30 IV 2/5/41, Blatt 232-236. Vgl. Gesetzblatt der DDR, Nr. 39, Berlin 1953, S. 463. Vgl. Gesetzblatt der DDR, Nr. 48, Berlin 1953, S. 543. „Diese Erkenntnis ist fundamental. Sie schließt aus, das Gesamturteil nach Bereichen im Rechtssystem zu differenzieren, die ,gut' vielleicht sogar vorbildlich waren, in denen mehr oder weniger Unrecht geschah, und solchen, die wenigstens gut gemeint, aber in der Ausführung mißlungen sein mochten. Ein Rechtssystem, das vor allen anderen im Dienst der Macht steht, verfehlt im Kern die allem Recht zugrundeliegende Aufgabe, im Konflikt zwischen Macht und Recht der Macht Schranken zu setzen." Zit. nach: Bericht der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", in: Materialien der Enquete-Kommission" Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag in 18 Bänden. Baden-Baden 1995, Bd. I, S. 353, künftig zitiert als: Materialien. -

32

sowie gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zur Straftat."1 Neun Monate nach der Verkündung des Sozialismusaufbaus bilanzierte die ZK-Abteilung "Staatliche Verwaltung" im April 1953 den Beitrag der DDR-Rechtsprechung zur Kollektivierung. Danach waren in der Zeit vom 1.8.1952 bis 31.1.1953 583 Verfahren gegen Großbauern, 311 Verfahren gegen Mittelbauern und 353 Verfahren gegen Kleinbauern durchgeführt worden.2 Das war nur der Beginn einer Prozeßflut im Kampf gegen das verbliebene private Unternehmertum. In diesem Zusammenhang erlangte die Großaktion "Rose" traurige Bekanntheit. Im Februar/ März wurden hunderte Hotels, Pensionen, Taxiunternehmen sowie andere gewerbliche Betriebe auf der Insel Rügen unter dem Vorwand überprüft, angeblichen Gesetzesverstößen auf die Spur zu kommen.3 In einer konzertierten Gemeinschaftsaktion von ZK-Apparat, SEDBezirksleitung Rostock, Volkspolizei, Justiz, Grenzpolizei, Bezirks- und Kreisleitungen des MfS,. Räten der Kreise sowie des FDGB fahndeten mehr als 400 Volkspolizisten in über 700 Betrieben. Nach dem Abschlußbericht zu urteilen, war vornehmlich Enteignung das Ziel dieser Maßnahme.4 Über 600 Objekte, einschließlich der Grundstücke wurden dabei beschlagnahmt. Zudem Bargeld, Konten, Schmuck und Wertsachen sowie Fahrzeuge aller Art. In der Mehrzahl der Fälle wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet und mehr als 400 Festnahmen vorgenommen. Das Ergebnis dieser Großtat waren 399 verhängte Freiheitsstrafen von 1 bis 10 Jahren.5 Generalstaatsanwalt Josef Streit beschrieb prägnant die Rolle der politischen Justiz bei diesem Vorgang: „Hinsichtlich der Vermögenseinziehung ist zu sagen, daß die

gesetzlichen Möglichkeiten (...) konsequent ausgeschöpft wurden."6 Entsprechend stieg die Zahl der Inkaftierten: Binnen zehn Monaten

nach der

II. Parteikonferenz von 37.000 Strafgefangenen im Juli 1952 auf 47.000 im Mai 1953. Hinzu kamen 20.000 Untersuchungshäftlinge, womit insgesamt ca. 67.000 Menschen im Gefängnis saßen.7 Allein im ersten Halbjahr 1953 wurden 4.174 Personen wegen sogenannter Staatsverbrechen verurteilt, 26 Urteile mit lebenslanger Haftstrafe sowie 6

Todesurteile ausgesprochen.8 Auch die Konfrontation mit den Kirchen eskalierte in den kommenden Monaten. Das Politbüro maß dieser Auseinandersetzung höchste Priorität zu. Am 3. Juni 1952 erhob es die Forderung, daß sämtliche die Kirchen betreffenden Fragen der Parteispitze 1

Materialien, a.a.O., Bd. I, S. 356.

2

Vgl.

3 4

5 6

7

8

den "Bericht über die

Tätigkeit

der

Justizorgane

im

Kampf

gegen feindliche

Tätigkeit".

8.4.1953, in: SAPMO BArch DY 30 IV 2/13/409. Vgl. den "Abschlußbericht" der Aktion Rose, Bützow 2.5.1953, 26 Seiten und Anhang, hier Bl. 1,

in: SAPMO BArch DY 30 IV 2/13/409. Vgl. ebd., Bl. 9. Vgl. ebd., Bl. 16. Ebd., Bl. 19. Politische Strafjustiz in der frühen DDR. Zusammengestellt durch die Landesjustizverwaltungen der Länder Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Justizvollzugsanstalt Hohenleuben 1996, S. 18. Vgl. dazu Falco Werkentin, Politische Strafiustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 68ff. Vgl. Werkentin, a.a.O., S. 18.

33

vorzulegen seien.1

Drohend hatte Ulbricht auf der II. Parteikonferenz von den Kirchen eine klare Parteinahme in der innerdeutschen Auseinandersetzung verlangt: „Die Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik muß sich entschieden lossagen von allen amerikanischen und englischen Agenturen, gleichgültig, ob deren Verbindungsmann Herr Kaiser oder Herr Adenauer ist. Die christliche Moral der Menschlichkeit ist unvereinbar mit der Versklavungspolitik der Adenauer-Regierung und der Herrschaft der amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten in West-Deutschland und West-Berlin. Daraus ergibt sich, daß die Vertreter der Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik und im demokratischen Sektor von Berlin keinerlei Anweisungen von jenen Kräften annehmen können, die die Geschäfte der amerikanischen Okkupanten besorgen."2 Die Vorgabe des SED-Generalsekretärs verwandelte die ZK-Abteilung "Staatliche Verwaltung" in eine "Analyse über die Politik der Kirchen", in der die Glaubensgemeinschaften als „Filialen des amerikanischen und westdeutschen Imperialismus" denunziert wurden, um gezielt aktive Christen, Pfarrer und Priester kriminalisieren zu können.3 Von dem exzessiven Kirchenkampf bleibt die Unterdrückung der evangelischen Jugendarbeit, insbesondere die Verfolgung der "Jungen Gemeinde" nachhaltig in Erinnerung. Mit der Bildung einer Kommission zur Ausarbeitung eines Maßnahmenplans zum Umgang mit der "Jungen Gemeinde", die das Sekretariat des ZK am 27.11.1952 beschloß, begann das Ringen um die kirchliche Jugendarbeit. Zwei Monate später billigte das Politbüro die vorgesehenen Maßnahmen, um die Aktivitäten der Jugendorganisation zu unterbinden. Unverzüglich informierte Ulbricht den Chef der SKK, Armeegeneral W. I. Tschuikow, über diese Entscheidung.4 Eingedenk der neuen Generallinie der SED besaß der zentrale Stellenwert des Kampfes gegen die kirchliche Jugendarbeit seine besondere Plausibilität: „Die Art und Weise, in der die "Junge Gemeinde" durch den Parteiapparat beurteilt wird, läßt erkennen, daß die SED-Führung die kirchliche Jugendarbeit vor allem als eine .Aufweichungs'-Gefahr für die geplante Aufrüstung der DDR sowie für die verstärkte Ideologisierung der Jugend und den Umbau der FDJ zur Hilfstruppe und 'Kampfreserve' der SED begriff. Da Ulbricht hierin eine wesentliche Voraussetzung für einen forcierten 'Aufbau des Sozialismus' sah, (...) mußte die 'Junge Gemeinde' in der Optik des Parteichefs einen zentralen Bereich der DDR-Politik tangieren und war folglich mit aller Härte zu bekämpfen."5 Die Zahl der kirchlich engagierten Jugendlichen, die ihre Schulen verlassen mußten oder in den Westen flohen, ist nicht

Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 3.6.1952, Tagesordnungspunkt 9: "Kirchenfragen", in: SAPMO BArch DY 30 J IV 2/2/214. Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz, a.a.O., S. 44. Vgl. die "Analyse über die Politik der Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik". Vorlage für das Politbüro, Abt. Staatliche Verwaltung, in: SAPMO-BArch NY 4090/454, Bl. 116-127. Vgl. Martin Georg Goerner, Die Kirche als Problem der SED. Strukturen der kommunistischen Herrschaftsausübung gegenüber den evangelischen Kirchen 1945-1958, Schriftenreihe des Forschungsverbundes SED-Staat, Berlin 1997, S. 92ff. Martin Georg Goerner, a.a.O., S. 98.

Vgl.

34

genau bekannt.1 Die evangelischen Bischöfe schrieben im April 1953 an SSK-Chef Tschuikow und appellierten an die Besatzungsmacht, den Kirchen zu helfen. Sie beriefen sich dabei auf frühere Absprachen und beklagten die zunehmenden Verfolgungen.2 In ihrer Erklärung machten sie sich auch zu Fürsprechern derjenigen benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen, die durch die Verschärfungen in Folge der II. Parteikonferenz direkt betroffen waren. Die Rückwirkungen all dieser Repressalien waren nicht bedacht oder wenn doch, dann billigend in Kauf genommen worden. Der Exodus der Mittelschicht erwies sich innerhalb weniger Monate als wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Bumerang. Funktionierende Handels- und Versorgungsstrukturen waren lediglich einem allein ideologisch begründbaren Sozialismus-Ziel geopfert worden, wogegen sich die systemeigenen Alternativen erst im Embryonalstadium ihrer Entwicklung befanden. Der politische Anspruch der Sozialismus-Proklamation stand in nicht überbrückbarer Diskrepanz zur realen gesellschaftlichen Entwicklung. Besonders das massenhafte Abwandern der Bauern als Folge der Zwangskollektivierungen hinterließ ernste Versorgungslücken, die von den bestehenden Genossenschaften mangels Effizienz und Ertrag in keiner Weise ausgefüllt werden konnten. In den Führungsebenen von Partei und Regierung, mit ihren Versorgungsprivilegien, mochten die wachsenden Engpässe ignorierbar sein, in der Masse der Bevölkerung beförderten sie die Zweifel an der Lebensfähigkeit des Systems umso stärker. Ein Indikator für die Krise beunruhigte indes auch die Partei-Spitze stärker. Das Ansteigen der Fluchtbewegung wurde zum entscheidenden Auslöser, um Moskau zum Eingreifen zu bewegen. „1952 verließen rund 182.000 Menschen die DDR 1953 waren es 331.000."3 Staatsapparat und Partei mußten sich mit der Flucht als einem ungeplanten Problem beim Aufbau des Sozialismus beschäftigen.4 Nach Unterlagen des zentralen Parteiapparates verließen im IV. Quartal 1952 insgesamt 41.276 Personen das Land. Das Politbüro versuchte dem entgegenzuwirken, indem es ein Bündel von Maßnahmen beschloß, um die Fluchtbewegung einzudämmen.5 Trotzdem stieg die Zahl der Flüchtlinge stetig: im März 1953 auf 30.845, was eine Erhöhung der Zahl gegenüber -

„Das kirchliche Jahrbuch spricht

von ca. 3.000 Schülern (Kirchliches Jahrbuch 1953, S. 138), Grotewohl sprach gegenüber Kirchenvertretern von 712 (Niederschrift vom 10.6.1953)." Zit. nach: Martin Georg Goerner, a.a.O., S. 103, Fußnote 439. Der Brief der Bischöfe erreichte auch den DDR-Ministerpräsidenten. Eine Abschrift befindet sich im Nachlaß Grotewohl. "Evangelische Bischöfe der DDR an Armeegeneral Tschuikow", 9.4.1953, SAPMO-BArch NY 4090/455, Bl. 231-235. Bericht der Enquete-Kommission, in: Materialien, a.a.O., S. 573. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/202/68; vgl. auch den "Bericht über die Durchführung von Maßnahmen gegen die Republikflucht und zur Werbung von Fachkräften in West-Deutschland gem. dem Beschluß des Politbüros vom 6.1.1953", datiert vom 29.3.1953, SAPMO BArch DY 30 IV 2/13/394, Bl. 1 und ebenda, "Einschätzung über den Stand der Republikflucht und die von den Bezirks- und Kreisleitungen eingeleiteten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung und zur Werbung von Fachkräften aus West-Deutschland." vom 13.4.1953, Seite 8. Vgl. das Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK vom 6.1.1953, Tagesordnungspunkt 7: "Maßnahmen gegen die Republikflucht und zur Werbung von Fachkräften aus WestDeutschland", Berichterstatter: Barth, SAPMO BArch DY 30 J IV 2/2/256.

35 dem Vormonat um 8.556 Menschen bedeutete.1 Zwar sank sie dann im April wieder geringfügig2, doch das Sekretariat des Zentralkomitees war indessen soweit alarmiert, am 27. April von allen Bezirksleitungen der Partei zum Ende eines jeden Monats eine genaue Analyse der Fluchtbewegung zu fordern; abzuliefern erstmalig am 30.5.1953.3 Die Sowjets gingen bei ihren Entscheidungen für den Zeitraum 1951 bis April 1953 von 447.000 Menschen aus, die in den Westen geflohen waren.4 Die Kreml-Führung irrte sich nicht, als sie ihre Kurskorrektur in der DDR vor allem mit Blick auf die Fluchtbewegung vornahm. Für die innerdeutsche Systemauseinandersetzung war die „Abstimmung mit den Füßen" war ein ernstzunehmendes Votum. Versorgungsmängel und ökonomische Krise der DDR kontrastierten stark mit der Entwicklung in der Bundesrepublik, wo sich die Wirtschaft seit der zweiten Jahreshälfte 1952 in einem beständigen Aufschwung befand. Der Export wuchs und die meisten Branchen konnten Produktionssteigerungen von bis zu zehn Prozent bei stabilen Preisen verbuchen. Gegenüber 1939 waren die Reallöhne um etwa zwanzig Prozent gestiegen. Wird die Währungsreform von 1948 als Maßstab genommen, so waren es sogar ca. fünfzig Prozent. Trotz ständiger Zuwanderung aus der DDR sank die Arbeitslosigkeit im ersten Halbjahr 1953 unter eine Million. Die Kriegsschäden wurden überwunden und die Bundesrepublik lag an der Spitze des europäischen Wohnungsbaus. Der Massenwohlstand wuchs sichtbar, die Zahl der zugelassenen privaten Personenkraftwagen und Motorräder nahm ständig zu. „Die deutsche Mark war bereits eine der härtesten Währungen Europas und die Bundesbank verfügte über NettoDevisenreserven in Höhe von rund 1685 Millionen Dollar."5 Demzufolge hatten die Bundesbürger vor der zweiten Bundestagswahl 1953 ein anderes Bild von Adenauer, als es Ulbricht auf der II. Parteikonferenz 1952 gezeichnet hatte. Nach Abschluß der Verträge, die die Westbindung der Bundesrepublik besiegelten und dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Aufbau und angesichts des Krieges in Korea und der forcierten Aufrüstung in der DDR, nahm die Anerkennung Adenauers und seiner Partei

stetig zu.6

Vgl. den "Bericht über die Entwicklung der Republikflucht im März 1953" vom 24.4.1953. Vgl. den "Bericht über die Entwicklung der Republikflucht im April 1953", vom 23.5.1953. Vgl. das Protokoll der Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees, Anlage Nr.5: "Maßnahmen zur Bekämpfung der Republikflucht", SAPMO BArch DY 30 J IV 2/3/379. Der Beschluß "Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen demokratischen Republik." Das Original befindet sich im Nachlaß Otto Grotewohl, in: SAPMO BArch NY 4090/699, Bl. 27-32, künftig zitiert als: Maßnahmen zur Gesundung. Hier: Dierk Hoffmann, Karl-Heinz Schmidt, Peter Skyba (Hrsg.): Die DDR vor dem Mauerbau.

Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949-1961, München 1993, S. 152158, hier S. 152. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, Geschichte der Bundesrepublik in 5 Bänden, hrsg. v. Karl-Dietrich Bracher/Theodor Eschenburg/Joachim C. Fest/Eberhard Jäckel, Stuttgart/Wiesbaden 1981, Bd. 2, S. 193. „Die Zustimmungskurve bei Umfragen stieg von 34 Prozent im November 1952 auf 57 Prozent im Herbst des folgenden Jahres." Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer a.a.O., S. 187. ...,

36 Beide deutsche Staaten, die 1949 als Kernstaaten gegründet worden waren, stellten unverrückbar politisch und ökonomisch gegensätzliche Ordnungen dar, die in sich nicht kompatibel waren. Erklärtes Ziel der II. Parteikonferenz der SED war es, die Überlegenheit des Sozialismus in Deutschland in der DDR vorbildhaft zu demonstrieren. Diesem Plan widersprach die innerdeutsche Realität, mit der die sowjetische Führung nach Stalins Tod im Frühjahr 1953 konfrontiert war.

2.

Krisenmanagement in Moskau: Ein „Neuer Kurs" für die DDR

Entscheidungen, ob und wie sich überhaupt etwas an der desaströsen Entwicklung in der DDR korrigieren ließ, lag in der Hand des SED-Politbüros. Das letzte Wort hatte immer die Besatzungsmacht. Von ihren Abgesandten in der DDR, deren politischem Gespür und ihrem Weitblick hing die Validität der im Kreml eingehenden Informationen entscheidend ab. Den Löwenanteil der Informationstätigkeit für Moskau hatte die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) zu erbringen. Für die Wahrnehmung der Krise mag der Umstand wichtig gewesen sein, daß infolge der Abschaffung der Länder in der DDR der Apparat der SKK seit Mitte 1952 reorganisiert, mit zahlreichen personellen Veränderungen umstrukturiert wurde und deshalb „massiv mit sich selbst"1 beschäftigt war. Ihre Anpassung an die territoriale Gliederung in Bezirke erwies sich als ein komplizierter, lang andauernder Prozeß. Das neue Personal deckte bei weitem weder quantitativ noch qualitativ den Bedarf an Spezialisten mit Deutschlanderfahrung2 und brachte „Leute zum Einsatz, die kein Gespür für die nationalen Besonderheiten und die Brisanz der Entwicklung in der DDR haben konnten".3 In der Konsequenz war der sowjetische Kontrollapparat in der DDR „zu Jahresbeginn 1953 in gefährlichem Ausmaß gestört".4 Deutsche Zeitgenossen gingen dagegen von einer Wohlunterrichtetheit Moskaus aus, die es offenbar so nicht gegeben Keine der

hat. Karl Schirdewan erinnert sich, „(...) kurze Zeit nach dem 10. Plenum des ZK der SED (20.-22. November [1952, Anm. d. Verf.]), das tiefgreifende Festlegungen zur forcierten Umsetzung der Beschlüsse der II. Parteikonferenz getroffen hatte, in der SED-Bezirksleitung Leipzig, den Besuch eines sowjetischen Generals erhalten zu haben. Er informierte mich freundschaftlich darüber, daß er im Auftrage der sowjetischen Regierung eine Arbeitsgruppe leitete, die sich in verschiedenen Bezirken der DDR umsehe, Land und Leute kennenlernen und politische Informationen über die Entwicklung der DDR zusammentragen wolle. (...) Die Führung der UdSSR hatte demnach ein genaues Bild über den Stand der Dinge in der DDR."5 1

2 3 4

5

Elke Scherstjanoi, Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, Berlin 1998, S. 91. Vgl. a.a.O.. S. 92f. A.a.O., S. 91. A.a.O., S. 92. Karl Schirdewan, Aufstand gegen Ulbricht, Berlin 1994, S. 46.

37

Karl Schirdewan konnte es nicht besser wissen, waren doch die realen Vorgänge in der SKK und gar jene innerhalb der sowjetischen Führung für die SED-Funktionäre kaum durchschaubar. Zudem nährten die geheimniskrämerischen, zentralistischen Strukturen allerorten die Fama des Kreml als allwissendem Zentrum. Die Realität des Frühjahrs 1953 zeigte dagegen eine „auffallend schwache Beobachtungsgabe"1 auf sowjetischer Seite. Die hausgemachten Probleme der SKK, ausgelöst durch die Reorganisation der Kontrollorgane in der DDR, waren ein Grund für die Beobachtungsmängel, aber sie allein reichen nicht aus, um die fehlerhafte Wahrnehmung auf sowjetischer Seite zu erklären. Ohne Einsicht in die sowjetischen Archive läßt sich diese Frage nicht abschließend klären. Aber offenkundig war die Reaktionsfähigkeit der Moskauer Staats- und Parteiführung in den Monaten vor Stalins Tod gelähmt, und politisch besaß die Stabilität der DDR angesichts des Korea-Krieges für die sowjetische Führung nicht die oberste Priorität.2 Was auch immer die Gründe für die Wahrnehmungsschwäche der sowjetischen Kontrolleure in der DDR im Frühjahr 1953 gewesen sein mögen, die tatsächliche Verschärfung wesentlicher Krisenfaktoren entging ihnen und ließ die KPdSU-Führung in „Ahnungslosigkeit", da alles ihr

Scherstjanoi, a.a.O., S. 93. Wladislaw Subok und Konstantin Pleschakow schreiben über die im Frühjahr 1953 noch gültige Weltsicht Stalins: „Stalin konnte sich nie der Einsicht fügen, daß seine Kraft nicht unerschöpflich war und daß sein System ohne ihn weiterlaufen könnte. Es widerstrebte ihm, das Wesen oder die Hauptmerkmale der Epoche, in der er lebte, zu akzeptieren Bipolarität und das Aufkommen von Nuklearwaffen. Stalin zog es vor, so zu handeln und zu denken, wie es vor dem Kalten Krieg üblich gewesen war. Mit einem Fuß war er fest in der Vergangenheit verwurzelt. Für ihn stellte die militärisch-politische Konfrontation zwischen Ost und West auf der Schwelle zu einem Krieg nichts Neues dar. Ähnliche Ereignisse hatten sich in den 20er und 30er Jahren abgespielt und 1939 zu einem Krieg geführt: Die sozialistische Sowjetunion hatte Finnland angegriffen, Litauen, Lettland, Estland annektiert und Teile Polens besetzt. Dann hatte das kapitalistische Deutschland die Sowjetunion überfallen. Selbst ein Wettrüsten war, ungeachtet der atomaren Dimension, nichts völlig Neues: Rüstungswettlauf hat es nicht nur bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegeben, sondern schon in den Zeiten von Pfeil und Bogen. (...) Robert Conquests Einschätzung von Stalins Verhalten in der ersten Phase des Kalten Kriegs ist zuzustimmen: ,Seine Schachzüge waren 'manchmal sorgfältig vorbereitet, gelegentlich aber auch sprunghaft'. Stalins 'Realität' reichte noch aus, um einen unüberlegten Zusammenstoß mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Der Marshall-Plan markierte in Stalins Nachkriegs-Außenpolitik eine Wende von relativer Entspannung zu rücksichtsloser Unnachgiebigkeit. Der chinesisch-sowjetische Vertrag vom Februar 1950 kennzeichnete eine weitere entscheidende Entwicklung: Mit seiner Unterzeichnung wandte Stalin sich vom 'Jalta-Modelf der Koexistenz mit den Großmächten ab und entschied sich für ein Bündnis ein Schritt, der sich aus seinem Bild von einer unsicheren konfliktreichen Welt auf dem Weg zu einem dritten Weltkrieg ergab." Solange der Despot lebte, mußten die ihm untergebenen Kader ihn fürchten und auf der Hut sein, einen Fehler zu begehen: „In diesen entscheidenden Monaten findet man einen seltsamen Verstand am Werk, stark und gut informiert, aber mißtrauisch und gefühllos, vorsichtig und berechnend, ehrgeizig und rachsüchtig und, in dieser Kombination, alles andere als realistisch." Zit. nach: Wladislaw Subok/Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg von 1945 bis zur Kuba-Krise, Hildesheim 1997, S. 114ff. -

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38

vorliegende Material „kein Indiz für eine realistische Sicht auf die Krise"1 enthielt.

Was Informationen über Probleme der Wirtschaft, die Zunahme der Fluchtbewegung sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung doch nach Moskau gelangte, schien dort nicht Anlaß genug, mehr als nur partielle Korrekturen vorzunehmen und blieb wohl auch wegen Stalins Tod viele Wochen unbeachtet liegen. Dabei hatte die SED-Führung mehrfach um Hilfe ersucht. Die deutschen Kommunisten stützten sich auf eine von ihrem Planungsverantwortlichen Heinrich Rau zum Jahreswechsel 1952/53 verfaßte wirtschaftliche Bestandsaufnahme. Diese bilanzierte die Ergebnisse und Erfahrungen der ersten zwei Jahre des Fünfjahrplans sowie die Auswirkungen auf den Plan für das Jahr 1953.2 Der Bericht behandelte auch die eingeleiteten sowie in Vorbereitung befindlichen Maßnahmen seitens der SED.3 Trotz aller Bemühungen war Rau sich der Grenzen der geplanten Änderungen bewußt und beurteilte die Erfolgsaussichten der vorgesehenen Maßnahmen skeptisch: „Die Einführung eines strengen Regimes der Sparsamkeit und die Verbesserung der Wirtschaftsführung werden die Lage erleichtern, aber keinesfalls die Erfüllung der Hauptaufgaben garantieren können."4 Die Überbetonung der Schwerindustrie, der ausgedehnte Maschinenbau, beides forciert durch die sowjetischen Reparationsinteressen und die beginnende Aufrüstung überforderten die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft. Auf diese Erschöpfung wies die SED hin und bat um Milderung der Kriegsschuldlasten. Wann die Hiobsbotschaft in Moskau Gehör fand, ist unbekannt; möglicherweise auch erst nach Stalins Tod.5 An die Absenkung der von der DDR abverlangten Reparationen mochte Moskau jedoch nicht denken. Die sowjetische Seite bestand auf strikter Planerfüllung. Trotzdem war den für die deutsche Frage zuständigen Apparaten in der KPdSU die Instabilität der DDR nicht völlig verborgen geblieben. Es gab neben den Informationen der SKK auch Berichte des Geheimdienstes und die westliche Sicht auf die DDR. So soll der sowjetische Staatssicherheitsdienst (das MGB) schon im Februar 1953 den Bericht eines höheren französischen Beamten über die kritische Lage nach Moskau geschickt haben, dem die Verantwortlichen entnehmen konnten, daß die DDR auf die Bürger in der Bundesrepublik keinerlei Anziehungskraft ausübt.6 Der Analyse der an

1

2

3 4 J

6

Scherstjanoi, a.a.O., S. 93. Vgl. die kritische Lageanalyse

im Nachlaß Otto Grotewohl, SAPMO-BArch, NY 4090/473, Bl. 35-68 und auch im Nachlaß Heinrich Rau, SAPMO-BArch, NY 4062/83, Bl. 99-132. Diese Analyse existiert in unterschiedlich erarbeiteten Fassungen. Die als geheim eingestufte Bestandsaufnahme unter dem Titel "Die Sicherung der Durchführung des Fünfjahrplanes und der Aufbau der nationalen Streitkräfte in der Deutschen Demokratischen Republik" bilanzierte die Ergebnisse und Erfahrungen der ersten 2 Jahre Planerfüllung. Vgl. Rolf Stöckigt, Direktiven aus Moskau. Sowjetische Einflußnahme auf die DDR-Politik 1952/53, in: Jochen Cerny (Hrsg.): Brüche, Krisen, Wendepunkte. Neubefragung von DDR-Geschichte, Leipzig 1990, S. 81-88. Vgl. ebd.. Bl. 29-35. Ebd., Bl. 29. Vgl. dazu Scherstjanoi, a.a.O., S. 94. Bailey/Kondraschow/Murphy, Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin, Berlin 1997, S. 202. Als Quelle dient ein MGB-Bericht 708/ i, vom 19.2.1953, (SWRA, Akte 45513, Bd. 7, S. 97-99).

39 Schuldursache fehlte jede Tiefe, gleichwohl mußten Verantwortliche gefunden werden: Die Karlshorster Residentur des sowjetischen Innenministeriums (MWD) schickte am 9. März einen kritischen Bericht nach Moskau, „in dem beklagt wurde, daß das MfS seiner Aufgabe nicht gewachsen sei und die Beherrschung der Lage infolge der ,Verschärfung des Klassenkonfliktes in der DDR' schwieriger"1 werde. Doch nicht allein das MfS, auch die sowjetischen Tschekisten hatten Probleme. Ihre Führung beraubte sich selbst der Mittel, die nötig gewesen wären, um das Besatzungsgebiet weiterhin lückenlos überwachen zu können. Als Berija den sowjetischen Staatssicherheitsdienst (MGB) und das Innenministerium zusammenfaßte, war diese Reorganisation mit dem Rückruf aller MWD-Residenten aus den westlichen Hauptstädten sowie aus Berlin verbunden.2 Vor Ort schwächte dieser Umstand die geheimdienstlichen Tätigkeiten erheblich. Eine erste konkrete Reaktion der sowjetischen Regierung auf die Bitten der SED übermittelte am 13. April 1953 SKK-Chef Tschuikow im Auftrag seiner Regierung dem ZK der SED, daß es mit sowjetischer Hilfe rechnen könnte. Tatsächlich folgten beträchtliche volkswirtschaftliche Erleichterungen für die DDR, vor allem in der

Reparationsfrage:

„Die Sowjetregierung hat, nach Durchsicht der im Schreiben des ZK der SED

gestellten Fragen, um dem deutschen Volk bei der weiteren Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik, die den Weg des Aufbaus des Sozialismus beschriften hat, zu helfen und in Anbetracht der gefestigten

freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern beschlossen: 1. Den zur Bezahlung ab 1. Januar 1953 verbliebenen Betrag für die an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik verkauften sowjetischen Betriebe in Deutschland um 50% zu reduzieren, (...) 2. Die Warenlieferungen an die Sowjetunion im Jahre 1953 auf Rechnung der Einnahmen der sowjetischen Betriebe in Deutschland von 563 Mio Mark bis auf 200 Mio Mark zu reduzieren; (...). 3. Die Lieferung im Jahre 1953 auf Reparationsrechnung ist um 20% für solche Waren zu reduzieren, (...). 5. Die Lieferung aus der Deutschen Demokratischen Republik lt. erteilten sowjetischen Aufträgen im Jahr 1953 auf Walz-, Hütten- und Zementausrüstungen ist um 25% zu reduzieren, (...). 8. Das Ministerium für Innen- und Außenhandel der UdSSR zu beauftragen, entsprechend der Bitte der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, in den nächsten Tagen das Abkommen über gegenseitige Warenlieferungen für das Jahr 1953 Bailey/Kondraschow/Murphy, a.a.O., S. 204. „Lt. Deriabin wurden 1.700 der 2.800 Offiziere versetzt, zurückgerufen oder aus dem Dienst entlassen, und Wassili Buida, der im Frühjahr 1953 in Karlshorst gedient hat, erinnert sich, daß Berija am Vorabend der Ereignisse des 17. Juni alle höheren Offiziere der Residentur, einschließlich der Gruppenleiter und der Chefs der Bezirksbüros, den Befehl erteilt hatte, umgehend auf dem Luftweg nach Moskau zurückzukehren. Der Rest des Stabes sollte später folgen. (...) Während des Aufstands in der DDR wußten diese Offiziere aus Telefongesprächen mit ihren Familien, die noch in Berlin waren, daß auf den Straßen etwas Schreckliches geschah, doch Genaueres erfuhren sie erst, als einige von ihnen nach Berlin zurückgeschickt wurden." Zit nach:

Bailey/Kondraschow/Murphy, a.a.O., S. 208.

40

unterzeichnen und nach Möglichkeit den Wünschen des deutschen Partners in bezug auf die Erhöhung der Lieferungen von wichtigen Waren an die Deutsche Demokratische

zu

Republik entgegenzukommen (...). "'

Belastungen, denen die DDR-Wirtschaft durch den verdeckten Aufbau bewaffneter Streitkräfte und durch den beschleunigten Aufbau der Schwerindustrie ausgesetzt war, wurden dagegen nicht rückgängig gemacht.2 Aber statt der erhofften Kredite und zusätzlichen Lieferungen erteilte das Politbüro der KPdSU der SED am 15. April erstmals den Ratschlag, den Kurs der Sozialisierung zu überprüfen.3 Das Tempo des "Aufbau(s) des Sozialismus" zu verlangsamen, schien Walter Ulbricht jedoch nicht einsichtig. Nur einen Tag später plädierte er im „Neuen Deutschland" unbeirrt weiter für eine verstärkte Entwicklung von Schwerindustrie und Maschinenbau.4 Im April entstanden im Außen- und Innenministerium in Moskau Berichte zur Lage in der DDR5, die eine Anweisung an die SKK enthielten, Vorschläge zu erarbeiten, die im Präsidium des ZK der KPdSU beraten werden sollten. Auf der Basis dieser Lageanalysen und der SKK-Vorschläge beriet das Präsidium des Ministerrates der UdSSR am 14. Mai die DDR-Frage. „Alle Beteiligten waren sich darüber einig, daß die forcierte Sozialisierungspolitik des Regimes destabilisierend wirke und dem ,Kampf um die Vereinigung Deutschlands auf friedliebender und demokratischer Grundlage' schade. Ulbricht galt, ohne ausdrücklich genannt zu werden, als Hauptexponent des situationsverschärfenden Kurses. Man kam überein, daß er die Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft nicht weiter vorantreiben sollte. Die Kritik wurde deutlicher, als sich die Mitglieder der sowjetischen Führung am 20. Mai erneut mit der DDR befaßten. Dabei kamen sie u.a. auf den Personenkult zu sprechen, den der SEDGeneralsekretär anläßlich seines bevorstehenden 60. Geburtstages veranlaßt hatte. Er wurde aufgefordert, auf Pomp zu verzichten und in bescheidenem Rahmen zu feiern."6 Die DDR-Frage war Teil des Deutschlandproblems, für das in der sowjetischen Führung das Außenministerium die Federführung besaß. Insofern war es nur konsequent, daß die Außenpolitker beauftragt wurden, dem Ministerrat einen Nachlaß Grotewohl, SAPMO-BArch, NY 4090/473, Bl. 74-76. Eine Stellungnahme dazu findet sich im Nachlaß Grotewohl neben einem handschriftlichen Entwurf Grotewohls "Hochherzige Hilfe beim Aufbau des Sozialismus" und Kommunique der Regierung der DDR und des ZK der SED, SAPMO-BArch, NY 4090/473, Bl. 81-88. Vgl. Arnulf Baring, Der 17. Juni 1953, Köln, Berlin 1965, S. 37. Vgl. Walter Ulbricht, Einige wichtige Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik, in: „Neues Deutschland" vom 16.4.1953, S. 3. Vgl. Bailey/ Kondraschow/ Murphy, a.a.O., S. 204. Der Bericht erwähnt u.a. für das erste Quartal eine 1953 Flüchtlingszahl von 84.034. Eine umfangreiche Einschätzung der Entstehungsgeschichte des ZK-Beschlusses der KPdSU "Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR" gibt Elke Scherstjanoi in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (VfZ), 3. Heft/1998, Die sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod. Neue Dokumente aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums, S. 497-549, und Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit und Freiheit?, a.a.O., S. 242. Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit und Freiheit?, a.a.O.; S. 243.

41

Beschlußentwurf vorzulegen, „wie die ostdeutschen Probleme gelöst werden sollten".1 Wettig bestellte der sowjetische Außenminister Molotow seinen für Deutschland zuständigen Stellvertreter Andrej Gromyko ein, um mit ihm die Eckpunkte der Beschlußvorlage zu besprechen. „Beide waren sich einig, daß Ulbrichts Maßnahmen gegen die .Kapitalisten' in seinem Land zu radikal seien. Künftig müsse man beim Aufbau des Sozialismus flexibel vorgehen, um negative Rückwirkungen zu vermeiden. Es sei auf alles zu verzichten, was in der Bevölkerung allzu heftige Ablehnung hervorrufe. Die Politik der forcierten Sozialisierung solle daher beendet werden. Falls die deutsche Sonderlage in diesem Zusammenhang überhaupt erwähnt worden sein sollte, dann spielte sie auf alle Fälle keine wesentliche Rolle. Auch wenn das spätere Abschlußdokument in kurzer Form auf die Teilung und das Ringen um Einheit Bezug nahm, war das Vorgehen nicht von diesem Gesichtspunkt bestimmt, wie analoge Maßnahmen in anderen Gefolgschaftsstaaten mit innenpolitischen Schwierigkeiten, z.B. in Ungarn und Polen, zeigen. Ausdrücklich ging es um die Zurücknahme von Maßregeln, mit denen die bürgerlichen und bäuerlichen Schichten bislang bekämpft worden waren. Künftig sollte der Sozialismus mit milderen Methoden durchgesetzt werden, die weniger Widerstand hervorriefen."2 Es war demnach ein Konzept, das aus der Perspektive der Sicherung des sowjetischen Herrschaftsbereiches entwickelt wurde und Wettigs Konklusion ¡st schlüssig, daß dahinter die Absicht stand, „die erschütterte Position im Ostteil Deutschlands wieder zu festigen, ohne die UdSSR materiell allzu sehr zu belasten. Molotow war der Ansicht, daß die SED-Führer selbst auslöffeln sollten, was sie sich eingebrockt hätten."3 Noch Ende des gleichen Monats, am 27. Mai, tagte das Präsidium des sowjetischen Ministerrates erneut zum deutschen Thema. Auf der Tagesordnung stand die Vorlage des Außenministeriums zur Deutschlandpolitik "Über weitere Maßnahmen der sowjetischen Regierung in der deutschen Frage".4 Laut Gromyko schlug Berija, bezüglich der Existenz der DDR in dieser Sitzung überdeutliche Töne an: „Wir brauchen nur ein friedliches Deutschland. Aber ob es dort den Sozialismus gibt oder nicht, ist uns ganz gleich." Darüber hinaus habe er treffendscharf ergänzt: „Die DDR? Was ist sie wert, die DDR? Sie ist ja noch nicht einmal ein richtiger Staat. Sie wird nur durch sowjetische Truppen am Leben erhalten, selbst wenn wir sie mit Deutsche Demokratische Republik betiteln."5 Ende Mai endeten die Diskussionen um die DDR damit, daß das Präsidium des Ministerrates der Vorlage des Außenministeriums über einen „Neuen Kurs" für die DDR zustimmte. „Neben die innenpolitischen Auflagen trat als zweite Maßregel, die der Stärkung des SED-Staates dienen sollte, die Zubilligung eines höheren Status nach außen. Das sowjetische Führungsgremium verfügte die Ersetzung der SKK durch eine

Nach

-

1

2 3 4

5

-

Ebd. Ebd. Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit und Freiheit?, a.a.O., S. 244. Eine deutsche Übersetzung des vollständigen Textes, in den VfZ, 3. Heft, 1998, S. 539-543. Wladislaw Subok/Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg, a.a.O., S. 230.

42

Hochkommission, an deren Spitze Semjonow gestellt wurde."1 Nach den Beschlüssen des Präsidiums des sowjetischen Ministerrates wurde die SED-Führung nach Moskau beordert, „um das Dokument als verbindliche Richtlinie in Empfang zu nehmen".2 Diese Entscheidung des Präsidiums des sowjetischen Ministerrates verwendete Chruschtschow bereits einen Monat später bei seiner Abrechnung mit Berija. Welchen Stellenwert dieser Kurswechsel für Ulbricht persönlich gehabt haben muß, kann daran ermessen werden, daß er nach dem Bau der Berliner Mauer im Zusammenhang mit dem XXII. Parteitag der KPdSU noch einmal auf diese Kontroverse in der sowjetischen Führung zurückkam und die damaligen deutschlandpolitischen Ambitionen einiger Mitglieder der sowjetischen Führung in bezug auf die DDR als „Kapitulationspolitik gegenüber dem Imperialismus"3 klassifizierte.

3.

Befehlsempfang im Kreml

Es war eine kleine einbestellt worden

Delegation

des SED-Politbüros, die für den 2. Juni nach Moskau Sie bestand aus dem Generalsekretär Walter Ulbricht, dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und dem verantwortlichen Sekretär für Propaganda des ZK und Politbüromitglied Fred Oelßner. Er fungierte bei den Unterredungen als Dolmetscher. Den drei deutschen Abgesandten saßen auf sowjetischer Seite der Chef der mittlerweile zusammengefaßten Ministerien des Inneren und für Staatssicherheit Lawrenti Berija sowie der Erste Stellvertreter des Ministerpräsidenten, der "Erste Sekretär" der KPdSU Nikita Chruschtschow4, der Präsident des Ministerrates Georgi Malenkow, Außenminister Wjatscheslaw Molotow, Verteidigungsminister Nikolaj Bulganin, die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten Lasar Kaganowitsch und Anastas Mikojan, der neuernannte Hohe Kommissar der UdSSR für Deutschland Wladimir Semjonow sowie der ebenfalls neuernannte Oberkommandierende der sowjetischen Truppen in Deutschland Andrej Gretschko gegenüber. Der SEDDelegation wurde das wenige Tage zuvor vom Präsidium des Ministerrates der UdSSR beschlossene Dokument überreicht, das Fred Oelßner seinen beiden Genossen zu verlesen hatte.5 1

2 3

4

war.

Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit und Freiheit?, a.a.O., S. 246. Ebd. Walter Ulbricht, "Der XXII. Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik", aus dem Bericht des Genossen Walter Ulbricht auf der 14. Tagung des ZK der SED, in: „Neues Deutschland", 28.11.1961, S. 3-8, hier: S. 7. Diesen Titel erhielt Chruschtschow offiziell erst im September 1953. Der Beschluß "Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik". Das Original befindet sich im Nachlaß Otto Grotewohl, in: SAPMOBArch NY 4090/699, Blatt 27-32. Hier: Außerordentliche Sitzung des Politbüros des ZK am 5.6.1953, Protokoll Nr.32/53, in: DY 30 J IV 2/2/286, Bl. 4-9. Der bis Ende 1989 geheimgehaltene Beschluß wurde erstmals von dem Historiker Stöckigt veröffentlicht in: Rolf Stöckigt, Ein Dokument von großer historischer Bedeutung vom Mai 1953, in: BzG 32 (1990), Heft 5, S. 648-654. Das Präsidium des

43

darauf folgte, existieren in den Hinterlassenschaften der SED nur wenige handschriftliche Aufzeichnungen Otto Grotewohls.1 Immerhin finden sich darin auch knappe Notizen zu den Redebeiträgen der sowjetischen Präsidiumsmitglieder. Die sowjetische Führung übernahm in ihrem Papier selbstkritisch die Verantwortung für die Beschlüsse der II. Parteikonferenz der SED von 1952.2 Sie seien der Grund für die rapide verschlechterte Situation in der DDR. Das Papier bilanzierte ein umfassendes Scheitern des beschleunigten Aufbaus des Sozialismus in der Teilrepublik: „Infolge der Durchführung einer fehlerhaften politischen Linie ¡st in der Deutschen Demokratischen Von dem,

was

Republik eine äußerst unbefriedigende politische und wirtschaftliche Lage entstanden."3 Als wichtigste Krisenfaktoren wurden genannt: die seit der II. Parteikonferenz in der DDR sich zuspitzenden gesellschaftlichen Problemfelder wie die Massenflucht nach West-Deutschland4, eine mangelhafte Versorgung der Bevölkerung5, die Politik der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft6, eine einseitige Bevorzugung der

Schwerindustrie sowie die Beeinträchtigung der Privatwirtschaft.7 Zudem wurde eine falsche Vorgehensweise gegenüber den Kirchen8 kritisiert. Die Konstatierung der beiderseitigen Fehler endete mit der nüchternen Feststellung: „Das alles schafft eine

1 2

3 4

5

Ministerrates der UdSSR sprach am 27.5.1953 über die Lage in der DDR und verabschiedete am 2.6.1953 die Verordnung "Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR". Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 J IV 2/2 /286, Bl. 10-15. Siehe: auch Nachlaß Otto Grotewohl. SAPMO-BArch NY 4090/699, Bl. 33-38. Wörtlich heißt es: „Als Hauptursache der entstandenen Lage ist es anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der II. Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowohl innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen." Zit. nach: Maßnahmen zur Gesundung, Bl. 4. Ebd. „So sind von Januar 1951 bis April 1953 447.000 Personen nach West-Deutschland geflüchtet, darunter über 120.000 lediglich während der vier Monate des Jahres 1953." Zit. a.a.O., Bl. 4. (...) besonders eine übereilte Schaffung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften ohne eine dafür notwendige Grundlage auf dem Dorf haben dazu geführt, daß auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren und Nahrungsmitteln ernste Schwierigkeiten entstanden, daß der Kurs der Mark stark gefallen ist." Zit. a.a.O., Bl. 5. „Es ist so weit gekommen, daß zur Zeit über 500.000 Hektar Land verlassen sind und brachliegen, und die haushälterischen deutschen Bauern, die sonst stark an ihrem Landstück hängen, begannen, massenhaft ihr Land und ihre Wirtschaft zu verlassen und sich nach West-Deutschland zu begeben." Zit. a.a.O., Bl. 5. „Die sozial-wirtschaftlichen Maßnahmen, die in Verbindung damit durchgeführt werden und zwar eine Beschleunigung der Entwicklung der schweren Industrie, die dabei auch keine gesicherten Rohstoffquellen hat, eine jähe Einschränkung der Privatinitiative, die die Interessen einer breiten Schicht der nicht großen Eigentümer in Stadt und Land beeinträchtigt und Entzug der Lebensmittelkarten für alle Privatunternehmer und Freischaffenden." Zit. a.a.O., Bl. 5. „Insbesondere wurden ernste Fehler in bezug auf die Geistlichen begangen, die in einer Unterschätzung des Einflußes der Kirche unter den breiten Massen der Bevölkerung, in groben Administrierungsmaßnahmen und Repressalien ihren Ausdruck fanden." Zit. a.a.O., Bl. 5. „

6

8

44 ernste

Gefahr für die

politische Beständigkeit

der Deutschen Demokratischen

Republik." Zur Verbesserung der politisch brisanten Situation und zur Stabilisierung der Lage sei ein „Neuer Kurs" einzuschlagen: „1. Unter den heutigen Bedingungen ist der Kurs auf eine Forcierung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR, der von der SED eingeschlagen und vom Politbüro des ZK der KPdSU (B) in seinem Beschluß vom 8. Juli 1952 gebilligt worden war, für nicht richtig zu halten. Zur Gesundung der politischen Lage in der DDR und zur Stärkung unserer Positionen sowohl in Deutschland selbst, als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene und zur Sicherstellung und Ausbreitung der Basis einer Massenbewegung für die Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden, unabhängigen Deutschlands ist der Führung der SED und der Regierung der DDR die Durchführung folgender Maßnahmen zu

empfehlen."1 „Empfehlung"

umfaßte eine ganzes Bündel von Änderungen: Rücksicht auf die Bauern zu Zwangskollektivierungen2, die Stärkung der MaschinenAusleihstationen als Hilfe für Genossenschaften und für individuelle bäuerliche Wirtschaften, Förderung von Privatkapital und Privatunternehmern3, Änderung des Fünfjahrplanes der Volkswirtschaft unter stärkerer Berücksichtigung der Konsumgüterproduktion, Abkehr von der Dominanz der Schwerindustrie4, Maßnahmen zur Stabilisierung der DDR-Währung5, Maßnahmen zur Durchsetzung der „Gesetzlichkeit"6, Beseitigung des bloßen Administrierens, Gewinnung der Intelligenz für die politische Arbeit, Propagierung der Wiederherstellung der deutschen Einheit und eines Friedensvertrages, stärkere Einbindung der Parteien- und Massenorganisationen7 sowie die Einstellung des Kampfes gegen die Kirchen.8 Als Hilfe zur Durchsetzung Die

Einstellung der

A.a.O., Bl. 5-6. ..Alle

bestehenden landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften überprüfen und dieselben, die auf einer unfreiwilligen Basis geschaffen lebensunfähig gezeigt haben, sind aufzulösen." Zit. a.a.O., Bl. 6.

sind sorgfältig zu sind oder die sich als

A.a.O.. Bl. 6-7.

„Der Fünfjahrplan der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR ist

zu

revidieren in der

Richtung einer Lockerung des überspannten Tempos der Entwicklung der schweren Industrie und einer schroffen Vergrößerung der Produktion der Massenbedarfswaren und der vollen Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, damit es schon in der nächsten Zeit möglich wäre, das Kartensystem der Versorgung mit Lebensmittel zu liquidieren." Zit a.a.O., Bl. 7. „Notwendige Maßnahmen zur Sanierung des Finanzsystems zur Herabsetzung der administrativen und Sonderausgaben, sowie zur Stärkung und Hebung des Kurses der Mark der DDR sind

durchzuführen." Zit. a.a.O., Bl. 7. „Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Wahrung der Bürgerrechte zu treffen, von harten Strafmaßnahmen, die durch Notwendigkeit nicht hervorgerufen werden, abzusehen. Die Gerichtsunterlagen der bestraften Bürger wieder zu prüfen, zwecks Befreiung der ohne genügende Gründe zur Verantwortung gezogenen Personen. Unter diesem Gesichtspunkt entsprechende Änderungen in der bestehenden Strafgesetzgebung vorzunehmen." Zit. a.a.O., Bl. 7. Vgl. a.a.O., Bl. 7-8. ..Einem nackten Administrieren in bezug auf die Geistlichen ist Schluß zu machen, und die schädliche Praxis der groben Einmischung der Behörden in die Angelegenheiten der Kirche ist

45

dieser Punkte stellte die Sowjetunion wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere die Lieferung von Lebensmitteln und eine Lockerung des Besatzungsregimes in Aussicht.1 Der SED-Delegation trat eine geschlossen agierende „kollektive Führung" gegenüber. Daß im Kreml der Machtkampf keinesfalls entschieden war, spielte in der deutschen Frage offenbar keine Rolle. Die Kritik an der SED und die verhaltene Selbstkritik an der Führung der KPdSU, mit anderen Worten, an Stalin, wurden anscheinend mit sorgsam verteilten Rollen vorgetragen so der Eindruck von Grotewohl in seinen spärlichen Notizen. Hierarchisch angemessen eröffnete Ministerpräsident Malenkow die Diskussion mit der Feststellung, daß der Ausgangspunkt der gemeinsamen Überlegungen eine neue Politik in ihrer Besatzungszone sein müsse: „Alles muß ausgehen von der Änderung der Verhältnisse in der DDR." Auch Berija beschwichtigte, nicht ohne Selbstkritik zu üben: „Wir alle haben den Fehler mitgemacht; keine Vorwürfe." Molotow griff diesen Gedanken auf und zielte auf die von Moskau gewünschte Wirkung der geplanten neuen Politik auf West-Deutschland, als er sagte: „So viele Fehler darum so korrigieren daß ganz D. es sieht." Im Verlauf der Erörterungen am nächsten Tag, dem 3. Juni, zeigte sich Berija wohl zunehmend ungeduldiger. Er forderte rasche und kräftige Korrekturen und wies im gleichen Zuge die am Vortag den deutschen Genossen abverlangte selbstkritische Stellungnahme mit einer barschen Attitüde gegen Ulbricht zurück: „Das Dokument könnt Ihr wieder mitnehmen." Kaganowitschs Kritik schlug in die gleiche Kerbe, indem er der deutschen Delegation ihre vermeintliche Unfähigkeit zur Wandlung vorhielt: „Unser Dokument ist Wendung, Euer Dokument ist Reform." Mikojan wartete flankierend mit praktischen Vorschlägen auf, die jedoch ebenso fundamentale Veränderungen beinhalteten. Seiner Ansicht nach sollte der gesamte Fünfjahrplan revidiert werden. Er hob dabei die Schwerindustrie und den Hüttenbau hervor. Mit seiner Bemerkung: „Warum Hüttenbau? Man kann doch Guß kaufen." wurde von der sowjetischen Führung ein Wirtschaftsbereich zur Disposition gestellt, dessen extensiver Auf- und Ausbau bislang gefördert und gestützt worden war und der schlechthin als Sinnbild der sozialistischen Umgestaltung galt. Noch Mitte April hatte sich Moskau geweigert, den Aufbau der Schwerindustrie in der DDR zu bremsen. Malenkow mahnte die SED-Führung, nicht um ihr Prestige zu fürchten und warnte vor einer „Katastrophe", falls die Korrekturen nicht schnellstens erfolgten. Er unterstrich, daß die Änderungen offen durchzuführen seien und erinnerte in diesem Zusammenhang an die NEP-Politik Lenins. Trotz der Notwendigkeit eines schnellen politischen Handelns empfahl Malenkow den deutschen Zuhörern einen „ruhigen Arbeitsstil". -

einzustellen. Alle Maßnahmen, die direkte Interessen der Kirche und der Geistlichen einengen sind aufzuheben,(...). Die Verfolgung der einfachen Teilnehmer der kirchlichen Jugendorganisation 'Junge Gemeinde' ist einzustellen und die politische Arbeit unter ihnen zum Schwerpunkt zu machen." Zit. a.a.O., Bl. 8. Vgl. a.a.O.. Bl. 9.

46 Den brisanten Punkt der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sprach Chruschtschow an, der das Prinzip „größter Freiwilligkeit" bei deren Schaffung gewahrt wissen wollte. Ulbricht versuchte in diesem Fall, zu beschwichtigen: „Keine Panik bei der L.P.G." In den von Rudolf Herrnstadt niedergelegten Aussagen Fred Oelßners über diese Sitzungen liest sich die damalige Situation etwas dramatischer. Danach sei gerade der SED-Generalsekretär nicht von der Richtigkeit der Kritik und der Notwendigkeit eines radikalen Kurswechsels überzeugt gewesen. Entsprechend zurückhaltend war dann auch jene den Deutschen abgeforderte, schriftliche Selbstkritik ausgefallen, was Berija dazu veranlaßt haben soll, das Papier Ulbricht über den Tisch hinweg mit der Bemerkung zuzuwerfen: „Das ist ein schlechter Aufguß unseres Dokuments!"1 Sowohl Oelßners Aussagen als auch Grotewohls Notizen lassen den Schluß zu, daß die SED-Genossen auf eine derart massive Kritik an ihrer Arbeit ebensowenig vorbereitet waren wie auf die Tatsache, daß die sowjetische Führung ihre eigene DDRPolitik so grundlegend und plötzlich ändern würde. Das Szenario der Diskussionen zwischen den Parteiführern entsprach eher einem Befehlsempfang als einem gegenseitigen Austausch über Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten. Dementsprechend erwartete Moskau eine vorbehaltlose und schnelle Anerkennung und Ausführung aller Vorgaben. Selbst die Modalitäten der Umsetzung des „Neuen Kurses" in der DDR überließ die kollektive Führung der KPdSU nicht ihrer „Bruderpartei SED". Schon der Umstand, daß die geladene SED-Delegation nur aus drei Mitgliedern bestand, entsprach nicht der Vielfalt der Probleme, die der Kreml in der DDR schnellstens gelöst wissen wollte. Die offensichtliche Unterbesetzung unterstrich jedoch den Umstand, daß von Seiten der sowjetischen Staats- und Parteiführung keine Veranlassung für eine breite Diskussion mit der SED-Spitze gesehen wurde. Um den Satelliten auf Kurs zu bringen, mußte die Instruierung ausgewählter Spitzenkader genügen. Den deutschen Genossen blieb, wie so oft, lediglich der Vollzug von Anweisungen. Fast am Rande des Besuchs, am dritten Tag, dem 4. Juni, sprach die SED-Delegation im kleineren Rahmen mit den sowjetischen Vertretern Tschuikow, Gretschko, Judin und Semjonow über die Probleme vom Vortag und über bestimmte Einzelheiten der Konditionen zur Aufstellung von bewaffneten Streitkräften in der DDR. Einen direkten Niederschlag im "Maßnahmenplan" fanden die Ergebnisse dieses Gespräches nicht. Es war wohl beabsichtigt, jetzt die negativen Begleiterscheinungen der seit Jahren weitgehend insgeheim betriebenen kostspieligen Remilitarisierung ebenso verdeckt zu beseitigen. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation sprach sich die sowjetische Seite dafür aus, die Rüstungskosten spürbar zu verringern.2 In der Summe liefen die Herrnstadt, a.a.O., S. 59.

Vgl.

Maßnahmen zur Gesundung, Bl. 14. Aufzeichnungen Grotewohls vom 4. Juni 1953. Dabei wurde eine Reduzierung der Gesamtstärke der geplanten DDR-Streitkräfte um 24.000 auf 93.000 Mann vorgesehen. Diese Zahl untergliederte sich in 78.500 Mann Infanterie, 6.000 Mann Luftstreitkräfte und 8.500 Mann Seestreitkräfte. Zudem wurde eine Kürzung der militärischen Schiffsbauten sowie eine Verringerung der sowjetischen Militärberater von 1.000 auf etwa 250 bis 300 angeordnet. Der Aufbau einer Unterseeboot-Basis auf Rügen sollte gänzlich eingestellt werden.

47

Einschränkungen auf eine Verlangsamung des Aufbaus einer Nationalarmee hinaus. Neben den kalkulierten, nicht unerheblichen Einsparungen an dringend benötigten Mitteln zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation stand damit jedoch auch ein kleiner Rückschritt auf der Skala der Insignien einer angestrebten souveränen Eigenstaatlichkeit, hatte doch Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz proklamiert: „Die nationalen Streitkräfte werden die Armee des vom Imperialismus befreiten Volkes in der Deutschen Demokratischen Republik sein."1 Noch in Moskau sah sich die SED-Delegation genötigt, in der Heimat erste Schritte anzuweisen. Den von Hermann Axen übermittelten telegrafischen Instruktionen Ulbrichts und Grotewohls2 folgend, beschlossen die in Berlin anwesenden zwei Mitglieder und drei Kandidaten des Politbüros3 am 3. Juni die sofortige Einstellung des Drucks und der „Herausgabe aller Bücher, Broschüren usw. über die II. Parteikonferenz und die Verwendung der Beschlüsse der II. Parteikonferenz".4 Zudem sollte die „Propaganda für den Übergang zur dritten Stufe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" unterbleiben. Lediglich Fragen der Erntevorbereitung und der „organisatorisch-wirtschaftlichen Festigung" der LPGen seien zu erörtern. Auch die KPD-Arbeit war betroffen. Es galt, die Wahlkonferenz des Parteivorstandes zur Vorbereitung des Bundestagswahlkampfes 1953 zu verschieben oder zumindest „vorläufig" nichts darüber zu veröffentlichen. Diese Anordnung kann als Indiz für eine neue deutschlandpolitische Initiative der Sowjetunion gegenüber den Westmächten gewertet werden, hatte doch die II. Parteikonferenz beschlossen, „daß das deutsche Volk unter Führung der Arbeiterklasse die Sache der Erhaltung des Friedens und der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, die Schaffung eines einigen, demokratischen, friedliebenden und unabhängigen Deutschlands in seine eigenen Hände nimmt. Daraus ergibt sich: Erstens: Der nationale Befreiungskampf gegen die amerikanischen, englischen und französischen Okkupanten in West-Deutschland und der Sturz ihrer Vasallenregierung in Bonn ist die Aufgabe aller friedliebenden und patriotischen Kräfte in Deutschland".5 Das Wahlprogramm der KPD wurde in der Tat 1

Protokoll der II. Parteikonferenz a.a.O., S. 75. Hermann Ich war ein Diener der Partei, Berlin 1996, S. 135f. Axen spricht davon, daß Axen, Vgl. er von Tulpanows Stellvertreter Orlow das chiffrierte Telegramm erhielt und dieser im weiteren auf die Umsetzung der enthaltenen Anweisungen drang. Lediglich Rau und Ebert waren in dieser Sitzung anwesende Mitglieder. Von den Kandidaten nahmen Honecker, Jendretzky und Herrnstadt teil. Die anderen Mitglieder und Kandidaten fehlten aus dienstlichen oder gesundheitlichen Gründen oder befanden sich im Urlaub. Siehe: SAPMO BArch DY 30 J IV 2/2/285, Protokoll der Sitzung des Politbüros Nr. 31/53, Bl. 1. A.a.O.. Bl. 1. Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus, in: Dokumente IV, a.a.O., S. 71. Die KPD hatte in ihrem "Programm zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands" vom 2. November 1952 proklamiert: „Nur der unversöhnliche und revolutionäre Kampf aller deutschen Patrioten kann und wird zum Sturz des AdenauerRegimes und damit zur Beseitigung der entscheidenden Stütze der Herrschaft der amerikanischen Imperialisten in West-Deutschland führen. Der Sturz des Adenauer-Regimes macht den Weg frei für eine Regierung der nationalen Wiedervereinigung, die sich auf alle patriotischen Kräfte in ...,

3

4

5

48

enthielt dann auch die SED-Lesart vom 17. Juni als Machthaber"1 und forderte nunmehr eine Politik der ,„Tag „innerdeutschen Verständigung".2 Den Abschluß der Moskauer Direktiven an die in Berlin verbliebenen Mitglieder des Politbüros, bildete der Auftrag an Otto Schön, Leiter des Politbüros des Zentralkomitees, sämtliche zu Ulbrichts Geburtstag vorbereiteten oder im Druck befindlichen Publikationen zu überprüfen. Die damit erfolgte abrupte Notbremsung der propagandistischen Begleitung des Sozialismusprojektes sollte sich im folgenden als eine der leichteren Übungen bei der Umsetzung des „Neuen Kurses" erweisen. Eine demonstrative Manifestation des Personenkultes um Walter Ulbricht, als Baumeister des Sozialismus in der DDR, verbot sich allein schon wegen der neuen Verhältnisse in Moskau. Dort hatte die „Prawda" am 16. April bereits die „Kollektivität" zum höchsten Prinzip der Parteiführung erklärt, eine indirekte Absage an den zuvor gültigen Personenkult um Stalin.3 Das "Durchstellen" erster ad hoc-Maßnahmen noch während der in Moskau laufenden Unterredungen, vor jeglicher Erörterung im deutschen Politbüro, verdeutlicht, neben der nicht ungewohnten Praxis der Machtausübung, die Dringlichkeit, mit der Moskau auf einer Kursänderung der SED bestand. Die Vorboten des Kurswechsels lösten im Ost-Berliner Parteiapparat unterschiedliche Emotionen aus. So nahm Rudolf Herrnstadt die Änderungen hocherfreut auf, während sich Herrmann Axen in der Rolle des Parteisoldaten sah, „der die Sache nicht versteht, den Befehl aber ausführen muß."4 erst am 9. Juli veröffentlicht und

Das Werk der Bonner

X'

-

4. Kader und

Karrierewege Kontrahenten im Politbüro -

Die Moskauer Kursänderungen trafen in Ost-Berlin ein unvorbereitetes Politbüro. Der überraschende Kurswechsel sollte wie die Öffnung einer Schleuse unter den PolitbüroMitgliedern wirken, sie heftig polarisieren und verborgenes kritisches Potential wecken. Die Hälfte der Politbüro-Mitglieder und-Kandidaten waren im Moskauer Exil gewesen (Ulbricht, Pieck5, Ackermann, Zaisser, Herrnstadt, Schmidt, Oelßner, Matern). Die Auseinandersetzungen wurden dominiert von Mitgliedern mit Moskauer Vergangenheit, die sofort begriffen, daß es darum ging, das sowjetische Modell der kollektiven Führung auf die SED zu übertragen. Diese Wortführerschaft erklärt sich mit Blick auf die wichtige Rolle, die ehemalige KPD-Führungskader des Sowjetexils in Stalins Plan zur Sowjetisierung der SBZ/DDR bislang eingenommen hatten. Der Einsatz von MoskauKadern konzentrierte sich auf Schlüsselpositionen im zentralen Parteiapparat und in den Sicherheitsorganen. Ihre Auswahl war nicht ohne Berücksichtigung von Qualifikation

1

2

3 4

5

West-Deutschland stützt." Zit. nach: Günter Judick/Josef Schleifstein/Kurt Steinhaus (Hrsg.): KPD 1945-1968, Dokumente, Bd. 1, 1945-1952, Neuss 1989, S. 404. Bundestagswahlprogramm der KPD 1953, in: KPD 1945-1968, Bd. 2 1953-1968, a.a.O., S. 11. A.a.O., Bd. 2, S. 16f

Vgl. Wolfgang Leonhardt, Kreml ohne Stalin, Köln 1959, S.

104. S. 136. Axen, a.a.O., Wilhelm Pieck nahm an den Auseinandersetzungen nicht teil. Er Zeitraum krankheitsbedingt in der Sowjetunion.

war

im gesamten relevanten

49

und Erfahrung erfolgt. Besonders deutlich zeigt sich das an der Karriere Walter Ulbrichts. Sein Aufstieg im Apparat der KPD beginnt mit der Bolschewisierung der deutschen Sektion der Kommunistischen Internationale (KI). Er gehört zu der Schicht von hauptamtlichen Funktionären, deren Schicksal und Karriere nicht mehr von den Parteimitgliedern im Heimatland abhing, sondern von den Kaderentscheidungen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Als Kandidat des Politbüros und Sekretär des ZK ist Ulbricht 1927 zuständig für die innerorganisatorische Umsetzung der Bolschewisierung der KPD. Im Jahre 1929 auf dem Berliner Parteitag zum Mitglied des Politbüros gewählt, prägt er fortan auf seine Weise über 40 Jahre die Geschichte des deutschen Kommunismus. Nach dem Tod von Wilhelm Florin 1944 rückt Walter Ulbricht auf zu einer Schlüsselperson in der programmatischen Vorbereitung der künftigen Aufgaben der KPD im Rahmen der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem alliierten Sieg über das Deutsche Reich.1 Im Juni 1945 beauftragt die sowjetische Führung Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Anton Ackermann sowie den nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen nach Moskau gebrachten Franz Dahlem mit dem Wiederaufbau der KPD. Mit der Installierung der Berliner Parteizentrale der KPD durch die sowjetischen Sieger fiel seitens Moskau eine Grundsatzentscheidung, die in ihrer Tragweite 1945 noch niemand absehen konnte. Die Sowjetunion bestimmte ihre internationalistischen Kader aus der KPD als Sachverwalter ihrer Interessen in Deutschland und stützte sich auf sie bei der Umgestaltung und der politischen Kontrolle über ihre Besatzungszone. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Entscheidung im Bewußtsein getroffen wurde, mit Ulbricht, Pieck, Ackermann und all den anderen "Moskauern" freie Hand zu haben in den alliierten Verhandlungen über Deutschland, das als eigenständiger Staat nicht mehr existierte. In der Kaderabteilung der KPdSU war aus langjähriger Erfahrung bekannt, daß die Gefolgsleute in Berlin widerspruchslos alle Entscheidungen der sowjetischen Führung umsetzen würden, bis hin zur freiwilligen Räumung ihrer Machtpositionen im Falle einer Einigung der Sowjetunion mit den westlichen Alliierten auf ein demokratisches und neutrales Deutschland. In der Führung der KPD/SED nimmt Walter Ulbricht von Anbeginn eine Schlüsselposition ein. Nach der in Moskau abgestimmten und nach Piecks und Dahlems Ankunft in Berlin konkretisierten Arbeitsverteilung im Sekretariat der KPD, das zu dieser Zeit die Funktion des Politbüros und des Sekretariats des ZK in seinen Händen vereint, ist Ulbricht verantwortlich für die Fragen des kommunalen und staatlichen Aufbaus in der SBZ, für die Gewerkschaften, die Bauernagitation und den Sport. Vor allem führt er die allgemeine Abteilung, die für die Verbindungen zur sowjetischen Militäradministration zuständig ist.2 Im Dezember 1946 bescheinigt ihm eine Einschätzung der Abteilung Außenpolitik des ZK der KPdSU, daß er faktisch die organisatorische Arbeit des Zentralsekretariats der SED leitet.3 Ulbricht versteht es,

Vgl. Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke (Hrsg.): Nach Hitler kommen wir. Dokumente und Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. Vgl. Michael Kubina, Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD in: Manfred Wilke (Hrsg.): Die Anatomie der Parteizentrale. Die KPD/SED auf dem Weg zur Macht, Berlin 1998. Vgl. Peter Erler/Horst Laude/Manfred Wilke(Hrsg.): „Nach Hitler (...)", a.a.O., S. 416.

50

Direktiven auf die jeweilige Lage anzuwenden, auf die Politik der Partei auszurichten und für die anstehenden Probleme Lösungen herbeizuführen. Sein bürokratischer Arbeitsstil und sein phänomenales Personengedächtnis prädestinieren ihn für die Aufgabe, durch planmäßigen Kadereinsatz in Ämtern, Medien und Massenorganisationen den Prozeß zu organisieren, durch den das Zentralsekretariat der SED zur Kommandozentrale der SBZ wird und aus der als zweiter deutscher Teilstaat 1949 die DDR entsteht. Im gleichen Jahr wird Walter Ulbricht Generalsekretär der SED. Seine sozialdemokratischen Gegenspieler in der SED-Führung, wie die Sozialdemokraten Erich W. Gniffke1 und Fritz Schreiber2, fliehen bereits 1948 in den Westen. War Walter Ulbricht ein waschechter Apparatschik, ein Kader des zentralen Parteiapparates, so verliefen die Karrieren von Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt in anderen Bahnen. Die KI verpflichtet ihre Sektionen im Jahre 1920 durch die "21 Bedingungen", einen legalen und einen illegalen Parteiapparat aufzubauen, „der im entscheidenden Moment der Partei behilflich sein wird, ihre Pflicht gegenüber der Revolution zu erfüllen".3 Wilhelm Zaisser wird, wie Walter Ulbricht, 1919 Mitglied der KPD. Von Beruf Volksschullehrer, ist er 1920 einer der militärischen Führer der Roten Ruhrarmee. Im Jahre 1924 absolviert er die "M-Schule" in Moskau, in der die Komintern ihre „Bürgerkriegsspezialisten"4 von der Roten Armee systematisch ausbilden läßt. In der Leitung dieser M-Schule sind das Volkskommissariat für Heer und Marine und die Auslandsabteilung der GPU5 vertreten. Mit der Bolschewisierung der kommunistischen Parteien beginnt die Sowjetunion systematisch, internationale Kader zu rekrutieren, die als Kommunisten bereit sind, für den sowjetischen Geheimdienst oder die militärische Aufklärung der Roten Armee zu arbeiten. Die Komintern setzt darüberhinaus solche Kader als Spezialisten für Aufstände und Bürgerkriege rund um den Globus ein. So befindet sich Wilhelm Zaisser für die KI und den militärischen Nachrichtendienst seit 1926 auf den Schauplätzen der Weltrevolution in Nordafrika,

sowjetische

Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1966. Beatrix B. Bouvier/Horst-Peter Schulz (Hrsg.): „(...) die SPD aber aufgehört hat zu existieren". Sozialdemokraten und sowjetische Besatzung, Bonn 1991, S. 51 ff. Die "21 Bedingungen", beschlossen auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale Moskau, Juli-August 1920, in: Julius Braunthal, Geschichte der Internationale in drei Bänden, Bd. 2, Berlin, Bonn, Bad-Godesberg 1963, 2. Auflage 1974, S. 558. Erich Wollenberg, Der Apparat. Stalins fünfte Kolonne, Bonn 1952, S. 12. Staatliche politische Verwaltung, 1922/23. Aus ihr wird 1924 nach Gründung der UdSSR die OGPU, (Vereinigte staatliche politische Verwaltung). Mit dieser Umbenennung war die geheimdienstliche Notstandsorganisation der Bolschewicki im Bürgerkrieg (Tscheka) endgültig zur dritten Säule des sowjetischen Regimes neben der Partei und der Roten Armee geworden. „Die OGPU durfte fortan im ganzen Land gegen 'Konterrevolutionäre, Spionage- und Banditenwesen' kämpfen. Sie konnte in allen Republiken Dependancen errichten, Truppen stationieren und Lager eröffnen. (...) Mit dieser Aufwertung der einstigen Notstandsorganisation par excellence erklärte die Verfassung im zentralen Bereich der Herrschaftssicherung und inneren Ordnung endgültig den Ausnahmezustand zum Normalfall." Zit. nach: Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 231.

Vgl. Vgl.

51 China und Spanien im Einsatz.1 Im Jahre 1932 wird der kampferprobte deutsche Revolutionär Mitglied der KPdSU(B). Im Spanischen Bürgerkrieg als „General Gomez" legendär geworden, ist er verantwortlich für die Ausbildung aller internationalen Brigadisten. Nach seiner Rückkehr aus Spanien soll er nach unbestätigten Informationen 1938 in Moskau kurzzeitig inhaftiert, aber durch die Intervention von Lawrenti Berija wieder freigekommen sein. Von 1939 ab ist er für vier Jahre Chefredakteur der deutschen Sektion im Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau. Von 1943 bis 1946 lehrt er an Antifa-Schulen und leitet die antifaschistische Schulung der Kriegsgefangenen. Erst im Februar 1947 kehrt er nach Deutschland zurück, ist zunächst Polizeichef in Sachsen-Anhalt, später Innenminister in Sachsen. Mit Gründung des MfS im Jahre 1950 wird er dessen erster Minister. Als Inhaber dieser Schlüsselposition zur Machtsicherung sitzt er zudem im Politbüro der SED. Rudolf Herrnstadt schließt sich als Journalist erst 1929 der KPD an. Die Partei wirbt Intellektuelle, die die Warnungen der KPD vor einem drohenden Krieg gegen die Sowjetunion ernst nehmen und bereit sind, für den sowjetischen Nachrichtendienst zu arbeiten. In dessen Auftrag errichtet Herrnstadt ein Agentennetz in Warschau, dem außer ihm und seiner Verlobten, der Journalistin Ilse Stöbe2, Gerhard Kegel und dessen Frau, Charlotte Vogt sowie, für kurze Zeit, Lothar Bolz angehören.3 Herrnstadt 1939, in die Sowjetunion zu fliehen. Bis zum Februar 1943 beschäftigt ihn die Politische Hauptverwaltung des Generalstabes der Roten Armee. Diese Tätigkeit prägt ihn entscheidend, richtet ihn auf die Sowjetunion aus und läßt ihn zum Vertrauensmann der Sowjets werden.4 Zusammen mit Alfred Kurella formuliert er im Frühjahr 1943 das letztlich von Stalin bestätigte Manifest des Nationalkomitees „Freies Deutschland". Zudem wird er Chefredakteur der Zeitung „Freies Deutschland". Als er 1945 nach Berlin zurückkehrt, wird ihm die Leitung der „Berliner Zeitung" übertragen.5 Fünf Jahre später übernimmt er den Posten des Chefredakteurs des "Zentralorgans" der Partei, „Neues Deutschland" und folgt damit Lex Ende. Ende war, nach der "Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission zu den Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service Committee, Noel Field", am 24. August 1950 abgesetzt worden..6 Noch im gleichen Jahr wird Herrnstadt Kandidat des Politbüros. um

Vgl. Memorial der Genossin Else Zaisser an den V. Parteitag der SED im Juli 1958, in: SAPMOBarch DY30/JIV 2/202/4, ohne Blatt. Sie wird 1943 in Deutschland hingerichtet. Vgl. Helmut Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni. Berlin 1991, S. 3Off. Vgl. a.a.O., S. 37. Vgl. Peter Strunk, Zensur und Zensoren. Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland, Berlin 1996, S. 85ff. Lex Ende blieb, wie Merker, zunächst von Verhaftung verschont und wurde statt dessen „zur Bewährung" in die „Produktion" geschickt, wo er nach wenigen Monaten starb. Über die Umstände seines Todes gibt es widersprüchliche Angaben. Siehe: Georg Herrmann Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-50. Berlin 1990, S. 186, und

52

Hauptakteuren und Auseinandersetzungen exponierten sich weiterhin Neben

diesen

drei

Kontrahenten Anton

der

kommenden

Ackermann, Elli Schmidt und

Fred Oelßner in den Debatten im Politbüro. Die drei ehemaligen SPD-Mitglieder Grotewohl, Ebert und Mückenberger spielten eine untergeordnete Rolle. Dies trifft auch für die Kommunisten „aus dem Lande"1, Heinrich Rau Hans Jendretzky und Erich Honecker zu. Da Grotewohl in seiner Funktion als Ministerpräsident in der SEDFührung im gewissen Sinne immer noch die Parität von 1946 repräsentierte, ist es bemerkenswert, daß er in allen Debatten eine eher zurückhaltende und moderierende Position einnahm, obwohl er von Ulbricht vielfach übergangen und zurückgesetzt wurde. ,

5. Debatte ohne Konsequenz Generalsekretärs

-

Der Führungsstil des

Aufgrund der Zusammensetzung des Politbüros im Juni 1953 ist es nicht verwunderlich, daß in den nun aufgebrochenen Diskussionen um die Gestaltung der Parteiführung die Auseinandersetzungen zwischen Moskauer-Kadern ausgetragen wurden. Da die sowjetische Führung für die SED keine explizite Personalentscheidung getroffen hatte, geriet der Kampf zu einem wochenlangen ergebnislosen Schlagabtausch. Dieses augenfällige Manko des sowjetischen Gesundungsszenarios spiegelt jedoch auch die Unentschiedenheit des Gerangeis um die Macht im Kreml selbst wieder. Die einzige erkennbare personelle Vorentscheidung ist die von Semjonow überbrachte Orientierung

Moskaus auf eine Beförderung Karl Schirdewans. Sie allein sagt schon viel über die nachstalinsche sowjetische Politik der Konzessionen aus. Es ist die erste wichtige Personalentscheidung, die im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" über das SEDPolitbüro gefallt wurde, und sie erfolgte mit dessen Einführung noch vor dem 17. Juni. Die zweite Entscheidung beließ Walter Ulbricht an der Spitze der SED. Beide Entscheidungen kennzeichnen Beharren wie Neuorientierung in der sowjetischen Politik gegenüber der DDR. Walter Ulbricht stand für die grundsätzliche Unumkehrbarkeit des sozialistischen Experimentes und das erst recht nach der Herausforderung der Sowjetunion durch den 17. Juni. Karl Schirdewans Aufstieg zum zweitwichtigsten Mann in der SED signalisierte die schrittweise Ablösung der Moskau-Kader nach „Erfüllung ihrer historischen Mission" und die Etablierung des Anscheins einer Thomas Klein/Wilfriede Otto/Peter Grieder, Visionen. Repression und Opposition in der SED (1949-1989), Frankfurt/Oder 1996, S. 298, FN 187. Mit den Bezeichnungen „Moskauer", „Westemigranten" und den Genossen „aus dem Land" unterschieden sich nach 1945 die Kommunisten nach ihren Überlebensorten während der nationalsozialistischen Diktatur. Jendretzky, Jahrgang 1897, Parteieintritt 1920, Haft von 1934 bis 1945, Honecker, Jahrgang 1912, Parteimitgleid seit 1929, von 1935 bis 1945 inhaftiert; Rau, Jahrgang 1899, Parteieintritt 1919, Haft 1933 bis 1935, Emigration in die UdSSR, 1937-38 Stabschef und Kommandeur der II. Int. Brigade in Spanien, 1938 Mitglied der KPDLandesleitung in Frankreich, 1939-42 Internierung, Auslieferung an das Reich, Haft bis 1945. Biographische Angaben in: Die SED, a.a.O., S. 982ff.

53 authentischen und spezifisch-nationalen Tradition der deutschen Arbeiterbewegung. Die Moskau-Kader waren ihren Aufgaben für den Transformationsprozeß in der SBZ und in aus machttaktischen der Partei gerecht geworden. Ihre Erwägungen und Notwendigkeiten erfolgte Bevorzugung hatte sich politisch und personell überlebt. Das sowjetische Modell der neuen Führung war dadurch gekennzeichnet, daß es, in Abgrenzung zur Stalin-Ära, alle Mitglieder in eine kollektive Führung einbezog. Daneben waren dem Ziel der Etablierung der SED als Massenpartei in allen Bereichen des Staates und der Gesellschaft mit dem bislang bevorzugten Rückgriff auf Personalreservoirs, die bestimmte biographische Bedingungen erfüllen mußten, schon rein zahlenmäßig enge Grenzen gesetzt. Das Auswahlprinzip nach einer bestimmten „Herkunft" konnte den zunehmenden Kaderbedarf der sich in Staat und Gesellschaft ausbreitenden Partei auf Dauer nicht decken. An seine Stelle trat ein ausgeklügeltes System der Kaderrekrutierung nach festgelegten Regeln der Parteischulung und der personellen Auslese. Damit setzte ein generativer Ablöseprozeß ein, und es wuchs die Bedeutung des zentralen Parteiapparates, der nach dem Vorbild der KPdSU dieses System entwarf, aufbaute, steuerte und überwachte. Zumindest dem Anschein nach sollte die Führung der SED diesen Prozeß in ihrer personellen Zusammensetzung nach außen wiederspiegeln. Von einer in Abgrenzung von der stalinschen Praxis derart gestalteten „kollektive Führung" versprach sich Moskau einen Gewinn an Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Satelliten sollten auf die eigenen Beine gestellt werden und der dirigistische Einfluß des Mutterlandes zumindest nicht mehr offen sichtbar sein. In der Metamorphose der „Sowjetischen Kontrollkomission" zu einem, den westlichen Besatzungsmächten in Bonn terminologisch angepaßten, „Hochkommissariat" fanden diese Bestrebungen, den „Neuen Kurs" auch nach außen hin glaubwürdig erscheinen zu lassen, beispielhaft ihren Niederschlag. Solcherart Kalkül spielte sich jedoch gänzlich außerhalb der Debatten der deutschen Politbüro-Mitglieder ab. In Ost-Berlin galt es nach dem Termin im Kreml vielmehr, die Kleinarbeit des Krisenmanagements zu bewerkstelligen. Unmittelbar nach der Rückkehr der Delegation folgte am 5. Juni eine außerordentliche Sitzung des Politbüros. Einziger Tagesordnungspunkt war der Bericht über die Moskau-Reise. Um in Kürze beschlußfähige Vorlagen zu erhalten, wurden sechs Kommissionen für die Bereiche Industrie, Finanzen, Landwirtschaft, Versorgung, Rechtsfragen sowie Intelligenz/Schulfragen gebildet.1 Der, so administrative Gestalt gewordene, Themenkatalog entsprach ganz den Moskauer Verabredungen und spiegelte zugleich eine Geschäftigkeit, die eine Analyse der begangenen Fehler sowie eine Kritik der Parteiarbeit zunächst in keiner Form thematisierte. Am darauffolgenden Tag stand erneut ein einziger, dafür umso folgenreicher, Punkt auf dem Sitzungsplan die Aussprache über den Reisebericht.2 Sofern bis dahin ein Kalkül Ulbrichts bestanden haben mag, für ihn kritische Themen zu meiden und dagegen den Mechanismus einer stillen Schadensbegrenzung in Gang zu setzen, ging dies in dieser Sitzung nicht auf. Zu groß waren die Erwartungen vieler Politbüro-Mitglieder hinsichtlich einer fälligen Auseinandersetzung und zu tief war deren Enttäuschung über die gesamte bisherige -

-

-

Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2 286. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A 271, Blatt

187-189.

54

Entwicklung der Parteiarbeit. Rudolf Herrnstadt hat beschrieben, wie nach dem Befehlsempfang in Moskau Walter Ulbricht der heimatliche Boden unter den Füßen

wegrutschte. Nach Berlin zurückgekehrt, hatte Fred Oelßner bereits andere PolitbüroMitglieder in persönlichen Gesprächen über den Verlauf der Beratungen informiert. Aus seinen Ausführungen wird deutlich, daß das Präsidium des ZK der KPdSU nicht nur eine Revision der desaströs verlaufenden Beschleunigung des Sozialismusprojektes forderte, sondern klar erkennen ließ, daß Ulbrichts Stil der Selbstinszenierung deutlich Unwillen erregt hatte.1 Zudem glaubte Oelßner: „Es handelt sich offensichtlich um einen Kurswechsel in einigen entscheidenden Fragen, der nicht nur die DDR betrifft."2 Doch seine Zuhörer sollten in den folgenden Tagen keine Gelegenheit haben, sich über mögliche strategische Züge der sowjetischen Kursänderung Gedanken zu machen. An die damals im zentralen Apparat der Partei aufkeimenden Hoffnungen erinnerte sich Heinz Brandt, der die Äußerungen des von den Aussichten offensichtlich euphorisierten Hans Jendretzky niederlegte: „Heinz, ich habe eine gute Nachricht, die beste von der Welt. Es ist geschafft. Wir fangen ganz neu an und im Hinblick auf ganz Deutschland. Das ist die große Wendung in der Geschichte der Partei; Semjonow hat sie von drüben mitgebracht. Im Pol-Büro ist die Entscheidung bereits gefallen."3 Fred Oelßner notierte sich in Vorbereitung jener denkwürdigen Sitzung am 6. Juni eine wahre Sturzflut von Erkenntnissen seltener Einsichtigkeit.4 Der Ausgangspunkt seines Redebeitrages sollte demnach die ernüchternde Feststellung werden, daß „die Massen gegen uns!" seien und sich das Regime auf „Okkupationstruppen"5 stütze. Das „Dokument" (gemeint war der Moskauer Maßnahmenplan) konstatiere eine Gefährdung der politischen Lage in der -

Änderung sei auf allen Gebieten herbeizuführen, nicht nur auf den im Dokument genannten. Ausgangspunkt dieser „Generalüberprüfung der gesamten Politik" sollte nicht sein, „was uns gefallt, sondern, was Massen beunruhigt, was Bevölkerung nicht gefällt. Normalisierung des Lebens nicht für SED-Funktionär, sondern für Durchschnittsbürger". An dritter Stelle (nach: ,,a) sofortige Maßnahmen" und ,,b) Ausarbeitung Dokument") der zu lösenden Aufgaben stehen in Oelßners Notizen „Arbeitsstil Parteiführung und Parteiapparat (hängen zusammen)". Zum Punkt ,,b)" vermerkte er einen Nachtrag, der das Ausmaß der Bloßstellung der SED-Führung DDR, eine

Vgl. Herrnstadt Dokument, a.a.O., S. 60f. Zitiert a.a.O., S. 59. Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, München 1967, S. 209. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2 A 270, 271. Es ist Elke Scherstjanoi in der Einschätzung zu folgen, daß es sich bei diesen Notizen Oelßners nicht um Mitschriften aus der Sitzung selbst, sondern um die Skizzierung seines Redebeitrages handelt. Gleichwohl können sie als authentische Wiedergabe dessen angesehen werden, was tatsächlich an Problemlagen diskutiert worden ist. Zudem zeigen Herrnstadts Erinnerungen und die Notizen Grotewohls eine große Übereinstimmung mit dem von Oelßner vorbereiteten Material. Nach Herrnstadt exponierte sich gerade Oelßner in dieser Sitzung als energischer und kritischer Redner. Siehe: Elke Scherstjanoi, „Wollen wir den Sozialismus?", Dokumente aus der Sitzung des Politbüros der SED am 6. Juni 1953, in: BzG 5/91, hier insbesondere FN 12. SAPMO-BArch NY 4215/111. Fred Oelßner, Sitzungen des Politbüros des ZK 1953-54, Mappe 1953, Blatt 9-20, hs.

55

Rapport in Moskau und seine eigene Rolle als willfähriger Kader beleuchtet: „über Dokument geschämt, weil ich es kommen sah, gewarnt und kapituliert!!"1 Zum Aktionismus der Vortagssitzung notierte er skeptisch: „wir können Umschwung nicht nur mit 'Bürokratie' fertigbringen. Gefahr der gestern gewählten Kommissionen."2

beim

unser

Das Ohr instinktsicher an den Massen, stellte Oelßner die Frage der Versorgung an die erste Stelle der Prioritätenliste: „(...) mehr Speck und Bier! mehr Kleider und Schuhe etc. Hauptfrage Warendecke."3 Bei den weiteren Punkten überschlugen sich Erkenntnisse und Eingeständnisse nahezu: „Rechtsfragen" („radikaler [...] zu voller Legalität") und Demokratisierung' (Schluß mit Bevormundung der Menschen [eine

Hauptursache unserer Lage!])." Hinter dem Stichwort „Intelligenz" finden sich gar „Freizügigkeit" und „ideologische Freiheit".

Ausgerechnet der Punkt „Vereinsleben" offenbart aufschlußreiche Einblicke in die realen Machtverhältnisse im Parteiapparat: „ob sich 100.000 Kleingärtner organisieren dürfen, entscheiden ein paar Leute im Sekretariat, meist nur einMann!"4 Ähnliches findet sich über das „Pressewesen": „bei uns alles einheitlich! Alles wird von Presseabteilung ZK gesteuert. Mit einem Wort: Lockerung Diktatur kein Kommandieren." Es mutet an, als betrachte ein Genosse mit Schrecken und Schaudern das eigene Werk. Eine Bemerkung Otto Grotewohls aufnehmend („Wir haben nicht geschafft, was wir wollten."5), beabsichtigte Oelßner, zur Frage des Verhältnisses zu den anderen Parteien Stellung zu beziehen. Den Blockparteien ging es demnach nicht anders als jedem Kleingartenverein: „Jetzt entscheidet Abtlg leitende Organe und Generalsekretär! Ob CDU ein Funktionärsorgan herausgeben darf, entscheidet Gen. Sekretär SED! ! auch das muß man ändern."6 Oelßners Stichpunkte dokumentieren, daß die ideologischen Bastionen reihenweise zur Disposition standen: Hinter: ,,d) Klassenkampf verschärft" steht klein ein großes Eingeständnis: „meist von uns geschürt!" aber auch die Einschränkung: „jetzt nicht Fehler, daß kein Klassenkampf." Oelßner sah bei allem Überschwang doch die Notwendigkeit zum Maßhalten: „Gefahren bei neuem Kurs: 1.) nur mit Augenzwinkern nicht etabliert 2.) „Neuen Kurs" mit administrativen Mitteln durchführen z.B. keine Aufnahmen in LPG ist falsch] wer will soll eintreten, wer will soll austreten, Sache der Bauern und der LPG. Unsere Sache: Bündnis festigen."7 Auch zum Punkt „Parteiarbeit" sind beachtliche Einsichten notiert: Nach „kollektive Führung" vermerkte Oelßner „Einschränkung Einmischung in Regierungsfr." sowie -

1

2

3 4

5 6 7

A.a.O., Blatt 10. A.a.O., Blatt 11. Ebd. Ebd. Ebd.

A.a.O., Blatt 12. A.a.O., Blatt 13.

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„Änderung Sekretariat (...) Rolle des Sekretariats". Was folgte, ging sogleich ins Detail: „Sofortmaßnahmen: 1.) Sekretariat/Frage Axen! a) Vergangenheit1 b) Kriecherei! a) Mitglieder stimmberechtigt andere beratend teilnehmen b) nur eine Sitzung wöchentlich c) nicht mehr als 10 Punkte! c) (sie) Persönliche Fragen a) Walter 60 // Lotte: mit Walter vereinbart -

Walters Wunsch!"

Damit zielte Oelßner auf eine Revidierung ulbrichtscher Personalentscheidungen und eine Reform der Arbeitsweise des Sekretariats. Ganz folgerichtig hätte sich danach auch Walter Ulbricht selbst als Initiator des Kultes um seine Person bloßstellen lassen. Doch, weder forderte der Moskauer Maßnahmenplan eine Personaldiskussion, noch waren in der bisherigen Auswertung der Moskau-Reise diese neuralgischen Punkte berührt worden. Es ist nicht nachvollziehbar, ob Oelßner aus eigenem Antrieb handelte, oder ob er in Moskau hinter den Kulissen zum heimatlichen Vorstoß ermuntert worden war. Ein Indiz dafür, daß er nicht allein wegen sehr guter Fremdsprachenkenntnisse als Begleiter für Ulbricht und Grotewohl eingeladen worden war, mag sich aus seiner Biographie ergeben. Oelßner hatte immerhin von 1926 bis Mitte 1932 im Auftrag der KPD am elitären Institut der Roten Professur in Moskau studiert. Dessen Absolventen hatten in hohen Positionen „maßgeblich zur Etablierung des gesamten stalinistischen Systems beigetragen", bevor viele von ihnen und viele ihrer Lehrer selbst diesem System zum Opfer fielen.2 Oelßner zählte mit seiner Ausbildung später auch unter den MoskauKadern zu denen mit einer „SU-Vergangenheit", welche ihn unter seinesgleichen hervorhob und als besonderen Vertrauensmann der Sowjets kennzeichnete. Im Juni 1953, als er mit seinem Kritikvorstoß die Lawine gegen Ulbricht ins Rollen brachte, tauchten im Zusammenhang mit den Ereignissen im SED-Führungszirkel auch die Namen zweier ehemaliger „Ikapisten"3 auf: Pawel Fjodorowitsch Judin und Michail Das Stichwort „Vergangenheit" bezog sich auf die Zeit der illegalen Arbeit. Neben Axens Lebenslauf fand sich an der Stelle der Beschreibung seiner Beteiligung an der Jugend- und Parteiarbeit die hs. Notiz: „Trifft nicht zu! Wurde strengstens gemieden! Mehlis" (Melis). Gemeint ist vermutlich Ernst Melis, der ebenso wie Axen im französischen Exil war. Ernst Melis, Jahrgang 1909, seit 1928 Mitglied der KPD, Mitarbeiter des AM-Apparates der KPD, LeninSchule in Moskau, 1936 Spanien, 1939 illegal in Frankreich, ab 1943 leitender Funktionär des "Komitees Freies Deutschland im Westen", 1945 Rückkehr nach Deutschland, 1946 Mitglied der SED, Dozent an den SED-Parteihochschulen und seit 1951 stellvertretender Chefredakteur der "Einheit", des ideologischen Organs der SED. Siehe: Andreas Herbst, Führungsstrukturen und Führungskader der SED, in: Die SED, S. 1027. Desweiteren wurde Axen wegen des Verdachts, er sei ein Provokateur, gegen ihn im französischen Intemierungslager Le Vernet im Herbst 1940 eine Parteiuntersuchung geführt, mit dem Ergebnis, seine Mitgliedschaft vorläufig ruhen zu lassen. Die Wiederaufnahme des Verfahrens zwei Jahre später endete mit einem Freispruch. Siehe: SAPMOBArch DY 30/IV 2/11/v. 5255, Blatt 201 f. Vgl. Lutz-Dieter Behrendt, Die Institute der Roten Professur: Kaderschmieden der sowjetischen Parteiintelligenz (1921-1938), in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 45 (1997), S. 620. Im Russ.: Bezeichnung für die Studenten dieser Institute.

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Andrejewitsch Suslow, von denen der erste als „Berater"1

in Berlin weilte, während der zweite in Moskau als ZK-Sekretär unter anderem für die Beziehungen zu den kommunistischen Parteien zuständig war. Wenige Jahre später, als sich wiederum Fred Oelßner anschickte, eine Änderung in der Parteiführung herbeizuführen, stand im Kreml die größte Zahl „Roter Professoren", unter ihnen Suslow und Judin, an der Spitze der

Macht.2

In der Diskussion ging Oelßner dann sogar noch über seine vorbereiteten Notizen hinaus. Aller angestauter Unmut muß in jener Sitzung regelrecht aus ihm herausgebrochen sein. Nach dem Ausschluß Franz Dahlems im Mai3 war er, abgesehen von Ulbricht als „General", das einzige im Sekretariat verbliebene Politbüro-Mitglied. Jetzt beschrieb er vor den Genossen des Politbüros „die Arbeitsweise des Sekretariats, die Diktatur Ulbrichts, die Erziehung zu Liebedienerei und Furcht, den Dualismus zwischen Sekretariat und Politbüro, seine eigenen Ängste usw..4 Oelßner ging in seiner Darlegung von Ursachen der Fehlentwicklungen weit vor die II. Parteikonferenz zurück und benannte, nach Herrnstadts Erinnerung, die seit langem mangelnde „Kollektivität der Führung", was von allen Anwesenden als synonym mit den Auswirkungen von Ulbrichts Überhöhung der eigenen Person verstanden wurde.5 Damit traf er präzise die Stimmungslage einer Mehrheit der Politbüro-Mitglieder. Wilhelm Zaisser zeigte sich von Walter Ulbricht und dessen „Drang zum Kommandieren (...) völlig enttäuscht", stimmte den Ausführungen Oelßners „100%ig" zu und meinte gar, daß eine „Änderung wie seit 1918 nicht"6 vonnöten sei. Schon lange fühlten sich etliche der obersten Genossen von ihrem Generalsekretär übergangen, brüskiert und gedemütigt. Neben der persönlichen Kränkung stand die Erkenntnis, daß die mittlerweile etablierte Arbeitsweise in der Spitze des Apparates zu einer schleichenden Entmachtung des Politbüros durch das von Ulbricht kontrollierte Sekretariat geführt hatte. In der Konsequenz dieser Entwicklung war das Politbüro zu einem reinen Akklamationsorgan von, im Sekretariat erarbeiteten, Vorlagen degradiert worden. Elli Schmidt beklagte die fehlende Verbindung unter den Politbüro-Mitgliedern und ihr Gefühl „noch nie so einsam"7 gewesen zu sein. Oelßners leidenschaftlichem Vorstoß gegen das Sekretariat und den dahinter stehenden Ulbricht schloß sich „unter dem Druck der Ehrlichkeit

2 3

4 5 6 7

Pawel Fjodorowitsch Judin, Akademiemitglied, Philosoph und Parteifunktionär, wurde Anfang Juni 1953 Erster Stellvertreter von Hochkommissar Semjonow, dem er bis dahin persönlich unbekannt war. Siehe: Semjonow, a.a.O., S. 291. Vgl. Behrendt, a.a.O. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A 263. In der Politbüro-Sitzung vom 6. Mai 1953 wurde entschieden, Dahlem zur „Sicherung der Parteiführung" aus ZK, Politbüro und Sekretariat auszuschließen und die ZPKK beauftragt, „die Untersuchung weiterzuführen". Herrnstadt, a.a.O., S. 64. Vgl. ebd. Siehe dazu Grotewohls Notizen über Redebeiträge einzelner Politbüro-Mitglieder in dieser Sitzung in: SAPMO-BArch NY 4090/699. Ebd.

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fordernden Stimmung" die Mehrheit des Politbüros in dieser Sitzung an.1 Walter Ulbricht gedachte, sich dem folgenden demütigenden Auftrag des Politbüros nach einer Berichterstattung über die Ergebnisse dieser Sitzung vor dem Sekretariat dadurch zu entziehen, indem er verkündete, das Gremium nicht mehr zusammenzurufen. Herrnstadt kommentierte Ulbrichts geplante Volte, daß damit das Sekretariat „so diktatorisch" auseinanderflog, wie es gearbeitet habe.2 Die Kritik am Sekretariat griff die tragende Säule von Ulbrichts Machtkonstruktion an. Jüngere Funktionäre, die ihm persönlich verpflichtet waren, arbeiteten unter seiner Leitung im „kleinen Sekretariat des Politbüros", das 1949 eingerichtet worden war, um die Beschlüsse des Politbüros vorzubereiten und ihre Durchführung in Partei und Staatsapparat zu kontrollieren.3 Damit war eine Schaltzentrale des Generalsekretärs im Parteiapparat entstanden, die gewisse Ähnlichkeiten zu der Privatkanzlei von Stalin aufwies, mit der dieser die verschiedenen Apparate der sowjetischen Machtstruktur, also die Partei, die Armee, die Staatssicherheit, die Volkswirtschaft und die Regierung befehligt, kontrolliert und terrorisiert hatte. Spätestens seit den Repressionen gegen die Kader und Mitglieder der eigenen Partei in den dreißiger Jahren4 konzentrierte Stalin die ungeteilte Macht auf sich. Organisatorischer Ausdruck dafür war sein in dieser Zeit entstandenes Privatsekretariat unter der Leitung von Aleksander Nikolajewitsch Poskrebyschew.5 Diese „Graue Eminenz" vereinigte in ihren Händen mehr Machtfülle als die Mitglieder des Politbüros. In der Partei selbst wurde die Macht der Parteiexekutive, des Sekretariats, gestärkt, während die für die Politikfestlegung zuständigen Organe wie Parteitag, Zentralkomitee oder Politbüro zugunsten der Entscheidungsgewalt Stalins systematisch abgewertet wurden. Bis Mitte der dreißiger Jahre mußten sich die kommunistischen Führer noch im Politbüro bewähren. Doch unter Stalin war das Sekretariat der einzige Aufstiegskanal, wie die Karrieren von Schdanow, Malenkow und Chruschtschow zeigen.6 Die Auflösung von Stalins Privatkanzlei nach dessen Tod war Herrnstadt, a.a.O. Herrnstadt erwähnt auch die Zustimmung von „äußerst" zurückhaltenden Genossen wie Erich Mückenberger, und „solche(n), die um keinen Preis in irgendeiner Frage in Widerspruch zu Walter Ulbricht geraten wollten (wie Erich Honecker)". Herrnstadt, a.a.O.. S. 65. So in Carola Sterns Ulbricht-Biographie: „Besonders die jüngeren Spitzenfunktionäre muß Ulbricht schon 1950 außerordentlich beeindruckt haben. Er war für sie eine Respektsperson, die man zwar nicht liebt, aber mit einer Mischung von Furcht und Hochachtung akzeptiert. Diese Funktionäre strengten sich an, es dem Generalsekretär unbedingt recht zu machen und sich keine Blöße zu geben." Zit nach Carola Stern, Ulbricht, Köln, Berlin 1964, Zit. nach der Taschenbuchausgabe, Frankfurt/Main-Berlin 1966, S. 136. Hermann Weber sieht im Terror gegen die eigenen Anhänger eines der spezifischen Merkmale des Kommunismus überhaupt: „Der Kommunismus war die einzige Bewegung der jüngeren Geschichte, die mehr ihre eigenen Führer, Funktionäre und Mitglieder selbst umgebracht hat, als das ihre Feinde taten. Gerade diese historische Besonderheit hat den Kommunismus charakterisiert." Zit. nach: Hermann Weber, Einleitung: Bemerkungen zu den kommunistischen Säuberungen, in: Terror, a.a.O., S. 1. Vgl. Borys Lewytzkyj, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion. Portrait eines Ordens, Stuttgart 1967, S. 57. Vgl. ebd.

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eine der ersten Maßnahmen der kollektiven Führung, die damit begann, die Leitungsstrukturen von Staat und Partei zu reorganisieren. Im Ergebnis des Monate währenden Machtkampfes wurde die Suprematie des Parteiapparates -

-

wiederhergestellt. Vor diesem Hintergrund der Reorganisation der KPdSU-Führungsarchitektur lassen sich die Berliner Auseinandersetzungen im SED-Politbüro auch als ein Nachvollziehen der sowjetischen Vorgänge begreifen. Dabei war die Führungsebene kongruent anzupassen, womit sich Oelßner, Herrnstadt und andere in ihren Bestrebungen durchaus im Rahmen der Moskauer Vorgaben und des dortigen Geschehens bewegten.

In Berlin beschlossen die „anwesenden Genossen" des Politbüros im Ergebnis ihrer Diskussion die „allgemeine Zustimmung" zum sowjetischen Dokument. Zur „Selbstkritik an der Arbeit des Politbüros und des Sekretariats" sollte ein „umfassendes" Papier ausgearbeitet und dem Präsidium des ZK der KPdSU überreicht werden. Für die interne „organisatorische Neuordnung der Arbeitsweise des Politbüros und des Sekretariats" wurde eine fünfköpfige Kommission, bestehend aus Ulbricht, Zaisser, Oelßner, Herrnstadt und Jendretzky eingesetzt.1 In dieser Schöpfung waren nunmehr, ob bewußt oder nicht, die Akteure der späteren Führungsauseinandersetzung zusammengeführt worden. Hinsichtlich der „Abarbeitung" der sowjetischen Anweisungen gab es in der Sitzung eine ganze Reihe von Entscheidungen. Neben der Intensivierung der parteiinternen Arbeit am „Neuen Kurs" (es wurde eine Aufstockung der tags zuvor eingesetzten Kommissionen um ,je einen Berliner Genossen" festgelegt) sollte auch das äußere Erscheinungsbild dem Politikwechsel angepaßt werden. So wurde festgelegt, die „gesamte Sichtpropaganda (...) sofort zu überprüfen". Am umfangreichsten fielen die Beschlüsse zum Umgang mit den Kirchen aus. Otto Grotewohl wurde „ermächtigt, mit den Kirchenführern zu verhandeln". Wilhelm Zaisser sollte, zusammen mit Karl Maron und Generalstaatsanwalt Melsheimer, angewiesen werden, „keinerlei weitere Maßnahmen" gegen die „sogenannte 'Junge Gemeinde' und die sonstigen kirchlichen Einrichtungen einzuleiten". Beschlagnahmte kirchliche Einrichtungen seien zurückzugeben und die den Kirchen bislang vorenthaltenen Zahlungen hätten zu

erfolgen.

Für die Behandlung der in den geschaffenen Kommissionen noch nicht berücksichtigten Frage der rückkehrenden Republikflüchtlinge wurde kurzerhand eine zusätzliche Kommission gebildet. Das ganze politisch-ideologische Ausmaß des Revisionskurses schien in der, neben aller Kritik am Sekretariat und an Ulbricht, auf Lösungsmöglichkeiten ausgerichteten Debatte von den einzelnen Politbüro-Mitgliedern kaum reflektiert worden zu sein. Zumindest Friedrich Ebert sah sich nachweislich genötigt, tiefe Zweifel zu äußern, die der forsche Kurswechsel bei ihm hervorgerufen hatte. Nach mehrmaligem Lesen des sowjetischen Papiers habe sich ihm die Frage aufgedrängt: „Wollen wir den Sozialismus?" Ebert antwortete sich selbst bejahend und mit jenem „historischem

Vgl.

SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A 271.

60 der nötig war, um die befohlene Kehrtwendung nicht Bankrotterklärung zu begreifen und sie mit Überzeugung nachvollziehen zu können.

Optimismus",1

als

6. Die Partei schaltet um: Der „Neue Kurs" wird Politik vollzogen sich alle Diskussionen um die aus Moskau mitgebrachte Order hinter verschlossenen Türen. Allein die Unterbrechung der Propagandakampagne für die Vorerst

Beschlüsse der II. Parteikonferenz konnte als ein von außen wahrnehmbares Indiz für sich ankündigende Veränderungen gedeutet werden. Als das Politbüro am 9. Juni erneut zusammentrat,2 wurde auch die öffentliche Bekanntgabe des „Neuen Kurses" beraten. Zu den von den eingesetzten Kommissionen in 16 Punkten unterbreiteten Vorschlägen wurde, meist bestätigend, Stellung genommen. Die Beschlußlage spiegelte nahezu in Gänze die Palette der Kommissionen und damit den Themenkatalog des Maßnahmenpapiers wieder. Lediglich von der für die Industrie zuständigen Gruppe lagen offenbar noch keine Vorschläge auf dem Tisch. Zur öffentlichen Propagierung wurde die Ausarbeitung eines Kommuniques beschlossen, mit dem der „Neue Kurs" für die DDR verkündet werden sollte. Rudolf Herrnstadt, der dieses Kommunique auszuarbeiten hatte,3 befürchtete eine Schockwirkung in der gesamten Partei aufgrund unvermeidbarer Mißverständnisse, die eine Veröffentlichung in unkommentierter Form auslösen könnte.4 Semjonow, der sich auf taktische Zugeständnisse nicht einlassen wollte und aufgrund des Erfolgsdrucks, unter dem er selbst stand, auch nicht mehr konnte, kanzelte Herrnstadts Bedenken und dessen Wunsch nach einem Aufschub um zwei Wochen mit der sibyllinischen Bemerkung ab: „In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben."5 Semjonows Äußerung scheint mit dem Blick auf die wenig später folgenden Ereignisse eine besondere Bedeutung zu haben. Seine Bemerkung war vermutlich Ausdruck des nunmehr vorhandenen Krisenbewußtseins der sowjetischen Führung und der Vorbereitung einer deutschlandpolitischen Initiative der Sowjetunion gegenüber den Westmächten. Aber vielleicht entsprach sie lediglich dem Zynismus eines Mannes, der geprägt war von den Unwägbarkeiten und Wandlungen der sowjetischen Deutschlandpolitik seit 1939 und der sich hinsichtlich der Verankerung der SED-Führung im Volk keinerlei Illusionen hingab. Ohne erläuternden Kommentar veröffentlichte das „Neue Deutschland" am 11. Juni das "Kommunique des Politbüros des ZK der SED vom 9. Juni 1953".6 Ein Vorgang, der „in der Geschichte der Eberts und Herrnstadts nachträglich fixierte Diskussionsbeiträge finden sich neben den Grotewohl-Notizen in SAPMO-BArch NY 4090/699. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 JIV 2/2/288, Protokoll Nr. 34/53 der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees. Vgl. auch Rudolf Herrnstadt, a.a.O., S. 63-66. Vgl. Herrnstadt, a.a.O., S. 70f. Vgl. a.a.O., S. 72. Zit. nach: Herrnstadt, a.a.O., S. 74. Dokumente des ZK sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, Band IV, Berlin 1954, S. 428431. Vgl. auch das Kommunique des Politbüros des ZK der SED vom 9.6.1953, in: ,.Neues Deutschland", 11.6.1953, S. 1.

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kommunistischen Parteien ohne Beispiel (war). Parteifunktionäre, Mitglieder und die gesamte Öffentlichkeit wurden über Nacht vor vollendete Tatsachen gestellt".1 Einer knappen Konstatierung gravierender Fehler folgten in der Verlautbarung die Offerten einer neuen Regierungspolitik: Korrekturen des Volkswirtschaftsplans zugunsten der Konsumgüterproduktion, eine Unterstützung des privaten Sektors in der Industrie, in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Bereich der Bauwirtschaft sowie des Verkehrs. Es wurden Erleichterungen im innerdeutschen Verkehr, die Einstellung des Kampfes gegen die Kirchen, Preissenkungen für Lebensmittel und die Rückgabe eingezogener Lebensmittelkarten sowie die gefahrlose Rückkehr von geflüchteten Klein-, Mittel- und Großbauern auf ihr Land oder ein vollwertiger Ausgleich versprochen. Begründet und gerechtfertigt wurde der „Neue Kurs" mit der Umsetzung einer von Grotewohl notierten Bemerkung Molotows, der in Moskau betont hatte, die Fehler seien so groß, daß die Kurskorrektur in ganz Deutschland sichtbar sein müsse. Dieser Gedanke wurde "schöpferisch" aufgenommen und so hieß es in dem Kommunique: „Das Politbüro hat bei seinen Beschlüssen das große Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands im Auge, welches von beiden Seiten Maßnahmen erfordert, die die Annäherung der beiden Teile Deutschlands erleichtern."2 Die Veröffentlichung verfehlte ihre Wirkung nicht wenn auch in einer ganz anderen Weise als der beabsichtigten. Nicht nur in der Bevölkerung, auch unter Parteimitgliedern, bis in die Parteileitungen hinein, löste die überraschende, grundlegende Wendung genau die von Herrnstadt befürchtete Wirkung aus. Neben Unverständnis und Verwirrung3 stand sogleich auch die Interpretation als Bankrotterklärung der Partei.4 Keine der gewohnten Erläuterungen, keinerlei Stellungnahmen folgten der Publizierung. Doch die „programmwidrige" Verkündung des „Neuen Kurses" entsprach ganz seinem Charakter eines sowjetischen Diktats. Bis dahin enthielt der „Neue Kurs" viel Neues aber kaum etwas „Eigenes".5 Dabei blieb es auch, und so rückte der gewohnten Ignoranz nicht das Rumoren der Arbeiterschaft ins Blickfeld. Nicht nur erwähnte das überraschende Kommunique mit keiner Silbe das Proletariat, es wurden im Gegenteil fern jeden Realitätssinns im „Zentralorgan" weiterhin Propagandaartikel über „freiwillige" Normenerhöhungen und Selbstverpflichtungen lanciert. -

Heinz Brandt, a.a.O., S. 216. Kommunique des Politbüros vom 9.6.1953, in: Dokumente der SED, Bd. IV, S. 428. Eine Zusammenfassung von Stimmungsberichten vom 10.-16.6.1953 zum Kommunique vom 9.6.1953 befindet sich im SAPMO-BArch DY 30 IV/2/5/524. Vgl. auch Udo Wengst, Der Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Aus den Stimmungsberichten der Kreis- und Bezirksverbände der Ost-CDU im Juni und Juli 1953, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 41 (1993). S. 277-321. Vgl. Kowalczuk. a.a.O., S. 203. Brandt. a.a.O.. S. 215. Brandt betont, eine Änderung solch prinzipieller politischer Ausrichtung hätte durch eine Parteikonferenz oder eine ZK-Tagung, wenn nicht gar durch einen außerordentlichen Parteitag erfolgen müssen. All dies geschah nicht.

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Folgerichtigkeit, mit der die SED in die Krise des 17. Juni schlitterte, resultierte weniger daraus, daß sie die Moskauer Beschlüsse zunächst nur „halbherzig"1 in die Tat umsetzte. Auch war das Problem des Maßnahmenplanes nicht „Zwiespältigkeit".2 Er war schlicht defizitär. In der Wahrnehmung der Analysten dominierte nach wie vor das Modell des gesellschaftlichen Umbruchs als einer Form des Klassenkampfes. In dieser zugespitzt dichotomischen Weltsicht waren die Positionen klar verteilt. Eine Rücknahme verschärfter Klassenkampfmaßnahmen zielte demzufolge ausschließlich auf die zuvor vehement bekämpften Gegner. Allein schon die Annahme einer Differenz zwischen der Arbeiterklasse und ihrer „führenden Partei" wäre einer ideologischen Hybris gleichgekommen, die unisono das gesamte gesellschaftliche Modell der DDR in Frage gestellt hätte. So war das beschriebene praktische Wahrnehmungsproblem der sowjetischen wie der DDR-"Organe" permanent unterlegt mit einer wirkmächtigen ideologischen Wahrnehmungsblockade. Insofern ist die Nichtrücknahme der Normenerhöhungen schwerlich „zweifellos" das „größte Rätsel"3 des Juni 1953. Die

Scheinbar nichts ahnend von der köchelnden Wut der Arbeiter und ungeachtet einer zutiefst verstörten Parteibasis4 ging die SED-Führung folgsam an die Ausführung der Moskauer Programmpunkte. Auffällig ist die schnelle Einigung, zu der es mit den Kirchen kam. Die Gespräche zwischen der EKD und der Regierung der DDR zeigen überdies die Nutzung sowjetischer Interessen durch die westdeutsche Politik. Robert Stupperich beschreibt in seiner Biographie von Otto Dibelius, wie seitens der EKD dieses Treffen vorbereitet wurde. „Ohne eigentlich viel zu erwarten, hatte Dibelius auf Bitten der altpreußischen Kirchenleitung einen Brief an Grotewohl gerichtet. Heinrich Grüber hatte diesen Vorstoß unterstützt, da er Hinweise bekommen hatte, daß ein Wechsel des politischen Kurses bevorstünde. In seinem Schreiben am 5. Juni 1953 hatte Dibelius um ein Gespräch gebeten, das dem Abbau der gegenwärtigen Spannungen zwischen Staat und Kirche dienen sollte. Grüber übergab das Schreiben persönlich in Ost-Berlin und erhielt schon zwei Tage später die Nachricht, Grotewohl sei zum Gespräch bereit."5 Am 10. Juni kamen, nach zweijährigem Schweigen, Vertreter von Kirchen und Staat zu einem Spitzengespräch zusammen: der Ratsvorsitzende der EKD Bischof Dibelius, der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der DDR-Regierung Probst Grüber, die Bischöfe der Landeskirchen auf dem Gebiet der DDR sowie auf der anderen Seite, neben dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, der stellvertretende Ministerpräsident Otto Nuschke (CDU), zuständig für die Verbindungen zu den Kirchen, Volksbildungsminister und ZK-Sekretär Paul Wandel, der Vertreter des Staatssekretärs für Innere Angelegenheiten Grötschel und der Minister für

Bonwetsch/Filitov, a.a.O., S. 83. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, a.a.O., S. 56. Bonwetsch/Filitov, a.a.O., S. 83. Beide führen im folgenden noch einige

Überlegungen an, warum

die deutschen Arbeiter in dem Präsidiumsbeschluß nicht erwähnt werden. Zu den unterschiedlichen Reaktionen an der SED-Basis bis hin zur Neugründung von provisorischen SPD-Ortsvereinen, Siehe: Kowalczuk, a.a.O., S. 204ff. Robert Stupperich. Otto Dibelius, ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten, Göttingen 1989, S. 430.

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Staatssicherheit Wilhelm Zaisser. Formell wurden die Restriktionen gegenüber den Kirchen aufgehoben. Ein am Folgetag veröffentlichtes Kommunique dieser Unterredung versprach, die Einschränkungen der kirchlichen Arbeit, die durch den „Aufbau des

Sozialismus" nach der II. Parteikonferenz verstärkt worden waren, zurückzunehmen. Die Rede war von der „Wiederherstellung eines normalen Zustandes".1 Das schloß auch eine Überprüfung bereits gefällter Urteile ein.2 Am gleichen Tag wurden bisher demonstrativ zurückgehaltene staatliche Zuschüsse vom Finanzministerium der DDR an die Kirchen überwiesen.3 Es gelang der SED damit, den „Neuen Kurs" am zügigsten in puncto Kirchenfragen umzusetzen. Schon nach wenigen Tagen war somit ein jahrelang erbittert geführter Kirchenkampf beendet und ein Teil dessen erreicht, was Molotow als sichtbares Zeichen gegenüber allen Deutschen verstanden wissen wollte. Hierfür war die Reaktion der evangelischen Kirchen ein deutlicher Beleg: Dibelius war über das Ergebnis der Verhandlungen so erfreut, daß er dem Ministerpräsidenten schriftlich dankte: „Es ist mir ein Bedürfnis", schrieb er, „Ihnen für die großzügige Art, in der Sie heute unsere Verhandlungen geleitet und wesentliche Beschwernisse unserer Kirche durch Ihre durchgreifenden Anordnungen aus der Welt geschafft haben, noch einmal aufrichtig zu danken. Ich habe die Zuversicht, daß die wohltuende Entspannung der Lage anhalten und für das künftige Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Bereich der DDR eine gute Grundlage abgeben wird."4 Die unfreiwillige Investition der SED in guten Willen gegenüber den Kirchen sollte sich schon wenige Tage später bezahlt machen. Erst nach dem Gespräch mit der EKD beschloß der DDR-Ministerrat Maßnahmen zur Umsetzung des „Neuen Kurses". Den im „Neuen Deutschland" vermißten Kommentar zur neuen Politik lieferte am 13. Juni 1953 das Organ der sowjetischen Besatzungsmacht „Tägliche Rundschau" unter der Überschrift „Wichtige Beschlüsse" nach. Dort wurde, auch das ein Novum, offiziell eine Mitverantwortung der Sowjets für die entstandene Lage eingeräumt: „Das Politbüro des ZK der SED und die Regierung der DDR geben offen und ehrlich vor der ganzen Bevölkerung der DDR zu, in der Vergangenheit Fehler begangen zu haben, die ihren Ausdruck in den Verordnungen über die Neuregelung der Protokoll der Besprechung Grotewohls mit den Kirchenführern am 10.6.1953, in: SAPMO-BArch DY 30 IV /14/6 Blatt 165-181. Vgl. auch Martin G. Goerner/Michael Kubina, Die Phasen der Kirchenpolitik der SED und die sich darauf beziehenden Grundlagenbeschlüsse der Partei- und Staatsführung in der Zeit von 1945/46 bis 1971/72. Expertise im Auftrag der Enquetekommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Diktatur in Deutschland", in: Materialien, a.a.O., Bd. VI, S. 615-873. Der vollständige Maßnahmenkatalog, Siehe: „Neues Deutschland" vom 11.6.1953. Vgl. Sitzung des Politbüros, Tagesordnungspunkt 2: Stellungnahme zu den Vorschlägen der vom Politbüro eingesetzten Kommissionen in: SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2/288, BL. 1-3, sowie Anlage 1: Praktische Aufhebung aller gegen Kirchen, Junge Gemeinde und Studenten getroffene Maßnahmen, Bl. 6-7. Vgl. Brief des Finanzministers Georginos an Otto Grotewohl vom 11.6.1953 in: SAPMO-BArch, NY 4090/456. Robert Stupperich, Otto Dibelius, a.a.O., S. 431. -

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Lebensmittelkartenversorgung, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steuererhebung usw. gefunden haben. (...) Die ehemalige sowjetische Kontrollkommission ist in gewissem Grade ebenfalls für die begangenen Fehler verantwortlich."1 Der Leitartikel kritisierte die bisherige Besatzungspolitik und durchbrach damit das Tabu einer wie auch immer gearteten Kritik an der sowjetischen DDR-Politik. Bisher war im Fall von Versagen, wenn überhaupt, dann allein die SED verantwortlich gemacht worden. Offensichtlich war die Veröffentlichung ein Versuch seitens der Besatzungsbehörden, die Durchführung des „Neuen Kurses" zu beschleunigen. Doch die Arbeiter sahen mit Verbitterung, daß die Normenerhöhungen in der Industrie und im Bauwesen, die das ZK der SED auf seiner 13. Tagung am 14. Mai

beschlossen hatte, aufrechterhalten wurden. Damals hatte die Partei „Minister, Staatssekretäre sowie die Werksleiter" angewiesen „die Arbeitsnormen auf ein normales Maß zu bringen und eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen um durchschnittlich mindestens zehn Prozent bis zum 1. Juni 1953 sicherzustellen".2 Die Direktiven des „Neuen Kurses" fielen somit in eine Phase der innerbetrieblichen Normenerhöhung, die mit dem 1. Juni in Kraft war und die alles andere als konfliktfrei verlief. „Die Arbeiter wußten, daß es bei der Normenerhöhung eben nicht nur um höhere Produktionszahlen ging, sondern daß ihr allgemein ohnehin niedriger Lebensstandard der akuten Gefahr ausgesetzt war, weiter zu sinken. Allerdings scheinen einige Betriebsleitungen diese Gefahr und damit die Gefahr innerbetrieblicher Auseinandersetzungen erkannt zu haben. In der Elbewerft im Bezirk Schwerin zum Beispiel erfüllten die Arbeiter ,trotz durchschnittlicher neunprozentiger Normerhöhung (...) ihre Normen mit 133 Prozent. Dabei ist festzustellen, daß man in den meisten Fällen die Normen erhöht hat, mit denen man selten arbeitet, die täglichen Normen hat man nicht erhöht. Das kommt zum Ausdruck in der eingesparten Lohnsumme von nur 2.000 DM für sämtliche erhöhten Normen'. Wegen der Normenerhöhung und wegen des zu geringen Lohnes kam es auch im Mai zu einer Vielzahl von Arbeitsniederlegungen, die die Streiks der Vormonate qualitativ noch überstiegen."3 Rückblickend stellte die SED in ihrer "Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16722.6.1953" vom 20. Juli diese Signale der Unzufriedenheit unter den Belegschaften der Großbetriebe auch fest: „Erste Signale waren, daß es in einer größeren Anzahl von Betrieben bereits vor der Veröffentlichung des Kommuniques zu kurzfristigen Streiks, vor allem gegen die nunmehr angeordnete administrative Normerhöhung, kam."4 An dieser Stelle muß angemerkt werden, daß der FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke in einem Memorandum vom 8. Juni Ulbricht vor

Heinz Brandt, Ein Traum (...), a.a.O., S. 225. Dokumente IV, a.a.O., S. 41 lf. Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!" Die Arbeiterschaft während der Krise 1952/53, in: Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.): Der Tag X 17. Juni 1953, a.a.O., S. 47. Zit. nach: Der Tag X- 17. Juni 1953, a.a.O., S. 57. -

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der „administrativen Durchsetzung" der Normenerhöhung gewarnt hatte.1 Die beliebte Formulierung von der „administrativen" Umsetzung eines Parteibeschlusses, schuf dem zentralen Parteiapparat die Möglichkeit, sich von der eigenen Verantwortung zu entlasten und die Schuld auf den nachgeordneten Ebenen der Partei und der Werksleitungen abzuladen. In der Frage der Normerhöhung hielt die Partei, unbeeindruckt von der wachsenden Unzufriedenheit in den Betrieben, am alten Kurs fest. Immerhin kam Grotewohl auf der Politbüro-Sitzung am 13. Juni zu der Einsicht, Sparsamkeit und Normerhöhungen wenigstens zu erklären: „Normenerhöhung, (...) Sparsamkeit waren kein Fehler (...) man muß sie beibehalten und begründen."2 Es scheint so, als ob die SED erst nach dem Linienartikel in der „Tägliche(n) Rundschau" in der Lage war, den „Neuen Kurs" zu kommentieren. So veranlaßte Rudolf Herrnstadt als Chefredakteur des „Neuen Deutschland" eine Reportage über den Konfliktverlauf bezüglich der Normenerhöhung in der Berliner Stalinallee. Das SEDZentralorgan griff einen Parteisekretär namentlich an, der in der Auseinandersetzung um die Normenerhöhung „an die Stelle der Überzeugungsarbeit den Holzhammer setzt".3 Der Artikel öffnete ein Ventil, indem er Kritik an der Partei zuließ und nachdrücklich forderte, die Argumente der Arbeiter ernst zu nehmen: „Wenn eine Betriebsparteiorganisation und leitende Wirtschaftsfunktionäre, die Mitglieder unserer Partei sind, das Vertrauen mißbrauchen, können sie nicht erwarten, daß sich die Arbeiter so einfach damit abfinden."4 Parallel zu dieser Reportage verfaßte Herrnstadt Notizen zu einer Entschließung über den FDGB, die das kommende ZK-Plenum verabschieden sollte. Darin kritisierte er, daß seitens des Gewerkschaftsbundes der Tendenz in den Betrieben zu administrieren „niemals entschlossen entgegengetreten wurde".5 Herrnstadt wollte im FDGB innergewerkschaftliche Demokratie einführen. Damit die Massenorganisation nicht weiterhin als verlängerter Arm der Verwaltung fungierte, sollten alle Gewerkschaftsleitungen neu gewählt werden. Nach der kritischen Reportage im „Neuen Deutschland" über die Art und Weise, in der die Normenerhöhungen durchgesetzt wurden, zeigten sich Differenzierungen in der Argumentation der SED gegenüber "ihrem" Volk. Ausgerechnet das Zentralorgan des FDGB, „Die Tribüne", bezog Gegenposition zum „Neuen Deutschland". Der Sekretär des FDGB-Bundesvorstandes, Otto Lehmann6 verteidigte am 16. Juni die 1

2

3

4

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Zit. nach: Gerhard Beier, Die Transmission dreht Nr. 13, 1996, S. 10. SAPMO BArch NY 4090/699, Bl. 69.

sich, in: Kronberger Bogendruck, 6. Jahrgang,

Siegfried Grün/Katja Stern, Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen, in: „Neues Deutschland", 14. Juni 1953, Zit. nach: Ilse Spittmann/Karl-Wilhelm Fricke, 17. Juni 1953 Arbeiteraufstand in der DDR, Edition Deutschlandarchiv, Köln 1982, S. 184, künftig zit. als: 17. Juni 1953. Ebd.

Zit. nach: Gerhard Beier, Die Transmission dreht sich, a.a.O., S. 13. Otto Lehmann (1913-1991), 1932 Mitglied der KPD, 1943 sowjetische Kriegsgefangenschaft, besucht in der Sowjetunion eine Antifa-Schule, kehrt 1949 nach Deutschland zurück, studiert 1950/52 an der Parteihochschule, ist von 1950-1980 Mitglied des FDGB-Bundesvorstandes und von 1952-1963 Sekretär dieses Gremiums. Siehe: Die SED, a.a.O., S. 1.014f.

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Wirtschafts- und Gewerkschaftsleitungen dazu auf, sie in den Betrieben durchzusetzen.1 Mit dieser klaren Position des FDGB der Massenorganisation, die vorgeblich als Gewerkschaft die Interessen der Arbeiter wahrnehmen sollte wurde diesen gezeigt, daß die Partei offenbar nicht willens war, den „Holzhammer" beiseite zu legen. Die Weigerung des FDGB, die Betriebsgewerkschaftsleitungen zu nutzen, um in den Betrieben die Normenerhöhung zu verhandeln, ließ den unzufriedenen Arbeitern keine andere Möglichkeit, als auf alte Protestformen der Arbeiterbewegung zurückzugreifen: spontanen Streik und öffentliche Demonstration. Lehmanns Artikel war das Signal für die Bauarbeiter der Stalinallee, dies zu tun.2

Normenerhöhung und forderte alle

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7. Der 17. Juni 1953: Lohn und Einheit. Vom Streik

zum

Volksaufstand Um

Entstehung und Ablauf der Aktionen am 16. und 17. Juni 1953 zu verstehen, ¡st es notwendig, die wichtigsten Entscheidungen der SED zur Normenerhöhung, die von den Arbeitern als Lohnsenkung empfunden wurde sowie die Entscheidungen zum „Neuen Kurs" zu rekapitulieren: Am 14. Mai empfiehlt das ZK die Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens zehn Prozent bis zum 30. Juni. Schon im Mai beginnen in den Betrieben Konflikte zwischen Belegschaft und Werksleitung um die Normenerhöhung. Es kommt zu ersten Arbeitsniederlegungen.3 Am 11. Juni erscheint das Kommunique des Politbüros der SED zum „Neuen Kurs", in dem die Parteiführung einräumt „in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern"4 begangen zu haben. Das Eingeständnis wird verbunden mit der Absicht, diese Fehler zu korrigieren und eine deutliche „Verbesserung der Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung und der Stärkung der Rechtssicherheit in der Deutschen Demokratischen

1

2

Republik"5

herbeizuführen. „Um den 10. Juni wurden die

Vgl. Otto Lehmann, Zu einigen schädlichen Erscheinungen bei der Erhöhung der Arbeitsnormen, Tribüne, 16. Juni 1953. Zit. nach: 17. Juni 1953, a.a.O., S. 184f. Heinz Brandt, der als

Agitationssekretär der Berliner Bezirksleitung diese Vorgänge als Zeitzeuge

miterlebte, schreibt über den Hintergrund dieses Artikels: „An diesem Morgen war in der .Tribüne' (...) auf Geheiß Walter Ulbrichts ein provozierender Artikel (von Otto Lehmann) erschienen. (...) Der Artikel war ein Schuß gegen das ,Neue Deutschland'. In solchen Formen

spielte 3

4

5

sich der Rivalenkampf Ulbricht-Herrnstadt ab." Zit. nach: Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, a.a.O., S. 230. Schon am 25. Mai kündigten bei der Reichsbahn-Bau-Union in Ost-Berlin viele Arbeiter, „als sie ihren Lohn nach der neuen Berechnung erhalten (1,50 DM bis 2,50 DM täglich weniger als bisher). Es kommt zu erregten Auseinandersetzungen". Zit. nach: 17. Juni 1953, a.a.O., S. 129. Kommunique des Politbüros vom 9. Juni 1953, in: Dokumente IV, a.a.O., S. 428. Ebd.

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mit den verminderten Akkordlöhnen ausgegeben."1 Mit dem in der Tasche mußte die Verkündung des „Neuen Kurses" in den Lohn geringeren Ohren der Arbeiter wie blanker Hohn erscheinen. Die neue Politik klang verheißungsvoll, nur zugunsten der Arbeiter war sie nicht gedacht. In dieser Konstellation begannen sie, nicht nur in der Berliner Stalinallee, die Frage der Normenerhöhung in ihre eigenen Hände zu nehmen. Spontane Streiks und selbstorganisierte Arbeitskonflikte waren in der Geschichte der Arbeiterbewegung zum einen immer die Folge des Versagens der zuständigen Institutionen und zum anderen das Werk informeller Arbeits- und Lebensbeziehungen der betroffenen Belegschaften. Gerhard Beier hat die Entstehung des Streiks der Arbeiter auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain anhand von MfS-Akten rekonstruiert. Diese exemplarische Geschichte eines spontanen Arbeitskampfes mit historischer Bedeutung sei hier wiedergegeben. Dies geschieht auch aus Gründen der historischen Gerechtigkeit. Alfred Metzdorf, Kurt Bluhm, Karl Foth und Max Fettling waren damals die Gegenspieler, nicht nur des SED-Politbüros, sondern auch der sowjetischen Führung. Ihre Aktion durchkreuzte die von der Parteiobrigkeit versuchte planmäßige Ingangsetzung des „Neuen Kurses". Ihre Namen stehen stellvertretend für alle diejenigen, die im Juni 1953 mit ihren Aktionen in den Betrieben und auf den Straßen die erste Existenzkrise der DDR herbeiführten. ersten Lohntüten

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7.1

Arbeiterkampf gegen Lohnsenkung

Die Kommunikation zwischen der SED und "ihrem" Staatsvolk vollzog sich hierarchisch, d.h. die Partei gab die Linie vor und ihre Gefolgschaft hatte sie auszuführen. Modifikationen, Kompromisse oder gar die öffentliche Revision eines Vorhabens waren in der zentralistischen Struktur der SED-Herrschaft nicht vorgesehen. Insofern mußten Arbeiter, die unter diesen Bedingungen eine Aktion vorbereiteten, auf alte Formen der Tarnung ihres Vorhabens zurückgreifen, die von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bereits zur Zeit der Sozialistengesetze Bismarcks entwickelt worden waren. Feiern und nach außen hin unpolitische Zusammenkünfte schirmten die Vorbereitung einer politischen Aktion ab. Gleiches geschah auch im Juni 1953: „Die Sache begann vermutlich schon am 23. Mai. Als nach Bekanntgabe der neuen Kennziffern die Normenkampagne ihren ersten Höhepunkt erreichte, beantragte die BGL der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain eine gesellige Dampferfahrt der gesamten Belegschaft mit Angehörigen und zwar für Sonnabend, den 13. Juni. Das klang wie Betriebsausflug (...). Die Brigadiere berieten schon im Mai und bildeten eine besondere Kommission zur Organisierung der Lustfahrt über die Spree zum Müggelsee. Sie bestand aus dem ersten BGL-Vorsitzenden Max Fettling, dem zweiten BGL-Vorsitzenden Georg Brosta, dem Abrechnungstechniker Köhler, dem BGL-Mitglied Karl Foth und dem Brigadier Kurt Bluhm. Zwei von ihnen, Fettling und -

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Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein. Der 17. Juni 1953, in: Bruno Köbele (Hrsg.): Bauleute gingen voran, Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, Frankfurt/Main, Wien 1993, S. 40.

68

Foth, sollten im Mai 1954 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt werden und zwar für jene ,Untaten', die sie bis zum 18. Juni im Auftrag ihrer Kollegen vollführten."1

Am Vorabend der Dampferfahrt kündigte der Brigadeleiter Alfred Metzdorf auf der Baustelle an, „daß seine Brigade am Montag, dem 15. Juni, die Arbeit niederlegen werde".2 Damit wurde eine neue Qualität erreicht. Jetzt ging es nicht mehr um Versammlungen, in denen die Normenerhöhung diskutiert wurde, sondern um Streiktermine und Streikziele: „Rücknahme der Normenerhöhung. Die Maurerbrigadiere Rust, Kurt Bluhm und Karl Foth schlössen sich mit ihren Brigaden schon am Freitag dieser Aussage an. Begründung: Die zehnprozentige Normenerhöhung habe sich in Gestalt einer zehnprozentigen Lohnsenkung ausgewirkt. Fettling unterrichtete die Bauleitung von dem bevorstehenden Streik, nicht jedoch den FDGB als zuständige Gewerkschaft."3 Am Ziel der Dampferfahrt, der Ausflugsgaststätte "Rübezahl", erklärte Metzdorf vor allen Teilnehmern, „daß am Montag früh gestreikt würde. Von dem Moment an war aus dem fröhlichen Betriebsausflug eine hochpolitische Streikversammlung geworden. (...) Die Heimfahrt diente der weiteren Verabredung mit Leitern von Block 40 und anderen Baustellen. Das Losungswort am Montag sollte lauten: ,Aktion Dampferfahrt'."4 Am 15. Juni begann der Ausstand als Sitzstreik. „Die Versammlung beschloß eine Resolution, um die Senkung der Normen zu erreichen. Der Text sollte Grotewohl zugestellt werden. Der erste Entwurf stammte von Fettling, der ihn zusammen mit einem Vertreter der SED-Kreisleitung Friedrichshain abgefaßt hatte. Die Belegschaft wollte aber weder das Wort Resolution' durchgehen lassen, noch den bittenden Tonfall. Deshalb wurde ein verbesserter Text abgefaßt, der die klare Forderung nach Normensenkung enthielt, und zwar nicht mit viel Tagesfrist, sondern zur sofortigen Entscheidung. Fettling und ein weiterer Arbeiter brachten den abgeänderten Text in das Büro des Ministerpräsidenten. Der Streik ging weiter."5

7.2

„Wir sind die Regierung keine Kapitulation" Die SED, die Arbeiter und die Macht

-

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Die Reaktion von Grotewohl hat Heinz Brandt festgehalten. Demnach erschien am Abend des 15. Juni die Sekretärin des Ministerpräsidenten mit dem Brief der Bauarbeiter in der Berliner Bezirksleitung der SED, um sich beim Leiter der Wirtschaftsabteilung Bruno Baum Rat zu holen. „Dieser Brief er ist inzwischen zu einem historischen Dokument geworden forderte von der Regierung die sofortige Rücknahme der Normenerhöhung. Der „Neue Kurs" so wurde ausgeführt habe nur den Kapitalisten etwas gebracht, nicht aber den Arbeitern. Für Dienstag vormittag, den 16. Juni, wurde eine Delegation der Bauarbeiter angekündigt, die sich an Ort und Stelle den Bescheid des Ministerpräsidenten abholen wolle. Für den Fall einer negativen -

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1

2

3 4 5

Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, Ebd. Ebd. Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, Ebd.

a.a.O., S. 40.

a.a.O., S. 4L

-

69 Antwort wurde Streik

angedroht."1 Heinz Brandt hatte den Eindruck, daß Grotewohl der

Lage „hilflos" gegenüberstand und

von der Berliner Bezirksleitung einen Rat brauchte, sei. Bruno Baum, überlegene Ruhe ausstrahlend oder posierend, fällte ein „was salomonisches Urteil: Nur nicht bange machen lassen. Otto (Grotewohl) dürfe die Lage in Berlin nicht durch die ,DDR-Brille' sehen. Dort, in der .Provinz' habe es in den letzten Tagen zwar an die 60 Streiks gegeben und einen jubelnden Empfang der aufgrund des ,Neuen Kurses' freigelassenen politischen Häftlinge. In Ost-Berlin aber sei alles ruhig geblieben. Hier habe sich die Leitung nicht,aufweichen' lassen, und hier sei auch weiterhin nichts zu befürchten ,solange wir nicht weich werden und in Panik fallen'. ,Auf keinen Fall klein beigeben', postulierte er, .wenn die Delegation erst über die roten Teppiche im Amtssitz Grotewohls geht, wird ihr so feierlich zumute, daß sie ganz zahm verhandeln wird'. Darin habe man ja reiche Erfahrung aus der Weimarer Zeit, damals, als es noch umgekehrt herum ging. Wie oft hätten Bürgerliche, hätten sozialdemokratische Minister die aufgebrachten Arbeiter mit ein paar wohlwollenden Worten nach Hause geschickt, und die seien dann auch noch ihr ganzes Leben lang auf die große Begegnung stolz gewesen (...). Die Wirkung der Obrigkeit hätte uns damals genug Kummer bereitet aber heute käme sie uns zugute. Grotewohl solle also den Brief überhaupt nicht beantworten, die Delegation ruhig ,anrücken' lassen und ihr dann überlegen von der hohen Warte des Ministerpräsidenten aus erläutern, daß strenge Sparsamkeit nun einmal vonnöten sei (...). Grotewohls Sekretärin ging sichtlich beruhigt. Sie war gar nicht erfreut darüber, daß ich ihr im Gang noch den entgegengesetzten Rat mit auf den Weg gab: Die Regierung solle noch heute abend über Radio die generelle Zurücknahme der Normenerhöhung verkünden und den Bauarbeitern einen schriftlichen und mündlichen Bescheid darüber gleich zu Beginn der Arbeitszeit an die Baustelle zugehen lassen. ,Das wäre ja Kapitulation', meinte sie schnippisch und sehr von oben herab sie war wieder ganz 'Regierung'. Die Sache mit den roten Teppichen hatte ihr ungemein imponiert. Otto Grotewohl war telefonisch nicht erreichbar rief mich auch nicht an, obwohl ich ihn durch seine Sekretärin darum hatte bitten lassen. Sowjetische Offiziere bestärkten an diesem Abend Bruno Baum noch in

zu tun

-.

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-

seiner Auffassung, daß jedes ,Zurückweichen' in der Normenfrage von Übel sei. So lautete ihr offizieller Auftrag. Im privaten Gespräch aber ließen sie Bedenken durchblicken."2 Am nächsten Tag meldete sich bei den Bauarbeitern nicht Grotewohl zu Wort, „wohl aber der Vorsitzende des Zentralvorstandes der IG Bau-Holz, Franz Jahn. Mit einem Kometenschweif von 15 hauptberuflichen Instrukteuren wagte er sich in der Frühe des 16. Juni auf die Baustelle Krankenhaus Friedrichshain. Es bedurfte nicht des Artikels von Otto Lehmann in der .Tribüne'. Der eigene Vorsitzende erklärte den Kollegen, ,daß an dem Beschluß des Ministerrates der DDR zur Erhöhung der Normen nicht zu rütteln sei'. Allerdings distanzierte Jahn sich von der Art, wie der Beschluß auf Betriebsebene durchgesetzt wurde. Das reichte aber nicht aus, um die Kollegen wieder an die Arbeit zu bringen."3 1

Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, a.a.O., S. 227.

2

A.a.O., S. 227f.

3

Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein,

a.a.O., S. 42.

70

„Berliner reiht Euch ein wir wollen freie Menschen sein"

7.3

Arbeitskampf gegen die „Arbeiterregierung" -

-

Ein verschlossenes Werkstor setzte die Eskalation in Gang. Zwei Bauarbeiter der Baustelle von Block 40, die ihre eigenen Kollegen über den Ausgang dieser Versammlung und den Beschluß der Arbeiter informieren wollten, standen vor dem verschlossenen Tor und konnten nun berichten, daß die Baustelle Friedrichshain versperrt worden sei. „Sie platzten mit dieser Nachricht mitten in den Aufbruch der eigenen Kollegen. Das erste Transparent war gemalt. Horst Schlafke von Block C-Süd intonierte gerade den Sprechchor: ,Berliner, reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen sein!' Rasch wurde die Nachricht von dem geschlossenen Werkstor in den Augen der Kollegen zu einem Akt der Volkspolizei gegen die Streikenden auf der Krankenhausbaustelle. Ein Trupp zog vorüber und sprengte das Tor. Die halbe Belegschaft schloß sich dem Demonstrationszug an. Damit verband sich der Wirbel vor der Krankenhausstelle mit dem Aufbruch der Kollegen von der Stalinallee. Der Sturm auf das Regierungsviertel konnte beginnen."1 Zu dem von Bruno Baum ausgemalten Gang einer Bauarbeiterdelegation über die roten Teppiche zu ihrem Ministerpräsidenten kam es nicht mehr. Die Demonstranten zogen zum Haus der Ministerien an der Leipziger Straße und verlangten, daß Walter Ulbricht und Otto Grotewohl mit ihnen sprachen. „Sie verweigerten sich den Arbeitern. Als der damalige Minister für Erz, Bergbau und Hüttenwesen, Fritz Selbmann, Kommunist seit 1922, der in der Nazi-Zeit seinen Mut hinter Zuchthausmauern bewiesen hatte, aus dem Haus der Ministerien heraustrat und sich den Arbeitern stellte, um eine Rede zu halten, kam er über ein paar Sätze nicht hinaus. Er wurde niedergeschrien. Ein Volkskammer-Abgeordneter, der sein Glück ebenfalls versuchen und zu den Demonstranten sprechen wollte, wurde ausgelacht.2 Statt dessen sprachen Bauarbeiter:,(...) wir sind nicht nur die Bauarbeiter in der Stalinallee. (...) wir sprechen für die Arbeiter der ganzen Zone. (...) wir verlangen Freiheit (...) das hier ist die Revolution.' Danach ergriff ein junges Mädchen das Wort, in Windjacke und Blauhemd der FDJ. Es war rednerisch äußerst wirkungsvoll. ,Eine Hetzbombe von seltener Brisanz', erinnert sich Fritz Selbmann später voller Bosheit. ,Es wurde viel geklatscht'. Mehrmals wechselten die Redner, bis einer das entscheidene Wort aussprach: Generalstreik'. Nicht lange danach löste sich die Versammlung auf, der Demonstrationszug zog zurück zur Stalinallee, (...). Gegen 17.00 Uhr etwa, als sich der Zug aufgelöst hatte, war die Losung vom Generalstreik in aller Munde. Am kommenden Morgen wollten sich die Bauarbeiter der Stalinallee auf dem Strausberger Platz sammeln, um erneut zu demonstrieren."3 Nach dem Zeitzeugenbericht von Heinz 1 2

3

Ebd. Es handelte sich

um Prof. Dr. Robert Havemann (Kulturbund). Karl-Wilhelm Fricke, Der Arbeiteraufstand, in: 17. Juni 1953, a.a.O., S. 12. Bereits der Text des ersten Sprechchors der Bauarbeiter von der Stalinallee belegt, daß bereits im Übergang vom Streik zur Demonstration die Frage der Normenerhöhung um politische Forderungen erweitert wurde.

gleichen Tag wurde auf der Belegschaftsversammlung im RAW "Einheit" in Engelsdorf eine Resolution angenommen, in der der Rücktritt der Regierung, die Durchführung von geheimen Wahlen und die Freilassung aller politischen Häftlinge gefordert wurde. Vgl. auch Ilko-Sascha

Am

71

in Berlin sein Ziel nur erreichen, weil dem Ost-Berlin ein Polizeipräsidenten Eingreifen der Volkspolizei untersagt wurde. „Waldemar Schmidt hatte bereits am frühen Morgen als sich der anfänglich noch kleine Demonstrationszug in der Stalinallee zum Abmarsch formierte und sich durch die die sowjetische Besatzungsmacht um eine Parteiagitatoren nicht beirren ließ Sondergenehmigung gebeten. Die 'Volkspolizei' wollte den Volkszug auflösen und die 'Rädelsführer' verhaften. Doch jegliche Maßnahmen solcher Art war ihr strikt untersagt, als provokatorischer Vorschlag' abgelehnt worden. Nun beschwerte sich Waldemar Schmidt mit hochrotem Kopfüber die ,knieweichen Freunde'. .Hätten wir', so meinte er, ,sofort durchgegriffen und die Maßnahmen der Polizei durch einen Schwärm von Agitatoren abgedeckt, dann wäre alles schon längst vergessen.' Nun bestürmte er Hans Jendretzky, die Russen doch ,endlich umzustimmen'. Er stieß mit seinem Rat nicht auf Gegenliebe. Jendretzky meinte entschieden, er wolle nicht als ,Arbeiterschlächter' in die Geschichte eingehen. Das Gespenst von Gustav Noske schreckte den alten Brandt konnte der

Demonstrationszug

von

-

-

Gewerkschafter."1

Das Politbüro

7.4

"kapituliert"

-

Die Rücknahme der Normenerhöhungen

In der

Normenerhöhung wich das SED-Politbüro zurück. Es war ein Dienstag, und an Wochentag trat routinemäßig das Politbüro zu seiner Sitzung zusammen. Heinz Brandt hat den Weg zur Revision aufgezeichnet: diesem

Um 8.30 Uhr rief Bruno Baum mich schon zu sich. Hans Kiefer war bereits bei ihm. Bruno Baum war totenbleich. Zum zweiten Maß sah ich ihn unsicher und fahrig. Alle diese Menschen überkamen die Geschehnisse, die jetzt anhüben, wie ein unfaßbares Naturereignis (...). Auf die rettende Formel vom 'Tage X', der von 'außen' her von den Imperialisten angezettelt sei, verfielen sie erst, als die russischen Panzer sie aus ihrer hilflosen Lage befreit hatten. (...) So betroffen waren die beiden, daß es mir Mut gab. Ich sagte klipp und klar: Jetzt gibt es nur noch eines; das Politbüro muß sofort die Normenerhöhung zurücknehmen. Alles andere bedeutet Bürgerkrieg, vielleicht Krieg. Ich fahre jetzt zum Politbüro 'rüber und stelle den Antrag. Ganz offiziell. Kann ich nur in meinem oder auch in Eurem Namen sprechen? ,Unbedingt auch in meinem', sagte Hans Kiefert wie erlöst, Bruno Baum knurrte: ,Ja, ich sehe nun auch keine andere Möglichkeit mehr. Ich ließ Hans Jendretzky aus der Politbüro-Sitzung herausrufen. Er kam sofort von Rudolf Herrnstadt begleitet. Sie hörten, was geschehen war und erklärten sich auf der Stelle bereit, den Antrag zu vertreten. .Also Du meinst, man muß sich hinter die Forderungen der Arbeiter stellen sie sind berechtigt? ', fragte Herrnstadt noch. ,Man muß unbedingt, man hätte es schon längst tun sollen, nun ist es höchste Zeit', drang ich in ihn. ,War der Artikel über die Stalinallee im „Neuen „

-

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'

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Kowalczuk/Armin Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!", a.a.O.. S. 54. Heinz Brandt. Ein Traum, der nicht entführbar ist, a.a.O., S. 238. Das erste Mal lag erst wenige Monate zurück, als im SED-Apparat die Kaderakten jüdischer Funktionäre eingesammelt wurden. Baum und Brandt waren jüdischer Herkunft.

72

Deutschland" wirklich so verfehlt? Der soll jetzt an allem schuld sein ', fragte Herrnstadt unruhig. ,Eine unsinnige Behauptung. Aber dafür ist jetzt auch keine Zeit. Es geht nun wirklich um Wichtigeres. Ich saß viele Stunden im Korridor und wartete auf Bescheid. Die Zeit erschien mir endlos (...). Einmal kam Semjonow aus dem Sitzungszimmer heraus er ließ sich von sowjetischen Offizieren, die ihn herausgerufen hatten, Informationen geben -, verschwand aber gleich wieder hinter der Doppeltür. Dann erschien Ulbricht, begleitet von Hans Jendretzky. Er verkündete in seiner gestelzten, kalten Art aber doch sichtlich aufgeregt: ,Das Politbüro hat dem Antrag der Bezirksleitung zugestimmt. Eine entsprechende Erklärung geht sofort über den Sender. (...) Übrigens wurde der Politbüro-Beschluß keineswegs .sofort' verkündet. Es vergingen weitere kostbare Stunden bis dahin. Überdies wurde in so verklauselierter Form veröffentlicht, daß er seine Wirkung verfehlte. Was da verkündet wurde, klang unglaubwürdig, ja betrügerisch und von nackter Angst diktiert. "' '

-

'

Das Politbüro verband die Rücknahme der Normenerhöhungen mit einem die Arbeiter. Sie wurden aufgefordert, „sich um die Partei und die

Appell an Regierung

zusammenzuschließen und die feindlichen Provokateure zu entlarven, welche versuchen, Unstimmigkeiten und Verwirrung in die Reihen der Arbeiterklasse

hineinzutragen".2

In dieser Formulierung kündigt sich bereits die spätere Erklärung der Ursachen des 17. Juni seitens der SED an, er sei das Werk westlicher Agenten gewesen. Am 16. Juni war die Berliner Bezirksleitung der SED planmäßig damit beschäftigt, für den Abend eine Parteiaktivtagung vorzubereiten, die zwei Tage zuvor beschlossen worden war. An diesem Abend sollten Otto Grotewohl und Walter Ulbricht vor den Berliner Aktivisten der SED den „Neuen Kurs" erläutern. „Angeblich sollte das Referat von Otto Grotewohl in bezug auf die Fehler der Vergangenheit sehr scharfe Formulierungen enthalten, mit direkter bzw. indirekter Zielsetzung gegen Walter Ulbricht,"3 erinnert sich -

-

Heinz Brandt seiner Hoffnung. Unter dem Eindruck des Streiks der Bauarbeiter und der Demonstration vor dem Haus der Ministerien „hatte Grotewohl die schärfsten selbstkritischen' Passagen seiner Rede gestrichen."4 Der Ministerpräsident sprach aber über die deutschlandpolitischen Konsequenzen der Flucht nach dem Westen, sie „bedeutete die Schaffung einer großen Propagandaarmee im Westen, die sich gegen den Osten, gegen die DDR wendete. Darüber hinaus mußte die Auswirkung dieser Politik zur Verbreiterung der Kluft zwischen den Menschen im Westen und im Osten führen. Das ist natürlich letzten Endes ein unerträglicher Fehler im Zustand, denn er berührt gleichzeitig das zentralste und entscheidenste Problem der ganzen deutschen Nation. Die Einheit Deutschlands ist das feste Fundament für eine bessere Zukunft und für einen Zustand des Friedens in Deutschland und Europa. Wenn sich Menschen von uns abwenden, wenn neben der staatlichen und wirtschaftlichen Spaltung noch die menschlichen Beziehungen zwischen den Deutschen zerstört werden, dann ist diese 1

2 J

4

Heinz Brandt, a.a.O., S. 230f. Erklärung des Politbüros zur Normenfrage, in: Dokumente der SED, Band IV, a.a.O.. S. 433. Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, a.a.O., S. 238. A.a.O., S. 239.

73

Politik falsch. Daraus muß man unerschrocken und entschieden alle Schlußfolgerungen ziehen. Die Vorhut der deutschen Arbeiterklasse muß sich noch fester mit den Massen vereinigen, und unsere Aufgabe ist es, diese Vereinigung herbeizuführen. Es gibt keinen anderen Weg aus all diesen Gründen. Man muß eine Wendung vollziehen. Es handelt sich nicht um die Durchführung kleiner unbedeutender taktischer Maßnahmen, sondern es handelt sich für uns jetzt darum, die notwendige und unaufschiebbare Schwenkung in der erforderlichen Ordnung und Disziplin zu vollziehen."1 Grotewohl vermied es aber, sich mit den Forderungen der Arbeiter öffentlich auseinanderzusetzen oder gar Position zu beziehen. Er blieb sprachlos gegenüber der Tatsache, daß sich nunmehr das Volk, dessen Lage die Partei von oben durch den „Neuen Kurs" verbessern wollte, von unten unüberhörbar zu Wort meldete, um über die künftige Politik in der DDR mitzubestimmen. Ulbricht verteidigte in seiner Rede nachdrücklich die politische Ordnung. Nach wie vor sollte die SED die beherrschende Partei bleiben und das Politbüro das eigentliche Machtzentrum: „Wenn jetzt von Parteimitgliedern und Werktätigen die Frage gestellt wird: Welche Garantien gibt es?, so möchte ich darauf offen antworten: Die Garantie, daß solche Fehler nicht wiederholt werden, liegt in der engen Verbindung von Parteiführung und der Partei mit den Massen und in der offenen Entfaltung der Selbstkritik und der Kritik von unten. Aus der Art, wie die Partei und die Regierung den fehlerhaften Kurs ändern und aus den Maßnahmen, die durchgeführt werden, ersehen die Arbeiterklasse und alle demokratisch gesinnten Bürger der Republik, daß die Führung von Partei und Regierung und der Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien imstande sind, einen richtigen Kurs zu beschließen und durchzuführen."2 Am Abend dieses 16. Juni waren die SED-Aktivisten durch die Ereignisse eingeschüchtert und sahen ihre soziale Existenz in Frage gestellt. In dieser Situation „wagten die Parteifunktionäre weniger als je, offen zu diskutieren (...). Über der Tagung lag ein drückendes Verschweigen und Nicht-sehen-wollen: Nichts weniger als eine Revolution hatte begonnen."3 Mit der Rücknahme der Normenerhöhung hatte das SED-Politbüro den ersten eigenständigen Schritt getan, der nicht in der Moskauer Vorlage zum „Neuen Kurs" enthalten war. Auf der Parteiaktivtagung in Berlin wich Grotewohl mit seiner beabsichtigten Selbstkritik zurück, während Ulbricht in der Machtfrage unbeirrt Kurs hielt. Aufmerksame Zuhörer hätten daraus Rückschlüsse auf die Meinungsskala innerhalb des Politbüros ziehen können, doch die Ereignisse überschlugen sich. Die Unruhen sprengten schnell die materielle Dimension des anfänglichen Protestes. Am 17. Juni ging es nicht mehr allein um die Normenerhöhung, „an diesem Tag ging es um die Macht der SED: .Die Lage ist außerordentlich ernst. Es geht jetzt darum, wir oder sie',

Otto Grotewohl, Wenn die Menschen sich von uns abwenden, dann ist diese Politik falsch, in: 17. Juni 1953. a.a.O., S. 184. Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter,.a.a.O.. S. 57. Heinz Brandt, a.a.O.. S. 239.

74

erklärte der Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser einem

Juni."1

Untergebenen

am

17.

Das war eine Sicht auf die Ereignisse, die ein Eingehen auf die Forderungen der Streikenden und demonstrierenden Bürger über die Frage der Normenerhöhungen hinaus seitens der Partei kategorisch ausschloß. Aber mit der Forderung nach geheimen Wahlen und dem Sturz der Regierung stellte die Volksbewegung die Machtfrage. Die Breite der Bewegung, die über Nacht die DDR erfaßte, unterstrich die Lageanalyse des Ministers für Staatssicherheit. In nahezu 400 Orten kam es zu Streiks und Demonstrationen, darunter befanden sich „14 der 15 Bezirksmetropolen (einschließlich Ost-Berlin) und 113 der 182 Kreisstädte. In 13 Bezirks- und 51 Kreisstädten verkündeten die sowjetischen Kommandaturen den Ausnahmezustand. Am 17. Juni beteiligten sich über 500.000 Menschen an Streiks und über 400.000 an Demonstrationen. Am 18. Juni wurden noch 126 Betriebe voll und 60 zum Teil

bestreikt."2 In den Orten, in denen

es gelang, den SED-Apparat, die Kreisdienststelle des MfS Volkspolizei zu paralysieren, „gingen die Aktionen am weitesten". Dazu zählte beispielsweise das mitteldeutsche Industriegebiet, wozu die Bezirke Halle, Leipzig und Magdeburg mit einer Reihe von Großbetrieben gehörten. Besonders deutlich offenbarte sich die Schwäche des Machtapparates aber während der Vorgänge in Görlitz. In der sächsischen Grenzstadt beteiligten sich die Belegschaften aller Betriebe an der Demonstration. Alle örtlichen Machtzentralen wurden bereits am Vormittag des 17. Juni gestürmt (...). Die sowjetische Besatzungsmacht griff erst sehr spät ein (...). Bereits am Vormittag war die Stadt in der Hand der Demonstranten, deren Kern die Belegschaften der örtlichen Belegschaften bildeten (...). Erst am Abend trafen größere sowjetische Einheiten und ein Kommando der KVP ein. Aber gerade am Beispiel Görlitz wird deutlich, wie sich die Auseinandersetzungen entwickelt hätten, wenn die sowjetische Besatzungsmacht und die DDR-Sicherheitskräfte nicht eingegriffen hätten. In Görlitz kam es nicht nur zur Bildung einer überbetrieblichen Streikleitung, sondern am Nachmittag wurde eine neue Stadtverwaltung mit einem neuen Oberbürgermeister eingesetzt und sogar ein neuer Polizeichef bestimmt. An der Kundgebung auf dem Marktplatz beteiligten sich 25.000 Menschen."3 Auf dieser Kundgebung sprach auch Max Latt. Sein Auftreten ist ein Beweis dafür,

und die

daß sich in den spontanen Aktionen des 17. Juni sozialdemokratische und freigewerkschaftliche Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung manifestierten und somit den Nomenklaturkadern der SED, namentlich den Kommunisten, die Vitalität des „Sozialdemokratismus" in der DDR wenige Jahre nach der politischen Ausschaltung der

Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!", a.a.O., S. 57. Klaus Schroeder, Der SED-Staat, Bayerische Landeszentrale für politische Bildung, München 1998, S. 125. Ilko-Sascha Kowalczuk/Armin Mitter, „Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt!", a.a.O., S. 59f

75

SPD in der SBZ vor Augen führten. Die Rede von Max Latt1 in Görlitz soll bewegend gewesen sein. „Er wiederholte noch einmal alle Forderungen und faßte sie so die Beseitigung des SED-Regimes deutlich zusammen, daß deren politischer Kern

hervortrat."2

-

-

In Görlitz kam es auch zu Aktivitäten, um die SPD neu zu beleben. „Wenn demnach Grotewohl von .illegalen SPD-Organisationen' sprach, die es in einigen Städten gegeben habe, so waren in Görlitz Ansätze davon zu sehen."3 Die Vitalität der sozialdemokratisch dominierten Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, die sich in den Aktionsformen, der Sprache und den Forderungen der Volkserhebung ausdrückten, zeigen, wie nahe die Deutschen damals noch ihren gemeinsamen historischen Wurzeln waren. Die Volksbewegung wollte spontan das Ende der SED-Diktatur in der DDR und die einige demokratische Republik der Deutschen. In dieser Beziehung ist das Beispiel Görlitz von besonderer Bedeutung, wie Manfred Hagen betont: „Görlitz hebt sich aus den Bewegungen in der DDR nicht nur durch den nirgendwo sonst erreichten hohen Grad von Organisation und geregelter Machtübernahme ab. Hier erwuchs die Führerschaft aus breiter sozialer Basis, und hier treffen wir auf die Belebung noch vorhandener Opposition in den Parteien."4 Die Bedeutung von Görlitz in der Volksbewegung am 17. Juni ist keine nachträgliche Erkenntnis der Historiker, wie das Telegramm von Semjonow an W. A. Molotow und N. A. Bulganin vom 17. Juni 1953 belegt, das er um 14.00 Uhr Berliner Zeit nach Moskau absandte: „Die ernsteste Lage herrscht in der Stadt Görlitz an der deutschpolnischen Grenze, wo eine Menge von 30.000 Menschen die Geschäfte, das Gefängnis, das Gebäude der Sicherheitsdienstabteilung und das Bezirkskomitee der SED demoliert hat. Nach Görlitz wurde das verstärkte Schützenbataillon SPW geschickt."5

7.5

Parteiführung im Ausnahmezustand

Nichts konnte deutlicher die Abhängigkeit der deutschen Kommunisten und ihren Status einer Satellitenregierung bloßstellen, als die "fürsorgliche" Internierung des SED'

2

3 4 5

„Er war (wie auch seine Söhne) nach 1945 Mitglied der SPD/SED und bis 1951, seinem Rentenalter, Funktionär des FDGB. Obwohl er bis zu seiner Flucht Mitglied der SED war und die Parteiüberprüfung 'überstanden' hatte, galt er unter den alten Sozialdemokraten als 'treuer

Genosse' und war darüber hinaus als 'Antistalinist' bekannt. Schon seit 1947 hatte er öffentlich und parteipolitisch nicht mehr auftreten dürfen, weil er sich vehement gegen die Oder-NeißeGrenze geäußert hatte. Die Verhaftung der Mitglieder des Streikkomitees erfolgte am 18. Juni. Max Latt hatte jedoch rechtzeitig nach West-Berlin fliehen können." Zit. nach: Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 19451953, Bonn 1996, S. 313, Fußnote 65. A.a.O., S. 313. Ebd. Manfred Hagen, DDR-Juni '53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus, Stuttgart 1992, S. 159. Geheimes Funktelegramm nach Moskau, zitiert nach: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein. a.a.O.. S. 109.

76

Politbüros in Karlshorst. Praktisch galten damit die Regeln des Ausnahmezustandes für die SED-Spitze, schon bevor dieser überhaupt für das Land ausgerufen worden war. Nach dem Beginn der Unruhen am Morgen des 17. Juni hatte Semjonow alle Mitglieder des SED-Politbüros in seinen Dienstsitz bestellt.1 Während sich das Zentrum Berlins mit streikenden Arbeitern füllte, verließen die Größen der SED ihre Kommandozentrale und begaben sich in die Obhut der sowjetischen Streitkräfte. Damit war die Einheitspartei faktisch von der Machtausübung suspendiert worden und harrte der Dinge, die da kommen würden. Rudolf Herrnstadt war sich der Absurdität der Situation durchaus bewußt, ein Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges, im "eigenen" Land hilflos dem Verlauf der Ereignisse folgen zu müssen. Dabei widerlegte die aktuelle Situation nur den von der Propaganda gepflegten Anschein, die SED-Führer seien, wenn auch mit sowjetischer Unterstützung, souveräne Akteure an der Spitze ihres Staates. Konfrontiert mit dessen fundamentaler Bedrohung, entschleierten sich in diesen Stunden die tatsächlichen Zuordnungen von Machthaben und Machtausüben in der DDR. Beides lag letztlich allein in der Hand Moskaus. Und Moskau entschied sich für gewaltsames Durchgreifen, wobei es sich nicht allein auf das eigene Personal in Ost-Berlin verließ. Die oberste Befehlsgewalt zur Exekutierung des von Moskau ab Mittag des 17. Juni angeordneten Ausnahmezustands lag bei dem als Vertreter des ZK der KPdSU nach Berlin entsandten Generalstabschef der Sowjetarmee Marschall Wassili Sokolowski, der mit Semjonow schon beim Aufbau der SMAD zusammengearbeitet hatte und nach Schukows Abberufung selbst Chef der sowjetischen Besatzungstruppen und der SMAD gewesen war.2 Mit dem Zugriff auf die militärische Option trat Semjonow, der sich, gemessen an Sokolowski als profiliertem Heerführer des Zweiten Weltkrieges, als „Zivilistenwürstchen"3 empfand, kurzzeitig in die zweite Reihe.4 Die Anleitung des SED-Politbüros zog er nach dem 17. Juni stärker an sich, nicht ohne vordergründig zu betonen, daß den Deutschen alle Entscheidungen freigestellt seien.5 Der „Neue Kurs" enthielt ohnehin keine Absicht, diese Machtverhältnisse grundlegend zu ändern. Semjonows Rückkehr nach Ost-Berlin hatte im SED-Politbüro im Juni zwar Anlaß zu der Vermutung gegeben, er solle jetzt das „ausbaden", was er selbst verursacht habe.6 Doch diese Einschätzung war zu sehr allein auf das Verhältnis zwischen Karlshorst und Pankow bezogen. Semjonows Machtfülle als Hoher Kommissar umfaßte nicht weniger

2 3

5 6

In seinen Memoiren erwähnt er dabei auch Wilhelm Pieck, der sich jedoch zur damaligen Zeit in der Sowjetunion zu einem Kuraufenthalt aufhielt. Siehe Semjonow, a.a.O., S. 295. A.a.O., S. 207. A.a.O., S. 210. Zusammen mit Marschall Sokolowski und Judin stand er der Sonderkommission vor, die in Berlin ..während des Volksaufstandes (...) das militärische und politische Krisenmanagment leitete, (...)". Zit. nach: Foitzik, Jan: „Hart und konsequent ist der neue politische Kurs zu realisieren" Ein Dokument zur Politik der Sowjetunion gegenüber der DDR nach Berijas Verhaftung im Juni 1953, In: Deutschland Archiv 1/2000, S. 33. Herrnstadt, a.a.O., S. 87. A.a.O., S. 60. Herrnstadt bezieht sich auf eine entsprechende Äußerung Oelßners. Dieser hätte erklärt, Ulbricht, Grotewohl und er selbst würden Semjonows Rückkehr so einschätzen.

77

als die „Vertretung der Interessen der Sowjetunion in Deutschland".1 Dieser Aufgabe sollten in den nächsten Tagen und Wochen alle Ereignisse und Akteure untergeordnet sein. Semjonow spielte seine Position gegenüber dem unfreiwillig in Karlshorst weilenden deutschen Politbüro voll aus. Zwischen den aus der Republik eintreffenden Hiobsbotschaften bemerkte er zu einer RIAS-Meldung, nach der es eine Regierung in der DDR schon nicht mehr gebe, ironisch: „Na, fast stimmt es doch."2 Als ad hocMaßnahme wurde in Karlshorst zunächst verfügt, einen Teil der anwesenden PolitbüroMitglieder in Zentren der aufrührerischen Republik zu entsenden.3 Der Rest blieb auch am folgenden Tag in Karlshorst; eine Maßnahme, mit der Semjonow weniger beabsichtigte, die SED-Führer vor dem Volkszorn als sich selbst vor der Verantwortung gegenüber Moskau zu schützen, sollte diesen etwas zustoßen.4 Semjonow initiierte am 18. Juni auch die von Herrnstadt zu erarbeitende Sprachregelung für den Grundton der späteren Kommentierungen des Aufstandes als „faschistisches Abenteuer".5 Die so frühzeitig lancierte Plakatierung des Aufstandes als vom Westen gesteuert paßte nur zu gut in die Vorstellungswelt vieler SED-Funktionäre. Ursachen in den eigenen Fehlleistungen zu suchen, hätte nahegelegt, grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Partei und Volk und Partei und Staat zu stellen. Der Schluß, daß die Partei nahezu in ihrer Gesamtheit versagt hatte, lag angesichts des Massenprotestes auf der Hand. In Semjonows aktuellem fernmündlichen Bericht an Moskau6 von der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni kam eine Staatspartei SED nicht vor. Lediglich ihre Parteigebäude als von den Demonstranten eingenommene Bastionen wurden erwähnt. Für Stunden hatte die SED aufgehört zu existieren. Solcherart Lageeinschätzung über die Folgen des 17. Juni für die sowjetische Politik in Deutschland korrespondiert mit dem Bericht, den P. Maumow, Berichterstatter der „Prawda" in Berlin, am 22.6.1953 an seinen Chefredakteur D. P. Schepilow nach Moskau schickte. In ihm geht der Korrespondent sowohl auf die deutlich artikulierte Ablehnung der Besatzungsmacht durch die Demonstranten als auch schonungslos auf das Versagen der SED ein: „Man muß zugeben, daß in der Volksmasse ein Haß gegen die sowjetischen Menschen erhalten blieb und jetzt wieder aufflammt. Im Laufe der Demonstrationen zeigte sich dieser Haß ganz deutlich (...). Die SED zeigte völlige Unkenntnis der Massenstimmungen, Fehlen eines Zusammenhangs mit den Klassen, Unfähigkeit, mit dem Volk zu sprechen. Das Verhalten der Parteimitglieder während der Unruhen war nicht anders als mit Feigheit zu bezeichnen."7 -

1

2

3 4

5

6

Über

-

die Auflösung der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland, Beschluß des Ministerrates der UdSSR 29. Mai 1953, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion Bandl, Plauen 1957, S. 319f Herrnstadt, a.a.O.. S. 83. Ebd. Herrnstadt, a.a.O., S. 85. Ebd. Geheimes Funktelegramm nach Moskau 17.6.1953, 14.00 Uhr, in: Beier, a.a.O., S. 109. Geheimbericht an Chruschtschow in Moskau, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein. a.a.O.. S. 168.

78

Möglicherweise hat der Korrespondentenbericht den Beschluß des ZK der KPdSU unmittelbar nach dem 17. Juni beeinflußt. Der Eindruck, den die Schilderungen des chaotischen Zustands der SED hinterlassen hatten, ist dem Beschluß deutlich anzumerken: „Bei uns ist der Eindruck entstanden, daß bei der Führung des ZK der SED immer noch Verwirrung im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen besteht. Die praktische Arbeit zur Wiederherstellung der Lage kommt nur äußerst langsam in Gang. Die Arbeit des Staatsapparates und der Parteiorgane ist in unzulässiger Weise geschwächt. (...) Wir sind der Auffassung, daß Sie unverzüglich mit jeglicher Verwirrung in der Führung Schluß machen und entschlossen die Maßnahmen zur Festigung des Einflusses der Partei auf die Massen und zur Gewinnung des Vertrauens der Massen zur Staatsmacht verwirklichen müssen."1 Neben der Kritik aus Moskau bekam die SED aber auch die Zusicherung von materieller Hilfe, um die Versorgung der Bevölkerung schnell zu verbessern. Die Stabilisierung der DDR als eigenständigen deutschen Teilstaat und damit zugleich die Garantie für die Macht der SED seitens der Sowjetunion begann. 7.6

Der Ausnahmezustand und die deutsche

Frage

In der Vier-Sektoren-Stadt Berlin, mit ihren westlichen Rundfunkanstalten, besaß die SED nicht das Informationsmonopol. So konnte eine Delegation der Bauarbeiter am 16. Juni zum RIAS fahren und ihre zentralen Forderungen von dem von den

Amerikanern betriebenen Sender ausstrahlen lassen: „Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnzahlung, sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten; freie und geheime Wahlen; keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher."2 Die in der Luft liegende Forderung nach einem Generalstreik durfte hingegen über den RIAS nicht verbreitet werden. Das erfuhr auch der West-Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski, der eine Rundfunkrede halten wollte, um zur landesweiten Arbeitsniederlegung aufzurufen. Der amerikanische Direktor des RIAS, Gordon Ewing, erinnnerte sich 1982, wie sein Sender in diesen kritischen Stunden agierte: „In den frühen Morgenstunden des 17. brachten wir wieder und wieder und nocheinmal als Nachrichtenbericht die Angelegenheit vom Strausberger Platz. Wir riefen nicht dazu auf, wir berichteten bloß, daß auf dem Strausberger Platz ein Treffen vorbereitet wurde. Die Leute wußten sofort, was gemeint war, und früh am Morgen begannen sie wie wir herausfanden dorthin zu strömen."3 Die sowjetische Truppenkonzentration in Ost-Berlin provozierte bei den WestAlliierten in Berlin vor allein eine Frage: Wie sicher ist West-Berlin? Der britische Stadtkommandat gab dazu am 18. Juni eine Lagebeurteilung ab, in der er einen -

-

Hoffmann/Schmidt/Skyba, Die DDR vor dem Mauerbau, a.a.O., S. Karl-Wilhelm Fricke, Der Arbeiteraufstand, in: 17. Juni 1953, Der 17. Juni im RIAS, in: 17. Juni 1953, a.a.O., S. 214.

174. a.a.O., S. 13.

79

erklärte.1 Einmarsch in West-Berlin für unwahrscheinlich Sicherheitsrelevante Erwägungen auf der Westseite waren keineswegs übertrieben. Wenige Tage vor dem 16. Juni war es bereits in der Tschechoslowakei, ausgelöst durch eine Währungsreform, in Pilsen, zu Demonstrationen gekommen. Dabei waren die Arbeiter der Lenin-Werke früher Skoda in die Innenstadt gezogen, „demolierten die Einrichtung des Rathauses und benutzten sowjetische Fahnen als Fußabtreter. Es kam zu Polizeieinsatz und Arbeiterblut wurde vergossen. Die auch hier überrumpelten Machthaber wollten die Demonstration vorerst einmal totschweigen; dann sprachen sie von einem konterrevolutionärem Putsch', bis sie schließlich eingestanden, die Währungsreform sei anfangs ,auf offenen Widerstand und Mißbilligung gestoßen, aber das Volk habe schließlich begriffen'."2 Die Streiks und Demonstrationen im Juni 1953 in der DDR waren die erste große Revolte im sowjetischen Imperium, die maßgebend von der vorgeblich „herrschenden Klasse" ausging. Der Schock, den der 17. Juni auslöste, bestand vor allem darin, daß es nur wenige Monate nach Stalins Tod zu solchen Massendemonstrationen kam, die zu Lebzeiten des Generalissimus undenkbar gewesen wären „und ebenso undenkbar für die Statthalter von Stalins Gnaden".3 Auf die Installierung des „Neuen Kurses" in Ungarn hatte der 17. Juni einen direkten Einfluß. Aus den Informationen über die Streiks in der DDR schloß Parteichef Rákosi,

sowjetischen

-

-

-

„l)Die Kommandanten haben heute die militärische Lage in Berlin geprüft und beschlossen, daß jeder Kommandant zwar in seinem Sektor die normalen Vorkehrungen zu treffen hätte, im gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch kein Anlaß für Notstandsmaßnahmen gegeben sei, wodurch ein öffentlicher Alarmzustand ausgelöst und der Eindruck von Panik erweckt werden könnte. 2)Ich habe natürlich die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß die Unruhen als Vorwand für einen sowjetischen Einmarsch nach West-Berlin benutzt werden könnten. Anhand des zur Zeit verfügbaren Beweismaterials halte ich dies jedoch für höchst unwahrscheinlich. Meine Gründe hierfür sind:

a)Es gibt keine Zeichen militärischer Vorbereitungen für solch einen Einmarsch. b)Die bis jetzt von den Sowjets ergriffenen militärischen Maßnahmen entsprechen dem Muster der in anderen Teilen der Zone getroffenen Maßnahmen(...)und passen zu dem Wunsch, beeindruckende Stärke

vermeiden^..).

zu

demonstrieren, in der Hoffnung, weiteres Blutvergießen

zu

c)Das russische Militär (und tatsächlich auch die Volkspolizei) hat durchweg mit deutlicher

Zurückhaltung und Mäßigung agiert und folgte damit eindeutig der Anweisung zu einer möglichst geringen Gewaltanwendung, vermutlich in der Hoffnung, soviel wie möglich von der am 9. Juni eingeführten neuen SED-Politik zu retten. d)Es kam zu fast keinen Störungen der Verbindungen Berlins mit dem Westen. e)Die Sowjetregierung weiß genau, daß ein Angriff auf West-Berlin den Krieg mit dem Westen bedeuten würde."

Bewertung der militärischen Lage, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O, S. 127. Telegramm des britischen Stadtkommandanten in Berlin vom 18.6.1953, 23.35 Uhr. Pavel Tigrid, Arbeiter gegen den Arbeiterstaat. Widerstand in Osteuropa, Köln 1983, S. 12. Pavel Tigrid. a.a.O., S. 10.

80

Ungarn „unverzüglich" vollzogen werden müsse, Ereignissen vorzubeugen.1

daß der Kurswechsel in

um

ähnlichen

Seit dem 17. Juni 1953 wird unter den Historikern gestritten, wie die damaligen zu bezeichnen sind. War es ein Streik der Arbeiter, eine gescheiterte Revolution oder eine Volkserhebung? Pavel Tigrid hat in seiner vergleichenden Untersuchung der Streiks in den sozialistischen Staaten auf ein wesentliches Spezifikum hingewiesen, das bereits am 17. Juni zu beobachten war: „Über Ausmaß und Dauer der Revolte entscheidet vor allem das Vorgehen, zu dem sich die mit einer derartigen Situation konfrontierten Machthaber entscheiden. Versuche, die Demonstranten mit Gewalt zu zerstreuen, vervielfältigen nur deren Wut und Kampfbereitschaft. Gewalt kann auch nur zeitlich begrenzte Erfolge bringen, insbesondere wenn die Ursachen, die die Revolte hervorgerufen haben, nicht beseitigt werden. Eine außerordentliche und besonders bedrohliche Situation entsteht, wenn zur Unterdrückung der Revolte Kräfte von außerhalb herangeführt werden, in den gegebenen Fällen Verbände der Sowjetunion und ihrer Verbündeten (Es genügt bereits, mit einer derartigen Intervention zu drohen.). In diesem Moment wird aus der Arbeiterrevolte oder auch nur dem Versuch einer Reform des Systems, der nicht funktioniert, eine Angelegenheit des gesamten Volkes. Dann kommt es zu einer Identifizierung der Interessen des zumindest teilweise Volkes mit der gesamten ursprünglichen Unzufriedenheit der Arbeiter und der eventuell angestrebten politisch-ökonomischen Reform. Die Intervention von außen hat einen mobilisierenden Einfluß, vereint untereinander entfremdete oder gleichgültige Schichten der Bevölkerung, festigt die nationale Identität und fördert den Nationalismus."2 Diese Sätze reflektieren bereits die Erfahrungen der Ereignisse, die nach dem 17. Juni 1953 noch folgen sollten: Polen und Ungarn 1956 und die tschechoslowakische Tragödie von 1968. Wichtig an dieser analytischen Prozeßbeobachtung bleibt, daß die Klassifizierungsdiskussion über den 17. Juni, ob es sich nun um einen Streik der Arbeiter, eine Volkserhebung oder eine gescheiterte Revolution gehandelt hat, aus der begrifflichen Typologie hinausführen zu einem prozeßhaften Verständnis des Ereignisses, das seinen Verlauf ernst nimmt und Aktion und Reaktion in ein Verhältnis zueinander setzt. Vergegenwärtigt man sich den Ablauf des 16. und 17. Juni, so ist der Streik eine Reaktion auf die Gesprächsverweigerung, nachdem die Bauarbeiter den Ministerpräsidenten aufgefordert hatten, die Lohnsenkung zurückzunehmen. Erst unter dem "Druck der Straße" lenkt das SED-Politbüro ein, aber zu diesem Zeitpunkt geht es bereits nicht mehr um einen isolierten Arbeitskonflikt mit den Bauarbeitern. Die republikweit vorhandenen Unzufriedenen in den Betrieben reagieren spontan auf die gelungene Aktion in Berlin, die Information darüber mobilisiert und die Normenfrage bekommt eine andere Dimension. Es geht um Demokratie und Diktatur und um nationale Einheit. Auf dieser Ebene der Forderungen greift dann die sowjetische Besatzungsmacht ein und stellt klar, daß über das Schicksal der SED nicht allein die Deutschen entscheiden, die zu diesem Zeitpunkt immer noch unter Besatzungsrecht leben.

Ereignisse richtig

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-

Rainer, Ungarn 1953-1956. Die Krise und die Versuche ihrer Bewältigung; Kapitel 3. Der Beschluß der Partei vom Juni 1953 und Imre Nagys Programmrede, im vorliegenden Band. Pavel Tigrid, a.a.O., S. 47f. János

81 Eine Kurskorrektur war vonnöten; um einen Zielwechsel ging es jedoch nicht. Der den die Sowjetunion für den Einsatz ihrer Truppen am 17. Juni zu zahlen hatte, war hoch. In der Bundesrepublik wurde der Konsens zwischen der westdeutschen Bevölkerung und den Westalliierten über die politischen Grundweichenstellungen sowie die Integration des Weststaates in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten des Westens verfestigt. Demgegenüber konnte sich die Sowjetunion als Okkupationsmacht allein kraft ihrer militärischen Stärke in ihrem deutschen Teilstaat behaupten. Diese Konsequenz zog der britische Stadtkommandant von Berlin in seinem Telegramm an das britische Außenministerium bereits am 19. Juni: „Hätten die Russen nicht entscheidend eingegriffen, besteht für mich kaum ein Zweifel, daß die DDR inzwischen bereits gestürzt wäre. Sie sind jedoch eingeschritten und zwar in einem Umfang, der sich für sie bei ihren neuen Plänen für Ostdeutschland sicherlich als ernstes Hindernis erweisen wird."1 Im geteilten Deutschland waren sowohl die Bundesregierung als auch die Westmächte „gegenüber dem Volksaufstand in der DDR vorsichtig"2 und zurückhaltend. Aber die Befürchtung von Grotewohl hinsichtlich der Auswirkung der Flüchtlinge aus der DDR auf das Bewußtsein der Westdeutschen sollte sich nach der Niederschlagung des 17. Juni bewahrheiten. Die sowjetischen Panzer am Potsdamer Platz verfestigten die Einsicht in die Notwendigkeit der Westbindung, schwächten die Kräfte in der Bundesrepublik, die gegen eine Wiederbewaffnung agierten und bereiteten den Wahlsieg Adenauers in der Bundestagswahl 1953 vor. Zugleich führen uns aber die zitierten Lageanalysen des britischen Stadtkommandanten von Berlin die machtpolitische Realität im gespaltenen Europa vor Augen. Die Überlegungen konzentrierten sich vornehmlich auf eine Frage: Haben die Sowjets über die Machtsicherung in ihrem Sektor von Berlin hinaus aggressive Absichten gegenüber West-Berlin? Die Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung" im „demokratischen Sektor von Berlin" durch die sowjetische Besatzungsmacht nahmen die Westmächte hin und die Deutschen mußten es grimmig und hilflos ertragen. So wurde der 17. Juni einer der Konflikte, in denen für die Deutschen in ihrem geteilten Land die Realität der bipolaren Weltordnung spürbar wurde. In die Zuversicht bezüglich einer deutschen Einheit, an der der Regierende Bürgermeister von West-Berlin unbeirrt festhielt, mischte sich bereits am 18. Juni seine Sorge über die Vertiefung der Teilung: „Mit Standrechten, mit Bajonetten, mit Panzern kann auf die Dauer ein Volk doch nicht niedergehalten werden und es würde furchtbar sein, wenn der Graben, der sowieso schon tief genug ist, nun noch tiefer werden würde."3 Drei Tage später behandelte Grotewohl das Schicksal der deutschen Einheit aus der Sicht der SED. Die offenkundig gewordene Kluft zwischen Partei und Volk erklärte er den Parteikadern mit einem volksfreundlichen Übereifer, dem sich die SED mit ihren

politische Preis,

Britische Kurzanalyse: Spontaner Ausbruch, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 130. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, a.a.O., S. 190. Ernst Reuters Rundfunkansprache, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein. a.a.O., S. 123.

82 Beschlüssen auf der II. Parteikonferenz hingegeben habe.1 Die Konsequenz der Kluft zwischen SED und Volk gefährde grundsätzlich die Politik der Partei „hinsichtlich der Einheit Deutschlands und hinsichtlich unserer gesamten Friedenspolitik. Wenn diese Kluft dazu führte, daß die Fäden zwischen den Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik und dem Westen Deutschlands gelockert würden und immer mehr zerrissen, dann haben wir mit einer solchen Kluft zwangsläufig die Verständigung in Deutschland gefährdet und damit auch die Einheit Deutschlands als das zentrale Problem unserer gesamten Politik."2 Die von der Sowjetunion gewählte Form, die Auseinandersetzung zwischen den Mächten um Deutschland als primär innerdeutschen Konflikt um die Einheit und ihre gesellschaftlichen und politischen Implikationen erscheinen zu lassen, zwang den DDRMinisterpräsidenten zu einer solchen Darstellung, die aber zugleich eine Schuldzuweisung an die bundesrepublikanische Politik ermöglichte. Eine der Ausdrucksformen dieser Schuldzuweisung war die SED-Legende vom „Tag X", als dem vom Westen inszenierten „Putsch". Der unterschiedliche politische Status der deutschen Regierungen 1953 drückte sich aus im Umgang mit den alliierten Siegermächten. Ernst Reuter verlangte mit Verweis auf den 17. Juni westliche Hilfe: „Denn wir allein können ja das Problem nicht lösen, wenn wir allein wären, dann würde das Problem überhaupt nicht existieren. Wir würden beisammen sein, und wir würden keine Schwierigkeiten haben.(...) Denn was wir hier in Berlin und was wir in der Ostzone erleben, ist eine Mahnung, ist ein Fanal für die ganze freie Welt, die nun endlich begreifen muß, daß sie aus ihrem Zaudern, aus ihrem Nichthandeln, aus ihrem Nichtzusammenkommen, aus ihren Nichtübereinstimmungen heraus muß und daß sie politisch aktiv werden muß."3 Reuter wollte eine deutschlandpolitische Initiative des Westens und bot in Berlin freie Wahlen für die gesamte Stadt an. Diese Forderung war nicht singular. Bundeskanzler Adenauer legte bei der Trauerfeier für die Toten des Aufstandes vor dem Schöneberger Rathaus einen „Schwur für das ganze deutsche Volk" ab, indem er die gesamtdeutsche Verantwortung der Bundesrepublik unterstrich: „Das ganze deutsche Volk hinter dem Eisernen Vorhang ruft uns zu, seiner nicht zu vergessen, und wir schwören ihm in dieser feierlichen Stunde: Wir werden seiner nicht vergessen. Wir werden nicht ruhen und wir werden nicht rasten diesen Schwur lege ich ab für das gesamte deutsche Volk bis -

-

„Zur Bewältigung der sich steigernden Schwierigkeiten griffen wir zu politischen und juristischen Zwangsmaßnahmen, die die sich bildende Kluft zwischen Partei, Regierung und Volk nur noch vergrößerte. Aber wir haben diese Maßnahmen und diese falsche Politik nicht als Feinde, sondern als Freunde des Volkes durchgeführt^...) Genossen! Das hat dazu geführt, daß eine immer größere Kluft wie ich schon sagte zwischen der Partei, der Regierung und dem Volk entstand." Grotewohls Erklärung über die unmittelbaren Aufgaben der SED, in: Gerhard Beier, a.a.O., -

2

3

S. 146. Ebd. Ernst Reuter,

-

a.a.O., S. 125.

83

auch sie wieder Freiheit haben, bis ganz Deutschland wiedervereint ist in Frieden und

Freiheit."1

Zugleich drang auch die Bundesregierung auf deutschlandpolitische Initiativen des „Die Sowjetunion schien in der Tat angeschlagen und isoliert. Hatte also nicht doch der Kanzler mit seiner These recht, ein starker und einiger Westen könne auch die Wiedervereinigung herbeiführen? Adenauer vertrat jetzt konsequent die Auffassung, daß nur klug verhandelt werden müsse, wobei das legitime Sicherheitsverlangen der Sowjetunion nicht außer acht bleiben dürfe. Er teilte den Westmächten mit, daß er in dem vom britischen Premier Winston Churchill ins Gespräch gebrachten Plan eines gesamteuropäischen Sicherheitsvertrages nach dem Muster des Locarno-Vertrages eine nützliche Idee sehe. Ausgangspunkt eines europäischen Sicherheitssystems sollte allerdings die EVG sein, die ja schließlich auch ein wiedervereinigtes Deutschland Westens.

kontrollieren vermöge. Im Grunde lief diese, mit allen Anzeichen der Verständigungsbereitschaft präsentierte, Anregung natürlich doch auf eine Kapitulation der Sowjetunion in der deutschen Frage hinaus. Aber eben das wollte auch eine Bevölkerungsmehrheit, die vom dumpfen Groll über die Niederschlagung des Aufstandes in der DDR erfüllt war und die darauffolgende Vergeltungsjustiz in grimmiger Ohnmacht verfolgte."2 Die Reaktion der Westmächte auf die durch den 17. Juni ausgelöste deutschlandpolitische Aktivität der Bundesregierung beförderte die von Adenauer angestrebte, irreversible Westbindung der Bundesrepublik.3 Ein Ziel hatte der Bundeskanzler, gestützt auf die Volkserhebung in der DDR, erreicht: Es konnte keine deutschlandpolitischen Initiativen der Westalliierten mehr geben, ohne eine konsultative Einbindung der Bundesregierung. Auch innenpolitisch wurde ein Zeichen gesetzt: Gegen die Stimmen der KPD beschloß der Deutsche Bundestag am 4. August 1953 das "Gesetz über den Tag der deutschen Einheit". Das Parlament bekräftigte in der Präambel dieses Gesetzes nachdrücklich den Anspruch der Bundesrepublik, sich als demokratischer Kernstaat nicht mit der Spaltung des Landes abzufinden: „Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der sowjetischen Besatzungszone und in Ost-Berlin verläßlich

zu

Zitiert nach Hans-Peter Schwarz, Adenauer der Staatsmann 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 84. In der Sache wiederholte der Bundeskanzler damit seine Erklärung vor dem Deutschen Bundestag zum 17. Juni. Vgl. 40 Jahre Außenpolitik, a.a.O., S. 60. Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer 1949-1957, a.a.O., S. 190f. .„Deutsche Einheit ist jetzt das große Stichwort', beschreibt der Hohe Kommissar James Conant auf einer Konferenz amerikanischer Kommandeure am 29. Juni 1953 die allgemeinen Erwartungen. In der Welle nationaler Gefühle, die übers Land gehen, strömt vieles zusammen: Zorn auf den Polizeiterror, der nun erneut in der Ostzone wütet, ohnmächtige Frustration, ein wenig Angst vor sowjetischer Brutalität, aber auch Hoffnung, daß nun doch manches in Fluß kommen könnte.(...) Ich fürchte, wir werden in West-Deutschland bald eine Menge unrealistischer Diskussionen über die deutsche Wiedervereinigung zu hören bekommen', meint Conant bei der bereits erwähnten internen Lagebeurteilung. ,Man ist eben in einem Wahljahr. Eisenhower und Dulles, selbst Churchill, das Foreign Office sehen das genauso. Man muß Adenauer helfen, der jetzt den deutschen Tiger zu reiten hat einerseits die dauerhafte Einbindung Deutschlands in den Westen erstreben, andererseits eine risikolose Wiedervereinigung!'" Zit. nach: Hans-Peter Schwarz, Adenauer, a.a.O., S. 84f. -

84 gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden."1 Der 17. Juni hatte somit das Gewicht der beiden deutschen Staaten innerhalb des geteilten Landes und auch international zu ungunsten der DDR verschoben und zugleich die Westbindung der Bundesrepublik befördert, die nun noch vor der Erlangung ihrer formalen Souveränität zum Partner der USA im westlichen Bündnis aufstieg. Vor diesem gründlich veränderten deutschlandpolitischen Hintergrund mußte nun die SED dazu übergehen, die Lage in ihrem Staat zu stabilisieren und ihre Führungskrise zu lösen. In der gesamtdeutschen Sicht war der 17. Juni nicht allein ein „Lernschock"2 für die SED, sondern er betraf auch die bundesdeutsche Politik, sie konnte gestützt auf eigene Macht die Spaltung nicht überwinden. Mit der Beschreibung des „Lernschock" argumentiert Weber DDR-immanent. Seine Qualifizierung des 17. Juni als „Versuch einer gewaltsamen Veränderung"3 wird dem durchgängig friedlichen Charakter der Streiks und Demonstrationen nicht gerecht, denn die Demonstranten beschränkten sich in der Regel auf "Gewalt gegen Sachen". Seine Bewertung ist ein Beispiel für die ambivalente Beurteilung des 17. Juni vor dem Fall der Mauer 1989. Damals war dieser Tag einer der vergeblichen demokratischen Aufbrüche der Deutschen, die an den internationalen Kräftekonstellationen tragisch scheiterten. Seine nationale Dimension störte das geregelte Nebeneinander beider deutscher Staaten und erinnerte an den durch die Mauer gebändigten Systemkonflikt zwischen Demokratie und Diktatur. Nach dem 17. Juni war klar: Eine Überwindung der Teilung und die Beseitigung des SED-Regimes gegen den Willen der Sowjetunion war nicht möglich. Aus dieser Erkenntnis zogen nicht allein Adenauer, sondern auch Ernst Reuter und andere Führer -

-

Zitiert nach: Rainer Eppelmann, 40 Jahre 17. Juni 1953, in: Materialien der Enquetekommission, Band 11/ 1, a.a.O., S. 749. Vgl. auch Herbert Wehner, Verzweiflung, Kühnheit, Hoffnung, Rede vor dem Deutschen Bundestag nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland. 1. Juli 1953, in: Herbert Wehner, Wandel und Bewährung. Ausgewählte Reden und Schriften 19301980, 5. erweiterte Auflage, in: Gerhard Jahn (Hrsg.): mit einer Einleitung von Günter Gaus, Frankfurt/Main-Berlin 1981, S. 98ff. „Der Aufstand und seine Niederlage führten zu einem Lernschock. Die SED bemühte sich nun mittelfristig um ein langsameres Transformationstempo, und die Bevölkerung mußte die bittere Erfahrung machen, daß der Versuch einer gewaltsamen Veränderung des politischen Systems keinerlei Aussicht auf Erfolg hat, solange die UdSSR das bestehende Regime in der DDR garantiert." Hermann Weber, Die DDR 1945-1986, München 1988, S. 39. Weber erlebte den 17. Juni auch ganz persönlich als „Lernschock", er brach danach mit der KPD. „Die Arbeiter hatten gezeigt, daß sie ,auf der anderen Seite der Barrikade' und nicht bei der SED standen. Mein Platz war nicht bei den Bürokraten, sondern bei den Arbeitern.", in: Löw. Eisenmann, Stoll (Hrsg.): Betrogene Hoffnung, Aus Selbstzeugnissen ehemaliger Kommunisten. Krefeld 1978, S. 154. In seiner vorgelegten Neuausgabe der Geschichte der DDR wird dieser Gesichtspunkt des Legitimationsverlustes von ihm zur wichtigsten Auswirkung des 17. Juni erklärt: „Die Behauptung vom .Arbeiterstaat' und von der Arbeiterpartei' SED war durch den Aufstand der Arbeiter als Legende enthüllt worden, eine wichtige Legitimation der Herrschaft war damit erschüttert." Zit. nach: Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1999, S. 167.

85

der Sozialdemokratie den Schluß, der demokratische Kernstaat Bundesrepublik müsse seine Westbindungen verstärken und zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt in der Lage zu sein, die deutsche Frage in Frieden und Freiheit zu lösen.

8. Die SED nach dem

„Tag X"

Losungen in den Zentren der Volksbewegung am 17. Juni hieß: politischen Gefangenen!" In Städten wie Bitterfeld, Görlitz, Halle/Saale, Jena, Magdeburg und Merseburg waren politische Inhaftierte befreit worden. Mit der Stabilisierung der Lage füllten sich die Gefängnisse wieder. Es begann seitens der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED mit Todesurteilen und umfangreichen Verhaftungen. Sowjetische Militärtribunale verhängten zwischen dem Eine der zentralen „Freiheit für die

17. und 22. Juni 18 Todesurteile, die sofort vollstreckt wurden.1 Bis zum 19. Juni wurden allein in Berlin durch die Volkspolizei und das MfS „insgesamt 1.744 Personen verhaftet. Darunter befanden sich zwei komplette Streikleitungen und fünf weitere, die die Funktion einer solchen ausübten'."2 Am gleichen Tag ordnete Ulbricht an, daß den Streikenden kein Lohn für diese fehlende Arbeitszeit ausgezahlt wird. Daraufhin erließ der Minister für Arbeit eine entsprechende Anordnung.3 Die Repression war aber nur eine Seite der Stabilisierungsbemühungen seitens der SED. Mit der 14. Tagung des ZK glaubte die SED-Führung, die Initiative zurückgewonnen zu haben. Das ZK sanktionierte nachträglich die Arbeit des Politbüros und beschloß am 21. Juni im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" eine Reihe von Maßnahmen, die nunmehr die Arbeiterschaft bedachten. An erster Stelle stand die Rücknahme der Normenerhöhung. Das ZK legte fest, daß alle Lohnabrechnungen ab sofort auf der Basis der Normen

Karl Wilhelm Fricke, Zur Geschichte und historischen Bedeutung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, in: Heidi Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999, S. 62. So starb in Berlin Willy Göttling; ihm wurde als West-Berliner vorgeworfen, „im Auftrag eines ausländischen Aufklärungsdienstes" die Unruhen mitorganisiert zu haben. In Jena trifft es Alfred Diener; in Magdeburg sterben Alfred Dartsch und Herbert Stauch. Über Letzteren heißt es in der

Vgl.

Urteilsbegründung: „Als Mitglied der vierköpfigen Delegation, gewählt von der Menschenmasse, drang er ins Polizeipräsidium ein, wo er die Gewährung der politischen und wirtschaftlichen Freiheiten für die Rebellen, die Freilassung der Staatsverbrecher sowie die Regierungsablösung forderte." In Apolda wird der 17jährige Axel Schläger füsiliert, in Bitterfeld ist es Hermann Stieler. In Gotha wird der Volkspolizei-Unterleutnant Günter Schwarzer erschossen. In Leipzig sind es Peter Haider (17 Jahre), Walter Schädlich und Heinz Sonntag. Zu den Toten in Leipzig zählt auch Eberhard von Cancrin. In Stralsund sterben die Angehörigen der Seepolizei Ernst Markgraff und Hans Wojkowsky. Ferner sollen drei Volkspolizisten in Berlin füsiliert worden sein. „Ihre Namen blieben unbekannt." In Görlitz wurden zunächst Herbert Tschirner und Stefan Weingärtner zum Tode verurteilt, aber ihre Urteile wurden in Freiheitsstrafen von 20 bzw. 25 Jahren umgewandelt. Siehe: Fricke, a.a.O., S. 60ff. Armin Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 107. Vgl. Gerhard Beier, Die Transmission dreht sich, a.a.O., S. 21-24.

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erfolgen sollten, die am 1. April 1953 „Gültigkeit hatten".1 Aus der Führungsperspektive war die Einberufung der 14. ZK-Tagung die Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit der Partei. Für Rudolf Herrnstadt sah darin einen Akt der Emanzipation des deutschen Politbüros von der Bevormundung durch Semjonow, insbesondere nach den erfahrenen Demütigungen der letzten Tage. Die politbürointemen Fehlerdiskussionen und Führungsauseinandersetzungen waren auf der Tagung nicht thematisiert worden, zumal das Führungsgremium nach außen seine Geschlossenheit wahren konnte. Der enttäuschten Bevölkerung zeigte sich in der SEDFührung kein Hoffnungsträger und für eine demokratische, sozialistische DDR gab es angesichts der deutschen Spaltung auch keinen Raum. Allerdings hätte ein deutscher Imre Nagy in der SED mit der Aufnahme der Forderungen der Demonstranten nach

Einheit und Freiheit nur das Ende der DDR befördern können. Da mit der Erhebung großer Volksteile nicht nur die Existenz der SED, sondern die des gesamten Staates zur Disposition gestellt worden war, mußten personelle und organisatorische Fragen vor dem nackten Überlebenskampf der Partei in den Hintergrund treten. Auch ließ sich die Schuldfrage jetzt noch weniger allein auf Walter Ulbricht und dessen Anhänger abwälzen. Der Aufstand induzierte eine Solidarisierungstendenz2, die bestehende, auf die Spitze getriebene und zu einer Entscheidung drängende Differenzen in der SED-Führung urplötzlich nivellierte. Waren doch sowohl Walter Ulbricht, seine Anhänger wie auch seine Kritiker von den Arbeitern unterschiedslos als Repräsentanten des Regimes in die Lage der Bedrängten versetzt worden. Ein Eingestehen dieses Versagens und der eigenen absoluten Abhängigkeit von der sowjetischen Besatzungsmacht hätte das Eingeständnis des eigenen politischen Bankrotts erfordert, von dem nach dem 17. Juni z.B. Herbert Wehner im Bundestag sprach.3 In dem vom SED-ZK festgelegten Bild über die Gründe der Volkserhebung wurden Ursache und Wirkung bewußt verschoben. Gerade weil das Politbüro und die Regierung mit den Beschlüssen zum „Neuen Kurs" die Korrektur der eigenen Fehler eingeleitet hätten, so die offizielle Verkündung, um den Lebensstandard der Bevölkerung in der DDR schnell zu heben, ^entschlossen sich die westlichen Agenturen zum Tage X, um die eingeleitete Wendung zur Verbesserung der Lebenslage in der Deutschen Demokratischen Republik zu durchkreuzen".4 Diese Konstruktion ersparte der Parteinomenklatura jede strukturelle Debatte über das politische System in der DDR und vor allem über die marxistisch-leninistische Parteikonzeption. Dabei mangelte es der SED-Führung nicht an Informationen über die Vorgänge. Über den Verlauf, die Verbreitung und die Niederschlagung des Aufstandes war sie detailliert und umfassend in Kenntnis gesetzt. Dabei konnte sie sich auf ein, während des JuniAufstandes und seiner Niederschlagung, funktionierendes System der täglichen Information durch die Abteilung "Leitende Organe der Partei und der Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei, Dokumente IV, a.a.O., S. 443. Rudolf Herrnstadt spricht davon, daß zwischen ihm und Walter Ulbricht „eine selbstverständliche und restlose Übereinstimmung bestand" wenn „es gegen den Feind ging". Zit. nach: Herrnstadt, a.a.O.. S. 94. Vgl. Herbert Wehner, Verzweiflung, Kühnheit, Hoffnung, a.a.O., S. 101. Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei, a.a.O., S. 437f.

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Massenorganisationen" (LOPM) verlassen.1 Daß jedoch selbst deren unmittelbare Beobachter der Verläufe vor Ort in ihren Berichterstattungen in die Stereotypen von

einem durch „Provokateure" inszenierten „faschistischen Aufstand" verfielen, zeugt nicht allein von Wahrnehmungsblockaden, sondern auch von der Unsicherheit der an Vorgaben und Weisungen gewöhnten unteren Parteigremien. Sie hielten sich sicherheitshalber an die Sprachregelung, die von der Parteiführung im „Neuen Deutschland" plaziert wurde. Rudolf Herrnstadt verkündete nach der Karlshorster Beratung schon in einem Leitartikel am 19. Juni eine Argumentation, in der die Protestaktionen der Arbeiter als eine „faschistische Provokation ausländischer Agenten" abgestempelt wurden.2 Die 14. ZK-Tagung systematisierte die anfängliche Sprachregelung über den Charakter des 17. Juni und legitimierte den Einsatz der sowjetischen Besatzungsmacht. Der verbale Angriff auf die „westlichen Agenturen" zielte unmittelbar auf die USA als die vermeintlich „wahren Hintermänner": ,„In WestDeutschland saßen und sitzen die amerikanischen Agenturen, die auf Anweisung von Washington die Pläne für Krieg und Bürgerkrieg ausarbeiten (...). Neben den ausländischen Kriegstreibern tragen Adenauer, Ollenhauer, Kaiser und Reuter die volle Verantwortung für das Blut, das bei der Niederschlagung des faschistischen Abenteuers

geflossen ist."3 Dieses Propagandagemälde erfüllte mehrere Funktionen. Es sollte die sowjetische Besatzungsmacht und die SED von ihrer Verantwortung für die Hingerichteten und Verhafteten entlasten und Schuldige für die Fortdauer der deutschen Teilung benennen. Erst nachdem der Schuldspruch gefallt war, wurde die sowjetische Hilfe dankbar gewürdigt. In dem ZK-Beschluß ging die Initiative gegen Streiks und Demonstrationen von nicht näher zu identifizierenden breiten Teilen „der Bevölkerung" aus, „die durch die Volkspolizei heldenhaft unterstützt wurden, sowie durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht, die den Ausnahmezustand verhängte. (...) dadurch wurde das beabsichtigte Massenblutbad verhindert".4 Vor der hektisch einberufenen ZK-Tagung waren die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen aufgefordert worden, auf Basis eines vorgegebenen Fragekatalogs eine Einschätzung der aktuellen Lage in Das System der Parteiinformation war Anfang 1953 neu strukturiert worden. Siehe: SAPMOBArch DY 30 IV 2/5/41, Blatt 18-24: Entwurf Beschluß des Sekretariats des ZK über die Aufgaben und Arbeitsweise der Parteiinformation, vom 9.1.1953. Herrnstadt, a.a.O. Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei, a.a.O., S. 438. A.a.O., S. 439. Otto Grotewohl wandte sich in seinem Bericht auf der ZK-Tagung an die Zweifler in dieser Frage: „Manche Menschen fragen, ob es noch notwendig war, daß die sowjetischen Truppen eingriffen. Ich denke, auf diese Frage gibt es nur eine einzige Antwort: Jawohl, es war notwendig! Denn es muß den Kriegsprovokateuren aus dem Westen eine entschiedene Abfuhr erteilt werden. Das war dann nicht zuletzt im nationalen Interesse des ganzen deutschen Volkes notwendig, um zu verhindern, daß Deutschland ein drittes Mal den Weg in die Katastrophe gehen muß. Natürlich wäre es besser gewesen, die deutschen Werktätigen hätten selber zur rechten Zeit diese Provokation niedergeschlagen. (...) Wir haben das nicht gekonnt." Grotewohls Erklärung über die unmittelbaren Aufgaben der SED, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 149.

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ihren Bezirken zu geben.1 Es galt, die tiefe Verunsicherung der Partei- und Staatsfunktionäre durch die Volkserhebung zu überwinden. Schließlich war etwas Ungeheuerliches vor deren Augen abgelaufen: „Der Arbeiter erhob sich gegen den ,Arbeiter- und Bauernstaat'. Alles brach zusammen. Sie hatten, selbst Opfer des Massenbetrugs, die Fiktion für Wirklichkeit genommen. So verstanden sie nicht, was vor sich ging und waren unfähig, in die Ereignisse einzugreifen. Eine kleine, zahlenmäßig geringe Schicht von ihnen ging spontan auf die Seite der Arbeiter über. Die überwiegende Mehrheit aber, verärgert, desorientiert, 'ideologisch entwaffnet' durch den unerklärlichen Bruch mit allen bisher gültigen Prinzipien und tödlich erschreckt durch das offene Zutagetreten der wahren Stimmung und der elementaren Kraft der Massen, verfiel in ohnmächtige Passivität ganz zu schweigen von dem Heer der Karrieristen, die sich den Teufel darum scherten, wie es den Werktätigen ging, jedoch keineswegs ihre Haut für die SED zu Markte tragen wollten."2 In der Existenzkrise der SED-Herrschaft im Juni 1953 offenbarte sich, daß die Partei aus der Perspektive der Moskau-Kader immer noch ungefestigt war und ihre Funktion als Anleitungsapparat für Staat und Gesellschaft in der DDR noch nicht erfüllte, worauf Grotewohl in seiner Eröffnungsrede der ZK-Tagung hinwies. Es hatten sich die nationalen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung bemerkbar gemacht. Auch darüber sprach Grotewohl, als er das „Agentennetz" in der DDR vor den ZKMitgliedern offenlegte: „Dieses Netz, das bei uns in Erscheinung trat, zeichnete sich etwa so aus, daß wir bestimmte Knotenpunkte erkennen konnten, von denen aus diese Aktion der Provokateure, der Plünderer und dieser unruhigen Geister in Bewegung gesetzt wurde. Diese Knotenpunkte des über die Deutsche Demokratische Republik gespannten Netzes waren etwa folgende: Magdeburg, Halle, Bitterfeld, Gera, Leipzig und Görlitz. Bei der politischen Beurteilung dieser Knotenpunkte wird uns sofort offenbar, daß wir alle aus unserer Organisationsarbeit wissen: Es handelt sich hier um die ehemaligen Hochburgen der SPD, wo weite Kreise der äußerlich für uns gewonnenen Leute offensichtlich innerlich nicht auf unserer Seite stehen. Das waren die Voraussetzungen für die Bildung von Widerstandsgruppen."3 Für die SED war die massenhafte Erhebung besonders durch den spontanen Rückgriff auf sozialdemokratische Aktionsformen und Inhalte eine existenzielle Herausforderung. Damit stellten die Protestierenden die Lebensfähigkeit von Traditionen unter Beweis, die die SED als von ihr beseitigt geglaubt hatte. Tieferschüttert vom Ausmaß der Krise des Staates und der Partei äußerten sich auf der 14. Tagung viele ZK-Mitglieder zu den Vorgängen. Während Parteiveteran und Altsozialdemokrat Otto Buchwitz bewegt von dem „Stoß in die Herzgegend"4 sprach, den er angesichts des Zustands der Partei empfunden habe, beschwor Walter Ulbricht die Anwesenden tatenorientiert, die Partei -

Vgl. SAPMO-BArch DY 30 IV 2/5/530. Anfrage an alle 1.

Sekretäre der Bezirke vom 20.6.53. Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist, a.a.O., S. 233. Grotewohls Erklärung über die unmittelbaren Aufgaben der SED, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 149. SAPMO-BArch DY 30 IV 2/1/117. Stenografische Niederschrift der 14. Tagung des Zentralkomitee der SED am 21. Juni 1953, Bl. 39.

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jeden Preis aus der Defensive"1 kommen. Eine eingehende Fehleranalyse wurde angesichts der weiterhin stattfindenden Streiks und der notwendigen Sofortmaßnahmen vertagt. Das Politbüro erhielt weiterhin das Vertrauen des ZK mit der Maßgabe, baldigst eine selbstkritische Fehleranalyse vorzulegen. Unisono ließ die SEDSpitze damit ihren ohne jegliche Diskussion am ZK vorbei und auf sowjetische Maßnahmenbeschluß vom 9. Juni nachträglich Weisung hin veröffentlichten legitimieren. Der Entschließungstext "Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei" trug wiederum Herrnstadts Handschrift. Den Argumentationen vom „Tag X" und dem Szenario „faschistischer" Machenschaften „westlicher Agenturen" folgte in einem Abschnitt über die Partei doch die bemerkenswerte Feststellung: „Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht die Arbeiter!" Während die Funktionäre, beseelt in dem Glauben, der Partei bei den Arbeitern wieder Glaubwürdigkeit und Geltung zu verschaffen, sich in den folgenden Wochen den Diskussionen in den Betrieben stellten, dauerten die Auseinandersetzungen im Politbüro mit unverminderter Schärfe an. Otto Grotewohl soll in dieser Situation Herrnstadt und Zaisser bewegt haben, den Versuch zu unternehmen, die sowjetische Seite genauer über die Lage in der SED-Führungsriege zu unterrichten. Versuche Zaissers, damit zu Judin vorzudringen, waren mehrfach gescheitert.2 Grotewohl sah in Judin ohnehin nicht den richtigen Adressaten für sein Ansinnen, lehnte es jedoch auch kategorisch ab, sich mit Semjonow zu beraten, da er in diesem den eigentlichen "Königsmacher" sah, der Ulbricht zu stützen schien.3 Mit der Information Herrnstadts darüber, daß Ulbricht selbst ähnlich verunsichert bezüglich Semjonow sei, ergab sich für die drei die Erkenntnis, daß eine Informierung Moskaus über die tatsächliche Situation nicht möglich sei.4 Von Rückkopplungen jeglicher Art mit Moskau völlig isoliert, konnten Ulbricht, wie auch seine Kritiker, lediglich begrenzt agieren, zumal sich das Politbüro geschlossen auf einen Weg zur Stabilisierung der Lage geeinigt hatte. Dieser Umstand führte dazu, daß die Auseinandersetzungen an der Spitze weiter schwelten, jedoch aus sich selbst heraus in dieser Situation nicht eskalierten. Inner- und außerhalb der Partei waren sie ohnehin nicht mit einem Streit um alternative Wege aus der Vertrauenskrise der SED verbunden, und so kam es vorerst zu keiner Lösung. müsse „um

-

-

9. Erst

Führungsfragen nach

der

-

Abwehr

Ulbrichts

Kampf um die Macht

der akuten Machtbedrohung fanden die im Politbüro ihren Führungsauseinandersetzungen Fortgang. Das Forum für die Konflikte waren die Sitzungen der für die Führungsreform am 6. Juni eingesetzten Politbüro-Kommission. Art und Anlage dieser Kommission begünstigten nach dem „Tag X" die Vorgehensweise von Walter Ulbricht in der Abwehr seiner Gegner. Das A.a.O., Bl. 34. Vgl. Herrnstadt, a.a.O., S. 97.

Vgl. ebd. Vgl. Herrnstadt, a.a.O.,

S. 98.

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gravierende Fragen der Parte i Struktur zu besprechen und bestand nur aus Ulbricht, Oelßner, Jendretzky, Herrnstadt und Zaisser. Im Politbüro selbst hatte Ulbricht

Gremium hatte

Autorität verloren, aber in der Kommission behielt er Einfluß auf die Formulierung der Beschlußvorlagen und die Personalentscheidungen. Ohne Arg konnte die Kommissionstätigkeit nur betrachten, wer ihre funktionale Zwecksetzung mißverstand und sie lediglich als technische Vorbereitung für Entscheidungen im Politbüro ansah. Anton Ackermann, Friedrich Ebert und Elli Schmidt mißtrauten der Arbeit dieser Kommission angesichts des Bemühens von Ulbricht, unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes, „weit entfernt von jeder Regung der Selbstkritk", die Ursachen des 17. Juni selbst im inneren Kreis der Macht zu vertuschen.1 In der ersten Sitzung der Kommission, die Herrnstadt auf den 25. Juni datiert, stellte er den Antrag, „das Sekretariat des ZK in seiner bisherigen Form zu liquidieren und statt seiner ein Sekretariat nur aus Angehörigen des Politbüros zu schaffen (...)".2 Herrnstadt wollte damit den „unheilvolle(n) Dualismus zwischen Politbüro und Sekretariat" beseitigen, um so die „Kollektivität der Führung zu garantieren".3 Die Frage eines Rücktritts von Ulbricht wurde offengehalten, •Herrnstadt legte ihm jedoch die Abgabe der unmittelbaren Verfügung des Parteiapparates nahe und schlug Heinrich Rau für diese Position vor. In der zweiten Kommissionssitzung begann Ulbricht offensiv, eine Vorentscheidung des Machtkampfes über den Weg der Zuspitzung von Personalfragen zu suchen. Mit seinem Vorschlag, Friedrich Ebert aus dem Politbüro auszuschließen, versetzte er Otto Grotewohl in helle Aufregung, der um den Verbleib des zweiten Sozialdemokraten im Politbüro fürchtete.4 Fragen möglicher Ausschlüsse lagen ohnehin nicht in der Kompetenz der Kommission; umso mehr verwunderte Ulbrichts Vorstoß. Entscheidender als die einhellige Ablehnung dieses Vorschlags seitens der anwesenden Politbüro-Mitglieder war jedoch der Umstand, daß fortan über Anträge auf Ausscheiden einzelner Mitglieder debattiert wurde. Ulbricht verstärkte so, jenseits aller drängenden Sachfragen, das gegenseitige Mißtrauen unter den Genossen. Nicht die Kompetenzabgrenzung zwischen Politbüro und Sekretariat sollte im Mittelpunkt des Interesses liegen, sondern statt dessen Kaderfragen erörtert werden. Entscheidend für Ulbrichts Verbleib an der Spitze der SED, bei uneingeschränktem Bestehen seiner Machtfülle, war, jenseits von Moskauer Machtworten, die Antwort auf die Frage, ob es ihm gelingen würde, die Mehrheit der gegen ihn eingestellten Mitglieder des Politbüros zu zersplittern. Die dazu benötigte Unterstützung fand er bei denjenigen, die sich ebenso wie er durch die aufkommende Kritik an den Fehlern der Parteiführung in ihrer eigenen Position bedroht fühlten. Es waren Herrnstadt und Zaisser höchstselbst, die Ulbricht willkommene Helfer in die Arme trieben. Sie akzeptierten die Debatte um Kaderfragen in der Kommission und im Politbüro. So kritisierte Zaisser Fred Oelßner vernichtend, Grotewohl sah keinen Sinn für den Verbleib Erich Honeckers im Politbüro und Herrnstadt verlangte die Ablösung des Vorsitzenden der ZPKK, Hermann Matern.5 Er

deutlich

1

an

2

Herrnstadt, a.a.O., S. 104f. A.a.O., S. 105.

3

Ebd.

4

Vgl. Herrnstadt, a.a.O., Vgl. a.a.O., S. 116.

5

S. 114.

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zudem eindringlich davor, den Vorschlag Walter Ulbrichts anzunehmen, Karl Schirdewan in das Politbüro zu kooptieren. In der Frage Schirdewan verknüpfte sich Ulbrichts Kampf um die eigene Macht mit der sowjetischen Interessenlage, die SED-

warnte

Führungskrise zu lösen.1 Mit der Ablehnung Schirdewans brüskierte Herrnstadt auch den in dieser Kommissionssitzung nicht anwesenden Semjonow. Dieser hatte kurz zuvor Schirdewan gegenüber Ulbricht und Grotewohl derart gelobt, daß es den beiden Parteiführern nicht entgangen sein konnte, wo Moskau eine personelle Veränderung wünschte.2 Karl Schirdewan war 1932 Vorsitzender des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands (KJVD) in Ostpreußen, wurde 1934 als Mitglied der Inlandsleitung der

KPD verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Anschließend war er Häftling in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Flossenbürg, insgesamt also elf Jahre in Haft. Schirdewan konnte zum Zeitpunkt der Juni-Ereignisse auf eine steile Parteikarriere in der SED zurückblicken, die ihn über eine Mitarbeit im ZK der KPD nach 1945 über die Posten des 1. Sekretärs der Landesleitung Sachsen (im März 1952) und des 1. Sekretärs der SED- Bezirksleitung Leipzig (im Oktober 1952) mit Beginn des Jahres 1953 wieder in die Zentrale, an die Spitze der Abteilung "Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen" (LOPM) sowie im Mai in das Zentralkomitee gebracht hatte.3 Er saß in einer Schlüsselfunktion für die gesamte Parteiarbeit. Die Juni-Ereignisse überstand er unbeschadet, hatte die ihm unterstellte Abteilung doch erfolgreich die lückenlose Information der Parteiführung über Verlauf und Niederschlagung des Aufstandes gesichert. Nahezu alles, was Walter Ulbricht über das Funktionieren der Parteiorganisationen in den Bezirken und Kreisen und über den Zustand der Parteibasis in diesen Tagen und Wochen wußte, war über Schirdewans Tisch gegangen. Neben der Informationstätigkeit nahm die Abteilung LOPM mit der Kontrolle und dem Ausbau des Systems der Schulung der Parteikader die personalpolitische Schlüsselfunktion des zentralen Apparates wahr. Semjonows Bemerkungen, die aus Sicht der Beteiligten unmißverständlich eine Aufnahme Schirdewans in das Politbüro intendierten, zeigten, daß Moskau keineswegs völlige Zurückhaltung in Personalentscheidungen übte und durchaus in der Lage war, personelle Alternativen zu den amtierenden Kadern zu

finden. Wird der

Vorschlag Semjonows mit dem Vorgehen der KPdSU gegenüber der ungarischen Parteiführung im gleichen Zeitraum verglichen, so fällt eine Parallelität auf. Suchte Moskau im ungarischen Fall als Ministerpräsidenten einen „geborenen Ungarn"4, um die Lage im Land zu stabilisieren, so entsprach Schirdewan mit seiner A.a.O., S. 115f. A.a.O., S. 112. Vgl. Die SED, a.a.O., S. 1.069. Diese Kaderpolitik in Ungarn und der DDR entsprach der damaligen Linie der KPdSU in den Unionsrepubliken, wie sich Chruschtschow erinnert. Es ging darum, das „Übergewicht der Russen in der Führung der nicht-russischen Republiken" zu beseitigen. Nach Chruschtschow versuchte Berija, diese Konflikte für seine Zwecke auszunutzen. Vgl. dazu Chruschtschow erinnert sich, a.a.O.. S. 307.

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Biographie geradezu ¡dealtypisch dem Bild vom "besseren", weil antifaschistischen Deutschland, mit dem die DDR gegenüber der Bundesrepublik legitimiert wurde. Er war zudem unbelastet von Verstrickungen in die mörderischen Parteikämpfe während des Moskauer Exils, und er trug keine unmittelbare Verantwortung für die Parteisäuberungen nach 1948 in der SED. Er war erfahren im Aufbau und der Führung von Apparaten, und seine zentrale Stellung im Parte i apparat, die dazu diente, die sowjetische Nomenklaturaordnung in der DDR zu befestigen, prädestinierte ihn für einen Sitz im Politbüro. Aus der Sicht der sowjetischen Kontrollorgane war er, um den Machterhalt der SED zu sichern, eine sinnvolle Wahl. Eine Beantwortung der "Frage Ulbricht" ließ sich, je nach den Gegebenheiten finden, ohne gerade nach dem 17. Juni voreilige Absetzungen vornehmen zu müssen. Hatte doch Stalin einst Franz Dahlem an die Seite Ulbrichts auf den Posten des Verantwortlichen für die Kaderarbeit in der Partei gesetzt, um die Macht unter zwei Kadern zu teilen1, so mag ein ähnliches Kalkül hinter den von Semjonow übermittelten Wünschen bezüglich Schirdewan gelegen haben. Solange der Machtkampf in Moskau nicht entschieden war, blieben sowohl Ulbricht als auch Zaisser, Herrnstadt und andere Variablen. Es galt für den Hohen Kommissar Semjonow, personelle Konstanten zu favorisieren, die die Herrschaft der SED und auch seine eigene Position sicherten. Obwohl bezüglich Schirdewan unter den PolitbüroMitgliedern keineswegs Zustimmung erreicht worden war,2 erfolgte auf der 15. ZKTagung seine Aufnahme als Vollmitglied in das Politbüro.

In der strukturellen Hauptfrage, der nach einem neuen "großen" Sekretariat, spielte scheinbar der Zufall in der Zusammenkunft der Kommission seine Geschichtsmächtigkeit aus. Die von Herrnstadt beförderte Idee eines Sekretariats, das nur aus Angehörigen des Politbüros zusammengesetzt sein sollte, erweckte den Widerspruch des ausgerechnet dieser Sitzung beiwohnenden Beraters Boris P. Miroschnitschenko, der zum ersten Mal in Deutschland war und zudem während der gesamten Debatte der Dolmetscherdienste Fred Oelßners bedurfte. Mit dem Verweis auf die sowjetischen Erfahrungen bestand Miroschnitschenko, im Mißverständnis des dahinterstehenden Anliegens, auf der Beibehaltung eines die Arbeit des Politbüros ausführenden Sekretariats. Für Herrnstadt bedeutete dies den Erhalt des Sekretariats in seiner bisherigen Form, wenn auch Miroschnitschenko empfohlen hatte, dessen Vollmachten klar zu beschränken. Ein Sekretariatsmitglied im Politbüro, so die Ansicht des russischen Beisitzers, könne die Verbindung zwischen beiden Organen ausreichend gewährleisten. Das war eine Lösung wie in Moskau. Dort leitete Nikita S. Chruschtschow das Sekretariat und war Vollmitglied im ZK-Präsidium der KPdSU, als Repräsentant des Parteiapparates in der „kollektiven Führung".3 Während die SEDSpitze diese Frage ergebnislos diskutierte, lagen in Moskau bereits konkrete Vorschläge

Vgl.

Michael Kubina, Der Aufbau des zentralen Parteiapparates der KPD 1945-1946, in: Manfred Wilke (Hrsg.): Die Anatomie der Parteizentrale, Berlin 1998, S. 76ff. Auch Otto Grotewohl stimmte gegen die Kooptierung. Siehe: Herrnstadt Dokument, a.a.O., S. 116. Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, a.a.O., S. 761.

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der erwähnten Sonderkommission1 auf dem Tisch. Walter Ulbricht, so die Empfehlung, sollte sich auf die Arbeit des ZK „konzentrieren", das ZK-Sekretariat sollte personell und zahlenmäßig verändert, in seinen Funktionen begrenzt und der Posten des Generalsekretärs „liquidiert" werden.2 Die SED-Führer hatten indes keine Ahnung davon, zu welchen Schlußfolgerungen die sowjetischen Berater nach Auswertung des

17. Juni gekommen waren. Mit der Antwort auf die Frage, wer der besagte Verbindungsmann zum Politbüro sein sollte, fielen in der SED-Politbürositzung die Würfel für die kommenden Auseinandersetzungen. Die Bemerkung Zaissers, Herrnstadt diese Funktion anzuvertrauen, ermöglichte es Ulbricht, sein Puzzle einer vermeintlichen Verschwörung zu komplettieren: „Dein Vorschlag ist ganz logisch! Für mich ist er der Punkt auf dem i!"3 Zuvor hatte Herrnstadt der Idee Zaissers mit der Einschränkung zugestimmt, daß er

Erfahrung in der Parteiarbeit habe und daß ein beträchtlicher Teil des zentralen Apparates ihm abwehrend gegenüberstehe. Selbstbewußt unterstrich Herrnstadt, daß er mit seinem Reden und Schreiben „das Ohr der Massen" hätte. Von der Entwicklung der Diskussion offenbar überfordert, schlug Berater Miroschnitschenko vor, Entscheidungen in dieser Frage bis zur Rückkehr von Semjonow und Judin zu vertagen. Zur gleichen Zeit fanden in Moskau vierzehn Kundgebungen in Betrieben mit ca. 52.000 Teilnehmern statt, mit denen im organisierten Protest über die „Provokation der ausländischen Lakaien am 17. Juni in Berlin" informiert wurde, die das Ziel verfolgten, keine

„das friedliche Leben der DDR zu zerstören."4 Das Moskauer Stadtkomitee der KPdSU veranstaltete zudem eine Versammlung von Agitatoren und Propagandisten, die das Mitglied des von Chruschtschow geleiteten ZK-Sekretariats, Pjotr Pospelow, informierte.5 Am Vorabend der Entmachtung von Berija in Moskau organisierte der Parteiapparat der KPdSU somit ein öffentliches Meeting zu den Berliner Vorgängen, in denen „die reaktionären Kreise in den USA und der BRD in West-Deutschland" beschuldigt wurden, „keinen Frieden"6 zu wollen. Von den führenden Genossen der SED wurde nur der Name von Wilhelm Pieck im Bericht erwähnt.7 In Berlin sammelte Ulbricht unterdessen seine Gefolgschaft. Ein williger Gehilfe bei seinem Vorgehen wurde Fred Oelßner, der nach der Kritik Zaissers kaum eine andere Siehe FN 255. Vermerk über die Vorschläge der Genossen Sokolowski, Semjonow und Judin im Zusammenhang mit der in der DDR entstandenen Lage, in: Foitzik, a.a.O., S. 47f. Herrnstadt, a.a.O., S. 118. Organisierter Protest aus Moskauer Betrieben, Adressat: N.N. Chruschtschow. Verfasser: N. Michailow, Sekretär des Moskauer Komitees, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 176. P. Pospelow sollte als einer der führenden Parteiideologen im Dezember 1955 den Auftrag erhalten, eine Untersuchungskommission zu leiten, die nach dem Verbleib von, in der stalinschen Kommunistenverfolgung umgekommenen, Parteikadern forschen sollte. Ende Januar 1956 lag der Bericht der Kommission vor, die Basis für die berühmte Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag. Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, a.a.O., S. 763. Organisierter Protest aus Moskauer Betrieben, a.a.O., S. 175f. Ebd.

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Chance hatte, als im Strudel Ulbrichts unterzugehen oder ihn nach Kräften zu stützen. Und Oelßner rächte sich für die demütigenden Bemerkungen Zaissers, indem er die Seiten wechselte. Unmißverständlich hatte der Staatssicherheitsminister klar gemacht, daß Oelßners politische Karriere, ginge es nach ihm, wegen erwiesener Unfähigkeit über kurz oder lang beendet sei. Zudem war seinen Politbüro-Kollegen noch Oelßners Arbeit als Vorsitzender der Sekretariatskommission zur Vorbereitung des 60. Geburtstages von Ulbricht lebhaft in Erinnerung. Von ihm war ein Katalog pompöser und kurioser Maßnahmen zu Ehren Ulbrichts zusammengestellt worden, der alle Register des Personenkultes zog und am 21. März allen Mitgliedern des Politbüros als Beschlußvorlage zugegangen war.1 Mit der harschen Kritik an Ulbricht, unmittelbar nach der Rückkehr aus Moskau, hatte Oelßner dann das Pendel weit in die entgegengesetzte Richtung auf seiner politischen Skala schlagen lassen, ohne die erhoffte Resonanz zu finden. Es galt jetzt für ihn, den Rückzug einzuleiten. In einer der Kommissionssitzung folgenden Zusammenkunft des Politbüros übernahm er die Rolle des Anklägers und bezichtigte wahrheitswidrig Zaisser und Herrnstadt des Versuchs der Spaltung der Partei. Zaisser hätte in der Kommissionssitzung Herrnstadt anstelle Ulbrichts als „Ersten Sekretär" des ZK vorgeschlagen.2 Nach Herrnstadts Erinnerungen hatte Zaisser ihn lediglich als Verbindungsmann zwischen dem Politbüro und dem neu zu schaffenden Sekretariat in die Diskussion gebracht.3 In bewußter Überspitzung des realen Vorgangs konnte das jedoch als Teil eines Plans zur Machtergreifung ausgelegt werden. Mit dieser Wandlung zog Oelßner die für ihn einzig mögliche Schlußfolgerung aus der mehrheitlich geäußerten Kritik4 an seiner Person und aus seinem eigenen bisherigen Verhalten gegenüber Ulbricht. Oelßners Beschuldigungen gipfelten in der Behauptung, Zaisser und Herrnstadt hätten den 17. Juni für eigene Zwecke ausnutzen und die Parteiführung spalten wollen.5 Trotz dieser offenkundigen Verleumdung, die Ulbricht zur Überraschung der anderen Politbüro-Mitglieder aufnahm6, legte Herrnstadt dem Politbüro seinen Entwurf für die Entschließung des 15. ZK-Plenums vor, der prompt verworfen wurde. Beachtenswert ¡st wiederum die zeitliche Abfolge im Zusammenhang mit Moskau: Oelßner vollzieht seinen Schwenk, nachdem in Moskau am 26. Juni Berija verhaftet wird. Statthalter Semjonow ist tags zuvor vollauf damit beschäftigt, Berijas Gefolgsleute Goglidse und 1

2 3 4

5 6

Siehe: SAPMO-BArch DY 30 NY 4215/111, Blatt 3-8. Der Plan enthielt neben anderem die Umbennung des Paretz-Kanals in Walter-Ulbricht-Kanal, die Stiftung eines Walter-UlbrichtStipendiums und die Herausgabe einer Biographie, verfaßt von Johannes R. Becher, die später auch erschien. Vgl. Johannes R. Becher, Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn, Berlin (Ost), 1967. Vgl. Herrnstadt-Dokument, S. 119. Ebd.. S. 118. Oelßners Qualitäten waren schon auf der II. Parteikonferenz in die Kritik geraten. Eine Erklärung Oelßners dazu, in der er über zeitliche Überlastung klagt und um eine teilweise Befreiung von der Arbeit im Sekretariat bittet, findet sich in dessen Aufzeichnungen. Siehe: SAPMO-BArch NY 4215/110, Blatt 4-6. Erklärung des Genossen Fred Oelßner an das Politbüro am 1.8.52. Vgl. Herrnstadt, a.a.O., S. 119. Vgl. a.a.O.. S. 120.

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Kobulow in Ost-Berlin verhaften zu lassen1, um sie dann persönlich noch am 26. Juni in Moskau abzuliefern. Semjonow erscheint wieder in Berlin, ohne das Politbüro der SED zu informieren, daß es einen Fall Berija gibt. Oder sind einzelne doch eingeweiht worden? Festzustellen ist, daß Ulbrichts Gegenmaßnahmen bis Anfang Juli gediehen, der Erfolg für ihn aber noch nicht gesichert war. Weftigs Interpretation des Verhaltens von Ulbricht ist plausibel und vermag auch Oelßners Positionsschwenk zu erklären: „Wie es scheint, erkannte Ulbricht sofort die sich bietende Chance: Der Zaisser entsprechende und ihm vorgeordnete Spitzenfunktionär in Moskau war entmachtet und auf die Anklagebank gesetzt mit der unausweichlichen Folge, daß es angesichts der engen Verflechtungen zwischen den Staatssicherheitsapparaten von UdSSR und DDR kaum allzu schwerfallen konnte, eine Verbindung zwischen beiden Männern und ihrer Politik herzustellen. Als der SED-Generalsekretär darüber hinaus noch wahrscheinlich sehr rasch, aufgrund seiner exzellenten Kontakte in der sowjetischen Hauptstadt jedenfalls sehr viel früher als seine Politbüro-Kollegen erfuhr, daß Berija das Eintreten für weitreichende innen- und außenpolitische Veränderungen als Verrat am Sozialismus ausgelegt wurde, vergrößerten sich die Diffamierungsmöglichkeiten bei den sowjetischen Machthabem weiter. Die Bemühungen der Ulbricht-Kritiker in der SED ließen sich nun mit der offiziell festgestellten antisozialistischen Politik des gestürzten sowjetischen Innenministers in eine Linie rücken."2 Am 30. Juni stärkte ihm Moskau demonstrativ den Rücken. Das ZK der KPdSU sandte einen Glückwunsch zum 60. Geburtstag, der in der „Prawda" abgedruckt wurde. Die britische Botschaft in Moskau bewertete am 1. Juli diesen Fakt gegenüber dem Außenministerium in London als „Beweis dafür, daß die Sowjetbehörden nicht unmittelbar im Sinn haben, Ulbricht oder seine SED-Genossen in Mißkredit zu bringen".3 Der Geburtstagsglückwunsch für Ulbricht in der „Prawda" war ein erstes öffentliches Indiz, daß die KPdSU an ihrem bewährten Kader festhielt. Ein weiteres Signal setzte Chruschtschow intern vor den Nomenklaturkadern der KPdSU auf dem ZK-Plenum, auf dem mit Berija abgerechnet wurde. Dabei solidarisierte er sich mit Ulbricht: „Vor kurzem haben wir die Deutschen angehört. Die Führer der DDR hatten Fehler begangen, sie hätten berichtigt, nicht aber geringschätzig behandelt werden dürfen. Als wir diese Frage erörterten, schrie Berija den Genossen Ulbricht und andere Deutsche derart an, daß es schon peinlich war."4 Semjonow selbst umschrieb 38 Jahre später seine Aufgabe in Berlin nach der Ausschaltung Berijas so ungenau wie möglich: „In Berlin zurück, nahmen wir die bereits während des Putsches verfolgte Linie energisch wieder auf. Es ging nicht darum, in den Einzelheiten des Ablaufs dieser faschistischen Verschwörung zu kramen, sondern die Ursachen genau zu untersuchen, die zu den Ereignissen des 17. Juni geführt hatten -

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Vgl. Semjonow, a.a.O., S. 298f Gerhard Wettig, Berijas deutsche Pläne im Licht neuer Quellen, in: Christoph Kleßmann/Bernd Stöver (Hrsg.): 1953 Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 64. Sowjets stehen zu Ulbricht, Schreiben der britischen Botschaft in Moskau an die Zentralabteilung des Außenministeriums in London. Zit. nach: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 183. Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung, Berlin 1993, S. 335. -

96

Dinge rasch zu korrigieren."1 Übersetzt hieß das, nunmehr auch in Berlin die Führungskrise zu beenden, nachdem in Moskau am 9. Juli die Würfel gefallen waren. In

und die

Berlin schienen bis die Machtverhältnisse im Politbüro weiterhin offen zu sein, denn Ulbricht hatte immer noch keine sichere Mehrheit.2 Auch am 8. Juli setzte sich in einer Abendsitzung des Politbüros die Diskussion um die Zusammensetzung der Parteiführung fort. Lediglich Matern und Honecker3 spraachen sich ausdrücklich für den Verbleib Ulbrichts auf dem Posten des Generalsekretärs aus. Die gesamte Diskussion geriet zu einer vielfachen persönlichen Abrechnung einzelner Politbüro-Mitglieder mit Ulbricht, wobei sich Heinrich Rau, Elli Schmidt, Anton Ackermann und Friedrich Ebert besonders hervortraten.4 Wilhelm Zaisser machte erneut seine Position deutlich. Ulbricht sei für die „falsche Linie (II. P'konf) nicht mehr verantwortlich als wir alle". Jedoch hätte er durch „falsche Erziehung der Kader (...) die Partei verdorben". Direkt hielt Zaisser Ulbricht vor: „(...) mit deiner Einstellung ist der Neue Kurs nicht durchzuführen." Ulbricht müsse gar „vom Parteiapparat ferngehalten werden. Der Apparat in der Hand W.U. ist eine Katastrophe für den „Neuen Kurs" ".5 Ulbricht entgegnete, daß der Vorschlag von Herrnstadt und Zaisser „auf Beseitigung des Sekretariats (...) eine ernste Gefahr sei" und bezeichnete die Idee Zaissers, Herrnstadt als 1. Sekretär zu benennen, vieldeutig als „eine logische Folge".6 Zaisser und Herrnstadt verwahrten sich unisono gegen Ulbrichts Andeutung, dieser sei selbst „mit der Beseitigung des Sekretariats einverstanden"7 gewesen. Heinrich Rau äußerte Zweifel, ob Ulbricht die Kraft haben werde, seine hinlänglich bekannte Arbeitsmethode zu ändern. Bislang sei das nicht zu sehen und „Wenn ein anderer die Parteiorg. als Walter übernimmt u. 1. Sekretär wird, ist das besser".8 Anton Ackermann wollte, daß Grotewohl in Moskau zum Ausdruck bringt, daß auch die DDR-Regierung verändert werden müßte und daß dazu „noch keine Beschlüsse vorliegen". Damit erklärte er offen, daß nicht mehr Ulbricht die Verbindung des Politbüros zu Moskau halten und dominieren sollte. Eine Gesundung der Partei mit Ulbricht an der Spitze hielt Ackermann für ausgeschlossen.9 Ähnlich äußerte sich Friedrich Ebert, der es als „Gewinn für die Partei" angesehen hätte, „wenn der Gen. W.U. selbst erklären würde, ein anderer muß 1. Sekretär werden". Die Redebeiträge der anderen PolitbüroMitglieder folgen diesem Tenor. Elli Schmidt solidarisierte sich mit dem „freie(n) und emste(n) Auftreten von Zaisser" und bemerkte zu Ulbricht: „Du kannst nicht mehr an der Spitze der Partei stehen." Hans Jendretzky merkte an: „W. hat nicht gelernt." Erich 1

2

3 4

5

Semjonow, a.a.O., S. 299f. Herrnstadt, a.a.O., S. 126. A.a.O., S. 126f Herrnstadt nennt für diese Sitzung fälschlich das Datum des 7. Juli. Herrnstadt, a.a.O., S. 128f. Siehe: auch die handschriftlichen Aufzeichnungen Grotewohls Debatte in SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2/303, Blatt 2-5. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2/303, Blatt 2.

6

Ebd.

7

SAPMO-BArch, a.a.O., Blatt 2.

8

Ebd.

9

A.a.O.. Blatt 3.

von

der

97

Mückenberger rettete sich in eine abseitige Bemerkung über das Fehlen der zentralen Leitung in den Bezirken und einzig Hermann Matern hielt Ulbricht die Treue: ,,(...)der erste Sekretär muß U. sein." Fred Oelßner brillierte mit einer doppeldeutigen Bemerkung, aus der letztlich keine Entscheidung für oder gegen Ulbricht zu entnehmen war. Einerseits bekräftigte er seine Vorwürfe, Herrnstadts und Zaissers „Auftreten deutet auf Gruppenbildung". Andererseits kritisierte er: „U. hat uns alle für Dummköpfe gehalten. W. hat nicht gelernt. Man muß kollektiv arbeiten. Man braucht keinen 1. Sekretär, sondern kollektive Entscheidungen". Ulbricht selbst resümierte die Ausführungen seiner Genossen selbstkritisch-kleinlaut

und nicht ohne die Chance zu nutzen, die weitere Diskussion darüber zu vertagen: „Kritik Ackermann war richtig, mein Verhalten Geburtstag falsch." Seine Bemerkung, er werde „im ZK Standpunkt beziehen", konnte als Ankündigung parteiöffentlicher Selbstkritik verstanden werden, jedoch ebenso als Verlagerung der Auseinandersetzungen aus dem Politbüro, in dem er erkennbar die Mehrheit der

Mitglieder gegen sich hatte. Seine abschließende Ankündigung ließ aufmerksame Zuhörer erkennen, daß er nicht gewillt war, sang- und klanglos abzutreten. Mit seinem Rückzieher „Ich bin nicht der Meinung, daß ich 1. Sekretär sein muß. Dazu gehört Vertrauen, daß muß erst wieder kommen.", beugte er sich augenscheinlich der in der aktuellen Debatte herrschenden Stimmung. Über die Vorschläge von Zaisser und •Herrnstadt, die er als „Experiment" bezeichnete, behielt er sich jedoch vor: „Ich werde vor dem ZK meine Erklärung abgeben."1 Letztlich lehnte er damit eine weitere Erörterung im Politbüro ab, deren Ausgang ohnehin absehbar war. Das Politbüro selbst faßte keinen Beschluß und hielt auch nicht den Stand der Diskussion fest, so daß Grotewohl beim Abbruch der Sitzung nichts weiter übrig blieb, als zum vorläufigen Stand der Führungsauseinandersetzungen festzuhalten: „Ich kann in Moskau keine abschließende Äußerung abgeben."2 Es ist demzufolge fraglich, ob Moskau je von diesem Mehrheitsvotum gegen Ulbricht in Kenntnis gesetzt wurde. Ulbricht und Grotewohl begaben sich unmittelbar im Anschluß an die PolitbüroSitzung auf den Weg nach Moskau. Über den Anlaß dieser Reise war im Politbüro nichts bekannt. Unmittelbar nach Ankunft der Delegation fand eine gemeinsame Besprechung mit Malenkow, Molotow und Chruschtschow sowie den ebenfalls angereisten Delegationen aus Polen und der CSSR statt. Die Ungarn waren bereits am Tag zuvor davon informiert worden, daß am 7. Juli Berija in einer Sitzung des Präsidiums der KPdSU wegen seiner „verbrecherischen, antiparteilichen und antisowjetischen Tätigkeit entlarvt und verhaftet worden sei".3 Die Bemerkungen des Präsidiums der KPdSU zum Berija-Fall erschienen Herrnstadt als höchstoffizielle Bestätigung der eigenen Position4, doch die Affäre sollte im Gegenteil Ulbricht nutzen. Wilhelm Zaisser erkannte im Gegensatz zu Herrnstadt das bedrohliche Potential in der Berija-Affäre und ahnte Konsequenzen: „Vergiß nicht, daß A.a.O., Blatt 4. A.a.O., Blatt 3. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2/304, Blatt 5. Vgl. Herrnstadt, a.a.O., S. 130f.

98

seit dem 17. Juni Schuldige braucht."1 Die gewaltsame "Lösung" der Machtfrage innerhalb der Moskauer Führung war die entscheidende Voraussetzung, um den wochenlangen Schwebezustand der Führungsauseinandersetzungen in der SED nach dem 17. Juni zu beenden. Moskau stützte sich in den Gesprächen mit den deutschen Genossen auf den mittlerweile aktualisierten Vorschlagskatalog von Semjonow, Sokolowski und Judin vom Juni-Ende.2 Der weitere Verlauf und die Lösung der Führungskrise in Berlin folgte dann auch akkurat dem Moskauer Muster. Der Sturz Berijas begünstigte Chruschtschow und damit den Parteiapparat der KPdSU3, dessen Suprematie gegenüber dem Staatsapparat, dem Militär und vor allem gegenüber der Staatssicherheit gestärkt wurde. Am 10. Juli erstattete Grotewohl vor dem Politbüro den Reisebericht. Seine Notizen von den Moskauer Besprechung sind dem Sitzungsprotokoll angefügt und enthalten auch die auf die Berliner Auseinandersetzung gemünzte Formulierung des Präsidiums des ZK der KPdSU „daß viele Fäden, die B. gesponnen hatte, raffiniert in die Politik der DDR eingeflochten waren, wie manch organisatorische Maßnahmen aus dem Bereich der Staatssicherung eine gleiche Absicht vermuten lassen".4 Nach Grotewohls Mitschriften blieb die Diskussion mit den sowjetischen Genossen in der Schärfe hinter dieser Erklärung zurück. Passend zur Ermahnung, die Kollektivität der Führung zu beachten, hielt Grotewohl den Wunsch Malenkows fest, ,,Gr.[Grotewohl] und U. [Ulbricht] müssen zusammenarbeiten" und: „Gr. u. U. können dieses Kollektiv gründen und bilden". Molotow sprach von der „Freundschaftl. Zusammenarbeit Pieck-UlbrichtGr." Beachtenswert ist die Bemerkung des sowjetischen Außenministers, wie mit der Situation in der SED-Spitze umzugehen sei: „Rolle der schwankenden Gruppen muß gefestigt werden. Nicht übereilen aber in Ruhe Polb. verstärken." Malenkow ermunterte: „Gedrücktheit muß weg."5 Interessanter als der Vermerk, das Sekretariat dem Politbüro unterzuordnen, erscheint die dem Punkt „3) Kaderfragen" folgende Personalaufstellung6, in der keine Andeutungen über die tatsächlich folgenden Abrechnungen zu finden sind. Hielt Moskau diese Frage nach der Festlegung der Spitzenkader für sekundär oder vermied es Grotewohl, brisantes festzuhalten? Die strukturellen Veränderungen, von der Stärkung des Politbüros, über die Einschränkung des Sekretariats, bis hin zur Arbeitsteilung mit der Regierung der sind dagegen genau man

aufgeführt.7

1

2 J

4

5 6 7

Vgl. a.a.O.,

S. 131.

Foitzik, a.a.O.. S. 45-49. ..Wirkliche Macht ging im bolschewistisch-monokratischen Staat nur von der Verfügung über die Monopolpartei aus.Chruschtschow erlangte sie, weil er die Partei zu stärken und wiederzubeleben versprach." Zit. nach: Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, a.a.O., S. 761. DY 30/J IV 2/2/304, Blatt 5. Ebd., Blatt 8. Ebd.. Blatt 10. Ebda., Blatt 11.

99

der Politbüro-Sitzung wurde die Abänderung des für die geplante 15. Tagung des ZK. Alleinverantwortlich dafür zeichnete die Moskauer Delegation Grotewohl, Oelßner und Ulbricht.1 Vier Wochen waren vergangen, in denen der Aufstand eines Volkes niedergeschlagen worden war, ein Staat vor dem Zusammenbruch gestanden hatte und eine Partei in Selbstauflösung geraten war. In Moskau schloß sich jetzt der Kreis mit der Instruierung desselben Trios, das am Anfang aller Ereignisse dort zum Befehlsempfang angetreten war. In der Politbüro-Sitzung vom 22. Juli wurde der 3. Entschließungsentwurf für die geplante ZK-Tagung beraten und eine Überarbeitung der Ausführungen zum Sozialdemokratismus beschlossen.2 Mit dem Vorschlag, auf der Tagung eine Redaktionskommission, bestehend aus Ulbricht, Grotewohl und Oelßner zu bilden, der „5 weitere(n) Genossen des ZK angehören", sollten die Leitung der Tagung und ihre Ergebnisse personell abgesichert werden. Tags darauf ließ sich Ulbricht seinen Redebeitrag für die Tagung im Politbüro absegnen, und es fiel die Entscheidung für die personelle Zusammensetzung der Führungsspitze.3 Nach einstimmigem (also auch Herrnstadt und Zaisser hoben die Hände zu ihrer Absetzung) Beschluß sah der Vorschlag für das ZK als Mitglieder des Politbüros Ebert, Grotewohl, Matern, Oelßner, Pieck, Rau, Schirdewan, Stoph und Ulbricht vor. Als Kandidaten wurden Honecker, Jendretzky, Leuschner, Mückenberger, Elli Schmidt und Herbert Warnke genannt. Im neu zu schaffenden Sekretariat sollten Mückenberger, Oelßner, Schirdewan, Ulbricht, Paul Wandel und Gerhard Ziller sitzen. Schirdewan und Ziller sollten zudem als ZKMitglieder kooptiert werden und es fiel die Entscheidung, die Position des Generalsekretärs abzuschaffen und durch einen Ersten Sekretär zu ersetzen.. Im Fall von Zaisser gab es zwischen dem Sturz von Berija und seiner Absetzung als Minister für Staatssicherheit einen unmittelbaren institutionellen Zusammenhang. Der Aufbau des MfS war von den sowjetischen Organen "angeleitet" worden. Die Moskauer Führung stufte Zaisser als Gefolgsmann Berijas ein, der folgerichtig mit seinem Patron fallen mußte.

Unmittelbare Folge Entschließungsentwurfes

Herrnstadt suchte schließlich noch vor dem 15. Plenum das direkte Gespräch mit Er und Judin konfrontierten Herrnstadt mit dem Vorwurf, daß dieser sie über die Absicht, Ulbricht von der Funktion des Generalsekretärs zu entbinden, nicht informiert habe. Herrnstadt verschwieg in seiner Antwort darauf erneut die Bedenken, die ihn, Grotewohl und Zaisser von einer Informierung Semjonows abgehalten hatten. Er führte das an, was er und andere aus dem „Neuen Kurs" herausgelesen hatten einen größeren Handlungsspielraum für die nationalen kommunistischen Parteien und damit verbunden ein gestiegenes Selbstbewußtsein der Funktionäre: „Gleichzeitig seien wir allerdings der Meinung gewesen, daß wir das Recht hätten, auch ohne vorherige Rückfrage Vorschläge im Politbüro zu machen, zumal ohnehin die Protokolle an ihn gingen."4 Semjonow führte Herrnstadt seinen Irrtum vom größeren Freiraum deutlich

Semjonow.

-

Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A/288. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A/292, Blatt 284. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2A/293, Blatt 288. Herrnstadt, a.a.O.. S. 149.

100

Augen und bekräftigte die bestehenden Machtverhältnisse: „Genosse Semjonow machte eine Bemerkung des Inhalts, ob ich nicht glaube, daß die Sowjetunion stark genug ¡st, um, wenn sie das für erforderlich halte, jeden beliebigen Genossen

vor

einschließlich Walter Ulbrichts zu kollektivem Arbeiten zu veranlassen." Herrnstadt erwiderte in fortgesetzter Verkennung der Position der SED gegenüber der KPdSU: „(..), daß wir der Meinung gewesen seien, es sei unvergleichlich wertvoller für die deutsche Partei, wenn sie die 'Bändigung' Ulbrichts aus eigenen Kräften zuwege

bringe."1

folgenden erreichte Herrnstadt keine Übereinstimmung mit den beiden Sowjetfunktionären. Das Gespräch erreichte eine wahrhaft Orwellsche Dimension, als Herrnstadt die Verwendung des Wortes „Erneuerung" in seiner Kritik am Parteiapparat vorgehalten wurde: „Genosse Judin rief: .Erneuerung'! Woher haben sie dieses Wort? Das ist doch kein marxistischer Begriff! Wo haben sie das gelesen?'"2 Semjonow machte Herrnstadt, der seine Ratlosigkeit offenbarte, wie er sich während des kommenden ZK-Plenums verhalten solle, dessen geplante Opferrolle deutlich, ohne daß dieser es begriff: „Genosse Semjonow erwiderte: ,Sehen Sie, wie sie an die Sache herangehen. Sie sehen nicht die Partei, sondern sich.' Diese Äußerung verstand ¡ch überhaupt nicht mehr."3 Gegen Ende des Gesprächs erhielt Herrnstadt von Judin noch eine Lektion in der praktischen Anwendung marxistischer Dialektik: „Ihr Hauptfehler ¡st, daß Sie nicht zu unterscheiden verstehen zwischen dem, was objektiv ist, und dem, was sie sich subjektiv vorstellen. (...) Objektiv war Ihr Vorgehen und das Vorgehen Ihrer Genossen ein Anschlag auf die Einheit, ja den Bestand der Partei."4 In Judins Bemerkung fällt die Verwendung von „(...) Ihrer Genossen (...)" auf. Sie mag ein Hinweis darauf sein, daß die sowjetischen Berater sehr wohl über das quantitative Ausmaß der politbüro-internen Anti-Ulbricht-Positionen im Bilde gewesen sind. Auch im

vom Vorwurf des „Sozialdemokratismus" besonders Herrnstadt die wichtige Rolle verdeutlichte, die er bei der Bewältigung des 17. Juni zu spielen hatte: „Im Zusammenhang mit dem 17. Juni sind in der Partei an vielen Stellen Erscheinungen des Sozialdemokratismus zutage getreten. Das hat die Sache so verschärft."5 Sowenig die Beschuldigung auf Herrnstadt zutraf, so wichtig war sie als Fixpunkt einer geplanten Reinigung der Partei von sozialdemokratischen Rudimenten.

Es

war

Ulbricht, der dem

getroffenen

Bevor das 15. ZK Plenum zusammentrat, erinnerte sich die Partei der Arbeiter. Am 14. Juli trafen sich Politbüro und FDGB-Bundesvorstand. Danach beschloß das

Politbüro Lohnerhöhungen und die Wiedereinführung der Sonntagszuschläge, dort wo sie abgeschafft worden waren.6 Die Lehre des 17. Juni wurde beherzigt und bevor sich 1

A.a.O., S. 150.

2

A.a.O.. S. 152.

3

Ebd. Zit. a.a.O.. S. 153. Zit. a.a.O., S. 154. Vgl. Dok. IV, a.a.O., S. 448.

4

5

6

101

Ulbricht den „Parteifeinden" zuwandte, wurden die materiellen Interessen der Arbeiter berücksichtigt. Der Beschluß, der auch dazu diente, die Autorität des FDGB in den Betrieben wiederherzustellen, formulierte den Gesellschaftsvertrag zwischen Partei und Volk, der künftig in der DDR gelten sollte: Die Partei behält ihr Machtmonopol, ist aber zu einer autoritären Sozialpolitik bereit, die die Lebensbedürfnisse der Massen

berücksichtigt.

10.

Die

neue

Führung der SED

Mehr als einen Monat nach dem 17. Juni fand sich die Parteiführung zur Abrechnung, Heerschau und Zukunftsplanung zusammen. Der Geist der Verunsicherung und Bestürzung, der die 14. (Krisen-)tagung des ZK geprägt hatte, sollte abgeschüttelt werden. Die 15. Tagung hatte mehrere Aufgaben zu erfüllen. Um die Partei "auf Linie" zu bringen, wurde das Versäumnis nachgeholt, nämlich den „Neuen Kurs" zu definieren. Nach den als Bankrotterklärung wahrgenommenen Verlautbarungen vom 9. Juni (Kommunique des Politbüros) bzw. 11. Juni (Beschluß des Ministerrates) und den Ereignissen, die dem 17. Juni folgten, mußte diese Definition ohnehin modifiziert werden. Daneben hatte die Parteiführung eine Erklärung für den 17. Juni und dessen Ursachen zu liefern. Jetzt mußten der Öffentlichkeit endlich Schuldige präsentiert werden. Ulbricht verband das Notwendige mit dem auch für ihn Nützlichen, indem er auf der 15. Tagung eine Verbindung zwischen Schuldigen in der Parteispitze (Herrnstadt/Zaisser), in der Regierung (Fechner) und den Demonstranten auf der Straße herstellte. Einzelne Vorwürfe ließen sich damit bündeln, differenzierte Betrachtungen und deren unberechenbarer Ausgang umgehen und die Last der Beschuldigungen konnte vergrößert werden. Ein solches Vorgehen war im Sinne des Machterhaltes unumgänglich, hatte doch der 17. Juni gezeigt, daß das Volk die Herrschaft der SED mit dem sowjetischen Besatzungsregime im Rücken rundweg ablehnte, daß die sozialdemokratischen Traditionen der Arbeiterbewegung auch unter SED-Mitgliedern bis hinauf in die Regierung noch wirkmächtig waren und daß Ulbricht im Politbüro keine mehrheitliche Zustimmung besaß. Das 15. Plenum bildete den Auftakt für die sich aus dieser Konstellation für den Machterhalt der SED notwendig ergebende Disziplinierungsphase in der Partei und für den „umfassenden Ausbau des Disziplinierungs- und Unterdrückungsapparates in der DDR."1 Mit dem großen Aufräumen zuerst in der Parteispitze zu beginnen, war so notwendig wie hilfreich für den gesamten Disziplinierungsprozeß. Eine großangelegte „Abrechnung mit der Parteibasis"2 wäre ohne eine neuformierte, von Kritikern gesäuberte Führung kaum möglich gewesen. Und zudem konnte mit der Präsentation von Schuldigen in der Parteispitze einer Erwartungshaltung in der Parteibasis entsprochen werden, die eine „Selbstkritik" der Parteioberen als geboten ansah, um sich daraufhin umso bereitwilliger

dieser neuen 1

2

Führung unterzuordnen.

Kowalczuk, a.a.O., 219. Ebd.

102 Im Juni hatte Herrnstadt um vierzehn Tage Zeit gebeten, die ihm nötig erschienen waren, um den „Neuen Kurs" der Partei und dem Land erklären zu können. Semjonow hatte dieses Ansinnen barsch zurückgewiesen. Nach dem 17. Juni und nach der Verhaftung von Berija wurde das Versäumte nachgeholt. Die Entschließung des 15. ZKPlenums trug die programmatische Überschrift "Der Neue Kurs und die Aufgaben der Partei". Jetzt wurde der Richtungswechsel erläutert, dessen Wesen darin bestehe, „in der nächsten Zeit eine ernsthafte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der politischen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik zu erreichen und auf dieser Grundlage die Lebenshaltung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen bedeutend zu heben. (...) Das gesamte öffentliche Leben soll weiter demokratisiert und gleichzeitig der Verkehr der Deutschen von Ost und West erleichtert werden. Diese Maßnahmen verfolgen zugleich das große nationale Ziel, die Kräfte des Friedens zu stärken und die Wiedervereinigung Deutschlands voranzubringen".1 Hauptbestandteil der Tagung war die Initiierung des Säuberungs- und Umstrukturierungsprozesses der Partei nach dem Juni-Desaster. Die Unterbrechung der Installierung des „Neuen Kurses" hatte auch Vorteile, ermöglichte sie doch, eingedenk der Notwendigkeiten, die sich aus der Analyse der Aufstände ergeben hatten, den Richtungswechsel zu modifizieren und den veränderten Bedingungen anzupassen.

10.1.

Die Zaisser-Herrnstadt-Fraktion

Die parte i offiziöse SED-Biographie über Ulbricht faßte das Ergebnis der 15. Tagung des ZK der SED, die vom 24. bis 26. Juli 1953 stattfand, in drei Sätzen zusammen: „Auf der 15. Tagung des ZK der SED wurden das Politbüro und das Sekretariat neu gewählt. Walter Ulbricht wurde einstimmig zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees gewählt. Diese Funktion übte er bis Mai 1971 aus."2 Mit dieser knappen Bilanz umschrieb der historisch arbeitende Parteigenosse Voßke leichthin eine entscheidende Zäsur im Leben von Walter Ulbricht und in der Geschichte der SED und "ihres" Staates. Die erneute Inthronisierung von Ulbricht als Erstem Sekretär des ZK der SED gehörte zu den Maßnahmen, mit denen die Sowjetunion die DDR stabilisierte. Jene von der 14. Tagung am 21. Juni geforderte Analyse, wie es zu dem „Tag X" kommen konnte, verwandelte sich jetzt in die Aufdeckung einer „parteifeindlichen Fraktion" im SED-Politbüro. Die dem Parteivolk servierte Verschwörung war Fiktion und Realität zugleich. Natürlich war die Intention, Ulbrichts Macht aus den Reihen des SED-Politbüros heraus zu begrenzen, um die von Moskau geforderte „kollektive Führung" umzusetzen, ein Affront gegen den Generalsekretär. Doch gerade der Umstand, daß eine Mehrheit im Politbüro gegen Walter Ulbricht votiert hatte, zudem im festen Glauben, damit den Moskauer Vorgaben in besonderer Weise zu entsprechen, wurde zum Parteigeheimnis. Das wahre Ausmaß der „Fraktion" blieb so für Jahrzehnte im Dunkeln und es kursierte statt dessen die Version des Putschversuches einer „sozialdemokratisch" beeinflußten und zudem im Auftrag Berijas handelnden Minderheit. So wurden durch Ulbrichts -

Dokumente IV, S. 449. Heinz Voßke, a.a.O., S. 295ff.

103

Definition die Auseinandersetzungen im Politbüro und die Bedrohtheit seiner Position letztlich bagatellisiert. Seine doppelte Schuldzuweisung entbehrte inhaltlich jeglicher Logik, war aber in der Spezifik des parteiinternen Umgangs mit Ausgestoßenen auch doppelt wirkungsvoll, weil sie sich rationellem Hinterfragen völlig verschloß. Die Paarung von „Sozialdemokratismus"1 und „parteifeindlicher Fraktion" ergab einen komplexen Schuldvorwurf, der in seiner einschüchternden Ungeheuerlichkeit in der Parteimitgliedschaft Entsetzen verbreitete und jeden öffentlichen Zweifel verbieten sollte. Herrnstadts Schilderungen widersprechen der Behauptung, daß es zwischen den Mitgliedern des Politbüros Absprachen über ein gemeinsames Vorgehen gegen Ulbricht oder gar Planungen bezüglich der Veränderung der Parteiführung gegeben habe. Die Protokolle der Gespräche von Vertretern der ZPKK mit Elli Schmidt und Hans Jendretzky nach dem 15. Plenum bestätigen das einerseits, lassen jedoch sehr wohl Absprachen erkennen.2 Diese mögen wenig mit einer planvollen, inoffiziellen Vorbereitung zu tun gehabt haben, doch hatte Herrnstadt Jendretzky noch vor der ersten Kommissionssitzung im Krankenhaus besucht und ihn gefragt, ob er die Leitung des neu zu schaffenden Sekretariats übernehmen würde. Jendretzky mochte später darin jedoch keinerlei Verschwörung gegen Ulbricht sehen.3 Bei dieser Aussage vor der ZPKK muß allerdings bedacht werden, daß sich Jendretzky faktisch unter Anklage befand und er somit allen Grund hatte, eine solche Verschwörung selbst wenn sie bestanden hätte abzustreiten. Ein Fehlen verbindlicher Absprachen schloß nicht aus, daß viele von Ulbricht brüskierte Politbüro- und ZK-Mitglieder, die seit längerem einen Groll gegen ihren Generalsekretär hegten, insgeheim, in kleinem Kreis und hinter vorgehaltener Hand dessen Suspendierung wünschten. Heinz Brandt sprach in seinen Erinnerungen an diese Tage und die Aussicht auf Veränderung gar von „mächtigen Energien des Widerstandes, die sich unter der Oberfläche gestaut hatten, (...)".4 Ohne einen von höherer Autorität gegebenen Anlaß fühlte sich vor der obrigkeitsoffiziellen Kritik aus Moskau jedoch keiner der Empörten und Beleidigten berufen, Ulbricht zu kritisieren. Einzig Herrnstadt und Zaisser hatten seit zwei Jahren5 im Politbüro Bedenken gegen den Führungsstil Ulbrichts vorgebracht, verpackt in Kritik am Parteiapparat oder an der Arbeitsweise des Politbüros; gespeist aus ähnlichen Motiven wie jenen der ängstlich -

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'

2

Rudolf Lindau, SED-Historiker, definierte im SED-Pressedienst am 31. August 1953 dieses Ausgrenzungswort: „Sozialdemokratismus bedeutet heute, die Geschäfte des amerikanischen Imperialismus und seiner Helfer zu besorgen." Zit. nach: Peter Lübbe, Kommunismus und Sozialdemokratie, Berlin, Bonn 1978, S. 192. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 IV 2/1 l/v.5350 Blatt 213-234. Aussprache mit dem Genossen Hans

Jendretzky

3 4

5

am 14.9.53 sowie ebenda DY 30 IV 2/11/v. 2810, ohne Blatt. Besprechung mit der Genossin Elli Schmidt am 3.10.53. Vgl. a.a.O., Blatt 215. Heinz Brandt, a.a.O., S. 210. Vgl. SAPMO-BArch DY 30 IV 2/2/191, Protokoll 91 der Sitzung des Politbüros am 5. Februar. Das Protokoll der Politbüro-Sitzung vermerkte einen solchen Versuch: die Annahme eines Vorschlags des Genossen Zaisser zur Änderung der Arbeitsweise des Politbüros, 1952. Diskutiert wurde der Punkt "Arbeitsmethode des Politbüros", Berichterstatter dazu war Zaisser. Beschlossen wurde die Einsetzung einer Kommission mit den Genossen Ulbricht, Zaisser, Oelßner und Herrnstadt, die eine Beschlußvorlage erarbeiten sollten.

104

schweigenden übrigen Genossen. Die weitverbreitete negative Stimmung gegen seinen Arbeitsstil und Umgangston war dem Parteichef also keine Neuigkeit. Für seine Position aber waren solche Vorstöße bislang stets folgenlos geblieben.1 So verstand Rudolf Herrnstadt die internen Auseinandersetzungen des Juni 1953 als eine Fortsetzung der von ihm und Zaisser begonnenen Diskussionen, ohne dabei jedoch einzuräumen, daß bis dahin alle Versuche, die Machtposition Walter Ulbrichts zu begrenzen, kläglich gescheitert waren.2 Hinzu kam, daß gerade Herrnstadt und Zaisser gestützt von einem Selbstbewußtsein agierten, das sich unausgesprochen aber durchaus auch offen3eines Rückhaltes in Moskau sicher war. Es bedurfte dabei nicht zuletzt der Autorität ihrer Biographien als Moskau-Kader in langjähriger speziell-geheimdienstlicher Verwendung, Walter Ulbricht offen die Stirn zu bieten, in der Überzeugung, mit ihm "von gleich zu gleich" reden zu können. Erst die tiefe Erschütterung durch den von Moskau angewiesenen Kurswechsel und die Zielvorgabe der Schaffung einer kollektiven Führung ermunterte weitere Politbüro-Mitglieder zu nunmehr gefahrloser Kritik am angeschlagenen Generalsekretär. Diese artikulierte sich jetzt dafür umso deutlicher. In den späteren Vernehmungen der mit inquisitorischem Eifer ermittelnden ZPKK versuchten alle der Bündelei mit Zaisser und Herrnstadt Verdächtigten, ihre eigene Involviertheit zu leugnen oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit herunterzuspielen. Inwieweit Herrnstadt und Zaisser dahingehend orientiert waren, Verbündete auf sich zu vereinigen und welcher Art ihrer beider Anbindung an Moskau tatsächlich gewesen ist, muß bis zum Vorliegen neuer Quellen im Reich der Vermutungen bleiben. Eingedenk der Latenz mit der sich, in gradueller Abwandlung, Ulbrichts Kennzeichnung von beiden als Berija-Vertrauten oder gar -Agenten unbewiesen weiter hält4, sind klare Erkenntnisse über solcherart Verbindungen zu wünschen. Auch die Rolle der einzelnen sowjetischen Berater ist in vielem unklar. Herrnstadt hat mehrere Beispiele festgehalten, die eine tiefe Ratlosigkeit aller PolitbüroMitglieder, einschließlich Ulbrichts, im Umgang mit Moskaus Abgesandten zeigen. Sie illustrieren anschaulich, daß die Beziehungen vom Status der Sowjets als Repräsentanten einer Besatzungsmacht geprägt waren, fernab von idealistischen Vorstellungen freundschaftlicher Hilfe unter Genossen. Sergej Semjonow scheint ein -

Einen Monat später berichtete Ulbricht selbst noch einmal zu diesem Thema im Politbüro. Das Gremium stimmte dem Bericht zu und billigte eine Vorlage der erwähnten Kommission mit Ausnahme eines Punktes 3, den Herrnstadt zu überarbeiten beauftragt wurde. Siehe: SAPMOBArch DY 30/ IV 2/2/189, Protokoll 98 der Sitzung des Politbüros vom 4. März 1952, S. 2. Vgl. Herrnstadt-Dokument, S. 65. Georg Krausz, unter Herrnstadt im „ND" Mitglied des Redaktionskollegiums, fühlte sich am 6.2.1954 veranlaßt, seinen ehemaligen Chef nachträglich bei Hermann Matern anzuschwärzen. Dabei gab er eine weiter zurückliegende Bemerkung Herrnstadts wieder. Sinngemäß soll dieser geäußert haben: „Es gibt in der Partei Leute, denen ich unbequem bin, die mich hassen und als Moskauer 'Agenten' bezeichnen. Jawohl, ich bin ein Agent Moskaus und ich bin stolz darauf." Siehe: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/4/390, Blatt 163. So behauptete dies Herrmann Axen von Herrnstadt. Über das Eingeweihtsein von Herrnstadt und Zaisser in die angeblichen Pläne Berijas kann auch er nur mutmaßen. Siehe Hermann Axen, Ich war ein Diener der Partei, Berlin 1996, S. 137. Eine auf Indizien gestützte ähnliche Behauptung findet sich bei Wolfgang Klein in: Grieder/Klein/Otto, a.a.O., S. 41.

105

Klima der Unverbindlichkeit, Verunsicherung und des Mißtrauens gegenüber den deutschen Genossen sowie unter ihnen ganz bewußt gefördert zu haben. Damit schuf er gleichwohl nur den Mikrokosmos einer politischen Atmosphäre, in der sich die DDR als Projekt auf Abruf ohnehin in Gänze befand. Weder war sich Ulbricht sicher, daß der sowjetische Chefberater nicht insgeheim mit Grotewohl1 an ihm vorbei handelte, noch ahnte Grotewohl, daß der Generalsekretär keineswegs unbeschränkten Zugang zu Semjonow hatte, geschweige denn dessen volles Vertrauen genoß.2 Semjonow hat in seinem Lebensbericht für sich eine kritische Einschätzung Ulbrichts reklamiert. So habe er in einem am 25. Juni nach Moskau gesandten Bericht über den 17. Juni und die notwendigen Schlußfolgerungen die Versetzung Ulbrichts angeraten. Molotow beharrte dagegen auf der Position, die auch Stalin in bezug auf Ulbricht vertreten hatte und vermutete, Semjonow sei in dieser Frage „nach rechts abgedriftet".3 Semjonows Verhalten mag im wesentlichen von der Notwendigkeit geprägt gewesen sein, die eigene Person vor seinen Dienstherren stets ins rechte Licht zu rücken. Das war nur möglich, wenn er zu allen Gruppierungen entsprechenden Abstand hielt und nicht aus eigenem Ermessen bestimmten Personen den Vorzug gab. Als Hoher Kommissar Moskaus hatte er die doppelte Aufgabe, die sowjetischen Interessen in Deutschland politisch gegenüber den Westmächten zu vertreten und die Umsetzung der Moskauer Vorgaben in der DDR zu kontrollieren. Die Schwierigkeiten dieser Mission bestanden darin, daß die Machtverhältnisse in Moskau selbst über Monate hinweg nicht geklärt waren und die DDR mit dem 17. Juni ein unerwartetes Eigenleben zeigte, das die sowjetische Position in Deutschland gefährdete. Eine regelrechte Verschwörung von Politbüro- oder ZK-Mitgliedern hat es sicher nicht gegeben, die auch nur im Ansatz mit der vergleichbar wäre, die in Moskau organisiert wurde, um Berija während einer Sitzung des ZK-Präsidiums zu verhaften.4

Vgl. Semjonow, a.a.O., S. 275. Semjonows Charakterisierungen Grotewohls sind durchweg positiv. Vgl. Herrnstadt, a.a.O., S. 80f, sowie S. 97f. Semjonow hinterließ in seinen Memoiren wenig schmeichelhafte Beurteilungen über Ulbricht. Siehe Semjonow, a.a.O., S. 226/ S.271. Semjonow fühlte sich gar zu einem kritischen Brief an Stalin veranlaßt (S. 274), der jedoch schützend die Hand über Ulbricht hielt und dessen stärkere Unterstützung forderte (S. 279). Juli Kwizinski zweifelt im Nachwort zu Semjonows Lebensbericht (Ebd., S. 393) die Aufrichtigkeit dieser Geste an und vermutet, ohne nähere Begründung, gar, daß auch gegen Ulbricht ein Prozeß nach den osteuropäischen Vorbildern geplant war. Semjonow, a.a.O., S. 297f. Der langjährige Sowjetunion-Dokumentarist im „SPIEGEL", Michael Morozow, vertritt in seinem Buch über die sowjetische Militärmacht die These, daß es beim Sturz von Berija auch um die Verfügungsmacht über die Atomindustrie ging und zwar kurz vor dem Test der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe. Das Militär spielte die Schlüsselrolle bei Berijas Verhaftung. „Die Festnahme des Marschalls Berija wurde durch Marschall Schukow geleitet. Zum fünften Mal in seinem Leben, nach Chalchin-gol, Leningrad, Moskau, Stalingrad und Berlin entschied Rußlands größter Soldat eine Schlacht diesmal gegen einen inneren Feind." Michael Morozow, Die Falken des Kreml, Die sowjetische Militärmacht von 1917 bis heute, München-Wien 1982, S. 369. Die Verhaftung selbst führte der Moskauer Wehrkreisbefehlshaber Kirill S. Moskalenkow durch. Eine der Voraussetzungen für des Gelingen dieser Operation sieht Morozow in der -

106

Zweifellos gab es eine weitverbreitete Unzufriedenheit und Verärgerung über den inneren Zustand der Parteiführung. Selbst ein treuer Verfechter ulbrichtscher Vorgaben wie Hermann Matern sah sich unter dem immensen Problemdruck zu kritischen Reflexionen genötigt, freilich nicht vor den eigenen Genossen. In einem Schreiben des Berija folgenden Innenministers Kruglow an Malenkow über die Situation im SEDPolitbüro, werden Äußerungen wiedergegeben, die der Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission der SED Anfang Juli 1953 gegenüber Mitarbeitern des Innenministeriums der UdSSR in der DDR gemacht hatte.1 Matern plauderte vor den sowjetischen Emissären, daß aus seiner Sicht das Sekretariat des ZK von einem politischen Organ zu einem persönlichen Büro Ulbrichts geworden sei. Bemerkenswert an diesen Äußerungen ist, daß Matern genau jene Kritik an Ulbricht anführte, die im Kern ganz der Argumentation von Herrnstadt und Zaisser entsprach. Wenig später sollten sich diese beiden jedoch gerade vor ¡hm in den Vernehmungen der ZPKK für solche Überlegungen verantworten müssen. Auch wenn Matern in den PolitbüroDiskussionen Ulbricht unterstützte, dessen Positionen teilte und Kritik an ihm zurückwies, zeigte er sich demnach der KPdSU-Führung weitaus loyaler gegenüber als dem Amt des SED-Generalsekretärs, ganz abgesehen von Ulbricht selbst. Jene für die Ohren seiner deutschen Politbüro-Kollegen ungeahnte Offenherzigkeit ist ein weiterer Nachweis für die Inkonsistenz der SED-Spitze. Unter den deutschen Kommunisten offen über die eigenen Belange zu reden und sie selbst zu lösen, verboten die selbstauferlegte Parteiräson, die Abhängigkeit von Moskau und auch persönliche Erwägungen. Insofern war der Konfliktverlauf SED-interner Auseinandersetzungen immer vorgeprägt und diese nur zum geringen Teil „innere Angelegenheiten". Folgerichtig konnten Anstöße für Kritik und Veränderungen allein von außen kommen. Sie erfolgten letztlich so, daß der Status quo der SED-Führung in bezug auf den Mann an der Spitze erhalten blieb. Ulbricht führte nicht nur sich selbst sondern auch seine Gefolgsleute weitgehend unbeschadet durch die Juni-Ereignisse. Rudolf Herrnstadt irrte am 6. Juni in seiner Überzeugung, daß es dem Politbüro gelungen sei, Ulbricht zur Aufgabe des Sekretariats in seiner bestehenden Form zu bewegen.2 Der große Knick in der Arbeit des Sekretariats folgte erst nach den Sitzungen vom 11. und vom 15. Juni.3 Innerhalb der daran anschließenden zwanzig Tage trat das Gremium tatsächlich kein einziges Mal zusammen.4 Jedoch, vor der für Ulbricht ebenso vernichtenden PolitbüroSitzung vom 9. Juli und der Nachricht vom Sturz Berijas, war es am 6. Juli wieder auf -

-

persönlichen Verbindung von Chruschtschow mit den „Generälen des Südens" vor Stalingrad lernte er auch Ulbricht kennen. Cold War International Projekt Bulletin 10 Note from S. Kruglov, 9 July 1953 Vgl. Herrnstadt Dokument, a.a.O., S. 65f. Bezeichnenderweise beschäftigte sich das Sekretariat in seiner letzten Sitzung ,

im 2.

Weltkrieg -

,

S. 102.

vor dem 17. Juni des Planes zum Bau einer Stalin-Gedenkstätte in der Stadt Gera. Siehe: SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/3/389, Blatt 9. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/3 380-401. Den 8 Sitzungen im März, 6 Sitzungen im April und 4 Sitzungen im Mai 1953 folgten 6 Sitzungen im Juni. Tiefpunkte der Häufigkeit wurden mit jeweils 3 Sitzungen im Juli, im August und im Oktober erreicht.

mit der

Bestätigung

107

politische Bühne zurückgekehrt und das mit unverändertem Umgestaltung wurde erst nach dem 15. ZK-Plenum vollzogen.

die

Personal. Seine

-

15. Plenum gegen Herrnstadt und Zaisser erhobenen Anschuldigungen hätte einen sofortigen Parteiausschluß ohne weiteres gerechtfertigt. Doch mit dem Pfund, der Partei Schuldige für den 17. Juni präsentieren zu können, wucherte Ulbricht über viele Monate. Genau wie beim Sturz Dahlems im Frühjahr des Jahres, war eine „gründlichere Entlarvung" geplant, die über Monate die Partei in Atem hielt. Vor dem Hintergrund der beabsichtigten stillen Bewältigung des Juni-Desasters hatte das verschleppte Verfahren eine nicht zu unterschätzende Disziplinierungsfunktion gegenüber der Parteimitgliedschaft. In seinem Schlußwort auf der 15. ZK-Tagung interpretierte Ulbricht die Auseinandersetzungen an der Spitze der Partei als einen von Zaisser und Herrnstadt persönlich geführten Machtkampf. Bemerkenswert daran ist das Bild, das Ulbricht dabei von sich selbst zeichnete. Er nahm den „Apparat" in Anspruch, um doch allein sich selbst zu loben. Es sei der zentrale Parteiapparat gewesen, der Herrnstadt und Zaisser widerstanden hätte. Mit solchem Lob appellierte er an den Korpsgeist des Apparates und förderte zugleich dessen Ergebenheit. Verbundenheit der Zuhörer erheischte zudem die Darstellung der Folgen der vermeintlichen Konspiration: „Mit Ulbricht fängt man an. Dann kommt Matern, dann Genosse Honecker und dann die anderen. Genosse Herrnstadt geht dann los, gegen diesen Parteiapparat, den er so haßt. Warum haßt Du denn den Parteiapparat? Du sagtest, weil er bürokratisch sei. Ich werde Dir sagen, warum Du den Parteiapparat haßt das steht auch hier sogar im Dokument: Nicht weil er so bürokratisch ¡st, sondern weil keine Aussicht bestand, daß er Dir gehorchen würde. Du hast ganz richtig erkannt: Es besteht ein Unterschied zwischen den Redaktion des „Neuen Deutschland" und dem Parteiapparat der SED. So wie Du in der Redaktion des „Neuen Deutschland" kommandiert hast, so kannst Du das im Parteiapparat der SED nicht machen, weil dort das Parteibewußtsein offenkundig höher ist."1 Die Funktionäre suchten nach Erklärungen und nach Schuldigen Ulbricht lieferte beides. Sein bisheriges Schweigen über die entstandene „Fraktion" begründete er mit der fehlenden Glaubwürdigkeit, die seinen Vorwürfen angehangen hätte, solange ihm Beweise gefehlt haben. Warum Zaisser und Herrnstadt nicht eher entlarvt worden seien, erklärte er als genialischen Schachzug. Ernst "Teddy" Thälmann hätte ihm Ulbricht einst persönlich den Rat für ein langes Überleben an der Parteispitze gegeben. Danach sei es ratsam, erst dann an die Parteiöffentlichkeit zu treten, wenn sich genügend belastendes Material gefunden hätte.

Jede der auf dem

-

-

-

10.2

-

Abrechnung mit den Parteifeinden

Die Form

Ulbrichts Abrechnung mit Herrnstadt und Zaisser war nicht nur für die überraschend. Auf der ZK-Tagung wich Ulbricht von einem sorgsam Angeklagten Ritual ab. Er gepflegtem trug hinsichtlich der künftigen Parteifeinde einen anderen Text der als am den, vor, Tage zuvor vom Politbüro genehmigt worden war. Herrnstadts von

Zit. nach: Das

Herrnstadt-Dokument, a.a.O., S. 262f

108

Empörung über diesen Schritt ist seiner nachträglichen Schilderung des Vorgangs noch anzumerken:

nicht nur schärfer, sondern enthielt solche Vorwürfe und daß eine gänzlich neue Lage entstand. Nicht nur, daß Walter Gedankenverbindungen, Ulbricht kein Wort sagte über den zweijährigen Kampf im Politbüro gegen seine Versuche zur Aufrichtung einer persönlichen Diktatur und kein Wort darüber, daß das Politbüro am 9. Juni (also vor dem 17. Juni) beschlossen hatte, diesem Versuch nunmehr endgültig die Stirn zu bieten, und daß in diesem Zusammenhang die Kommission gebildet wurde, in der ich meine Anträge stellte er bezeichnete den faschistischen Putsch vom 17. Juni als den Ausgangspunkt unseres Vorgehens (...)."' Ulbricht mengte in sein Begründungsszenario einen Wust sämtlicher verdammungswürdiger Erscheinungen mit dem Verhalten der beiden abzuurteilenden Funktionäre: Abkehr vom Marxismus, Hinwendung zum Sozialdemokratismus, Unterstützung Fechners im „ND", „direkte Unterstützung der Streikenden", „kapitulantenhafter Standpunkt". Die Konklusion, so Ulbricht, sei ein „Muß" für das Plenum des ZK: „(...) notwendige(n), organisatorische(n) Schlußfolgerungen"2 seien zu ziehen. Um letzte Zweifel der mit Erstaunen zuhörenden Genossen auszuräumen, schob der Parteichef noch „einige Hinweise" auf den Berija-Fall nach. Ulbrichts Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: „Die Mitglieder des Politbüros saßen überrascht und erschreckt da; keiner wagte gegen die Verlesung der ihnen unbekannten und von ihnen nicht gebilligten Ausführungen zu protestieren, weil jedem klar war, daß im Hintergrund Dinge vorgegangen waren, die niemand überblickte. Die etwa 100 weiteren Mitglieder und Kandidaten des ZK waren umgekehrt der Meinung (und mußten es sein), daß den Mitgliedern des Politbüros diese Ausführungen, die ja in ihrem Namen vorgetragen wurden, längst bekannt seien, daß sie ihnen zugestimmt hätten und daß sie noch weit mehr von unserer verbrecherischen Tätigkeit wüßten.

„Der

neue

Text

war

-

Herrnstadt und Zaisser bestürmten Grotewohl nach der Rede Ulbrichts und protestierten vergeblich gegen die statutenwidrige Erweiterung des Referates. Grotewohl wiegelte aufgeregt ab und sicherte beiden die Möglichkeit der Stellungnahme am nächsten Konferenztag zu.3 Doch da sollte Kurt Hager ZK-Kandidat und als Leiter der Abteilung Propaganda ein enger Mitarbeiter Oelßners als erster sprechen und die Vorwürfe gegen Herrnstadt und Zaisser bekräftigen. Herrnstadt konstatiert rückblickend die "Signal"-Wirkung des ersten Redebeitrages auf die Zuhörer die Regie funktionierte.4 Zaisser wagte schon nicht mehr den Widerspruch und fiel ganz in die Rolle des nibelungentreuen Parteisoldaten, indem er Herrnstadt vor der Sitzung überzeugt hatte, daß sie beide vor dem Plenum nicht die Wahrheit sagen dürften: „Das kann man nicht machen, das könnte der Sowjetunion schaden."5 -

-

-

1

A.a.O., S. 161.

2

Ebd.

3

Vgl. a.a.O., S. Vgl. a.a.O.. S.

4

5

162. 164.

Zitiert nach: A.a.O., S. 163.

109 Die von Herrnstadt anschaulich beschriebene Manipulation der Rednerliste rundet das Bild der 15. Tagung nur ab. Mit der Verurteilung der beiden Spitzenfunktionäre wahrte Ulbricht demonstrativ die Einheit der Partei. Er zeigte, wie unnachsichtig mit alten Kadern verfahren wird, die sich in einer Krisensituation „kapitulantenhaft" verhalten hatten und zugleich wurden Zeichen gesetzt, um namentlich gegen den „Sozialdemokratismus" in der DDR vorzugehen. All das entsprach der Praxis der stalinschen Parteisäuberungen und erfüllte seinen disziplinarischen Zweck. Die Linie lag fest, es gab keine „Fehlerdiskussion", und hinter der Ausgrenzung von Zaisser und Hermstadt verschwand die bohrende Frage: Was tat das Politbüro mit seinem Generalsekretär an der Spitze am 17. Juni? Mit der Verurteilung von Herrnstadt und Zaisser war zugleich die Praxis verabschiedet worden, daß sich die Parteiführung bei Abstrafungen oftmals nicht an das Statut gehalten hatte. Insofern entsprach es dem „Neuen Kurs" in der Partei, daß beide zwar aus dem Politbüro und dem Zentralkomitee aber nicht aus der Partei ausgeschlossen wurden. Ulbricht konnte sich danach damit begnügen, die ZPKK unter Matern zu beauftragen, eine Untersuchung durchzuführen. Nach außen erschien das als deutliche Abkehr von der bisherigen Säuberungspraxis und als großzügig-souveräner Akt der Parteiführung. Intern hielt die laufende Untersuchung jedoch einen Zustand dauerhafter Verunsicherung unter den Funktionären aufrecht, ganz abgesehen von der Wahrscheinlichkeit der Entlarvung tatsächlicher weiterer „Fraktionisten". Auch eingedenk der Disziplinierungsmöglichkeiten gegenüber der gesamten Parteimitgliedschaft schien der Fall "Zaisser-Herrnstadt" bei weitem nicht ausgereizt. Es war jedoch ein, auch von den größten Zynikern unter den Parteikadern, nicht zu unterschätzendes Privileg der meisten nach Stalins Tod auffällig gewordenen

Abtrünnigen,

zu

ihre "Schuld"

gegenüber der Partei nicht mehr mit dem Leben vergelten

müssen. Zwar unterschieden sich die

weitschweifigen Verdammungsbegründungen

in nichts von denen in der zurückliegenden tödlichen Prozeßlawine in Osteuropa und ihren Vorläufern in der Sowjetunion, dennoch wurde auf die ritualisierten Selbstbezichtigungen nach wie vor nicht verzichtet. Herrnstadt und Zaisser hoben schließlich selbst die Hand bei der Abstimmung der gegen sie gefaßten Beschlüsse. „Fraktionsbildung" war und blieb parteiinterner Hochverrat. Doch markierte die Suspendierung des Genickschusses als Ultima ratio der Parteireinigung den Beginn der Zeitenwende, die mit Stalins Tod verknüpft war. Unmittelbar nach dem 15. Plenum wurde der Fall von Herrnstadt und Zaisser inszeniert. Das Politbüro beschloß, Zaisser als Lehrstuhlinhaber für die Geschichte der KPdSU am Institut für Gesellschaftswissenschaften zu suspendieren und ihn aus dem Pankower "Regierungsstädtchen" auszusiedeln. Er sollte künftig das tun, womit er sich bereits in den dreißiger Jahren in Moskau befaßt hatte, dem Übersetzen. Herrnstadts Bestrafung fiel subtiler aus. Mit dem gleichen Politbüro-Beschluß wurde er seines Postens als „ND"-Chefredakteur entbunden, in das Staatliche Zentralarchiv nach Merseburg versetzt und war dort, inmitten der Hinterlassenschaften der von ihm verachteten Bürokratie, zur Untätigkeit verdammt.1 Für den schwer Lungenkranken

Vgl. SAPMO-BArch DY 30/ J IV 2/2A 294, AP des Politbüros der Genossen Zaisser und Herrnstadt."

vom

28.7.53, Punkt 8: „Einsatz

110

bedeutete die Versetzung in ein Zentrum der Chemieindustrie zusätzlich eine gesundheitliche Belastung, die möglicherweise der wohlkalkulierte tödliche Bestandteil des Bestrafungsrituals war.1 Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob ein von Zaisser und Herrnstadt geleitetes/beeinflußtes Politbüro eine erträglichere Herrschaft dargestellt hätte als die Ulbrichts. Aber jenseits aller Spekulation bleibt das ungarische Beispiel Imre Nagys. In seinem Fall wurde ein Moskau-Kader zum Anwalt des Selbstbestimmungsrechtes seiner Nation. Im Westen Deutschlands waren Reuter und Wehner einen Weg aus der KPD gegangen, der zur Sozialdemokratie zurückführte und für sie das öffentliche Eingeständnis eines persönlichen Irrtums einschloß. Es waren gerade diese beiden sozialdemokratischen Politiker, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni den Bankrott der von Ulbricht geführten SED in der DDR besonders nachdrücklich unterstrichen. Herbert Wehner begründete das Gesetz zur Einführung des 17. Juni als Gedenktag der deutschen Einheit im Bundestag. Es war also kein Zufall, daß Ulbricht ausgerechnet Zaisser und Herrnstadt des „Sozialdemokratismus" bezichtigte. Dabei ging es ihm um eine Immunisierung seiner Kader vor der naheliegenden Überlegung, den MarxismusLeninismus und seine Parteikonzeption aufzugeben und zu einer sozialistischen Politik für und in Deutschland zurückzukehren, die zum damaligen Zeitpunkt auch die SPD noch programmatisch vertrat. Für Herrnstadt und Zaisser gab es einen solchen Weg nicht. Sie blieben Gefangene ihrer parteiergebenen Loyalität bis zur Selbstverleugnung. Der Lebensweg von Zaisser und Herrnstadt war auf besondere Weise mit der Politik der Sowjetunion verbunden. Beide erwarteten Veränderungen der Lage in der DDR durch Moskauer Entscheidungen und beide wollten weder Sozialdemokraten werden, noch sich mit den Streikenden gegen die Partei und die Sowjetunion solidarisieren. Das Verdammungsurteil über sie veranlaßte die kritischen Beobachter der Entwicklung in der DDR, ihre Niederlage als Zeichen einer Opposition gegen Ulbricht zu deuten. Nach allem, was wir wissen, opponierten beide gegen die Allmacht des Generalsekretärs im Politbüro, um durch eine intelligentere und flexiblere Handhabung der Macht der Partei die entstandene Kluft zwischen Volk und Führung zu schließen.2 Mit der von beiden erhofften, begrüßten und beförderten Schaffung einer „kollektiven Führung" in der DDR ging es um die Durchsetzung sowjetischer Interessen, denen beide schon lange und loyal dienten. Neben aller kritischen Betrachtung, zu der sie fähig waren, stand ihre Ignoranz als gehorsame Parteisoldaten gegenüber schreiendem Unrecht. Ein Indiz dafür sind die Notizen von Herrnstadt in ihrer Konzentration auf den eigenen Fall und in dem Fehlen jeglicher kritischen Reflexionen über die parteiinternen Säuberungen in der SED, wie der Fälle Merker3, Ende, Kreikemeyer, Sperling, Dahlem oder gar den von Max

So vermutet es seine Tochter Nadja Stulz-Herrnstadt in der Einleitung zum Herrnstadt-Dokument, S. 35f. Siehe Manfred Wilke/Tobias Voigt, Opposition gegen Ulbricht Konflikte in der SED-Führung in den 50er Jahren, in: Klaus-Dietmar Henke/Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand und Opposition in der DDR, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 211-240. Paul Merker war in Folge des Slansky-Prozesses am 20. Dezember 1952 verhaftet und erst am 30. März 1955 in einem Geheimprozeß verurteilt worden. Zu Merkers Biographie siehe: Wolfgang -

Ill

Fechner und vieler anderer, die alle unter fadenscheinigen Vorwänden repressiert wurden. Auch sind keine Auseinandersetzungen Herrnstadts mit Zaisser über den Anteil des MfS an der Repression in der DDR bekannt. Im Strudel des Untergangs der beiden Spitzenfunktionäre wurden all jene mitgerissen, die in den zurückliegenden Wochen deutlich gegen Ulbricht Position bezogen hatten mit der wenig verwunderlichen Ausnahme von Oelßner, der die Diskussion um Ulbricht ursprünglich angestoßen hatte, sich alsbald jedoch gegenteilig instrumentalisieren ließ. Anton Ackermann büßte mit einer strengen Rüge, Elli Schmidt und Hans Jendretzky, denen eine Kooperation mit Herrnstadt und Zaisser nicht nachgewiesen werden konnte, kamen mit einer Rüge und Zurücksetzungen davon.1 Einher ging ihre Entfernung aus dem ZK und dem Politbüro. Erneut war Franz Dahlem betroffen, obwohl sein Name in der politbüro-internen Auseinandersetzung im Juni/ Juli nicht fiel. Trotzdem erhielt er wegen angeblicher Uneinsichtigkeit eine strenge Rüge mit der Drohung eines möglichen Parteiausschlusses. In der Frage des Ausschlusses wurde auch gegenüber den Namensgebern der „Fraktion" gezögert. Nach monatelangem Ermitteln und Sammeln vermochte es die ZPKK nicht, den ursprünglichen Vorwürfen neue hinzuzufügen. Erst am 12. Januar 1954 beschloß das Politbüro den Parteiausschluß von Herrnstadt und Zaisser und tat nebenbei damit dem seit dem 15. Plenum alarmierten "Parteigewissen" einzelner eifriger Mitglieder Genüge, die genau diese Konsequenz angesichts der Schwere der Vorwürfe schon damals gefordert hatten. Hinter dem Sturz der beiden SED-Funktionäre scheint der Fall Max Fechners zu verblassen, des ersten prominenten Opfers des 17. Juni aus den Reihen der SED-Spitze. Fechner gehörte 1945/46 zu den Sozialdemokraten, die am nachdrücklichsten eine Fusion mit der KPD in der SBZ befürworteten. Als erster Justizminister in der DDR bekannte er sich deutlich zum Kampf der Justiz gegen den politischen Feind, aber auch seine militante Sprache konnte nicht verdecken, daß er als Justizminister „eine schwache Figur"2 abgab. Seine Gegenspielerin war Hilde Benjamin, „eine qualifizierte Juristin und fanatische Stalinistin, die unter Schiffer und Fechner als Leiterin der kaderpolitischen Abteilung der deutschen Justizverwaltung die Personalpolitik der SED in der Justiz maßgeblich mitbeeinflußt hat. Fechner, den ehemaligen Sozialdemokraten, hat sie stets beargwöhnt."3 Offenbar löste der 17. Juni bei Fechner einen "Rückfall" in seine sozialdemokratische Vergangenheit aus. Schließlich war er bereits drei Jahre Mitglied der SPD, als 1914 der Reichstag die strafrechtliche Verfolgung von Streikposten verhandelte4, und nun sollte er die Verantwortung übernehmen, um die Streikenden im „Arbeiter- und Bauernstaat" aburteilen zu lassen. Am 30. Juni 1953 -

Kießling, "Partner im Narrenparadies".

1

2

Der Freundeskreis um Paul Merker und Noel Field, Berlin 1994. Vgl. SAPMO BArch DY 30 j IV 2/2 341. Karl-Wilhelm Fricke, Zur politischen Strafjustiz der Ära Ulbricht Max Fechner: Menschliches Verhalten unter Opfer/Täter/Opfer, in: Wahrheit-Gerechtigkeit-Versöhnung Gewaltherrschaft, 6. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung 9.-10. Juni 1990, Leipzig 1995, S. 47, künftig zitiert als: Karl-Wilhelm Fricke: Max Fechner. Ebd. Vgl. Paul Barthel, Handbuch der deutschen Gewerkschaftskongresse, Dresden 1916, S. 260ff. -

-

3 4

112

sich Fechner im „Neuen Deutschland" gegen eine juristische „Rachepolitik"1 gegen Streikende und Streikführer aus. Zwei Tage später ergänzte er seine Stellungnahme mit der Aussage, „das Streikrecht ist verfassungsmäßig garantiert. Die Angehörigen der Streikleitung werden für ihre Tätigkeit als Mitglieder der Streikleitung nicht bestraft".2 Zu diesem Zeitpunkt waren DDR-weit 6.171 Festnahmen im Zusammenhang mit dem 17. Juni erfolgt.3 Mit der Berufung auf die gültige DDRVerfassung brachte sich Max Fechner nicht nur um sein Ministeramt sondern auch um seine Freiheit. „Am 14. Juni 1953 wurde er vor das Politbüro zitiert, um Rede und Antwort zu stehen. Danach beschloß (!) die Führungsspitze der Partei: ,1. Max Fechner wird wegen partei- und staatsfeindlichen Verhaltens aus der Partei ausgeschlossen. 2. Fechner wird seiner Funktion als Justizminister enthoben und in Untersuchungshaft genommen. (...).' Tags darauf ließ Grotewohl, auch das gehört zum Kapitel "Menschliches Verhalten unter Gewaltherrschaft", durch das Presseamt beim Ministerpräsidenten lakonisch mitteilen, er habe ,Herrn Max Fechner wegen republikfeindlicher Tätigkeit von seinem Amt als Minister der Justiz enthoben'. Die Nachfolgerin hieß Hilde Benjamin auch das war zuvor im Politbüro beschlossen worden. Elf Tage danach faßte das Zentralkomitee der SED auf seiner 15. Tagung den Beschluß,,Fechner als Feind der Partei und des Staates aus dem ZK und aus den Reihen der SED auszuschließen'. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich bereits beim Staatsicherheitsdienst in der Untersuchungshaft."4 Fechner kam weit weniger glimpflich davon als Herrnstadt und Zaisser. Er wurde 1955 zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.5 Der Vergleich zwischen Fechner und Herrnstadt/Zaisser zeigt die Bedeutung der unterschiedlichen Traditionen von Sozialdemokraten und Kommunisten in der SED.

sprach

-

Karl-Wilhelm Fricke, Max Fechner, a.a.O., S. 48. Zit. nach: Ebd., S. 49. Vgl. Torsten Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991, S. 300. Karl-Wilhelm Fricke: Max Fechner, a.a.O., S. 49. „Endlich waren die höchsten Richter der Republik dort angelangt, wohin sie im Auftrage des Politbüros gelangen sollten. Mit fast wortgleicher Formulierung sanktionierten sie den Politbürobeschluß vom 14. Juli 1953. Die Richter waren sich auch nicht zu schäbig, die sogenannten homosexuellen Verfehlungen Fechners strafrechtlich zu ahnden. Es paßt in dieses Bild, daß sich der ehemalige Justizminister in der Hauptverhandlung nicht einmal auf einen Verteidiger stützen konnte. Da das Urteil unmittelbar rechtskräftig wurde, sah sich Max Fechner als Strafgefangener im Zuchthaus Brandenburg-Görden wieder, im Block IV, dem Isolationstrakt für Staatsverbrecher. Wenn sich sein Schicksal gleichwohl eher wenden sollte, als er selber erhofft haben dürfte, so deshalb, weil sich der politische Wind in Moskau gedreht hatte. Nachdem Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Verbrechen Josef Stalins parteioffiziell verurteilt und die Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit' postuliert hatte, geriet auch die Politbürokratie der SED in Zugzwang. Auf der 3. Parteikonferenz im März 1956 schwenkte sie auf die Linie der sowjetischen Kommunisten um (...). Es kam zu umfangreichen Häftlingsentlassungen. Auch 691 Personen, die früher der SED angehörten, so die offizielle Mitteilung, durften das Zuchthaus verlassen, unter ihnen Max Fechner." Zit. nach: Karl-Wilhelm Fricke, Max Fechner, S. 51.

113 Fechner besann sich auf die rechtsstaatliche Tradition der SPD, während Herrnstadt und Zaisser in einem Punkt mit Ulbricht einig blieben: Geht es um die Macht der kommunistischen Partei, ist sie mit allen Mitteln zu verteidigen. Gemäß der stalinschen Säuberungslogik, wie sie im "Kurzen Lehrgang" der Geschichte der KPdSU propagiert wurde, mußten Parteisäuberungen an der Spitze beginnen ohne dort zu enden!1 Ein im Sommer 1953 beginnender, monatelanger Reinigungsprozeß2 in der SED umfaßte bald alle Parteiebenen und spülte bis 1954 mehr als 60% der Bezirksleitungsmitglieder und über 70% der 1. und 2. Kreissekretäre aus ihren Positionen.3 Die neue SED-Führung zeigte daneben auf besondere Weise ihr nach dem 17. Juni gewachsenes Verständnis für die Arbeiter, zumal für deren Vertreter in den eigenen Reihen. Die Gesamtbilanz der Parteiverfahren der Jahre 1954 und 1955 weist zu fast 70% Ausschlüsse und Streichungen aus; unter diesen ein Drittel Arbeiter.4 In diese Auflistung müssen grundsätzlich auch der FDGB und andere Massenorganisationen der Partei einbezogen werden. Ein Beispiel ist das Schicksal des Vorsitzenden der IG BauHolz, Franz Jahn, der am 16. Juni die Bauarbeiter stoppen sollte und seines Sekretariats. Die verantwortlichen Funktionäre wurden abberufen und die Bezirks- und Kreisleitungen ebenso wie die Mitglieder verpflichtet, „einen unversöhnlichen Kampf gegen die Tendenzen des Sozialdemokratismus und gegen die stark verbreiteten Formen des Ökonomismus zu fuhren, die Leitungen unserer Industriegewerkschaft zu überprüfen und Chauvinisten und Ökonomisten und andere den Klassengegner unterstützende Funktionäre aus der Organisation und den Leitungen auszuschließen".5 -

„Es könnte scheinen, daß die Bolschewicki dem Kampf gegen die opportunistischen Elemente in der Partei zuviel Zeit gewidmet, daß sie deren Bedeutung überschätzt hätten. Das ist jedoch völlig unrichtig. Man darf in seiner Mitte nicht den Opportunismus dulden, wie man in einem gesunden Organismus kein Geschwür dulden darf. Die Partei ist der führende Druck der Arbeiterklasse, ihre vorgeschobene Festung, ihr Kampfstab. Man darf nicht zulassen, daß in dem führenden Stab der Arbeiterklasse Kleingläubige, Opportunisten, Kapitulanten, Verräter sitzen. Gegen die Bourgeoisie auf Leben und Tod kämpfen und Kapitulanten und Verräter in seinem eigenen Stabe, in seiner eigenen Festung haben heißt in die Lage von Leuten geraten, die sowohl von der Front wie vom Rücken her beschossen werden. Es ist nicht schwer zu begreifen, daß ein solcher Kampf nur mit einer Niederlage enden kann. Festungen werden am leichtesten von innen genommen. Um den Sieg zu erringen, muß man vor allem die Partei der Arbeiterklasse, ihren führenden Stab, ihre vorgeschobene Festung von Kapitulanten, von Deserteuren, von Streikbrechern, von Verrätern säubern." Zit. nach: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewicki), Kurzer Lehrgang, gebilligt vom ZK der KPdSU (b), 1938, Berlin 1949, S. 487. Vgl. DY 30 IV 2/5/248 Abt. LOPM, Sektor Entwicklung und Förderung der Kader am 3.9.1953: Veränderungen in der Zusammensetzung der Bezirksekretariate, die sofort und bei den Wahlen durchgeführt werden müssen. Vgl. Hermann Weber, DDR-Grundriß der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 57. Vgl. Visionen, S. 43. Vollzug der Säuberung, Entschließung der 14. Zentralvorstandssitzung der IG Bau-Holz am 22. und 23. Oktober 1953, in: Gerhard Beier, Wir wollen freie Menschen sein, a.a.O., S. 214. -

114

10.3

Die

neue

Führung der SED

Das ZK-Plenum bestätigte auch ein verkleinertes ZK-Sekretariat. In der Sekretariatssitzung am 29. Juli trafen sich dann statt der bisher zehn nur noch sechs Sekretäre1; lediglich drei von ihnen Ulbricht, Oelßner und Schirdewan stammten aus der ursprünglichen Besetzung. Adalbert Hengst2, Sekretär und Leiter der Sekretariats-Abteilung "Wirtschaft", hatte mit einem Beschluß des Politbüros vom 14. Juli alle Funktionen und seine Parteimitgliedschaft verloren. Der Grund war sein Verhalten während des 17. Juni.3 Edith Baumann übernahm ab August in der SEDBezirksleitung Berlin den Posten des Sekretärs für Landwirtschaft. Herbert Warnke stieg zum Kandidaten des Politbüros auf. Willi Stoph wurde, wie Schirdewan, Mitglied des Politbüros. Ob diese Wahl auf einer Entscheidung Moskaus beruhte, läßt sich nicht nachweisen, wie im Fall Schirdewans naheliegt. Gleichwohl offenbarte diese Personalentscheidung Orientierungen, die einer Befestigung des politischen Systems der DDR entsprachen. Stophs biographische Stationen waren eher atypisch für die Funktionärskarrieren der damaligen SED-Parteispitze.4 Seit 1952 war er Minister des Innern und in dieser Funktion auch verantwortlich für den von der Sowjetunion gewünschten5, verdeckten Aufbau bewaffneter Streitkräfte. Aus seiner Biografíe ließ sich eine ausgewiesene Kompetenz für militärische Fragen keineswegs ableiten, aber vielleicht diente gerade dieser Umstand hervorragend dazu, den Charakter der Wiederaufrüstung zu verschleiern. Mit dem Sturz Zaissers und der Rückstufung des MfS zum Staatssekretariat fiel dieser Bereich vorerst in Stophs Zuständigkeit. Hinzu kam die Verantwortung für die nach dem 17. Juni geschaffenen Betriebskampfgruppen. Im ganzen vereinte Stoph damit eine Machtfülle auf sich, deren entsprechende Repräsentanz wie auch ihre Einbindung in die Parteispitze den sowjetischen Geflogenheiten entsprach. Die instutionelle Form für die Behandlung aller sicherheitspolitischen Fragen wurde mit der Sicherheitskommission des ZK der SED geschaffen, die im Juli 1954 eingerichtet wurde. In ihr saßen, neben Walter Ulbricht und Otto Grotewohl, Parteikontrolleur Matern, Kaderchef Schirdewan und Stasi-Chef Wollweber auch Willi Stoph als Innenminister und Dienstherr der bewaffneten Organe. Bis zur Bildung des Nationalen Verteidigungsrates im Februar 1960 war die Sicherheitskommission, „neben dem Politbüro (...) das wichtigste Gremium für die -

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Es handelte sich um Ulbricht, Oelßner, Schirdewan, Wandel, Mückenberger und Ziller. Hengst (1905-1989), Eintritt in die Partei 1928, 1933-36 Haft, 1939-42 KZ Sachsenhausen, 194245 Wehrmacht „Frontbewährung" als politischer Häftling, nach 1945 verschiedene Funktionen im Apparat von KPD/SED. Hengst hatte am 17. Juni die Forderungen der Streikenden der Rostocker Warnow-Werft über den

Betriebsfunk verlesen. Siehe: Carola Stern, Porträt einer bolschewistischen Partei, Köln 1957, S. 163. Vgl.: Die SED, a.a.O.. S. 972. Vgl. Die SED, a.a.O., S. 1.091 f. Peter Joachim Lapp verweist darauf, das die NVA keine Erfindung der deutschen Kommunisten war, „sondern auf Grund von Weisungen Empfehlungen und Wünschen" der KPdSU-Führung geschaffen wurde. Siehe: Peter Joachim Lapp, Die Nationale Volksarmee 1956-1990, in: Materialien der Enquete-Kommission a.a.O., Bd. II, 3, S. 1.901. ,

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Ausarbeitung und Durchsetzung der Militärpolitik der SED entsprechend den Moskauer Empfehlungen (...)".' Paul Verner wurde vom ZK-Sekretär für gesamtdeutsche Fragen zum Abteilungsleiter für gesamtdeutsche Fragen (Westabteilung) befördert. Der für ihn zuständige Sekretär wurde Ulbricht. Otto Schön blieb Bürochef des Politbüros und nahm fortan dieselbe Stellung im ZK-Sekretariatsbüro ein. Ernst Lange wurde zum Abteilungsleiter für Binnen- und Außenhandel unter dem neuen Sekretär Gerhard Ziller (zudem Minister für Maschinen- und Schwermaschinenbau) zurückgestuft. Herrmann

Axen mußte sich vorerst mit dem Posten eines Zweiten Sekretärs der Bezirksleitung Berlin begnügen. Zusammen mit Alfred Neumann, der Jendretzky als Ersten Sekretär der Berliner Bezirksleitung ablöste, hatte er jetzt die Aufgabe, die Parteiorganisation in der Hauptstadt auf Linie zu bringen. Neben Ziller waren Paul Wandel und Erich Mückenberger mit Sekretärsposten bestallt worden. Mückenberger wurde zuständig für die Fragen der Landwirtschaft und Wandel für Kultur, Erziehung und Kirchen. Den AltSPDler Mückenberger mit einem Sekretärsposten zu betrauen, mag eine unausgesprochene Konzession Ulbrichts an Grotewohl gewesen sein, hatte dieser sich doch oft zurückgesetzt und übergangen gefühlt. Da die Moskauer Führung ohnehin ein Fortbestehen des formalen Doppels der beiden wünschte, diente die Positionierung Mückenbergers zumindest der Aufrechterhaltung eines Anscheins von Parität. Mückenberger selbst erwies sich dann auch im ulbrichtschen Sinne als gute Wahl, zählte er doch bald zu seinen „getreuesten"2 Anhängern. Herrnstadts Idee eines großen Sekretariats, bestehend nur aus Mitgliedern des Politbüros, war somit verwirklicht worden. Doch mit einem Ulbricht, der nun unangefochten an der Spitze der Partei stand, war diese strukturelle Veränderung in Herrnstadts Sinne unwirksam. Ulbricht und Oelßner saßen schon vor dem 17. Juni sowohl im Politbüro als auch im ZK-Sekretariat. Stoph, Schirdewan und Mückenberger übernahmen ebenfalls eine solche Doppelfunktion, formal dem entsprechend, was Herrnstadt unter dem „großen Sekretariat" verstanden hatte. Auch wurden die Kompetenzen des Sekretariats beschränkt und der Generalsekretär verbal zum „Ersten Sekretär" gewandelt. Doch Ulbrichts Position im Politbüro war jetzt personell abgesichert. Das Sekretariat funktionierte nun arbeitsteilig mit dem Politbüro. Mit einer „kollektiven Führung" dieser Zusammensetzung konnte Ulbricht leben. Die Kontrolle der Durchführung der Politbüro-Beschlüsse, Kaderentscheidungen und die Vorbereitung von Beschlußvorlagen für das Politbüro blieben Aufgaben des ZK-Sekretariats. Die ZKSekretäre kontrollierten und bestimmten jeweils in dem Bereich ihrer Zuständigkeit die Arbeit des zentralen Parteiapparates. In späteren Jahren der SED-Herrschaft wurden alle ZK-Sekretäre Mitglieder des Politbüros. Nach der Klärung der Führungskrise begann die Neuformierung der Partei. Neben der „Säuberung", dem Ausschluß von verdächtigen Mitgliedern, stand die personelle Stabilisierung der Partei. So hatte der 17. Juni auch offenbart, daß die neue Funktionärsgeneration, unbelastet von den Erfahrungen der Weimarer Republik und des illegalen Kampfes in der nationalsozialistischen Diktatur, keine Garantie bot, in einer Reinhard Brühl, Militärpolitik, in: Stern, a.a.O., S. 232.

SED-Handbuch, a.a.O., S. 324.

116 Existenzkrise der Partei entschlossen zu kämpfen. Selbstkritisch konstatierte Herta am 29. Juni 1953 in der ZPKK: „Unsere Kreisleitungen sind durchweg von Kräften besetzt, die noch keinerlei Erfahrungen haben. Es ist ein Fehler der jungen man solche Leitungen nur einseitig mit solchen jungen Genossen daß Kaderpolitik, besetzt hat."2 Der „Neue Kurs" in der Partei machte nun das Verhalten der Kader am „Tag X" zum entscheidenden Kriterium für die Parteiüberprüfung und nicht mehr die abgeschlossene Auseinandersetzung in früheren Jahrzehnten. „Wenig später sah eine Direktive der Parteiführung vor, daß jene SED-Mitglieder und Parteileitungen, die während der Unruhen zurückgewichen' waren oder .kapituliert' hatten, ,durch parteiund kampferfahrene Kader verstärkt (...) (oder) abgelöst werden' sollten."3 Als Konsequenz änderte die ZPKK ihre Linie gegenüber den alten Kadern. Jetzt galt, daß, auch wenn diese Fehler gemacht hatten, „die Parteikontrolle mehr als bisher bemüht sein (muß), sie für die Partei zu erhalten und ihnen zu helfen".4 Diese Linienänderung galt auch für die Westemigranten.5 Als weitere Maßnahme zur Stabilisierung der Partei griff die SED-Führung auf eine Idee von 1948 zurück, innerhalb der Mitgliedschaft Parteiaktivisten zu bilden. „Die Forderung, um die Parteileitungen 150.000 bis 200.000 Parteiaktivisten den 'Kern der Partei' fest zusammenzuschweißen, deutet darauf hin, daß die Führung damals allenfalls ein Fünftel der Mitgliedschaft für zuverlässig hielt. Wenigstens dieser Avantgarde innerhalb der Partei wollte sich die SED-Führung sicher sein."6 Wie tief der Schock, die Angst in der Parteiführung saß, zeigt deutlich die mehr als vier Monate nach dem 17. Juni mit der Begründung einer „Verschärfung des Klassenkampfes", aufgrund der „ständige(n) Zunahme der Überfalle auf leitende Funktionäre der Bezirke und Kreise", unterbreitete Vorlage der LOPM, alle hauptamtlichen Mitglieder der Bezirkssekretariate sowie die 1. und 2. Kreissekretäre mit Pistolen zu bewaffnen.7

Geffke1

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Herta Geffke (1893-1974), seit 1920 Mitglied der KPD, 1945-1948 Mitglied der Landesleitung und des Sekretariats des KPD/SED-Landesvorstandes Mecklenburg, seit 1949 SED-Mitglied, ab 1954 stellvertretende Vorsitzende der ZPKK der SED, von 1958-1962 Kaderleiterin am Institut für Geschichtswissenschaften beim ZK der SED. In: Die SED, a.a.O., S. 950. Zit. nach: Terror, S. 449. Ulrich Mählert, Parteisäuberungen in der SED, in: Terror, S. 450. Zit. nach: Terror, S. 450. Ulrich Mählert weist darauf hin, daß die proklamierte Linienänderung und die Realität in der Partei nicht dasselbe waren: „Während in der Parteiführung mittlerweile durchaus die Notwendigkeit gesehen wurde, die Frage der Westgefangenschaft oder -emigration individuell zu überprüfen, reagierte der nachgeordnete Parteiapparat lange Zeit mit der inzwischen verinnerlichten Rigidität. Aus Sorge, wegen kaderpolitischer Fehlentscheidungen zur Rechenschaft gezogen zu werden, neigte man dort dazu, die mit einem biographischen Makel behafteten Personen weiterhin zu diskriminieren. Unverändert mißtrauisch reagierte der Sicherheitsapparat, wenn ehemalige Angehörige sozialistischer oder kommunistischer Splittergruppen zusammentrafen. In der Vorstellungswelt der Parteikontrolleure war für die Pflege freundschaftlicher Beziehungen aus der Vergangenheit kein Platz.", in: Terror, S. 451 f. A.a.O., S. 450f Vgl. LOPM: Vorlage an das Sekretariat vom 23.11.53, in: SAPMO-BArch DY 30/IV2/5/3, Blatt 240.

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Strukturell entscheidend war die Überprüfung der Neuformierung der Kaderkontrollstrukturen im Parteiapparat. Die Abteilung "Leitende Organe der Parteiund Massenorganisation" (LOPM) initiierte mit ihrer Vorlage vom 17. August 1953 eine bis in die Ebenen der Kreisleitungen gehende Neuerarbeitung der als „aufgebläht"1 eingeschätzten Kadernomenklaturen. In der Folge wurde ein Nomenklaturasystem für die SED geschaffen, das in seiner Grundstruktur bis zum Ende der DDR bestand.2 Dieser Modifizierung, die letztlich weniger eine Erhöhung der Arbeitseffektivität als vielmehr die Ausdehnung von Kontrollmöglichkeiten bedeutete, folgte Anfang 1954 der Staats- und Wirtschaftsapparat. Auch hier stand die Auswertung des 17. Juni direkt hinter der Entscheidung, die Kaderarbeit stärker dem Vorbild der SED-Nomenklaturen anzugleichen.3 Der zentrale Apparat der SED wiederum versuchte, dem Ideal umfassender Kontrolle seiner Kader im September 1955 mit einer „Hauptnomenklatur des Zentralkomitees" nahezukommen. Mit allein 7.0004 ausgewiesenen Positionen war die Initiatve von 1953 vorerst auf die Spitze getrieben worden. In der Frage der Schulung des Personals, das die ausgeklügelten Systeme der neuen KaderNomenklaturen bevölkern sollte, versuchte die Partei, an den Stand vor dem 17. Juni anzuknüpfen, kam aber nicht umhin, auf „Fehler und Mängel" zu verweisen, die mit den Aufständen zu Tage getreten seien.5 So sei „noch kein fester Kurs" auf die „Förderung der fähigsten Kräfte aus der Arbeiterklasse" genommen worden, auf den Kreisparteischulen befanden sich über 60% Angestellte. Verantwortlich dafür sei der „noch stark vorhandene Ressortgeist in den Apparaten der Partei". Die Kaderauswahl sei „meist den Kaderinstrukteuren allein überlassen" worden. Die Planer der Personalarbeit betonten die fortlaufende Gültigkeit des ZK-Beschlusses „über die weitere Schulung leitender Kader an den Parteischulen" vom 9.12.1952 als „Hauptgrundlage und Richtschnur", sahen sich aber zu einigen Ergänzungen gezwungen. Es sollte künftig auf „solche Genossinnen und Genossen" gesetzt werden, „die in den Tagen der faschistischen Provokation kämpferische Eigenschaften, Prinzipienfestigkeit und Treue zur Partei bewiesen haben".6 Die „fähigsten Kräfte aus der Arbeiterklasse" sollten „bei jedem Lehrgang weitaus überwiegen", Junge Kader und Genossinnen" seien „kühner als bisher zu fördern und gleichzeitig auch den alten erfahrenen Kadern jede Möglichkeit der Festigung und Erweiterung ihres Wissens"7 gegeben werden. Ende September wurde dies in einem Papier zu den Hauptfragen aus der Entschließung der 15. Tagung des ZK erneut bekräftigt. Den Auslöser für die angeführten Präzisierungen mögen wohl auch Erkenntnisse aus den Ermittlungen gegen 1

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SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/11/134. Vgl. Matthias Wagner, Ab morgen bist Du Direktor. Das System der Kadernomenklaturen in der DDR, Berlin 1998, S. 39. Vgl. a.a.O., S. 40ff Vgl. a.a.O., S. 43. Abteilung LOPM am 1.9.53, Vorlage an das Sekretariat des ZK, Richtlinien zur Auswahl und Beschickung der Parteischulen im Jahre 1954, in: SAPMO BArch DY 30/IV2/5/3, hier Blatt 2. Ebd.. Blatt 4. Ebd.

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Zaisser und Herrnstadt gegeben haben, die zwar nicht das konspirative Netzwerk entlarvten, so doch zumindest vielfach bestehende private Kontakte und solidarische Bindungen offenbarten, die, da sie naturgemäß weitgehend nicht der Kontrolle der Partei unterlagen, in höchstem Maße suspekt erschienen. Mit Blick darauf, daß „jeder Versuch der Gruppenbildung ohne Rücksicht auf Personen zu zerschlagen" sei, wurde ermahnt: „In der Kaderpolitik ist die zuweilen geübte Praxis der Kaderauswahl vom Gesichtspunkt der Freundschaften und der persönlichen Ergebenheit restlos auszumerzen. Die Auswahl der Kader darf nur nach politischen und fachlichen

Qualitäten erfolgen (...)."' Der offensichtliche Mangel an zuverlässigen Kadern bewog die Führung sogar zum Revidieren zurückliegender Säuberungskampagnen, die einen erheblichen Aderlaß an altbewährten Mitgliedern zur Folge gehabt hatten, der mit dem 17. Juni offenbar geworden war. Jetzt schlug die Parteiführung versöhnliche Töne an. Die einst Verprellten waren zur Stabilisierung der Partei plötzlich wieder hochwillkommen: „Die in der Vergangenheit vorgekommenen Überspitzungen der Zurücksetzung und Funktionären Westverwandtschaft und NichtVerwendung von wegen Westgefangenschaft sind rückgängig zu machen, ohne dabei die Erfordernisse der revolutionären Wachsamkeit aus den Augen zu verlieren." Mit den „alten Kadern" sei „sorglicher als bisher umzugehen, um ihre großen Erfahrungen der Partei dienstbar zu machen".2

Die Frage der Reorganisation der Parteiführung wäre unvollständig ohne den Blick auf die Spitze des MfS. Daß nicht Erich Mielke, sondern Ernst Wollweber den Posten des MfS-Chefs übernahm, führte Ulbricht erneut vor Augen, daß nicht nur seiner Verfügung über die Machtsäule Staatssicherheitsdienst nach wie vor Grenzen gesetzt waren. Auch auf die Verwendung von bestimmten Kadern hatte er weiterhin keinen Einfluß. So befand er sich gegenüber Wollweber eigentlich in der gleichen Situation wie im Jahre 1946, als er den aus der Sowjetunion nach Deutschland Rückkehrenden vorsorglich fragen mußte: „Was wünscht man in Moskau in bezug auf deine künftige Funktion?"3 Die Sowjets hatten nach ihrem Vertrauensmann Wilhelm Zaisser mit Ernst Wollweber4 wiederum einen internationalistischen Kader an die Spitze des MfS gestellt, damit der in seinem ureigenen Metier, Aufklärung der Absichten des Westens, vornehmlich den Interessen der UdSSR diente. Walter Ulbricht war sich dagegen mit

Vgl. SAPMO-BArch DY 30 IV 2/5/42, Blatt 130-140. Dokumente IV, S. 477. Jan v. Flocken/Michael F. Scholz, Ernst Wollweber. Saboteur-Minister-Unperson, Berlin 1994, S. 119. Wollweber, Jahrgang 1898, 1916-18 kaiserliche Marine, 1919 KPD, militärische Ausbildung in der UdSSR, 1932 Mitglied des Reichstages, nach 1933 illegale Arbeit, Emigration in Dänemark und Schweden, Funktionär der "Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter", Aufbau und Leitung einer internationalen Sabotageorganisation ("Wollweber-Organisation"), 1940 Verhaftung in Schweden, 1944 Emigration in die UdSSR, 1949 Staatssekretär im Ministerium für Verkehr, 1953 Leiter des Staatssekretariats für Schiffahrt, Die SED, S. 1.121.

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seinem Favoriten1 für die MfS-Spitze, Erich Mielke, darin einig, daß die Orientierung der Aufgaben des MfS nach innen gelenkt werden müsse auf die Überwachung des eigenen Staatsvolkes. Es sollte später an Mielke sein, den Ansprüchen der SED-Führer besser zu genügen als es seinen Vorgängern gelungen war. Der vorrangige Zugriff Moskaus auf die Ausrichtung des MfS bedeutete für Walter Ulbricht ein ständiges Machtdefizit und stand in der Reihe von Moskaus Satelliten ohne Beispiel. In den anderen kommunistischen Parteidiktaturen oblag die Kontrolle über die Sicherheitsdienste dem General- oder Ersten Sekretär der kommunistischen Partei.2 Für Walter Ulbricht galt das bis 1957 nicht. Wollweber wurde aber nicht mehr Mitglied des Politbüros und solange Ulbricht an der Spitze der SED stand, stieg auch Mielke nicht in dieses Gremium auf. -

11. Stabilität für die DDR 11.1

Konsolidierung durch die Sowjetunion

Nach dem 17. Juni war für die Sowjetunion auch die vage Chance, die mit dem Vorstoß Winston Churchills vom Mai 1953 verbunden schien, sich über die Vereinigung Deutschlands mit dem Westen zu verständigen, vertan. Da es Entspannungssignale aus Moskau gegeben hatte, gab es in der westdeutschen DDR-Forschung vor 1989 die Auffassung, der 17. Juni und der Sturz Berijas hätten diese Ansätze zerstört.3 In dieser Frage genügt es nicht, nur die Sowjetunion in den Blick zu nehmen. Henry Kissinger unterstreicht in seinem Buch über die Außenpolitik, daß der neugewählte amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower und sein Außenminister John Foster Dulles die mitteleuropäischen Probleme und damit die deutsche Frage im April 1953 gegenüber der UdSSR ausklammerten. Ein Waffenstillstand in Korea, ein Staatsvertrag mit Österreich und das Ende des Krieges in Indochina wurden von Eisenhower zu Prüfsteinen für die Verständigungsbereitschaft der Sowjetunion erklärt.4 Wie weit Berija 1953 tatsächlich eine deutschlandpolitische Initiative entgegen den Vorstellungen von Außenminister Molotow vorbereitet hat, so die Behauptung seiner Ulbricht hielt persönlich seine schützende Hand über Mielke. In der Untersuchung der "Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle" kam auch belastendes Material gegen Mielke zutage. Siehe: Heribert Schwan, Erich Mielke. Der Mann, der die Stasi war, München 1997, S. 99ff. Siehe: Die unsichtbare Front. S. 379. „Nach Stalins Tod schienen sich erneut Möglichkeiten für die deutsche Wiedervereinigung anzubahnen. Der Vorschlag Churchills vom Mai 1953, einen Garantievertrag für ein geeintes freies Deutschland auszuhandeln, fand in Moskau Beachtung, doch sowohl der Aufstand vom 17. Juni als auch der Sturz Berijas und nicht zuletzt Adenauers Haltung blockierten den Plan. Im Januar und Februar 1954 kam es auf einer Außenministerkonferenz der Großmächte in Berlin wiederum zu keiner Annäherung in der deutschen Frage. Daraufhin gewährte die UdSSR der DDR 'erweiterte' Souveränitätsrechte. Im Mai 1955 gehörte die DDR bereits zu den Unterzeichnerstaaten des 'Warschauer Paktes'." Zit. nach : Hermann Weber, Die DDR 19451986, S. 43. Vgl. Henry A. Kissinger, Die Vernunft der Nationen, Berlin 1994, S. 550.

120 Feinde nach seinem Sturz, läßt sich mit dem vorliegenden Material nicht klären.1 Indizien für eine flexiblere Politik in Deutschland gegenüber den Westmächten im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" sind die deutschlandpolitischen Folgen der Fluchtbewegungen, die auch die SED in ihrer Propaganda thematisierte und die noch aus Moskau erfolgte Anweisung an die KPD, ihre Wahlkampfvorbereitungen zu unterbrechen. Wettig, der die vorliegende Literatur zum Fall Berija gründlich ausgewertet hat, kommt jedenfalls zu dem Schluß: „Angaben und Beweise zu Berijas angeblich antisozialistischen Absichten in Deutschland wurden nicht beigebracht."2 Augenscheinlich ging es der sowjetischen Führung im Frühjahr 1953 vor allem um die Restabilisierung der DDR, als einer Grundvoraussetzung für jegliche deutschlandpolitischen Initiativen gegenüber den Westmächten.3 Die westliche Initiative in der Deutschlandfrage nach dem 17. Juni, das Beharren auf freien Wahlen und die volle Handlungsfähigkeit einer aus solchen Wahlen hervorgegangenen gesamtdeutschen Regierung zwangen die sowjetische Führung, die Stabilisierung der DDR mit ihrer Deutschlandpolitik gegenüber den Westmächten in Einklang zu bringen, und das

geschah.

Das Abrücken von der EinStaatlichkeit Deutschlands dokumentierte die UdSSR offiziell erstmals in ihrer Note an die Westmächte vom 15. August 1953, in der als Beteiligte der Verhandlungen für einen Friedensvertrag die „bestehenden Regierungen" beider deutscher Staaten genannt wurden.4 Diese Abkoppelung eines Friedensvertrages von der staatlichen Einheit bedeutete die Festschreibung der Staatlichkeit der DDR.5 Zur Bekräftigung dieser Entscheidung vor der Weltöffentlichkeit empfing die sowjetische Führung mit großem Aufwand vom 20. bis 22. August eine umfangreiche Regierungsdelegation der DDR in Moskau. Der Staatsempfang für ein Regime, das Die alleinige Initiative Berijas ist nach Abwägung aller bisherigen Informationen zu bezweifeln. Das ist auch die Ansicht von Bonwetsch/Filitov, a.a.O., S. 80ff. Beide stellen jedoch heraus, daß es zwischen Molotow und Berija in Fragen der Deutschlandpolitik „unterschiedliche(r) Standpunkte" gegeben habe, „die im Präsidium aber durchaus für legitim gehalten wurden". Gerhard Wettig, Bereitschaft zur Einheit in Freiheit?, a.a.O., S. 253. Zur Debatte um die BerijaPläne Siehe wieder: Bonwetsch/Filitov, a.a.O., S. 82ff. Für diese These spricht eine von Wettig angeführte Niederschrift Molotows über die Sitzung des Ministerratspräsidiums, auf der es zur Debatte zwischen ihm und Berija gekommen war. „Der

Innenminister befürwortete ausdrücklich nur eine zeitweise Rückkehr zu kapitalistischen Regelungen; später, nach Festigung des SED-Staates, sollte die Einführung des Sozialismus nachgeholt werden. Bei der telefonischen Nachfrage des Außenministers war er sofort mit der Feststellung einverstanden, lediglich eine übermäßige Forcierung des sozialistischen Aufbaus in der DDR sei von Übel. Schließlich besagt vor diesem Hintergrund und aufgrund der damals gültigen politischen Terminologie die Begründung des Interesses an einem 'friedliebenden' Deutschland nicht, daß Berija an eine Preisgabe der DDR an den Westen und/oder an die Demokratie des Westens dachte. Die verwendete Kennzeichnung brachte vielmehr zum Ausdruck, daß er, ungeachtet der zeitweiligen Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse, die fortdauernde Zugehörigkeit der DDR zum sowjetischen 'Friedenslager' im Auge hatte". Wettig, Bereitschaft, a.a.O., S. 254. Dokumente zur Deutschlandpolitk der Sowjetunion, a.a.O.: S. 336. Wettig. Bereitschaft, a.a.O., S. 269. -

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121

wenige Wochen zuvor dem Untergang nur knapp entronnen war, hatte angesichts dieser Niederlage eher die Funktion eines Initiationsritus als einer Bekräftigung unstrittiger Positionen. Die DDR durfte neu anfangen, jetzt mit einer offiziellen Existenzgarantie. Das Geschenk der Eigenstaatlichkeit wurde nicht ohne Beigaben überreicht. Im Paket der Aufwertung der DDR befanden sich auch hilfreiche materielle Komponenten. Moskau sagte die Rückgabe von 33 Betrieben ab dem Jahresbeginn 1954 sowie die Reduzierung der Besatzungskosten auf „jährlich höchstens 5 Prozent der Einnahmen des Staatsbudgets" als Geschenk zu.1 Das Moskauer Maßnahmenpapier hatte keine Erleichterungen genannt, die explizit eine Reduzierung der Kriegsschulden beinhalteten. Gerade die Ausrichtung der DDR-Wirtschaft auf die Reparationsbedürfnisse der UdSSR hatte zu einem nicht unerheblichen Teil die Krisenentwicklung vor dem 17. Juni forciert. So entsprach der exzessive Aufbau von Schwerindustrie und Maschinenbau zwar keineswegs den ökonomischen Gegebenheiten der DDR, wohl aber den Wünschen Moskaus und der ökonomischen Ausrichtung der Sowjetunion. In einem entsprechend überproportionalen Anteil waren Schwerindustrie und Maschinenbau im Reparationsplan vertreten2, was nicht nur den Bedürfnissen der UdSSR sondern auch deren eigener Wirtschaftsstruktur entsprach. So wurden über die Sowjetisierung der Wirtschaft Tatsachen einer gesellschaftlichen Transformation der DDR geschaffen, die eine Zweistaatlichkeit verfestigten. Wird der dringende Bedarf der UdSSR an einem Ausgleich für die Kriegsschäden als primäres Ziel ihrer Politik gegenüber Deutschland zugrundegelegt, ist diese Entwicklung plausibel. Nachdem sich die Westmächte geweigert hatten, der Sowjetunion Reparationsleistungen aus ihren Zonen zuzugestehen, mußten ihre Ansprüche allein aus der von ihr besetzten Zone befriedigt werden. Ohne eine entsprechende Steuerung und Ausrichtung wären diese kaum erfüllbar gewesen. Die Kehrseite dieser Entwicklung war die rigorose Anbindung an die sowjetischen Wirtschaftspläne und ein Abstrich an gesamtdeutschen Optionen. Mit der Kombination aus Reparationsforderungen und dem Vorantreiben des Sozialismusprojektes (einschließlich der mit den Rüstungsplänen zusätzlich steigenden Bedeutung der Schwerindustrie) gemäß den Vorgaben der II. Parteikonferenz wurden die ökonomischen Möglichkeiten dann völlig überreizt. Die mit dem Korea-Konflikt beginnende Embargo-Politik des Westens tat ein übriges.3 Bereits Ende April 1953 sah sich daher die SKK veranlaßt, den Reparationsplan in zwei Bereichen um 20% zu senken.4 Bevor diese Entlastungen wirksam werden konnten, brachen die Aufstände aus. Der 17. Juni katalysierte den Entschluß der Sowjetführung, die DDR als Staat auf Dauer zu betrachten. Für die bis dahin betriebene extensive Reparationspolitik mit ihren destruktiven Auswirkungen ließ sich jetzt keine sinnvolle Begründung mehr finden. Wollte die Sowjetunion dauerhaft die wirtschaftlichen Potenzen der DDR für die eigene Entwicklung nutzen, mußte sie von der einseitigen Entnahme zu einem System -

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Dokumente zur Deutschlandpolitk der Sowjetunion, a.a.O., S. 349f. Vgl. Rainer Karisch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-53, Berlin 1993, S.182. Karisch weist diesen Anteil mit vier Fünfteln aus. Vgl. Karisch, a.a.O.. S. 184. Vgl. Karisch, a.a.O., S. 198. Bei den Bereichen handelte es sich um Güter des Schwermaschinenbaus und um den Schiffbau.

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gegenseitiger Beziehungen übergehen. Die Fortführung der Reparationsproduktion mit ihrer Ausrichtung auf die Schwerpunkte des sowjetischen Wirtschaftsplans war eine Voraussetzung für ein solches System wechselseitiger Abhängigkeiten. Nachdem die DDR von den Reparationsverpflichtungen entbunden war1, wurde das wirtschaftliche Verhältnis beider Staaten fortan mittels Handelsabkommen geregelt. Die UdSSR profitierte von den Fabrikaten der DDR-Industrie; diese war ihrerseits ohne die Rohstofflieferungen aus dem Osten nicht lebensfähig. Bis zur Jahreswende 1953/54 zeichnete sich trotz der demonstrativen Unterstützung der Sowjetunion für die DDR keine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ab. Zusätzlich bestand der Westen auf der Weiterführung von Verhandlungen über die deutsche Frage.2 Auf der Außenministerkonferenz Anfang 1954 in Berlin standen sich die Postionen zur Einigung Deutschlands nach wie vor unvereinbar gegenüber. Der Westen beharrte auf freien Wahlen: dies wurde von der Sowjetunion als Mangel an Kompromißbereitschaft gewertet und mit dem Vorschlag gekontert, ein „System der europäischen Sicherheit"3 zu schaffen, das den Fortbestand beider deutscher Staaten

einschloß und an die Ängste der Nachbarvölker vor einem wiedererstarkenden Deutschland apellierte. Mit dieser sowjetischen Richtungsentscheidung war die Existenz der DDR und damit der SED auf unbestimmte Zeit (zu)gesichert. In der Erklärung der UdSSR-Regierung vom 25. März 19544 wurde der DDR mit der Aufhebung der Kontrolle durch den Hohen Kommissar und der Herstellung „voller Souveränität" größere Handlungsfähigkeit eingeräumt. Die Sowjetunion sicherte der DDR die gleiche Qualität der Beziehungen zu wie den anderen souveränen Staaten und die Freiheit, „über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten, einschließlich der Frage der Beziehungen zu West-Deutschland zu entscheiden". Einziger wenn auch gravierender und beliebig interpretierbarer Vorbehalt blieb die Festschreibung der Beibehaltung von Funktionen der Sowjetunion, „die mit der Gewährleistung der Sicherheit in Zusammenhang stehen und sich aus den Verpflichtungen ergeben, die der UdSSR aus dem Viermächteabkommen erwachsen".5 Ein Jahr später wird mit der Einbeziehung in den Warschauer Pakt und dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR im September 1954 die Zweistaatlichkeit besiegelt. -

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11.2

Repression und Integration

durch den 17. Juni auf die Erhaltung ihres Status im eigenen Land zurückgeworfen. Um diesen zu sichern, mußte sie zweigleisig fahren: einerseits den Die SED

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war

Dabei ist anzumerken, daß die DDR auch weiterhin durch die Besatzungskosten (bis 1958) belastet war und zudem keinen Zugriff auf die Erträge aus der Uranförderung hatte. Siehe: Karisch, a.a.O., S. 236. Vgl. Wettig, Bereitschaft, a.a.O., S. 269. Wettig, Bereitschaft, a.a.O., S. 273. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik der Sowjetunion, a.a.O., S. 501f. Ebd., S. 502.

123

Transformationsprozeß in Richtung Sozialismus, gemäß der Grundorientierung des „Neuen Kurses", verlangsamen und andererseits, der fundamentalen Herausforderung durch das aufständische Volk begegnend, wirksame Repressionsmaßnahmen zur Machtsicherung samt Schritten zur Integration von, der SED kritisch gegenüberstehenden, Bevölkerungsteilen ergreifen. Am Beispiel der Kirchen läßt sich die von der SED befolgte Strategie der institutionalisierten Befestigung anschaulich illustrieren. Bis Mitte 1953 wurden die Repressalien gegenüber den Kirchen eingestellt. Doch die Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche vom 11.6.1953 befreiten in den kommenden Jahren die Kirchen nicht von staatlichen Pressionen. Vielleicht verdankte die SED ihrem erstaunlich schnellen Einlenken, daß die Kirchen sich in ihrer Gesamtheit während der Ereignisse um den 17.6.1953 sehr zurückhielten. Sie riefen die Menschen in der DDR zur Besonnenheit auf. Demzufolge hatten die Juni-Aufstände keine wesentlichen Auswirkungen auf das neu festgelegte Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Die Burgfriedenspolitik des Frühsommers war jedoch nicht von Dauer. Die SED begann, gemäß den sowjetischen Anweisungen, eine Zurückdrängung der Kirchen mit anderen Mitteln. Unmißverständlich formulierte die SED-Führung in ihrer Entschließung der 15. ZK-Tagung vom 24.-26.7.1953 ihr Verständnis vom zukünftigen Umgang mit den Kirchen: „(...) selbstverständlich jeden Versuch bekämpfen, die Kirche oder kirchliche Einrichtungen zur Unterwühlungsarbeit gegen die DDR oder zur Kriegshetze auszunützen."1 Ulbricht verdeutlichte, daß die taktische Unterbrechung der repressiven Methoden keinesfalls eine Änderung der Bekämpfung des Einflusses der Kirchen an sich bedeutete: „Gegenüber den reaktionären Einflüssen der Kirche und der Geistlichkeit ist es notwendig, eine systematische, grundsätzliche, politische und wissenschaftliche Aufklärungs- und Kulturarbeit, besonders über Fragen der Naturwissenschaften unter der Jugend, durchzuführen."2 Die bisherige Politik der gewaltsamen Zurückdrängung der Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben durch eine neue, differenziertere Politik zu ersetzen, die den Notwendigkeiten einer Konfliktbegrenzung angepaßt war, erforderte langfristig eine realistische Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Kirche und Staatspartei. Eine solche Analyse sollte zur Grundlage für eine zukünftige kirchenpolitische Konzeption der SED werden. Bis Ende des Jahres 1953 lagen die Berichte der einzelnen SEDBezirksleitungen vor, die dann im ZK-Apparat gesammelt, ausgewertet und in Analysen zusammengefaßt wurden.3 Walter Ulbricht forderte in der Politbüro-Sitzung vom 2.3.1954 die Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Ausarbeitung der staatlichen Vorgehensweise gegenüber den Kirchen beschäftigen sollte.4 Am 14.3.1954 lag dann „Der

neue Kurs und die Aufgaben der Partei. Entschließung der 15.Tagung des ZK der SED", in: Dokumente der SED, Bd. IV, Berlin 1954, S. 449-478, hier S. 467. "Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei", SAPMO-BArch DY 30 IV 2/14/6, Bl. 154. Vgl. "Tätigkeit des Sektors Kirchenfragen zur Verwirklichung des „Neuen Kurses" auf dem Gebiet der Kirchenpolitik", SAPMO-BArch DY 30 IV 2/14/6, Bl. 210. Vgl. SAPMO-BArch DY J IV 2/2/350, Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 2.3.1954, Tagesordnungspunkt 6: "Kirchenfragen".

124

mit dem Dokument "Die Politik der Partei in Kirchenfragen"1 erstmals ein Konzept vor. Auch in den späteren Jahren verlor dieses Dokument nichts von seiner zentralen

Bedeutung.2

und Moskau Das Ziel der klerikalen Entfremdung der DDR-Gesellschaft wurde hatte das auch nicht verlangt von der SED nicht aufgegeben.3 Ab 1955 sollte für die Jugendlichen, die die Schule verließen, „im Interesse der Verstärkung der staatsbürgerlichen Erziehung" eine Jugendweihe stattfinden.4 Das kirchliche Publikationswesen sollte durch das "Amt für Literatur- und Verlagswesen" überwacht werden. Die Einführung von Baustoffen, Fahrzeugen und Ausrüstungsgegenständen aus dem Westen sollte nicht mehr genehmigt werden.5 Im zentralen Parteiapparat wurde eine eigenständige Abteilung "Kirchenfragen" des Zentralkomitees aufgebaut, welche an die Stelle des bislang im Rahmen der Abteilung "Staatliche Verwaltung" tätigen Sektors "Kirchenfragen" trat. Die vom Politbüro beschlossenen Aufgaben dieser Abteilung bedeuteten einen klaren Kampfauftrag gegen die Kirchenführungen.6 Die zentrale Aufgabe der Abteilung war natürlich die „Anleitung und Kontrolle der Parteileitungen (...) Ausarbeitung von grundsätzlichen Gesichtspunkten für die Politik der Partei gegenüber den Kirchen (...) Anleitung, Koordinierung und Kontrolle der Arbeit der Genossen im Staatsapparat".7 Am 24.11.1954 beschloß das ZK-Sekretariat die Einrichtung einer eigenständigen Abteilung für Kirchenfragen und am 21. Dezember befahl der Staatssekretär für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, die Schaffung einer Abteilung für Kirchenfragen in der Staatssicherheit, die sich in ihrem organisatorischen Aufbau an der ZK-Abteilung orientierte. Eine der Hauptaufgaben dieser neuen Abteilung der Staatssicherheit sollte -

-

1

2

3

4

5

7

Zit. nach: Manfred Wilke unter Mitarbeit von Martin Georg Goerner und Horst Laude, SEDKirchenpolitik 1953-1958. Die Beschlüsse des Politbüros und des Sekretariats des ZK der SED zu Kirchenfragen 1953-58, Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat. Berlin 1992, S. 43ff, künftig zit.: SED-Berlin-Kirchenpolitik 1953-1958. Der Text wurde als Geheime Verschlußsache an alle ersten Bezirks- und Kreisleitungen der SED verschickt und auch später nicht widerrufen. In dem Beschluß des Präsidiums des Ministerrates der UdSSR zum „Neuen Kurs" in der DDR hieß es: „Darum muß (das) Hauptkampfmittel gegen den reaktionären Einfluß der Kirche und der Geistlichen eine tüchtig durchdachte Aufklärungs- und Kulturarbeit sein. Als die Grundform der antireligiösen Propaganda mit einer Weiterverbreitung der wissenschaftlichen und politischen Kenntnisse unter der Bevölkerung anzustreben." Zit. nach: SED-Kirchenpolitik 1953-1958. a.a.O., S. 16. Mit seiner Betonung wissenschaftlicher, d.h. marxistisch-leninistischer „Aufklärungs- und Kulturarbeit" setzte Ulbricht die sowjetische Vorgabe um. A.a.O.. S. 47. Vgl. a.a.O., S. 50f.

..Zerschlagung der durch die Kirchenhierarchie beider Konfessionen verbreiteten feindlichen Ideologien und Provokationen." Anlage Nr. 10 zum Protokoll Nr. 155 des SED-Politbüros vom 4. Januar 1955, in: SED-Kirchenpolitik 1953-1958, a.a.O., S. 116. A.a.O., S. 117. Vgl. auch Martin-Georg Goerner, a.a.O., S. 168-178.

125

Rekrutierung von Geistlichen Informator(en)" sein.1

die

als

„geheimer

Mitarbeiter" oder

„geheimer

Die kirchenpolitische Konzeption, von der SED bei der Durchführung des „Neuen Kurses" entwickelt, sah vor, differenziert auf die politische Einstellung der Christen einzuwirken. In dem Grundsatzbeschluß vom 14. März 1954 verpflichtete das Politbüro die Sekretariate der Bezirks- und Kreisleitungen die „fortschrittlichen Kräfte" in den Kirchen systematisch zu unterstützen und spiegelbildlich auf der anderen Seite „die unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe getarnte chauvinistische und militaristische Hetze durch bestimmte Kreise der evangelischen und katholischen Kirchenhierarchie zu entlarven. Das Ziel muß sein, diese Elemente von den Massen der

Kirchenanhänger zu isolieren".2 Zu dem Zeitpunkt, als die SED

ihre Kirchenpolitik konzeptionell und organisatorisch die Kirchen die einzigen noch verbliebenen gesamtdeutschen formulierte, Institutionen. Darauf nahm die SED nicht nur reaktiv, wie im Fall der Unterbindung kirchlichen Interzonenhandels, Einfluß.3 Bereits mit dem Grundsatzbeschluß vom März 1954 machte die SED deutlich, mit welcher Zielrichtung sie kirchenpolitisch vorzugehen gedachte. „Es muß erreicht werden, daß immer mehr Geistliche in ihren Predigten, Reden und in der Presse für die Verwirklichung der Vorschläge der Sowjetunion auf der Außenministerkonferenz und gegen die amerikanische Kriegspolitik Stellung nehmen."4 Im Jahre 1955 folgten neben der Durchsetzung der neu

waren

Vgl. SED-Kirchenpolitik 1953-1958, a.a.O., S. 101. A.a.O., S. 45. Zur „Differenzierungs- und Unterwanderungspolitik der SED"; vgl. auch MartinGeorg Goerner, a.a.O., S. 231-278. Diese Maßnahme der SED war eine Voraussetzung für geregelte Beziehungen zwischen den Kirchen und der DDR-Regierung, um im Zusammenhang mit dem innerdeutschen Handel einen Weg zu finden, die östlichen Kirchen finanziell zu unterstützen. „Im Rahmen des Transferprogramms im Markt der DDR, bei dem westliche Warenlieferungen von der DDR den östlichen Kirchen im Verhältnis 1:1 gutgeschrieben wurden, sind von 1957 bis 1990 Rohstoffe im Wert von 1,4 Milliarden DM geliefert worden. Diese Mittel dienten vor allem der Subventionierung der Landeskirchen, der Diakonie und anderer kirchlichen Organisationen." Zit. nach: Bericht der Enquete-Kommission, Materialien, Bd. I, a.a.O., S. 535. Vgl. dazu auch Ludwig Geißel, Unterhändler der Menschlichkeit, Erinnerungen, Stuttgart 1991, S. 236-480. SED-Kirchenpolitik 1953-1958, a.a.O., S. 44f. Die Berliner Außenministerkonferenz (Dulles. Molotow. Eden, Bidault) tagte vom 25. Januar bis 18. Februar 1954. Die Außenminister konnten sich in der Deutschlandfrage sowie bei Problemen der Sicherheit nicht einigen. Während die Westmächte auf freien gesamtdeutschen Wahlen zu einer Nationalversammlung bestanden, die die Aufgabe haben sollte, eine Regierung zu bilden, eine Verfassung auszuarbeiten, einen Friedensvertrag vorzubereiten, abzuschließen und der obendrein Deutschland die Wahl seines Bündnisses freistellen sollte, vertrat Molotow die entgegengesetzte Reihenfolge: „1. Einen Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten auszuarbeiten; 2. eine provisorische Regierung durch Bundestag und Volkskammer einzusetzen; 3. die Besatzungstruppen bis auf Kontrollkontingente abzuziehen und freie gesamtdeutsche Wahlen durchzuführen; 4. eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden. Das wiedervereinigte Deutschland müsse neutral sein und in ein kollektives Sicherheitssystem in Europa eingebunden werden. Erstmals wird so die deutsche Frage mit dem Problem der europäischen Sicherheit verknüpft." Zit. nach: Hans-Georg Lehmann:

126 zwei weitere einschneidende Maßnahmen seitens der SED. Zum ersten bereitete die SED die Abschaffung des Kirchensteuereinzugs durch den Staat vor und zum zweiten warb eine Monatszeitschrift für die fortschrittlichen Kräfte in den Kirchen. Der Zeitschrift „Glaube und Gewissen" wurde neben der Entwicklung einer christlichen Ethik, die kompatibel mit der Politik der Partei war, eine eindeutige Funktion in der innerdeutschen Auseinandersetzung zugewiesen, die damals namentlich innerhalb der evangelischen Kirchen stattfand. Der Sekretariatsbeschluß vom März 1955 legte fest, den Kampf „von Geistlichen und Theologen für Frieden und gegen die Remilitarisierungspolitik Adenauers" zu popularisieren. „Dabei sollten auch Artikel aus der ,Stimme der Gemeinde' nachgedruckt werden (Niemöller, Welms, Mochalski, Barth, Schweiz etc.)."1 Besonders die Gründung dieser Zeitschrift verweist auf die gesamtdeutsche Dimension der SED-Kirchenpolitik in der Phase des „Neuen Kurses". Die Kirchentage der evangelischen Kirchen waren zu dieser Zeit auch immer gesamtdeutsche Manifestationen. Sie boten Gelegenheit, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu fordern und auch das Verhalten der Kirchen in den beiden gegensätzlichen deutschen Staaten zu diskutieren. Auf dem Hamburger Kirchentag im August 1953 hielt Martin Niemöller ein weit beachtetes Referat zum Thema "Unser Volk unter den Völkern". Als roter Faden der Diskussion hieß es in der Entschließung der Arbeitsgruppe "Politik und Kirche": „An allen Tagen war von der Wiedervereinigung als unserer nächsten völkischen Aufgabe die Rede."2 Diese Forderung war nicht ohne Einverständnis der Alliierten zu verwirklichen und somit war in den evangelischen Kirchen die Westbindung der Bundesrepublik und der damit zusammenhängende Aufbau der Bundeswehr umstritten, verbaute er doch den Weg zur Einheit. Christian Hanke hebt hervor, daß auf den Kirchentagen dieser Jahre noch etwas anderes geschah. „Psychologisch wurde auf dem Kirchentag also auch bewußt, daß es gegenüber dem Staats- und Gesellschaftssystem der DDR um die Treue zum christlichen Glauben als letzte Bastion ging, hingegen in bezug auf die Bundesrepublik um die rechten Maßstäbe der konkreten Mitarbeit. Die Erfahrungen an der Basis der Gemeinden und des öffentlichen Lebens ließen das Festhalten an der Wiedervereinigung zunehmend als Verbesserung der Lebensumstände auf dem Gebiet der DDR erscheinen und die Verhältnisse in der Bundesrepublik als Chance christlicher Mitwirkung begreifen."3 Das Konzept der SED-Kirchenpolitik, das durch den „Neuen Kurs" initiiert wurde, war bei aller Eindeutigkeit der Zielsetzung durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet. Zwar wurde den Kirchen eine eng definierte religiöse und karitative Tätigkeit erlaubt, ihr Einfluß in der Gesellschaft selbst aber zielstrebig und systematisch

Jugendweihe

Deutschland-Chronik 1945 bis 1995, Bd. 332 der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 95. SED-Kirchenpolitik 1953-1958, a.a.O., S. 143. Zit. nach: Christian Hanke, Die Deutschlandpolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1945 bis 1990, Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung; Bd. 68, Berlin 1999, S. 139. Christian Hanke, a.a.O., S. 39. Hanke verweist noch auf eine andere Funktion, die die Kirchentage nach dem 17. Juni 1953 für die Teilnehmer aus der DDR wahrnehmen, „die Funktion eines trostspendenden Bandes der deutschen evangelischen Christenheit".

127 Die SED unternahm es, die Geistlichen und die kirchlichen Mitarbeiter differenziert zu behandeln und aktiv Einfluß auf die innerkirchliche Willensbildung und die damit verbundenen Personalentscheidungen zu nehmen. Gleichzeitig versuchte sie, Teile der Kirche im Westen für ihre deutschlandpolitischen Zielsetzungen zu gewinnen. Dabei verließ sich die SED nicht allein auf ihre Propaganda, sie nutzte zielstrebig die von ihr herbeigeführte finanzielle Bedrängnis der Kirchen in der DDR. Sie verwendete die Verhandlungen mit der EKD über finanzielle Transferleistungen dazu, die Anerkennung der DDR in der Bundesrepublik voranzutreiben. Diese Veränderungen schufen die Voraussetzung dafür, daß es der SED zunehmend gelang, die Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben der DDR zu verdrängen. Eine Milderung der Repression wie im Fall der Kirchen bewirkten „Neuer Kurs" und 17. Juni auch im Bereich der Justiz. Im ZK-Kommuniqué vom 9. Juni waren die Überprüfung von Haftstrafen und Entlassungen von Inhaftierten angekündigt worden. Bevor entsprechende Maßnahmen in Kraft treten konnten, konterkarierten die strafrechtlichen Schritte der Niederschlagung der Aufstände die beabsichtigte Amnestiepolitik. Angesichts von Standgerichtsverfahren und Massenverhaftungen ließ sich die neue Linie der Justiz schwerlich erkennen. Darum bemühte sich das ZK auf seiner 14. Tagung, der allgegenwärtigen Diskreditierung des „Neuen Kurses" mit der Feststellung entgegenzuwirken, daß „mit größter Sorgfalt zwischen den ehrlichen (...) Werktätigen" und den „Provokateuren" zu unterscheiden sei.1 Auf der 15. Tagung des ZK zog Otto Grotewohl auch die strafrechtliche Bilanz der abgemilderten politischen Gangart2: Demnach waren seit dem 11. Juni etwa 18.000 Strafverfahren und Urteile überprüft und als deren Folge über 12.500 Personen entlassen worden.3 Im Nachgang der niedergeschlagenen Aufstände wurde das „Zuckerbrot" des Gnadenerweises des „Neuen Kurses" von der „Peitsche" abgelöst. Doch vielfach war das Selbstbewußtsein der Arbeiter ungebrochen geblieben. Bedacht darauf, die Aktivisten der Streiks und Demonstrationen aufzuspüren und abzustrafen, leitete die SED auf der 15. Tagung die Suche nach „feindlichen Elementen" in den Betrieben ein. Hintergrund dieser Kampagne waren latent vorhandene Proteste bis hin zu Streiks, vor allem in den sächsischen Bezirken mit ihrer starken sozialdemokratischen Prägung.4 Folgerichtig

zurückgedrängt.

Falco Werkentin, Recht und Justiz im SED-Staat, Bonn 1998, S.36. Folgende Zahlenangaben nach SAPMO-BArch DY 30 IV 2/1/119, Bl. 27. "Politische Strafiustiz in der frühen DDR", a.a.O., S. 19. Ähnliche Zahlen finden sich in sowjetischen Quellen. Siehe: Dokument Nr. 1 : Bericht über die politische und wirtschaftliche Lage der DDR im 3. Quartal 1953, in: "Berichte des Hohen Kommissars der UdSSR" in Deutschland aus den Jahren 1953/1954. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation, in: Materialien der Enquete Kommission, a.a.O., Band II/2, S. 1.367-1.418, hier S. 1.373. Auch in diesem Fall vollzog die SED die sowjetische Politik nach, so verkündete am 28. März 1953 die „Prawda" eine Amnestie des Obersten Sowjets. „In wenigen Wochen wurden 1.200.000 Häflinge, d.h. fast die Hälfte derer, die in den Lagern und Strafkolonien einsaßen, in die Freiheit entlassen." Zit. nach: Nicolas Werth, Ein Staat gegen sein Volk, in: Stephane Courtois/Nicolas Werth/Jean-Louis Panne/Andrzej Paczkowski/Karel Bartosek/Jean-Louis Margolin: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München, Zürich 1998, S. 278. Einzelheiten und Organisierung dieser Kampagne in Heidi Roth, „Ich bin der Meinung, daß morgen die Banditen auf die Straße fliegen, damit wir leben können" Verfolgungen durch die -

128

plakatierte die SED ihre betrieblichen Säuberungen als Vorgehen gegen den und erklärte die „Sozialdemokratismus" „Zerschlagung faschistischer wieder innerer politischer Festigung in um zur „zu Aufgabe, Untergrundorganisationen" den Betrieben zu kommen".1 Mit der „Entlarvung" von „Feinden" in betriebsöffentlichen Versammlungen disziplinierte die SED über Wochen wirkungsvoll aufmüpfig gewordene Belegschaften. Parteiausschlüsse, fristlose Entlassungen und Wohnungskündigungen, ganz abgesehen von der, vor den sowie auch von den eigenen Kollegen betriebenen, öffentlichen Entehrung, brachten Betroffene wie Beteiligte und Zuschauer dauerhaft zum Schweigen. Erst mittels dieser rigorosen Kleinarbeit bei der Durchkämmung von Betrieben, erst durch die Installierung von hunderten, kleinen „Selbstreinigungsprozessen" in Arbeitskollektiven und Brigaden war es der SED möglich, die abschreckende Wirkung der sowjetischen Panzer zu verstetigen und die Impulse des 17. Juni zu ersticken. Die fortdauernde Prägung der „53er-Generation"2 durch ein Klima von Einschüchterung und gegenseitiger Überwachung konnte sich die SED mit dieser Bewältigung des 17. Juni ins Logbuch der "eigenen" Taten gutschreiben. Den erforderlichen Nachschub an Verdächtigen lieferte das Staatssekretariat für Staatssicherheit, zu dem das MfS nach der Juni-Schlappe zurückgestuft worden war. Trotz formeller Eingliederung in die Strukturen des Innenministeriums blieb den Geheimdienstlern ihre Eigenständigkeit weitgehend erhalten.3 Die SED reorganisierte die Parteiarbeit, die unter Zaisser angeblich „vernachlässigt" worden war; sie bildete eine Kreisleitung im SfS, die direkt der Abteilung "Sicherheitsfragen" im ZK unterstand; eine analoge Struktur entstand in den Bezirken und Kreisen.4 Hinter der neuen Strategie und Taktik der Staatssicherheit standen auch jetzt die sowjetischen „Freunde". Deren Interesse lag sowohl im Ausbau des Überwachungs- und Unterdrückungsapparates im Lande als auch in einer verstärkten operativen Arbeit in Richtung Westen.5 Daß die „Freunde" ihrem östlichen Geheimdienst-Vorposten mehr zutrauten als die Schlappe des 17. Juni erwarten ließ, zeigt die Eingliederung der seit 1951 im DDR-Außenministerium beheimateten

Auslandsaufklärung "Außenpolitischen Nachrichtendienstes" (APN), camoufliert als wirtschaftswissenschaftliche Forschung"(IWF), in das SfS. Das Statut

SED nach dem

17. Juni

1953.

In:

Hermann

Weber

u.a.:

Jahrbuch

in Form des "Institut für des SfS vom

für historische

Kommunismusforschung 1999, Berlin 1999, S. 261. Zitiert nach Heidi Roth, a.a.O., S. 261. Heidi Roth, a.a.O., S. 269. Vgl. Wettig, Bereitschaft zu Einheit und Freiheit?, a.a.O., S. 263. Vgl. Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann, Konzentrierte Schläge. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956, Berlin 1998, S. 20f Vgl. ebd., S. 16f, sowie S. 26ff Für die Westausrichtung steht auch die erwähnte Eingliederung des bisher dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten unterstellten außenpolitischen Aufklärungsdienstes in das SfS.

129

Oktober 1953 bestimmte ausdrücklich, daß die Beschlüsse und Direktiven von Politbüro und ZK der SED die Basis der Arbeit der Staatssicherheit bilden.1 Für die Reorganisation der als „ungefestigt" angesehenen Staatssicherheit und ihre neue Strategie der „konzentrierten Schläge" in der Verbindung des Kampfes gegen innere Feinde mit der Bekämpfung der äußeren Bedrohung in Gestalt der „Agentenzentralen" im westlichen Ausland, erwies sich Wollweber als der geeignete Mann, der seine Aufgaben mit „ausgesprochener Härte" auch zur Zufriedenheit Ulbrichts ausführte, bis es in Folge des XX. Parteitages der KPdSU zum Zerwürfnis zwischen den beiden kam.2 Das Hauptaugenmerk der Staatssicherheit lag für die nächsten zwei Jahre auf der Durchführung von Großaktionen zur Aufhebung von „Agentennestern".3 Diese Ausrichtung entsprach voll und ganz der Interpretation des 17. Juni als einem von außen

gesteuerten Ereignis.

Das zentrale Problem der Misere der DDR lösten weder politisches Einlenken und materielle Erleichterungen noch jegliche Erhöhung des Drucks auf die Bevölkerung. Die Fluchtbewegung war Ausdruck einer strukturellen Systemkrise, zu der der oberflächlich ansetzende „Neue Kurs" nicht einmal ansatzweise vordrang und die durch die verstärkte Repression nur neue Nahrung erhielt. Die Massenflucht verringerte sich kurzzeitig mit dem „Neuen Kurs" und seinen zunächst sichtbaren Erleichterungen. Die Zahl der Flüchtlinge stieg jedoch bereits im IV. Quartal 1953 wieder stark an. Ein parteiinterner Bericht gab die Zahl der Geflohenen für den Monat Juni 1953 noch mit 36.496 an.4 Im Juli stieg sie wieder auf insgesamt 11.386, im August auf 14.562 und im September auf 16.229. Das Jahr 1954 wies eine von Quartal zu Quartal ansteigende Zahl von „Republikfluchten" auf. Im Jahr 1955 war wieder das Niveau des 1. Halbjahres 1953 erreicht.5 Die Zahlen aus westlichen Quellen über den Flüchtlingsstrom von Deutschland nach Deutschland sind wesentlich höher. Sie belegen das Anschwellen der Flüchtigen nach der „Verschärfung des Klassenkampfes" des Sommers 1952 bis zur Kulmination im ersten Halbjahr 1953. Allein im März 1953 beantragten 58.605 Personen die Notaufnahme im Westen.6 Das hohe Niveau der Flüchtlingszahlen von 1953 wurde drei Jahre später fast erneut erreicht. Die SED-Propaganda verstieg sich im Gegenzug gern in die Beschreibung der Gegenbewegung zur Flucht der eigenen

Vgl. Karl-Wilhelm Fricke, Staatssicherheit, Ministerium für (MfS), in: Rainer Eppelmann/Horst Möller/Günther Nooke/Dorothee Wilms (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus in 2 Bänden, Bd.2, 2. aktualisierte Auflage, Paderborn, München, Wien, Zürich 1997, S. 807. Vgl. ebd.. S. 35f, Siehe: auch Flocken/Scholz, a.a.O., S. 171ff. die Zäsur für eine

der Staatssicherherheit mit der

Fricke/Engelmann

setzen

Deutschland",

16.9.1953, SAPMO-BArch DY 30 IV 2 7 13/394, Seite 3.

„Umorientierung"

Unterzeichnung der Pariser-Verträge im Oktober 1954 und dem daraus resultiernden erhöhten Bedarf an Aufklärungsarbeit im Westen. Siehe: Fricke/Engelmann, a.a.O., S. 222f. Vgl. "Situationsbericht über den gegenwärtigen Stand der Bevölkerungsbewegung nach Westvom

Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2 A/503, Bl. 71. Vgl. Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung Düsseldorf 1994, S. 146.

aus

der SBZ/DDR

1945/1949-1961,

130

Bevölkerung in den Westen, der „Umsiedelung von Einwohnern West-Deutschlands in die DDR".1 Die parteiinternen Zahlen dokumentieren das niedrige Niveau dieser „Zuwanderung". Für das gesamte Jahr 1952 wurden 24.294 „Umsiedler" aus WestDeutschland gezählt.2 Im I. Quartal 1953 ging das monatliche Quantum weiter zurück. Während im Januar noch 844 Personen3 in die DDR kamen, waren es im April 758.4In einzelnen Bezirken kam der Zuzug fast gänzlich zum Erliegen.5 Und auch der nach der Verkündung des „Neuen Kurses" erhoffte Anstieg der Rückkehrer blieb aus. Zwar stieg die Zahl derer, die in die DDR zurückkamen bzw. erstmaligen Zuzug beantragten, doch blieb sie auf einem niedrigen Niveau.6 Ihre Zahl stieg, auf bescheidenem Niveau, erst 1954.7 Für den Gesamtzeitraum 1951 bis 1953 war ein rapides Absinken des Zuzuges in die DDR festzustellen. Nach den halbherzigen Maßnahmen des „Neuen Kurses" erhöhte sich die Zahl der Zuwanderer kurzzeitig um fast 70% gegenüber dem Vorjahr. Mit der gesellschaftlichen Ernüchterung sank sie wieder stetig. Auch der Bevölkerungszuwachs konnte den Exodus kaum ausgleichen. Nach eigenen Angaben lag er für den Zeitraum

rund 500.000 Personen.8 Trotz dieses Zuwachses sank die der DDR von 18,4 Millionen im Jahre 1950 auf 17,9 Millionen fünf Jahre später, also um 441.000 Menschen. Der „Wanderungsverlust", so die interne Ermittlung, wurde im 1. Fünfjahrplan mit rund 940.000 Personen angegeben.9 Diese für die DDR fatale Bevölkerungsentwicklung bedeutete in erster Linie eine Verringerung der Zahl von Menschen im arbeitsfähigen Alter. Während in den ersten Jahren des Fünfjahrplanes in Form von Arbeitssuchenden noch einige Reserven an Arbeitskräften vorhanden waren, hatten sich diese mittlerweile im wesentlichen erschöpft. Bis Ende 1955 verringerte sich die Arbeitskraftreserve gegenüber 1950 um mehr als 280.000 1950-1955

bei

Bevölkerungszahl

1

2 3 4

6 7

8

9

Sprachregelung für ehemalige DDR-Flüchtlinge, die später zurückkehrten bzw. für erstmalig aus

dem Westen Zuziehende. Siehe neunseitiges vertrauliches Merkblatt zur Fluchtentwicklung, in: SAPMO-BArch DY30 IV 2/13/394, S. 7. Vgl. ebd. Vgl. ebd., "Bericht über die Entwicklung der Republikflucht im April 1953", vom 23.5.1953, Seite 4. "Einschätzung über den Stand der Republikflucht und die, von den Bezirks- und Kreisleitungen eingeleiteten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung und zur Werbung von Fachkräften aus WestDeutschland", 13.4.1953, S. 8: „Im Verhältnis zur Zahl der Republikflüchtigen ist die Zahl der aus West-Deutschland zugezogenen Personen relativ gering. Sie ist in keinem Fall höher als 10 % der Republikflüchtigen. Teilweise ist ein Absinken der Zuzüge festzustellen, wie z.B. im Bezirk Schwerin, wo im Oktober 1952 29, im November 21, im Dezember 10 (wahrscheinlich mit auf die Weihnachtsfeiertage zurückzuführen) und im Januar 1953 15 Personen aus West-Deutschland zugezogen sind." Vgl. SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2 A-503, Bl. 75. Vgl. ebd.. Bl. 75. Siehe auch Heydemeyer, a.a.O., S. 44. Der Bericht zum 1. Fünfjahrplan ging davon aus, daß im Zeitraum von 1950-1955 die Geburtenzahl pro 1.000 Personen von 16,5 auf 16,3 Fälle zurückging. Die Zahl der Sterbefälle pro 1.000 Personen betrug durchschnittlich für den gleichen Zeitraum 11,9. Bericht über den 1. Fünfjahrplan 1950-1955, SAPMO-BArch, DE 1/31468, Bl. 101. Vgl. ebd.. Bl. 101.

131 Personen. Zum verbliebenen Reservoir konstatierte der Bericht

zum

1.

Fünfjahrplan:

„Bei den im Jahre 1955 noch vorhandenen Arbeitssuchenden handelt

es sich im wesentlichen um bedingt arbeitsfähige Personen."1 Durch den ständigen Verlust von Arbeitskräften wurde zwangsläufig der wirtschaftliche Spielraum der DDR immer

geringer.

Die DDR blieb ein Land, das von seinen Bürgern verlassen wurde. Alle, die blieben, der Gnade der Obrigkeit abhängig, die die Zügel entweder straffte oder lockerte, die aber den 17. Juni 1953 niemals vergessen sollte.2

waren von

1

Vgl. ebd.. Bl. 102. So fragte am 31.08.1989

Mielke in einer Dienstbesprechung seine Generäle: „Ist es so, daß der 17. Juni ausbricht?" Zit. nach: Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.): Ich liebe Euch morgen doch alle!, Berlin-Ost 1990, S. 125, vgl. auch: Stefan Wolle, „Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?". Der Volksaufstand in der DDR als Trauma, Hoffnung und Menetekel, in: Kirchliche Zeitgeschichte, 9. Jahrgang, Heft 1 1996, Jahrgang 9, S. 111-118.

132

12.

Die „zweite" Staatsgründung der DDR nach dem 17. Juni und die Grablegung des „Neuen Kurses"

Jüngere Forschungen über Ursachen und Verlauf des Juni 1953 haben die Beurteilung nahegelegt, in Folge des 17. Juni sei es zur „inneren Staatsgründung" der DDR gekommen. Beginnend mit der von Ulbricht vorgenommenen Neuformierung von Politbüro, ZK und Sekretariat über die Reorganisation des Partei- und Staatsapparates,

der Überwachungs- und Repressionsorgane und im gesamten gesellschaftlichen Wandel von der Parteispitze bis zu den Arbeitsbrigaden entstand ab dem Sommer 1953 tatsächlich das Innenleben der DDR in einer neuen Qualität. Doch nicht allein innere Prozesse ließen die DDR zu dem werden, was sie dann über dreißig Jahre lang war. Ohne die Berücksichtigung der äußeren Faktoren ihrer Existenzbedingungen, der Orientierung der Sowjetunion auf eine Verstetigung der deutschen Teilung und die daraus folgende internationale Stabilisierung der DDR ist die „innere Staatsgründung" nicht erklärbar. Beide, innere wie äußere Konsolidierung, bedingten sich durchaus auch wechselseitig. Vom Um- und Ausbau des Macht- und Disziplinierungsapparates in der DDR profitierte Moskau, indem die direkte gewaltsame Intervention, militärisch aufwendig und außenpolitisch schädlich, als drohende letzte Konsequenz in den Hintergrund treten konnte. Eine „Sicherung der Macht aus eigener Kraft."1 entsprach dem Bedürfnis der nachstalinschen Sowjetführung nach einer effektiveren Gestaltung der Beziehungen zu den Staaten im eigenen Herrschaftsgebiet. Mit dem Akzeptieren des Status quo in Deutschland seitens der Sowjetunion war der Weg frei, die DDR diesen Bedürfnissen anzupassen. Der 17. Juni katalysierte dann die Ausprägung der repressiven Bestandteile dieses Gesellschaftsmodells; hatten die Aufstände und Proteste doch gezeigt, daß das Volk keineswegs auf friedlichem Wege für das System einzunehmen war. Der Terminus der „inneren Staatsgründung" legt nahe, daß die DDR erst mit und nach dem 17. Juni 1953 das wurde, was sie bis zu ihrem Ende war. Doch ihre Grundmerkmale das Machtmonopol der Partei waren selbst vor 1949 schon Realität. Auch der Aufbau der Sicherheitsstrukturen, einschließlich der Staatssicherheit sowie einer Militarisierung der Gesellschaft, setzte weit vor 1953 ein und trug dabei nicht den Charakter des Provisorischen. Es war das zweifelhafte "Verdienst" der deutschen Kommunisten, den Posten, auf den sie von Moskau gesetzt worden waren, mit aller Energie auszufüllen, selbst wenn es sich um eine Position auf Abbruf handelte. Dieses Beharren wurde nach dem 17. Juni mit der Existenzgarantie für Partei und Staat honoriert und es folgte der allumfassende Prozeß der innergesellschaftlichen Strukturierung nach den Erfordernissen des Sozialismus-Ziels in konfrontativer Abgrenzung zur Bundesrepublik. Es ist der 17. Juni, der den qualitiativen Sprung dieser Entwicklung begründet. Niemals zuvor war die DDR in ihrer Existenz derart fundamental bedroht. Und es ist die bittere Ironie des Schicksals, daß die

den

Ausbau

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Armin Mitter, Der „Tag X" und die „Innere Staatsgründung" Kowalczuk/Mitter/Wolle (Hrsg.): Der Tag X. 17. Juni 1953, a.a.O., S. 25.

der

DDR,

in:

133

Bevölkerung, die den Staat hinwegzufegen drohten, gerade die Entscheidung mobilisierten, ihn dauerhaft zu sichern. Was dem Juni 1953 an innerer wie äußerer Stabilisierung der DDR folgte, legt, gemessen an ihrem Tiefpunkt, dem 17. Juni, den Schluß nahe, in Anlehnung und Erweiterung der These der „inneren Staatsgründung" von einer zweiten Staatsgründung der DDR zu sprechen. Selbst das Gründungsritual der sozialistischen Staatsmacht von 1945 wird von der Besatzungsmacht wiederholt, am 17. und 18. Juni ist die SED-Führung in Karlshorst „Gast" des sowjetischen Hochkommissars und erst nachdem die sowjetische Armee erneut die „Machtfrage" entschieden hatte, betrat das SED-Politbüro am 19. Juni wieder die Bühne.1 massenhaften Proteste der

Jene Phase einer

von

Stalins

Erbengemeinschaft

flexibler

angelegten

und die

gesamtdeutsche Option propagandistisch weiterhin offenhaltende Politik wurde Mitte der fünfziger Jahre offiziell ad acta gelegt. An ihre Stelle trat, durch die im Mai 1955 vollzogene Integration der DDR in den Warschauer Vertrag als sozialistischer deutscher Teilstaat und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik, die

Doktrin von den zwei deutschen Staaten und das West-Berlin Problem. Im Februar 1955 trat Georgi Malenkow als Ministerpräsident der Sowjetunion zurück. Der von ihm verantwortete neue Kurs der sowjetischen Wirtschaftspolitik vom August 1953 er wurde zusammen mit der Bekanntgabe des erfolgreichen Tests der sowjetischen Wasserstoffbombe verkündet und sah eine verstärkte Förderung der Leichtindustrie und eine Erhöhung der Lebensmittel- und Konsumgüterproduktion vor wurde revidiert, und es galt wieder das Primat der Schwerindustrie.2 Imre Nagy, der schon im März als „Rechtsabweichler" abgestempelt wurde, verlor sein Amt als Ministerpräsident und der „Neue Kurs" wurde auch in Ungarn beendet. Rákosi konnte noch einmal triumphieren.3 Ulbricht vollzog als treuer Parteigänger wiederum nur eine neue Wende Moskaus. Ausgestattet mit der Weihe dauerhafter Zugehörigkeit zum „Lager des Sozialismus" war es ihm vermutlich auch eine ganz persönliche Freude, öffentlich mit dem „Neuen Kurs" abrechnen zu können. Die Schmach, mit der er zwei Jahre zuvor in Moskau das Oktroi des „Neuen Kurses" zu seiner Überraschung und wider seine Überzeugung von der sowjetischen Führung -

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Budapest wurden 1956 die durch die Revolution gefährdeten Kader nach Moskau ausgeflogen. Vgl. die Beiträge von Rainer/Barth und Hegedüs in diesem Band. Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, a.a.O., S. 762, und Michael S. Voslensky, Sterbliche Götter. Die Lehrmeister der Nomenklatura, Erlangen,Bonn,Wien, S. 186ff. Der Sturz von Malenkow gehört zur Geschichte des Aufstiegs von Chruschtschow zum Führer der Sowjetunion als 1. Sekretär des ZK der KPdSU. Voslensky sieht Malenkows Niederlage vor allem darin begründet, daß er das strukturelle Gewicht des zentralen Parteiapparates im sowjetischen Machtgefüge unterschätzte: „Dieser Mann, der im Parteiapparat Karriere gemacht hatte und unter In

Stalin

zum

2. Sekretär des ZK der KPdSU avancierte, verstand die Rolle und den Stellenwert des

Parteiapparates im System des Realsozialismus und daher auch das System als solches nicht. (...) Der Parteiapparat ist der Kern der Nomenklatura." Zit. nach: A.a.O., S. 190, und Wolfgang

Leonhard, Kreml ohne Stalin, a.a.O., S. 139ff Vgl. János M. Rainer, Ungarn 1953 1956, Das Scheitern des „Neuen Kurses" und eine Bilanz der Geschehnisse in diesem Band.

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134 konnte jetzt vor der und durch die Parteigeschichte getilgt werden. Dennoch bedeutete die Entwicklung über den ungeliebten Umweg eines „Neuen Kurses" für den ersten Mann in der SED eine Wiedereinsetzung des Standes der II. Parteikonferenz und damit auch in "sein" Sozialismusprojekt. In seiner Rede vor der 24. ZK-Tagung vom l.-2.Juni 1955 servierte er den Genossen eine umfassende Abrechnung mit dem „Neuen Kurs". Am Anfang seiner Kritik stellte er klar, worin denn „unsere Politik" bestehe. Seine Antwort darauf: „Sie bestand und besteht darin, das Wirken der objektiven ökonomischen Gesetze des Sozialismus richtig auszunutzen", verdeutlichte noch nicht die dahinterstehende Intention. Im nächsten Satz ließ Walter Ulbricht mit der scheinbar nebensächlichen Erwähnung von Stalins Schrift "Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR" in besonderer Weise eine Negation des „Neuen Kurses" folgen. Der Rekurs auf Stalin ermöglichte ihm die Anerkennung von Implikationen des „Neuen Kurses", ohne ihn erwähnen zu müssen. Mit dem Verweis auf Stalins Schrift war das auch gut möglich, hatte dieser doch in seiner vor dem XIX. Parteitag 1952 erschienenen Studie selbst eigene Dogmen verworfen, die Notwendigkeit der Reformierung von Wirtschafts- und Planungspolitik begründet und gesellschaftliche Ursprünge des „Stalinismus" als Folge objektiver ökonomischer Gesetzmäßigkeiten zu erklären versucht.1 In gekonnter Untertreibung der Ursachen, die im Frühjahr 1953 zur Kursänderung geführt hatten, sprach Walter Ulbricht zunächst davon, daß „damals einige ökonomische Überspitzungen korrigiert" worden seien, „die infolge der Drosselung der Produktion privatkapitalistischer Betrieben zu einer Einengung der Versorgung der Bevölkerung führten". Damit wiederholte er die Erklärung für den „Neuen Kurs", die nachträglich auf der 15. ZK -Tagung erfolgt war und die ihn bereits 1953 auf seine materiellwirtschaftliche Dimension reduzierte. Diese Legende ermöglichte die völlige Unterschlagung solch brisanter gesellschaftspolitischer Fragen wie Repression und Massenflucht. Ulbricht war bemüht, den damaligen Politikwechsel zur Episode auf dem Weg zum Sozialismus zu degradieren: „Das Wesen unserer Beschlüsse der damaligen Zeit bestand also darin, die Hauptlinie unserer Politik konsequent fortzusetzen, bestimmte Möglichkeiten unserer Industrie zur Steigerung der Produktion von Massenbedarfsgütern besser auszunutzen und gewisse Fehler und Überspitzungen zu korrigieren."2 Die Zäsur des „Neuen Kurses" wurde somit zu einem Kontinuum umgelogen, das dem Parteichef zur Illustrierung einer scheinbar bruchlosen Erfolgsgeschichte dienen sollte. Ganz nebenbei verschwand der 17. Juni vollends hinter einem solchen Gemälde. Im weiteren machte sich Ulbricht daran, vermeintliche Illusionen auszutreiben, die im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" in den Köpfen einiger Funktionäre entstanden seien. Das Szenario, daß er dabei entwarf, trug fast anarchische Züge. Bei „manchen Leuten" hätten sich „seltsame Gedankenverbindungen ergeben, die darauf hinauslaufen, daß man mehr verbrauchen kann als produziert wird, daß die Löhne schneller steigen können als die Arbeitsproduktivität wächst, daß man die

entgegenzunehmen hatte,

-

-

Vgl. Bernd Rabehl, Die Stalinismusdiskussion des internationalen Kommunismus nach dem XX. Parteitag der KPdSU, in: Reinhard Crusius und Manfred Wilke (Hrsg.): Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt am Main 1977, S. 324ff. SAPMO BArch DY 30 IV 2/1/147, Blatt 73.

135

Arbeitsbummelei fördert oder duldet und trotzdem verlangt, daß die Warenfonds für die Bevölkerung wachsen, daß man die Qualität der Erzeugnisse vernachlässigt und trotzdem erwartet, daß diese Waren im Export reibungslos abgesetzt und dafür wertvolle Nahrungs- und Genußmittel eingeführt werden". Auch auf „ideologischem Gebiet" konstatierte er „merkwürdige Erscheinungen" wie „Tendenzen der Neutralität gegenüber den Einflüssen der bürgerlichen Ideologie und gegenüber der Verbreitung von Aberglauben".1 Der Schilderung dieses erschütternden Zustandes folgte der Verdammungsspruch samt einer Drohung an die Gefolgschaft: „Das Bemerkenswerteste eines solchen Kurses wäre nicht, daß er neu ist, sondern, daß er falsch ist und ich kann nicht umhin, den Leuten, die solchen Vorstellungen nachhängen, einen Zahn zu ziehen. Wir hatten niemals die Absicht, einen solchen falschen Kurs einzuschlagen und werden

ihn niemals einschlagen."2 Zumindest offiziell bedeutete das die Grablegung des „Neuen Kurses" in der DDR. Andererseits erlaubten die Auslassungen Ulbrichts ohne weiteres ein stillschweigendes Anerkennen von Veränderungen, die es ohne den „Neuen Kurs", sprich die Order der Sowjets, nicht gegeben hätte.

1 2

Ebd. Ebd.

János M. Rainer

1953-1956: Die Krise und die Versuche ihrer Bewältigung

Ungarn

1. Die

Vorgeschichte: Ungarn im Frühjahr 1953

1953 eine straff organisierte Volksdemokratie und der Generalsekretär der ungarischen Werktätigen, Mátyás Rákosi, tat alles, um als getreuer Gefolgsmann Stalins den Sozialismus aufzubauen. Eines der wesentlichen Probleme des klassischen stalinistischen Systems betraf das Informationsaufkommen über die Effektivität des Systems selbst. Verfügt das System über ausreichende Informationen, um notwendige Veränderungen und Korrekturen durchführen zu können? In welchem

Ungarn

war

Partei der

Maß werden die Alarmzeichen einer bevorstehenden Krise wahrgenommen?1 Das ungarische kommunistische System geriet im Sommer 1952 in eine Krise, verursacht durch eine schlechte Ernte und durch generell überzogene Planvorgaben, insbesondere durch den neuen Fünfjahrplan, der im Jahr 1951 deutlich angehoben worden war. Obwohl Anzeichen einer Krise seit dem Sommer 1952 evident waren, wurde diese von der Parteiführung erst ein Jahr später, im Frühsommer 1953, tatsächlich zur Kenntnis genommen. Alle Bereiche der ungarischen Wirtschaft zeigten ernsthafte Disproportionen. Die schwierigste Situation war auf dem Land entstanden. Im Sommer 1952 gab es die ersten Anzeichen massenhaften Widerstands gegen das System der Zwangsablieferungen. Wilde Streiks, Verweigerung von Abgaben und selbst Gewaltakte nahmen drastisch zu. Sporadischer Widerstand flackerte mehrmals im Verlauf des Jahres auf.2 Sozialer

Vgl.

János Kornai, The Socialist System. The Political Economy of Communism, Princeton 1992: Princeton University Press, pp. 156-159. Vgl. Ungarisches Staatsarchiv (MOL), Abteilung „Dokumente der Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP) und der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ( MSZMP)", im weiteren MOL MDP-MSZMP/ 276. f. 65/301. ö. e. 149. p. Bericht der „Unterabteilung für Information der Abteilung Massenorganisationen des ZK der MDP" über die Ereignisse in Szakmár-Rézteleki und Szabadszállás, 23. Juli 1952; ebd. 156-157. p. Bericht von Sándor Sz. Nagy. Vorsitzender der Staatsanwaltschaft Pécs für István Timar, Hauptabteilungsleiter des Ministeriums für Justiz über die Ereignisse an der Drau, 29. Juli 1952, in: MOL XIX-A-83-a. 68. d. MT 18. Juli 1952. Bericht des Vorsitzenden des Komitatsrats Békés über die Unruhen in diesem Komitat, die durch die Zwangsablieferungen ausgelöst wurden; vgl. auch MOL XIX-A-2-v. Dokumente von Imre Nagy, Ministerpräsident (stellvertretender Ministerpräsident) 1952-1955, 66. d. N-51/1952. XII.17.

138

Widerstand und Unruhen führten zu einigen Maßnahmen, um „das öffentliche Meinungsbild zu verbessern". Der stellvertretende Ministerpräsident Imre Nagy schlug im Sekretariat der MDP vor, den Handel von Weizen freizugeben. Zwei Wochen später schickte Ernö Gero, der für die Wirtschaft zuständige stellvertretende Ministerpräsident, eine dramatisch gehaltene Aufzeichnung an den Ministerpräsidenten und Generalsekretär Mátyás Rákosi. Das schlechte Wetter, so Gero, reduziere nicht nur die landwirtschaftlichen Exporte, es zwinge zudem zum Import von Futtermitteln und Kartoffeln. Die ausbleibenden Exporte allein kosteten das Land 12 Millionen Dollar, eine Notanleihe von der Sowjetunion sei unumgänglich.1 Diese ersten Krisenanzeichen hatten jedoch kaum Einfluß auf die Vorbereitungen des Wirtschaftsplans für 1953. So unterließ es Gero in seiner Rede auf einer ZK-Tagung zu Wirtschaftsfragen im November 1952, notwendige Veränderungen zu erwähnen. Nur die schlechte Ernte wurde angesprochen (laut Gero hätte sich eine Hungersnot vermeiden lassen können). Er übte ebenfalls Kritik an mehreren Ministerien und

Ministern.2

Mit einer umfassenden Betrachtung der wirtschaftlichen Situation wurde allerdings des Ministerpräsidenten begonnen. Einige zusätzliche Berichte wurden verfaßt, aber diese wurden der Regierung und der Parteiführung vorenthalten.3 Ein Überblick über die Situation in der Landwirtschaft vom Januar 1953 zeichnete ein dramatisches Bild. Neben den Frost- und Dürreschäden des Jahres 1952 wurden nun weitere Faktoren genannt: Die durchschnittlichen Ernteerträge der Jahre seit 1949 waren erst im Büro

dreißiger Jahre gefallen (Weizen: 6%, Futtergetreide: 15%, Wichtige und weniger wichtige Faktoren des Niedergangs wurden genannt: der Rückgang der landwirtschaftlichen Anbaufläche, fehlerhafte Planungspolitik landwirtschaftlicher Behörden, eine Zunahme der brachliegenden Flächen, die zurückgebliebene technische Entwicklung auf dem Lande.4 Nicht ein Wort jedoch wurde über die tatsächlichen Mängel in der Landwirtschaft verloren; die im Bericht anvisierten Lösungen waren weiterhin von Wunschdenken geprägt. Genauso verfuhr die Führung in der Frage des staatlichen Terrors. Diskussionen hierüber hatte es bereits vor den Beratungen in Moskau im Sommer 1953 gegeben. Im August 1952 hatte die Administrative Abteilung des ZK-Apparats der Partei einen Bericht über „Verbesserungen der Strafverfahren und Maßnahmen zu ihrer Reduzierung" erstellt. Der Bericht konstatierte die „Anwendung exzessiver Härte gegen die Arbeiter" unter

den Stand der

Kartoffeln: 13%).

Schreiben

von

Árpád Házi, stellvertretender Ministerpräsident, über die Ausschreitungen

Zwangsablieferungen Aufzeichnungen von

bei den im Komitat Bács-Kiskun; vgl. weiterhin N-70/ 27. Dezember 1952. István Dobi über seine Besuche in acht landwirtschaftlichen

Genossenschaften.

Vgl.

MOL MDP-MSZMP 276. f. 65/41. ö. e„ 292-295. p. Brief von Gero an Rákosi vom 15. August 1952. Vgl. MOL MDP-MSZMP 276. f. 52/22. o.e. ZK-Sitzung der MDP vom 29. November 1952. Vgl. MOL XIX-A-2-v. 66. d. N-226, 13. Januar 1953: „Genosse Soltész verfaßt einen Bericht zur Lage der gesamten Volkswirtschaft an Genossen Ernö Gero." Vgl. MOL XX-5-h. LB Nb.. Prozeß gegen Imre Nagy und seine Komplizen.Vgl. auch Op. ir. 29. k. 210-225. p. Zur Lage des Pflanzenanbaus und zu den Aufgaben, 15. Januar 1953.

139 im Verhalten gegenüber dem Gegner. Auf eine ähnliche Strafverfahren und Urteilen stützten sich die sowjetischen Führer gegenüber den Ungarn in den Verhandlungen im Kreml im Juni 1953.' Wie auf allen anderen Gebieten, versuchte Mátyás Rákosi („der treueste Schüler"), Stalins letzte Terrorwelle nachzuahmen. Seine „Abrechnung" kam den innersten Kreisen der Partei gefährlich nahe. Ende Februar 1953 verkündete er im ZK der Partei die Verhaftung von Staatssicherheitschef Gabor Péter sowie weiterer führender AVHund Parteifunktionäre (darunter István Szirmai und András Bárd). István Kovács und Zoltán Vas, beide Mitglieder des Politbüros, wurden aufs schwerste beschuldigt, aus ihren Ämtern entlassen und in die Provinz verbannt. Gemeinsam war allen ihre jüdische Herkunft; dies entsprach der Zusammensetzung der Überlebenden der Kleinen Kommunistischen Partei. Unter dem Druck der Ereignisse wurden bisher unterdrückte und kaschierte Spannungen im ungarischen Politbüro offenbar. Dies war die politische Lage, als am 5. März 1953 die Nachricht vom Tode Stalins in Budapest eintraf. Erst im späten Frühjahr 1953 gab es Anzeichen dafür, daß man in Moskau über Veränderungen in der Politik gegenüber den osteuropäischen Verbündeten einschließlich Ungarns nachdachte. Nachdem Rákosi bereits anläßlich des StalinBegräbnisses Gelegenheit zum Austausch mit den Sowjetführern hatte, reiste er erneut nach Moskau.2 Am 3. Juni berichtete er im ZK-Sekretariat über die in Moskau erhaltenen Instruktionen. Der Bericht ist nicht überliefert, jedoch läßt sich aus der Sekretariatsresolution rekonstruieren, was ihm im Kreml mitgeteilt worden war. Der Bericht unterstrich, daß die aufgeblasenen Investitionspläne verantwortlich seien für die mangelnde Entwicklung jener Industriesektoren, die den Lebensstandard hätten heben können. Das rapide Tempo der Industrialisierung hätte einen Arbeitskräftebedarf verursacht, der sich zunächst als Arbeitskräftemangel bemerkbar gemacht habe. Dies hätte eine Sogwirkung auf die Dörfer gehabt, unzählige Menschen hätten die ländlichen Regionen verlassen. Die Marktpreise für Lebensmittel seien aufgrund der schlechten Ernteerträge rasant angestiegen und der Lebensstandard sei entsprechend gesunken, was die innenpolitische Atmosphäre beeinträchtigt habe. Alle Mitglieder des Sekretariats müssen dies seit einiger Zeit gewußt haben, doch nur in den Sendungen von „Radio Freies Europa" wurde die Situation in drastischen Worten geschildert. Intern wurde die entstandene Lage auf feindliche Sabotage, nicht auf ein Scheitern des zentralen Planungssystems zurückgeführt. Das Erstaunen im Sekretariat

hingegen „Freizügigkeit" Statistik

von

-

-

Vgl. MOL MDP-MSZMP 276. f. 54/208. ö. e.. Sekretariatssitzung der MDP, 27. August 1952. Nach den gemeinsamen schriftlichen Darlegungen des Ministeriums für Justiz, des Ministeriums des Inneren und der Administrativen Abteilung des ZK wurden im Jahre 1949 72.300 Personen, im Jahre 1950 98.000 Personen, im Jahre 1951 125.000 Personen vom Gericht verurteilt. Im Jahre 1951 befand das Gericht von 212.000 Angeklagten 87.000 für unschuldig, ebenfalls 1951 verfügte die Staatsanwaltschaft von insgesamt 300.000 Fällen die Einstellung des Verfahrens gegen 150.000 Personen. Im Jahr 1952 wurden allein in Vergehensfallen (registriert bei der Polizei und den örtlichen Räten) 500.000 Personen bestraft. Die Reise von Rákosi dürfte in den letzten Tagen des Mai 1953 stattgefunden haben; am 22. Mai war er noch in der Sitzung des Vorstands des Ministerrates als anwesend geführt, bei der folgenden Sitzung am 29. Mai war er nicht mehr anwesend.

140

wuchs, als Rákosi erklärte, daß das Sekretariat und ihm folgend das Zentralkomitee, das Nationale Planungsbüro anweisen müsse, die Pläne für 1953/54 und die Folgejahre zu überprüfen. Große Investitionsprojekte mit hohem finanziellen Aufwand und geringen Ertragsraten müßten zurückgeschraubt werden, die Konsumgüterversorgung solle gesteigert werden. Veränderungen sollten auch die Parteimitglieder betreffen. Jüngere, akademisch ausgebildete Kader, die seit 1945 herangewachsen waren, sollten eine größere Rolle in der Parteiführung spielen. Die Zahl der Kabinettsmitglieder sollte verringert werden (von 32 auf 17 oder 18 Mitglieder). Einer der zwei verbleibenden stellvertretenden Ministerpräsident sollte dem Parteinachwuchs entstammen. Die Funktionen des Ministerpräsidenten und des Parteiführers sollten getrennt, Rákosi selbst sollte als Generalsekretär abgelöst werden. Selbst eine Amnestie am 20. August, dem ungarischen Nationalfeiertag, wurde erwähnt. ' Stalins Nachfolger sahen sich mit zwei wesentlichen Fragen konfrontiert: mit der Nachfolge selbst, die zu Lebzeiten Stalins ein Tabu gewesen war und mit der Absicherung des sowjetischen Machtbereichs. Für die Probleme in der DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn und selbst für die im eigenen Land machten sie im wesentlichen die gleichen Ursachen aus: Der Massenterror hatte solche Ausmaße erreicht und war so unberechenbar geworden, daß er jeglichen Abschreckungseffekt verloren hatte: Die Menschen hatten nichts mehr zu verlieren. Außerdem stand der Terror einer rationalen Anleitung der Wirtschaft im Wege. Das forcierte Wachstum bewirkte vehemente wirtschaftliche Dislokationen, und der in den meisten Staaten nach 1945 herrschende bescheidene Lebensstandard war in den Jahren 1951-1952 stark gesunken. Die Kollektivierungskampagnen hatten dieselben verheerenden Folgen, die sie in der Sowjetunion freilich in weitaus größerem Maßstab in den 20er und 30er Jahren gehabt hatten. Die Folge waren Lebensmittelknappheit, die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung, der Rückgang des Viehbestandes und ein Verfall der Anbauflächen. Die osteuropäischen Parteiführer hatten sich bemüht, diese Probleme mit sowjetischen Anleihen zu bewältigen, obwohl die Sowjetunion selbst vor der Situation stand, ihre Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahren zu müssen. Zudem ergab sich die Notwendigkeit, das Verhältnis zum Westen durch eine Konsolidierung der Situation in Europa, durch den Abbau der Konfrontation mit Beendigung des Koreakrieges und auch durch eine Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zu entspannen. Soziale oder politische Krisen an der Peripherie hätten diesen Prozeß gestört und zudem die sowjetische Innenpolitik empfindlich beeinträchtigt. Stalins Nachfolgern war deshalb daran gelegen, die innenpolitische Situation in den Satellitenstaaten, besonders in der DDR und in Ungarn, Gesellschaften, die bei der Übernahme des sowjetischen Modells über ihre Kräfte strapaziert wurden, zu konsolidieren und zu stabilisieren, zugleich sollten regionale Konflikte vermindert werden, etwa nach einer Lösung des deutschen Problems und einem Ende der Spannungen mit Jugoslawien.2 -

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Vgl. MOL MDP-MSZMP 276. f. 54/246. ö. e. Sekretariatssitzung der MDP vom 3. Juni 1953. Bezugspunkte zur Außenpolitik der Sowjets gegenüber Ungarn nach Stalins Tod bieten: Békés, Csaba: Az 1956-os magyar forradalom a világpolitikában. Tanulmány és válogatott dokumentumok (Die Revolution von 1956 in der Weltpolitik. Eine Studie und ausgewählte Dokumente), Budapest 1956-os Intézet 1996. 28-35. p.; Hajdu, Tibor: Szovjet diplomacia

141

Viele sehen in Lawrenti Berija, der im Sommer 1953 als Innenminister abgesetzt wurde, einen visionären Systemreformer, mitunter einen wahren Reformer. Die vorangegangene und nicht unbegründete Dämonisierung Berijas ging in erster Linie von seinen Rivalen im Machtkampf um die Nachfolge Stalins aus. Berija mag in der Tat in mancher Hinsicht weitsichtiger als seine Kollegen gewesen sein. So befürwortete er zum Beispiel ein stärkeres Abbremsen des sogenannten Aufbaus des Sozialismus in einigen osteuropäischen Staaten, und er bemühte sich intensiv um eine Annäherung an Jugoslawien. Als Vertreter des stalinschen Etatismus suchte er die Partei in den Hintergrund zu drängen. Seine persönlichen Motive müssen wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Standort seiner Machtbasis gesehen werden, die im Staatsapparat, hier vor allem im sowjetischen Geheimdienst, lag und nicht in der Partei, wo Malenkow oder Chruschtschow sich als "natürliche" Verbündete anboten. Mit anderen Worten, Berija folgte in seiner Politik der Logik des Machtkampfes.1 Dennoch standen der sowjetischen Führung die verschiedensten Informationskanäle zur Verfügung, so daß Moskau in der Lage war, sich jederzeit ein aktuelles Bild der Situation in Ungarn zu verschaffen. So wurden zum Beispiel alle Protokolle der Sitzungen der wichtigsten Parteigremien nach Moskau geschickt, gelegentlich zusammen mit Referaten und Zusammenfassungen. Informationen wurden auch über die sowjetischen Berater weitergegeben, die in den verschiedenen Ministerien arbeiteten. Die sowjetische Botschaft hielt Kontakt zu einer Vielzahl von Informanten, darunter zahlreichen aus dem Exil in der UdSSR zurückgekehrten ungarischen -

Magyarországon Sztálin hálala elött és után (Sowjetische Diplomatie vor und nach dem Tode Stalins), in: Magyarország és a nagyhatalmak a 20. században. Tanulmányok (Ungarn und die Großmächte im 20. Jahrhundert. Studien), Szerk. és bev. Romsics Ignác. Budapest Teleki László Alapítvány, 1995. 195-201.p.; ders.: 1956 nemzetközi flattere. (Der internationale Kontext von 1956), in: Társadalmi Szemle, 1989. 8-9.sz.; ders.: 1956 Magyarország a szuperhatalmak játékterén. (Ungarn im Spielfeld der Supermächte), in: Valóság, 1990. 12. sz.; Urban. Károly: Sztálin halálától a forradalom kitoréséig. A magyar-szovjet kapcsolatok torténete (1953-1956). (Von Stalins Tod bis zum Ausbruch der Revolution. Geschichte der ungarisch-sowjetischen Beziehungen [1953-1956]). Budapest 1996, (unveröff. Manuskript). 4-9. p.; Zur Antwort der USA, vgl. Borhi, László: Az Egyesült Allamok Kelet-Európa-politikájának néhány kérdése, 19481956 (Einige Fragen der Ost-Europa Politik der Vereinigten Staaten), in: Törtenelmi Szemle, -

1995. 3.

sz.

277-300. p.

Vgl. Djelo Berija (Die Angelegenheit Berija). in: Iswestija CK KPSS 1991, N° 1-2., 140-214., 147-208. p.; W. F. Njekrasow: Berija konjez karjeri (Berija Das Ende einer Karriere), Moskwa, Politisdat 1991; Sergio Berija: Moj otyec, Lawrenti Berija (Mein Vater, Lawrenti Berija), Moskwa, "Sowremennjik", 1994; Pavel Sudoplatow Anatolij Sudoplatow: Special Tasks. The Memoirs of an Unwanted Witness a Soviet Spymaster. Boston-New York-TorontoLondon, Little, Brown and Co. 1994. 353-374. p. (dt. u.d.T.: Der Handlanger der Macht. Enthüllungen eines KGB-Generals, Düsseldorf u.a. 1994); Kun, Miklós: Berija bukása (Der Sturz Berijas), in: Beszelö, 1991, máj. 25., jún. I.; Hajdu, Tibor: így élt Berija (So lebte Berija), in: Mozgó Világ, 1992. 2. 28-35. p.; James Richter: Reexamining Soviet Policy Towards Germany During the Beria Interregnum. Washington, Woodrow Wilson International Center for Scholars, 1992. (Cold War International History Project Working Papers, No. 3.). -

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142

Und es gab natürlich Gespräche mit Parteiführern. Während der Stalin-Ära hatte freilich das Problem bestanden, daß Rákosi sich den Kontakt mit Stalin allein vorbehalten hatte. Es war allein vom bilateralen persönlichen Kontakt abhängig gewesen, welche Informationen von Stalin genutzt wurden. Nach Stalins Tod kam diesem Informationsspektrum erneut größere Bedeutung zu. Eine besondere Rolle spielten die Berichte und Zusammenfassungen Kiseljows, des sowjetischen Botschafters in Budapest. Dieser schilderte in seinen Berichten die Lage in Ungarn äußerst kritisch, zumindest seinen persönlichen Erinnerungen nach. Kiseljow und seine Mitarbeiter empfanden eine ausgesprochene Antipathie gegenüber den ungarischen Parteiführern, vor allem gegenüber Ernö Gero, József Rêvai und Zoltán Vas. Nicht wohlwollender stand Kiseljow Rákosi gegenüber, den er als „willfährig und trotzig" charakterisierte. Rákosi hatte ihn zu Stalins Zeiten als Vertreter des sowjetischen Staates und der KPdSU in höchst unangenehme Situationen gebracht. „Kiseljow erhielt nie Bericht über die vertraulichen Gespräche mit Stalin, so daß er sich in einer sehr schwierigen Position befand. Er konnte doch niemals sichergehen, daß eine Handlung Rákosis in Übereinstimmung mit Stalin geschah."1 Trotzdem schickte er mehrere kritische Berichte über die Lebensverhältnisse in Ungarn, die Repressionen über die die Botschaft angeblich Statistiken anfertigte sowie über die Stimmung unter den Intellektuellen. Einige der Berichte erreichten den noch immer recht begrenzten außenpolitischen Apparat des Zentralkomitees der KPdSU. Diese stützen die Erinnerungen des Botschafters: Die zwei wesentlichen Themen der Berichte waren die Landwirtschaft und das Verhalten der Intelligenz, insbesondere der Schriftsteller.2 Zugleich deuteten sie an, daß Stalin selbst Einwände gegen einige Aspekte der Politik der ungarischen Führung erhoben hatte. So war er zum Beispiel der Ansicht, daß die Kollektivierung der ungarischen Landwirtschaft zu schnell vorangetrieben wurde. Molotow konnte in Vorbereitung auf die Gespräche mit der ungarischen Führung Mitte Juni 1953 auf diese Berichte zurückgreifen.3

Emigranten.

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2. Die

Beratung im Juni

1953 in Moskau

Delegation der MDP-Führung flog am 12. Juni 1953 in einer Sondermaschine vom sowjetischen Militärflughafen Tököl (bei Budapest) nach Moskau. Die Einladungen aus Moskau waren personenbezogen ausgesprochen worden das KPdSU-Präsidium hatte die acht Delegationsmitglieder selbst bestimmt. Dies waren der Parteichef und Ministerpräsident, Mátyás Rákosi, die drei stellvertretenden Ministerpräsidenten (Ernö Die

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MOL XIX-J-1-j 5. d. IV-100/2. Bericht von György Zágor, ungarischer Botschafter in Kairo, vom 4. Dezember 1956. (Kiseljow war 1956 Botschafter der Sowjetunion in Ägypten.). Vgl. Hajdu, Tibor: Magyar irodalom Moszkvából nézve. 1952 (Ungarische Literatur von Moskau aus betrachtet, 1952), in: Mozgó Világ, 1993. 3. sz. 21-26. p.; Hajdu, Tibor: Szovjet diplomacia Magyarországon Sztálin hálala elött és után (Sowjetische Diplomatie vor und nach dem Tode Stalins), a.a.O. Vgl. MOL XIX-J-1-j 5. d. IV-100/2. Bericht von György Zágor, ungarischer Botschafter in Kairo, vom 4. Dezember 1956. -

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143

Gero, Imre Nagy und István Hidas), der Leiter des Sekretariats des Ministerrates, Bêla Szalai, der Landwirtschaftsminister, András Hegedüs, der Erste Sekretär des Budapester Parteikomitees, Rudolf Földvari, und der Präsident des Präsidialrates, István Dobi, der formell

Parteimitglied war. Nicht eingeladen Sekretariatsmitglieder des ZK Mihály Farkas, József Rêvai und kein

worden waren die István Kristóf wie auch Házi und Károly Kiss. „Vor die stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats nicht allzulanger Zeit führten wir Gespräche mit dem Genossen Rákosi über die Lage in Ungarn", erklärte Malenkow am 13. Juni. „Nach dieser Aussprache erschien es notwendig, gewisse Fragen in einem weiteren Kreis zu diskutieren, (...) da wir im ganzen gesehen bislang nur ein oder zwei Genossen kennengelernt haben."1 „Als Genosse Rákosi das letzte Mal hier war", fügte Berija hinzu, „entstand die Idee, daß bestimmte Fragen mit mehreren Genossen besprochen werden sollten." Später wurde klar, daß der Hauptgrund für diese Auswahl der Delegationsmitglieder jener Vorschlag der Sowjetführer vom Mai 1953 gewesen war, Änderungen in der ungarischen Parteiund Staatsführung vorzunehmen. Rákosi hatte sich damals außerstande gesehen, einen Stellvertreter zu benennen: „In jedem Fall kamen Einwände von sehen Rákosis. (...) Das störte uns und machte es notwendig, daß wir mit anderen Genossen sprachen." Einige der eingeladenen ungarischen Vertreter waren Kader, die die sowjetischen Parteiführer, den Berichten Kiseljows und Rákosis zufolge, als jungen potentiellen Nachwuchs betrachteten: Hidas, Szalai, Földvari und Hegedüs waren in den Dreißigern und erst 1952 in die Parteiführung aufgestiegen. Dies bedeutete, daß sie gar keine oder wenig Erfahrung in illegaler Parteiarbeit oder in der Emigration (in Ost oder West) hatten. Ihr gemeinsames Merkmal war, daß sie nicht-jüdischer Abstammung waren, was bei ihrer Beförderung vor 1953 eine wichtige Rolle gespielt hatte. Vor dem Hintergrund des Slánsky-Prozesses und der antisemitischen Kampagne in Moskau hatten Rêvai und Farkas seit 1952 an Einfluß verloren. Hier konnte sich also Rákosi der Unterstützung der Sowjetführer gewiß sein sie waren dementsprechend nicht nach Moskau geladen worden. Imre Nagy war vom Alter her und als moskautreuer Emigrant insofern eine Ausnahme. Sein erneuter Aufstieg muß als Teil des gleichen Trends bewertet werden, der der Beförderung der jüngeren Parteiführer zugrunde lag. Wie sie, war auch er in erster Linie Ungar. Kontinuität wurde durch Rákosi und Gero repräsentiert, obwohl ihnen, als Nummer 1 und Nummer 2 in der Parteihierachie (und damit als eigentliche Entscheidungsträger), seitens der Sowjets zugleich die Hauptschuld für die Krise angelastete wurde. Die Einladung István Dobis beruhte allem Anschein nach auf einem Mißverständnis: Man hatte in Moskau vermutlich angenommen, daß der Präsident des Präsidialrats eine Rolle innerhalb der Führung spiele, was jedoch nicht der Fall war. Allenfalls mag man in Dobi, einem ehemaligen Mitglied der Kleinlandwirte-Partei,

Árpád

-

Jegyzökönyv a szovjet és magyar part- és állami vezetök tárgyalásairól (1953. június 13 -16.). (Protokoll der Verhandlungen zwischen den ungarischen und sowjetischen Partei- und Staatsführern [13-16. Juni 1953]), veröff. von T. Varga, György, in: Múltunk, 1992. 2-3. sz. 234269. p., im weiteren zit. als: Protokoll 13-16. Juni 1953, hier: 238-239. p. Grundlage dieser Quellenpublikation war das Protokoll in: MOL MDP-MSZMP 276. f. 102/65. ö. e„ welches von Bêla Szalai, dem Mitglied der Delegation, aufgrund seiner Mitschriften verfaßt wurde. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

144 einen nationalen Führer gesehen haben, der sich auf die Achtung der ungarischen Bauerschaft stützen konnte was ebenfalls nicht zutraf. Vielleicht war es auch das Bemühen, dem Besuch einen offiziellen, staatlichen Charakter zu verleihen. Die Unterredungen im Kreml begannen am Tage nach der Ankunft der Ungarn in Moskau in Stalins ehemaligem Büro, das nun als Sitzungsraum des Präsidiums des ZK der KPdSU genutzt wurde. Alle einflußreichen Präsidiumsmitglieder waren anwesend Georgi Malenkow, Lawrenti Berija, der Außenminister und stellvertretende Ministerpräsident, Wjatscheslaw Molotow, der KPdSU-Sekretär, Nikita Chruschtschow, der Verteidigungsminister, Nikolai Bulganin und der stellvertretende Minsterpräsident, Anastas Mikojan. Ebenfalls anwesend, allerdings ohne Recht auf Beteiligung an der Diskussion, waren die sowjetischen Ungarnexperten, Botschafter Kiseljow und Dolmetscher Bajkow.1 Ministerpräsident Malenkow schlug vor, drei Themenkomplexe zu besprechen: „Einige Fragen der ökonomischen Entwicklung", die „Kaderauswahl" und das Probem der „willkürlichen Aktionen". Er deutete an, daß man sich nicht auf einen Meinungsaustausch über die Situation beschränken, sondern „die Methoden zur Korrektur der Fehler diskutieren" sollte. Rákosi sprach zuerst, zum größten Teil in Übereinstimmung mit dem, was zehn Tage zuvor im ZK-Sekretariat besprochen worden war. In der Erwartung, daß die gleichen Fragen wie beim Treffen Ende Mai erörtert werden würden, nahm er die Haltung ein, daß die „Hausaufgaben", die man bekommen hatte, mehr oder weniger abgearbeitet worden seien. Er berichtete, daß das Tempo der industriellen Entwicklung in Zukunft gebremst werde. In bezug auf die Kaderfrage habe die Partei einige Fortschritte auf dem Wege zu einer Verjüngung gemacht. Er erwähnte in diesem Zusammenhang die jüngeren Mitglieder der Delegation. Er erklärte, man habe beschlossen, die Regierung zu verkleinern und Partei- und Staatsämter voneinander zu trennen. Er nannte dabei jedoch keine Namen. „Willkürakte" bzw. Repressionen wurden nicht angesprochen, mit Ausnahme der Bemerkung, daß die Zahl der Häftlinge sich „ein wenig unterscheide" von der Zahl, die er im Mai genannt hatte (insgesamt 45.000 statt 30.000-40.000). Diese Zahl würde durch die bevorstehende Amnestie am 20. August reduziert werden (auch wenn dies einen „Arbeitskräftemangel auf manchen Baustellen" verursachen werde.) Schließlich sprach er relativ ausführlich über die Frage der Juden in Ungarn: „Viele der gebildeten, kleinbürgerlichen Elemente jüdischer Abstammung haben verschiedene Funktionen übernommen. (...) Wir haben noch keine entscheidenden Ergebnisse in unserem Bemühen, sie zu ersetzen, erzielt." Rákosis Selbstbewußtsein in dieser Situation zeigte, daß er keine Ahnung hatte von dem, was nun kommen würde er war sich über den Zweck dieses Treffens offenbar nicht im klaren. Der nächste Redner, Malenkow, machte sofort und unmißverständlich klar, daß dies nicht die Haltung war, die die sowjetische Führung von Rákosi erwartet hatte: „Wir gewinnen den Eindruck, daß die ungarischen Genossen die Fehler unterschätzen." Der -

-

-

Wladimir

Sergejewitsch Bajkow war 1956 Referent für Ungarn in der Abteilung für internationale Parteibeziehungen des ZK der KPdSU. Nach dem 4. November 1956 arbeitete er unmittelbar bei János Kádár als Verbindungsmann nach Moskau. Laut seinen Schilderungen im ungarischen Dokumentarfilm „Titoktartók" (Geheimnisträger) von Anna Geréb, der 1994-96 gedreht wurde, war er bei diesen Verhandlungen anwesend.

145

sowjetische Ministerpräsident

erwähnte die Situation in den landwirtschaftlichen

Genossenschaften, die exzessiven Ablieferungsquoten und die hohe Zahl der Verfahren

gegen Bauern. Zuletzt berührte er die Kaderfrage („die Kader müssen in weitaus stärkerem Maße herangezogen werden"), bevor er seinen Kollegen das Wort gab. Auf Malenkow folgte Berija, dem wahrscheinlich ausführliche Notizen zur Verfügung standen, da er die meisten Statistiken vorbrachte. Eingangs erwähnte er die Lage in der Landwirtschaft, machte genaue Angaben über brachliegende Anbauflächen. Er führte Malenkows Gedanken aus und argumentierte, daß es nicht ausreichend gewesen sei, die Landwirtschaft stärker zu entwickeln. Die Entwicklung der Schwerindustrie sei zu drosseln, größere Aufmerksamkeit solle der Produktion von Konsumgütern gewidmet werden. Der Schwerpunkt seiner Rede lag allerdings auf seinem eigenen Ressort, der Innenpolitik. „Ist es etwa akzeptabel, daß in einem Land mit einer Bevölkerung von 9,5 Millionen Verfahren gegen 1,5 Millionen Menschen im Gange sind?", fragte der sowjetische Innenminister rhetorisch. Seine Antwort war eindeutig: „Diese Zahlen zeigen, daß die Verwaltungs- und Justizorgane und die ÁVH schlecht arbeiten, und deshalb sollte man das Innenministerium mit der ÁVH zusammenlegen." Berija verurteilte in scharfen Worten, daß Rákosi die Staatssicherheit persönlich angeleitet, in gewisse Untersuchungsverfahren selbst eingegriffen und persönlich Anweisungen zu Gewalttaten (damit waren Folterungen gemeint) gegeben habe. Berija wertete dies als Fehler, denn es könne dazu führen, daß „unschuldige Menschen verurteilt werden". Die ungarischen Genossen mußten mit Erstaunen hören, daß Berija ein- oder zweimal ein ähnliches Verhalten von Stalin kritisierte. Berija eröffnete anschließend eine Reihe persönlicher Angriffe auf Rákosi. Er erklärte, Rákosi solle als Regierungschef zurücktreten und zwar einzig und allein, weil „es angebrachter wäre, wenn der Vorsitzende des Ministerrates ein Ungar ist." (In diesem Punkt berief sich Berija auf einen ähnlich lautenden, früheren Ratschlag Stalins, der mehrfach betont hatte, daß man in der MDP-Führung „die Ungarn stärker in den Vordergrund bringen" müsse.) Berija war auch der erste, der Imre Nagys Namen ins Spiel brachte und zwar aus zwei Gründen. Erstens bezog er sich auf den Ausschluß Nagys in der Krise von 1949, der nicht gerechtfertigt gewesen sei. Zweitens schloß er seine Rede mit den Worten, daß „wenn Genosse Imre Nagy Vorsitzender des Ministerrates sein werde, könne Genosse Rákosi als ein Genosse von großer Erfahrung und der Sache der Partei verpflichtet im Amt des Parteichefs verbleiben." Genosse Nagy sei für das Amt des Vorsitznden des Ministerrates qualifiziert (loyal zur Partei, Ungar, mit Erfahrung in der Landwirtschaft). Molotow weitete die Kritik an Rakosi dahingehend aus, daß „dies nicht nur eine Frage Ungarns ist, sondern ein Problem aller Volksdemokratien". Selbstkritisch bemerkte er, daß in der Sowjetunion das Phänomen autokratischer Führung entstanden sei, doch dies werde jetzt korrigiert. Molotow sprach von einem Anschwellen der Gewalt gegen die Bevölkerung und von Exzessen in der wirtschaftlichen Entwicklung und unterzog insbesondere das Autarkiestreben besonderer Kritik. Auch er nannte Zahlen und verwies auf einige Fälle aus Kiseljows Berichten als Beispiele für Maßnahmen, die den Lebensstandard beeinträchtigt hätten. Der nächste Redner, Marschall Bulganin, sprach die Warnung aus, daß „es zu einer Katastrophe kommen werde, falls wir die Lage nicht verbessern." Er machte einige statistische Angaben zu

146

den Säuberungen in der Armee und kritisierte Mihály Farkas, der sich als ein „großer Armeekommandant darzustellen suche". Schließlich folgte Mikojans Kritik an der übertrieben harten wirtschaftlichen Planung, an der nicht gerechtfertigten Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie („Ungarn hat weder eigenes Eisen noch Kohle"), an überflüssigen Großprojekten (wie dem U-Bahnbau in Budapest) und der jeder wirtschaftlichen Grundlage entbehrenden Kollektivierung der Landwirtschaft. Damit war die erste Runde beendet. Nun war es an den ungarischen Genossen zu sprechen. Nagy sprach als erster und einziger Ungar, den die sowjetischen Führer grundsätzlich positiv eingeschätzten. In der Frage der Verantwortung seiner Kollegen übte Nagy für seinen Teil Solidarität. Er versuchte, die Probleme allgemeiner zu erklären: „Die Hauptursache der Misere ist der Abstand zu den Massen. Wir haben den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Wir planen auf dem Papier, ohne die Interessen des Volkes in Betracht zu ziehen." Nagy fügte den Ausführungen der sowjetischen Genossen einen weiteren Punkt hinzu: die sogenannte Kulakenliste: „Jeder, der auf der Kulakenliste steht, ist gesellschaftlich geächtet." Er empfahl, die Staatssicherheit und die Organe des Innenministeriums unter die Kontrolle der Partei zu stellen, genauer gesagt, unter die Kontrolle der Administrativen Abteilung des ZK. Gegen Ende seiner Rede distanzierte sich Nagy allerdings von der führenden Troika: „Die Genossen Rákosi, Farkas und Gero entscheiden viele Fragen unter sich. Es führt zu schweren Fehlern, wenn einige Mitglieder des Sekretariats über gewisse Fragen nicht informiert werden." Die sowjetischen Führer wußten dies, doch wollte Nagy offensichtlich seine Ernennung bestätigt wissen, hingen hiervon doch seine weiteren

Schritte ab. Wohl konnte er fühlen, daß die „korrigierenden" Absichten der Sowjets mit seinen eigenen Ideen übereinstimmten. Aus diesem Grund war er auch bereit, das Amt des Regierungschefs zu übernehmen, falls die anwesenden ungarischen Führer zustimmten. István Dobi sprach ebenfalls über die Lage auf dem Land, in einer durch und durch beunruhigten Weise. István Hidas, der einzige der Jungen, der sprach, teilte die sowjetische Kritik, verteidigte allerdings Rákosi, worauf er von Malenkow und Berija aufs gröbste gescholten wurde („Du sprichst wie ein Schüler, nicht wie ein Führer

gleichen Ranges"). Dann sprach Chruschtschow, der sich in der vorhergehenden Runde nicht geäußert hatte. Es war vom Beginn seiner Äußerungen klar, daß er seinen Kollegen zustimmte, aber er wollte weiter ausholen und zusammenfassen. Seine Ambitionen im Machtkampf waren offenkundig und klar. Er erklärte, daß Rákosi eindeutig die Verantwortung für die

Fehler trage und zwar in ihrer Gesamtheit, nicht nur für die administrativen Mißstände. Er ergänzte, daß Rákosi hieraus „tiefgehende Schlußfolgerungen zu ziehen" habe und daß es einer kollektiven Führung bedürfe („Genosse Rákosi ist unfähig, kollektiv zu arbeiten"). Chruschtschow stellte zudem fest, daß die Kollektivierung der Landwirtschaft zu schnell betrieben worden sei und erinnerte mahnend daran, daß es zu diesem Zeitpunkt zum Ausschluß von Imre Nagy aus dem Politbüro gekommen sei. Dies konnte Nagy natürlich nicht entgangen sein. Chruschtschows nachdrückliche Unterstützung für die Linie einer Korrektur sollte sich ein paar Wochen später als wichtig erweisen, als er zum Ersten Sekretär der KPdSU gewählt wurde und sich die Anzeichen mehrten, daß er sich im Machtkampf im Kreml erfolgreich durchsetzten

147

werde. Selbst in der Periode 1955-1956 wird Nagy in seinen Äußerungen Chruschtschows Worte vom Juni 1953 wiederholen.1 Auf die Wortmeldung Chruschtschows folgte Malenkow, der die bevorstehenden konkreten Aufgaben zusammenfaßte. Er begann mit dem Vorschlag, daß eine weitere Sitzung stattfinden sollte. Zuvor sollten die ungarischen Genossen jedoch einen schriftlichen Plan der Maßnahmen zur Korrektur der Fehler sowie eine Liste der personellen Veränderungen ausarbeiten. Malenkow gab zwei grundsätzliche Kriterien vor, die dem Plan zugrundeliegen sollten: Erstens sollte der Führungskreis erweitert werden. Funktionäre mit fachlicher Kompetenz und Autorität sollten in führende Positionen gebracht werden (Im gleichen Atemzug empfahl er Ernö Gero für den Posten des Innenministers.). Zweitens sollte man eine Arbeitsteilung zwischen den leitenden Organen (Politbüro, ZK-Sekretariat, Ministerrat) entwickeln. Wie die Sowjetes sich diese vorstellten, wurde kurz darauf von Berija erläutert: Die Regierung solle in wirtschaftlichen Fragen, die Partei in Erziehungs- und Kaderfragen entscheiden. Malenkow stellte abschließend unmißverständlich fest: „Wir als Kommunisten sind allesamt verantwortlich für die Dinge in Ungarn. Auch die Sowjetunion ist dafür

verantwortlich,

was

für ein

Regime

in

Ungarn herrscht."2

In dieser

Formulierung

spiegelte sich erneut die Selbstkritik: Unter Stalin habe Moskau auch falsche Ratschläge gegeben, die man hiermit zurückziehe. Die obige Formulierung beinhaltete jedoch auch die Option auf das Vorrecht der Sowjets, wenn sie es für notwendig erachteten, in die selbst für den Fall eines ungarischen Angelegenheiten direkt einzugreifen den aus zu sowjetischen Truppenabzugs Berija Beginn der Verhandlungen Ungarn, -

angedeutet hatte.3

Erst zu diesem Zeitpunkt versuchte Rákosi zumindest in einigen Fragen Erklärungen zu finden bzw. zu polemisieren. Er protestierte u.a. mit dem Argument, daß er nichts anderes getan habe als das, was er in Moskau gesehen und gehört hätte. Malenkow und Berija wiesen diese schwachen Verteidigungsversuche Rákosis zurück. Gero, der bislang geschwiegen hatte, erwies sich als besserer Taktiker. Er sprach selbst von Fehlern, die bislang niemand erwähnt hatte. Trotzdem, obwohl er klarstellte, daß er mit der Ernennung Nagys als Ministerpräsident einverstanden sei, konnte er seine langjährige Antipathie diesem gegenüber nicht verschleiern und bemerkte, daß die Kulaken zu wenig Getreide geliefert hätten, „verglichen mit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung". Rákosis Schweigen zur Ernennung Nagys fiel Malenkow auf, der sich am Ende der Sitzung nicht davon abhalten ließ, nach dessen und interessanterweise nach Dobis Haltung zur Ernennung Nagys zu fragen. Der durch und durch erniedrigte Rákosi hatte keine andere Wahl, als sein Einverständnis zu signalisieren. Zu diesem Zeitpunkt -

-

-

Vgl. Nagy,

Imre: A magyar

nép

védelmében

-

(Zur Verteidigung des ungarischen Volkes), 13.,

153., 154., 162., 175. p.

Verhandlungsprotokoll vom 13.-16. Juni 1953, S. 245. Berija: „Heute steht die sowjetische Armee noch in Ungarn,

aber sie wird nicht immer dort sein. werden sich vorbereiten und stärker (...)", in: Verhandlungsprotokoll vom 13.-

Deshalb muß man 16. Juni 1953, S. 241.

148

wurde dieser Umstand von allen Anwesenden als eine Veränderung in der Position des ersten Mannes im Lande eingeschätzt.1 Am nächsten Tag, dem 14. Juni, setzte sich die ungarische Delegation in ihrem

Moskauer Quartier zusammen, um auf der Grundlage der sowjetischen Direktiven das Dokument auszuarbeiten, welches als Basis des „Neuen Kurses" dienen sollte. Imre Nagy, bis dahin relativ schweigsam, übernahm die Initiative: „Die Entwicklungsrate in der landwirtschaftlich-genossenschaftlichen Bewegung muß herabgesetzt werden. (...) Investititionen in die Landwirtschaft müssen steigen. Den Einzelbauern muß Sicherheit gewährleistet werden. Wir müssen freien Handel sichern und die Güterproduktion heben. Laßt uns nicht um jeden Preis nach Autarkie streben, laßt uns dies im Kopf behalten, wenn wir die Pläne überprüfen." Dann sprach Ernö Gero, der sich nach der Erinnerung der meisten am schnellsten von der Kritik der Sowjets erholte.2 Er verfügte bereits über einen ersten Entwurf des Dokuments, das später die erste Fassung der Resolution werden sollte, die vom ungarischen Zentralkomitee in seiner Sitzung vom 27728. Juni verabschiedet wurde. Sein Vorschlag konzentrierte sich im wesentlichen auf Fragen der wirtschaftlichen Planung, vor allem auf die Lösungen einzelner Probleme wie Wohnungsbau, Gasimporte aus Rumänien etc. Er beinhaltete allerdings schon die Abkehr von der Priorität schwerindustrieller Produktion. Die Vorlage, die aus dieser Sitzung hervorging, begann mit den Fehlern der Partei und erst dann wurden Fehler im ökonomischen Bereich erwähnt diese Reihenfolge wurde später umgekehrt. Allein zwei Sätze spielten auf Rákosis Verantwortung an, alle anderen Führungsmitglieder blieben unerwähnt. Ebensowenig wurde Rákosis persönliche Verantwortung für den Machtmißbrauch und die Anleitung der Staatssicherheit angesprochen. Schließlich lag dem Dokument die Absicht zugrunde, daß die Veränderungen von der Parteiführung ausgehen sollten. Eine öffentliche Stellungnahme nach der Sitzung des Zentralkomitees sollte die neue politische Linie

eigenen

-

begrüßen.

Der nächste Tag wurde für die Übersetzung und das Studium der Vorlage gebraucht, und so trafen sich die beiden Delegationen in unveränderter Zusammensetzung erst wieder am 16. Juni. Es fiel Rákosi zu, die Vorlage vorzustellen und zu erläutern. Molotow hatte sofort Einwände. Die Vorlage unterlasse eine Erwähnung ideologischer Fragen und die Verantwortung József Révais, der „in diesem Bereich für alles zuständig war", was, so Molotow, „noch nicht einmal Karl Marx, wenn er noch am Leben wäre, für sich beanspruchen würde." Berija war wiederum der aktivste unter den Sowjetführern. Sein Haupteinwand war, daß die Vorlage zu kurz und allgemein

„Wir schätzten den Posten des Ministerpräsidenten damals höher ein als den des Generalsekretärs. Als erster Mann der sowjetischen Führung wurde ja von uns Ministerpräsident Malenkow wahrgenommen. In einem unbedeutenden Zwischenfall zeigte sich diese Einstellung ziemlich deutlich: Wir verlassen gerade den Gerichtssaal, Imre Nagy will leicht zurückbleiben, um Rákosi den Vortritt zu lassen. Daraufhin schiebt Rákosi ihn etwas ruckartig nach vorne und sagt dabei: „Geh nur vor, Imre, du bist jetzt schon der Führer", in: Hegedüs, András: Élet egy eszme árnyékában (Leben im Schatten einer Idee), a.a.O., 192. p. Vgl. Interview mit Rudolf Földvari, Institut für 1956, Oral History Archivum (OHA), 231. sz... 382. p.

149

gehalten sei und keine Zahlenangaben enthalte. Er schlug sofort eine Ergänzung vor. Berijas "Rat" folgend wurde nun ein gesondertes Kapitel über die Lage in der Landwirtschaft, sowie die wesentlichen Angaben zu den Massenrepressalien und Rákosis persönliche Schuld für die Anleitung der ÁVH eingefügt. Zusätzlich wurde auch Rákosis Verantwortung für „das Zurückdrängen der Kader ungarischer Herkunft" (und unausgesprochen: gegenüber Kadern jüdischer Herkunft) erwähnt. Ein weiterer wichtiger Punkt, die Auflösung zwangsweise geschaffener Genossenschaften in der Landwirtschaft, wurde, zum Entsetzen Dobis aber auf Anregung Molotows,

aufgenommen.1

Damit war die Debatte um die Imre Nagy als designiertem

Ergänzungen des Dokuments beendet.

Nun

war es an

Ministerpräsident, die Ergebnisse des Treffens zusammenzufassen. Seine Bemerkungen reflektierten gleichermaßen Selbstvertrauen aber auch das Gegenteil: „Wir werden mit all unserer Kraft arbeiten, um die Inhalte der Resolution umzusetzen. Wir werden nicht auf halbem Wege stehenbleiben oder halbherzige Maßnahmen ergreifen. Viel wird davon abhängen, wieviel Genosse Rákosi zur Ausmerzung der Fehler beitragen wird." Berija kommentierte, daß eine richtige Politik nicht von einer einzigen Person abhängig sei, und wenn Rákosi nicht mithelfe, werde er „sich ruinieren".2 Nagy war hiermit anscheinend nicht zufrieden und fragte direkt nach dem Verhältnis zur sowjetischen Führung, das in den vorangegangenen Jahren nicht so direkt gewesen sei wie bei diesem jetzigen Treffen. Berija und Malenkow gingen sofort auf diese diplomatische und zugleich auch ängstliche Anspielung auf Rákosis persönliches Verhältnis zu Stalin ein. Sie versicherten der ungarischen Führung, daß das Verhältnis in Zukunft „verantwortungsvoller, seriöser und andersartig" sein werde. Erneut gedemütigt, überschlug sich Rákosi förmlich bei seiner Zustimmung: „Ich bedauere sehr, daß mir eine solche Lehre nicht schon früher

erteilt wurde (...). Ich kann den Genossen versichern, daß ich mein Äußerstes geben werde, die Fehler zu verbessern". Aber selbst in dieser extremen Situation bemerkte er, daß dies nicht nur von ihm, sondern von der ganzen Führung abhängen werde. Die „Belehrung" war damit allerdings noch längst nicht vorbei. Auf Veranlassung Malenkows ersetzte die sowjetische Führung Verteidigungsminister Mihály Farkas durch István Bata. Danach bezichtigten Malenkow und Berija Rákosi, Kontakt mit den Vereinigten Staaten aufgenommen zu haben, ohne seine Kollegen darüber informiert zu haben. Schließlich forderte Berija, den Fall des verhafteten ehemaligen Staatssicherheitschefs Gabor Péter zu überprüfen. Erst danach entließ Malenkow die ungarische Delegation mit den Worten: „Die ungarischen Genossen werden in der Lage Im ursprünglichen ungarische Entwurf war lediglich von einer „entschiedenen Verlangsamung der Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften" die Rede. Ebd. Anderen Erinnerungen zufolge soll sich Berija wie folgt ausgedrückt haben: Wenn Rákosi nicht bereit sei zu helfen, „brechen wir ihm das Rückgrat". So in: Hegedüs, András: Élet egy eszme árnyékában (Im Schatten einer Idee), a.a.O., 192. p„ und: Földvari-Interview, a.a.O., 391. p.; die damaligen Aufzeichnungen von Rudolf Földvari zu diesem Punkt: „Wenn er ehrlich und offen den Weg beschreitet, die Fehler zu beseitigen, dann wird es gehen, wenn nicht, dann werden ihm die Knochen gebrochen." Mitschriften von Rudolf Földvari über die Verhandlungen, veröffentlicht von Palasik, Maria in: Kapu, 1989. 5. sz., 9. p.

150

sein, die Resolution zu verfassen und die Kraft haben, die Fehler zu verbessern." Die Audienz war vorüber, und die ungarische Delegation begab sich unmittelbar darauf auf den

Heimweg.

3. Der Beschluß der Partei

vom

Juni 1953 und Imre

Nagys Programmrede Tag, dem 17. Juni 1953, begann die Umsetzung des „Neuen Kurses". Allerdings noch den alten Strukturen entsprechend, innerhalb der führenden Organe der Partei und unter der Leitung Rákosis.1 Es wurde beschlossen, dem Zentralkomitee eine andere Version der Resolution vorzulegen als die, welche der Öffentlichkeit

Am nächsten

bekanntgegeben werden sollte. Als das Politbüro am 20. Juni zusammentrat, lagen den ungarischen Führern bereits detaillierte Informationen über die Streiks vor, die am 16. Juni in Ost-Berlin begonnen hatten, auch auf andere Städte der DDR übergriffen und dann von sowjetischen Panzern unterdrückt worden waren. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse gab Rákosi zu, daß die schwerste aller Krisen drohe, wenn die ungarische Führung nicht „unverzüglich einen Kurswechsel" vollziehe. Was bevorstehe, sei einer „der entscheidensten Wendepunkte, seit unsere Partei und die Volksdemokratie die Macht erobert haben". Rákosi gab dann eine Auflistung seiner eigenen Fehler, wobei fast alle Punkte zur Sprache kamen, die in Moskau genannt worden waren. Die drei anderen Mitglieder des Führungsquartetts übten anschließend ebenfalls Selbstkritik. Farkas und Rêvai bemerkten allerdings, daß sich in der jüngsten Vergangenheit die Führungsentscheidungen auf Rákosi und Gero beschränkt hätten. Rêvai und anschließend auch Gero brachten ihr Unbehagen gegenüber der Forderung der sowjetischen Führung zum Ausdruck, daß die höchsten Ämter innerhalb der ungarischen Parteiführung von Juden eingenommen werden sollten.2 Am 27. Juni wurde die Resolutionsvorlage vor der erweiterten Sitzung des Zentralkomitees, zu der nun die Kabinettsmitglieder und die Kreis- und Bezirkssekretäre hinzugezogen wurden, behandelt. Rákosi analysierte erneut im Detail seine Verantwortung für die begangenen Fehler. Wie von Moskau instruiert, verurteilte er den „Personenkult", die Machtkonzentration in seinen Händen und denen seiner Mitarbeiter, die Ausschaltung der Führungsmitglieder ungarischer Abstammung, die

Herrschaft der Partei über den Staat usw. Rákosis Rede muß für das Gros der Anwesenden, die bislang trotz einiger Informationen, die bereits „durchgesickert" -

Vgl. dazu die Einleitung von T. Varga, György, in: Protokoll 13.-16. Juni 1953, 234-238. p., sowie Szabó, Bálint: Az "ötvenes évek". Elmélet és politika a szocialista építés elsö idöszakaban Magyarországon 1948-1957 (Die "50er Jahre". Theorie und Politik in der ersten Phase des sozialistischen Aufbaus in Ungarn 1948 bis 1957), 69-71. p. ; vgl. auch Urbán, Károly: Nagy Imre, az államférfi. (Imre Nagy, der Staatsmann), in: Múltunk, 1992. 4. sz. 50-52. p. Vgl. MOL MDP-MSZMP 276. f. 53/122. ö. e„ MDP-Politbürositzung vom 20. Juni 1953.

151

waren1

nichts über das Moskauer Treffen gehört hatten, ein Schock gewesen sein. Obwohl Rákosi sich bemühte, nicht über die Moskauer Vorgaben hinauszugehen, hielt er die wohl selbstkritischste Rede seiner politischen Karriere. Dieser Teil der Rede nahm gut ein Drittel der Zeit ein, der andere Teil befaßte sich mit dem -

Resolutionentwurf.

2

als lediglich den Resolutionsentwurf einzuleiten. In seiner Kritik weiter als die sowjetischen Führer, deren Kritik jegliche Tiefenschärfe gefehlt hatte. Er widmete sich ganz der Frage, wie es zu solchen Verzerrungen hatte kommen können.3 Er erklärte, daß „die Wurzeln der Fehler weitaus tiefer gehen als man auf den ersten Blick annehmen könnte", und so sei die „allererste Aufgabe, sie vollständig offenzulegen. Dies ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Korrektur der Fehler. Ich muß offen sagen, daß die bislang geleistete Arbeit in dieser Hinsicht nicht ausreichend ¡st". Der Erfolg hänge weitgehend davon ab, wieweit die Parteiführer, die an den Fehlern beteiligt waren, bereit seien, an ihrer Korrektur mitzuarbeiten, und die stehe „uns weitgehend noch bevor". Nagy zufolge waren „die Fehler, für die Genosse Rákosi als Parteiführer primär verantwortlich ist, entstanden aufgrund der Tatsache, daß die Partei, in ihrem inneren Gefüge, ihren Leitsätzen und ihrer praktischen Arbeit in zahlreichen Bereichen von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus abgewichen ist und diese verletzt hat." Er sei der Überzeugung, daß Meinungsfreiheit innerhalb der Partei und die Möglichkeit zum Meinungsstreit solche Verzerrungen vermeideten. „Es ist möglich, willkürlich zu politisieren, ohne marxistisch-leninistische Begründung, es ist möglich, den Führer zu spielen, es ist möglich, junge Kader zu unterdrücken und beiseitezuschieben, wenn keine theoretische Arbeit stattfindet, wenn es keine ideologische Diskussion wenn es keinen Meinungsstreit gibt. (...) Erst wenn sich dies alles ändert, kann man gewiß sein, daß wir nicht weitere, schwerere Fehler begehen." Nagy zufolge seien in der Beziehung zwischen Partei und Staat die Grundprinzipien der Volksdemokratie verletzt worden. Den Begriff „Parteistaat" benutzte Nagy bei dieser Analyse nicht, wohl aber Begriffe wie „Schattenkabinett" und „Polizeistaat". In seinem Lösungsvorschlag berief er sich auf „das demokratische Prinzip der wirklichen Volksvertretung" und auf das Prinzip einer „verantwortlichen Regierung". Er rief zu „weiteren Schritten im Bereich der Demokratisierung des staatlichen Lebens" auf. Imre

ging

Nagy tat mehr,

er

,

Am schnellsten waren (unvollständige) Informationen über die Geheimverhandlungen in Moskau aus der Umgebung István Dobis an Journalisten- und Intellektuellenkreise weitergegeben worden. Vgl. dazu die Notiz „über Dobis Schwatzhaftigkeit" von Gero an Rákosi und Imre Nagy vom 18. Juli 1953. Vgl. MOL MDP-MSZMP 276. f. 52/24. ö. e. MDP ZK-Tagung vom 27.-28. Juni 1953, 3-31. p. Die Rede wurde veröffentlicht in: T. Varga, György: Rákosi Mátyás referátuma az MDP Központi Vezetoségének 1953. júniusi ülésén (Referat von Mátyás Rákosi in der Sitzung des Zentralkomitees der MDP im Juni 1953), in: Múltunk, 1990. 1. sz. Vgl. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 52/24. ö. e. MDP ZK-Tagung vom 27.-28 Juni 1953., 32-51. p. Die Rede von Imre Nagy wurde von den damaligen Oppositionellen János Kis und Iván Petö zum ersten Mal publiziert in der Samisdat-Zeitschrift „Beszelö" Nr. 10. 1984. Vgl. Beszelö Összkiadas I. k. (Beszelö-Gesamtausgabe. redigiert von Fanny Havas, Bd. 1, Budapest 1992, 628-641. p. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

152 Sich den ökonomischen Fragen zuwendend, erklärte Nagy der Versammlung: „Im Kern war unsere Wirtschaftspolitik fehlerhaft, weil sie, obwohl auf den Aufbau des Sozialismus gerichtet, es unterließ, den wesentlichen wirtschaftlichen Grundsatz des Sozialismus zu beachten: einen stetigen Anstieg des Lebensstandards der Bevölkerung." Was geschehen sei, könne ohne Übertreibung als „abenteuerliche Politik" bezeichnet werden. Obwohl der Resolutionsentwurf einige gute und weitreichende Maßnahmen enthalte, könne er weiterentwickelt werden. Was Nagy formulierte, war keine bloße Kurskorrektur, sondern ein Reformprozeß, für dessen Durchsetzung so Nagy ein Maßnahmenkatalog nicht ausreiche. So warnte er die Parteiführung abschließend vor „halbherzigen Maßnahmen". Die abschließende Formulierung der Resolution übertrug Nagy dem neuen Politbüro. Was ihre Veröffentlichung anging, so erhielt Rákosi während der Sitzung einen Anruf aus Moskau. Wie Rákosi berichtet „riefen ihn die Genossen zum Telefon und sagten, sie seien mit dieser Resolution vertraut, diese Resolution solle nicht veröffentlicht werden, wir sollten sie erst veröffentlichen, wenn die Ergebnisse vorlägen."1 Rákosi schlug dann sofort vor, die Aktivistentagung, die die Resolution verfassen sollte, für ein paar Tage zu verschieben und in ihrem Umfang zu reduzieren. Die Maßnahmen sollten nicht in einem -

-

Kommunique des Zentralkomitees, sondern im Parlament, als ein Programm der neuen Regierung veröffentlicht werden. Nagy erkannte schnell, daß dies für Rákosi von Vorteil wäre: In einer Regierungserklärung wäre es unangebracht, die Parteiführung oder einzelne Regierungsmitglieder zu kritisieren. Das Procederé würde es Rákosi erlauben, ernsthafte Kritik an ihm persönlich oder die Erwähnung seiner persönlichen aller Welt zu vermeiden. Dies verminderte die Chancen für einen Ministerpräsidenten, der sich darauf vorbereitete, ein neues Programm umzusetzen. Die am nächsten Tage angenommene Resolution bestand aus vier Teilen.2 Der erste stellte die begangenen Fehler dar, der zweite benannte die Gründe, der dritte das Sofortprogramm der wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und der vierte die organisatorischen Aufgaben der Partei. Im ersten Teil wurde die Politik der exzessiven

Verantwortung

vor

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/170. ö. e. MDP ZK-Tagung vom 14. April 1954, 103. p. Beitrag Mátyás Rákosi.. Die letzte Aussage scheint von Rákosi entstellt worden sein. Vladimir Farkas schreibt dazu in seinen Memoiren: „Mein Vater hat erzählt, daß die Führung in Moskau von den Geschehnissen in der DDR so schockiert war, daß sie mit der Unterschrift von Molotow sofort einen Brief oder ein Telegramm nach Budapest geschickt hätten, an die neue Leitung der Partei und des Landes gerichtet, deren Zusammensetzung in Moskau bestimmt worden war: In der Sitzung des ZK solle die Kritik am früheren politischen Kurs deutlich zurückgenommen werden, die kritischen Töne sollen dem Volk auf der Straße unbedingt vorenthalten bleiben.". Farkas Vladimir: Nines mentség (Keine Entschuldigung), Budapest 1989, 380. p. Die Juni-Resolution wurde 1953 nur in Auszügen veröffentlicht. Die vollständige Textfassung erschien zuerst in der Samisdat-Zeitschrift „Hírmondó" (Kurier), Nr. 2. 1985. Anschließend wurde der Text auch in der USAP-Zeitschrift „Propagandista" (Der Propangandist) publiziert, sowie in einer offiziellen Textsammlung: „Nehéz esztendök krónikája 1949-1953. Dokumentumok" (Chronik schwieriger Jahre, 1949-1953. Dokumente), Szerk. és bev. Balogh Sándor. Budapest 1986. 497-510. p. Alle weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen. von

153

Industrialisierung auf die zweite Parteikonferenz vom Februar 1951 zurückgeführt, die die Planziele des ersten Fünfjahrplanes von 1950 unberührt gelassen hatte. Erst ab 1951 sei eine „sektiererische Politik" verfolgt worden, die die „sozialistische Industrialisierung als ein Ziel für sich selbst betrachtete und die Interessen der Arbeiterklasse, der Arbeiterschaft vernachlässigte. In der fehlerhaften Wirtschaftspolitik zeigte sich ein gewisser Größenwahn, Elemente eines Abenteurertums, das die forcierte Entwicklung der Schwerindustrie des Landes auf nicht vorhandene oder gesicherte Ressourcen und Rohstoffe stellte." Während die Abschnitte, die auf die industrielle Entwicklung eingingen, eher allgemein gehalten waren, analysierte die Resolution die Fehler in der Agrarpolitik im Detail. So wurden der Rückgang an Investitionen in die Landwirtschaft und die Beschränkungen der Einzelbauern erwähnt. Im gleichen Abschnitt wurde Nagy politisch rehabilitiert: Die forcierte Sozialisierung der Landwirtschaft sei umso schlimmer gewesen, als Genosse Imre Nagy innerhalb der Parteiführung gegen diese Politik Stellung bezogen habe, aber statt seine Position zu übernehmen, habe die Parteiführung sie als „opportunistisch" gebrandmarkt und administrative Maßnahmen gegen Genossen Nagy eingeleitet. Die dritte Gruppe von Fehlern bezog sich auf den sinkenden Lebensstandard der Bevölkerung. Terrormaßnahmen gegen die Bevölkerung wurden nur sehr kurz angesprochen, obwohl entsprechend den Moskauer Instruktionen einige Zahlenangaben eingefügt wurden. Die Resolution sah in der Unterhöhlung der kollektiven Führung durch den von Rákosi verantworteten Kult um seine Person die Hauptursache für die begangenen Fehler: „In der Tat konzentrierte sich die Führung auf eine Clique von nur vier Genossen Genossen Rákosi, Gero, Farkas und Rêvai." Diese Führungsclique habe die Verbindung zu den Massen verloren, die Signale der Bevölkerung bezüglich der um sich greifenden Gesetzesbrüche, des falschen und feindlichen Verhaltens von Polizei und Staatssicherheit gegenüber den Arbeitern und die hohe Zahl von Verurteilungen ignoriert. All dies sei durch die Mängel der Partei auf ideologischem Gebiet hervorgerufen worden. Die Partei habe die Funktion von Staat und Regierung lahmgelegt. Der Ministerrat spiele keine eigene, unabhängige Rolle, er sei eine Verlängerung der Parteiführung. Hierzu habe vor allem beigetragen, daß das Amt des Parteiführers und des Ministerpräsidenten in einer Person, der Person des Genossen Rákosi, konzentriert worden sei. Das sei falsch gewesen. Die Partei und Genosse Rákosi hätten zu Unrecht die Staatssicherheit angeleitet. In bezug auf die direkt einzuleitenden, ökonomischen und politischen Maßnahmen stellte die Resolution fest, daß die Wirtschaftspolitik der Partei radikal verändert werden müsse. Die Industrialisierungsrate, insbesondere die Entwicklungsrate der Schwerindustrie, müsse reduziert werden. Die Pläne für die Volkswirtschaft seien zu überprüfen. Wiederum vergleichsweise detaillierter äußerte sich das Dokument zu Maßnahmen in der Landwirtschaft, verkündete die Abschaffung der Kulakenliste, die Aufhebung aller Lieferungsrückstände und die Zulassung von Austritten aus den landwirtschaftlichen Kollektiven. Landwirtschaftliche Kooperativen konnten auf Beschluß der Mehrheit der Mitglieder aufgelöst werden. Zudem rief die Resolution zu einer sofortigen Verbesserung des Pro-Kopf-Konsums auf, was eine Verbesserung der Versorgung mit Konsumgütern bedeutete. Abschließend beschäftigte sich die Resolution mit organisatorischen Fragen und Personalveränderungen in der politischen -

154

handelte es sich bei der Resolution also eher um eine Auflistung Problemen und Sofortmaßnahmen als um eine tiefgehende Analyse. Freilich schrieb sie einen solch bedeutsamen Wechsel des politischen und ökonomischen Kurses vor, daß eine Rückkehr zum status quo ante unvorstellbar schien. Der „Neue Kurs" war personalpolitisch weitaus weniger abgesichert als der bisherige. Zwar gehörten Mihály Farkas, József Rêvai, Károly Kiss und Árpád Házi dem neuen Politbüro nicht mehr an, aber die neuen Mitglieder rekrutierten sich wesentlich aus den Nachwuchskadern, die von Rákosi und Gero seit 1951 bevorzugt gefördert wurden. Das gleiche traf auf das Sekretariat zu (weiterhin für Ernennungen wichtig), wo nun Lajos Acs und Bêla Vég neben Rákosi saßen.1 Im neuen Kabinett fanden sich nur zwei Minister, István Bata und Sándor Zsoldos, die bislang nicht Rákosis Regierung angehört hatten. Ministerpräsident Nagy mußte mit Leuten arbeiten, die, wie er selbst, in der zweiten Reihe gestanden hatten und jene Politik, die nun so sehr kritisiert wurde, ausgeführt hatten. Nagy hatte zunächst keine andere Wahl. Noch mangelte es ihm an dem Team, das später seine Gefolgschaft darstellen sollte. Die meisten von ihnen saßen im Gefängnis und wußten nichts über die sich vollziehenden Veränderungen. Vor allem aber wollte Moskau keine radikaleren Veränderungen in der Führung. Nach den Vorstellungen der sowjetischen Führer sollte das Rakosi-GeröTandem von einer gemäßigteren Troika ersetzt werden, die nun Nagy einschloß. Nagy spielte also eine Schlüsselrolle. Welche Gründe bewogen die Moskauer Führung zur Wahl von Nagy? Während der „antizionistischen" Kampagne war der für die Ablieferungsquoten zuständige Minister zum stellvertretenden Ministerpräsidenten aufgestiegen. Als einziges Mitglied der ungarischen Führung aus dem Moskauer Exil war er nicht-jüdischer Abstammung. Nagy hatte einen Ruf als bester Kenner der landwirtschaftlichen Probleme in Ungarn, und die sowjetische Führung sah die Situation in der Landwirtschaft als eine der Hauptelemente der Krise. Desweiteren wollte Moskau jemanden, mit dem man vertraut war, dessen Vergangenheit, dessen vorhergehende Karriere und dessen politischer Charakter "überprüft" werden konnte. Malenkow hatte als ehemaliger Leiter der KPdSUKaderabteilung eine solide Kenntnis der Kaderakte Nagys.2 Marschall Woroschilow kannte Nagy noch aus der Zeit von 1944/45, als dieser Landwirtschaftsminister war. Chruschtschow hatte seinen Erinnerungen nach einen gute Meinung über Nagy von Stalin selbst vermittelt bekommen.3 Nagy, der auf der Seite der Roten Armee im russischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, der illegal als Kommunist gearbeitet und später dann wichtige Ämter inne hatte, war 1952 der einzige innerhalb der ungarischen Führung, der 1948/49 mit Rákosi und Gero über landwirtschaftliche Umwälzung gestritten und ein Programm vertreten hatte, das nun von Moskau als Ausweg aus der Krise gesehen wurde. Die Dokumente, die dem Parteipräsidium in Moskau vorlagen,

Führung. Insgesamt von

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 52/24. ö. e. MDP KV 27-28. Juni 1953. Auf die Initiative von Rákosi wurde die Funktion des Generalsekretärs nur in einem internen Beschluß und nicht in einer Resolution für die Öffentlichkeit bestimmt. Vgl. dazu Rainer, János M.: Nagy, Imre. Politikai életrajz (Imre Nagy. Politische Biographie ), I. köt. 1896-1953. Budapest 1956-os Intézet, 1996. Vgl. Memuári Nyikiti Szergejevicsa Hruscsova. Voproszi Isztorii (Deutsch?), 1994. 5. sz.

Vgl.

155

zeigten Nagy als einen Mann mit vorwärts gerichteten Vorstellungen, mutig und gleichzeitig diszipliniert, willens, sich dem Kollektiv unterzuordnen, selbst wenn es gegen ihn vorging. Als politisch gebildeter Agrarexperte im Amt des Ministerpräsidenten war Nagy aus der Sicht Moskaus nahezu ideal, um den „Industrialisierern" Rákosi und Gero Paroli zu bieten und ein Gleichgewicht in der ungarischen Führung herzustellen. Mit Blick auf den (mit Kiseljows Worten) „wilden ungarischen Nationalismus" war es zudem vorteilhaft, eine Persönlichkeit ungarischer Abstammung als Oberhaupt eines Teams zu ernennen, das ansonsten von Persönlichkeiten jüdischer Abstammung dominiert wurde. Das Parlament, das am 17. Mai 1953 gewählt worden war, trat am 3. Juli zusammen und Rákosi reichte seinen Rücktritt ein. Die Wahl der neuen Regierung fand am Morgen des 4. Juli statt. Dann gab Nagy seine Regierungserklärung ab. Das ungarische Radio berichtete darüber in den Mittagsnachrichten und brachte die ganze Rede abends um acht Uhr. Die Bedeutung der Parlamentssitzung und der Regierungserklärung war offensichtlich. Überall im Lande, wo immer sie die Möglichkeit zum Mithören hatten, warteten die Menschen mit großer Anspannung auf die Übertragung. Nagys Rede1 basierte im wesentlichen auf dem dritten Teil der Resolution des Zentralkomitees vom 28. Juni, der sich mit den unmittelbar bevorstehenden Aufgaben auseinandersetzte. Allerdings ging er in seinen Ausführungen an manchen Stellen darüber hinaus und gab ihm an einigen Stellen eine andere Ausrichtung. So erklärte er, daß diese Legislaturperiode „der Beginn einer neuen Phase ist, in welcher der Souveränität des Volkes größerer Ausdruck verliehen werden wird, in der das Parlament eine größere Rolle in der gesetzlichen Anleitung des staatlichen Lebens, in der Definition der Prinzipien und Ziele einer verantwortlichen Regierung und der Ausübung der verfassungsmäßigen Rechte spielen wird". Im Hinblick auf landwirtschaftliche Fragen ging Nagy wiederum über das Parteidokument hinaus und deutete eine strategische Wende an, als er erklärte, daß „unsere landwirtschaftliche Produktion auf Einzelhöfen beruht". Die Entwicklung ihrer Produktion, in Anbau und Viehzucht, liege im nationalen Interesse. Die Regierung betrachte es als eine Aufgabe von höchster Bedeutung, die Produktion von Einzelhöfen zu fördern und ihnen zu helfen, Produktionsmittel und Personal, Ausstattung, Dünger, verbessertes Saatgut und all die anderen Hilfsmittel zu erhalten. Noch nachdrücklicher äußerte sich Nagy über den angeschlagenen Privatsektor. Ausführlicher auch, als dies die Resolution getan hatte, beschäftigte sich Nagy in seiner Regierungserklärung mit der Rolle der Intelligenz und der Kirchen. Vielen Zeitgenossen jedoch blieben die Worte, die dann folgten, im Gedächnis: „Im höheren Bildungswesen haben wir viele Dinge erzwungen und enorme Opfer gebracht. Wir werden in diesem Bereich von nun an

weitaus bescheidener sein müssen. Laßt uns keine Luftschlösser bauen. Weitaus mehr Aufmerksamkeit muß den Grundschulen geschenkt werden. Wir müssen hier unsere Investitionen, die Zahl der Schulen, der Klassenzimmer und Lehrer verstärken, um die besten Bedingungen für die Grundausbildung unserer Zukunftshoffnungen, der kleinen Imre: Egy évtized. (Ein Jahrzehnt), II. k. Válogatott beszédek és írások (Ausgewählte Reden und Texte) 1948-1954, Budapest: Szikra, 1954. 352-376. pp. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

Nagy,

156

Ungarn, herzustellen, die wie ich sagen muß wir bislang gröblich vernachlässigt haben, aufgrund der Überbetonung der höheren Bildung." Nagy hatte den Nagel auf den -

-

Kopf getroffen. Hier sprach ein kommunistischer Ministerpräsident von den „Hoffnungen der Zukunft, den kleinen Ungarn", in einem Land, in dem selbst Nationalfeste wenige Jahre zuvor verboten worden waren. Freilich stand der wichtigste Teil der Rede, der die Bevölkerung insgesamt betraf, noch bevor: „Diese Regierung beruht, in all ihrer Tätigkeit, auf dem Recht und der Gesetzlichkeit, die in unserer Verfassung niedergelegt ist. Die Grundlage unseres

volksdemokratischen Staatssystems und unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens ist sozialistische Gerechtigkeit, die strikte Beachtung der bürgerlichen Rechte und Verantwortlichkeiten, die in der Verfassung und den Gesetzen der Volksrepublik festgelegt sind." Nagy fügte dem Wort Gesetzlichkeit das Attribut „sozialistisch" hinzu, was von der Mehrheit der Bevölkerung als Einschränkung verstanden wurde. Aber in der nächsten Passage nannte er die Dinge beim Namen ohne Einschränkungen: „Oft ist das Fundamentalprinzip des volksdemokratischen Staatslebens und der volksdemokratischen Staatsverwaltung (Gesetzlichkeit) nicht ausreichend angewandt worden in der Arbeit unserer Justiz- und Polizeiorganisationen und unserer lokalen Räte. Die hohe Anzahl von gerichtlichen Untersuchungen und Prozessen über Delikte, weitverbreitet administrative Maßnahmen, angewandte Pflichtabgaben, Steuereinziehung, die Kulakenlisten, massive Ausschreitungen und Exzesse in der Neuverteilung des Landes und andere Arten der Verfolgung haben den Gerechtigkeitssinn der Bevölkerung verletzt. Sie haben das Vertrauen in die Gesetzlichkeit erschüttert und die Verbindung der arbeitenden Menschen mit unseren Staatsorganen und lokalen Räten geschwächt. (...) Sie haben vergessen, daß sie da sind, um den Menschen zu dienen und nicht andersherum. Daß Bescheidenheit, Fürsorge und ziviles Verhalten Tugenden sind, die jeder Bürger und die Regierung selbst jedem öffentlichen Amtsträger abverlangen kann. Sicherung der Gesetzlichkeit ist eine der drängendsten Aufgaben der Regierung." Imre Nagy hatte die Idee der Gesetzlichkeit positiv in diese wenigen Sätze eingebracht, ohne jegliche Einschränkungen. Dies bedeutete, daß die Regierung die Feindseligkeiten gegenüber der Bevölkerung eingestellt hatte. Die überwiegende Mehrheit der ungarischen Gesellschaft nahm die Rede mit Freude, Erleichterung und voller Erwartungen auf. Dies wird aus den zeitgenössischen Berichten über die öffentliche Stimmung aber auch aus den Erinnerungen und Interviews von Emigranten nach 1956 deutlich.1 Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß dies die erste Rede eines kommunistischen Führers seit 1945 war, der die Mehrheit des Landes zustimmte. Diejenigen, die von der Politik der letzten Jahre profitiert hatten, hörten die -

Lebensgeschichten-Interviews, die ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre aufgenommen wurden und die Basis im Bestand des Oral History Archivs des 1956er Instituts bilden, inhaltlich weitgehend mit den Interviews überein, die im Zeitraum 1957-1960 mit ungarischen Emigranten in Europa und in den USA gemacht wurden. An manchen Stellen stimmen sie bis in die wörtliche Formulierung überein. Vgl. Országos Széchényi Konyvtár Kézirattára (Handschriftenabteilung der Széchényi-Nationalbibliothek), 413. f. 1. ö. e„ Columbia University Research Project on Hungary, Kopie der Tonbandaufzeichnungen. In dieser Hinsicht stimmen die

157

Regierungserklärung natürlich eher skeptisch. Doch das Programm versprach keinen grundsätzlichen Wandel, keinen Systemwandel. Es deutete einfach an, daß auch der Kommunismus als ein plurales Phänomen verstanden werden könne. In der gespannten Situation des Jahres 1953 war dies von enormer Bedeutung.

4.

Einführung des „Neuen Kurses" und erste Ergebnisse

Regierungserklärung vom 4. Juli wurde die ungarische Troika geladen, diesmal, um über die Anklage gegen Berija informiert zu werden. Rákosis Erinnerungen zufolge betonte Chruschtschow, daß Berijas „Haltung, sein Verhalten in der Diskussion über die ungarische Frage, viel zu seiner Entlarvung beigetragen hatte". Sein Gedächnis ließ Rákosi wahrscheinlich nicht im Stich, als er Wenige Tage

nach der

erneut nach Moskau

schrieb, daß

er

in Moskau sofort den Versuch unternahm, eine Revision der Juni-

Gespräche herbeizuführen. Doch die Sowjetführer gaben diesem Drängen nicht nach.1 Es fiel Rákosi zu, der ungarischen Bevölkerung in einer Live-Ansprache über den Rundfunk von den Ereignissen in Moskau zu berichten. Dies war angesichts der Tatsache, daß die Bevölkerung darüber bisher nur etwas aus der Rede Imre Nagys

erfahren hatte, von besonderer Bedeutung.2 Der Sturz Berijas stärkte die Position der Anhänger des alten Kurses. Rákosi hielt eine kraftvolle, militante Rede vor den Parteiaktivisten, erhielt an mehreren Stellen Applaus und fand die wachsende Zustimmung seines Publikums, das durch die Geschehnisse der vorangegangenen Tage verwirrt war. Er hielt an der bisher geübten Kritik fest, sprach sie aber nur kurz an und war offensichtlich bemüht, deren Bedeutung herunterzuspielen. Rákosi sprach von den Errungenschaften, auf die jeder stolz sein könne und erklärte dann, daß „die Erfahrung der letzen Tage uns überzeugt hat, daß es sinnvoller gewesen wäre, die bevorstehenden Aufgaben im Namen der Partei zu verkünden".3 Sein Publikum, die Aktivisten, aber wohl auch alle Anhänger des alten Systems, die die Radioübertragung verfolgten, hörten, wie der erste Sekretär erklärte, daß die alten Slogans und Ziele unverändert gültig blieben, von der Industrialisierung bis zur Priorität des landwirtschaftlich-genossenschaftlichen Weges. Applaus brandete auf, als Rákosi feststellte, daß „wir Agitation gegen die Genossenschaften ebensowenig tolerieren werden wie Agitation gegen den Aufbau des Sozialismus". Imre Nagys Rákosi Mátyás: Visszaemlékezések 1940-1956 (Erinnerungen 1940-1956), Budapest 1997. 2. k„ 936-938. pp. Bei diesem Gespräch waren die rumänischen und bulgarischen Parteiführer ebenfalls anwesend. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/125. ö. e. MDP PB 9. Juli 1953. Die Nachricht über den Fall Berijas wurde von der TASS erst am drauffolgenden Tag, am 10. mitgeteilt, so erschien sie am 11.07. in den Zeitungen, genau am Morgen der Budapester Aktivistenversammlung. Rákosi Mátyás: A Magyar Dolgozók Pártja Központi Vezetosége 1953. jüniusi határozatának végrehajtásáért (Zur Durchführung der Resolution des ZK der MDP im Juni 1953, Rede in der Budapester Aktivistenversammlung am 11. Juli 1953), in: Rákosi, Mátyás: Válogatott beszédek és cikkek. Negyedik, böv. kiad (Ausgewählte Reden und Artikel. 4„ erw. Aufl.), Budapest: Szikra, 1955. 567. p.

158 nahm sich gegenüber der Rákosis schwach aus, er betonte lediglich die Einheit der Partei und die bereits initiierten Maßnahmen.1 Trotz der offensichtlichen Spannungen zwischen Nagy und Rákosi wurden die ersten praktischen Maßnahmen relativ schnell angegangen. So wurde am 24. Juli eine beschränkte Amnestie gewährt, die alle Zuchtstrafen unter zwei Jahren aufhob und längere Zuchthausstrafen, mit Ausnahme politischer Delikte, um ein Drittel verkürzte. Weitere Maßnahmen betrafen den zulässigen Umfang der privaten Hauswirtschaft in Kolchosen, Modifikationen im Investitionsplan für das Jahr 1953, Preisnachlässe für Lebensmittel (31. Juli), Veränderungen im Plan für Eisen- und Stahlproduktion und Wohnungsbau (7. August), Abschaffung der gerichtlichen Kompetenzen der Polizei (14. August) sowie Modifikationen in den Direktiven an die Haushaltsorgane (22. August). Die Kritik einiger Minister im Kabinett, daß das schnelle Tempo der Reformer „Unsicherheit" schaffe, blieb erfolglos. Der Schwerpunkt der Opposition lag allerdings im Politbüro, wo unter Rákosis Leitung alles darangesetzt wurde, die Umsetzung des Reformprogrammes zu bremsen. Wenige Tage nach Rákosis Ansprache vor der Aktivistentagung hielt Nagy Rücksprache mit Moskau. In einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Kiseljow äußerte Nagy seine Besorgnis darüber, daß „der gemeinsame Plan für die Umgestaltung der Wirtschaft und Politik nicht so vorangehe wie geplant". Nagy gab an, daß sich seit der Rede Rákosis vor den Parteiaktivisten Widerstand gegen die neue Politik im Parteiapparat, ja selbst in der Führung zeige. Rákosi und Gero sähen in allen Forderungen der ungarischen Arbeiter das Machwerk des Feindes. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Rákosi die Beibehaltung und Umsetzung des Programmes seit der Verhaftung Berijas „fast als einen Versuch ansehe, den Kapitalismus wiedereinzuführen".2 Nagys Intervention zeigte den erwünschten Erfolg: Wenige Tage später verlangte die Sowjetführung einen Bericht über die Ergebnisse des „Neuen Kurses". Dies, so Nagy gegenüber Kiseljow „veranlaßte Rákosi, sorgfältig zu überdenken, was bis zu diesem Zeitpunkt erreicht worden war". Der sowjetischen Unterstützung sicher, äußerte sich Nagy fast scherzhaft über das Verhalten Rákosis. Es sei schwer, „den Alten zu verändern. Er vergißt immer noch, daß nicht mehr er der Ministerpräsident ist, und so gibt er des öfteren politische und administrative Anweisungen an die Ministerien. Er sei sich dessen erst bewußt geworden, seit er, Nagy, ihn freundschaftlich daran erinnert habe, daß er diese Angelegenheit ruhig dem Ministerrat überlassen könne".3 Freilich zeigte dies, wie schwierig es war, Rákosis Versuche, seine Prärogative über die Beziehungen zu den Sowjets zu sichern. So habe er erst nach der zweiten Warnung Nagys die Politbüromitglieder über die erwähnte sowjetische Anfrage informiert. Nagy konnte wohl erst richtig aufatmen, als

Ansprache

Nagy Imre: A Központi Vezetoség határozata iránytü a kormány számára. Felszólalás a budapesti pártaktíva értekezleten (Der Beschluß vom ZK soll für die Regierung als Kompaß dienen. Beitrag in der Budapester Aktivistenversammlung 1953.) júl. 11, in: Nagy Imre: Egy évtized (Ein Jahrzehnt), a.a.O., II. k. 377-388. p. AVP RF F. 077. op. 33. por. 9. pap. 161. 11. 41-49. Bericht von Imre Nagy am 16. Juli 1953. Ebd., II. 52-56. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Imre

Kiseljow

über das

Nagy am

25. Juli 1953.

Gespräch

mit

159

Ministerpräsident

dem Obersten

Sowjet am 8. August Wirtschaftspolitik stellten, ohne ausdrücklich von einem „Neuen Kurs" zu sprechen, Lebensstandard, Komsumgüterindustrie und Landwirtschaft in den Vordergrund und zeigten, daß Berijas Sturz keinesfalls eine Restauration des alten Kurses bedeutete. Im Gegenteil, in Form Malenkow sein

Programm

vortrug. Malenkows Ausführungen

zur

vor

Innen- und

und Inhalt bestärkte Malenkows Rede die Position Imre Nagys.1 Der sowjetische Botschafter Kiseljow, zugleich Vertreter der KPdSU in Budapest, zeigte deutliche Sympathie Nagy gegenüber. Er spielte schon in ihrem ersten Gespräch darauf an, daß die Zusammensetzung der ungarischen Führung noch weiterer Korrekturen bedürfe. Nagy ergriff die Initiative hierzu in einem Gespräch mit ihm am 7. August 1953 mit dem Vorschlag, das Sekretariat des ZK der MDP, das bisher drei Mitglieder hatte, um eine weitere Person, Mihály Farkas zu erweitern.2 Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, daß Nagy dieses Vorhaben zuerst mit Kiseljow und nicht mit den ungarischen Führern beriet. Nagy hatte (unter politischen Aspekten nachvollziehbar) die Absicht, vor allem in jenen Bereichen möglichst bald Änderungen zu bewirken, wo er sich am schwächsten sah. Die Mehrheit der Mitglieder des Politbüros und des Sekretariats machten junge Kader aus, die von Rákosi und Gero in diese Position geholt worden waren. In der Regierung erfolgte zwar die Durchführung des Programms ohne größere Diskussionen. Im Gegensatz dazu stießen aber in der Parteiführung alle Durchführungsmaßnahmen auf Widerstand. Zu Farkas hatte Nagy keine persönliche Beziehung, die politische Einstellung der beiden war sogar konträr. Den Berichten von Kiseljow kann aber entnommen werden, daß die Idee, Farkas wieder in diese Gremien zu holen, von Imre Nagy stammte. Gleichzeitig hatte auch Rákosi vor, das Sekretariat zu erweitern: Antal Apró oder Árpád Házi, die als seine Leute galten, sollten es zu seinen Gunsten verstärken.3 Auch Rákosi informierte zuerst die Sowjets über sein Vorhaben. Die Initiative von Nagy war also als Gegenvorschlag zu verstehen. Es kann davon ausgegangen werden, daß die latenten Konflikte zwischen Farkas und Rákosi Imre Nagy nicht verborgen geblieben waren. Ihre Intrigen waren Stalin sogar bis zu Farkas hatte dann im Juni mehrere 1953 Male Selbstkritik vorgedrungen.4 geübt, wobei er in der Wortwahl seiner Formulierungen sehr stark auf die kritischen Reden von Nagy zurückgegriffen hatte.5 Zu diesem Zeitpunkt konnte Nagy also auf den ehemaligen Verteidigungsminister an seiner Seite rechnen. Längerfristig erwies sich diese 1

2 3 4

5

Die Rede von Malenkow erschien in der „Prawda" am 9. August 1953. AVP RF. F. 077. op. 33. por. 9. pap. 161. 11. 62-68. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Imre Nagy am 7. August 1953. AVP RF F. 077. op. 33. por. 9. pap. 161. 11. 69-71. Bericht von Kiseljow über das Telefongespräch mit Mátyás Rákosi am 7. August 1953. Rákosi, Mátyás: Visszaemlékezések (Erinnerungen), a.a.O. 2. k. 897-900. pp. Selbst aus dem stark zurückhaltenden Ton von Rákosi geht klar hervor, daß er sich bei Stalin um die Entfernung von Mihály Farkas bemühte (möglicherweise wollte Rákosi sogar mehr als nur eine Entfernung aus der Führung), und daß dies von Stalin brüsk abgelehnt wurde. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/122. o.e., MDP PB 20. Juni 1953, MOL: MDP-MSZMP 276. f. 52/24. ö. e., MDP KV 27-28. Juni 1953.

160 von ihm als schwerwiegender Fehler. Farkas war nämlich für die konstruierten Prozesse mitverantwortlich, was auch das Image von Imre Nagy beeinträchtigte. Mihály Farkas wurde vor diesem Hintergrund am 12. August 1953 mit einer Abstimmung im Umlaufverfahren zum Mitglied des Politbüros und des Sekretariats wiedergewählt. ' Da Rákosi nicht imstande war, die ab Ende Juni und im Juli 1953 bekanntgegebenen Beschlüsse aufzufangen und zu revidieren, änderte er seine Strategie. Er drängte auf die Erstellung ernsthafter Analysen, worin die früheren Fehler bestanden haben und was zu ändern wäre. Erst auf dieser Grundlage sollte entschieden werden, welche Änderungen in der Zukunft vorgenommen werden sollten. Es sollten darüber hinaus die unmittelbaren und perspektivischen Auswirkungen der schon durchgefürten Änderungen festgestellt bzw. geprüft werden. „Bei der Realisierung der Empfehlungen von Moskau ist das ZK der MDP unbeholfen vorgegangen", behauptete Rákosi Jurij Andropow gegenüber, der als amtsführender Vertreter von Kiseljow in Budapest gerade erst angereist war. „Es wäre notwendig gewesen, auf der Basis der kritischen Bemerkungen von Moskau ein durchdachtes und positives Programm zu erarbeiten und dieses der Partei und dem Volk verständlich zu machen. Stattdessen kritisierte die Führung des ZK der MDP ihre eigenen Fehler so unvorsichtig, daß unsere Feinde dies bei ihren auf die Untergrabung unseres Systems zielenden Machenschaften sogar zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten."2 Imre Nagy war auch dabei, Zwischenbilanz zu ziehen. Er hatte die Erwartung, daß die Vertreter des „Neuen Kurses" gestärkt würden. In einem Bericht von Andropow steht zu dieser Zeit: „Nagy berichtete darüber, daß er weitgehend zufrieden sei, weil im Politbüro in bezug auf die Einschätzung der Umstände und die vorzunehmenden Maßnahmen weitgehende Übereinstimmung herrsche." „Im Urlaub hat er sich in Sotschi mit Rákosi getroffen und er hat ihm seine Vorstellungen zu verschiedenen Fragenkomplexen geschildert. Sie haben dabei zu den meisten prinzipiellen Fragen einen gemeinsamen Standpunkt bezogen."3 Nagy fühlte sich gestärkt, als das Zentralkomitee der KPdSU am 7. September 1953 einen Beschluß zur Entwicklung der Landwirtschaft verabschiedete. Die Wirtschaftspolitik des „Neuen Kurses" wurde mit den früheren Mitteln der zentralisierten Verwaltung, durch Anweisungen und Anordnungen und somit auch relativ schnell eingeführt. Die Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen wurde auch aus politischer Sicht immer deutlicher: Die bestehenden Spannungen drohten mit dem Kollaps der Wirtschaft und/oder einer Explosion der Gesellschaft zu enden. Da sich die Änderungen zum Teil kurzfristig, zum Teil erst in einer längeren Zeitspanne auswirkten, war das Zusammenspiel der Konsequenzen nur schwer vorauszusagen.4

Entscheidung

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/131. ö. e. MDP PB 12.August 1953. AVP RF F. 077. op. 33. por. 9. pap. 161. 11. 94-98. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Mátyás Rákosi am 30. September 1953. Ebd., II. 101-104. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Imre Nagy am 7. Oktober 1953. Eine Analyse dieser Maßnahmen im Detail ist nachzulesen bei: Petö Iván Szakács Sándor: A hazai gazdaság négy évtizedének torténete 1945-1985,1. köt (Geschichte von vier Jahrzehnten der ungarischen Wirtschaft. Bd.l), Az újjáépítés és a tervutasításos irányítás idöszaka 1945-1968 -

161

Die erste Gruppe der Maßnahmen zielte darauf, einen Teil der gehorteten Vorräte im Akkumulationsfonds für den Verbrauch der Bevölkerung, für den Konsumtionsfonds bereitzustellen. Die Investitionen bei der Schwerindustrie wurden gedrosselt und die damit gewonnenen Geldmittel für die Landwirtschaft, für die Leicht- und Lebensmittelindustrie sowie für den Wohnungsbau und die Wohnungssanierung bis auf einige verwendet. Die Auswirkungen dieser Entscheidungen waren Ausnahmen, wie das unverzügliches Stoppen mancher großangelegten Investitionen (Bauarbeiten der U-Bahn in Budapest und des Hüttenwerks in Sztálinváros) erst nach dem nächsten Jahresplan, also nach sechs bis zwölf Monaten spürbar. Ein weiteres Bündel von Anordnungen wurde erlassen, um die Löhne und Gehälter zu erhöhen und gleichzeitig dabei die Preise zu senken. An den Lohn- und Gehaltserhöhungen waren 928.000 Arbeitnehmer beteiligt, im Schnitt mit über 100 Forint pro Kopf im Monat, für die insgesamt 981 Millionen Forint aufgewendet wurden. Nach den Preissenkungen im Juli und September wurde angenommen, daß die Bevölkerung Ersparnisse etwa in gleicher Höhe, d.h. von ca. 1 Milliarde Ft erzielen konnte.1 Die Änderungen machten sich tatsächlich unmittelbar bemerkbar: Kaufkraft und Nachfrage stiegen. Das dabei notwendige Warenangebot konnte nur mit Hilfe von soweit die spärlichen Reserven an zentralen Maßnahmen gesichert werden Konsumgütern dies überhaupt erlaubten. Das erste Paket an Maßnahmen drohte in der Konsequenz, den früheren Automatismus in der Wirtschaft zu zerrütten. Beim zweiten Bündel von Eingriffen war als Auswirkung absehbar, daß die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht kommt. Weitere Regelungen wurden zur Verminderung der Lasten der Bevölkerung, vor allem der Bauern ergriffen. In diesem Bereich setzte man sich das Ziel, die gewünschten Folgen nicht nur mit Anordnungen zu bewirken, sondern sich zu einem gewissen Maß auf die Hilfe natürlicher Wirtschaftsfaktoren zu verlassen. 50 agrarpol¡tische Regierungsbeschlüsse wurden 1953 in der zweiten Jahreshälfte verabschiedet, und es wurden darüber hinaus viele weitere Verordnungen von Behörden unterhalb der Regierungsebene getroffen. Im Bereich der Industrie wurde in erster Linie mit der Änderung der zu erzielenden Planwerte operiert, indem sie „ausgeglichen wurden". Im landwirtschaftlichen Sektor war wiederum ein differenzierteres Vorgehen zu registrieren. Als erstes wurden die damals schon fast unerträglich hoch gewordenen, ausstehenden Zahlungen der Bauern (Steuerschulden, sonstige Rückstände u.s.w.) vermindert oder sogar gestrichen. Anschließend wurden zu Herbstbeginn Regelungen eingeführt, die die Bereitschaft zur Produktion erhöhen sollten. (Die ehemaligen Eigentümer bekamen vom Staat z.B. ihr früher freiwillig abgegebenes oder zurückgelassenes Land zurück, und es bestand die Möglichkeit, Land bis zu einer Fläche von maximal 25 Morgen/Joch steuerfrei in Pacht zu nehmen u.s.w.). Es wurde mit der Ausarbeitung einer neuen Regelung begonnen, die die bis dahin jährlich immer wieder geänderten vorgeschriebenen Ablieferungsraten für einen größeren Zeitraum -

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(Wiederaufbau und direktives Planwirtschaften), Budapest: Közgazdasagi és Jogi Kiadó. 1985, 246-261. pp. Petö, Iván Szakács, Sándor: A hazai gazdaság négy évtizedének torténete 1. Jahrzehnten der ungarischen Wirtschaft. Bd.l), a.a.O., 258. p. -

(Geschichte

von

vier

162

(1954-1956) festlegen sollte. Sie sollte auch dazu führen, daß das Wirtschaften für die Einzelbauern leichter und besser planbar wurde. Die neue Regelung wurde zwar erst nach dem Abschluß des Wirtschaftsjahres im Dezember 1953 erlassen, trotzdem hat sie bedeutend dazu beigetragen, die Lasten zu vermindern.1 Sowohl alle politischen als auch die wirtschaftlichen Entscheidungen dieser Zeit zielten auf die Verminderung der Spannungen. Ursprünglich stand im Hintergrund nicht

die Absicht, einen Strukturwandel oder gar einen Systemwandel herbeizuführen. Ganz im Gegenteil: Überwiegend wurden die getroffenen Maßnahmen als eine Möglichkeit zur Stabilisierung des bestehenden Systems betrachtet. Aber von vielen Menschen wurden sie als Signale zu einem umfassenden Wandel im Land verstanden. Dies war aus sozialpsychologischer Sicht auch nachvollziehbar. Zwei Programme, die diese Erwartungshaltung hervorriefen, sind dabei besonders hervorzuheben: zum einen die Bestrebungen zur wesentlichen Verminderung der politischen und wirtschaftlichen Repressionen2 und zweitens die gesetzliche Erlaubnis, aus den landwirtschaftlichen Genossenschaften auszutreten. Bei der Verminderung der Repression wurde die sogenannte Berija-Amnestie zum Vorbild genommen. In der Sowjetunion war nämlich unmittelbar nach dem Tod von Stalin eine Amnestie erlassen worden, unter die damals Straftäter von Kriminalverbrechen nach dem Zivilrecht fielen. Die Amnestie politischer Verurteilter wurde vorbereitet. Darauf weisen z.B. auch die Entwicklungen hin, daß die Untersuchungen im Falle des „Ärzte-Komplotts" eingestellt und die Angeklagten für einen geplanten umfassenden zionistischen Prozeß auf freien Fuß gesetzt werden sollten. Infolge des Sturzes von Berija wurde aber die politische Amnestie in der Sowjetunion erst wesentlich später erlassen.3 Die Amnestie in Ungarn zeigte Ähnlichkeiten zu der in der Sowjetunion: Sie galt nur für minderjährige und ältere Häftlinge, die zu weniger als zwei Jahre Freiheitsentzug verurteilt worden waren. Durch diese Einschränkungen war die Mehrheit der politischen Häftlinge aus der Amnestie von vornherein ausgeklammert, weil in ihrem Fall das Urteil meistens höher als zwei Jahre Haft lautete. Neben den Ähnlichkeiten gab es auch Unterschiede zur Amnestie der Sowjets. So machte Berija im Juni 1953 mehrmals in Form von Anspielungen Versuche, die Befreiung von Gabor Péter zu initiieren, den potentiellen Angeklagten für den geplanten "Zionistenprozeß" in Ungarn: Nach dem Fall von Berija wurde er nicht

freigelassen.

MOL XIX-A-83-j. 95. d. MT. 1953. dec. 11. Magyarországon / Landwirtschaftliche Steuern

s.

Erdmann, Gyula: Begyüjtés, beszolgáltatás

und

ablieferungen

in

Ungarn

/ 1945-1956.

Békéscsaba, Tevan Kiadó, 1992. 182-196. pp. János Kornai nennt die Verminderung der Repression in "A szocialista rendszer. Kritikai politikai gazdaságtan" (Das sozialistische System. Eine kritische politische Wirtschaftslehre), den wichtigsten Faktor der politischen Liberalisierung in den Reformsystemen.(Budapest: HVG Rt.

1993.433-435.

pp.).

S. Jurij N. Zsukov: Borba za vlaszty v partijno-goszudarsztvennüh verhah SZSZSZR vesznoj 1953 goda. Voproszi Isztorii, 1996. 5-6. sz. 39-57. pp. "Novüj kursz" L. P. Berii 1953 g. Publ. podg. A I. Kokurin, A. I, Pozsarov. Istoritscheski Archiv, No. 4. 1996. 132-164. pp.

163

Andererseits wirkte sich die Verminderung der Repression auf das Schicksal vieler positiv aus, die formal gesehen wegen unbedeutender Kriminalfalle oder wirtschaftlicher Verbrechen verurteilt worden waren, aber in Wirklichkeit politischen Bestrafungskampagnen zum Opfer gefallen waren. Dies war der Fall bei Urteilen zu Geldstrafe oder Haft für Rückstände bei den Ablieferungen. Auch diejenigen waren positiv betroffen, die ein „Planverbrechen" begangen hatten: Sie waren wegen mangelnder Erfüllung des Produktionsplans verurteilt worden. Ein weiteres Beispiel sind Häftlinge, die „in eigenmächtiger Handlung den Arbeitsplatz verlassen" haben. Doch als wichtigstes Ergebnis wurde die präventive politische Verfolgung, die Aussiedlung und die Internierung in Arbeitslager eingestellt und abgeschafft. Alles in allem sind also diese Regelungen als eine politische Amnestie mit begrenzter Anwendbarkeit zu verstehen. In dieser frühen Phase des „Neuen Kurses" war dies eine Personen

-

-

rein ungarnspezifische Entwicklung. Sodann wurde im Herbst 1953 im wesentlichen der ungarische Gulag aufgelöst: alle Internierungslager, darunter das Lager auf der Hortobágy, das als Sammelplatz für diejenigen diente, die dazu verurteilt worden waren, ihren Wohnort zu verlassen. Es wurde auch diese Zwangsregelung abgeschafft. László Piros, stellvertretender Minister des Inneren und Kálmán Czakó, Oberster Staatsanwalt, schrieben in ihrem zusammenfassenden Bericht vom 18. November: „Bei der Durchführung der Maßnahmen zur Amnestie waren rund 748.000 Personen betroffen.1 In den Gefängnissen wurden von fast 40.000 Häftlingen 15.761 Personen entlassen. Die Internierungslager der ÁVH (in Recsk, Kistarcsa, Kazincbarcika und Tiszalök) haben bis Ende Oktober 3.234 Personen verlassen. Gegen von mehr als 5.000 Inhaftierten 659 von ihnen wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet: Die Anklage hieß Spionage, Kriegsverbrechen, illegaler Grenzübergang (...). Etwa 1.200 Ausländer, d.h. ehemalige Kriegsgefangene, die im Internierungslager bei Tiszalök untergebracht worden waren, wurden im späten Herbst zum größten Teil in die Bundesrepublik Deutschland entlassen. In den Internierungslagern der Polizei wurden rund 500 Personen auf freien Fuß gesetzt. Insgesamt 7.281 Personen, die auf die Hortobágy ausgesiedelt worden waren, wurde die Freiheit wieder gegeben. Es wurde weiterhin die Zwangsregelung, den Wohnort verlassen zu müssen, bei vielen aufgehoben: Im Falle jener 13.670 Personen, die aus Budapest ausgewiesen worden waren sowie der 1.194 Menschen, die sich, aus verschiedenen Städten kommend, auf dem Lande aufhalten mußten. Die Verurteilungen zur Geldstrafe wurde bei 427.000 Personen annulliert. Die Gerichte stellten in annährend 230.000 Übertretungsfallen das Verfahren ein. Gerichtsverfahren, Ermittlungen der Staatsanwaltschaft oder der Polizei fanden, der Amnestie zufolge, in 29.000 Fällen ihr Ende. Für 4.500 Personen bestand ab diesem Zeitpunkt nicht mehr die Pflicht, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden."2 -

-

Iratok

2.Bd.), Iratok

az

igazságszolgáltatás torténetéhez. 2. köt. (Dokumente zur Geschichte des Rechtswesens, Budapest: Közgazdasagi és Jogi Kiadó, 1993. 586-587. pp. igazságszolgáltatás torténetéhez, 2. köt. (Dokumente zur Geschichte des Rechtswesens.

Szerk. Solt Pal et al. az

2.Bd.), 585-594.

pp.

164 Am 27. Oktober 1953 traf sich Imre Nagy mit dem Bischofskollegium der römischkatholischen Bischofskonferenz.1 In einigen Fragen konnten sie sich sofort einigen. So konnte die Regierung z.B. von ihrer ursprünglichen Absicht, den staatlichen Zuschuß für die Kirche zu reduzieren, problemlos Abstand nehmen. Es wurde auch vereinbart, daß Pfarrern in hohem Alter Versorgung und Verpflegung gesichert werden sollte. Ein weiterer Punkt, bei dem Einigkeit herrschte, war, daß für das Land und den Boden, die die Kirche in früheren Jahren unfreiwillig dem Staat hatte überlassen müssen, eine Vergütung gezahlt werde. Vereinbart wurde außerdem die Rückgabe von Dienstwohnungen an die Kirche, die im Laufe der Zeit verstaatlicht worden waren. Der Regierungschef versprach, daß sich die Mitglieder der zu 1950 aufgelösten kirchlichen Orden „an der Produktion beteiligen dürfen". Die in Archiven registrierten und aufbewahrten Dokumente der Kirche sollten ebenfalls zurückgegeben werden. In den Krankenhäusern wurde die Krankensalbung wieder erlaubt. Er gab desweiteren auch sein Versprechen, daß kirchliche Lehrbücher wieder verlegt werden dürften. Die Frage aber, in wie vielen Exemplaren kirchliche Veröffentlichungen erscheinen dürften, wurde nicht geklärt. Es wurde auch nicht angesprochen, ob der Fall der verhafteten Leiter der katholischen Kirche, gemeint waren damit Kardinal Mindszenty und Erzbischof Grösz, eventuell überprüft werden könnte.2 Ab Herbst 1953 war es administrativ einfacher, den Gewerbeschein zu beantragen, und Kleingewerbler durften nach Erteilung des Scheins sogar einen Kredit erhalten. Im Jahre 1949 lag die Zahl von Kleingewerblern noch bei rund 200.000 Personen, bis Anfang 1953 ging diese auf ein Viertel davon zurück, und 1954 wuchs sie wieder auf über 100.000.3 Der Entwicklung, daß der Privathandel einen „übertrieben großen Raum gewinnen" könnte, wollte die Regierung dadurch Grenzen setzen, daß je nach Gewerbe ein fester Rahmen mit Zahlenvorgaben gesetzt wurde. Dieser Rahmen wurde aber ununterbrochen erweitert.4 Im Herbst 1953 wurde Kleinbauern und Kleinhändlern offiziell genehmigt, ihre Produkte bzw. Waren auf den Märkten frei zu verkaufen. Dies machte die sowjetischen Führer immerhin besorgt: „Konnten Sie sich darüber vergewissern, daß der freie Kauf und Verkauf landwirtschaftlicher Produkte mit Sicherheit den Werktätigen und nicht Privatunternehmern Vorteile und Gewinn bringt? Ob es doch nicht vorkommen könnte, daß im Frühling bei einer eventuellen Lebensmittelknappheit die Privathändler die Preise für Fleisch und Fett in die Höhe MOL XIX-A-2-v Schriftliche Unterlagen von Imre Nagy, dem Ministerpräsidenten 70. d. Leltározott iratok 1953. I. leltár 178. sz. Bericht von János Horváth, dem Vorsitzenden des Staatlichen Kirchenamtes über die Konferenz des Bischofskollegiums am 10. November 1953. Ebd. 176., 177. sz. Aufzeichnungen des Staatlichen Kontrollbüros über die Vereinbarungen vom 2. November sowie über Fragen, die noch nicht geklärt wurden, s. Gergely, Jenö: A katolikus egyház Magyarországon 1944-1971. (Die katholische Kirche in Ungarn), Budapest: Kossuth, 1985.

139.p.

Petö, Iván Szakács, Sándor, A hazai gazdaság négy évtizedének torténete 1 (Geschichte Jahrzehnten der ungarischen Wirtschaft. Bd.l), a.a.O., 258. p. -

von

vier

MOL XIX-A-2-v Schriftliche Unterlagen von Imre Nagy, dem Ministerpräsidenten 70. d. Leltározott iratok 1953. I. leltár. 133. sz. Bericht von József Bognár über die Regelung zur Beantragung des Privathändlerscheins.

165 von Mihály Farkas Regierung hofft aber,

treiben?", wollte Jurij Andropow

wissen. „Diese Gefahr ist nicht daß Ablieferung und Aufkauf Produkte letztendlich doch mit landwirtschaftlicher guten Ergebnissen erfolgen und dadurch notfalls die Preise auf dem Privatmarkt positiv beeinflußt werden können," erwiderte daraufhin der Sekretär des ZK.1 Eine der wichtigsten Maßnahmen in der Resolution vom Juni und im Regierungsprogramm war die Genehmigung, aus den landwirtschaftlichen Genossenschaften auszutreten. Imre Nagy kündigte dies in seiner Programmrede erst für das Ende des Wirtschaftsjahres 1953 an. Er betonte ganz besonders, daß die zwangsmäßige Kollektivierung aufgegeben werde und rief gleichzeitig dazu auf, „die gut wirtschaftenden" Genossenschaften zu stärken. Da in der staatlichen Regelung diese begriffliche Unterscheidung zwischen gut und schlecht nicht festgelegt war, hieß dies praktisch, daß unverändert der ganze Sektor der Genossenschaften unterstützt wurde. Kurz nach seiner Rede kam es spontan zu Austritten und in einigen Ortschaften wurden die Genossenschaften sogar aufgelöst. Die Mitglieder nahmen Vieh und Werkzeug, das sie damals unter Zwang in die Genossenschaft eingebracht hatten, einfach wieder mit nach Hause. Durch diese umfassende Entwicklung fand sich die politische Führung in einem Dilemma: Entweder mußte das Zusammenbrechen der ganzen Struktur von landwirtschaftlichen Genossenschaften auf administrativem Wege verhindert, d.h. vieles wieder rückgängig gemacht werden, oder den verbleibenden Genossenschaften mußten Vergünstigungen von größerem Umfang als bisher geplant angeboten werden. Dadurch würde die Situation derjenigen, die aus der Genossenschaft austreten wollen, indirekt aber doch spürbar erschwert werden. Dieser Weg wurde beschritten. In diesem Sinne konnten nach Anordnung des Landwirtschaftsministers im Herbst diejenigen, die die Genossenschaft verlassen wollten, ihr früheres Land nicht mehr zurückbekommen, sondern es wurde ihnen von der Vollversammlung der Mitglieder irgendein Land, irgendwelche Äcker zugewiesen. Auch für die bestehenden Schulden und Lasten der Genossenschaft mußten sie nicht nur ihrem Besitzverhältnis, d.h. dem Umfang ihrer eigenen Bodenfläche entsprechend aufkommen, sondern sie mußten 50 % der Pro-Kopf-Schulden als zusätzlichen Betrag bezahlen. Wer sich den Austritt leistete, mußte also zweimal zahlen. Außerdem konnte das Auflösen einer Genossenschaft von nun an erst mit einer Zwei-Drittel-Mehrheitsentscheidung beschlossen werden. Diese Abstimmung mußte offen und unmittelbar vollzogen werden. Angenommen aber, zehn Mitglieder entschieden sich immer noch für das gemeinsame Wirtschaften, konnte die Genossenschaft gar nicht aufgelöst werden. In diesem Fall war allen anderen erlaubt, unter den oben geschilderten Bedingungen als „Aussteiger" die Genossenschaft zu verlassen. Als generelle Voraussetzung galt weiterhin, daß das Austreten aus der oder das Auflösen der Genossenschaft erst nach der Ernteeinfuhr und den im Herbst

gänzlich auszuschließen.

Die

AVP RF F. 077. op. 33. por. 9. pap. 161. 11. 107-111. Bericht mit Mihály Farkas am 19. Oktober 1953.

von

Andropow

über das

Gespräch

166 anfallenden

durfte.1 Die entsprechenden realisiert werden dann Ort noch vor kräftig dazu bei, daß diese Regelungen trugen

Feldarbeiten

Verwaltungsorgane

streng genug durchgeführt wurden.2

Von mehr als 5.000 landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden bis Ende 1953 688 aufgelöst (12% ), aber die Gesamtzahl der Mitglieder ging von 376.000 auf 250.000 Personen zurück. Der Umfang des Landbesitzes der Genossenschaften wurde dabei in dieser Zeit um 25 % reduziert. Im Jahre 1954 fielen diese Zahlen noch ungünstiger aus, die Tendenz dieser negativen Entwicklung ließ aber später nach: Zum totalen Zusammenbruch des genossenschaftlichen Sektors kam es letztendlich doch nicht. 3 nur

5.

„Widerstand" und Kompromiß

In der

Sitzung

des ZK der MDP

31. Oktober 1953 wurde eine erste Bilanz des von Rákosi spiegelte den Sieg von Imre Nagy wieder: Der Erste Sekretär sprach sich für die Resolution vom Juni aus, mißbilligte die Fehler der Vergangenheit und sprach ausführlich über Erscheinungen, die den Widerstand gegen den Neuen Kurs zum Ausdruck brächten. Die zu realisierenden Vorgaben des Volkswirtschaftsplanes für 1954 (Investitionen: 13-14 Milliarden Forint, der Anteil der Landwirtschaft daran 24-25 %, der Anteil der Industriezweige für Konsumgüter an den industriellen Investitionen wurde im Vergleich zum Vorjahr von 37% auf 40 % erhöht, für den Verbrauch der Bevölkerung waren gegenüber den 58% im Vorjahr 70% des Nationaleinkommens geplant u.s.w.) zeigten auch eindeutig, daß sich die Anhänger des „Neuen Kurses" gegen ihre Gegner durchgesetzt hatten. In der Resolution war nicht mehr von der Fortsetzung der Industralisierung die Rede, sondern neben der „Sicherung der schon erreichten Ergebnisse" galt es, zukünftig die Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion zu stärken.4 Ende Oktober wandten sich die ungarische Partei und die Regierung mit einem Brief an die Moskauer Führung, im dem sie eine Anleihe von 200 Millionen Rubel beantragten. Die Rückzahlung dieser Anleihe wollte die ungarische Regierung 1957 leisten. Dieser Antrag war die Konsequenz einer langanhaltenden Verschuldung des Landes in den letzten Jahren: Die Kosten der exzessiven Industralisierung und die Ausgaben für Verteidigungszwecke wurden zum Teil mit Anleihen gedeckt. Die Lebensmitteleinfuhr, die durch die schlechte Ernte und wegen der „Umstrukturierung" am

„Neuen Kurses" gezogen. Der Bericht

A Földmüvelesügyi Miniszter 4/1953. F. M. és 278/1953. F. M. sz. rendeletei. / Anordnungen des Ministers für Landwirtschaft Nr. 4/1953 und Nr. 278/1954 / Magyar Közlöny, Rendeletek Tara 1953. 48.es 50. sz. A Földmüvelesügyi Miniszter 4/1953. F. M. és 278/1953. F. M. sz. rendeletei. / Anordnungen des Ministers für Landwirtschaft Nr. 4/1953 und Nr. 278/1954 / Magyar Közlöny, Rendeletek Tara 1953.48. és 50. sz. Petö. Iván Szakács, Sándor, A hazai gazdaság négy évtizedének torténete 1. (Geschichte von vier Jahrzehnten der ungarischen Wirtschaft. Bd.l), a.a.O., 256-257. pp. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 52/25. ö. e„ MDP KV 31.Oktober 1953. -

167 der Landwirtschaft notwendig geworden war, wurde auch durch Anleihen finanziert. Von den jetzt beantragten Mitteln sollten überwiegend Schulden beim Westen und zum Teil auch Schulden den Blockstaaten gegenüber beglichen werden. Im Hintergrund stand dabei die Überlegung, daß die Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur und die Erhöhung des Lebensstandards in Zukunft wahrscheinlich noch weitere West-Kredite notwendig machen werde. Die Sowjets stellten zwar statt der beantragten 200 Millionen Rubel nur 100 Millionen zur Verfügung. Einige Bemerkungen von Imre Nagy aus späteren Zeiten lassen aber darauf schließen, daß er mit den politischen Ergebnissen der Verhandlungen nicht unzufrieden war. „Sie haben in unserer Anwesenheit eine Frage des Genossen Malenkow folgendermaßen beantwortet: ,Wie weit wären wir denn gekommen, wenn wir den grundsätzlichen Wandel, den wir zusammen in Moskau diskutiert und beschlossen haben, nicht realisiert hätten?' Rákosi erwiderte darauf, der vorgenommene Wandel hätte aber auch sehr leicht zu einem katastrophalen Zusammenbruch führen können", erzählte Nagy im Januar 1954 Kiseljow.1 „In der Zeit um die Jahreswende 1953/1954 blieb auch den sowjetischen Genossen nicht mehr verborgen, daß die neuen Richtlinien in Ungarn auf einen gewissen Widerstand stießen, und sie lasteten die Hauptschuld dafür vor allem Mátyás Rákosi an."2 Aus den schriftlichen Erinnerungen von Rákosi geht auch klar hervor, daß die Sowjets den Handlungsrahmen vorgegeben haben. Die Wirtschaftspolitik müsse geändert werden, und darüber hinaus sollten sogar in den anderen Satellitenstaaten ähnliche Maßnahmen eingeführt werden. Sogar die kritischen Stimmen über Stalin wurden immer lauter.3 Von außen betrachtet, schienen die Korrekturen in Ungarn nicht von grundsätzlicher Bedeutung zu sein. „Radio Freies Europa" in München vertrat in einem Beitrag im Herbst 1953 die Ansicht, daß die meisten angekündigten Änderungen der Regierung unter Leitung von Imre Nagy nur Versprechen auf dem Papier geblieben seien. Selbst diejenigen, die realisiert wurden, seien nicht so umfassend umgesetzt worden, wie dies in der Programmrede des Ministerpräsidenten angekündigt worden war. Analog dazu formulierte das Intelligence Department des Außenministeriums der USA in einer Analyse: Der „Neue Kurs" sei nur ein taktischer Schritt der kommunistischen Führung, der die Funktion habe, bestimmte Gruppen ruhigzustellen und die gesellschaftliche Unzufriedenheit zu kaschieren. Auf der anderen Seite seien sie nichts anderes als die ungarische Abbildung des „Umstrukturierungsmodells" der Sowjets. Es ist natürlich kaum anzunehmen, daß Nagy die Absicht gehabt hätte, über die Änderungen, die im Herbst 1953 vorgenommen wurden, hinauszugehen. In seiner Rede am 23. Januar 1954 sprach er im Parlament ausschließlich über die Erfolge der Regierung. Über

AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. 11. 15-21. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Imre Nagy am 12. Januar 1954. Nagy Imre: A magyar nép védelmében (Zur Verteidigung des ungarischen Volkes), a.a.O. 168. p. Rákosi Mátyás: Visszaemlékezések (Erinnerungen), a.a.O., 2. k. 948-950. pp.

168

fielen nur wenige Worte, über weitere Änderungsabsichten verlor er kaum welche.1 Der Prozeß der Änderungen kam vorübergehend zum Stillstand, doch durch seine schon vorhandenen Resultate wieder in Bewegung. Das war das Ungarnspezifische an diesen Entwicklungen: Die Selbstkritik des Systems erfolgte nicht nur in der Partei, sondern auch in der Öffentlichkeit. Die durchgeführten Maßnahmen durchdrangen drei essentielle Bereiche (Landwirtschaft, Aufgabe der forcierten Industrialisierung, Verminderung der Repression) bis zu solch einer Tiefe, daß damit die Kohärenz des Systems grundsätzlich angegriffen war. Es entstanden dabei Widersprüche im System, die auch in anderen politischen und gesellschaftlichen Teilbereichen um sich griffen. Der ganze Wirtschaftsverwaltungsapparat war z.B. von dem Grundprinzip bestimmt, daß die Bauern die Dörfer ihrer Ressourcen beraubt und diese in den Dienst der Entwicklung der Schwerindustrie gestellt werden. Die gesamte Struktur der Industrie und die „Philosophie des Funktionierens" im Verwaltungssystem waren durch den ununterbrochenen quantitativen Zuwachs und durch die Entwicklungspräferenzen

Schwierigkeiten

vorprogrammiert. Im geistigen Leben der Intelligenz setzte ein schwer kontrollierbarer Prozeß der Selbstüberprüfung ein. Da direkte Lebensgefahr nicht mehr drohte, konnten

verschiedene Posten nun mit neuen Personen besetzt werden. Infolgedessen entstanden Interessengruppen, in welchen es zu einer Reihe von Diskussionen kam. All dies wäre früher unvorstellbar gewesen. Unverändert blieb aber die Abhängigkeit der ungarischen Führung und die anderer Satellitenstaaten von Moskau. Ungarn galt nach wie vor als „Musterland" in den Vorstellungen des ersten Triumvirats nach Stalin. Es entstanden aber nach dem Sturz von Berija neue Machtverhältnisse. Der Widerstand im ungarischen Parteiapparat war einerseits eine Reaktion auf die neuen Störungen im sowjetischen System. Andererseits war er darauf zurückzuführen, daß Rákosi den Machtkampf innerhalb der sowjetischen Führung erkannte. Dieser war auch Nagy nicht verborgen geblieben. Ihn motivierte diese Erkenntnis jedoch dazu, die Änderungen der Wirtschaftspolitik von 1953 auch auf den politischen Bereich zu übertragen, indem die politische Struktur überprüft und bis zu einem gewissen Grade modifiziert werden sollte. „Gesetzlichkeit" war ein zentraler Begiff in seinen Überlegungen. Er meinte damit nicht nur das Einhalten der bestehenden Gesetze, also eine Abkehr von der Praxis der parteilichen Willkür und der damit verbundenen Gesetzwidrigkeiten, sondern viel mehr noch: Er verstand darunter die Korrektur der politischen Verhältnisse und der Machtstrukturen, den realen Regelhaftigkeiten und Gesetzen „der sozialistischen Entwicklung und des Aufbaus" entsprechend. Auf dieser Basis sollte eine neue Gesetzlichkeit, d.h. eine Legitimation geschaffen werden. Im Dezember 1953 wurde die erste Resolution der obersten Führung über die Rehabilitierungen verfaßt: András Bárd und István Szirmai, Opfer der antizionistischen Säuberungen, wurden auf freien Fuß gesetzt und auch als Parteimitglieder rehabilitiert.2 Am 12. Januar 1954 informierte Nagy Kiseljow über den Prozeß gegen Gabor Péter, der Über die Tätigkeit der Regierung und die Aufgaben für 1954; (Ein Jahrzehnt Bd.2), a.a.O. 429-479. pp.

in:

Nagy

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/154. o.e. MDP PB 30. Dezember 1953.

Imre:

Egy évtized

II. k.

169

Staatssicherheit gleichkam. „Péter behauptete in der daß u.a. der Prozeß gegen Rajk und gegen Kádár von Rákosi Gerichtsverhandlung, konstruiert wurde. Dies bewegt uns dazu (...), immer wieder darüber persönlich wie die bestehenden Umstände zu verbessern sind und wie die nachzudenken, erforderliche Zusammenarbeit des Politbüros zu sichern ist."1 Daß es zur Rehabilitierung der Opfer der Säuberungen kommen würde, zeichnete sich damals auch schon aufgrund der sowjetischen Intentionen in den Moskauer Gesprächen von 1953 ab. Aber das Aufwerfen der Frage nach der Verantwortung stellte eine politische Dimension dar, die nur in Ungarn auftauchte. Das System von Rákosi war unter zahlreichen Aspekten illegitim, und gerade im Kreise seiner Gefolgschaft konnte ihm die Legitimation am effektivsten genommen werden, indem die Frage gestellt wurde, wer für die Gesetzeswidrigkeiten die Verantwortung tragen müsse. Nagys Vorstellungen über die „Gesetzlichkeit" waren anfangs von der Absicht motiviert, sich für den „Neuen Kurs" politisch einzusetzen. In vorübergehendem Einverständnis und Bündnis mit Ernö Gero, dem Minister des Inneren, versuchte Nagy Rákosi aus der Parteiführung zu entfernen. Für dieses Vorhaben schien ihm die Frage der Rehabilitierung das geeignete Mittel zu sein. Doch nach den ersten Schritten verselbständigte sich das Mittel zum Zweck, und diese Frage wurde zum wichtigsten moralischen Problem für die Parteiintelligenz und die Parteiführung. Einige indirekte Belege lassen sich zwar dafür finden, daß auch Gero das Entfernen von Rákosi von seinem Posten erwogen haben könnte; trotzdem versetzte ihn der Versuch von Nagy diesbezüglich eher in Schrecken. Am 18. Februar 1954 ließ er Kiseljow wissen, daß nach seiner persönlichen Überzeugung Gyula Kállai, János Kádár, Ferenc Donáth und sogar László Rajk „absolut unschuldig" seien und „damit auch alle anderen, die mit ihnen verurteilt worden sind". Er distanzierte sich allerdings von Nagy: „Imre Nagy warf (...) folgende Frage auf (...): Das Politbüro soll unter allen Umständen eine Resolution über die entstandene kritische Situation in der Staatssicherheit (ÁVH) verfassen (...), in der aufs genaueste beschrieben wird, wer für die Gesetzwidrigkeiten, für den Tod und für die Verurteilung von unschuldigen Menschen verantwortlich ist. Es war anscheinend allen klar, daß Nagy darunter die kritische Beurteilung und Ablehnung der Tätigkeit von Rákosi versteht. Diese weitgreifenden Forderungen würden aber das Fortbestehen des Kerns der Parteiführung in ihrer gegenwärtigen Form unmittelbar gefährden." Nach Kiseljow „verließ sich Gero darauf, daß von Moskau ohnehin angeordnet werden würde, alle Gerichtsfälle abzuschließen und den Angeklagten, deren Schuld nicht zu beweisen ist, ihre Freiheit wiederzugeben. Gero rechnete wahrscheinlich auch damit, daß der Führung der MDP verordnet wird, die Umstände nicht als Vorwand zur Neubelebung der alten Debatten zu nutzen, sondern man solle sich damit im weiteren gar nicht mehr befassen."2 Gero schlug als Rezept zur Lösung vor, die Differenzen abzuschwächen (dies wäre zum Vorteil von Rákosi geschehen). Gleichzeitig bot er die „richtige Lösung" an, indem er vorschlug, selbst auf den Posten des ersten Mannes befördert zu werden. In diesen politischen Kämpfen um die höchsten einem

gegen

die

AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. II. 15-21 Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Imre Nagy am 12. Januar 1954. Ebd., 11. 40-52. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Ernö Gero am 18. Februar 1954.

170

Positionen wurden die Sowjets regelrecht zu Schiedsrichtern bestimmt. Nagy initiierte schon im Januar 1954 erneut ein Beratungsgespräch in Moskau. Formell war sein Vorschlag damit begründet, daß die ungarische Partei im Frühjahr ihren Parteitag veranstalten werde. Aufgrund indirekter Hinweise ist anzunehmen, daß die Sowjets bis auf weiteres in dieser Situation einfach abwarten wollten. Sie dürften den Ungarn auch geraten haben, den Parteitag zu verschieben und stattdessen zuerst die Konflikte

untereinander zu klären. Die Diskussionen im Frühjahr 1954 in der ungarischen Parteiführung waren somit von der zu verfassenden Resolution zum Parteikongreß geprägt. Symptomatisch für diese Entwicklungen war die Tatsache, daß Rákosi und Nagy jeweils einen eigenen Bericht ausarbeiteten. Das war höchst ungewöhnlich. Während der Auseinandersetzung um die Inhalte der Berichte bestanden unmittelbare Kontakte von beiden Seiten zu den Sowjets, die ausführlich über alle Einzelheiten informiert wurden.1 Rákosi mußte die Aufgabe übernehmen, in seinem Referat zur allgemeinen politischen Lage den Unterschied zwischen dem „Neuen Kurs" und der davorliegenden Phase zu beschreiben. Er war dabei bestrebt, allzu viele kritische Worte über die Zeit seiner unumschränkten Macht zu vermeiden. Er stattete daher verschiedene Theorien mit einer speziellen Begrifflichkeit aus, nach denen z.B. die Absichten der Sowjets in Ungarn grundsätzlich mißverstanden worden seien. Moskau habe ursprünglich nicht eine exzessive Industrialisierung (sowjetisches Modell) befürwortet, sondern, ganz im Gegenteil, eine ausgewogene Entwicklung aller Wirtschaftszweige („ungarischer Weg") präferiert. Gero schwankte zwischen dem Standpunkt von Rákosi und dem von Nagy. Er sprach sich dafür aus, daß offiziell nach außen die These verkündet werde, daß mit der Resolution vom Juli 1953 (!) im generellen Aufbau des Sozialismus ein „Neuer Kurs" eingesetzt hätte und die Voraussetzungen dafür in der davorliegenden Zeit geschaffen worden seien. Es wäre immerhin ein Versäumnis der ungarischen Partei gewesen, „diese objektive Entwicklungsphase" nicht rechtzeitig wahrgenommen zu haben. „(...) Wir haben ein bißchen geschlafen, (...) den Anfang dieser neuen Entwicklung verpaßt (...)."2 Nagy wollte vor allem erreichen, daß die frühere Phase kritisch betrachtet wird. Einige Mitglieder des Politbüros neigten dazu, seinen Standpunkt zu teilen, andere waren eher konfus. Zu letzteren gehörte auch Farkas, der dann den wirklichen Grund für die Kursänderung nannte: „Durch die Veränderungen der internationalen Lage begann bei uns eine neue Phase, der Neue Kurs."3 Die Formulierung von Nagy dürfte fast den Kern treffen: „Die Referate sind vom Praktizismus geprägt. Das Ziel war, zu zeigen, worin die Abweichungen zu den Lehren von

Marx/Engels/Lenin/Stalin bestanden."4

In seinem Referat über die lokale und die staatliche

Verwaltung

machte

Nagy den

Versuch, seine Vorstellungen über die Weiterentwicklung des „Neuen Kurses", die in

AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. 11.53-54. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Mihály Farkas am 3. März 1954. Ebd. II. 55-58. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Imre Nagy am 11. März 1954. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/166. ö. e. MDP PB 20. März 1954 68. p. Ebd., 83. p. Ebd., 86. p. .

2 3 4

171

der ersten Jahreshälfte von 1954 eine konkretere Gestalt gewannen, darzulegen. „Das Neue" sollte demnach nichts anderes sein als eine Rückkehr „zum Alten", nämlich zu den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des friedlichen Übergangs zum Sozialismus, der 1948/49 vorübergehend unterbrochen worden sei. In seinen Thesen sagte er nachdrücklich, daß die Existenz nichtkommunistischer Parteien und die Koalition als Regierungsform zu den Merkmalen der Volksdemokratie gehörten. Kritisch merkte er an, daß in krassem Gegensatz dazu das Verkümmern der verbündeten Parteien mit Absicht herbeigeführt worden sei. Er setzte sich aber nicht für eine politische Handlungsfähigkeit dieser, formal nicht verbotenen, Parteien ein. Er berief sich lediglich auf das Mehrparteiensystem in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Polen und in Bulgarien. Natürlich stellte die Tätigkeit dieser Parteien damals in den genannten Ländern nur ein Feigenblatt zur Verhüllung der Wirklichkeit dar: Die jeweiligen Parteichefs handelten nach den Anweisungen der kommunistischen Parteiführung. Wenn Nagy in der Tat vorgehabt hätte, wieder ein Mehrparteiensystem zu etablieren, dann stellte er sich dabei mit Sicherheit Parteien dieser Natur unter der Hegemonie der kommunistischen Parteiführung vor. All dies wäre für ihn im Rahmen der Volksfront vorstellbar gewesen. In der damaligen politischen Situation, in der es keine Elemente eines institutionellen Pluralismus gab, konnten aber Änderungen dieser Art von außerordentlich großer Bedeutung sein. Nagy erkannte nämlich dies zeigen seine Ausführungen das Bestehen von Klassen und das Vorhandensein von Gruppeninteressen verschiedener Gesellschaftsschichten und zog daraus die Schlußfolgerung, daß diese auf politischer Ebene aufeinander abgestimmt werden müssten. Die Volksfront sollte nach seinen -

-

Vorstellungen „eine Organisation der demokratisch-fortschrittlichen Kräfte" in Ungarn werden. Sie hätte also über ein wesentlich breiteres Spektrum verfügt als die MDP, und Gruppeninteressen hätten auf diese Weise zwar eine bescheidene, aber immerhin doch eine politische Vertretung gehabt. Er unterstrich dabei, daß diese Organisation „auf dem Fundament von demokratischen Prinzipien" aufgebaut werden würde. In seinem politischen Programm setzte er sich zum Ziel, „die Aufgaben der Volksdemokratie zu erfüllen", d.h. er vermied jegliche Formulierungen über den Aufbau des Sozialismus. Offensichtlich sollte die Leitung der Volksfront von den Vertretern der früheren Koalitionspartner übernommen werden. Es ¡st aber anzunehmen, daß ihre Selbständigkeit doch größer gewesen wäre als die der Mitglieder der Rákosi-Regierung vor dem Juni 1953.' Parallel zu den politischen Diskussionen verschärften sich die Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Bereich. Es war eine stilles Sabotieren der Umsetzung des „Neuen Kurses" seitens des Partei- und Verwaltungsapparats zu registrieren. Als Folge des harten Winters war eine schlechte Ernte in Sicht und es gab Stockungen in der Energieund Rohstoffversorgung sowie bei den Warenlieferungen. Allmählich wurden in der Zwischenzeit die Investitionen in alle Satellitenstaaten von Moskau gedrosselt, was zur Gliederung und verfaßte Textstellen zum Referat von Imre Nagy im Kongreß blieben in den Unterlagen vom Prozeß erhalten, MOL XX-5-h, Nagy Imre és társai pere (Prozeß gegen Imre Nagy und die Mitangeklagten), Op. ir. 22. k. Vitara bocsátott változata MOL: MDP-MSZMP 276. Die

f. 53/175. ö. e., MDP PB 19. Mai 1954, 74-126. pp.

172

Folge hatte, daß der ungarische Außenhandel seine Vorhaben nicht realisieren konnte. Die Rohstofflieferungen aus den Nachbarländern blieben des öfteren aus. Diese weigerten sich zusätzlich, die ungarischen Exportprodukte (Maschinenbauprodukte und Konsumgüter) zu übernehmen. Trotzdem drängten sie auf ungarische Lebens-

mittellieferungen.1

In der Außenhandelsbilanz des Landes entstanden im zweiten Es wurde sogar in Erwägung gezogen, den Moskau erhaltenen Kredit „umzustrukturieren", d.h. die Verwendung

Quartal schwerwiegende Unstimmigkeiten. erst kürzlich von

Beträgen vorzuziehen.2 Diese Spannungen wurden als Konsequenz des „Neuen Kurses" gewertet und führten zu besonders harten Diskussionen, wenn Entscheidungen für den Wirtschaftsbereich anstanden. Dies zeigte sich z.B. im Februar 1954, als Imre Nagy vorschlug, in Sztálinváros die Inbetriebnahme der Großhütte zu verschieben. Die dortigen Arbeiten stellten eine der Prestigeinvestitionen des Fünfjahrplanes 1950-1954 dar. Das Politbüro lehnte in seiner Resolution den Vorschlag Nagys ab. Damit erlitt der „Neue Kurs" eine symbolische Niederlage. Diese Entscheidung ermutigte alle Interessengruppen, die im Juni 1953 das vorübergehende Aussetzen irgendeiner der Investitionen als radikalen Abstieg erlebt hatten. Schon im Frühjahr 1954 waren kritische Stimmen über eine weitere Priorität des „Neuen Kurses", die Sozialpolitik, zu hören. Diese richteten sich in erster Linie gegen den „übertriebenen Wohlstand" der Bevölkerung auf dem Lande. Der Parteiapparat erstellte eine Reihe von Berichten, die diese Kritik aufnahmen. Diese brachten sogar den viel erfahrenen Botschafter der Sowjets zur Verwunderung: „(...) Als ich von Rákosi diese Äußerungen hörte, war ich durchaus überrascht: ,Wir haben einen riesigen Fehler begangen. Ich bin ja länger schon bestrebt, darauf aufmerksam zu machen. Wir haben nämlich 1949 den Lebensstandard zu schnell erhöht. Ich erhob meine Stimme schon damals dagegen (...), ich warnte alle, daß wir damit ein Huhn, das goldene Eier legt, verspeisen wollen. Jetzt ist es vorbei.' ,Und nun', setzte Rákosi fort, ,überlegen Sie sich mal! 80.000 Personen in Staatsgütern sollen nun kostenlos Gummistiefel bekommen, nur weil sie bei Nässe arbeiten.' Er sprach noch im weiteren über die „grenzenlose Ausweitung der Sozialversicherung", indem jedem Arbeiter 4 Wochen bezahlter Urlaub zustehen würde. Er hielt es für grundfalsch."3 von

Nach der Ankündigung, daß die Lieferungen eingestellt werden, war Nagy fast außer sich. Rákosi beschreibt dies auch in seinen Memoiren: „Am Anfang 1954 kam es zu einer Änderung in der sowjetischen Außenhandelspolitik. Es wurde die Menge der im Ausland bestellten Konsumgüter radikal vermindert, unter ihnen in großem Maße die der bei uns bestellten Waren der Leichtindustrie. Offiziell benachrichtigt wurde darüber Imre Nagy, der Vorsitzende des Ministerrates. Er überreichte mir das Schreiben mit einem spöttischen Lächeln: ,Sieh mal an, was Deine russischen Freunde wieder anstellten!'" Rákosi Mátyás: Visszaemlékezések

(Erinnerungen), a.a.O., 950.

p.

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/167. ö. e„ MDP PB 24. März 1954. Auswertung zur Lage des Außenhandels von Edit Varga. Ebd., II. 33-36. Bericht von Kiseljow über das Gespräch mit Rákosi am 13. Februar 1954.

173

wichtigen Teil seines Referats vor dem Parteikongreß widmete Rákosi den Grundzügen und den Eckpunkten des zweiten Fünfjahrplanes 1955-1959.' Die Frage, Einen

ob im Juni 1953 eine Reihe von provisorischen Maßnahmen erlassen wurden oder aber der Weg zu einem grundsätzlichen Wandel, eventuell sogar zu einem Wandel hinsichtlich der Strategien beschriften worden war, löste die heftigsten Diskussionen aus. Dabei tauchte wieder das Problem der landwirtschaftlichen Genossenschaften auf. Die Partei stimmte nämlich noch im Dezember 1953 einem dreijährigen Entwicklungsprogramm für die Landwirtschaft zu, das von Experten ausgearbeitet worden war. In diesem Programm wurde selbstverständlich vom Fortbestehen der Verhältnisse von 1953 ausgegangen. Im Zeitraum vom Januar bis April 1954 beschäftigte sich das Politbüro mehrmals mit der Frage, ob es notwendig sei, längerfristige Perspektiven für die Landwirtschaft zu entwickeln. In seiner Resolution beschloß das Politbüro nun, den Anteil der Genossenschaften an Anbauflächen von 18 % bis zum Schluß des zweiten Fünfjahrplanes auf 51 % zu erhöhen.2 Der Streit endete mit einem Kompromiß. Es sollte keine erneute Kollektivierungskampagne geben, aber das Organisieren von weiteren landwirtschaftlichen Genossenschaften sollte angeregt werden. Durch die Meinungsverschiedenheiten in der ungarischen Führung sah Moskau die innere Ruhe seines Reiches gefährdet. Der Zeitpunkt kam den Sowjets ungelegen, waren sie doch im Begriff, ihre Aufmerksamkeit auf für sie wichtigere Fragen zu richten. Die erste Jahreshälfte 1954 war für eine sowjetische „Friedensoffensive" günstig. Malenkow hatte im Vorjahr offiziell mitgeteilt: „Die Sowjetunion besitzt nun eine Wasserstoffbombe." Nach einer Unterbrechung von fünf Jahren trafen sich die Außenminister der Großmächte mehrmals zu Verhandlungen: Diskutiert wurden die deutsche Frage und der Indochinakrieg. Einerseits wurde der sowjetische Vorschlag mit einer vermutlich abgelehnt, ein ungeteiltes und neutrales Deutschland linksgerichteten Führung zu schaffen, andererseits kam es aber von westlicher Seite vorläufig zu keiner Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO. In dieser Situation war das Präsidium der KPdSU nicht gewillt, sich mit spezifischen ungarischen Problemen, wie dem dortigen „Neuen Kurs" oder einer Neubestimmung der sozialistischen Gesetzlichkeit, ernsthaft zu befassen. Sie nahmen den Konflikt nur als politischen Querelen, nicht aber als Richtungsstreit wahr. Die Präsidiumsmitglieder der KPdSU, bis auf Molotow, der nicht anwesend war, trafen die ungarische Führung am 5. Mai 1954 in Moskau zu einem Gespräch. Dem ungarischen Bericht zufolge3 waren die Sowjets wieder sehr gut unterrichtet, wollten -

-

Siehe Petö, Iván: Ellentmondásos kiútkeresés. Az 1956-ban elfogadott második öteves terv koncepciójához (Widersprüche bei der Suche nach einem Ausweg. Zum Konzept des zweiten Fünfjahrplanes zu 1956), in: Válság és megújulás. Gazdaság, társadalom és politika Magyarországon. Az MSZMP 25 éve (Krise und Erneuerung. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik in Ungarn. 25 Jahre der MSZMP). Budapest: Kossuth, 1982., 35-38. pp. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/156. ö. e„ MDP PB 13. Januar 1954; ebd. 53/170. ö. e., MDP PB 14. April 1954, Ebd. 53/171. ö. e„ MDP PB 21.April 1954. Aufzeichnungen zu den Besprechungen zwischen den Mitgliedern des Präsidiums der KPdSU und den Delegierten vom Politbüro der MDP am 5. Mai 1954, in: Konzultációk (Konsultationen),

174

sich aber auf keinen Fall in Einzelheiten einmischen. Sie schenkten solch untergeordneten Fragen wie der Struktur der Volksfront, dem Definieren des „Neuen Kurses" und der Rolle des ZK in der Leitung der Partei keine Aufmerksamkeit. Sie nahmen auch keine Stellung dazu, ob es möglich wäre, die ungarische Landwirtschaft der Zukunft auf der Grundlage von Klein- und Mittelbauernhöfen aufzubauen. Sie waren aber in äußerster Sorge über den Zustand der ungarischen Wirtschaft und über die Konflikte der Interessengruppen innerhalb der Parteiführung. Das erste Problem brachte Mikojan zur Sprache; zugleich nahm er auch eine mögliche Lösung für das zweite Problem vorweg. Er sah sowohl die hohen Investitionvorgaben des zweiten Fünfjahrplanes für die Schwerindustrie als auch die Beendigung der früheren Investitionen als schwerwiegende Fehler an: „Ausgaben und Einnahmen müssen ins Gleichgewicht gebracht werden." Anschließend formulierte Kaganowitsch denselben Zusammenhang noch einmal: „Sie leben auf großem Fuß, aufwendiger sogar, als Sie sich es leisten können. Sie bauen den Sozialismus auf Kredit!" Zum zweiten Problem äußerte sich zuerst Chruschtschow. „Genosse Rákosi", sprach er, „Sie wollen die Situation vor dem Juni beschönigen. (...) Sie erklären mit der Provokation von Berija, daß die Fehler so radikal kritisiert wurden. Sie meinen vielleicht, wenn Berija erschossen wurde, dann muß die Kritik auch niedergeschossen werden. So geht das aber nicht!" Kaum hatte Nagy angefangen zu lächeln, bekam auch er seinen Teil: „Genosse Nagy fällt in das andere Extrem. Seine Kritik war gut gezielt, aber es ist trotzdem nicht richtig, nur die Defizite und Unzulänglichkeiten zu sehen und die Aufmerksamkeit der Partei ausschließlich auf diese zu richten. Man muß auch die erzielten Ergebnisse richtig einschätzen können." Chruschtschow fand eine "geniale" Lösung: „Genosse Nagy soll über die Ergebnisse und Genosse Rákosi über die Defizite sprechen. Bei dieser Rollenverteilung werden die Menschen verstehen müssen, daß es keine zwei Richtungen gibt." Daß Simplifizierung und Ignoranz von diesem Ausmaß nicht weiterhelfen, bestätigte sich unmittelbar danach. Chruschtschow wollte auch die Frage der Rehabilitierung in diesem Stil erledigen. Im Grunde muß Chruschtschow die Einstellung gehabt haben, daß alle, die unschuldig verurteilt wurden, ihre Freiheit zurückbekommen sollten. Auch sah er, daß es in sowjetischem Interesse sei, wenn in Ungarn Ruhe herrschte. Er wird auch gewußt haben, daß die Verhaftungen auf persönliche Anordnung von Rákosi durchgeführt wurden. Die Formel, die er auf die zuvor genannten Ausführungen aufbauend entwickelt hatte, war trotzdem gänzlich unbrauchbar. Sie lautete nämlich, Rákosi solle „mit dem Mut eines Mannes die Sache angehen", er solle als Befürworter der Kritik die Verbesserung der Fehler anstreben, aber auf eine Art und Weise, daß dies „den Respekt vor Genossen Rákosi nicht angreift oder beeinträchtigt. Der ist nämlich zugleich identisch mit dem vor der Partei". Der Vorschlag vom Staatschef Woroschilow schien geeigneter zu sein: „Über die Fehler sollte in dem Sinne gesprochen werden, daß sie von Gabor Péter begangen wurden." Chruschtschow war sichtlich irritiert, daß seine einfachen Gedanken gleich untergraben wurden. Er begann, irgendwelche unklaren a.a.O., Múltunk, 1992. 4.

Quelle übernommen.

sz.

134-141. pp. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden

aus

dieser

175

Zusammenhänge zwischen der Landwirtschaft und der Kollektivierung zu konstruieren. Er rügte die Ungarn, daß sie die Anbaufläche für Mais verminderten: „Sie fordern bei uns für Ihr Land keine Sämaschinen (...) an, obwohl andere Volksdemokratien davon schon längst Gebrauch machten. Zum Schluß brachte er es doch noch auf den Punkt: „Ich will die Kollektivierung nicht beschleunigen, ich wäre aber auf keinen Fall damit einverstanden, wenn sie gebremst würde." Woroschilow, Kaganowitsch und Bulganin wiederholten einige Elemente der Aussagen von Chruschtschow. Dann sprach Malenkow. Er ging auch von den Axiomen

Chruschtschows aus und ließ damit seine Gäste wissen, daß sich die Kräfteverhältnisse innerhalb des Präsidiums zu Gunsten des Parteiführers modifiziert hatten. Malenkow setzte aber darüberhinaus andere Akzente und sprach nachdrücklich über die Verantwortung und über die Fehler von Rákosi. Chruschtschow meldete sich erneut zu Wort und aufgrund seiner Äußerungen war zu vermuten, daß Malenkow vorläufig noch nicht abgeschrieben werden konnte. Chruschtschow präzisierte seine Aussage, daß der Respekt vor Rákosi selbstverständlich gewahrt werden solle, aber doch nicht über alle Grenzen hinweg. „Wenn Genosse Rákosi die Leitung zur Verbesserung der Fehler nicht übernimmt, dann muß dies vom Kollektiv getan werden. Sonst geht nicht nur der Respekt vor Genosse Rákosi verloren, sondern auch der vor dem Politbüro, und der vor der Partei wäre in dem Fall ebenfalls stark beeinträchtigt. Wenn Rákosi dabei die Initiative nicht übernehmen will, dann wird dies über seinen Kopf hinweg erfolgen, und das kommt für einen politischen Führer einer Katastrophe gleich." Vor diesem Hintergrund konnte Rákosi zum Teil mit Recht in seinen Memoiren schreiben: „Als konkretes Ergebnis der Verhandlungen konnten die Mitglieder der Delegation deutlich erkennen, daß die sowjetischen Genossen zu mir kein Vertrauen mehr haben. Sie betrachten meine Tätigkeit mit einem gewissen Verdacht. (...) Für mich war das deutlich zu spüren und es hat mich sehr getroffen." Was er an dieser Stelle nicht vermerkte, war seine Enttäuschung, nicht fertiggebracht zu haben, Nagy von seinem Posten zu

entfernen.1

Die von Chruschtschow gebrauchte Formel vom Kollektiv stammte eigentlich vom XX. Parteitag. Damals wurde Stalin von einem Kollektiv gebrandmarkt, das selbst Anteil an seiner Schuld und den eingestandenen Fehlern hatte. Analog dazu hätte in Ungarn Rákosi eine Rede über die eigenen Fehler und Verbrechen halten müssen. Da Chruschtschow sich darüber klar war, daß dies nicht durchzusetzen war, wurden die Regelung der Umstände und alle weiteren Einzelheiten den Ungarn überlassen. Das wichtigste Ziel war in den Augen der sowjetischen Führung, daß sich die zwei Richtungen der MDP versöhnen und einen Kompromiß finden, damit sie ihre mannigfaltigen Geschäfte wieder ungestört abwickeln konnte. Es wurde gar nicht angesprochen, nicht einmal in Erwägung gezogen, daß Ungarn zu den Verhältnissen vor dem Juni 1953 zurückkehren sollte. Für die Verzögerung der Rehabilitierungen wurde Rákosi sogar ernsthaft gerügt. Siegreich konnte sich Nagy aber trotzdem nicht fühlen. Chruschtschow wollte offensichtlich die Richtlinien vom Juni 1953 aufrechterhalten und befürwortete für diesen Zweck die Einigung der zwei Richtungen: Er wollte diejenigen, die den Faden gerne wieder bei Juni 1953 aufgenommen hätten und die anderen, die Rákosi

Mátyás: Visszaemlékezések (Erinnerungen), a.a.O.,

955. p.

176

bestrebt waren, den Neuen Kurs weiterzuentwickeln, auf einen bringen. Er übersah dabei, daß dies nicht mehr machbar war.

6.

gemeinsamen

Nenner

Bewegung in Richtung Reform: Nagy gewinnt die Oberhand

Parteitag der MDP wurde für den 24. Mai 1954 nach Budapest einberufen. Nagy sprach bei der Eröffnung über „die stabile politische Geschlossenheit in der Parteiführung", bezeichnete sie als „granitenes Fundament" und die Delegierten des Parteitags, wie bei solchen Protokollereignissen üblich, machten keinerlei Versuche, die Der III.

in Wirklichkeit sehr wohl fehlende Einheit anzusprechen.1 Rákosi hob in seinem Rechenschaftsbericht2 besonders die Ergebnisse von „zehn Jahren Volksrepublik" hervor. Fehlgriffe und Defizite in Wirtschaft und Politik wurden von ihm nur angedeutet, um hinzuzufügen, daß diese mit dem Beschluß vom Juni 1953

korrigiert folgendermaßen:

worden seien. Die Ziele des „Neuen Kurses" beschrieb er ein kontinuierliches, durch die eigene Wirtschaft gesichertes Wachstum des Lebensstandards, allmähliche Steigerung der Produktion von Konsumgütern im Gegensatz zu Produkten der Schwerindustrie. Zugleich sollten auf sozialem Gebiet „die Beziehungen zwischen Stadt und Land im Bereich der Wirtschaft, des Handels und der Kultur intensiv entwickelt werden".3 Diese Phrasen und Parolen zeigten kaum einen Unterschied zu seinen Formulierungen aus der Zeit des „Alten Kurses". Rákosi kündigte an, daß dem ersten Fünfjahrplan, der im Jahre 1954 abgeschlossen werde, der zweite nach einem Jahr Unterbrechung schon 1956 folgen werde. Seine Ausführungen zu den Richtlinien des Planes bewegten sich im Rahmen von Gemeinplätzen. Zum Schluß jedoch verkündete er schwungvoll, daß bis zum Ende dieser Zeitspanne „die Grundlagen des Sozialismus in unserem Land geschaffen sein werden." Die Anwesenden brachen daraufhin in begeisterten und langanhaltenden Beifall aus. Diejenigen jedoch, die zwischen den Zeilen lesen konnten, kamen zu dem Schluß, daß entweder grenzenlose Ratlosigkeit in der Führung der MDP herrschte oder zwischen den ursprünglich gegeneinander kämpfenden Gruppen ein nahezu idyllisches Gleichgewicht entstanden war. Imre Nagy hatte sein Referat über die zwei Etappen der Volksdemokratie, d.h. über die bürgerlich-demokratische und die sozialistische Phase, im üblichen Stil der Vorlesungen an der Parteihochschule begonnen, indem er zahlreiche Textstellen von Lenin zitierte. Zum Schluß verkündete er in seinem Referat jedoch zwei wesentliche Einsichten. Als erstes nannte er die Diktatur des Proletariats ein „weit gefaßtes Klassenbündnis", dem auch Gesellschaftsschichten wie die Intelligenz, das Kleinbürgertum und andere Nicht-Proletarier angehörten, die am Aufbau des

bereits

-

Gekürztes Protokoll Ebd., 13-103. pp. Ebd., 4L p.

zum

III.

Kongreß der MDP Budapest: Szikra, 1954, S.

8.

177

Sozialismus aktiv mitwirken dürften.1 Dies stand in offenem Widerspruch zu Stalins These, daß sich der Klassenkampf ununterbrochen verschärfe. Für dieses „Klassenbündnis" biete die Volksfront einen adäquaten Rahmen. Die Volksfront wurde von Nagy als eine Bewegung mit demokratischen Organisationsprinzipien, mit Organisationen auf Landes- und Kreisebene und sogar mit individueller Mitgliedschaft definiert.2 Nagy kritisierte die Verbürokratisierung der örtlichen Räte. Die gleiche Kritik richtete er aber auch gegen die überzentralisierte obere Ebene der staatlichen

Verwaltung.

Da allein die Erstellung der Berichte mehrere Monate in Anspruch nahm, kam das Verfassen einer Resolution für den Parteitag gar nicht in Frage. Der Parteitag „verabschiedete" die „angenommenen" Referate deshalb als „Richtlinien" für die Partei. Imre Nagy versuchte bei dieser Gelegenheit auch, die Zusammensetzung des ZK zu ändern (der Erinnerung Rákosis zufolge wurden von Nagy u.a. Zoltán Szántó, György Lukács, Bêla Fogarasi, Imre Mezö, László Földes und Géza Kassai als Kandidaten vorgeschlagen). Diese Initiative blieb jedoch weitgehend erfolglos: Von den von ihm vorgeschlagenen Kandidaten wurde allein Szántó zum Mitglied des ZK gewählt, Lajos Fehér zum Kandidat.3 Die geringfügigen Änderungen im Politbüro und im Sekretariat konservierten die bisherigen Kräfteverhältnisse. Die Geschehnisse wirkten sich in der Tendenz sogar eher zum Nachteil Nagys aus.4 Der Einfluß des Sekretariats, welches 1953 eindeutig in den Hintergrund gedrängt worden war, hatte sich wieder deutlich verstärkt. Eine weitere Auswirkung des Parteitags war die partielle Änderung in der Regierung: Gero übergab László Piros die Leitung des Innenministeriums, wurde dafür aber als stellvertretender Ministerpräsident der Verantwortliche für die Volkswirtschaft. Das fragile Gleichgewicht, welches vor dem Parteitag bestanden hatte, ging im Sommer 1954 zugunsten der Gegner des „Neuen Kurses" verloren. Dies wurde vor allem bei den wichtigsten politischen Fragen Überprüfung der politischen Prozesse, Wirtschaftspolitik, Volksfront deutlich. Gero erklärte unmittelbar nach dem Parteitag, daß die wirtschaftliche Lage äußerst kritisch sei. Der drohenden Inflation sei mit Sparmaßnahmen, mit einer Reduzierung der Selbstkosten und mit einer Erhöhung der Produktionsnormen, also insgesamt mit harten Einschränkungen, Einhalt zu gebieten.5 Am 16. Juni hatte das Planungsamt dem Politbüro den modifizierten Jahresplan für 1954 vorgelegt. Hier wurde darauf hingewiesen, daß die ursprüngliche Fassung des -

-

Ebd., 225. p. Ebd., 227-228. pp. Rákosi Mátyás, Visszaemlékezések (Erinnerungen), a.a.O., 955-956. pp. Zur Zusammensetzung des Zentralkomitees und des Politbüros, vgl. Gekürztes Protokoll des III. Parteitags der MDP. Budapest 1954, S. 341-342.und S. 372. Im Politbüro wurden István Kristóf, Rudolf Földvari und Mihály Zsofinyecz nicht wiedergewählt. (Kristóf auch im ZK nicht.) Neben den bisherigen Mitgliedern (der Parteihierarchie nach: Rákosi, Nagy, Gero, Farkas, Hegedüs. Apró, Hidas, Acs) wurde Bêla Szalai, früher Kandidat, für den 9. Platz gewählt. Kandidaten blieben: Verteidgungsminister Bata und József Mekis. Das vierköpfige Sekretariat (Rákosi: Erster Sekretär, Ács, Vég, Farkas) wurde um János Matolcsi, Sekretär für die Landwirtschaft erweitert. MOL: MDP MSZMP 276. f. 53/179. ö. e., MDP PB 1954. jún. 3.

178

noch nicht mit den strukturellen Veränderungen der Wirtschaft rechnen konnte und die Anpassung des Entwurfs an die neue Situation deshalb mit Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten verbunden sei. Aber auch negative Erscheinungen wurden detailliert behandelt: „Die beträchtliche Auflockerung, die in fast allen Bereichen der Volkswirtschaft zu registrieren ist (...)", „Liberalismus", „die Schwächung der Disziplin im staatlichen Bereich". Es wurde vorgeschlagen, den Import einzuschränken, die Rückstände der landwirtschaftlichen Steuern nachdrücklich einzufordern, den freien Markt der Landwirtschaft einzuschränken und bestimmte Sozialkosten zu reduzieren. Vorsichtig wurde darauf hingewiesen, daß sich vielleicht auch die Investitionen senken ließen.1 Kurz darauf Nagy war gerade in Urlaub legte Bêla Szalai, Vorsitzender des Staatlichen Planungsamtes, dem Politbüro die Richtlinien des Jahresplans 1955 vor. Dieser Entwurf gab den Investitionen, dem Wirtschaftswachstum (minimal 5%) und einem Aktivsaldo des Außenhandels eindeutig Priorität gegenüber dem Lebensstandard der Bevölkerung. Im Haushaltsetat wurde die Senkung der Ausgaben um mindestens 2 Milliarden Ft geplant, dafür sollten die Sozialleistungen um 1,5 Milliarden Ft verringert werden. „Es darf im Verhältnis der Realeinkommen von Bauern und Arbeitern nicht zu einer Gewichtsverlagerung auf Kosten der letzteren kommen", hieß es grundsätzlich. Das Politbüro neben Nagy fehlte auch Mihály Farkas stimmte den Vorlagen von Szalai zu und stellte im Beschluß fest: „Die Voraussetzungen für die erfolgreiche Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes sind nur durch aufeinander abgestimmte, einheitliche und strenge Maßnahmen der Wirtschaftspolitik zu sichern, die zum Teil schon 1954 oder sogar in nächster Zeit einzuführen sind." Damit wurde anstelle der Zukunft die gegenwärtige Situation hervorgehoben. Die notwendigen Maßnahmen sollten von einer Ad-hoc-Komission für Wirtschaftspolitik ausgearbeitet werden, die unter Leitung von Gero stehen sollte. Die Mitglieder dieses Gremiums, Szalai, István Friss, András Hegedüs und József Mekis waren mit Ausnahme des Finanzministers Károly Oit und des Leiters des Sekretariats des Ministerrats Zoltán Vas, die als Anhänger von Nagy galten entschiedene Gegner des „Neuen Kurses".2 Schon Mitte August 1954 informierte Gero Andropow über die geplanten Änderungen noch bevor der Ausschuß für Wirtschaftspolitik die Änderungsvorschläge dem Politbüro vorgelegt hatte. Dem Entwurf nach sollte die Anzahl der Angestellten im Staatsapparat und in der öffentlichen Verwaltung um 15-20 % verringert werden. Es war vorgesehen, das Realeinkommen der städtischen Bevölkerung durch die Verminderung der Sozialleistungen einzuschränken sowie das Einkommen der Bauern „bis zu einem gewissen Maße" zu reduzieren. Deshalb sollten die Preise für die Grundnahrungsmittel auf dem freien Markt um 10-12 % herabgesetzt und feste staatliche Preise für den

Jahresplanes 1954

-

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MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/181. ö. e„ MDP PB 1954. jún. 16. 8-17. pp. MOL: MDP MSZMP 276. f. 53/187. ö. e„ Sitzung des Politbüros der MDP PB vom 28. Juli 1954. Über die Tätigkeit des Ausschusses für Wirtschaftspolitik vgl. Nagy Imre: A magyar nép védelmében (Zur Verteidigung des ungarischen Volkes), a.a.O., 99-101. pp., Petö, Iván Szakács, Sándor, A hazai gazdaság négy évtizedének torténete I (Die Geschichte von vier Jahrzehnten ungarischer Wirtschaft), a.a.O., 261-269. pp., Méray, Tibor, Nagy Imre élete és hálala (Leben und Tod des Imre Nagy), a.a.O., 64-66. pp. -

179

Ankauf derselben eingeführt werden. Selbst Andropow war unangenehm überrascht, wie drastisch die geplanten Eingriffe waren. „Auf meine Frage, ob die bewußte Senkung des Lebensniveaus der Werktätigen nicht zu unerwünschten politischen Reaktionen führen könnte, antwortete Gero, daß auch er und manche Mitglieder des Politbüros dies als Gefahr ansähen, aber in der bestehenden Situation keinen anderen Ausweg finden könnten."1 Am 25. August legte die Kommission dem Politbüro die ersten Entwürfe vor, die für folgende Bereiche Reduzierungen beinhalteten: für das Unterrichtswesen eine Verminderung der Ausgaben um 300 Millionen Ft (im Vergleich zum Vorjahr eine Verringerung um ca. 12%), für die Ausbildung von Lehrlingen um 100 Millionen Ft, (23 %), für Kurse außerhalb des schulischen Unterrichtswesens 130 Millionen Ft (-65 %) sowie bereits für das Jahr 1954 eine Verminderung um 30 Millionen Ft, für Dienstreisen im Inland 200 Millionen Ft (-40 %) und im Sozialversicherungsbereich 355 Millionen Ft (-8 %). Das Bruttoeinkommen der Arbeiter und Angestellten sollte 1955 um 3,6 %, ihr Realeinkommen um 8 % gesenkt werden. Zur Lage der Bauern wurde beschlossen, daß „Maßnahmen ausgearbeitet werden müssen, mit deren Hilfe in erster Linie durch das Senken des Preisniveaus auf dem freien Markt das Einkommen der Bauern wesentlich eingeschränkt werden kann. Soweit dies erforderlich ist, sollten auch Beschlüsse für administrative Regelungen gefaßt werden, die das Bruttoeinkommen der Bauern verringern könnten (Steuererhöhungen, Erhebung von Gebühren, Einführen von lokalen Steuern usw.)."2 In der Sitzung des Politbüros am 28. Juli 1954 wurde erneut die Frage aufgeworfen, ob „diejenigen Parteien von der alten Unabhängigkeitsfront, die stellenweise noch über Wurzeln verfügen", in die Volksfront integriert werden sollten bzw. ob die kommunistische Partei Mitglied der Volksfront werden sollte. Die Mitglieder des Politbüros verwarfen beide Gedanken. Übrig blieb von diesen Initiativen nur die Möglichkeit, daß sich auch Politiker der ehemaligen loyalen Koalitionsparteien an der Volksfront beteiligen könnten. Aus den Entwürfen geht hervor, daß dieser neuen Bewegung keine wirkliche politische Rolle zugedacht war.3 Am 18. August legte das Politbüro die Struktur, die Aufgaben und die für die Gründung relevanten Schritte der Bewegung der Volksfront endgültig fest. Hinsichtlich der Beteiligung der Kirchen galt die Formel, die auch für die ehemaligen Parteien angewandt wurde: Als Organisation durften sie sich nicht beteiligen, eine individuelle Beteiligung war aber nicht ausgeschlossen. Diejenigen Geistlichen, die „der Volksdemokratie treu geblieben sind", durften selbstverständlich nur mit dem Einverständnis des Staatlichen Kirchenamtes, d.h. mit dem der Staatssicherheit, Mitglied der lokalen Komissionen der Volksfront werden. Im weiteren wurde noch beschlossen, daß die Gründung der Volksfront kein ausgearbeitetes Programm voraussetzt, sondern für diesen Zweck lediglich ein Aufruf

genügt.

In den ersten

Septembertagen 1954 kam Imre Nagy aus seinem Urlaub zurück. In der Sitzung des Politbüros der MDP am 8. September 1954 stellte er fest, daß die aktuellen 1

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3

Ebd., 11. 84-87. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Ernö Gero am 18. August 1954. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/191. ö. e„ 44. p. MDP PB 1954. aug. 25. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/187. ö. e„ MDP PB 1954. júl. 28.

180

den allgemeinen politischen Richtlinien des „Neuen Kurses" widersprächen und übte Kritik am Äufrufentwurf der Volksfront. Über die Arbeit des Ausschusses für Wirtschaftspolitik stellte er fest: „Wir nahmen die neuen Maßnahmen voreilig in Angriff. (...) Es fehlten dabei Regelungen, die ermöglichten, die Änderungen humaner durchzuführen. (...) Wir handelten vorschnell und es führte dazu, daß einzelne wirtschaftliche Maßnahmen und allgemeine Maßnahmen von großer Reichweite einander zuwiderlaufen." Die Mehrheit im Politbüro stellte sich sofort an die Seite von Nagy.1 Am 15. September wurden die Entwürfe des Ausschusses für Wirtschaftspolitik regelrecht vernichtet. „Der Fehler liegt nicht in der Resolution vom Juni, sondern vielmehr darin, daß die Vorhaben im Beschluß nicht verwirklicht wurden. Da liegen die Ursachen(...). (...) Wir betreiben eine Politik der Halbheiten, die alte Linie wurde noch nicht aufgegeben, die neue Linie wird aber auch nicht entschlossen genug vertreten. In der Wirtschaftspolitik stoßen zwei Konzeptionen aufeinander. Die eine geht davon aus, daß wir ,das Land von Eisen und Stahl' sind. Für sie spricht sich zwar niemand mehr offen aus, aber sie zeigt sich im ,Beharren auf den Grundlagen' des Sozialismus und die waren im sowjetischen Modell nun einmal die Grundstoffindustrie. Die andere manifestierte sich in der Juni-Resolution: Es kann für uns keine wirkliche Perspektive sein, auf dem Weg zum Aufbau des Sozialismus über eine Industrie zu verfügen, die weder unseren Ansprüchen noch denen unserer Verbündeten oder der kapitalistischen Länder entspricht."2 Die Sitzung des ZK der MDP am 1. Oktober 1954 endete im Bereich der Wirtschaftspolitik mit den Sieg der Anhänger des „Neuen Kurses". Dies ging sogar so weit, daß Zoltán Vas in seiner Ansprache Gedanken einfließen ließ, die von einem Team von Wirtschaftsfachleuten stammten, die an einem Reformprogramm arbeiteten. Dieses Team war z.B. der Ansicht, daß der ganze Wirtschaftsmechanismus überprüft und geändert werden müßte und die Proportionen des Wirtschaftsplanes verfehlt seien. „Bei den Unternehmen sollten drei Punkte überprüft werden: die Selbstkosten, das Einhalten des Kollektivvertrages und die grundlegenden Meßwerte der Produktion. In Zukunft sollen der Direktor und der Minister freie Hand bekommen, um die Rohstoff- und die Arbeitslohnkosten freier einzusetzen (...)"3 Es sollte ein neues Preis- und Lohnsystem ausgearbeitet werden, dem das Wertgesetz zugrunde liegt. Nagy sprach darüber, daß der Unsicherheit und dem Schwanken ein Ende gesetzt werden und es deutlich gemacht werden müsse, daß die Partei auf der Plattform der Resolution von Juni und des Neuen Kurses stehe.4 Die frühere Wirtschaftspolitik „rechnete nicht mit den Massen der Werktätigen", und dies sei in Zukunft unzulässig. Von weiteren Einschränkungen des Lebenstandards dürfe nicht mehr die Rede sein. Er fragte: „Ein Sozialismus, der nicht einmal das Brot sichert?" Und an die Bauern gerichtet sagte er: „Ein zentrales Problem ist, eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion dadurch zu erzielen, daß der Maßnahmen

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MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/193. ö. e., MDP PB 1954. szept. 8. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/194. ö. e„ MDP PB. 1954. szept. 15. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 52/27. ö. e„ MDP KV 1954. okt.1-3. Ebd. Der ungekürzte Text der Rede Nagys siehe MOL: XX-5-h. LB Nb. V-150.000. Op. ir. 25. k. 144-175. pp. és Vizsg. ir. 15. k. 88-103. pp. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

181 Anteil der Produzenten am Gewinn erhöht wird und gleichzeitig auch in der gesamten Wirtschaftspolitik das Prinzip der finanziellen Beteiligung am Gewinn uneingeschränkt gelten zu lassen." Nach der Sitzung reiste Rákosi „zur ärztlichen Behandlung" nach Moskau und blieb bis Ende November dort. Gero beteiligte sich an der Führung schon seit Anfang September kaum noch. Imre Nagy ging zur Durchsetzung seines Wirtschaftskurses strategisch geschickter vor als 1953. Die Resolution des ZK ließ er in der Zeitung „Szabad Nép" (Freies Volk) veröffentlichen1 und eine regelrechte Pressekampagne starten. Er ließ auch die Vorbereitungsschritte zur Wirtschaftsreform beschleunigen.2 Vom Regierungssekretariat wurde schon im Laufe des Oktober die Arbeitsfassung des ersten Materials vorgelegt und zur Diskussion gestellt. Ende November verfaßte eine engere Arbeitsgruppe ein Dokument von rund 150 Seiten "Thesen zur Gestaltung eines wirtschaftspolitischen Arbeitsprogrammes", das das damals geplante Reformprogramm des „Neuen Kurses" darstellte.3 Der Regierungschef forderte auch weitere führende Wirtschaftsleute auf, eine umfassende Analyse der Lage vorzunehmen und Änderungsvorschläge einzureichen.4 Er begann mit der Umstrukturierung der wirtschaftlichen Leitung, die viele Neubesetzungen zur Folge hatte. Diejenigen Wirtschaftspolitiker, die Ernö Gero nahe standen (Szalai, Friss, Hegedüs u.a.) und früher als die oberste Leitung angesehen wurden, setzte Nagy ab.5 Geros Position selbst blieb unverändert, doch Nagy wies Anfang Oktober Andropow gegenüber darauf hin, daß „in der Partei Gero für die Fehler im Bereich der Wirtschaftspolitik allgemein verantwortlich gemacht wird. (...) Gero verlor beträchtlich an Ansehen und Nagy ist gar nicht davon überzeugt, daß Gero diese an ihn gerichtete Kritik für sich akzeptieren werde."6 In der Regierung stiegen diejenigen Personen auf, die zu Imre Nagy langjährige Beziehungen als Freunde oder Mitarbeiter hatten. Er stützte sich sonst hauptsächlich auf Funktionäre wie Berei, Nógrádi, Révész, die er in der Emigration in Moskau kennengelernt hatte. Nagy hatte vor, sie auch in das absolute Zentrum der Macht, in das Politbüro, zu holen, um ein Gegengewicht zu den jungen Kadern von MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/197. ö. e. MDP PB 1954. okt. 6. Die Vorbereitungen zur Gründung des Instituts für Wirtschaftswissenschaften wurden schon im Sommer 1954 begonnen, unter der Leitung von Kálmán Szabó und Ferenc Fekete. Imre Nagy wollte das Institut für die analytische Arbeit im Bereich der Wirtschaftspolitik aufbauen. MOL: XIX-A-2-v. 71. d. Leltározott iratok 1953-55. 236. sz. Erste Fassung: MOL: XIX-A-2-v. 72. d. A magyar népgazdaság helyzete és az átállítás feladatai (Die Lage der ungarischen Volkswirtschaft und die Aufgaben der Umstellung), 1954. Oktober. Die Thesen siehe in: MOL: MDP-MSZMP 276. f. 65/256. ö. e. Interview mit Gergely Szabó. Fragen: Szigeti Katalin, 1988. Oral History Archiv, Budapest, 113. sz. 125-127. pp. Zurückblickend schrieb András Hegedüs: „Ein stellvertretender Ministerpräsident ist nicht so wichtig. Es gehört zwar ein sehr großer Bereich zu ihm, trotzdem funktioniert alles, ob mit ihm, oder ohne ihn. Der Minister für Landwirtschaft zählt viel mehr." Egy eszme árnyékában (Im Schatten einer Idee), a.a.O., 215. p. AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. 11.166-168. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Ernö Gero am 11. Oktober 1954.

182

Rákosi und Gero, Ács, Szalai, Hidas, Bata, Vég und Matolcsi zu bilden. Er argumentierte, daß letztere „in der Partei nicht bekannt genug sind und nicht die notwendige Aautorität haben". Nach Nagys Auffassung war es zweckmäßig, das Politbüro außer den jungen Mitarbeitern durch Personen zu erweitern wie Zoltán Szántó, Sándor Nógrád oder Berei, die schon wichtige Erfahrungen im Bereich der Parteiarbeit gesammelt haben.1 Alle drei Kandidaten gehörten zu der zweiten Linie der Moskau-Kader, zu der ja Nagy selbst zählte. Nagy konnte nicht erreichen, daß der Prozeß gegen Rajk überprüft wurde und eine Gerichtsverhandlung durch eine höhere Instanz stattfindet. Er begann Anfang November, die politische Amnestie vorzubereiten2, und verlangte vom obersten Staatsanwalt einen Bericht über den letzten Stand der Überprüfungen sowie über die wichtigsten Ergebnisse. Er leitete eine Untersuchung in die Wege3, vorläufig begrenzt auf Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er weitete die Untersuchung auch auf die Sozialdemokraten aus. Am 19. November wurde Anna Kéthly, die bedeutendste Führerin der Sozialdemokraten in Ungarn, auf freien Fuß gesetzt bzw. unter Hausarrest gestellt. Dies brachte aber mit sich, daß sich das Verhältnis von Nagy zu Mihály Farkas, mit dem er anderthalb Jahre zuvor noch hatte rechnen können, grundsätzlich verschlechterte. Diese negative Entwicklung hatte sich in der Beziehung von Rákosi und Gero schon früher eingestellt. Im Herbst 1954 tauchten die Kommunisten, die das Gefängnis verlassen durften, in den Straßen von Budapest auf. Auch der abgemagerte János Kádár mit seinem schütter gewordenen Haar wurde in einer Filmreportage über den Parteitag zur Gründung der Patriotischen Volksfront für ein paar Sekunden eingeblendet.4 Die Partei blieb aber ruhig. Die Entschlossenheit von Nagy zeigt sich auch darin, daß die Öffentlichkeit auch über die bis dahin streng geheime Überprüfung des Prozesses informiert wurde. Er veröffentlichte in der Zeitung „Szabad Nép" vom 20. Oktober 1954 einen Artikel über die Sitzung des ZK, die zweifelsohne „von historischer Bedeutung" war. Er nannte sie einen „Kompaß für die Partei" und schätzte sie in ihrer Bedeutung höher ein als den Parteikongreß vor einigen Monaten. Zu dem Widerstand gegen den „Neuen Kurs" machte er die Bemerkung, daß es keinen Grund gebe, besorgt zu sein, denn die Partei würde nicht zu der Politik vor dem Juni 1953 zurückkehren. Im Artikel selbst veröffentlichte er im Nachhinein die in der Resolution vom Juni 1953 ausgesparte Kritik. Gleichzeitig machte er deutlich, daß diejenigen, die ein Senken des Lebenstandards für angebracht hielten, mit dieser Absicht gleichzeitig zur Linie vor dem Juni 1953 zurück wollten. „Solche Absichten müssen bis auf ihre letzten Reste zunichte gemacht werden (...)".5 Er fuhr fort: „Die alte Wirtschaftspolitik verlieh dem Sozialismus eine grundfalsche Bedeutung, sie hat den Menschen, die Gesellschaft nicht Ebd. MOL: MDP-MSZMP 276. f. 62/1. ö. e„ 181. p. Aufzeichnungen von Kálmán Czakó für Imre Nagy vom 5. November 1954. Ebd., 82-190. pp. Aufzeichnungen von Kálmán Czakó für Imre Nagy am 6. November 1954. Ungarisches Filmarchiv, TÖ 155. sz. Uj erö születik (Eine neue Kraft entsteht). Nagy, Imre: A Központi Vezetoség ülése után (Nach der Sitzung des ZK), „Szabad Nép". 1954. okt. 20. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

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berücksichtigt und den Sozialismus engte sie auf die maximale Steigerung der Eisenund Stahlproduktion, also auf eine Überindustrialisierung ein." Nagy beschränkte sich nicht auf seine Kritik an der Wirtschaftspolitik, sondern ging darüber hinaus. „Die Fehler in der Wirtschaftspolitik vor dem Juni, die in der Resolution im Juni aufgedeckt wurden, hängen eng miteinander zusammen und lassen sich auf dieselben Ursachen zurückführen. Auch im Bereich der Wirtschaft wurde die kollektive Führung nicht verwirklicht (...) Es herrschte eine personenbezogene Leitung vor, die auf der Basis von

Kenntnissen eines engen Kreises entstand. Es machten sich weder Kritik noch Selbstkritik bemerkbar, es fehlte an wissenschaftlicher Fundierung der Wirtschaftspolitik. Dogmatismus und Schematismus gerieten immer mehr in den Vordergrund (...)" An einer anderen Stelle schrieb er in diesem Sinne weiter: „Es hat sich bestätigt, daß die kollektive Führung die Fehler korrigieren kann, die sich durch die persönliche Führung ergeben haben und ihre verheerenden Folgen abschwächen kann." In diesen Formulierungen fehlten lediglich die Namen Mátyás Rákosi und/oder Ernö Gero. Anschließend ging er auf die Frage der Rehabilitierung ein: „Mit den Rehabilitierungen werden die Beschlüsse vom Juni realisiert, indem unsere unschuldigen Genossen aus dem Gefängnis geholt und der Partei, dem Leben und dem Arbeiten wiedergegeben werden. Die schweren Fehler der Vergangenheit werden auch in diesem Bereich beseitigt, und sie müssen auch beseitigt werden. Die Unschuldigen müssen auf freien Fuß gesetzt werden (...) Die Partei und die kollektive Führung werden die Kraft haben zu verhindern, daß die Verbrechen der Vergangenheit wieder begangen werden." Nagy sah also die Rehabilitierung bei weitem nicht als abgeschlossen an, er sprach ganz deutlich über Verbrechen, nicht nur über Fehler. Die Frage der Verantwortung ließ er zwar offen, dafür aber vermied er die üblichen Erklärungen, in welchen in der Regel die Träger der politischen Macht vor 1953 (Berija, Gabor Péter und andere) beschuldigt wurden. Er ließ dieses Thema als offene Frage im Raum stehen, indem er indirekt zu verstehen gab: Wenn Verbrechen begangen wurden, dann muß irgendwann die Frage der Verantwortung auch geklärt werden. Abschließend schrieb er, daß in Zukunft die Führung der Partei, die die Kluft zu den breiten Massen in der Vergangenheit nicht wahrgenommen hätte und mit diesen wie mit Minderjährigen umgegangen sei, die Mitglieder über alle wichtigen politischen Fragen informieren und sie an der Gestaltung der Politik beteiligen müsse. Es ging also um nichts weniger als um die Demokratisierung der Partei, nachdem die Führung dieser Partei demokratisiert worden war. Mit anderen Worten: Nagy wandte sich an die Mitglieder, um sie um Unterstützung für seine Linie und für seine Person zu bitten. Die Öffentlichkeit blieb auch nach 1953 unter totaler Kontrolle. Schon das geringste Anzeichen der Absicht, diese Kontrolle zu vermindern oder zu brechen, galt als politische Geste, als ein politisches Ereignis von Bedeutung. Nagy argumentierte im Artikel selbst als Politologe, er schrieb nicht in der Rolle und aus der Sicht des Parteifunktionärs. Deshalb muß sein Schritt, die Öffentlichkeit um Unterstützung zu bitten, von ihrer Bedeutung her mit den inhaltlichen Aussagen gleichgesetzt werden. Die Zeitung „Szabad Nép" galt natürlich als Zentralorgan der Partei und sprach damit in erster Linie deren Mitglieder an. Sie war dadurch aber immerhin die wichtigste Tageszeitung und beeinflußte die veröffenlichte Meinung. Nagy war auf dem Weg, sich von der engen Parteiführung und von den Patronen in Moskau zu lösen, für sich um

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Unterstützung zu werben und perspektivisch sogar eine echte Massenbasis zu finden. Auf diesem Weg erreichte er mit seinem Artikel eine entscheidende Zwischenstation. Um den Stellenwert dieser Entscheidung nachvollziehbar zu machen, muß hier darauf aufmerksam gemacht werden, daß er diesen Versuch erst unternahm, als er sich des kommenden Sieges schon sicher glaubte. Eine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Das Politbüro beschloß einige Tage nach der Veröffentlichung des Artikels, daß alle Veröffentlichungen über die Entscheidungen vom Oktober einer Zensur unterworfen werden.1

Aufgrund der Diskussionen über die Probleme der Wirtschaftspolitik geriet die Frage Volksfrontgründung vorübergehend in den Hintergrund. Nach der Sitzung des ZK am 1/3. Oktober 1954 nahm sie allerdings an Bedeutung wieder zu. Der erste Kongreß der Nationalen Front wurde für den 23. Oktober 1954 zusammengerufen. Den politischen Bericht, ein vom Politbüro beschlossener Text, las József Darvas, Minister für Volksbildung, vor. Ein echtes Ereignis der Beratungen war die Rede von Imre Nagy am zweiten Tag. Er sprach über die öffentliche Meinung und über die nationale Eintracht, die sich auf der Linie des Regierungsprogramms von 1953 herauszubilden beginne. Im Zeichen dieses Programms habe Ungarn „den Weg zum freien Leben auch für das nächste Jahrzehnt der sozialistischen Entwicklung" eingeschlagen. Imre Nagy wollte endgültig eine Epoche hinter sich wissen und damit eine Zäsur erreichen. „Wir stießen in letzter Zeit bei der Verwirklichung der wunderbaren Zielsetzungen der Resolution vom Juni und des Regierungsprogramms immer öfter auf Hindernisse. Verständlicherweise war deswegen auch unser Volk in Sorge. Böswillige Stimmen

der

nämlich

hören, die das Scheitern der Politik

vom Juni, das Scheitern des sie hätten kaum eine treffendere Antwort bekommen können: Das ZK der MDP und die Regierung setzten den Unsicherheiten ein Ende. (...) Die Juni-Politik wurde zum Sieg geführt, und diejenigen, die hinterhältig auf ihr Scheitern spekulierten, erlebten ein klägliches Fiasko."2 Es stellte sich aber kurz danach heraus, daß nicht die Gegner, sondern gerade die Anhänger der Politik vom Juni 1953 eine herbe Niederlage erlitten. Hinsichtlich dieser Tatsache muß unbedingt die Frage gestellt werden: Wie kam es überhaupt dazu, daß der Reformansatz einer Korrektur gerade zu jener Zeit vorübergehend siegen konnte und dies auch gerade dann, als er richtig radikal wurde? Das direkte Abhängigkeitsverhältnis des Neuen Kurses von Moskau ist allgemein bekannt. Wahrscheinlich hat der momentane Stand der Machtkämpfe in Moskau die Offensive von Nagy positiv beeinflußt. Schriftliche Belege für diesen Zusammenhang existieren aber nicht. Daß der „Neue Kurs" zunächst erfolgreich war, wurde durch das Zusammenspiel von mehreren Faktoren bewirkt: Die ungarische Führung war gespalten, es gab heftige Auseinandersetzungen und es war eine Disposition zum Revisionismus zu registrieren. waren

zu

Regierungsprogramms prophezeiten. Nun,

MOL: MDP-MSZMP 276. f. 53/200. o.e., MDP PB 1954. okt. 27. Dem Beschluß nach mußten vor der Veröffentlichung die meisten Artikel Farkas, die wichtigeren dem Politbüro oder dem Sekretariat vorgelegt werden. Nagy war in dieser Sitzung nicht anwesend. Die Rede von Imre Nagy auf dem I. Kongreß der Patriotischen Front, in: Tóbiás Áron (Hrsg.): In memoriam Nagy Imre. Emlékezés egy miniszterelnökre (In memoriam Imre Nagy. Erinnerung an einen

Ministerpräsidenten.), Budapest,

1989. 62-72. pp.

185 Im Herbst 1954 tauchte dann als neuer politischer Faktor die Öffentlichkeit, die öffentliche Meinung in der Partei und in der Gesellschaft auf. Dieser Faktor wirkte eindeutig in Richtung Veränderungen. Der früher einsame Nagy stellte aus Personen um sich herum ein Team zusammen, das im Regierungsapparat seine Tätigkeit aufnahm. Er benahm sich als „guter Politiker", war im Kommunizieren mit der Öffentlichkeit erfolgreich, viel erfolgreicher als jemals zuvor in seiner Laufbahn. Rákosi und seine Anhänger waren seit 1948 an keiner politisch entscheidenden Situation mehr beteiligt. Sie waren deshalb angesichts der Umstände verwirrt und irritiert, und auch diese Reaktion machte die Anhänger des „Neuen Kurses" stärker. Dieser Zustand sollte sich als ein Provisorium von nur etwa zwei Monaten Dauer erweisen.

7. Das Scheitern des Geschehnisse

„Neuen Kurses" und eine Bilanz der

Das Scheitern des

„Neuen Kurses" in Ungarn wird gewöhnlich auf äußere Faktoren zurückgeführt. Meistens wird in den Erklärungen das Scheitern der Nagy-Linie damit begründet, daß auch Malenkow (nach Berija) in den Hintergrund gedrängt wurde. Dieser Umstand soll die unmittelbare Ursache für den Sturz von Imre Nagy gewesen sein, da er schon immer zu Malenkows Leuten gerechnet wurde. Der Machtverlust von Malenkow wird überwiegend damit erklärt, daß es der Sowjetunion unter seiner Führung nicht gelungen ist, die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die NATO abzuwenden. Eine andere Erklärung führt das Scheitern von Malenkow und Imre Nagy auf die politischen Intrigen und Machtkämpfe im post-stalinistischen Kreml zurück. Chruschtschow war vor allem bestrebt, gestützt auf den Parteiapparat, seine Hegemonie auszubauen und aufrechtzuerhalten. Für ihn war die Regierung deshalb nur zweitrangig. Obwohl er, was die Entstalinisierung betrifft, die Meinung von Malenkow teilte, ging er gegen seine Überzeugung um seinem Ziel näher zu kommen ein Bündnis mit den orthodoxen Stalinisten (Molotow, Kaganowitsch und Bulganin) ein. -

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Dies tat er mit Erfolg.1 Relevante Interessen der Sowjetführung im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wurden vom „Neuen Kurs" in Ungarn kaum tangiert. Nagy überließ im Bereich der Verteidigung István Bata, dem Minister für dieses Ressort und zugleich einem Vertrauten der Sowjets, jegliche Initiative. Zu Initiativen in der Außenpolitik gab es kaum Anlaß. Die Entwicklungen in der internationalen Politik verliefen konfrontativ. Einerseits wurde im Oktober 1954 zeitgleich mit dem Kongreß der Nationalen Volksfront in Ungarn die Bundesrepublik Deutschland in die NATO aufgenommen. Im Osten liefen schon seit sechs Monaten Vorbereitungen für die Gründung des Warschauer Paktes. Parallel zur Zuspitzung der Ost-West Gegensätze in der "Deutschen Frage" kam es zu einem ersten Schritt der politischen Entspannung, indem erstmals -

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Siehe

B. Charles Gati: Magyarország a Kreml árnyékában (Ungarn im Schatten des Kreml), Budapest, Századvég. 1990. 130-132. pp. Vladislav Zubok Constantine Pleshakov: Inside the Kremlin's Cold War. Harvard University Press, Cambridge, London, 1996. z.

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186 wieder ein Treffen der Außenminister der westlichen Mächte und der Sowjetunion stattfand. Außerdem unternahm die Sowjetunion vorbereitende Schritte zur Versöhnung mit Tito. Ungarn wurde im Herbst 1954 ganz eindeutig „aufgewertet". Die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO erinnerte die Sowjetführer, die für Traditionen und Analogien immer empfänglich waren, an die Gefahr vom Anschluß Österreichs an Deutschland. Die Front könnte in einem analogen Fall in Ungarn verlaufen. Selbst wenn der Staatsvertrag und die Deklaration der immerwährenden Neutralität von Österreich unterschrieben werden würden, was im Herbst 1954 noch nicht mit Sicherheit abzusehen war, hätte Ungarns Westgrenze zugleich die westliche Grenze des militärischen Raums der Sowjets gebildet. Die Sowjetunion war zu dieser Zeit an innenpolitischer Stabilität noch viel mehr interessiert als 1953. Nagy versuchte in erster Linie auf Bestrebungen zur Entstalinisierung, die in der sowjetischen Politik latent vorhanden waren, aufzubauen. Diese stimmten nämlich mit seinen Reformversuchen von 1954 wenigstens zum Teil überein. Außerdem war er der Überzeugung, daß diese Politik sich für die längerfristige Stabilisierung des Systems grundsätzlich positiv auswirken würde im Gegensatz zur Möglichkeit einer erneuten Machtübernahme durch Rákosi und damit einer Rückkehr zu einer abenteuerlichen Wirtschaftspolitik oder der Wiedereinführung direkter polizeistaatlicher Maßnahmen. Rákosi erklärte für sich die Zeichen der Entstalinisierung damit, daß der Neue Kurs eine „Abweichung" von den Grundsätzen des ursprünglichen Konzepts darstellte. Unter diesem Aspekt versuchte er die Einstellung der Sowjets zu beeinflussen, als er sich im Herbst 1954 in Moskau aufhielt. Nagy „kam gar nicht auf den Gedanken, ohne Einladung wie Rákosi nach Moskau zu fahren, heimtückisch wartend im Kreml 'herumzulungern', und sich dann bei nächster Gelegenheit anzubieten, bzw. Rákosi bei den Sowjets zu denunzieren."1 Der Neue Kurs aktivierte die ungarische Gesellschaft in der Tat. Die ersten Anzeichen davon waren im Sommer 1953 zu registrieren. Hauptsächlich die Dörfer, das Land reagierten auf die Verminderung der Repression unmittelbar und spontan. In der zweiten Jahreshälfte von 1954 konzentrierten sich die Aktivitäten auf Budapest. Es rührten sich nicht nur die bisher unterdrückten Schichten, sondern auch die von den Machtinhabern privilegierten Gruppen: Einst gehorsame Kommunisten, Schriftsteller, die der Partei beigetreten waren, Journalisten in hohen Positionen. Am 4. Juli 1954 verlor die erfolgsgewohnte ungarische Nationalelf, die „goldene Mannschaft", 3:2 die bundesdeutschen gegen Fußballspieler in Bern das Finale der Fußballweltmeisterschaft. In den nächsten Tagen gingen mehrere Tausende in Budapest auf die Straße, um ihre Enttäuschung über diese Niederlage durch Demonstrationen loszuwerden bzw. um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, daß die Mannschaft, die Trainer oder die oberste politische Führung das Fußballspiel „verkauft hätten" so -

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Hajdu, Tibor: Szovjet diplomacia Magyarországon Sztálin hálala elött és után (Sowjetische Diplomatie in Ungarn vor und nach dem Tode Stalins), in: Magyarország és a nagyhatalmak a 20. században (Ungarn und die Großmächte im 20. Jahrhundert), a.a.O., 200. p.

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Falschmeldung, die in der Stadt kursierte.1 In Sportveranstaltungen, bei Studentenwettbewerben und beim Wasserballspiel zwischen Ungarn und der Sowjetunion kam es mehrfach zu Demonstrationen des Publikums gegen die Sowjets.2 Die spontanen Demonstrationen waren aber nicht nur auf Sportveranstaltungen begrenzt. Als im Herbst 1954 Hausbesetzer gezwungen wurden, ihren Wohnort zu räumen, demonstrierten mehrere Hunderte, gelegentlich auch Tausende in verschiedenen Stadtbezirken vor den Rathäusern. Zusammenstöße mit der Polizei waren damals keine Seltenheit.3 Die Anhänger des „Neuen Kurses" meldeten sich im frühen lautete eine

Herbst auch im Bereich der Publizistik, indem sie in „Irodalmi Újság" (Literarische Zeitung) und in „Müvelt Nép" (Gebildetes Volk), der Zeitung des Ministeriums für Volksbildung, ihre Texte veröffentlichten. Der Schriftstellerverband leitete eine soziographische Analyse der ungarischen Verhältnisse in die Wege. Fünfzehn junge Schriftsteller reichten bei der Parteiführung eine Petition „Zur Situation der ungarischen Jugend" ein.4 In der Eingabe wurde die monolitische Organisation DISZ Verband der vor allem wegen ihrer inhaltlosen Tätigkeit und ihres Werktätigen Jugend bürokratischen Vorgehens kritisiert. Zwischen dem 22. und 25. Oktober 1954 fand eine Versammlung der Parteiorganisation der Parteizeitung "Szabad Nép" statt, deren Atmosphäre in einem Beitrag von Tibor Méray deutlich wird: „Wir sind durch die letzten zehn Jahre abgehärtet, uns haben die Entwicklungen im Juni die Augen geöffnet: -

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Symptomatisch für den Kontakt zwischen der Führung und den Menschen war, daß alle das Gerücht glaubten, das Fußballspiel wurde gegen 50 Mercedes den Deutschen verkauft. Zu der Zeit tauchten nämlich Mercedes-Fahrzeuge auf den Straßen von Ungarn auf, und selbstverständlich saßen die Führer des Landes darin." Vásárhelyi Miklós, Ellenzékben (In Opposition), a.a.O., 64. Méray, Tibor: Tisztító vihar (Sturm der p. Zur Demonstration siehe noch: Aczél, Tamas Läuterung ), a.a.O., 213-216. pp. Als die Universiade zu Ende war, mußte Rákosi Andropow die Geschehnisse in einem Sondertreffen erläutern. Siehe dazu AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. I. 83. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Rákosi am 11.August 1954. Auf die Demonstrationen kam sogar Chruschtschow zu sprechen: Am 8. Januar 1955 machte er der ungarischen Delegation gegenüber die Bemerkung, „sowas wie in Ungarn kommt in anderen sozialistischen Ländern nicht vor", in: Rainer Urbán, Konzultációk (Konsultationen), a.a.O., Múltunk 1992, 4. sz. 148. p. Am 7. September 1954 demonstrierten etwa 3.000 Personen am Orczy Platz im VIII. Stadtbezirk dagegen, daß eine Arbeiterin der Straßenbahnwerke der Hauptstadt ihre Wohnung räumen mußte. Die eingesetzten Sicherheitskräfte mußten gegen die Menschenmenge mehrmals anstürmen, um sie aufzulösen. Es gab auch Aufrufe zu Streiks bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben. (MOL XIX-A-2-v. 69. d. Registrierte Dokumente des Ministerpräsidenten. M-1356. sz.) Zu ähnlichen Demonstrationen kam es im Herbst in mehreren Stadtbezirken. Siehe Budapest Fováros Levéltára, XXIII. 102. c. Budapest, Városi Tanács TÜK ir., Sajtó- és propaganda csoport hangulatjelentései (Rat der Stadt Budapest, Akten mit Geheimhaltungsvermerk, Stimmungsberichte der Abt. Presse und Propaganda); Források Budapest múltjából (Quellen aus der Vergangenheit von Budapest). V/A. k. Források Budapest torténetéhez 1950-1954 (Quellen zur Geschichte von Budapest), Szerk. Gaspar Ferenc Szabó Klara. Budapest, BFL kiad. 1985, 404-406. pp. A magyar ifjúság ügyében. 15 fiatal író javaslata ( Zur Sache der ungarischen Jugend. Vorschlag von 15 jungen Schriftstellern). -

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nicht mehr einfach Angst einjagen! Wir können nicht mehr erschreckt mit Strafen droht, indem wir zu Kleinbürgern abgestempelt werden oder indem mit der Faust auf den Tisch gehauen wird. Es kommen neue Zeiten: Wir schlagen zu (...). Wir brauchen einen Sturm der Läuterung, der das Land von unten nach oben und von oben nach unten konsequent von Schwächen und Fehlern, von Unreinheiten, von Schmutz, von Widerstand und von allem Bösen befreit."1 Im Beschluß der Versammlung wurde dazu aufgefordert, erstens die verantwortlichen Personen für den Widerstand gegenüber dem „Neuen Kurs" konkret zu benennen und zweitens den Mitgliedern der Partei die Teilnahme an der Diskussion politischer Fragen zu ermöglichen. Péter Kende sprach über das Grundprinzip einer neuen politischen Moral: „Der Anspruch an Ehrlichkeit läßt sich meiner Meinung nach ganz einfach formulieren: Laßt uns nicht lügen! Nicht einmal die Wirklichkeit beschönigen. Laßt uns doch immer die Wahrheit sagen, (...) machen wir unser Volk mit den Problemen vertraut, und dann (...) können wir dazu beitragen, das Vertrauen, das in letzter Zeit unserer Partei gegenüber verloren ging, beim Volk wiederzugewinnen."2 Nagy und die leitenden Verfechter des „Neuen Kurses" verhielten sich gegenüber diesen Ansätzen gesellschaftlicher Aktivität abwartend und besorgt. Rákosi, der sich damals in Moskau ärztlich behandeln ließ, suchte den einen oder den anderen Führer der sowjetischen Partei von Zeit zu Zeit auf, um sie regelmäßig zu informieren. „Wenn ich mich recht erinnere, besuchte ich Rákosi im Sanatorium für Regierungspolitiker zweimal. Bettlägerig war er ja nicht, er trat mir auch nicht mit einem Schlafanzug gekleidet entgegen. Im Gegenteil: Er war sogar sehr lebhaft, ganz voller Aktivität. Er behauptete, daß die sowjetischen Genossen die Haltung und das Vorgehen von Imre Nagy mißbilligten und die Lage in Ungarn als ganz besonders gefahrlich einschätzten. Von außergewöhnlicher Bedeutung wären für sie die Aktionen der Schriftsteller und Journalisten", so Hegedüs in seinen Erinnerungen.3 Auch Rákosi erwähnte in seinen Memoiren den Besuch von Suslow bei ihm und wies im weiteren auf ein Treffen im Kreml mit Chruschtschow, Malenkow und Molotow hin, das am 29. November 1954 stattgefunden haben soll. In seinem Gedächtnis flössen wahrscheinlich mehrere Besuche zu einem einzigen Treffen zusammen was aber die Konsequenzen des Gesprächs betrifft, scheinen seine Feststellungen zutreffend zu sein: „(...) die sowjetischen Genossen waren äußerst besorgtüber die Entwicklungen in Ungarn, die von ihnen, da sie aktuellere Informationen hatten als ich, als recht bedrohlich eingeschätzt wurden. Ihre Aufmerksamkeit wurde vor allem durch die Ansprache Nagys auf dem Kongreß der Nationalen Volksfront und durch seinen Artikel in „Szabad Nép" geweckt, in dem er seine Ansichten im Detail darlegte. (...) Zum Schluß waren die sowjetischen Genossen darin einig: Das Treiben von Imre Nagy und seiner Anhänger in Ungarn sei partei- und volksfeindlich, und folglich solle man sich auf adäquate Weise widersetzen."4 Andropows Meldungen aus Budapest bestätigten diese Wahrnehmung: „Nach der Man kann

uns

werden, indem

man

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Protokoll der

Sitzung der Parteiorganisation von „Szabad Nép" Zeitgenössischer Durchschlag, Privatbesitz von Pal Löcsei, S. 18.

am

22./ 23./ 25. Oktober 1954.

Ebd., S. 33. Hegedüs, András, Élet egy eszme árnyékában (Leben im Schatten einer Idee), a.a.O., S. 217. Rákosi, Mátyás, Visszaemlékezések (Erinnerungen), a.a.O., Bd. 2., S. 970.

189 des ZK der MDP und nach den Veröffentlichungen von Nagy, Farkas, Vas und sogar von Kovács verbreiteten sich in der Partei allmählich unzulässige Ansichten und Überlegungen darüber, wer konkret für die früher begangenen Fehler im Bereich der Industrie verantwortlich sei. Sie richteten sich in letzter Zeit als unmittelbare Beschuldigung gegen Gero, Farkas, Hidas und sogar gegen Rákosi. Gerüchte dieser Art kursieren hauptsächlich im Umkreis von Mitarbeitern des Partei- und Staatsapparates sowie in Kreisen von Intellektuellen."1 Mátyás Rákosi kehrte am 29. November 1954 aus Moskau nach Budapest zurück und zog am 1. Dezember 1954 in der Sitzung des Politbüros der MDP gegen den „Neuen Kurs" zu Felde. Er bereitete die Sitzung sorgfältig vor. Er rief noch von Moskau aus Gero und Farkas an und schilderte knapp und zugespitzt die Einstellung der sowjetischen Führer. In der Sitzung selbst führte er ebenfalls aus, daß Ungarn dem ganzen sozialistischen Lager große Sorgen bereite. Rákosi machte im wesentlichen Nagy für die Lage verantwortlich. Er warf ihm vor allem den Artikel vom 20. Oktober und seine Schritte zur Rehabilitierung vor: Alle diese Entwicklungen könnten gegen die Partei, gegen Rákosi und sogar gegen die Sowjetunion mißbraucht werden. Es solle unverzüglich alles nur Mögliche dagegen unternommen werden, denn bei einer eventuellen Verzögerung der Korrektur dieser Fehler von mehreren Wochen würde die Partei den Anschein erwecken, schwach und handlungsunfähig zu sein.2 Imre Nagy reagierte zuerst ungewöhnlich hart. Obwohl er dem Ritual folgend zugab, daß die Kritik der Sowjets zu beherzigen sei, meinte er zur politischen Lage, daß „sie stabiler ist, als jemals in den vergangenen fünf Jahren zuvor."3 Er gab seinen Standpunkt auch in der darauffolgenden Sitzung des Politbüros am 9. Dezember 1954 nicht auf. Da die Mitglieder nach vorübergehender Unschlüssigkeit Rákosi unterstützten, konnte Nagy nur noch auf die bevorstehende Sitzung des ZK, in der er im Oktober 1954 den Sieg davontragen konnte, hoffen. Rákosi unterbreitete daraufhin den Vorschlag, eine weitere "Konsultation" in Moskau vorzuschalten.4 In einer langwierigen Diskussion setzte sich diesmal Rákosi mit seinem Vorschlag durch.5 Am 8. Januar 1955 fanden die Verhandlungen zwischen dem Präsidium des ZK der KPdSU und der ungarischen Delegation statt. Auf sowjetischer Seite beteiligten sich alle neun Mitglieder des Präsidiums Bulganin, Woroschilow, Kaganowitsch, Malenkow, Molotow, Mikojan, Perwuchin und Chruschtschow sowie Suslow, Kandidat des Präsidiums, als oberster Verantwortlicher für die Beziehungen zu den Satellitenstaaten. Die ungarische Delegation bestand aus fünf Personen Rákosi, Nagy, Acs, Szalai und Farkas. Zu Beginn der Verhandlungen referierten die Ungarn ihren Standpunkt im Sinne

Plenarsitzung

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AVP RF F. 077. op. 34. por. 9. pap. 175. 11. 169-171. Bericht von Andropow über das Gespräch mit István Kovács am 6. November 1954. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/206. ö. e„ MDP Politbürositzung vom 1. Dezember 1954. dec. 1. S. 6-11.

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Ebd., S. 12-26.

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MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/208. ö. e„ MDP, Politbürositzung vom 9. Dezember 1954. S. 23. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 65/114. o.e., 209. p. Rákosis Brief an Chruschtschow vom 16. Dezember 1954.

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Politbüro-Diskussionen.1 Der "Standpunkt" der Sowjets äußerte sich in in regelrecht verächtlichen Beleidigungen, die größtenteils Beschimpfungen, unflätigen wurden. Es ging nicht nur um die ungehobelte Wortwahl den an geworfen Kopf Nagy des Alltags, in diesem Kreise galten als Beleidigung Eigenschaftswörter wie „unparteigemäß", „parteifeindlich", „feindlich" und Qualifizierungen wie „verfaulte Parteirichtungen" oder Wertungen wie, die Position von Nagy sei „nicht kommunistisch", „kleinbürgerlich", sein Verhalten sei „aggressiv", seine Einstellung „bucharinistisch". Chruschtschow brachte auch Sinowjew und Rykow als Beispiel: „(...) auch sie hatten Verdienste, vielleicht nicht weniger als Sie. Trotzdem gingen wir hart

der letzten

gegen sie vor, als der Partei durch sie Schaden drohte." An wesentlichen Inhalten wurden außer einigen Gemeinplätzen über die wirtschaftliche Situation in Ungarn zwei Themen zur Sprache gebracht. Zum einen wurde über den Artikel Nagys vom 20. Oktober in „Szabad Nép" behauptet, daß dieser eine Plattform für die Fraktion darstelle, die danach strebe, die Einheit der Partei zu zerstören. Zum anderen wurde auf die Aussage von Nagy eingegangen, daß er mit Rákosi im weiteren nicht mehr zusammenarbeiten könne. Dies hielt das Präsidium für nicht akzeptabel. Chruschtschow meinte dazu: „Selbst wenn Sie sich einfach zurückziehen würden, wenn Sie sich nicht mehr äußern würden, würde das als Kampf gegen die Partei wirken. Ihr Schweigen würde bedeuten: Ich habe keine Kraft mehr, ich wollte helfen, es wurde aber nicht zugelassen." Chruschtschow wollte also Nagy nicht entfernen, sondern erreichen, daß er Selbstkritik übt und sich am Beheben der Fehler beteiligt. Er erklärte unmißverständlich, daß schwerpunktmäßig die Prioritäten der Politik vor 1953 bestimmend seien, aber nicht uneingeschränkt: „Wenn wir auf die Industralisierung verzichteten, dann könnten wir mit dem Feind nicht konkurrieren. Es reicht nicht aus, genügend Reserven an Speck zu haben. Wenn wir keine Flugzeuge haben, dann bringt das Übel für uns. Auch das Prinzip der Freiwilligkeit muß aufrechterhalten bleiben, aber die Austritte aus den landwirtschaftlichen Genossenschaften müssen trotzdem verhindert werden." Damit wurde das Prinzip „Kanonen statt Butter" von der Parole „Speck und Flugzeuge vor allem Flugzeuge" abgelöst. Er stellte sich dies in einer Gemeinschaft mit Nagy vor: „Wir möchten mit Ihnen vorwärts kommen. Denken Sie über unsere Kritik nach. Die Autorität von Genossen Nagy muß auch gewahrt werden. Auch sein Ansehen verkörpert Kapital für die Partei. Wir unterstützen ihn, er braucht dafür nur seine Fehler zu korrigieren." „Als Abschluß der Verhandlungen", berichtete Rákosi einige Tage später in Budapest, „wurde Genosse Nagy von den sowjetischen Genossen nach seinem Standpunkt gefragt (...). Er erwiderte, daß er die Kritik, der er unterzogen wurde, akzeptiere und die Fehler korrigieren werde." Da wurde Rákosi von Nagy berichtigt: „Ich sagte, daß ich mir die Ratschläge angehört hätte und versuchen werde die Fehler zu -

korrigieren."2 Rainer,

Urban, Károly, "Konzultációk". Dokumentumok a magyar és szovjet két moszkvai pártvezetok találkozójáról 1954-1955-ben (Konsultationen. Dokumente von zwei der und sowjetischen Führung in Moskau 1954/1955), in: Múltunk ungarischen Verhandlungen 1992, 4. sz., 141-148. pp. Dieses Protokoll enthält die ungarischen Wortmeldungen nicht. Alle im weiteren zitierten Textstellen sind aus dieser Quelle übernommen. Politbüro, Januar 1955, a.a.O., 48. p. M. János

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Wie damals im Juni 1953, verfaßte die ungarische Delegation auch diesmal noch in Moskau einen Resolutionsentwurf in acht Punkten. Darin wurde erklärt, daß die Grundlage für das wirtschaftliche Leben die Industrialisierung bilde und daß die Anzahl der landwirtschaftlichen Genossenschaften erhöht werden müsse. Es gab noch längere Passagen im Entwurf über die staatsbürgerliche Disziplin, über die Produktivität, über die proletarisch-internationalistische Erziehung der Jugend, insbesondere über die der Wettkampfsportler und noch über vieles mehr. Die wichtigste Feststellung der Resolution betraf die Geschichte: „Es muß jeder geringste Versuch abgewehrt werden, die Bedeutung der Tätigkeit der Partei vor 1953 oder die der bislang errungenen großartigen Ergebnisse herunterzuspielen. Es soll nachdrücklich betont werden, daß die Politik der Partei im wesentlichen auch in den Jahren vor dem Juni 1953 richtig war."1 Mit anderen Worten: Dem „Neuen Kurs" wurde ein Ende gesetzt. Auch der erschöpfte und zerbrochene Imre Nagy unterschrieb wie die anderen Delegationsmitglieder das Dokument, welches das Todesurteil für seine politischen Vorstellungen bedeutete. Er wurde durch die Resolution nun dazu verpflichtet, in der Sitzung des Zentralkomitees, das noch im Januar zusammentreten sollte, die Abkehr von seiner Politik persönlich anzukündigen sowie einen Beitrag in „Szabad Nép" „über die erörterten Fragen" zu -

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publizieren.2

Rákosi war enttäuscht, weil er ursprünglich damit gerechnet hatte, daß Nagy schon in Moskau seines Postens enthoben werden würde. Der Ministerpräsident erlitt am 1. Februar einen Herzinfarkt, was Rákosis Absichten förderlich war: Er ließ Nagy förmlich unter Hausarrest stellen, hielt ihn von der Politik fern. Währenddessen nahm er die Vorbereitung der ZK-Sitzung in die Hand. Es lag ihm daran, der zu verfassenden Resolution allmählich einen Ton zu verleihen, der sich deutlich gegen den „Neuen Kurs" richtete. Am 2. März 1955 trat dann endlich, in Anwesenheit von Suslow, dies war zuvor noch nie vorgekomen, das ZK zusammen. Rákosi fügte in seinem Bericht dem Vorschlag von Moskau einen einzigen Punkt eigenmächtig hinzu: Er nannte Nagy als Verantwortlichen für die Mißstände. Am Anfang der sich über drei Tage hinziehenden Sitzung gab es noch einige ZK-Mitglieder, die ihre gegenteilige Meinung zum Ausdruck brachten. Schließlich wurde jedoch eine einstimmige Resolution über die Gefahr der rechten Abweichung, von der die Partei und der Sozialismus bedroht sei, beschlossen.3 Der schriftlich eingereichte Bericht von Nagy zeugt davon, daß er den für ihn zentralen politischen Werten treu blieb.4 Am 14. April fand die nächste Sitzung des Zentralkomitees statt. In der neuen Resolution, der diesmal keine Diskussion vorausging, hieß es: „Die antimarxistischen, antileninistischen, parteifeindlichen MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 62/1. ö. e„ Az MDP KV PB. Resolutionsentwurf der Delegation. 1955. jan. 8. 62-63. pp. Ebd., 64. p. A politikai helyzet és a part feladatai. Az MDP Központi Vezetosége 1955. március 2-4-i ülésének határozata (Die politische Lage und die Aufgaben der Partei. Beschluß der Sitzung des ZK der MDP vom 2.-4. März 1955), Budapest 1955. Text zum geplanten Bericht von Imre Nagy, siehe T. Varga György, Nagy Imre politikai levelei (Politische Briefe von Imre Nagy) 1954. dec. 14. 1956. Oktober. 9. Forum, 1989, 4. sz., 1825. pp. -

Új

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Ansichten von Nagy bilden ein in sich schlüssiges System." Um diese zu realisieren, habe er sich „nicht-parteigemäßer Mittel bedient, ja selbst Fraktionsbildung betrieben". Deshalb werde er durch das Zentralkomitee aus der Führung (ZK und Politbüro) ausgeschlossen und von allen Funktionen entbunden.1 Am 18. April fand die Sitzung des Parlaments statt. Imre Nagy wurde seines Postens als Ministerpräsident entbunden und András Hegedüs zum neuen Ministerpräsidenten "gewählt". Nagy mußte sein Mandat als Abgeordneter zurückgeben, als Vorstandsmitglied der Patriotischen Volksfront zurücktreten und auf den Professoren- und Akademikertitel verzichten. Die Restauration war damit vollendet. Lediglich ein Element fehlte noch: die ausführliche und (selbst)vernichtende Selbstkritik Imre Nagys. Obwohl Nagys Reformpolitik der Malenkows zu gleichen schien, muß der „Neue Kurs" in Ungarn im Kontext seiner eigenen politischen Logik verstanden werden. Aus Nagys Sicht hatte Ungarn in seiner Entwicklung in den vorhergehenden Jahren ein Entwicklungstadium im Übergang zum Sozialismus ausgelassen. Genauer gesagt, seiner Meinung nach war die Periode des „volksdemokratischen Übergangs" unzulässig verkürzt worden, indem eine Politik umgesetzt wurde, die erst für das nächste Entwicklungsstadium charakeristisch gewesen wäre. Nagy dachte nicht an die Modifikation des sozialistischen Entwicklungsmodells, etwa an das Abbremsen eines zu weit gegangenen Prozesses, der auf ein früheres, langsameres aber sicheres Stadium hätte zurückgeschraubt werden müssen. Die, historisch gesehen, kurze Phase eines halben Jahrzehnts seit der Verschärfung des „langsamen Übergangs" (1947-48) hatte eine tiefgreifende politische, wirtschaftlichen und soziale Transformation Ungarns bewirkt. Anknüpfungspunkte an eine volksdemokratische Phase waren nach der stalinistischen Phase kaum noch vorhanden. Zudem existierte anstelle der zerstörten früheren Koalitionsstruktur nun die massive Struktur eines institutionellen Systems, dessen neue Klasse alles beherrschte. Ob er es wollte oder nicht, dies war die gesamtpolitische Struktur, die Imre Nagy zu verändern hatte, dies mußte sein Ausgangspunkt sein. Die Umsetzung der von Moskau angeleiteten „Korrektur" verminderte zunächst die Spannungen. Nagy hätte an diesem Punkt halt machen und die unveränderten stalinistischen Strukturen weiterlaufen lassen können, sozusagen „unter verbesserter Anleitung". Aber dies geschah nicht, weil er es ablehnte. Spannungen innerhalb der Wirtschaft zeigten sich Mitte 1954, was erneut eine Diskussion über die Wirtschaftspolitik auslöste. Zum Jahresende zeigten sich Konflikte anderer Art. Sie betrafen die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und mündeten in politische Auseinandersetzungen. Ihr Ursprung kann auf das System selbst zurückgeführt werden: „Die Stärke des klassischen Systems liegt in seiner Kohärenz, aber dies ist zugleich seine Schwäche. Es ist kaum übertrieben zu sagen, daß es eine so enggeknüpfte Struktur hervorbringt, daß, wenn ein Strang reißt, das Ganze früher oder später auseinanderfallt."2 Das System offenbarte eine fatale Inflexibilität: Es konnte nicht korrigiert werden oder sich selbst korrigieren, da seine Geschlossenheit es unfähig machte, jegliche Abweichung von den ideologischen Zielen zu institutionalisieren. Die MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 52/29. ö. e. Sitzung des ZK der MDP vom 14. April 1955. Kornai János: A szocialista rendszer (Das sozialistische System), a.a.O., 403. p.

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einzigen Alternativen waren völlige Rigidität oder eine Mixtur aus konstanter Korrektur und Verschiebung. Nagy und seine Anhänger lagen 1954 im Kampf mit denen, die

gegen eine Korrektur waren. Er versuchte den Prozeß der Korrekturen zu wirklichen Reformen weiterzuentwickeln. Diese Absicht scheiterte und er erlitt eine politische Niederlage, in deren Ergebnis er im Frühjahr 1955 alle seine Ämter verlor. Das wichtigste Ergebnis der Periode 1953-1955 besteht darin, daß das Selbstvertrauen der stalinistischen Führung Ungarns für immer gebrochen wurde. Die halbherzige Selbstkritik, die Kurskorrektur und die aufgezeigten Alternativen erzeugten Unsicherheit, Reflexion und eine bei bestimmten Führungspersönlichkeiten vorhandene Neigung zur Reform. Später setzte sich diese auch im Apparat, unter den Funktionären und vor allem in der Parteiintelligenz fort. Obwohl die parteipolitische Führungsschicht nach Nagys Sturz so tat, als ob sie von den vorhergehenden Ereignissen kaum berührt worden war, so reagierte sie doch empfindlich auf das kleinste Anzeichen einer Krise. Die andere Seite dieses sozialpsychologischen Phänomens zeigte sich im Herbst 1956, als die ungarische Gesellschaft in Bewegung geriet und eine Massenbewegung hervorbrachte, die in der Revolution gipfelte. Imre Nagy, ein Führer neuer Art an der Spitze unveränderter Strukturen und die neuen Funktionsmechanismen erzeugten anfangs nur einen Seufzer der Erleichterung. Später wurden sie zum Bezugspunkt und Nagys politisch bewußte Anhänger die Anhänger des „Neuen Kurses", die innerhalb des Systems existierten und nach 1955 als „die Parteiopposition" bekannt wurden konnten nicht beiseitegeschoben werden, eben weil ihre Alternative die Grenzen des Systems nicht überschritt. Nagys „Experiment" wurde auch zu einem Bezugspunkt für diejenigen, die als ihr Ziel nichts anderes anstrebten als die Veränderung des Systems. Für sie waren Imre Nagy und ein „Kommunismus mit einem menschlichen Anlitz" ein erster Schritt in Richtung Endziel. Das wichtigste und langfristigste Ergebnis der Korrektur Nagys und seines kurzlebigen Reformexperiments war der Ausgangs- und Bezugspunkt, den es für die weitaus radikaleren Reformen von 1956 bildete. -

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8. Restauration und Parteiopposition Die Beschlüsse des ZK der MDP im Frühjahr 1955 stellten nicht nur auf verbaler Ebene eine Abkehr von der Politik der letzten zwei Jahre dar. Logischerweise gab es auch keine „Werkstattarbeit" mehr, mit der vorsichtig Reformen vorbereitet worden wären. In der Öffentlichkeit galt wieder eine aggressive, auf den exzessiven Aufbau des Sozialismus drängende Rethorik. Der Wirtschaftsplan für das Jahr 1955 und der zweite Fünfjahrplan 1956/1960 räumten der Schwerindustrie und den Investitionen wieder absolute Priorität ein. Mit den ersten Maßnahmen der Hegedüs-Regierung wurde die finanzielle Belastung der Einzelbauern wieder bedeutend erhöht. Die Rückkehr zum sowjetischen Modell vom Ende der 40er Jahre erfolgte trotzdem mit einer Einschränkung. Es gab, als wichtigster Unterschied, keine Rückkehr zur Unterdrückung der Gesellschaft. Es wurden keine größeren Säuberungsaktionen gegen die Anhänger des „Neuen Kurses" durchgeführt, wie dies sonst auch in Ungarn üblich gewesen war. Der Sieg der Rákosi-Gruppe schien selbst ohne solche Maßnahmen vollkommen zu sein. In Wirklichkeit wurde Ungarn aber gerade 1955/56 „zum kranken Teil" des

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sowjetischen Blocks. Diese Entwicklung kann im Grunde genommen auf drei Faktoren zurückgeführt werden. Erstens war deutlich zu erkennen, daß sich der Prozeß der politischen Entspannung fortsetzte, deshalb konnten kriegswirtschaftliche Maßnahmen nicht mehr mit der früheren Bedrohung im Kalten Krieg glaubhaft begründet werden. Die Versöhnung der Sowjetunion mit Jugoslawien, einem Nachbarland Ungarns, war dabei für das Land von besonderer Bedeutung. Zweitens bildete sich um Imre Nagy eine politische Gruppierung, die fähig war, im laufenden Diskurs die Unzufriedenheit der Gesellschaft adäquat zum Ausdruck zu bringen. Drittens trug zum „Krankwerden" der ungarischen Gesellschaft ebenfalls bei, daß noch immer ein Prozeß der moralischen Erosion, ausgelöst durch die Frage nach der Verantwortung für die konstruierten Schauprozesse, im Gange war. Imre Nagy, zum inneren Exil verurteilt, lag viel daran, seine Amtszeit als

Ministerpräsident zu bilanzieren. Ursprünglich wollte er auf die Angriffe mit einer Art "schriftlicher Verteidigung" antworten. In seinem Schreiben ersetzte er dann die Parole „Rückkehr zu 1947/48" durch den Aufruf „Rückkehr zum Neuen Kurs vom Juni 1953". Bald sah

er sich dabei mit dem grundsätzlichen Problem konfrontiert, daß sich das sowjetische Modell nur mit den Kriterien einer Imperiumspolitik beschreiben ließ, was er sich bislang nicht eingestanden hatte. Sein Text über die moralisch-ethischen Fragen

des öffentlichen Lebens in Ungarn wurde sodann zur leidenschaftlichen Kritik der Gewalt- und Willkürherrschaft. Zur Jahreswende 1955/56 ergänzte er seinen Text um die grundsätzliche Position, daß die nationale Unabhängigkeit die prinzipielle Basis des Übergangs zum Sozialismus darstelle. In seiner Analyse zur ungarischen Außenpolitik sprach er sich für eine „aktive Neutralität", nach dem Vorbild Jugoslawiens und für eine Politik der „Blockfreiheit" aus.1 Die Radikalisierung von Nagys Ansichten war durch mehrere Faktoren bedingt. Sie läßt sich zum Teil damit erklären, daß er durch seine Entfernung aus der Machtposition die Innenwelt der Parteiführung aus einer anderen Perspektive sah und eine notwendige Distanz aufbaute. Gegen Ende 1954 akzeptierte er die sowjetische Rolle eines „Schiedsgerichts" nicht mehr und verweigerte jegliche Form der üblichen Selbstkritik. Dieser Schritt brachte ihn einer kritisch-intellektuellen Haltung viel näher als jemals zuvor. Er gab damit sein politisches und persönliches Einzelgängertum auf, da er von nun an als Repräsentant der Anhänger der 1955 verhinderten Reformgedanken auftrat. Innerhalb der Partei regte sich in bezug auf die Rückkehr zur früheren Politik Widerstand. Die Parteiintelligenz, Schriftsteller und Journalisten wurden im Herbst zu engagierten Vertretern der Politik des Neuen Kurses und vertraten ihre eigene Meinung in Parteiversammlungen und in Gesprächen mit der Parteiführung. Informationen über den aufkeimenden Widerstand wurden natürlich auf kürzestem Wege auch in weiteren Kreisen der Intellektuellen bekannt und beeinflußten die allgemeine Atmosphäre in der Gesellschaft.^ Der Sturz von Imre Nagy löste ambivalente Gefühle von Angst und -

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1 2

Imre Nagy, On Communism, a.a.O. Zum Widerstand im Frühjahr 1955, vgl. Aczél Tamas Méray Tibor, Tisztító vihar (dt. u.d.T. Die Revolte des Intellekts), a.a.O., 289-292. pp.; Rainer M. János, Az író helye (Der Ort des -

Schriftstellers), Budapest 1990,

160-181. pp.

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Ablehnung aus.'

Als positive Entwicklung war zu verzeichnen, daß ein Teil der kommunistischen Intelligenz Position bezog. Die Widerstandsreaktionen hingen aber nicht mit seiner Person zusammen, sondern mit der Enttäuschung und dem schlechten Gewissen, das der Angriff auf das kommunistische Ideal (Gesetzesbrüche, Ablösen von Nagy u.s.w.) ausgelöst hatte. „Ursprünglich entfaltete sich der Widerstand gegen die Politik der Rákosi-Führung nicht auf der Basis bewußter Ablehnung, sondern er entstand in der Aufwallung von moralischen Überlegungen und Emotionen, der allgemeinen Logik des politischen Kampfes entsprechend. In der Geschichte der sozialistischen Länder war das Phänomen seit der Hegemonie Stalins ohne Beispiel."2 Die Parteiopposition war vor allem durch ihre moralische Empörung motiviert. Miklós Molnár nannte sie berechtigterweise „eine gefühlsmäßige Elite".3 Der politische Widerstand gegen die Rakosi-Restauration bezog sich auf 1953 und auf Imre Nagy. Andere Gesellschaftsschichten hatten keine Möglichkeit, sich politisch zu artikulieren. Alles andere, was über 1953 hinausging, konnte keine politische Alternative sein solche Bestrebungen konnten nur zu einem Untersuchungsvorgang bei der Staatssicherheit werden. Nagy war nicht damit einverstanden, daß der Widerstand eine organisatorische Form bekommen sollte. Zum Kern der Opposition wurde ein kleiner Kreis von Freunden und Gleichgesinnten, der sich im Herbst 1955 fand. Zu diesem Kreis gehörten Géza Losonczy, ehemaliger Staatssekretär für Volksbildung, 1951-1954 Zuchthausstrafe, damals Hauptmitarbeiter der Tageszeitung -

„Magyar Nemzet" (Ungarische Nation),

Szilárd Ujhelyi, Leidensgefährte von Losonczy im Gefängnis, nach seiner Freilassung Leiter der Generaldirektion Film im Ministerium für Volksbildung, Ferenc Jánosi, Schwiegersohn von Nagy und die Schriftsteller bzw.

Journalisten Sándor Haraszti, Miklós Vásárhelyi, Miklós Gimes, György Fazekas, Pal Löcsey, Tibor Méray. Die meisten von ihnen waren Mitarbeiter der Parteizeitung „Szabad Nép". Ihnen allen wurde nach der Entlassung Nagys 1955 gekündigt. Der Schriftsteller Tibor Déry gehörte ebenfalls zu diesem Kreis und durch seine Vermittlung schlössen dann auch Zoltán Zelk, Lajos Kónya, László Benjamin und Tamas Aczél persönliche Bekanntschaft mit Nagy.4 Sie bildeten den „inneren Kreis", denn ihre Beziehung zu Nagy basierte auf gemeinsamen politischen Ansichten und auf persönlicher Bekanntschaft. Der Entwicklungsprozeß lief weiter. „Jeder brachte einen 1

Gaspar Ferenc Szabó, Klára, Adalékok a fováros lakóinak 1955. évi kozhangulatáról. (Anmerkungen zur Stimmungslage der Hauptstadtbewohner im Jahr 1955), in: Budapest Fövaros Levéltára Közlemenyei '84. Szerk. Szekeres József- Rainer M. János et al, Budapest 1985. 351-

383. pp. 2 3 4

Vásárhelyi Miklós, Az elsö meghiúsított refromtörekves (Der erste, zum Scheitern verurteilte Reformansatz), in: Vásárhelyi, Ellenzékben (In Opposition), a.a.O., 304. p. Molnár, Miklós, Egy vereség diadala. A forradalom torténete (Triumph einer Niederlage. Die Geschichte der Revolution), Budapest 1991, S. 64-77. TH V-150.001/2. dossz. Vernehmungsprotokoll: László Benjamin. 1957. júl. 3.; MOL XX-5-h Nagy Imre és társai pere (Der Prozeß gegen Imre Nagy und seine Mitangeklagten), Op. ir. 11. köt. eigene Aufzeichnungen von Miklós Vásárhelyi 1957. jún. 24.; Vásárhelyi Miklós: Életrajz magyarul, 1954. november 1956. Oktober. (Ungarischer Lebenslauf), in: Ellenzékben (In Opposition), 119. p. -

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Freund mit und stellte ihn vor, und mit diesen Personen, selbst wenn die Verbindung eher locker blieb oder wenn wir ihre politischen Ansichten nicht teilen konnten, hatten wir ständig weiteren Kontakt."1 Es entstanden sich oft überschneidende „sekundäre Kreise von politisch Gleichgesinnten": ehemalige Häftlinge, größtenteils bereits rehabilitierte Kommunisten, Dozenten der Universität für Agrarwissenschaften oder für Wirtschaftswissenschaften und die ehemalige Bewegung der Volkskollegien. Die erste organisierte Aktion der Parteiopposition war im Herbst 1955 das Einreichen eines Schreibens mit dem Titel „Memorandum" beim Zentralkomitee der Partei. Neunundfünfzig renommierte Parteimitglieder bekannten sich zum „Neuen Kurs" und erhoben Protest gegen bestimmte kulturpolitische Maßnahmen (Zensur, Beschlagnahme von Zeitungsexemplaren, u.s.w.). Das Memorandum war eine offene Konfrontation mit der Linie der Restauration. Rákosi hätte Nagy schon im Frühjahr 1955 gerne aus der Partei ausgeschlossen, aber Moskau willigte damals in diesen Schritt nicht ein.2 Die Führung der Sowjets hegte die Hoffnung, auch wenn Nagy nicht „überzeugt" werden könnte, dann werde es wenigstens nicht zu einer Spaltung kommen. Das Memorandum rief aber sowohl bei der ungarischen als auch bei der sowjetischen Führung Unbehagen hervor. Bereits der Ruf „Zurück zu Nagy!" und die Konsistenz der politischen Linie in der Sprache lösten heftige internationale Resonanz aus. Auf die „Angelegenheiten", die im Memorandum angesprochen wurden, antwortete Rakosi mit noch entschiedeneren Reaktionen: Die Werke von einigen klassischen ungarischen Komponisten oder Autoren (z.B. von Bêla Bartok, Imre Madách) und von zeitgenössischen Schriftstellern durften nicht verlegt bzw. nicht aufgeführt werden. „Irodalmi Üjság", die Zeitschrift des

Schriftstellerverbandes, wurde beschlagnahmt.

Das Zentralkomitee der MDP hielt seine nächste Sitzung im November 1955 ab, in der das vergangene halbe Jahr seit dem Richtlinienwechsel ausgewertet wurde. Der Bericht Rákosis berührte sogar solch heikle Fragen wie die Stagnation im Versöhnungsprozeß mit den Jugoslawen (die Verhandlungen über Modalitäten der Abrechnung in den Wirtschaftsbeziehungen waren Ende September 1955 abgebrochen worden) sowie den Schauprozeß gegen László Rajk. Rákosi sprach hier zum ersten Mal aus, daß „wir selbst auch dafür Verantwortung tragen, daß wir gegenüber den Provokateuren dies war ein Hinweis auf Gabor Péter, Berija, Abakumow und deren Komplizen nicht mißtrauisch genug waren und uns täuschen ließen". Zu den Aktivitäten der Intelligenz bemerkte er: „Es gibt (...) einen unheimlich wichtigen Bereich, in dem die Durchführung der Resolution von März nicht gesichert werden konnte und die Lage sich stellenweise auch noch verschlimmerte und das ist die ideologische Front. Die politische Haltung des größten Teils der Schriftsteller ist heute schlechter, als zu Zeiten der Beschlüsse vom März."3 -

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1

2 3

MOL XX-5-h Nagy Imre és társai pere (Der Prozeß gegen Imre Nagy und seine Mitangeklagten). Vizsg. ir. 2. köt. 35. p. Vernehmungsprotokoll: Imre Nagy, 1957. júl. 16. délután. AVP RF F. 077. op. 36. por. 5. pap. 181. gy. 035. 23., 34. pp. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Mátyás Rákosi am 18. März und am 14. April 1955. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 52/31. ö. e„ MDP KV, 1955. nov. 9-12. Alle im weiteren zitierten Textstellen wurden aus dieser Quelle übernommen.

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einigen Wortmeldungen war damals schon zu erkennen, daß die Einheit der Parteiführung erneut gestört war. Zoltán Szántó zum Beispiel betonte u.a., daß Ungarn im Vergleich zur Sowjetunion einiges nachzuholen hätte in der Normalisierung der Beziehungen zu Jugoslawien und im Zusammenhang mit dem Rajk-Prozeß sprach er über eine „außerordentlich große Verantwortung". Innenminister László Piros listete die Aufgaben auf, die sich „an der ideologischen Front, bei der sogenannten Freien Intelligenz, im Bereich von Literatur und Kunst, hinsichtlich rechter, oft auch feindlicher Ansichten ergeben". Nach der Sitzung wurde ein komplexer Maßnahmenplan zur Vorgehensweise gegen die Parteiopposition aufgestellt. Es wurden ein Parteibeschluß zu Erscheinungen rechtsgerichteter Einstellungen im literarischen Leben gefaßt, eine Aktivistenversammlung abgehalten und Disziplinverfahren innerhalb der Partei in die Aus

Wege geleitet.1

Von Rákosi angeregt wurde auch beschlossen, daß „der Zentrale Kontrollausschuß Imre Nagy auffordert, Rechenschaft abzulegen und ihn aus der Partei ausschließt, weil er a) mehrfach die Einheit der Partei gefährdete, Fraktionspolitik betrieb und in seiner Arroganz so weit ging, die Partei und ihre Führung zu verleumden, b) die grundlegende politische Linie der Partei nicht teilt und nicht vertritt und Ansichten verkündet, die dem Marxismus-Leninismus fremd sind."2 Der Beschluß des Politbüros wurde am 3. Dezember 1955 von der Zentralen Parteikontrollkommission

durchgeführt.

Mit dem Ausschluß von Nagy aus der Partei wurde ein Schlußpunkt gesetzt: Der letzte Schritt in der Vernichtungskampagne gegen ihn, die ein Jahr zuvor begonnen hatte, war getan. Damals war jedoch nicht abzusehen, wie weit dieser Prozeß gehen würde. Am 14. Februar 1956 wurde der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eröffnet. Schon im Bericht von Chruschtschow tauchten die ersten Anzeichen einer Wende auf: Er sprach über die Möglichkeit, einen drohenden Krieg doch verhindern zu können, formulierte Thesen zur friedlichen Koexistenz, und unterzog die Theorie zur Verschärfung des Klassenkampfes einer harten Kritik. Der Bericht von Mikojan deutete die Möglichkeit an, daß die sowjetische Partei eine, wenn auch nicht uneingeschänkte Abkehr von Stalins Erbe praktizieren wolle, indem inhaltliche und methodische Traditionen aufgegeben werden. Routinierte Politiker der Opposition wurden natürlich bei geringsten Anzeichen einer Änderung hellhörig. Die Rede von Mikojan war tatsächlich mitreißend. Wie er da rief: „Laßt uns nicht bloß beim Namen Lenins einfach schwören (...)." „In der Abschlußsitzung des Kongresses wurden die Namen der Toten der Arbeiterbewegung aufgezählt, in der Stalin der alphabetischen Reihenfolge entsprechend zwischen den Genossen Klement Gottwald und Tokuda

1

Magyar Dolgozók Pártja határozatai 1948-1956 (Resolutionen der MDP), Összeall. Habuda Miklós, Rákosi Sándor, Székely Gábor T. Varga György. Budapest, Napvilág, 1998, 374-380.

A

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2

pp. T. Varga György, Levéltári dokumentumok Nagy Imreröl (Dokumente im Archiv über Imre Nagy), III. rész 47. p., és A Magyar Dolgozók Pártja határozatai 1948-1956 (Resolutionen der MDP), 387. p.

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genannt wurde

(...)".'

Die

hoffnungsvollen

Anzeichen gewannen etwa einen Monat

später eine sichere Kontur, als die Rede Chruschtschows vom 27. Februar über die Fehler und Verbrechen Stalins, die er in einer geschlossenen Sitzung gehalten hatte,

bekannt wurden. Das Original wurde in den Parteiorganisationen in Form von Auszügen und in westlichen Rundfunksendern verbreitet. In der Sitzung des ZK der MDP vom 12-13. März 1956 stellte sich heraus, daß Rákosi, der beim XX. Parteitag anwesend war, den Text der „geheimen Rede" noch vor seiner Abreise erhalten hatte. Seine Memoiren vergegenwärtigen noch einmal seine Erschütterung und die Angst, die durch die Kritik an Stalin in ihm ausgelöst wurden. Vor seiner Rückkehr nach Ungarn ließ Chruschtschow ihm gegenüber eine Bemerkung fallen, die Rakosi ahnen ließ: Die Führung vertraut ihm nicht mehr uneingeschränkt.2 Trotzdem brachte er es fertig, in seinem Bericht in der ungarischen ZK-Sitzung zu sagen: „Rechtsgerichtete Elemente hofften bei uns auf eine in Erfüllung gehende Prophezeihung, die Diskussionen und Ergebnisse des Parteitages würden ihre Position bestätigen Jetzt können alle klar erkennen, daß diese Hoffnung nicht erfüllt wurde, sich als falsch erwies. Die Arbeit und die Beschlüsse des Parteitages belegen statt dessen, daß die MDP und ihr Zentralkomitee auf dem richtigen Weg sind (...). Die Beschlüsse des Zentralkomitees erwiesen sich in allen Einzelheiten als zutreffend und wegweisend (,..)."3 Einige Teilnehmer kritisierten in ihren Wortmeldungen brav und folgsam die rechten Abweichler, insbesondere Nagy. Andere dagegen, Zoltán Szántó, János Kádár, József Köböl, Márton Horváth und József Rêvai bezogen mehr oder weniger offen eine Gegenposition. Die Vorwürfe wurden erhoben, daß der Partei die kollektive Führung fehle, die Parteimitglieder über politische Fragen, z.B. über die Rehabilitierung nicht informiert würden und das Vertrauen gegenüber der Parteiführung unsicher geworden sei. Außerdem wurde die Frage der Verantwortung für die Gesetzesbrüche und die potentielle Bestrafung der Betroffenen innerhalb der Partei diskutiert. Den letzten Punkt brachte János Kádár zur Sprache und provozierte mit seinem Vorschlag eine wirkliche Debatte. Es wurde auch erwogen, ob eine begrenzte Kritik, die sich von der Parteiopposition absetzt und unterhalb der Parteiführung bleibt, erlaubt werden könne. Die „Unzufriedenen" widersprachen einander auch. Márton Horváth versuchte, den Juni 1953 als sein »Eigentum zu integrieren" und argumentierte damit, daß es ein riesengroßer Fehler wäre, die damaligen richtigen Zielsetzungen heute einfach Nagy zu 1 2

Kerekasztal (Rundtischgespräch), OHA, 153. p., Erinnerungen von András B. Hegedüs. Rákosi Mátyás, Visszaemlékezések (Erinnerungen), Bd. 2, S. 997-999. „Ich gelangte damals noch in Moskau während des Parteitages zu der Überzeugung, daß man endlich einmal klären müßte, was mit uns, der Führung der ungarischen Partei, im Juni 1953 im Kreml eigentlich geschehen war. Ich nahm mir also vor, Genossen Chruschtschow darauf anzusprechen. Ich wagte zu sagen, man müßte endlich einmal über die Fehler sprechen, die die sowjetischen Genossen in der ungarischen Frage begangen hätten. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Das Gesicht von Genossen Chruschtschow drückte Ärger aus, und mit funkelnden Augen erwiderte er: ,Wir haben in der ungarischen Frage keinerlei Fehler gemacht!' Damit war das Gespräch beendet. Mir wurde dabei klar, daß das Mißtrauen mir gegenüber, das ich vor drei Jahren erfahren hatte, im wesentlichen auch jetzt noch bestand." A.a.O., S. 999. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 52/33. ö. e. 9/v. p. MDP KV 1955. márc. 12-13. _

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und entgegengesetzter Meinung. Seine Kritik traf das Politbüro gerade deshalb, weil „man sich 1953/54 länger als notwendig vor den Wagen von Nagy spannen ließ". Plötzlich hatte es den Anschein, als ob diejenigen Parteifunktionäre, die bislang als Anhänger von Imre Nagy und der Opposition galten, sich nun zum selbständigen Handeln entschlossen hätten. Dies taten sie, wie man es von wahren ungarischen Zentristen zu erwarten hatte. Kádár führte einen „Angriff gegen Rákosi mit dem heiklen Thema der Schauprozesse auf eine Art und Weise, die Rákosi zugleich den Ausweg wies. Kádár zeigte theatralisch auf den leeren Platz des abwesenden Mihály Farkas und fragte: „Wie kann es sein, daß hier jemand über einen Platz verfügt, an dessen Händen Blut klebt?" In Rákosis Kopf reifte schon seit längerem der Gedanke, Farkas als alleinigen Sündenbock zu opfern. In dieser Sitzung wurde eine Kommission unter Leitung von István Kovács eingesetzt, die den Auftrag erhielt, die Rolle von Farkas bei den „ungesetzlichen Fällen" zu untersuchen. Es bot sich noch eine weitere gemeinsame Plattform an: Die "unzufriedenen" Anhänger einer „gemäßigten" Reform vom März 1954 hatten an der Beschimpfung von Imre Nagy nichts auszusetzen, im Gegenteil: Auch sie stimmten in den Chor ein. Allein Kádár machte die etwas unklare Bemerkung, daß sich diejenigen, die ihre Hoffnungen mit dem XX. Parteitag der KPdSU verbunden hatten, in anderen Bereichen irren könnten, jedoch unabhängig davon wären sie doch "unsere Leute". Das Einsetzen der Kovács-Kommission und „die inhaltliche Integration" des III. Parteitages bei Bestätigung der Resolution von März 1955 stellten einen passablen Kompromiß dar. Der Resolutionsentwurf wurde einstimmig angenommen. Trotz der seltsamen Interpretation des sowjetischen Parteitages durch Rákosi bedeutete dieser für die Parteiopposition ein gewichtiges politisches Kapital. Die Anzahl derjenigen, die die Ansichten der Opposition teilten, wuchs im Frühjahr 1956 schnell. Zu Imre Nagy selbst hatte nach wie vor nur der innere Kreis von Gleichgesinnten Kontakt. Diese fungierten aber, ähnlich wie Nagy, als Kern und Meinungsführer im eigenen Freundeskreis, der sich gewöhnlich am Arbeitsplatz, in einem Lokal oder in einer Gastwirtschaft versammelte. Organisierte politische Aktivitäten fanden zunächst nicht statt, obwohl es durchaus Initiativen dazu gab, z.B. von Miklós Gimes. Es bildeten sich jedoch formelle und informelle oppositionelle „Institutionen" wie etwa der Schriftstellerverband, die Redaktionen der Zeitschrift „Béke és Szabadság" (Frieden und Freiheit) sowie von „Magyar Nemzet" (Ungarische Nation), Freundeskreise um Losonczy, Haraszti, Vásárhelyi, Gimes, fachliche Gruppierungen in bestimmten Berufsfeldern wie die Wirtschaftswissenschaftler im Institut für Wirtschaftswissenschaften und der „Petöfi-Kreis", in denen die Parteiopposition vorherrschend war sowie informelle Gruppierungen, ehemalige Führer der Bewegung der Volkskollegien (NÉKOSZ), die Schüler von Georg Lukács, Assistenten an verschiedenen Universitäten in Budapest, die „unter den Einfluß des ,Petöfi-Kreises' geraten waren" als auch um einzelne Personen auf dem Lande in Kecskemet, Debrecen, Szolnok, Kaposvár, Miskolc, Györ, die ebenfalls als Kern jeweils einer Gesellschaft fungierten.1 Sándor Haraszti zählt je nach „Berufsgruppen" mehr als siebzig Namen auf:

„überlassen". József Rêvai

war

strikt

dagegen

-

1

TH V-150.001/3. dossz. Markus István 1957. máj. 12.

kihallgatási jkv (Verhörprotokoll

von

István

Markus),

200

Funktionäre des ZK, Journalisten, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Universitätsdozenten, Angestellte im Parteiapparat, Rehabilitierte und NEKOSZ-

Mitglieder, die mit der oppositionellen Gruppe sympathisierten.1 Ihre Gesamtzahl bewegte sich zwischen 200 und 300 Personen. Die Parteiopposition funktionierte als informelle Gruppierung, die jedoch einen gewissen Druck auf das öffentliche Leben ausübte. Sie verfügte im Bereich der Informationsvermittlung und in den Medien zwar nur über unbedeutende Positionen, dafür aber über weitgreifende Beziehungen. Die Opposition kannte ihre Gegner ausgezeichnet, sie waren ja gemeinsamer Herkunft und sie kannte deren wunde Punkte genau. Mit den großangelegten Aktionen der Opposition im Frühjahr 1956 auf den Mitgliederversammlungen des Schriftstellerverbandes, in den Artikeln für „Irodalmi Újság", „Béke és Szabadság", „Magyar Nemzet", „Müvelt Nép", in anderen Presseorganen und in den Debatten des „Petöfi-Kreises" wurde unter Berufung auf den XX. Parteitag der KPdSU die ungarische Parteiführung in zahlreichen Punkten der schärfsten Kritik unterzogen: Die Kritik betraf vor allem die Wirtschaftspolitik, den Umgang mit Fragen der Öffentlichkeit, die politischen Schauprozesse, das kulturelle Leben usw. Die Ansichten der Parteiopposition beeinflußten die Meinungsbildung der Intelligenzler, die sich als Parteimitglieder am politischen Diskurs beteiligten. Es war vor allem die Altersgruppe unter 40 Jahren, die durch ihre Betrachtungsweise Sprache, Stil und Thematik der politischen Debatte prägte.2 Aus diesen Entwicklungen im politischen Leben, die parallel zu der Entstalinisierungswelle in der internationalen Politik liefen, resultierte der Sturz Rákosis im Juli 1956, im Zuge dessen Imre Nagy und die ihm Gleichgesinnten wieder die Chance bekamen, in Machtpositionen zu gelangen. Über die Reaktionen des weiteren gesellschaftlichen Umfelds sind keine Dokumente überliefert. Spärlichen Angaben nach sollen auch Gruppen, die der Partei nicht so nahe -

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1 2

TH V-l 50.001/3. dossz. Haraszti Sándor kihallgatási jkv., 1957. máj. 14. 100-101/v. pp. Literatur dazu in: 1956 kezikönyve (Handbuch 1956), Föszerk. Hegedüs B. András, 2. köt. Bibliografía. Szerk. Litván György. Budapest, 1956-os Intézet, 1996. 15-50. pp., különösen Aczél

Méray Tibor, Tisztító vihar (Sturm der Läuterung), írók lázadása (Aufruhr der Schriftsteller) 1956-os írószovetségi jegyzökönyvek (Protokolle des Schriftstellerverbandes zu 1956), Sajtó ala rend. Standeisky Éva. Budapest, MTA irodalomtudományi Int., 1990., Hegedüs B. András, Petöfi Kör a reformmozgalom fóruma 1956-ban (Petöfi-Kreis Forum der in: A Petöfi Kör vitái híteles Reformbewegung), jegyzökönyvek alapján (Diskussionen im PetöfiKreis aufgrund authentischer Protokolle), Föszerk. Hegedüs B. András. 1. köt. Budapest, Kelenföld-ELTE, 1989. 9-32. pp., Litván György, A Nagy Imre-csoport (Die Gruppe um Imre Nagy), Századvég 1989, 1-2. sz. 103-109. pp., A Petöfi Kör vitái híteles jegyzökönyvek alapján (Diskussionen im Petöfi-Kreis aufgrund authentischer Protokolle), Föszerk. Hegedüs B. András. 1-7. köt. Budapest, Kelenföld-ELTE, Múzsák, 1956-os Intézet, 1989-1994., Rainer M. János: Az író helye (Die Position des Schriftstellers), Vásárhelyi Miklós: Az elsö meghiúsított reformkísérlet (Der erste, zum Scheitern verurteilte Reformansatz), in: Vásárhelyi, Ellenzékben (In Opposition), in: Ders., Ellenzékben (In Opposition), a.a.O., 237-317. pp., Ötvenhatrol nyolcvanhatban (Über 1956 im Jahre 1986), a.a.O., 73-111. pp. Tamas

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_

201

standen oder sogar als ihre Gegner galten, diese Aktionen intensiv und mit größter Aufmerksamkeit verfolgt haben.1 Die Rákosi-Führung erkannte schon Ende April, daß die Konsequenzen des XX. Parteitages in Ungarn mit Manövern, die in der Tschechoslowakei oder in der DDR zum Erfolg führten, nicht aufgefangen werden konnten. Sie wurde mit der realen Situation, mit der unaufhaltsamen Kraft der neuesten Entwicklungen in Mitgliederversammlungen konfrontiert, bei denen der XX. Parteitag und die Resolution der MDP von März erörtert wurden. Die meisten Wortmeldungen befaßten sich mit den Fragen der Verantwortung im Rajk-Prozeß und dem Schweigen der Partei zu diesem Thema. Manche Teilnehmer bezogen auch klar Stellung dazu, wie Imre Nagy „zum Schweigen gebracht" und aus der Partei ausgeschlossen wurde, sowie zu Formen und administrativen Wegen, mit denen gegen oppositionelle Journalisten und Schriftsteller vorgegangen wurde.2 Die Meldungen über die Turbulenzen der politischen Geschehnisse in Budapest konnten nun auch der Aufmerksamkeit der sowjetischen Parteiführung nicht mehr entgehen. Die sowjetische Führung, die in den Jahren nach 1953 eine langsam fortschreitende Politik der vorsichtigen Öffnung betrieb, zugleich aber auf der Einheit ihres Reichs als höchste Priorität bestand, mußte nun das Entstehen einer komplexen Krise an der Peripherie, vor allem in Polen und Ungarn, zur Kenntnis nehmen. Diese Länder standen aber grundsätzlich nicht im Vordergrund der Überlegungen der Sowjets, weil sie der Überzeugung waren, mit den durchgeführten Korrekturen der vergangenen Jahre die akuten Probleme bewältigt zu haben. Chruschtschow und seine Berater mußten sich über andere Problemfelder ernsthaft Gedanken machen: über die „friedliche Koexistenz" mit dem Westen, über eine daraus resultierende neuartige Verteidigungsund Sicherheitspolitik, über die Entwicklung strategischer Waffen, über die Versöhnung mit Jugoslawien und Tito, über die Rolle und den Stellenwert Chinas innerhalb des sozialistischen Lagers und über ihr Verhältnis zu jenen Ländern, die im modernen Sprachgebrauch als „Dritte Welt" bezeichnet werden (dazu zählten für Chruschtschow u.a. die arabischen Länder u. Indien). Der latente Machtkampf um die Nachfolge Stalins innerhalb der „kollektiven Führung" war auch noch nicht zu Ende ausgefochten. Bereits seit 1953, verstärkt jedoch seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956, hatte die sowjetische Führung große Anstrengungen unternommen, um dem Land ein vorteilhaftes Image zu verschaffen. Diese Bestrebungen zeigten sich außer in der permanenten Beteuerung ihrer friedlichen Absichten, der Betonung ihrer geduldigen und einsichtigen Politik, auch im Umgang mit den Satellitenstaaten. Moskau versuchte, offene und grobe Eingriffe die für die letzten Jahre der Herrschaft Stalins so typisch zu vermeiden. Die sowjetische Führung wollte „sympathisch" gewesen waren -

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1

Csepeli György Dessewffy Tibor Dulovics Dezsö Tóka Gabor, Menekültek és elméletek. Az 1956-os forradalom után Nyugatra menekültek attitüdjeinek vizsgálata az Amerikai Egyesült Allamokban. (Flüchtlinge und Theorien. Untersuchung der Attitüden bei Flüchtlingen in den USA, die nach der Revolution 1956 in den Westen flohen), in: Evkönyv 1998 (Jahrbuch 1998). Budapest 1956-os Intézet, 1998, 253-286. pp. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. F. 2340. Sitzung des Politbüros der MDP vom 5. April 1956. Berichte über die Mitgliederversammlungen, siehe ebd., 61/726. ö. e. 1-6. pp., sowie 276.f. 62/38. -

2

ö. e„ 1-15. pp.

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202

erscheinen und versuchte sich in der Rolle des „weisen Vaters", dessen Autorität nicht durch elterliche Bestrafung, durch Terror und Einschüchterung, sondern durch die Art von Achtung und Wertschätzung gesichert wird, wie sie etwa dem ältesten und erfahrensten Familienmitglied pflichtgemäß zusteht. Dieses veränderte Auftreten, dieser neue Stil war in einem gewissem Grad tatsächlich im Ergebnis der Abgrenzung vom ein Gegensatz zu dessen Grobheit und Führungsstil Stalins entstanden Unberechenbarkeit. Außerdem entsprach eine solche Art von Paternalismus der Persönlichkeit des neuen ersten Mannes, Nikita Chruschtschow, auch viel mehr. Getragen wurde dieser kalkulierte Image-Wechsel von der nüchternen Einsicht, daß die früheren terroristischen Methoden in ihrer Endkonsequenz den Zielsetzungen des Systems nicht wirklich dienlich gewesen waren. Die Zielsetzung blieb jedoch unverändert: die Stabilisierung der im Zweiten Weltkrieg eroberten Gebiete zu erreichen und die Verwirklichung der globalen Berufung, der Welt durch die richtige Ideologie zu ihrem Glück zu verhelfen. „Der Geist des XX. Parteitages", diese Formel war auch eine sorgsam verpackte Botschaft, die mit sehr konkreten Angeboten an verschiedene Zielgruppen gerichtet war. Zu diesen Adressaten gehörten unter anderen die ebenfalls mit einer Vormachtstellung im Lager liebäugelnde chinesische Führung, der jugoslawische Präsident Tito in Belgrad, die neuen Führungskreise der afroasiatischen Staaten, die sich aus der westlichen Abhängigkeit befreien wollten aber eben auch die Parteiführungen der Letzteren Satellitenstaaten. sollte das neue Beispiel vor Augen führen, osteuropäischen daß sie ihre Macht nun auch auf andere Weise ausüben könnten: mit wesentlich größerer Selbständigkeit als bisher, zum Wohle ihrer Völker und zum Wohlgefallen der sowjetischen Führer. Das hatte außerdem den Vorteil, daß sie so von einigen ihrer Sorgen der direkten Machtausübung in dieser Region befreit werden würden. Aber im Frühjahr 1956 stand das Präsidium der KPdSU vor der Herausforderung, sich entscheiden zu müssen, wie es auf die Freiheitsbestrebungen in Ost-Europa reagieren sollte. -

-

9. Der Sturz von Rákosi Durch die üblichen Informationskanäle gelangten die Meldungen über reformkommunistische Stimmungen, besonders innerhalb der ungarischen Intelligenz sowie darüber, daß die Parteiopposition in Ungarn immer stärker auftrat, bis nach Moskau. Sie fanden jedoch anfangs keine besondere Resonanz.1 Das jeweilige politische Stadium in den Satellitenstaaten auf der Skala von „ausgewogene Kräfteverhältnisse" bis „Krisenzustand" konnten die Sowjets an der aktuellen

der engeren Parteiführung und ihrer Effektivität ermessen. Deshalb standen für Botschafter Jurij Andropow die personellen Veränderungen im Politbüro

Zusammensetzung

Die Meldungen der Botschaftsmitarbeiter in Budapest erreichten erst mit einer Verzögerung von 10-15 Tagen das Außenministerium und wurden auf die höheren Führungsebenen gar nicht weitergeleitet. Vgl.: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda. Dokumenti. (Red. Je. D. Orechowa, V. Tj. Sereda, A S. Stikalin. Moskwa, Rosspen, 1998, 47-100. pp.

203 und der Farkas-Fall im Mittelpunkt der Aufmersamkeit.1 Die nach dem XX. Parteitag im ungarischen Politbüro einsetzenden mit Blick auf Rakosi einsetzenden Diskussionen um die Konsequenzen der Stalin-Kritik für Ungarn wiesen auf beginnende Differenzierungen hin. Dieses Faktum verstanden die Sowjets als Symptom für Machtkämpfe um die Nachfolge, also für ernsthafte „Betriebsstörungen". Laut den Berichten Andropows schien die Mehrheit im Politbüro der MDP angenommen zu haben, daß die Integration Kádárs in die Parteiführung die Parteiopposition beruhigen würde. Von der anderen Seite von Rákosi und Hegedüs wurde dieser Schritt jedoch als ein „Nachgeben gegenüber den rechten Opportunisten" bewertet. Bei der Kaderauswahl von Personen für die oberste Führung in den Satellitenstaaten besaßen die Sowjets ein Vetorecht. Dessen war sich auch die ungarische Führung bewußt, da sie diese Tatsache bei den Machtkämpfen vor Ort strategisch immer gekonnt als Argument nutzte. So beriefen sich Rákosi und Hegedüs, als sie sich gegen die Kandidatur von Rêvai und Kádár für dieses Gremium aussprachen, auf allgemeine kaderpolitische „Grundprinzipien" der sowjetischen Führung: im Falle von Rêvai auf den Antisemitismus, bei Kádár auf das angeblich fehlende Vertrauen gegenüber sogenannten Rehabilitierten.2 Um sicher zu gehen, verdächtigten sie Kádár der Sympathie für die Opposition. Alarmiert durch die Berichte von Andropow traf am 7. Juni 1956 Michail Suslow in Budapest ein. Der in Moskau für ungarische Angelegenheiten zuständige Sekretär der KPdSUFührung unternahm den Versuch, die Krise, ausgelöst durch die Machtkämpfe um die Nachfolge Rákosis, unter allen Umständen abzuwenden. Die im Politbüro gegen Rákosi Intrigierenden verwies er in die Schranken, in der Frage nach der Verantwortung für die konstruierten Prozessen beschränkte er sich auf die Person von Mihály Farkas. Er wußte natürlich über die tatsächliche Verantwortung Rákosis Bescheid, aber aufgrund der damaligen internationalen Lage und der Fehler Stalins und Berijas entlastete er Rákosi teilweise vom Vorwurf der Verantwortung für die Prozesse. Im Falle von Farkas erklärte er sich einverstanden, daß unter Ausschluß der Öffentlichkeit eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft in die Wege geleitet oder auch ein Gerichtsverfahren durchgeführt wird. Dieser Fall könne vom Zentralkomitee behandelt werden, aber unter Ausschluß der Öffentlichkeit und als nachgeordneter Punkt auf der Tagesordnung. Suslow hielt es für akzeptabel, Rêvai und Kádár in das Politbüro zu holen. Kádár sei ja der Sowjetunion treu, „wenn er zum Mitglied des Politbüros gewählt würde, müßten sich auch die Unzufriedenen beruhigen und Kádár selbst wäre dann moralisch diesem Gremium verpflichtet".3 „Mit einer Abberufung der Parteiführung oder der Absetzung des Genossen Rákosi, mit einer Zerschlagung des Zentralkomitees -

Berichte

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von Andropow über Gespräche mit Rákosi (1956. ápr. 18., in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 62-63. pp.), mit Rákosi und Hegedüs (1956. ápr. 29., uo., 63-66. pp.), mit Hegedüs (1956. máj. 4„ uo. 67-69. pp.), mit Rákosi (1956. máj. 6., uo. 69-71. pp.). Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 63-66. pp. (Über das Mißtrauen den Rehabilitierten gegenüber), vgl. Veres Maria/ Bächer Iván: Beszélgetések Aczél Györggyel (Gespräche mit György Aczél) Mozgó Világ, 1992, 3,sz„ 51-60. pp. Bericht von Suslow über seinen Besuch in Budapest in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 85-87. pp.

204 würde dem Feind freiwillig eine Chance geboten", stellte Suslow fest, „die dieser im Moment noch gar nicht sieht."1 Aber in der Frage, was nun mit Imre Nagy und der Opposition geschehen sollte, erhielt das Politbüro der MDP von Suslow keinen Rat. Während ein Treffen der Ministerpräsidenten der RGW-Länder stattfand, bat die sowjetische Führung die Parteichefs dieser Länder für den 22.-23. Juni 1956 nach Moskau. Sie wurden vom Besuch Titos in Moskau unterrichtet. Die Mitglieder der ungarischen Delegation Rákosi, Gero, Hegedüs und Berei besaßen bislang nur schriftlichen Informationen darüber, daß der jugoslawische Regierungschef in Moskau mit Jubel empfangen worden war. Bei dem Treffen wurde aber das Gegenteil verkündet und die Gegensätze zwischen den Sowjets und den Jugoslawen wieder ganz besonders betont. „Genosse Mikojan bemerkte weiterhin, Tito hätte der tschechoslowakischen und der polnischen Partei vorgeworfen, daß sie gegen feindliche Aktivitäten nicht entschlossen genug auftreten würden, (...) und dies treffe auch im Falle Ungarns zu. Auch Genosse Chruschtschow teilte diese Meinung, denn er fügte hinzu, es dürfe von den anwesenden Genossen nicht übel genommen werden, aber die sowjetischen Genossen würden sich in diesem Punkt mit Tito solidarisieren, weil sie eben derselben Ansicht sind'."2 Chruschtschow hielt dem Ersten Sekretär der polnischen Partei, Ochab, vor, daß der Text seiner „geheimen Rede" vor dem XX. Parteitag auf dem Schwarzmarkt in Warschau für 200 Zloty zu erhalten sei. Chruschtschow schloß mit der Aufforderung, daß „die Mittel der Macht endlich gegen den Feind eingesetzt werden müssen". Die Macht dürfe nicht wie von Stalin mißbraucht werden, aber sie solle angewandt werden. Zur Bekämpfung feindlicher Bestrebungen sollten Staatssicherheit, Gerichte sowie andere Organe der Unterdrückung eingesetzt werden. „Wenn wir auf diese Mittel nicht zurückgreifen, würden wir als liberale Schwätzer eingestuft, die nur mit Worten drohen können, und wir müßten sterben."3 Dem sowjetischen Regierungschef, Marschall Woroschilow, kam Rákosi am Ende der Verhandlungen verunsichert und besorgt vor. Er erkundigte sich bei ihm, „wie sich Imre Nagy verhält". Es stellte sich heraus, daß Rákosis Sorgen sich eher auf den Fall Mihály Farkas bezogen, zu dem das Zentralkomitee noch nicht Stellung genommen hatte und daß ihn die Versöhnung mit den Jugoslawen bedrückte.4 Doch nach seiner Rückkehr in Budapest kündigte er im Politbüro an, innerhalb von zwei Tagen eine Sitzung des ZK abzuhalten, in der „eine kurze Resolution" verabschiedet werden solle, -

1

2

3

-

MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/310. ö. e„ 20. ill 22. pp. MDP PB 1956. jún. 8. Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Suslow und den Politbüromitgliedern am 8. Juni 1956. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/293. ö. e., 11. p. MDP PB 1956. jún. 28. Zum Bericht über das Gipfeltreffen in Moskau, vgl. Az MDP Politikai Bizottsága 1956. június 28-i ülésének jegyzökönyve. Az 1956. júniusi moszkvai kommunista csúcstalálkozó és Magyarország (Protokoll zur Sitzung des Politbüros der MDP am 28. Juni 1956. Das Gipfeltreffen im Juni 1956 in Moskau und Ungarn), veröffentlicht von Urbán, Károly és Vida, István. Társadalmi Szemle, 1993. 4.sz.

82-95.p. Ebd.

Aufzeichnung von goda, 97-100. pp.

Woroschilow

vom

26. Juni 1956 in:

Sowjetski Sojus i wengerski

krisis 1956

205 man die Feierlichkeiten zum Geburtstag von Imre Nagy als politische Demonstrationen und ebenso die Teilnehmer an dieser Aktion verurteilt".1 Das Zentralkomitee hielt am 30. Juni 1956 tatsächlich eine Sondersitzung ab. Sie war geplant als erster Schritt der Partei gegen die massiver werdenden Angriffe der „Rechten". Der Angriff konzentrierte sich namentlich auf den „Petöfi-Kreis". Den Schock, den die Streiks am 28. Juni in Posen auslösten, erkennt man daran, daß die Mehrheit der Redner einen kämpferischen, äußerst aggressiven Ton anschlug. Der Erste Sekretär legte zwar den Text des Resolutionsentwurfs vor2, aber er äußerte sich nur über die Pressekampagne und über Maßregelungen im Apparat. Einige wollten sich damit nicht begnügen. András Hegedüs sprach z.B. „über das Nagy-Komplott" und schlug vor, daß „eine Anklage erhoben, ein Gerichtsverfahren eingeleitet wird (...)".3 Anschließend teilte István Kovács die schlechte Nachricht mit, daß die „Thematik" des „Petöfi-Kreises" auch in den Aktivistenversammlungen von Fabriken auftauche, daß es also den „Rechten" doch gelungen sei, „bis in die Arbeiterklasse vorzudringen". Gero drückte sich erstaunlicherweise zurückhaltender aus. „Es muß ein Beschluß gefaßt werden", hieß seine Antwort für diejenigen, die sich unschlüssig waren, denn die gab es auch. „Wenn wir aber Maßnahmen zum Einsatz der Sicherheitskräfte beschließen würden, werden sich sicherlich manche veranlaßt fühlen, ein pauschales Urteil zu fallen: Die sind ja schon wieder diktatorisch geworden."4 Rákosi rückte in seinem Schlußwort ebenfalls eher die politischen Mittel in den Vordergrund. Gleichzeitig verbreitete sich die Annahme, daß die Verhaftung der Anhänger der Opposition bevorstünde. Konkret, so die Gerüchte, existiere eine Liste mit 400 Namen der zu Verhaftenden, auf Platz 1 stehe Imre Nagy gefolgt von den Prominenten der Opposition. Diese Information sei auf Umwegen aus dem Parteiapparat durchgesickert. Auch Berichte, daß István Kovács, als er von der Existenz einer solchen Liste erfuhr, die Information unmittelbar an den sowjetischen Botschafter weitergegeben hätte, sollten

„in der

derselben Quelle stammen. In der „politischen Folklore zu Budapest" ist das Motiv überliefert, Rákosi sei hierauf innerhalb von wenigen Wochen abberufen worden.5

aus

1

2

3 4

MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/293. ö. e. 1. p. MDP PB 1956. jún. 28. Resolution, siehe „Szabad Nép" (Freies Volk), 1956. júl. 1. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 52/34. ö. e., MDP KV. 1956. jún. 30. 33-35. pp. Ebd., 61. p. Die Geständnisse von Ferenc, Jánosi sind am ausführlichsten, MOL XX-5-h Nagy Imre és társai pere (Der Prozeß gegen Imre Nagy und seine Mitangeklagten),Vizsg. ir. 34. köt., 120. p. Vernehmungsprotokoll: Ferenc Jánosi, 1957. máj. 14., ebd., 136-137. pp. Ders. 1957. máj. 20., ebd., 25. köt. 230-231. pp. Ders. 1957. nov. 15„ siehe noch ebd. 2. köt. Vernehmungsprotokoll: Sándor Haraszti (Zeuge), 1957. aug. 6., TH V-150.001/3. dossz. 104. p. Vernehmungsprotokoll: Sándor Haraszti, 1957. máj. 14., Uo. V-142.373. dossz. Vernehmungsprotokoll: István Markus 1957. ápr. 25., TH V-150.016/1. dossz. 143. p. Vernehmungsprotokoll: József Schurecz, 1957. nov. 21. Diese 400- Personen-Liste wurde zum Bestandteil der politischen Folklore von 1956 und tauchte Jahrzehnte später in zahlreichen Erinnerungen wieder auf. Es gab besonders viele Hinweise auf sie, nachdem János Berecz 1969 in einer "offiziellen" Bearbeitung der Geschichte von 1956 eine Bemerkung machte, ohne jegliche Quellenangabe oder Anmerkung, die das damalige Existieren dieser Liste zu bestätigen schien. Berecz, János: Ellenforradalom tollal és ,

206

Rákosi überlegte sich in der Tat einen Gegenschlag. In den Gerüchten wurden natürlich selbst die ersten Anzeichen für eine solche Maßnahme verzerrt und übertrieben. In der Sitzung des Sekretariats der MDP am 2. Juli 1956 wurden überwiegend agitatorisch-propagandistische Aufgaben behandelt, die darauf abzielten, „den Angriff der Rechten abzuwehren". Es wurde außerdem tatsächlich offiziell der Auftrag erteilt, nicht allein eine, sondern sogar zwei Listen zusammenzustellen. „Es soll eine Liste aufgestellt werden mit den Namen derjenigen, die am Geburtstagsempfang von Imre Nagy teilnahmen.1 (...) Es soll auch untersucht werden, welche Atmosphäre in den Organisationen der Miliz herrscht, und wer sich an der letzten Diskussion über die Presse im ,Petöfi-Kreis' beteiligte und parteifeindlichen Äußerungen Beifall klatschte."2 Am 5. Juli befaßte sich das Politbüro nur noch mit agitatorisch-propagandistischen Aufgaben, irgendwelche Listen tauchten nicht mehr auf. In dieser Sitzung wurde z.B. angeordnet, daß „der Sicherung einer gesunden politischen Atmosphäre bei der Miliz größte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß."3 Die schriftliche Fassung der Resolutionen enthielt aber nicht in jedem Fall alle Beschlüsse. So teilte Gero dem sowjetischen Botschafter am nächsten Tag z.B. zusätzlich mit, daß das Verteidigungsministerium den Auftrag erhalten habe, einen Handlungsplan auszuarbeiten, nach dem die Volksarmee bei einer feindlichen Provokation eingreifen und wieder geregelte Zustände herstellen könnte.4 Am 12. Juli las Rákosi in der Politbüro-Sitzung seinen Bericht für die nächste Sitzung des Zentralkomitees am 16. Juli vor. Er zeichnete mit beißender Polemik das Ausmaß des Angriffs rechtsgerichteter Kräfte z.B. in der Presse-Debatte des „Petöfi-Kreises". Aus westlichen Rundfunkberichten über diese Debatte zog Rákosi die Schlußfolgerung, daß „einige Teilnehmer dieser Debatte in unmittelberem Kontakt mit dem Feind stehen". Über etwaige administrative Maßregelungen verlor er jedoch kein einziges Wort.5 Es ist also mit Recht davon auszugehen, daß Rákosi ununterbrochen auf die Geheimhaltung interner Beschlüsse beharrte. Trotzdem müssen Informationen im Zusammenhang mit den obigen Listen im Beschluß des Sekretariats vom 12. Juli 1956 und über alle anderen Entscheidungen offensichtlich durchgesickert sein. Die Vermutung, daß sie durch István Kovács, Erster Sekretär in Budapest, auf Umwegen in die Öffentlichkeit lanciert wurden, dürfte zutreffen. Als Mitglied des Sekretariats könnte er die Listen eingesehen haben. Außerdem war er einer von denen, die sich schon als Kandidat für die Nachfolge Rákosis sahen. Er kann sich zur Weitergabe der Informationen entschlossen haben, um die Opposition in Angst zu versetzen und um

fegyverrel 1

2 3 4

5

1956 (Gegenrevolution mit Schreibzeug und Gewehr), Budapest: Kossuth, 1981, (2. kiad.), 65. p. Imre Nagy Imre empfing am 7. Juni 1956 zu seinem 60. Geburtstag in seiner Wohnung die Mitglieder der Opposition sowie zahlreiche namhafte Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler. Von der Führung der MDP wurde dies als politische Demonstration eingestuft. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 54/403. ö. e„ MDP Titk. 1956, júl. 2. 1-2. pp. Ebd., 276. f. F. 2430. MDP PB 1956. júl. 5. 1-3. pp. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Gero am 6. Juli 1956, in: wengerski krisis 1956 goda, 137-142. pp. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. F. 2431. MDP PB 1956. júl. 12. 96. p.

Sowjetski Sojus

i

207

dafür sprachen auch andere anschließend als Friedensstifter auftreten zu können Fakten. Die Nachricht über die Listen erreichte Nagy und seine Freunde über Imre Mezö, 2. Sekretär des Budapester Parteikomitees. Kovács waren die Absichten Rákosis auch bekannt. So traf er sich in jenem Zeitraum mit Andropow und trug mit diesem Treffen tatsächlich zum Sturz von Rákosi bei. Er unterrichtete Andropow bei dieser Gelegenheit jedoch nicht von der Liste mit 400 Namen, sondern übergab ihm handschriftliche Aufzeichnungen von Gabor Péter, dem ehemaligen Leiter der Staatssicherheit, der im Gefängnis saß. Diese Papiere lieferten zu allgemein bekannten Fällen die Beweise für die persönliche Verantwortung Rákosis für den Rajk-Prozeß und für die anderen konstruierten Schauprozesse. Die Überprüfung des Rajk-Prozesses und die Aktionen der Opposition zerrütteten Anfang Juli 1956 die Vertrauensbasis im engeren Kreis der Führung und im Parteiapparat der MDP immer mehr. Am 6. Juli bat Ernö Gero über Andropow Moskau um Hilfestellung. Gero war der Ansicht, daß Suslows Empfehlungen vom Juni keine Basis mehr boten, um die Einheit des Zentralkomitees aufrechtzuerhalten. -

Gleichzeitig berichtete Andropow der Moskauer Führung, daß Gabor Péter aus der Haft einen Brief an István Kovács, den Leiter der Untersuchungkommission im „Fall Mihály Farkas", geschrieben habe, aus dem „hervorgehe", daß die Untersuchung gegen László Rajk 1949 von Rákosi und den sowjetischen Beratern initiiert und organisiert worden sei. Andropow löste Alarm aus: In der nächsten Sitzung des ZK könne Rákosi in einer äußerst unangenehme Situation geraten, zumal sich die engste Führung nicht der zuständigkeitshalber ebenfalls im Besitz der einig sei.1 Als Ernö Gero mit Péters dem Brief von Péter an Kovács die sowjetische war Aufzeichnungen Botschaft in der Bajza-Straße aufsuchte, bat er Andropow um Rat: Sollte er dieses Schreiben Péters dem ZK vorlegen oder sollte er es nur an die Politbüro-Mitgliedern und vor allem: Sollte er vorher Rákosi warnen? Würde er ihn weitergeben unterrichten, dann könnte „Rákosi, der an der Vorbereitung seines Berichtes für die nächste Sitzung des Zentralkomitees arbeitet, irritiert reagieren".2 Für Andropow war das die geringste Konsequenz, die sich ergeben konnte. Rákosi wurde noch am selben Tag darüber informiert, daß Kovács mit dem Brief von Péter auch Gero aufgesucht habe, um bei diesem den Rücktritt von Rákosi zu initiieren. Andropow gegenüber trat Gero für Rákosi ein, gab aber zu erkennen, daß es ziemlich schwierig werden könnte, ihn erfolgreich zu verteidigen. Zu diesem Zeitpunkt war der Brief von Péter durch die Vermittlung von Ischtschenko, dem sowjetischen Oberberater bei der ungarischen Staatssicherheit, vermutlich bereits in Moskau. Die Warnzeichen Andropows veranlaßten das Präsidium der sowjetischen Partei, sich in seinen Sitzungen am 9. und -

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von Andropow über das Gespräch wengerski krisis 1956 goda, 137-142. pp.

Bericht

mit Gero

am

6. Juli 1956, in:

Sowjetski Sojus

Újabb

i

Der Brief von Péter, siehe részletek Rákosi Mátyás, lemondatásáról (Neuere Details zum erzwungenen Rücktritt von Mátyás Rákosi), veröffentlicht von Irina Morosowa Vida István, in: Társadalmi Szemle, 1996, 3. sz„ 76-94. pp. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Kovács und Gero am 11. Juli 1956, in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 143-147. pp. -

208 12. Juli 1956 mit der Lage innerhalb der MDP zu befassen. Das unverhüllte Auftreten von zwei wichtigen Mitgliedern des Politbüros gegen Rákosi sprach für sich. Moskau war politisch immer noch damit beschäftigt, die Versöhnung mit Tito voran zu bringen. Dabei stand Rákosi der KPdSU nun mit seinem unflexiblen Verhalten und seinen bisherigen Intrigen gegen Tito im Weg. In der jugoslawischen Presse erschienen bereits im Sommer 1956 Beiträge, die den Aktionen der ungarischen Anti-Stalinisten eine so bemerkenswerte Sympathie entgegenbrachten, daß dies für Moskau unangenehm zu werden begann. Über diese Artikel zur ungarischen Parteiopposition hinaus wurde in der jugoslawischen Presse immer öfter über erschreckende gesellschaftliche Bewegungen in den sozialistischen Ländern berichtet: über die Unruhen in Posen, über die Presse-Debatte im „Petöfi-Kreis" und dann Anfang Juni 1956 über die aufflackernde Streikbewegung in Budapest.1 Aus dem Protokoll der Sitzung des Präsidiums der KPdSU vom 9. -12. Juli geht hervor, daß zu diesem Zeitpunkt noch der Bericht von Suslows Mission maßgebend war. Chruschtschow ließ Tito am 15. Juli die Mitteilung zukommen, daß die Sowjetunion entschlossen sei, Ungarn um jeden Preis zu halten. Der Botschaft war auch zu entnehmen, daß die sowjetische Führung zwar zur Versöhnung mit Tito tendierte, es ihr aber nicht in den Sinn kam, etwa die Macht mit Jugoslawien zu teilen, z.B. in einem Ungarn nach Rákosi.2 Das Präsidium schickte diesmal Anastas Mikojan mit der Anweisung nach Ungarn, „im Zusammenhang mit dem Fall László Rajk die Position Rákosis zu verbessern (...), das heißt, Genosse Mikojan soll mit Kovács ausführlich verhandeln und ihn nachdrücklich zurechtweisen."3 Mikojan muß außer den allgemeinen Instruktionen von Chruschtschow auch bevollmächtigt worden sein, auf der Grundlage eigener Erfahrungen vor Ort in seinem Vorgehen von der Resolution abzuweichen, was wahrscheinlich auch Chruschtschows Intentionen entsprach.4 In seinem ersten Bericht aus Budapest vom 13. Juli 1956 formulierte Mikojan sehr deutlich, daß Andropow in der Beschreibung der dortigen Situation nicht im geringsten übertrieben habe. Ihm war offensichtlich auch mitgeteilt worden obwohl sich in seinem Bericht dazu kein Hinweis findet daß Rákosi am Tag seiner Anreise, am 12. Juli, vom Politbüro de facto aus seinem Amt entfernt worden war. Rákosis Entwurf an das Zentralkomitee wurde nämlich von den PolitbüroMitgliedern einstimmig abgelehnt. Mit diesem Schritt entzogen die Politbüro-Mitglieder Rákosi das Vertrauen, denn die Zurückweisung eines Berichts, den der Erste Sekretär dem Zentralkomitee vorlegte, wurde als ein offener Mißtrauensantrag gewertet. In Rákosis Berichtsentwurf war die Opposition pauschal verteufelt und zum Feind erklärt am

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Vgl. den Bericht von Andropow über das Gespräch mit András Hegedüs nach dem 27. Juni 1956 in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 118-123. pp. Über die Streiks siehe Bericht von Andropow über das Gespräch mit Rákosi, Gero, Kovács, Vég und Boldoczki am 4. Juli 1956, ebd., 134-137. pp.

Veljko Micunovic: Tito követe voltam (Ich war Titos Botschafter), 86.p., dt. u.d.T.: Moskauer Tagebücher 1956-58), Stuttgart, 1982. Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 149-150. pp. Am 3. November gab Chruschtschow im Kreml zu, daß die letzte Entscheidung von ihnen beiden getroffen war: „Ich und Mikojan machten einen Fehler, als wir statt Kádár Gero vorgeschlagen haben."

Ebd., 545. p.

209 worden dies war der Stein des Anstoßes.1 Mikojan reagierte flexibel und veränderte seine Moskauer Direktive: Nun mußte Rákosi gehen, damit die Führung der ungarischen Partei stabilisiert werden konnte.2 Ein Verhandlungsmarathon begann: Im Zeitraum zwischen der Ankunft Mikojans am Morgen des 13. Juli und dem Beginn der ZKSitzung am 18. Juli, also innerhalb von fünf Tagen, wurden mindestens zehn formelle Politbüro-Sitzungen und weitere informelle Besprechungen seiner Mitglieder abgehalten. Mikojan war gezwungen, spontane Entscheidungen zu treffen. Er schlug András Hegedüs für den Posten des Ersten Sekretärs und Bêla Szalai für den des Ministerpräsidenten vor. Diese Vorschläge spiegelten die „Personalpolitik" des KPdSUPräsidiums, die den Grundsatz vertrat: Junge Kader ungarischer Abstammung in die Führung! Mit anderen Worten: Es sollten Personen in die Führung geholt werden, die politisch ohne Gewicht waren und/oder sich in der früheren Phase weniger kompromittiert hatten und vor allem keine Juden waren. Dieses Prinzip wurde analog der Wahl Imre Nagys im Jahr 1953 angewandt der einzige Unterschied bestand darin, daß diesmal nicht die Moskau-Kader ins Spiel gebracht wurden. Der Weg zur „Krönung" führte über drei Stufen. Am 13. Juli führte Mikojan ein informelles Gespräch mit Rákosi, Gero, Hegedüs und Bêla Vég. Anschließend wurde noch eine gemeinsame Sitzung in Anwesenheit von Mikojan abgehalten. Am nächsten Tag trat dann das Politbüro zu einer Sitzung zusammen, bei der die Sowjets nicht anwesend waren. Auf der ersten Stufe machte Mikojan den Vorschlag, Rákosi abzuberufen. Er nannte auch gleich seine Kandidaten für die Neubesetzung. Mit letzteren waren drei Personen nicht einverstanden. Hegedüs wollte gerne Gero auf dem Posten des ersten Sekretärs sehen. Rákosi und Gero waren wenn auch nicht ohne Vorbehalt für die Wahl von János Kádár. Rákosi und Vég waren gegen die Wahl von Gero, obwohl Mikojan anscheinend nichts dagegen gehabt hätte. Hegedüs war mit der Nominierung von Kádár nicht einverstanden. Das Procederé war festgefahren, und Mikojan mußte sich in der Sitzung des Politbüros am 13. Juli damit zufrieden geben, daß die Abberufung Rákosis offiziell beschlossen wurde.3 Mit dem Schritt, Kádár für diesen Posten vorzuschlagen, sollte vielleicht lediglich ausgetestet werden, wie weit die Sowjets bereit waren, die kritische Linie in das Politbüro zu integrieren. Andropow wies schon in einem früheren Bericht darauf hin, daß die ungarische Führung besorgt sei, ob die Sowjets nach dem XX. Parteitag und der Resolution des ZK der KPdSU über den Personenkult, die auch der Öffentlichkeit bekannt war, dazu neigen würden, Imre Nagy wieder aus der Versenkung zu holen.4 In der Sitzung des Politbüros drückte sich Mikojan zur Frage des Parteiausschlusses von Imre Nagy unmißverständlich aus: „Dies wurde früher und wird jetzt auch für einen -

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1

2

3 4

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MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. F. 2437. MDP Politbüro-Sitzung vom 12. Juli 1956. Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 152-157. p. Die Resolution der Politbüro-Sitzung stimmt mit dem Vorschlag von Mikojan überein. Vgl. Ebd. Zur Sitzung des Politbüros am 13. Juli 1956 wurde kein ungarisches Protokoll geführt. Der ausführlichste Bericht wurde von Andropow verfaßt, der ebenfalls anwesend war. Vgl. Istoritscheski Archiv, 1993, No. 4. 110-118. pp. Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 160-173. pp. Ebd., 118-124. pp.

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Fehler gehalten. Wenn Imre Nagy immer noch Mitglied der Partei wäre, wäre er verpflichtet, sich der Parteidisziplin zu unterwerfen. Nagy soll klar zu verstehen gegeben werden, daß er mit dem Kampf gegen die Partei nichts bewirken kann, um wieder in die Partei aufgenommen zu werden. Dieser Weg im Kampf gegen die Partei führt für ihn ohne Zweifel ins Gefängnis. Wenn er aber bereit ist, sein Verhalten zu ändern, dann kann er damit rechnen, daß er wieder Parteimitglied werden darf."1 Die ungarischen Genossen nahmen dies mit großer Erleichterung auf und fügten noch hinzu: „Nicht in der jetzigen Situation, (...) erst nach einer Weile, wenn er bereits Schritte in Richtung auf die Partei zu getan haben wird und zur Verbesserung der Fehler beigetragen hat, kann er wieder aufgenommen werden." Kovács bat Mikojan ausdrücklich, dies Nagy persönlich mitzuteilen.2 An der Politbüro-Sitzung am 14. Juli nahm Mikojan nicht teil, wahrscheinlich aus der Überlegung, daß sich die ungarischen Genossen ohne ihn einigen sollten, welche Person sie ohne Gegenstimme wählen könnten. Während die Sitzung noch im Gange war, führte er ein langes Gespräch mit Kádár. Dieser griff hauptsächlich Rákosi an vielleicht hatte ihn die Information, daß schon die Frage der Nachfolge erörtert wurde, noch nicht erreicht. Mikojan interessierte sich vor allem für die internen Verhältnisse der ungarischen Führung und für Kádárs Vergangenheit.3 Der sowjetische Berater rechnete also mit Kádár. In Moskau wollte aber niemand, daß sich ähnliches wie 1953 abspielt, als Nagy als Kandidat der Sowjets von Rákosi und der Mehrheit des Politbüros mit negativen Gefühlen aufgenommen wurde. Die ungarische Führung verinnerlichte das politische Kalkül und die Taktik der Sowjets derart, daß sie ihr Vorbild beinahe übertraf: Gero folgte in der Hierarchie Rákosi. Gero muß dies mit Hegedüs abgestimmt haben, denn Hegedüs war von Gero „entdeckt" und gefördert worden. Am 14. Juli wiederholte der de facto schon abberufene Rákosi seinen Vorschlag im Politbüro, daß nämlich Kádár zum Ersten Sekretär gewählt werden sollte. Sein Wort wog sicherlich nicht mehr viel. Gero schlug diesmal statt Kádár Hegedüs vor. Dieser hatte sich gegen die Kandidatur schon in einer früheren Runde einmal viel expliziter gewehrt, als das Gero damals selber getan hatte. Unter diesen Umständen wurde dann Gero von Hegedüs auf Vorschlag der Mehrheit zum Ersten Sekretär gewählt. Obwohl Mikojan die taktischen Züge im Spiel wahrnahm, segnete Moskau die Wahl von Gero ab.4 Es blieb danach nichts anderes übrig, als die sich gegen Gero sträubenden ZK-Mitglieder zu bearbeiten. Die mit Spannung erwartete Sitzung des Zentralkomitees begann am 18. Juli 1956 und dauerte drei Tage. Aber ihr Ausgang stand schon am ersten Tag fest. Rákosi bat darum, wegen seiner angeschlagenen Gesundheit von seiner Funktion entbunden zu -

Ebd., 155-156. Ebd., 156. p. Ebd., 160-168. pp. Ebd., 168-173. pp. Die Erinnerungen von András Hegedüs dazu, die von den schriftlichen Dokumenten z.T. abweichen, siehe ders.. A törtenelem és a hatalom igézetében. Életrajzi elemzések. (Im Banne der Geschichte und der Macht. Biographische Erinnerungen), Budapest 1988, 266-268. p. Die Erinnerungen von Rákosi stimmen mit den Dokumenten mehr oder weniger überein und schildern dies ziemlich ausführlich. Siehe Rákosi, Mátyás, Visszaemlékezések (Erinnerungen), 2. köt., 1018-1020. pp.

211

werden. Seinem Wunsch wurde nach einer kurzen Debatte vom ZK entsprochen. Einige seiner Mitglieder, die vorher nicht eingeweiht worden waren, konnten ihre Überraschung und Reaktion trotz der Anwesenheit von Mikojan nicht unterdrücken und brachten ihre Reaktion offen zum Ausdruck. Ernö Gero, zweiter Mann der Führung von 1953 wurde zum Ersten Sekretär gewählt. János Kádár, wurde gleichzeitig Sekretär des Zentralkomitees, Károly Kiss, József Rêvai und György Marosán, ein früherer Sozialdemokrat, wurden Mitglieder des Politbüros. Die Ergebnisse wurden schon am nächsten Tag in der Presse veröffentlicht, um diese Entscheidungen für die Mitglieder der Partei und für das Land glaubhaft und unwiderruflich zu machen. Anschließend wurden lange Debatten geführt, in denen sich jeder überzeugen wollte, daß mit den verantwortungsvollen personellen Entscheidungen endlich alle Schwierigkeiten aus der Welt geschaffen worden waren. Der frisch abberufene Rákosi kam sich beinahe als ein für die Einheit der Partei Geopferter vor, und der „fiebrige Zustand der Partei" (dieser Ausdruck stammte von Mikojan) begann sich sofort zu bessern. Die Teilnehmer hörten sich die lange Rede von Mikojan an, die zahlreiche interessante Einzelheiten über die Tätigkeit Stalins während und nach dem Krieg enthielt, wie z.B. über sein krankhaftes Mißtrauen den Mitgliedern des Politbüros gegenüber. Es wurde über die Verdienste Rákosis geredet, über unvorteilhafte Eigenschaften von Gero, über die eingeschlagene Taktik im Farkas-Fall, sogar über das richtige Verhalten gegenüber Imre Nagy wurde gesprochen. Alle waren von der neuen Formel von Gero, vom Spruch „tabula rasa" begeistert, mit dem er, anstatt lange Diskussionen über die Politik und die Prinzipien der Vergangenheit zu führen, sie abschließen wollte. Die Führung der MDP brachte es fertig, eine Entscheidung voller Halbheiten zu fallen, die falsche Person an die Spitze zu stellen, ihre eigene Ratlosigkeit zu demonstrieren und dies alles im Glauben, alles bestens geregelt zu haben.1 Mit dem Ablauf dieser Sitzung wurde das sich schon seit Monaten anbahnende Bündnis zwischen führenden Rakosi-Anhängern und den unzufriedenen Mitgliedern der Führung, die, wie Kádár und Rêvai, Konsequenzen aus dem XX. Parteitag der KPdSU ziehen wollten, endgültig besiegelt. Dies geschah ohne Rákosi, und die Basis war nicht mehr die undifferenzierte Abgrenzung von Imre Nagy und der Opposition. Das Zentralkomitee folgte der Linie, die Mikojan vorgeschlagen hatte und allmählich wurde ein Prozeß in Gang gesetzt, mit dem Imre Nagy in die Partei zurückgeführt werden sollte. Diese Möglichkeit bot Gero den Schriftstellern und Journalisten der parteiinternen Opposition an, als er ankündigte: „Wir werden mit ihnen zu einer Einigung kommen."

Protokoll der ZK/Sitzung, siehe MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 52/35. ö. e.. Die Mitteilung von der Abberufung Rákosis siehe „Szabad Nép" (Freies Volk), 1956. júl. 19. Bericht von Ernö Gero Ebd. Die Resolution zur Sitzung: Pártegységgel a szocialista demokráciáért! (Mit der Einheit der Partei für sozialistische Demokratie!), in: „Szabad Nép" (Freies Volk), 1956. júl. 23. Zur Auswertung der Sitzung, vgl. Rainer, M. János: Az író helye (Der Ort des Schriftstellers), 279283. pp.

212

Parteiführung, Opposition,

10. Vor der Revolution:

Massenbewegungen Ablösung Rákosis durch Gero brachte wie nicht anders zu erwarten war keine Lösung der Probleme, sondern verschärfte die Krise. Die Abberufung des Ersten Sekretärs verunsicherte diejenigen Gruppen, für die seine Person eine Art Garant dargestellt hatte. Durch die Wahl von Gero waren auch jene Kreise nicht zu gewinnen, Die

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die gegen die Politik Rákosis eingestellt waren. Der Rücktritt von Rákosi führte keineswegs zu einer gründlichen Erneuerung der Parteiführung. Die Kader im zentralen Parteiapparat besaßen somit auch weiterhin die Möglichkeit, die oberste Führung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Spaltung im Politbüro blieb bestehen, in entscheidenden Fragen gab es keinen gemeinsamen Standpunkt. Die Konsequenz daraus war, daß sich das oberste Entscheidungsgremium weder auf adäquate Reaktionen bei plötzlich auftauchenden Problemen, noch auf Lösungen für die großen Herausforderungen verständigen konnte, mit denen das Politbüro nun konfrontiert war. Die politische Entscheidungsschwäche der neuen Führung führte nicht zu einer Beruhigung der Lage, sondern mobilisierte geradezu den Widerspruch von immer größer werdenen Teilen der Partei gegen die Parteiführung. Mikojan hatte am Tag seiner Ankunft in Budapest, dem 13. Juli, festgestellt: „Unser Zentralkomitee und das ganze sozialistische Lager sind in Sorge wegen der in Ungarn entstandenen Lage. Wir gehen davon aus, daß man nicht zulassen darf, daß in Ungarn irgendein unerwartetes, unerfreuliches Ereignis eintritt. Wenn Hilfestellungen irgendwelcher Art, Ratschläge oder sonst etwas benötigt werden, dann ist unser Zentralkomitee bereit, den ungarischen Genossen hilfreich zur Hand zu gehen, damit sie die Lage wieder normalisieren können."1 Die unangenehmen Geschehnisse kamen, wenn auch nicht unerwartet, für Moskau bestimmt schneller als erwartet. Der KGB meldete schon unmittelbar nach der erfolgreichen Plenarsitzung des ungarischen ZK die unveränderte Fortsetzung der oppositionellen Tätigkeit. Andropow schickte am 30. August 1956 eine umfangreiche Analyse der ungarischen Lage nach Moskau und lenkte dabei die Aufmerksamkeit nachdrücklich auf die kritischen Beiträge in der Presse.2 Die Tatsache, daß die Krisenanzeichen ständig stärker wurden, registrierte nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die Ungarn selbst. Mit einer Explosion rechnete aber trotzdem keine Seite. In den Mittelpunkt des Interesses rückte die eventuelle Rückkehr des ehemaligen Ministerpräsidenten Nagy in die Politik. „Kommt Nagy in Ungarn wieder in eine Machtposition?", so lautete die Frage im Titel einer CIA-Analyse vom September 1956. „Momentan sieht es danach aus, daß die Aussichten Nagys auf eine Rückkehr in das politische Leben immer größer werden, obwohl sich vor nicht allzu langer Zeit sein Name unter den 400 Personen befand, die verhaftet werden sollten." Seine mögliche Rückkehr, so die weitere Erkärung, könne als Zugeständnis an Jugoslawien und die ungarische Öffentlichkeit gedeutet werden. Selbst Gero könne

Sowjetski Sojus i wengerski krisis Ebd., 240-254. pp.

1956

goda,

153. p.

213

dadurch

gewissermaßen legitimiert werden,

weil

er

sich dann den Anschein

geben

könnte, die Regierung „liberalisiert zu haben". „Bis zu welchem Maße ist wohl Nagy bereit, seine Unabhängigkeit für eine solche Abmachung zu opfern?"1 In dem Zentralorgan der jugoslawischen Kommunistischen Partei, „Borba" (Der Kampf), erschien am 23. August eine Würdigung Nagys, in der behauptet wurde, er sei bereits wieder in die Partei aufgenommen worden. Da Wladyslaw Gomulka schon am 2. August 1956 tatsächlich wieder aufgenommen worden war, ging die westliche Presse davon aus, daß Ungarn in Zukunft unter Führung von Imre Nagy wieder zum Experimentierfeld des internationalen Kommunismus werde und sich die sogenannten Liberalen der kommunistischen Bewegung mit Unterstützung von Präsident Tito wieder

organisierten.2

Seit Juli wartete die Parteiopposition darauf, daß die Gerö-Führung ihre programmatischen Vorstellungen veröffentlicht und gegenüber Imre Nagy eine Geste des Entgegenkommens, und sei es eine indirekte, zeigt. Weder das eine noch das andere geschah. Ende August 1956 erschien eine nichtssagende Resolution des Zentralkomitees über die Frage der Intelligenz, in der es die Andeutung einer geringfügigen Selbstkritik der Partei gab, aber lediglich einige unverbindliche Versprechungen gemacht wurden. Diese Resolution wurde zum Auslöser einer Pressekampagne der Partei-Opposition gegen die Parteiführung. Die wichtigsten Forderungen faßte Géza Losonczy in „Müvelt Nép" (Gebildetes Volk) zusammen: Er forderte, daß sich die personellen Änderungen vom Juli 1956 an der Spitze der Parteiführung auch in den nachgeordneten Ebenen der Parteihierarchie bis nach unten hin fortsetzen müssten. Die Politik der Partei müsse insgesamt überprüft werden, alle Resolutionen der MDP, die „dem Geist" des XX. Parteitages widersprächen, seien außer Kraft zu setzen. In den Verbänden der Intelligenz seien demokratische Wahlen durchzuführen und es müsse eine allgemeine Rehabilitierung ohne Einschränkungen geben.3 In den kommenden Wochen entfaltete sich eine demokratische Bewegung in der ungarischen Gesellschaft, deren Forderungen und Ziele das Programm der Parteiopposition übertrafen. Im Herbst 1956 wurde das politische System in der nun freien Presse und besonders in den Versammlungen des Schriftstellerverbandes offen und ohne Tabus kritisiert. Die begangenen Verbrechen der Kommunisten wurden der Führung der MDP überall im Land öffentlich vorgehalten. Die Abberufung Rákosis und die anschließende Hilflosigkeit der Gerö-Führung hatten eine ihrer Ursachen in einer neuen Qualität der öffentlichen Meinung. Diese Entwicklung setzte bereits nach Stalins Tod ein und artikulierte sich seit dem XX. Parteitag der KPdSU immer kritischer. Die Absetzung von Rakosi demonstrierte die Möglichkeit einer Veränderung, die Hilflosigkeit der Gerö-Führung zeigte die Schwäche der monolithischen Parteiherrschaft. Es gab nun keine Barrieren mehr für die öffentliche Debatte, auch Tabuthemen konnten nicht mehr unterdrückt werden. Wenn Rákosi, Symbol des stalinistischen Systems, das die Sowjets in Ungarn implantiert Schweizerische

Osteuropa-Bibliothek, David Irving-Sammlung. CIA-file of Imre Nagy (declassified documents). Will Nagy Return to Power in Hungary? September 1956, 1. p. Nagy Comes Back. Budapest Shift Spotlighted. Christian Science Monitor, 1956. szept. 1. Losonczy, Géza, Az értelmiségi határozatról. (Zur Resolution über die Intelligenz.), in: „Müvelt Nép" (Gebildetes Volk),

1956. szept. 2.

214 so verstärkten sich die Überlegungen, daß es dann offensichtlich real und lohnend sei, sich über weitergehende Veränderungen den Kopf zu zerbrechen. Wenn Journalisten der oppositionellen Presse und Kritiker in Diskussionen nicht mehr von der Staatssicherheit festgenommen wurden, dann geschähe vielleicht auch denjenigen nichts mehr, die ihre Kritik nicht mehr aus einer sozialistischen Überzeugung heraus formulieren oder die radikalere Forderungen vorbringen. Die Konsequenzen dieses „Kohärenz-Paradoxon" wurden allmählich sichtbar. Nach einer plausiblen Erklärung des Ökonomen János Kornai beruhte die Macht des sowjetischen Systems auf seiner Kohärenz, die aber zugleich seine Schwäche ausmachte. Seine These beschrieb er mit einem plastischen Bild: Das System „bildete ein überaus festes Gewebe, das sich aber nach dem Reißen eines einzigen Fädchens früher oder später ganz auflöst". ' Mitte September erhielt das Präsidium der KPdSU vom sowjetischen Außenministerium ein kurzes Memorandum, das die Berichte Andropows zusammenfaßte und großes Unheil prophezeite. Der Führung der MDP wurde darin vorgeworfen, daß sie in „Fragen der Macht Positionen räumt". So sei zugelassen worden, daß ein leitender Redakteur der Parteizeitung „Szabad Nép" einen Artikel über die ungarische Minderheit in Siebenbürgen veröffentlicht hatte. Sein Text wurde in dem Memorandum zum Anlaß genommen, einen möglichen Konflikt innerhalb des sozialistischen Lagers zwischen Ungarn und Rumänien an die Wand zu malen.2 Am 6. Oktober 1956 wurde László Rajk beigesetzt: das namhafteste kommunistische Opfer des Rákosi-Regimes. Hunderttausende von Trauernden nahmen daran teil. Sie betrachteten dieses Ereignis symbolisch, als Auftakt zur Beerdigung des Stalinismus. Einige Tage später, am 13. Oktober, beschloß die Führung der MDP, Imre Nagy ohne jegliche politische Diskussion wieder in die Partei aufzunehmen. Wäre dieser Schritt, die Rehabilitierung des früheren Ministerpräsidenten, nur ein paar Wochen früher erfolgt, hätte er noch einen politischen Wandel bewirken können, aber zu diesem Zeitpunkt wurden die Geschehnisse schon durch die Eigendynamik der Massenbewegung bestimmt. Diese Bewegung gab sich mit der Erneuerung der Partei nicht mehr zufrieden. In Szeged beschlossen am 16. Oktober Studenten in einer Vollversammlung der dortigen Universität die Gründung von MEFESZ (Magyar Egyetemisták és Föiskolasok Egységes Szervezete, auf deutsch: Bund der ungarischen Universitäts- und Hochschulstudenten). Damit war eine unabhängige politische Studentenorganisation gegründet worden, die unabhängig vom DISZ existieren wollte. Ein Riß im Gewebe des monolithischen Systems war entstanden und weitete sich in den folgenden Tagen unaufhaltsam aus. Am 22. Oktober erreichten Budapest die Nachrichten über die personelle Änderung in der polnischen Parteiführung. Wladyslaw Gomulka, der eine ähnliche politische Linie verfolgte wie Nagy und der zu den

hatten, abgesetzt werden konnte,

verfolgten

Kommunisten

zählte, wurde

vom

Zentralkomitee der

polnischen

Partei

zum

Kornai, János, The Socialist System. The Political Economy of Communism, Princeton 1992. Princeton

University Press. Gromyko schildert die ungarische Lage, 17. Sept. 1956, in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 261-164. Das Zentralkomitee der KPdSU diskutierte den Bericht am 27. September 1956, ebd. 278. p.

215

Ersten Sekretär ernannt. Chruschtschow flog nach Warschau und die sowjetischen Truppen wurden in Alarmzustand versetzt. Durch das einheitliche Auftreten der polnischen Führung und die Zusage Gomulkas, daß Polen ein verläßliches Mitglied im Warschauer Pakt bleiben werde, wurde ein möglicher militärischer Konflikt

abgewendet.

Mit wachsender Furcht mußte die ungarische Parteiführung zusehen, wie die öffentliche Meinung und die Redaktionen von Presse und Rundfunk immer mehr von der Parteiopposition bzw. der Massenbewegung eingenommen wurden. Trotzdem betrachtete die Parteiführung die Neubestimmung der ungarischen Position innerhalb des sozialistischen Lagers für wichtiger als die überfälligen innenpolitischen Reformen im Lande selbst. Gero reiste im September in die Sowjetunion und traf sich mit Tito. Beide Parteiführer einigten sich auf den Termin eines Gipfeltreffens zwischen ihren beiden Ländern in Jugoslawien. Kádár fuhr zum Parteitag der Chinesischen Kommunistischen Partei. Gero teilte am 12. Oktober, unmittelbar vor seiner Abreise nach Jugoslawien, dem sowjetischem Botschafter Andropow mit: „Jetzt zeichnet sich klar ab, daß Nagy beabsichtigt, mit seinem eigenen Programm in die Partei zurückzukehren. Es ist vorauszusehen, daß sich eine erneute Beteiligung Nagys an der Führung nicht allzu lange verzögern lassen wird, als Mitglied des Zentralkomitees oder eventuell des Politbüros. Im letzteren fühlt man sich deutlich unter Druck gesetzt. Wenn aber Nagy wieder eine Machtposition einnehme, dann müsse auch damit gerechnet werden, daß er vielleicht wieder ,Herr der Lage' wird." Gero malte ein düsteres Bild davon, wie populär Nagys politische Ansichten inzwischen seien. Diese Politik setze die weitere Industrialisierung aus, „um eine Atempause einzulegen", sie würde die Kollektivierung der Landwirtschaft abbremsen und sei durch „Pseudodemokratismus" gekennzeichnet. Das ungarische System würde „im Falle der Verwirklichung dieser gefährlichen Vorstellungen" noch weniger Gemeinsamkeiten mit dem Sozialismus aufweisen als jenes in Jugoslawien.1 Trotz dieser kritischen Lageeinschätzung reiste die komplette Parteiführung (Gero, Hegedüs, Kádár, Kovács u.a. ) nach Belgrad und kehrte erst am 23. Oktober zurück. Andropow erschrak mehr über die vollkommene Hilfslosigkeit des Ersten Sekretärs der ungarischen Partei als über die von diesem prognostizierten Horrorvisionen bezüglich der möglichen Politik von Imre Nagy. Er berichtete nach Moskau, wenn die „Politik zur Vermeidung jeglichen Widerstandes" weiter betrieben werde, dann übernehme Nagy wahrscheinlich die Führung des Landes. Auch im Gespräch mit Zoltán Vas am Vortag hatte er sich davon überzeugen können. Vas behauptete, daß Nagy bei einer eventuellen Aufnahme in die Führung nicht vorhabe, die Rolle „des dreizehnten Politbüro-Mitglieds" zu spielen. Er setze für seine Beteiligung an der Führung sogar voraus, daß sein Programm konsequent verwirklichen wird.2 Nagy hat sein „Programm" nie formuliert. Dafür wurden aber ab Mitte Oktober immer wieder die Forderungen der Studenten veröffentlicht. Als weiteres öffentliches Bericht von Andropow über das Gespräch mit Ernö Gero am 12. Oktober 1956 in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 300-306. pp. Bericht von Andropow über das Gespräch mit Zoltán Vas am 12. Oktober 1956, in: ebd. 306-310. pp.

216

Tabu wurde der Abzug der sowjetischen Truppen behandelt, obwohl das Thema in der Öffentlichkeit präsent war. Wenige Tage vor dem 23. Oktober berief das Politbüro in Abwesenheit von Gero und Kádár das Zentralkomitee zu einer Sondersitzung ein.1 Von dieser Sitzung erfuhren auch Nagy und seine Anhänger. Sie nahmen sich vor, bis zum

Zeitpunkt

der Sitzung des ZK ihr Programm fertigzustellen, damit Nagy es dem Politbüro vortragen konnte. Eine hastige Arbeit begann. Aber die Sitzung des ZK konnte dann auch aus anderen Gründen nicht wie geplant abgehalten werden. Der Umgang mit der Krise in Polen, seine Entwicklung und ihr Ausgang spiegelten die Schwächen und das Dilemma in der sowjetischen Außenpolitik wieder und ließen erahnen, daß die sowjetische Führung ebenfalls in sich gespalten war. Die weiteren Geschehnisse zeigten sehr deutlich, daß auf den ersten Blick scheinbar unvorhergesehene Ereignisse das Präsidium der KPdSU veranlaßten, chaotisch und hastig zu reagieren. Da aber die Gefahr eines Ausscheidens von Polen aus dem Warschauer Pakt nicht bestand, entschied das Präsidium, wahrscheinlich nach einer kontroversen Debatte, in Polen eine politische Lösung zu verfolgen.2 Schon am 20. Oktober 1956 stand die ungarische Frage an zweiter Stelle der Tagesordnung des KPdSU-Präsidiums. Da sich aber die Aufmerksamkeit des Präsidiums auf die Ereignisse in Polen konzentrierte, wurde eine Entscheidung in der ungarischen Angelegenheit vertagt. Das Procederé der letzten Monate wiederholte sich: Die Alarmzeichen von Andropow kamen schon damals erst mit beträchtlicher Zeitverschiebung und dann nur dank der Beharrlichkeit von Außenminister Gromyko auf die Agenda des Präsidiums, welches aber keine Entscheidung traf. Die Reaktionen auf die Telegramme von Andropow drei Tage vor dem Ausbruch der Revolution in Budapest drückten Unsicherheit aus: „Nachdenken, vielleicht Genossen Mikojan

hinschicken."3

Die Reaktionen der ungarischen Presse auf die Ereignisse in Polen, die Nachrichten über Befehlsverweigerungen bei Militär und Polizei und die explosionsartige Zustimmung zu den Forderungen der Opposition in der Gesellschaft,4 sowie die schnelle und umfassende Demokratisierung der ungarischen Führung veranlaßten Andropow erneut, Alarm zu schlagen: „Wir haben den Eindruck, daß die ungarischen Bericht von Andropow vom 23. Oktober 1956 in: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 339. p. und eigene Aufzeichnungen von Géza Losonczy am 23. Oktober über die Besprechung in seiner Wohnung, Historia, 1990, 2. sz., 34. p. Vgl.. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/309. ö. e„ MDP PB 1956. okt. 20. Zu den Ereignissen in Polen, siehe Leo Gluchowski, Poland 1956. Khrushchev, Gomulka and the „Polish October", in: Cold War International History Project Bulletin, Issue 5, Spring 1995. 1„ 38-49.p.; SZSZSZR I Polsa: oktyabr 1956-go. Posztanovlenyija i rabocsije zapisi Presidiuma CK KPSS. Publ. podg. Je. D. Orechova, V. T. Sereda. Pred. A. M. Orechova. Istoritscheski Archiv, 1996. 5-6. sz. 178-191. pp., Rainer, M. János, Dontés a Kremlben. Kísérlet a feljegyzések értelmezésére (Entscheidung im Kreml. Versuch einer Analyse der Malin-Notizen), in Dontés a Kremlben, 1956, a.a.O., 117-119. pp. Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda, 315-316. pp. Vgl. dazu die Berichte der ZK-Abteilung Partei- und Massenorganisationen zwischen dem 18.-23. Oktober 1956, MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 62/38. ö. e„ 40-45., 51-65. pp.

217 Genossen in der entstandenen politischen Atmosphäre kaum noch fähig sind, den zum mutigen Handeln zu finden."1 Die Ereignisse nahmen ihren Laufund diese Führung hörte auf zu existieren.

Bericht

Andropows v. 23. Oktober

1956 in:

Sowjetski Sojus i wengerski krisis

1956

Weg

goda, 342.

p.

János M. Rainer/Bernd-Rainer Barth

Ungarische Revolution: Aufstand Zerfall -

der Partei

-

Invasion

In der Geschichte der Krisen des sowjetischen Systems in Mittel- und Osteuropa markiert das Jahr 1956 eine entscheidende Zäsur. In diesem Jahr wurde der umfassende Charakter der latenten Krise des sowjetischen Systems nicht nur in Ungarn offenbar. -

-

Die Ereignisgeschichte der ungarischen Revolution selbst ist gut erforscht1. Hier soll auf die Vorgeschichte sowie die gesellschaftlichen Akteure und ihr politisches Denken eingegangen werden. Die Revolution vom Oktober 1956 war einerseits die Antwort der ungarischen Gesellschaft auf die Einführung des sowjetischen Systems und der Endpunkt der ungelösten Systemkrise. Die Revolution paralysierte die gesamte Machtstruktur und verursachte eine schwere Krise in den Beziehungen der Sowjetunion zu einem Blockstaat, mit Konsequenzen für den gesamten Ostblock.

1. Der

sozialgeschichtliche Hintergrund und die Vorgeschichte der Revolution

Es erscheint äußerst schwierig, sich nachträglich ein realistisches Bild vom Innenleben einer Gesellschaft zu machen, die in einem totalitären politischen System existierte. Doch auch für Zeitgenossen" scheint dies keine leichte Aufgabe gewesen zu sein. Die Parteizentrale versuchte zwar, mit einem Netz von Stimmungsberichten in Erfahrung zu bringen, was bei den von ihr Beherrschten tatsächlich vorgeht, aber dies gelang ihr nur sehr unvollkommen. Die Verfasser solcher Berichte waren mehr darauf bedacht, die Erwartungen und Bedürfnisse ihrer auftraggebenden „Leser" zu befriedigen, als ein Zur Geschichte der ungarischen Revolution liegen inzwischen dutzende, ungarische Publikationen vor, in denen die neuesten Quellen und Forschungsergebnisse verarbeitet wurden. Davon sind besonders zu nennen: György Litván/János M. Bak (Hrsg.): Die Ungarische Revolution 1956. Reform, Aufstand, Vergeltung, Wien: Passagen Verlag 1994 und: The Hungarian Revolution of 1956. Reform, Revolt and Repression 1953-1963. Ed. by György Litván. London and New York, Longman 1996. Außer den grundlegenden historischen Zusammenhängen beinhalten beide Bände eine Übersicht über die relevante (in Deutsch und Englisch vorliegende) Literatur zu 1956. Eine ausgezeichnete historische und historiographische Einführung bietet ebenfalls: Géza Alföldy. Ungarn 1956. Aufstand. Revolution, Freiheitskampf, Heidelberg 1997.

220

ungeschminktes Bild der sozialen Realitäten zu zeichnen. Im Fall Ungarns sind diese Quellen Stimmungsberichte der Parteiorganisationen, der Staatssicherheit bzw. des Innenministeriums, der örtlichen Räte, der Gewerkschaften usw. noch weitgehend -

unerschlossen.

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Die ungarische Revolution war ein, im doppelten Wortsinn, die gesamte ungarische Gesellschaft bewegendes Ereignis. Beinahe jeder einzelne Bürger bildete sich eine wie auch immer geartete politische Meinung zu den Geschehnissen. Und fast jeder war sich dabei bewußt, daß diese Ereignisse sein bisheriges Leben grundlegend verändern würden so oder so. Im Vergleich zu den vorherigen politischen Umbrüchen seit Ende des Zweiten Weltkrieges war die Zahl der im Herbst 1956 aktiv Beteiligten in der ungarischen Gesellschaft wohl am größten. Die der Niederschlagung der Revolution folgende Phase der Vergeltung bot den Repressionsorganen „reichhaltige Erfahrungen" in der Perfektionierung des Terrors gegenüber der Gesellschaft. In den Jahren 1959 bis 1960 fertigten die ungarischen Staatssicherheitsorgane aufgrund der von ihnen gesammelten „Erkenntnisse" umfangreiche Zusammenfassungen über die lokalen und landesweiten Ereignisse der Revolution sowie über die daran Beteiligten an. Danach nahmen allein an den Budapester Demonstrationen vom 23. Oktober 1956, welche mit einer Studentendemonstration mit ca. 10.000-20.000 Teilnehmern ihren Anfang nahmen, insgesamt und parallel an verschiedenen Punkten der Stadt mehr als 250.000 Menschen teil. An den darauffolgenden Tagen kam es landesweit an mehr als 100 Orten zu Demonstrationen, deren Teilnehmerzahl von der Staatssicherheit auf 100.000200.000 Personen geschätzt wurde. Laut dieser Übersicht bildeten sich 160 bewaffnete Gruppen bzw. Einheiten der Nationalgarde, von deren Mitgliedern 14.178 Personen identifiziert wurden. Landesweit existierten 2.100 Arbeiterräte mit 28.000 Mitgliedern. In fast jeder Ortschaft kam es zur Bildung lokaler Revolutionsräte. 1956 gab es in Ungarn etwa 4.000 eigenständige Gemeindeverwaltungen, was eine Mitgliederzahl von mindestens 20.000-30.000 Personen bedeutete. An direkten, demokratischen Wahlen die oft den Charakter von Volksversammlungen haften nahmen im Landesdurchschnitt 10-15 % der Bevölkerung teil.1 Wenn der Begriff der aktiven Teilnahme wie eben beschrieben verstanden wird, kommen wir selbst bei vorsichtiger Schätzung auf eine Zahl von einer Million tatsächlicher Akteure der Revolution.2 Die Beteiligung bei der im November 1956 erfolgten Neuwahl der Arbeiterräte lag mit Sicherheit noch wesentlich über dieser Zahl. -

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dazu: Törteneti Hivatal (Amt für Geschichte [d.i. das ehemalige Archiv des Innenministeriums bzw. der früheren Staatssicherheitsbehörde ÁVO bzw. ÁVH]), V-l50.352. sz. dosszié, Az 1956-os magyarországi ellenforradalom az állambiztonsági munka tükrében (Die Konterrevolution in Ungarn 1956 im Spiegel der Arbeit der Staatssicherheit). Die ungarische Gesamtbevölkerung betrug laut „kleinem Zensus" von 1956 am 1. Januar 1955 9.767 Millionen Menschen (zum Vergleich: 1950: 9,293, 1960: 9,961 Millionen). Angaben aus: Klinger András: Magyarorszag nepesedese az elmult negyven évben (Die Bevölkerungsentwicklung Ungarns in den vergangen vier Jahrzehnten), in: Fokász, Nikosz Örkeny, Antal (szerk): Magyarorszag tarsadalomtortenete 1945-1989 (Sozialgeschichte Ungarns 1945-1989), Budapest 1998. Bd. 2, S. 45.

Vgl.

2

-

221 Ein weiterer Anhaltspunkt für die gesellschaftliche Tiefenwirkung ist die Tatsache, daß die ansonsten eher für ihre Inaktivität typische Altersgruppe der 14-18 jährigen Jugendlichen (Mittelschüler, Berufsschüler) durch die Revolution mobilisiert wurde. Ein weiteres Indiz ¡st die erstaunlich große Zahl von mehr als 200.000 Personen,1 die nach dem November ins Exil gingen. Diese außergewöhnliche Aktivierung großer Teile der Gesellschaft läßt sich mit der Ausnahmesituation des Aufstands, mit dem Zusammenbruch der bisherigen Macht oder mit der ausländischen militärischen Intervention allein nicht erklären. Die ungarische Gesellschaft des Jahres 1956 hatte gerade grundlegende gesellschaftliche Veränderungen hinter sich gebracht, befand sich aber gleichzeitig mitten in ähnlich großdimensionierten neuen sozialen Umstrukturierungen. Das Kriegsende und das anschließende Jahrzehnt hatten gravierende Bevölkerungsbewegungen verursacht. Die alten Eliten Aristokratie, Kapitaleigentümer, die obere Mittelschicht, Staatsbeamte und Militärs wurden sukzessive in den Hintergrund gedrängt und schließlich teilweise oder völlig deklassiert. Parallel dazu hatte sich zunächst eine plebejisch-demokratische Führungsschicht entwickelt, die aber bald von einer neuen, kommunistischen Nomenklatura abgelöst wurde. Des weiteren hielt der Anfang der fünfziger Jahre begonnene Prozeß einer forcierten Industrialisierung mit all seinen Begleiterscheinungen, wie dem Zerfall und Schwinden der ungarischen Agrargesellschaft, an. So war bereits 1956 die als „Kulakentum" geächtete Schicht der reichen Bauernschaft nicht mehr vorhanden. Dagegen war die Zahl der Industriearbeiter stark angestiegen, hatte sich die Gruppe der Angestellten stark vergrößert, wuchs die Binnenwanderung in die Städte. Alle diese Prozesse waren erst Mitte der sechziger Jahre abgeschlossen.2 Für den Zustand der Gesellschaft Ungarns im Jahre 1956 kann man konstatieren: Die dramatischen und rasanten, oft unberechenbaren sozialen Verwerfungen, die permanente Unsicherheit der individuellen Existenz, der Zwang, auf diese Situation sofort und entschieden reagieren zu müssen dies alles war für große Teile der Gesellschaft seit mehr als anderthalb Jahrzehnten zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Mit anderen Worten: Ungarn war 1956 und zwar auch unabhängig von den revolutionären Ereignissen bei weitem keine konsolidierte Gesellschaft. Diese Gesellschaft war sowohl in materieller als auch in mentaler Hinsicht ein lockeres und formbares Gebilde mit einem vielschichtigen Geflecht sozialer Beziehungen. Ihr Hauptmerkmal jedoch war die Unsicherheit, die Fragilität. All dies begünstigte kollektive oder individuelle politische Aktivitäten. Für relevante Gruppen der Gesellschaft galt dabei: Der Entfaltung autonomer politischer Betätigungen wurde -

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Vgl. dazu die im Jahre 1957 vom ungarischen Zentralamt für Statistik (KSH) erstellte, streng geheime statistische Übersicht über die Emigration nach 1956, publiziert in: Regió, 1991. N° 4, 174-211 pp. Diese damalige Geheimstudie gibt die Zahl mit 193.000 an. Neuere Publikationen sprechen von 210.000 Emigranten, von denen 8.000-10.000 bis zum April 1957 wieder zurückkehrten. Vgl. dazu: Deák, Ernö: Adatok az 1956-os menekülthullámról (Angaben zur Flüchtlingswelle des Jahres 1956), in: FokászNikosz Örkeny Antal, a.a.O., S. 72. Vgl. zur Sozialgeschichte Ungarns nach 1945: Petö, Iván Szakács, Sándor: A hazai gazdaság négy évtizedének torténete 1945-1985. I. köt (Die Geschichte von vier Jahrzehnten ungarischer Wirtschaft, 1945 1985. Band I ), Bp. 1985. -

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222

weder durch versteinerte Regelwerke, noch durch die Schwerkraft gesicherter Existenzen irgendwelche Grenzen gesetzt.1 Ein erstaunlich großer Teil der Führer der revolutionären Organisationen war zum Zeitpunkt der Revolution Anfang bis Mitte dreißig.2 Die Mehrzahl dieser Anfang bzw. Mitte der zwanziger Jahre Geborenen hatte noch die sogenannten Friedensjahre des Horthy-Systems kennengelernt; ihr Erwachsenwerden fiel mit dem Krieg zusammen. Diese Generation war in der sehr statischen, kaum in Bewegung zu bringenden Gesellschaft der dreißiger Jahre sozialisiert worden, in der Veränderungsbestrebungen nur sehr schwer zum Ausdruck zu bringen waren. Als diese Veränderungen dann eintraten, geschah dies nicht über das „Kapillarsystem" der Gesellschaft, sondern von außen, als Folge eines Vernichtungskrieges, in Form der Besatzungsherrschaft. Durch den Umbruch nach 1945 wurden nur sehr wenige Wünsche und Sehnsüchte unmittelbar erfüllt. Vielmehr wurden alte Kränkungen durch neue ersetzt, wie den Verlust der nationalen Unabhängigkeit oder wiederholtes früheres Unrecht. Hier steht an erster Stelle das nationale Trauma von Trianon3, welches durch den erneuten Verlust der „zurückgewonnen" Gebiete4 nach Kriegsende wieder aufbrach. Diejenigen, die nach 1945 von der „Volksdemokratie" nicht viel Gutes erwarteten, sahen sich in ihren Befürchtungen bald bestätigt. Andere, die mit der neuen Ordnung Hoffnungen verknüpft hatten, wurden gerade zu dem Zeitpunkt bitter enttäuscht, als sie das Gefühl entwickeln konnten, die großen Umwälzungen Mitte der vierziger Jahre seien doch nicht umsonst gewesen: Wie zahlreiche Berichte belegen, betraf dies zur Jahreswende 1947/48 z.B. die durch die Bodenreform Begünstigten und damit einen beträchtlichen Teil der ungarischen Gesellschaft. Diese hatten (wenigstens etwas) besser leben wollen. Statt dessen waren sie Zwangsabgaben, Kampagnen zur LPG-Gründung, einem zügellosen Polizeiterror und Zwangsumsiedlungen in die Städte ausgesetzt. In den Städten erwarteten sie unerfüllbare Normen, ständig erhöhte Wochen- und Monatspläne, sowie ein völlig fremdes, ungewohntes, irritierendes und ausgesprochen langweiliges System von Konventionen, welches ihrem Alltag buchstäblich aufgezwungen wurde. Gerade die

Vgl. die Beschreibung ähnlicher Phänomene für die gesamte ungarische Nachkriegsgesellschaft des Soziologen Elemér Hankiss. Zumindest ergibt sich dieses Bild aus der partiellen statistischen Aufbereitung der Daten der Repressionsopfer nach 1956. Vgl. dazu: János M. Rainer: The Reprisals. New Hungarian Quarterly, Vol. XXXIII. No. 127. Autumn, 1992. 118-127. pp. Ungarn verlor infolge des Friedensvertrages von Trianon, der am 4. Juni 1920 in dem Schloß in Versailles unterschrieben wurde, 71,5% seines Territoriums (einschließlich Kroatien-Slawoniens) sowie 63, 5% seiner Bevölkerung an die Nachbarstaaten Rumänien, Tschechoslowakei. Jugoslawien und Österreich. Mehr als 3 Millionen Ungarn kamen auf diese Weise unter fremde Herrschaft. Diese Gebiets- und Bevölkerungsverluste führten dazu, daß die gesamte politische Entwicklung in Ungarn von einer revisionistischen Zielsetzung geprägt wurde, da der magyarische Nationalstaatsgedanke primär mit dem „historischen Recht" der Ungarn über das Hl. Stephansreich (zu dem vor allem Siebenbürgen zählte) verbunden war. Infolge des ersten Wiener Schiedsspruchs (am 2. November 1938) erhielt Ungarn einen Teil der Slowakei (etwa 10.000 km2 mit ca. 1 Million Einwohnern, überwiegend Ungarn) sowie infolge des 2. Wiener Schiedspruchs (am 30. August 1940) Nordsiebenbürgen (mit ca. 2,5 Millionen Einwohnern).

223

dynamischsten Kräfte der ungarischen Gesellschaft der frühen fünfziger Jahre fühlten sich am stärksten gehemmt, betrogen und enttäuscht und zwar von jener Macht, die ihnen permanent das Paradies auf Erden versprach. Gerade aus diesen Gruppen rekrutierten sich im Herbst 1956 jene scheinbar aus dem Nichts auftauchenden lokalen Führer der Revolution, die zum richtigen Zeitpunkt in der Lage waren, übereinstimmend und genau die Forderungen der Massen zu formulieren und die die Bereitschaft und den Mut zum Handeln besaßen. Diese Dreißigjährigen waren im bewaffneten Aufstand die Anführer jener legendären „Pester Jungs" zu allem entschlossene Jugendliche, Draufgänger aus dem Budapester Arbeiterbezirk Franzstadt, Lehrlinge aus der Industrie und Hilfsarbeiter. Sie alle wiederum entgegen allen Versprechungen des Systems hatten die gleiche Erfahrung gemacht: Sie blieben die -

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Paria der Gesellschaft. Die ungarische Gesellschaft des Jahres 1956 war eine frustrierte Gesellschaft, in derem kollektivem Gedächtnis sich der verlorene Krieg, die nationalen Kränkungen und der Umstand, daß anstelle einer Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit ein Polizeistaat sowjetischen Typs errichtet wurde, zu einem wahren Krisensyndrom verdichtete. Das Phänomen des Widerstands gegen das System tauchte nicht erst im Oktober 1956 auf. In den Jahren davor hatten die ungarischen Staatssicherheitsbehörden reihenweise „Verschwörungen" aufgedeckt, von denen zumindest ein Teil einen realen Hintergrund hatte. Der passive Widerstand der Gesellschaft nahm sehr unterschiedliche Formen an. Mehr als ein Viertel der ungarischen Eltern hatte auch auf dem Höhepunkt des ungarischen Stalinismus ihre Kinder zum Religionsunterricht angemeldet. Die alten wie die neu entstandenen Fabrikarbeiterschichten umgingen die Arbeitsnormen und fanden Formen der „Lockerung" der Planvorgaben. Ein beträchtlicher Teil der städtischen Jugend versuchte, als „Halbstarke", als „Swing-Tóni" eine andere, „westliche" Lebensweise nachzuahmen, deren Umgangsformen zu übernehmen. Die ungarische Bauernschaft widerstand zu etwa drei Vierteln den brutalen und zum Teil gewaltsamen Kampagnen zur Bildung von Kollektivwirtschaften. Diese passiven, „kapillaren" Widerstandsformen erschienen in den „Stimmungsberichten" an die auftraggebenden Partei- und Sicherheitsinstanzen als „Rowdytum" oder „Halbstarken-Erscheinung", als „Problem der Arbeitsdisziplin", als „Wühltätigkeit der klerikalen Reaktion" usw. Sie wurden als „Planvergehen", als „gegen die Interessen der allgemeinen Versorgung gerichtete Straftaten"1 in Dimensionen von mehreren hunderttausend Fällen kriminalisiert. Solange das System unverrückbar schien, blieben die Spannungen hinter der monolithischen Fassade der Macht verborgen. Im „Tauwetter", nach Stalins Tod bzw. nach Imre Nagys Regierungsprogramm vom Juli 1953, keimten erste Hoffnungen auf Veränderungen auf. Da das Unrecht ziemlich gleichmäßig verteilt war, konnten sich nach 1953 in jedem Segment der Gesellschaft partikulare Hoffnungen entwickeln. Als mit dem Sturz Imre Nagys 1955 auch diese kleinen, begrenzten und überschaubaren Hoffnungen zerstoben, ergab sich tendenziell die Möglichkeit für zwei „Drehbuch-

dazu: Törvenytelen szocializmus. A tényfeltáró bizottság jelentése (Gesetzloser Sozialismus. Bericht der von der Németh-Regierung 1989 eingesetzten Untersuchungskommission). Budapest, o.J. (1991), S. 87ff.

Vgl.

224

Varianten": Entweder wurde

fortgeführt.

gab

es

eine Rückkehr

Repression

zur

oder der

Reformprozeß

Daran, daß im Fall Ungarns die spontane Eruption in eine rationale und mehr oder weniger übereinstimmende Richtung gelenkt wurde, daran hatte die parteioppositionelle

Bewegung einen entscheidenden Anteil. Die Kohäsion der Machtstruktur war zuvor durch die intellektuelle Parteiopposition von innen ausgehöhlt worden. Diesem Angriff war die Macht hilflos ausgesetzt, da die Opposition die „eigene Sprache" sprach: Der Selbstbetrug der Parteireformer, „loyal gegenüber der Partei zu sein und ihre wohlverstandenen Interessen gegen bestimmte Führer der Partei zu verteidigen", war ein notwendiges Vehikel für das öffentliche Aufwerfen der dramatischen Fragen nach dem „wahren Sozialismus", während gleichzeitig für eine gewisse Zeit der verbale und nonverbale Parteikonsens aufrechterhalten wurde.1 Jedoch bedeutete diese Aufrechterhaltung des Konsensus wesentlich mehr als nur die Bewegungsfreiheit für die Opposition. Nur dadurch, daß sie die gleiche Sprache sprach wie die Parteikader und den gleichen Begriffen eine unterschiedliche Bedeutung gab, konnte sie eine innere moralische Krise erzeugen, die das Funktionieren der lebenswichtigen Zentralen des Regimes paralysierte. Als die Avantgarde der Parteiopposition, die kommunistischen Schriftsteller und Publizisten, öffentlich und wiederholt die Leiden der unschuldig Hingerichteten und Inhaftierten ansprachen, als sie gegenüber ihren Funktionärskollegen betonten, wie sehr diese Vorgänge „die Sache des Sozialismus" entwürdigt haben, erzeugten sie damit einen wirklichen Schock bei denen, die moralisch noch intakt oder zumindest sensibel waren.2 Die bereits an anderer Stelle skizzierten Unterdrückungsfaktoren die in Ungarn in einer großen „Reinkultur" vorhanden waren gab es auch in den anderen -

-

Wäre 1953 eine offen liberale Opposition auf der Bühne erschienen, wäre das nicht nur Wasser auf die Mühlen des Rákosi-Apparats gewesen, der auf das kleinste Anzeichen einer „Konterrevolution" wartete, um die ganze Reformpolitik zerschlagen zu können, sondern hätte vermutlich die Reformer selbst entmutigt, die damals noch doktrinäre Kommunisten waren, z.T. unter stalinistischem Vorzeichen. Vgl. zur Geschichte der Parteiopposition, der kommunistischen Schriftsteller, zur Rolle des „Petöfi-Kreises" und zur moralischen Krise der Herrschaftsgruppen: Aczél, Tamas Méray, Tibor: Tisztító vihar, München: Griff Kiadó. III. kiadás, 1982. (dt. u.d.T.: Die Revolte des Intellekts. Die geistigen Grundlagen der ungarischen Revolution. München 1959); írók lázadása. 1956-os írószovetségi jegyzökönyvek. Sajtó ala rend. Standeisky, Éva (Die Revolte der Schriftsteller. Die Protokolle des Schriftstellerverbandes aus dem Jahre 1956. Hrsg. von Éva Standeisky), Budapest: MTA Irodalomtudományi Int., 1990.; Hegedüs B. András: Petöfi Kör a reformmozgalom fóruma 1956-ban (Der Petöfi-Kreis das Forum der Reformbewegung im Jahre 1956), in: Világosság, 1989. 1. sz. 21-33. pp.; Litván György: A Nagy Imre-csoport (Die Gruppe um Imre Nagy), in: Századvég, 1989. 1-2. sz. 103-109. pp.; A Petöfi Kör vitái híteles jegyzökönyvek alapján. Föszerk. Hegedüs B. András. 1-7. köt (Die Debatten des Petöfi-Kreises nach den authentischen Wortprotokollen. Hrsg. von András B. Hegedüs. Band 1 7.), Budapest: Kelenföld-ELTE, Múzsák, 1956-os Intézet, 1989-1994.; Rainer, János M.: Az író helye. Viták az irodalmi sajtóban 1953-1956 (Der Ort des Schriftstellers. Debatten in der literarischen Publizistik [Ungarns] 1953-1956), Budapest 1990; Vásárhelyi Miklós: Az elsö meghiúsított reformkísérlet (Der erste verhinderte Reformversuch), in: ders., Ellenzékben (In Opposition), Budapest 1989, 237-317. pp. -

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225

„Volksdemokratien". Doch kamen sie nicht in der Weise zusammen, daß sie in ihrer Ge-

samtheit eine Revolution hervorbrachten. Letztendlich waren für den Ausbruch der Revolution in Ungarn folgende zum Teil "zufällige" historische Bedingungen bestimmend: eine Gelegenheit zur öffentlichen Darstellung des Geistes der Empörung im Land wie bereits erwähnt eine Sprache, in der die Kritik und die Forderungen und artikuliert werden konnten; eine Oppositionsgruppe, die der Empörung der Bevölkerung Ausdruck verleihen und ein Alternativprogramm formulieren konnte, ohne gleich in den ersten Augenblicken geächtet zu werden. Nicht zu unterschätzen sind auch die Auswirkungen der Chruschtschow'sehen Aussöhnungspolitik mit Tito und die damit verbundenen Rehabilitierungen der wegen „Titoismus" Angeklagten. Gerade die ungarische Parteiführung, namentlich Rákosi, hatte sich zuvor im Vergleich zu den anderen osteuropäischen Parteiführungen an die Spitze der antititoistischen Kampagne -

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gestellt.

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Weitere Faktoren

waren

die bereits erwähnte innere moralische Krise der

Herrschaftsschicht, die die lebenswichtigen Machtzentren, insbesondere die Zwangsapparate, lähmte, ein falsches Gefühl der Selbstsicherheit, sowohl auf Seiten der Führung als auch auf Seiten der Massen, und es gab eine Führungsalternative. Alle diese Faktoren

waren zum Teil durch historische Zufalle in Ungarn zwischen 1953 und 1956 gegeben. In der Person von Imre Nagy fand sich eine Führungspersönlichkeit, in der gleichzeitig mehrere Rollen vereinigt waren: Er war sowohl ein kommunistischer -

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Politiker als auch ein nach neuen Wegen suchender Reformer. Er war gleichzeitig ein früher Verfechter des Nationalkommunismus aber auch eine von der Gesellschaft akzeptierte Führungsperson.1 Die von Imre Nagy geführte Opposition hatte entscheidenden Anteil daran, daß sich in der unterworfenen Gesellschaft politisches Denken überhaupt erst wieder entwickeln konnte.2 Freilich bedeutete dieser politische Lernprozeß keinesfalls, daß die Gesellschaft in ihrer Mehrheit mit den von der

Vgl. dazu

János M. Rainer: The Life Course of Imre Nagy. The Journal of Communist Studies and Transition Politics, Vol. 13, No. 2. (June 1997), 141-151. pp.; ders.: The Development of Imre Nagy as a Politician and a Thinker. Contemporary European History, 6, 3 (1997), 263277.pp., ders.: National Independence, Neutrality, and Cooperation in the Danube Region: Imre Nagy's Foreign Policy Ideas, in: Ignác Romsics, Bêla K. Király (eds.), Geopolitics in the Danube

Reconciliation Efforts, 1848-1998. Bp„ Central European University Press. 1998. 281-304. pp. Mit Nagys Juli-Programm war es 1953 zum ersten Mal seit den zwanziger Jahren (seit der Liquidierung der trotzkistischen Opposition) wieder zu einer offenen Konfrontation zweier Programme in einem von Kommunisten regierten Land gekommen. Es war dies eine unbeholfene öffentliche Konfrontation, da natürlich jeder öffentliche Hinweis auf den Konflikt selbst unterbleiben mußte. Und doch war die Tatsache, daß es eine Sprache gab, in der die politischen Differenzen ausgetragen werden konnten, von immenser Bedeutung: Die Sprache der Tyrannei ist wenn sie ihre Kraft ungehindert entfalten kann homogen und duldet keinerlei semantische Abweichungen. Aber in dem Moment, wo es keine „korrekte Parteilinie" gab, konnte die Opposition dem Parteiapparat Widerstand leisten, indem sie anfänglich auch Parteidokumente zitierte. Selbst später, nach dem kurzfristigen Sieg Rákosis im März 1955, konnte sie ihre „Botschaft" weiter in der Parteiterminologie artikulieren.

Region. Hungarian

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226 in den politischen Debatten geäußerten „codierten Botschaften" einverstanden war. Selbst der nach dem XX. Parteitag der KPdSU wesentlich freiere Diskussionsrahmen vom Frühjahr bzw. Sommer 1956 blieb immer noch weit hinter den Wünschen und Forderungen zurück die, wie sich dann in den Tagen nach dem 22723. Oktober 1956 zeigte, von einer Mehrheit der Gesellschaft vertreten wurden. Viel wichtiger für den gesellschaftlichen Lernprozess war der „gestische" Wert der Aktionen der Parteiopposition also die Tatsache, daß es überhaupt möglich war, gegenüber der Machtelite eigene politische Ziele zu formulieren. In diesem Sinne gab die

Parteiopposition

,

-

Parteiopposition der Gesellschaft lediglich Orientierungen. Die Führung der Massen im konkreten politischen Handeln konnte die Opposition jedoch selbst im Zustand ihrer zunehmenden Radikalisierung nicht übernehmen, denn ihre politischen Zielvorstellungen bewegten sich "nur" m Rahmen von Reformen. Mit einer „aufgeklärteren" Macht, die bereit wäre, den einen oder anderen Kritikpunkt der Gegenseite anzunehmen, wäre es so die Überzeugung der Parteireformer möglich, eine gesellschaftliche Explosion zu vermeiden. -

-

Ein wichtiger psychologischer Faktor der Vorgeschichte der Revolution war die falsche Selbstsicherheit, der blinde Glauben der politischen Machtelite an die eigene Überlegenheit und ihr völliges Vertrauen in das sowjetische Patronat.

2. Die

Studentenbewegung

gesellschaftlichen Spannungen und die Kritik der Parteiopposition wurden von der ungarischen Studentenschaft in politisches Handeln umgesetzt. Seit den vierziger Jahren hatte die sich etablierende kommunistische Macht die Universitäten grundlegend nach sowjetischem Muster verändert. Der Lehrkörper und die Studentenschaft wurden von „bourgeoisen Elementen" gesäubert. Die Lehre wurde immer stärker an politischen Zielen ausgerichtet und die Zahl der Studenten bedeutend erhöht. Durch Aufnahmeprüfungen und die Einführung des Systems von Berufsausbildung mit Abitur1 konnte die soziale Zusammensetzung zunehmend besser gesteuert werden. Bald überwogen an den Universitäten Studenten, die ihrer sozialen Herkunft nach aus Die

einfachen Arbeiterfamilien bzw. den ärmeren Bauernschichten stammten. Gerade diese Studenten hatten durch ihren familiären Hintergrund all die Unsicherheiten des sozialen Umbruchs und das Leid, welches die forcierte Einführung des sowjetischen Systems mit sich brachte, sehr direkt erfahren. Die Anfange ihrer gesellschaftlichen und politischen Sozialisation reichten in das geistige Klima der Vorkriegszeit zurück, welches geprägt war von den politischen und literarischen Strömungen und Dritte-Weg-Vorstellungen des Lagers der volkstümlich-nationalen Kräfte. Ähnliche geistige Einflüsse vermittelten ihnen ihre jüngeren Lehrer, von denen viele aus der Bewegung der sogenannten Volkskollegien der späten vierziger Jahre kamen, einer Art Symbiose des ungarischen Populismus mit dem kommunistischen Messianismus. Gleichzeitig hatten sich diese

Schulsystem nach sowjetischem nischer Ausbildung.

Modell: Kombination

von

gymnasialer

Oberstufe und

polytech-

227 Studenten in ihrer politischen Ausbildung die kommunistische Parteisprache angeeignet und das für den politischen Diskurs notwendige Wissen und Können erworben. Und schließlich hatten sie in ihrer Mehrheit die eigene Entwicklung als sozialen Aufstieg erlebt, das heißt, sie entwickelten eine Art Avantgarde- oder Elitebewußtsein und besaßen eine ausgeprägte Gruppenkohäsion. Die Studenten verstanden die Kritik der Parteiopposition sehr gut. Sie konnten die eklatanten Widersprüche genau benennen, die zwischen den Versprechungen der kommunistischen Ideologie, den Erwartungen der ungarischen Nachkriegsgesellschaft und dem tatsächlichen gesellschaftlichen Geschehen bestanden. Vor diesem Hintergrund entstanden in den Tagen vor dem 23. Oktober an den Universitäten von Szeged, Budapest, Miskolc und Debrecen ihre politischen Forderungen. Sie enthielten zwar noch die Ziele der Parteiopposition (Demokratisierung der Partei, die Ernennung von Imre Nagy zum Regierungschef, die Bestrafung der für die „Parteisäuberungen" und Prozesse Verantwortlichen usw.). Aber auch bereits Rufe nach politischer Demokratie (freie Wahlen, Einführung eines Mehrparteiensystems, Pressefreiheit), nach Beendigung der Verletzung nationaler Interessen (Abzug der sowjetischen Truppen, Beseitigung der fremden Symbole des kommunistischen Staatswappens, der nach sowjetischem Muster gefertigten Uniformen, des überdimensionalen Stalindenkmals Abschaffung des obligatorischen Russischund der der traditionellen Nationalfeiertage usw. wurden Unterrichts) Wiedereinführung lauter. Während die Parteiopposition noch ziemlich unsicher erst an der Formulierung eines potentiellen politischen Programms arbeitete, hatten die Studenten ihre für jedermann nachvollziehbaren, in mehreren Punkten zusammengefaßten, Forderungen beschlossen. Mit bereits der landesweiten Gründung unabhängiger Oktober 1956 hatten sie reihenweise mit 16. am Studentenorganisationen (MEFESZ1) der monolithischen Struktur des Parteistaates gebrochen. Am 22. Oktober wurde der Forderungskatalog der Studenten mit den berühmten 14 bzw. 16 Punkten durch den Demonstrationsaufruf der Studenten der Budapester Technischen Universität bzw. der Philosophischen Fakultät der Budapester Universität für den nächsten Tag, den 23. Oktober 1956, ergänzt. Damit hatten die Studenten den Weg einer vorläufig noch friedlichen, aber bereits offenen Konfrontation mit der Macht eingeschlagen.2 Obwohl die Aktivitäten der Studenten nach dem 23. Oktober keineswegs nachließen, verloren sie im weiteren Verlauf der Revolution ihre Avantgarde-Rolle (sie waren zum Beispiel nicht in der Lage, eine bedeutende zentrale Organisation zu schaffen), jedoch verlieh ihr -

-

Am 16. Oktober hatten als erste die Studenten der Universität Szeged ihren Austritt aus dem kommunistischen Jugendverband DISZ (Dolgozó Ifjuság Szövetsege Bund der Werktätigen Jugend) erklärt und den autonomen Studentenverband MEFESZ (Magyar Egytetemisták és Föiskolások Szövetsege Bund der ungarischen Hochschüler und Studenten) gegründet. Während der Debatte an der Universität Szeged, an der sich mehr als 1.600 Studenten beteiligten, war an diesem Tag zum ersten Mal die Forderung nach dem Abzug der sowjetischen Truppen erhoben worden. Zur Geschichte der Studentenbewegungen 1956 vgl. Beck, Tibor Germuska, Pal: Forradalom a Bölcseszkaron (Revolution an der Philosophischen Fakultät), Institut 1956 (Hrsg.): Budapest 1997. =

=

-

228

moralisches ßes Gewicht.

bisheriges

Kapital

ihren

politischen Stellungnahmen

auch

später noch

gro-

3. Der bewaffnete Aufstand und die Aufständischen Die Verschmelzung der politischen Zielvorstellungen der Parteiopposition mit demokratischen und nationalen Forderungen der Gesellschaft, wie sie sich bei der Studentendemonstration vom 23. Oktober manifestierte, war ein spezifisch ungarisches Phänomen. Nur in Ungarn kam zu den allgemeinen, durch das sowjetische System überall in Mittel-Osteuropa verursachten, Ungerechtigkeiten und Kränkungen eine Mehrbelastung durch das Gefühl nationaler Erniedrigung hinzu: infolge des verlorenen Krieges und der Wiederholung des Diktats von Trianon. Der einzige Ort, an dem sich zur selben Zeit ein vergleichbares Potential an Unrechtsgefühl angestaut hatte, war der östliche deutsche Teilstaat. In der DDR wurde dieses Potential jedoch stark gedämpft durch das Schuldbewußtsein angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus. Die politischen und sozialen Spannungen konnten teilweise durch die offene Grenze „abgebaut" werden, und jeder Gedanke an eine wie auch immer geartete Revolte wurde durch die Erinnerung an die Niederschlagung des Aufstandes vom Juni 1953 im Keim erstickt. Als die ungarische Parteiführung auf die Forderungen vom 23. Oktober mit Ablehnung reagierte und die Entscheidung traf, eigene bzw. später auch sowjetische bewaffnete Kräfte zur Niederschlagung der Bewegung einzusetzen, war die ungarische Revolution bereits an einem Scheideweg angelangt, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Zu diesem Zeitpunkt schien eine politische Lösung nicht mehr möglich zu sein. Nach der Zerschlagung der Demonstration hätte auf der ungarischen politischen Bühne nur die Parteiopposition politisch überleben können. Demgegenüber entfaltete sich jedoch in der Hauptstadt ein bewaffneter Widerstand, der sowohl gegen die ungarischen bewaffneten Kräfte, als auch gegen die einrückenden sowjetischen Truppen gerichtet war. Auch der spontane politische Streik, der das Leben in Ungarn lahmlegte, war eher eine Folge der Kämpfe und keine organisierte Bewegung. In der

gesamten Geschichte der mittel- und osteuropäischen Krisen des sowjetischen

und zwar sowohl vor als auch nach 1956 war es niemals zu einem vergleichbaren bewaffneten Aufstand dieses Ausmaßes gekommen wie im ungarischen Herbst von 1956.' Außer dem für Ungarn so spezifischen Zusammentreffen der weiter oben und im vorherigen Kapitel analysierten sozialen und politischen Krisenmomente gibt es

Systems

-

-

Da an den späteren Kämpfen gegen die sowjetischen Invasionstruppen auch einige reguläre Armee-Einheiten beteiligt waren, sprechen einige Autoren vom „ersten Krieg zwischen sozialistischen Staaten". Vgl. dazu: Király, Bêla: Az elsö háború szocialista országok között. Személyes visszaemlékezések az 1956-os magyar forradalomra (Der erste Krieg zwischen sozialistischen Staaten. Persönliche Erinnerungen an die ungarische Revolution von 1956) New Brunswick: Magyar Oregdiák Szövetseg Bessenyei Kör, 1981. -

-

229

eine Reihe weiterer Aspekte, die dieses einmalige Phänomen des gewaltsamen Widerstandes erklären können. Ein wichtiger nächster Aspekt war die beispiellose „Kongruenz" der völligen Fehlreaktionen, sowohl der sowjetischen als auch der ungarischen Parteiführung, auf die Krisenerscheinungen des Jahres 1956. Die Spannungen im Herbst wurden von beiden Führungen falsch bewertet bzw. grob unterschätzt. Sie hatten seit dem Frühjahr 1956 (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) Phasen starker politischer Unsicherheit durchlebt. Beide Führungen sahen in einem gewaltsamen militärischen Eingreifen die Lösung der Krise -jedoch war die ungarische Armee auf einen solchen Einsatz völlig unvorbereitet und demoralisiert, während die sowjetische Armee, die eine Analogie zum Juni-Aufstand 1953 in Ost-Berlin unterstellte, auf der Grundlage inadäquater Befehle in den Einsatz zog. Dies alles zusammengenommen erklärt die erstaunliche Tatsache, wie es einigen tausend schwach bewaffneten Aufständischen gelingen konnte, die militärischen Anstrengungen einer Großmacht zur Bewältigung der Krisensituation zu unterlaufen. Der bewaffnete Aufstand machte den Zusammenbruch der alten Machtstrukturen, deren Handlungsunfähigkeit überdeutlich. Der Aufstand öffnete den Weg für die Selbstorganisation der Revolution. Er radikalisierte die als Folge der Revolution eintretenden politischen Veränderungen, denn selbst die Regierung von Imre Nagy war nicht in der Lage, ohne eine Pazifizierung des Aufstandes die entstandene Situation zu konsolidieren. Was wir über die Aufständischen selbst wissen, ist ziemlich widersprüchlich. Ihrer bedeutenden politischen Rolle nach nahmen sie eine Schlüsselstellung ein, aber sie bildeten unter den revolutionären Akteuren die politisch am wenigsten motivierte Gruppe. In der Mehrzahl rekrutierten sie sich aus den Randgruppen der Großstadtgesellschaft, die von den großen politisch-sozialen Umbrüchen der jüngsten Vergangenheit kaum berührt worden waren. Sie kamen überwiegend aus Familien-, Arbeits- und Wohnmilieus mit sogenannter Mehrfachbenachteiligung und waren also unter vergleichsweise ungünstigsten materiellen, kulturellen und mentalen Bedingungen aufgewachsen.1 Wenn wir weiter oben allgemein von einer geringeren Schwelle für „gesellschaftliche Verlustängste" sprachen als gemeinhin in konsolidierten Gesellschaften üblich so gilt diese Beschreibung für die bewaffneten Aufständischen in besonderem Maße: Sie hatten bis auf ihr Leben nichts mehr zu verlieren. Ihre Verbitterung zeigte sich ebenso deutlich in den verbissenen Kämpfen, wie auch in den Reaktionen auf diese Ausnahmesituation, welche weitgehend den „Gesetzen der Straße" gehorchten. Diese sind die Erklärung für jenes oft beschriebene, vielfach fast sinnlose Heldentum, mit dem sie den ungleichen Kampf aufnahmen. Sie erklären auch die Brutalität, mit der sich einige auf den Straßen an Selbstjustizaktionen gegen vermeintliche und wirkliche Angehörige der Staatssicherheit beteiligten. Während sich in der Notlage des Kampfes unter ihnen ein beispielloser Zusammenhalt offenbarte, brachen in den Feuerpausen die zwischen ihnen herrschenden -

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-

Vgl. dazu Kresalek, Gabor: Mit akartak a felkelök? (Was wollten die Aufständischen?), in: Világosság, 1991. 10. sz. 734-738. pp. und den Essay von Gyula Kozák über die Aufständischen, Jahrbuch 1999, Institut 1956 .

230

Auseinandersetzungen und Streitigkeiten wieder auf.1 Während sich in der Kampfesphase auf fast natürliche Weise Anführer herausgebildet hatten etwa aufgrund ihrer Lebenserfahrung, ihrer Findigkeit im Kampf oder einer „natürlichen Autorität" öffnete sich nach Beendigung der Kämpfe ein weites Feld für von außen kommende politische Manipulationen, für ein Führertum durch „Lautstärke". Viele waren sicher von dem vereinfacht als „Freiheitskampf empfundenen Erlebnis, wie auch vom Drang, -

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sich

hervorzuheben, fasziniert. Letzteres konnte sowohl für den Führer einer

Jugendbande gelten als auch für den Revolutionär, der für die „richtig verstandenen" höheren geistigen Werte auch zur Selbstaufopferung bereit war. Unsere Kenntnisse über die Zusammensetzung der Aufständischen stammen überwiegend aus den Dokumenten der Vergeltungsphase bzw. aus wesentlich späteren Quellen, den Erinnerungen der Akteure selbst. Deren Glaubwürdigkeit ist deshalb vielfach unsicher.2 Es kann aber als sicher gelten, daß die sozial besser gestellten Teilnehmer des bewaffneten Aufstandes den größten Anteil derer ausmachten, die sich danach zur Emigration entschlossen, während die am wenigsten Qualifizierten, die am meisten Hilfsbedürftigen, die sozial am stärksten Benachteiligten, in der Regel im Lande blieben. Ihre Anführer wurden von der rachsüchtigen Macht propagandistisch verteufelt, während die Erinnerungsschriften der Akteure ganz im Gegenteil ein hagiographisches Bild der eigenen Rolle zeichnen. Dies mag eine Erklärung für das über sie entstandene damalige (bzw. im Fall der Überlebenden, heutige) paradoxe Bild sein für die Historiker ist dies eher eine Motivation für weitere Forschungen. -

4. Die Besonderheiten der

Revolution"

„sich selbst organisierenden

Der Ablauf der revolutionären politischen Organisationsentwicklung wird am ehesten mit der Beschreibung der Revolution in der Provinz und der Herausbildung der Arbeiterräte nach der sowjetischen Intervention vom 4. November veranschaulicht. Was das erste betrifft, so ähnelte die Entwicklung in mehrfacher Hinsicht den Abläufen in der Hauptstadt. Es gab aber auch wesentliche Unterschiede. Eine völlige Übereinstimmung gab es hinsichtlich der revolutionären Forderungen. Die dreifache Zielsetzung der Revolution (nationale Unabhängigkeit, bürgerliche demokratische Strukturen, die Bewahrung der sozialen Errungenschaften) wurde von allen Organisationen, allen politischen oppositionellen Kräften geteilt. Natürlich wurden von einzelnen dörflichen Nationalkomitees oder von Arbeiterräten in den Betrieben auch lokale oder schichtenspezifische Forderungen formuliert. In der Regel waren dies aber Aktionsprogramme, die über die großen gesamtgesellschaftlichen, nationalen Zielvorstellungen hinauswiesen.

Vgl. die Beschreibungen der Aufständischen in der Corvin-Passage nach Gergely Pongrátz. Vgl. dazu: Eörsi, László: Ferencváros, 1956 (Der Bezirk Franzstadt, 1956), Budapest 1996 und: Pesti utca. Válogatás fegyveres felkelök visszaemtékezéseibol (Die Straße von Pest. Auswahl aus den Erinnerungen bewaffneter Aufständischer), Institut 1956, Budapest 1996.

231

Als ebenfalls identisch kann man das „Drehbuch" der revolutionären Ereignisse bezeichnen. Überall bildete eine von den Studenten (bzw. der Jugend) initiierte, später auf alle Schichten übergreifende Massendemonstration den Ausgangspunkt. Das Volk nahm in unmittelbarer, körperlicher Weise Ort und Raum in Besitz. Jenen sozialen Raum, den bisher die Machtorgane des alten Systems beherrschten, den das Volk nur bei ritualisierten Anlässen der von oben organisierten Feierlichkeiten als „Quasi-Gemeinschaft" hatte benutzen dürfen. Als einen Akt der Säuberung des Raumes von dieser bisherigen inadäquaten Nutzung kann man die Beseitigung der Machtsymbole verstehen: der Sturz des Stalindenkmals in Budapest, die Entfernung der roten Sterne oder der sowjetischen Heldendenkmäler in der Provinz. Es war dies auch eine Art Götzenzerstörung, Ausdruck der seelischen Befreiung von der Tyrannei. In der Provinz bestand die Fortsetzung der Ereignisse meist in der Formulierung der Forderungen, dem Abfassen der "Punkte", in der Wahl der Delegation, die mit der lokalen Macht verhandeln sollte und in der Herausbildung erster eigener Organisationsformen. Der letztgenannte Prozeß wurde in der Regel durch die Konfrontation mit den Kräften des "ancien régime" beendet. an gibt es zahlreiche Abweichungen im Verlauf der Revolution Hauptstadt, den größeren Provinzstädten und den anderen, kleineren Orten. In Budapest nimmt die Konfrontation der revolutionären Kräfte mit der Macht den Charakter eines Bürgerkrieges, nach dem Eingreifen der Sowjets, den eines nationalen Befreiungskampfes an und zieht sich über mehrere Tage hin. Die revolutionären Ereignisse in den größeren Provinzstädten fanden als bewaffnete Konflikte höchstens in einem einzigen kurzen, aber oft sehr blutigen Akt statt, indem mit Maschinengewehren in die Menge geschossen wurde. Darauf folgte unmittelbar der Zusammenbruch der alten Machtstrukturen. Im allgemeinen kam es aber nicht einmal dazu. In der Provinz, insbesondere in den Dörfern, wurden Personen abgesetzt und vielleicht vertrieben, aber der Staatsapparat wurde nicht vollständig zerstört. Die gewalttätige Seite der Revolution und ihr Charakter eines Befreiungskampfes wurde in der Provinz nicht als unmittelbare Erfahrung erlebt. Dann trat die Revolution in ihre nächste, selbstorganisatorische Phase. Die Ereignisse in der Provinz begannen meist mit einigen Tage Verspätung, oft durch die Ereignisse in Budapest angestoßen, gingen aber schneller in die zweite Phase über als dort. Das wichtigste Merkmal der Revolution in der Provinz war nicht der Kampf, sondern die vielschichtige Selbstorganisierung. Die für sie typische Gestalt war nicht der Demonstrant oder der bewaffnete Kämpfer, sondern der „law-and-order"-Revolutionär, der in der Ausnahmesituation der revolutionären Kampfbereitschaft, in der Anspannung des politischen Generalstreiks über die Ordnung und öffentliche Sicherheit wacht und der für diese Interessen verhandelt, organisiert und vermittelt.1 Die Entfaltung der Selbstorganisierung der Gesellschaft beförderte in Ermangelung einer zentralen Steuerung den Zusammenbruch oder zumindest die Handlungsunfähigkeit der lokalen

Von diesem Moment

in der

-

-

Vgl. Magyar, Bálint: 1956 és a magyar falu (1956 und das ungarische Dorf), 2-3.

sz.

209. p.

in: Medvetánc, 1988.

232

Macht. Dies ist ein, in allen zentralistisch-totalitären Strukturen, gefürchtetes Phänomen und bildet in allen wirklichen Krisensituationen die sichtbare Achillesferse dieser Systeme. Die lokalen Gemeinschaften hatten bis 1956 noch ihre relative Überschaubarkeit und in gewissem Grad auch ihre innere Kohäsion bewahrt. Deshalb verstand es sich oft von selbst, wen man auf die organisatorischen Führungspositionen setzen mußte, wer abzusetzen war, wen man verjagen oder eventuell sogar in Präventivhaft nehmen mußte. Die für die Selbstorganisierung in der Provinzgesellschaft typische hohe Arbeiterbeteiligung, die Überrepräsentanz der Zwanzig- bis Dreißigjährigen und der Honvéd-Offiziere in den Revolutionskomitees einerseits und das niedrige Niveau der Parteienbildung andererseits deuteten darauf hin, daß sich die Entwicklung und Neubildung lokaler Gemeinschaften untergründig fortgesetzt hatte und nicht mit dem Ende der Koalitionszeit 1948/49 „eingefroren" war. Tatsächlich gelangten die führenden Funktionäre der nach 1945 bestandenen Koalitionsparteien, die weiterhin öffentliches Ansehen genossen, in großer Zahl in die neugegründeten Revolutionskomitees. Während sich der Prozeß der Selbstorganisierung in der Hauptstadt über den Zeitpunkt der zweiten sowjetischen Intervention, dem 4. November, hinaus erstreckte, war er unter den ungestörteren Bedingungen in der Provinz kürzer und „modellhafter". Die Rechtsquelle dieser Selbstorganisierung war die sich unmittelbar artikulierende, demokratische Gemeinschaft. Die demonstrierende, sich versammelnde Menge wählte ihre Repräsentanten und Sprecher für die Verhandlungen mit den Vertretern der lokalen Macht. Diese gewählten Sprecher blieben in der Regel Mitglieder oder Führer der Revolutionskomitees. In den größeren Städten wurde die erste Wahl durch eine weitere, direkte, demokratische Legitimation noch verstärkt: Die Basis, die Beschäftigten in den Betrieben und Arbeitsstellen, wählte ebenfalls ihre eigenen Revolutionskomitees und ihre Delegierten für die regionalen Revolutionskomitees. Diese Delegierten wiederum wählten aus ihren Reihen ein Exekutivorgan, blieben aber selbst in ihren Komitees weiterhin für ihre Wähler kontrollierbar.1 Die größeren Städte wie Miskolc, Györ und Debrecen wurden auch in ihrer Eigenschaft als Komitatshauptstädte in den letzten Tagen der Revolution zu regionalen Zentren der Selbstorganisierung. Hier waren bereits zwei Bewegungstendenzen zu beobachten: einerseits die „von unten", von den kleinen Siedlungen ausgehenden Anschlußbestrebungen in Richtung Zentrum auf der Basis der eigenen Selbstorganisierung und andererseits die Bestrebungen des Zentrums in Richtung Provinz, die Revolution zu „exportieren", und zwar in Form von Gruppen oder Einzeldelegierten, d.h. Instrukteuren, die „Organisations Know-how" vermittelten. -

-

Das Zentrum des Landes blieb freilich auch 1956 die Hauptstadt Budapest. Aber die Prozeß der „sich selbst organisierenden Revolution" in kurzer Zeit fortgeschritteneren revolutionären Zentren der Provinz begannen sehr bald, enormen politischen Druck auf die Partei- und Staatsführung auszuüben, namentlich auf Imre

im

ist hierbei die Ähnlichkeit dieser Prozesse der Bildung von Arbeiterräten und Revolutionskomitees zu den späteren Vorgängen in Polen im August 1980, insbesondere die Selbstorganisierung des Streikkomitees auf der Lenin-Werft in Danzig, welche zur Keimzelle der landesweiten Gewerkschaft "Solidarität" wurde.

Augenfällig

233

Nagy. Ihre Rolle ist am ehesten mit der der bewaffneten Aufständischen in Budapest zu vergleichen. Ohne diesen starken politischen Druck wäre die Nagy-Regierung vermutlich irgendwo „auf halbem Wege" zwischen der Plattform der Parteiopposition

und den revolutionären Forderungen der Massen stehengeblieben. Den Druck transportierten in erster Linie die, aus den Provinzstädten nach Budapest strömenden, zahlreichen Delegationen, sowie die von der Parteizensur befreiten regionalen Radiostationen. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß der Budapester Rundfunk, das wichtigste Kommunikations- und Propagandaforum des Landes bis zum 30. Oktober, unter der Kontrolle des Einparteiensystems stand und anschließend von der neugebildeten Regierung beaufsichtigt wurde. Die radikalsten revolutionären Organisationen, insbesondere die in der westungarischen Stadt Györ, entwickelten sich selbst zu einer Art alternativem politischen Zentrum und begannen gleichzeitig mit dem Aufbau eigener regionaler Organisationsstrukturen. Aber selbst in Györ wurde der Gedanke der Bildung einer Gegenregierung, eine solche Absicht wurde nach 1956 von der Kádár-Propaganda behauptet, nie ernsthaft erwogen.

Die Arbeiterräte entstanden ursprünglich unmittelbar an den Arbeitsplätzen in der Industrie. Auf die Herausforderungen der im Lande herrschenden Ausnahmesituation reagierten die Arbeiterräte auf die gleiche Weise wie die regionalen Revolutionskomitees. Auch ihre Gründung erfolgte auf die gleiche „basisdemokratische" Art. Eine wirkliche politische Rolle begannen sie jedoch erst nach dem 4. November 1956 zu spielen. Ab diesem Zeitpunkt verlor die Revolution ihre bewaffnete Kraft. Die Honvéd-Armee und die Kräfte der Nationalgarde in der Provinz wurden entwaffnet. Die bewaffneten Aufständischen entschieden sich die Aussichtslosigkeit eines weiteren bewaffneten Widerstands vor Augen entweder für ein „Untertauchen" in der Stadt oder für die Flucht in den Westen. Auch das politische Zentrum der Revolution verschwand zu diesem Zeitpunkt: Die Regierung Imre Nagys, welche seit dem 1. November die fast ungeteilte Unterstützung der Gesellschaft besaß, stellte ihre Arbeit ein. Imre Nagy flüchtete mit einigen seiner engsten Mitarbeiter, den Führern der Parteiopposition und deren Angehörigen in die jugoslawische Botschaft in Budapest. Die Führer der, während der Revolution neugegründeten nichtkommunistischen, Parteien verfolgten die Ereignisse mehr oder weniger passiv. Mit einer wichtigen Ausnahme: Der Politiker der Bauernpartei und Staatsminister der Nagy-Regierung, István Bíbó1, versuchte mit seinem Verbleiben im Parlamentsgebäude, die Kontinuität der letzten Revolutionsregierung bis zum 6. November aufrechtzuerhalten und formulierte dort eine der Situation entsprechende, mögliche politische Plattform.2 -

-

Zur Person István Bíbós, seiner Stellung im politischen Denken Ungarns und seiner Haltung am 4. November 1956, vgl. Nachwort in: István Bíbó: Die deutsche Hysterie. Ursachen und Geschichte. Frankfurt am Main und Leipzig 1991. Zu István Bíbós Aufruf vom 4. November 1956, vgl. István Bibó, Democracy, Revolution, SelfDetermination. Selected Writings. Ed. by Károly Nagy. Atlantic Research and Publications,

Highland Lakes, 1991. 325-327. pp. Das Wesen von Bibós politischem Lösungsvorschlag bestand in der Bewahrung der Hauptzielsetzungen der ungarischen Revolution (nationale Unabhängigkeit, Mehrparteiensystem,

234

Die nach dem 4. November im Land herrschende allgemeine Stimmung in der Bevölkerung, die sich mit der Niederlage nicht abfinden wollte, stützte sich in einer Hinsicht auf eine realistisch erscheinende Grundlage. Auch nach der sowjetischen Invasion vom 4. November blieben nämlich wesentliche Teile der Selbstorganisationen der Revolution intakt. Nicht alle Strukturen wurden durch die Niederschlagung der Revolution zerstört. Selbst ein Teil der regionalen Revolutionskomitees existierte noch wochenlang und übte einen entscheidenden Einfluß auf das örtliche gesellschaftliche Leben aus, obwohl ihr Wirken durch eine der ersten Verordnungen der Regierung von János Kádár am 7. November 1956 stark eingeschränkt worden war. Die Arbeiterräte in den Betrieben dagegen waren von Kádár anerkannt worden, und so konnten sie sich in den folgenden Wochen zu zentralen Organen weiterentwickeln. Mehr noch, der Prozeß ihrer Selbstorganisierung wurde weiter vorangetrieben: Im November wurden die Arbeiterräte an den meisten Orten neu gewählt. In der Regel wurden ihre Reihen durch Arbeiter und leitende Angestellte verstärkt, die sich mit der Revolution identifizierten. Die Gebietsorganisationen (Arbeiterräte in den Kreisen, Stadtbezirken und Komitaten) wurden weiter ausgebaut, und am 14. November konnte trotz versuchter Gegenmaßnahmen der Regierung der "Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest" gebildet werden.1 Und selbst über diesen Punkt ging die Entwicklung noch hinaus: Zwei Tage später gelangten mit Sándor Rácz, Sándor Bali, György Kalocsay und Ferenc Töke Arbeiterführer an die Spitze des Zentralen Arbeiterrates, die noch radikaler eingestellt waren als die bisherigen Führer. Obwohl die für den 21. November 1956 in Budapest vorgesehene Gründung des landesweiten Arbeiterrates von bewaffneten Kräften der Kádár-Regierung und sowjetischem Militär verhindert wurde, funktionierte der Zentrale Arbeiterrat de facto als landesweite Zentrale der Arbeiterräte. Die einzige wirksame politische Waffe, welche die Arbeiterräte jetzt noch in den Händen hielten, war der politische Streik. Nach einem entsprechenden Aufruf des Zentralen Arbeiterrates vom 17. November hatte die Bevölkerung landesweit damit begonnen, die Arbeit wieder aufzunehmen und den aus Protest gegen die sowjetische Invasion vom 4. November ausgerufenen Streik zu beenden. Jetzt jedoch, nach dem oben erwähnten Zwischenfall -

-

Arbeiterräte, demokratische Freiheitsrechte) und der gleichzeitigen Durchsetzung

von

Garantien

gegenüber der Sowjetunion (ein gesondertes Abkommen mit den Russen nach dem Abzug ihrer Truppen, Garantien zur Verhinderung der Verfolgung von Kommunisten, die Übernahme gewisser Grundprinzipien des Sozialismus in die neue Verfassung usw.). Zur Geschichte des Zentralen Budapester Arbeiterrates, vgl. auch das Interview mit einem der ehemaligen Leiter des ZAR, Sándor Rácz: „Der Arbeiterrat hat der Revolution seinen Stempel aufgedrückt (...)", welches der Leiter der "Fliegenden Universität" der demokratischen Opposition in Ungarn, Sándor Szilágyi, führte und in der Samisdat-Zeitschrift "Beszelö" (Sprecher) N° 7 / 1984 veröffentlichte. Eine vollständige deutsche Übersetzung dieses Interviews erschien in der Zeitschrift „Gegenstimmen" N° 16 / 1984 (Wien), Auszüge daraus auch in: Sozialistisches Osteuropakomitee (Hrsg): Ungarn 1956 1986. Hamburg: Osteuropa Info Nr. 66 (2. Quartal 1986), S. 16-30.

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235 vom

21. November, wurde

vom

Zentralen Arbeiterrat ein

48-stündiger

Generalstreik

ausgerufen, der im ganzen Land fast vollständig befolgt wurde.1 Für das neue Regime war das Vorgehen gegen die Arbeiterräte auch deshalb problematisch, weil ihnen ähnlich wie schon zuvor der Parteiopposition nur schwer nachzusagen war, sie seien „systemfremd". Die Arbeiterräte hatten nichts mit jenen extremistischen Ausschreitungen gegen Ende Oktober 1956 zu tun, die von der kommunistischen Propaganda später zum Synonym der „faschistischen -

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Konterrevolution" hochstilisiert wurden. Sie standen auch nicht unter dem Einfluß der politischen Parteien. Im Gegenteil: Sie traten gegen die Ausbreitung der Parteien auf und setzten ein Verbot organisatorischer Aktivitäten der neuen Parteien innerhalb der Betriebe durch. Auch von den bewaffneten Gruppen hielten sie sich fern. Ganz im Gegenteil: Sie sahen sich als Basisorganisationen eines im ursprünglichen Sinn verstandenen Sozialismus, gleichzeitig identifizierten sich ihre Führer mit wenigen Ausnahmen vollständig mit den Zielen der Revolution. Sie hatten kaum Zeit und reale Möglichkeiten für die Entwicklung politischer Programme. Und wenn doch, so zielten diese politischen Vorstellungen (mit einiger Unsicherheit) auf ein demokratisches politisches Gemeinwesen auf der Grundlage eines Mehrparteiensystems, verbunden mit, von Selbstverwaltungs- und kollektivistischen Vorstellungen dominierten neuen

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„proletarischen" Wirtschaftseinrichtungen. In der Frage der komplizierten politischen Aufsplitterung bzw. Pluralität des Herbstes 1956 unterschied der oppositionelle Budapester Historiker Miklós Szabó im Jahre 1986 vier politische Kräfte, die während der Revolution agierten: die Gruppen der ehemaligen Parteiopposition unter der Führung von Imre Nagy, die nichtkommunistischen Parteien der Koalitionsregierung, die bewaffneten Aufständischen und die Arbeiterräte und schließlich den politischen Katholizismus.2 Im Jahre 1992, also in den ersten Jahren des demokratischen Übergangs, unternahm der Historiker György Litván einen erneuten Versuch, den bisher ziemlich undifferenziert gebrauchten Begriff der „revolutionären Zur Rolle der Arbeiterräte im Herbst 1956 und zu den Widerstandsaktionen, die vom Zentralen Arbeiterrat von Groß-Budapest koordiniert wurden, vgl.: Varga, László: Munkástanácsok 1956 (Arbeiterräte 1956), in: ders.: Az elhagyott tömeg 1950-1956 (Die verlassene Menge 1950 -1956), Budapest: Cserépfalvi Budapest Fováros Levéltára, 1994. S. 199-237. Zu den Dokumenten des Zentralen Arbeiterrates vgl. Varga, László: A Nagybudapesti Központi Munkástanács irataiból (Aus den Unterlagen des Zentralen Arbeiterrates von Groß-Budapest), in: Társadalmi Szemle, 1991. N° 8-9., S. 142-155, sowie in: Társadalmi Szemle, 1991. N° 11, S. 79-93. Die Erinnerungen der Führer der Arbeiterräte wurden publiziert in: Kozák, Gyula Molnár, Adrienn (szerk.): „Szuronyok hegyén nem lehet dolgozni!" Válogatás 1956-os munkástanácsvezetok visszaemlékezéseibol (Auf Bajonettspitzen kann man nicht arbeiten. Ausgewählte Erinnerungen von Arbeiterräteführern des Jahres 1956), Budapest: Századvég 1956-os Intézet, 1993. Vgl. dazu auch: Bill Lomax (ed.) Hungarian Worker's Councils in 1956, New York, Columbia University Press, 1990, sowie: Kemény, István, Lomax, Bill (szerk.), Magyar Munkástanácsok 1956ban (Ungarische Arbeiterräte im Jahr 1956) Párizs, Magyar, Füzetek Atlanti, Kutató és Kiadó Társulat, 1986. Vgl. Szabó, Miklós: Hogyan látjuk ma 1956-ot? (Wie sehen wir 1956 heute?), in: ders.: Politikai kultúra Magyarországon 1896-1986 (Politische Kultur in Ungarn 1896 1986). Budapest: Atlantisz, 1988. -

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236 nationalen Einheit" neu zu interpretieren.1 Seine Studie stützt sich nur teilweise quasi als Ausgangspunkt- auf die, in den zwölf Tagen der Revolution sichtbar gewordenen, politischen Tendenzen. Mindestens genauso stark richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Herausbildung einer Tradition von 1956 und auf die verschiedenen Interpretationen nach 1989. Auf der Grundlage all dieser Aspekte unterscheidet György Litván vier politische Tendenzen von freilich sehr unterschiedlichem Gewicht die bereits im Oktober 1956 präsent gewesen seien: die reformsozialistische, die nationaldemokratische, die national-konservative und die rechtsextreme Tendenz. -

-

Das Thema der

-

politischen Gliederung der Akteure von

1956 wirft weitere Probleme

auf, ganz abgesehen davon, daß die beiden erwähnten Versuche nicht als abgeschlossen

können. Auf eines der Probleme hat der oppositionelle Philosoph und Politiker Jahre, Gaspar Miklós Tamas, später verwiesen, wonach „der substantielle politische Inhalt von 1956 (...) nur beschrieben werden kann in den Termini innerer Konflikte der Weltgeschichte des Sozialismus".2 Die im Rahmen der kommunistischen Weltbewegung unternommenen mittelosteuropäischen Bestrebungen der „Suche nach neuen Wegen", der „linke Anteil" im sozialen Programm der ungarischen Revolution von 1956 oder der "Prager Frühling", 1968, können bei dieser Annäherung an das Problem verstanden werden als die (abgeschlossene) Geschichte des historischen Versuchs einer inneren Erneuerung oder Reformierung der sowjetischen Systeme, gleichsam als die (immer wieder abgebrochenen) dynamischen Phasen dieses

gelten

der 70er und 80er

Reformprozesses.

Erst viereinhalb Jahrzehnte nach

1945, hervorgerufen durch den Systemwechsel für die ungarische Gesellschaft wieder eine Gelegenheit, sich auf der Grundlage freier Parlamentswahlen ein Bild von der eigenen politischen Strukturiertheit zu machen. Zwischen diesen beiden historischen Punkten bot einzig das Jahr 1956 einen gewissen Anhaltspunkt, zumindest hinsichtlich der Frage, worin die Kontinuitäten der politischen Kultur Ungarns bestanden bzw. wo neue Phänomene auftauchten, und umgekehrt: Einzelne Parallelen zwischen 1945 und 1990 ermöglichen es erst, gewisse Rückschlüsse zu ziehen über die politischen Aufsplitterungen, die sich hinter der scheinbaren Geschlossenheit der Revolution abzuzeichnen begannen. Freilich verkörperten die konkreten politischen Akteure, die Parteien, zu keinem Zeitpunkt eine politische Ideologie "in Reinkultur", und noch weniger lassen sich das damaligeWählerverhalten oder Wählerlager mit politischen Ideologien identifizieren. Trotzdem bleibt es interessant festzuhalten, und auch 1956 liefert dafür Beweise, daß gewisse Ideenkreise (z.B. ein linker Sozialismus, volkstümlich-nationale Dritte-WegVorstellungen und ein christlicher Konservativismus) in Ungarn ein beständiges Phänomen darstellen, während etwa das unmittelbar nach 1990 zu beobachtende große Gewicht liberaler Parteien eine historisch neue Erscheinung in der politischen Kultur Ungarns ist. Und dies, obwohl die Werte einer liberalen Demokratie bereits 1956 in 1989/1990, gab

es

Litván, György: Az 1956-os magyar forradalom eszméi és irányzatai (Ideale und Tendenzen der

Ungarischen

von 1956), in ders.: Októberek üzenete. Válogatott törteneti írások (Die Oktobermonate), Budapest Osiris, 1996. 347-359. pp. Tamas, Gaspar Miklós: A Nagy Imre-ügy (Der Fall Imre Nagy), in: Beszelö, 1996. 5. sz

Revolution

Botschaft der

-

.

237

des Totalitarismus jedoch erlangte Einfluß. Die rechte nennenswerten noch nach 1990 irgendeinen weder im Jahre 1956 nach dem Leben Totalitarismusvariante war 1945 aus politischen Ungarns verbannt linke hinter der Fassade der sich „volksdemokratischen" worden, die Spielart verbarg kommunistischen Partei. Es ist bemerkenswert, daß der Rechtsextremismus im Herbst 1956 wenn auch nur sporadisch in Erscheinung treten konnte, obwohl die eben erwähnte Verbannung und sein blutiges Fiasko von 1944 erst ein gutes Jahrzehnt zurücklagen. Gerade am Beispiel von 1956 wird aber auch deutlich, wie gut sich außergewöhnliche Situationen für die Überzeichnung, für das manipulative Aufbauschen solch extremer Manifestationen,

Erscheinung

traten. Die rechte oder linke Variante

-

-

eignen.

Die komplexe Entwicklung des ungarischen Herbstes 1956 wurde nach zwölf dramatischen Tagen, gerade als sich die Situation zu konsolidieren begann, von russischen Panzern abrupt unterbrochen. Die ohne dieses Eingreifen vorstellbaren Entwicklungen kann natürlich niemand zuverlässig einschätzen. Dennoch können Beschreibungen solcher abgebrochenen historischen Ereignisse in der Möglichkeitsform gewagt werden. Es lassen sich Sinn und Charakter solch unvollendeter Entwicklungen retrospektiv aus der Analyse der beteiligten Kräfte und Tendenzen gewinnen oder Schlußfolgerungen aus den „unterirdischen" Langzeitwirkungen in der Gesellschaft ziehen. In diesem Sinne kann die Vermutung geäußert werden, daß die mögliche dominante Kraft in Ungarn 1956 in einer großen Synthese eines „dritten Weges" aus links-sozialistischen und national gesinnten Kräften bestanden hätte, ähnlich den Gedanken und Vorstellungen, die der wohl bedeutendste politische Denker Ungarns, István Bíbó, zur Situation nach 1945 entwickelt hat.1

5. Der Zerfall des

Typs

politischen Systems sowjetischen

In den Jahren nach 1953 wurde die sowjetische Politik, welche in dieser Periode eine stufenweise, vorsichtige Öffnung gegenüber dem Westen, bei gleichzeitiger Priorität der Einheit des sowjetischen Blocks, versuchte, mit einer komplexen Krise an der Peripherie

des

eigenen Machtbereichs konfrontiert

in erster Linie in Polen und

-

Ungarn.2

Festgehalten werden muß: Über Moskaus eigene Informationskanäle liefen im Frühjahr 1956 immer mehr Meldungen über das zunehmende Erstarken der Parteiopposition und der reformkommunistischen Stimmungen, besonders innerhalb der Intelligenz. Noch mehr beunruhigten Moskau3 die Probleme innerhalb des Politbüros der MDP und István Bibó: Democracy, Revolution, Self-Determination. Selected Writings, op. cit. Die Entwicklung in Ungarn im Frühjahr und Sommer 1956 hat János M. Rainer in diesem Band ausführlich dargestellt. Vgl. dazu die erst seit kurzem zugänglichen, nach Moskau gesandten Berichte des sowjetischen Botschafters in Budapest, Juri Andropow, über seine Gespräche mit Rákosi (am 18. April 1956), publiziert in: Varga. László: Andropov jelenti. A Szovjetunió budapesti nagykovetének

Vgl.

238

die im Kontext der

Farkas".1

Rehabilitierungsproblematik

entstandene

„Angelegenheit Mihály

zunehmenden Spannungen innerhalb der ungarischen ihre starke Verunsicherung, welche durch den XX. Parteitag der Führungsgruppe KPdSU, insbesondere durch Chruschtschows dortiges Auftreten, ausgelöst worden war. Die von Chruschtschow, in Berufung auf Lenin, erwähnte Möglichkeit unterschiedlicher „nationaler Wege zum Sozialismus" und seine verschwommene Formel von der „begrenzten Vielfalt in der Einheit" drückten die bereits weiter oben skizzierte Erwartung aus, daß sich nun nach dem ausdrücklichen Verzicht auf stalinistischen Terror und imperiales Diktat ohne eine wesentliche Gefährdung des Zusammenhalts des sozialistischen Lagers, kommunistische Regime entwickeln würden, die für sich selbst sorgen könnten. Diese Fehleinschätzung erwies sich für die osteuropäischen „Volksdemokratien" als Zeitbombe von unerkannter Sprengkraft, wie sich dann in der polnisch-ungarischen Doppelkrise zeigen sollte. Die ultima ratio, das Schlüsselmoment sowjetischer "Krisenwahrnehmung" war immer, wie auch bei späteren Anlässen, die Frage, ob die personelle Zusammensetzung des engsten Führungszirkels der jeweiligen nationalen Partei den sowjetischen Interessen noch entsprach, d.h. ob deren Handlungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen im Sinne jeweiliger sowjetischer Zielvorgaben noch gesichert war. Die Besuche Suslows im Juni und Mikojans im Juli 1956 in Budapest, die anfängliche "Stärkung" der Stellung Rákosis und seine anschließende Absetzung2 von der Funktion des Ersten Sekretärs waren Ereignisse, die sich im Rahmen der traditionellen Krisenbewältigung bewegten. Die ungarische Parteiführung registrierte im Spätsommer bzw. Frühherbst 1956 mit zunehmender Furcht, wie die Parteiopposition und die Massenbewegung der Auslöser

dieser

war

-

-

tárgyalásai vezetö magyar politikusokkal 1956. április 18. szeptember 3. (Andropow berichtet. Die Verhandlungen des sowjetischen Botschafters in Budapest mit führenden ungarischen Politikern zwischen dem 18. April und dem 3. September 1956), in: Levéltári Szemle (ArchivRundschau), 1997. 1. sz.; vgl. des weiteren die Meldungen Andropows über Gespräche mit Rákosi und dem Ministerpräsidenten András Hegedüs am 29. April 1956, in: A "Jelcin-dosszié" (das "Jelzin-Dossier"), a.a.O., 21-23. pp., sowie über das Gespräch mit Hegedüs am 4. Mai 1956, in: Varga, László, Andropov jelenti (Andropow meldet..., a.a.O.) und Andropows Bericht über sein Gespräch mit Rákosi am 6. Mai 1956, ebd. Der ehemalige Verteidigungsminister und Komintern-Funktionär, Mihály Farkas, der von Mátyás Rákosi und anderen hinsichtlich des Terrors und der Schauprozesse persönlich belastete Funktionärs, wurde im Herbst 1956 zum Sündenbock und Hauptverantwortlichen für die Parteisäuberungen und die konzeptionellen Prozesse in Ungarn gemacht und 1957 in einem Geheimprozeß zusammen mit seinem Sohn, dem ÁVH-Oberst Vladimir Farkas, und anderen hochrangigen Staatssicherheitsoffizieren verurteilt. Der Besuch Suslows fand vom 8. bis 14. Juni 1956 statt. Er verhandelte mit Mitgliedern der MDP-Führung, außerdem gesondert mit János Kádár und Imre Nagy. Im Ergebnis dieses Besuchs wurde Rákosis Position vorübergehend gestärkt. Der Besuch Mikojans vom 17. Juli 1956 kam für die ungarische Parteiführung, namentlich für Rákosi, völlig überraschend. Er hatte den einzigen Zweck, dem ungarischen Politbüro die bereits in Moskau durch das KPdSU-Präsidium beschlossene Absetzung Rákosis mitzuteilen und als dessen Nachfolger Ernö Gero einzusetzen. Die Absetzung Rákosis wird ausführlicher beschrieben in Kapitel 9 des Aufsatzes von János M. -

Rainer in diesem Band.

239

ungarischen Gesellschaft schrittweise die Lenkung der Presse, des Rundfunks, ja der gesamten Öffentlichkeit übernahmen. Der gerade aus der Sowjetunion zurückgekehrte und nach Jugoslawien weiterreisende Ernö Gero1 äußerte sich am 12. Oktober gegenüber dem Sowjetbotschafter Andropow über diese Situation wie folgt: „(...) nun ist klar, daß Nagy mit einem eigenen Programm in die Politik zurückkehren will (...). Es ¡st abzusehen, daß man Nagy nach einer gewissen Zeit wahrscheinlich in die Parteiführung zurückholen muß, in das ZK, eventuell sogar in das Politbüro da in dieser Hinsicht ziemlicher großer Druck ausgeübt wird. Wenn Nagy aber in das Politbüro zurückkehrt, kann es möglich sein, daß er der Herr der Lage wird."2 Mehr noch als diese Vision erschreckte Andropow jedoch die völlige Ratlosigkeit des ungarischen Ersten Sekretärs hinsichtlich dessen, was in dieser Situation zu tun sei. So berichtete er nach Moskau, wenn man die bisherige Politik „einer Vermeidung der Konfrontation" weiter verfolge, werde vermutlich Imre Nagy zum Führer des Landes.3 Wenige Tage später war diese demoralisierte ungarische Führung mit einer innenpolitischen Lage konfrontiert, die durch die Forderungen der ungarischen Studenten vom 22V23. Oktober, des ungarischen Presseechos auf den polnischen Oktober, von Meldungen über Ungehorsam und Befehlsverweigerung in der ungarischen Armee und Polizei und der explosionsartigen Verbreitung oppositioneller Forderungen in der ungarischen Gesellschaft4 charakterisiert war. Andropow sah sich am 23. Oktober veranlaßt, Moskau zu alarmieren: „Wir haben den Eindruck, daß die ungarischen Genossen in der so entstandenen Atmosphäre kaum in der Lage sind, ohne Hilfe den Weg des entschlossenen und mutigen Handelns einzuschlagen."5 Überlegungen zu einem Einsatz sowjetischer bewaffneter Kräfte waren bereits Monate vorher angestellt worden. Entsprechende detaillierte Einsatzpläne waren damals von Oberst Malaschenko, dem stellvertretenden Stabskommandeur des in Ungarn stationierten Sonderarmeekorps („osobi korpus") ausgearbeitet worden.6 Relevant -

Erste Sekretär, Ernö Gero, war zuvor von Chruschtschow auf die Krim eingeladen Tito seinen Urlaub verbrachte. Es war hier zu ersten informellen Gesprächen gekommen, um den schwierigen Prozeß der „Versöhnung" zwischen Jugoslawien und Ungarn einzuleiten. Vgl. dazu: Veljko Micunovic: Moskauer Tagebücher 1956-58, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Höpken, Stuttgart 1982. Andropows Bericht über das mit Ernö Gero am 12. Oktober 1956 geführte Gespräch, in: Hiányzó lapok 1956 törteneteböl. Dokumentumok a volt SZKP KB levéltárából. (Fehlende Seiten aus der Geschichte von 1956. Dokumente aus dem Archiv des ehemaligen Zentralkomitees der KPdSU), hrsg. v. Sereda, Vjatscheslav Stikalin, Aleksandr, Budapest: Mora, 1993, S. 85. Vgl. ebd.. S. 90. Vgl. dazu die zwischen dem 18. und 23. Oktober erstellten Stimmungsberichte der Abteilung Partei- und Massenorganisationen des ZK der MDP (MDP KV Part- és Tömegszervezetek Osztálya 1956. okt. 18-23. közötti jelentései), in: MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 62/38. ö. e., 40-45, 51-65. pp. Bericht Andropows vom 23. Oktober 1956, in: Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti. (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente), a.a.O., S. 342. Vgl. dazu: Je. I. Malasenko: A Különleges Hadtest Budapest tüzében. Egy szemtanú visszaemlékezései (Das besondere Armeekorps im Feuer von Budapest. Erinnerungen eines Zeitzeugen), Der

neue

worden,

wo

-

240

wurden sie am 23. Oktober nachmittags, als die Demonstration der Studenten Manifestation des Volkes wurde.

zur

Zu diesem Zeitpunkt nahmen der sowjetische Botschafter, Juri Andropow und der militärische Oberberater im Ungarischen Verteidigungsministerium, Generalleutnant Tichonow, Verbindung mit dem Oberkommando des in Székesfehérvár stationierten Sonderarmeekorps sowie mit der Moskauer Zentrale auf. Sie informierten diese Stellen über die Gefährlichkeit der entstandenen Situation. Das gleiche tat etwa zeitgleich Ernö Gero, der am nächsten Tag zu einer geheimen „ad hoc"-Beratung der Parteiführer des Ostblocks zur Situation in Polen nach Moskau eingeladen worden war, seine Teilnahme entweder an an diesem Treffen jedoch aufgrund der aktuellen Lage absagte.1 Ob Gero eine formale, schriftliche Bitte Andropow oder an Chruschtschow gerichtet hinsichtlich der Entsendung sowjetischer Truppen nach Budapest geäußert hat, können wir in Ermangelung entsprechender Dokumente nicht eindeutig beantworten. Was Chruschtschow jedoch den am folgenden Tag in Moskau zusammengerufenen osteuropäischen Parteiführern mitteilte daß Gero den sowjetischen Militärattache in Budapest gebeten habe, sowjetische Truppen zu entsenden2, erscheint sehr unwahrscheinlich. Als früherer Kominternfunktionär und erfahrene Vertrauensperson der Sowjets war Gero sicher mit den Gepflogenheiten des blockinternen „Dienstweges" in solchen brisanten Situationen vertraut. -

-

-

Die tatsächlichen Schlüsselfiguren im Prozeß der politischen Entscheidungsvorbereiwaren vermutlich eher die obersten Führer der in Ungarn stationierten Streitkräfte, der sowjetische Nachrichtendienst und der Botschafter Andropow. Die sowjetische Armee befand sich, wegen der Massenproteste und dem nicht mit Moskau abgestimmten Machtwechsel an der Spitze der polnischen Partei, seit dem 18. Oktober in Gefechtsbereitschaft. Am 21. Oktober hatte sich die politische Führung in Moskau jedoch gegen eine Invasion ausgesprochen.3 In der analogen, ja wesentlich gefährlicheren Situation als in Ungarn war die frustrierte sowjetische Militärführung, die sich selbst und das Imperium gefährdet sah, zunehmend bestrebt, in ihren Meldungen an die politische Führung die Tatsachen „zu verstärken". Sie neigte sogar dazu, den

tung

in:

Szovjet katonai intervenció 1956 (Die sowjetische Militärintervention 1956), Szerk. és bev. (hrsg. u. eingeleitet von) Jenö, Györkei Horváth, Miklós, Budapest: Argumentum, 1996, 214-

217. pp. Vgl. dazu: Az 1956. Oktober 24-i moszkvai értekezlet (Die Moskauer Beratung vom 24. Oktober 1956), Közli: Hajdu, Tibor (Dokumentiert von Tibor Hajdu), in: Az 1956-os Magyar Forradalom Torténetének Dokumentációs és Kutató Intézete Evkönyv I. 1992 (Jahrbuch des Instituts für die Geschichte der Revolution von 1956. Bd. 1 / 1992), Budapest: 1956-os Intézet, 1992. 149-156. pp. Erneut publiziert in: Döntes a Kremlben (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., 173-180. pp. Alle weiteren Zitate aus dem Dokument folgen letzterer Publikation, S. 176. Vgl. ebd.. S. 176. Vgl. SSSR i Polscha: oktjabr 1956-ogo. Postanovlenija i rabotscheskije sapiski sasedanija presidiuma ZK KPSS (Die UdSSR und Polen: Der Oktober 1956. Beschluß- und Arbeitsprotokolle der Sitzungen des Präsidiums des ZK der KPdSU), in: Istoritscheskij Archiv, 1996. N° 5-6., S. 178191, hier S. 182-183. -

241

politischen Entscheidungen durch militärisches Handeln vorauszugreifen. Zumindest im Fall Ungarn gibt es hierfür zahlreiche Indizien.1 Etwa zwischen 21 und 22 Uhr ungarischer Zeit war die Blitzformation der Armee in den Händen des in Moskau zusammengetretenen Präsidiums der KPdSU, das sofort die Debatte über der Situation

Ungarn auf die Tagesordnung setzte. Nach der „Information des Genossen Schukow"2 unterbreitete Chruschtschow unverzüglich den Vorschlag, wonach „Truppen

in

in Budapest einmarschieren müssen". Weder Chruschtschow noch Schukow verloren auch nur ein Wort über die Bitte der „ungarischen Genossen" oder das Gesuch Geros um Unterstützung durch sowjetische Truppen. Ebensowenig fand es Erwähnung in der Entscheidung des KPdSU-Präsidiums, die bezeichnenderweise nicht wie sonst üblich in Form eines Beschlusses schriftlich fixiert wurde.3 -

-

Wenige Tage vor dem 23. Oktober hatte das Politbüro der MDP in Abwesenheit von Gero und Kádár den Beschluß gefaßt, das Zentralkomitee zu einer außerordentlichen Sitzung zusammenzurufen.4 Zu dieser Sitzung kam es jedoch erst nach der Rückkehr der ungarischen Partei- und Regierungsdelegation aus Jugoslawien am 23. Oktober um 23 Uhr in dem ZK-Gebäude.5 Das ZK debattierte somit nach der Budapester Malaschenko schreibt zum Beispiel folgendes in seinen Memoiren: „Einige Tage vor den Ereignissen (des 23. Oktober) schickten wir dem Moskauer Armeekommando eine Meldung, in der wir über mehrere, bereits früher schon erwähnte Fakten und uns zur Verfügung stehende Informationen berichteten und auf die Möglichkeit ,isolierter' bewaffneter Auftritte in der allernächsten Zukunft hinwiesen. In diesem Moment strich Laschtschenko den Begriff .isoliert' einfach durch, so daß unser Bericht ein objektiveres Bild der kommenden Ereignisse widerspiegelte." Zit. nach: Szovjet katonai ¡ntervenció 1956 (Die sowjetische Militärintervention 1956), a.a.O., S. 218. Der Bericht Schukows auf der Sitzung des Präsidiums der KPdSU am 23. Oktober, gegen 9 Uhr abends Budapester Zeit, behauptete: „Man hat das Radiogebäude angezündet", (in: Döntes a Kremlben [Entscheidung im Kreml 1956], a.a.O., S. 26.). obwohl die sowjetischen Informanten nur Warnschüsse. Tränengas und Rauchgranaten, sowie den Qualm der von der Menge angezündeten Fahrzeuge gesehen haben konnten. Eine sowjetische Information über die Ereignisse in Budapest vom 23. Oktober direkt vom Ort des Geschehens ist bisher nicht aufgetaucht. Schukows Bericht stützt sich vermutlich auf Quellen der sowjetischen Militäraufklärung GRU, die der Forschung gegenwärtig noch nicht zur Verfügung stehen. Alle Zitate nach: Döntes a Kremlben (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 26-27. Zur Rekonstruktion der Invasionsentscheidung vgl. ebd., S. 120-123, sowie Ripp Zoltán: A pártvezetés végnapjai 1956. Oktober 23-31 (Die letzten Tage der Parteiführung. Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956), a.a.O., S. 183-186. Vgl. ebd., S. 339, und: Losonczy Géza sajátkezü feljegyzése az Oktober 23-án Losonczy lakásán tartott megbeszélésrol (Géza Losonczys eigenhändige Aufzeichnungen über die Besprechung am 23. Oktober in Losonczys Wohnung), in: Historia, 1990. 2. sz. S. 34. Vgl. dazu auch:. MOL MDP-MSZMP ir. 276. f. 53/309. ö. e„ MDP PB 1956. okt. 20. Bei dieser außerordentlichen Sitzung des ZK der MDP wurde zwar kein Protokoll geführt, ihr Ablauf wurde jedoch durch zahlreiche indirekte Quellen verläßlich von Zoltán Ripp rekonstruiert. Vgl. Ripp, Zoltán: A pártvezetés végnapjai 1956. Oktober 23-31 (Die letzten Tage der Parteiführung. Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956), a.a.O., S. 190-209. Die von der ersten Hälfte der Sitzung angefertigten Aufzeichnungen, die im Archiv der ungarischen Staatssicherheit aufbewahrt

242

Demonstration, nach dem Ausbruch des bewaffneten Aufstandes und nach der Entscheidung über das sowjetische Eingreifen. Im Referat des Ersten Sekretärs, Ernö Gero, über die Ursachen der Lage, wurden zwei Faktoren hervorgehoben, die zur

entstandenen Situation maßgeblich beigetragen hätten: Es sei ein schwerer Fehler gewesen, den Beschluß des Innenministers über das Verbot der Studentendemonstration aufzuheben.1 Zweitens habe man generell den Einfluß der „konterrevolutionären, antisowjetischen Kräfte" unterschätzt. Nach Angaben von Márton Horváth2 wurden, als dritte Ursache, auch die Aktivitäten der oppositionell gestimmten Presse genannt.3 Gero informierte das ZK auch über den Beschluß des Politbüros, der auf einer informellen Sitzung in seinem Arbeitszimmer gefaßt worden war. In diesem heißt es: „Die Macht muß mit allen Mitteln verteidigt werden, die wichtigsten Machtpositionen müssen gehalten werden." Er teilte den ZK-Mitgliedern auch die „Ergebnisse" seines mit Chruschtschow geführten Telefongesprächs mit: Sowjetische Truppen seien nach Budapest beordert worden, alle personellen Veränderungen innerhalb des Politbüros sollten auf den folgenden Tag verschoben werden. Was Gero den Mitgliedern des Zentralkomitees nicht mitteilte, war, daß die drängende Frage von personellen Änderungen im höchsten Führungsgremium der ungarischen Partei auf ausdrücklichen Wunsch Chruschtschows verschoben werden sollte und zwar solange, bis die von der KPdSU-Führung für das Krisenmanagment in Ungarn bestimmte sowjetische Sonderdelegation in Budapest eingetroffen war: Anastas Mikojan, Michail Suslow, der zum Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Ungarn ernannte Generaloberst, Malinow und der KGB-Vorsitzende, General Iwan Serow4 Den in der rumänischen Haft -

wurden, entsprechen dieser Rekonstruktion vollkommen. Vgl. Törteneti Hivatal Archivuma (Archiv des Amtes für Geschichte im weiteren: TH), TH V-150.006 / 6. sz. dossz., 293-294. pp.

den Studentenvertetem der Budapester Universitäten für den Nachmittag des 23. Oktober angekündigte Demonstration war durch einen Erlaß des Innenministers, László Piros, am späten Vormittag des 23. Oktober verboten worden. Um 12..53 Uhr wurde das Radioprogramm unterbrochen und das Verbot des Innenministers verlesen (zu dieser Zeit versammelten sich bereits die Budapester Studenten und die Delegationen aus der Provinz zur großen Solidaritätsdemonstration mit den polnischen Reformbestrebungen). Um 14..23 Uhr wurde das Radioprogramm erneut unterbrochen und ein weiterer Erlaß des Innenministers verlesen, wonach die Demonstration nun doch erlaubt sei. Um 15.00 Uhr begann die Studentendemonstration am Denkmal von Sándor Petöfi. Márton Horváth (1906-1987), Agitprop-Chef der MKP und der MDP, Chefredakteur des Zentralorgans der Partei „Szabad Nép" (Freies Volk) bis 1956, danach Museumsdirektor. Vgl. das von László Rapcsányi mit Márton Horváth geführte Interview, in: Sorshelyzetek. Emlékezések az ötvenes évekre (Schicksalhafte Situationen. Erinnerungen an die fünfziger Jahre), Budapest: RTV-Minerva, 1986. S. 103, hrsg. von György Vamos. Bemerkenswert erscheint uns folgende erhaltengebliebene Notiz von dieser Sitzung: „(Punkt) 4. Unibesetzung des Pol.Büros morgen. Von der SU bewaffnete Kräfte erbitten Vamos aber nur im äußersten Fall." (so in: TH V-150.006/6., S. 293.). Zur Bitte Chruschtschows um Verschiebung der personellen Veränderungen, vgl. die Notizen von der KPdSU-Präsidiumssitzung vom 23. Oktober 1956 („Gen. Chruschtschow: Wir müssen Nagy in die politische Tätigkeit einbeziehen. Aber vorerst noch nicht zum (Minister-) Präsidenten machen."), in: Döntes a Kremlben (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 27, sowie die Aufzeichnungen von der Moskauer Präsidiumssitzung vom 24. Oktober („Genosse Chruschtschow hat Genossen Gero vorgeschlagen. Die

-

von

243

geschriebenen Erinnerungen von Imre Nagy zufolge hatte die sowjetische Führung telefonisch verlangt, bis zur Ankunft ihrer Emissäre „die politischen Entscheidungen, die Ablösung von Personen, die Frage der Zusammensetzung des Politbüros oder der Regierung, weiterhin die Entscheidung der sich aus der Situation ergebenen politischen Fragen (...) in der Schwebe zu halten".1 Unter den Vorschlägen, die Ernö Gero auf der ZK-Sitzung vortrug, befand sich auch der der Verhängung des Ausnahmezustandes, wenn auch vorerst nur als Möglichkeit. Alle diese Maßnahmen wurden vom ZK zur Kenntnis genommen. Die sowjetische Bitte nach einer Verschiebung der Personalentscheidungen konnte das ZK Gero jedoch nicht erfüllen. „Die große Mehrheit der sich zu Wort Meldenden forderte angesichts der Ereignisse dringende Maßnahmen. Sie schlugen gleichzeitig die Wahl einer Findungskommission vor, die Vorschläge für die notwendigen personellen Veränderungen unterbreiten sollte."2 Im Ergebnis dieser Forderungen wurde, der erst zehn Tage zuvor wieder in die Partei aufgenommene,3 Imre Nagy gegen Morgen des 24. Oktober zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Die Zusammensetzung der Parteiführung war ebensowenig geändert wie die Beschlüsse der letzten Nacht. Gegen Mittag des 24. Oktober traf die von Anastas Mikojan und Michail Suslow geführte Delegation des sowjetischen Parteipräsidiums in der Budapester Parteizentrale ein. In dem, noch am Nachmittag desselben Tages nach Moskau abgeschickten, Bericht der sowjetischen Delegation wurde die Situation ziemlich optimistisch beurteilt. Dieser war nach Gesprächen mit der ungarischen Empfangsdelegation, bestehend aus Ernö Gero, András Hegedüs, János Kádár und Imre Nagy und zuvor mit der militärischen Führung und dem „Stab" verfaßt worden. Von noch größerem Optimismus geprägt waren die Formulierungen, die Chruschtschow gegenüber den tschechischen, deutschen und bulgarischen Parteiführern in Moskau äußerte. Mikojan und Suslow hatten in ihrem Bericht geschrieben: „Wir haben den Eindruck, daß vor allem Genosse Gero, aber auch andere Genossen, die Kraft des Gegners überschätzen und ihre eigene Kraft dagegen unterschätzen."4 Chruschtschow interpretierte dies dahingehend, daß „die Situation gar nicht so schrecklich (sei), wie es die ungarischen Genossen und der sowjetische Botschafter dargestellt haben. (...) Bis zum Morgen wird voraussichtlich die Ruhe wieder vollständig hergestellt sein".5 alles 1 2

3

4 5

zu

unternehmen, damit das Plenum des Zentralkomitees der MDP nicht

vor

der

Niederwerfung der Demonstration zusammentritt."), zit. nach: Ebd., S. 177. Nagy, Imre: Gondolatok, emlékezések (Gedanken, Erinnerungen), a.a.O., S. 78. MOL XX-5-h. V-150.000. Vizsg. ir. 1. köt. 78. p. (Untersuchungsakten Imre Nagy, Bd. 1., S. 78), Nagy Imre kihallgatási jkv., 1957. jün. 14 (Vernehmungsprotokoll Imre Nagy vom 14. Juni 1957). Imre Nagy war am 13. Oktober 1956 durch Beschluß des Politbüros der MDP wieder in die Partei aufgenommen worden. In der Begründung zu diesem Beschluß heißt es: „Obwohl er politische Fehler begangen hat. rechtfertigten diese nicht seinen Ausschluß aus der Partei." Bei Nagys Parteiausschluß hätte „die persönliche Voreingenommenheit des Genossen Mátyás Rákosi eine bedeutende Rolle gespielt". Der Beschluß und seine Begründung wurden zusammen mit dem Brief Imre Nagys vom 4. Oktober (in dem dieser um seine Wiederaufnahme in die Partei bat) am nächsten Tag im Parteiorgan „Szabad Nép" publiziert. Döntes a Kremlben (Entscheidung im Kreml 1956). a.a.O., S. 182. Ebd., S. 179.

244

Die Einbeziehung Imre Nagys in die Parteiführung hatte bereits am 23. Oktober abends in Moskau eine Kontroverse in der sowjetischen Führung ausgelöst. Mikojan, der auch einer militärischen Einmischung ablehnend gegenüberstand, war der Auffassung: „Ohne Nagy kann man der Bewegung nicht Herr werden und so ist es auch für uns billiger." Molotow widersprach: „Durch den Weg Nagys wird Ungarn nur (weiter) untergraben."1 Chruschtschows Kompromißlösung, Nagy in die Führung einzubinden, ohne ihn jedoch zum Ministerpräsidenten zu machen, war eher Ausdruck seines Mißtrauens. Bereits die ersten Berichte ließen die zwischen Nagy und Gero bestehenden Meinungsverschiedenheiten erkennen, obwohl sie versuchten, diese Gegensätze abzuschwächen.2 Am Abend des 24. Oktober, zwischen 20.00 Uhr und 21.00 Uhr, fand unter Teilnahme von Mikojan und Suslow eine Sitzung des ungarischen Politbüros statt. Auf dieser wurden ganz im Zeichen des allgemeinen Optimismus die politischen Aufgaben besprochen, die sich im Anschluß an eine als sicher betrachtete Normalisierung ergeben würden.3 Selbst die Verkündung einer Feuerpause stand auf der Tagesordnung.4 Doch das Gegenteil geschah. -

Alle Zitate nach: W.I. Malins Aufzeichnung von der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU am 23. Oktober 1956, in: Döntes a Kremlben (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 182. Zu den aufschlußreichen Malin-Notizen von den Präsidiumssitzungen des ZK der KPdSU zwischen September und November 1956, vgl. auch: János M. Rainer: The Road to Budapest, 1956. New Documentation on the Kremlin's Decision To Intervene. Part 1, in: The Hungarian Quarterly, Vol. 37. 1996. N° 142. pp. 24-41. Vgl. A Jelcin-dosszié (Das Jelzin-Dossier), a.a.O., S. 49. Vgl. Ötvenhat októbere és a hatalom. A Magyar Dolgozók Pártja vezetö testületeinek dokumentumai 1956. Oktober 24-28. (Der Oktober 1956 und die Macht. Dokumente der Führungsgremien der Partei der Ungarischen Werktätigen vom 24. bis 28. Oktober 1956). a.a.O., S. 29-30. Sitzung des Politbüros der MDP vom 24. Oktober 1956. Vermutlich von dieser Sitzung (eventuell auch von der anschließenden, um Mitternacht fortgesetzten Beratung mit den militärischen Führern) ist eine handschriftliche Notiz Imre Nagys überliefert, die sich entweder auf die gefaßten Beschlüsse oder auf seine eigene Wortmeldung bezieht: „1. Feuerpause. 2. Wiederherstellung des Lebensmittelhandels. Aufruf 3. Unterstützt die Partei und die Regierung. Es muß eine solche Stimmung geschaffen werden, durch die die Bevölkerung hinter der Partei und Regierung stehen (sie !) Aufruf an das Volk von Seiten des ZK und der Regierung. Gegenpropaganda.", in: MOL XX-5-h. V-150.000. Vizsg. ir. 8. köt. 51. p. (Untersuchungsakten Imre Nagy. Bd. 8. S. 51). Einen Hinweis darauf, daß die Feuerpause bereits als Beschluß vorlag, gibt eine Notiz von Károly Kiss auf der ZK-Sitzung am folgenden Tag: „Während der nächtlichen Kämpfe, als sich diese ernsthaft zu verschärfen begannen, wurde von den sowjetischen Führungsorganen bei Tagesanbruch der Befehl zur Feuerpause erlassen." A Magyar Dolgozók Pártja vezetö testületeinek dokumentumai 1956. Oktober 24 Oktober 28 (Dokumente der Führungsgremien der Partei der Ungarischen Werktätigen vom 24. bis 28. Oktober 1956), a.a.O., S. 35. Sitzung des Politbüros der MDP vom 25. Oktober 1956. Eine ähnlich lautende Anweisung erhielt am selben Tag Oberst Pal Maléter, der mit seinen Truppen in der Gegend um die Kilián-Kaserne in Kämpfe mit den Aufständischen verwickelt war. Vgl. dazu: Horváth. Miklós: Maléter Pal (Pal Maléter. Eine Biographie), Budapest, 1956-os Intézet, 1995. 73. p. -

245 Unter dem psychologischen Eindruck des Blutbades vor dem Parlamentsgebäude1 am 25. Oktober beschloß das MDP-Politbüro auf seiner Sitzung am gleichen Vormittag die Absetzung Ernö Geros. Erster Sekretär wurde nun János Kádár. Am Nachmittag hielt Imre Nagy eine Radioansprache, in der er mitteilte, daß das Parlament nach Wiederherstellung der Ordnung „ein, alle Bereiche erfassendes und fundiertes, Reformprogramm" verabschieden werde. Er verkündete, daß „die ungarische Regierung Verhandlungen über die Beziehungen zwischen der Ungarischen Volksrepublik und der Sowjetunion anstrebt, unter anderem auch über den Abzug der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen". Er versprach ebenfalls den unverzüglichen Rückzug der kämpfenden sowjetischen Truppen, sobald die Ordnung wiederhergestellt sei. Bis zum 26. Oktober zeichneten sich immer deutlicher zwei Richtungen in der Partei- und der mit ihr verflochtenen Armeeführung ab. Die eine Richtung bildeten Imre Nagy und seine Gesinnungsgenossen. Die andere Richtung war die in der Nacht vom 23. zum 24. Oktober gewählte, die Niederschlagung des Aufstandes koordinierende, Militärkommission, sowie Ernö Gero und der stalinistische Ministerpräsident András Hegedüs. Im engeren Kreis des Politbüros setzten sich zunehmend die konzilianten Überlegungen der Nagy-Gruppe durch, die sich immer stärker um Kontakte „nach außen" bemühte. Die politischen Aufgaben wurden nun stärker betont. Dies zeigte sich öffentlich in der bereits erwähnten Radioansprache Imre Nagys vom 25. Oktober (Abzug der sowjetischen Truppen) und in der Absetzung Geros. Diese Tendenz spürten auch die mit der Nagy-Regierung verhandelnden Delegationen. Der sogenannte Stab und die Gruppe um Ernö Gero dagegen beherrschten das, auf breiterer Basis unter dem Etikett Zentralkomitee tagende, amorphe Gebilde. Beide Lager trafen am 26. und am 27728. Oktober in einem großangelegten Zusammenstoß aufeinander. Die erste Runde gewannen eindeutig die Kräfte und Anhänger der alten Ordnung. Die politische Lösung, die sich innerhalb des Politbüros bereits abzuzeichnen begann, wurde von den Mitgliedern der Militärkommission innerhalb des ZK's vereitelt.2 Dabei hatte Imre Nagy selbst die sowjetischen Emissäre bereits über eine mögliche politische Lösung informiert. Sie hörten ihm mißtrauisch und zweifelnd zu: „Wir stehen vor zwei

möglichen Wegen: die Forderungen zurückzuweisen (...) und den Kampf, gestützt auf die sowjetische Armee, fortzusetzen. In diesem Fall verlieren wir jedoch das Vertrauen der friedlichen (...) Bevölkerung. Es wird erneut Opfer geben, was zu einer weiteren Vertiefung der Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung fuhren würde. Wenn wir diesen Weg beschreiten, verlieren wir. Deshalb halten die ungarischen Genossen den zweiten Weg für akzeptabel: die Einbeziehung einiger angesehener Demokraten in die Regierung, (einige) Anhänger der Volksdemokratie, sowohl aus den Reihen der Oktober, vormittags, hatten ungarische Spezialeinheiten und sowjetische Truppen mit Maschinengewehren in einen friedlichen, unbewaffneten Demonstrationszug auf dem KossuthPlatz vor dem Parlamentsgebäude geschossen und ein Blutbad angerichtet. Auf dem Straßenpflaster blieben mehr als 60 Tote und mehrere hundert Verletzte zurück. Die tatsächlichen Hintergründe und die Verantwortung für dieses Massaker sind bis heute nicht restlos geklärt. Vgl. A Magyar Dolgozók Pártja vezetö testületeinek dokumentumai 1956. Oktober 24 Oktober 28. (Dokumente der Führungsgremien der Partei der Ungarischen Werktätigen vom 24. bis 28. Am 25.

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Oktober

1956), a.a.O., S. 57-71.

246

ehemaligen kleinbürgerlichen Parteien, als auch aus den Reihen der Intelligenz, der Studenten, der Arbeiterschaft. (...)." Auf die Warnung, daß der Weg der Einbeziehung bourgeoiser Demokraten ein gefährlich glatter Weg sei, daß man vorsichtig sein müßte, weil

sonst ausrutschen und das Ansehen der Massen verlieren könnte, entgegnete er diesen Schritt in einer Situation äußerster Not tun wolle, damit den daß Nagy, Kommunisten die Führung nicht endgültig aus den Händen gleite.1 Am Abend des 27. Oktober tagte der am Vortag gewählte, engere Kreis der MDPParteiführung, das Direktorium. Imre Nagy setzte sich auf dieser Sitzung eindeutig für bezeichnenderweise noch immer mit politische Schritte ein, die er jedoch verbunden wollte.2 militärischen Maßnahmen" sehen Nach dieser Sitzung „energischen führten Kádár und Nagy in der Nacht eine Unterredung mit Mikojan und Suslow. Die sowjetischen Vertreter unterstützten die von Kádár und Nagy auf der vorangegangenen Sitzung eingebrachten Vorschläge, jedoch meldeten sie nach Moskau nur das, was ihnen die Ungarn als Beschluß der Parteiführung mitteilten: „Kádár neigt dazu, sich in Verhandlungen mit den Widerstandszentren zu begeben. Sie würden sich (am liebsten) völlig verweigern, auch nur ein einziges Widerstandsnest zu ersticken. Nagy sagte, wenn wir mit Aktionen begännen, würde er zurücktreten." So zitierte Chruschtschow auf der Sitzung des KPdSU-Präsidiums am 28. Oktober die in der Nacht aus Budapest erhaltenen Informationen.3 Die politischen Schritte wurden anderntags, auf der am 28. Oktober morgens tagenden, ungarischen Politbürositzung, in der von János Kádár eingebrachten Vorlage, skizziert. Diese Vorlage entsprach offensichtlich den Richtlinien, die das Direktorium am 27. Oktober abends festgelegt hatte. Der Kern dieser Vorlage war die Verabschiedung einer politische Erklärung der neuen Regierung, in der unter anderem die später erfolgende Auflösung der Staatssicherheitsbehörde ÁVH erwähnt wird, der Abzug der sowjetischen Truppen auf der Grundlage der Nagy-Formel vom 25. Oktober, der sofortige Abzug sowjetischer Truppen aus Budapest sowie eine veränderte Einschätzung der gesamtem bisherigen Ereigniskette. Unter aktiver Teilnahme und Unterstützung der sowjetischen Vertreter Mikojan und Suslow nahm das Politbüro nach längerer Diskussion diese Vorlage an und verabschiedete einen entsprechenden Beschluß. Die Führungsorgane der Partei stellten ihre Tätigkeit ein, und zwei Tage später löste sich die Partei der Ungarischen Werktätigen, die MDP, selbst auf. Am 31. Oktober wurde die neue ungarische kommunistische Partei unter dem Namen man

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„Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei" (USAP) gegründet.

Vgl. Bericht von Mikojan und Suslow an das ZK der KPdSU, 26. Oktober 1956 (Teil I), in: Hiányzó lapok 1956 törteneteböl. Dokumentumok a volt SZKP KB levéltárából. (Fehlende Seiten aus der Geschichte von 1956. Dokumente aus dem Archiv des ehemaligen Zentralkomitees der KPdSU), a.a.O., S. 107-108. Vgl. MOL XX-5-h. V-150.000. Vizsg. ir. 7. köt. (Untersuchungsvorgang Imre Nagy, Bd. 7), S. 99-100. Eigenhändige Niederschrift von Imre Nagy. Der Bericht über diese nächtliche Unterredung konnte bisher in den russischen Archiven nicht aufgefunden werden. Die Äußerungen Chruschtschows sind zitiert nach: Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente.), a.a.O.. S. 432-434.

247 Der Zerfallsprozeß der bisherigen Staatspartei erfolgte rasch. Anhand der zugänglichen ungarischen Quellen1 kann die Agonie der MDP und das Denken ihrer engsten Führungsgruppe auf dem Höhepunkt der Krise detailliert beschrieben werden auch wenn es in der Überlieferung einige bemerkenswerte Lücken gibt. Die entscheidende Wende kam am 28. Oktober 1956. Am Mittag verkündete Imre Nagy im Rundfunk den Waffenstillstand. In seiner, am Spätnachmittag2 ausgestrahlten, Rundfunkansprache nannte er die Ereignisse der vergangenen Tage „ein großes, unser gesamtes Volk umfassendes und zusammenschweißendes, nationales, demokratisches Aufbegehren" und verkündete die Erfüllung eines Teils der revolutionären Forderungen.3 Damit wurde die bisherige völlig ablehnende Haltung der Macht gegenüber den sich sehr unterschiedlich artikulierenden Forderungen der Massen aufgegeben. Es war jedoch keine Rede von einer Veränderung des bestehenden politischen Systems. Zwei Tage später, am 30. Oktober, wurde die halbherzige Wende des 28. Oktober vollendet. Das politische Machtzentrum stand der Revolution nicht mehr feindlich gegenüber, es akzeptierte an diesem Tag die Forderungen der Massen. Es wurde eine Mehrparteienregierung gebildet, welche nun mit der Unterstützung der politisch aktiven Gruppen und des größten Teils der öffentlichen Meinung rechnen konnte. Als Imre Nagy den Begriff „Revolution" das erste Mal öffentlich aussprach, legitimierte er die Regierungarbeit und sein eigenes Handeln mit den Forderungen und Zielen der Massenbewegung, die am 23. Oktober ihren Anfang genommen hatte. -

Wir stützen uns hier auf die bereits zitierte Quellenedition "Ötvenhat októbere és a hatalom. A Magyar Dolgozók Pártja vezetö testületeinek dokumentumai 1956. Oktober 24-28." (Der Oktober 1956 und die Macht. Dokumente der Führungsgremien der Partei der Ungarischen Werktätigen vom 24. bis 28. Oktober 1956.) und die im gleichen Band enthaltene Studie von Ripp, Zoltán: A pártvezetés végnapjai 1956. Oktober 23-31. (Die letzten Tage der Parteiführung. Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956.) Budapest: Napvilág Kiadó, 1997. Imre Nagys

Rundfunkansprache begann um

17.25 Uhr.

Vgl. Varga, L. et al.: A forradalom hangja. Magyarországi rádióadások 1956 Oktober 23 november 9. (Die Stimme der Revolution. Rundfunksendungen in Ungarn vom 23. Oktober bis 9. November 1956), Budapest 1989. S. 131. Nagy führte den „tragischen Bruderkampf' auf die -

„schrecklichen Fehler und die verbrecherische Politik des vergangenen Jahrzehnts" zurück. Er kündigte „im Namen der Regierung der demokratischen und nationalen Einheit, der Unabhängigkeit und des Sozialismus" den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Budapest an und den Beginn von Verhandlungen über den vollständigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ungarn. Nagy gab die Auflösung der Staatssicherheit, eine allgemeine Amnestie, die Einführung des Kossuth-Wappens anstelle des kommunistischen Staatswappens und die Einführung des 15. März (Tag der Revolution von 1848) als Nationalfeiertag bekannt.

248

6. Die Reaktion der

sowjetischen Parteiführung1

Die Debatte über die Ereignisse in Ungarn begann am 26. Oktober in Moskau auf der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU. Sie wurde, nach einer zweitägigen Unterbrechung, am Vormittag des 28. Oktober fortgesetzt2 Chruschtschow berichtete über die Verschlechterung der Lage in Ungarn. Selbst die Arbeiter würden den Aufstand unterstützen. Woroschilow, Molotow und Kaganowitsch sprachen sich gegen einen Truppenabzug aus und forderten ein hartes Vorgehen, um den Aufstand zu ersticken.3 Die drei „Falken" kritisierten auch die sowjetischen Unterhändler Mikojan und Suslow, die mit der Lage in Ungarn nicht fertig würden. Malenkow nahm beide in Schutz. Dem schlössen sich Schukow und Saburow an. Sie forderten jedoch energische Maßnahmen, mit deren Umsetzung auch die neu zu schaffende, ungarische Arbeitermiliz beauftragt werden solle. Obwohl man sich bei dieser Debatte zu keinerlei Konsequenzen durchringen konnte, wuchs deutlich die Nervosität gegenüber Imre Nagy und der ungarischen Führung insgesamt, ja selbst gegenüber den nach Budapest entsandten

Kapitel stützt sich in wesentlichen Teilen auf erst seit kurzem zugängliche sowjetische und ungarische Quellen bzw. jüngste Publikationen ungarischer und russischer Forscher. Es handelt sich dabei in erster Linie um: Ötvenhat októbere és a hatalom. A Magyar Dolgozók Pártja vezetö Dieses

testületeinek dokumentumai 1956. Oktober 24-28 (Der Oktober 1956 und die Macht. Dokumente der Führungsgremien der Partei der Ungarischen Werktätigen vom 24. bis 28. Oktober 1956./ (Zusammen publiziert mit der Studie von Zoltán Ripp), Ripp, Zoltán: A pártvezetés végnapjai 1956. Oktober 23-31. (Die letzten Tage der Parteiführung. Vom 23. bis zum 31. Oktober 1956). Budapest: Napvilág Kiadó, 1997.; Döntes a Kremlben 1956. A szovjet pártelnokség vitái Magyarországról (Entscheidung im Kreml 1956. Die Debatten des sowjetischen Parteipräsidiums [Politbüros] über Ungarn), Szerk. Szereda, Vjacseszlav és Rainer, M. János. (Hrsg. von Vjatscheslav Sereda und János M. Rainer) Budapest: 1956-os Intézet, 1996. In diesem Band sind die 1995 aufgefundenen Notizen und Mitschriften der Debatten des höchsten Führungsorgans der KPdSU vom September. Oktober und November 1956 dokumentiert und kommentiert, die der Leiter der Allgemeinen Abteilung des ZK der KPdSU, W. I. Malin, in diesen Sitzungen angefertigt hatte. Vgl. dazu auch Csaba Békés: What are the Malin Notes About ? Soviet Decision Making in Hungary in 1956, in: Electronic Appendix. Cold War International History Project (CWIHP) Bulletin. Washington D.C. 1992, Issue 8-9, S. 1 3.); Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente) Redaktori-sostovitjeli Je. D. Orehova, V. Tj. Sereda, A. S. Stikalin. Moskva, Rosspen, 1998. Mit der Debatte zur Situation in Ungarn begann ab 28. Oktober ein bis zum 6. November fast ununterbrochener Verhandlungsmarathon im KPdSU-Präsidium. Vgl. z.B. Kaganowitschs Haltung (nach den Malin-Notizen): „Die Konterrevolution ist aktiv geworden. (...) Gewisse Zugeständnisse muß man den Arbeitern und Bauern gegenüber machen, wir müssen Kádár eine Anleitung geben, um (die Bewegung) zu neutralisieren. Gegen die konterrevolutionären Stützpunkte ist entschlossenes Vorgehen nötig, man darf nicht zurückweichen." Zit. nach W. I. Malins Notizen von der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU am 28. Oktober 1956, in: Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O.. S. 36. -

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sowjetischen Beauftragten. Es wuchs jedoch auch die Ratlosigkeit. Angesichts der aus Budapest eintreffenden Nachrichten über die dortigen politischen Debatten, vom 27. bzw. vom Morgen des 28. Oktober und angesichts der Gespaltenheit seiner Präsidiumskollegen stellte Chruschtschow die Frage: „Welches sind die möglichen Varianten?"1 Laut den Malin-Notizen gab Chruschtschow darauf folgende Antwort: „Die Regierung handelt, wir helfen. Das kann sehr schnell zu Ende gehen. Oder aber Nagy wendet sich gegen uns, fordert die Einstellung des Feuers und den Abzug der Truppen, danach kommt die Kapitulation." Für diesen Fall sei der Ausweg „(...) die Bildung eines Komitees, (welches) die Macht in die Hände nimmt."2 Diese Überlegung, daß Moskau über seine Emissäre oder auf anderem Wege ein „revolutionär-militärisches Komitee" installieren könnte, war bereits in den wirren Debatten des Präsidiums am 26. Oktober3 aufgetaucht. Aber auch noch am 28. Oktober meinte Chruschtschow, dies sei „die schlechteste Variante."4 Der zur abendlichen Präsidiumssitzung nach Moskau zurückgeflogene Suslow konnte den versammelten sowjetischen Führern über die wichtigsten Punkte der geplanten Deklaration5 der Nagy-Regierung berichten und brachte vermutlich auch einen sofort übersetzten Entwurf derselben mit.6 Suslows Bericht, zu dem etwa zeitgleich Imre Nagy in Budapest seine Rundfunkansprache hielt, verstärkte in Moskau auf jeden Fall den Glauben daran, daß, wie Chruschtschow formuliert hatte, „die Regierung handelt", und in diesem Bewußtsein wurde nachträglich die Regierungserklärung gutgeheißen. Mehr noch: Auch der Truppenabzug aus Budapest bekam grünes Licht. Über all dies konnte Imre Nagy im Detail nichts wissen, aber aufgrund der Politbüro-Debatte vom 28. Oktober sowie seiner früheren Erfahrungen, war er in der Lage, einige Rückschlüsse zu ziehen, die ihn zur Vorsicht veranlaßten. Er konnte zumindest wissen, daß es für ihn ratsam sei, vorläufig nicht über den Rahmen der mit den Sowjets abgesprochenen Maßnahmen hinauszugehen. Am gleichen Tag hatten ihm die Sowjets noch einen Gefallen getan: Die durch ihre Vergangenheit am meisten kompromittierten Politiker, die für die jetzt entstandene Situation die größte Verantwortung trugen, wurden am späten Abend mit ihren Familien aus Budapest nach Moskau ausgeflogen: der ehemalige Erste Sekretär der MDP, Ernö Gero, der ehemalige Ministerpräsident, András Hegedüs, der ehemalige Innenminister, László Piros sowie der ehemalige Verteidigungsminister, István Bata.7 1

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Vgl. Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 38. Arbeitsprotokoll der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU vom 28. Oktober 1956, Notizen von W. I. Malin. Von dieser Sitzung wurde kein offizielles Protokoll angefertigt. Ebd.

Vgl. Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente), a.a.O., S. 412. Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 38. Gemeint ist die bereits erwähnte Deklaration der Nagy-Regierung vom gleichen Tag, die die Ereignisse nicht mehr als Konterrevolution bewertete und die Absicht verkündete, über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn zu verhandeln. Vgl. Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente) a.a.O., S. 436. Zu dieser Gruppe gehörten ausschließlich Vertrauensleute der Sowjets einige Autoren sprechen von einer Rettungsaktion des KGB. Neben den genannten bekannteren Politikern verließen in -

250 Hinter diesem offensichtlich gewordenen Zögern und den Schwankungen verbargen sich dramatische Auseinandersetzungen innerhalb der sowjetischen Parteiführung. Am 30 Oktober1 war der Gruppe der von Molotow geführten Hardliner (neben Molotow waren dies vor allem Woroschilow und Kaganowitsch) eine weitgehend unsicher auftretende „liberale" Gruppe innerhalb des KPdSU-Präsidiums entgegengetreten. Der ZK-Sekretär Schepilow drängte sogar auf eine Überprüfung der gesamten sowjetischen Außenpolitik: „Der Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, daß sich unsere Beziehungen zu den volksdemokratischen Ländern in einer Krise befinden. Die antisowjetische Stimmung ist weit verbreitet. Die tieferen Ursachen sind zu klären. (...) Die Methoden des Herumkommandierens sind zu eliminieren. Wir sollten nicht zulassen, daß sie (d.h. die Gegner des Kommunismus Anm. d. Verf.) die gegenwärtige Lage ausnutzen. Im Hinblick auf unsere Beziehungen ist eine ganze Reihe von Maßnahmen zu erarbeiten." Nach Schepilows Ansicht hätte die Sowjetunion aufgrund der Bitte der ungarischen Regierung ihre Truppen aus Ungarn abziehen müssen: „Zu den bewaffneten Kräften: Wir vertreten das Prinzip der Nichteinmischung." Schukow stimmte diesen Worten Schepilows zu und skizzierte die wichtigsten Aufgaben zur „Bereinigung" der Lage in Ungarn: „Die Truppen sind aus Budapest abzuziehen; wenn erforderlich auch aus (ganz) Ungarn. Für uns ist das eine militärisch-politische Lektion." Ausdrücklich trennte er hierbei jedoch die Frage der in der DDR und in Polen stationierten Truppen. Darüber müsse gesondert im "Politischen Beratenden Ausschuß" des Warschauer Pakts verhandelt werden. Die generelle Überprüfung der blockinternen Beziehungen wurde auch von Jekaterina Furzeva unterstützt.2 Zum Schluß erklärte sich auch Saburow mit dem Truppenabzug einverstanden und hielt die wohl selbstkritischste Rede in dieser Präsidiumsdebatte: „Auf dem XX. Parteitag haben wir gute Arbeit geleistet, doch danach haben wir uns nicht an die Spitze der Initiativen der Massen gestellt. Man kann nicht gegen den Willen des Volkes regieren. Wir sind nicht zu den wahren Leninschen Prinzipien der Leitung übergegangen. (...) Wir müssen die Beziehungen überprüfen. Die -

dieser Nacht auch Erzsébet Andics, Andor Berei und István Kovács mit ihren Angehörigen in sowjetischen Militärmaschinen die Stadt. Laut Moskauer Protokoll war ursprünglich beabsichtigt, sie nach Bulgarien zu bringen sie kamen jedoch schließlich in Moskau an. Vgl. ebd., S. 439. An dieser Sitzung des KPdSU-Präsidiums nahmen laut Malins Protokollnotizen (Arbeitsprotokoll der Sitzung vom 30. Oktober 1956. / Protokoll N° 49, Punkt 1) folgende Mitglieder teil: Bulganin, Woroschilow, Kaganowitsch, Molotow, Saburow, Chruschtschow, Schukow, Schepilow, Svernik. Furzeva, Pospjelow. Das Protokoll N° 49 beinhaltet die Beschlüsse der Sitzungen des Präsidiums des ZK der KPdSU vom 30. und 31. Oktober 1956. „Zur Lage in Ungarn" wurden während dieser Sitzungen zwei verschiedene Beschlüsse gefaßt: Am 30. Oktober "Die Deklaration der Regierung der UdSSR über Grundprinzipien der Entwicklung und weiteren Stärkung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten" bzw. am 31. Oktober zu den Vorbereitungen der Intervention in Ungarn. Die Sitzung dauerte mehrere Stunden, sie wurde mehrfach wegen der Konsultationen mit den chinesischen Führern sowie wegen neuer Informationen aus Budapest unterbrochen. Alle folgenden Zitate dieser Debatte in: Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 5Iff. „Die Beziehungen zu den volksdemokratischen Ländern auch auf anderen Linien überprüfen.". Ebd., S. 54. -

251

Beziehungen müssen auf der Grundlage der Gleichberechtigung aufgebaut werden." Nach dieser Debatte wurde aufgrund der Vorlagen Chruschtschows die bekannte Deklaration der Regierung der Sowjetunion, über die Beziehungen zu den anderen Blockstaaten und die sowjetische Erklärung zur Situation in Ungarn, verabschiedet.1 Die zwischen dem 28. und 30. Oktober in Moskau entwickelte, kurzlebige Einschätzung der ungarischen Ereignisse rechnete damit, daß die ungarische Regierung durch die Erklärung Imre Nagys vom 28. Oktober in der Lage sein würde, die Situation zu stabilisieren. Sie ging davon aus, daß die kommunistische Partei zwar weiterhin die führende politische Kraft bleiben würde, jedoch in einem System, welches eher „volksdemokratischen" als „sowjetischen" Typs sein werde. Ungarn bliebe Teil des sowjetischen politisch-militärischen Bündnisses, auch nach einem möglicherweise teilweisen oder vollständigen Abzug sowjetischer Truppen. Die „Liberalen" hatten also keineswegs die Absicht, mit den zwei grundlegenden Prioritäten sowjetischer Politik zu brechen. Sie wollten die Einheit des sowjetischen Imperiums ebenso erhalten wie das kommunistische Herrschaftssystem selbst. Darauf verwies mit großem Nachdruck auch Schepilow: „Die Grundlagen (des kommunistischen Systems) bleiben unberührt." Das bedeutete: Für den Fall, daß diese „Grundlagen" gefährdet werden, verliert diese Lösung ihre bisherige Gültigkeit. Aus einem anderen Satz Schepilows, der in den Malin-Notizen festgehalten wurde,2 wird ebenfalls deutlich, daß im Bewußtsein der „Liberalen" die wirkliche Gefahr vom „Nationalkommunismus" ausging. Sie fühlten sich tendenziell bedroht durch die größere Unabhängigkeit, die größere innenpolitische Selbständigkeit der an der Macht befindlichen kommunistischen Parteien etwa in der Art und Weise, wie sich Gomulka im polnischen Paradigma verhalten hatte, oder wie Nagy in der bisherigen Phase der Ungarn-Krise agiert hatte. Die „nationalkommunistische" Alternative hätte Ungarn einen wesentlich größeren Grad an Unabhängigkeit sichern können, als es unter einer Rákosi- oder Gerö-Führung je möglich gewesen wäre. Gleichzeitig wäre diese größere Autonomie aber auch eine Brutstätte für künftige Konflikte mit den Sowjets gewesen. Auch die „liberalen" Kräfte in der sowjetischen Führung waren letztlich nicht bereit, die Forderungen der Revolution zu akzeptieren sie versuchten lediglich, die Staaten des Bündnisses als relativ selbständige Subjekte zu behandeln. -

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Eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß sich die oben beschriebene Alternative überhaupt entwickeln konnte, war der noch immer andauernde, latente Machtkampf in der nachstalinschen sowjetischen Führung. Dieser Umstand ermöglichte die Herausbildung von Gruppen innerhalb der Führung, verursachte ungewohnte

Vgl.

den Text der "Deklaration der Regierung der UdSSR über Grundprinzipien der Entwicklung und weiteren Stärkung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten", in: „Prawda" vom 31. Oktober 1956. Deutsche Fassung u.a. in: Neue Zeit, N°45, S. Iff. und in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hrsg.): Entstalinisierung, Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt/Main 1977. „Wir werden uns auf einen langen Kampf gegen den Nationalkommunismus einstellen müssen.". Zit. nach: Malins Protokollnotizen (Arbeitsprotokoll der Sitzung vom 30. Oktober 1956). in: Döntes a Kremlben. 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 53.

252 Kontroversen und ließ die Prämissen einzelner Entscheidungen vielfarbiger werden. Diese Prämissen konnten überhaupt erst einmal artikuliert und von Fall zu Fall auch werden. Der Entstalinisierungsprozeß rief in den sowjetischen vertreten Führungsgremien Zweifel und Unsicherheit hervor und ließ die Tendenz zu Revisionen stärker werden. Dies wirkte sich auch auf die Außenpolitik aus. In diesem Sinne kamen bei der Krisenbewältigung nicht nur die bewährten sowjetischen Mechanismen gegenüber Ungarn zur Anwendung, sondern diese Regeln selbst wurden durch die ungarische Revolution verändert. Es ist dies das gleiche Phänomen der wechselseitigen Induzierung, welches den gesamten Prozeß der sogenannten Entstalinisierung durchzieht. Francois Fejtö1 hat dies als paradoxen Zug der Entwicklung nach Stalins Tod hervorgehoben: Es waren die nervösen Reaktionen der lokalen stalinistischen Führer auf die Erneuerungen Moskaus und nicht der Geist jener Erneuerungen, welche den Veränderungsprozeß im Verhältnis des Moskauer Zentrums zur Peripherie auslösten. Der Umstand, daß einige der Blockstaaten, bei weitem nicht alle, eine größere Autonomie erlangten, hatte seine Ursache darin, daß sich diese gegenüber Moskau aufgelehnt hatten und nicht, weil Moskau beschlossen hatte, ihnen eine größere Handlungsfreiheit einzuräumen. Die Lockerung ihrer Abhängigkeit vom Zentrum war zwar ein Resultat der „Entstalinisierung" aber eben das Ergebnis der Eigendynamik der Veränderungen, und nicht Teil eines Moskauer Plans. -

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Erst das Krisenjahr 1956, insbesondere die Entwicklungen in Polen und Ungarn, zwangen die sowjetische Führung nachhaltig zu einer generellen Neuregelung ihrer osteuropäischen Außenbeziehungen, was sich öffentlich in der bereits erwähnten Erklärung vom 30. Oktober 1956 manifestierte. Auch dieses Politikfeld hat freilich eine längere Vorgeschichte, die im Kontext des weiter oben beschriebenen, von der Moskauer Führung angestrebten, Imagewechsels zu sehen ist. Es sollte nicht vergessen werden, daß erste Überlegungen und praktische Ansätze einer Revision der blockinternen Beziehungen bereits vor dem XX. Parteitag der KPdSU einsetzten.2 Heißt es doch wörtlich: „Wie die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt haben, ist es notwendig geworden, eine entsprechende Erklärung über die Haltung der Sowjetunion in den gegenseitigen Beziehungen der UdSSR zu den anderen sozialistischen Ländern, vor allem auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet, abzugeben."3 Aber der Führungswechsel an der Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei im Oktober 1956 besaß doch eine neue Qualität in den Beziehungen zwischen der KPdSU und den regierenden Parteien ihres Imperiums. Das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) wählte Wladyslaw Gomulka als Nachfolger von Edward Ochab zum Ersten Sekretär der PVAP. Dieser Wahl war eine unmittelbare Konfrontation mit der sowjetischen Führung vorangegangen. Chruschtschow war mit einer Delegation der

Vgl. Francois Fejtö, Die Geschichte der Volksdemokratien, 2 Bde., Graz, Wien, Köln 1972, Band 2. Kapitel 1. Vgl. dazu Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1989, BadenBaden 1983, S. 477 ff.

Sowjetische Regierungserklärung Entstalinisierung, a.a.O., S. 137.

vom

31.10.1956, in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hrsg.):

253

KPdSU in Warschau erschienen und die sowjetischen Truppen wurden alarmiert. Im Gegenzug entstand eine, den Führungswechsel an der Spitze der polnischen Partei unterstützende Volksbewegung. Eine bewaffnete Auseinandersetzung war nicht auszuschließen. Schließlich akzeptierten die Sowjets die Wahl von Gomulka.1 Die Position von Gomulka legte ein Dilemma der sowjetischen Politik offen. Er bezog sich auf die Haltung Chruschtschows auf dem XX. Parteitag und die Erklärung, die die KPdSU über die Unabhängigkeit und Gleichheit der Parteien zusammen mit den jugoslawischen Kommunisten abgegeben hatte. In der Praxis beanspruchte aber die sowjetische Führung weiterhin die letzte Entscheidung über die Personalpolitik an der Spitze der regierenden kommunistischen Parteien. Auch in Polen gab es einen Gruppenkonflikt in der Partei. Mit der Wahl von Gomulka gewannen innerhalb der Partei die „Partisanen" das Übergewicht über die „Moskauer". Marschall Rokosowski und andere führende „Moskauer" mußten aus dem Zentralkomitee ausscheiden. Polen war begeistert. Man glaubte, ein „Frühling im Oktober" bräche aus. Schon am 24.10. wurden fast alle Urteile über die Posener Aufständischen aufgehoben, am 28.10. wurde Wyszüynski (der inhaftierte Primas der katholischen Kirche, Anm. d.Verf.) befreit und wieder in sein Amt eingesetzt.2 Das, auf dem Höhepunkt der ungarischen Krise von der „Prawda" veröffentlichte, Dokument „Deklaration der Regierung der UdSSR über Grundprinzipien der Entwicklung und weiteren Stärkung der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten" trägt deutlich die Spuren der unmittelbaren Umstände seiner Entstehung: Von besonderer Bedeutung war die Zusicherung der sowjetischen Regierung in dieser Erklärung, über den Aufenthalt ihrer Truppen in den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, Gespräche mit den Regierungen der einzelnen Länder aufzunehmen. Die Grenzen dieses sowjetischen Angebots sollten sich in Ungarn sehr schnell zeigen.

7. Moskau beschließt die Niederschlagung der

Revolution. Die Vorbereitung der zweiten sowjetischen Invasion

Auf der

Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU am 31. Oktober stand auf der Tagesordnung „die Information zum Gespräch mit Gomulka über die Lage in Polen und In den

Verhandlungen mit der sowjetischen Delegation bezog Gomulka eine Position nationaler Eigenständigkeit im sowjetischen Lager. In den Verhandlungen mit der sowjetischen Delegation

unterstrich

scheiden,

er

diese Position: „Es ¡st Sache

unseres

Zentralkomitees,

und

nur

die seine,

zu ent-

Politbüro angehört (...). Ich glaube nicht, daß die Zusammensetzung der Führungsspitze irgendeiner kommunistischen Partei Gegenstand von Diskussionen mit einer Bruderpartei sein kann.". Zit. nach: Francois Fejtö, Die Geschichte der Volksdemokratie, Bd. 2, Graz, Wien. Köln 1972, S. 129. Vgl. Enno Meyer. Grundzüge der Geschichte Polens. 3. erweitere Auflage, Darmstadt 1990, S. 122.

wer unserem

254

Ungarn"1

Scheinbar unerwartet verkündete Chruschtschow: „Die Bewertung (vom muß überprüft werden. Wir sollten die Truppen aus Ungarn und Budapest nicht Vortag) abziehen; wir müssen die Initiative zum Zweck der Wiederherstellung der Ordnung in Ungarn übernehmen."2 Diese „veränderte Bewertung" begründete Chruschtschow am 31. Oktober in erster Linie mit der Verteidigung des imperialen Prestiges der Sowjetunion. Unter dem Einfluß der ersten israelischen, englischen und französischen Erfolge im Suez-Krieg3 rechnete Moskau mit dem Verlust Ägyptens und damit im übertragenen Sinn mit dem Verlust sowjetischer Positionen in der Dritten Welt: „Würden wir aus Ungarn abziehen, würde das die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen die Imperialisten ermutigen. Sie würden dies als (Ausdruck) unserer Schwäche auffassen und zum Angriff übergehen. (...) Neben Ägypten würden wir ihnen4 auch noch Ungarn überlassen." Außerdem war Chruschtschow der Ansicht, daß in dieser Situation selbst ein noch so partieller „Rückzug" aus Osteuropa den stalinistischen Hardlinern in den eigenen Reihen einen Vorwand für eine Offensive liefern könnte: „(Mit dem Abzug) würden wir die Schwäche unserer Positionen demonstrieren. Unsere Partei würde uns in diesem Fall nicht verstehen." Zum Schluß berief er sich darauf, daß sich die Situation in Budapest nicht im erwarteten Maße normalisiert habe: „Man muß sagen, daß wir ihnen (d.h. Imre Nagy und seiner Regierung, Anm. d. Verf.) entgegengekommen sind, aber jetzt gibt es (in Ungarn) keine Regierung."5 Daneben berücksichtigte Chruschtschow ganz offensichtlich auch eine ganze Reihe von Faktoren, über die er auf dieser Präsidiumssitzung nicht sprach, so z.B. den Standpunkt der chinesischen KP-Führung, die gleichzeitig die Linie einer beschränkten Entstalinisierung und die unbedingte Einheit des Blocks vertrat; die reale Gefahr eines „Domino-Effekts" in Osteuropa; das gegen die ungarische Revolution gerichtete Auftreten Palmiro Togliattis, des Führers der stärksten westeuropäischen kommunistischen Partei; die nachdrücklichen Signale der US-Regierung, daß man -

-

Im Rahmen der und mit

Abstimmung des Vorgehens Moskaus in der Ungarn-Krise mit den BündnispartJugoslawien waren polnisch-sowjetische Konsultationen geplant. Bei der "Information zum Gespräch mit Gomulka über die Lage in Polen und Ungarn" handelt es sich um nern

in denen man sich über das am nächsten Tag, dem 1. November, in der Nähe Brest durchzuführende Treffen unter Teilnahme von Chruschtschow, Malenkow und Molotow bzw. Gomulka und Cyrankiewicz verständigte. Zu den sowjetisch-polnischen Gesprächen in Brest, vgl. das Dokument "Niederschrift der telephonischen Nachricht (aus Brest)", in: Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 66. W. I. Malins "Aufzeichnung über die Sitzung am 31. Oktober (Protokoll Nr. 49, Punkt IV)", in: Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 62. Am 29. Oktober war mit dem Überfall israelischer Truppen auf den Sinai die Suez-Krise in einen offenen militärischen Konflikt übergegangen. Ab dem 31. Oktober bombardierten die britische und französische Luftwaffe ägyptische Einrichtungen. Gemeint sind die Westmächte. Alle Zitate aus W. I. Malins "Aufzeichnung über die Sitzung am 31. Oktober (Protokoll Nr. 49. Punkt IV)". in: Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 62.

Telefongespräche, von

255

wegen der Ungarn-Krise keine scharfen politisch-militärischen Schritte unternehmen werde; die Gespaltenheit der Mächte des Westens wegen der Suez-Krise, usw.1

Chruschtschow zeigte sich auch unsicher in der Frage, wer denn nun Chef jener „provisorischen revolutionären Regierung" werden solle. Er erwähnte zunächst János Kádár, dann („Es wäre [doch] das Beste, wenn er [nur] Stellvertreter wird.") wollte er die Exekutivmacht lieber in den Händen des ehemaligen Spanienkämpfers und MoskauKaders, Ferenc Münnich, konzentriert wissen („Münnich sollte Ministerpräsident, Verteidigungsminister und Innenminister sein.").2 Im weiteren Verlauf der Ereignisse waren alle Schritte Imre Nagys nur noch darauf gerichtet, die drohende Katastrophe abzuwenden. Die am 1. November von ihm getroffenen Entscheidungen einseitig die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und die Neutralität aufzukündigen Ungarns zu erklären waren seine Antwort auf die Interventionsschritte. Sie waren aber gleichzeitig auch Ausdruck einer sowjetischen -

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Zum internationalen Kontext der ungarischen Revolution, vgl. die wichtigsten Studien und Dokumente der jüngeren Zeit: Békés, Csaba: Az 1956-os magyar forradalom a világpolitikában. Tanulmány és válogatott dokumentumok. (Die ungarische Revolution von 1956 in der Weltpolitik. Eine Studie und ausgewählte Dokumente), Budapest: 1956-os Intézet, 1996.; Mark Kramer: New Evidence on Soviet Decision-Making and the 1956 Polish and Hungarian Crises. Cold War International History Project Bulletin, Issues 8-9, Winter 1996/1997, 358-384.; Evkönyv 1996/1997 (Jahrbuch 1996/1997 des Instituts für die Geschichte der ungarischen Revolution 1956), Budapest: 1956-os Intézet. 1997. 9-321. pp. (Vorträge und Diskussionsbeiträge der internationalen Historiker-Konferenz "Ungarn 1956 in der Weltpolitik" vom 26.-29. September 1996. / Red. Bak János); The Hidden History of Hungary 1956: A Compendium of Declassified Documents. Edited and Compiled by Csaba Békés, Malcome Byrne and Christian F. Ostermann for The Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution (Budapest) / The National Security Archive (Washington), 1996; „Hungary and the World, 1956: The New Archival Evidence." An International Conference. Budapest, 26-29 September 1996.; Rainer, M. János: Szovjet dontéshozatal Magyarországról 1956-ban (Sowjetische Entscheidungsfindung zu Ungarn im Jahre 1956.), in: Evkönyv II. 1993 (Jahrbuch II. 1993 des Instituts für die Geschichte der ungarischen Revolution 1956) Budapest: 1956-os Intézet, 1993. S. 19-38.; ders.: Döntes a Kremlben, 1956. Kísérlet a feljegyzések értelmezésére. (Entscheidung im Kreml, 1956. Versuch einer Interpretation der (Malin-)Notizen.), in: Döntes a Kremlben, 1956. (Entscheidung im Kreml, 1956), a.a.O., S. 111-154.; Valeri Musatow: Predvestnjiki buri. Polititscheskije krisisi v Vostotschnoj Jevrope (1956-1981), Moskva, 1996. S. 11-113.; Die vollständigste Quellen-Dokumentation des sowjetischen EntScheidungsprozesses findet sich in: Sovjetskij Sojus i vengerskij krisis 1956 goda. Dokumenti (Die Sowjetunion und die ungarische Krise des Jahres 1956. Dokumente). a.a.O., S. 339-557.; ebd. die einleitende Studie von Vjatscheslav Sereda und Aleksandr Stikalin, bevezetö tanulmánya, S. 321-339.; zur amerikanischen Reaktion auf Ungarn 1956, vgl.: Foreign Relations of the United States, 1955-1957, Eastern Europe. Vol. XXV. Washington, Government Printing Office, 1990. Das Telegramm Togliattis an das ZK der KPdSU vom 30. Oktober 1956 publizierte Federigo Argentieri, vgl.: Evkönyv 1996/1997., a.a.O., S. 252-253. Die neuen Quellen bestätigen weitgehend die Hypothesen der vor 1989 publizierten Studien zum internationalen Kontext der Revolution, so z.B.: Méray, Tibor: Nagy Imre élete és hálala (Leben und Tod des Imre Nagy [1958]), Budapest 1988, S. 269-286., oder: Molnár, Miklós, Egy vereség diadala (Triumph einer Niederlage). S. 121-123. Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 62-63.

256 historischen Wahl. Entgegen den Interessen der Partei und der internationalen kommunistischen Bewegung identifizierte sich der Kommunist Imre Nagy mit den Interessen seiner Nation. Er selbst tat dies freilich nicht mit der Absicht, eine große symbolische, heldenhafte Geste zu vollziehen, obwohl sie letztlich zu einer solchen wurde. Selbst in dieser hoffnungslos scheinenden Lage versuchte er in einem immer enger werdenden diplomatischen Spielraum die Situation zu beeinflussen, darauf hoffend, daß die Organisation der Vereinten Nationen eine Art „Schutzschirm" für Ungarn darstellen könnte oder durch ihr energisches Auftreten die Sowjets zumindest zum Nachdenken veranlassen würde.1 Dies gelang ihm nicht. Das bekannte Ende vom 4. November konnte er nicht aufhalten. Zwischen dem 1. und 3. November reiste Chruschtschow zwecks Unterrichtung der östlichen Verbündeten und Titos zunächst nach Brest und Bukarest, anschließend auf die adriatische Insel Brioni.2 In seiner Abwesenheit setzte das KPdSU-Präsidium die Ausarbeitung der sich aus dem Invasionsbeschluß vom 31. Oktober ergebenden Teilaufgaben fort. Sie mußten die an dieser Entscheidung nicht beteiligten Schlüsselpersonen von der Notwendigkeit des Beschlusses überzeugen. Am 2. November 1956 trafen in Moskau János Kádár und Ferenc Münnich ein. Letzterer hatte in sowjetischem Auftrag den offenbar über den Zweck der Reise nicht informierten Kádár aus Budapest -

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geholt.

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Wie aus den langen und sehr detailliert festgehaltenen Ausführungen Kádárs vor den acht Präsidiumsmitgliedern hervorgeht, scheint Kádár, auch wenn er inzwischen möglicherweise ahnte, warum man ihn nach Moskau „gebeten" hatte, noch nichts Genaues gewußt zu haben.3 Aus seinem gesamtem Bericht ist die Absicht erkennbar, den sowjetischen Führern ein differenziertes Bild der Ereignisse zu geben. Er wußte, was für diese in erster Linie wichtig war: die Erhaltung des Machtzentrums, die Haltung der Führer von Regierung, Partei und Armee. Darüber sprach er auch sehr lang und ausführlich, wies jedoch gleichzeitig auf den Massencharakter des ungarischen Aufstands hin, dessen Ziel seiner damaligen Meinung nach nicht der Sturz des kommunistischen Systems sei. Er berichtete ausführlich und weitgehend wahrheitsgetreu über die Kabinettsentscheidung vom 1. November, über den Austritt aus dem Warschauer Vertrag und die Neutralitätserklärung. Er ließ sie seine Vorbehalte gegenüber dieser Entscheidung spüren, vielleicht übertrieb er diese sogar etwas. Dennoch erklärte er, als er auf die Zukunft zu sprechen kam: „Ich habe gestern für diese -

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Vgl. Békés Csaba:

A magyar semlegesség 1956-ban (Die ungarische Neutralität im Jahr 1956), in: Illúziók és realitás (Neutralität. Illusion und Realität), a.a.O., S. 118-122. Diese Reisen waren am Schluß der entscheidenden Sitzung vom 31. Oktober beschlossen worden: Zur Information der wichtigsten Ostblockführer und zur Gewinnung ihrer Unterstützung sollten Chruschtschow, Molotow und Malenkow nach Brest fliegen, um sich dort mit Gomulka zu treffen (diese Begegnung fand am 1. November statt). Anschließend sollten Chruschtschow und Malenkow Tito aufsuchen (das Treffen mit Tito auf der Insel Brioni fand in der Nacht vom 2. zum 3. November statt). Vgl. zu letzterem Treffen ausführlich: V. Micunovic, Moskauer Tagebücher.

Semlegesség.

S. 174.

Vgl. auch den Beitrag von András B. Hegedüs in diesem Band.

257 der Regierung gestimmt." Hinsichtlich der zwei möglichen wird den Notizen deutlich, daß Kádár wesentlich stärkere Bedenken aus Lösungswege einer gegenüber sowjetischen Militärinvasion hatte als gegenüber dem zu erwartenden der Kommunisten im Falle eines eventuellen Truppenrückzugs. Im Gegenteil, im Kampf Fall einer Interventionslösung sah er keinen Ausweg. Er versuchte vielmehr, auf die damit verbundenen Gefahren hinzuweisen. Er zweifelte keinesfalls daran, daß der Aufstand mit militärischen Mitteln niedergeschlagen werden könne, aber: „Was geschieht danach? Die moralische Situation der Kommunisten wird (praktisch) gleich Null sein."1

zwei

Entscheidungen

Am 3. November kehrte Chruschtschow von seinem Besuch bei Tito nach Moskau zurück. Seinen Memoiren zufolge, erfuhr er an diesem Tag von Molotow über Kádárs „Schwankungen"2. Aus den ungarischen und russischen Notizen3 der Präsidiumssitzung vom 3. November kann man schlußfolgern, auf welche Weise das Präsidium den „zögernden" Kádár „vom Vortag" zu beeinflussen suchte. Es findet sich keine Spur davon, was seit Jahren als Legende kursiert, nämlich daß Chruschtschow Kádár damit „erpreßt" habe, daß, wenn dieser seine Rolle als neuer Regierungschef nicht spielen werde, die alten Parteiführer, Rákosi und Gero, zurückkehrten. Im Gegenteil, Chruschtschow machte Zugeständnisse und ließ erkennen, Moskau hat die stalinistischen ungarischen Führer bereits „fallengelassen". Den zweiten heiklen Punkt, die Person Imre Nagys betreffend, erklärte Chruschtschow, man könne ihn nicht mehr als Kommunisten ansehen. Aber auch hier ergänzte er, ob Nagy wirklich „im Dienste des Gegners" stehe, werde sich (endgültig) erst dann herausstellen, wenn er auf die Nachricht des sowjetischen Angriffs nicht zurücktrete. Chruschtschow hatte bereits am 31. Oktober angedeutet: „Wenn Nagy darauf eingeht, sollten wir ihn als Vizepremier akzeptieren." Kádár war nun mit der sowjetischen Intervention einverstanden: „Was ist zu tun? Wir dürfen ein sozialistisches Land nicht der Konterrevolution überlassen. Wir stimmen mit Ihnen überein. Die richtigen Schritte wir müssen eine revolutionäre Regierung bilden." Diese Begründung war identisch mit dem, was Chruschtschow am 31. Oktober gegen Ende der großen Debatte gesagt hatte. Kádár war nun zu einem „Partner" aufgestiegen und befand sich in einer Verhandlungsposition. Deshalb konnte er es sich nach seiner Quasi-Inthronisierung auch erlauben, Dinge zur Sprache bringen, die er anschließend drei Jahrzehnte lang nicht mehr erwähnte aber in der Tiefe seines Bewußtseins immer mit sich trug eine Last, die seine Entscheidungen mitbestimmte und den Charakter des ganzen Kádár-Systems prägten. Dazu gehörte vor allem das traumatische Erlebnis des Massencharakters der Volkserhebung. „Das ganze Volk (nimmt teil) an der Bewegung (...). Das Volk will die volksdemokratische Ordnung nicht liquidieren."4 Weiter gehörte dazu das partielle Nachempfinden der Rolle von nationalen Kränkungen und die Unauflösbarkeit der sowjetischen Abhängigkeit. Die -

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Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml 1956), a.a.O., S. 75-85. Strobe Talbott (Hrsg.): Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Reinbek bei Hamburg 1992. Vgl. Entscheidung im Kreml 1956, a.a.O., S. 88-95. Entscheidung im Kreml, a.a.O., S. 58.

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Führung des Imperiums inthronisierte ihn, von ihr erhielt er die Macht. Aber die Art, wie all das geschah, blieb für ihn eine lebenslange Erniedrigung. Deshalb hielt er zu diesem Zeitpunkt den Abzug der Truppen noch für wichtig. Er wollte das gesamte System der Beziehungen noch einmal überdenken. Er ging sogar soweit, zu erklären: „Diese Regierung darf keine Marionetten-Regierung sein." Der entscheidende Umstand blieb jedoch die Tatsache, daß mit dem, am Abend des 3. November, gefaßten Beschluß des Präsidiums des ZK der KPdSU die neue ungarische Regierung gebildet wurde. Am nächsten Morgen, um 4.15 Uhr, begann die sowjetische Militäraktion zur Niederschlagung der Revolution. Das „Phänomen" der ungarischen Revolution bedeutete für die sowjetische Führung eine Situation, für die keine vorbereiteten eine völlig neue Herausforderung „Drehbücher" zur Verfügung standen. Diese mußten erst „operativ" entwickelt werden. Die Prinzipien des Verhältnisses der Sowjetunion zu Ungarn, wie sie nach 1953 bzw. am 30. Oktober 1956 formuliert wurden, kamen in friedlicheren Perioden, in den 60er und 70er Jahren, gegenüber dem Ungarn Kádárs zur Anwendung. Die Methoden des -

sowjetischen Krisenmanagements folgten jedoch dem „ungarischen Paradigma": Analoge „Drehbücher" der Druckausübung bzw. der direkten oder indirekten Einmischung kamen 1968 und 1980/1981 zur Anwendung.

András B.

Hegedüs

der ungarischen Die Niederschlagung Revolution Die restaurative Vergeltung -

Wir betrachten die Jahre zwischen 1953 und 1956 als die Zeit des ersten antistalinistischen Reformversuchs. Auf Initiative Moskaus sollte innerhalb des sowjetischen Blocks das wirtschaftlich-politische und gesellschaftliche System verändert werden, ohne dabei das Wesen des Parteistaates anzutasten. Dieser Reformprozeß, der weltweit mit dem Namen des Ministerpräsidenten Imre Nagy verbunden war, scheiterte 1955 und wurde erst im Frühling 1956 wieder zu neuem Leben erweckt. Aufgrund seiner Inkonsequenz und der Reformunfähigkeit des Systems mündete der Reformprozeß im Herbst 1956 in eine Revolution, ging schrittweise in einen bewaffneten Aufstand und einen die gesamte Nation mobilisierenden antisowjetischen Freiheitskampf über. Der ungarische Reformprozeß war in jeder Hinsicht entschlossener und konsequenter als die Reformversuche, die bis dahin bereits in anderen Ländern des Ostblocks stattgefunden hatten. Doch nach der Niederschlagung der Revolution nahm in Ungarn eine intensive Restalinisierung ihren Anfang. Jahrelang verhinderte sie jegliche Reformen und eine Fortsetzung der Entstalinisierung. Sie wirkte sich sogar negativ auf die vorsichtigen Reformversuche innerhalb des Ostblocks aus. Im folgenden sollen die wichtigsten Faktoren dieser Restalinisierung beschrieben werden. -

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1. Die Bildung der Ungarischen Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung (URABR) Am 4. November 1956 früh um 4.15 Uhr wurden die Budapester vom Kanonendonner aus dem Schlaf gerissen. Die sowjetischen Truppen, die zuvor Budapest eingekesselt hatten, griffen mit 5 Divisionen und einer an den erst überwundenen Weltkrieg erinnernden Massierung von Panzern und Artillerie die ungarische Hauptstadt an. Fast zur gleichen Zeit begann Moskau, eine ungarische Gegenregierung zu bilden. Die sowjetische Entscheidung fiel im Schatten des Krieges, den Israel, Frankreich und Großbritannien gegen Ägypten führten. Betrachten wir kurz die Zusammenhänge zwischen den beiden weltpolitischen Ereignissen, zwischen zwei Kriegen, an denen mehrere Großmächte teilnahmen. In Ungarn planten die Studenten, die für den 23. Oktober ihre Demonstration organisierten, keinen Volksaufstand. Die Ereignisse entwickelten sich spontan, und auch das bewaffnete Vorgehen der ungarischen -

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Staatssicherheit und der sofort danach erfolgende sowjetische Truppeneinsatz in Budapest waren nicht vorgesehen. Die Akteure in Ungarn und wie sich herausstellen auch in Moskau waren über die Vorbereitungen eines Angriffs von Israel, sollte -

Großbritannien und Frankreich auf Ägypten nicht informiert. Das gleiche gilt für den Ausbruch des Suez-Krieges: 1955 näherte sich das von Gamal Abdul Nasser regierte Ägypten dem Ostblock an und die Sowjetunion lieferte moderne Waffen an das Land. 1956 verweigerten die Vereinigten Staaten eine Anleihe für die Errichtung des AssuanStaudamms, woraufhin Nasser den Suez-Kanal verstaatlichte, der einer englischfranzösischen Aktiengesellschaft gehörte. Als Frankreich, Großbritannien und Israel geheime Vorbereitungen für ihre militärische Operation gegen Ägypten festlegten, ahnte niemand, daß in Polen und Ungarn zur selben Zeit akute Krisen ausbrechen würden. Die polnische Krise bildete den Hintergrund für die letzten Absprachen über den Angriffstermin, die am 22. Oktober in Frankreich stattfanden. In der Nacht vom 23. zum 24. Oktober rollten sowjetische Panzer durch Budapest. Diese Aktion bekräftigte den Entschluß zum Angriff auf Ägypten, da die verbündeten Staaten nun damit rechneten, daß die Sowjetunion mit Osteuropa „beschäftigt" sei. Als es um die Entscheidung über den zweiten sowjetischen Angriff auf Budapest am 4. November ging, war die Lage spiegelverkehrt. Die Führung der KPdSU war in ihren Überlegungen bereits von dem Suez-Krieg stark beeinflußt. Einen Tag vor dem Angriff im Mittelmeer, am 28. Oktober, sprach Chruschtschow auf der Sitzung des Präsidiums der KPdSU über Suez: „Die Engländer und die Franzosen fangen jetzt an, in Ägypten Unheil zu stiften. Wir sollten nicht mit ihnen eine Gesellschaft bilden. Aber wir sollten auch keine Illusionen haben." Der sowjetischen Führung war es also nicht gleichgültig, als Aggressor abgestempelt zu werden. Drei Tage später aber hatte Chruschtschow seine Meinung geändert; jetzt ging es ihm um das Ansehen der Sowjetunion als Weltmacht: „Wenn wir aus Ungarn unsere Truppen zurückziehen, würde das den amerikanischen, englischen und französischen Imperialisten Mut machen. Sie werden denken, wir sind schwach, und sie werden angreifen."1 Der israelische Sieg auf dem Sinai über die ägyptischen Truppen und die Landung englischer und französischer Einheiten in der Suez-Kanal-Zone erleichterten die sowjetische Entscheidung zur militärischen Intervention in die ungarische Revolution. Die Vereinigten Staaten befanden sich wenige Tage vor der Präsidentenwahl und mußten sich auf den politischen Konflikt ihrer Verbündeten konzentrieren; das war ihnen wichtiger als der „Binnenkrieg" im sowjetischen Block. Für die ungarische Souveränität entstand so eine hoffnungslose Lage. Das sowjetische Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen konnte jede ernsthafte Befassung der UNO mit der ungarischen Problematik blockieren, und für die Vereinigten Staaten hatte die ungarische Frage keine Priorität. Als der Budapester Rundfunk am Abend des 1. November den Aufruf von János Kádár, des Vorsitzenden der soeben gegründeten "Ungarischen Sozialistischen -

Lefebvre, Denis: L'affaire de Suez, Bruno Leprince, 1996 (ungarisch: Osiris, Budapest 1999). Békés Csaba: op.Z.. deutsch: Békés, Cs: Die ungarische Revolution von 1956 und die Großmächte, in: Das internationale Krisenjahr 1956, München 1999; sowie: Entscheidung im Kreml, a.a.O., S. 42 und S. 62.

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Arbeiterpartei" (USAP) sendete, war dieser schon auf dem Weg nach Moskau. In Ansprache bezeichnete Kádár die Ereignisse als einen „ruhmreichen Aufstand Erlangung der Freiheit des Volkes und der Unabhängigkeit des Landes".1

der zur

Am Abend des 1. November verhandelte Innenminister Ferenc Münnich in der sowjetischen Botschaft in Budapest mit Andropow. Telefonisch beorderten sie den ahnungslosen János Kádár aus dem Parlament zu sich. Allerdings betrat dieser das Gebäude nicht, sondern stieg in ein anderes Fahrzeug, das ihn in den Budapester Vorort Tököl brachte, wo das „Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte in Ungarn' residierte. Vom dortigen Flugplatz hob wenig später eine Maschine in Richtung Moskau ab, mit dem auf die Reise weder politisch, noch psychologisch und physisch vorbereiteten Kádár ab. Kádár nahm zunächst an einer Sitzung des Präsidiums der KPdSU teil. Von ungarischer Seite waren außerdem Münnich sowie der ehemalige Verteidigungsminister István Bata, der bereits am 28. Oktober nach Moskau in Sicherheit gebracht wurde, anwesend. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Kádár nicht, daß zur gleichen Zeit nur einige Zimmer weiter bereits am Aufruf der Gegenregierung an das ungarische Volk gearbeitet wurde. Noch weniger ahnte er, daß die sowjetischen Parteifunktionäre mit dessen Ausarbeitung den im Sommer abgelösten stalinistischen Ersten Sekretär Mátyás Rákosi,2 seinen abgelösten Nachfolger Ernö Gero und den am 24. Oktober zurückgetretenen Ministerpräsident András Hegedüs betraut hatten. Sie waren ebenfalls am 28. Oktober nach Moskau ausgeflogen worden. Kádár, der Staatsminister der Regierung Imre Nagy und erste Mann der neugegründeten USAP, wurde von neun Mitgliedern des sowjetischen Parteipräsidiums zur Verantwortung gezogen. Chruschtschow war nicht anwesend, da er zu diesem Zeitpunkt noch in Jugoslawien weilte. Kádár versuchte, die am 23. Oktober begonnenen Bis heute existiert kein genaues Bild der Ereignisse. Erst schrittweise werden die wichtigsten Tatsachen bekannt. Im folgenden stützen wir uns vor allem auf die sogenannten Malin-Notizen sowie auf die entsprechenden Kommentare. Von den Sitzungen des Präsidiums der KPdSU wurden keine Protokolle angefertigt. Lediglich Malin, der Leiter des Büros des Präsidiums hatte sich von den Besprechungen einige Notizen gemacht. Diese sind in den sowjetischen Archiven bis heute erhalten. Vgl. Wjatscheslaw Sereda und János M. Rainer (Hrsg.): Döntes a Kremlben, 1956 (Entscheidung im Kreml, 1956). Die Diskussionen des sowjetischen Parteipräsidiums über Ungarn, 1956er Institut, Budapest, 1996; vgl auch a.a.O., Einleitung von W. Sereda und begleitende Studie von János M. Rainer. Russisch: Istoritscheski Archiv, 1996. Siehe weiter: Sowjetski Sojus i wengerski krisis 1956 goda. Dokumenti, hrg. von: J. Orechowa, V.T. Sereda. A.S. Stikalin, Moskau, Rossiskaja polititscheskaja enzeklopedija, 1998, 863 p. „Es entstand die Idee, ein politisches Dokument zu verfassen, in dem die neue sozialistische Regierung dem ungarischen Volk die Gründe ihrer Motive darlegt. Mit dessen Ausarbeitung wurden wir, die ungarischen Genossen betraut. (...) Wir einigten uns auf die wesentliche Züge des Aufrufs der neuen Regierung. Auf dieser Grundlage erhielten schließlich Gero und Hegedüs den Auftrag, dem Ganzen eine endgültige Form zu verleihen." Mátyás Rákosi, Erinnerungen, 19401956, Verlag Napvilág, p. 1036. Wir haben keinen Grund, an der Authentizität der Notiz zu zweifeln. Rákosi war mit der für die Komintern typischen Disziplin sogar bereit, eine sowjetische Quisling-Regierung zu unterstützen, die zu seinem endgültigen politischen Sturz führen sollte. Der von Rákosi und Gero formulierte Text unterscheidet sich wesentlich von dem Aufruf "Die Rákosi- und Gerö-Clique". -

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Ereignisse zu erklären. Er sprach von Aufstand und nicht von Konterrevolution, betonte die beträchtliche Aktivität der Arbeiterschaft und erklärte, daß die Erhebung nicht das Ziel verfolge, die „Volksdemokratie zu stürzen". In seinen langen Ausführungen warnte Kádár vor den Folgen eines sowjetischen Militäreinsatzes in Ungarn. Er prognostizierte „bewaffnete Zusammenstöße", das bedeute Blutvergießen, und die „moralische Position der Kommunisten" würde auf „Null" sinken. Die sowjetische Führung hatte Kádár offenbar noch nicht mitgeteilt, daß der Angriffsbefehl bereits drei Tage zuvor beschlossen worden war und zwei Tage später die sowjetische Armee in Ungarn einmarschieren werde. Zu lösen war zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Kaderfrage: Sollte Kádár oder Münnich die Gegenregierung führen? Für das Amt des Ministerpräsidenten waren in Moskau zwei Kommunisten nominiert worden, die unterschiedlichen Generationen angehörten. Über beide Personen wurde auf der

jugoslawischen Insel Brioni in den sowjetisch-jugoslawischen Partei- und Regierungsverhandlungen hart diskutiert. Ferenc Münnich, geboren 1886, Teilnehmer des russischen Bürgerkriegs, Spanienkämpfer, persönlicher Kamerad von Chruschtschow im Zweiten Weltkrieg, Moskau-Kader und Gegner von Rákosi, wäre für die sowjetische Führung selbstverständlich ein vertrauter Kader gewesen. János Kádár, geboren 1912, illegale Tätigkeit als Jungkommunist „nur" in Ungarn, ohne direkte sowjetische Beziehungen und 1951 in einem Schauprozeß als „Nationalkommunist" verurteilt, war in Moskau vergleichsweise unbekannt. In den Debatten auf Brioni und in Moskau wogen die Argumente für Kádár letztlich schwerer, und so wurde der rehabilitierte politische Häftling für die Position des Chefs der Gegenregierung erwählt. Er sollte 32 Jahre an der Spitze der ungarischen Partei bleiben. Tito und die jugoslawische Führung sprachen sich nachdrücklich für Kádár aus. Aus den vorliegenden Dokumenten geht nicht hervor, wann und von wem Kádár in Moskau erfuhr, daß die sowjetische Führung ihn zum Kopf der Gegenregierung gekürt hatte. Höchstwahrscheinlich konnte er im Morgengrauen des 3. November „überzeugt werden", hierfür gibt es immerhin Hinweise in den Erinnerungen von Chruschtschow.1 Die Annahme, wonach man Kádár mit der Drohung erpreßt habe, Rákosi wieder an die Macht zu bringen, erwies sich als Irrtum. Auf einer Sitzung des sowjetischen Parteipräsidiums am späten Abend des 3. November nahm er seine Ernennung an und betonte, daß in Ungarn „Kommunisten ermordet würden" und „Ministerpräsident Nagy deren Mörder decke". Seine „Ernennung" kommentierte er mit einer bitteren Ankündigung: „Diese Regierung soll keine Marionetten-Regierung sein, für ihre Tätigkeit braucht sie die Unterstützung der Arbeiter." Zwischenzeitlich wurde der Aufruf der Ungarischen Arbeiter- und Bauernregierung formuliert. Aufgrund der in Moskau aufbewahrten originalen Schreibmaschinennotizen steht fest, daß der Text auf russisch verfasst wurde, damit das Parteipräsidium der KPdSU ihn lesen und billigen konnte. In dem Entwurf finden sich auch einige handschriftliche Anmerkungen von Kádár. Ort und Datum der Niederschrift hinderten die Autoren jedoch nicht, den Aufruf mit „Budapest, den 4. November 1956" zu versehen. Nach der Annahme des Aufrufs wurde Kádár, jetzt bereits als Ministerpräsident der neuen Gegenregierung, in die Karpatoukraine, in das ehemals Vgl. Woprossi Istorii, 5/1994, S.

78-79.

264

ungarische Uschgorod, geflogen. Hier waren bereits die Vorbereitungen getroffen, damit er im Morgengrauen des 4. November im sowjetischen Rundfunk den Aufruf an das ungarische Volk verlesen konnte. Sein Volk wurde auf diese Weise mit der Hintergrundmusik von Kanonendonner von der Niederschlagung seiner Revolution in Kenntnis gesetzt. Von Uschgorod begab sich Kádár nach Szolnok. Hier traf er auf die anderen, vom KGB herbeigebrachten Anhänger seiner Regierung. Es waren vor allem Kader, die sich vor der Revolution in das sowjetische Hauptquartier nach Tököl geflüchtet hatten. Die Existenz der „Szolnoker Regierung" war jahrzehntelang ein Tabu der kádárschen Geschichtsschreibung. Erst dreißig Jahre später wurde zugegeben, daß die in Moskau gebildete Körperschaft zuerst in Szolnok tagte und nicht in Budapest entstanden war. Kádár und einige seiner Genossen wurden am Morgen des 7. November mit sowjetischen Panzern unter strenger Geheimhaltung nach Budapest, direkt ins Parlament gebracht. Wochenlang wurden seine dortigen Amtsräume von sowjetischen Soldaten bewacht. Er selbst durfte das Gebäude nicht verlassen. Zwei sowjetische „Berater" wurden an seine Seite gestellt, die mehrmals täglich über eine eigens zu diesem Zweck installierte Telefonleitung Chruschtschow über die ungarischen Ereignisse -

informierten.1

-

2. Die

Liquidierung der gesetzlichen ungarischen Regierung

Es ist

bekannt, daß KGB-Chef Serow am Abend des 3. November im Gebäude des sowjetischen Hauptquartiers in Tököl die hierher gelockte Verhandlungsdelegation der legalen ungarischen Regierung verhaften ließ, unter ihnen Ferenc Erdei,

Verteidigungsminister General Pal Maléter und Stabschef General István Kovács. Obwohl die Verhaftungen formal auf sowjetischem Hoheitsgebiet erfolgten, über diese Aktion keinerlei schriftliche Dokumente vorliegen und sie jahrelang geheim gehalten wurde, waren daran um die Aktion eventuell später legalisieren zu können auch ungarische Staatssicherheitsoffiziere beteiligt, darunter der eigens zu diesem Zweck aus Moskau herbeigeholte General der ungarischen Staatssicherheit AVH, Ex-Innenminister László Piros sowie der AVH-Oberstleutnant Sándor Rajnai, der bald darauf als „Chefplaner" im Imre-Nagy-Prozeß eine Rolle spielen sollte. Die ungarische Regierung geriet am 3. November obwohl laufend Nachrichten über den Einmarsch der sowjetischen Truppen und die Umzingelung sämtlicher größerer in eine politische und diplomatische Falle. Der ungarischer Städte eintrafen sowjetische Botschafter Andropow bestritt in offiziellen Verhandlungen den agressiven Charakter der sowjetischen Truppenbewegungen und sein Wissen über das Schicksal von János Kádár. Gleichzeitig unternahmen die Westmächte und die UNO nichts zum Schutz der soeben erklärten ungarischen Neutralität. Die ungarische Regierung hatte keine andere Wahl, als zweifelnd auf den friedlichen Ausgang der mit den Sowjets -

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-

1

Vgl.

ebd.

265

geführten Verhandlungen zu setzen. Die Konsolidierung hatte zwar keine „externen" Garantien, doch die innenpolitische Lage schien sich zu beruhigen, die gewählten Organe der Arbeiterschaft erklärten die Beendigung der Streiks, es entstand eine nationale Mehrparteienregierung. So kam auch wenn dies im nachhinein gewiß als unverständlich anmuten wird die in den Morgenstunden des 4. November einsetzende Invasion für die Regierung von Imre Nagy unerwartet. Die Mitglieder der Regierung und die Parteiführer befanden sich größtenteils zu Hause. Ministerpräsident Imre Nagy verhandelte am Abend zuvor bis spät in die Nacht hinein mit einer rumänischen Delegation was sich später als Ablenkungsmanöver erweisen sollte und erhielt am frühen Morgen im Parlament von General Béla Király, dem Oberbefehlshaber der Nationalgarde, telefonisch die Mitteilung vom Angriff. Nagy gab daraufhin nicht den Befehl zum militärischen Widerstand, sondern begann gemeinsam mit dem Staatsminister der Kleinlandwirte und ehemaligen Staatspräsidenten Zoltán Tildy sowie Ferenc Donáth, dem Mitglied des d.h. Politbüro der USAP, eine kurze provisorischen Verwaltungskomitees in welcher zu dem er Stellungnahme verfassen, ungarischen Volk die Tatsache der mitteilte. In Anbetracht der jahrelangen kádárschen sowjetischen Aggression schadet nicht es daß zu in seiner er aus fünf Sätzen bestehenden Propaganda betonen, Ansprache, die er wenig später im Radio verlas, die Westmächte und/oder die UNO -

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nicht um militärische Hilfe ersuchte. Durch den schnellen militärischen Vorstoß zerfiel seine Regierung innerhalb von nur wenigen Stunden. Gemäß einer Vereinbarung zwischen Chruschtschow und Tito bot der jugoslawische Botschafter in Budapest, Soldatic, den Regierungsmitgliedern und einigen Führern der USAP sowie deren Familienangehörigen, insgesamt 43 Personen, Asyl. Unter ihnen befanden sich u.a. Staatsminister Géza Losonczy, drei Angehörige des provisorischen Verwaltungskomitees der USAP darunter Georg Lukács, der Chefredakteur der Tageszeitung der USAP, der Sekretär des „Petöfi-Kreises" und die kurz vorher rehabilitierte Witwe des 1949 hingerichteten kommunistischen Funktionärs László Rajk. Das Ziel der Jugoslawen war offensichtlich: Indem sie Imre Nagy und seine Mitstreiter aus dem politischen Leben ausschalteten, unterstützten sie sowohl effektiv die sowjetische Invasion und eröffneten zugleich die Möglichkeit für weitere Verhandlungen mit dem Ziel, Imre Nagy zum Rücktritt zugunsten von Kádár zu -

bewegen. Imre Nagy und seine Mitstreiter fügten sich nicht den mit ihnen offensichtlich nicht besprochenen und nicht genau umrissenen jugoslawischen Plänen: Nagy war nicht zu Kompromissen bereit und trat nicht zurück; die Kádár-Regierung wurde von den

Geflüchteten nicht anerkannt. Nachdem der weitere Aufenthalt in der jugoslawischen Botschaft politisch und auch physisch unmöglich geworden war, gab Ferenc Münnich, der zweite Mann der Gegenregierung und Minister der bewaffneten Kräfte die desorganisierte Armee und die ebenso desolate Polizei kamen unter seine einheitliche Führung nach langwierigen Verhandlungen die Zusage, daß Imre Nagy und die anderen Geflüchteten in ihre -

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Wohnungen zurückkehren könnten.

Am 22. November verließen die Flüchtlinge die jugoslawische Botschaft, wobei sie in bereitstehende Autobusse des sowjetischen KGB einsteigen mußten. Die Fahrt ging

266 dann aber nicht zu ihren Wohnungen, sondern zur sowjetischen Kommandantur in den Budapester Stadtbezirk Mátyásfold, wo sie anschließend von Ferenc Münnich zu einer Übereinkunft überredet werden sollten. Nachdem jedoch keiner der Befragten ein Interesse an einem Kompromiß bekundete, wurden die Flüchtlinge am Morgen des kommenden Tages gewaltsam in Flugzeuge verfrachtet, die sie nach Bukarest brachten. Weiter ging es nach Snagov, wo sie interniert wurden. Dabei wurden die Führer der Gruppe, Imre Nagy, Géza Losonczy und Ferenc Donáth von den anderen hermetisch isoliert und der Bewachung durch rumänische Staatssicherheitsleute unterstellt. Ihre Gespräche wurden ständig abgehört. Obwohl die jugoslawische Diplomatie gegen die Deportierung der Gruppe protestierte, ist es offensichtlich, daß sowohl die ungarische, als auch die jugoslawische Parteiführung sich über die Absichten der sowjetischen Seite im klaren war.1 Im Parlament, das zugleich Sitz des Ministerrates war, blieben nur zwei Minister. Als die sowjetischen Truppen das Gebäude erreichten, ließ Zoltán Tildy die weiße Fahne hissen und befahl der Wache, um ein Blutvergießen zu vermeiden, sich zu ergeben. Anschließend ging er in seine Wohnung, in der er erst einige Monate später verhaftet wurde. Staatsminister István Bibó, der im Kabinett von Imre Nagy die Nationale Bauernpartei Petöfi-Partei vertrat, zog sich in ein Bürozimmer zurück, wo er als einziger noch im Amt befindlicher Vertreter der gesetzlichen ungarischen Regierung ein Manifest formulierte: „Ich rufe das ungarische Volk auf, die Besetzungsarmee oder die durch sie eventuell aufgestellte Marionetten-Regierung nicht als legale Obrigkeit anzuerkennen und ihr mit allen Mitteln des passiven Widerstands entgegenzutreten."2 Ende 1956 verfaßte Bibó seine Thesen zur Lösung der politischen Krise in Ungarn und Prinzipien der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Dieses Papier wurde in oppositionellen Zirkeln diskutiert, dem Botschafter von Indien übergeben und auf einer Versammlung des Budapester Arbeiterrates verlesen.3 Der Autor wurde am 23. Mai 1957 verhaftet und nach 15 Monaten Untersuchungshaft zusammen mit Göncz zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Zahlreiche exponierte Personen baten in der Budapester Botschaft der Vereinigten Staaten sie ist nur wenige Schritte vom Parlament entfernt um Asyl. Das Gesuch von Béla Kovács, dem Generalsekretär der Partei der Unabhängigen Kleinlandwirte und -

Árpád

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Mangels schriftlicher Dokumente muß hier in erster Linie auf den Film „Titoktartök" (Geheimhalter) von Anna Geréb verwiesen werden, in dem auch die sowjetischen Berater von Kádár zu Wort kommen. Über das Asyl der Gruppe

von Imre Nagy siehe ausführlicher: Judit Ember: "Menedékjog 1956" (Flüchtlingsrecht 1956). Der Raub der Imre-Nagy-Gruppe. Budapest, Szabad Tér 1989. Manuskript zu einem Dokumentarfilm. Vgl. auch: Die ungarisch-jugoslawischen Beziehungen. 1956-1959, Dokumente, I.-II. Kommission für Gegenwartsforschung bei der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, 1956- József Kiss, Zoltán Ripp und István Vida. Vgl. István Bibó: Democracy, Revolution, Self-Determination. Selected Writings, in: Karoly Nagy (Hrsg.): Atlantic Research and Publications, New York 1991, S. 591. Unter der zahlreichen, auf Ungarisch erschienenen Literatur von und über Bibó siehe: 1956 Kezikönyve (Handbuch), 2. -

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Bd., 1996.

267 Minister der revolutionären Regierung, wurde abgelehnt. Dagegen erhielt der Esztergomer Kardinal József Mindszenty Asyl er sollte insgesamt fünfzehn Jahre in der Botschaft verbringen. Sein Begleiter und Sekretär, der römisch-katholische Priester Egon Turcsányi, wurde zurückgeschickt und einige Monate später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Aus dem Studio im Parlament sendete der ungarische Rundfunk am Morgen um 8.07 Uhr verschiedene Aufrufe: Der von Imre Nagy wird auf ungarisch, englisch, deutsch und russisch gesendet. Der Schriftsteller Julius Hay verlas seinen Appell an die Intellektuellen der Welt, und es erklang die Nationalhymne. Parallel zu dieser Sendung von Radio Kossuth verbreiteten sowjetische Radiostationen den Aufruf der Gegenregierung und gaben die Namen der Mitglieder des Kabinetts bekannt. Als die sowjetischen Truppen das Parlament besetzten, stellte „Radio Kossuth" seine Sendungen ein. Die sowjetische Armee nahm die öffentlichen Gebäude der Hauptstadt und der Städte in der Provinz ein und entwaffnete die ungarische Armee und Polizei. -

3. Die militärischen Operationen der und der bewaffnete Widerstand

sowjetischen Armee

Die Einheiten der ungarischen Volksarmee leisteten im allgemeinen der in Führung, Feuerkraft und Entschlossenheit weit überlegenen sowjetischen Armee keinen Widerstand. Trotzdem kam es an zahlreichen Orten des Landes zu Feuergefechten zwischen ungarischen Soldaten und der Besatzungsarmee. Als die einheitliche Führung der ungarischen Armee zerfiel, griffen besonders in den ersten Tagen des bewaffneten Aufstandes junge Arbeiter wieder zur Waffe. In Budapest und in der Provinz entstanden Zentren bewaffneten Widerstands, zum Teil an den gleichen Orten, an denen bereits am 24. Oktober gekämpft wurde. An einem Teil der Großen Ringstraße in Budapest wurde den vorrückenden sowjetischen Truppen bewaffneter Widerstand geleistet. Die Sowjets beschossen u.a. die Kilian-Kaserne, das Hotel Royal sowie den New-York-Palast, in dem sich zahlreiche Redaktionen befanden. Es gab schwere menschliche Verluste. Béla Király, der Oberbefehlshaber der Nationalgarde, zog sich aus dem Gebäude der Budapester Polizeihauptwache in die Budaer Berge zurück. In Nagykovácsi stieß er mit sowjetischen Truppen zusammen und flüchtete anschließend weiter in Richtung Westen. Obwohl man den „Krieg" zu Recht als den ersten internationalen Konflikt unter sozialistischen Ländern bezeichnen kann, war er hinsichtlich seiner militärischen Dimension weniger wichtig. Für sein politisches Gewicht spricht jedoch, daß der sowjetische Verteidigungsminister Marschall Schukow zu dieser Zeit der Führung in Moskau mehrmals täglich eine Bericht über die ungarische Front liefern mußte. Aufgrund dieser Meldungen ergibt sich ein Bild von den Widerstandnestern, vom Kino Corvin bis zur Budaer Burg, und von der Entschlossenheit der sowjetischen Führung: „Unsere Truppen haben die Anweisung bekommen, die von den Aufständischen abgelösten Offizieren wieder in ihren ursprüglichen Rang zurückzuversetzen und die an ihrer Stelle ernannten zu verhaften."

268 Da in Ungarn weder eine zivile, noch eine militärische Verwaltung funktionierte, begann die sowjetische Armee das Land als Besatzungsmacht zu führen. In Budapest und in den größeren Städten des Landes entstanden sowjetische Verwaltungen. Es wurde eine Ausgangssperre verhängt und das zivile Leben geregelt. In sämtlichen Bezirken von Budapest wurden sowjetische Kommandanturen geschaffen. Diese nahmen nicht nur Verhaftungen vor, sondern begannen unter Hinzuziehung von Offizieren der sowjetischen Staatssicherheit und von Dolmetschern mit dem Verhören der verhafteten „Konterrevolutionäre". Sofort begann auch die Deportation ungarischer Staatsbürger auf sowjetisches Gebiet. Bis heute ist nicht geklärt, wie viele ungarische Revolutionäre vor allem nach Uschgorod und Stri veschleppt worden sind, wo sie nach dem Reglement der sowjetischen Gefängnisse kahl geschoren und registriert wurden. Die Deportationen nahmen in den ersten Tagen nach der Niederschlagung solche Ausmaße an, daß sich Ministerpräsident Kádár und sein Stellvertreter Münnich gezwungen sahen, die sowjetischen Behörden und namentlich KGB-Chef Serow und Botschafter Andropow zu bitten, die Deportationen auf sowjetisches Gebiet zu beenden. Am 14. November meldeten Serow und Andropow dem ZK der KPdSU, daß die Transporte im Interesse der Sicherheit bald durch verstärkte LKW-Konvois durchgeführt werden und nicht weiterhin per Eisenbahn. Laut einer Meldung von General Serow haben die sowjetischen Truppen bis zum 19. November insgesamt 4.700 Personen in Ungarn verhaftet und von diesen 860 auf

sowjetisches Hoheitsgebiet gebracht.1 Die Kontrolle und Anleitung der ungarischen Politiker oblag den in Budapest eingetroffenen hohen sowjetischen Politikern. Außer Botschafter Andropow und dem die operative Arbeit leitenden General Serow hielten sich unter strengster Geheimhaltung die Mitglieder des Präsidiums der KPdSU, Suslow und Aristow, in Budapest auf. In den ersten Wochen wurden die handlungsunfähigen ungarischen Funktionäre per "Handsteuerung" von den Sowjets gelenkt. Mitte des Monats traf auch Malenkow in Budapest ein und in einem kleinen Dorf vor den Toren von Buda unter strenger konspirativer Abschirmung mit Kádár zusammen. Dabei verständigte er sich mit ihm dahingehend, daß die Gruppe um Imre Nagy nach Rumänien zu deportieren sei. Von dieser Abmachung infomierte Kádár aber nicht einmal die provisorische Exekutivkommission, die zu der Zeit quasi als Politbüro fungierte.2 Die ersten Todesurteile wurden auf direkten sowjetischen Druck hin gefallt. Malenkow, Suslow, Aristow und Serow meldeten am 30. November dem ZK der KPdSU, daß Genosse Serow mit Kádár und Münnich übereingekommen ist, militärische

Volksgerichte aufzustellen.

Außerdem habe

man

sich über 6-8 Personen

verständigt, die

von I. Serow an das ZK der KPdSU und Genossen Chruschtschow, 19.11.1956. Fehlende Blätter aus der Geschichte von 1956. Die sowjetischen Dokumente werden im Präsidialarchiv der Russischen Föderation aufbewahrt. Bei seinem Budapester Besuch am 11. November 1992 übergab Präsident Jelzin dem Präsidenten der Ungarischen Republik, Arpad Göncz, eine größere Sammlung von Dokumenten, die 1993 auf Ungarisch unter dem Titel "A Jelcon-dosszié" erschienen. Die russischen Originale werden in der Landes-Széchenyi-Bibliothek aufbewahrt und können dort zu Studienzwecken eingesehen werden.

Meldung

269

verurteilen seien. Drei von ihnen wurden sogar namentlich erwähnt: József Szabó und László Zólomy.1 János Dudas, Die bewaffneten Zusammenstöße dauerten bis zum 11. November an. An diesem Tag ergaben sich die Arbeiter von Csepel, die überwiegend in der Schwerindustrie arbeiteten. sofort

zu

4. Die Neuorganisation der USAP durch Kádár In dem von der Ungarischen Revolutionären Arbeiter- und Bauern-Regierung in Moskau formulierten Aufruf wurde offensichtlich aus taktischen Gründen kein Wort über die Rolle der kommunistischen Partei verloren. Trotzdem war vom ersten Augenblick an klar, daß die führende Kraft innerhalb der kommunistischen Regierung natürlich die kommunistische Partei sein wird. Auf den Sitzungen des Moskauer Parteipräsidiums wurde bereits über die Bezeichnung der alten-neuen Partei diskutiert. Während die erzkonservativen Stalinisten um Woroschilow die Distanzierung vom bisherigen Namen (Partei der Ungarischen Werktätigen, PdUW) als Verrat betrachteten, favorisierten die Pragmatiker eine Umbenennung in Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP bzw. ung.: MSZMP). Dieser Name, der eng mit der Person von Imre Nagy verbunden war, konnte sich schließlich durchsetzen.2 Trotz allem hatte niemand einen Zweifel daran, daß das Prinzip der führenden Rolle der Partei wiederhergestellt und damit eine Restauration von Staat und Gesellschaft nach sowjetischen Muster erfolgen würde. -

-

Fehlende Blätter, op. Cit., S. 182-183, Schrift Nr. 50. Von den Genannten wurden die ersten beiden am 19. Januar 1957 aufgrund eines Urteils des Sonderrates des Militärtribunals des Obersten Gerichts hingerichtet. Der 54jährige Dudas war während der beiden Weltkriege Mitglied der illegalen Rumänischen Kommunistischen Partei und verbüßte für diese Betätigung neun Jahre seines Lebens im Gefängnis. Während des Krieges wirkte er in der ungarischen antifaschistischen Bewegung mit. Nach dem Krieg war er in der Partei der Kleinlandwirte aktiv. Mehrmals wurde er interniert. Während der Revolution gab er eine Zeitung heraus, in der er den radikaleren Flügel der Revolution vertrat. Bewaffneten Gruppen schloß er sich zwar an, nahm aber an den bewaffneten Kämpfen nicht direkt teil. János Szabó, der während der Revolution unter dem Namen "Onkel Szabó" als Befehlshaber der Budaer Aufständischen allgemein bekannt wurde, war mit seinen 59 Jahren älter als der Durchschnitt. Er war Arbeiter und Chauffeur. Wegen seiner Kampferfahrungen wurde er von den bewaffneten Aufständischen vom Széna Platz zum Befehlshaber gewählt. Die unter seinem Befehl stehende Gruppe erwies sich als die am besten organisierte des Aufstandes und konnte die meisten militärischen Erfolge für sich verbuchen. Entgegen der sowjetischen Anweisung wurde der Oberst der Ungarischen Volksarmee László Zólomy bei dem noch erschwerend hinzukam, daß er in der Horthy-Armee gedient hatte nicht hingerichtet, sondern erst am 9. September 1958 im Prozeß gegen die Offiziere des Generalstabs zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Gründe für die Herabmilderung des Strafmaßes sind nicht bekannt. Nach der Wende und seiner gerichtlichen Rehabilitierung war er bis zu seinem Tod Flügeladjutant des Präsidenten der Republik. Die 1918 gegründete Ungarische Kommunistische Partei wurde so zum wiederholten Mal in ihrer Geschichte umgetauft. Den neuen Namen trug sie bis zu ihrem Auseinanderfall im Herbst 1989. Er wurde von einer Splittergruppe danach noch einige Jahre fortgeführt. -

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270

Neuorganisierung der in der Revolution auseinander gebrochenen Führungskraft riesige Probleme. In den ersten Wochen traten nur revanchehungrige Kommunisten, Staats- und Parteifunktionäre, die während der Revolution ihre Ämter verloren hatten sowie wenige, aber durchaus über einen großen Einfluß verfügende ehemalige illegale Kommunisten der Partei bei. Unter ihnen spielten natürlich die Berufsoffiziere der bewaffneten Kräfte (Staatssicherheit, Volksarmee und Polizei) eine große Rolle. Für die Tatsache der erfolgreichen Neuorganisation der Partei spricht, daß am 1. Dezember nur 4,3 Prozent der Mitglieder der Vorgängerpartei, PdUW, der USAP Die

stieß auf

beitraten.

Trotz des absoluten militärischen Kräftevorteils war die Neuformierung der Partei mit außerordentlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Arbeiterräte, denen die Leitung der Betriebe oblag, gestatteten bis zu ihrem Verbot entsprechend der von ihnen während der Revolution verkündeten Prinzipien keiner einzigen Partei, auf dem Gelände der von ihnen kontrollierten Betriebe, Ämter und Genossenschaften aktiv zu werden. Diesem Grundsatz versuchten sie auch dann treu zu bleiben, als die USAP auf den Trümmern ihrer Vorgängerpartei wieder versuchte, ein Netz von Grundorganisationen aufzubauen. In der kommunistischen Presse wagten es die meisten Redakteure in der ersten Zeit nur, anonym oder unter einem Pseudonym zu publizieren. Selbst zahlreiche Propagandaschriften erschienen unter Pseudonym. Die erste Sitzung des provisorischen, durch keinerlei Wahl legitimierten Zentralkomitees (ZK) der USAP fand am 11. November, also bereits eine Woche nach der sowjetischen Invasion, statt. Kádár versuchte, die Ereignisse der vergangenen Wochen zusammenzufassen. Auf der streng geheimen Zusammenkunft fiel aber kein Wort über die Moskauer Reise verschiedener anwesender Funktionäre, über die Haltung der Moskauer Führung sowie deren wahre Gründe für die Invasion vom 4. November. Der Kenntnisstand der leitenden Organe der Partei lag bis zum Zusammenbruch kaum über der der einfachen Parteimitglieder oder des Volkes. Die größte Sorge machte sich Kádár, in dessen Hände Moskau das Schicksal Ungarns gelegt hatte, über die Spaltung der Partei und insbesondere über die ungelöste Frage Imre Nagy. Eine weitere Bürde stellte die große Zahl von stalinistischen Funktionären dar, für deren Entfernung aus den führenden Ämtern der Partei Kádár eine Vollmacht von dem provisorischen ZK erbat. Auf dieser Sitzung wurde auch beschlossen, die sowjetischen Sicherheitskräfte schrittweise durch ungarische, sogenannte revolutionäre Offiziersregimente zu

ersetzen.1

Über das Schicksal des

neuen Mehrparteiensystems fällte das Zentralkomitee keine Entscheidung. Aber vom ersten Augenblick an war klar, daß die USAP die Existenz der

in der Revolution neu entstandenen Parteien nicht wünschte. Besonders unerwünscht die Neugründung der Sozialdemokratischen Partei. Zugleich wurde aber nicht

war

Die Protokolle

von Politbüro, ZK und der USAP waren bis zur Wende geheim. 1993 bis 1994 veröffentlichte das Institut für Politikgeschichte der Rechtsnachfolger des Instituts für Parteiengeschichte des Politbüros der USAP mit beispielhafter Genauigkeit die Protokolle aus den Jahren 1956 bis 1957 in vier Bänden. Seit der Wende gibt es für die Forschungsarbeit in dem Archiv der Parteidokumente kein Hindernis mehr. (Die Protokolle der provisorischen Führungsgremien der USAP, I-IV. Band, redigiert von Sándor Balogh, Intera Rt„ Bp. 1993-94). -

-

271

ausgeschlossen, Politiker aus anderen Parteien an der Macht teilhaben zu lassen, die vor 1956 keine Rolle gespielt hatten oder im Gefängnis waren. Die Kádár-Führung nahm Ende 1956 informelle Verbindungen zu einigen Repräsentanten demokratischer Parteien auf. Aber das Ergebnis dieser Sondierungen war im wesentlichen negativ. Immerhin wurden einige bürgerliche und sozialdemokratische Politiker aus der Zeit nach 1945 für Funktionen im Staatsapparat gewonnen. Deren Beteiligung änderte jedoch nichts am

Wesen der sich vollziehenden Restauration der kommunistischen Parteidiktatur.1 Kádár begrenzte die Zahl der Stellen im Staatsdienst, deren Besetzung eine Parteimitgliedschaft in der USAP voraussetzte. Die Parteimitgliedschaft blieb als Nachweis der politischen Zuverlässigkeit von fundamentaler Bedeutung. 1956/57 war sie der Prüfstein für eine positive Beurteilung des politischen Verhaltens während der Revolution. Grundsätzlich waren Parteilose, wie in allen Ländern des sowjetischen Imperiums, nur für bestimmte Funktionen zugelassen; selbst diese konnten in den meisten Fällen nur nach einer Bestätigung durch die Patriotische Volksfront ausgeübt werden. Nicht nur die Neuorganisation der Partei, sondern auch die Rückkehr zu einer normalen Staatsverwaltung stieß auf große Schwierigkeiten. Am Anfang wurden die Komitate (Bezirke) von besonderen Regierungsbeauftragten geleitet, die mit fast diktatorischen Machtbefugnissen ausgestattet waren. Ebenso wurde mit den meisten Fachministerien verfahren, denen Regierungsbeauftragte und nicht Minister vorstanden. Das Parlament, dessen Wahlperiode 1957 ablief, trat erst nach einer mehr als neunmonatigen Pause am 9. Mai 1957 wieder zusammen. Das 1953 „gewählte" Parlament, das noch die letzten Tage des ungarischen Stalinismus miterlebte und bei der Wahl von Imre Nagy zum Ministerpräsidenten 1953 und seiner Abwahl 1955 assistierte, war auch in den Händen von Kádár ein gehorsames Instrument. Lediglich 28 Abgeordnete verloren ihr Mandat, entweder, weil sie sich unter Rákosi oder nach der damaligen Sprachregelung unter der „Rakosi-Gerö-Clique" zu sehr exponiert hatten oder, weil sie sich an der Revolution beteiligt hatten. Das traf z.B. auf Rudolf Földvari zu, ZK-Mitglied und Erster Sekretär des Komitats Borsod, der während der Revolution zum Vorsitzenden des Arbeiterrates von Borsod avancierte und bald darauf zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Sein Schicksal teilte Sándor Kopácsi, der Polizeipräsident von Budapest, der sich am Aufstand beteiligt hatte und ebenfalls zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Auch Georg Lukács verlor sein Mandat, ebenso wie József Bozsik, der in der weltberühmten „Goldenen Mannschaft" des ungarischen Fußballs spielte und sich bei der Olympiade in Melbourne in den Westen absetzte.

So wurde mit Odön Kisházi ein sozialdemokratischer Politiker Mitglied der URABR, der unter Rákosi lange Zeit im Gefängnis gesessen hatte und der sich 1948 von jenem Flügel der sozialdemokratischen Partei distanzierte, der eine Fusion mit den Kommunisten anstrebte. Béla Kovács war die kurze Zeit bis zu seinem Tod Parlamentsabgeordneter für die Patriotische Volksfront. Zuvor war er Generalsekretär der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei und in der Regierung Nagy Staatssekretär. Wegen einer im Gulag zugezogenen Krankheit zog er sich jedoch zunehmend aus dem politischen Leben zurück und nahm sein Abgeordnetenmandat nur noch formell wahr.

272

gelang es bis Anfang Dezember,

ihre Reihen soweit

„säubern", daß ihr noch verschämt als bislang provisorisches „bedauerliche Oktoberereignisse" beschriebene Revolution nun ganz klar als „Konterrevolution" bewerten konnte. Für den Zusammenbruch des Regimes wurden vier Gründe genannt: 1. die schweren Fehler und Verfehlungen der Rakosi-Gerö-Clique, 2. die Tätigkeit der innerparteilichen oppositionellen Gruppe um Imre Nagy und Geza Losonczy, 3. die Aktivitäten der Horthy-Faschisten und ungarischer kapitalistischgutsherrlicher Konterrevolutionäre und 4. die Einmischung des internationalen Imperialismus. Über den ersten Grund wurde aufgrund der politischen Atmosphäre der kommenden Jahre immer weniger gesprochen. Aber dieser dogmatisierte Katalog blieb der Grundstein für die Legitimation von Kádárs Herrschaft. Bis 1989 hielten die USAP und János Kádár bis zu seinem Tod krampfhaft an dieser Verurteilung der ungarischen Revolution fest. Da Kádár und sein Machtsystem ihre Legitimation auf den 4. November 1956 gründeten, war die Neubewertung der Revolution und der historische Nachweis der Illegitimität des Machtantritts von Kádár 33 Jahre später ein wesentlicher Faktor für den Sturz der Diktatur. Der USAP

zu

ZK in einem Grundsatzbeschluß die

5. Die

Vergeltung

Nachdem

das Zentralkomitee in seinem Beschluß den Volksaufstand als Konterrevolution verurteilt und die dafür verantwortlichen „Abweichler" in den eigenen Reihen, die feindlichen politischen Strömungen und gesellschaftlichen Klassen bezeichnet hatte, begann die Abrechnung mit den für den Ausbruch der „Konterrevolution" verantwortlichen Personen. Schrittweise wurde der Apparat der Vergeltung aufgebaut. Ende 1956 übernahmen die ungarischen Staatssicherheitsorgane diese Aufgabe von ihren sowjetischen Kollegen. Eine besondere Behörde für Staatssicherheit (AVH) wurde formal nicht wieder errichtet. Allerdings wurden die dem Innenministerium unterstellten politischen Untersuchungsabteilungen der Polizei sofort wieder reorganisiert. Ihr Personal rekrutierte sich überwiegend aus früheren Offizieren der Staatssicherheit. Unter ihnen gab es nicht wenige hohe Offiziere, die an den „Konzeptionsprozessen" (Schau- und Geheimprozesse) unter Rákosi aktiv beteiligt waren. Darüber hinaus wurden zur Kontrolle und zur „Verstärkung" der Arbeit der Staatssicherheit auch zahlreiche Parteiund Jugendfunktionäre in das Innenministerium kommandiert. Auch wurde die für die Arbeit der Staatssicherheit notwendige operative Organisation rekonstruiert: der technische Apparat und das Agentennetz. Eine Gesamtübersicht über die Zahl der damaligen informellen Mitarbeiter, also der Spitzel, gibt es in Ungarn nicht. Wir sind auf zufällige Zahlen angewiesen, aber im Komitat Nógrád betrug im März 1957 die Zahl der in die operative Arbeit einbezogenen informellen Mitarbeiter wieder 20 % des Niveaus vor dem Oktober 1956.1

Vgl.

die Streng geheime Meldung der Polizeikommandantur des Komitats Nógrád des Innenministeriums an die administrative Abteilung der USAP, in: Sortüz, 1956, EnqueteKommission des Justizministeriums, 1993, S. 110, Ungarisches Landesarchiv, 288 f. 30/1957 =

273

Als es nicht gelang, den Widerstand der Gesellschaft schnell zu brechen und der Zentrale Arbeiterrat sogar einen politischen Generalstreik verkündete, wurde am 11. Dezember das Standrecht eingeführt, das sich auf Mord, Brandstiftung, Raub, Sabotage sowie unerlaubten Waffenbesitz erstreckte. Die Urteile der entsprechenden Standgerichte konnten nach Ablehnung des Gnadenersuchens innerhalb von 2 Stunden vollstreckt werden. Vier Tage später wurde in Miskolc der 29jährige Schuster József Soltész wegen unerlaubten Waffenbesitzes zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Der Grund: Bei einer Razzia fand man bei ihm eine Pistole. Da das Opfer wegen Diebstahl bereits vor der Revolution im Gefängnis saß, begann mit diesem Urteil die Gleichsetzung von bewaffneten Aufständischen und gemeinen Verbrechern. Während man die Urteile der Gerichte sonst im allgemeinen streng geheim hielt, wurde die erste Hinrichtung zur Abschreckung in der Parteizeitung als Nachricht auf der ersten Seite

veröffentlicht.1 Bis

zur

Aufhebung

der

Standgerichte

verurteilt, 46 von ihnen zum Tode.

Ende 1957 wurden

insgesamt

400 Menschen

Der Präsidialrat ein nach sowjetischem Vorbild arbeitendes kollektives Gremium, das in der Lage war, gesetzeskräftige Verordnungen zu erlassen, solange die parlamentarische Tätigkeit ruhte verhängte ein Versammlungsverbot. Die von den sowjetischen Behörden nach der Invasion verordnete Ausgangssperre wurde lediglich am Heiligen Abend für einen Tag ausgesetzt, in der Sylvesternacht war es verboten, auf die Straße zu gehen. Am 12. Januar 1957 wurde das Schnellgerichtsverfahren eingeführt, hierfür war keine Anklageschrift mehr notwendig. Das Strafmaß wurde verschärft. Der Richter konnte sobald die Anklage bewiesen war die Verhandlung abbrechen und war nicht mehr verpflichtet, die Argumente der Verteidigung zu hören. Parallel zu diesen Maßnahmen wurden innerhalb der Gerichte allgemeine Säuberungen durchgeführt. Politisch unzuverlässige Richter, die nicht bereit waren, harte Urteile zu fallen, wurden vom Dienst suspendiert. Im Frühling wurde die „Vereinfachung" des Systems der Gerichtbarkeit weiter fortgesetzt. Für besonders wichtige politische Fälle wurde der Volksgerichtsrat des Obersten Gerichts geschaffen, der in erster Instanz und ohne die Möglichkeit zur Berufung Urteile unter Beteiligung eines Fachrichters und vier Schöffen fallen konnte. Dieses Gericht sollte in der Folgezeit führende Politiker der Revolution, Generäle, Schriftsteller und international bekannte Intellektuelle aburteilen. Mit der Verordnung Nr. 31/1956 wurden die 1953 von Imre Nagy aufgelösten Internierungslager, die „Sicherheitshaft", wieder eingeführt. Damit konnten ohne Verfahren Personen direkt in ein Lager gesperrt werden, die an der Revolution Die genaue Zahl der im Sinne dieser Verordnung internierten Personen waren. beteiligt ist bis heute unbekannt, man geht jedoch von mehreren Zehntausend aus. Es gab Leute, die nach 6 bis 12 Monaten wieder auf freien Fuß waren. Für viele war die Internierung lediglich ein Vorspiel, dem die eigentliche Verhaftung bzw. Untersuchungshaft mit -

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2 o.e.

Vgl. 1956 Kezikönyve, Nr. 504/1956.

Budapest 1996, Quelle: Budapester Militärgericht stat.

B.

Rgt.

Strafsache

274

anschließender Verurteilung folgte. Unter den Internierten war der Anteil jener besonders hoch, die zur Zusammenarbeit mit den Behörden gezwungen wurden. Die „Säuberung" nach der Revolution hatte eine gesellschaftliche Dimension und war nicht nur auf die Arbeit von Polizei und Gerichten beschränkt. In allen Verwaltungseinheiten, in den Komitaten, den Kreisen und Gemeinden, aber vor allem an den Arbeitsplätzen, begannen allgemeine Untersuchungen über das Verhalten der einzelnen Arbeitnehmer während der Revolution. Die Disziplinarkommissionen konzentrierten sich in den Betrieben vor allem auf die im Arbeitsgesetzbuch beschriebenen disziplinarischen Vergehen, wie z.B. das Eintreten für und die Beteiligung an einem Streik oder die aktive Teilnahme an den spontan entstandenen Arbeiterräten. Hunderttausende, die man nicht der Polizei überstellen konnte, verloren ihren Arbeitsplatz, wurden in niedrigere Positionen versetzt oder an ihrer Weiterbildung gehindert. Die Entlassenen fanden oft nur schwer wieder einen Arbeitsplatz. Für Zehntausende bedeutete diese Überprüfung das Ende ihrer Karriere. Diese von den Ordnungsorganen vorgenommene Vergeltung bestrafte nicht nur eine bestimmte Person, sondern dieser Vorgang diente zugleich auch als Abschreckung für das jeweilige Umfeld, die Dorfgemeinschaft, die Belegschaft oder die Hausgemeinschaft. Auch die an vielen Wänden auftauchende Plakate aus der Zeit der Räterepublik von 1919 verfolgten dieses Ziel: „Du, Dich im Dunklen verbergender Konterrevolutionär, zittere!" Auch bei den bewaffneten Verbänden fanden Säuberungen statt. Offiziere, die weiter ihren Dienst ausüben wollten, mußten eine sogenannte Erklärung unterschreiben, in der sie sich für die Kádár-Regierung und deren Politik aussprechen und ihr Einverständnis mit der sowjetischen Intervention erklären mußten. Wer die Unterschrift verweigerte, wurde aus der Volksarmee entlassen. Die verschiedenen ordentlichen und außerordentlichen, zivilen und militärischen Gerichte setzten ihre Tätigkeit jahrelang fort. Im Gegensatz zur Praxis der Konzeptionsprozesse in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als die meisten politisch Angeklagten nach dem Vorbild der sowjetischen Prozesse der 30er Jahre aufgrund falscher Anschuldigungen verurteilt wurden, hatten die politischen Prozesse nach 1956 stets einen gewissen realen Kern. Die Mitglieder der revolutionären Kommissionen hatten tatsächlich an der Arbeit der vom Volk gewählten Organe teilgenommen, die bewaffneten Aufständischen hatten wirklich gegen die sowjetischen Truppen gekämpft, die Politiker hatten tatsächlich demokratische Parteien organisiert, es waren wirklich Funktionäre des gestürzten Systems von ihnen verhaftet worden etc. All jene Handlungen wurden nun von den Gerichten als aktive Teilnahme an Organisationen gewertet, die sich gegen die Volksrepublik richteten. So wurde aus der freien politischen Meinungsbekundung eine gegen den Staat gerichtete Agitation, aus der revolutionären Aktivität der Offiziere Meuterei, aus den außenpolitischen Schritten der Regierungsmitglieder Landesverrat. Die Urteile fielen immer härter aus und trafen bald alle Gruppen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Die politische Polizei übte sowohl an den Politikern der Parteiopposition Imre Nagy und Gefährten, „Petöfi-Kreis", Schriftsteller und Journalisten Vergeltung für deren -

^revisionistischen Verrat", als auch an den Vertretern der Kirchen, besonders der römisch-katholischen, vor allem, wenn deren Aktivitäten in Opposition zu der Linie des -

275

Staatlichen Amtes für Kirchenfragen standen. Am härtesten traf es von allen Betroffenen wohl all jene, die in den gewählten revolutionären Organen eine leitende Stellung ausgeübt hatten. Die Leiter der Arbeiterräte, unter ihnen viele Facharbeiter, Aktivisten und Ingenieure, aber auch Bauern, welche die Produktionsgenossenschaften aufgelöst oder die verhaßten Akten der landwirtschaftlichen Erfassung verbrannt hatten, kamen fast ohne Ausnahme ins Gefängnis. Es wurden aber auch einfache Teilnehmer von Demonstrationen nicht verschont, ebensowenig wie Redakteure revolutionärer Zeitungen oder Personen, die kommunistische Symbole wie Statuen oder sowjetischen Denkmäler zerstört hatten. Obwohl das Kádár-Regime in Budapest das Stalin-Denkmal, das zu Beginn der Revolution niedergerissen wurde, nicht wiederaufstellen lassen konnte und wollte, verfolgte sie diejenigen als Straftäter, die an der Aktion

teilgenommen hatten.1

den Gerichten verurteilten Personen ist bis heute nicht genau aus dieser Zeit ein falsches Bild ergeben. Viele Menschen wurden als gewöhnliche Kriminelle verurteilt. Aus dem Sturm eines Waffenlagers, mit dem Ziel, sich Waffen für den revolutionären Kampf zu besorgen, wurde schlichter Raub; die Teilnahme an bewaffneten Aktionen wurde in Mord umqualifiziert. Nach korrekten Schätzungen wurden bis 1961 mindestens 12.000 Menschen zu Haftstrafen Die Zahl der

von

bekannt, da die Statistiken

verurteilt.

Die Zahl der aufgrund eines begründeten Urteils vorgenommenen Hinrichtungen Wie bereits erwähnt, wurde die erste am 19. Dezember 1956 vollzogen. Die letzte fand wahrscheinlich am 26. August 1961 statt. Das Opfer war der mehrfache Aktivist László Nickelsburg, der eine Gruppe von Aufständischen in der Nähe des Ostbahnhofs geleitet hatte. Die unglaubliche Gnadenlosigkeit der Vergeltung wird dadurch unterstrichen, daß der Angeklagte bereits eine lebenslange Strafe angetreten hatte, als sein Fall neu aufgerollt und er im Verlaufe eines neuen Prozesses zum Tode verurteilt wurde. Es ist nicht uninteressant, daß der in chronologischer Reihenfolge letzte Märtyrer während des Zweiten Weltkriegs jüdischer Zwangsarbeiter war und seine Familie ausgerottet wurde. Er selbst war Mitglied der kommunistischen Partei. In den vier Jahren zwischen der ersten und der letzten Hinrichtung war der Henker nicht wählerisch. Die soziologische Zusammensetzung der zum Tode Verurteilten entsprach der aller Verurteilten: Der legitime ungarische Ministerpräsident und Professor Imre Nagy wurde am selben Morgen hingerichtet wie ein Arbeiter aus der als Nationalgardist gedient hatte. Der Weg in Richtung Todesstrafe wurde dadurch beeinflußt, ob der Angeklagte bereits in den Jahren vor der Revolution aus irgendeinem Grund verurteilt worden war, gleich ob wegen Verbrechen gegen die öffentliche Versorgung der Bevölkerung oder wegen kleinerer Diebstahldelikte von Volkseigentum. Das Entscheidene war, daß man nach außen aus ihm einen gewöhnlichen Kriminellen machen konnte. Die Parteimitgliedschaft war dabei ebenso ein Nachteil („Verrat") wie eine bürgerliche Vergangenheit („Klassenfremdheit"). Das Ziel bestand in der totalen Einschüchterung der Gesellschaft und der Wiederherstellung der Ordnung. In den ersten Jahren des

betrug 229.

Üjpest,

Es

ist bemerkenswert, daß die während der Revolution umbenannte Stalinstadt Stalins erhielt. Heute heißt sie Dunaújváros.

gezwungenermaßen wieder den Namen

1957

276

Kádár-Regimes wurde jedoch nicht die gesellschaftliche Ordnung konsolidiert, sondern unter Anwendung nahezu aller Instrumente der Gewalt das sowjetische Einparteiensystem restauriert. Seine verstärkte Aufmerksamkeit widmete der Vergeltungsapparat der „konterrevolutionären" Tätigkeit der Intelligenz. Da der Ungarische

Schriftstellerverband zwischen 1953 und 1956 und auch nach der Revolution zu Recht als Initiator der Reformbewegung und als Zentrum des geistigen Widerstandes galt und ein Teil der Schriftsteller und Journalisten selbst nach dem 4. November es nicht unterließ, zu politischen Fragen kritisch Stellung zu nehmen, sah das neue Regime ein wichtiges Ziel in der Brechung der Intelligenz. Diesem Ziel versuchten die neuen Machthaber u.a. mit zwei großen und mehreren kleineren Prozessen nahezukommen. Im „großen Schriftstellerprozeß" wurden die weltbekannten Autoren Tibor Déry, Julius Hay, Zoltán Zelk und Tibor Tardos, im „kleinen Schriftstellerprozeß" Domokos Varga und seine Gefährten als Vertreter der volkstümlich-nationalen Richtung verurteilt.1 Besonders Schriftsteller und Intellektuelle, denen man eine direkte Verbindung zu bewaffneten Gruppen nachweisen konnte oder die durch die Herausgabe von illegalen Zeitungen und Flugblättern der zweiten sowjetischen Intervention offenen Widerstand entgegengesetzt hatten, wurden mit Vorliebe verfolgt. Den Studenten Rudolf Andorka und seine Kommilitonen verhafteten die sowjetischen Organe bereits am 14. November; ihnen folgten István Eörsi und seine Mitstreiter Anfang Dezember. Die Anklage gegen den Journalisten Gyula Obersovszky und den Schriftsteller József Gáli, denen eine illegale Verlagstätigkeit nachzuweisen war, wurde auf Mord ausgeweitet, und beide wurden zum Tode verurteilt. Nur der starke nationale und vor allem internationale Protest rettete die beiden namhaften Intellektuellen vor dem Tod. Ein charakteristisches Beispiel ist aber auch der Fall von Arpad Brusznyai. Der 32jährige Lehrer für klassische Philologie war an einem Veszprémer Gymnasium beschäftigt. Während der Revolution wurde er in den Revolutionären Rat des Komitats gewählt, dessen Präsident er später wurde. Die erste Instanz verurteilte den angesehenen Leiter des Komitats in dieser Zeit zu lebenslänglicher Haft. Daraufhin forderte der Erste Sekretär der USAP des Komitats er wurde später Innenminister der Kádár-Regierung in einem Brief den Präsidenten des „unabhängigen" obersten Gerichtes auf, in zweiter Instanz ein Todesurteil zu verhängen. Das oberste Gericht entsprach dieser Aufforderung und verurteilte Brusznyai tatsächlich zum Tode. Wenig später wurde das Urteil vollstreckt.2 Dieser Fall illustriert plastisch die führende Rolle der USAP bei der Abrechnung, wobei diese Tragödie innerhalb der Geschehnisse besonders herausragt. -

-

Über

die Schriftstellerprozesse und das Verhältnis zwischen ungarischen Schriftstellern und den kommunistischen Machthabem, siehe: Éva Standeisky: Az irók és a hatalom (Die Schriftsteller und die Macht), 1956-63, Budapest, 1956er Institut, 1996, 481 p. Vgl. Frigyes Kahler: A Brusznyai per (Der Busznyai-Prozeß), Emberi sorsok a politikai megtorlás idején, Kairosz 1998. In dem Buch ist auch der Brief von János Pap wiedergegeben. Nach der Wende beging der ehemalige Parteichef gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord.

277

6. Der Imre-Nagy-Prozeß Vergeltungsaktionen gipfelten im Strafverfahren gegen den legalen ungarischen Ministerpräsidenten und seine Kabinettsmitglieder. Die ungarische Regierung hatte mit der rumänischen eine Vereinbarung getroffen, die Imre Nagy und den anderen Flüchtlingen „politisches Asyl" in Rumänien zubilligte. Dieses Abkommen wurde gekündigt und im April 1957 der größte Teil der Gruppe um Imre Nagy auf rumänischem Territorium von Offizieren der ungarischen Staatssicherheit verhaftet und nach Budapest gebracht.1 Die Untersuchung verlief unter absoluter Geheimhaltung und dauerte 16 Monate. Der Die

Prozeß wurde zunächst auf Wunsch Moskaus verschoben, da er den aktuellen Interessen der internationalen kommunistischen Bewegung geschadet hätte. Angefangen von der Formulierung der Anklageschrift gab es im Rahmen der Prozeßvorbereitung eine sehr enge Zusammenarbeit mit den zuständigen sowjetischen Stellen. Im August 1957 „informierte" Innenminister Béla Biszku die sowjetische Parteiführung über die Vorbereitungen. Zu diesem Zeitpunkt kannten diese bereits die von den Organen des Innenministeriums also nicht von der zuständigen Staatsanwaltschaft formulierte Anklageschrift. Übereinstimmung herrschte zwischen den ungarischen und sowjetischen Organen im Hinblick auf die zu verkündenden Todesurteile. „Die Höchststrafe muß bei Imre Nagy, Losonczy, Donáth, Gimes, Maléter, Szilágyi und Béla Király" zur Anwendung kommen, schrieb Juri Andropow. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits Leiter einer Abteilung beim ZK des KPdSU, die die Kontakte zu den kommunistischen Parteien der sozialistischen Länder pflegte, am 26. August 1957 an R. Rudenko, den Obersten Richter der UdSSR und Armeegeneral P. Ivasutin, der zugleich im ZK eine führende Funktion bekleidete.2 Der Prozeß fand schließlich erst im Juni 1958 statt, nachdem er mehrmals verschoben worden war. Staatsminister Géza Losonczy konnte nicht mehr verurteilt werden, weil er am 21. Dezember 1957 im Gefängnis schwer erkrankte und an den Folgen eines mit künstlicher Ernährung einhergehenden langen Hungerstreiks verstarb was der Familie allerdings nicht mitgeteilt wurde. Der Prozeß gegen József Szilágyi, Sekretär von Ministerpräsident Imre Nagy, wurde von dem großen Prozeß abgetrennt, weil seine Vorführung selbst bei einer streng geschlossenen Verhandlung wegen seiner unbeugsamen Haltung ein Risiko dargestellt hätte. Er wurde am 24. April 1958 hingerichtet. Nicht vor Gericht gestellt werden konnte General Béla Király, der rechtzeitig emigrieren konnte. Gemäß der sowjetisch-ungarischen „Übereinkunft" wurden schließlich Imre Nagy, Verteidigungsminister Pal Maléter und der Journalist Miklós Gimes zum Tode verurteilt und am 16. Juni 1958 hingerichtet. Der 16. Juni war jahrzehntelang der Tag des streng verbotenen Gedenkens. Erst 30 Jahre später, am 16. Juni 1988, wurde auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ein symbolisches Grabmal für Imre Nagy und die anderen Märtyrer enthüllt und in -

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Die Aktion wurde übrigens von Sándor Rajnai damals Oberst der ungarischen Staatssicherheit geleitet; er war bis Mitte 1989 ungarischer Botschafter in Moskau. Vgl. A Jelcin-dosszié, op. Cit., p. 199, Präsidentialarchiv der Russischen Föderation, Nr. 15-D-

619.

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Budapest eine öffentliche Gedenkfeier abgehalten, die allerdings von der Polizei aufgelöst wurde. Im Jahr darauf fand auf dem Budapester Heldenplatz unter Teilnahme mehrerer 100.000 Menschen die erste offiziell genehmigte Trauerveranstaltung statt. Diese bedeutendste Massenkundgebung der Wende war der Höhepunkt des Prozesses der Neubewertung der ungarischen Revolution und stellte für alle Märtyrer eine späte Genugtuung dar.

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7. Der Widerstand Aufstand, der in Anbetracht der erdrückenden Übermacht vom ersten auf keinerlei militärischen Erfolg hoffen konnte, war der Ausdruck von Augenblick an Heldentum und Entschlossenheit. Einige tausend ungarische Jugendliche bewiesen der Welt mit ihrem Blut und dem Einsatz ihres Lebens, daß ihnen die Unabhängigkeit und Freiheit ihres Landes mehr wert war als alles andere. Nicht ohne Grund wählte ein bekanntes amerikanisches Nachrichtenmagazin den Pester Aufständischen zum „Mann des Jahres". Erwähnt werden soll aber auch, daß die Bevölkerung, besonders die von den Kämpfen am meisten betroffenen Bewohner von Pest, langsam des hoffnungslosen Ringens, der militärisch sinnlosen Zerstörung von Wohnhäusern und der Lebensmittelknappheit müde wurden. Die Jahre der Diktatur wogen zu schwer und die wenigen Tage der Revolution waren zu kurz, um das breite Volk zum dauerhaften aktiven Widerstand zu mobilisieren. Hinzu kam, daß der bewaffnete aktive Widerstand in Ungarn kaum noch über Traditionen verfügte. Der bewaffnete

Es entstanden jedoch andere Traditionen des politischen Widerstands in Ungarn, die waren. Die in den Tagen der Revolution spontan errichteten Arbeiterräte betrachteten sich weiterhin als Leiter, ja als die Eigentümer ihrer Fabriken und Genossenschaften. Nach wie vor gestatteten sie der USAP nicht, Betriebsgruppen zu bilden. Sie versuchten auch zu verhindern, daß die Partei in Personalfragen und hinsichtlich der Leitung der Produktion in den Betrieben wieder die Macht übernimmt.1 Die Aktivitäten der Arbeiterräte hatten natürlich in erster Linie einen politischen Hintergrund. Weder die sowjetische Intervention, noch die mit ihrer Hilfe an die Macht gelangte Kádár-Regierung wurde von ihnen akzeptiert. Sie verlangten die Wiedereinsetzung der von ihnen als legitim angesehenen Regierung von Imre Nagy. Ihren politischen Forderungen verliehen sie durch Streiks Nachdruck. Die politischen Parteien waren durch die Intervention unterdrückt worden und besaßen keinerlei Bewegungsspielraum mehr, dagegen war die Kádár-Regierung praktisch gezwungen, sich mit den Arbeiterräten, die die gesamte ungarische Arbeitnehmerschaft vertraten, an einen Tisch zu setzen. Nach dem Ende der Kämpfe besaßen die Arbeiter nur noch den Streik als Waffe. Auf der anderen Seite waren die Arbeiterräte sehr flexibel und neu

An ungarischer Literatur über die Arbeiterräte ist hervorzuheben: István Kemény Bill Lomax (Hrsg.): „Magyar munkástanácsok 1956-ban" (Die ungarischen Arbeiterräte 1956), Dokumente. Magyar Füzetek, Paris 1986; „Szuronyok hegyén nem lehet dolgozni" (Auf Bajonetten kann man nicht arbeiten), Auswahl aus den Erinnerungen der Leiter der '56er Arbeiterräte, Századvég-56er Institut, Budapest 1993; Monographie des britischen Soziologen und Historikers Bill Lomax mit dem Titel „Hungary 1956", Allison and Busby, London, 1976. Diese Schrift sieht die Bedeutung der ungarischen Revolution in erster Linie in der Zielsetzung der gesellschaftlichen -

Selbstverwaltung, die auf einem Netz der Arbeiterräte basiert. Das Buch, das in Übersetzung von György Krassó auch auf Ungarisch erschien, hatte in den 80er Jahren einen großen Einfluß auf die verschiedensten Gruppen der Opposition.

280

versuchten wochenlang das Unmögliche. Sie verhandelten mit der Regierung Kádár und ihren Vertretern. Neue, bis dahin völlig unbekannte politische Führer erschienen in der Öffentlichkeit, und neben den Verhandlungen mit der Regierung und sogar mit den sowjetischen Kommandeuren begannen sie zielstrebig, die Organisation der Arbeiterräte vertikal und horizontal auszubauen. So entstand unter den Bedingungen der militärischen Besetzung eine Doppelherrschaft in Ungarn: Auf der einen Seite gab es die von den sowjetischen Bajonetten geschützte Regierung mit einem relativ kleinen Sicherheitsapparat, auf der anderen Seite die spontan entstandenen, aber von einem Großteil des ungarischen Volkes unterstützten Arbeiterräte. Im November war die Kádár-Regierung buchstäblich zu Verhandlungen gezwungen, um den politischen Streik friedlich zu beenden. Am 14. November konstituierte sich in einem Arbeiterviertel von Budapest, in der Lampenfabrik Tungsram, der Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest. Zwischen ihm und den oppositionellen Intellektuellen bzw. ihren Organisationen bestand von Anfang an eine sehr effektive Zusammenarbeit. Als Grundlage für die Verhandlungen der Arbeiterräte mit der Regierung diente das von dem früheren Staatsminister István Bibó formulierte sozialistische Übergangsprogramm. Die Budapester Bezirke wurden aufgefordert, Arbeiterräte zu wählen; ferner wurde eine allgemeine Amnestie und das Ende des Machtmonopols der kommunistischen Partei verlangt. Zu den gewählten Leitern der Räte gehörten u.a. Sándor Bali und der damals 23-jährige Sándor Rácz. Noch am Tage ihrer Wahl verhandelten sie im Parlament mit János Kádár, der sie jedoch nur hinhielt und ausweichende Versprechungen machte. Die Sitzungen des Zentralen Arbeiterrates wurden zum Schauplatz der ungarischen Politik. An ihnen nahmen Vertreter der Arbeiterräte und der oppositionellen Schriftsteller teil. Hier unterbreitete Tibor Déry seine Vorschläge. Unter den Anwesenden gab es aber auch Vertreter der USAP; sogar der sowjetische Bevollmächtigte war anwesend. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand die Frage, ob der inzwischen landesweit ausgeweitete politische Streit fortgesetzt oder beendet werden sollte. Und obwohl die bewaffneten Auseinandersetzungen im wesentlichen beendet waren, häuften sich die friedlichen Demonstrationen. Am 23. November zum ersten Monatsjubiläum der Revolution blieb in der Hauptstadt um die Mittagszeit der Verkehr stehen und die Straßen leerten sich. Stille legte sich über Budapest. Nur die Patrouillen der Kommandoeinheiten belebten die Straßen. Am 4. Dezember zogen mehrere tausend Frauen in schwarzer Kleidung zum Heldenplatz, wo sie am Mahnmal des unbekannten Soldaten die Fahne der Revolution hißten. Von hier aus wollten sie zur amerikanischen Botschaft ziehen, doch dies unterbanden die Sicherheitskräfte. In den Provinzstädten kam es zu ähnlichen Kundgebungen. Im westungarischen Györ konnte sogar die relativ unabhängige Zeitung „Hazánk" („Vaterland") einige Wochen existieren. In Miskolc, dem Zentrum der nordöstlichen Industrieregion, kam Rudolf Földvari, der sich als Erster Sekretär des Komitatsparteikomitees an die Spitze des Arbeiterrates des Komitats gestellt hatte und nach dem Einzug der Sowjets sofort deportiert wurde, auf freien Fuß und konnte einige Wochen lang wieder als Leiter des Arbeiterrates auf die Geschicke im Komitat Einfluß nehmen. Dem historisch vielleicht einzigartigen Experiment einer Arbeiterselbstverwaltung wurde jedoch bald ein gewaltsames Ende bereitet. Als den Zentralen Arbeiterrat am 8. Dezember die Nachricht von den tödlichen Schüssen auf die demonstrierenden -

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Bergarbeiter in Salgótarján erreichten, wurde ein zweitägiger landesweiter Streik beschlossen. Am nächsten Tag wurden die lokalen Arbeiterräte verboten. Durch diesen Schritt wurde es für den Zentralen Arbeiterrat unmöglich, die Verbindung zu den Räten in den Betrieben des Landes aufrecht zu erhalten. Die Basis der Doppelmacht war von einem Tag zum anderen zerstört. Auch wegen des Streikaufrufs wurde das bereits erwähnte Standrecht verkündet. Am 11. Dezember wurden Sándor Bali und Sándor Rácz zu angeblichen Verhandlungen ins Parlament gelockt und dort verhaftet. Zur gleichen Zeit verhinderte sowjetisches Militär die Konstituierung des Landesarbeiterrates in der Budapester Sporthalle. Trotz des direkten Terrors existierten die Arbeiterräte in den Fabriken weiter. In einer der größten Fabrik der Schwerindustrie, in den Csepel-Werken, kämpfte der dortige Arbeiterrat noch einen ganzen Monat um seine Existenz und um eine Übereinkunft mit der neuen Macht. Am 11. Januar 1957 wurde eine Versammlung der Arbeiter auf dem Werksgelände von eingedrungenen Sicherheitskräften aufgelöst. Dabei wurde ein Arbeiter erschossen und Elek Nagy, der Vorsitzende des Arbeiterrates der CsepelWerke, verhaftet. Damit war das Kapitel der Arbeiterräte beendet. Die kommunistische Einparteienmacht duldete nicht länger, daß sich das utopisch-revolutionäre Experiment einer Arbeiterselbstverwaltung in der Praxis weiter ausprobieren konnte. Trotz allem entschloß sich die Kádár-Regierung erst am 17. November 1957, die Liquidierung der Arbeiterräte gesetzlich festzuschreiben. Damit wurde zugleich ein Charakteristikum der Gesellschaft sowjetischen Typs wieder restauriert: die Degradierung der unter dem Einfluß der Partei stehenden kommunistischen Gewerkschaften zum „Transmissionsriemen" des Willens der Partei in Richtung der Arbeiter und Angestellten.

8. Der geistige Widerstand und die

Emigration

Der 4. November traf das ungarische geistige Leben politisch wie auch organisatorisch völlig unvorbereitet. Die parteiinterne intellektuelle Opposition um Imre Nagy, die „Revisionsten", stand mit einem Mal führerlos da. Diese Strömung war vor dem 23. Oktober nicht organisiert, u.a. deswegen, weil Imre Nagy bis zum Ende peinlichst

darauf achtete, daß es innerhalb seiner Partei zu keinerlei Fraktions- oder Plattformbildung kam. Die Folge war, daß sich seine Sympathisanten in ihrem Engagement immer mehr ihrer Leitfigur anpaßten hatten. Um so verheerender wirkte sich der plötzliche Ausfall, nicht nur von Imre Nagy, sondern der gesamten hinter ihm stehenden Führungsriege aus. Trotzdem versuchte eine kleine Gruppe seiner Anhänger, sich auch weiterhin politisch zu betätigen. Sie war jedoch nicht nur führerlos, sondern hatte zudem keinerlei Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Sie verfügte über keine Zeitungen, der Rundfunk wurde von einem Regierungsbeauftragten sofort nach der Invasion gleichgeschaltet, der „Petöfi-Kreis" das einzige Betätigungsfeld und Medium der kritischen Intelligenz wurde durch ein Versammlungsverbot sowie dadurch, daß auch sein Leiter in der -

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jugoslawischen Botschaft Asyl gefunden hatte, praktisch handlungsunfähig. Neben den Arbeiterräten blieb der Schriftstellerverband ihr einziges legales Betätigungsfeld. Hier trafen sich die während der Revolution exponierten ungarischen Schriftsteller ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einer Partei oder geistig-politischen Strömung. Lediglich einige alt-stalinistische Schriftsteller nahmen nicht an der Arbeit des Verbandes teil. Ungeachtet der Tatsache, daß bereits Anfang Dezember zahlreiche

Schriftsteller verhaftet worden waren, hielt der Verband am 28. Dezember seine Mitgliederversammlung ab. Der Generalsekretär bezog in seinem Eröffnungsreferat ganz klar Stellung für die Revolution. Der Klassiker der volkstümlichen Bewegung, Aron Tamási verlas eine Schrift mit dem Titel "Sorge und Glaubensbekenntnis". Tibor Déry, der Doyen der links-sozialistischen Literatur, erklärte: „Die ungarische Geschichte und in ihr die größte, sauberste und einheitlichste Revolution der Arbeiterbewegung wurde mit wenig staatsmännischer Weisheit unterdrückt." Kein Wunder, daß der Innenminister einige Wochen später, am 17. Januar 1957, den Schriftstellerverband verbot. Drei Tage später ereilte die Selbstverwaltung des Journalistenverbandes das gleiche Schicksal. Bei letzterem wurde eine Mitgliederrevision durchgeführt, innerhalb derer das Verhalten sämtlicher Journalisten während der Revolution untersucht wurde. Die selbe Prozedur mußten sich auch die Mitglieder aller Künstlerverbände gefallen lassen. Nach der Niederschlagung der Revolution wurde versucht, den Revolutionären Rat der Ungarischen Intelligenz weiter am Leben zu erhalten. Dieser stand unter der Leitung von Zoltán Kodály, des sich einer großen nationalen, aber auch internationalen Popularität erfreuenden Freundes und Gefährten von Béla Bartók. Über einige prinzipielle Erklärungen hinaus konnte jedoch diese Vereinigung nichts bewirken. Auch sie wurde bald darauf verboten. Ihr Sitz, der Kossuth-Klub, in dem auch der „PetöfiKreis" sein Domizil hatte, wurde geschlossen. Die in der Revolution entstandenen politischen Parteien konnten aufgrund ihrer mangelnden Organisation keinen spürbaren Einfluß auf die gewaltsam forcierten Ereignisse ausüben. Lediglich einige wenige ihrer Führer versuchten, sich auch weiterhin politisch zu betätigen. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang auf jeden Fall das Wirken von István Bibó, des herausragenden Denkers der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der zahlreiche Kompromißvorschläge ausarbeitete und den Machthabern unterbreitete. Außerdem versuchte er mit ehemaligen Angehörigen der innerparteilichen Opposition, mit noch auf freien Fuß befindlichen Abgeordneten sowie mit dem ehemaligen Politiker der Kleinlandwirte, Arpad Göncz, zu kooperieren. Ein Memorandum, das auf einen gesamtgesellschaftlichen Ausgleich abzielte, übergab Bibó am 4. Dezember persönlich dem vom indischen Ministerpräsidenten Nehru nach Budapest entsandten Sonderbotschafter K. P. S. Menon, stark beeindruckt von der Frauendemonstration. Während seines Aufenthaltes in Budapest verhandelte er auch mit János Kádár. Die außenpolitischen Interessen Indiens verhinderten schließlich, daß sich Menon wirksam an der Erarbeitung eines Ausgleichs beteiligen konnte. Es war kein Zufall, daß Bibó und Göncz im Frühling 1957 verhaftet und 1958 in erster Instanz zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt wurden. Da die offizielle Presse immer mehr Verleumdungen über die Ansichten von Imre Nagy verbreitete, schmuggelte eine Gruppe seiner Freunde, die sich unter dem Namen

283

Demokratische Unabhängigkeitsbewegung" zusammengefunden hatte, die Schriften von Imre Nagy aus der Zeit vor der Revolution in den Westen. Sie erschienen im Frühling 1957 auf Ungarisch und bald darauf in mehreren westlichen Sprachen als Buch unter dem Titel "Die Verteidigung des ungarischen Volkes".1 Wegen der Herausschmuggelung des Manuskriptes und der anschließenden Hineinschmuggelung des fertigen Buches wurden zahlreiche bedeutende ungarische Intellektuelle angeklagt, unter ihnen der in die Aktion tatsächlich involvierte László Kardos, der ehemalige Leiter der Volkskollegiumsbewegung (NÉKOSZ), sowie Árpád Göncz, der über den an der englischen Botschaft beschäftigten László Regéczy Nagy die ganze Aktion organisiert hatte. Mit ihrem Engagement brachten die Teilnehmer zum Ausdruck, daß auch die kritische Intelligenz außerhalb der Partei sich politisch mit Imre Nagy solidarisierte. Verschiedene intellektuelle Gruppen, darunter Angehörige der innerparteilichen Intelligenz, beschäftigten sich noch Ende 1956 mit der illegalen Herausgabe von Flugblättern und vervielfältigten Zeitungen, darunter Titel wie „Élünk" („Wir leben") und „Oktober 23". Später wurde unter dem Pseudonym „Hungaricus" eine umfangreiche Analyse "Über die Gründe des 1956er Aufstandes und seine Lehren" von Sándor Fekete, einem ehemaligen Mitarbeiter der zentralen Parteizeitung, herausgegeben. Erst 1958 konnten die Fahnder der Staatssicherheit der hinter dem Projekt stehenden Autoren, Redakteure, Drucker und Vertriebsleute habhaft werden. Im Jahr darauf wurden sie wegen der Herstellung des „Hungaricus" verurteilt.2 „Hungaricus", wie sämtliche andere illegale Schriften übten einen großen Einfluß auf die westliche Intelligenz aus, besonders auf die linksgerichtete und/oder kommunistische. „Hungaricus" z.B. wurde durch französische und schweizerische Tageszeitungen publiziert bzw. bekannt gemacht. Dies geschah mit der Hilfe von Francois Fejtö. Heute können wir nicht quantitativ einschätzen, welche Wirkung die ungarische Revolution im Westen hatte, aber es steht fest, daß viele kommunistische Parteien praktisch zusammenbrachen und wenn sie überlebten alle eine moralische und politische Krise durchmachen mußten. Der Weggang einiger hundert Intellektueller mußte ebenfalls verkraftet werden. Als ein Ergebnis der Niederschlagung der ungarischen Revolution verringerte sich, durch die Flucht von rund 200.000 Menschen, die Bevölkerung Ungarns innerhalb nur eines halben Jahres um fast 2 Prozent. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge war unter 40 Jahre. Es dominierten unter ihnen Arbeiter und Intellektuelle. Allein 10.000 Ingenieure verließen das Land. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge waren Budapester. Im Ausland organisierten sich die Emigranten in verschiedenen politischen Organisationen. Die wichtigste wurde von Anna Kéthly, Vorsitzende der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei und Ministerin in der Regierung von Imre Nagy sowie von General Béla Király geleitet.

"Ungarische

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Vgl. auch

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Imre Nagy, Politisches Testament, München 1959. Unter den Verurteilten waren Ferenc Mérei, Sándor Fekete, György Litván, András B. Hegedüs, Jenö Széll sowie weitere Schriftsteller, Journalisten und Mathematiker. Hunderte, die das illegal verbreitete Heft gelesen hatten, wurden als Zeugen verhört und bekamen eine polizeiliche Verwarnung. Der 1959 durchgeführte Prozeß verfolgte das erklärte Ziel zu zeigen, daß die Vergeltung mit dem Prozeß gegen Imre Nagy und seine Mitstreiter noch nicht beendet war.

284 In den Ländern, wo sich die meisten ungarischen Emigranten (Flüchtlinge) niederließen, wurden ungarische Vereine und Zeitungen gegründet. Die Druckschriften durften selbstverständlich nicht die ungarische Grenze „überschreiten", doch nach

diese Zeitungen, Bücher und Zeitschriften eine wichtige Rolle im Leben der sich neubildenden ungarischen Opposition. Die ungarische Emigration in ihrer soziologischen Zusammensetzung spiegelte die Eigenheiten der ungarischen Gesellschaft wieder. Wie bereits erwähnt, waren die Flüchtlinge meistens jüngere Leute. Viele von ihnen haben sich relativ schnell und gewollt assimiliert und befaßten sich nicht mehr mit den Sorgen ihres Heimatlandes. Andere wiederum bildeten politische Kreise und Vereine oder schlössen sich den schon existierenden ungarischen politischen, religiösen oder kulturellen Verbänden an. So bewahrten Zehntausende ihre ungarische Identität und pflegten sobald möglich kulturelle und wirtschaftliche Kontakte mit der Heimat. Sie wurden in der Folge der Jahre umgetauft: Aus „Dissidenten" wurden „im Ausland lebende Ungarn" und sie erhielten auch die Möglichkeit ihre in Ungarn gebliebenen Verwandten ins „westliche Ausland" einzuladen. Diese Praxis spielte eine gewisse Rolle in der „Auflockerung" des

einigen Jahren spielten

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Kádár-Regimes. Es kann jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß die leitenden Politiker der Emigration bis 1989 keine ungarische Visa erhalten haben. So war die erste Ungarnreise des Generals Béla Király, der als Redner zum Wiederbegräbnis von Imre Nagy und seinen Mitkämpfern am 16. Juni 1989 in Budapest eintraf, ein politisches Zeichen der Wende.

9.

Ideologischer Klassenkampf

Kádár-Regime bedurfte interpretation, vor allem der

seiner Konsolidierung einer neuen Geschichtsmehr als zehnjährigen Geschichte der ungarischen Volksdemokratie. Nachdem das ZK der USAP die Gründe für die „Konterrevolution" auf vier Punkte festgelegt hatte, begannen die für politische Systeme des sowjetischen Typs üblichen ideologischen Kampagnen. Die Fehler der Rakosi-Gerö-Clique wurden zwar in dem Ursachen-Katalog an erster Stelle genannt, aber dem neuen Regime kam es nicht in den Sinn, sich ernsthaft mit dem Stalinismus auseinanderzusetzen. Nachdem die exponiertesten stalinistischen Funktionäre von der Führung entfernt wurden und sich die Partei verbal von den Methoden Rákosis distanziert hatte, wurde die Frage der Entstalinisierung im Prinzip ad acta gelegt. Die 1954 begonnene Rehabilitierung der Opfer des kommunistischen Terrors kam ins Stocken. Mit den Fällen der kommunistischen Politiker, die bis zum Oktober 1956 nicht rehabilitiert waren, begann sich die Partei erst Jahre später wieder zu beschäftigen. Da die am 6. Oktober stattgefundene feierliche Beerdigung des in einem Schauprozeß zum Tode verurteilten und hingerichteten László Rajk zu Recht als Auftakt der Revolution betrachtet wurde und sich seine Witwe Imre Nagy angeschlossen hatte, wurde der Rajk-Prozeß nicht mehr erwähnt und kaum noch über die begangenen schweren Rechtsbrüche gesprochen. Anfang 1957 wurde der Fall des Generals der Staatssicherheit Gabor Péter wieder aufgerollt. Er und seine Mitangeklagten sowie der ebenfalls für zahlreiche Rechtsbrüche Das

zu

285 verantwortliche ehemalige Verteidigungsminister Mihály Farkas und sein Sohn, der Oberst der Staatssicherheit Vladimir Farkas, wurden in einem streng geheimen Verfahren zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Zeitungen berichteten über diese Urteile nur in wenigen Zeilen die Propaganda konzentrierte sich ausschließlich auf die rechte Gefahr. Sie war der Hauptfeind, vor allem in Gestalt des „Revisionismus". Auch die Beschlüsse der verschiedenen internationalen Spitzenkonferenzen der internationalen kommunistischen Parteien, namentlich der von 1957, verpflichteten die USAP zu dieser Kampagne. Fieberhaft wurde in den früheren Schriften von Imre Nagy nach in diesem Sinn verwertbaren Indizien gesucht. Besonders lohnenswert ließen sich die „Irrtümer" von Imre Nagy auf dem Gebiet der Landwirtschaft verwerten. Ein von der Regierung herausgegebenes Weißbuch beschrieb nicht nur die Schrecken des Aufstandes, die Volksurteile etc., sondern bewies auch aufgrund von Artikeln der ungarischen geistigen Elite von vor, während und nach der Revolution, daß die Konterrevolution mit ausländischer Hilfe organisiert und vorbereitet wurde. Ein gesondertes Kapitel wurde dem Revisionismus in der Volkswirtschaft gewidmet, da es nach 1953 die Möglichkeit für gewisse Reformexperimente im Rahmen der sozialistischen Wirtschaft gegeben hatte. Der Kampagne widersprach nicht, daß es zu Beginn des Jahres 1957 kurze Zeit unter strenger Geheimhaltung und unter Führung der Partei eine sogenannte wirtschaftliche Reformkommission gab, deren Aufgabe es sein sollte, Vorschläge für die Reform der Planwirtschaft zu erarbeiten. Die Kommission wurde jedoch einige Monate später wieder aufgelöst und die bis dahin entstandenen Vorschläge verschwanden im Panzerschrank. Wer weiterhin Vorschläge machte, in denen Begriffe wie Effektivität, Selbständigkeit der Unternehmen, Gewinninteresse, flexibles Preissystem u.a. vorkamen, wurde als Revisionist gebrandmarkt und verlor seinen Arbeitsplatz.1 Auf dem Gebiet der Wirtschaftslenkung wurde, abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen, das System der direkten Planwirtschaft wiederhergestellt. Die Branchenministerien sollten noch mehrere Jahrzehnte lang existieren. Die einzige Ausnahme bildete die Landwirtschaftspolitik. Als nicht unwesentliches Element der kádárschen Wirtschaftspolitik wurde die während der Revolution abgeschaffte Ablieferungspflicht im Interesse einer Beruhigung der Bauernschaft nicht wieder eingeführt. Darüber hinaus wurde die zweite Phase der Kollektivierung der Landwirtschaft bewußt verzögert. Zwar wurden im Gegensatz zu Polen die Bauern auch weiterhin in die Produktionsgenossenschaften gepreßt, doch geschah dies wesentlich moderater als noch in der ersten Phase, die politisch wie auch wirtschaftlich in einem völligen Fiasko geendet hatte. Die physische Unterdrückung und Liquidierung der „Kulaken" hatte ein Ende, die wirtschaftliche Tätigkeit und Organisierung der Genossenschaften wurde flexibler geregelt; der sowjetische Kolchos als das große -

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Bezüglich der anfänglichen Wirtschaftsreformen, vgl. László Szamuely (Red.): A magyar közgazdasagi gondolât fejlödese (Die Entwicklung des ungarischen wirtschaftlichen Gedankens). 1954-1978, KJK, Budapest, 1986. Die Anatomie des klassischen (stalinistischen) Systems der sozialistischen Wirtschaft und seiner Reformversuche wurde bisher am umfangreichsten von János Kornai beschrieben. Englisch: The Socialist System, The Political Economy of Communism, Oxford University Press. Princeton University Press, 1992 (auf Ungarisch 1993). -

286

Musterbeispiel hatte ausgedient. All dies schuf die Grundlage für die Erfolge der ungarischen Landwirtschaft innerhalb der RGW-Länder sowie dafür, daß in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Grundprinzipien der Wirtschaftsreform („neuer

Wirtschaftsmechanismus") formuliert werden konnten. Ähnlich wie der wirtschaftliche Revisionismus wurde auch der mit dem Namen von Georg Lukács verbundene philosophische Revisionismus behandelt. Das politische Engagement von Lukács im „Petöfi-Kreis", seine Teilnahme an der Regierung von Imre Nagy und auch, daß er sich wie Nagy in die jugoslawische Botschaft gerettet hatte, war

Grund genug, die Thesen der sogenannten Lukács-Diskussion aus dem Jahre 1949 wieder hervorzuholen. Dazu bekam die USAP bedeutende Schützenhilfe von den Ideologen der SED, die sich mit Rücksicht darauf, daß Lukács unter den marxistischen Intellektuellen der DDR über ein großes Ansehen verfügte mit Vehemenz in die Kampagne gegen den Philosophen stürzten. Der weltbekannte Marxist konnte zwar im April nach einer entschiedenen Intervention durch Togliatti aus seiner rumänischen Internierung nach Hause zurückkehren, durfte jedoch jahrelang weder an der Universität lehren noch Texte veröffentlichen. Die Säuberungen betrafen auch die Literatur, die Theater und last but not least das Bildungswesen. Viele Studenten mußten nach Disziplinarverfahren die Universitäten verlassen, bevor nach der langen Lehrpause in aller Friedhofsruhe der Lehrbetrieb wieder begann.1 Im verschärften ideologischen Klassenkampf stellte der Kampf gegen die volkstümlichen Schriftsteller ein besonderes Kapitel dar. Die Gruppe der größtenteils linksgerichteten und stark nationalgesinnten Schriftsteller und Intellektuellen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil in die innere Emigration gezwungen. Dabei bewahrten einige von ihnen vollständig oder partiell ihre Unabhängigkeit, andere wurden zu Mitläufern des Systems. Sie alle haben an den geistigen Vorbereitungen der Revolution mitgewirkt, viele bekamen zum ersten Mal die Möglichkeit zu publizieren. Während der Revolution organisierten sie sich in ihrer ehemaligen Partei, der Nationalen Bauernpartei, und gaben ihr dem Namen „Petöfi-Partei". Besonderen Einfluß hatten sie auf die Intellektuellen auf dem Lande. So versteht es sich von selbst, daß nach der Niederschlagung der Revolution neben den „Revisionisten" auch die volkstümlichen Intellektuellen ins Visier der neuen Machthaber rückten. Enthüllt werden sollte in erster Linie ihr Nationalismus, ihre dem Sozialismus feindlichen Ansichten eines dritten Weges, ihre Voreingenommenheit gegenüber den Bauern und selbstverständlich ihre Sowjetfeindlichkeit. Im Rahmen der Abrechnung mit den volkstümlichen Dichtern kam es zu verschiedenen politischen Prozessen. Darüber hinaus gab es aber auch Bestrebungen, diese äußerst einflußreiche Gruppe für das Regime zu gewinnen. Ein gutes Beispiel dafür ist der anerkannte geistige Führer dieser Gruppe und bedeutendste Dichter dieser Epoche Gyula Illyés. Ihm selbst geschah zwar nichts, doch war sein während der -

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Mária Pogány (Red.): Amiröl kevés szó esik (Wovon wenig gesprochen wird ...), Beiträge den Oktoberereignissen an der Budapester Technischen Universität 1-3, Budapest 1992-1995. Tibor Beck Pal Germuska: Forradalom a Bolcsészkaron (Revolution an der Philosophischen Fakultät), 1956er Institut, Budapest 1997.

Vgl.

zu

...

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287

Revolution veröffentlichtes Gedicht „Satz über die Tyrannei", das Oktoberaufstandes wurde, die folgenden 25 Jahre verboten.1

zum

Emblem des

10. Die Kirche Entgegen den Erwartungen und Versprechungen hörte die Verfolgung der Kirchen nach

der Revolution nicht auf. Auch wenn die Propaganda gegen die „klerikale Reaktion" nicht so dreist und plump vorging wie im Kampf gegen Kardinal Mindszenty und den Klerus zwischen 1948-1952, blieb die Kirche einer der Hauptgegner der Machthaber. In den Jahren nach der Revolution wurden mehr als 150 Pfarrer und Kirchenführer aus politischen Gründen verurteilt. Der Major, der auf Befehl der Regierung den Kardinal Mindszenty aus der Gefangenschaft nach Budapest begleitet hatte, wurde hingerichtet. Die Tragödie dieses kommunistischen Offiziers aristokratischer Abstammung ist eine eigene Episode der Revolution.2 Später wurde ein Amt für Kirchenfragen neu organisiert, das bis 1989 die Tätigkeit sämtlicher Kirchen unmittelbar kontrollierte und „anleitete". Wenn der Begriff der Konsolidierung als die Verfestigung der politischen Situation verstanden wird und nicht als die Wiedererrichtung geordneter Verhältnisse, dann ist die kádársche Wortwahl durchaus zutreffend: Bis zum Frühjahr 1957 konnte sich das Regime konsolidieren. Zur Mai-Demonstration im gleichen Jahr erschienen Hunderttausende nicht unbedingt durch direkten Druck auf den Budapester Heldenplatz. Der Reflex aus der ersten Hälfte der 50er Jahre funktionierte noch: Am 1. Mai mußte man einfach auf die Straße gehen, den Erwartungen der Parteifunktionäre an den Arbeitsplätzen mußte selbst dann entsprochen werden, wenn ein passiver Widerstand nicht sofort mit nachteiligen Konsequenzen geahndet wurde. Vergessen wir nicht: Den 13 freien Tagen der Revolution ging fast ein Jahrzehnt der Diktatur voraus.3 Im Straßenbild war nichts von der inneren Zerrissenheit der Gesellschaft zu sehen. An den Arbeitsplätzen wurde normal gearbeitet, von Rebellion fehlte jede Spur. Aus den überfüllten Gefängnissen und Lagern drang kaum etwas an die Öffentlichkeit. Die Gesellschaft fand sich schrittweise damit ab, daß ihre Reformhoffnungen fürs erste gescheitert waren und die sowjetische Besetzung als unabänderliches Faktum zu

der

Niederschlagung

Die beste Analyse der Geschichte der volkstümlichen Bewegung vor und nach dem Krieg schrieb der genaue Kenner dieser Bewegung, Gyula Borbándi, in der Emigration: Der ungarische Populismus, Mainz, München 1976. Vgl. Tyekvicska: A biboros és a katona (Der Kardinal und der Soldat). József Mindszenty und Antal Pálinkás Pallavicini in der Revolution, Budapest Századvég '56er Institut 1994, 178 p.; vgl. auch Konrád Szánto: Az 1956os forradalom és a katolikus egyház (Die 1956er Revolution und die katholische Kirche), Budapest 1993, 219 p. Die ganze Situation könnte vielleicht eher mit dem nach der Niederschlagung des Prager Frühlings verwendeten Bezeichnung „Normalisierung" charakterisiert werden. Vgl. Arpad Horvai: Egy május elseje, amiril nem beszélünk (Ein erster Mai, von dem keiner spricht), Magyar Szemle, 3/1995, 252-257 p.

Árpád

-

288

akzeptieren war. Ein Budapester Witz aus dieser Zeit berichtet von einem Besuch des sowjetischen Staatsoberhauptes in der Türkei, mit dem Ziel, die Erfahrungen der 150jährigen türkischen Besetzung Ungarns zu studieren. Die sowjetische Besetzung Ungarns normalisierte sich. Die „zeitweise" in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen zogen sich in ihre Kasernen zurück. Sowjetische Soldaten waren kaum auf den Straßen zu sehen, der Kontakt mit der ungarischen Bevölkerung blieb auf ein Minimum beschränkt. Kádár vergaß schnell sein anfängliches Versprechen, wonach sofort nach der Wiederherstellung der Ordnung über den Abzug der Truppen verhandelt werden sollte. Im Gegenteil: Bei seinem ersten offiziellen

Besuch in Moskau (Ende März 1957) unterzeichnete er ein offizielles Dokument über die rechtliche Regelung der Stationierung der sowjetischen Truppen in Ungarn.1 Die „Normalisierung" machte aber auch gewisse Zugeständnisse möglich: Am 4. April 1960 wurde eine Amnestie für alle zu Freiheitsstrafen unter 5 Jahren verurteilten Personen erlassen. Auf Grund individueller Gnadenerlasse wurden verschiedene Leiter der Staatssicherheit, ja sogar einige intellektuelle Anhänger von Imre Nagy freigelassen. Da eine allgemeine Amnestie noch immer auf sich warten ließ, traten einige Gefangene im Zuchthaus von Vác (Waitzen) in den Hungerstreik, der sich zu einer der wahrscheinlich größten ungarischen Gefängnisrevolten ausweitete. Die Erhebung wurde brutal niedergeschlagen. Die politischen Gefangenen hofften dreieinhalb Jahre nach der Revolution auf eine allgemeine Amnestie. Statt deren wurden nur diejenigen amnestiert, die eine Strafe unter 5 Jahre zu verbüßen hatten. Amnestiert wurden auch einige früher verurteilte Leitungskräfte des ehemaligen Staatsicherheitsdienstes (AVH) bzw. einige ältere Schriftsteller (z.B. der 62 Jahre alte Tibor Déry) und einige Politiker aus der Imre Nagy-Gruppe. Die Revoltierenden forderten vollkommen aussichtslos eine Amnestie für alle Gefangene. Die Meuterei im Gefängnis Vác (Waitzen) hatte einen ausgesprochenen „Anti-Revisionisten"Charakter. In der Öffentlichkeit wurde sie totgeschwiegen. Die Normalisierung hatte also ganz offensichtlich auch ihre Grenzen.2 1963 wurde die Vergeltung im großen und ganzen beendet. Die meisten politischen Häftlinge wurden amnestiert, aber ein normales Leben war für sie nur noch -

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Auch hier gibt es Parallelen zur „Normalisierung" in der CSSR 1968. Am 3. und 4. Oktober 1968 verhandelten die Führungen der noch von Alexander Dubcek geleiteten KPC und der KPdSU einen Vertrag über den zeitweiligen Aufenthalt von 75.000 Mann der Sowjetarmee in der CSSR. Vgl. dazu Lutz Prieß/ Vaclav Kural/ Manfred Wilke, Die SED und der „Prager Frühling" 1968. Berlin 1996, S. 266. Vgl. Dezso Kertész György Litván: Váci börtönsztrajk (Der Gefängnisstreik von Vác), 1960, Erinnerungen und Dokumente, in: Evkönyv IV. 1995, Budapest, 1956er Institut, 163-232. -

.

289

eingeschränkt möglich sie blieben Gezeichnete. Erst nach diesem Schnitt begann die kádársche Liberalisierung, -

historische Periode

war

und deshalb hier keinen Platz findet.

die aber eine andere

Manfred Wilke/András B.

Hegedüs

Der Gesellschaftsvertrag gescheiterte zwischen Partei und Volk im sowjetischen

Imperium

Stalin hinterließ seiner Erbengemeinschaft im Kreml ein Imperium in der Krise, das sich zudem im Kalten Krieg mit dem Westen befand. Ein neuer Kurs war vonnöten, der nach dem Tod des Despoten das Institutionengefüge der totalitären Parteiherrschaft neu ordnet, die Außenbeziehungen des Imperiums den Bedingungen des atomaren Zeitalters anpaßt und im Innern den Gesellschaftsvertrag zwischen Partei und Volk neu festgelegt. Dies sollte mit einer Steigerung des Lebensstandards des „werktätigen Volkes" verbunden werden. Im Imperium selbst galt es, den „Neuen Kurs" der Moskauer Zentrale auf die „Bundesstaaten" zu übertragen. Den Anfang machte die KPdSU in Deutschland, Frontlinie und zentraler Schauplatz des Kalten Krieges in Europa und der DDR folgte Ungarn. Beide Versuche, einen neuen Gesellschaftsvertrag von oben zwischen Partei und Volk im sowjetischen Imperium zu implantieren, schlugen fehl. Sie endeten im Aufbegehren der Völker gegen die Partei und das Imperium am 17. Juni 1953 in der DDR und im Oktober 1956 in Ungarn. In beiden Fällen stabilisierte die sowjetische Armee die Parteiherrschaft der deutschen und ungarischen Kommunisten. Die Stärke der sowjetischen Armee blieb Fundament und Garant des sowjetischen Imperiums, dessen systembedingte Reformunfähigkeit die Politik des „Neuen Kurses" demonstrierte wie wir heute wissen. -

I. führte

die

Volksdemokratien bilateral und zentralistisch, die in Ungarn, der Tschechoslowakei und ihre Vorbereitung in Polen und der DDR richteten sich gegen führende Kader der regierenden kommunistischen Parteien und sorgten durch einschüchternden Schrecken für linientreue Führungen. Ebenso wurde die sozialistische Umgestaltung in den Volksdemokratien mit „verschärftem Klassenkampf, d.h. mit geheimdienstlich organisiertem Terror und politischer Justiz durchgeführt. Nach Stalins Tod wollten seine Erben in der Moskauer „kollektiven Führung" dies durch einen „Neuen Kurs" ändern. Den Anfang machten sie in der DDR und in Ungarn. Der forcierte Aufbau der Grundlagen des Sozialismus seit 1952, der verschärfte Klassenkampf gegen die Mittelschichten, die Kollektivierungskampagne in der Stalin

„Konzeptionsprozesse"

291

Landwirtschaft, die Last der Reparationen und die Aufrüstung in der Landwirtschaft

überforderten die Leistungskraft der Wirtschaff sowie die Geduld und Zustimmung vieler Menschen. Im Plan nicht vorgesehen stiegen die Flüchtlingszahlen und der spürbar werdende Arbeitskräftemangel verschärfte die Problemlage. Die SEDPlan verantwortlichen erklärten der sowjetischen Besatzungsmacht bereits Anfang 1953, daß der erste Fünfjahrplan in wichtigen Bereichen nicht zu erfüllen war. Die Lage in der DDR kontrastierte mit dem Wirtschaftswachstum und dem steigenden Massenwohlstand in der Bundesrepublik. Noch standen beide deutsche Teilstaaten unter Besatzungsrecht, und die deutsche Frage schien ebenfalls noch offen zu sein. Aber erst einige Wochen nach dem Begräbnis von Stalin wandte sich die sowjetische Führung, alarmiert durch die Flüchtlingszahlen, der Lage in der DDR zu. Der Ministerrat der Sowjetunion beschloß einen „Neuen Kurs" zur Stabilisierung der Lage in ihrem deutschen Teilstaat. Eine kleine Delegation der SED-Führung wurde nach Moskau zitiert, um auf gewohnte Weise die neue Linie entgegenzunehmen. Selbst in der Form der Umsetzung des „Neuen Kurses" besaß die SED keinen Spielraum. Der Versuch von Herrnstadt, Zeit zu bekommen, um Partei und Volk den „Neuen Kurs" zu erläutern, wurde vom sowjetischen Hohen Kommissar Semjonow brüsk zurückgewiesen. Die erste eigenständige Entscheidung der SED war die unter dem Druck der Streiks der Bauarbeiter von der Stalinallee in Berlin zurückgenommene Normenerhöhung am 16. Juni, und selbst die wurde vom Politbüro in Anwesenheit des sowjetischen Hochkommissars beschlossen. Der Kern des von Moskau verordneten „Neuen Kurses" orientierte sich, gemünzt auf die deutsche Situation, an den politischen und wirtschaftlichen Reformen im eigenen Land. Dazu zählten eine Überprüfung der Urteile in politischen Strafprozessen, die Revision der kirchenfeindlichen Politik, ein Abschwächen der Kollektivierung der Landwirtschaft sowie vor allem die Einstellung des Klassenkampfes gegen die Mittelschichten und damit zusammenhängend eine Reduktion des Tempos der Aufrüstung. Die Partei gestand öffentlich Fehler ein. Führungsfragen der SED wurden in Moskau nach den vorhandenen spärlichen Notizen von Grotewohl und Oelßner nur in einem Punkt thematisiert: Die mit großem Pomp geplanten Feiern zum 60. Geburtstag von Walter Ulbricht schienen der KPdSU vollkommen unangemessen. In Ungarn waren es die immense Zahl politischer Häftlinge und die in dem traditionellen Agrarland unter dem Primat der Schwerindustrie leidende Landwirtschaftspolitik, die Moskau zum Eingreifen veranlaßten. Im Unterschied zur DDR hatte Rákosi die Ämter des Generalsekretärs und des Ministerpräsidenten in seiner Hand vereint. Im ungarischen „Neuen Kurs" stand das Oktroi einer „kollektiven Führung" im Zentrum der sowjetischen Entscheidung. Die nach Moskau beorderte Delegation der Partei der ungarischen Werktätigen (MDW) bestand aus acht von der KPdSU-Führung handverlesenen Funktionären aus der Partei- und Regierungsspitze. Die Ungarn fertigten ein Protokoll dieses Besuches, woraus sich einige weitergehende Aufschlüsse hinsichtlich der sowjetischen Intentionen ergeben, als dies bei der Quellenlage der SED der Fall ist. So umriß Molotow in seiner Kritik an Rákosi, daß die Probleme nicht nur Ungarn betrafen, sondern für alle Volksdemokratien galten. Selbstkritisch bemerkte er, „(...) daß in der Sowjetunion das Phänomen autokratischer -

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292

Führung entstanden sei", er betonte das „Anschwellen der Gewalt gegen die Bevölkerung" und sprach die wirtschaftlichen Fehlentscheidungen an. Berija machte in einer Frage deutlich, welche Korrektur in Ungarn vordringlich sei: „Ist es etwa akzeptabel, daß in einem Land mit einer Bevölkerung von 9,5 Millionen Verfahren gegen 1,5 Millionen Menschen im Gange sind?" Scharf kritisierte er Rákosi, daß er die Staatssicherheit persönlich angeleitet habe und verlangte dessen Rücktritt als Regierungschef, weil „es angebracht wäre, wenn der Vorsitzende des Ministerrates ein Ungar ist". Hinter dieser Formulierung verbarg sich aus Moskauer Sicht das Problem, daß es in der ungarischen Parteiführung zu viele Kader jüdischer Herkunft gab. Berija schlug Imre Nagy für das Amt des Ministerpräsidenten vor: Dieser sei loyal zur Partei, gebürtiger Ungar und besitze Erfahrungen in der Landwirtschaft. 1949 hatte sich Nagy gegen eine forcierte Kollektivierung ausgesprochen und war aus dem Politbüro ausgeschlossen worden. In dieser Frage verlangte Chruschtschow nachdrücklich eine Korrektur. Malenkow forderte, eine Arbeitsteilung zwischen den leitenden Organen Politbüro, ZK-Sekretariat und Regierung zu entwickeln. Berija verdeutlichte, wie sich die Sowjets diese vorstellten. Die wirtschaftlichen Fragen seien Aufgabe der Regierung, während die Partei Kader- und Erziehungsfragen zu entscheiden habe. Malenkow beendete diese Ratschläge mit einer Selbstkritik: „Wir als Kommunisten sind allesamt verantwortlich für die Dinge in Ungarn. Auch die Sowjetunion ist dafür verantwortlich, was für ein Regime in Ungarn herrscht." Das war das Eingeständnis, daß Moskau unter Stalin Budapest falsche Ratschläge gegeben habe. Aber, so fügt János M. Rainer in seiner Analyse hinzu, das Versprechen, diese Fehler zu korrigieren, blieb ambivalent. Es enthielt auch die Option, wenn es für notwendig erachtet wurde, sich direkt in die ungarischen Angelegenheiten einzumischen, was mit dem „Neuen Kurs" und einer kollektiven Führung für Ungarn getan wurde. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Vertreter der KPdSU den Verantwortlichen für die ungarische Sicherheit. Malenkow schlug Gero als Innenminister vor, und der amtierende Verteidigungsminister Farkas wurde durch Bata ersetzt. Berija forderte eine Überprüfung des Falles des verhafteten ehemaligen Staatssicherheitschefs Peter. Die sowjetischen Entscheidungen schufen in Ungarn eine „kollektive Führung", der eine institutionell ungeklärte Arbeitsteilung zwischen Partei und Regierung aufgegeben war. Die Macht von Rákosi wurde beschnitten, aber er blieb als Garant der Kontinuität an der Spitze der Partei, die weiterhin das Entscheidungsmonopol bezüglich der Personal(kader)politik besaß. Die Verantwortlichen für das Innen- und Verteidigungsministerium wurden von den Sowjets bestimmt. Am Tag, als die ungarische Delegation die Heimreise antrat, streikten in Berlin die Bauarbeiter der Stalinallee und erzwangen die Rücknahme der

Normenerhöhung. Gegenüber der SED kam die KPdSU-Spitze erst nach dem 17. Juni und Berijas Verhaftung auf die Zusammensetzung der „kollektiven Führung" in Berlin zu sprechen; sie wollte die weitere Zusammenarbeit von Ulbricht und Grotewohl. Erst nach diesem Gespräch am 9. Juli in Moskau bestätigte wenige Wochen später das 15. SED-ZK die neue

Führung.

293

IL Der „Neue Kurs" sollte in der DDR und in Ungarn krisenhafte Entwicklungen beenden und die Lage in diesen beiden Ländern stabilisieren. Für die sowjetische Führung stand außer Frage, daß der Kurswechsel von oben vorgenommen wird, ohne daß die betroffene Gesellschaft Eigenaktivitäten gegen die diktatorische Parteiherrschaft entfalten konnte. Die KPdSU-Spitze war in der DDR 1953 mit dem paradoxen Ergebnis konfrontiert, daß die Rücknahme des geheimdienstlichen Terrors zur Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Typs den angestauten Zorn gegen diese Politik und die „führende Rolle" der kommunistischen Partei freisetzte. Allein die sowjetische Armee und damit die Macht, durch deren Sieg im Zweiten Weltkrieg Stalin das Glacis der mittel- und südosteuropäischen Satellitenstaaten etablierte, rettete die sowjetische Besatzungszone in Deutschland und damit die Herrschaft der SED. Welche Bedeutung das Versagen von Berijas Geheimdienst in der DDR und der rettende Eingriff der sowjetischen Streitkräfte für seine Verhaftung durch ein Kommando dieser Armee zehn Tage später in Moskau hatten, läßt sich aus dem vorliegenden Material nicht beantworten. Immerhin wurden Berijas DDR-Pläne zu einem der zentralen Anklagepunkte gegen ihn, die Chruschtschow im Juli 1953 dem Zentralkomitee der KPdSU vortrug. Ein Indiz für die Bedeutung der analytischen Schlappe der sowjetischen „Aufklärung" vor dem 16. und 17. Juni und seine politische Bedeutung lässt sich daraus ablesen, daß in der DDR diese Frage gegenüber dem MfS seitens der Partei wiederholt wurde und zur Rückstufung der Staatssicherheit zu einem Staatssekretariat im Innenministerium führte. Allerdings wurde in dieser Beziehung nur die sowjetische Lösung nachvollzogen, die Malenkow auch den Ungarn empfahl, Innenministerium und Staatssicherheit zusammenzulegen. In der DDR besaß diese Lösung 1953 noch eine Besonderheit: Das Ministerium war auch für den Aufbau einer eigenen Armee zuständig. Jenseits der Reorganisation der Organe der Staatssicherheit nach dem sowjetischen Vorbild ist die Übertragung der Einschränkung des willkürlichen Terrors der Staatssicherheit im Rahmen des „Neuen Kurses" ein Ergebnis von weittragender Bedeutung für die DDR und Ungarn. Der repressive Charakter der Staatssicherheit als dem „Schild und Schwert" der diktatorischen Macht der Partei wurde nicht aufgehoben, aber verändert. Die Staatssicherheit mußte künftig keine willkürlichen Massenrepressalien mehr durchführen, um ihre Opfer zu zwingen, Verbrechen zu gestehen, die sie nicht begangen hatten. Die „Organe" sollten künftig tatsächliche Resistenz, Opposition und widerständiges Handeln gegen die Macht der Partei

verfolgen. Hegedüs hebt in seiner Darstellung der Vergeltung nach der niedergeschlagenen ungarischen Revolution diesen Punkt besonders hervor: „Im Gegensatz zur Praxis der Konzeptionsprozesse in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, als die meisten politisch Angeklagten nach dem Vorbild der sowjetischen Prozesse der dreißiger Jahre aufgrund falscher Anschuldigungen verurteilt wurden, hatten die politischen Prozesse nach 1956 stets einen gewissen realen Kern. Die Mitglieder der revolutionären Kommissionen hatten tatsächlich an der Arbeit der vom Volk gewählten Organe teilgenommen, die bewaffneten Aufständischen hatten wirklich gegen die sowjetischen Truppen gekämpft,

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die Politiker hatten tatsächlich demokratische Parteien organisiert, es waren wirklich Funktionäre des gestürzten System verhaftet worden etc. Alle jene Handlungen wurden nun von den Gerichten als aktive Teilnahme an Organisationen gewertet, die sich gegen die Volksrepublik richteten. So wurde aus der freien politischen Meinungsbekundung eine gegen den Staat gerichtete Agitation, aus der revolutionären Aktivität der Offiziere Meuterei, aus den außenpolitischen Schritten der Regierungsmitglieder Landesverrat." Für die kommunistischen Führungen in der DDR und in Ungarn war die Erfahrung, mit welcher Schnelligkeit die Partei im Konflikt mit gesellschaftlichem Aufbegehren zerfallen konnte, ebenfalls ein Lernschock, der Konsequenzen für die Expansion der Staatssicherheitsorgane hatte. Die „führende Rolle" der kommunistischen Partei wurde am 17. Juni in der DDR für Stunden an einigen Orten beseitigt, und die Demonstranten begannen spontan, von ihnen kontrollierte provisorische Organe der kommunalen Selbstverwaltung zu etablieren. Ein Vorgang, der sich in Ungarn drei Jahre später im landesweiten Rahmen vollzog. Die kommunistische Partei zerfiel und mußte neu aufgebaut werden. Hegedüs beschreibt die Gruppen, auf die sich die Vergeltung konzentierte, nachdem die sowjetische Armee „Ruhe und Ordnung" wiederhergestellt hatte: „Die politische Polizei übte sowohl an den Politikern der Parteiopposition Imre Nagy und Gefährte, „PetöfiKreis", Schriftsteller und Journalisten Vergeltung, für deren .revisionistischen Verrat' als auch an den Vertretern der Kirchen, besonders der römisch-katholischen, vor allem, wenn deren Aktivitäten in Opposition zu der Linie des staatlichen Amtes für Kirchenfragen standen. Am härtesten traf es von allen Betroffenen wohl all jene, die in den gewählten revolutionären Organen eine leitende Stellung ausgeübt hatten. Die Leiter der Arbeiterräte, unter ihnen viele Facharbeiter, Aktivisten und Ingenieure, aber auch Bauern, die Produktionsgenossenschaften aufgelöst oder die verhaßten Akten der landwirtschaftlichen Erfassung verbrannt hatten, kamen fast ohne Ausnahme ins Gefängnis. Es wurden aber auch einfache Teilnehmer von Demonstrationen nicht verschont, ebenso wenig wie Redakteure revolutionärer Zeitungen oder Personen, die kommunistische Symbole wie Statuen oder sowjetische Denkmäler zerstört hatten. Obwohl das Kádár-Regime in Budapest das Stalin-Denkmal, das zu Beginn der Revolution niedergerissen wurde, nicht wieder aufstellen lassen konnte und wollte, verfolgte es diejenigen als Straftäter, die an der Aktion teilgenommen hatten." Die Auflistung der Verfolgten zeigt das politische Ziel der Partei: Die „Organe" hatten ihre „führende Rolle" zu sichern, es galt, jeden Ansatz gesellschaftlicher und individueller Selbstbestimmung zu unterdrücken, die das politische, ideologische und ökonomische Machtmonopol der Nomenklatura gefährdete. Gewalt und Terror blieben weiterhin das Fundament des Machtmonopols der kommunistischen Partei. Aber die „Rationalisierung" des Terrors veränderte trotzdem die Lage. Die Politik der Machtsicherung seitens der Partei bedurfte auch der Berücksichtigung der materiellen und ideellen Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft seitens der Partei. Das spiegelt sich in den Wirtschaftsprogrammen des „Neuen Kurses" wieder, in denen es immer um die Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung ging. Entsprechende Veränderungen gab es sowohl in der DDR als auch in Ungarn. Die politischen Implikationen der Wirtschaftspolitik von Imre Nagy werden von János M. Rainer ausführlich dargestellt, bildeten sie doch die Grundlage für eine Differenzierung -

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295

innerhalb der ungarischen Parteiführung, die bei Nagy zum Bruch mit der kommunistischen Partei in der Revolution führen sollte, als er die Interessen Ungarns über die des sowjetischen Imperiums stellte. Aber zunächst verhalf dem neu gekürten ungarischen Ministerpräsidenten der 17. Juni dazu, seine Reformpolitik in Ungarn im Frühsommer 1953 durchzusetzen, um eine Explosion zu verhindern, die damals sogar sein Gegenspieler Rákosi befürchtete.

III. Ausnahmezustand in der DDR die „Ruhe und Ordnung" betrat die SED wieder die politische Bühne und befand sich im wiederhergestellt hatte, Erklärungsnotstand bezüglich der Streiks der Arbeiter gegen den Arbeiter- und Bauernstaat. Eine Situation, die sich drei Jahre später in Ungarn in noch viel dramatischerer Form wiederholte: Wie ist dieser Aufstand in den Schemata des marxistisch-leninistischen Weltbildes zu deuten und so zu erklären, daß das ideologische und politische Machtmonopol der Partei weiterhin legitimiert bleibt? Die Antwort, die Semjonow Herrnstadt in die Feder diktierte, war die Erfindung vom „Tag X". Die Drahtzieher der Streiks und Demonstrationen saßen jenseits der Grenze, schuldig war die „imperialistische" Gegenmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika, ihre deutschen Verbündeten in der Bundesrepublik und West-Berlin. Namentlich in WestBerlin saßen angeblich die Zentren für die „Agenturen" in der DDR, die den „Tag X" ausgelöst hätten. Im Dank der SED an die sowjetische Besatzungsmacht für ihr entschlossenes Eingreifen räumte die Partei auch eigene Fehler ein, die sie aber durch den „Neuen Kurs" gerade im Begriff war zu korrigieren. Ulbricht empfahl als Garantie gegen die Wiederholung solcher Fehler den Glauben an die Partei. Den Dank an die Sowjetunion verband das SED-Zentralkomitee mit der Schuldzuweisung für das vergossene Blut an die Verursacher der Volkserhebung, die amerikanischen „Imperialisten" und ihre Bonner „Handlanger". Eine ähnliche Konstruktion über die Ursachen der ungarischen Revolution formulierten Kádár und die ungarische Partei nach 1956. Hier geht es nicht um die historische Unhaltbarkeit solcher Legenden, sondern um ihre Funktion in der Stabilisierung der bedrohten kommunistischen Herrschaft in der DDR und in Ungarn sowie um die in ihr enthaltene sowjetische Imperiumsperspektive, um den weltpolitischen Kampf zwischen den zwei Lagern des „Fortschritts", der von der KPdSU geführt wird und dem Lager der „imperialistischen Reaktion", an deren Spitze die Vereinigten Staaten von Amerika gestanden haben sollen. Mit dem „Neuen Kurs" setzten Stalins Erben in ihren Satellitenstaaten unbeabsichtigt den Geist des nationalen Interesses auch in den kommunistischen Parteien frei, den Stalin nach Titos Bruch mit dem Terror gegen die „Nationalkommunisten" in Rumänien, Bulgarien, Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn zu brechen suchte. Im Mittelpunkt des „Neuen Kurses", der im Juni 1953 der SED und der ungarischen MDP verordnet wurde, stand die Lösung der Führungsfragen beider Parteien angesichts der sowjetischen Veränderungen. Gemeinsam ist beiden Lösungsansätzen, daß Stalins Generalsekretäre in Berlin und Budapest, Ulbricht und Rákosi, trotz aller Kritik nicht Nachdem der

sowjetische

296

Ihre totalitäre Macht über Partei und Staat wurde zwar eingeschränkt, Ulbricht zum Verzicht auf seinen pompösen Personenkult genötigt. Mehr schien Moskau Anfang Juni nicht angebracht, waren doch im Unterschied zu Ungarn die Funktionen des Generalsekretärs von der des Ministerpräsidenten getrennt und über die Verantwortlichen für die innere und äußere Sicherheit entschieden. Insofern war es nur konsequent, daß Ulbricht und Grotewohl nach Moskau zitiert wurden. Im ungarischen Fall ging es sofort um mehr. Die ungarische kommunistische Partei war klein und unter ihren im Moskauer Exil überlebenden Kadern überwogen jene, die jüdischer Herkunft waren an erster Stelle Rákosi. Diese biographische Komponente war der Hintergrund für Berijas Frage nach der familiären Herkunft des ungarischen Ministerpräsidenten. Er vollzog Gleiches in den Parteispitzen der sowjetischen Unionsrepubliken, um den vordergründig russischen Einfluß einzuschränken. Die in der Moskauer Debatte mit den Ungarn hingeworfene Bemerkung über die Arbeitsteilung zwischen Regierung und Partei, die sich fast wörtlich in den „Vorschlägen" der Berliner Sonderkommission wiederfindet, illustriert den vorgeblichen Funktionsmechanismus einer mechanisierten Arbeits- aber keiner Gewaltenteilung in dieser „kollektiven Führung" nach Stalins Tod. Gegenüber der ungarischen Delegation wurde in Moskau auch die Arbeitsteilung innerhalb der „kollektiven Führung" erläutert. Sie ist eine Momentaufnahme des Selbstverständnisses von Stalins Erben vor dem 17. Juni und dem Sturz Berijas: Die Regierung kümmert sich um die. Wirtschaft, während die Partei das Volk zum Sozialismus erzieht und die Kaderfragen entscheidet. Diese Aufgabe konnte die Partei aber nur dann erfüllen, wenn sie ihre Suprematie gegenüber allen Teilen des Staatsapparates wiederherstellte und die Entscheidungsprozesse zentralisierte. In der Sowjetunion erfolgte dies durch den Sturz

abgesetzt wurden.

-

von

Berija.

Die Quellenlage ist in bezug auf die SED ungünstiger. Doch soviel läßt sich feststellen: Nachdem sich die Sowjetunion entschlossen hatte, die DDR als eigenständigen Teilstaat zu stabilisieren, beförderte Semjonow Karl Schirdewan als zweiten Mann nach Ulbricht in das Politbüro. Zieht man die Parallele zu den ungarischen Kaderentscheidungen, so war Nagy der gebürtige Ungar unter den MoskauKadern und Schirdewan der authentische Antifaschist, der als kommunistischer Funktionär Hitlers Konzentrationslager überlebte und den antifaschistischen Neuanfang in der DDR auch propagandistisch glaubwürdig repräsentieren konnte. In bezug auf die Streitkräfte bedurfte es nur der Beförderung Stophs in das Politbüro, die Staatssicherheit übernahm, entgegen dem Wunsch Ulbrichts, Wollweber, der im Unterschied zu seinem Amtsvorgänger nicht in das Politbüro aufstieg. Die in der Literatur oft erörterte Frage, ob die im Machtkampf gegen Ulbricht unterlegenen Zaisser und Herrnstadt zur Opposition in der SED zu zählen sind, kann aufgrund unserer Untersuchungen mit einem klaren Nein beantwortet werden. Unbestreitbar opponierten sie bereits vor dem „Neuen Kurs" gegen die Allmacht Ulbrichts im Politbüro. Sie waren bereit, die Frage zu diskutieren, ob Ulbricht Erster Sekretär des Zentralkomitees bleiben kann, aber sie verließen zu keinem Zeitpunkt den engen Zirkel der Parteiführung, der diese Arbeitsteilung zwischen Politbüro und ZKSekretariat diskutierte.

297

Nagy und Rákosi hatten für die Entwicklung ihrer Auseinandersetzungen über den Weg der ungarischen Partei und die Schwerpunkte kommunistischer Regierungspolitik

mehr als ein Jahr zur Verfügung. In dieser Zeit organisierten sie ihren Konflikt und formulieren ihn dann „fraktionell". Für Zaisser und Herrnstadt dagegen schaffte der 17. Juni eine völlig neue Lage: Der streikende und demonstrierende Teil des DDRVolkes wollte statt sozialistischer Parteidiktatur freie Wahlen und statt der Stärkung des Sozialismus in der DDR die deutsche Einheit. In bezug auf die reale Arbeiterklasse mußten die Kommunisten erneut erkennen, daß in dem Land, in dem sie seit acht Jahren die Macht ausübten, die sozialdemokratische Tradition der deutschen Arbeiterbewegung lebendig und keineswegs ausgelöscht war. In dieser Konstellation des gespaltenen Landes und angesichts der erklärten Ablehnung der Arbeiter gegen "ihren" Staat blieb kein Raum für einen deutschen Nationalkommunismus. Ein solcher mußte die DDR als Separatstaat, angesichts der Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik, zur Disposition stellen. Eine solche Position lag 1953 nicht im Interesse der Sowjetunion und hätte von Herrnstadt und Zaisser eine geradezu übermenschliche Revision ihrer eigenen Biographie verlangt, hatten sie doch diesem Land treu und zuverlässig als „Kundschafter" und Berufsrevolutionäre gedient. Widerspruchslos hatte Herrnstadt die Legende vom „Tag X" formuliert, und es war gewiß für beide ein schmerzliches Brandmal, das ihnen als „Parteifeinden" Ulbricht ausgerechnet den Vorwurf des „Sozialdemokratismus" zuordnete. Mit parlamentarischer oder gewerkschaftlicher Reformpolitik im Interesse der Arbeiter hatte der Lebensweg beider wenig zu tun, aber es entsprach dem Ritual stalinistischer Parteisäuberungen, den Ausgestoßenen stets die individuelle Ehre abzuerkennen. Trotzdem profitierten beide von der Rücknahme der terroristischen Willkür. Sie behielten ihr Leben und wurden nicht verhaftet. Der „Neue Kurs" in der DDR löste nach seiner unvermittelten Proklamation den Volksaufstand vom 17. Juni aus; die sowjetische Besatzungsmacht entschied sich für die Sicherung ihrer Besatzungszone in Deutschland. Nach Berijas Verhaftung konnte Walter Ulbricht seine Widersacher aus dem Politbüro entfernen und eine neue Führung der SED formieren. Aus der Krise der DDR erwuchs zugleich ihre zweite Staatsgründung und die Sowjetunion stabilisierte sie als deutschen Teilstaat ökonomisch wie außenpolitisch. Für die Deutschen in Ost und West ist es gleichermaßen ein „Lernschock", der ihnen demonstrierte, daß ihre Teilung nicht durch eigene Kraft überwunden werden konnte und sie sich den Realitäten der bipolaren Weltordnung fügen mußten. Den politischen Akteuren auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze war 1953 die Gefahr einer Vertiefung der Spaltung des Landes bewußt. Aber die Weltmächte begannen, die Frage der deutschen Teilung auszuklammern, um die Bundesrepublik umso fester in die westeuropäische Integration einzubinden, während die DDR zum vollgültigen Mitglied der „sozialistischen Staatengemeinschaft" aufsteigen durfte.

298

IV. zur DDR gelang es Nagy in Ungarn, den „Neuen Kurs" in ein Reformprogramm umzusetzen und die Lage im Land zu stabilisieren. „Der neue Kurs aktivierte die ungarische Gesellschaft in der Tat. Die ersten Anzeichen davon waren im Sommer 1953 zu registrieren. Hauptsächlich die Dörfer, das Land, reagierten auf die Verminderung der Repression unmittelbar und spontan. In der zweiten Jahreshälfte 1954 konzentrierten sich die Aktivitäten auf Budapest. Es rührten sich nicht nur die bisher unterdrückten Schichten, sondern auch die von den Machthabern privilegierten Gruppen: einst gehorsame Kommunisten, Schriftsteller, die der Partei beigetreten waren,

Im Unterschied

Journalisten in hohen Positionen." Was János M. Rainer mit „rühren" bezeichnet, war die Rückkehr von Kreativität und Nachdenken in die sozialistische Gesellschaft. Die Verhältnisse wurden eigenständig interpretiert und der Parteiapparat verlor sein öffentliches Meinungs- und Interpretationsmonopol. Ein ständiger Streitpunkt zwischen Nagy und Rákosi samt dessen Anhang blieb die Frage der Rehabilitierung der in den Gefängnissen überlebenden Opfer der „Konzeptionsprozesse" der zurückliegenden

Jahre. Es gelang Nagy nicht, den Prozeß gegen Rajk überprüfen zu lassen, war doch Rákosi in diesen Vorgang unmittelbar involviert. In den Moskauer Gesprächen von 1954, über einen Weg, die Opfer der Repressalien freizulassen, beteiligte sich Chruschtschow am Nachdenken über eine Legende, die propagiert werde könnte, ohne Rákosis Autorität zu beschädigen. Nagy wählte den Weg über eine politische Amnestie, die er auf die Sozialdemokraten ausweitete. So konnte auch Anna Kethly freikommen. „Im Herbst 1954 tauchten die Kommunisten, die das Gefängnis verlassen durften, in den Straßen von Budapest auf. Auch der abgemagerte János Kádár mit seinem schütter gewordenen Haar (...)". Nagy ging noch einen Schritt weiter, indem er seinen Standpunkt zur Frage der Rehabilitierungen veröffentlichte. Er betonte, daß die „schweren Fehler der Vergangenheit" in diesem Bereich beseitigt werden mit der Konsequenz, daß die „Unschuldigen" freigelassen werden müssen, und er versicherte: „Die Partei und die kollektive Führung werden die Kraft haben zu verhindern, daß die Verbrechen der Vergangenheit wieder begangen werden." Dieser Artikel von Nagy vom Herbst 1954 stellte eine Grenzüberschreitung dar, indem er die Parteimitglieder in die Diskussion um die „Verbrechen" der früheren Parteiführung einbezog. Es war ein direkter Angriff auf die Verantwortlichen für diese Verbrechen Rákosi und Gero, obwohl deren Namen nicht fielen und Nagy mit ihnen zusammen immer noch in der „kollektiven Führung" saß. Nagy hielt sich nicht an die parteigesetzlichen Spielregeln des demokratischen Zentralismus, die verlangten, daß Konflikte in der Führung intern geregelt wurden, ohne Einbeziehung der Parteimitglieder oder gar einer öffentlichen Meinung außerhalb ihrer Reihen. Nagy polarisierte, und er bekam Zustimmung für seinen Kurs in und außerhalb der Partei, erntete aber zugleich heftigen Widerstand seitens des Parteiapparates, der nach wie vor von Rákosi geführt wurde. Entscheidender für das weitere Schicksal von Nagy war die Reaktion aus Moskau. Als die Delegationen beider Parteien sich Anfang Januar 1955 trafen, wertete die sowjetische Führung diesen Artikel als fraktionelle Plattform, um „die Einheit der Partei zu zerstören. Zum anderen wurde auf die Aussage von Nagy eingegangen, daß er mit Rákosi im weiteren nicht mehr zusammenarbeiten könne. Dies hielt das Präsidium für -

299

nicht akzeptabel. Chruschtschow meinte dazu: .Selbst wenn sie sich einfach zurückziehen würden, wenn sie sich nicht mehr äußern würden, würde das als Kampf gegen die Partei wirken. Ihr Schweigen würde bedeuten: Ich habe keine Kraft mehr, ich wollte helfen, es wurde aber nicht zugelassen'. Chruschtschow wollte also Nagy nicht entfernen, sondern erreichen, daß er Selbstkritik übt und sich am Beheben der Fehler

beteiligt." Der

„Neue Kurs" für Ungarn wurde zurückgenommen und die sowjetische Führung entschied, daß beide, Rákosi und Nagy, für die neue Linie verantwortlich zeichnen sollten. „Rákosi war enttäuscht, weil er ursprünglich damit gerechnet hatte, daß Nagy

schon in Moskau seines Postens enthoben werden würde." Wenige Monate später beschuldigte Rákosi Nagy in einer Resolution des ZK, „parteifeindliche Ansichten" zu vertreten und „Fraktionsbildung" betrieben zu haben. Er wurde als Ministerpräsident abgelöst, verlor sein Mandat als Abgeordneter, weigerte sich jedoch, eine ausführliche Selbstkritik abzulegen. Dieses Verhalten von Nagy schuf Raum für seine Autorität als unterlegener sozialistische Reformator. An seine Reformpolitik konnte künftig angeknüpft werden, und es gelang Rákosi nicht, die Parteiintelligenz für seine restaurative Politik zu gewinnen. Nach seinen Erfahrungen rang sich Nagy zu der Einsicht durch, „daß sich das sowjetische Modell nur mit den Kriterien einer Imperiumspolitik beschreiben ließ". Damit war die Grenze markiert, an der im Zweifelsfall die konsultative Anleitung der eigenständigen kommunistischen Parteien durch die KPdSU in Krisensituationen in massive Einmischung umschlug.

V. Der XX. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956 warf das Problem der Rehabilitierungen der in den Schauprozessen verurteilten und hingerichteten kommunistischen Kader gerade in Ungarn noch einmal in aller Schärfe auf. In der MDP diskutierte die Parteiopposition die Verantwortung von Rákosi im Rajk-Prozeß 1949. Im Politbüro der MDP kam es zu Machtkämpfen, die Rákosi durch die Kooptierung von Kádár dämpfen wollte. Diese Entscheidung wurde von der KPdSU im Nachhinein akzeptiert. Der Sturz von Rákosi erfolgte im Juli, als Gero den sowjetischen Botschafter Andropow um Hilfe bat. Das Präsidium der KPdSU bezog in seiner Sitzung am 9. und 12. Juli bezüglich Ungarn in doppelter Weise Position. Zur Lösung der Führungskrise wurde Mikojan nach Budapest geschickt, um die Kaderfragen mit dem ungarischen Politbüro zu entscheiden. Zugleich wurde den Jugoslawen bedeutet, daß die Sowjetunion Ungarn als Bestandteil ihres Imperiums betrachte und keinesfalls gewillt sei, die Macht in Ungarn mit den Jugoslawen zu teilen. Mikojan löste seine Aufgabe in Budapest, Rákosi trat zurück und Gero wurde Erster Sekretär. Imre Nagys Wiederaufnahme in die Partei wurde ins Auge gefaßt. Aber die von Mikojan herbeigeführte Lösung der Führungskrise verschärfte die Krise noch. Und das lag vor allem an einer neuen Qualität der öffentlichen Meinung. „Es gab nun keine Barrieren

mehr für die öffentliche Debatte, auch Tabuthemen konnten nicht mehr unterdrückt werden. Wenn Rákosi, Symbol des stalinistischen Systems, das die Sowjets in Ungarn implantiert hatten, abgesetzt werden konnte, so verstärkten sich die Überlegungen, daß

300

dann offensichtlich real und lohnend sei, sich über weitergehende Veränderungen den Kopf zu zerbrechen." Aus der Perspektive der Interessen des sowjetischen Imperiums war das eine bedrohliche Entwicklung. Andropow prognostizierte bereits Mitte September „großes Unheil", in einem Memorandum an das Präsidium der KPdSU warf er der neuen Führung der MDP vor, daß sie in „Fragen der Macht Positionen räumt". Die öffentliche Beerdigung von Rajk am 6. Oktober wurde zum symbolischen Auftakt „zur Beerdigung des Stalinismus". Einige Tage später, am 13. Oktober, beschloß die Führung der MDP, Imre Nagy ohne jegliche politische Diskussion wieder in die Partei aufzunehmen. Die sich entwickelnde eigenständige Massenbewegung wertete diesen Schritt als Ausdruck der Schwäche der Gerö-Führung. Ein Urteil, das Andropow teilte. Er berichtete nach Moskau, wenn die „Politik zur Vermeidung jeglichen Widerstandes" fortgesetzt werde, „dann übernehme Nagy wahrscheinlich die Führung des Landes". es

VI. Am 20. Oktober stand die ungarische Frage an zweiter Stelle der Tagesordnung des KPdSU-Präsidiums in Moskau. Doch zu diesem Zeitpunkt konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der sowjetischen Führung auf Polen. Dort hatte sich das Politbüro der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) am 15. Oktober darauf verständigt, Wladyslaw Gomulka zum Ersten Sekretär zu wählen. Das Zentralkomitee wurde für den 19. Oktober einberufen.1 Diese Entscheidung setzte eine Eskalation in Gang; die KPdSU forderte den amtierenden Ersten Sekretär Edward Ochab auf, nach Moskau zu kommen er lehnte ab. Die sowjetische Armee wurde alarmiert, und in Polen kam es zu Demonstrationen, die Gomulka unterstützen. Vor Beginn der Sitzung des Zentralkomitees traf am 19. Oktober eine sowjetische Delegation in Warschau ein. Geführt von Chruschtschow gehörten ihr Mikojan, Molotow, Kaganowitsch und Marschall Konjew als Oberkommandierender der Truppen des Warschauer Paktes an. Das polnische Zentralkomitee trat in dieser zugespitzten Situation zusammen, Gomulka wurde wieder in das Gremium aufgenommen und als Kandidat für den Posten des Ersten Sekretärs nominiert. Dann unterbrachen die Polen ihre Sitzung und trafen sich mit den sowjetischen Genossen. Gomulka vertrat entschlossen die Eigenständigkeit der polnischen Partei gegenüber der KPdSU, und das schloß für ihn das Recht ein, über die Führung in Warschau selbst zu entscheiden.2 Der sowjetische Marschall Konstantin K. -

„So hatte Gomulka 8 Jahre und ein paar Tage nach seiner Absetzung als Generalsekretär der

Partei, 18 Monate nach seiner Freilassung, kaum 2 Monate nach seiner Rehabilitierung, das Ziel erreicht. Dieses Ziel hieß einfach, den Faden dort wieder anzuknüpfen, wo er 1948 abgerissen war. Am 20. Oktober gab der neue alte starke Mann sein Programm bekannt." Francois Fejtö, Die Geschichte der Volksdemokratien, Bd. II, a.a.O., S. 125f. ,Es ist Sache

Zentralkomitees, und nur die seine, zu entscheiden, wer unserem Politbüro Ich glaube nicht, daß die Zusammensetzung der Führungsspitze irgend einer kommunistischen Partei Gegenstand von Diskussionen mit einer Bruderpartei sein kann'. Das war eine Stellungnahme, die mit der Haltung Chruschtschows auf dem XX. Parteitag übereinstimmte und den mit Belgrad über die Unabhängigkeit und Gleichheit der Partei sowie die .,

angehört (...).

unseres

301

Rokossowski, verantwortlich für die polnische Armee, schied aus der Führung der PVAP aus. Am Morgen des 20. Oktober kehrte die sowjetische Delegation nach auf dem Tisch lag Andropows Memorandum. Eine militärische Moskau zurück Intervention in Polen hätte die internationale Position der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt erschüttert. Nicht nur der Westen, auch die chinesischen Kommunisten sahen mit Argwohn dem Panzeraufmarsch gegen Polen zu. Gomulka nutzte die Programmatik des XX. Parteitages der KPdSU und zwang die sowjetische Führung zu einer Güterabwägung: Befestigung des Machtmonopols der polnischen Kommunisten, durch die Wahl eines verfolgten und inhaftierten Nationalkommunisten gegen die Loyalität zum Warschauer Pakt und damit zum sowjetischen Imperium.1 -

VII. Der polnische Oktober beflügelte die ungarische Bewegung. Aber der in Warschau vermiedene Zusammenstoß sowjetischer Truppen mit Demonstranten fand in der Nacht

Nichteinmischung unterzeichneten Erklärungen völlig entsprach. In der Praxis aber forderte die Sowjetführung als oberste Hüterin der Interessen des sozialistischen Lagers das Recht auf Überwachung und letzte Entscheidung weiterhin für sich. Gomulka versagte diesem Recht seine Anerkennung. Auch im Fall Rokossowski gab er nicht nach. Er versicherte aber den Sowjets, daß

nicht daran denke, die strategischen Interessen der UdSSR anzutasten oder Polen aus dem Warschauer Pakt austreten zu lassen; mehr denn je sei er davon überzeugt (und werde auch die Öffentlichkeit davon überzeugen), daß nicht nur Polens nationale Interessen, sondern auch die grundlegende ideologische Solidarität die Aufrechterhaltung, ja die (auf gesünderer Grundlage vorgenommenen) Verstärkung des Bündnisses mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Staaten erfordere." Zit. nach: Die Geschichte der Volksdemokratien, a.a.O., S. 129f. In seiner Ansprache an die Warschauer Bevölkerung am 24. Oktober hat Gomulka mit klaren Worten den polnischen Stalinismus verurteilt, um im zweiten Teil seiner Rede um so entschiedener das Bündnis mit der Sowjetunion zur polnischen Staatsraison zu erklären. In dieser historischen Rede sagte er: „Die Ideen des Sozialismus, die mit dem Geist der Freiheit der Menschen und der Achtung der Bürgerrechte verbunden sind, erlitten in der Praxis tiefgehende Verzerrungen. Die Worte entsprachen nicht den Taten. (...). Ich bin zutiefst überzeugt, daß diese Jahre vorbei sind und nie mehr zurückkehren. (...). Das Rückgrat einer solchen Allianz aller sozialistischen Staaten ist die Sowjetunion, das älteste Land in der Welt des sozialistischen Aufbaus und der mächtigste sozialistische Staat. Auf diese Weise sehen wir unseren Platz im Weltlager des Sozialismus und auf diese Weise verstehen wir unsere brüderlichen Beziehungen mit der Sowjetunion. (...). Unsere letzte Zusammenkunft mit der Delegation der KPdSU befähigte die sowjetischen Kameraden, eine bessere Idee von der politischen Lage in Polen zu bekommen." Die Anwesenheit sowjetischer Truppen in Polen erklärte er als notwendig im Hinblick auf die Anwesenheit von sowjetischen Truppen in der DDR. „Solange es Stützpunkte der NATO in Westdeutschland gibt, solange die neue Wehrmacht dort aufgerichtet wird und Chauvinismus und Revisionismus gegen unsere Grenzen anstiftet, entspricht die Anwesenheit der Sowjetarmee in Deutschland unserer höchsten Staatsraison." Zit. nach: Reinhard Crusius/Manfred Wilke, Polen und Ungarn 1956. Eine Dokumentation, in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hrsg.): Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt 1977, S. 118ff. er

302

23. zum 24. Oktober in Budapest statt.1 Die Straßenkämpfe in Budapest schufen eine neue Lage für die ungarische Partei und die sowjetische Führung. Diese hatte die MDP angewiesen, mit Personalentscheidungen auf ihrer Sitzung des Zentralkomitees zu warten, bis die von Mikojan und Suslow geführte Delegation des sowjetischen Parteipräsidiums in Budapest eintraf. Als sie gegen Mittag des 24. Oktober ankamen, waren die Würfel bereits gefallen. Das ZK wählte Imre Nagy zum neuen Ministerpräsidenten. Über seine Reaktivierung war es bereits am Abend zuvor in Moskau zu Auseinandersetzungen in der sowjetischen Führung gekommen. „Mikojan, der auch einer militärischen Einmischung ablehnend gegenüberstand, war der Auffassung: ,Ohne Nagy kann man der Bewegung nicht Herr werden und so ist es auch für uns billiger'. Molotow widersprach: ,Durch den Weg Nagys wird Ungarn nur (weiter) untergraben'. Chruschtschows Kompromißlösung, Nagy in die Führung einzubinden, ohne ihn jedoch zum Ministerpräsidenten zu machen, war eher Ausdruck seines Mißtrauens." Das Blutbad vor dem Parlamentsgebäude am 25. Oktober verhinderte jede Aussicht auf Waffenstillstand und Deeskalation.2 Nach diesem Ereignis stimmten Mikojan und Suslow der Ablösung von Gero als Parteiführer zu. An seine Stelle trat, von Nagy vorgeschlagen, János Kádár. Am 28. Oktober erklärte die neue Regierung ihre Absicht, den Staatssicherheitsdienst aufzulösen, den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Budapest herbeizuführen und nahm eine deutlich veränderte Einschätzung der gesamten bisherigen Ereignisse vor. Am 30. Oktober löste sich die MDP auf und am folgenden Tag wurde die neue ungarische kommunistische Partei unter dem Namen „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei" (USAP) gegründet. Am gleichen Tage wurde eine Mehrparteien-Regierung gebildet und Imre Nagy sprach öffentlich von der „Revolution" und legitimierte die Arbeit seiner Regierung mit den Forderungen und Zielen der Massenbewegung, die am 23. Oktober ihren Anfang genommen hatte. Aus

vom

-

„Die sowjetischen Einheiten erreichten Budapest in den frühen Morgenstunden des 24. Oktober. Nach den Truppenbewegungen und Aktionen der folgenden drei bis vier Tage zu urteilen, ist es wahrscheinlich, daß sie zumindest am Anfang keinen Angriffsbefehl erhalten hatten. Dafür hätte allerdings die Schlagkraft der in der Landesmitte stationierten Kontingente zwei Panzerdivisionen schon zahlenmäßig nicht ausgereicht. Allem Anschein nach sollten die beim Berliner Aufstand von 1953 erfolgreiche ,Droh-Taktik' angewandt werden, und es wurde damit gerechnet, daß man den ,Unruhen' durch Demonstration von Stärke würde Herr werden können. Diese Strategie deutet darauf hin, daß man die Lage in Moskau falsch einschätzte, oder aber, daß die sowjetische Führung in dieser Phase etwa bis zum 28. Oktober noch nach einer politischen Lösung suchte." Zit. nach: Die ungarische Revolution 1956, a.a.O., S. 78. „Zum Schutz des Regierungsviertels wurden auf den Dächern der umliegenden Häuser Einheiten der Staatssicherheit in Stellung gebracht. So kam es am Vormittag des 25. Oktober zum Massaker unter der vor dem Parlamentsgebäude friedlich demonstrierenden Menge. Tausende nahmen an der Kundgebung mit Fahnen und Plakaten teil, einige ungarische und sogar etliche sowjetische Panzer schlössen sich ihnen an, denn die Kämpfe schienen allmählich nachzulassen. Plötzlich wurde aus allen Richtungen geschossen. Bei diesem wohl blutigsten Ereignis der Revolution waren über hundert Tote und Verletzte zu beklagen. (...). Der Terror hat sein Ziel aber nicht erreicht, der Widerstand blieb ungebrochen, die Massen gingen weiter auf die Straße. Einziger Erfolg des Waffeneinsatzes war Haß. Jetzt wurde überall die unverzügliche Auflösung des Staatssicherheitsdienstes gefordert." Zit. nach: A.a.O., S. 85. -

-

-

-

-

-

303

dem einstigen Moskau-Kader war ein Staatsmann geworden, der um die Souveränität und Selbstbestimmung seines Landes gegen das sowjetische Imperium kämpfte. Die am meisten kompromittierten Mitglieder der alten Parteiführung wurden von den Sowjets mit ihren Familien nach Moskau ausgeflogen. Als in Budapest die Revolution scheinbar gesiegt hatte, begann der englisch-französisch-israelische Krieg gegen Ägypten, und unter dem Eindruck dieses Ereignisses fiel in Moskau aus der imperialen Interessenlage der Sowjetunion heraus die Entscheidung zum militärischen Angriff in Ungarn. Chruschtschow: „Würden wir aus Ungarn abziehen, würde das die Amerikaner, die Imperialisten ermutigen. Sie würden dies als die Engländer, die Franzosen (Ausdruck) unserer Schwäche auffassen und zum Angriff übergehen. (...) Neben Ägypten würden wir ihnen auch noch Ungarn überlassen." Ein weiteres Motiv für diese Entscheidung war die Sorge von Chruschtschow vor den stalinistischen Hardlinern in den eigenen Reihen, die seinen Kurs der Entstalinisierung seit dem XX. Parteitag für diese Entwicklung mitverantwortlich machten. Während die sowjetischen Militärs die ungarische Operation vorbereiteten, reiste Chruschtschow zu einem Treffen mit Gomulka an der polnischen Grenze. Von dort ging es weiter nach Jugoslawien, wo er sich mit Tito beriet. Währenddessen wurde in Moskau die dort anwesende chinesische Parteidelegation empfangen. Für den ungarischen Fall gab es keine Drehbücher. Das 1953 mit dem „Neuen Kurs" verbundene Zugeständnis eines eigenen Handlungsspielraums der kommunistischen Parteien hatte zu einer Eigendynamik geführt, die das Handeln Moskaus auf zwei akute Fragen zuspitzten: -

1. 2.

Wie wird die militärische Intervention legitimiert? Wer soll an der Spitze einer ungarischen Gegenregierung stehen, die das Machtmonopol der kommunistischen Partei nach der Niederschlagung der Revolution restauriert? Mittlerweile hatte die Regierung Nagy zudem ihren Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärt und die Einsetzung einer Gegenregierung mußte mit dem Beginn des Angriffs der sowjetischen Streitkräfte koordiniert werden. János Kádár, der den Gründungsaufruf der USAP im Radio verlesen hatte, wurde nach Moskau geflogen und er erklärte sich bereit, an die Spitze der Gegenregierung zu treten. Den Ausschlag für seine Wahl gab nach der Analyse von Hegedüs Tito, der sich nachdrücklich für Kádár aussprach. Der Aufruf der „Ungarischen Arbeiter- und Bauernregierung" wurde in Moskau formuliert, vom Parteipräsidium der KPdSU gebilligt, und im Morgengrauen des 4. November verlas der Ministerpräsident Kádár die Proklamation über den sowjetischen Rundfunk. „Sein Volk wurde auf diese Weise mit der Hintergrundmusik von Kanonendonner von der Niederschlagung seiner Revolution in Kenntnis gesetzt." Die restaurative Vergeltung und die Rekonstruktion der kommunistischen Diktatur unter dem einst inhaftierten Nationalkommunisten Kádár nahm ihren Anfang. Die Absprachen zwischen Chruschtschow und Tito führten zur Auslieferung von Imre Nagy und seinen engsten Mitstreitern. Für Hegedüs gipfelten die Vergeltungsaktionen im Prozeß gegen die Regierung Nagy. „Die Untersuchung verlief unter absoluter Geheimhaltung und dauerte 16 Monate. Der Prozeß wurde zunächst auf Wunsch Moskaus verschoben, da er den aktuellen Interessen der internationalen kommunistischen Bewegung geschadet hätte. Angefangen von der Formulierung der

304 im Rahmen der Prozeßvorbereitung eine sehr enge es Zusammenarbeit mit den zuständigen sowjetischen Stellen. Im August 1957 .informierte' Innenminister Bela Biszku die sowjetische Parteiführung über die Vorbereitungen. Zu diesem Zeitpunkt kannten diese bereits die von den Organen des Innenministeriums also nicht von der zuständigen Staatsanwaltschaft formulierte Anklageschrift. Übereinstimmung herrschte zwischen den ungarischen und sowjetischen Organen im Hinblick auf die zu verkündeten Todesurteile." So geschah es ein Jahr später. Im Juni 1958 fand der Prozeß statt und am 16. Juni, auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem er als frisch gekürter ungarischer Ministerpräsident aus Moskau abgeflogen war, starb Nagy am Galgen. An seinem Schicksal spiegelt sich das Scheitern des „Neuen Kurses" als Weg zur Selbstreform der kommunistischen Parteidiktatur wieder, die Widersprüche nicht zu lösen vermochte, welche diesem Ansatz immanent

Anklageschrift gab

-

-

waren:

1.

2.

Machtanspruch des Parteiapparates gegenüber der Regierung sollte zurückgenommen, nicht jedoch aufgegeben werden. Für eine Begrenzung der Macht der Partei gab es keine institutionelle Regelung. Das Verhältnis zwischen der KPdSU und den ihr nachfolgenden kommunistischen Parteien sollte im Stil der konsultativen Anleitung erfolgen, sie sollte an die Stelle Der totalitäre

Stalins Befehlen treten. Schon die Übergabe des „Neuen Kurses" an die SED, vor allem an die MDP, erfolgte auf alte Weise. Die kollektive sowjetische Führung verdeutlichte, daß die Positionen des Ersten Sekretärs, des Ministerpräsidenten, des Innen- und Verteidigungsministers nur mit sowjetischer Zustimmung von den nationalen Parteien zu besetzen sind. Was für die Parteien galt, traf auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zu: Die Grenzen nationaler Eigenständigkeit wurden von der Interessenlage des sowjetischen Imperiums definiert. Dies wurde in der polnisch-ungarischen Krise 1956 von den Sowjets in zwei Lösungsvarianten vorgeführt: In Polen gelang es Gomulka, gestützt auf Massendemonstrationen, in der Partei die polnische Kaderhoheit durchzusetzen um den Preis einer besonderen Blockloyalität. In Ungarn dagegen sicherte die sowjetische Armee den Verbleib des Landes im Imperium, und die Regierung der Restauration wurde in Moskau formiert und begann ihre Amtsgeschäfte unter dem Schutz der sowjetischen Armee und des KGB. von

aber

3.

-

Ergebnis des „Neuen Kurses" der „kollektiven Führung" nach Stalins Tod bleibt jedoch bestehen: Die Beendigung des willkürlichen Massenterrors, der weder vor den Kadern der kommunistischen Partei, noch vor der Bevölkerung halt gemacht hatte. Imre Nagy, der als Getreuer Moskaus 1945 das stalinistische System in Ungarn zu errichten half, der 1949 gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft protestiert und der Ein

mit dem „Neuen Kurs" das Land befriedet hatte, um schließlich in der Revolution mit seiner kommunistischen Kaderlaufbahn zu brechen, bezahlte seine Umkehr mit dem Tod. Für die Funktionäre nach ihm insbesondere für Kádár blieb er ein Menetekel. András B. Hegedüs erinnert an das jahrezehntelange strenge Verbot des Gedenkens an den 16. Juni: „Erst dreißig Jahre später, am 16. Juni 1988, wurde auf dem Pariser -

-

305 Friedhof Père Lachaise ein symbolisches Grabmal für Imre Nagy und die anderen Märtyrer enthüllt. In Budapest wurde eine, später von der Polizei aufgelöste, öffentliche Gedenkfeier abgehalten. Im Jahr darauf fand auf dem Heldenplatz der ungarischen Hauptstadt unter Teilnahme mehrerer hundertausend Menschen die erste offiziell genehmigte Trauerveranstaltung statt. Diese bedeutendste Massenkundgebung der Wende war der Höhepunkt des Prozesses der Neubewertung der ungarischen Revolution und stellte für alle Märtyrer eine späte Genugtuung dar."

Abkürzungsverzeichnis

APN AVH

Außenpolitischer Nachrichtendienst

BGL BRD CDU CSR CSSR DDR EKD

Betriebsgewerkschaftsleitung Bundesrepublik Deutschland

EVG FDGB FDJ IG IWF KGB KI KJVD KMT

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

Kominform Komintern KPC KPD KPdSU KVP LPG LOPM NEP MDFM MDP MfS MGB MKP MWD MSZM ND NKFD NVA PB

Behörde für Staatssicherheit

Christlich Demokratische Union Tschechoslowakische Republik Tschechoslowakische Sopzialistische Deutsche Demokratische Republik Evangelische Kirche Deutschlands

Volksrepublik

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend

Industriegewerkschaft

Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung Komitee für Staatssicherheit (zuvor NKWD, GPU, Tscheka) Kommunistische Internationale Kommunistischer Jugendverbund Deutschlands Zentraler Arbeiterrat von Budapest Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien Kommunistische Internationale Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion bis 1952 Kasernierte Volkspolizei Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen (ZK-Abteilung) Neue Ökonomische Politik Ungarische Demokratische Unabhängigkeitsbewegung Partei der Ungarischen Werktätigen Ministerium für Staatssicherheit Ministerium für Staatssicherheit (Sowjetunion) Ungarische Kommunistische Partei Innenministerium (Sowjetunion) Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Neues Deutschland Nationalkomitee Freies Deutschland Nationale Volksarmee Politbüro

308 RIAS SBZ SED SfS SKK SMAD SPD SPW UdSSR USA VVN ZK ZPKK

ZS

Rundfunk im Amerikanischen Sektor

Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Staatssekretariat für Staatssicherheit Sowjetische Kontrollkommission Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Schützenpanzerwagen Union der Sozialistischen Sowjetrepublik Vereinigte Staaten von Amerika Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes Zentralkomitee Zentrale Parteikommission (der SED) Zentralsekretariat

Autorenverzeichnis

Bernd-Rainer Barth, Jahrgang 1957, Philologe Leipzig, freier Publizist und Übersetzer.

und

Literaturhistoriker, Studium

in

Budapest und

Hegedüs. Jahrgang 1930, Diplom-Ökonom und Diplom-Lehrer, Mitbegründer und geschäftsführender Direktor des Forschungsinstitutes der Geschichte der Ungarischen Revolution 1956, Budapest; 1956 einer der Sekretäre des „Petöfi-Kreises", 1958 wegen seiner parteioppositionellen Tätigkeit vor und während der Revolution zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; in den 80er Jahren am Akademischen Zentrum für Ost und Mitteleuropa tätig, einer der Hauptorganisatoren des feierlichen Begräbnisses für Imre Nagy und anderen Märtyrern der Revolution (16.06.1989); 1990 als Universitätsdozent rehabilitiert und Lehrer am Institut für Wirtschafts- und András B.

Gesellschaftsgeschichte. János M. Rainer, Jahrgang 1957, Dr. Revolution 1956, Budapest. Tobias Voigt, Mitarbeiter im

phil.,

Direktor des Instituts der Geschichte der

Ungarischen

Jahrgang 1968, Diplom-Politologe der Freien Universität Berlin, wissenschaftlicher Forschungsverbund SED-Staat, Freie Universität Berlin.

Manfred Wilke,

Jahrgang 1941, Dr. rer. pol., Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin, Forschungsverbundes SED-Staat; sachverständiges Mitglied der EnqueteKommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (1992Mitbegründer

des

1994) und der Kommission zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit" (1995-1998) des Deutschen Bundestages; zahlreiche Publikationen, u.a. in der Reihe des

Forschungsverbundes.

Personenverzeichnis

Abakumow, V.S. 205 Ackermann, Anton 52; 53; 56; 100: 107; 108; 124

Aczél, Tamas 203 Adenauer, Konrad 28; 29; 34; 37; 51; 90; 91; 92; 94; 96 Andorka; Rudolf 279 Andropow, Juri 163; 164; 168; 169; 184; 187; 193; 196; 204; 211; 212; 216; 217; 218; 219; 223; 226; 227, 240; 242; 243; 244; 262; 265; 269; 280; 300

Apró, Antal 182 Aristow, Awerki 269; 270 Axen, Herrmann 50; 51; 60; 117; 129 Ács, Lajos 156; 182; 187; 197

Bajkow

145

Bali, Sándor 283 Bárd 139; 173 Bartók, Béla 204 Bata 151; 156; 182; 187; 192; 255; 262; 292 Baum, Bruno 75; 77; 78 Baumann, Edith 128

Benjamin, László 203 Berei 187; 213 Berija, Lawrenti 12; 13; 14; 41; 44; 45; 48; 49; 54; 102; 104; 105; 106; 108; 109; 111; 114; 117; 118; 134; 135, 142; 144; 145; 146; 148; 149; 150; 151; 160; 166; 172; 179; 189; 191; 205; 292; 297 Bíbó, István 236; 240; 267; 283; 285 Biszku, Bela 280; 306 Bluhm, Kurt 73; 74 Bolz, Lothar 55 Bozsik, József 273 Brandt, Heinz 12; 58; 66; 67; 70; 72; 75; 77; 78; 79; 81; 97; 115; 116 Brosta, Georg 74

Brusznyai, Arpad 279 Buchwitz, Otto 98

Bulganin,

Nikolai 14; 45; 83, 145; 147; 180;

192; 197

Chruschtschow, Nikita 12; 13; 14; 16; 17; 19; 44; 45; 48; 64; 86; 102; 103; 104; 106; 108; 109; 118; 126; 142; 145; 148; 157; 160; 179; 180; 192; 193; 195; 196; 197; 205; 206; 210; 211; 213; 218; 225; 241; 242; 243; 244; 246; 250; 253; 255; 258; 260; 261; 262; 263; 265; 266; 269; 292; 293; 299; 300; 302; 305 Churchill, Winston 92 Czakó 167; 188 Dahlem, Franz 24; 27; 52; 62; 102; 124 Darvas, József 190

Dertinger, Georg 26 Déry, Tibor 203; 279; 283; 285; 292

Dibelius, Otto 68; 69 Dobi, István 138; 144; 148 Donáth, Ferenc 173; 280; 266; 267 Dudas, József 270

Dulles, John Foster 134 Ebert, Friedrich 50; 56; 65; 100; 107; 110; 125

Eisenhower, Dwight D. 92; 134 Ende, Lex 12; 26; 31; 45; 55; 104; 131

Engels, Friedrich

175

Eörsi, István 279 Erdei, Ferenc 265

Ewing,

Gordon 87

Farkas, Mihály 144; 147; 151; 152; 154; 155; 156; 162; 163; 168; 169; 174; 175; 182; 183; 188; 190; 196; 197; 207; 211; 212; 214; 217; 221; 288

313 Fazekas, György 203 Fechner, Max 113; 124; 125; 126 Fehér, Ferenc 182 Fejtö, Francois 257; 286 Fekete, Sándor 286 Ferenc, Jánosi 203; 215 Fettling, Max 73; 74 Field, Noel 26; 55; 124

Florin,Wilhelm 52 Fogarasi 182 Foth, Karl 73; 74 Földes, Péter 182 Földvari, Rudolf 144; 150; 151; 182; 273; 283

Friss, István 183; 187 Furzeva, Jekaterina 256

Gáli, József 279

Gaspar, Miklós Tamas

239

Geffke, Herta 130 Gero, Ernö 138; 143; 147; 148; 149; 150; 152; 153; 155; 156; 157; 161; 162; 173; 174; 175; 182; 183; 184; 186; 187; 188; 189; 196; 213; 214; 216; 217; 218; 219; 220; 221; 222; 223; 224; 225; 226; 242; 243; 245; 246; 248; 249; 255; 257; 263; 273; 287; 292; 299; 300; 304 Gimes, Miklós 203; 208; 280; 281 Gniffke, Erich W. 53 Gottwald, Klement 206 Gretschko, Andrej 45; 49 Gomulka, Wladyslaw 19: 27, 223; 225; 257; 258; 259; 262; 301; 302; 303; 305; 306 Göncz, Árpád 267; 270; 285; 286 Gromyko, Andrej 43; 44, 225; 227 Grotewohl, Otto 24; 35; 36; 40; 42; 45; 48; 56; 61; 64; 65; 66; 68; 69; 71; 75; 77; 79; 80; 81; 83; 84; 90; 97; 98; 99; 100; 101; 102; 107; 108; 109; 110; 111; 117; 121; 126; 128; 129; 143; 291; 293; 296 Grötschel 68 Grösz, József 168 Grüber, Heinrich 68

Hager,

Kurt 121

Hamann, Karl 26

Haraszti, Sándor 203; 208; 215

Hay, Julius 268; 279

Házi 138; 144; 156; 162 Hegedüs, András 144; 149; 151; 182; 184;

187; 195; 199; 201; 206; 209; 212; 213; 214; 218; 219; 220; 221; 225 226; 241; 247; 249; 255; 262

Hegedüs, András B. 286 Hengst, Adalbert 128

Herrnstadt, Rudolf 49; 50; 51; 52; 54; 55; 58; 59; 62; 63; 64; 65; 66; 67; 71; 72; 78; 84; 85; 95; 96; 99; 100; 101; 102; 103; 105; 106; 107; 108; 109; 110; 111; 112; 113; 114; 115; 116; 117; 118; 119; 120; 121; 122; 123; 124; 126; 129; 132; 291; 296; 297

Hidas, István 143; 148; 182; 187; 196

Hillgruber, Andreas

29

Honecker, Erich 50; 56; 63; 107; 110; 120 Horváth, Márton 207

Illyés, Gyula 290 Ischtschenko, 217 Ivasutin, P. 280 Jahn, Franz 76; 93; 127 Jendretzky, Hans 50; 56; 58; 64; 78; 99; 107; 110; 115; 124; 129 Judin, Pawel 49; 61; 84; 99; 103; 109; 111; 112

Kádár, János 145; 173; 188; 207; 219; 235; 236; 241; 245; 249; 250; 253; 262; 263; 264; 265; 266; 267; 269; 271; 272; 273; 274; 277; 278; 279; 282; 283; 284; 285; 287; 291; 295; 299; 300; 304; 305; 307 Kaiser, Jakob 34; 96 Kaganowitsch, Lasar 45; 179; 180; 192; 253; 255; 302 Kállai, Gyula 173

Kalocsay, György

221; 261; 270; 280; 296; 197;

237

Kardos, László 286 Kassai 182 Kegel, Gerhard 55 Kende, Péter 195 Kéthly, Anna 188; 287; 299 Kiefert 78 Király, Béla 266; 268; 280; 281; 287

Kiseljow 143; 145; 161; 162; 163; 171; 173; 174; 177 Kiss, Karóly 144; 156; 221

Kissinger, Henry 134 Kodály, Zoltán 285

314

Kónya, Lajos 203 Konjew (Marschall) 302 Kopácsi, Sándor 273

Kornai, János 137; 166; 224 Kovács, István 139; 196; 207; 214; 215; 216; 217; 218; 220; 226; 265; 267; 272 Kovács, Béla 267 Köböl, József 207 Köhler 74

197

206; 213; 218; 219; 220; 221; 222; 227 241; 246; 247; 248; 250; 253; 300; 302 304

Miroschnitschenko, Boris 103 Mindszenty, József 168; 268; 291; 290; 291

Mlynar, Zdenek

22

Mochalski 141

Kreikemeyer

124 Kristóf 144; 182 Kurella, Kurella 55

Lange, Ernst

Mielke, Erich 133; 147

Mikojan, Anastas 13; 45; 48, 145; 179;

129

Latt, Max 82 Lehmann, Otto 72; 76; 141 Lenin, Wladimir P. 175; 182 Leuschner, Günther 110 Lewytzkjy, Boris 15; 16 Litván, György 219; 238 Losonczy, Géza 203; 208, 224; 226; 266; 267; 273; 280; 281 Löcsei, Pal 203 Löwenthal, Richard 19 Lukács, Georg 182; 208; 266; 273; 289 Madách, Imre 204 Malaschenko 243; 244 Malenkow, Georgi 13; 14; 15; 17; 45; 48; 64 108; 110; 118; 142; 144; 145; 146; 148 149; 151; 157; 162; 171; 178; 180; 191 195; 197 253; 260; 262; 269; 270; 292; 293 Maléter, Pal 265; 280; 281 Malin, W. I. 254 Malinow (Generaloberst) 246 Maron, Karl 64 Marosán, György 221 Marty, André 27 Marx, Karl 150; 175 Matern, Hermann 25; 52; 101; 107; 110; 116; 118; 120; 122; 128 Maumow, P. 85 Matolcsi, János 182 187 Mekis, József 182; 184 Melsheimer (Generalstaatsanwalt) 64 Menon, K. P. S. 285 Méray, Tibor 194; 203 Merker, Paul 26; 55; 124 Metzdorf, Alfred 73; 74 Mezö, Imre 182; 216

Molotow, Wjatscheslaw 13; 14; 43; 45; 48 69; 83; 108; 109; 117; 134; 141, 143; 145 147; 150; 154; 178; 192; 195; 197; 248 253; 255; 260; 262; 263; 292; 302; 304 Mückenberger, Erich 56; 63; 107; 110; 127 129

Münnich, Ferenc 261; 262; 262; 263; 266 269; 270

Nagy, Elek 284 Nagy, Imre 16; 17; 20; 95; 147; 148; 155; 156; 164; 167; 174; 175; 183; 184; 191; 192; 201; 202; 210; 213; 222; 223; 238; 239; 250; 251; 265; 266; 276; 277; 286; 287; 288; 304; 305; 307

143; 154; 163; 173; 182; 190; 200; 209; 221; 236; 249; 263; 273;

149; 157; 168; 176; 185; 195; 203; 214; 225; 241; 254; 267; 278; 289;

Nagy, László Regéczy

137 138 139

150, 151 152 153 158; 159 161 162 169; 170 171 172 177; 179 180 181

186; 196; 204; 215; 226; 242; 257; 268;

187 197 205 216

228 246

260 269 280; 281

188 198 207 219 231 247 261 271 282

189 199 208 220 235 248 262 272 284

292; 294; 295; 301;

286

Nasser, Gamal Abdul 261 Nehru, Pandit 285

Nickelsburg, László

278

Niemöller, Martin 141

Nógrádi,

Sándor 187

Noske, Gustav 78 Nuschke, Otto 68

Obersovszky, Gyula

279

Ochab, Edward 258; 301 Oelßner, Fred 45; 52; 56; 58; 59; 60; 61; 62; 64; 99; 104; 105; 108; 110; 116; 124; 127; 129

Ollenhauer, Erich 96

315 Oit, Károly 184

Selbmann, Fritz 77

Péter, Gábor 139: 151; 166; 173: 179; 189; 205; 216; 217; 288 Pieck, Wilhelm 24; 52; 53; 83; 104; 109; 110

Wladimir S. 24; 44; 45; 49; 56; 58; 61; 65; 79; 83; 95; 99; 101; 102; 103; 105; 106; 109; 111; 114: 117; 291; 296;

Semjonow, 297

Piros, László 167; 182; 205; 255; 265

Serow, Iwan 265; 269; 270

Poskrebyschew Aleksander Nikolajewitsch 63 Pospelow, Pjotr 104

Sinowjew, Gregori 197 Slansky, Paul 12; 25; 27;

Rácz, Sándor 283 Rainer, János M. 21; 22; 88; 93; 136; 149; 150

Rajk,

Lázló 12; 18, 173; 188; 204; 205; 210; 216; 217; 218; 225; 266; 288; 299; 300 Rajnai, Sándor 265; 280 Rau, Heinrich 40; 50; 56; 100; 107: 110 Rákosi, Mátyás 16; 17; 88; 137; 138 139 140; 142 143 145 146; 147; 148 149 150; 151 152 153 154; 155; 156 157

160; 161 162 174; 176 177

163 179 193 205 215 224 292 292;

170 180 195; 206 216 225 293;

171; 172 173 181; 182 186 196; 197 198

188; 189 191 208 201; 203 204 217 212; 213 214 263 220; 221 222 291 275; 287; 291; 295; 299; 300 Reuter, Ernst 91; 94; 97; 123 Révai, Jószef 143; 144; 152; 155; 212; 221; 222 Révész, László 187

209 218 272 296

211 219 273 297

156; 207;

Rokossowski, Konstantin K. 302 Rudenko, R. 280 Rust 74

Rykow, Alexej 197 Sacharow, Andrej 12 Scharnowski, Ernst 86 Schdanow, Andrej 64

Schepilow,

D.P. 85

Schirdewan, Karl 38; 101: 102; 110; 127; 129; 297 Schlafke, Horst 76 Schmidt, Elli 36; 52; 56; 62; 78; 86; 100; 107; 110; 115; 124

Schön, Otto 51; 129 Schrecker, Hans 26

Schreiber, Fritz 53 Schukow, Georgi 15; 118; 268 Schweiz 141

12-,

Sokolowski, Wassili 84; 103; 109 Soldatic, Dalibor 266 Soltész, József 275 Sperling 124 Stalin, Jossif Wissarionowitsch 12; 13; 14 15; 17; 18; 19; 24; 25; 27; 28; 30; 31; 39 48; 51; 55; 57; 63; 102; 117; 119; 137 139; 140; 142; 143; 146; 149; 150, 151 157; 163; 166; 171; 172; 175; 180; 206 213; 278; 290; 291; 292; 293; 295; 296 Stoph, Willi 110; 128; 129; Stoph ^97 Stöbe, Ilse 55 Streit, Josef 33 Suslow, Michail 61, 195; 197; 199, 212; 241; 246; 248; 250; 253; 269; 270; 304 Szabó, János 238; 270 Szalai, Jószef 143; 144; 182; 183. i«7: 197; 219

Szántó, István 182; 188; 205; 20 Szilárd, Ujhelyi 203 Szilágyi, József 280; 281 Szirmai, István 139; 173 Tamási, Aron 285 Tardos, Tibor 279 Tichonow 243 Tildy, Zoltán 266; 267 Tito, Josip Broz 18; 19 192; 210; 211; 213;

217; 218; 223; 225; 226; 242; 262; 263; 264; 266; 296; 305 Togliatti, Palmiro 260; 289 Tokuda 206

Töke, Ferenc 237 Tschuikow, W. I. 34, 35; 41; 49

Turcsányi, Egon 268 Ulbricht, Walter 20; 24; 25; 27; 28; 31; 33 34; 37; 38;42; 44; 48; 49; 50; 51; 52; 53 54; 56; 58;61; 62; 63; 64; 65; 71; 72; 77 79; 80; 81;84; 94; 95; 98; 99 101; 102 103; 104; 105; 106; 108; 109 110; 111 112; 113; 114; 116; 117; 118 119; 120

316 121; 122; 123; 124; 125; 126; 127; 129; 133; 138; 139; 148; 150; 291; 293; 296; 297; 298

Varga,

Domokos 279

Vas, Zoltán 139; 143; 184; 186; 226 Vásárhelyi, Miklós 193; 203; 208; 209 Vég, Béla 156; 182; 187; 218; 219 Verner, Paul 129

Vogt, Charlotte 55 Voßke, Heinz 114 Wandel, Paul 68; 93; 110: 127; 129; 148 Warnke, Herbert 71; 110; 128 Weber, Hermann 25; 26; 27; 63; 93; 127; 134; 143 Wehner, Herbert 93; 95; 96; 123

Welms 141

Wollweber, Ernst 128; 133; 140; 145; 297 Woroschilow, Kliment 13; 14, 157; 179; 180; 197; 214; 253; 255; 271

Wyszüynski (Kardinal)

259

Zaisser, Wilhelm 25; 52; 54; 62; 64; 68; 81; 99; 102; 105; 107; 108; 109; 110; 111; 113; 114; 116; 117; 118; 119; 120; 121; 122; 123; 124; 126; 132; 133; 144; 297 Zelk, Zoltán 203; 279 Ziller, Gerhard 110; 127; 129

Zólomy, László 270 Zsofinyecz, Mihály 182 Zsoldos, Sándor 156