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German Pages 207 Year 2006
Andreas Hilger (Hg.)
»Tod den Spionen!« Todesurteile sowjetischer Gerichte der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953
V&R unipress
2006. 15308
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar
1. Aufl. 2006 © 2006 Göttingen, V&R unipress GmbH Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, total chlorfrei gebleichtem Werkdruckpapier. Alterungsbeständig. Printed in Germany ISBN 3-89971-286-2
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Bayerische ] Staatsbibliothek l Mönchen I
Inhaltsverzeichnis
Andreas Hilger Einleitung: Smert' Spionam! - Tod den Spionen! Todesstrafe und sowjetischer Justizexport in die SBZ/DDR, 1945-1955
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Nikita Petrov Die Todesstrafe in der UdSSR: Ideologie, Methoden, Praxis. 1917-1953
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Ol'ga Lavinskaja Gnadenverfahren des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, 1950 bis 1953: Eine archivwissenschaftliche Beschreibung unbekannter Quellen zum Spätstalinismus
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Andreas Hilger Strafjustiz im Verfolgungswahn. Todesurteile sowjetischer Gerichte in Deutschland
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Anhang
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Dokumente Statistische Auswertungen zur Verurteilung deutscher Zivilisten durch SMT/OSO Quellen- und Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Personenregister Autorinnen und Autoren
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Andreas Hilger Einleitung: Smert' Spionam! - Tod den Spionen! Todesstrafe und sowjetischer Justizexport in die SBZ/DDR, 1945-1955
Die unter der Besetzung Hingerichteten haben die nach der Befreiung Hingerichteten im Gefolge gehabt, deren Freunde wiederum von Vergeltung träumen. Anderswo bereiten von allzu viel Verbrechen belastete Staaten sich vor, ihre Schuld unter noch ärgeren Metzeleien zu begraben. Man tötet für ein Volk oder eine Klasse der Zukunft, die ebenfalls vergöttlicht wird. Wer alles zu wissen vermeint, bildet sich ein, alles zu vermögen. Irdische Götzen, die absoluten Glauben fordern, verkünden unermüdlich absolute Strafen. Und Religionen ohne Transzendenz töten massenweise Verurteilte ohne Hoffnung. Albert Camus1
I. »Ich bin bereit, mein ganzes Leben dem friedlichen Aufbau meiner Heimat zu widmen und im Geist des Sozialismus zu arbeiten. Bitte, geben Sie mir die Möglichkeit, mein Leben fortzusetzen. Ich bin bereit, sofort mein gutes, gesundes Auge für einen erblindeten Soldaten der Sowjetunion zu geben. Ich bitte, das als erstes Zeichen meiner Bereitschaft zur Sühne meiner Schuld zu betrachten. Bitte, erlauben Sie mir, ein Auge zu opfern und ändern Sie mein Todesurteil in eine Freiheitsstrafe um, vernichten Sie nicht das junge Leben eines 25-jährigen Menschen!«2 1 2
Albert Camus, Die Guillotine. In: Arthur Koestler/Albert Camus/E. MüllerMeiningen/F. Nowakowski, Die Rache ist mein. Theorie und Praxis der Todesstrafe, Stuttgart 1961, S. 161-218, ZitatS. 210 f. Gnadengesuch von Udo Seh. an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26.11.1952 (GARF, 7523, op. 76, d. 141, 1. 90 f., Zitat 1. 91 [Rückübersetzung aus dem Russischen]; Projektdatenbank 1 Nr. 2423). Kursivierter Text im Original unterstrichen.
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Andreas Hilger Es war ein Deutscher, der am 26. November 1952 dieses verzweifelte Gnadengesuch an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR richtete. Udo Seh. war am selben Tag in Ost-Berlin vom Militärtribunal der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland als Spion zum Tode verurteilt worden. Das Gnadengesuch wurde am 8. Januar 1953 verworfen, Seh. nach geheimem Transport im Moskauer Butyrka-Gefängnis hingerichtet, seine Leiche verbrannt, die Asche auf dem Friedhof des Klosters Donskoe in einem Massengrab bestattet. Sein Fall verweist einmal mehr auf die Einbettung der sowjetischen Rechtsprechung gegen Deutsche in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR in die stalinistische Deutschland- und Justizpolitik. 3 Zugleich lenkt er den Blick auf eine besondere Kategorie von sowjetischen Verfahren gegen Deutsche, die die Forschung bislang nur ansatzweise unter quantitativen Gesichtspunkten in den Blick genommen hat. 4 Dabei kennzeichnete das höchste Strafmaß nicht nur die in den Augen der sowjetischen Justiz und Politik besonders schweren, todeswürdigen Verbrechen. Die Todesstrafe war auch in der Sowjetunion stets »mehr als ein strafrechtliches Instru-
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Ausführlich hierzu Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945 bis 1955 Hg. von Andreas Hilger. Mike Schmeitzner und Ute Schmidt, Köln 2003. Nikita Petrov, Außergerichtliche Repressionen gegen kriegsgefangene Deutsche 1941 bis 1956. In: Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956. Hg. von Klaus-Dieter Müller, Konstantin Nikischkin und Günther Wagenlehner, Köln 1998, S. 175-196, hier 193; Andreas Hilger/ Nikita Petrov, »Erledigung der Schmutzarbeit«? Die sowjetischen Justiz- und Sicherheitsapparate in Deutschland. In: Sowjetische Militärtribunale 2, S. 59152, hier 121 f.; Andreas Hilger/Mike Schmeitzner, Einleitung: Deutschlandpolitik und Strafjustiz. Zur Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale in Deutschland 1945-1955. In: ebd., S. 7-33, hier 19-23. Überhöht erscheinen die Hochrechnungen von Klaus-Dieter Müller, Nazis - Kriegsverbrecher - Spione - Diversanten? Annäherungen an die sowjetische Haft- und Untersuchungspraxis in der SBZ und DDR mithilfe sowjetischer Archivalien. In: DA, 33 (2000), S. 373-391, hier 390. Dazu Andreas Hilger/Ute Schmidt, »Russisch Roulette« oder empirische Forschung? Eine Replik auf Klaus-Dieter Müller. In: ebd., S. 796-801. Zwei aktuelle Gedenkbücher konzentrieren sich auf die 1950er Jahre und beschränken sich auf in Moskau hingerichtete Deutsche resp. rehabilitierte Opfer: Rasstrel'nye spiski. Moskva 1935-1953. Donskoe kladbisce (Donskoj krematorij). Kniga pamjati zertv politiceskich repressij, Moskau 2005; »Erschossen in Moskau ...«. Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953. Hg. von Arsenij Roginskij, Jörg Rudolph, Frank Drauschke und Anne Kaminsky, Berlin 2005.
Einleitung ment«:5 Sie lässt sich als generelles Spiegelbild gesellschaftlich und politisch herrschender Weltbilder, des Selbstverständnisses des Staates und seiner Bürger sowie Indikator dominierender Ordnungsvorstellungen verschiedener Ebenen und Gruppen verstehen.6 Aufgrund der besonderen Aussagekraft auch innerhalb des sowjetischen Justiz- und Machtsystems erlaubt eine eigene Analyse dieser herausgehobenen Verfahren und Urteile über die eindeutigere Bestimmung sowjetischer Motive und Zielsetzungen unter den sich wandelnden Bedingungen zehnjähriger Besatzungsherrschaft hinaus vertiefte Einblicke in Interdependenzen sowjetischen Justiz-, Besatzungsund Herrschaftshandelns in der UdSSR und in Deutschland. Zudem können anhand konkreter, sowjetisch definierter Fallgruppen bzw. Verurteilungen die tatsächlichen Handlungen und Lebensumstände genauer herauskristallisiert werden, die zur besonders intensiven Verfolgung führten resp. führen konnten. Der verstärkte Rückgriff auf biographische Zugänge ist beispielsweise für eine angemessene Rekonstruktion und Bewertung der sowjetischen Verfolgung von Kriegsverbrechen, vor allem aber für die schwierige Diskussion widerständigen Verhaltens Deutscher in der SBZ und in der frühen DDR von Bedeutung. Gerade mit Blick auf den zweiten Punkt erweisen sich die bislang von der Forschung weitgehend ungenutzten Archivalien des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR zu Gnadensachen7 als eine wichtige Quelle. Die Interpretation der in diesem Bestand gesammelten, unterschiedlich ausführlichen Gnadengesuche von zum Tode Verurteilten ist sicherlich nicht unproblematisch. Die Gesuche lassen aber die vermeintlichen Täter selbst, 5 6
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Jürgen Martschukat, Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, München 2002, S. 9. Jürgen Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2000, S. 4-11; Austin Sarat, When the State kills. Capital punishment and the American condition, Princeton 2001, S. 22 f.; Richard J. Evans, Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532-1987, Berlin 2001, S. 18 f.; Andrew Scobell, The death penalty under socialism, 1917-90: China, the Soviet Union, Cuba. and the German Demoeratie Republic. In: Criminal Justice History, 12 (1991), S. 189-234, hier 218 f. Der Bestand wurde erstmals 2002/2003 - unter quantitativen Gesichtspunkten - bearbeitet: Hilger/Petrov. Erledigung der Schmutzarbeit, S. 121 f.; Hilger/ Schmeitzner, Einleitung, S. 19-23. Vgl. zu Österreichern nun auch Ol'ga Lavinskaja, Zum Tode verurteilt. Gnadengesuche österreichischer Zivilverurteilter an den Obersten Sowjet der UdSSR. In: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945-1955, Graz 2005, S. 323-337.
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Andreas Hilger von den Sicherheitsapparaten ungefiltert, zu Wort kommen. Auf diese Weise lesen sie sich mitunter als Gegendarstellung oder Ergänzung zu den sowjetischen Ermittlungen und Urteilen, und erst der unvermittelte Zusammenprall beider Welten enthüllt die historisch komplexen Hintergründe der Verfahren. Die Materialien des Präsidiums des Obersten Sowjets stellen zugleich eine wichtige Quelle für die bislang nur in Ansätzen versuchte statistische Erfassung8 der von sowjetischen Gerichten gegen Deutsche verhängten Todesurteile dar. Für die weitere Datensammlung konnten dankenswerterweise die entsprechenden Datenbestände des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Dresden, der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden, der Gedenkstätten Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald, eines Editionsprojekts des Archivunternehmens Facts and Files, Berlin, und Erhebungen von Peter Erler, Berlin, zusammengeführt werden. Diese Sammlungen fußen in ihrer Gesamtheit auf einer Erfassung sowjetischer Prozessunterlagen des Archivs des Innenministeriums (MVD) und des Russländischen Staatlichen Militärarchivs (RGVA), auf Recherchen im Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB; alle Moskau), in bundesdeutschen Archiven sowie auf Unterlagen der russischen Militärhauptstaatsanwaltschaft zu Rehabilitierungsverfahren;9 die Erhebungen ließen sich durch weitere Forschungen in Beständen der MVD-Speziallager (Staatsarchiv Moskau, GARF), in Überlieferungen der NKVD- und MGB-Truppen in Deutschland und in Personalakten Verurteilter (RGVA) ergänzen.
Wie Anm. 4 Zum früheren Quellenfundus vgl. jeweils die Einleitungen der Hg. in Sowjetische Militärtribunale, Band 1 und 2.
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Einleitung
II. Vor dem Hintergrund der eingangs genannten Verankerung der Todesstrafe in Justiz, Politik und Kultur von Staaten und ihren Gesellschaften wirft die - bis heute kaum wirklich untersuchte - Geschichte der Todesstrafe in der UdSSR 10 mannigfaltige Fragen auf. Im weiteren Kontext geht es übergreifend immer auch um den in der Sowjetunion öffentlich zugestandenen individuellen (und gesellschaftlichen) Umgang mit dem Tod schlechthin. Hier führte unter anderem der von der neuen Sowjetmacht angestrebte resolute Bruch mit slavisch-orthodoxen Traditionen dazu, dass Bestattungen zu bürokratischen Verwaltungsakten und Krematorien auch unter Gesichtspunkten der Effizienz staatlich gefördert wurden. 1 1 Dieser allgemeine Entwicklungsstrang traf schließlich mit dem Bedürfnis zusammen, sich zumindest in Moskau heimlich und unerkannt der Opfer von Hinrichtungen zu entledigen: Die staatlich angeordnete Kremation und anonyme Massenbestattung von Hingerichteten, die der staatsterroristischen Logik geheimer Erschießungen - und vielfach geheimer Verfahren - entsprach, 1 2 griff hier auf frühe Ideen der revolutionären Umgestaltung und Neujustierung des Lebens zurück. 10
Derzeit liegen v.a. neben einigen knappen bzw., mit Blick auf Russland, epochenübergreifenden Überblicksdarstellungen sowie ideologiekritisch und juristisch argumentierenden Aufrissen nur ältere, zeitlich eng umgrenzte Darstellungen vor. Vgl. allgemein die kommentierte Bibliographie von Maria Kiriakova, The death penalty in Russia 1917-2000. A bibliographic survey of English language writings. In: International Journal of legal Information, 31 (2003), S. 482-523. An Literatur ist zu nennen: Sergej V. Zil'cov, Smertnaja kazn' v istorii Rossii, Moskau 2002; E. A. Klimcuk, Problema smertnoj kazni v obycae i v ugolovnom prave Rossii: sravnitel'nyj analiz, Moskau 2000; Alexander S. Mikhlin. The death penalty in Russia, London 1999; William Walter Adams, Capital punishment and the Russian Revolution, Diss. Columbia University 1968; Scobell, The death penalty; Robert A. Kushen, The death penalty and the crisis of criminal justice in Russia. In: Brooklyn Journal of International Law, 19 (1993), S. 523-581: Reinhart Maurach, Todesstrafe in der Sowjetunion. In: Osteuropa, 13 (1963) Nr. 11/12, S. 745-753; Ger van den Berg, The Soviet Union and the death penalty. In: Soviet Studies, 35 (1983), S. 154-174; Wm. Cary Quillin, The death penalty in the Soviet Union. In: American Journal of criminal law, 5 (1977), S. 225-246. 11 Catherine Merridale, Night of stone. Death and memory in Russia, London 2000. S. 172, 178-182, 357 f.; Nina Tumarkin, The living and the dead. The rise and fall of the eult of World War II in Russia, New York 1994, S. 13 f. 12 Vgl. Merridale, Night, S. 253-255. Zum Krematorium des Donskoe-Friedhofs vgl. nun Arsenij B. Roginskij, Posleslovie. In: Rasstrel'nye spiski. Moskva 1935-
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Andreas Hilger Die Entfernung von Gegnern aus Staat und Gesellschaft war von Beginn an integraler Bestandteil des bolschewistischen Projekts zur Schaffung des »Neuen Menschen«; 1 3 es umfasste immer auch die Exekution als ein Mittel der »Säuberung«. Dieser Aspekt verband sich auch in der Justizpolitik schon früh mit Vergeltungs- und Abschreckungsmotiven und blieb von einem Habitus bolschewistischer Gewaltbereitschaft und -Verherrlichung durchsetzt. 14 Diesem Konglomerat entsprang letztlich ein ständiges Neben- und Miteinander von gesetzlich normierter, justizieller Strafgewalt auf der einen und extra-legalem bzw. außer-gerichtlichem Terror auf der anderen Seite. Deren Spannungsverhältnis drückte sich in der Ko- resp. Parallelexistenz zahlreicher, immer wieder umorganisierter Sicherheitsapparate mit quasi-gerichtlichen Befugnissen neben den ab Mitte der zwanziger Jahre im Kern ausgeformten Gerichtszweigen und -instanzen aus. 1 5 Beherrschendes Merkmal 1953. Donskoe kladbisce (Donskoj krematorij). Kniga pamjati zertv politiceskich repressij, Moskau 2005, S. 565-596. 13 Vgl. Igal Halfin, Terror in my soul. Communist autobiographies on trial, Cambridge 2003, S. 2 f.; Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 15 f., 52; Merridale, Night, S. 146 f.; Anna SchorTschudnowskaja, Der Fremde. Zum Erbe eines sowjetischen Deutungsmusters. In: Osteuropa, 55 (2005), S. 87-95, hier 91. Allg. vgl. Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992: Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 2001. 14 Vgl. Stefan Plaggenborg, Stalinismus als Gewaltgeschichte. In: ders. (Hg.), Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, S. 71-112; ders., Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln 1996, S. 350 f.; Orlando Figes, Natasha's dance. A cultural history of Russia, London 2002, S. 423 ff.; Alexander N. Yakovlev, A Century of violence in Soviet Russia, New Haven 2002; Baberowski, Der rote Terror, S. 204 ff. Gegenüber diesen Kernelementen bleiben auf der einen Seite Untersuchungen, die in epochenübergieifenden Ansätzen nationalen Kontinuitäten nachspüren, auf der anderen Seite theoretische Überlegungen zur Vereinbarkeit sowjetischer Rechtswirklichkeit mit marxistischen Grundsätzen an der Oberfläche. Vgl. hierzu die Diskussion von Adams, Capital punishment, S. 25 ff., 187 ff.; Zil'cov, Smertnaja kazn'; Maria Los, Communist ideology, law and crime. A comparative view of the USSR and Poland, London 1988. Zur Todesstrafe im Zarenreich vgl. weiterhin Jörg Baberowski, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt a. M. 1996, S. 694 ff., 734 f., 762 ff.; Peter Liessem, Die Todesstrafe im späten Zarenreich: Rechtslage, Realität und öffentliche Diskussion. In: JbGO, 37 (1989), S. 492-523. 15 Vgl. Adams, Capital punishment; Lennard D. Gerson, The secret police in Lenin's Russia, Philadelphia 1976; George Leggetl, The Cheka: Lenin's political police. The All-Russian Extraordinary Commission for combating counter-revo-
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Einleitung beider Säulen war die Anleitung und Kontrolle durch die Politik, die indes in jeweils unterschiedlicher Intensität für notwendig erachtet bzw. realisiert wurde.16 Von daher waren justizielle wie außer-justizielle Mittel und Einrichtungen in ihrer systemischen Funktion trotz aller inter- und innerinstitutionellen Konkurrenz komplementär. 17 Vor diesem Hintergrund konnte es nicht ausbleiben, dass beide Sphären Elemente der jeweils anderen Dimension aufnahmen. Von Bedeutung war vor allem die Durchdringung des legalen Sektors mit Attributen und Aufgaben des Terrors: »Das Gericht«, so Lenin 1922 während der Vorbereitung des ersten nachrevolutionären russischen Strafgesetzbuchs, »soll den Terror nicht beseitigen - das zu versprechen wäre Selbstbetrug oder Betrug -, sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern. Die Formulierung muß so weitgefasst wie möglich sein, denn nur das revolutionäre Rechtsbewußtsein und das revolutionäre Gewissen legen die Bedingungen fest für die mehr oder minder breite Anwendung in der Praxis.«18 Diese Auffassung durchtränkte auch das Strafgesetzbuch von 1926, das bis 1960 seine Gültigkeit behielt.19 Institutionell kristallisierten sich im Zuge der Zeit die Militärgerichte und -kollegien zu den Gerichten heraus, die an erster Stelle für die justizielle Umsetzung entsprechender Verfahren zuständig waren. Im außergerichtlichen Bereich behielten die Sonderkommissionen des NKVD-MVD bzw. MGB (OSO) letztlich bis 1953 das Recht, die
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lution and Sabotage (December 1917 to February 1922). Oxford 1981; Nicolas Werth. Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt. Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion In: Stephane Courtois (Hg.). Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 1998, S. 45-295; Jane Burbank, Lenin and the law in revolutionary Russia. In: Slavic Review, 54 (1995), S. 23-44. Zu dieser Problematik auch Peter H. Solomon, Soviet criminal justice under Stalin, New York 1996; Adams, Capital punishment, S. 317 ff. Vgl. hierauch die Überlegungen von Oleg Khlevniuk und GaborT. Rittersporn. In: Peter H. Solomon (Hg), Reforming justice in Russia, 1864-1996. Power, culture, and the limits of legal order, Armonk NY 1997, S. 190-206 und 207-227. Brief an Dmitrij I. Kurskij vom 17.5.1922. In: W. I. Lenin und die Gesamtrussische Tscheka. Dokumentensammlung (1917-1922), Potsdam 1977, S. 636 f. Zwei Tage zuvor hatte Lenin zudem die Erweiterung der Anwendung der Todesstrafe »gegenüber allen Formen der Betätigung von Menschewiki, Sozialrevolutionären u.a.« gefordert und hierfür Formulierungen erbeten, »die diese Handlungen mit der internationalen Bourgeoisie und ihrem Kampf gegen uns in Verbindung setzt«. Brief an D. I. Kurskij vom 15.5.1922. Ebd., S. 635 f. Hervorhebungen in der Vorlage. Allerdings wurden bereits Ende 1958 neue Grundsätze der Strafpolitik erlassen.
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Andreas Hilger Erschießung der Beschuldigten anzuordnen; 2 0 gegen deutsche Zivilisten machten sie hiervon allerdings kaum Gebrauch. 2 1 In diesem hier nur grob skizzierten Gesamtkontext galt die Todesstrafe offiziell stets als ein nur »temporäres« und »außerordentliches« Instrument. 2 2 Dieser Euphemismus konnte kaum den letztlich ununterbrochenen politischen Ausnahme- und Belagerungszustand, in dem sich die bolschewistischen Machthaber und besonders Stalin sahen, übertünchen: Denn die Todesstrafe diente vor allem dazu, die von Staats wegen erkannten, besser: definierten Feinde der vermeintlichen bolschewistischen Ideal- und Harmoniegesellschaft mit allen Mitteln zu bekämpfen, potentielle Opponenten abzuschrecken und überhaupt jedes unautorisierte Denkmodell im Keim zu ersticken. 23 Die einseitige Konzentration der Todesstrafe auf den Staatsschutz wurde erst nach dem Tod Stalins aufgegeben, als im April 1954 Mord unter erschwerenden Umständen mit der Todesstrafe bedroht wurde. 2 4 Doch auch in der UdSSR Chruscevs oder Breznevs blieb die Todesstrafe 20
Beschluss GKO Nr. GKO-903ss vom 17.11.1941. In: Organy gosudarstvennoj bezopasnosti v velikoj otecestvennoj vojne. Sbornik dokumentov, Band 2, Buch 2: Nacalo. 1 sentjabrja - 31 dekabrja 1941 goda, Moskau 2000, hier S. 311; Aufzeichnung Berijas Nr. 109/B für das Präsidium CK KPSS vom 15.6.1953. In: A. I. Kokurin/A. I. Pozarov (Hg.), »Novyj kurs« L. P. Berii 1953 g. In: Istoriceskij archiv, Nr. 4/1996, S. 132-164, hier 160 f. Demnach blieb eine Anregung Berijas von Oktober 1945, die Strafkompetenzen gemäß der Vorkriegszeit zu beschneiden, folgenlos. Vorlage des NKVD Nr. 1141/b vom 1.10.1945 an Stalin. Ebd., S. 159. Vgl. insgesamt Nikita Petrov, Außergerichtliche Repressionen gegen kriegsgefangene Deutsche 1941 bis 1956. In: Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956. Hg. von KlausDieter Müller, Konstantin Nikischkin und Günther Wagenlehner, Köln 1998, S. 175-196, hier 178-181. 21 Derzeit lassen sich 8 Todesurteile der OSO nachweisen (Projektdatenbank 1). 22 Vgl. hier den Überblick von Generalstaatsanwalt und Justizminister vom 19.5.1956 (GARF, f. 8131, op. 32, d. 4578,1. 9-14), dazu die den jeweils aktuellen Strafgesetzbüchern entlehnten Definitionen der Todesstrafe in der Bol'saja Sovetskaja Enciklopedija. Moskau 1945, 1956 und 1976. 23 Kushen, The death penalty, S. 525 ff.; Maurach. Todesstrafe. 24 Maurach, Todesstrafe, S. 748. Der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets »Über Maßnahmen zur Verstärkung des Kampfes gegen besonders bösartige Erscheinungen von Banditismus unter den Häftlingen in den Besserungs-Arbeitslagern« vom 13.1.1953 hatte dagegen eindeutig den Schutz des GulagSystems im Sinn (GARF, f. R-7523. op. 58, d. 665,1. 1). Zum Dilemma der Unvereinbarkeit von allgemeinen Umerziehungsansprüchen sozialistischer Rechtslehren mit der Verhängung der Todesstrafe vgl. Scobell, The death penalty, S. 218-220; Kushen, The death penalty, S. 523-525.
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Einleitung wichtiges Instrument zum Schutz staatlicher und staatswirtschaftlicher Interessen. 25 Im Übrigen haben offenbar vergleichsweise weite Teile der Bevölkerung die Abschreckungs- und Vergeltungsideen der Führung geteilt; 26 auch im heutigen Russland wird die Kritik an der faktischen Aufhebung der Todesstrafe Ende der neunziger Jahre wieder lauter. 27 Neben die für Verfolgungen Deutscher ab 1945 relevanten Staatsschutzartikel des russischen Strafgesetzbuchs 28 trat im April 1943 der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets »Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutschen faschistischen Übeltäter, schuldig der Tötung und Misshandlung der sowjetischen Zivilbevölkerung und der gefangenen Rotarmisten, der 25
Vgl. Maurach, Todesstrafe, S. 748 ff.; van den Berg, The Soviet Union, S. 159 ff. Quillin, The death penalty, S. 236 hat zudem daraufhingewiesen, dass unter Chruscev - wie im Stalinismus - Tatbestände rückwirkend unter Todesstrafe gestellt wurden. 26 Von Interesse hier der Stimmungsbericht der CK-Verwaltung zur Überprüfung der Parteiorgane anlässlich der Aufhebung der Todesstrafe und anderer neuer Rechtsnormen vom 12.6.1947. In: Andrea Graziosi und 0. V Chlevnjuk (Hg.), Sovetskaja zizn' 1945-1953, Moskau 2003, S. 441-444. Vgl. ferner Yoram Gorlizki, Political reform and local party interventions under Khrushchev. In: Peter H. Solomon (Hg.), Reforming justice in Russia, 1864-1996. Power, culture, and the limits of legal order, Armonk NY 1997, S. 256-281, hier 267 f.; Quillin, Death penalty, S. 243 f.; Jurij Stecovskij, Istorija sovetskich repressij. Band 2, Moskau 1997, S. 141 ff.; Ger Pieter van den Berg, Russia and other CIS States. In: Capital punishment: global issues and prospects. Winchester 1996, S. 77-104, hier 88 f. Für die neunziger Jahre: Anatoli Pristawkin, Ich flehe um Hinrichtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten, München 2003, S. 373; Mikhlin, Death penalty, S. 170 f., 181; Protiv smertnoj kazni. Sbornik materialov, Moskau 1992. Für den weiteren Kontext der allg. Repressionspolitik der Stalinzeit vgl. u.a. Elena Zubkova, Russia after the war. Hopes, illusions, and disappointments, 1945-1957, Armonk NY 1998, S. 168 f. 27 Zum Stand der Gesetzgebung knapp: Kiriakova, The death penalty, S. 489-494. Vgl. ferner Kushen, The death penalty, S. 540 ff; Russia and the death penalty, 13.9.1999, http://www.fidh.org; Russia considers death penalty issue to punish terrorists, 15.9.2004, http://english.pravda.ru/main/18/88/351/14229_death. html, Death penalty: Russian Federation, November 2004, http://www.legislationline.org/index.php?country=34&org=0&eu=0&topic=8. 28 Die Urteile in Deutschland fußten ausschließlich auf dem russischen Strafgesetzbuch. Dessen Vorschriften finden sich - mit anderer Zählung - auch in den Strafgesetzbüchern der anderen Unionsrepubliken. Vgl. A. V. Kiselev, L. N. Kudrjavcev und G. R. Smolickij, SravnitePnaja tablica statej ugolovnych kodeksov sojuznych respublik. Hg. von Ivan T. Goljakov, Moskau 1942; Dmitrij S. Karev (Hg.), Ugolovnoe zakonodatel'stvo SSSR i sojuznych respublik. Sbornik, Moskau 1957.
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Andreas Hilger Spione, der Vaterlandsverräter unter den sowjetischen Bürgern und deren Mithelfern«.29 Begründet wurde der Erlass mit den bekannt gewordenen »Fakten beispielloser Gräuel und ungeheuerlichen Gewalttaten«, die deutsche (rumänische, italienische usw.) Soldaten und ihre sowjetischen Kollaborateure gegen sowjetische Zivilisten und Rotarmisten begangen hatten und für die die existierenden Strafen »ganz offenkundig [...] nicht angemessen« seien.30 Das im Ukaz festgelegte Strafmaß - die öffentliche Hinrichtung durch den Strang - sollte abschreckend wirken und kam zugleich dem Vergeltungsbedürfnis der sowjetischen Führung wie weiter Teile der Bevölkerung entgegen.31 Der Erlass zielte dabei nicht nur auf die legitime Ahndung von Kriegs- und Gewaltverbrechen. Er war zugleich als Mittel konzipiert, in den befreiten und noch zu befreienden sowjetischen Gebieten die Wiederherstellung der sowjetischen Staatsgewalt mit einer umfassenden Generalabrechnung mit dem angeblich erwiesenen oder auch nur potenziellen »inneren« politischen Feind zu verknüpfen.32 Damit war der Ukaz 43 Mittel einer erneuten Säuberung, die dem »Soviet strive for purity« entsprang und das Land dem großen Ziel einer kommunistischen Gesellschaft näher bringen sollte.33 Somit war die politische Instrumentalisierung auch der strafrechtlichen Bewältigung von Kriegs-, Besatzungs- und Gewaltverbrechen im Ukaz mit angelegt. Inwieweit diese politische Justiz im Allgemeinen und die Todesstrafe als Bündelung bolschewistischer Glaubenssätze, Grundüberzeugungen und Dispositionen im Besonderen in großem Stil auch außerhalb der UdSSR
29 GARF, f. R-7523, op. 67, d. 6. Übers, u. a. bei Manfred Zeidler, Stalinjustiz contra NS-Verbrechen. Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR in den Jahren 1943-1952. Kenntnisstand und Forschungsprobleme, Dresden 1996, S. 55 f. Vgl. Andreas Hilger. Nikita Petrov und Günter Wagenlehner, Der »Ukaz 43«: Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943. In: Sowjetische Militärtribunale. Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941-1953. Hg. von Andreas Hilger, Ute Schmidt und Günther Wagenlehner, Köln 2001, S. 177-210. 30 Ebd. Von Zeidler abweichende Übersetzung nach dem Archivexemplar. Vgl. dazu Malenkov an Stalin vom 9.4.1943 (Präsidentenarchiv [AP RF], f. 3, op. 50, d. 540,1. 124-126). 31 Vgl. Hilger/Petrov/Wagenlehner, Der»Ukaz43«, S. 181. 32 Ebd., S. 181-183. 33 Vgl. hierzu Amir Weiner, Making sense of war. The Second World War and the fate of the Bolshevik revolution, Princeton 2001, S. 133-190, Zitat S. 170.
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Einleitung und außenpolitisch wirksam werden konnte, 3 musste die weitere Entwicklung erst noch zeigen.
III. Der weitere Verlauf des Zweiten Weltkriegs ermöglichte der UdSSR den extensiven Justiz- und Werteexport. Mit ihren Sommeroffensiven erreichte die Rote Armee 1944 die (zukünftigen) Westgrenzen der Sowjetunion. Anfang 1945 überschritten die sowjetischen Frontverbände endgültig die Ostgrenzen Deutschlands und drangen schließlich bis Berlin vor. Die Rote Armee wurde auch im Ausland von speziellen Sicherheitsapparaten - den organy (oder Organen) - begleitet, die Schlagkraft, Zuverlässigkeit und Sicherheit der Kampf- und Besatzungstruppen gewährleisten sollten. Hierzu zählten die Inneren Truppen des Volkskommissariats für Inneres (NKVD, seit März 1946 als Ministerium MVD), Angehörige des Volkskommissariats für Staatssicherheit (NKGB, seit März 1946 MGB) sowie die Spionageabwehrabteilungen der Volkskommissariate für Verteidigung und der Marine (NKO resp. NKVFM), die Smers (Akronym aus: smert' spionam = Tod den Spionen). 35 Der offiziellen Überlieferung zufolge hatte übrigens Stalin selbst maßgeblichen Anteil an der Namensfindung für diese 1943 neu geschaffene Spionageabwehr. Er soll gegen den Vorschlag, die neue Institution »Tod den deutschen Spionen« zu nennen, eingewandt haben, dass auch »andere Aufklärungsorgane gegen unsere Armee« arbeiteten. 36 Die Smers wurden schließlich im Frühjahr 1946 in das MGB eingegliedert. Das MGB wiederum erhielt im August desselben Jahres die alleinige Zuständigkeit für die »operativ-tschekistische Arbeit« in Deutschland und damit die Kompetenz für »Verhaftungen wegen politischer Vergehen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands«.37
34 Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Zahl der Verfahren gegen Kriegsgefangene im Vergleich zu den Prozessen gegen sowjetische Bürger bis 1945 nur gering war. Vgl. Anm. 32; Weiner, Making sense, S. 152. 35 Vgl. hierzu Hilger/Petrov, Erledigung, S. 76-80. 36 M. M. Gorinov, »Smers«. Istoriceskie ocerki i archivnye dokumenty, Moskau 2003, S. 65. Er stützt sich hier auf eine 1979 publizierte Darstellung von S. Z. Ostrjakov. 37 Beschluss des Politbüro CK VKP (b) vom 20.8.1946. In: Nikita Petrov, Die Apparate des NKVD/MVD und des MGB in Deutschland 1945-1953. Eine historische Skizze. In: Alexander von Plato (Hg.), Sowjetische Speziallager in
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Andreas Hilger Die genannten Organe bereiteten so in Deutschland - jedes für sich - die Verfahren vor, die von Militärtribunalen der Roten (ab 1946: Sowjetischen) Armee und des Transportwesens, in Ausnahmefällen von Tribunalen des NKVD-MVD oder des MGB, dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR oder von der quasi-gerichtlichen Sonderkonferenz (OSO) von NKVD-MVD und MGB verhandelt wurden.38 Die überwiegende Mehrheit der jeweiligen Gerichtsverhandlungen fand in Deutschland selbst statt. In einigen Hundert Fällen wurden Zivilisten aus der SBZ/DDR allerdings auch in der UdSSR selbst verurteilt. Neben Revisions- und Erstprozessen vor dem höchstinstanzlichen Militärkollegium des Obersten Gerichts handelte es sich in diesen Fällen einmal um deportierte deutsche Internierte, »Spezialisten« oder Verurteilte, die in Lagern der GUPVI, des GULAG oder in Spezialobjekten festgehalten wurden und wegen dortiger Vergehen und Handlungen (erneut) vor Gericht gestellt wurden. Daneben verbrachten die Organe gerade bei Ermittlungen zu nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen Verhaftete zur Fortführung der Untersuchungen in die UdSSR und ließen sie dann dort von Militärgerichten aburteilen.39 Die entsprechenden Instanzenzüge und Ermittlungswege lassen sich bei der gegebenen Quellenlage erst für die 1950er Jahre durchweg genauer rekonstruieren. Das gilt auch für das Begnadigungswesen. Während sich das Prozedere der 1950er Jahre detailliert nachvollziehen lässt, ist für die 1940er Jahre derzeit noch ungeklärt, in welchen Fällen Gnadengesuche überhaupt bis zum grundsätzlich zuständigen Präsidium des Obersten Sowjets gelangten. Nach geltender Rechtslage wurde zunächst einmal nur auf der Grundlage des Gesetzes vom 1. Dezember 1934 abzuurteilenden »Terroristen« die Möglichkeit verwehrt, ein Gnadengesuch einzureichen.40 Der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets über die Bestätigung der Verordnung über Militärtribunale vom 22. Juni 1941 sah allerdings keinerlei Regelung für die Behandlung von Gnadengesuchen vor.41 Außerdem erhielten die Kriegsräte der Fronten »in besonders außergewöhnlichen Fällen« bereits am 27. Juni 1941 das Deutschland 1945 bis 1950, Band 1: Studien und Berichte, Berlin 1998, S. HSIS?, hier 147. 38 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung, S. 108-113. 39 Ebd.. S. 113-115. 40 Verordnung des Präsidiums des CIK SSSR vom 1.12.1934 und Gemeinsame Verordnung von CIK/SNK SSSR vom 1.12.1934. In: Sbornik zakonodatel'nych i normativnych aktov o repressijach i reabilitacii zertv politiceskich repressij, Moskau 1993, S. 33 f. 41 Abgedr. in: Skrytaja pravda vojny: 1941 god, Moskau 1992, S. 55-58. Dazu der Ukaz vom 22.6.1941 über den Kriegszustand, Pkt. 7-9. Ebd., S. 52-55.
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Einleitung Recht zur »Bestätigung von Urteilen von Militärtribunalen zur Höchststrafe mit unverzüglicher Vollstreckung dieser Urteile«. 42 Dieses Recht, das die Behandlung von Gnadengesuchen faktisch weitgehend unmöglich machte, wurde innerhalb weniger Monate jeweils auf Initiative Andrej Ja. Vysinskijs auch Kriegsräten der Armeen, Korps- und Divisionskommandeuren sowie Divisionskommissaren zugestanden. 4 3 Darüber hinaus legen die Unterlagen der MVD-Abteilung Speziallager nahe, dass in der ersten Nachkriegszeit die Behandlung von Gnadengesuchen durch das Präsidium des Obersten Sowjets nicht nur von vereinfachten Verfahrensregeln eingeschränkt wurde. So beklagte die Abteilungsleitung 1946, dass einige Gefängnisleiter Begnadigungsgesuche zu spät, 44 mitunter offenbar gar nicht weiterleiteten. 45 Die zum Tode Verurteilten mussten so monatelang auf eine endgültige Entscheidung über ihr Schicksal warten. In Einzelfällen haben Operativgruppen Todesurteile anscheinend schon vor der Bestätigung durch den Kriegsrat vollstreckt. 46 Die ab Juni 1941 festgelegten Verfahrensregeln »der Kriegszeit« 47 wurden auch in Deutschland beachtet. Offiziell urteilten Militärtribunale in
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Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27.6.1941. In: A.A. Pecenkin, Po zakonam voennogo vremeni. Ijun' - dekabr' 1941 g. In: Istoriceskij archiv, (2000) Heft 3. S. 33-43, hier 34 f. Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13.7. und 8.9.1941 sowie entsprechende Vorschläge Vysinskijs an Molotov. Ebd., S. 3537. Zum Bestätigungsprozedere vgl. auch den Bericht des Staatsanwalts der UdSSR, Viktor M. Bockov, des Stellv. NKVD, Kruglov, sowie des Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts, Vasilij V Ul'rich, vom 6.2.1942 an Berija. In: Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov, Band 1: N. Vert/S. V Mironenko (Hg.), Massovye repressii v SSSR, Moskau 2004, S. 433. Oberst Sviridov an die Leiter der Lager/Gefängnisse Nr. 4, 6, 7, 10 vom 14.3.1947 (GARF, f. 9409, op. 1, d. 388,1. 4; dazu d. 212,1. 1-3). Akte Lohmeyer (HAIT-Archiv/Archiv StSG). In anderen Fällen hatte die Verwaltung schlicht die Übersicht über die Gefangenen verloren und konnte Urteilsmilderungen nur mit großen Verzögerungen weiterleiten (beispielsweise GARF, f. 9409, op. 1, d. 215, 1. 52-65; d. 408, I. 104; d. 779, 1. 109 f.; d. 780, 1. 124 ff.). Probleme mit der Militärstaatsanwalt dagegen im Schreiben des Lagerleiters Nr. 10. Oberstleutnant Seredenko, an den Leiter der MVD-Abteilung Speziallager, Sviridov, vom 1.12.1946 (GARF, f. 9409, op. 1, d. 788). Opergruppe an das Speziallager Nr. 7 vom 23.5.1946 (GARF, f. 9409, op. 1, d. 786). Auszug aus dem Protokoll Nr. 8 der Sitzung des Büros des CK-Präsidiums vom 5.2.1953 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 42,1. 1).
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Andreas Hilger Deutschland erst ab Februar 1953 nach den »Gesetzen der Friedenszeit«. Die Gnadenverfahren für zum Tode Verurteilte waren indes unabhängig von dieser Rechtslage schon Anfang 1950 mit Wiedereinführung der Todesstrafe reorganisiert worden. Ab diesem Zeitpunkt durchliefen tatsächlich nur noch jene Fälle nicht das Präsidium des Obersten Sowjets, in denen die Verurteilten bewusst auf ein Gesuch verzichtet hatten. Sowjetische Behörden und Wächter legten indes großen Wert darauf, dass Gesuche eingereicht wurden.49 Ein Abgleich der Gnadenprotokolle und der Erschießungslisten des MGB ergab für die Jahre 1950 bis 1954 nur zwei Fälle, in denen zum Tode verurteilte Deutsche kein Gnadengesuch geschrieben hatten. Es blieb allerdings zunächst bei langwierigen Verzögerungen in der Behandlung von Gnadengesuchen: »Ich halte es für notwendig«, schrieb der Vorsitzende des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, A. A. Cepcov, am 2. August 1950 an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Svernik, »Ihnen zu berichten, dass sich in der letzten Zeit die Anfragen verschiedener Gefängniseinrichtungen an das Militärkollegium mit der Bitte um Beschleunigung der Entscheidung der Fälle von Personen, die zum Tode verurteilt wurden, gehäuft haben. Außerdem«, so fuhr Cepcov fort, »treffen im Militärkollegium Erklärungen der zum Tode Verurteilten selbst ein, mit der Bitte zur Beschleunigung der Entscheidung ihrer Fälle. [...] Ich bitte Sic, die Prüfung der Gnadengesuche der zum Tode Verurteilten zu beschleunigen.«50 Die Hinrichtungen selbst erfolgten in aller Regel durch Erschießen und geheim. In den Jahren 1945 bis 1947 haben die sowjetischen Apparate der Wahl der Hinrichtungsorte offenbar zunächst keine besondere Bedeutung 48 Ebd. Die zeitgenössischen Begründungen konzentrieren sich indes darauf, dass die Verurteilten mit der Neuregelung die Möglichkeit erhielten, Berufung einzulegen. Vysinskij/Gorsenin/Safonov/Volin/Sokolovskij an Stalin vom 29.1.1953 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 42, 1. 2 f.). Eine Sonderregelung für Urteile nach Art. 58,7 und Art. 58,9 StGB RSFSR, die auch in Friedenszeiten keine Kassationsbeschwerde zuließ, blieb für Verhandlungen der SMT in Deutschland irrelevant. Beschluss der CIK UdSSR vom 14.9.1937, aufgehoben durch Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19.4.1956. Sbornik zakonodatel'nych i normativnych aktov, S. 34. 49 Vgl. u.a. Erica Wallach, Licht um Mitternacht. Fünf Jahre in der Welt der Verfemten, München 1967, S. 232-234. 50 Schreiben Nr. 0013038 vom 2.8.1950 (GARF, f. R-7523, op. 66. d. 125,1. 1 f.). Hinsichtlich der in Deutschland Verurteilten hatte zumindest das MID noch im Juli 1951 neue, einheitliche Regeln für die Übersendung der Gnadengesuche nach Moskau vorgeben müssen. Chiffretelegramm Semicastnov/Semenov Nr. 8/1362 vom 4.10.1951 (AP RF, f. 3, op. 64, d. 805,1. 65-69).
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Einleitung beigemessen. So kam es, dass Deutsche nach einem Todesurteil in Erwartung der Urteilsbestätigung zum Teil in allgemeinen Deportationszügen aus der SBZ nach Brest verbracht und dort erschossen wurden. 51 Parallel dazu fanden die Hinrichtungen der in der UdSSR selbst zum Tode verurteilten Zivilisten in den (Gerichts-)Gefängnissen der entsprechenden Städte statt. Die überwiegende Mehrheit der Todesurteile wurde 1945 bis 1947 allerdings auf deutschem Gebiet vollstreckt. Die genauen Hinrichtungsorte liegen wie die Grablagen der Verurteilten im Dunkeln. Erst mit Wiedereinführung der Todesstrafe 1950 entschied sich das für die Urteilsvollstreckungen verantwortliche MGB für eine zentralisierte Verfahrensweise: Alle in Deutschland zum Tode Verurteilten wurden zur Hinrichtung nach Moskau verbracht und dort im Butyrka-Gefängnis erschossen;52 nur die Erschießungen der im Gulag Verurteilten erfolgten weiterhin in den nächsten regionalen Zentren.
IV. Es sind nicht nur diese unterschiedlichen Vorgehensweisen, die bereits die statistische Erfassung der von sowjetischen Tribunalen zum Tode verurteilten deutschen Zivilisten erschweren. Darüber hinaus unterschieden die für die statistische Auswertung maßgeblichen sowjetischen Quellen für die Jahre 1945/1947 nicht immer klar zwischen Kriegsgefangenen und Zivilisten bzw. definierten zivile Gefangene entgegen völkerrechtlichen Standards als 51 Anatolij V Sarkov, Archipelag GUPVI na territorii Belarusi 1944-1951 gg., Minsk 2003, S. 146 f.; Peter Erler, Besatzungsjustiz in der SBZ/DDR. In: Elke Fein, Von Potsdam nach Workuta. Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge, Potsdam 1999, S. 15-30, hier 23. Schriftverkehr der Abteilung Speziallager 1946 (GARF, 9409, op. 1, d. 145,1. 284; d. 780,1. 157-160); Deportationslisten der Abteilung Speziallager 1945 (ebd., d. 705, 708 f., 721). Gnadenentscheidungen des Präsidiums des Obersten Sowjets, Urteilsbestätigungen oder Vollstreckungsanordnungen wurden in derlei Fällen nach Brest gesandt (GARF, f. 9409, op. 1, d. 721). 52 Das MGB hat offenbar zum Tode Verurteilte - darunter auch Ausländer - für Menschenversuche missbraucht. Es scheint, dass sich unter den betroffenen Deutschen keine Zivilisten befanden. Vgl. Wladimir Bobrenjow/Waleri Rjasanzew, Das Geheimlabor des KGB. Gespenster der Warsanowjew-Gasse, Berlin 1993, S. 55 f., 162-169; Vadim J. Birstein, The perversion of knowledge. The true story of Soviet science, Cambridge 2001, S. 127 ff.
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Andreas Hilger
Kriegsgefangene; in derlei Fällen erlauben die vorliegenden knappen biographischen Angaben nur vorsichtige Rückschlüsse auf den tatsächlichen Status der Verurteilten. Aus diesem Grund wurden Angaben zu 115 in den Jahren 1945 bis 1947 verurteilte Personen nicht in die hier erarbeitete Gesamtstatistik aufgenommen, auch wenn sie nicht in den - leider nicht ganz vollständigen - Karteien des MVD über verurteilte Kriegsgefangene nachweisbar sind. 54 Daneben bereitete mitunter das sowjetische Verständnis des Begriffs »Deutsche(r)« Probleme, da nicht immer deutlich zwischen Nationalität und Staatsbürgerschaft unterschieden wurde. Das gilt besonders für die ersten Monate der Tätigkeit sowjetischer Tribunale auf deutschem Boden, das heißt ab Januar/Februar 1945. Da im Mittelpunkt der hier vorgelegten Untersuchungen die Gerichtsverfahren stehen, die im Zusammenhang mit der sowjetischen Besatzung der SBZ/DDR gegen deutsche Staatsbürger durchgeführt wurden, bleiben Todesurteile gegen so genannte Volksdeutsche in Südost- und Mitteleuropa oder gegen Deutsche in den Ostgebieten des ehemaligen Reichs weitgehend ausgeklammert. 5 5 Mit Blick auf den Beginn der so genannten »Berliner Operation« der Roten Armee (16. April 1945) und die Neuorientierung der sowjetischen Internierungspolitik (18. April 1945) wird dabei der 18. April 1945 als Beginn der mit der Besatzung der SBZ/ DDR im Zusammenhang stehenden Verurteilungen deutscher Zivilisten betrachtet, auch wenn die Zonen- und Besatzungsorganisation erst Anfang Juni offiziell festgelegt wurde. 5 6 Vor dem 18. April lassen sich derzeit, beginnend mit dem 13. Februar 1945, 335 verhängte Todesurteile gegen Deutsche nachweisen. 57 Daneben wurden Todesurteile gegen Deutsche nach
53 Vgl. Hilger/Schmeitzner, Einleitung, S. 15. 54 Projektdatenbank 4. Auf diese Weise erhöht sich die Zahl der nachweislich zum Tode verurteilten Kriegsgefangenen: Hier ließen sich bislang 218 Todesurteile belegen, Schätzungen gingen von nicht mehr als sieben- bis achthundert Hinrichtungen insgesamt aus. Hilger/Schmidt/Wagenlehner, Einleitung. In: Sowjetische Militärtribunale 1, S. 7-21, hier 13. 55 Die entsprechenden Zuschreibungen gelingen aufgrund der Quellenlage gerade für die Monate April bis Juni zum Teil nur annäherungsweise. So sind die Angaben über die urteilenden Tribunale zum Teil lückenhaft, eine flächendeckende Zuordnung über Wohn- oder Geburtsorte unmöglich. 56 Vgl. hier den Überblick bei Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999, S. 7585. 57 Projektdatenbank 2. In 251 Fällen ist eine Urteilsvollstreckung bzw. die Ablehnung eines Gnadengesuchs, in nur 13 Fällen eine Revision resp. Begnadigung nachweisbar.
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Einleitung dem 18. April 1945 ausgeklammert, soweit sie etwa in Polen, in der Tschechoslowakei oder in Österreich gefällt wurden (insgesamt 41 verhängte Todesurteile58). Angesichts der bereits geschilderten Ermittlungs- und Verhandlungspraxis wurden Prozesse in der UdSSR selbst allerdings in die vorliegenden Untersuchungen einbezogen.59 Einen letzten Sonderfall sowjetischer Strafurteile, der hier nicht weiter behandelt wird, stellen Verfahren gegen so genannte Russland-Deutsche dar, die ggf. im Krieg die deutsche Staatsbürgerschaft annahmen und nach der Identifizierung durch Smers, NKVD-MVD oder NKGB-MGB als »Vaterlandsverräter« (Artikel 58-1 a + b) oder Kollaborateure und Kriegsverbrecher (Ukaz 43) verurteilt wurden (43 Fälle ab März 1945).60 Unter Beachtung dieser Einschränkungen lassen sich heute für den Zeitraum vom 18. April 1945 bis Ende 1955 - im Oktober 1955 endete die Spruchtätigkeit sowjetischer Gerichte gegen Deutsche 61 - 2 943 Todesurteile sowjetischer Gerichte gegen Deutsche nachweisen:62 unter den Verurteilten befanden sich 132 Frauen. Das letzte Todesurteil überhaupt datiert vom 20. Januar 1954. Von diesen knapp 3 000 Urteilen wurden 1 609 sicher vollstreckt; diese Zählung erfasst auch acht Verurteilte, die bei Fluchtversuchen erschossen wurden und Einzelfalle, in denen Verurteilte, deren Gnadengesuche abgelehnt wurden, noch vor einer Hinrichtung ihren Krankheiten erlagen.63 Die 58 Projektdatenbank 5 Davon mindestens 23 und höchstens 30 vollstreckt. 59 Vgl. Tabelle 6 im Anhang: Es handelt sich - ohne die acht OSO-Urteile - um 77 Fälle. Die Auswertung potentieller Archivbestände zu Verurteilungen Deutscher in den nicht-russischen Republiken bleibt im Übrigen ein Forschungsdesiderat. 60 Projektdatenbank 6. Bei diesem Personenkreis handelt es sich im Übrigen zum Teil möglicherweise wiederum um Kriegsgefangene. Diese Fälle wurden nur unvollständig recherchiert. Das Gleiche gilt für die bereits als Untersuchungsgegenstand ausgeschlossenen Todesurteile gegen Volksdeutsche mit tschechischer, rumänischer, ungarischer oder jugoslawischer Staatsbürgerschaft: Hiervon wurden nur 20 Fälle registriert (Projektdatenbank 6). 61 Vgl. Hilger/Petrov, Erledigung. S. 59. 62 In 52 der hier angeführten Fälle werden Hingerichtete in Lagerjournalen des Speziallagers Bautzen als Internierte geführt. Für einige lassen sich in Parallelüberlieferungen Urteile nachweisen. Von daher wird auch für die übrigen Personen angenommen, dass sie aufgrund von Gerichtsurteilen und nicht aufgrund operativer Befehle hingerichtet wurden. 63 Vgl. zum versuchten Ausbruch von 5 Verurteilten den Bericht der Garnison des Gefängnisses Lichtenberg vom 10.10.1946: 4 Häftlinge wurden erschossen, einer schwer verwundet. (RGVA, f. 32925, op. 1, d. 102, 1. 139 f.). Dagegen verstarb Max St. in Lichtenberg am 6.7.1951 an Tuberkulose. Der MGB-Bevoll-
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Andreas Hilger Todesurteile von 661 Deutschen wurden aufgrund von Revisionsentscheidungen höherer Instanzen 64 oder Begnadigungen nachweislich in Zeitstrafen umgewandelt. Hierbei lag der Anteil von höherinstanzlichen Urteilsänderungen ungleich höher: 1953, vor allem aber 1947 passten das Militärkollegium des Obersten Gerichts bzw. das SMT der SMAD die Spruchpraxis der unteren Ebenen sofort an die allgemeine Milderung in der Repressionspolitik nach Stalins Tod (1953) bzw. die Abschaffung der Todesstrafe (1947) an und änderten schematisch noch nicht vollstreckte Todesurteile der Vormonate in (meist) 25-jährige Haftstrafen um. 65 Nur zwei der hier erfassten Verurteilten gelang die Flucht. Ein Verurteilter verübte Selbstmord, 13 verstarben zwischen Urteilsverkündung und -Vollstreckung in Haft, ohne dass wir über eine mögliche Gnadenentscheidung informiert sind. Für weitere 614 Verurteilte lässt sich aufgrund verstreuter Quellenaussagen eine Hinrichtung annehmen, bei 59 Personen ist sie eher auszuschließen. Auf diese Weise sind heute 2 223 Todesurteile sowjetischer Gerichte gegen Deutsche dokumentiert, die 1945 bis 1955 im Kontext der sowjetischen Besatzungsherrschaft in der SBZ/DDR verhängt und vollstreckt wurden. Diese Zahl liegt weit über bisherigen Erkenntnissen 66 und deutlich unter einzelnen Schätzungen vergangener Jahre, die von mindestens fünftausend Hinrichtungen ausgingen.67 Die recht erhebliche Diskrepanz zwischen früheren Schätzungen und den nun vorgelegten Zahlen ergibt sich zu einem beträchtlichen Teil aus den hier beachteten, bereits beschriebenen geographischen und vor allem zeitlichen Beschränkungen. Mögliche Erfassungslücken etwa hinsichtlich der in
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mächtigte in Deutschland meldete den Tod erst am 3.11.1951 nach Moskau. Unterdessen war das Gnadengesuch von St. am 3.10.1951 abgelehnt worden (CA FSB, f. 7, d. 251,1. 313 f.; Projektdatenbank 1 Nr. 2587). Auch: Fall Kurt B. (Projektdatenbank 1 Nr. 212). Vgl. die Anmerkungen zu Tabelle 1. Zu Instrument und Begrifflichkeit vgl. Martin Fincke, Die aufsichtliche Überprüfung rechtskräftiger Strafurteile im Sowjetrecht, Herrenalb 1966. Vgl. Tabellen 4 a+b im Anhang. Die vollständigste Aufstellung bislang hatte 1 963 Todesurteile erfasst, von denen mindestens 1 201 vollstreckt worden waren. Vgl. Hilger/Schmeitzner, Einleitung, S. 23. Auf der Basis einer Schätzung der Zahl von Erschießungsprotokollen: Petrov, Außergerichtliche Repressionen, S. 193. Vgl. ferner Grit Gierth/Bettina Westfeld, Zur Tätigkeit sowjetischer Militärtribunale in Sachsen. In: Sowjetische Militärtribunale 2, S. 539-570, hier 554; Ralf Possekel, Einleitung: Sowjetische Lagerpolitik in Deutschland. In: Sowjetische Speziallager 2, S. 15-110, hier 47 f. Vgl. weiterhin Anm. 4.
Einleitung Speziallagern, in der UdSSR oder gerade in Bezug auf die 1945 und 1946 Verurteilten sind keineswegs auszuschließen, sollten aber angesichts der ausgewerteten Datenbestände 6 8 nicht zu hoch veranschlagt werden; sie sind, wie Stichproben in den Erschießungsprotokollen des Zentralarchivs des FSB ergeben haben, insbesondere für die Jahre 1950 bis 1954 nahezu vollständig auszuschließen. 6 9 Bisherige Diskussionen um die Zahl der Opfer des Stalinismus haben schließlich gezeigt, dass sowjetische Daten in der Regel eher niedrigere Schätzungen validieren; 70 das traf im Übrigen auch auf die Gesamtzahl der Verurteilungen Deutscher zu. 71 Trotzdem sind die hier ermittelten Gesamtdaten natürlich als Untergrenze anzusehen. Unter Berücksichtigung der potentiellen Erhebungslücken und früherer Forschungsergebnisse ist anzunehmen, dass die Zahl der vollstreckten Todesurteile zwischen 2 500 und 3 000 lag, und dass damit die Zahl der verhängten Todesurteile auf etwa 3 300 bis 3 800 zu schätzen ist. Dies bedeutet, dass von den von sowjetischen Gerichten 1945 bis 1955 gegen deutsche Zivilisten verhängten 35 000 Urteile zwischen neuneinhalb 68 Vgl. Abschnitt I. Ein Projekt des BStU zur Erfassung der dort registrierten SMTUrteile wird, soweit es erste Stichproben und Arbeitsbesprechungen ergeben haben, quantitativ keine wesentlichen Ergänzungen erbringen können. Das Projekt selbst wurde kurz vorgestellt: Ilko-Sascha Kowalczuk/Regina Teske, Unbekannter Widerstand. Politische Gegnerschaft in der DDR 1949 bis 1989. Ein Datenprojekt. In: DA, 37 (2004), S. 839-845. 69 Diese wurden im Rahmen eines Projekts zur Erstellung eines Totenbuchs durchgeführt. Für die ausführlichen Auskünfte hierzu möchte ich mich herzlich bei Herrn Jörg Rudolph, Facts & Files, Berlin, bedanken Eine vollständige Auswertung dieser Protokolle erscheint angesichts der aktuellen Archiv- und Geschichtspolitik Russlands in näherer oder mittlerer Zukunft unwahrscheinlich. Vgl. auch den Beitrag Petrov in diesem Band. 70 Zusammenfassend mit Angabe relevanter Literatur Michael Ellman, Soviet repression statistics: some comments. In: Europc-Asia Studies, 54 (2002), S. 1151-1172. 71 Vgl. in diesem Kontext auch Probleme, die bei der Verifizierung der gängigen Überlieferung von insgesamt 18 Todesurteilen, die im Zusammenhang des 17. Juni 1953 von sowjetischen Tribunalen gegen Deutsche ausgesprochen worden sein sollten, auftraten. Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Hg. von Edda Ahrberg, Hans-Hermann Hertle und Tobias Hollitzer. Münster 2004, besonders S. 193 ff.; Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt, Widerstand und Willkür. Studien zur sowjetischen Strafverfolgung parteiloser Zivilisten in der SBZ/DDR 1945-1955. In: Sowjetische Militärtribunale 2, S. 193-264, hier 214-218. Zum Mythos der ebenfalls erschossenen sowjetischen Soldaten vgl. u.a. Boris L. Chavkin, Berlinskoe zarkoe leto 1953 goda. In: Novaja i novejsaja istorija, (2004) Nr. 2, S. 159-174, hier 166 f.
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Andreas Hilger Tabelle 1: Todesurteile gegen deutsche Zivilisten, 1945-1955
Jahr
verhängte Todesurteile
vollstreckte Todesurteile sicher/wahrscheinlich
nicht vollstreckdavon: te Todesurteile nachgewiesene sicher/wahrBegnadigungen scheinlich
absolut 1945
825
307/411
84/23
21
1946
6ö2
327/157
152/26
21
1947
299
11/19
263/6
14
1945-1947
1786
645/587
499/55
56
77
1950
183
17 76 /-
12 /-
8
1951
483
451 7 8 /-
32/-
27
1952
379
326/-
53/-
43
1953
65
11/-
54/-
16
1954
2
1
-l\
ü
1955
0
0
0
0
1950-1955
1112
960/-
151/1
94
ohne
45
4/27
11/3
3
insgesamt
2943
1609/614
661/59
153
72 Davon 2 auf der Flucht erschossen. 73 Davon 1 geflohen, 10 zwischen Urteil und Vollstreckung verstorben (Begnadigungs-/Revisionsentscheidungen unbekannt). 74 Davon 6 auf der Flucht erschossen. 75 Davon 1 geflohen, 1 Selbstmord und 2 zwischen Urteil und Vollstreckung verstorben (Begnadigungs-/Revisionsentscheidungen unbekannt). 76 1 Verurteilter mit abgelehntem Gnadengesuch an einer Krankheit verstorben. Vgl. Anm. 63.
26
Einleitung
nicht vollstreckt (sicher + wahrscheinlich)
davon: vollstreckt nachgewiesene (sicher + wahrRevisionen scheinlich)
absolut 54
7
71872 74
Anteil an verhängten Urteilen in %
absolut
Anteil an verhängten Urteilen in %
87,0
10773
13,0
73,1
75
26,9
121
484
248
30
10,0
269
90,0
423
1232
69,0
554
31,0
2
171
93,4
12
6,6
5
451
93,4
32
6,6
10
326
86,0
53
14,0
38
11
16,9
54
83,1
0
1
50,0
1
50,0
0
0
0
0
0,0
55
960
86,3
152
13,7
5
31
68,9
14
31,1
483
2223
75,5
720
24,5
178
1 Verurteilter zwischen Urteil und Vollstreckung bzw. nach Ansetzen einer Neuverhandlung verstorben (neue Begnadigungs-/Revisionsentscheidungen unbekannt resp. nicht gefällt, daher nicht bei nachgewiesenen Revisionen erfasst). Ein Verurteilter in Lagerhaft verstorben, ohne dass Angaben zu einem Revisions- oder Begnadigungsverfahren vorliegen. "8 41 Verurteilter mit abgelehntem Gnadengesuch an einer Krankheit verstorben. Vgl. Anm. 63. 7
27
Andreas Hilger Tabelle 2: Verurteilungen deutscher Zivilisten durch SMT/OSO, 1945 bis 1955 Jahr
dokumentierte Gesamtzahl79
darunter verhängte Todesurteile
darunter vollstreckte Todesurteile
absolut
%
absolut
%
1945
1360
825
60,7
718
52,8
1946
4711
662
14,1
484
10,3
1947
4723
299
6.3
30
0,6
1945-1947
10 794
1786
16,5
1232
11,4
1950
2 830
183
6,5
171
6,0
1951
1621
483
29,8
451
27,8
1952
1122
379
33,8
326
29,1
1953
331
65
19,6
11
3,4
1954
29
2
6,9
1
3,4
1955
6
0
0,0
0
0,0
1950-1955
5 939
1 112
18,7
960
16,2
insgesamt
16733
2 943 80
17,6
2 22381
13,3
und elf Prozent Todesurteile waren. Anders ausgedrückt: bis zu 8,5 Prozent der von sowjetischen Gerichtsinstanzen verurteilten deutschen Zivilisten wurden hingerichtet (vgl. Tabelle 2). Bemerkenswert ist dabei auch der hohe Anteil von Deutschen unter den von sowjetischen Gerichten insgesamt aufgrund politischer Artikel zum Tode verurteilten sowjetischen und ausländischen Bürgern: Er lag beispielsweise den offiziellen Zahlen 8 2 zufolge in den 1950er Jahren bei über 17 Pro79
Zugrundegelegt wurde hier die Gesamtverteilung nach Jahren, ergänzt/reduziert um die Zahl der neu ermittelten/zu subtrahierenden aktuellen Daten zu Todesurteilen gemäß der Aufschlüsselung von 25 134 dokumentierten Fällen nach Strafmaß: Sowjetische Militärtribunale 2, S. 20, 794. 80 Inklusive 45 Todesurteile ohne Jahresangabe. 81 Inklusive 31 vollstreckte Todesurteile ohne Jahresangabe. 82 Diese sind für die Jahre ab 1950 als weitgehend vollständig anzusehen. Für die Jahre 1945-1947 u.a. ist allerdings unklar, inwieweit etwa Todesurteile gegen sowjetische Bürger nach Ukaz 43 in den NKVD-Statistiken enthalten sind; die
28
Einleitung zent! (Vgl. Tabelle 3.) Dies ist ein weiterer Beweis für den hohen Stellenwert der sowjetischen Besatzungszone/DDR für die sowjetische Politik sowie für die Aussagekraft der Analyse von Verurteilungen Deutscher für die gesamte sowjetische Justizlandschaft. Tabelle 3: Gesamtangaben zu Todesurteilen in der UdSSR, 1945 bis 1955
Jahr
Gesamtzahl (vollstreckter) Todesurteile in Ermittlungsverfahren von NKVDMVD/MGB 83
Gesamtzahl verhängter Todesurteile84
Todesurteile gegen deutsche Zivilisten
insgesamt
davon:nach Ukaz vom 12.1.1950
verhängt
vollstreckt
1945
4252
15 575
-
825
718
1946
2 896
9021
-
662
484
1947
1105
3 243
-
299
30
1950
475
1024
1009
183
171
1951
1609
2 185
2 185
483
451
1952
1612
1714
1714
379
326
1953
(193)85
605
534
65
11
1954
keine Angaben
1137
120
2
1
1955
keine Angaben
1054
5
0
0
insgesamt
12 142
35 558
5 567
2 898 86
2 19287
Zahl relevanter Verfahren der Smers/des NKGB bleibt ungewiss. Vgl. Anmerkungen zu Tabelle 3. Dass die internen Statistiken Todesurteile gegen In- und Ausländer verzeichnen, geht dagegen eindeutig aus dem Schreiben des Vorsitzenden des Obersten Gerichts der UdSSR, Volin, Nr. 006963 vom 3. April 1952 an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, Svernik, hervor. Abgedruckt im Anhang als Dokument Nr. 2. 83 Aufstellung des 1. Specotdel MVD UdSSR über die Zahl Verurteilter in Fällen des NKVD, 1939-1953. In: V. N. Sostakovskij (Hg.), GULAG (Glavnoe upravlenie lagerej) 1917-1960, Moskau 2000, S. 434. Es handelt sich hier wohl um vollstreckte Urteile. Unvollständigere Angaben bei V Kudrjavcev/A. Trusov, Politiceskaja justicija v SSSR, Moskau 2000, S. 313-316 sowie A. G. Zvjagincev/Ju. G. Orlov, Prigovorennye vremenem. Rossijskie i sovetskie prokurory XX vek. 1937-1953, Moskau 2001, S. 526 f. Weiteres Datenmaterial für spätere Jahrzehnte findet sich im Übrigen v.a. bei Mikhlin, Death penalty, S. 56 ff., HO ff.
29
Andreas Hilger
V. Die Auswertung von ca. drei Viertel der gegen Deutsche verhängten Todesstrafen erlaubt in Verbindung mit den entsprechenden Verwaltungs- und Gerichtsakten und den Erkenntnissen über die generelle Tätigkeit sowjetischer Tribunale gegen deutsche Zivilisten, hinsichtlich der Anwendung der Todesstrafe gegen Deutsche eindeutige Tendenzen und Charakteristika herauszustellen. Dabei teilt die Geschichte der Todesstrafe in der UdSSR die entsprechenden Verurteilungen Deutscher in zwei klar voneinander getrennte Abschnitte. Die Abschaffung der Todesstrafe am 26. Mai 1947 symbolisierte das neue Selbstbewusstsein der sowjetischen Führung nach innen und außen und eröffnete zudem außenpolitische Propagandamöglichkeiten. 8 8 Noch
84
Zusammengestellt gemäß der jeweils höheren Angaben aus der Aufstellung des Obersten Gerichts der UdSSR, Frühjahr 1955, über die Zahl der 1950-1954 und Januar-Februar 1955 von Militärtribunalen und Gerichten zum Tode durch Erschießen Verurteilten. GARF, f. R-7523, op. 89, d. 7685,1. 2, abgedruckt als Dokument Nr. 4 im Anhang sowie der Aufstellung der Abteilung zur Vorbereitung von Gnadenentscheidungen beim Präsidium des Obersten Sowjets vom 29.12.1955. Istorija Stalinskogo Gulaga 1, S. 605 f., 610. Die Differenzen entstehen wiederum durch unterschiedliche Erfassungsgrundlagen und Zeiträume. Vgl. ferner den Beitrag Petrov in diesem Band.. Insgesamt etwas niedriger liegen die Zahlen aus einer Aufstellung des Abteilung zur Vorbereitung von Gnadenentscheidungen beim Präsidium des Obersten Sowjets vom 29.12.1955. Sie enthält allerdings nicht die Urteile des Militärkollegiums und beschränkt sich evt. auf die Fälle, in denen ein Gnadengesuch eingereicht worden war. In: Istorija Stalinskogo Gulaga 1, S. 605 f., 610. 85 Nur 1. Halbjahr. 86 Ohne 45 Todesurteile ohne Jahresangabe. 87 Ohne 31 vollstreckte Todesurteile ohne Jahresangabe. 88 Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. In: Strafgesetzbuch der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik vom 22. November 1922 in der am 1. Januar 1952 gültigen Fassung mit Nebengesetzen und Materialien, übers, von Wilhelm Gallas, Berlin (West) 1953, S. 71. 1948/49 brachte die UdSSR vor der UN-Generalversammlung einen Antrag auf weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein. O. F. Sisov. Smertnaja kazn' v istorii Rossii. In: O. F. Sisov/T. S. Parfenova (Hg.). Smertnaja kazn': za i protiv. Moskau 1989, S. 10130, hier 124; Stecovskij, Istorija 2, S. 138 f. Zur propagandistischen Verwertung der Abschaffung der Todesstrafe im Kontext sowjetischer Prozesse gegen Deutsche vgl. Natalja Jeske/Ute Schmidt, Zur Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen durch sowjetische Militärtribunale in der SBZ. In: Sowjetische Militärtribunale 2, S. 155-192, hier 180, 187 f.
3(1
Einleitung keine drei Jahre später kam es allerdings zur Wiedereinführung der Todesstrafe für ausgewählte politische Vergehen.89 Die Leningrader Affäre90 mochte der unmittelbare Anlass hierfür sein: Tiefere Ursache war die Unfähigkeit des Stalinismus, auch nur Ansätzen gesellschaftlicher oder politischer Pluralität - im bolschewistischen Duktus: Abweichungen - Raum zu geben, seine Besessenheit bezüglich Feindbildern und die althergebrachte Bevorzugung eines gewaltsamen Umgangs mit jeder Art von Problemen. Aufgrund dieser Unterbrechung tritt eine deutliche Akzentverschiebung in der sowjetischen Strafjustiz gegen Deutsche klar hervor: Waren es ab 1950 vor allem »Spione«, die zum Tode durch Erschießen verurteilt wurden, so wurden bis 1947 zahlreiche Deutsche als Kriegsverbrecher, eine zweite große Gruppe als »Diversanten« und »Terroristen« mit dem Tode bestraft (Tabelle 4). In allen Schwerpunkten höhlten die sowjetische Ermittlungs- und Verfahrenspraxis und die politische wie ideologische Instrumentalisierung der Justiz grundsätzlich legitime Anliegen der Besatzungsmacht aus. Dieser Gesamtbefund gilt grundsätzlich für die gesamte Tätigkeit der sowjetischen Militärtribunale (und OSO) in der SBZ/DDR. Die besondere Anwendung und Ausgestaltung der Todesstrafe verweist aber zusätzlich auf das Gewicht spezifischer Sätiberungs-, Terror- und Vergeltungsaufgaben einer Justiz, die sich vor allem anderen an der Staatsräson stalinistischen Zuschnitts orientierte. Diese Ausrichtung, die nicht nur die Staatsschutzverfahren der 1940er und 1950er Jahre kennzeichnete, sondern auch die Kriegsverbrecherprozesse wesentlich beeinflusste, stellte damit die innere Klammer der Entwicklung von 1945 bis 1955 dar. Die Einzelbeiträge nähern sich dem Gesamtphänomen auf verschiedenen Ebenen an. Nikita Petrov entwirft ein Gesamtpanorama der Todesstrafe in der UdSSR, dessen Grundzüge ab 1945 auf Deutschland übertragen wurden. Er 89 Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. In: Strafgesetzbuch, S. 71 f. Es ist derzeit nicht abschließend zu klären, aber unwahrscheinlich, ob MGB-Sondergerichte (OSO?) 1947 bis 1949 tatsächlich das Recht zur Verhängung von Todesurteilen gegen »Konterrevolutionäre« besaßen und ggf. nutzten. Sisov, Smertnaja kazn', S. 123 f. 90 Vgl. hier mit weiteren Angaben auch die aktuelle Diskussion: David Brandenberger, Stalin, the Leningrad Affair and the limits of postwar russocentrism. In: The Russian Review, 63 (2004), S. 241-255; Richard Bidlack, Ideological or political origins of the Leningrad Affair? A response to David Brandenberger. In: ebd., 64 (2005), S. 90-95, Antwort Brandenberger S. 96 f. Dazu: Benjamin Tromly, The Leningrad Affair and Soviet patronage politics, 1949-1950. In: Europe-Asia Studies, 56 (2004), S. 707-729.
31
Andreas Hilger Tabelle 4: Verhängte Todesurteile 1945-1955 - Urteilsgründe in Auswahl nach Jahren (Mehrfachnennungen möglich) 91 ohne Jahresangabe
1945
1946
1947
absolut
absolut
absolut
absolut
absolut
%
absolut
9
425
373
115
913
51,1
183
58-2
2
199
127
89
415
23,2
31
58-6
6
59
37
12
108
6,0
173
58-8
3
142
191
32
365
20,4
11
58-9
2
146
179
6
331
18,5
11
58-10
4
7
25
5
37
2,1
48
58-11
5
106
199
25
330
18,5
99
58-14
2
15
32
0
47
2,6
1
Ukaz 43
10
170
168
174
512
28,7
0
ohne Angabe
18
213
102
6
321
18,0
0
Norm
Artikel 58: Konterrevolutionäre Verbrechen
1945-1947 insgesamt
1950
davon
91 In 69 Fällen wurde der Artikel über eindeutige Verbalisierungen des Tatbestands erschlossen. 92 Absolute Gesamtzahl hier einschließlich der in der 1. Spalte angeführten Verurteilungen ohne Jahresangabe.
32
Einleitung
1951
1952
1953
1954
1955
absolut absolut absolut absolut absolut
1950-1955 insgesamt
1945-1955 insgesamt
absolut
%
absolut
%
483
378
62
2
0
1108
99,6
2 030
69,0
32
41
7
1
0
112
10,1
529
18,0
470
361
55
2
0
1061
95,4
1175
39,9
7
29
9
0
0
56
5,0
424
14,4
30
41
4
2
0
88
7,9
421
14,3
142
151
15
2
0
358
32,2
399
13,6
349
307
31
2
0
788
70,9
1 123
38,2
1
14
0
0
0
16
1,4
65
2,2
0
1
0
0
0
1
0,1
523
17,8
0
1
3
0
0
4
0,4
343
11,7
belegt die grundsätzliche Instrumentalisierung der Todesstrafe für politische Zwecke und Kampagnen. Diesem bedingungslosen Einsatz fielen seinen Berechnungen zufolge in den Jahren 1921 bis 1953 rund eine Million Menschen zum Opfer. Gerade in den Hinrichtungen selbst drückte sich auch eine außerideologisch begründete Brutalität der Machthaber und ihrer Handlanger aus, die in den Grenzen der definierten Staatsziele geduldet, mitunter gar gefördert wurde. Aus politischer Perspektive wurden die Exekutionen zugleich immer auch für die zusätzliche Terrorisierung der Gesellschaft genutzt. Auch von daher war es ein Anliegen der Führung, die gesamten Verfahren konsequent ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
33
Andreas Hilger Vor diesem Hintergrund erscheinen die Begnadigungsverfahren des Präsidiums des Obersten Sowjets der 1950er Jahre als Fortsetzung früherer Kontrollmechanismen durch Politbüro-Kommissionen. Olga Lavinskaja beschreibt diese Verfahren anhand des bereits mehrfach genannten Aktenbestands zu Gnadenverfahren des Präsidiums des Obersten Sowjets, den sie somit am Beispiel der deutschen Verurteilten der Forschung bekannt macht. Die letzte Entscheidung lag auch bei den Gnadenverfahren der 1950er Jahre beim Politbüro bzw. Stalin selbst - die äußerst geringe Bereitschaft, Begnadigungen auszusprechen, kann daher nicht überraschen. Dabei führten die weitgehend zentralisierte Hinrichtungsmaschinerie auf der einen und die Existenz der DDR auf der anderen Seite dazu, dass Deutsche ab 1950 zur Hinrichtung in die UdSSR - in der Regel nach Moskau - verbracht wurden. Die Spruchtätigkeit sowjetischer Tribunale gegen Deutsche selbst blieb hingegen von der Gründung der DDR kaum beeinflusst. Der abschließende Beitrag von Andreas Hilger beschreibt die Anwendung der Todesstrafe gegen Deutsche in den Perioden 1945/47 und 1950/54. Einzelaufnahmen belegen das komplexe Zusammenspiel genuin sowjetischer resp. bolschewistischer Herrschaftszüge in der Anwendung der Todesstrafe gegen Deutsche. Auf diese Weise wurden etwa Verfahren wegen Kriegsverbrechen oder im Zusammenhang mit der Sicherung der Besatzungsmacht in einen neuen Gesamtkontext gestellt und erhielten eine eigene Ausprägung und Stoßrichtung. Die breite Quellenlage erlaubt dazu die weitere Ausdifferenzierung der Handlungen und Lebenswelten Deutscher, die im besonderen Fokus der Organe und ihrer Richter standen. Im Anhang bereiten detaillierte Tabellen das Datenmaterial entlang der inhaltlichen Analysen auf. Der abschließende Dokumentenanhang bietet schließlich vier Kerndokumente der Jahre 1950 bis 1955, die die wesentlichen Grundzüge der Anwendung der Todesstrafe durch die sowjetische Justiz, der Verurteilungen Deutscher sowie der Gnadenverfahren selbst zusammenfassen. Die Beiträge greifen somit den eingangs beschriebenen besonderen Stellenwert der Todesstrafe als Spiegel herrschender Welt- und Feindbilder auf: Harsche, unterschiedslose Vergeltung und terroristische, brutale Abschreckung und Unterdrückung ideologisch vorbestimmter Feinde stellten integrale Bestandteile auch der Besatzungsjustiz dar, die die Verfolgung grundsätzlich legitimer Ziele von Verbrechensahndung und staatlicher Sicherheit in der Umsetzung Stalin'scher Obsessionen aufgehen ließ. Abschließend eine Bemerkung technischer Art. Die Schreibweise russischer Namen und Benennungen folgt der wissenschaftlichen Transliteration. Personennamen wurden durchgängig anonymisiert - ausgenommen Personen der Zeitgeschichte oder Personen, die bereits in anderen Buch-
34
Einleitung oder Pressepublikationen genannt sind. (Ein Abgleich mit dem bereits genannten Totenbuch »Erschossen in Moskau ...« konnte nicht mehr durchgeführt werden). Die Erfassung und Auswertung von Todesurteilen gegen deutsche Zivilisten wäre ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Institutionen und Personen um vieles schwieriger gewesen und unvollständiger geblieben. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Edda Ahrberg (Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in SachsenAnhalt), Peter Erler (Berlin), Mechthild Günther (Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen), Ulrike Jerratsch (Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg), Dr. Kai Langer (Dokumentationszentrum des Landes für die Opfer deutscher Diktaturen, Schwerin), Dr. Jörg Morre (Gedenkstätte Bautzen), Heike Müller (Dokumentationszentrum des Landes für die Opfer deutscher Diktaturen, Schwerin), Dr. Klaus-Dieter Müller (Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden), Dr. Ines Reich (Gedenkstätte Sachsenhausen), Dr. Bodo Ritscher (Gedenkstätte Buchenwald), Jörg Rudolph (Facts and Files, Berlin) und Dr. Mike Schmeitzner (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden). Gerade am HAIT konnte hierbei auf umfangreiche Materialien zurückgegriffen werden, die im Zuge des früheren Projekts zu den Verurteilungen Deutscher durch Sowjetische Militärtribunale archiviert worden waren. Das Gesamtprojekt konnte nur mit großzügiger Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur, Berlin, realisiert werden. Beiden Stiftungen sei hierfür herzlich gedankt! Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Jost Dülffer, der für die notwendige Anbindung der Forschungen an die Universität zu Köln Sorge trug. Abschließend möchte ich mich herzlich bei Herrn Prof. Dr. Gerhard Besier für die Aufnahme dieses Sammelbands in die Reihe »Berichte und Studien« des Hannah-Arendt-Instituts bedanken. Hamburg, November 2005
35
Nikita Petrov Die Todesstrafe in der UdSSR: Ideologie, Methoden, Praxis. 1917-1953*
1.
Die Todesstrafe nach der Revolution
Am 26. Oktober 1917 (alter Stil), einen Tag nach der Machtergreifung durch die Bolschewisten, verabschiedete der All-Russländische Sowjet-Kongress der Arbeiter- und Bauerndeputierten das Dekret »Über die Abschaffung der Todesstrafe«.1 Mit der Organisation der All-Russländischen Außerordentlichen Kommission (VCK), die berufen war, mit allen Mitteln den Widerstand gegen die bolschewistische Diktatur zu unterdrücken, kehrte man indessen schnell wieder zu der Idee zurück, die Todesstrafe zu nutzen. Schon am 8. Januar 1918 verkündete der Rat der Volkskommissare (SNK), dass diejenigen, die sich der Mobilisierung zur Aushebung von Schützengräben widersetzten, sowie »konterrevolutionäre Agitatoren« »der Erschießung unterlagen«. Innerhalb eines Monats wurde zudem allen, die »zum Don fliehen, um in konterrevolutionäre Truppen einzutreten«, die Proklamationen klebten, »Spekulanten« und »Schiebern« die »sofortige Erschießung« angedroht.2 Die VCK gab selbst offiziell ihr Recht bekannt, außergerichtliche Erschießungen durchzuführen. Auf der Grundlage des SNK-Dekrets »Das sozialistische Vaterland in Gefahr« vom 21. Februar 1918, so hieß es im Namen der VCK in der »Izvestija«, sehe die Kommission »keine andere Möglichkeit des Kampfes gegen Konterrevolutionäre, Spione, Spekulanten, Plünderer, Hooligane, Saboteure und übrige Parasiten als die erbarmungslose Vernichtung am Ort des Verbrechens«.3 Dabei wurden nicht nur von der Zentralregierung, sondern auch im Namen der vielfältigen »außerordentlichen« Revolutionskomitees und -kommissionen in der Provinz Anordnungen über Erschießungen erlassen. In Ka*
Übersetzt von Andreas Hilger.
1
Sobranie uzakonenij Raboce-krest'janskogo pravitel'stva (SU), 1917, Nr. 1, Art. 4. Vgl. S. P. Mel'gunov, Krasnyj terror v Rossii. 1918-1923, Moskau 1990, S. 34. Ebd. Izvestija vom 21.2.1918.
2 3
37
Nikita Petrov luga hieß es, dass diejenigen erschossen würden, die sich weigerten, die den Reichen auferlegten Kontributionen zu bezahlen, in Vjatka drohte »für das Verlassen des Hauses nach 8 Uhr« der Tod, in Brjansk für Trunkenheit, in Rybinsk für »Zusammenrottungen auf der Straße« usw.4 Nach den Worten des russischen Historikers Sergej Mel'gunov wurde die Todesstrafe »in einem Umfang wieder eingeführt, den sie unter der Zarenherrschaft nie erreicht hatte«.5 Bis 1922 gab es in Russland kein offiziell bestätigtes Strafgesetzbuch und demgemäß keinerlei Beschränkungen für die Verhängung der verschiedenen Strafen. In einer Anweisung des Volkskommissariats für Justiz (NKJu) vom 16. Juni 1918 hieß es dass die Revolutionstribunale bei der Wahl der Kampfmethoden gegen »Konterrevolution«, »Sabotage« und übrige Verbrechen keinerlei Beschränkungen unterlägen.6 Der Beschluss des SNK vom 5. September 1918 »Über den Roten Terror« machte die Todesstrafe nicht nur hinsichtlich von Personen, die irgendein Vergehen begangen hatten, sondern auch hinsichtlich derer, die verdächtig waren, zu einer normalen Vorgehensweise. In dem Beschluss hieß es: »Alle Personen, die an weißgardistischen Organisationen, Verschwörungen und Aufständen beteiligt sind, unterliegen der Erschießung.«7 Dabei war - selbstverständlich zum Zweck der Einschüchterung - vorgesehen, in der Presse die Namen aller Hingerichteten und die Gründe, wegen derer mit ihnen abgerechnet worden war, zu publizieren.8 Anfang 1920, am 17. Januar, verabschiedeten das All-Russländische Zentrale Exekutivkomitee (VCIK) und der SNK der RSFSR die Verordnung »Über die Abschaffung der Anwendung der Höchststrafe - der Erschießung«.9 Offiziell wurde dieser Schritt mit der erfolgreichen »Zerschlagung der Konterrevolution« und der erreichten »Festigung der sowjetischen Macht« motiviert. In Wirklichkeit war dies aber nur eine Propagandamaßnahme, die auf den äußeren Effekt abzielte. Die bolschewistische Führung hatte nicht die Absicht, auf ein schlagkräftiges Repressionsinstrument zu verzichten. So konnte die VCK am 18. März 1920 in ihrem Befehl Nr. 54 verschiedene Verbrechen aufzählen, die als »Zersetzung« der »Kraft der Armee an der militärischen oder Arbeitsfront« mit dem Tode bestraft werden soll-
4 5 6 7 8 9
38
Mel'gunov, Krasnyj terror, S. 34 f. Mel'gunov, Krasnyj terror, S. 35. SU 1918, Nr. 44, Art. 533. SU 1918, Nr. 19, Art. 710. Ebd. SU 1920. Nr. 4-5.
Die Todesstrafe in der UdSSR ten. 10 Und bereits am 11. Mai 1920 wurde den Revolutionstribunalen mit dem VCIK-Dekret »Über Maßnahmen des Kampfes gegen den polnischen Angriff«11 das Recht zugestanden, in Gebieten, in denen der Kriegszustand ausgerufen worden war, die Todesstrafe durch Erschießen zu verhängen.12 In den nächsten Jahren wurde es zum Prinzip, dass die Todesstrafe nur in Gebieten unter Kriegsrecht verhängt werden konnte. Dabei boten schon kleinste bäuerliche Unruhen einen ausreichenden Grund, ein Gebiet unter Kriegsrecht zu stellen und zur Unterdrückung der Unzufriedenheit der Bevölkerung zu grausamen Maßnahmen bis hin zur Erschießung zu greifen. So galt für das Gebiet der Region Nordkaukasus auch noch nach 1924 der Kriegszustand: Das erlaubte den Straforganen, sich bei Unterdrückung und Sowjetisierung des Kaukasus keinerlei Zwang aufzuerlegen. In dem 1922 erlassenen ersten Strafgesetzbuch wurde die Todesstrafe nicht zufällig nicht in die Liste der Strafen aufgenommen, sondern figurierte als »außergewöhnliche« und »vorläufige« Maßnahme. In Artikel 33 hieß es: »In Verfahren, die sich in der Zuständigkeit der Revolutionstribunale befinden, wird bis zur Aufhebung durch das All-Russländische Zentrale Exekutivkomitee in den Fällen, in denen Artikel des vorliegenden Kodex die Höchststrafe vorsehen, als solche die Todesstrafe angewandt«. Gemäß des Strafgesetzbuchs von 1922 konnte die Höchststrafe recht häufig verhängt werden, so zum Beispiel für Staatsverbrechen, Banditismus, Widerstand gegen Vertreter der Staatsgewalt, Schmuggel, Bestechlichkeit, Unterschlagung, Raub, Umgehen der Militärpflicht und Amtsmissbrauch. Die 1924 beschlossenen »Grundsätze der Strafgesetzgebung der UdSSR und der Unionsrepubliken« betrachteten die Todesstrafe ebenfalls als vorläufige Maßnahme. In den Anmerkungen zu Artikel 13 hieß es: »Vom Zentralen Exekutivkomitee der Union der SSR wird für den Kampf gegen allerschwerste Verbrechen, die die Grundlagen der Sowjetmacht und der sowjetischen Ordnung bedrohen, vorläufig, bis zu ihrer vollständigen Aufhebung, die Erschießung als äußerste Maßnahme des sozialen Schutzes zugelassen.«13 10 Dazu gehörten Spionage, Verrat, Befehlsverweigerung, Aufstand, Banditismus und Desertation. Befehl vom 18.3.1920. In: A. I. Kokurin/Nikita Petrov (Hg.), Lubjanka. Organy VCK - OGPU - NKVD - NKGB - MGB - MVD - KGB 1917-1991. Spravocnik, Moskau 2003, S. 358 f. 11 SU 1920, Nr. 43, Art. 190. 12 Der VCK-Befehl Nr. 75 vom 10.6.1920 enthielt eine Liste mit 24 Gouvernements-CKs, die das Recht hatten, Erschießungen durchzuführen. Kokurin/Petrov (Hg.), Lubjanka, S. 360 f. Das Verfahren zur Verhängung des Kriegszustands wurde im Dekret des VCIK und des Rats für Arbeit und Verteidigung (STO) vom 4.11.1920 geregelt. SU 1920, Nr. 89, Art. 454. 13 Sobranie zakonov UdSSR (SZ), 1924, Nr. 24, Art. 205.
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Nikita Petrov In der Logik der Kreml'-Führung erklärte sich die Beibehaltung der Todesstrafe ausschließlich mit der Existenz einer »feindlichen kapitalistischen Umzingelung«, denn von dieser ging ihrer Meinung nach die Hauptgefahr aus. Ungefähr zur selben Zeit - leider ist die Notiz nicht genau datiert - vermerkte Stalin in seinem Notizbuch: »Zum Rechenschaftsbericht. 1). Über die Todesstrafe, a) vom Standpunkt des inneren Zustands des Landes gibt es bei uns keinen Grund, der für die Todesstrafe spricht, b) unsere Motive sind allein internationale.«14 Offensichtlich gab es in der von Widersprüchen zerrissenen Führung der kommunistischen Partei ernsthafte Diskussionen darüber, ob die Todesstrafe in de r UdSSR anzuwenden sei oder nicht. Die Ansichten stimmten selbst bei denen nicht überein, die zu einer Fraktion oder Gruppierung gehörten. So sprach sich zum Beispiel Lev B. Kamenev gegen die Todesstrafe aus, Grigorij E. Zinov'ev dafür. Stalin, der mit ihnen zu dieser Zeit einen Block bildete, machte wie immer seine Einstellung nicht genau deutlich, war aber wohl eher für die Todesstrafe. Davon zeugt der schriftliche Austausch, der während einer Politbürositzung zwischen Stalin, Zinov'ev und Kamenev stattfand. »Ich bin nicht sicher«, schrieb Kamenev, »ob die Beibehaltung der Erschießungen 1923-24 richtig [ist]. Wenn wir [19]20 daran dachten, gegenüber äußeren Feinden von Erschießungen abzusehen, dann ist es keine Sünde, über die Zweckmäßigkeit nachzudenken. Es funktioniert schon nicht mehr mit Erschießungen.« »Die [Neue Wirtschaftspolitik] NEP ohne Erschießungen - [das ist das] Verderben!« antwortete Zinov'ev. »Sowohl für die Partei (im Innern) und überhaupt.« Kamenev war nicht überzeugt: »Eine NEP, die durch Erschießungen begrenzt wird - das ist es nicht! So nicht! Durch Erschießungen begrenzt Du die NEP nicht, sondern verleihst ihr einen abenteuerlich-banditenartigen Charakter.« Stalin wand sich: »Kamenev vertieft, aber vereinfacht die [konkrete] Frage zum Nachteil der Sache. I. Stalin.«15 Hinsichtlich der Entwicklung der Todesstrafe kann man generell die Mitte der 1920er Jahre als Wendepunkt verstehen. Es kam zu einer Aufteilung der sowjetischen Rechtssprechung in eine »legale«, die sich auf offiziell beschlossene und veröffentlichte Gesetze und Normen stützte (d. h. auf kodifiziertes Recht), und bei der die Strafe von Gerichten ausgesprochen wurde, sowie in eine »nicht legale«, außerordentliche, bei der quasi-gerichtliche16 14 Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social'no-Politiceskoj istorii (RGASPI), f. 558, op. 11, d. 22, 1. 107-108. Wahrscheinlich ging es um die Vorbereitung des Berichts für den Parteitag. 15 RGASPI, f. 558, op. 11, d. 24, 1. 25 f. 16 Hierunter werden formal-gerichtliche Organe verstanden (z.B. Militärtribunale), die bei der Verhandlung eine »vereinfachtes Verfahren« nutzen: Der An-
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Die Todesstrafe in der UdSSR oder gänzlich außergerichtliche17 Organe, die von Verfassung und Gerichtsverfassungsgesetzen nicht vorgesehen waren und deren Leitsätze größtenteils nicht publiziert wurden, Strafen verhängten. Die offiziell beschlossenen und publizierten Gesetze und Kodici unterstrichen immer wieder den vorläufigen und außergewöhnlichen Charakter der Todesstrafe. Das - bis 1960 gültige - Strafgesetzbuch von 1926 sah die Todesstrafe in Artikel 20, der die »gerichtlichen Besserungsmaßnahmen des sozialen Schutzes«18 aufzählte, nicht vor. Artikel 21 verwies indes verschämt auf die »Außergewöhnlichkeit« von Erschießungen.19 Im Vergleich zu den Vorjahren entfiel nun die Todesstrafe für »Vermeidung der Militärpflicht«, Amtsmissbrauch und Widerstand gegen Vertreter der Staatsgewalt. Dazu verfielen gemäß der Fassung von 1926 Personen unter 18 Jahren und Schwangere nicht mehr der Erschießung. Ein Jahr später deklamierte das Manifest des Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR (CIK) vom 15. Oktober 1927 aus Anlaß des zehnten Jahrestags der Revolution eine weitere Einschränkung der Todesstrafe und beließ sie nur für Staats- und Militärverbrechen sowie für bewaffneten Raub.20 Trotzdem wurde die Todesstrafe in der Praxis des sowjetischen Strafsystems bald eher zur Regel. Außergerichtliche Organe wie die OGPU-Kollegien und die Trojkas der OGPU-Bevollmächtigten erweiterten ständig ihren Anwendungsbereich. So verabschiedete das CIK am 9. Mai 1924 eine Verordnung, gemäß derer der gesamte Kampf zur »Liquidierung des Banditismus in Städten und auf dem Land« der OGPU aufgetragen war. Diese erhielt das Recht, in Gegenden, die »wegen Banditismus ungünstig« sind, Erschie-
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geklagte nahm an den Verhandlungen teil, Ankläger, Zeugen und Verteidiger fehlen. Die Praxis erweckte den Eindruck pseudo-gerichtlicher Verfahren. 19371938 und in den Folgejahren konnte auch das Militärkollegium des Obersten Gerichts als »quasi-gerichtliche« Instanz auftreten, wenn sie die von Stalin bestätigten Erschießungslisten mit schon vorentschiedenen Ergebnissen prüfte. In diesem Fall entschied das Gericht nichts, sondern verlieh dem Verfahren nur eine juristische Fassade. Zu den außergerichtlichen Organen zählen alle verurteilenden Instanzen, die einen Fall in Abwesenheit des Angeklagten prüften - das Kollegium von VCK-OGPU, die Sonderkonferenz bei OGPU, NKVD-MVD und MGB, die Trojki der OGPU-Bevollmächtigten, die NKVD-Trojki. die Kommission des NKVD und des Staatsanwalts der UdSSR. Ab 1934 ist in den Beschlüssen von CIK und SNK wieder von »Strafen« die Rede. Vgl. SZ UdSSR, 1934, Nr. 33, Art. 255. Ugolovnyj kodeks RSFSR, Moskau 1948, S. 11. SZ UdSSR, 1927, Nr. 61, Art. 613.
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Nikita Petrov Bungen durchzuführen.21 1927 wurden die Rechte des OGPU-Kollegiums ausgedehnt, indem der Personenkreis, über den in außergerichtlichen Verfahren entschieden werden konnte, vergrößert wurde. Durch Verordnung des CIK-Präsidiums vom 4. April 1927 erhielt die OGPU das Recht, Untersuchungsfälle über Brandstiftung, Diversion und Explosionen außergerichtlich zu verhandeln, am 9. Juni 1927 gingen Fälle von »Konterrevolutionären, Spionen und Banditen« in ihre Kompetenz über.22 Die Urteile in den von der OGPU untersuchten Fällen ergingen in der Hauptsache - ab 1925 offenbar ausschließlich - durch außergerichtliche Organe.23 Statistiken über die Anwendung der Todesstrafe in den Fällen, in denen die OGPU und ihre lokalen Organe die Untersuchungen führten, belegen für die Jahre 1924 bis 1929 eine mehr oder weniger stabile Situation. So wurden 1924 2 550 Personen zum Tode verurteilt, 1925 2 433,1926 990, 1927 2 363, 1928 869 und 1929 2 109.24 Nach dem Beginn der Kampagne zur Kollektivierung und Deportation von Bauern lässt sich ein deutlicher Anstieg der Zahl von zum Tod durch Erschießen Verurteilten beobachten: 1930 waren es 20 201 Personen, 1931 10651. Im weiteren Verlauf stabilisierte sich die Situation wieder; 1932 wurden in den OGPU-Fällen 2 728 Personen zum Tode verurteilt.25 Dabei erscheint die Todesstrafe nicht nur als Instrument der Abrechnung mit Missliebigen, sondern auch als disziplinierendes Element. So erließen CIK und SNK am 7. August 1932 die Verordnung »Über den Schutz des Vermögens von staatlichen Unternehmen, Kolchozen, Kooperativen und über die Stärkung des öffentlichen (sozialistischen) Eigentums«, nach der Diebe von sozialistischem Eigentum als »Volksfeinde« zu betrachten und zu erschießen waren.26 Für Stalin wurden Erschießungen generell ein äußerst wichtiges Mittel der Innenpolitik. Er betrachtete die Todesstrafe nicht nur als Abschreckungselement. Aus seiner Perspektive heraus war sie zudem ein außerordentlich effektives Instrument der sozialen Säuberung, das zur Transformation der Klassengesellschaft gemäß sowjetischer Doktrinen genutzt wurde. Stalin bereitete den »Großen Terror« schon lange vor 1937 vor und scheute sich nicht, 21 22 23
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Befehl OGPU Nr. 226/79/S vom 23.5.1924. In: Kokurin/Petrov (Hg.), Lubjanka, S. 471-473. Ebd., S. 40. Aufstellung der 1. Spezialabteilung des MVD vom 11.12.1953. In: V N. Sostakovskij (Hg.), GULAG (Glavnoe upravlenie lagerej) 1917-1960, Moskau 2000, S. 431-434. Wie Anm. 23. Ebd. SZ UdSSR, 1932, Nr. 62, Art. 360.
Die Todesstrafe in der UdSSR seine Pläne öffentlich zu machen. So brachte er im Januar 1933 auf dem Gemeinsamen Plenum von Zentralkomitee und Zentraler Kontrollkommission (CKK) der Partei die These von der Verschärfung des Klassenkampfes sowie der Stärkung der Staatsmacht im Prozess der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft vor und erklärte, dass die »Vernichtung der Klassen nicht durch das Erlöschen des Klassenkampfes, sondern durch seine Verschärfung erreicht« werde.27 Stalin stellte die Aufgabe, »die letzten Überreste der absterbenden Klassen zu zerschlagen« und zählte die Kategorien zukünftiger Opfer auf: »private Industrielle und ihr Gesinde, private Händler und ihre Spießgesellen, ehemalige Adelige und Popen, Kulaken und Halbkulaken, ehemalige Weiße Offiziere und Unteroffiziere, ehemalige Polizisten und Gendarmen, jede Art bourgeoiser Intelligenz chauvinistischen Charakters und alle übrigen antisowjetischen Elemente«.28 Stalin beeilte sich nicht, diese Zielsetzungen zu realisieren - die Ideen von 1933 kamen erst 1937 zum Tragen.29
2.
Unter der Kontrolle des Politbüros ...
Schon zu Beginn der 1920er Jahre wurden Todesurteile in politischen Angelegenheiten im Vorwege abgestimmt. Das Politbüro des Zentralkomitees der Russländischen Kommunistischen Partei (CK RKP (b)) verfügte beispielsweise als Antv/ort auf eine Anfrage des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine hinsichtlich der Verhängung von Todesurteilen durch örtliche Gerichte in seinem Beschluss Nr. P85/30 vom 17. April 1924: »Dem CK KP (b) U ist zu erklären, dass, sofern es um politische Urteile geht, kein örtliches Gericht Todesurteile ohne vorhergehende Sanktion durch das CK RKP (b) verkünden darf.«30 Eine derartige Überzentralisierung rief vor Ort von Zeit zu Zeit Unverständnis und Unzufriedenheit hervor. Im Laufe der Monate April bis Juni 1924 erreichte das CK eine Reihe von Anfragen, in denen die Entscheidung
27 Pravdavom 10.1.1953. In: I. V Stalin, Socinenija, Band 13, Moskau 1951, S. 211. 28 Ebd., S. 110, 207. 29 Zum »Großen Terror« vgl. Mark Jansen/Nikita Petrov, Stalin's loyal executioner: People's Commissar Nikolai Ezhov, 1895-1940, Stanford 2002, S. 79-111; M. Junge/R. Binner, Kak terror stal »Bol'sim«. Sekretnyj prikaz Nr. 00447 i technologija ego ispol'nenija, Moskau 2003. 30 Präsidialarchiv der Russischen Föderation, Moskau (AP RF), f. 3, op. 57, d. 72, 1. 1.
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Nikita Petrov des Politbüros als »unerfüllbar« qualifiziert wurde.31 Das Politbüro versuchte mehrmals, die Frage zu klären, vertagte aber jedes Mal eine konkrete Entscheidung. Am 11. Juli 1924 schließlich bekräftigte das Politbüro nicht nur seinen früheren Beschluss, sondern bestätigte auch einen Mechanismus für die Abwicklung des Gesamtverfahrens. Auf der Grundlage der von Nikolaj V. Krylenko und Aron A. Sol'c32 erarbeiteten Vorschläge wurde folgender Beschluss gefasst: »a) Als Regel ist eine vorherige Mitteilung der Gouvernements- und Militärstaatsanwaltschaft über alle zur Abhaltung vorgesehenen Prozesse politischen Charakters, bei denen die Verurteilung zur [Höchststrafe] möglich und vorgesehen ist, an die zentrale Staatsanwaltschaft, zeitgleich mit der Bestätigung der Anklage, aber vor Übergabe an das Gericht, festzusetzen, b) Die zentrale Staatsanwaltschaft ist gemeinsam mit einem eigens hierfür zugeteilten CKK-Mitglied zu verpflichten, die Vorschläge der örtlichen Staatsanwaltschaft zu prüfen und dem Politbüro zu berichten.«33 Es ist bezeichnend, dass die Vorschläge Krylenkos und Sol'c auch einen Punkt über ein analoges Verfahren für Fälle, die von der OGPU-Trojka verhandelt wurden, vorsah, den Stalin allerdings ablehnte.34 Erst am 10. Juli 1931 wurde ein Verfahren festgesetzt, wonach alle Todesurteile des OGPU-Kollegiums zur Bestätigung an das CK VKP (b) zu schicken waren: hiervon waren allerdings nur politische Fälle und keine Kriminalverfahren (gegen Banditen, Fälscher usw.) betroffen.35 Durch Beschluss des CKK-Präsidiums vom 28. Juli 1924 wurde Sol'c persönlich für die Vorab-Prüfung politischer Fälle ausgewählt (als Vertreter: V. A. Radus-Zenskovic oder Jakov Ch. Peters).36 Das Politbüro richtete am 5. November 1924 eine »Sonder-Kommission des Politbüros des CK RKP (b)« mit den Mitgliedern Dmitrij I. Kurskij (Einberufung), Valerian V Kujbysev und Feliks E. Dzerzinskij ein, die die Anklageschriften der Regionen zu
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Beispielhaft aus Odessa die Bitte, die Entscheidung zu überdenken. Ebd., 1. 3. Krylenko war zu dieser Zeit Stellv. Volkskommissar für Justiz der RSFSR, Sol'c Präsidiumsmitglied des CKK. 33 AP RF, f. 3. op. 57, d. 72,1. 9. 34 Ebd., 1. 10. 35 Beschluss des Politbüros Nr. P54/45 vom 10.7.1931 und Nr. P54/2 vom 5.8.1931 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72, 1. 92 f.); Stalinskoe Politbjuro v 30-e gody, Moskau 1995, S. 60. 36 AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 12. Beide waren Mitglieder des Kollegiums des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion.
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Die Todesstrafe in der UdSSR prüfen hatte. 37 Ab Dezember 1924 nannte sich die Sonderkommission »Kommission des Politbüros für politische Fälle«.38 Die Arbeitsweise der Kommission wurde im Januar 1929 geändert.39 Zwecks »maximaler Geschwindigkeit der Realisierung von Repressionen gegen Kulaken-Terroristen« erachtete es das Politbüro nun für notwendig, dass das VCIK-Präsidium Gnadengesuche, die von wegen terroristischer Akte Verurteilten eingereicht wurden, nur bei Vorlage eines entsprechenden Berichts der Politbüro-Kommission prüfen dürfe.40 Dadurch verschob sich der Akzent der Kommissionsarbeit hin zur Prüfung von Gnadengesuchen nach bereits ergangenen Urteilen. Das kontinuierliche Abrücken von der Praxis einer Vorab-Entscheidung der Urteile, das vor allem auf der technischen Unmöglichkeit beruhte, alle potentiellen Verfahren der Provinzen im Vorfeld zentral zu prüfen, führte am 5. Dezember 1929 zu einer neuen Entscheidung des Politbüros. Nun wurde den Staatsanwälten auf Oblast'-, Regions- oder Republiksebene das Recht zugestanden, selbständig die Richtigkeit des Verfahrens zu prüfen und den Fall in eigener Verantwortung an ein Gericht zu überweisen. Die Kommission des Politbüros erhielt nun Urteilskopien, damit sie den Kasssationsinslanzen Anweisungen geben konnte. Fälle, in denen ein Todesurteil ausgesprochen worden war, durchliefen nach ihrer Bestätigung durch die Kassationsinstanz im Zuge der Aufsicht zwangsläufig die Staatsanwaltschaften der Republiken und wurden der Kommission für politische Fälle vorgetragen.41 Bei der Durchführung von Wirtschaftskampagnen (etwa Getreidebeschaffung, Kolchozenaufbau usw.) und der direkt damit verbundenen Repressionen wurde das Recht auf Urteilsbestätigung bisweilen verschiedenen lokalen Kommissionen, die von Parteiführern geleitet wurden, sowie lokalen Gerichten und Staatsanwälten übertragen. 1929 bis 1930 existierte etwa unter anderem in den Regionen Sibirien und Ferner Osten ein »vereinfachtes Verfahren zur Prüfung von Gesuchen von Bürgern, die [wegen politischer Verbrechen] zur Höchststrafe verurteilt worden waren«; es wurde vom Politbüro am 5. März 1930 noch einmal für drei Monate verlängert.42 Das 37 Beschluss Nr. P33/8 (ebd., I. 23). Kurskij war Volkskommissar der Justiz, Kujbysev Vorsitzender der CKK und Volkskommissar der Arbeiter- und Bauerninspektion, Dzerzinskij seit 1918 Chef der VCK/OGPU. Stellvertretende Mitglieder waren ab Dezember 1924 Krylenko, Matvej F. Skirjatov und Vjaceslav R. Menzinskij. 38 Vgl. den Beschluss des Politbüros Nr. P40/28 vom 1.12.1924 (ebd., 1. 29). 39 Eine Verordnung über die Tätigkeit der Kommission von 1926 hatte im Wesentlichen die früheren Verfahrensregeln wiederholt. Beschluss Politbüro Nr. P55/9s vom 23.9.1926. In: Stalinskoe Politbjuro, S. 58. 40 Beschluss Politbüro Nr. P58/14 vom 3.1.1929 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 70). 41 Beschluss Nr. P108/74. In: Stalinskoe politbjuro, S. 59. 42 AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 82.
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Nikita Petrov Fehlen der notwendigen Zentralisierung führte in der Repressionspolitik unvermeidlich zu vielfältigen lokalen Abweichungen, die sich - aus Sicht des Politbüros - in unbegründeten Todesstrafen niederschlugen. Von daher bekräftigte das Politbüro im April 1931 die »frühere Entscheidung des CK darüber, dass Todesurteile in politischen Verfahren nicht ohne Sanktion des CK zu fällen sind«, »kategorisch« und forderte, »das Oberste Gericht und die Oberste Staatsanwaltschaft auf ihre Verpflichtung hinzuweisen, diese Vorgehensweise strikt zu beachten.«43 Die Rückkehr zu alten Gepflogenheiten war allerdings nicht von langer Dauer. Noch im September 1931 lehnte das Politbüro eine Bitte des Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts, Vasilij V. Ul'rich, ab, der für Turkmenistan eine »zeitweise Ausnahme« erbeten hatte, um »zwecks Schnelligkeit« die Verhandlung von Fällen gegen so genannte »basmaci« mit Todesurteil ohne vorhergehende Sanktion zu ermöglichen.44 Doch bald darauf wurde im Zuge der Getreidebeschaffungskampagne für Kazachstan eine Ausnahme gemacht: Anstelle der Übersendung der Anklagen in Fällen mit Höchststrafe nach Moskau erhielt der Staatsanwalt der Kazachischen ASSR das Recht zur abschließenden Entscheidung.45 Der endgültige Verzicht auf eine Vorab-Sanktion der lokal geplanten Gerichtsverfahren mit Verurteilung zur Höchststrafe wurde am 8. Dezember 1931 auf Vorschlag Krylenkos fixiert. Dieser hatte die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die frühere Verfahrensordnung die Verhandlung der Fälle deutlich »in die Länge ziehe« und auf die Möglichkeit hingewiesen, darauf zu verzichten. Weil die Fälle mit Höchststrafe, so die Begründung Krylenkos, nach der erstinstanzlichen Verhandlung im Zuge der Berufung vor dem Obersten Gericht landeten, könne man von einer Vorab-Kontrolle absehen und eine nachträgliche Kontrolle einführen.46 Von diesem Zeitpunkt an bestand die Arbeit der Kommission des Politbüros für politische Fälle nur noch in der Bestätigung von bereits durch Gerichte verschiedener Instanzen gefällten Todesurteilen. Die endgültige Bestätigung der Urteile zur Höchststrafe galt indes nicht für die außergerichtlichen Entscheidungen, die von den in den Jahren 1930-1934 existierenden Trojkas der OGPU-Bevollmächtigten, die zur Verhängung von Todesstrafen bevollmächtigt waren, gefällt wurden.47 43
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Beschluss Politbüro Nr. P35/3/8 vom 20.4.1931. In: Stalinskoe Politbjuro, S. 59. Der Beschluss ging auf einen Prozess zurück, in dem das Moskauer Oblast'-Gericht sechs »Kulaken« zum Tod durch Erschießen verurteilt hatte. Beschluss Nr. P66/4 vom 30.9.1931 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 94 f.). »Basmaci« bezeichnete nationale Widerstandskämpfer Zentralasiens. Beschluss Nr. P78/32/4 vom 1.12.1931 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 96). AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 98. Stalinskoe Politbjuro, S. 63 f.
Die Todesstrafe in der UdSSR Im weiteren Verlauf wurde das Verfahren in einigen Bereichen noch weiter vereinfacht. So wurden Todesurteile auf der Grundlage der Verordnung von CIK und SNK UdSSR vom 7. August 1932 ohne Bestätigung der Politbüro-Kommission vollstreckt. Es reichte die Bestätigung durch das Oberste Gericht der Republik (bei Urteilen durch Gerichte der entsprechenden Republik), das Oberste Gericht der UdSSR (nach Urteilen der Transportgerichte und der Militärtribunale) oder durch das OGPU-Kollegium (bei OGPUVerhandlungen).48 Traditionell ließ man zudem auch weiterhin Ausnahmen für konkrete Regionen und Fälle zu. Das Politbüro des CK VKP (b) übertrug beispielsweise am 25. November 1932 für die Zeit der Getreidebeschaffung einer Spezialkommission des ukrainischen Politbüros das Recht, abschließend über verhängte Todesstrafen zu entscheiden; sie musste nur alle zehn Tage beim CK VKP (b) über die gefällten Entscheidungen Rechenschaft ablegen.49 Gleichermaßen übertrug das Politbüro mit Entscheidung vom 1. Februar 1933 die Bestätigung von Todesurteilen, die das Oberste Gericht an den Eisenbahnstrecken Zabajkal' und Ussurij in auswärtigen Sitzungen fällte, einer eigenen Kommission, die sich unter anderem aus dem Stellvertretenden Volkskommissar für Verkehr, Georgij I. Blagonravov, und den Gebietssekretären zusammensetzte; analoges galt für »Terrorakte und konterrevolutionäre Sabotage« in der Region Nordkaukasus.50 Für Erschießungen von Ausländern herrschten in der UdSSR dieselben Regeln wie für sowjetische Bürger. Dabei gingen die Behörden, die internationale Verwicklungen fürchteten, hier behutsamer vor. So wurde bei Urteilen gegen deutsche Bürger über das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) die deutsche Botschaft informiert, die ihre Einschätzung vortrug. Manchmal wirkte dies als Garantie gegen gerichtliche Willkür und konnte zur Milderung oder Aufhebung des Urteils führen. So wandte sich der geschäftsführende Staatsanwalt des Obersten Gerichts, S. Piljavskij, am 16. Januar 1933 mit der Bitte an das CIK-Präsidium, ein Urteil des Obersten Gerichts Uzbekistans gegen den deutschen Bürger Georg St., der wegen Spionage zum Tode durch Erschießen verurteilt worden war, aufzuheben: »Gemäß eines Vertrags mit Deutschland werden Urteile gegen deutsche Bürger zur Information an die deutsche Botschaft übergeben. Das Urteil ist im vorliegenden Fall juristisch so stümperhaft verfasst, dass die Einsichtnahme der deutschen Botschaft nach Meinung des Gen. Krestinskij auf keinen Fall
48 Beschluss Politbüro CK VKP (b) Nr. PI 16/31/16 vom 16.9.1932. In: Stalinskoe Politbjuro, S. 61 f. 49 Beschluss Politbüro Nr. P123/47 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72, 1. 110). 50 Beschlüsse Politbüro Nr. P129/13 und P129/103. In: Stalinskoe Politbjuro, S. 62 f.
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Nikita Petrov zugelassen werden kann.«51 Bis Juni 1941 wandte sich das NKID oftmals gegen Todesurteile gegen deutsche Bürger und plädierte für die Umwandlung der Todes- in lange Haftstrafen.52 Das Verfahren zur Vorlage von Entscheidungen bei der Kommission des Politbüros für politische Fälle wurde im Beschluss des Politbüros vom 15. Juli 1934 »Über die Arbeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft« genau fixiert.53 Darin hieß es, dass alle Beschlüsse des gerichtlichen Aufsichtskollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR über Verurteilungen zum »Höchstmaß des sozialen Schutzes« (VMSZ) der Politkommission des CK VKP (b) zur Bestätigung vorgelegt werden mussten, während Urteile, die dieses Aufsichtskollegium nicht durchliefen, durch das Oberste Gericht der UdSSR der Politkommission vorgelegt wurden; Urteile des Obersten Gerichts der RSFSR schließlich waren unmittelbar durch das NKJu RSFSR bei der Kommission einzubringen. Das bedeutete, dass die Kommission alle Fälle aus der ganzen UdSSR, in denen Verurteilungen zum Tode durch Erschießen erfolgt waren, erhielt. Ausnahmen stellten nur die Fälle dar, die gemäß Gesetz vom 1. Dezember 1934 verhandelt worden waren, da diese Urteile für endgültig erachtet wurden und das Gesetz weder Kassationsbeschwerden noch Begnadigungsgesuche zuließ.54 Daneben kam es auch zu vorübergehenden Aussetzungen: Das betraf beispielsweise Verfahren in weit von Moskau entfernten Regionen, die im Interesse einer Repressions-Kampagne schnelle Entscheidungen erforderten, oder Beschlüsse außergerichtlicher Organe, die nicht dem Obersten Gericht der UdSSR unterstanden und auf diese Weise aus dem legalen Verfahrensweg herausfielen. Das Politbüro CK VKP (b) genehmigte etwa am 19. September 1934 auf Bitten Molotovs dem ersten Sekretär des Westsibirischen Regionskomitees, Robert I. Ejche, »in Westsibirien im September und Oktober 1934 die Sanktion zur Höchststrafe zu erteilen«.55 Die Todesurtei51 GARF, f. 9474, op. 16, d. 47,1. 3-3ob. N. N. Krestinskij war zu dieser Zeit Stellv. NKID. 52 In den Jahren 1937-1938 wurden indes auch Deutsche erschossen. Vgl. Stalinskie rasstrel'nye spiski, CD-ROM Moskau 2002. 53 Beschluss Politbüro Nr. P10/150/133. In: Stalinskoe Politbjuro, S. 64 f. 54 Im Übrigen sind für die zweite Hälfte der 1930er Jahre keine Beispiele bekannt, in denen das Gesetz vom 1.12.1934 durch Militärtribunale angewendet worden wäre. Deren Urteile gelangten im Zuge der Kassationsverfahren für gewöhnlich zum Militärkollegium des Obersten Gerichts (VKVS). In den Provinzen fanden in der Regel auswärtige Sitzungen des Militärkollegiums statt. Hierbei gaben jeweils das Politbüro oder Stalin selbst vorab die Sanktion zur Anwendung des Gesetzes vom 1.12. 55 Stalinskoe Politbjuro, S. 65.
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Die Todesstrafe in der UdSSR le, die 1937-1938 außergerichtlich, also durch Trojkas der NKVD-UNKVD sowie durch Kommissionen des NKVD oder des Staatsanwalts der UdSSR gefällt wurden, gelangten ebenfalls nicht zur Politbüro-Kommission. Das gilt - ab Februar 1937 - auch für die vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR (VKVS) verkündeten Todesurteile. Das VKVS »verhandelte« in dieser Zeit als Gericht erster Instanz auf der Grundlage des Gesetzes vom 1. Dezember 1934 und fertigte listenmäßig Urteile für Personen aus, die alle vorab von Stalin und seinen nächsten Mitarbeitern sanktioniert worden waren.56 Während der Moskauer Schauprozesse (1936 bis 1938) schließlich trat nicht die Kommission, sondern Stalin selbst als Lenker der Geschicke auf. Er befand sich Ende August 1936 in Urlaub und erteilte von dort aus seine Anweisungen. In einem Brief vom 23. August 1936 an Lazar' M. Kaganovic beispielsweise billigte Stalin den Entwurf des Urteils gegen das »Antisowjetische Trockistische Zentrum« (Zinov'ev, Kamenev u. a.). Er sei, so Stalin »im Kern richtig [...], aber er bedarf noch des stilistischen Feinschliffs«. Aber im Endteil des Urteils mussten Stalins Meinung nach »die abschließenden Worte ausgestrichen werden: »Das Urteil ist endgültig und unterliegt keiner Berufung. Diese Worte sind überflüssig und erzeugen einen schlechten Eindruck. Man darf keine Berufung zulassen, aber darüber im Urteil zu schreiben ist unklug«.5' Den Verurteilten war zwar gestattet, Gnadengesuche einzureichen. Aber noch am Tag der Urteilsverkündung, am 24. August, erhielt Stalin von seinen Vertrauten Kaganovic, Grigorij K. Ordzonikidze, Kliment E. Vorosilov und Nikolaj I. Ezov die dringende Mitteilung: »Das Politbüro hat vorgeschlagen, die Gesuche abzulehnen und das Urteil heute nacht zu vollstrecken.«58 Die Antwort Stalins vom gleichen Tag war lakonisch: »Ich bin einverstanden.«59 Die Beschickung der Kommission für politische Fälle - die 1935 in Kommission für Gerichtssachen umbenannt wurde -, erfolgte durch Beschlüsse des Politbüros. Mitte der 1930er Jahre nahmen neben dem Kommissionsvorsitzenden Michail I. Kalinin,60 dem Staatsanwalt der UdSSR (Ivan A. Akulov, dann Andrej Ja. Vysinskij), dem Volkskommissar des Innern oder seinen Stellvertretern (Genrich G. Jagoda und Georgij E. Prokof ev bzw. Ezov, Lev N. Bel'skij und Vasilij V. Cernysov) sowie Matvej F. Skirjatov (von der Parteikontrollkommission) als Mitglieder an den Sitzungen immer wieder Vertreter verschiedener Institutionen teil (des CIK oder der Obersten Ge56 57 58 59 60
Vgl. Stalinskie rasstrel'nye spiski, CD-ROM Moskau 2002. RGASPI, f. 558, op. 11, d. 93, 1.61. Ebd., 1.91. Ebd., 1. 89. Kalinin war zu dieser Zeit Mitvorsitzender des CIK und Mitglied des Politbüros.
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Nikita Petrov richte der RSFSR und der UdSSR usw.). Anfang März 1937 beschränkte das Politbüro den Kreis der Sitzungsteilnehmer strikt auf Kommissionsmitglieder: »Nur bei Notwendigkeit« seien der Staatsanwalt und der Vorsitzende des Obersten Gerichts dazuzuladen.61 Die Ausgestaltung des Kommissionsprotokolls war standardisiert. Nach Nennung der Sitzungsteilnehmer folgte auf vielen Seiten, unterteilt nach den verschiedenen Instanzenzügen, eine Aufstellung der Fälle, in denen die Todesstrafe verhängt worden war. In der linken Spalte wurden Name, Vorname und Vatersname der Verurteilten aufgeführt, dazu das Urteilsdatum, das Gerichtsorgan, die Artikel der Anklage und der knappe Kern des Verfahrens. In der rechten Spalte befand sich der Resolutionsteil. In der Regel war es eine kurze Formulierung: »in die Anwendung der Erschießung ist einzuwilligen«; manchmal erfolgten Vermerke über die Umwandlung des Todesurteils in eine bestimmte Haftstrafe.62 Die Sitzungshäufigkeit der Kommission, die sich anhand der vom Politbüro bestätigten Kommissionsprotokolle ermitteln lässt, variierte mit den Jahren: 1934 wurden beispielsweise elf Protokolle bestätigt, 1935 17, 1936 bis 1938 je 13, 1939 waren es schon 36 Protokolle. Nach 42 Sitzungen im Jahr 1940 wurde 1941 der Höchststand errreicht (93 Sitzungen). Danach sind für 1942 76 Protokolle und für 1943 46 verzeichnet.63 Daneben traf die Kommission in der Zeit von März 1935 bis Juni 1938 auch viele außerordentliche Entscheidungen.64 Im Anfang ging es um Todesurteile, die vor Ort wegen bewaffneter Raububerfalle und gewalttätiger Angriffe gefällt worden waren. Im Zuge der Kampagne zur Verstärkung des Kampfes gegen die allgemeine Kriminalität erhielten diese Fälle besondere öffentliche Bedeutung, und in der Regel berichtete die Presse darüber. Es versteht sich von selbst, dass die Urteile nach ihrer Verkündung einer schnellen Vollstreckung bedurften - von daher auch die Dringlichkeit der Bestätigung durch die Politbüro-Kommission. In derlei Fällen wurden die Kommissionsbeschlüsse nicht durch Politbüro-Protokolle bestätigt, wie es für reguläre Sitzungen üblich war. Die Kommission führte hier keine wirklichen Sitzungen durch, sondern prüfte die vom Obersten Gericht der UdSSR und der Obersten Gerichte der Unionsrepubliken eintreffenden Bitten um Bestätigung der Todesurteile im Umlaufverfahren. In der Regel war ein Schreiben, das eine kurze Darstellung des Vergehens enthielt, mit der Bitte, »die Erschießung zu sanktionieren«, an den »Vorsitzenden der Kommission des Po61 62 63 64
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Beschluss des Politbüro vom 4.3.1937 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 84, 1. 78). Bis September 1937 betrug die höchstmögliche Haftdauer 10 Jahre, danach 25 Jahre. AP RF, f. 3, op. 57, d. 84. Beispiele in: AP RF, f. 3, op. 57, d. 78-83.
Die Todesstrafe in der UdSSR litbüros CK VKP (b) für Todesurteile - Gen. Kalinin« adressiert. Die Kommissionsmitglieder unterschrieben im Fall ihres Einverständnisses auf der ersten Seite unter der gegebenen Rubrik. Ab September 1937 wurden durch dasselbe Verfahren auch die zahlreichen Todesurteile, die wegen »Schädlingstätigkeit« in der Viehzucht und in der Getreidebeschaffung verhängt wurden, bestätigt. Außerdem führten Urteile von Militärtribunalen gegen »Mitglieder militär-faschistischer Diversionsorganisationen« u.a. zu außerordentlichen Entscheidungen der Kommission. Da diese Prozesse häufig ihren Widerhall in der Presse fanden, war auch hier bei der Urteilsbestätigung Eile geboten.65 Über die bereits erwähnten bestimmten Ausnahmen hinsichtlich der Prüfung durch die Kommission hinaus brachten die Besatzungs- und Kriegsjahre neue Abweichungen mit sich. So erhielten die Kriegsräte der Ukrainischen und der Belorussischen Front am 3. Oktober 1939 das Recht, Todesurteile wegen »konterrevolutionärer« Verbrechen von Zivilisten aus der Westukraine und Belorusslands bzw. von Militärangehörigen der ehemaligen polnischen Armee zu bestätigen.66 Da sich in den Kriegsräten Vertreter der Partei befanden, hatte Stalin zu ihnen offenbar Vertrauen. Nach der Sowjetisierung der eroberten polnischen Gebiete wurde diese Sonderrege! auf Anregung LTrichs und des Justizkommissars der UdSSR. Nikolaj M. Ryckov, hin aufgehoben.67 Nach Kriegsbeginn beschloss das Staatliche Verteidigungskomitee (GOKO) am 17. November 1941 die Verordnung Nr. 903ss über die Anwendung von Erschießungen. Auf Grundlage dieses Beschlusses wurde der Sonderkonferenz beim NKVD UdSSR (OSO NKVD) das Recht zur Verhängung der Höchststrafe übertragen.68 Es versteht sich, dass die Todesurteile der OSO in Analogie zu früheren außergerichtlichen Urteilen nicht der Kommission für Gerichtssachen vorgelegt wurden. In den Kriegsjahren wurde zudem wieder die Regel eingeführt, dass Urteile der Militärtribunale an der Front durch die Kriegsräte der Fronten bestätigt wurden. Daher gelangten diese Fälle nicht vor die Politbüro-Kommission.69 65
66 67 68 69
Die CIK-Verordnung vom 14.9.1937 hatte für Verfahren gegen »konterrevolutionäre Schädlingstätigkeit und Diversion« Berufungsklagen ausgeschlossen, im Unterschied zum Gesetz vom 1.12.1934 aber das Einreichen von Gnadengesuchen gestattet. Daher die Befassung durch die Politbüro-Kommission. Sbornik, S. 33 f. Beschluss Politbüro Nr. P7/270 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72,1. 132). Beschluss Politbüro Nr. Pll/214 vom 17.1.1940 (AP RF, f. 3, op. 57, d. 72, I. 133). Beschluss Nr. 903ss vom 17.11.1941 (RGASPI, f. 644, op. 1, d. 14,1. 101). Vgl. Abschnitt 4 sowie den Beitrag Lavinskaja in diesem Band.
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Nikita Petrov In Verbindung mit der Abschaffung der Todesstrafe am 26. Mai 1947 durch den Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets (PVS) stellte die Kommission des Politbüros für Gerichtssachen ihre Tätigkeit ein. Das Kommissionsprotokoll Nr. 19, das am 13. Mai 1947 dem Politbüro zur Bestätigung vorgelegt wurde, wurde durch Beschluss vom 22. Mai 1947 gebilligt. Das folgende Protokoll vom 20. Mai wurde vom verantwortlichen Kommissionssekretär, I. Babuchin, an den Apparat der Kommission zurückgeleitet: »Zurück in Verbindung mit dem Ukaz des PVS UdSSR vom 26. Mai 1947.«70 Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Nikolaj M. Svernik, versuchte nun, der »Begnadigungs-Kommission« seines Apparats neue Bedeutung zu verschaffen. Sie war 1938 gegründet worden. Offenbar hatte die Politbüro-Kommission für Gerichtssachen die beim Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR angesiedelte Begnadigungskommission hinsichtlich der Prüfung von Gnadengesuchen von zum Tode Verurteilten faktisch ersetzt.71 Das heißt, wenn die Kommission des Politbüros ein Urteil bestätigte (revidierte), so wurde das Gnadengesuch automatisch abgelehnt (befürwortet). Damit prüfte die Kommission des Präsidiums des Obersten Sowjets im Kern nur die Gesuche von zu Haftstrafen Verurteilten und konnte die Haftdauer absenken, Strafen erlassen u.a. Nun, so Svernik am 5. Juni 1947 an Stalin, nach Abschaffung der Todesstrafe und der Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Diebstahl,72 »werden kompliziertere Fälle eintreffen und die Arbeit der Kommission gewinnt einen verantwortungsvolleren Charakter«. Daher schlug sich Svernik selbst als neuen Kommissionsvorsitzenden sowie Skirjatov, Generalstaatsanwalt Konstantin P. Gorsenin, den Stellvertretenden MVD Cernysov sowie das Mitglied von Zentralkomitee und Präsidium des Obersten Sowjets, Semen M. Budennyj, als neue Mitglieder vor. Stalin hielt die Reorganisation schlicht für »nicht nötig« und ließ dies Svernik durch seinen Sekretär mitteilen.73
70
Beschluss Nr. P58/96-op vom 22.5.1947 und Protokoll Nr. 20. AP RF, f. 3, op. 57, d. 87. 71 Bis zur Gründung der Kommission beim Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR existierten Gnadenkommissionen beim All-Russischen Zentralen Exekutivkomittee (VCIK) und beim Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR (CIK), die Gnadengesuche prüften. 72 Dies spielt auf die Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 4.6.1947 an. 73 APRF, f. 3, op. 57, d. 73,1. 141.
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Die Todesstrafe in der UdSSR
3.
Vollstrecker
Anfangs gab es in den Organen der VCK kein spezielles Amt, ja nicht einmal die Idee von der Notwendigkeit besoldeter Henker. Es wurde angenommen (und praktiziert), dass, wenn es darauf ankam, die Vollstreckung von Todesurteilen zu den Pflichten eines jeden Tschekisten gehörte. In der Praxis befassten sich im Moskauer Zentralapparat der VCK immer dieselben Personen mit der Urteilsvollstreckung. Ihr Kreis blieb für Jahrzehnte mehr oder weniger derselbe. Diese Gruppe erhielt die inoffizielle Bezeichnung »Specgruppe«. Auch wenn sie informell nach dem Prinzip zusammengestellt wurde, dass die entsprechenden Tschekisten fähig sein mussten, fast täglich an der Erschießung von Menschen teilzunehmen, bestand sie vor allem aus Mitarbeitern der Kommandantur. Diese Zuteilung mag noch mehr oder weniger nachvollziehbar erscheinen, da die Kommandantur im Wesentlichen die bewaffnete Wache der Gebäude der Organe von VCK-OGPU-NKVD-MGB war. Dagegen ruft die Teilnahme von Personen der direkten Wache Stalins doch einige Verwunderung hervor, denn ihre Aufgabe bestand in der Bewachung Stalins und anderer Personen der oberen Kreml'-Führung, nicht aber in der Erschießung Verurteilter. In den Protokollen der Erschießungen, die 1922 bis 1929 in der Lubjanka durchgeführt wurden, lassen sich folgende Teilnehmer an Erschießungen feststellen: G. Chrustalev, G. V. Golov, P. I. Maggo, A. K. Cernov, A. P. Rogov, F. I. Sotnikov, V I. Sigalev, V. M. Blochin, P. P. Pakaln, R. M. Gabalin, I. F. Jusis.74 Bei ihnen handelt es sich mehrheitlich um Mitarbeiter einer Spezialabteilung beim OGPU-Kollegium, die im Etatplan als »Kommissare für besondere Aufgaben« aufgeführt und für die Bewachung Stalins und anderer Führer zuständig waren (Rogov, Jusis, Sotnikov, Gabalin, Cernov, Pakaln; zu diesem Kreis gehörte auch Ja. F. Rodovanskij).75 Dagegen dienten Maggo, Sigalev und Blochin in der OGPU-Kommandantur. Letzterer war hier ab 1926 Kommandant, ständiger Befehlshaber der Erschießungen, ein Vollstrecker bis zur Pensionierung 1953. Aus späterer Zeit lassen sich 1.1. Sigalev (der Bruder von V. I. Sigalev), P. A. Jakovlev (Chef der Regierungsgarage, danach Leiter der Autoabteilung der OGPU), I. I. Antonov, A. D. Dmitriev, A. Emel'janov, E. A. Mac, 1.1. Fel'dman, D. E. Semenichin nachweisen. Einige Henker der ersten Jahre verließen das Kommando auf ganz »traditionelle« Art und Weise: Sie kamen - 1937 - nunmehr als Opfer in das Hinrichtungsgebäude (Golov, Pakaln, Sotnikov). Was haben Blochin und Maggo wohl empfunden, als sie ihre ehemaligen Genossen erschossen? 74 Zentralarchiv FSB (CA FSB), f. 7, op. 1, d. 163. 75 Stand zum 1.12.1929. Vgl. Svobodnaja mysl', (1998) Nr. 8, S. 96.
53
Nikita Petrov Für gewöhnlich veranstalteten die Henker nach der Hinrichtung ein Trinkgelage. »Vodka tranken wir natürlich bis zur Bewusstlosigkeit. Was Sie auch sagen, aber die Arbeit war nicht leicht. Wir haben so getrunken, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Und wir haben uns mit Eau de Cologne gewaschen. Bis zum Gürtel. Anders konnte man sich nicht vom Blut- und Pulvergeruch befreien. Selbst die Hunde sind vor uns zurückgeschreckt, und wenn sie gebellt haben, dann nur von weitem.«76 Es ist nicht verwunderlich, dass mehrere Henker früh verstarben oder den Verstand verloren: Jusis starb schon 1931, Maggo 1941 und V. I. Sigalev 1942. Andere galten bei der Pensionierung als Invalide, entweder wegen Schizophrenie (Emel'janov) oder wegen einer Nerven-Krankheit (Mac).77 Stalin indessen hatte keine Angst, dass hinter seinem Rücken ständig Menschen beschäftigt waren, die sich daran gewöhnt hatten, jemanden ins Genick zu schießen. Er pflegte eine besondere, beinahe fürsorgliche Beziehung zu den Vollstreckern. Anfang 1939, als die vom neuen Volkskommissar des Innern, Lavrentij P. Berija, begonnene Säuberung des NKVD von den Ezov-Kadern in vollem Gang war, erhielt die NKVD-Führung beispielsweise Informationen darüber, dass Blochin dem ehemaligen NKVD-Sekretär P. P. Bulanov sowie selbst dem erschossenen Volkskommissar Jagoda »zu nahe« stünde, an ihren »verschwörerischen Plänen« mitgewirkt habe und daher der Verhaftung unterläge. Berija nahm das gesamte Material, bereitete den Verhaftungsbefehl vor und begab sich zu Stalin, um dessen Sanktion zu erhalten. Zu seiner Verwunderung lehnte Stalin ab. Später, 1953, sagte Berija nach seiner eigenen Verhaftung hierzu aus: »I. V. Stalin stimmte nicht mit mir überein, erklärte, dass man diese Menschen nicht einsperren solle, dass sie eine >rohe< Arbeit leisteten. Dann rief er den Chef der Wache, Vlasik, und fragte ihn, ob Blochin an der Vollstreckung von Urteilen teilnehme, und ob man ihn verhaften müsse? Vlasik antwortete, dass er teilnehme, und mit ihm zusammen sein Helfer A. M. Rakov, und er äußerte sich positiv über Blochin.«78 Ins NKVD zurückgekehrt, legte Berija nach einem Gespräch mit Blochin den Verhaftungsbeschluss mit folgender Resolution in die Schublade: »Streng geheim. Ich habe Blochin und leitende Mitarbeiter der Kommandatur zu mir gerufen, und ihnen etwas aus den Aussagen über sie mitgeteilt. Sie versprachen, hart zu arbeiten und künftig der Partei und der Sowjetmacht ergeben zu sein. 20. Februar 1939. L. Berija.«79 Blochin wurde erst nach dem
76 77 78 79
54
B. Sopel'njak, Smert' v rassrocku, Moskau 1998. S. 275 f. Ebd., S. 278. Vgl. insgesamt auch Butovskij poligon 8, S. 85-96 AP RF, f. 3. op. 24, d. 469,1. 43-53. Ebd.
Die Todesstrafe in der UdSSR Tod des Führers aus den MVD-Organen entlassen. Berija entschied, dass er sich dort »zu lange aufgehalten« hatte.80 Außer den zum Tode Verurteilten, deren Fälle von den StaatssicherheitsOrganen (OGPU-NKVD) bearbeitet worden waren, gab es auch diejenigen, die von normalen Gerichten wegen Kriminaldelikten zum Tode durch Erschießen verurteilt worden waren. In derlei Fällen beauftragten die urteilenden Gerichte, die für die Urteilsvollstreckung selbst verantwortlich waren, ihre jeweiligen Gerichtskommandanten mit den Hinrichtungen.81 Trotzdem nahmen auch hierbei - in Moskau wie in den Regionen - häufig Mitarbeiter von OGPU-NKVD an der Urteilsvollstreckung teil.82 Die Körper der Hingerichteten wurden bis einschließlich 1926 auf einem Friedhof auf dem Gelände des Krankenhaus Jauzskaja begraben.83 Ab 1930 wurden daneben auch die Ofen des Moskauer Krematoriums auf dem Friedhof Donskoe zur Verbrennung der Leichen genutzt; die Asche wurde im Geheimen in der Nähe des Krematoriums bestattet.84 Während der Massenverfolgungen von 1937/38 erschossen die NKVDMitarbeiter täglich so viele Menschen, dass für deren Bestattung in der Nähe der Oblast'-Zentren spezielle Orte hergerichtet wurden. Die Verurteilten wurden nun häufig in Autos zum Bestattungsort gebracht und direkt dort erschossen. Diese Stätten stellten übrigens bis zum Ende der 1980er Jahre ein von der Sowjetmacht streng gehütetes Geheimnis dar. Selbst in den KGB-Archiven wurden nicht sehr viele Dokumente aufbewahrt, die Auskunft darüber geben könnten, wo genau sich diese Orte befanden und wie viele Menschen dort begraben sind. Wurden doch einmal zufällig Massengräber entdeckt,85 so wurden die Toten als Opfer »der deutsch-faschistischen Okkupanten« oder hingerichtete »Deserteure aus den Kriegsjahren« bezeichnet.86 80 81 82
83 84
85 86
Ebd. Direktivbrief des NKJu und der Staatsanwaltschaft der UdSSR Nr. 43/s vom 27.9.1936 (GARF, f. 9492, op. la, d. 1, I. 19). Vgl. Anordnung des Vorsitzenden des Militär-Transportkollegiums des Obersten Gerichts vom 22.5.1926 an den Kommandanten des Butyrka-Gefängnisses und Erschießungsprotokoll vom selben Tag (GARF, f. 9474, op. 16, d. 7,1. 1 f., 8; dazu Einzelfälle ebd., d. 10, 1. 1-15, d. 7,1. 10 und d. 47, 1. 1 f.). Vgl. beispielhaft die Notiz des Kommandanten des Obersten Gerichts für die dortige Leichenhalle (GARF, f. 9474, op. 16, d. 7,1. 4). Ungesicherten Angaben zufolge wurden auch in den Öfen des Anfang 1939 eröffneten Gefängnisses Suchanovskaja in Vidnyj bei Moskau Leichen verbrannt: A. Anin, Suchanovskij zastenok, in: Nedelja. (1989) Nr. 43. S. 15. So legte der Fluss Ob' 1979 bei einer Überschwemmung ein Massengrab frei. Literaturnaja gazeta vom 7.11.1990; Izvestija vom 2.11.1990 Ebd.
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Nikita Petrov Erst gegen Ende der Gorbacev'schen perestrojka nahm die Suche nach Hinrichtungs- und Bestattungsplätzen einen systematischen Charakter an. 8 7 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre stellten Folterungen eine grundsätzliche Untersuchungsmethode des NKVD dar. Man ließ die Opfer aber auch nach dem Todesurteil nicht in Ruhe und schlug sie selbst jetzt noch. So befahl Berija als CK-Sekretär Gruziniens den georgischen Tschekisten, die zum Tode Verurteilten unmittelbar vor der Hinrichtung zu verprügeln: »Haut ihnen, bevor sie ins Jenseits gelangen, in die Fresse.« 88 Ein Mitarbeiter des NKVD, ein Augenzeuge der Erschießungen, erinnerte sich später daran, welch »furchtbaren Szenen sich am Hinrichtungsort abspielten«, dass sich die Mitarbeiter des NKVD »wie Kettenhunde auf die völlig hilflosen, mit Seilen gefesselten Menschen stürzten und sie gnadenlos mit ihren Pistolengriffen verprügelten«. 89 In einigen Regionen des Landes wurden in diesen Jahren zudem neue Hinrichtungsarten genutzt. In Vologda erschlugen NKVD-Mitarbeiter im Dezember 1937 55 Menschen mit Beilen. 90 In der Moskauer NKVD-Verwaltung kam 1938 ein speziell ausgerüsteter Wagen für die Ermordungen zum Einsatz, der Abgase in den dicht verschlossenen Wagenkasten ableitete. 91 Hinter dieser »Erfindung«, die den Henkern die Arbeit erleichterte, steckte der Leiter der Verwaltungs- und Wirtschaftsabteilung des UNKVD der Mos87
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Vgl. beispielsweise Meldungen in der Literaturnaja gazeta (30.11.1988 und 10.10.1990), in der Izvestija (28.10.1989, 8.12.1990, 3.10.1991 und 17.4.1992) oder den Moskovskie novosti (9.10.1988). Vgl. ferner G. Tarnavskij/V Sobolev/ E. Gorelik, Kuropaty, sledstvie prodolzaetsja, Moskau 1990. Für Moskau vgl. nun: Rasstrel'nye spiski, Band 1: Donskoe kladbisce. 1934-1940, Moskau 1993; Band 2: Vagan'kovskoe kladbisce. 1926-1936, Moskau 1995; Butovskij poligon. 1937-1938 gg. Kniga pamjati zertv politiceskich repressij, Bände 1-7, Moskau 1997-2003; Rasstrel'nye spiski. Moskva, 1937-1941. »Kommunarka«, Butovo. Kniga pamjati zertv politiceskich repressij, Moskau 2000. Vgl. ferner den Bericht von Aleksandr N. Jakovlev u.a. vom 25.12.1988 an das CK KPSS und den Bericht des KGB-Vorsitzenden Krjuckov vom 10.7.1990 an das CK über fehlende Archivunterlagen zu Bestattungsorten. In: Aleksandr N. Jakovlev (Hg.), Reabilitacija. Kak eto bylo, Band 3, Moskau 2004, S. 142-151, hier 149 und 512. (Anm. d. Übers.). Aufzeichnung der Kommission des Präsidiums des CK KPSS über die Ergebnisse der Untersuchung der Verfolgungsgründe und der Umstände der politischen Prozesse in den 30er Jahren für das CK-Präsidium, Februar 1963. In: Jakovlev (Hg.), Reabilitacija. Kak eto bylo, Band 2, Moskau 2003, S. 541 ff., hier 589. Ebd. Ebd. Komsomol'skaja Pravda vom 28.10.1990. Nach Angaben des ehemaligen Mitarbeiters des Moskauer UKGB A. Oligov wurden derartige Vergasungswagen schon 1936 eingesetzt. Argumenty i fakty, (1993) Nr. 17.
Die Todesstrafe in der UdSSR kauer Oblast', I. D. Berg. In Verhören eines ehemaligen Kollegen, die 1956 stattfanden, heißt es dazu: »Berg und seine operative Gruppe vollstreckten täglich einige Hundert Urteile. Ich erinnere mich, dass Berg bei einem Verhör gestand, dass er die Urteilsvollstreckung mit Hilfe von Autos ^Seelentoten) organisierte und dies damit erklärte, dass er eine Anweisung der Führung des UNKVD der Moskauer Oblast' befolgte und dass es ohne sie unmöglich gewesen wäre, eine solch große Zahl von Hinrichtungen durchzuführen.« Im Verhörprotokoll heißt es weiter: »Aus Berichten während der Verhöre Bergs und aus Gesprächen, die unter den Mitarbeitern der Moskauer UNKVD geführt wurden, war bekannt, dass diese Prozedur der Urteilsvollstreckung, die Berg organisiert hatte, ekelhaft war: man zog die zum Tode durch Erschießen Verurteilten nackt aus, fesselte sie, verstopfte ihnen den Mund und warf sie in das Auto. Unter Berg wurde das Vermögen der Verhafteten veruntreut.«92 Es ist nicht auszuschließen, dass derartige Autos auch bei anderen regionalen NKVD-Stellen, zum Beispiel in Char'kov oder Krasnodar, zum Einsatz kamen und hier später, im Krieg, vom deutschen Besatzungsregime - zusätzlich zu eigenen Entwicklungen - genutzt wurden.93 Zumindest wurde die Herkunft der Wagen in den Prozessen von Char'kov und Krasnodar, in denen Deutsche u. a. wegen des Einsatzes von »Seelentötern« angeklagt waren, vom Gericht nicht geprüft. Nach dem Ende des »Großen Terrors« wurden im Frühling 1940 neue Massenerschießungen durchgeführt. Nun waren polnische Kriegsgefangene und Zivilisten die Opfer. Die Kriegsgefangenen wurden an drei Stellen erschossen: in Katyn' (bei Smolensk), in Kalinin (heute Tver') und in Char'kov. Mit Ausnahme von Katyn', wo die ersten Gefangenen direkt in dem Wald, in dem auch ihre Leichen vergraben wurden, erschossen wurden, fanden alle Erschießungen in den Inneren Gefängnissen der NKVD-Verwaltungen dieser Oblaste statt.94 Die Erschießungen in Kalinin (heute befindet sich ein Medizinisches Institut an dem Ort) wurden von Blochin, dem aus Moskau angereisten NKVD-Kommandanten, befehligt. Jede Nacht wurden 200-250 Menschen erschossen, auf Lastwagen an den Rand des Dorfes Mednoe gefahren und in einer von einem Bagger ausgehobene Grube verscharrt.
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Diese Aussagen von N. P. Charitonov befinden sich in der Untersuchungsakte Bergs (GARF, f. 10035, op. 1, Untersuchungsakte I. D. Berg, 1. 196). Vgl. L. Golovkova, V rodnom kraju. In: Butovskij poligon. 1937-1938 gg. Kniga pamjati zertv politiceskich repressij, Band 8, Moskau 2004, S. 9-180, hier 72-85. 93 Zur eigenständigen deutschen Entwicklung vgl. Mathias Beer, Die Entwicklung der Gaswagen beim Mord an den Juden. In: VfZG, 35 (1987), S. 403-417. Anm. d. Übers. 94 Izvestija vom 26.9.1991.
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Nikita Petrov Der Erschießungsvorgang war bis ins Detail ausgearbeitet. Die aus dem Kriegsgefangenenlager Ostaskovskij gebrachten Kriegsgefangenen kamen zunächst in Gefängniszellen unter. Dann wurden sie einzeln herausgeführt, und man überprüfte Name, Vorname und Geburtsjahr. Danach wurden den Gefangenen Handschellen angelegt und sie in den Keller geführt, wo sie in einem speziellen geräuschisolierten Raum durch Genickschuss ermordet wurden.95 Wie ein Schlächter, so legte auch Blochin vor der Exekution eine besondere Kleidung an: Eine braune Schirmmütze, eine lange Lederschürze und Handschuhe, die bis über die Ellbogen reichten.96 Blochin hielt sich einen Monat in Kalinin auf: In dieser Zeit wurden rund sechstausend Polen erschossen.97
4.
Der Krieg und öffentliche Hinrichtungen
Direkt nach Kriegsbeginn im Juni 1941 fasste die sowjetische Führung, die nicht besonders gute Zukunftsperspektiven vor Augen hatte und die einstweilige Unmöglichkeit sah, den Angriff der Wehrmacht aufzuhalten, einen Beschluss zur Durchführung von Massenerschießungen. Eine solche Maßnahme passte vollkommen zu den bolschewistischen Regeln - im Augenblick der Gefahr potentielle »innere Feinde« zu vernichten. In den Augen Stalins diente dies als Garantie der »Festigung des Hinterlands«.98 Da sich das kommunistische System ausnahmslos auf Angst und Gewalt stützte, war die Verstärkung von Repressionen im Augenblick der Gefahr nahezu instinktiv. Bereits am 27. Juni 1941 wandten sich der Volkskommissar des Innern, Berija, und der Volkskommissar für Staatssicherheit, Vsevolod N. Merkulov, mit dem Vorschlag an Stalin, gemäß der von ihnen vorgelegten Listen 1 302 Menschen zu erschießen: Es seien »Staatsverbrecher, die es wegen des Cha95 Novoe Vremja, (1991) Nr. 42, S. 35; Komsomol'skaja pravda vom 10.10.1991. 96 Ebd. 97 Ausführlich siehe N. S. Lebedeva, Katyn': prestuplenie protiv celovecestva, Moskau 1994; Katyn'. Plenniki neob-javlennoj vojny. Dokumenty i materialy, Moskau 1997; I. S. Jazborovskaja/A. Ju. Jablokov/V S. Parasadnova, Katynskij sindrom v sovetsko-pol'skich i rossijsko-pol'skich otnosenijach, Moskau 2001. 98 Es versteht sich von selbst, dass es neben den Erschießungen auch zu weiten, präventiven Verhaftungen kam. Vom 22.6. bis zum 10.7.1941 wurde im ganzen Land von den NKGB-Organen »eine Operation zur Herausziehung des antisowjetischen Elements und von Personen, die defätistische Agitation betreiben«, durchgeführt und 19 364 Personen verhaftet (CA FSB, f. 3-os, op. 8, d. 55, 1.2345).
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Die Todesstrafe in der UdSSR rakters der von ihnen begangenen Verbrechen verdienen, der Höchststrafe, dem Tode durch Erschießen, unterworfen zu werden«. In den Opferlisten standen 775 Verhaftete, die sich in Moskauer Gefangnissen befanden, sowie 527 Personen, die schon früher verurteilt worden waren und ihre Strafe in den Gefängnissen von Orel und Vladimir verbüßten.99 Nur drei Tage später teilten Berija und Merkulov Stalin mit, dass die lokalen Organe des NKGB auf ihre Anweisung hin die Fälle von Verhafteten prüften und »die, die aufgrund der von ihnen begangenen Verbrechen« erschossen werden sollten, auswählten. Deren Zahl belief sich auf 1282 Personen.100 Die Erschießungen anhand der NKGB-Listen fanden Ende Juli 1941 statt. Bis dahin tagte das Militärkollegium des Obersten Gerichts und verurteilte die Häftlinge zur Höchststrafe. Erschießungen von Häftlingen des Gefängnis Orel wurden zusätzlich durch eine von Stalin unterschriebene Entscheidung des GOKO vom 6. September 1941 sanktioniert.101 Am 8. September wiederum fertigte das Militärkollegium ohne Gerichtsverhandlung und in Abwesenheit der Gefangenen gegen 161 Häftlinge ein Todesurteil aus. Am 11. September wurden 157 Häftlinge im Wald Medvedevskij, unweit der Stadt Orel, erschossen, vier Häftlinge, die sich in anderen Gefängnissen befanden, eine Woche später.102 Die Leiter des UNKVD der Oblast' Orel, die für die Durchführung der Erschießungen verantwortlich waren, taten alles, um die Richtstätte zu tarnen: »Die Bäume, die sich im Wald am Ort der Bestattungen befanden, wurden vorher mit Wurzeln ausgegraben, und nach der Beerdigung der Erschossenen wieder eingepflanzt«; bis zur Eroberung durch die Deutschen (am 3. Oktober 1941) begaben sich Tschekisten mehrmals als Pilzsammler getarnt in den Wald, »um den Zustand des Bestattungsplatzes zu prüfen«.103 Ein weiterer Grund für Massenhinrichtungen bestand im schnellen Vormarsch der deutschen Truppen und in der Unmöglichkeit, Untersuchungsgefangene ins Hinterland zu verbringen. Es ist offensichtlich, dass die sowjetische Führung dem Gegner keine »lebenden Augenzeugen der verbrecherischen Praxis des NKVD«104 überlassen wollte. In den ersten Kriegstagen wurden in den Gefängnissen grenznaher Städte zahlreiche Häftlinge erschossen: In L'vov 2 464 Personen, in Stanislav 1000, in Tarnopol 560 99 CA FSB, f. 3-os, op. 8, d. 58,1. 2067. 100 Ebd., 1.2124. 101 Beschluss Nr. 634ss (RGASPI, f. 644, op. 1, d. 8, I. 168). Hier ging es um 170 Häftlinge. 102 Izvestija CK KPSS, (1990) Nr. 11, S. 124-131. 103 Ebd., S. 130. 104 A. Gur'janov, A. Kokurin, Evakuacija tjurem. In: Karta (Rjazan'), (1994) Nr. 6, S. 16.
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Nikita Petrov usw.105 Dabei lag aus Moskau keine schriftliche Sanktion für diese Aktionen vor. Ein mehr oder weniger klares System - wer aus dem Gefängnis zu entlassen sei, wer zu evakuieren und wer zu erschießen - wurde erst am 4. Juli 1941 erarbeitet, als praktisch ganz Litauen, die Westukraine und West-Belorussland von den Deutschen besetzt waren. Der Evakuierung ins Hinterland unterlagen demnach diejenigen, deren weitere Haft für die Aufdeckung von »Diversions-, Spionage- und Terrororganisationen« notwendig war. Frauen und ihre Kinder, Schwangere und Minderjährige (mit Ausnahme von Spionen, Diversanten und anderen »besonders Gefährlichen«), sowie Personen, die für Daseins-, Dienst- und weniger wichtige Verbrechen verurteilt worden waren, konnten befreit werden. Aber bei allen anderen Häftlingen - vor allem bei den nach Artikel 58 Beschuldigten - und Deserteuren musste »die Erschießung angewendet werden«.106 Wahrscheinlich fixierte diese Anweisung Regelungen, die schon in den ersten Tagen des Krieges getroffen worden waren. Mitte Oktober 1941 fand eine weitere Massenhinrichtung von Häftlingen der Moskauer Gefängnisse statt. Zu diesem Zeitpunkt bestand die größte Gefahr von Seiten der angreifenden deutschen Truppen. An nur einem Tag, am 16. Oktober 1941, erschoss man in Moskau über 200 Menschen, die früher zum Tode verurteilt worden waren.107 Dabei lagen den höchsten Gerichtsinstanzen und dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR Gnadengesuche dieser Verurteilten vor. Einige davon wurden befürwortet, doch die Verurteilten selbst waren zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr unter den Lebenden. So begnadigte das Präsidium des Obersten Sowjets am 29. Oktober einen Verurteilten, und das Militärkollegium änderte am 31. Oktober ein anderes Todesurteil ab - zu diesem Zeitpunkt waren die Verurteilten bereits erschossen. Insgesamt lassen sich unter den am 16. Oktober 1941 Erschossenen 15 Personen ermitteln, deren Todesstrafe durch eine Haftstrafe ersetzt worden war. Doch diese verspäteten Papiere, die der Erschießungsakte akkurat beigeheftet wurden, hatten schon nichts mehr ändern können.108 Vor diesem Hintergrund erbat Berija am 15. November 1941 die Erlaubnis, Todesurteile der Obersten Gerichte der Republiken und der Militärtribunale der rückwärtigen Gebiete generell ohne Mitwirkung der PolitbüroKommission oder des Militärkollegiums des Obersten Gerichts vollstrecken zu lassen.109 Das GOKO erweiterte diese Vorschläge noch und ordnete zwei Tage später an, »hinsichtlich aller Gefangenen, die zur Höchststrafe verur105 106 107 108 109
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Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 16. CA FSB, f. 7, op. 1, d. 182. CA FSB, f. 7, op. 1, d. 182, I. 103-113. RGANI, f. 89, op. 18, d. 9,1. 1-4.
Die Todesstrafe in der UdSSR teilt sind, und sich jetzt in Erwartung der Bestätigung der Urteile durch die höchsten Gerichtsinstanzen in den Gefangnissen befinden, die Urteile von Bezirks-Militärtribunalen und der Republiks-, Regions-, Oblast'-Gerichtsorgane zu vollstrecken«.110 Da derselbe Beschluss, wie bereits ausgeführt, der OSO das Recht einräumte, Todesurteile zu verhängen, reduzierte sich die Zahl der bei der Kommission des Politbüros eintreffenden Fälle merklich. Dieser Umstand schlug sich in einem Schreiben des Kommissionsvorsitzenden Kalinin vom 24. November 1942 an Stalin nieder: »In der letzten Zeit hat sich der Eingang von Fällen mit Höchststrafe bei der CK-Kommission für Gerichtssachen, die jetzt die Möglichkeit hat, alle Urteile mit Höchststrafen ohne Verzögerung zu prüfen, erheblich verringert. In Verbindung damit halte ich es für zweckmäßig, auch die Entscheidungen der Sonderkonferenz beim NKVD über Höchststrafen über die CK-Kommission für Gerichtssachen dem CK zur Bestätigung vorzulegen.«111 Hierüber wurde indes keine Entscheidung getroffen. Stalin zog es vor, die existierenden Regeln nicht zu ändern. Gemäß einer »Auskunft über die Bilanz der Evakuierung von Sträflingen aus den Gefängnissen«, die die NKVD-Gefängnisverwaltung zum 22. Januar 1942 erteilte, wurden im Zuge der Evakuierungen 1941 9 817 Häftlinge erschossen, dazu 674 Gefangene »bei der Unterdrückung von Aufständen und Widerstand« auf dem Transport.112 Im Übrigen lehrten die Erfahrungen des Rückzugs von 1941 den Kreml' nichts. Im Sommer und Herbst 1942 wiederholte sich alles nach dem erneuten Vormarsch der Deutschen. Wieder fanden bei der Evakuierung der Gefängnisse Erschießungen statt, dieses Mal schon im Süden Russlands. Trotzdem fand die größere Zahl von Erschießungen im Krieg nicht im Hinterland, sondern an der Front statt. Hier wurden die Untersuchungen von den Organen der militärischen Spionageabwehr geführt, von den Sonderabteilungen des NKVD, die im April 1943 in die Smers umorganisiert wurden. Die Urteile wurden von Militärtribunalen der Divisionen, Korps, der Armeen und Fronten der Roten Armee gefällt. Gegen deren Urteile konnte keine Berufung eingelegt werden. Todesurteile waren nur im Zuge der Aufsicht durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts, den Hauptmilitärstaatsanwalt, und, ab August 1941, durch Militärtribunale übergeordneter Einheiten überprüfbar; die entsprechenden Schritte mussten innerhalb von 72 Stunden durch die Kriegsräte oder die Justizinstanzen selbst eingeleitet
110 Beschluss GOKO Nr. 903ss vom 17.11.1941 (RGASPI, f. 644, op. 1, d. 14,1.101). 111 APRF, f. 3, op. 57, d. 39,1. 153. 112 GARF, f. 9413, op. 1, d. 21, I. 250.
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Nikita Petrov werden. Über die Möglichkeit, Gnadengesuche einzureichen, schweigt sich die Verordnung über Militärtribunale vom 22. Juni 1941 aus.113 Dabei stellte die »Erschießung vor der Front«, die öffentliche Urteilsvollstreckung in Anwesenheit aller Angehörigen der Einheit, in der der Verurteilte gedient hatte, eine besondere Form der Abschreckung dar. Stalins Ansicht nach sollte eine derartige Anschaulichkeit die Disziplin festigen und allen übrigen Soldaten demonstrieren, wie verderblich der Ungehorsam gegenüber Kommandeuren und andere Formen von Befehlsverweigerung sein konnten. Ein Bericht des Stellvertretenden Leiters der Verwaltung der Sonderabteilungen des NKVD, Solomon Mil'stejn, von Oktober 1941 wirft deutliches Licht auf die Auswirkungen der an der Front geltenden Bestimmungen. Demnach wurden im Zeitraum vom 22. Juni bis zum 10. Oktober 1941 657 364 Wehrpflichtige, »die sich von ihren Einheiten entfernt haben und von der Front geflohen sind«, von den Sperreinheiten des NKVD festgenommen. Von ihnen kamen fast 26 000 in Haft - unter anderem 1 505 als »Spione«, 2 621 als »Verräter«, 2 643 als »Feiglinge und Panikmacher«, nahezu 9 000 Personen als »Deserteure« und 4 000 als »Verbreiter provokanter Gerüchte«. Gemäß Beschlüssen der Sonderabteilungen und Urteilen von Militärtribunalen, so heißt es bei Mil'stejn weiter, wurden 10 201 Personen erschossen, davon 3 321 »vor der Front«.114 1942, als der Ungehorsam gegenüber Kommandeuren und Kommissaren immer häufiger von Gewalttaten gegen sie begleitet wurde, erließ das NKVD UdSSR eine spezielle Direktive »Über die Erschießung von Militärangehörigen, die Terrorakte gegen das Kommando- und politische Personal der Roten Armee begangen haben, vor der Front«.115 Gemäß statistischer Aufstellungen wurden von Kriegsbeginn bis zum 1. Mai 1945 in Untersuchungsfällen der Smers 272 410 Personen verurteilt, darunter 66 538 zum Tode durch Erschießen. Aus der Zahl der Erschossenen entfällt der größte Anteil - 57 963 Personen - auf die Smers-Organe der kämpfenden Truppe. In den übrigen Verfahren hatten Hinterlandorgane der Smers der Militärbezirke (7 667 Personen), Smers-Abteilungen der Filtrationslager (621 Personen) und die Smers-Hauptverwaltung (287 Personen) ermittelt.116 Im April 1943 wurde durch Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets eine neue Hinrichtungsart eingeführt, die besondere Popularität gewann: der Tod durch Erhängen. Hier kamen zusätzliche Abschreckungselemente - die Öffentlichkeit der Hinrichtung und das tagelange Zurschaustellen der 113 Vgl. hierzu den Beitrag Lavinskaja; A. A. Pecenkin, Po zakonam voennogo vremeni. Ijun' - dekabr' 1941 g. In: Istoriceskij archiv, (2000) Heft 3, S. 33-43. 114 An Berija von Oktober 1941 (RGANI, f. 89, op. 18, d. 8,1. 1-3). 115 Direktive Nr. 12374 vom 27.6.1942 (CA FSB, f. 14, op. 5, d. 1329,1. 51). 116 Ebd.
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Die Todesstrafe in der UdSSR Leichen am Galgen - zum Tragen. Der Ukaz traf besonders sowjetische Bürger, die in der deutschen Besatzungsverwaltung gedient hatten sowie deutsche Kriegsgefangene, die der Begehung von »Gräueln« beschuldigt wurden. 117 Die neue Hinrichtungsart blieb allerdings nicht auf die im Ukaz genannten Personenkreise beschränkt: Sie fand zum Beispiel auch gegen Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in der Westukraine Anwendung.118 Öffentliche Hinrichtungen durch den Strang erlangten bei der Bevölkerung nicht nur als Schauspiel ungewöhnliche Popularität, sondern man sah in ihnen ein wirksames Abschreckungsinstrument. Ein Einwohner der Station Perovo (in der Nähe von Moskau) zeigte sich beispielsweise Ende 1945 alarmiert über das Ausmaß des »verbrecherischen Banditismus auf der Strecke Moskau-Rjazan' zwischen den Stationen Perovo und Bronnic« und schlug vor, beim NKVD eine »Trojka zum Kampf gegen Raub und Banditismus« zu schaffen, Verbrecher innerhalb von 48 Stunden in Schauprozessen in Klubs abzuurteilen und bei der Urteilsvollstreckung nicht zu erschießen, sondern öffentlich an den Tatorten zu hängen.119 Auch Stalin näherte sich von Zeit zu Zeit der Idee an, zu öffentlichen Hinrichtungen zurückzukehren. 1951 diktierte er, erzürnt durch einen aktuellen Überfall von Angehörigen des nationalen Widerstands in Litauen, im Zuge dessen Mitglieder der Rayon-Parteiführung ums Leben gekommen waren, einen Beschluss des Politbüros, nach dem die Verbrecher in einem öffentlichen Verfahren abzuurteilen und danach öffentlich zu hängen seien.120 Es liegen uns allerdings keine Informationen darüber vor, ob die Aufständischen gefasst und verurteilt worden sind. Wahrscheinlich fand diese öffentliche Aktion nicht statt.
117 Vgl. Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner, Der »Ukaz 43«. Entstehung und Problematik des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 19. April 1943. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941-1953. Hg. von Andreas Hilger, Ute Schmidt und Günther Wagenlehner, Köln 2001, S. 177-209. 118 Am 14.2.1945 berichtete der NKVD der Ukraine, V S. Rjasnoj, über die Reaktionen der lokalen Bevölkerung auf öffentliche Hinrichtungen nach Moskau. Rjasnoj zufolge waren in der Zeit vom 22.12.1945 bis zum 10.2.1946 128 Menschen öffentlich gehenkt worden. GARF, f. 9401, op. 1, d. 2289,1. 1-4. 119 GARF, f. 9401, op. 1, d. 4932,1. 407 f. 120 Beschluss Nr. P83/397 vom 6.9.1951 (RGASPI, f. 17, op. 162, d. 46).
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Erschießungen in Deutschland, 1945-1947
Sofort nach dem Einmarsch der Roten Armee nach Deutschland begannen Erschießungen deutscher Zivilisten. Operative NKVD-Gruppen und Organe der Smers führten umfangreiche Verhaftungen durch.121 In ihrer Mehrheit wurden die Fälle der Verhafteten von Militärtribunalen auf Divisions- bis Frontebene verhandelt, daneben gab es - obgleich selten - Urteile durch Militär-Feldgerichte. Nach der Bestätigung eines Urteils durch den Kriegsrat der Armee wurde es vollstreckt. Die normale Hinrichtungsmethode war die Erschießung. Das gilt auch für Verurteilungen nach Ukaz 43: Nachdem anfangs nur Feldgerichte mit entsprechenden Verfahren betraut worden waren, hatte sich in der Praxis diese Einschränkung rasch als hinderlich erwiesen. Da potentielle Täter oft »in das Hinterland evakuiert worden waren oder lange nach der Befreiung eines Orts [...] entdeckt werden, wenn es dort schon keine Kriegsfeldgerichte mehr gibt«,122 erhielten Militärtribunale 1943 und 1944 etappenweise das Recht, Verfahren auf der Grundlage des Ukaz 43 durchzuführen. Dabei durften sie auch Todesurteile, allerdings nur zum Tode durch Erschießen, aussprechen.123 So gibt es auch nur sehr wenige Hinweise darauf, dass ein Verurteilter gehenkt wurde.124 Noch seltener wurden Deutsche vor einer Front angetretener sowjetischer Soldaten erschossen. Doch auch solche Fälle sind in den Protokollen fixiert.125 Insgesamt bevorzugten die sowjetischen Strafinstanzen eine geheime Hinrichtung und griffen hier zur einfachsten Methode. Neben geheimen Hinrichtungen in Gefängnissen resp. Speziallagern selbst126 wurde in der Regel in einiger Entfernung von Ortschaften, in Wäldern oder auf dem Feld, spätabends oder nachts unter dem Schutz der Dunkelheit erschossen. Selbst wenn Deutsche in nahegelegenen Dörfern Schüsse in Wald und Flur hören sollten, wunderten sie sich unter den Bedingungen von 1945 kaum darüber: Zu der Zeit trieben sich alle mögliche Personen herum, Soldaten der Wehrmacht, die sich 121 Vgl. allg. Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bände. Hg. von Sergej Mironenko, Lutz. Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1998. 122 Vysinskij an Molotov vom 15.5.1944 (GARF, f. R-7523, op. 4, d. 221, 1. 97 f.). Anm. des Übers. 123 Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 24.5.1944 (GARF, f. R-7523, op. 4, d. 221, 1. 97). Vgl. Hilger/Petrov/Wagenlehner, Der Ukaz 43, S. 187 f. Anm. des Übers. 124 Hinrichtungsprotokolle über Erich L. und Johannes W., 5.3.1945 (CA FSB, f. 7, op. l,d. 127,1. 311 f.). 125 Erschießungsprotokoll für Karl K., 17.4.1945 (CA FSB, f. 7, op. l,d. 127,1.406). 126 So wurden etwa im Speziallager Bautzen 1945/1946 107 Todesurteile vollstreckt. Alexandr Haritonow, Zur Geschichte des Speziallagers Nr. 4 (3) in Bautzen. In: Sowjetische Speziallager 1, S. 331-352, hier 335 f.
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Die Todesstrafe in der UdSSR vor der Gefangenschaft verbargen, desertierte Rotarmisten oder Repatrianten, die nicht in die Heimat zurückkehren wollten und sich zu Banden zusammengeschlossen hatten. Bei der Hinrichtung, die der Kommandant der Smers-Abteilung leitete, musste ein Militärstaatsanwalt anwesend sein, dazu nahm manchmal der Vorsitzende des Militärtribunals, das den Fall verhandelt hatte, teil. In einigen Fällen ist die Anwesenheit des Leiters eines Feldgefängnisses oder eines Militärarztes vermerkt. Häufig führten Soldaten der Smers-Wachzüge der Divisionsabteilungen die Erschießungen aus. Die Leichen wurden normalerweise noch am selben Ort vergraben.127 Mitunter kam es vor, dass die Angehörigen der Smers ihre »Arbeit« so unachtsam verrichteten, dass dies nicht nur der örtlichen Bevölkerung, sondern auch in Moskau bekannt wurde. Der MVD-Bevollmächtigte in Deutschland, Ivan A. Serov, beschrieb in einem Brief an Stalin vom 8. September 1946 einen derartigen Zwischenfall: »Zum Beispiel fuhren am Jahresanfang betrunkene Angehörige der >Smers< abends auf ein Feld in der Nähe der Stadt Halle, um Urteile des Militärtribunals zu vollstrecken. In der Trunkenheit wurden die Leichen so nachlässig vergraben, dass Deutsche, die morgens auf einem Weg an diesem Ort vorbeigingen, zwei Hände und die Köpfe von drei Leichen aus der Erde herausragen sahen. Sie gruben die Leichen aus. sahen im Genick der Leichen Einschüsse, sammelten Zeugen und gingen zur örtlichen Polizei. Von uns aus wurden Sofortmaßnahmen ergriffen« und weitere Ermittlungen unterbunden.128 In den Erschießungsprotokollcn wurden leider keine genauen Bestattungsplätze (mit Anbindung an Ortschaften oder Koordinaten) angegeben. Wenn überhaupt, so wird ein ungefährer Ort genannt. So heißt es zum Beispiel, dass Leichen »südwestlich der Stadt Bärwald«,129 »in einem Wald 5 Kilometer östlich der Stadt Neudamm«,130 »1 Kilometer nordöstlich des Dorfes Henow auf einem Feld«,131 »im Gebiet des Dorfes Kutzdorf«,132 »in der Stadt Bunzlau«,133 »am Nordrand der Stadt Naumburg«134 oder »12 Kilometer südöstlich des Dorfes Olympisches Dorf«135 vergraben wurden. 127 Erschossene der Speziallager wurden offenbar gemeinsam mit den anderen verstorbenen Häftlingen neben den Lagern in Massengräbern bestattet. 128 AP RF, f. 3, op. 58, d. 28,1. 149. Vgl. Petra Weber, Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961, München 2000, S. 52. Anm. des Übers. 129 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127,1. 130, zum 16.2.1945. 130 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127, 1. 382, zum 22.4.1945. 131 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127,1. 386, zum 26.4.1945. 132 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127,1. 287, zum 15.3.1945. 133 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127,1. 300, zum 10.4.1945. 134 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 127, 1. 197, 200, zum 23.3.1945. 135 CA FSB, f. 7, op. 1, d. 156,1. 490, zum 13.8.1945.
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Der Ukaz vom 12. Januar 1950 und die Wiedereinführung der Todesstrafe
1950 wurde in der UdSSR die Todesstrafe wieder eingeführt. Interessanterweise waren es nicht die Gerichts- oder Straforgane, die als Initiatoren dieser Maßnahme auftraten. Formal brachten CK-Sekretär Georgij M. Malenkov und Svernik als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR den Vorschlag mitsamt einem entsprechenden Erlass-Entwurf beim Politbüro ein. Zweifellos handelten sie im Auftrag Stalins. Das Politbüro beschloss am 9. Januar 1950 unter der Nr. P72/207 recht lakonisch: »Frage des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. 1. Der Entwurf des Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR >Über die Anwendung der Todesstrafe gegen Vaterlandsverräter, Spione, subversive Diversanten ist zu bestätigen. 2. Der Ukaz ist am 13. Januar 1950 in der Presse zu publizieren.«136 Das Präsidium des Obersten Sowjets beschloss das Dekret auftragsgemäß am 12. Januar 1950 unter der Nr. 68/1; 137 am 13. Januar veröffentlichten die Zeitungen, wie vorgeschrieben, seinen Text.138 Der Ukaz konkretisierte die Prinzipien zur Anwendung der Todesstrafe nicht, und er zählte keine Artikel der Strafgesetzbücher der RSFSR und der Unionsrepubliken auf. Daher bedurfte er einiger juristischer Justierung. Schon am 27. Januar 1950 sandten Justizminister Gorsenin, der Vorsitzende des Obersten Gerichts, Volin, und Generalstaatsanwalt Grigorij N. Safonov Stalin ihre Vorschläge zur Anwendung der Todesstrafe und einen passenden Entwurf für einen Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts. Der Kern ihrer Vorschläge bestand darin, dass die Todesstrafe bei Verbrechen verhängt werden könnte, die nach dem 12. Januar 1950 begangen oder vor diesem Termin begonnen und nach dem 12. Januar abgeschlossen worden waren. Das entsprach mehr oder weniger dem anerkannten Prinzip, wonach Gesetze, die neue Strafen einführen oder alte verschärfen, keine rückwirkende Gültigkeit haben dürfen: Strenggenommen hätten die Juristen den 13. Januar, also das Veröffentlichungsdatum, zu Grunde legen müssen, wie es im
136 APRF, f. 3, op. 57, d. 41,1. 22. 137 Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR, 1950, Nr. 3. 138 Die Präambel, die die Gründe der Wiedereinführung erläutert, enthält den für die sowjetische Propaganda typischen Hinweis auf entsprechende Bitten der »Werktätigen«. Wenn man den sowjetischen Zeitungen glauben will, so geschah in der UdSSR alles auf Bitten der Werktätigen hin - von der Verschiebung von Feiertagen über die Einführung grausamer Strafen bis hin zur Erschießung. Beim auswärtigen Beobachter konnte der Eindruck entstehen, dass sowjetische Menschen durchweg Masochisten waren.
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Die Todesstrafe in der UdSSR Ukaz selbst stand: »Der Ukaz ist mit dem Tag seiner Veröffentlichung in Kraft zu setzen.«139 Darüber hinaus beschränkte der Vorschlag der Juristen die im Ukaz genannten Anwendungsbereiche der Todesstrafe auf die Artikel 58-1 a und 581 b (Vaterlandsverrat), 58-6 (Spionage) und 58-9 (Diversion) des Strafgesetzbuchs der RSFSR. Außerdem hielten sie es für unumgänglich, zum früheren Bestätigungsverfahren mittels Oberstem Gericht und Politbüro-Kommission zurückzukehren.140 Diese Vorschläge riefen Widerspruch und ernsthafte Unstimmigkeiten zwischen dem MGB und den gerichtlichen und staatsanwaltlichen Instanzen hervor. Staatssicherheitsminister Abakumov machte Stalin hierüber am 15. Februar 1950 Mitteilung. Nachdem eine Antwort ausgeblieben war, wandte er sich am 1. März 1950 zum zweiten Mal mit Beschwerden über »Unklarheiten im Justizministerium, beim Obersten Gericht und in der Staatsanwaltschaft der UdSSR hinsichtlich der Anwendung des Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 12. Januar 1950 über die Todesstrafe« an Stalin. Abakumov teilte mit, dass Militärtribunale zwar in neun Fällen die Todesstrafe verhängt hätten, dass aber das Militärkollegium des Obersten Gerichts diese Urteile nicht bestätigt habe. Dem lagen folgende Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Anwendung der Todesstrafe zu Grunde: Erstens ging es um die Frage, ob Gerichte die Höchststrafe für Verbrechen verhängen durften, die vordem 12. Januar 1950 begangen worden waren. Im Unterschied zu anderen Behörden verteidigte das MGB den Standpunkt, dass die Todesstrafe unabhängig vom Zeitpunkt des Verbrechens verhängt werden könne. Zweitens war das MGB der Ansicht, dass die Todesstrafe in Zukunft nicht nur bei den Artikeln 58-1 a und b, 58-6 und 58-9, sondern auch in Fällen zur Verfügung stehen sollte, »die nach Artikel 58-8 qualifiziert werden, sowie für terroristische Absichten und subversive Tätigkeit im Staatsund Parteiapparat«. Schließlich sprach sich Abakumov gegen eine Bestätigung aller Todesurteile durch das Oberste Gericht und für die Wiedereinführung öffentlicher Hinrichtungen durch Erhängen aus. Das MGB »denkt, dass die Urteile in Fällen, die in Übereinstimmung mit diesem Ukaz im Militärkollegium verhandelt werden, endgültig sein sollen, und dass bei grässlichen Verbrechen und Bestialitäten die Todesstrafe durch Erhängen angewendet werden soll.«141 In all diesen Fragen erbat Abakumov die Weisungen Stalins. Wenn Abakumov erhofft hatte, mit seinen radikalen Vorschlägen das Einverständnis Stalins zu finden, dann sah er sich getäuscht. Der Führer hatte die Entscheidung aller Fragen zur Todesstrafe dem zu diesem Zeitpunkt 139 Ebd.
140 AP RF, f. 3, op. 57, d. 41,1. 24-27. 141 CA FSB, f. 4-os, op. 8, d. 3,1. 1 f.
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Nikita Petrov einflussreichsten Mitglied des Politbüros, Malenkov, übertragen. 1 4 2 Der zeigte sich zunächst verärgert über die Überlegungen des Staatssicherheitsministers: »Erklären Sie«, gab er seinem Gehilfen D. N. Suchanov Anweisung, »dass diese Auslegung falsch ist.« 143 Seltsamerweise gewann aber schließlich der Standpunkt Abakumovs die Oberhand, wenn auch nicht in vollem Umfang. Möglicherweise ging es hier nicht ohne Einmischung Stalins ab, der dachte, dass der Vorschlag Abakumovs Todesurteile gegen die 1949 verhafteten Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitee (EAK) sowie der in der so genannten »Leningrader Affäre« Verhafteten ermöglichte. Daneben hat eventuell auch der »einfühlsame« Hinweis des MGB auf »Terroristen« seinen Eindruck auf Stalin nicht verfehlt. Am Ende stand ein Kompromiss. Nachdem Gorsenin, Volin und Safonov am 14. März vor das Zentralkomitee gerufen worden waren, konnte Abakumov Stalin am 23. März mitteilen, dass »sie nun« die Anwendung der Todesstrafe unabhängig vom Zeitpunkt des Verbrechens »verstehen und für richtig halten«. 1 4 4 Über die übrigen Meinungsverschiedenheiten schwieg sich Abakumov noch aus. 1 4 5 Die endgültige Entscheidung über die Anwendung der Todesstrafe wurde erst am 7. April 1950 in einer Sitzung des Sekretariats des CK VKP (b) getroffen und am 12. April vom Politbüro bestätigt. »1. Der Entwurf der Verordnung des Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR über Fragen, die mit der Durchführung des Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 12. Januar 1950 >Über die Anwendung der Todesstrafe gegen Vaterlandsverräter, Spione, subversive Diversanten zusammenhängen, ist zu billigen. 2. Es ist festzusetzen, dass ein Urteil mit Anwendung der Todesstrafe nur nach seiner Bestätigung durch das Oberste Gericht der UdSSR und 142 Darauf deutet eine Vortragsnotiz D. N. Suchanovs, des Gehilfen Malenkovs, vom 3.3.1950 hin (AP RF, f. 3, op. 57, d. 41, 1. 28 f.). 143 Ebd. 144 Brief Nr. 6596/A vom 23.3.1950 (CA FSB, f. 4-os, op. 8, d. 3, 1. 340). 145 Im selben Brief bat Abakumov, Prozesse des Militärkollegiums des Obersten Gerichts gegen 85 Verhaftete mit Verhängung der Todesstrafe zu sanktionieren. Er schlug vor, die Fälle im vereinfachten Verfahren zu verhandeln - »gemäß der Erfahrungen der Vergangenheit«, d.h. ohne die Teilnahme von Anklage und Verteidigung, ohne Zeugen und ohne ein Recht auf Berufung und Begnadigung, und die Urteile unverzüglich zu vollstrecken. In dieser Liste nahmen Partei- und sowjetische Mitarbeiter, die noch 1949 im Zusammenhang mit der »Leningrader Affäre« und des EAK verhaftet worden waren, einen prominenten Platz ein. Stalin verweigerte die Genehmigung; die Prozesse fanden 1950 bzw. 1952 hinter verschlossenen Türen statt: Die Verurteilten der »Leningrader Affäre« wurden im Oktober 1950 in Leningrad, die Verurteilten des »Jüdischen Antifaschistischen Komitee« im August 1952 in Moskau erschossen.
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Die Todesstrafe in der UdSSR der Ablehnung eines Gnadengesuchs des Verurteilten, sofern es eingereicht wurde, durch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR zu vollstrecken ist. Wenn das Oberste Gericht der UdSSR erkennt, dass der Ukaz des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 12. Januar 1950 im konkreten Fall unbegründet angewendet wurde, kann es die Todesstrafe durch Freiheitsstrafe ersetzen.«146 Die Verordnung des Plenums selbst ergab die Anwendbarkeit des Ukaz vom 12. Januar 1950 auf Altfälle, sofern die Schuldigen noch nicht verurteilt waren.147 Die Liste der Artikel des StGB RFSFR, nach denen die Todesstrafe verhängt werden konnte, wurde erweitert und umfasste nun die Artikel 58-1 a und b (Vaterlandsverrat), 58-2 (Organisation eines bewaffneten Aufstands oder Eindringen in sowjetisches Territorium), 58-6 (Spionage), 58-7 (Schädlingstätigkeit), 58-8 (Terror) und 58-9 (Diversion). Die entsprechenden Prozesse wurden von Militärtribunalen geführt; Todesurteile konnten nur Tribunale der Bezirke, der Heeresgruppen der Sowjetischen Armee und der Flotten fallen, nicht aber Gerichte niedrigerer Ebene. Das Plenum des Obersten Gerichts folgte also bis auf den Ausschluss der Fälle wegen »Gräueltaten« (Ukaz 43) und der Hinrichtung durch Erhängen den Ideen Abakumovs. Gorsenin, Volin und Safonov legten Stalin den Beschluss »nach zweiter Prüfung und Diskussion vor« und führten aus, dass Urteile des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR keinerlei Bestätigung bedurften.148 So begannen die Erschießungen in Moskau aufs Neue. Ihre Opfer waren nicht nur sowjetische Bürger, sondern auch Ausländer. Einer ersten Erschießungsliste Abakumovs verweigerte Stalin im März 1950 die Zustimmung. 149 Der Staatssicherheitsminister bereitete bald eine neue Namensliste vor und schickte sie am 11. April 1950 unter der Nr. 6649/A an Stalin zur Bestätigung. Diese Liste enthielt die Namen von 35 Menschen. Im Gegensatz zur März-Version befanden sich auf ihr keine Verhafteten der Leningrader Affäre und des EAK, dafür aber - unter den Nummern 33 bis 35 - weiterhin drei deutsche Staatsbürger: »33. A., Georgij Matveevic, Jahrgang 1920, Deutscher, ohne feste Anstellung. Er wird der Spionage beschuldigt. Offizieller Mitarbeiter der deutschen Aufklärung. Erblieb 1942 auf dem besetzten Gebiet der Leningrader Oblast', nahm die deutsche Staatsbürgerschaft an und trat als Übersetzer in das deutsche Aufklärungsorgan >Zeppelin< ein. Er war nach der Kapitulation in der englischen Zone. 34. G., Aleksandr Georgievic, Jahrgang 1897, Deutscher, 146 147 148 149
Beschluss Nr. P73/408-op. (AP RF, f. 3, op. 57, d. 41, 1. 30). Abgedruckt als Dokument Nr. 1 im Anhang. AP RF, f. 3, op. 57, d. 41, 1. 36. Vgl. Anm. 144 f.
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Nikita Petrov deutscher Staatsbürger, 1940-1944 Mitglied der NSDAP, am 12. August 1949 verhaftet.« Weiter hieß es zu ihm: »Ehemaliger Übersetzer der Wissenschaftlich-Technischen Abteilung des Marineministeriums der UdSSR in Berlin, Agent der englischen und deutschen Aufklärung. Er arbeitete 1926-1935 als Vertreter deutscher Industriefirmen in der UdSSR, befasste sich mit Aufklärungstätigkeit. Er war 1947 Oberingenieur für technische Übersetzungen des Konstruktionsbüros der SMAD. 35. L, Kurt, Jahrgang 1890, deutscher Staatsbürger, am 27. März 1945 verhaftet. Abgeordneter des Preußischen Landtags, leitete ein Aufklärungsbüro unter Hesse, einem der Organisatoren des Bataillons zur besonderen Verwendung Brandenburg 800