Die demokratische Versammlung: Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen - Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit [1 ed.] 9783428423095, 9783428023097


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German Pages 251 Year 1970

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Die demokratische Versammlung: Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen - Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit [1 ed.]
 9783428423095, 9783428023097

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 132

Die demokratische Versammlung Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen – Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit

Von

Martin Quilisch

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN

QUILISCH

Die demokratische Versammlung

Schriften zum öffentlichen Band 132

Recht

Die demokratische Versammlung Zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen — Zugleich ein Beitrag zu einer Theorie der Versammlungsfreiheit

Von

Dr. Martin Quilisch

D U N C K E R

&

H U M B L O T / B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1970 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1970 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Vorwort I m Zusammenhang mit den innenpolitischen Konflikten seit der Mitte der sechziger Jahre und den dabei angewandten neuartigen Methoden öffentlicher Auseinandersetzung ist das Grundrecht der Versammlungsund Demonstrationsfreiheit nach einer Zeit relativ geringer Beachtung i n den Vordergrund des politischen und rechtswissenschaftlichen Interesses gerückt. Dabei zeigte sich sehr schnell die Notwendigkeit einer verfassungstheoretischen Neubesinnung über Sinn und Funktion des freien Versammlungsrechts i n der sozialstaatlichen Demokratie. I n diesem Rahmen ist die vorliegende Untersuchung zu sehen. I m Unterschied zu der traditionellen und auch i n der gegenwärtigen Auseinandersetzung herrschenden Betrachtungsweise, die primär vom Konflikt zwischen staatlicher Herrschaftsgewalt und freier gesellschaftlicher und politischer Betätigimg bestimmt ist, nimmt die vorliegende Arbeit das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen und der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters zum Ausgangspunkt. Von hier aus treten einige grundsätzliche Aspekte der Versammlungsfreiheit hervor, die bislang zu Unrecht vernachlässigt wurden. Der Arbeit liegt meine Dissertation zugrunde, die der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. i m Juni 1969 vorgelegen hat. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Horst Ehmke, derzeit Minister i m Bundeskanzleramt, der mich zu dieser Untersuchung zu einem Zeitpunkt anregte, als die öffentliche Auseinandersetzung um die Versammlungsfreiheit noch überhaupt nicht i n Sicht war, möchte ich für seine mannigfache Unterstützung während des Arbeltsprozesses herzlich danken. Mein Dank gilt auch Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann für seine Unterstützung bei der Drucklegung dieser Arbeit sowie der Stiftung Volkswagenwerk e. V., die mich zeitweilig mit einem Promotionsstipendium förderte. Berlin, i m A p r i l 1970

M a r t i n Quilisch

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Problemstellung

11

I. Die Entscheidung des O V G Lüneburg

11

I I . Dogmatische u n d verfassungstheoretische Fragen der Entscheidung 1. Die Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters 2. Die Äußerungen i n der L i t e r a t u r 3. Die Bedeutung der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des V e r sammlungsleiters f ü r die Bestimmung ihres Umfangs 4. K r i t i k am Versammlungsbegriff 5. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes I I I . Die Aufgabe der Untersuchung

13 13 15 20 24 26 28

ERSTER T E I L Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit und ihres verfassungstheoretischen Verständnisses Vorbemerkung

29 29

Erstes K a p i t e l Das Versammlungsrecht Obrigkeitsstaat als Gegenbild

im Mittelalter und unter dem zum modernen Versammlungsrecht

I. Das Versammlungswesen i m Mittelalter I I . Das Versammlungsrecht staat

unter dem absolutistischen

30 30

Obrigkeits-

33

Zweites K a p i t e l Die Ursprünge der Versammlungsfreiheit im Naturrecht und die Menschenrechtserklärungen

36

I. Die Ansätze der Versammlungsfreiheit i m naturrechtlichen Denken

36

I I . Die Entwicklung i n England: public meetings and the right o f Petition 37 I I I . Die ersten verfassungsrechtlichen Verbürgungen i n den U S A

40

I V . Die Entwicklung i n Frankreich

41

8

Inhaltsverzeichnis Drittes K a p i t e l Der Kampf um die Versammlungsfreiheit in Deutschland bis zur Revolution von 1848 I. Die positivrechtliche Entwicklung bis 1848

47 47

I I . Die Versammlungsfreiheit als liberale Freiheitsforderung, insbesondere ihre Auffassung i n der L i t e r a t u r des Vormärz 1. Z u r liberalen Grundrechtsauffassung 2. Die liberalen Ableitungen der Versammlungsfreiheit 3. Würdigung der liberalen Versammlungslehre 4. Bemerkungen zum Problem der Versammlungsordnung

50 50 52 57 60

Viertes K a p i t e l Die Entwicklung der Versammlungsfreiheit bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

62

I. Die positivrechtliche Entwicklung

62

I I . Die Ordnungsbestimmungen des Reichsvereinsgesetzes

64

I I I . Das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der Lehre nach 1848 1. Die gewandelte Stellung der Grundrechtstheorie 2. Die Reaktion nach 1850 3. Die Betonung der positiven Funktionen des Versammlungsrechts 4. Die Verengung auf das Verwaltungsrecht

65 65 67

I V . Das Problem der Versammlungsordnung i n der L i t e r a t u r

77

69 72

Fünftes K a p i t e l Die Versammlungsfreiheit

in der Weimarer

Zeit

I. Die positivrechtliche Entwicklung

80 80

I I . Die Versammlungsfreiheit i n der Lehre der Weimarer Zeit I I I . Das Problem der Weitergeltung des § 10 R V G

81 88

Sechstes K a p i t e l Die Versammlungsfreiheit

unter dem Grundgesetz

91

Vorbemerkung 91 I. Z u r positiven Rechtslage 92 1. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen 92 2. Die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes 94 3. Das Verhältnis der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes zu A r t . 8 GG 99 I I . Das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der neueren L i t e r a t u r 103 1. Individualrechtliche u n d institutionelle Aspekte der Versammlungsfreiheit i n der neueren L i t e r a t u r 103 2. Rechtsstaatliche u n d a k t i v demokratische Aspekte i m V e r ständnis der Versammlungsfreiheit 108

Inhaltsverzeichnis ZWEITER T E I L Versuch einer Theorie der Versammlungsfreiheit

112

Erstes K a p i t e l Zur Ortsbestimmung

des Problems

112

I. Ausgangsfrage u n d Rahmen der theoretischen Untersuchung I I . Die Versammlungsfreiheit „Gesellschaft"

im

Spannungsfeld

von

„Staat"

112 und

113

I I I . Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von Staat u n d V e r bänden 116 I V . Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld zwischen Gruppe u n d einzelnem 119 V. Die Versammlungsfreiheit Recht u n d Privatrecht

im

Spannungsfeld

von

öffentlichem

121

V I . Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von Recht u n d K o n vention 124 V I I . Die Versammlung als M i t t e l p u n k t einer Theorie der Versammlungsfreiheit 126

Zweites K a p i t e l Rechtliche

und soziale Typen der Versammlung

127

I. Der polizeirechtliche Charakter der herkömmlichen Versammlungstypologie 127 I I . Die Versammlung als „Augenblicksverband" 1. Versammlungen ohne Zentralinstanz 2. Versammlungen m i t Zentralinstanz 3. Die Abgrenzung von Versammlung u n d Verein

129 131 136 139

I I I . Der soziale Sachverhalt „Versammlung" u n d seine rechtliche Ausgestaltung 143

Drittes K a p i t e l Die politische Versammlungsfreiheit

und soziale Funktion der in der modernen Demokratie

147

I. Die Versammlungsfreiheit als Meinungs- u n d Organisationsgrundrecht 147 I I . Die Versammlungsfreiheit als politisches u n d soziales Kampfrecht 150 I I I . Die integrative freiheit

und

disjunktive

Funktion

der

Versammlungs-

153

10

Inhaltsverzeichnis

I V . Die Versammlungsfreiheit u n d die Einheit der Verfassung V. Die Versammlungsfreiheit ordnung

u n d die Offenheit

der

155

Verfassungs-

V I . Die Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht Verhältnis zum Organisationsteil der Verfassung

und

ihr

V I I . Folgerungen f ü r die Grundrechtsinterpretation

160 163 165

V I I I . Die Grenzen der Versammlungsfreiheit i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung 171

DRITTER T E I L Die Ordnung in der Versammlung

190

Erstes K a p i t e l Die Rechtsnatur

der Ordnungsgewalt

des Versammlungsleiters

I. Die Ordnungsgewalt als verliehene hoheitliche Befugnis? I I . Die Ordnungsgewalt als hausrechtliche Befugnis?

190 190 192

I I I . Die Ordnungsgewalt als öffentlich-rechtliche Anstaltsgewalt?

196

I V . Die Ordnungsgewalt gewalt?

199

als

nichtstaatliche

öffentliche

Verbands-

Zweites K a p i t e l Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt in der öffentlichen Versammlung

205

I. Die Prinzipien der Einheit u n d der Offenheit des Gemeinwesens als generelle Grenzen freier Versammlungstätigkeit 206 I I . Die Rechte der Versammlungsteilnehmer als Grenzen der O r d nungsgewalt 1. K r i t e r i e n f ü r die Lösung des grundrechtsimmanenten Konflikts i n der Versammlung 2. Das Recht auf Z u t r i t t zu öffentlichen Versammlungen 3. Voraussetzungen des Versammlungsausschlusses 4. A k t i v e Mitwirkungsrechte, insbesondere das Recht auf Diskussion I I I . Rechtsschutz gegen Anordnungen des Versammlungsleiters

209 210 217 222 225 233

Drittes K a p i t e l Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

236

244

Einleitung und Problemstellung I. Die Entscheidung des OVG Lüneburg I m Jahre 1955 hatte das OVG Lüneburg i m Armenrechtsprüfungsverfahren folgenden Fall zu entscheiden 1 : Der Antragsteller hatte mehrfach öffentliche Versammlungen besucht, die von der Ortsgruppe einer politischen Partei veranstaltet und von deren Vorsitzenden geleitet wurden. Obwohl er sich i n der stattfindenden Diskussion wiederholt zu Wort gemeldet hatte, war i h m dieses jedesmal ohne nähere Begründimg verweigert worden. Der Antragsteller sah i n diesem Ausschluß von der Diskussion eine Verletzung seiner Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Er versuchte deshalb, gegen die i h n von der Diskussion ausschließende Anordnung der Versammlungsleitung mit einer gegen die Ortsgruppe der veranstaltenden Partei gerichteten Klage vorzugehen und beantragte zu diesem Zweck das Armenrecht. Sowohl das Verwaltungsgericht, wie auch das Ob er Verwaltungsgericht versagten ihm dieses m i t der Begründung, die beabsichtigte Klage habe keine Aussicht auf Erfolg. Während das erstinstanzliche Gericht den Verwaltungsrechtsweg überhaupt für ausgeschlossen hielt, weil es der Auffassung war, die Rechtsbeziehungen zwischen Versammlungsleiter und Versammlungsteilnehmern gehörten allein dem Privatrecht an, ließ das OVG die Frage der Zulässigkeit des Rechtswegs offen. Zwar seien die Entschließungen eines Parteivorsitzenden, der eine öffentliche Versammlung leite, keine Verwaltungsakte und deshalb m i t der Anfechtungsklage nicht anfechtbar 2 . Möglicherweise seien aber die Voraussetzungen einer sonstigen Streitigkeit des öffent1 Vgl. O V G Lüneburg, Beschluß v o m 13. 6.1955, VwRspr. Bd. 8, Nr. 124, auszugsweise abgedruckt i n N J W 1955, S. 1939 ff. 2 Das O V G argumentiert dabei folgendermaßen: Verwaltungsakte seien n u r die von einer Verwaltungsbehörde erlassenen Anordnungen zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Die Ortsgruppe einer politischen Partei oder deren Vorsitzender seien aber keine V e r w a l tungsbehörden. Die Möglichkeit, daß die Befugnisse des Versammlungsleiters aufgrund des Versammlungsgesetzes hoheitlicher N a t u r u n d seine Anordnungen dehalb — etwa als die eines „beliehenen Unternehmers" — Verwaltungsakte sein könnten, hat das Gericht überhaupt nicht erwogen. Dieser Gedanke hätte jedoch i m H i n b l i c k auf die von Füßlein (Versammlungsgesetz, S. 13) behauptete rein öffentlich-rechtliche Stellung des Versammlungsleiters, auf die sich das O V G selbst bezieht, durchaus nahegelegen.

12

Einleitung und Problemstellung

liehen Rechts gegeben. Hierfür spreche die von Füßlein (Versammlungsgesetz, 1953, S. 13 u. 56) vertretene Auffassung, die Befugnisse des Leiters einer öffentlichen Versammlung, wie sie i n den §§ 7 und 8 des Versammlungsgesetzes vom 24. J u l i 1953 umschrieben und abgegrenzt seien, gehörten allein dem öffentlichen Recht an und stünden dem Versammlungsleiter unabhängig von einem etwaigen privaten Hausrecht oder sonstigen privatrechtlichen Beziehungen zwischen ihm und den Versammlungsteilnehmern zu. Das OVG meinte jedoch die Frage nach der Rechtsnatur der Befugnisse des Versammlungsleiters offenlassen zu können, da es der Auffassung war, sie sei nur für die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs relevant, die beabsichtigte Klage aber, gleichgültig wie i h r A n trag formuliert werde, i n jedem Fall unbegründet. E i n Ausschluß von der Diskussion, selbst wenn er willkürlich sei, verletze keine Rechte des Versammlungsteilnehmers. Die Grundrechte, sich frei zu versammeln und seine Meinung frei zu äußern, richteten sich nicht gegen den Versammlungsleiter, sondern allein gegen die öffentliche Gewalt. Auch nach den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes bestehe keine Pflicht des Versammlungsleiters, den Versammelten Freiheit der Meinungsäußerung zu gewähren. Zwar diene das Versammlungsgesetz als eine A r t materiellen Ausführungsgesetzes (Trubel-Hainka , Das Versammlungsgesetz 1953, S. 13) der Gewährleistung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Die Pflichten des Versammlungsleiters aufgrund dieses Gesetzes beschränkten sich jedoch darauf, für einen ordnungsgemäßen Versammlungsablauf zu sorgen. Erfülle er diese formale Ordnungsaufgabe, so verletze er niemanden i n seinen Rechten. Da der Leiter die Versammlung jederzeit, ohne i h r dafür Rechenschaft zu schulden, schließen (§ 8 Satz 3 VersG) und damit die Meinungsäußerung i n der Versammlung überhaupt unterbinden könne, sei er auch befugt, einem einzelnen Versammlungsteilnehmer beliebig das Wort zu verweigern. Überdies sei der von der Diskussion Ausgeschlossene nicht gehindert, andere Versammlungen zu besuchen oder zu veranstalten, um sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen. Es mag hier zunächst dahingestellt bleiben, ob das Ergebnis, zu dem das OVG kommt, zutrifft oder nicht. Immerhin ist zu bemerken, daß die Auffassung des OVG, wonach der Versammlungsleiter zu einer rein willkürlichen Versagung oder Entziehung des Wortes i n einer öffentlichen Versammlung befugt ist, nicht ohne weiteres m i t den Intentionen des Versammlungsgesetzes i n Einklang zu bringen ist, „Spielregeln öffentlicher Diskussion . . . aus gesundem demokratischem Geist" 3 zu schaffen. Recht und Pflicht des Versammlungsleiters, i n der 3 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zum Versammlungsgesetz, BT.Drucks. Nr. 1102, S. 9.

Einleitung und Problemstellung Versammlung für Ordnung zu sorgen, schließen es nicht aus, den Versammelten ein Recht zuzubilligen, i m Rahmen eines geordneten Versammlungsablaufs ihre Meinung zu äußern. I m Gegenteil, die immer wieder betonte enge Beziehung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zum Grundrecht der Meinungsfreiheit 4 legt eine Interpretation der Befugnisse des Versammlungsleiters nahe, die eine optimale Möglichkeit der aktiven Anteilnahme der Versammlungsteilnehmer m i t dem Ordnungsgesichtspunkt verbindet. Einer solchen Interpretation verstellt sich das OVG jedoch von vornherein den Weg m i t dem Satz: „Das Recht der Versammelten, sich frei zu versammeln und ihre Meinung zu äußern, richtet sich nicht gegen den Leiter der Versammlung, sondern die öffentliche Gewalt."

I I . Dogmatische und verfassungstheoretische Fragen der Entscheidung 1. Die Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters

Die genannte Entscheidung ist jedoch nicht primär wegen ihres Ergebnisses und ihrer Begründung, sondern vor allem wegen der i n ihr und durch sie aufgeworfenen dogmatischen und verfassungstheoretischen Fragen bemerkenswert. Es handelt sich, soweit ersichtlich, um den ersten und bislang einzigen Fall 5 , i n dem die Rechtsprechung Ge4 Vgl. etwa Mallmann , Vereins- und Versammlungsfreiheit, i n : Staatslexikon, 6. Aufl. 1956, Bd. 8, Sp. 106, 108; v. Mangoldt-Klein, Kommentar, Anm. I I 2 a zu A r t . 8 GG; v. Münch, Bonner Kommentar, RdNr. 18 zu A r t . 8 GG. Das Verhältnis beider Grundrechte ist allerdings ungeklärt. Während Enderling , Versammlungsgesetz, S. 23, die Versammlungsfreiheit für einen Unterfall der Meinungsfreiheit hält, behaupten Füßlein , Vereins- u n d V e r sammlungsfreiheit, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, Grundrechte II, S. 449; ders., DVB1. 1954, S. 553; Versammlungsgesetz, S. 18 u n d v. MangoldtKlein , A n m . I I 2 a die Selbständigkeit beider Grundrechte, die i n „einer A r t Idealkonkurrenz" stünden. 5 Die Entscheidungen zum Versammlungsgesetz waren i n den ersten Jahren nach seinem Inkrafttreten insgesamt nicht sehr zahlreich (vgl. Gemmer, DVB1. 1957, S. 107). M i t der Zunahme der Versammlungstätigkeit u n d der Auseinandersetzung über F u n k t i o n und Grenzen der Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz seit etwa der M i t t e der 60ziger Jahre hat zwar auch die Rechtsprechung diesem Gebiet zugenommen. Die Entscheidungen betreffen jedoch i m wesentlichen n u r das Verhältnis zu den staatlichen Behörden sowie Fragen strafrechtlicher Verantwortlichkeit, nicht aber die internen Rechtsbeziehungen der Versammelten. Eine gewisse Ausnahme bildet das U r t e i l des O L G Hamm, N J W 67, S. 1669, das sich m i t der Frage der Übertragbarkeit des Ausschlußrechts des Versammlungsleiters auf Ordner befaßt, das Problem der Rechtsnatur dieser Befugnisse des Versammlungsleiters jedoch unberührt läßt. Eine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu A r t . 8 GG fehlt bisher (vgl. Leibholz-Rinck, Grundgesetz, 1966, S. 148).

14

Einleitung und Problemstellung

legenheit hatte, sich m i t dem Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen, d. h. m i t der Frage nach der Rechtsnatur und dem Umfang der Rechte und Pflichten der an einer solchen Versammlung beteiligten Personen und Personengruppen auseinanderzusetzen. Das OVG hat diese Gelegenheit allerdings mehr gemieden als genutzt, wenn es meinte, die Frage nach der Rechtsnatur und dogmatischen Einordnung der Befugnisse des Versammlungsleiters offenlassen zu können. Denn es liegt zumindest die Vermutung nahe, daß die Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer recht unterschiedlich zu beurteilen sein dürfte, je nachdem, ob man die Grundlage dieser Befugnisse i m öffentlichen Recht oder im Privatrecht sieht. Vor allem hat das OVG nicht hinlänglich berücksichtigt, daß das Problem der Rechtsnatur der Befugnisse des Versammlungsleiters durch das Versammlungsgesetz aus dem Jahre 1953 i n einer gegenüber dem früheren Rechtszustand neuartigen Weise gestellt und i n einem weiteren Rahmen zu sehen ist. Das Versammlungsgesetz brachte nicht nur die i n A r t . 8 Abs. 2 GG- vorgesehenen Beschränkungen für Versammlungen unter freiem Himmel, wie Anmeldepflicht und Bannmeilenvorschriften; es regelte vielmehr auch durch eine ganze Anzahl von Bestimmungen die innere Ordnung und den Ablauf öffentlicher Versammlungen i n geschlossenen Räumen, obwohl ein entsprechender Gesetzesvorbehalt i n Art. 8 Abs. 1 GG fehlt 6 . Während sich das Reichsvereinsgesetz aus dem Jahre 1908 i m wesentlichen darauf beschränkte, die Voraussetzungen polizeilichen Eingreifens gegen öffentliche Versammlungen festzulegen 7 und die innere Ordnung öffentlicher Ver« Fischer , Deine Rechte i m Staat, 10. Aufl. 1961, S. 113 bezweifelt daher überhaupt die Verf assungsmäßigkeit des Versammlungsgesetzes, soweit darin bestimmte Formen der Versammlungsdurchführung vorgeschrieben werden. 7 Das Reichs Vereinsgesetz v o n 1908 beschränkte sich bewußt auf die Regelung des Verhältnisses der Versammelten zur öffentlichen Gewalt (v. Jahn, Reichsvereinsgesetz, 1931, S. 124). Lediglich die Regelung des § 10 R V G bildet i n gewissem Sinne einen Vorläufer der Ordnungsbestimmungen des Bundes Versammlungsgesetzes. Allerdings atmet die Bestimmung des § 10 Satz 3 RVG, die den Versammlungsleiter f ü r Ruhe u n n d Ordnung i n der Versammlung verantwortlich macht, noch durchaus obrigkeitsstaatlichen Geist. Sie folgt Vorbildern der einzelstaatlichen Versammlungsgesetzgebung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die darauf zielten, der Obrigkeit einen Garanten f ü r polizeiliches Wohlverhalten zu stellen (W. Jellinek , Verwaltungsrecht, S. 489, vgl. hierzu auch unten S. 63). Eher auf der L i n i e der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes von 1953 liegen die V o r schriften des § 10 Satz 2 RVG, wonach der Veranstalter berechtigt ist, auch gegen den W i l l e n der Versammelten die Leitung zu übernehmen oder einen Leiter zu bestimmen u n d des § 10 Satz 4 RVG, die dem Versammlungsleiter das Recht zusprechen, die Versammlung aufzulösen. Das Vorherrschen des polizeilichen Ordnungsinteresses ist aber auch hier noch sehr deutlich. M i t Recht w i r d i n der Begründung des Regierungsentwurfes zum Bundesversammlungsgesetz (BT.Drucks. Nr. 1102, S. 8) bemängelt, daß die Befugnisse

Einleitung und Problemstellung Sammlungen grundsätzlich der jeweiligen Versammlung selbst überließ 8 , versuchte das Versammlungsgesetz erstmalig, die Hechte und Pflichten von Veranstaltern, Leitern und Teilnehmern öffentlicher Versammlungen gesetzlich näher zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen 9 . So heißt es i n den §§ 7 und 8 des Versammlungsgesetzes hinsichtlich des Versammlungsleiters: „Jede öffentliche Versammlung muß einen Leiter h a b e n . . . Der Leiter übt das Hausrecht a u s . . . Der Leiter bestimmt den Ablauf der Versammlung 1 0 . Er hat während der Versammlung für Ordnung zu sorgen. Er kann die Versammlung jederzeit unterbrechen oder schließen." Die hier genannten Befugnisse des Versammlungsleiters, zu denen das Recht kommt, Ordner zu bestellen (§9 VersG), den Zugang zur Versammlung für bestimmte Personen und Personengruppen zu beschränken (§ 6 VersG) und gröbliche Störer aus der Versammlung auszuschließen, sollen i m folgenden unter der Bezeichnung Ordnungs - und Leitungsgewalt zusammengefaßt werden 1 1 .

2. Die Äußerungen in der Literatur

Die Frage, wie die Ordnungs- und Leitungsgewalt des Versammlungsleiters dogmatisch einzuordnen und verfassungstheoretisch zu begründen ist, ist i n Rechtsprechung und Literatur bislang praktisch ungeklärt. Die eingangs erwähnte Entscheidung des OVG Lüneburg läßt die Frage offen. Untersucht man die verhältnismäßig wenigen des Versammlungsleiters i n der Regelung des R V G ganz auf sein A u f lösungsrecht konzentriert seien u n d darauf hingewiesen, daß es vielfach den Störern einer Versammlung überhaupt n u r darauf ankomme, die Auflösung der Versammlung zu erreichen. s v. Jan, a.a.O., Vorbem. a zu § 10 RVG. 9 Füßlein, Versammlungsgesetz, 1954, S. 11, der allerdings darauf hinweist, daß der den Regierungsentwurf beherrschende Gedanke der Versaimmlungsordnung, d.h. die Absicht, die Rechtsbeziehungen zwischen Veranstalter, Leiter u n d Teilnehmern umfassend zu regeln, sich i n der endgültigen Fassung des Versammlungsgesetzes n u r i n veränderter u n d abgeschwächter Form durchgesetzt hat. 10 I n der entsprechenden Vorschrift des Regierungsentwurfes (a.a.O., S. 3) hieß es noch ausdrücklich: „§ 6 Der Leiter bestimmt den A b l a u f der Versammlung, insbesondere, ob eine Aussprache stattfindet. Er erteilt und entzieht das Wort." Die Bestimmungen über die Befugnisse des Versammlungsleiters bilden das Kernstück der Vorschriften über die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen. Sie sind i m Versammlungsgesetz besonders ausführlich geregelt (Füßlein , Versammlungsgesetz, S. 27). Die Rechte des Veranstalters, nämlich die Befugnis, die L e i t u n g selbst zu übernehmen oder den Leiter zu bestellen, treten demgegenüber zurück, u n d die Versammlungsteilnehmer scheinen i m wesentlichen, abgesehen von einem sehr allgemeinen u n d einschränkbaren Teilnahmerecht (§1 Abs. 1, §6 VersG) überhaupt n u r Pflichten zu treffen.

16

Einleitung und Problemstellung

Äußerungen i n der Literatur zu diesem Problem 1 2 , so kommt ein etwas merkwürdig anmutendes Ergebnis zutage. Übereinstimmend m i t der Begründung des Regierungsentwurfs 18 gehen Füßlein u und Trubel-Hainka 15 davon aus, daß das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter zur Durchführung seiner Ordnungsaufgabe keinerlei öffentliche Exekutivbefugnisse, insbesondere keine Polizeigewalt übertragen habe. Andererseits sollen die Befugnisse des Versammlungsleiters aber auch nicht privatrechtlicher Natur sein. So schreibt Füßlein : „Es wäre eine Verkennung der öffentlichrechtlichen Natur des Versammlungsgesetzes, wollte man es aus dem privaten Hausrecht ableiten. Der Besitz des Hausrechts ist nicht einmal notwendig, u m eine Versammlung abzuhalten... Die Rechte und Pflichten des Veranstalters und Leiters werden i m Versammlungsgesetz völlig unabhängig vom Hausrecht festgelegt, sind also auch nicht »Umschreibungen des Hausrechts'. Das Hausrecht w i r d vielmehr, soweit es i m Einzelfall besteht, durch das Versammlungsgesetz eingeengt, ein i m Verhältnis von Zivilrecht und öffentlichem Recht häufiger Vorgang 1 6 ," Die Frage, wie diese „unabhängig vom Hausrecht" festgelegten Befugnisse dogmatisch einzuordnen sind, bleibt allerdings bei Füßlein unbeantwortet; Füßlein beschränkt sich auf die Feststellung, der Versammlungsleiter übe kein „ A m t " aus, obwohl ihm „weitgehende öffentlich-rechtliche Befugnisse übertragen" seien 17 . Handelt es sich bei diesen merkwürdigen, „weitgehenden öffentlichrechtlichen Befugnissen" 18 , denen die für die hoheitliche Gewalt typische Möglichkeit unmittelbarer Durchsetzbarkeit 19 fehlen soll 2 0 , u m 12 I n den Kommentaren zu A r t . 8 GG fehlt eine Auseinandersetzung m i t dem Problem der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters praktisch vollständig. Lediglich aus der Tatsache, daß v. Mangoldt-Klein, Anm. X I 2 zu A r t . 74 GG u n d v. Münch , RdNr. 13 zu A r t . 8 G G die Regelung des Versammlungsgesetzes insgesamt dem öffentlichen Recht zuweisen, läßt sich allenfalls schließen, daß diese Autoren auch die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters als öffentlichrechtliche Befugnis ansehen. 13 BT.Drucks. Nr. 1102, S. 10 f. 14 Füßlein , Versammlungsgesetz, S. 50. 15 Trubel-Hainka , Versammlungsgesetz, S. 45. 16 Füßlein , a.a.O., S. 13. 17 Füßlein, a.a.O., S. 89. 18 Es ist bemerkenswert, daß das Versammlungsgesetz den Versammlungsleiter bei der Ausübung seiner Ordnungsbefugnisse m i t einem Strafrechtsschutz ausstattet, der den Bestimmungen über den Widerstand gegen die Staatsgewalt nachgebildet ist (vgl. §22 VersG, §113 StGB). Füßlein (a.a.O., S. 89) meint allerdings, w e i l der Versammlungsleiter kein Beamter sei, dürfe die Rechtmäßigkeit seiner Anordnungen nicht zur Bedingung der Strafbarkeit gemacht werden w i e i n § 113 StGB. Abweichend Trubel-Hainka , Versammlungsrecht, S. 70. 19 Z u m Problem der Abgrenzung von privaten u n d hoheitlichen Gewaltbefugnissen vgl. Leisner , Grundrechte u n d Privatrecht, 1963, S. 249 ff. 20 F ü r die Durchsetzung seiner Anordnungen soll der Versammlungsleiter

Einleitung u n d Problemstellung eine

Art

schlichthoheitlicher

eine A r t öffentlichrechtlicher

Verwaltungskompetenz

oder

gar

um

Anstaltsgewalt21?

O d e r h a n d e l t es sich u m e i n öffentlichrechtliches Hausrecht, m i t d e m der V e r s a m m l u n g s l e i t e r als „ b e l i e h e n e r U n t e r n e h m e r " ausgestattet ist, w i e Frühling m e i n t 2 2 » 2 3 . A l s „ U m s c h r e i b u n g des H a u s r e c h t s " 2 4 faßt anscheinend auch d i e B e g r ü n d u n g des R e g i e r u n g s e n t w u r f s z u m V e r sammlungsgesetz d i e O r d n u n g s g e w a l t des V e r s a m m l u n g s l e i t e r s auf. D o r t w i r d nämlich, offensichtlich u n t e r d e m Einfluß der früheren Rechtsauffassung 2 5 , v o n B e f u g n i s s e n gesprochen, d i e „ a u f d e r G r u n d l a g e des H a u s r e c h t s . . . n ä h e r e n t w i c k e l t " 2 6 w o r d e n seien. U n k l a r b l e i b t d a b e i a l l e r d i n g s , ob es sich b e i diesem ausgestalteten H a u s r e c h t u m ein privatrechtliches, n u r öffentlichrechtlich überlagertes Hausr e c h t 2 7 , oder u m e i n v o m P r i v a t r e c h t abgelöstes, eigenständiges ö f f e n t lichrechtliches H a u s r e c h t h a n d e l n s o l l 2 8 . allein auf ein i h m etwa zustehendes privates Hausrecht angewiesen sein, Trubel-Hainka, a.a.O., S. 45. 21 Dies hätte zur Voraussetzung, daß man die öffentliche Versammlung als eine A r t öffentlichrechtlicher Anstalt ansieht. F ü r den Umfang der Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer wären dann die v o n Rechtsprechung u n d Lehre entwickelten Grundsätze über die Grundrechtsgeltung i m besonderen Gewaltverhältnis heranzuziehen. Z u m Problem der Grundrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit i m besonderen Gewaltverhältnis vgl. v.Münch, Freie Meinungsäußerung u n d besonderes Gewaltverhältnis, Diss. iur. F r a n k f u r t 1957. 22 Vgl. Frühling , Das Hausrecht öffentlicher Einrichtungen, Diss i u r Göttingen 1963, S. 56, Note 200, der zwar die mangelnde K l ä r u n g des Problems i n der L i t e r a t u r erkennt (a.a.O., S. 70, Note 262), i h m aber selbst auch nicht weiter nachgeht. 23 Demgegenüber betont die neuere Kommentierung des Versammlungsrechts von Dietel-Gintzel , A n m . 4 zu § 10 VersG, daß die Ordnungsbefugnisse zwar öffentlichrechtliche, aber keine hausrechtlichen Befugnisse seien und Versammlungsleiter u n d Ordner nicht „Beliehene" seien. 24 Dagegen Füßlein , a.a.O., S. 13. 25 Soweit sich die frühere L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung überhaupt m i t der Frage nach der Rechtsnatur der Befugnisse des Versammlungsleiters befaßt, w i r d einhellig angenommen, daß es sich dabei u m privates Hausrecht handele. Vgl. v.Jan, Reichsvereinsgesetz, A n m . 1 d zu § 3 R V G , Anm. 5, 11 und 12 zu §10 R V G ; Delius, bei Nipperdey, Grundrechte I I , S. 157; Brecht , i n : v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze f ü r Preußen, Anm. 3 a zu §10 R V G ; RGSt 24, 194. 26 BT.Drucks. Nr. 1102, S. 9. 27 Auch bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen sind die Befugnisse des Versammlungsleiters aufgrund des Versammlungsgesetzes und die Befugnisse aufgrund privaten Hausrechts keineswegs kongruent. So k a n n der Zugang zu einer öffentlichen Versammlung nach § 6 VersG n u r i n der Einladung beschränkt werden, während das private Hausrecht dazu berechtigen würde, auch • i n e m Teilnehmer, der durch die Einladung nicht ausgeschlossen ist, den Z u t r i t t zu versagen. Ä h n l i c h berechtigt §11 VersG auch n u r dazu, Teilnehmer auszuschließen, die die Versammlung gröblich stören, während der Inhaber des privaten Hausrechts berechtigt wäre, eine i h m unliebsame Person auch bei n u r geringfügiger Störung, j a selbst w e n n keinerlei Störung vorliegt, auszuschließen. 2

Quilisch

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Einleitung und Problemstellung

Schon eine einfache Überlegung zeigt allerdings, daß die dogmatische Einordnung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters als hausrechtliche Befugnis auf grundsätzliche Bedenken stößt. Wie Frühling überzeugend nachgewiesen hat, sind hausrechtliche Befugnisse, gleichgültig, ob privat- oder öffentlichrechtliche, nur auf der Grundlage des Besitzes als tatsächliche Sachherrschaft denkbar 2 9 . Nach der Regelung des Versammlungsgesetzes entfaltet die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters jedoch auch dort ihre Wirkungen, wo der Besitz des Grund und Bodens, auf dem die Versammlung stattfindet, für die Versammlungsorganisation keine Rolle spielt. Dies gilt nicht nur für Versammlungen unter freiem Himmel. Bei ihnen kann, soweit sie auf i m Gemeingebrauch stehenden öffentlichen Straßen und Plätzen stattfinden, ohnehin von einem Besitz des Veranstalters oder Versammlungsleiters keine Rede sein 30 . Gleichwohl gibt auch hier das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter das Recht, den Versammlungsablauf zu bestimmen und verpflichtet die Teilnehmer, den Ordnungsweisungen des Leiters zu folgen (§ 18 Abs. 1 i. V. m. §§ 8, 10 VersG) 31 . Auch bei öffentlichen Versammlungen i n geschlossenen Räumen ist die Innehabung des Besitzes am Versammlungslokal nicht notwendige Voraussetzung für das Veranstalten und Leiten von Versammlungen und die hieraus fließenden Befugnisse 32 . 2 8 Vgl. auch die etwas mysteriösen Ausführungen des Berichterstatters des Verfassungsausschusses Dr. Becker vor dem Bundestag (Stengr. Ber. 1952, S. 9735 ff., abgedr. bei Enderling , a.a.O., S. 11 ff., 14), wonach das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter das Hausrecht sowohl i n privatrechtlicher, w i e i n öffentlich-rechtlicher Beziehung zugesprochen habe. 28 Frühling , a.a.O., S. 49 ff. et passim, v o r allem S. 66, 68 i m Zusammenhang m i t der Ordnungsgewalt des Parlamentspräsidenten, die von der h. M. zu Unrecht auf das Eigentum des Staates am Parlamentsgebäude gestützt w i r d . F ü r den Bereich des staatlichen Verwaltungsvermögens gründet F r ü h l i n g das Hausrecht allerdings nicht auf den privatrechtlichen Besitz, sondern auf eine besondere öffentlichrechtliche Sachherrschaft, die m i t der W i d m u n g f ü r den Verwaltungszweck entstehe. Vgl. dazu allgemein unten S. 193 f. 30 Es wäre sicherlich eine juristische Verkünstelung, aus der Anmeldung einer öffentlichen Versammlung unter freiem H i m m e l bei der Ortspolizeibehörde eine Besitzeinräumung durch den öffentlichen Wegeherrn zu k o n struieren u n d hierauf ein öffentlichrechtliches Hausrecht des Versammlungsleiters zu gründen. 31 Die Befugnisse des Versammlungsleiters sind hier allerdings enger als bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen. Insbesondere fehlt das Recht zur Beschränkung des freien Zugangs (§6 VersG) u n d das Recht zum V e r sammlungsausschuß (§11 VersG), das n u r durch die Polizei ausgeübt werden darf. 32 Hierauf weist Füßlein , a.a.O., S. 13 m i t Recht hin. Auch bei einer Spontanversammlung, die sich ohne vorherige Besitzeinräumung des V e r sammlungslokals an den Leiter konstituiert, hat dieser die Befugnisse aus dem Versammlungsgesetz. So enthält auch die Bestimmung des §7 Satz 4 VersG „Der Leiter ü b t das Hausrecht aus" keine v o n den privatrechtlichen Besitzverhältnissen unabhängige „Verleihung" des Hausrechts durch den Gesetzgeber, sondern soll n u r klarstellen, daß, sofern ein privates Hausrecht

Einleitung und Problemstellung

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Es läßt sich zwar nicht verkennen, daß die positive Ausgestaltung der Ordnungsgewalt i m Versammlungsgesetz am Vorbild des Hausrechts orientiert ist 3 3 , ebensowenig ist jedoch die Tatsache zu übersehen, daß die Befugnisse des Versammlungsleiters von der Grundlage des Besitzes, die begriffsnotwendig zum Hausrecht gehört, abgelöst sind. Die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters zeigt insofern gewisse Parallelen zur Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden (§§ 176 ff. GVG) 3 4 , die ebenfalls hausrechtliche Elemente enthält 3 5 , zugleich aber unabhängig vom Besitz des Raumes, i n dem das Gericht tätig wird, ausgestaltet ist 3 6 . Ebenso wie bei der Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden liegt der Sinn der Ordnungsbefugnisse des Leiters einer öffentlichen Versammlung nicht primär i m Besitzschutz, sondern i m Funktionsschutz 37 . Die Einrichtung der Versammlungsleitung durch das Versammlungsgesetz soll i n erster Linie dem ungestörten Funktionieren öffentlicher Versammlungen dienen, nicht aber dem Inhaber der tatsächlichen Gewalt i m Versammlungsraum besonderen Schutz angedeihen lassen. Sieht man die Grundlage der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters nicht i m Besitz, sondern i n der Funktion öffentlicher Versammlungen, so w i r d zugleich das entscheidende verfassungstheoretische Problem sichtbar, das hinter der Frage nach der Rechtsnatur der Beüberhaupt gegeben ist, dies n u r durch den Versammlungsleiter ausgeübt w i r d . Vgl. Füßlein , a.a.O., S. 49. 33 Vgl. oben A n m . 5 auf S. 10. Diese Orientierung a m V o r b i l d des Hausrechts g i l t vor allem f ü r die Ordnungsbefugnisse bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen. 34 Weniger deutlich sind die Parallelen zu der Ordnungsgewalt des Parlamentspräsidenten; diese w i r d v o n der h. M . (vgl. etwa v. Mangoldt-Klein, A n m . 3 zu A r t . 40 G G ; Maunz-Dürig, RdNr. 24 zu A r t . 40 G G ; Schneider Bennewitz , Bonner Kommentar, A n m . I I 7 zu A r t . 40 GG) auf das fiskalische Eigentum u n d nicht auf den Besitz gestützt (hiergegen m i t Recht Frühling , a.a.O., S. 66) und als privatrechtliches Hausrecht aufgefaßt. Frühling , a.a.O., S. 68 m i t umfangreichen Nachweisen. 35 Vereinzelt w i r d zwar auch die Meinung vertreten, die Sitzungspolizei sei Ausfluß des bürgerlichrechtlichen Hausrechts (Hubrich , Redefreiheit, S. 425: Ulmer , Sitzungspolizei, S. 41 ff.), die herrschende Meinung faßt sie jedoch als eigenständiges öffentlichrechtliches I n s t i t u t auf (vgl. Frühling , a.a.O., S. 70 m i t Nachweisen), das nicht an das befriedete Besitztum gebunden ist. 36 M i t Recht weist Frey , Sitzungspolizei, S. 16, darauf hin, daß die Sitzungspolizei auch bei einem L o k a l t e r m i n auf der Straße ausgeübt werden könne. 3 7 Dieser Unterschied von raumbezogenem Besitzschutz u n d tätigkeitsbezogenem Funktionsschutz bildet auch den Hintergrund der Kontroverse über die Zulässigkeit der Anstaltspolizei i m Verwaltungsrecht (Zum Begriff der Anstaltspolizei u n d ihren Begründungen vgl. Frühling , a.a.O., S. 103—111 u n d die dortigen Nachweise). Die Gegner der Anstaltspolizei sind dabei darauf angewiesen, den Schutz der staatlichen Tätigkeit v o r Störungen auf dem Wege über einen raumbezogenen Besitzschutz (Hausrecht) zu k o n struieren, während die Verfechter der Anstaltspolizei unmittelbar aus der öffentlichen F u n k t i o n der jeweiligen staatlichen Organe eine A r t H i l f s kompetenz zur Störungsabwehr konstruieren. 2*

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Einleitung und Problemstellung

fugnisse des Versammlungsleiters steht. Es ist die Frage, ob und inwieweit Befugnisse des Versammlungsleiters i n ähnlicher Weise dem Funktionsschutz einer öffentlichen staatlichen Tätigkeit dienen, wie dies bei der Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden der Fall ist. Während es sich bei der den Gerichten anvertrauten Rechtsprechung (Art. 92 GG), die durch die Einrichtung der Sitzungspolizei vor Störungen geschützt wird, unzweifelhaft um eine staatliche Aufgabe und Betätigung handelt, ist dies bei der Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit i n der Form öffentlicher Versammlungen höchst problematisch. Sicherlich gewinnt die Versammlungsfreiheit i n einem demokratischen Staat auch positive, staatsaufbauende Züge 3 8 , sie w i r d zu einem Funktionselement der Demokratie 3 9 . M i t ihrer Gewährleistung garantiert und schützt der demokratische Staat zugleich seine eigenen Grundlagen. Das Veranstalten und Leiten von öffentlichen Versammlungen und das Teilnehmen an ihnen w i r d damit jedoch noch nicht ohne weiteres zu einer staatlichen Tätigkeit 4 0 . Die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen w i r d damit notwendig zur Frage nach dem verfassungstheoretischen Verständnis des Sinns und der Funktion der Versammlungsfreiheit i n einer demokratischen Verfassungsordnung.

3. Die Bedeutung der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters für die Bestimmung ihres Umfangs

Das Problem der Rechtsnatur der Befugnisse des Versammlungsleiters hat aber nicht nur verfassungstheoretisches und dogmatisches, es besitzt auch erhebliches praktisches Interesse. Dies gilt nicht nur für die Frage des Rechtsschutzes gegen Anordnungen des Leiters einer öffentlichen Versammlung, d. h. die Frage, ob überhaupt ein Rechts38 Mallmann, a.a.O., Sp. 107; v.Münch, a.a.O., RdNr. 11 zu A r t . 8 GG. 39 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 17, spricht v o n den Grundrechten als „funktionelle Grundlage" der freiheitlichen Demokratie, eine Erkenntnis, die vor allem auch i n der schweizerischen Staatslehre betont w i r d . Vgl. die Nachweise bei Häberle , a.a.O., S. 17, Note 80. 40 Der Gedanke des Funktionsschutzes durch die Zuerkennung von A n n e x kompetenzen ist keineswegs auf den staatlichen Bereich beschränkt. Bemerkenswert ist i n diesem Zusammenhang eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH, U r t e i l v. 11.11.1965 — I I ZR 122/63 — i n : Betriebsberater 1965, S. 1417), i n der dem Leiter der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft aufgrund seiner Aufgabe, f ü r einen sachgemäßen V e r sammlungsablauf zu sorgen, generell die hierfür erforderlichen Rechte zugesprochen werden, insbesondere die Befugnis, die Redezeit der Aktionäre zu verkürzen u n d diese gegebenenfalls auch aus dem Saal zu verweisen. I m Gegensatz zu der i n der L i t e r a t u r zumeist vertretenen Auffassung leitet der B G H dieses Recht nicht aus dem Hausrecht ab, sondern unmittelbar aus der Stellung und F u n k t i o n des Leiters der Hauptversammlung.

Einleitung und Problemstellung weg und gegebenenfalls welcher gegeben ist, dies gilt vor allem auch für die Bestimmung des Umfangs der Befugnisse und Pflichten der Veranstalter, Leiter und Teilnehmer öffentlicher Versammlungen. Je nachdem, ob man i n der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters eine A r t verliehener staatlicher Befugnis sieht oder nicht, ob man seine Ordnungsgewalt dem öffentlichen oder dem bürgerlichen Recht zurechnet, w i r d die Frage, ob und i n welchem Maße der Versammlungsleiter an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer oder gar die Grundsätze des Verwaltungshandelns gebunden ist, ganz unterschiedlich zu beurteilen sein. Während bei einer öffentlichrechtlichen Stellung geradezu eine Vermutung für eine unmittelbare Grundrechtsbindung spräche, käme bei einer rein privatrechtlichen Stellung nur eine Bindung i n der Form grundrechtlicher D r i t t w i r k u n g zwischen Privaten, vielleicht auch in der Form einer mittelbaren Grundrechtseinwirkung auf das Privatrecht bei der Interpretation des Umfangs der Ordnungsgewalt nach dem Vorbild des Lüth-Urteils i n Betracht. Diesen Zusammenhang zwischen Rechtsnatur und Umfang der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters hat das OVG Lüneburg i n der eingangs dargestellten Entscheidung offensichtlich nicht erkannt. Das Gericht hätte diese Frage sonst nicht i n der Meinung offenlassen können, sie sei nur für die Zulässigkeit, nicht aber für die Begründetheit der Klage bedeutsam. Die mangelnde Klärung der Rechtsnatur der Befugnisse aufgrund des Versammlungsgesetzes und der damit verbundenen verfassungstheoretischen Fragen dürfte ganz allgemein die Ursache der höchst uneinheitlichen und teilweise auch i n sich widersprüchlichen Äußerungen i m Schrifttum über den Umfang dieser Rechte sein. Besonders deutlich w i r d dies bei den Auffassungen zum Umfang der Rechte der Teilnehmer. So behaupten von Mangoldt-Klein 41 einerseits ein Recht der Teilnehmer an einer Versammlung, „sich an den i n ihr stattfindenden Erörterungen und Kundgebungen durch eigene Meinungsäußerungen zu beteiligen", machen aber andererseits dieses „Recht" vollständig von der Worterteilung durch den Versammlungsleiter abhängig, wobei unerörtert bleibt, ob die Worterteilung allein i m Belieben des Versammlungsleiters steht. Ähnlich spricht Füßlein von einem „aus der Versammlungsfreiheit abgeleiteten Recht" 4 2 , zur Diskussion zu reden, u m an anderer Stelle auszuführen: „Ebenso wenig gibt es ein Recht, das Wort zu erhalten oder zu behalten 4 3 ." Wähv. Mangoldt-Klein, 14. Aufl., S. 110. 42

A n m . H I zu A r t . 8 GG; ähnlich Maunz,

Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 28. « Füßlein , DVB1. 1954, S. 594.

Staatsrecht,

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Einleitung und Problemstellung

rend Süsterhenn-Schäfer 44 „die Möglichkeit der freien M i t w i r k u n g " als „wesentlich" für die Versammlung ansehen, erklärt demgegenüber Seifert, das Teilnahmerecht an der Versammlung „ist i m wesentlichen nur ein passives Teilnahmerecht. Einen Anspruch auf p r o m i nente Teilnahme*, z. B. als Diskussionsredner hat der Teilnehmer an sich nicht. Er ist insofern auf die Worterteilung durch den Versammlungsleiter angewiesen" 45 . Die Unklarheit und Widersprüchlichkeit der Äußerungen über den Umfang der Teilnehmerrechte spiegelt sich i n der Unklarheit der Aussagen über den Umfang der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters. So erklärte das OVG Lüneburg i n dem zu Beginn dargestellten Fall, das Grundrecht der Teilnehmer auf freie Meinungsäußerung sei für den Versammlungsleiter völlig unbeachtlich, es komme lediglich darauf an, daß der Versammlungsleiter die Ordnung bewahre, wobei das Gericht „Ordnung" anscheinend synonym mit „kein T u m u l t " interpretierte. Demgegenüber betont Füßlein* 6, die Anweisungen des Versammlungsleiters müßten die Aufrechterhaltung der Ordnung i n der Versammlung nicht nur bezwecken, sondern sich i m Rahmen der üblichen „Spielregeln der öffentlichen Diskussion" halten. A u f den Inhalt der Erörterungen (Diskussionsfreiheit) dürften sich die Weisungen des Versammlungsleiters grundsätzlich nicht beziehen. Ähnlich schreiben auch Trubel-Hainka 47, die Anweisungen des Versammlungsleiters müßten sich i n den Grenzen der ihm nach den §§ 8, 10 und 11 VersG wie der §§ 859 ff. BGB (Hausrecht) zustehenden Befugnisse halten 4 8 . A u f keinen Fall dürfe der Versammlungsleiter „ w i l l k ü r l i c h " verfahren, indem er das Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG) beeinträchtige, solange sich die Teilnehmer innerhalb der diesem Recht gesetzten Grenzen hielten 4 9 . Nach Dietel-Gintzel ist es unzulässig, 44 Süsterhenn-Schäfer, A n m . 3 zu A r t . 12 Verf. Rheinland-Pfalz; die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme betont auch Wernicke, Bonner Kommentar, Erl. I I b zu A r t . 8 GG; einschränkend hierzu v. Münch, Bonner Kommentar, RdNr. 26 zu A r t . 8 G G (Zweitbearbeitung). 45 Seifert, Das neue Versammlungsgesetz, i n : Die Polizei, 1953, S. 133 ff., S. 134. 46 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 54. 47 Trubel-Hainka, Versammlungsrecht, S . 4 6 f . 48 Der unterschiedliche Umfang der Befugnisse aufgrund Hausrechts u n d aufgrund des Versammlungsgesetzes sowie die möglichen Konflikte zwischen diesen Befugnissen werden dabei offensichtlich nicht erkannt. 4» Es ist ein w e n i g verwunderlich, daß das O V G Lüneburg, das die Kommentare v o n Füßlein u n d Trubel-Hainka zum Versammlungsgesetz zitiert, sich nicht m i t den entsprechenden Ausführungen dieser Autoren zum Umfang der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters auseinandersetzt. Es ist zumindest fraglich, ob m a n eine w ü l k ü r l i c h e oder wegen des mutmaßlichen Inhalts der Äußerung erfolgende Wortverweigerung anders beurteilen k a n n als eine w ü l k ü r l i c h e oder den I n h a l t der Äußerung betreffende Wortentziehung .

Einleitung und Problemstellung Gegenmeinungen durch Weisungen zu unterdrücken, abwegige Diskussionsbeiträge brauchten jedoch nicht toleriert zu werden 8 0 . I n diesen letztgenannten Zitaten kommt immerhin zum Ausdruck, daß das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Trubel-Hainka), bzw. der Grundsatz der Diskussionsfreiheit (Füßlein) für die Bestimmung der Rechte von Leiter und Teilnehmern nicht völlig unerheblich sind 5 1 . Unklar bleibt aber auch hier, wie diese Einwirkung der Grundrechte dogmatisch und verfassungsrechtlich zu begründen und zu konstruieren ist. Handelt es sich dabei u m subjektive öffentliche Rechte der Versammlungsteilnehmer gegen den Leiter oder u m eine verfassungskonforme Auslegung des Versammlungsgesetzes oder u m einen Fall unmittelbarer D r i t t w i r k u n g zwischen Privaten? Ungeklärt ist aber nicht nur der sachliche, ungeklärt ist auch der personelle Umfang der Ordnungsbefugnis des Versammlungsleiters. Nach der Regelung des Versammlungsgesetzes stehen dem Leiter grundsätzlich nur Befugnisse gegenüber den Teilnehmern zu 5 2 . Wie ist aber diese Teilnehmerstellung rechtlich zu bestimmen? Genügt die tatsächliche Anwesenheit i m Versammlungslokal oder muß irgendeine A r t innerer Beziehung zur Versammlung hinzukommen? Kann beispielsweise der Versammlungsleiter gegenüber dem i m Versammlungsraum anwesenden Bedienungspersonal oder dem W i r t verbindliche Anordnungen treffen, wenn sie beim Servieren des Biers die Versammlung stören? Oder ist er diesen Personen und sonstigen Dritten gegenüber nur auf das i h m möglicherweise eingeräumte private Hausrecht angewiesen 53 ? Wie steht es, wenn für die Versammlung nur ein einzelner Raum zur Verfügung gestellt ist, der Besitzer des Grundstücks einzelne Teilnehmer oder Redner aus irgendwelchen Gründen bereits aufgrund so Dietel-Gintzel, A n m . 6 zu § 10 VersG. Eine gewisse Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Teilnehmer, insbesondere ihre Meinungsfreiheit, nehmen auch v.Münch,, a.a.O., RdNr. 12 u. 26 zu A r t . 8 GG (Zweitbearbeitung) u n d Leisner , G r u n d rechte u n d Privatrecht, 1963, S. 346 an. Sie berufen sich hierbei auf den v o m Bundesverfassungsgericht i m L ü t h - U r t e i l entwickelten Grundsatz der Güterabwägung. Ablehnend dagegen Herzog , RdNr. 63 F N 2 zu A r t 8 GG, der eine B i n d u n g allenfalls unter dem Gesichtspunkt der aktiv-kämpferischen H a l t u n g der veranstaltenden Vereinigung i. S. des A r t . 9 Abs. 2 bzw. des A r t . 21 Abs. 2 G G gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung zulassen w i l l . 52 Es ist nicht zu übersehen, daß das Versammlungsgesetz n u r von Befugnissen gegenüber Teilnehmern spricht u n d auch n u r Teilnehmer zur Befolgung der Weisungen des Versammlungsleiters verpflichtet. Füßlein , a.a.O., S. 54. 53 Nach § 2 Abs. 2 VersG sind auch Nichtteilnehmer verpflichtet, Störungen von Versammlungen zu unterlassen. Füßlein , Versammlungsgesetz, S. 31 f., sieht i n dieser Vorschrift allerdings n u r eine lex imperfecta; Maßnahmen des Versammlungsleiters seien — abgesehen v o m Hausrecht — n u r gegen Teilnehmer möglich.

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Einleitung und Problemstellung

seines umgreifenden Hausrechts am Betreten des Grundstücks hindert? Soweit eine vertragliche Einräumung des Versammlungsraumes stattgefunden hat, liegt hier sicherlich eine positive Vertragsverletzung vor. Die Frage ist aber, ob der Inhaber des Hausrechts vom Versammlungsleiter aufgrund seiner Ordnungsgewalt, wenn nötig sogar gewaltsam, gezwungen werden kann, derartige Beeinträchtigungen zu unterlassen. Ist auch der Veranstalter den Ordnungsweisungen des Versammlungsleiters i n gleichem Maße unterworfen wie die übrigen Teilnehmer? Oder kann der Veranstalter die einmal übertragene Versammlungsleitung, ohne daß er sich damit einer Versammlungsstörung schuldig machte, dann wieder an sich nehmen, wenn der Leiter der Veranstaltung einen von den Intentionen des Veranstalters offenkundig abweichenden Verlauf und Inhalt gibt? Ähnliche Probleme des sachlichen und personellen Umfangs der Ordnungsgewalt ergeben sich auch bei öffentlichen Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel. K a n n etwa der Veranstalter oder Leiter, obwohl bei öffentlichen Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel der Zugang grundsätzlich nicht beschränkt werden kann 5 4 , bestimmten teilnahmewilligen Personen und Personengruppen die Teilnahme dann versagen, wenn hierdurch die Ansichten anderer Teilnehmer verletzt und damit die ordnungsgemäße Versammlungsdurchführung gefährdet wird 5 5 ? Können Passanten, die sich auf ihr Hecht zum Gemeingebrauch berufen, daran gehindert werden, quer durch eine öffentliche Versammlung zu gehen? Kann von Dritten, die, ohne sich an der Veranstaltung zu beteiligen, ihre abweichende Meinung durch Transparente kundgeben, verlangt werden, daß sie dies unterlassen? Können i n einem solchen Fall der Leiter oder seine Ordner unmittelbar vorgehen oder müssen sie sich auf die Hilfe der Polizei verlassen? Oder muß nicht umgekehrt die Polizei solche Gegendemonstranten schützen? 4. Kritik am Versammlungsbegriff

Die angeführte Entscheidung des OVG gibt nicht nur Anlaß, die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungs5* Eine dem § 6 VersG entsprechende Möglichkeit, den Teilnehmerkreis i n der Einladung zu beschränken, fehlt bei Versammlungen unter freiem Himmel, da § 18 VersG nicht auf § 6 VersG verweist. 55 M a n denke beispielsweise an den Fall, daß sich Demonstranten einem Ostermarsch der Atomwaffengegner anschließen wollen, u m gegen die Berliner Mauer zu protestieren oder daß Teilnehmer einer von den Gewerkschaften veranstalteten Maikundgebung diese zu einer Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg „umfunktionieren" wollen.

Einleitung und Problemstellung leiters und ihrem Umfang zu überdenken, sie stellt darüber hinaus einen zentralen Begriff des Versammlungsrechts, nämlich den Begriff der Versammlung selbst i n Frage. Das Versammlungsgesetz ebenso wie Art. 8 GG definieren den Begriff Versammlung nicht. Rechtsprechung und Lehre befinden sich jedoch seit langem i n schöner Einhelligkeit darüber, daß der Begriff der Versammlung i n Rechtsprechung und Lehre seit langem feststehe 56 . So definiert man die Versammlung regelmäßig als ein räumliches Zusammenkommen einer gewissen Anzahl von Menschen, m i t dem Zweck, sie interessierende A n gelegenheiten zu diskutieren oder eine Kundgebung zu veranstalten 57 . Man streitet sich darüber, ob für das Zustandekommen einer Versammlung eine größere Anzahl von Menschen erforderlich sei 58 oder schon eine geringe Anzahl 5 9 , möglicherweise sogar nur drei oder vier, genüge 60 . Man streitet darüber, ob der Versammlungsbegriff auf die Erörterung öffentlicher Angelegenheiten beschränkt ist 6 1 oder auch private davon umschlossen sind 62 » 63 . A l l e n Autoren und Entscheidungen ist jedoch gemeinsam, daß sie die Versammlung als ein rein tatsächliches Phänomen ansehen, d.h. die herkömmlichen Definitionen sind rein beschreibend. Die Beziehungen der Versammelten untereinander werden als grundsätzlich tatsächlicher und nicht rechtlicher A r t aufgefaßt 64 . So schreibt Hoerni, se Vgl. etwa Enderling , a.a.O., S. 9; Füßlein, a.a.O., S. 22; ders., Vereinsund Versammlungsrecht, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, Grundrechte I I , S. 443; v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8 GG. 57 Mallmann, a.a.O., Sp. 106; Füßlein , VersG, S. 22 f.; Trubel-Hainka, a.a.O., S. 26; v. Mangoldt-Klein, Anm. I I I 2 zu A r t . 8 G G unter Hinweis auf Anschütz , Komm. WRV, 14. Aufl., A n m . 1 zu A r t . 123. 58 So Enderling, a.a.O., S. 24; Trubel-Hainka, a.a.O., S. 26; Wernicke, Erl. I I b zu A r t . 8 G G (Erstbearbeitung); f ü r die WRV, Anschütz , K o m m . Anm. 1 zu A r t . 123. 59 So Hamann, A n m . C 1 zu A r t . 8 GG; Mallmann, Sp. 108; v. MangoldtKlein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8 GG; vMünch, RdNr. 21 zu A r t . 8 GG. 60 Füßlein, Neumann-Nipperdey-Scheuner, Grundrechte I I , S. 444, Note 88; vermittelnd meint Hoerni, Das Versammlungsrecht i n der Schweiz, 1938, S. 65 f., es käme auf den konkreten F a l l an. Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 11, w i l l sogar eine Person genügen lassen, während Dietel-Gintzel, A n m . 6 zu § 1 VersG, mindestens zwei Personen f ü r eine Versammlung fordern. 61 So Füßlein, a.a.O., S. 443; v. Mangoldt-Klein, A n m . 112 zu A r t . 8; DietelGintzel, Al zu VersG. 62 So Mallmann, Sp. 108; Hamann, A n m . A / B zu A r t . 8 G G ; Wernicke, Erl. I I b zu A r t . 8 GG; v. Münch, RdNr. 24 zu A r t 8 GG. 63 N u r selten w i r d auf die Problematik der Abgrenzung der Versammlung gegenüber verwandten sozialen Gebilden hingewiesen, w i e etwa bei W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 487, der eine gemeinsame Überlegung von Juristen und Soziologen f ü r wünschenswert hält. 64 So w i r d bei v. Mangoldt-Klein, A n m . I I 3 zu A r t . 8 G G die Versammlung als „gesellschaftlicher Sachverhalt", als „Einrichtung i m natürlichen Sinne" aufgefaßt, während der Verein als gesellschaftlicher Sachverhalt u n d als rechtliche Einrichtung begriffen w i r d . Vgl. auch v. Mangoldt-Klein, Vorbemerkung A V I 3 b.

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Einleitung und Problemstellung

bei dem sich eine der intensivsten Auseinandersetzungen m i t dem Versammlungsbegrifi findet, die Versammlung unterscheide sich vom Verein nicht nur durch die Elemente des räumlichen Beisammenseins, der Dauer und der notwendigen Organisation, sondern auch durch das Fehlen rechtlicher Beziehungen, wie sie für den Verein typisch seien 65 . Dieser etablierte, die Versammlung als eine rein tatsächliche Erscheinung betrachtende Versammlungsbegriff ist durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes i n Frage gestellt. Denn indem das Versammlungsgesetz die Befugnisse und Pflichten der Versammelten rechtlich umschreibt, gegeneinander abgrenzt und aufeinander bezieht, w i r d zumindest die öffentliche Versammlung zu einer nicht nur tatsächlichen, sondern auch zu einer rechtlichen Erscheinung. Ja, man muß darüber hinaus die Frage stellen, ob nicht die Versammlung bereits unabhängig von und vor den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes ein eigenes rechtlich eingerichtetes Gebilde ist 6 6 . 5. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes

Es muß schließlich noch auf ein weiteres Problem aufmerksam gemacht werden, das in der angeführten Entscheidung des OVG Lüneburg völlig übersehen w i r d : die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes. Die Ordnungsbestimmungen dieses Gesetzes gelten auch für Versammlungen i n geschlossenen Räumen, obwohl Art. 8 Abs. 1 GG insoweit keinen Gesetzesvorbehalt kennt. Man muß jedoch fragen, ob nicht die Vorschriften, wonach der Versammlungsleiter vom Veranstalter bestellt und nicht von der Versammlung gewählt wird, wonach der Versammlungsleiter die Versammlung jederzeit schließen darf, wonach er bestimmen darf, ob eine Aussprache stattfindet, nicht unzulässige Beschränkungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit darstellen. Genügt es, u m ein solches materielles Ausführungsgesetz 67 i m Grundrechtsbereich ohne Gesetzesvorbehalt zu rechtfertigen, sich auf die Gefahr des Grundrechtsmißbrauches 68 , den Vorbehalt der verfassungs65 Hoerni, a.a.O., S. 67. 66 Verneinend v. Münch , RdNr. 12, 13 zu A r t . 8 GG, der meint, es gebe trotz einzelner Bestimmungen i m Vereins- u n d Gesellschaftsrencht (§§ 38 ff. BGB, §§ 102 ff. A k t G ) die Versammlung nicht als eigenständiges I n s t i t u t des Privatrechts. Ebenso fehle es auch an einer einheitlichen öffentlichrechtlichen Normierung, da das Versammlungsgesetz grundsätzlich n u r f ü r öffentliche Versammlungen gelte. 67 Trubel-Hainka, a.a.O., S. 13. 68 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, a.a.O., S. 8. M a n k a n n die Ausgestaltung der Vereinsfreiheit durch das private Vereinsrecht des BGB, soweit dadurch spezifische Rechte u n d Pflichten der Vereinsmitglieder normiert werden, sicherlich nicht aus dem Gedanken des Mißbrauchs der

Einleitung und Problemstellung mäßigen Ordnung i n A r t . 2 GG 6 9 oder auf immanente Gewährleistungsschranken 70 zu berufen? Und auch wenn man generell ein solches Ausführungsgesetz für zulässig erachtet 71 , bleibt die Frage, ob der Gesetzgeber, der ja nach A r t . 1 Abs. 3 GG auch an die Grundrechte gebunden ist, bei der Verteilung der Kompetenzen zwischen Veranstalter, Leiter und Teilnehmern wirklich verfassungsmäßig vorgegangen ist. Nach Auffassung von Füßlein hat der Gesetzgeber durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes die Versammlungsfreiheit in eine Veranstalter-, Leiter- und Teilnehmerfreiheit aufgeteilt 7 2 . Es mag hier dahingestellt bleiben, ob dies die Zerlegung des einen Grundrechtes Versammlungsfreiheit in drei Grundrechte unterschiedlichen Inhalts bedeutet — es ist übrigens noch niemand auf den Gedanken gekommen, die vereinsrechtlichen Bestimmungen des BGB teilten die Vereinsfreiheit in eine Vorstands- und Mitgliederfreiheit auf — die Frage ist jedenfalls, wie diese höchst unterschiedliche Verteilung der Kompetenzen i n der Versammlung verfassungtheoretisch zu erklären und zu rechtfertigen ist. Schließlich üben alle an der Versammlung Beteiligten doch dasselbe Grundrecht aus. Anders betrachtet: die traditionelle deutsche Grundrechtstheorie, die auch unter dem Grundgesetz fortwirkt, sieht die Versammlungsfreiheit vor allem als ein individuelles Freiheitsrecht des status negativus 73» in das nur aufgrund eines Gesetzesvorbehalts eingegriffen werden darf. Wie ist aber vom Boden dieser Grundrechtstheorie die Tatsache zu erklären, daß durch ein Ausführungsgesetz zu einem Grundrecht, das sich grundsätzlich allein gegen den Staat richtet, drei ganz unterschiedliche Rechtspositionen m i t höchst ungleichmäßiger Rechts- und Pflichtenverteilung entstehen? Wie ist es zu erklären, daß aus einem einheitlichen staatsgerichteten Individualgrundrecht Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, und zwar möglicherweise sogar öffentlichrechtlicher A r t erwachsen? Man mag ein subjektives öffentliches Recht gegen den Staat durch ein Ausführungsgesetz interpretieren wie man w i l l , es w i r d keine Befugnis gegen Dritte daraus. Vereinsfreiheit rechtfertigen. Ebensowenig hat die Frage, w i e u n d durch w e n ein Versammlungsleiter bestellt w i r d u n d ob dieser bestimmte Teilnehmer ausschließen oder ihnen das W o r t verweigern kann, unmittelbar etwas m i t dem Problem des Mißbrauchs eines Grundrechtes zu tun. 69 Maunz, Staatsrecht, 14. Aufl., S. 99 f., 110 f. 70 v. Mangoldt-Klein, A n m . I V 2 a zu A r t . 8 GG. 71 Dafür spricht schon die Kompetenznorm des A r t . 74, Ziff. 3 G G ; zur Bedeutung der Gesetzgebungskompetenzen f ü r die Verfassungsinterpretation vgl. Ehmke, W D S t R L 20, 53 ff., insbes. S.89ff. 72 Füßlein , Versammlungsgesetz, S.27f.; ders., DVB1. 1954, 553 f.; ders., i n Neumann-Nipperdey-Scheuner, Grundrechte I I , S. 446; ähnlich v. MangoldtKlein, A n m . I U I zu A r t . 8 GG. 73 Mallmann, a.a.O., Sp. 107.

28

Einleitung und Problemstellung

Die Konsequenz hieraus ist evident, entweder die Auffassung der Versammlungsfreiheit als rein staatsgerichtetes Individualgrundrecht ist unzulänglich oder aber die gesetzgeberische Ausgestaltung der inneren Ordnung von Versammlungen, soweit sie Kompetenzen der Versammlungsbeteiligten gegeneinander schafft und rechtlich regelt, ist verfassungswidrig.

I I I . Die Aufgabe der Untersuchung Diese anhand der Entscheidung des OVG Lüneburg entwickelte dogmatische und verfassungstheoretische Problemstellung bestimmt Inhalt und Aufgabe der folgenden Untersuchung. I m Mittelpunkt des Interesses steht dabei die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters, ihrem sachlichen und persönlichen Umfang, insbesondere die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit der Versammlungsleiter an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer gebunden ist, ob und inwieweit die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen demokratischen Grundsätzen entsprechen muß und was unter solchen Grundsätzen konkret zu verstehen ist. Die Beantwortung dieser Fragen setzt eine verfassungstheoretische Besinnung auf Sinn und Funktion der Versammlungsfreiheit i m modernen demokratischen Staate voraus. Dabei führt die Untersuchung notwendig i n Grundprobleme des Verfassungsrechts und der Verfassungstheorie hinein, wie etwa die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, öffentlichem und Privatrecht, Recht und Konvention, die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Verbänden und der Stellung des einzelnen i n der Gruppe. Alle diese Fragen sollen und können jedoch nicht abstrakt, sondern nur i m Rahmen des hier aufgeworfenen Problems der Versammlungsordnung und ihrer verfassungstheoretischen und dogmatischen Grundlagen berücksichtigt und erörtert werden. Der Gang der Untersuchung ist dabei folgender: i n einem historischen Teil soll zunächst die Entfaltung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit i n ihren Grundzügen nachgezeichnet werden, wobei die Auffassungen zur Versammlungsfreiheit i n der Literatur zum Grundgesetz i n die Betrachtung miteinbezogen werden. I n einem theoretischen Teil w i r d sodann der Versuch einer eigenen verfassungstheoretischen Begründung der Versammlungsfreiheit unternommen, u m auf dieser Grundlage die Frage nach der Rechtsnatur und dem Umfang der Befugnisse der an einer Versammlung beteiligten Personen und Personengruppen zu beantworten.

ERSTER

TEIL

Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit und ihres verfassungstheoretischen Verständnisses Vorbemerkung Die folgenden Erörterungen über die historische Entfaltung der Versammlungsfreiheit sind nicht als eine i m eigentlichen Sinne rechtshistorische Darstellung zu verstehen. Sie gehen zwar über die i n der neueren Literatur zu diesem Grundrecht gemeinhin übliche Beschränkung auf die positive Verfassungsgeschichte bewußt hinaus und beziehen auch die unterschiedlichen verfassungstheoretischen Deutungen und Ableitungen dieses Grundrechts i n der Rechtswissenschaft i n den Kreis der Betrachtung mit ein. Dabei w i r d jedoch keine Vollständigkeit i n der Auswertung der Quellen angestrebt, es geht vielmehr um den Versuch, die wichtigsten Stationen i n der Entfaltung dieses Grundrechts und seines verfassungstheoretischen Verständnisses darzustellen, soweit sie für eine moderne Theorie der Versammlungsfreiheit relevant sind 1 Bei der Einbettung der Geschichte der Versammlungsfreiheit i n die allgemeine Grundrechtsgeschichte kann sich die Untersuchung selbstverständlich nicht auf die deutsche Entwicklung beschränken. Gleichwohl stehen die Versammlungslehre des deutschen Frühliberalismus und die Behandlung des Versammlungsrechts unter der positivistischen Staatslehre i m Mittelpunkt der historischen Erörterungen dieser Arbeit, da sie i m modernen Verständnis dieses Grundrechts i n besonderer Weise nachwirken. 1 Wenn Hannover, Demonstrationsfreiheit als demokratisches Grundrecht, i n : Kritische Justiz 1968, S. 52, behauptet, der einzig gültige historische Zusammenhang, der zur Interpretation der A r t . 5 und 8 GG herangezogen werden könne, sei nicht die bei der B i l l of Rights von Pennsylvanien von 1776 beginnende Ideengeschichte, sondern der Widerspruch gegen das faschistische System des D r i t t e n Reiches, so stellt dies eine unzutreffende u n d unzulässige Vereinfachung des Problemzusammenhangs dar. Eine derartige Einengung der Sicht durch eine negative Fixierung auf den Faschismus ist auch interpretatorisch nicht sehr fruchtbar.

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1. T e i l : Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

I m R a h m e n d e r h i s t o r i s c h e n B e t r a c h t u n g w i r d zugleich z u zeigen sein, daß das P r o b l e m d e r i n n e r e n O r d n u n g ö f f e n t l i c h e r V e r s a m m l u n g e n p r a k t i s c h u n e r ö r t e r t b l i e b , w e i l es v o m B o d e n d e r verfassungstheoretischen D e u t u n g e n u n d A b l e i t u n g e n dieses G r u n d r e c h t s i n d e r Staatslehre k a u m i n d e n B l i c k k o m m e n k o n n t e .

Erstes

Kapitel

Das Versammlungsrecht im Mittelalter und unter dem Obrigkeitsstaat als Gegenbild zum modernen Versammlungsrecht I . Das Versammlungswesen i m M i t t e l a l t e r D e r p o l i t i s c h e n u n d sozialen O r d n u n g s w e l t des M i t t e l a l t e r s ist e i n freies V e r s a m m l u n g s r e c h t i m S i n n e d e r V e r f a s s u n g des 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t s f r e m d . V o r a l l e m die freie, a d hoc gebildete V e r s a m m l u n g g r u n d s ä t z l i c h gleichberechtigter einzelner, d i e i m Z e n t r u m des m o d e r n e n V e r s a m m l u n g s r e c h t s steht, ist n i c h t n u r i n i h r e r r e c h t lichen, s o n d e r n auch i n i h r e r sozialen G e s t a l t eine E r s c h e i n u n g d e r Neuzeit1. Freie öffentliche Versammlungen w a r e n zwar, zumindest d u r c h d i e Reichsgesetze 2 , n i c h t u n m i t t e l b a r v e r b o t e n ; sie s p i e l t e n aber n u r eine g e r i n g e R o l l e 3 . B e i d e n r e l a t i v einfacheren u n d b e g r e n z t e r e n 1 Dieser Sachverhalt, der gerade f ü r das Problem der inneren Ordnung von Versammlungen von entscheidender Bedeutung ist, w i r d verstellt, wenn m a n w i e Füßlein, (Versammlungsgesetz S. 1) Versammlung u n d Verein als „die beiden naturgegebenen Formen kollektiver gesellschaftlicher Betätigung", als „ U r f o r m e n kollektiven Zusammenwirkens" (Füßlein, bei NeumannNipperdey-Scheuner, Grundrechte I I , S. 426) betrachtet. Es liegt hier eine v ö l l i g unhistorische Denkweise zugrunde, die von den konkreten rechtlichen u n d sozialen Ordnungsstrukturen einer jeweiligen Epoche v ö l l i g absieht. Auch Loening (Art. Vereins- u n d Versammlungsfreiheit, H d w b . StW, 4. Aufl. 1928, Bd. 8, S. 543) ist nicht von einer solchen unhistorischen Betrachtungsweise frei, w e n n er Versammlungen u n d Vereine generell i n den Raum zwischen „der Herrschaft des Familienverbandes und des Staates" stellt u n d damit eine A r t absolutes Spannungsmodell konstruiert. 2 Die einschlägigen Bestimmungen etwa der Reichsexekutionsordnung von 1555 (§§34, 43, 44, 49—52) richteten sich grundsätzlich n u r gegen aufrührerische, d. h. gewalttätige Zusammenschlüsse u n d Versammlungen; daß diese Gesetze durch die Praxis u n d Theorie des Obrigkeitsstaates i n ein allgemeines Versammlungsverbot, bzw. zur Grundlage eines allgemeinen Genehmigungsvorbehalts umgemünzt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Vgl. dazu Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 872 f. 3 v.Jan, Reichsvereinsgesetz, S. 2.

1. Kap.: Mittelalter und Obrigkeitsstaat

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Lebensverhältnissen fehlten für große Teile der Bevölkerung, vor allem auf dem flachen Lande, weithin die tatsächlichen Voraussetzungen für ein entwickeltes Versammlungswesen. Der Kreis der über die unmittelbaren Interessen des täglichen Lebens hinausgehenden Fragen war klein, zumal viele Bereiche des geistigen und religiösen Lebens durch die Autorität der Kirche von vornherein der Diskussion entzogen waren 4 . Vor allem aber war die Organisationsform der freien ad hoc gebildeten Versammlung grundsätzlich freier und gleicher Individuen den herrschenden Ordnungsprinzipien 5 des mittelalterlichen Gemeinwesen überhaupt fremd, obwohl das Mittelalter, trotz mancher Unterdrückungsversuche i m einzelnen, das Prinzip der freien Einung 6 kennt. Das soziale und politische Leben jener Zeit, dies gilt insbesondere von den Städten i n der zweiten Hälfte des Mittelalters 7 , ist durchzogen und geradezu beherrscht von Verbänden mannigfacher A r t , Genossenschaften, Korporationen, Gilden, Innungen, Bruderschaften 8 . Es liegt auf der Hand, daß für die praktische Tätigkeit und W i r k samkeit dieser Verbände Versammlungen eine bedeutsame Rolle spielten 9 . So stand den Korporationen, Innungen und sonstigen Verbänden regelmäßig auch ohne besondere Verleihung nicht nur das Recht zu, für ihre Mitglieder Rechtsätze zu erlassen, Gerichtsbarkeit und Strafgewalt i n Verbandsangelegenheiten zu üben 1 0 , sie besaßen auch ein freies Selbstversammlungsrecht 11 . Dieses Recht zur Selbstversammlung organisierter Verbände unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich vom freien Versammlungsrecht i m Sinne der verfassungsrechtlichen Verbürgungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Bei der ganz andersartigen Sozial- und Herrschaftsstruktur der mittelalterlichen Welt, die sich m i t den vom modernen Staatsdenken 4 Hoerni, Das Versammlungsrecht i n der Schweiz, 1938, S. 1. s Z u r Andersartigkeit der herrschenden Ordnungsvorstellungen des M i t t e l alters, insbesondere seinem Stufenkosmos vgl. die Hinweise bei Schnabel, Deutsche Geschichte i m 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 8 ff. « Müller, Korporation u n d Assoziation, 1965, S. 18. 7 Z u r Periodisierung des freien Einigungswesens i m Mittelalter vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 8 ff. 8 Loening, a.a.O., S. 545. 9 Welche Bedeutung den Versammlungen zukam, w i r d daran deutlich, daß noch i m frühmittelalterlichen Genossenschaftswesen die Versammlung der Genossen i n der allgemeinen Rechtsvorstellung als m i t dem Verbände selbst identisch empfunden wurde. Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht I I , S. 46 ff. *o Loening, a.a.O., S. 545. ** Eben deshalb konnte der sich etablierende Obrigkeitsstaat die m i t t e l alterlichen Korporationen auch i n i h r e m Lebensnerv treffen, indem er ihnen das Selbstversammlungsrecht entzog. Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 872, 670 f. i m H i n b l i c k auf die Gemeindegenossenschaften, I V . S. 148 f. für die Korporationsversammlungen.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

geprägten Kategorien nur unvollkommen erfassen läßt 1 2 , kamen den damaligen Verbänden i n erheblichem Umfang Aufgaben zu, die heute allein vom Staate erfüllt werden 1 3 . Die mittelalterlichen Korporationen und Genossenschaften hatten meist nicht nur die Natur von privaten Zusammenschlüssen, sondern reichten m i t ihren Funktionen und Aufgaben i n jenen Bereich hinein, den w i r heute dem öffentlichen Recht zurechnen würden 1 4 . M i t ihrer autonomen Rechtsetzungsbefugnis bildeten diese Verbände gleichsam eigene Rechtskreise; sie umfaßten, zumindest tendenziell, das gesamte Leben ihrer Mitglieder. Die sozial, politisch und wirtschaftlich wichtigen und kennzeichnenden Verbände des Mittelalters sind durchweg korporativ und nicht assoziativ geordnet 15 . Dabei verbindet das korporative Verbandswesen einerseits die Genossen möglichst eng i n allen Lebensbereichen, um andererseits die Genossenschaften voneinander zu trennen 1 6 . I n einer so strukturierten Ordnung bleibt für freie ad hoc gebildete öffentliche Versammlungen grundsätzlich kein Raum. Das freie Selbstversammlungsrecht des Verbandes kommt dem einzelnen Mitglied nur mittelbar und nur innerhalb des Verbandes zu, während ein freies Versammlungsrecht außerhalb der jeweiligen Genossenschaft geradezu durch die Verbandszugehörigkeit ausgeschlossen wird. Träger des Versammlungsrechts ist i m Grunde nur der Verband. Soweit man überhaupt von einem Versammlungsrecht der Verbandsmitglieder sprechen kann, bewegt sich dies i n einem Rahmen vorgeformter rechtlicher und sozialer Organisation. Es handelt sich u m eine korporative Freiheit, die regelmäßig nur u m den Preis der Eingliederung der gesamten Persönlichkeit in den Verband zu erlangen ist. Dieser knappe Blick auf die korporativen Verbände des Mittelalters und ihr Selbstversammlungsrecht läßt zugleich die ganz andersartigen sozialen und rechtlichen Organisationsprinzipien hervortreten, die die innere Ordnung der freien ad hoc gebildeten öffentlichen Versammlung des modernen Versammlungsrechts kennzeichnen. Ist die mittelalterliche Korporation tendenziell „Lebensverband", der gleichsam 12 Gegen die unkritische Übertragung der modernen staatsrechtlichen Begriffe auf die Welt des Mittelalters Brunner, L a n d und Herrschaft, 4. Aufl. 1950, S. 115, 118. Es t r i f f t deshalb auch nicht den wahren Sachverhalt, w e n n v. Jan (a.a.O., S. 1, ähnlich Loening, a.a.O., S. 545) von einer „Uberwucherung" des Staates durch die Vereine spricht, da eine der modernen staatlichen Organisation vergleichbare Zentralgewalt i m Grunde nicht gegeben ist. 13 Loening, a.a.O., S. 545. 14 Müller, a.a.O., S. 18, der allerdings m i t Recht davor warnt, die heutigen Kategorien des öffentlichen u n d privaten Rechts auf die Verhältnisse des Mittelalters zu übertragen. 15 Z u m Gegensatz von korporativer u n d assoziativer Verbandsform vgl. Müller, a.a.O., S. 15—18. iß Gierke, a.a.O., I, S. 654.

1. Kap.: Mittelalter und Obrigkeitsstaat

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die gesamte Rechtsstellung seiner Mitglieder begründet und vermittelt, so ist die freie öffentliche Versammlung ein „Augenblicksverband" 1 7 , der grundsätzlich die Rechtspersönlichkeit des Versammlungsteilnehmers unberührt läßt. Man kann den korporativen Lebensverband einerseits und die assoziativ strukturierte freie Versammlung andererseits geradezu als idealtypische Grenzfälle sozialer Verbandsformen 18 ansehen. Ganz allgemein sei schon an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß sich auch das Problem der inneren Ordnung einer Versammlung i n ganz anderer Weise stellt, je nachdem, ob es sich dabei u m die M i t gliederversammlung eines bereits organisierten Verbandes oder um eine freie ad hoc gebildete Versammlung handelt. Besteht in einem Falle bereits von vornherein eine konstituierte Ordnungsgewalt, die die einzelne Versammlung überdauert, so muß sie i m anderen Falle überhaupt erst m i t der Versammlung begründet werden und erlischt auch m i t dem Schluß der Zusammenkunft 1 9 .

II. Das Versammlungsrecht unter dem absolutistischen Obrigkeitsstaat Die Auflösung der korporativen Ordnungsstrukturen des Mittelalters m i t ihrer Vielzahl autonomer Rechtskreise und ihrer vor allem durch Geburt und Beruf bestimmten Statuszuordnung 20 war geradezu die Voraussetzung für die Entfaltung eines freien Versammlungsrechts i m modernen Sinne. Das freie assoziative Versammlungsrecht setzt den Gedanken eines allgemeinen Staatsbürgerrechts und der formalen Rechtsgleichheit, wie überhaupt die Entwicklung eines modernen Staatsbegriffes voraus 21 . Es ist das Werk des absolutistischen 17 Der Begriff „Augenblicksverband" w i r d , soweit ersichtlich, erstmals von Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1892, Bd. I, S. 147, verwendet. Z u m Problem des Verbandscharakters von Versammlungen vgl. unten S. 129 ff. 19 Die hier zugrunde gelegte Unterscheidung von vororganisierter M i t gliederversammlung u n d freier ad hoc Versammlung deckt sich nicht m i t der vor allem durch polizeiliche Gesichtspunkte bestimmten Unterscheidung von geschlossenen und öffentlichen Versammlungen. Einerseits können auch geschlossene Versammlungen ad hoc, etwa durch private u n d begrenzte Einladung gebildet werden, andererseits können, jedenfalls nach der A u f fassung i n Rechtsprechung und Lehre (vgl. v. Jan, Reichsvereinsgesetz, S. 128; Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 23 f.), auch Mitgliederversammlungen als öffentliche behandelt werden, w e n n das Band zwischen den Teilnehmern nur locker u n d sehr formal ist. 20 Noch das Allgemeine Landrecht von 1794 definiert die Geburts- u n d Berufsstände als eigene Rechtskreise ( A L R I 1 § 6). 21 Müller, a.a.O., S. 19 f ü r das assoziative Vereinsrecht. Entsprechendes gilt auch f ü r das assoziative Versammlungsrecht.

3 Quilisch

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Obrigkeitsstaates, diese Voraussetzungen geschaffen zu haben. Indem der obrigkeitliche Staat allen zwischen i h m und den Individuen stehenden Besonderheiten entgegenwirkte und die intermediären und partikulären Gewalten der mittelalterlichen Welt entmachtete und zerstörte, führte er die staatsbürgerliche und rechtliche Gleichheit seiner Untertanen herbei 2 2 . Erst auf dieser Grundlage konnte sich dann i m Laufe des 19. Jahrhunderts ein freies Assoziationsrecht entwickeln. Unter dem Einfluß der von den Glossatoren wiederbelebten römischen Staatstheorie der späten Kaiserzeit und auf der Grundlage der vernunftrechtlichen Lehre vom Staatsvertrag als Unterwerfungsvertrag w i r d der Staat i n zunehmendem Maße als Exklusivverband verstanden 23 . I n reiner Durchbildung seines Grundprinzips kennt dieser Staat nur die souveräne Staatsgewalt einerseits und „atomisierte" Individuen andererseits. Der Polizeistaat führt auf diese Weise die rechtliche Gleichheit und i n gewissem Umfang auch die individuelle Freiheit seiner Untertanen herbei. Die Berechtigung und Stellung der Untertanen bleibt jedoch rein passiv. Denn der obrigkeitliche Staat bekämpft nicht nur die überkommenen korporativen Verbände, er mißtraut ganz allgemein einer jeden Regung seiner Untertanen, die über ihre privaten und individuellen Angelegenheiten hinausgeht. Kennzeichnend für diese Haltung ist eine Formulierung von Justi in seinen „Grundsätzen der Polizeiwissenschaft" von 1759 (§ 368): „Da eine jede Regierung bestrebt ist, alle guten Endzwecke zu befördern, so muß jede Gesellschaft oder Versammlung einen begründeten Verdacht wider sich erregen, die nicht ihre Absichten der Regierung entdecket und ihre Bewilligung und Bestätigung erwartet 2 4 ." Eine ähnliche Einstellung kommt auch noch i m Preußischen A L R von 1794 zum Ausdruck, das zwar i n gewissem Umfang ein positives Recht zur Vereinsbildung anerkennt 2 5 , zugleich aber i m Hinblick auf jede ungewöhnliche Volksansammlung bestimmt: „Die Polizei soll auf alles Zusammenlaufen des Volkes an ungewöhnlichen Zeiten und Orten, wenngleich dabei keine für die öffentliche Ruhe und Sicherheit gefährlichen Absichten sich zeigen, aufmerksam sein und denselben m i t ernstlichen M i t t e l n steuern" (ALR, I I , 20, § 181)26. 22 Gierke, a.a.O., I, S. 645 spricht i n diesem Zusammenhang von der „großen u n d segensreichen Konsequenz" des obrigkeitsstaatlichen Prinzips. 23 Gierke, a.a.O., I, S. 647 ff. 24 Zitiert nach Loening, a.a.O., S. 545. 2ß Vgl. die Bestimmungen des A L R I I 6 §§ 1 ff. u n d ihre Würdigung bei Müller, a.a.O., S.239f. 26 Vgl. dazu auch v.Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts, T e i l I, 1799, S. 249.

l.Kap.: Mittelalter und Obrigkeitsstaat

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Ganz allgemein wurden unter dem Einfluß obrigkeitsstaatlichen Denkens die Reichsgesetze gegen bestimmte A r t e n aufrührerischer Betätigung (Bruch des Landfriedens, eigenmächtige Vergadderungen des Kriegsvolkes) so ausgelegt und erweitert, daß alle nicht ausdrücklich genehmigten Verbindungen der Untertanen als verboten galten. Noch weiter gehen meist die Polizei- und Strafgesetze der Territorialstaaten. Sie behandeln eigenmächtige Versammlungen als „Zusammenrottungen" und unbewilligte Vereine als „Vergadderungen", „Verschwörungen", „Bündnisse", „Konventikel" usw. m i t Empörung und Aufruhr i m wesentlichen gleich 27 . I n besonderem Maße richtete sich das Mißtrauen und die Feindschaft des Polizeistaates gegen jede kollektive Betätigung m i t politischer Zwecksetzung. Vereine und Versammlungen m i t politischen Zielen waren daher i n jedem Falle schädlich und unbedingt verboten. So ließ sich das praktisch geltende Vereins- und Versammlungsrecht in Deutschland i m 17. und 18. Jahrhundert, wie Gierke formuliert, i n den einzigen Satz zusammenfassen: „Versammlungen und Vereine sind an jederzeit widerrufliche landesherrliche Genehmigungen gebunden, politische Verbindungen und alle geheimen Gesellschaften sind unter allen Umständen strafbar 2 8 ." Diese assoziationsfeindliche Haltung des Polizeistaatets ist für die Entfaltung der Versammlungsfreiheit i m 19. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung geworden. Einmal erklärt sich aus der Unterdrükkung durch den Staat die fast ausschließliche Richtung der Freiheitsrechte und damit auch der Versammlungsfreiheit gegen den Staat, zum anderen w i r k t das Staatsverständnis des obrigkeitlichen Staates m i t -seiner scharfen Trennung von öffentlich staatlichem und individuell privatem Bereich, m i t seinem Mißtrauen gegen jede politische Betätigung seiner Bürger, m i t seiner Betrachtung der Vereine und Versammlungen als polizeiliches Problem noch offen und verdeckt das ganze 19. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus fort. Diesen W i r kungen w i r d noch näher nachzugehen sein. Zunächst sollen aber die eigentlichen Ursprünge des Grundrechts der Versammlungsfreiheit genauer untersucht werden.

27 Gierke, 28 Gierke,

3*

a.a.O., I, S. 872 f. a.a.O., I, S. 873.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit Zweites

Kapitel

Die Ursprünge der Versammlungsfreiheit im Naturrecht und die Menschenrechtserklärungen I. Die Ansätze der Versammlungsfreiheit im naturrechtlichen Denken Wie w i r gesehen haben, führt kein direkter Weg vom mittelalterlichen Prinzip der freien Einung und dem korporativen Selbstversammlungsrecht zur modernen Versammlungsfreiheit, wenn auch die Autoren des deutschen Frühliberalismus aus verständlichen Motiven den Grundsatz der freien Assoziation als ein allgemeines Prinzip der deutschen und germanischen Rechts- und Freiheitstradition ausgaben1. Auch der Obrigkeitsstaat konnte m i t seiner formalen Rechtsgleichheit und der Zerstörung korporativer Bindungen nur die äußeren Voraussetzungen eines freien assoziativen Vereins- und Versammlungsrechts schaffen, seinem Wesen nach mußte er jedoch diesen Freiheiten feindlich gegenüberstehen. Wie bei allen Grundrechten sind auch die Ursprünge der Versammlungsfreiheit komplex. Es mußten eine ganze Reihe von Faktoren mitwirken, u m der Versammlungsfreiheit zum Rang eines besonders geschützten und garantierten Grundrechts zu verhelfen. So ist es nur bedingt richtig, wenn Voigt 2 schreibt, die Vereins- und Versammlungsfreiheit hätten ihren Ursprung als besondere Freiheitsrechte i n der Aufklärungszeit, „als der Vertrag i n der Denkform des Urvertrages i n den Vordergrund des Interesses rückte und mit dem Problem der ursprünglichen Willensfreiheit verknüpft wurde". Die herrschende Staatslehre und Staatsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts vertrat vielmehr weithin die Auffassung, daß eine Vereins- und Versammlungsfreiheit i m Naturrecht nicht begründet sei. I n dem Staats- und Herrschaftsvertrag, durch den die Staatsgewalt begründet wurde, blieb den einzelnen zwar ein natürliches Recht auf persönliche Freiheit und privates Eigentum, nicht aber das Recht zu freier Assoziation mit anderen. Darin stimmen Hobbes (Leviathan Kap. 22; de cive, Kap. 13 § 13), Pufendorf (de Jure naturae et gentium V I I Kap. 2, §§ 21, 22) und auch Rousseau (Contrat social I I Kap. 3) 3 überein. 1 Müller, a.a.O., S. 226. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 66. 3 Z u r Assoziationslehre Rousseaus, insbesondere den anthropologischen Grundlagen der Assoziationsfeindlichkeit Rousseaus vgl. Müller, a.a.O., S. 42 ff. 2

2. Kap.: Ursprünge der Versammlungsfreiheit

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Selbst jene Autoren des Vernunftsrechts, die wie Justus H. Böhmer (Introductio i n jus publicum universale I I Kap. 4 § 8), Christian Wolff (Jus naturae V I I I §§ 153 ff.) oder Achenwall (Jus naturale I I §§ 16 ff.) aus der natürlichen Freiheit des Menschen auch die Freiheit ableiten, sich m i t anderen zu erlaubten Zwecken zu vereinigen, halten den Staat für berechtigt, i m Interesse seiner Sicherheit und des gemeinen Wohls jede Assoziation der Bürger von seiner Genehmigung abhängig zu machen 4 . Diese vernunftrechtlich aus der „natürlichen Freiheit" der Bürger abgeleitete Berechtigung, sich m i t anderen zu erlaubten Zwekken zu verbinden, steht noch ganz unter dem Vorbehalt staatlicher Reglementierung und Genehmigung. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von der späteren liberalen Auffassung der Assoziationsfreiheit als Menschenrecht, bei der gerade aus der naturrechtlichen Ableitung des Vereins- und Versammlungsrechtes seine absolute, staatlicher Verfügung grundsätzlich entzogene Geltung gefolgert wurde 5 . Soweit man demnach überhaupt von Anfängen der Vereins- und Versammlungsfreiheit i m naturrechtlichen Vertragsdenken sprechen kann, ist außerdem folgendes zu berücksichtigen: dem vernunftrechtlichen Assoziationsrecht fehlt noch jeder positive Bezug auf die Staatsgestaltung und den Prozeß politischer Willensbildung, vor allem aber erreichten die vernunftrechtlichen Auffassungen nirgends auf dem Kontinent vor der französischen Revolution positive Anerkennung und Geltung.

II. Die Entwicklung in England: public meetings and the right of petition Anders als auf dem Kontinent hatten sich i n England das römische Recht und der polizeistaatliche Absolutismus.nicht durchsetzen können. Da ein allgemeines gesetzliches Verbot, Vereine zu bilden und Versammlungen abzuhalten, nicht bestand, galten diese grundsätzlich als erlaubt, soweit nicht spezielle gesetzliche Vorschriften oder das common law Grenzen setzten 6 . Obwohl bis auf den heutigen Tag eine ausdrückliche kodifizierte Verbürgimg der Versammlungsfreiheit fehlt, gilt das Recht, sich öffentlich zu versammeln, doch seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts als ein eigenständiges, ungeschriebenes, verfassungsmäßiges Recht der Engländer 7 . Es ist dabei interessant zu bemerken, daß sich Vereins- und Versammlungsfreiheit i n der englischen Verfassungsgeschichte getrennt 4 Loening, a.a.O., S. 545, dort auch die vorstehenden Nachweise zur vernunftrechtlichen Literatur. ß Müller, a.a.O., S. 36, 259 ff. « Loening, a.a.O., S. 545 f. 7 Holdworth, History of English L a w , Bd. X , S. 602 ff.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

voneinander entwickelten. Während sich die Vereinsfreiheit i n England und i n den amerikanischen Kolonien bereits i m 16. und 17. Jahrhundert i m Zusammenhang m i t der Religionsfreiheit als ein besonderes Recht entfaltete 8 , erhält die Versammlungsfreiheit erst gegen Ausgang des 18. Jahrhunderts als ein eigenständiges Recht besonderer A r t Bedeutung. I m Zusammenhang mit den politischen Kämpfen der damaligen Zeit bildete sich die Praxis heraus, öffentliche Versammlungen zu veranstalten, u m Petitionen an das Parlament zu erörtern und zu beschließen®. Neben der Presse, die i n zunehmendem Maße das Interesse der Bevölkerung an politischen Fragen weckte, wurden öffentliche Versammlungen ungefähr seit dem Jahre 1768 zu einem neuartigen und außerordentlich wirksamen M i t t e l politischer Agitation 1 0 . Die öffentlichen Versammlungen gewannen schnell an Bedeutung. Vor allem die liberalen und radikalen Parteien bemächtigten sich dieses Mittels, u m auf die öffentliche Stimmung und auf das Parlament Einfluß zu nehmen. Die Wirksamkeit und die Kontinuität der politischen Agitation wurde dabei entscheidend durch das sich gleichzeitig entwickelnde politische Vereinswesen gefördert 11 . Bereits in den Jahren 1780 und 1781 wurden die freien Grundeigentümer 1 2 ganzer Grafschaften und vieler Städte von ihren Sheriffs und obersten Magistraten zusammengerufen, u m über staatswirtschaftliche und parlamentarische Maßnahmen zu beraten. Resolutionen und Petitionen an das Parlament wurden beschlossen und durch eigens gewählte Ausschüsse und Delegierte nach London übermittelt 1 3 . Praktisch alle der großen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts i n England waren von einer lebhaften Agitation i n Vereinen und Versammlungen begleitet 14 , die Ausmaße annahmen, die auf dem Kontinent unvorstellbar waren. Versammlungen von 150 000 Menschen und Petitionen m i t 1V2 Millionen Unterschriften waren nichts Unerhörtes 15 . Die scharfen Beschränkun8 Über die komplexen u n d umstrittenen Zusammenhänge von Religionsfreiheit u n d Vereinsfreiheit i n der Entwicklung der Grundrechte vgl. neuerdings Müller, a.a.O., S. 23 ff., v o r allem zur Einschränkung der Säkularisierungsthese von Jellinek, Troeltsch u n d M a x Weber, a.a.O., S. 33. ® Holdworth, a.a.O. X , S. 601; Wade & Philipps, S. 528. 10 May, Verfassungsgeschichte Englands, Bd. I I , S. 104 ff. 11 May, a.a.O., I I , S. 106 f. 12 Das heißt praktisch die Wahlberechtigten, denn nach der bereits i m Mittelalter entwickelten parlamentarischen Tradition w u r d e n die Abgeordneten der counties u n d boroughs durch die freien Grundeigentümer gewählt. I n dieser Konzentration auf die A k t i v b ü r g e r zeigt sich deutlich der p r i m ä r politische Ursprung der Versammlungsfreiheit i n England. is May, a.a.O., I I , S. 105. 14 So etwa die Katholikenemanzipation v o n 1829, die Parlamentsreform v o n 1832, die Chartistenbewegung 1837—48, die Anti-Corn-League 1838—1846. 1 5 Vgl. Brater, A r t . Vereine u. Versammlungen i m Staatswörterbuch, Bd. X , S. 764, unter deutlicher Anlehnung an May.

2. Kap.: Ursprünge der Versammlungsfreiheit

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gen der Vereins- und Versammlungsfreiheit i n den Six Acts von 1819 blieben ohne nachhaltige Wirkung 1 6 . Für die Zwecke unserer Untersuchung bleibt festzuhalten, daß sich das Versammlungsrecht i n England von vornherein als ein politisches Recht entwickelt. Seine Entfaltung schließt sich dabei an eines der ältesten subjektiven Rechte der Engländer, nämlich das Petitionsrecht 1 7 an. Es erlangt allerdings keine gesetzliche Positivierung als Grundrecht, und auch seine Anerkennung i n der Lehre als eigenständiges verfassungsmäßiges Recht hat relativ lange gebraucht. Zu Unrecht behauptet Loening 18 deshalb, bereits bei Blackstone 19 sei die Versammlungsfreiheit als eigenes Grundrecht anerkannt. I m Gegenteil, noch Dicey 20 betont, daß das Versammlungsrecht nichts anderes sei, als das Ergebnis der Anschauungen der Gerichte über die persönliche Freiheit der Individuen und die Meinungsfreiheit. „Es gibt kein besonderes Gesetz", sagt Dicey, „das A, B und C verbietet, sich unter freiem Himmel oder wo immer zu einem erlaubten Zweck zu treffen; aber das Recht von A, dahin zu gehen, wo es i h m beliebt, vorausgesetzt sein Verhalten stellt kein widerrechtliches Eindringen dar und sein Recht, frei m i t B zu sprechen, soweit seine Äußerungen nicht beleidigend oder aufrührerisch sind, zusammen m i t der Tatsache, daß C, D, E, und F die gleichen Rechte haben, führt zu dem Ergebnis, daß A, B, C, D und Tausend oder Zehntausend weitere Personen . . . sich an jedem Ort versammeln können, sofern sie dort zu legalen Zwecken und i n ordentlicher Weise verweilen." Es fehlt dementsprechend auch i m englischen Recht bis heute einer unserem Versammlungsgesetz entsprechende gesetzliche Regelung 21 . iß May, a.a.O., I I , S. 173 ff. So galt auch die vierte der Six Acts, die sich vor allem gegen Versammlungen richtende Seditious Meetings Act, n u r auf die Dauer von fünf Jahren. 17 Z u r historischen Entfaltung des Petitionsrechts i n England vgl. Corwin, The Constitution of the United States, 1964, S. 914 f., w o darauf hingewiesen w i r d , daß das i n K a p i t a l 61 der Magna Charta v o n 1215 erstmalig ausdrücklich anerkannte Petitionsrecht i n gewissem Sinne geradezu die Wurzel des englischen Parlaments, seines Gesetzgebungsverfahrens u n d der Equity ist. Durch Parlamentsakte v o n 1669 wurde das Petitionsrecht auf sämtliche freien Bürger ausgedehnt u n d i n K a p i t e l 5 der B i l l of Rights von 1689 als Recht der Untertanen anerkannt. 18 Loening,

a.a.O., S. 546.

1» Bei Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Buch I, K a p i t e l 1, ist bezeichnenderweise n u r das Petitionsrecht als eine A r t Hilfsrecht zum Schutze der Hauptrechte der persönlichen Freiheit u n d des Eigentums ausdrücklich erwähnt. 20 Dicey, L a w of the Constitution, zitiert nach der 9. Aufl., S. 270 f., die erste Auflage des Werkes erschien 1885. 21 Z u m modernen englischen Versammlungsrecht, das weitgehend F a l l recht ist, vgl. Wade & Philipps, a.a.O., S. 524—541.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit I I I . Die ersten verfassungsrechtlichen Verbürgungen in den USA

Die ersten positivrechtlichen Verbürgungen der Versammlungsfreiheit als eigenes Grundrecht finden sich i n den Verfassungen der amerikanischen Einzelstaaten, die nach der Unabhängigkeitserklärung vom englischen Mutterland i m Jahre 1776 erstmals i n ihren Verfassungen einen Katalog von Freiheitsrechten „as principles and foundation of government" 2 2 aufnahmen. Das Versammlungsrecht erscheint dabei in den Verfassungsurkunden von Pennsylvania (Art. 16), North Carolina (Art. 18), Massachusetts (Art. 19) und Maryland (Art. 8). Dabei t r i t t der bereits in der englischen Entwicklung der Versammlungsfreiheit zu verzeichnende Zusammenhang m i t dem Petitionsrecht deutlich hervor. Die entsprechenden A r t i k e l verbürgen nämlich das Recht des Volkes, sich i n friedlicher und geordneter Weise zu versammeln, um Angelegenheiten, die das Gemeinwohl betreffen, zu beraten, um den Volksvertretern Instruktionen zu erteilen und um Adressen, Petitionen und Einsprüche an die Behörden zu richten 23 . Auch das erste Amendment zur Unions Verfassung von 1791 stellt mit der Formulierung: „Congress shall make no law . . . abridging the freedom of speech or of the press; or the right of the people peacably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances", Versammlungs- und Petitionsrecht unmittelbar nebeneinander, wobei diese Garantie allerdings nur gegen die Bundesgewalt gemünzt ist 2 4 . Das Versammlungsrecht w i r d hier als eine A r t Hilfsrecht zur Ausübung des Petitionsrechts verstanden 25 ; erst i n der späteren Entwicklung setzt sich dann die Auffassung durch, i n ihr ein der Meinungsfreiheit eng verwandtes Recht zu sehen 26 . Die Freiheitsrechte dieser amerikanischen Verfassungen sind zwar insgesamt stark vom naturrechtlichen Denken beeinflußt 27 , was in der Vorstellung vom vorstaatlichen Charakter dieser Rechte zum Aus22 So die Einleitung der Declaration of Virginia v o m 12. J u n i 1776. 23 His , Geschichte des Schweizerischen Staatsrechts, Bd. I , S. 66, 461. 24 Die Rechtsprechung des Supreme Court hat aber über die ,due process clause' des 14. Amendments den Schutz der Versammlungsfreiheit auch auf Beeinträchtigung v o n Seiten der Einzelstaaten erstreckt. De Jonge v. Oregon 229 US 353 (1957) vgl. Corwin, a.a.O., S. 845. 25 Corwin, a.a.O., S. 915 unter Hinweis auf die Entscheidung United States v. Cruikshank 92 US 542, 552 (1876), i n der diese Auffassung noch deutlich zum Ausdruck kommt, gleichsam als hieße es: The r i g h t of the people to peaceably assemble in order to petition i n the government. 26 Corwin, a.a.O., S. 915 unter Hinweis auf die Entscheidung de Jonge v. Oregon 229 US 353, 364, 365 (1937), w o das Recht, sich friedlich zu versammeln, als „cognate to those of free speedi and free press and . . . equally fundamental" bezeichnet w i r d . 27 His , a.a.O., I, 65.

2. Kap.: Ursprünge der Versammlungsfreiheit

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druck kommt. Gerade aber das Versammlungsrecht i n der Ausprägung, die es i n den genannten Verfassungsurkunden gefunden hat, läßt sich nicht direkt aus einem individualistischen, naturrechtlichen Freiheitsverständnis herleiten und mit den typischen individuellen Freiheitsrechten wie der persönlichen Freiheit oder der Gewissensfreiheit, die sich vor allem auf die private Existenz des Einzelmenschen beziehen, auf eine Stufe stellen 28 . Das Versammlungsrecht hat hier von vornherein nicht nur einen negativen, staatsabwehrenden Zweck, sondern ist i m Gegenteil völlig auf eine aktive politische Anteilnahme, auf eine M i t w i r k u n g am institutionalisierten politischen Prozeß abgestellt. Es w i r d nicht aus einem „Freiheitsrest" abgeleitet, der den einzelnen bei Abschluß des Staats- und Herrschaftsvertrages verblieben ist, sondern folgt aus dem Grundsatz der Volkssouveränität und der Volksvertretung 2 9 .

IV. Die Entwicklung in Frankreich Der enge Zusammenhang von Petitionsrecht und Versammlungsfreiheit i m englischen und amerikanischen Recht w i r k t auch noch i n den Anfängen der französischen Revolution nach, deren Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 unter dem Einfluß der amerikanischen Vorbilder 3 0 stand und inhaltlich weitgehend m i t diesen übereinstimmt 3 1 . A l l e r d i n g s e n t h ä l t die Déclaration

des droits

des citoyens

et de

l'homme

von 1789 keine ausdrückliche Verbürgung der Versammlungsfreiheit 32 und des Petitionsrechtes. Bereits am Vorabend der französischen Revolution hatte jedoch der König durch Arrêté vom 5. J u l i 1788 anläßlich der Einberufung der Generalstände ein weitgehendes Petitionsrecht eingeräumt, u m den Kontakt zur Bevölkerung zu verbessern 33 . Die erste ausdrückliche Verbürgung der Versammlungsfreiheit enthält A r t . 62 des Gesetzes vom 17. Dezember 1789, das den Aktivbürgern das Recht gab, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, um Petitionen und Adressen an die Behörden zu beschließen und zu richten 34 . Ebenso hatten aufgrund des 28 Hoerni, a.a.O., S. 15. 29 His, a.a.O., I, S. 462. 30 Marcaggi, Les origines de l a déclaration des droits de l'homme, 2. Aufl. 1912, S. 223; His, a.a.O., I, S. 64. 31 Jellinek, E r k l ä r u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, 3. A u f l . 1919, S. 11; Marcaggi, a.a.O., S. 36. 32 Vereins- u n d Versammlungsfreiheit w a r e n i n dem von Mirabeau am 17. August 1789 der Nationalversammlung vorgelegten P r o j e k t enthalten. Die Konstituante hatte es aber abgelehnt, i n dessen Beratung einzutreten. Jellinek, a.a.O., S. 33 Note 1. 33 His, a.a.O., I , S. 470. 34 His, a.a.O., I , S. 470; Desgranges , A r t . Réunions i n Encyclopédie Dalloz, D r o i t Administratif, S. 834, No. 1.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Gesetzes vom 22. Dezember 1789 die U r - und Wahlversammlungen das Recht, Petitionen und Instruktionen zu beraten und der gesetzgebenden Versammlung einzureichen 35 . Der enge Zusammenhang von Versammlungs- und Petitionsrecht mit dem status activus 36 ist i n diesen Gesetzen besonders deutlich. Die Nationalversammlung sah sich allerdings bald veranlaßt, wegen der Gefährlichkeit dieser Beratungen Einschränkungen vorzunehmen. Ein Gesetz vom 18. Mai 1791 verbot daher Kollektivpetitionen durch öffentliche oder private Versammlungen und Vereine 37 . Auch die Verfassung vom 3. September 1791, die unter den Dispositions fondamentales garanties par la constitution (Tit. I) ausdrücklich die Freiheit der Bürger garantiert, sich friedlich und unbewaffnet „unter Beachtung der Polizeigesetze" zu versammeln, gesteht dementsprechend nur noch ein Recht zu individuell unterzeichneten Petitionen 3 8 zu 3 9 . Bereits die Verfassung von 1791 löst den gleichsam instrumentalen Zusammenhang von Versammlungs- und Petitionsrecht, der noch i n den Gesetzen des Jahres 1789 zum Ausdruck kam. Das Versammlungsrecht w i r d vielmehr zusammen m i t der Pressefreiheit, aber getrennt von der Vereinsfreiheit 40 , aus dem Recht der freien Meinungsäußerung abgeleitet 4 1 . So steht die Versammlungsfreiheit i n A r t . 7 der Déclaration des Jahres 179342 auch unmittelbar neben der Meinungs- und Pressefreiheit. Tatsächlich bestand allerdings das Versammlungsrecht nur für die radikalen Parteien, deren Klubs und Volksgesellschaften, wie die „Gesellschaft der Verfassungsfreunde" und der „Jakobinerklub", durch ein über das ganze Land ausgedehntes System i n großem Umfang Herrschaftsbefugnisse an sich rissen 43 . Die Konstituante verbot daher as His, a.a.O., I, S. 470. 36 Der Ausdruck status activus ist hier allerdings nicht i n dem technischen Sinne der Grundrechtslehre Georg Jellineks zu verstehen, sondern allgemein i m Sinne staatsbürgerlicher politischer M i t w i r k u n g s - u n d Handlungsrechte. 37 His, a.a.O., I , S. 470. 38 Z u m Streit u m das Petitionsrecht i n der Konstituante vgl. EsmeinNézard , Éléments de D r o i t Constitutionel, 8. Aufl., Bd. I , S. 589 f. I n den Diskussionen w u r d e dabei darauf hingewiesen, daß das Petitionsrecht einen Ersatz f ü r das beschränkte Stimmrecht u n d eine „participation sécondaire á Texercice d u pouvoir législatif" darstellen solle. 3» Duguit-Monnier-Bonnard, Les Constitutions et les principales lois p o l i tiques de la France depuis 1789, 7. A u f l . 1952, S. 4. 40 His, a.a.O., I , S. 463. Gerade gegenüber einer Anerkennung der Vereinsfreiheit machten sich zu Beginn der französischen Revolution starke W i d e r stände geltend. U n t e r dem Einfluß der Gedanken von Bodin, Rousseau u n d Sieyés w u r d e n v o r allem politische Vereinigungen als Verletzung der V o l k s souveränität empfunden. 41 Hoerni, a.a.O., S. 17; Esmein-Nézard, a.a.O., I , S. 585. 42 Duguit-Monnier-Bonnard, a.a.O., S. 62. 43 Loening, a.a.O., S. 547.

2. Kap.: Ursprünge der Versammlungsfreiheit

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am 29./30. September 1791 den Volksgesellschaften, öffentliche Beamte oder einfache Bürger vor ihre Schranken zu rufen, die Tätigkeit der öffentlichen Gewalt zu hindern und kollektive Petitionen an die Behörden zu richten. Der Konvent mußte aber i m Jahre 1793 die Versammlungen der übermächtigen Volksgesellschaften wieder zulassen. A r t . 122 des jakobinischen Verfassungsentwurfs gewährleistete das Recht ihrer Bildung ausdrücklich 44 . Die von den Klubs und Volksgesellschaften geübte Praxis, über politische Angelegenheiten zu beraten und zu beschließen und ihre Sitzungen dabei öffentlich abzuhalten, u m die Verbreitung ihrer Ideen zu fördern, führte zu einer Verwischung der theoretischen Scheidung von Vereins- und Versammlungsfreiheit, die noch zu Beginn der französischen Revolution deutlich gezogen wurde 4 5 . Die Direktorialverfassung des Jahres I I I (1795)46 unterscheidet wieder in genauerer Weise zwischen Vereins- und Versammlungsfreiheit 47 . Ihre Bestimmungen richten sich vor allem gegen die Volksgesellschaften und Klubs. Die Versammlungen der Bürger dürften sich nicht zu Volksgesellschaften konstituieren (Art. 361). Privaten Gesellschaften mit politischer Zwecksetzung wurde verboten, sich untereinander zu verbinden und gemischte öffentliche Versammlungen abzuhalten (Art. 362). Die Ausübung der politischen Rechte wurde auf die Ur- und Gemeindeversammlungen beschränkt (Art. 363); Kollektivpetitionen waren untersagt (Art. 364); Versammlungen unter freiem Himmel waren als Zusammenrottung unzulässig (Art. 366). Erlaubt waren lediglich Versammlungen i n geschlossenen Räumen, eine Einschränkung, die i n Frankreich durch das ganze 19. Jahrhundert und darüber hinaus Geltung behielt 4 8 . Die Konsularverfassung des Jahres V I I I (1799) enthielt überhaupt keine Erklärung der Bürger- und Menschenrechte mehr und auch i n ihren „Dispositions générales" fehlt die Versammlungsfreiheit als eigenes Recht der Bürger 4 9 . Die napoleonische Diktatur kündigte sich an. Der Code pénal von 1810 machte alle Vereine mit mehr als 20 M i t gliedern genehmigungspflichtig und schrieb vor, daß jeder, der Räumlichkeiten für Vereinsversammlungen zur Verfügung stellte, hierfür eine Genehmigung einholte. Diese Bestimmungen wurden i n konstanter Praxis der Behörden auch auf Versammlungen angewendet, was durch Dekret vom 25. März 1853 ausdrücklich sanktioniert wurde 5 0 , 44 45 46 47 48 4» 50

His, a.a.O., I , S. 462. Hoerni, a.a.O., S. 17; Esmein-Nizard, a.a.O., I I , S. 637. Duguit-Monnier-Bonnard, a.a.O., S. 42 ff., S. 107 f. His, a.a.O., I , 463; Esmein-N6zard, a.a.O., I I , S. 637. Esmein-Nezard, a.a.O., I I , 637, 639. Hoerni, a.a.O., S. 18. Loening, a.a.O., S. 547.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Die Versammlungsfreiheit hat sich i n Frankreich nur langsam von diesen Fesseln befreien können. Zwar garantierte A r t . 8 der Verfassung von 1848 die Vereins- und Versammlungsfreiheit, aber schon ein Gesetz vom 19. Juni 1849 gab der Regierung wieder die Befugnis, Vereine und öffentliche Versammlungen i m Interesse der öffentlichen Sicherheit aufzulösen und das Dekret vom 28. März 1852 stellte den alten Rechtszustand der Zeit vor 1848 wieder her. Erst die Gesetze vom 2. Juni 1868 und vom 30. Juni 1881 beseitigten das Erfordernis der vorherigen Genehmigung öffentlicher Versammlungen i n geschlossenen Räumen. Für Versammlungen unter freiem Himmel blieb der Genehmigungsvorbehalt bestehen und wurde erst durch Verordnung vom 23. Oktober 1935 durch eine Anzeigepflicht ersetzt. I m Zusammenhang m i t den Problemen der Versammlungsordnung ist eine Regelung des Gesetzes vom 28. März 1907 bemerkenswert. Dieses Gesetz hob zwar die Anmeldepflicht für öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen auf. Es bestimmte aber gleichzeitig für den Fall, daß eine Versammlung der Polizeibehörde vorher angezeigt ist, der Versammlungsvorstand (bureau), der aus drei Mitgliedern zu bestehen hat, vom Veranstalter bestellt werden kann. Ist die Versammlung nicht angezeigt, so ist der Vorstand von der Versammlung selbst zu wählen. Der Versammlungsvorstand ist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in der Versammlung verantwortlich. Besondere Befugnisse sind i h m allerdings zu diesem Zweck nicht verliehen; er ist allein auf seine moralische Autorität angewiesen. Kann er sich nicht durchsetzen, bleibt i h m nur das Mittel, die Versammlung für beendet zu erklären. Ein Vertreter der Polizeibehörde ist berechtigt, öffentlichen Versammlungen beizuwohnen, er darf auf die Erörterungen i n der Versammlung keinen Einfluß nehmen, kann jedoch auf Verlangen des Versammlungsvorstandes, oder wenn es zu Tätlichkeiten kommt, eingreifen und gegebenenfalls die Versammlung auflösen. Private Versammlungen unterliegen keiner besonderen Regelung, können aber beim Vorliegen besonderer Umstände von der Polizei verboten werden 5 1 . Die Entwicklung der Versammlungsfreiheit i n der französischen Revolution ist für die Frage der verfassungstheoretischen Begründung dieses Grundrechts und die Bestimmung seiner Funktion und Grenzen i n verschiedener Hinsicht instruktiv. So ist es für das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der deutschen Grundrechtstheorie bedeutsam, daß hier das Vorbild der französischen Verfassungen und Menschenrechtserklärung wirksam wurde, nicht aber das englische und amerikanische. Stellte die Anerkennung der Versammlungsfreiheit i n der 5i Z u m französischen Versammlungsrecht Desgranges, a.a.O., S. 835 ff.

vgl.

Loening,

a.a.O., S. 547;

2. Kap.: Ursprünge der Versammlungsfreiheit

45

englischen und amerikanischen Entwicklung i n gewissem Sinne die rechtliche Fixierung eines bereits erreichten politischen und rechtlichen Zustandes dar, so waren die französischen Menschenrechtserklärungen bewußt revolutionär und intendierten eine vollständige Neuorganisation des Staates 52 . Die Grundhaltung der französischen Menschenrechtserklärung ist wesentlich dogmatischer und theoretischer als die der amerikanischen „declarations". Sie gehen viel stärker von einem grundsätzlich absolut gedachten Individuum aus, das sich i n den Staatsverband hineinbegibt und nur insoweit seine Rechte aufgibt, als dies zum Funktionieren des Staates erforderlich ist. Es ist verständlich, daß unter der Vorherrschaft eines solchen individualistischen und dogmatischen Denkens der aktiv politische Akzent i m Verständnis der Versammlungsfreiheit verlorengeht. So w i r d die Versammlungsfreiheit nicht mehr primär i m Zusammenhang mit der Einflußnahme auf den politischen Prozeß durch Petitionen gesehen, sondern als Ausdruck der freien geistigen Kommunikation aus der Meinungsfreiheit abgeleitet. Diese Freiheit w i r d zwar i n der Erklärung von 1789 als eines der wertvollsten Menschenrechte bezeichnet, es fehlt ihr aber jene unmittelbare funktionelle Bezogenheit auf den politischen Prozeß, der i m Zusammenhang mit dem Petitionsrecht i n England und Amerika so offenkundig zutage tritt. Die Versammlungsfreiheit ist i n den französischen Erklärungen nicht mehr wie i n den amerikanischen Verfassungen ein Recht des politisch verstandenen souveränen Volkes, sondern ein Recht einzelner Individuen, sie ist nicht mehr ein primär politisches Recht, sondern ein Recht freien, sozialen Handelns vorstaatlich gedachter Individuen. Diese Entpolitisierung i m Verständnis der Versammlungsfreiheit kennzeichnet allerdings nur eine Seite der Entwicklung dieses Grundrechts i n Frankreich. Auf der anderen Seite gewinnen die Versammlungsund vor allem die Vereinsfreiheit i n der Praxis und Theorie der Clubs und Volksgesellschaften der französischen Revolution einen radikaldemokratischen Zug, der dem englischen und amerikanischen Vereinsund Versammlungswesen ebenfalls fremd ist. Ließen die englischen und amerikanischen politischen Versammlungen die Funktionen der staatlichen Organe grundsätzlich unangetastet, wenn sie auch durch ihre Tätigkeit und ihre Petitionen massiven Druck auf das ,government' ausüben konnten und wollten, so setzen sich die Clubs und Volksgesellschaften gleichsam an die Stelle des ,government'. Trotz der deutlichen Anklänge an den Gedanken der Volkssouveränität i m Verständnis der Versammlungsfreiheit i n den amerikanischen Verfassun52 Vgl. Jellinek, a.a.O., S. 33; Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung v o n 1789, S. 1 f.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

gen 63 fehlt dort die radikale Infragestellung des institutionalisierten Staatsapparates, die die Theorie und Praxis der französischen Revolution — zumindest teilweise — kennzeichnet. Grundrechte und Organisationsnormen der amerikanischen Verfassungen bilden zusammen die, wenn auch spannungs- und konfliktreiche, i m Grunde aber vom selben Geist getragene „foundation of government". Anders verhält es sich m i t den französischen Verfassungen. M i t Recht hat Redslob auf den ganz unterschiedlichen Geist aufmerksam gemacht, der die theoretisch abstrakten französischen Grundrechtsverbürgungen und Menschenrechtserklärungen einerseits und die vor allem von historisch konkreten Gesichtspunkten bestimmten Verfassungsartikel über den organisatorischen Staatsaufbau andererseits beherrscht 54 . Es ist dieser innere Konflikt und Widerspruch, der i n der Usurpation staatlicher Befugnisse durch die revolutionären Clubs und Volksgesellschaften, die sich dabei m i t dem souveränen Volke identifizieren, offen zum Ausbruch kommt. Als extreme Erscheinung einer revolutionären Entwicklung zeigt das Beispiel der Volksgesellschaften dabei ebenso die außerordentliche politische Bedeutsamkeit von Vereins- und Versammlungsfreiheit und ihrer Verbindung miteinander 5 5 wie auch die notwendigen Grenzen, die diesen Grundrechten gesetzt werden müssen, sofern überhaupt staatliche Einheit des Gemeinwesens bestehen bleiben soll. Vereine und Versammlungen mögen den Prozeß der institutionalisierten politischen Willensbildung i m Staate vorbereiten und beeinflussen, zu diesem Zweck auch legitimen Druck i n legalen Formen auf Regierung, Parlament und Verwaltung ausüben, staatliche Funktionen anmaßen dürfen sie sich jedoch nicht. Die Legitimation, verbindlich für das gesamte Gemeinwesen zu handeln und zu beschließen, die die Stellung der staatlichen Organe auszeichnet, fehlt ihnen. Abgesehen von seiner grundsätzlichen Bedeutung für das Verständnis der Funktion und Grenzen der Versammlungsfreiheit ist auf das Beispiel der Clubs und Volksgesellschaften hier auch deshalb hingewiesen, weil es i m Kampf um die Anerkennung des Versammlungsgrundrechts i n Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Das w Vgl. oben S. 41 Note 29. M Redslob, a.a.O., S. 353 ff. M Die Clubs u n d Volksgesellschaften sind auch i n i h r e r eigentümlichen Zwischenstellung zwischen Verein u n d Versammlung bemerkenswert. Die Unterschiede u n d die Gemeinsamkeiten beider Formen k o l l e k t i v e n sozialen Handelns zeigen sich hier ganz deutlich. Während einerseits die Organisation der Clubmitglieder der politischen A g i t a t i o n die notwendige K o n t i n u i t ä t verlieh, gab andererseits die Öffentlichkeit der Sitzungen, zu denen das V o l k freien Zugang hatte, den Maßnahmen u n d Beschlüssen politische Durchschlagskraft.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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Schreckbild des Terrors des Jakobinerclubs gab den Vertretern des Obrigkeitsstaats ein willkommenes Argument i n die Hand, um überhaupt ein jedes Recht der Staatsbürger auf freie Assoziation zu verweigern.

Drittes

Kapitel

Der Kampf um die Versammlungsfreiheit in Deutschland bis zur Revolution von 1848 I. Die positivrechtliche Entwicklung bis 1848 Die entscheidenden Jahre des Kampfes u m die Anerkennimg eines freien Assoziationsrechtes i n Deutschland liegen zwischen der Französischen Revolution von 1789 und der liberalen Revolution des Jahres 1848. I n der Auseinandersetzung m i t den Mächten des alten Obrigkeitsstaates, die in der Reaktion und Restauration noch einmal versuchten, die m i t der französischen Revolution hervorgetretene Entwicklung aufzuhalten und die alte Ordnung wiederherzustellen, spielt die Forderung nach einem freien Versammlungsrecht, neben freiem Vereinsrecht und Pressefreiheit eine zentrale Rolle. Freie Presse, freie Vereine und freie Volksversammlungen wurden dabei nicht nur gefordert, sondern zugleich auch als politisches Kampfmittel eingesetzt, u m eine Änderung der staatlichen Ordnung herbeizuführen. Gerade gegen diese Äußerungen des erwachenden politischen Bewußtseins des Volkes wendeten sich daher auch die Vertreter der alten Ordnung mit aller Schärfe. Die Freiheitsforderungen der liberalen Bewegung i n Deutschland spiegeln sich denn auch bis zum Durchbruch i m Jahre 1848 vor allem negativ i n einer verschärften Unterdrückung und Überwachung von Presse, Vereinen und Versammlungen. Unter dem Eindruck der Terrorherrschaft der Klubs und Volksgesellschaften i n Frankreich verbot bereits das Preußische Edikt vom 20. Oktober 1789 i n Ergänzimg der „mangelhaften Vorschriften des A L R " 1 alle geheimen und überhaupt alle politischen Vereinigungen, „deren Zweck, Haupt- oder Nebengeschäfte darin besteht, über gewünschte oder zu bewirkende Veränderungen i n der Verfassung oder Verwaltung des Staates . . . Beratschlagungen, i n welcher Absicht es sei, anzustellen" 2 . Eine Bestimmung, die durch Verordnung vom 1

Thilo, Preuß. Vereins- u n d Versammlungsrecht, 1865, S. 3. * Dokumentation bei v. Berg, Policeyrecht, Bd. V, S. 13 ff., S. 15.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

6. Januar 1816 erneuert und auf die neuen Landesteile ausgedehnt wurde 3 . Verschärft trat dieser reaktionäre Kurs i n dem Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819 hervor, die zunächst nur Ausnahmegesetze waren, aber 1824 verlängert wurden und sich vor allem gegen die Universitäten und die Presse richteten. M i t den aufgrund dieser Beschlüsse einsetzenden „Demagogenverfolgungen" gelang es auch in den 20er Jahren, jede freiheitliche politische Betätigung in Deutschland weitgehend zu ersticken. So enthält auch keine der Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus eine ausdrückliche Verbürgung der Versammlungsfreiheit 4 . Eben dieses Fehlen einer positiven Gewährung w i r d auch von den Vertretern des Obrigkeitsstaates dahin ausgelegt, daß, weil eine solche ausdrückliche Erlaubnis fehle, auch kein Recht auf freie Versammlungen und freie Vereinsbildung bestehe. Erst als die Wellen der französischen Julirevolution des Jahres 1830 auch nach Deutschland hinüberschlugen, wurden alte Forderungen nach Freiheit und nationaler Einheit erneut laut. Sie kamen insbesondere auf dem „Hambacher Fest", der ersten großen und freien Volksversammlung i m modernen Sinne auf deutschem Boden, zum Ausdruck 5 . Die Bundesversammlung nahm das „Hambacher Fest" und die i n der Folge dieser Veranstaltung sich über das ganze Gebiet des deutschen Bundes ausbreitenden öffentlichen politischen Versammlungen zum Anlaß, scharfe Maßnahmen zur Unterdrückung der Versammlungstätigkeit, daneben auch der Vereins- und Pressefreiheit und des Petitionsrechts, zu ergreifen. So verboten die Bundesbeschlüsse vom 28. Juni und vom 5. J u l i 18326 alle politischen Vereinigungen ohne Ausnahme und machten außerordentliche Volksversammlungen von der Genehmigung der Landesregierung abhängig, untersagten auch alle politischen Reden auf hergebrachten Volksfesten und belegten einen jeden, der „irgend eine Volksversammlung dazu mißbraucht(e), Adressen oder Beschlüsse i n Vorschlag zu bringen und durch Unterschrift oder mündliche Beistimmung genehmigen zu lassen . . . mit geschärfter Ahndung". 3 Gierke, a.a.O., I , S. 831 bemerkt allerdings, daß zu diesem Zeitpunkt derartige politische Bestrebungen u n d Vereinigungen mehr i n der Vorstellung der Regierenden u n d ihrer Verbotsgesetze existierten als i n W i r k l i c h keit. 4 Das gleiche g i l t auch von der Vereinsfreiheit; lediglich die Verfassung von Sachsen-Meiningen aus dem Jahr 1829 gewährte i n §28 i n gewissem Umfang den Untertanen das Recht, „zu Zwecken, welche an sich nicht gesetzwidrig sind, Gesellschaften zu stiften". Z u r insgesamt polizeistaatlichen N a t u r dieser Gewährung vgl. Müller, a.a.O., S. 252 f. 5 Bäumen, Sinn u n d Grenzen der Vereins- u n d Diss. j u r . Freiburg 1955, S. 19. 6

Versammlungsfreiheit,

Hub er, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I , S. 119 ff.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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Damit wurde den politischen Versammlungen der Lebensnerv genommen; es zeigt sich hier wiederum die enge Verknüpfung eines freien Vereins- und Versammlungsrechts m i t dem Petitionsrecht. U m die öffentliche Meinung nachhaltig in Bewegung zu setzen, waren alle diese Rechte erforderlich 7 . Die Bundesbeschlüsse von 1832 vermochten sich in den einzelnen Bundesstaaten allerdings nicht mehr v o l l durchzusetzen. So gewährte Baden durch die Gesetze vom 26. Oktober 1833 und 15. November 1833 unter Aufhebung des unter dem Eindruck des Hambacher Festes stehenden Vereins- und Versammlungsverbotes vom 7. Juni 1832 grundsätzlich Vereins- und Versammlungsfreiheit, soweit die öffentliche Ordnung und Sicherheit und das allgemeine Wohl nicht gefährdet wurden. Ähnliche Lockerungen finden sich auch i n § 149 des Württembergischen StGB und A r t . 39 des Sächsischen StGB. Aber erst die Revolution des Jahres 1848 verhalf dem Prinzip der Versammlungsfreiheit wirklich zum Durchbruch. So richteten sich schon die Märzforderungen auf eine Verbürgung der Hauptfreiheitsrechte, wobei Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit an der Spitze standen. Die politischen Vereine und Versammlungen, die sich i m März 1848 über Deutschland ausbreiteten, spielten dabei für die Durchsetzung der Reformforderungen eine entscheidende Rolle. M i t Recht weist Brater darauf hin 8 , daß die Errungenschaften der Märzbewegung wie die Einführung des Repräsentativsystems i n Preußen und Österreich, die Befreiung der Presse, die Einführung des Schwurgerichts, die Anerkennung des Assoziationsrechts selbst nicht allein durch die Presse und Volksvertretungen hätten gewonnen werden können, wenn nicht die nachdrücklichen Kundgebungen der Wähler und Volksversammlungen hinzugekommen wären, u m das Widerstreben der Regierungen zu brechen. Einen vorläufigen Abschluß findet der Kampf u m das freie Versammlungsrecht m i t der Anerkennung i m Grundrechtskatalog der Frankfurter Nationalversammlung. I n den nach eingehender Beratung 9 beschlossenen Grundrechten des deutschen Volkes vom Dezember 1848 heißt es i n A r t . 7 §29: „Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden." Diese Bestimmung wurde dann i n Art. X I I I § 161 der Reichsverfassung vom 28. März 1849 aufgenommen. 7 Hatschek, Deutsches u n d Preußisches Staatsrecht, 1922, Bd. I , S. 237. 8 Brater, a.a.O., X , S. 766. 9 Z u den Beratungen i n der Nationalversammlung vgl. Strauß, H. A., Staat, Bürger, Mensch. Die Debatten der deutschen Nationalversammlung 1848/1849 über die Grundrechte, A a r a u 1946.

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Quilisch

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Es ist bemerkenswert, daß die Verbürgungen der Versammlungsfreiheit i n der Weimarer Reichsverfassung wie i m Bonner Grundgesetz diese Formulierung m i t nur geringen Unterschieden i m Wortlaut wieder aufnehmen. I m weiteren Verlauf der Untersuchung w i r d allerdings zu zeigen sein, daß sich hinter diesem äußerlich so ähnlichen Wortlaut nicht unerhebliche Wandlungen des verfassungstheoretischen Verständnisses verbergen.

II. Die Versammlungsfreiheit als liberale Freiheitsforderung, insbesondere ihre Auffassung in der Literatur des Vormärz 1. Zur liberalen Grundrechtsauffassung

Der politische Kampf u m das freie Versammlungsrecht spiegelt sich auch i n der wissenschaftlichen Literatur jener Zeit wider. Während einerseits eine erhebliche Anzahl von Autoren 1 0 i n Ubereinstimmung mit der Gesetzgebung und der polizeilichen Praxis ein selbständiges und freies Assoziationsrecht leugneten, wurden doch andererseits i n zunehmendem Maße Stimmen vernehmlich, die teils aus allgemeinen rechtsphilosophischen Erwägungen, teils aus der Natur des repräsentativen Verfassungsstaates ein Recht der Bürger zu freier Verbindung zu jedem erlaubten Zweck folgerten 11 und anstelle obrigkeitsstaatlicher Bevormundung und vorbeugender Maßnahmen gegen Vereine und Versammlungen eine Beschränkung auf repressive Maßnahmen auf gesetzlicher Grundlage forderten 12 . Wie i m politischen Bereich waren auch i n der Rechtswissenschaft die Vertreter des Liberalismus die Hauptträger des Kampfes um ein freies Vereins- und Versammlungsrecht 13 . Diese Herkunft aus dem liberalen 10 Vgl. etwa Zirkler, Das Assoziationsrecht der Staatsbürger, Leipzig 1834; Weiß, System des deutschen Staatsrechts, S. 577; Maurenbrecher, Staatsrecht, §179. " Schmid, Staatsrecht, §§79, 82; Jordan, Allg. Staatsrecht, I, S. 352, 377 ff.; Reyscher, Publicistische Versuche, S. 164 f.; Welcher, Staatslexikon, I, S. 723; v. Mohl, Württembergisches Staatsrecht, I , S. 352 ff., 377 ff. 12 Gierke, a.a.O., I, S. 888 f. m i t Nachweisen i n den Noten 13 u n d 14. 13 Der deutsche Frühliberalismus unterscheidet sich i n der engen Zusammenziehung von Vereins- u n d Versammlungsrecht von der Staatstheorie der französischen Revolution, die Vereins- u n d Versammlungsfreiheit zumindest der Tendenz nach scheidet u n d vor allem ersterer ungünstig gesonnen ist. I n der gemeinsamen theoretischen Grundlegung beider Grundrechte i m deutschen Frühliberalismus dürfte einer der Ansatzpunkte für die i n der deutschen Rechtstradition übliche gemeinsame positive Regelung des öffentlichen Vereins- u n d Versammlungsrechts liegen, m i t der erst das Bundesversammlungsgesetz gebrochen hat. I n Frankreich ist dagegen die getrennte gesetzliche Regelung beider Rechtsmaterien seit jeher üblich gewesen. E i n

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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Denken mit seiner Frontstellung gegen den Obrigkeitsstaat hat das verfassungstheoretische Verständnis der Versammlungsfreiheit in Deutschland bis auf den heutigen Tag in entscheidender Weise geprägt. Aus diesem Grunde soll die Auffassung und Begründung der Versammlungsfreiheit des deutschen Frühliberalismus hier etwas näher betrachtet werden. Eine bis ins einzelne gehende Untersuchung der mannigfach abgestuften und differenzierten Auffassungen der liberalen Verfechter der Versammlungsfreiheit, ebenso wie die ihrer Gegner, würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen 14 . Es kann daher i m folgenden nur darum gehen, einige zentrale Gesichtspunkte, die für das spezifisch liberale Verständnis der Versammlungsfreiheit kennzeichnend sind, herauszuarbeiten. Charakteristisch für die Denkhaltung des Liberalismus 1 5 ist ihr individualistischer und rationalistischer Grundzug. Staat und Gesellschaft werden von einem primär gedachten Individuum her begriffen und konstruiert. Dabei gilt der Einzelmensch als mit vor- und überstaatlichen Freiheiten ausgestattet, die i h m angeboren sind und auch durch den Eintritt i n die menschliche Gesellschaft und den Staat nicht verlorengehen können. Damit w i r d die Möglichkeit und Notwendigkeit überindividueller Bindungen zwar nicht geleugnet, solche Beschränkungen i m Interesse der Gemeinschaft finden aber ihre Rechtfertigung und Begrenzung durch die individuelle Freiheit. D i e Staats- u n d Gesellschaftslehre u n d d a m i t auch d i e G r u n d r e c h t s t h e o r i e des deutschen F r ü h l i b e r a l i s m u s stehen n o c h d e u t l i c h i n d e r u n m i t t e l b a r e n T r a d i t i o n des r a t i o n a l e n N a t u r r e c h t s 1 6 . A b e r m i t d e r rechtsphilosophischen A b l e i t u n g der F r e i h e i t s r e c h t e aus d e m N a t u r recht u n d der d a m i t zugleich b e h a u p t e t e n a b s o l u t e n G e l t u n g dieser Rechte v e r b i n d e t sich b e i d e n l i b e r a l e n A u t o r e n z u g l e i c h die F o r d e gutes Beispiel für den engen Zusammenhang, der i n der Vorstellung der f r ü h liberalen Autoren zwischen Vereins- u n d Versammlungsfreiheit u n d auch dem Petitionsrecht bestand, bildet der A r t i k e l „Association" von Welcher i m Staatslexikon (2. A u f l . 1845, Bd. I, S. 723), der unter diesem Stichwort die Begriffe „Verein, Gesellschaft. Volksversammlung (Reden an das V o l k u n d 14 I n vorbildlicher Weise hat Friedrich Müller i n seiner Dissertation collective Petitionen), Associationsrecht" einreiht. „Korporation u n d Assoziation, eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit i m deutschen Vormärz", B e r l i n 1965, eine solche Untersuchung f ü r die Vereinsfreiheit vorgelegt. 15 Unter der Bezeichnung Liberalismus w i r d eine vielschichtige geistesgeschichtliche Strömung zusammengefaßt, die sowohl i n ihren Wurzeln w i e i n ihren Ausprägungen außerordentlich vielfältig ist. F ü r unsere Betrachtung steht vor allem der verfassungspolitische Aspekt des liberalen Denkens i m Vordergrund. Z u m Begriff „Liberalismus" vgl. etwa Hub er, Verfassungsgeschichte, I I , S. 371 ff.; v.Hayek, A r t . Liberalismus i m H d w b d. Soz. Wiss., Bd. V I , S.591; Schnabel, a.a.O., I I , S. 90 ff., 179 ff.; Clemens Bauer, Staatslexikon, V, S. 370 ff. ™ Müller, a.a.O., S. 221; Schnabel, a.a.O., I I , S. 107.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

rung nach staatlicher Anerkennung und Positivierung dieser Grundrechte. Damit verschiebt sich zunehmend der Akzent i n der Begründung der Freiheitsrechte vom abstrakten Vernunftrecht zur positiven Gesetzgebung, eine Entwicklung, die schließlich i n den Gesetzespositivismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mündet. Der Kampf der liberalen Bewegung richtet sich dabei gegen den Polizeistaat wie gegen den aufgeklärten Absolutismus mit ihrer obrigkeitlichen Bevormundung und W i l l k ü r . A n die Stelle der alten staatlichen Ordnung soll der Rechtsstaat mit geschriebener Verfassung treten, i n der Volksrepräsentation und individuelle Freiheit garantiert werden 17 . Die Forderung nach politischer M i t w i r k u n g durch Volksrepräsentation und die Forderung nach garantierten Freiheitsrechten stehen dabei nicht zufällig nebeneinander. Die Gegner des alten Staates sind zwar beherrscht von dem Gedanken, die einzelnen von der staatlichen Bevormundung zu befreien. Ihre Freiheitsforderungen haben insofern einen staatsabwehrenden, negativen Charakter, zugleich aber steckt i n ihnen, wenn auch nicht immer deutlich und ausdrücklich artikuliert, die Forderung und der Wille, die so garantierte Freiheit zur M i t w i r k u n g i m Staate einzusetzen 18 . 2. Die liberalen Ableitungen der Versammlungsfreiheit

W i l l man die Eigenart des Verständnisses der Versammlungsfreiheit bei den Autoren des deutschen Frühliberalismus verstehen, so muß man berücksichtigen, daß bis zum Jahre 1848 nirgends i n Deutschland ein freies Versammlungsrecht positiv gewährleistet war. Sollte unter diesen Umständen die praktische und unmittelbare Geltung eines Rechtes der Bürger zu freier Vereinsbildung und zum freien Zusamment r i t t zu Volksversammlungen behauptet und bewiesen werden, so war man notwendig darauf angewiesen, auf allgemeine Grundsätze überpositiver A r t zurückzugreifen oder sonstige allgemeine Prinzipien des Staatsrechts oder der Staatslehre heranzuziehen. Die Versammlungsfreiheit erscheint so bei den liberalen Autoren als ein abgeleitetes Recht. I n den Ableitungen verschränken sich dabei rechtsphilosophisch abstrakte m i t politisch pragmatischen Vorstellungen, eine Argumentationsweise, die vom späteren Positivismus als durchaus unjuristisch empfunden wurde 1 9 . Die Rechtstheorie hat dabei die Aufgabe, einen bestehenden positivrechtlichen Zustand radikal umzuinterpretieren, wenn nicht sogar revolutionär zu verändern, während doch " Schnabel, a.a.O., I I , S. 104. 18 Müller, a.a.O., S. 258; Huber, Verfassungsgeschichte, I I , S. 776. 19 Vgl. v. Oertzen, Die Bedeutung v. Gerbers f ü r die deutsche Staatsrechtslehre, i n : Festgabe f ü r R. Smend, S. 183 ff., 193.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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sonst der juristischen Theorie meist die Funktion zukommt, die bestehenden positiven Regelungen zu erklären, zu rechtfertigen und gegebenenfalls i m Interesse ihrer Erhaltung zu kritisieren. Obwohl die deutschen Verfechter eines freien Assoziationsrechtes insgesamt gemäßigter sind als ihre französischen Vorbilder in Theorie und Praxis 2 0 — das radikaldemokratisch anarchistische Element der Klubs und Volksgesellschaften fehlt in Deutschland fast völlig, ebenso wie die radikale Ablehnung aller Teilverbände als Verfälschung der volonté générale —, darf man trotz allem den revolutionären Zug der liberalen Vereins- und Versammlungstheorie nicht unterschätzen. Versucht man die theoretischen Ableitungen der Versammlungsfreiheit i n der Literatur des deutschen Frühliberalismus systematisch zu ordnen, so bietet sich eine Zweiteilung an: einmal die rechtsphilosophisch abstrakten Ableitungen, die die Versammlungsfreiheit vor allem als ein vorstaatliches, individuelles Menschenrecht sehen, zum anderen die mehr politisch pragmatischen Ableitungen, die die Versammlungsfreiheit vor allem aus der Natur des konstitutionellen Repräsentativsystems folgern. Bei einer ganzen Anzahl von Autoren finden sich beide Argumentationsweisen m i t unterschiedlicher Akzentuierung. Es handelt sich aber u m logisch getrennte oder zumindest trennbare Gedankenreihen. Vorherrschend ist bei den liberalen Autoren, vor allem bei den durch das französische Vorbild beeinflußten, das Verständnis der Versammlungsfreiheit als vorstaatliches Menschenrecht. Die Ableitungen stützten sich dabei meist auf das Recht der persönlichen Freiheit. So findet sich das freie Assoziationsrecht i n den aus den Hauptgrundrechten der persönlichen Freiheit und des Eigentums abgeleiteten Grundrechtskatalogen bei Eduard Henke, Sylvester Jordan, Heinrich Zoepfl und Gustav v. Struve 21. Auch bei Welcher 22, bei dem der politisch repräsentative Charakter des Versammlungsrechts stärker hervortritt, w i r d das freie Assoziationsrecht als „der unmittelbarste Ausfluß nicht bloß der staatsbürgerlichen und politischen, nein, schon der allgemeinen und insbesondere der persönlichen Freiheit" bezeichnet. Neben diesen Ableitungen aus der persönlichen Freiheit w i r d für die Begründung der Versammlungsfreiheit auch auf das Recht der freien Meinungsäußerung zurückgegriffen. So besteht nach Reyscher 23 „die Befugnis, sich für irgend einen i n den Gesetzen nicht verbotenen Zweck öffentlich zu vereinigen und Versammlungen zur Berathung gemeinsamer Angelegenheiten zu pflegen auch ohne ausdrückliche Einräumung 20 Müller, a.a.O., S. 222. Müller, a.a.O., S. 260 m i t Nachweisen zu den genannten Autoren. 22 Welcker, a.a.O., I , S. 732. 23 Reyscher, Publicistische Versuche 1832, S. 164. 21

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

überall da, wo die derselben zunächst zugrunde liegende persönliche Freiheit der Staatsbürger und das Recht freier Gedankenmittheilung anerkannt sind". Auch Robert v. M o h l 2 4 leitet die Versammlungsfreiheit unmittelbar aus der Denkfreiheit ab. Allerdings w i r d die Denk- und Meinungsfreiheit bei Mohl nicht mehr als vorstaatliches Menschenrecht postuliert, die Argumentation baut hier vielmehr auf die positive Gewährleistung dieses Rechtes i n der württembergischen Verfassung. Bei Mohl ist der Ubergang von der abstrakt vernunftrechtlichen Begründung der Versammlungsfreiheit zur positiven Geltungsgrundlage der Verfassung bereits restlos vollzogen. Die Grundrechte sind hier nicht mehr vorstaatliche, allgemeine Menschenrechte, sondern Rechte der Württemberger 25 . Bemerkenswert ist dabei die A r t der Argumentation, mit der Mohl aus der Denkfreiheit ein freies Versammlungsrecht gleichsam unter der Hand hervorzaubert. Er entwickelt über eine „dogmatische Auslegung" des Rechts der Denkfreiheit, das er mit dem Recht auf freie Äußerung der Gedanken gleichsetzt, weitere einzelne Rechte: einmal ein Recht zu freier Information aus rechtlich offenstehenden Quellen, zum anderen „das Recht, seine Gedanken über jeden beliebigen Gegenstand mündlich gegen Jeden, der freiwillig zuhören will» zu äußern; unter der Voraussetzung jedoch, daß der Sprechende überhaupt das Recht hat, i n der Versammlung (!), zu welcher er spricht, zu erscheinen und zu reden" 2 6 . Es w i r d hier aus dem Recht, mündlich seine Gedanken zu äußern, unterstützt durch die Behauptung, daß es ein strafbarer Mißbrauch der Amtsgewalt sei, eine Zuhörer-Versammlung, bloß w e i l sie zahlreich sei, auseinanderzutreiben, ein freies Versammlungsrecht, zumindest für Spontanversammlungen 27 , konstruiert. Erst i m weiteren w i r d dann darauf hingewiesen 28 , daß nach geltendem württembergischen Rechte eine ausdrücklich einberufene öffentliche Versammlung der Genehmigung durch die Bezirkspolizeistelle bedürfe, eine Gesetzgebung, die i m 24 v. Mohl, Staatsrecht des Königreiches Württemberg, 2. Aufl. 1840, Bd. I , S. 352 ff. 25 Vgl. Müller, a.a.O., S. 273 ff., der den Weg der liberalen Staatslehre v o m abstrakten Vernunftrecht zum Positivismus am Beispiel der Vereinigungs^ freiheit aufzeigt. Z u M o h l u n d Jordan, deren Auffassungen den entscheidenden Übergang markieren, a.a.Q,, S. 275 ff. M ü l l e r weist m i t Recht darauf hin, daß die Akzentverschiebung i n der Begründung der Grundrechte bei den Autoren des Frühliberalismus auf die staatliche Positivierung nicht als serviler Gesetzespositivismus verstanden werden darf. a.a.O., S. 273, 281. 26 v. Mohl, a.a.O., I , S. 353 f. 27 Bei v.Mohl, a.a.O., I , S. 354 als „zufällige öffentliche Versammlung" bezeichnet. 28 a.a.O., I, S. 355.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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Hinblick auf die Erfordernisse einer Repräsentatiwerfassung und das englische, belgische und französische Beispiel von Mohl kritisiert w i r d 2 9 . Der bei Mohl angedeutete Zusammenhang zwischen Repräsentativverfassung und Versammlungsfreiheit w i r d bei Zoepfi zur eigentlichen Grundlage des freien Versammlungsrechts. Die Begründung der Grundrechte ist bei Zoepfi von einer merkwürdigen Doppelgleisigkeit. Einerseits sind für ihn die Grundrechte ganz i m Sinne der naturrechtlichen Ableitungen als „nicht erst von der Staatsgewalt abgeleitete und concedierte Rechte unantastbar und unverletzlich". Die materiellen Volksrechte sind Urrechte der Individuen selbst, zu deren Schutz der Staat da ist. Sie werden in den zwei großen Kategorien der Personalfreiheit und der Eigentumsfreiheit zusammengefaßt 30 , wobei Zoepfi aus der Freiheit der Person auch die allgemeine Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit ableitet. Bemerkenswert ist aber, daß er die Assoziationsfreiheit nicht i n diesen Rahmen der Volksrechte des allgemeinen Verfassungsrechts stellt, sondern sie als eine spezifische Erscheinung der konstitutionellen Monarchie behandelt. Nicht die allgemeine Äußerungsfreiheit aufgrund der Personalfreiheit, sondern die durch den konstitutionellen Staatsaufbau geforderte Äußerungsfreiheit über alle Verhältnisse des Staatslebens, und noch spezifischer: die Äußerungsfreiheit i n bezug auf die gesetzgebende Gewalt ist die Grundlage des freien Assoziationsrechts 31 . Vereine und öffentliche Versammlungen werden bei Zoepfi als M i t t e l zur Beratung von Petitionen und Adressen verstanden 32 , d.h. vor allem als M i t t e l der Anregung und Kontrolle der Gesetzgebung. Das Recht, Vereine zu bilden und sich öffentlich zu versammeln, w i r d dabei aus dem „Geiste der Repräsentativverfassung" abgeleitet, welche „ein allgemeines und fortwährendes, lebendiges, politisches Interesse i n dem Volk voraussetzt, und dies genährt und unterhalten wissen w i l l " . Zugleich mit dieser politischen Funktionalisierung des Assoziationsrechts unterstellt es Zoepfi auch wieder der allgemeinen Regelung und Überwachung durch den Staat und läßt auch präventive Verbote zu 3 3 . Der Zusammenhang von Versammlungsfreiheit und Repräsentativsystem w i r d auch bei Reyscher 34 betont, der die Versammlungsfreiheit 20 a.a.O., I, S. 357 f. Note 6. 30 Zoepfl, Grundsätze des deutschen Staatsrechts 1841, § 78, S. 117. 3 1 Zoepfl, a.a.O., § 120, S. 181 ff.; § 121, S. 183—186. 32 Zoepfl, a.a.O., S. 184 FN, verweist dabei ausdrücklich auf die englische Praxis. 33 Vgl. auch die K r i t i k Zoepfls an der Grundrechtsgesetzgebung des Jahres 1848, Deutsches Staatsrecht, 4. Aufl. 1856, Bd. I I , S. 222 ff., 662 f. 34 Reyscher, a.a.O., S. 164. Er begründet dabei die Versammlungsfreiheit m i t der Notwendigkeit der Anteilnahme der Bürger am öffentlichen u n d staatlichen Leben i m konstitutionellen Staat. a.a.O., S. 173.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

unter Hinweis auf Karl Solomon Zachariae 35 als „ . . . ein aus der Natur konstitutioneller Staatseinrichtungen von selbst hervorgehendes, verfassungsmäßiges Recht" bezeichnet. Bei Karl Theodor Welcher w i r d die Anerkennung des freien Assoziationsrechts geradezu zum Prüfstein der staatsrechtlichen Theorien. „ K a u m bei irgend einem anderen Gegenstand zeigte sich so sehr der Kampf der Grundsätze der Repräsentativverfassung und des Absolutismus", schreibt er i n der Einleitung zu dem A r t i k e l „Association" i m Staatslexikon 36 . Obwohl auch bei Welcker ein naturrechtlicher Zug i n der Begründung der Versammlungsfreiheit erkennbar ist 3 7 , steht bei ihm die praktisch politische Argumentation ganz i m Vorder grund. So betont er das englische und nordamerikanische Vorbild, bei denen die freien Vereine und Volksversammlungen mit ihren freien Beratungen öffentlicher Adressen und Petitionen „die anerkannte Hauptgrundlage und wesentliche Lebenskraft ihrer freien Verfassungen" seien 38 . Es t r i t t hier der positive staatsaufbauende Zug des liberalen Verständnisses der Versammlungsfreiheit — und der Vereinsfreiheit 39 — besonders deutlich hervor. Scharf wendet sich Welcker gegen die von Zirhler 40 ausführlich begründete Auffassimg, wonach in jeder gemeinsamen politischen Tätigkeit der Bürger praktisch eine strafbare Usurpation der Staatsgewalt oder ein Eingriff i n das Recht der Landstände liege 41 . Welcker preist demgegenüber die Heilsamkeit der freien Assoziationen, die er als „kräftigste(n) Quell für patriotischen Gemeingeist", „stärkste(n) A n trieb für die Bürger, überall dem Staat i n die Hände zu arbeiten" bezeichnet. Er hält sie für „unendlich wichtig für die Erhaltung der Verfassung des Staates . . . für die Erhaltung der Freiheit und der bürgerlichen Ordnung, welche niemand näher interessieren als die Bürger, die lebendigsten Wächter, die kräftigsten Stützen", und macht auf ihre Bedeutung für die Umsetzung der wahren Ansichten und Bedürfnisse des Volkes i n Gesetzgebung aufmerksam 42 . Hinter diesen Vorteilen eines freien Assoziationswesens treten seine möglichen Gefahren praktisch zurück, gerade die freie Zulassung von Vereinen und Versammlungen soll revolutionären Entwicklungen 3« K . S. Zachariae, Vierzig Bücher v o m Staate, I I , S. 358. 36 Welcher, a.a.O., I , S. 723. 37 Vgl. oben S. 58 A n m . 22. 38 a.a.O., I , S. 729. 3» Allgemein zum positiven staatsaufbauenden Zug i n der liberalen Assoziationslehre Müller, a.a.O., S. 292 ff. 40 Zirhler, Associationsrecht, S. 38, w o gerade aus der N a t u r des Repräsentativsystems die Unzulässigkeit „künstlicher Organe der öffentlichen Meinung" gefolgert w i r d . 41 Welcher, a.a.O., I , S. 735. 42 a.a.O., I, S. 737 i m H i n b l i c k auf die freien Vereine, der Gedanke dürfte aber entsprechend auch f ü r die freien Versammlungen gelten.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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steuern und die Bürger i m vernünftigen Gebrauch der Freiheit unterrichten — ein Argument, das bei den liberalen Autoren häufig auftaucht 4 3 . Wegen der positiven Wirkungen auf den Staat und das politische Leben fordert Welcker die Beschränkungen der Assoziationsfreiheit auf ein Minimum; zwar hält er Präventivmaßnahmen nicht schlechthin für unzulässig, betrachtet sie aber grundsätzlich als Ausnahme 44 . 3. Würdigung der liberalen Versammlungslehre

Es dürfte deutlich geworden sein, daß das weit verbreitete B i l d der liberalen Grundrechtsauffassung als ausschließlich staatsabwehrend eine starke Vereinseitigung enthält. Gerade bei jenen Autoren, die den Zusammenhang von Repräsentatiwerfassung und Assoziationsfreiheit 45 betonen, wie Mohl, Reyscher, Zoepfi und Welcher, zeigen sich die positiven staatsgestaltenden Züge, die das freie Vereins- und Versammlungsrecht i n die Nähe der Rechte des status activus rückt. Das Verständnis der Vereins- und Versammlungsfreiheit bei den Autoren des deutschen Frühliberalismus ist durchaus doppelgesichtig. Sicherlich steht, entsprechend der politischen Kampfsituation, das staatsabwehrende Element, die Forderung nach einer staatsfreien Sphäre individueller und sozialer Betätigung i m Vordergrund. Daneben findet sich aber auch ganz deutlich die Einsicht in die positive, staatsaufbauende Funktion, den Mitwirkungscharakter des freien Assoziationsrechts. Es ist bemerkenswert, daß dieser aktive Zug des Versammlungsrechts vor allem i m Zusammenhang m i t dem konstitutionellen Repräsentativsystem gesehen wird. Dies ist für die weitere Entwicklung der Versammlungsfreiheit und ihres Verständnisses von entscheidender Bedeutung. M i t der spezifischen Verbindung von Volksrepräsentation und freiem Vereins- und Versammlungsrecht w i r d eine der wesentlichen Grundlagen für die Positivierung dieser Rechte gelegt. Besonders « a.a.O., I , S. 729, 742 f.; ähnlich auch v. Mohl, a.a.O., I , S. 337 Note 6; v. Struve, Grundzüge der Staatswissenschaft, Bd. I I I , S. 120 ff. 44 a.a.O., I, S. 739. 45 Daß dieser Zusammenhang i m K a m p f u m das freie Assoziationsrecht keineswegs als selbstverständlich empfunden wurde, zeigt die Tatsache, daß das Repräsentativsystem von den Vertretern des Polizeistaates i m m e r wieder als Argument gegen die Assoziationfreiheit, v o r allem, soweit sie politischen Akzent hatte, ins Feld geführt wurde. Typisch hierfür ist ein bayerisches Reskript aus dem Jahre 1832, das den Bürgern einzureden versuchte, „daß dieses Recht m i t der neuen Staatsform womöglich noch weniger als m i t der alten absolutistischen verträglich sei", denn n u r zu leicht könnten sich Vereine u n d Versammlungen einen kränkenden E i n g r i f f i n den Wirkungskreis der Volksversammlungen erlauben (Nachweise bei Brater, a.a.O., X , S. 765). M i t besonderem Nachdruck w i r d diese Auffassung auch von Zirkler, a.a.O., S. 121 ff. vertreten.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

deutlich w i r d dies bei Zoepfl 46, der das Recht zu freier Assoziation, „als ein neues politisches Verhältnis umfassend" notwendig einer legislativen Bestimmung unterwerfen w i l l und meint, wenn man die „natürlichen Consequenzen" der Repräsentativverfassung für bedenklich halte, dürfe man sie gar nicht erst einführen oder müsse die eine oder andere für bedenklich erachtete Konsequenz von vornherein i n der Verfassung selbst ausschließen. Es ist dieser Gedankengang, der i n der Lehre und Praxis nach 1850 herrschend wird. Eben w e i l die Versammlungsfreiheit für ein Repräsentativsystem eigentümlich und nur unter ihm gewährt ist, muß der Staat auch berechtigt sein, ihre Ausübung zu regeln und ihrem Mißbrauch, vor allem i m politischen Bereich, zu steuern. Zugleich ist diese enge Bindung an die besondere Form des konstitutionellen Staates noch i n anderer Hinsicht aufschlußreich. Es fehlt i n den liberalen Ableitungen des Versammlungsrechts trotz aller Betonung seiner aktiven Aspekte eine wirklich demokratische Begründung, d.h. eine Ableitung aus einer politisch verstandenen Volkssouveränität. Dies ist eigentlich nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß praktisch sämtliche der hier behandelten Staatsrechtslehrer Anhänger des „monarchischen Prinzips" waren und schon von dieser Grundlage her den Gedanken an eine solche Ableitung verwerfen mußten 47 . Aber auch ein Autor, wie der für damalige Verhältnisse zur äußersten Linken zählende Gustav v. Struve bezieht sich für die Begründung eines freien Assoziationsrechts nicht auf spezifisch demokratisch politische Argumente, sondern behauptet seine Geltung als vorstaatliches Menschenrecht 48 . Stärker t r i t t allerdings der revolutionär politische und demokratische Zug i n dem i m Februar 1848 erschienenen dritten Band der „Grundzüge der Staatswissenschaft" von Struve hervor, wo die zunehmende Vereinstätigkeit der Jahre vor 1848 als Selbstorganisation des politisch weitgehend entmündigten Volkes verstanden und die Bedeutung der Versammlungsfreiheit als aktiv politisches Verständigungsmittel zwischen Volk und Regierung betont 46 Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen u n d constitutionellen monarchischen Staatsrechts, 1841, S. 184 FN, Hervorhebung i m Original. 47 M a n vergleiche etwa die i m m e r wiederkehrende Bemerkung, daß Vereine u n d Versammlungen natürlich nicht befugt seien, i n die Kompetenzen staatlicher Organe oder der Volksvertretung einzugreifen (v. Mohl, a.a.O., I , S. 355; Brater, a.a.O., X , S. 761), die sicherlich durch das abschrekkende V o r b i l d der französischen Clubs u n d Volksgesellschaften inspiriert ist. I n ähnlichem Sinne zum Schweizerischen Vereins- u n d Versammlungswesen nach 1830 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht 1851, S. 700. Vgl. dazu auch Hoerni, a.a.O., S. 29. 48 v. Struve, A r t i k e l Menschenrechte i m Staatslexikon, 2. A u f l . 1847, Bd. I X , S. 64 f., S. 69, aus den entsprechenden Ausführungen geht allerdings w i e häufig bei der Verwendung der Ausdrücke Assoziationsfreiheit u n d Assoziationsrecht nicht hervor, ob damit n u r die Vereinsfreiheit oder auch die Versammlungsfreiheit gemeint ist.

3. Kap. Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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w i r d 4 9 . Ein wirklich demokratisches Verständnis des Versammlungsrechts konnte sich aber in Deutschland bei dem Gang der politischen Ereignisse nicht entfalten. Die Voraussetzungen hierfür wurden erst auf der Grundlage der . Reichsverfassung von Weimar geschaffen, obwohl, wie noch zu zeigen sein wird, die Lehre auch dann noch diese wesentliche Veränderung für die Begründung der Versammlungsfreiheit weitgehend ignorierte. Ebenso wie ein i m eigentlichen Sinne demokratisches Verständnis der Versammlungsfreiheit fehlt, geht den liberalen Autoren auch der Sinn für die qualitativen Unterschiede individuellen und kollektiven Handelns ab, zumindest jedoch ziehen sie daraus keine Konsequenzen für eine eigenständige Begründung dieses Rechts. So gehört es zu den typischen Wendungen bei der Begründung eines freien Versammlungsrechts, „daß dasjenige, was allen einzelnen Bürgern rechtlich freisteht . . . dadurch an sich noch nicht rechtsverletzend und zum Vergehen wird, daß sie dasselbe gemeinschaftlich . . . , in freier Association t h u n " 5 0 . Man w i r d diese A r t der Argumentation sicher zum Teil auf die praktisch politische Situation zurückführen können, in der eine positive Anerkennung des Versammlungsrechts fehlte, es kommt darin aber auch der vernunftrechtlich begründete Individualismus der liberalen Grundrechtslehre zum Ausdruck. Viel deutlicher findet sich die Erkenntnis der eigentümlichen Wirkung kollektiven Handelns und kollektiver Willensbildung bei den Gegnern eines freien Assoziationsrechts, wie etwa bei Zirkler i n seiner Monographie über das Assoziationsrecht der Staatsbürger von 1834. Unter Berufung auf Hobbes (de cive X I I I § 13) und Rousseau (le contrat Social, Buch 2, Kap. 3) 51 und auf den polizeistaatlichen Gedanken eines „prävenierenden Oberaufsichtsrechts" 52 gestützt, w i l l Zirkler grundsätzlich nur solche Vereine und Gesellschaften zulassen, die individuellen Bedürfnissen und der individuellen Meinungsbildung dienen 53 . Auch über Mängel und Übelstände der Gesetzgebung und Verwaltung dürfe nur dann in Versammlungen und Vereinen gesprochen werden, wenn der Zweck allein die individuelle lyieinungsbildung sei; eine förmliche 49 r . Struve, a.a.O., I I I , S. 120 ff., S. 199 ff.; I I I , S. 222. Vgl. dazu auch Müller, a.a.O., S. 302, der auf die Stelle aufmerksam macht, i n der Struve, a.a.O., I I I , S. 215 (im Februar 1848) den Vereinen i m K a m p f m i t der Regierung „vielleicht noch großartige Resultate" voraussagt. 5° Welcher, a.a.O., I, S.732; ähnlich Sylvester Jordan, Versuche, S. 441. Zirhler, a.a.O., S. 3 u. 5. 52 Zirhler, a.a.O., Vorrede, S. V. 53 a.a.O., S. 12 m i t der decouvrierenden Wendung, daß m a n neben dem rein menschlichen (Hervorhebung i m Original) Assoziationsgeiste den „ a n sich i n der Wurzel verdammlichen Factionsgeist nicht begünstigen dürfe". Vgl. auch a.a.O., S. 109 f., S. 40 f. FN.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Beratung und die Äußerung einer Kollektivmeinung dagegen, w i r d von Zirkler als unzulässig betrachtet 54 . 4. Bemerkungen zum Problem der Versammlungsordnung

Z u den Fragen, die i n der liberalen Erörterung der Versammlungsfreiheit fehlen, gehört das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen. Man kann natürlich die individualistische und allen korporativen Verbandsformen abgeneigte Grundhaltung des liberalen Verständnisses als einen wesentlichen Gesichtspunkt für die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen ansehen. Aber i m engeren Sinne der Frage nach den rechtlichen Beziehungen der Versammelten zueinander, finden sich nur vereinzelte Hinweise 5 5 . So heißt es etwa bei Welcher, daß die Einführung von Formen und Einrichtungen, welche die Freiheit selbst nicht wesentlich beschränken, w o h l aber „Mißbräuche und Volksverkehrtheiten" zu beseitigen geeignet seien, eine Aufgabe des Strebens der Bürger und der Regierung sei 56 . Welcher lobt i n diesem Zusammenhang das englische Vorbild, für politische Versammlungen einen Präsidenten oder einen Ausschuß der geachtetsten Bürger der Gegend zu wählen und meint» daß die Nachahmung des englischen Beispiels, unter Außerachtlassung seiner „wohlthätigen Schutzmittel" i n Deutschland teilweise zu öffentlichen Skandalen geführt habe. Wenn damit auch grundsätzlich eine Befugnis, wenn nicht sogar eine Aufgabe des Staates anerkannt ist, öffentliche politische Versammlungen bestimmten Ordnungsanforderungen zu unterwerfen, so bleibt doch die Frage der rechtlichen Natur der Beziehungen der Versammelten untereinander, falls es überhaupt rechtliche Beziehungen sind, gänzlich unerörtert. Die Bemerkungen von Welcker zeichnen den Weg vor, den die Gesetzgebung nach 1850 gegangen ist, indem sie bei öffentlichen Versammlungen die Bestellung eines für Ruhe und Ordnung verantwortlichen Leiters verlangte. Während aber die entsprechenden Ordnungsanforderungen der Versammlungsgesetze bis hin zum Reichsvereinsgesetz von 1908 einen eher versammlungsfeindlichen Charakter haben, ist die Anregung Welckers sicher i n einem versammlungsfreundlichen Sinne aufzufassen. ß4 a.a.O., S. 119 f. M Dies ist nicht verwunderlich, w e n n m a n bedenkt, daß die Frage der inneren Ordnung der Vereine als privatrechtliches Problem erst etwa seit der Jahrhundertwende von der Rechtswissenschaft eingehender behandelt wurde (vgl. Leist. Die Strafgewalt moderner Vereine, Gießen 1901; ders., Untersuchungen zum inneren Vereinsrecht, Jena 1904) u n d als verfassungsrechtliches u n d verfassungstheoretisches Problem noch heute praktisch unbearbeitet ist. 56 Welcher, a.a.O., I , S. 738 f.

3. Kap.: Der Kampf um die Versammlungsfreiheit bis 1848

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I n fast beiläufiger Form taucht das Problem der inneren Ordnimg von Versammlungen bei Robert von Mohl 57 auf. Dies hängt mit der spezifischen Ableitung des Versammlungsrechts aus der Denk- und Meinungsfreiheit bei Mohl zusammen. Wie bereits oben dargelegt, teilt Mohl die Meinungsäußerungsfreiheit i n eine Rede- und i n eine Zuhörerfreiheit auf, wobei die Zuhörerfreiheit der Tatsache entspringt, daß es ein strafbarer Amtsmißbrauch wäre, eine Zuhörerversammlung allein wegen ihrer großen Zahl auseinanderzutreiben. Bemerkenswert ist nun, daß die Redefreiheit, d. h. das Recht, seine Gedanken mündlich zu äußern, davon abhängig gemacht wird, daß das Zuhören freiwillig geschieht, und der Sprechende überhaupt das Recht hat, i n der Versammlung, zu welcher er spricht, zu erscheinen und zu reden. Es w i r d damit — auch gleichsam wieder unter der Hand — anerkannt, daß die Frage, ob und wer i n einer Versammlung reden kann, durchaus eine rechtliche Frage ist, wobei allerdings unerörtert bleibt, welches die rechtliche Grundlage dafür ist, jemandem das Erscheinen und das Reden i n einer Versammlung zu gestatten oder zu versagen und wer hierfür zuständig ist. Es ergibt sich so die bemerkenswerte Konstruktion, daß Mohl einerseits ein Versammlungsrecht aus der Meinungsfreiheit -— jedenfalls für die Spontanversammlung — ableitet, andererseits aber eben das Recht der Meinungsfreiheit durch die Ordnung i n der Versammlung rechtlich begrenzt. Damit w i r d eines der zentralen Probleme der Versammlungsordnung berührt, ohne daß dies allerdings besonders entfaltet und bewußt erörtert würde, nämlich die Tatsache, daß aus einem Grundrecht, der Versammlungsfreiheit, das einen öffentlich-rechtlichen Freiheitsstatus gegen den Staat schützt, unterschiedliche Kompetenzen und Pflichten der an der Ausübung dieses Grundrechts Beteiligten erwachsen, die auch den Inhalt dieser Freiheit rechtlich begrenzen und bestimmen. Zugleich t r i t t dabei hervor, daß sich bei einer solchen Konstruktion Abstimmungs- und Konfliktprobleme zwischen Grundrechten, wie etwa hier zwischen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ergeben, obwohl sie beide aus einer gemeinsamen Wurzel abgeleitet werden. Die Grundlagen für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit i n der aus der Meinungsfreiheit selbst abgeleiteten freien Versammlung sieht Mohl anscheinend als privatrechtlich an. Jedenfalls scheint sich dies aus der Bemerkung 5 8 zu ergeben, Reden an einen Privatverein seien nur dann unerlaubt, wenn der Redner nach den Statuten oder dem Willen 57 Vgl. zum folgenden Mohl, a.a.O., I , S. 335 ff. 58 a.a.O., I, S. 356.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

des Hausherrn kein Recht habe, sich der Gesellschaft anzuschließen oder diese sich weigere, ihn anzuhören 59 .

Viertes Kapitel

Die Entwicklung der Versammlungsfreiheit bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

I . Die positivrechtliche Entwicklung

Die Zeit nach 1848 unterscheidet sich sowohl i m Hinblick auf die positive Rechtslage wie auf die verfassungstheoretische Diskussion des Versammlungsgrundrechts sehr deutlich von der vorangegangenen Zeit des Vormärz. Dieser Einschnitt in der Entwicklung der Versammlungsfreiheit und ihres Verständnisses rechtfertigt es, diesen Zeitabschnitt einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Zunächst soll auch hier ein kurzer Überblick über das positive Versammlungsrecht gegeben werden, u m daran anschließend die Auffassungen zur Versammlungsfreiheit i n der Literatur nach 1848 kritisch zu würdigen. M i t der Anerkennung unter den Grundrechten der Verfassung von 1848 hatte die Diskussion u m die Versammlungsfreiheit einen Höhepunkt erreicht. M i t dem Zusammenbruch der liberalen Revolution setzt ein Rückschlag ein. Aber obwohl die Frankfurter Grundrechte schon 1850 wieder aufgehoben wurden, gelang es der Reaktion doch nicht mehr, den gesetzlosen Zustand des Vormärz wiederherzustellen. I m Grundsatz erkennen nunmehr die meisten Verfassungen und die entsprechenden Ländergesetze ein freies Vereins- und Versammlungsrecht der Bürger an 1 . Freilich bleiben Vereine und Versammlungen, 5» Bemerkenswert ist auch die Stelle, an der Mohl ausführt (a.a.O., I, S. 357 Note 4), daß dann, w e n n das P u b l i k u m zuhöre, w o h l keine Möglichkeit bestehe, Stillschweigen zu gebieten, jedenfalls i m Theater. Anders sei dies i n der Kirche, w e i l hier wegen des Zwecks der Zusammenkunft jeder andere als der Prediger notwendig Störer sei. D a m i t w i r d die wichtige Rolle des Versammlungszwecks für die Bestimmung des Umfangs der Rechte der Versammlungsbeteiligten zumindest andeutungsweise erkannt. 1 Die Anerkennung erfolgt i n den Verfassungen zumeist unter dem V o r behalt eines die Ausübung des Rechtes regelnden Gesetzes. Typisch hierfür sind die Bestimmungen der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850: „ A r t . 29: A l l e Preußen sind berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis friedlich u n d ohne Waffen i n geschlossenen Räumen zu v e r sammeln.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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vor allem solche m i t politischer Zwecksetzung, einer ganzen Anzahl von Beschränkungen unterworfen. Die Rechtslage bietet dabei i m einzelnen ein recht unterschiedliches Bild. Es lassen sich jedoch gewisse gemeinsame Grundzüge feststellen. So besteht meist für öffentliche Versammlungen, i n denen öffentliche oder politische Angelegenheiten besprochen werden sollen, Anzeigepflicht. Das Fehlen der Anzeige macht die Versammlung rechtswidrig, und die Unternehmer, Veranstalter und Vorstände der Versammlung strafbar. Versammlungen unter freiem Himmel sind genehmigungspflichtig, wobei die Genehmigung allerdings nur bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung versagt werden kann. Es besteht ein allgemeines Aufsichts- und Anwesenheitsrecht der Polizei. Besonderen Beschränkungen unterliegen Frauen und Jugendliche. Sie werden von öffentlichen politischen Versammlungen wie auch von der Teilnahme an politischen Vereinen und ihren Veranstaltungen völlig ausgeschlossen. öffentliche politische Versammlungen, wie auch die Vereinsversammlungen politischer Vereine werden dabei von der Gesetzgebung i m wesentlichen gleich behandelt. Bemerkenswert ist, daß nunmehr auch positiv bestimmte Organisationserfordernisse für öffentliche Versammlungen festgelegt werden. Typisch ist die Anforderung, daß Versammlungen einen Vorstand oder Leiter haben müssen, die für Ruhe und Ordnung zu sorgen haben. Häufig w i r d ihnen auch noch auferlegt, kritische und gesetzwidrige Äußerungen i n der Versammlung zu unterdrücken. Gerade die letztere Bestimmung zeigt deutlich den noch immer obrigkeitsstaatlichen Charakter dieser Gesetzgebung. Hier w i r d i m Grunde eine polizeiliche Aufgabe auf den Veranstalter oder Leiter der Versammlung abgewälzt, wobei keinerlei entsprechende Befugnisse miterteilt werden. Die A b sicht ist klar: man belastet den Veranstalter von vornherein mit der Verantwortung für das Wohlverhalten der Teilnehmer. Man hat es nicht darauf abgesehen, Veranstalter und Leiter gegen Störer ihrer Versammlung zu schützen. Das rein quietistische Ordnungsinteresse der Diese Bestimmung bezieht sich nicht auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch i n bezug auf vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind. Art. 30: A l l e Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, i n Gesellschaften zu vereinigen. Das Gesetz regelt, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Ausübung des i n diesem oder i n dem vorstehenden A r t i k e l (29) gewährleisteten Rechts. Politische Vereine können Beschränkungen u n d vorübergehenden Verboten i m Wege der Gesetzgebung unterworfen werden." Vgl. auch die hierzu ergangene Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit u n d Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- u n d Vereinsrechts v o m 11. März 1850.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Obrigkeit dominiert über das Interesse, die Bürger bei der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu schützen. Einen gewissen Abschluß findet die Versammlungsgesetzgebung dieser Epoche i m Reichsvereinsgesetz von 1908. Das Bismarck-Reich hatte zwar i n A r t . 4 Ziff. 16 der Verfassung von 1871 die Kompetenz zur Vereinsgesetzgebung, i n der nach allgemeiner Meinung auch die zur Versammlungsgesetzgebung umschlossen war, erhalten 2 . Eine Grundrechtsnormierung w a r i n der Reichsverfassimg von 1871 bekanntlich bewußt unterblieben. Das Reich machte zunächst nur zögernd und sporadisch von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch, u. a., indem es die Wahlversammlungen zum Reichstag den landesgesetzlichen Einschränkungen für politische Versammlungen entzog, aber auch i n den Sozialistengesetzen von 1878, die Versammlungen m i t sozialdemokratischer, sozialistischer oder kommunistischer Agitation verboten und unter Strafe stellten. Die Unterschiedlichkeit der Rechtslage i n den Einzelstaaten ebenso wie die Erfahrungen m i t den erfolglosen Sozialistengesetzen, führten nunmehr zu dem Versuch einer einheitlichen Regelung für das Reichsgebiet. Das Reichsvereinsgesetz wurde dabei ein Kompromiß zwischen Konservativen und Liberalen 3 . Es zeigt allerdings insgesamt wesentlich liberalere Züge, als die meisten Versammlungs- und Vereinsgesetze der Länder, die aufgehoben wurden. Wichtig w a r insbesondere, daß Versammlungen polizeilich privilegiert wurden. Polizeiliche Eingriffe i n Vereine und Versammlungen wurden grundsätzlich auf die i m Reichsvereinsgesetz und den Reichsgesetzen normierten Fälle, sowie auf die Abwehr von Gefahren für Gesundheit und Leben der Teilnehmer beschränkt. Gleichwohl blieben für politische Versammlungen und Vereine noch Beschränkungen bestehen, wie vor allem die Anzeigepflicht bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen und der Genehmigungsvorbehalt bei Versammlungen unter freiem Himmel.

I I . Die Ordnungsbestimmungen des Reichsvereinsgesetzes

Ähnlich wie i n den meisten der früheren Versammlungsgesetze war auch i m Entwurf zum Reichsvereinsgesetz aus dem Jahre 1907 i n § 5 eine Verpflichtung zur Bestellung eines Leiters für alle öffentlichen Versammlungen, i n denen öffentliche Angelegenheiten besprochen wurden, vorgesehen. Der Entwurf bestimmte allerdings über die A r t der Bestellung nichts. Von Regierungsseite wurde dazu erklärt, daß das Gesetz nur das öffentlich-rechtliche Verhältnis der Versammlung zur 2 3

v.Jan, a.a.O., S. 7. v. Jan, a.a.O., S. 10.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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Staatsgewalt regeln wolle, die innere Ordnung der Versammlung solle i h r selbst überlassen bleiben 4 . Es bestehe nur ein staatspolizeiliches Interesse daran, daß ein Leiter vorhanden sei 5 . I m Reichstag wurde die Verpflichtung zur Bestellung eines Leiters auf öffentliche politische Versammlungen beschränkt. Zugleich wurde auch das Recht des Veranstalters, den Versammlungsleiter zu bestellen und dadurch bestimmenden Einfluß auf den Gang der Versammlung zu nehmen, i n das Gesetz aufgenommen. I n den Beratungen wurde dabei zum Ausdruck gebracht, daß man damit verhindern wolle, daß die einberufende Minderheit durch eine zufällige Mehrheit i n der Versammlung überstimmt und i h r ein „Bureau" aufgedrängt werde, das zu einer Umkehrung der ganzen Veranstaltung zuungunsten der Veranstalter führe 6 . Dagegen sah man i m Gesetz davon ab, die Stellung und Befugnisse des Versammlungsleiters gegenüber den einzelnen Teilnehmern zu regeln, insbesondere verzichtete man darauf, dem Versammlungsleiter besondere, polizeilichen Zwangsmitteln nachgebildete Befugnisse zuzusprechen 7 , w e i l auch eine öffentliche Versammlung immer ein privates Unternehmen bleibe. Festgelegt wurde lediglich das Recht des Versammlungsleiters, die Versammlung jederzeit aufzulösen; ebenso wie bei einer polizeilichen Versammlungsauflösung bestand eine strafrechtlich sanktionierte Pflicht der Teilnehmer, sich nach der Auflösung durch den Versammlungsleiter unverzüglich zu entfernen (§ 10 Satz 4 i. V. m. §§ 16, 18 Ziff. 4 RVG). Die Rechtsnatur der Auflösungsbefugnis blieb ungeklärt; während von Regierungsseite i m Reichstag erklärt wurde, ein solches Recht müsse dem Versammlungsleiter für jene Fälle, i n denen er das Hausrecht nicht besitze, besonders zugesprochen werden, hatte die Begründung des Regierungsentwurfs (S. 32) die Auffassung vertreten, daß ein solches Recht „selbstverständlich" sei.

I I I . Das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der Lehre nach 1848 1. Die gewandelte Stellung der Grundrechtstheorie

M i t der grundsätzlichen Anerkennimg der Versammlungsfreiheit i n den Verfassungen und der Gesetzgebung der deutschen Einzelstaaten nach 1848 ändern sich Stil und Funktion der wissenschaftlichen Erörte4

v. Jan, a.a.O., S. 124. « Romen, a.a.O., S. 76 unter Hinweis auf den Regierungsentwurf. • Komm. Ber., S. 4859 zitiert nach v. Jan, a.a.O., S. 130. 7

Romen, a.a.O., S. 76; v.Jan, a.a.O., S. 130.

5 Quilisch

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

rungen über diesen Gegenstand grundlegend. Hatten die liberalen Autoren vor 1848 vor dem Problem gestanden, die Geltung eines Rechtes abzuleiten und zu beweisen, das von der positiven Rechtsordnung nicht anerkannt war, so können sich nun die Erörterungen weitgehend auf eine Darstellung des positiven Rechts beschränken. Die Literatur, die Vereins- und Versammlungsrecht regelmäßig gemeinsam behandelt, folgt i n ihrer Darstellung dieser Materie meist dem gleichen Schema. Zunächst w i r d i n einer historischen Einleitung das freie Einungswesen des Mittelalters vorgeführt, dann gezeigt, wie unter dem Obrigkeitsstaat dieses Recht außer Übung kam oder unterdrückt wurde, u m dann seine grundsätzliche Anerkennung i m konstitutionellen Staat und das geltende positive Recht i n mehr oder minder detaillierter Form darzustellen 8 . Die eigentliche staatsrechtliche und staatstheoretische Problematik des freien Versammlungsrechts t r i t t zurück hinter einer vor allem polizeirechtlichen Betrachtung des Versammlungswesens. Die Gegner des freien Versammlungsrechts, zumindest soweit sie ein solches Recht überhaupt leugnen, verstummen. Ebenso aber schwindet die naturrechtliche Begründimg der Versammlungsfreiheit 9 bis auf einige Nachklänge fast vollständig. Der Akzent liegt eindeutig auf dem positiven Recht. So ist zwar bei v. Held das Versammlungsrecht eine Konsequenz der menschlichen individuellen Freiheit 1 0 , die als Menschenrecht auch nicht vom Staat gegeben ist 1 1 ; aber die Menschenrechte gelten nur „innerhalb der Schranken des positiven Rechts" 12 , wobei das Maß ihrer Einschränkung „ i n jedem concreten Staate von seinen bestehenden Gesetzen abhängt" 1 3 . Naturrechtliche Anklänge finden sich auch bei v. Rönne, für den das Versammlungsrecht „unzweifelhaft" der natürlichen Freiheit entspringt, die aber der gesetzlichen Einschränkung vor allem gegen Mißbrauch unterliegt, wobei allerdings andererseits die Verhinderungs- und Vertretungsrechte des Staates nicht so weitgehen dürfen, dieses Recht zu vernichten oder zu einem Scheinrecht zu 8 Nicht zu Unrecht polemisiert Bornhak, Preußisches Staatsrecht, Bd. I I I , S. 162 f. gegen diese historischen Einleitungen als nichtssagend, da zwischen dem mittelalterlichen Einungswesen u n d dem modernen Assoziationswesen keinerlei innere Rechtskontinuität bestehe. 9 Dies gilt weitgehend auch für die politisch pragmatische Begründung der Versammlungsfreiheit aus dem Wesen des konstitutionellen Staates. *o v. Held, System des Verfassungsrechts, Bd. I I , S. 583. 11

v. Held, a.a.O., I, S. 558.

" u. Held, a.a.O., I I , S. 556 f. ** v. Held, a.a.O., I I , S. 559 FN; noch schärfer t r i t t dieser positivistische Zug hervor i n v. Held, Staat u n d Gesellschaft, Leipzig 1865, Teil 3, S. 521, wonach Menschenrechte entweder philosophische Forderung und kein Recht, oder aber das Recht des Staates u n d der Gesellschaft sind, i n die man hineingeboren ist.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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machen 14 . Ähnlich bezeichnet auch Schulze-Gävernitz die Versammlungsfreiheit als „selbstverständliches, natürliches Recht", das aber durch die allgemeine Rechtsordnung des Staates begrenzt ist, wobei die Grenzen „ i n concreto nach Auffassung des Volkes und der Zeit" sehr verschieden sein können. Der Akzent liegt hier nicht mehr auf einem natürlichen, vorstaatlichen Freiheitsrecht, das von der staatlichen Rechtsordnung nur anerkannt und geschützt wird, sondern auf den positiven, gesetzlichen Beschränkungen dieser natürlichen Freiheit. Es zeigt sich i n diesen Stellungnahmen das Aufgehen der Grundrechte i n einem reinen Gesetzespositivismus. Der vorstaatliche, den Staat bindende Freiheitsanspruch w i r d zur Freiheit i m Rahmen der jeweiligen Gesetze 15 . Für die Verfassimggeber der Paulskirche waren die Grundrechte nicht nur Ausdruck vorstaatlicher Freiheitsrechte gewesen, sie sollten auch die Gesetzgebung binden und i h r als Richtschnur dienen 16 . Sie hatten nicht nur Staatsabwehrrichtung, sondern waren „principles and foundation of government"; sie hatten, wie Leisner m i t einem sprachlich unglücklichen, aber sachlich treffenden Wort formuliert hat, „Staatsgrundlegungsrichtung" 17 . Dieser Gedanke geht i m positivistischen Grundrechtsverständnis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast völlig verloren. Die Bedeutung der Freiheitsrechte verengt sich auf das Verwaltungsrecht und speziell für die Versammlungsfreiheit auf das Polizeirecht. 2. Die Reaktion nach 1850

Der Rückschlag i n der Bedeutung der Grundrechte und das Wiedererwachen polizeistaatlichen Denkens spiegelt sich auch i n der Literatur zum Versammlungsrecht nach 1850. Dies zeigt sich deutlich bei Zoepfl. Dieser hatte in seinen Grundsätzen des konstitutionell monarchischen Staatsrechts von 1841 die besondere Bedeutung des freien Vereinsund Versammlungsrechts für das Repräsentativsystem, insbesondere 14

v. Rönne, Staatsrecht der Preußischen Monarchie, 4. Aufl., Bd. I I , S. 184 ff. " M a n darf nicht übersehen, daß selbst bei jenen Autoren, die den Charakter der Grundrechte als subjektive Rechte überhaupt leugnen, w i e etwa Gerber u n d Laband, i n der Vorstellung v o n der natürlichen Freiheit des Individuums, die n u r aufgrund der Gesetze eingeschränkt werden kann, das Erbe des naturrechtlichen Individualismus w i r k s a m ist. Vgl. dazu Häberle, a.a.O., S. 145, 147. 16 So bestimmte § 130 der R V 1849: I m deutschen V o l k sollen die nachstehenden Grundrechte gewährleistet werden. Sie sollen den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur N o r m dienen, u n d keine Verfassung der Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates soll dieselben j e aufheben oder beschränken können. 17

5*

Leisner,

Grundrechte u n d Privatrecht, S. 36.

68

1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

seine Rolle für die Anregimg und Kontrolle der Gesetzgebung, positiv hervorgehoben, dabei allerdings schon einschränkend darauf hingewiesen, daß die Volksrechte „keine Befugnisse zur Mitregierung, sondern nur Beschränkungen der Staatsgewalt auf ihre natürlichen Gränzen" seien 18 . Zoepfl kommentiert nunmehr billigend die i n vieler Hinsicht von reaktionärem Geist getragenen Einschränkungen der Vereins- und Versammlungsfreiheit durch die Gesetzgebung nach 185019. Eine ähnliche Skepsis gegen die freien öffentlichen Versammlungen kommt auch bei Bluntschli zum Ausdruck, der die Volksversammlungen als „offenbar eine demokratische Erscheinung, aber eine unorganische bezeichnet, da sie ihrer Natur nach weniger Volks- als Parteiv er Sammlungen seien. Er betont die Gefahren, die i n der parteilichen Leitung, dem Massengeist, dem Einfluß auf die öffentliche Meinung und i n einer möglichen Anmaßung staatlicher Kompetenzen liegen und hält sowohl das System des generellen Verbots m i t Ausnahmen, wie das der Freiheit der Volksversammlungen unter präventivem Verbotsvorbehalt für zulässig 20 . Wie Zoepfl erkennt auch Bluntschli durchaus die eminente politische Bedeutung freier Versammlungen, w i l l sie aber eben aus diesem Grunde besonderer staatlicher Kontrolle und Aufsicht unterwerfen 2 1 . Ähnliche Motive scheinen auch die Stellungnahmen zur Versammlungsfreiheit bei v.Held zu bestimmen, für den das Versammlungsrecht zwar einerseits eine Folge der menschlichen individuellen Freiheit ist, Volks18

Zoepfl, Grundsätze, 1841, S. 118. Zoepfl, Staatsrecht, 4. A u f l . 1856, Bd. I I , S. 222 f., allgemein zur E i n schränkung der Grundrechte gegenüber 1848 „auf das, was als zweckmäßig u n d verträglich m i t dem monarchischen Prinzipe u n d den bestehenden sozialen Zuständen schien" i n den Verfassungsurkunden nach 1850; a.a.O., I I , S. 662 ff. zur Einschränkung der Vereins- u n d Versammlungsfreiheit, insbesondere gegen die Organisation der politischen Vereine, „wodurch diese als eine A u t o r i t ä t neben der Staatsautorität erscheinen möchten", dort auch B i l l i g u n g der Einschränkungen f ü r die Versammlungen politischer Vereine u n d Volksversammlungen u n d der Pflicht der Versammlungsleitung, „ausschweifenden Rednern das W o r t zu entziehen u n d die Versammlung bei Gefahr einer Unordnung aufzulösen". 20 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, 1851, S. 699—703; vgl. auch A l l g e meines Staatsrecht, 3. A u f l . 1863, Bd. I I , S. 535—540 (Hervorhebungen i m Original). Bluntschli empfiehlt das System des generellen Verbots m i t A u s nahmevorbehalt vor allem f ü r die kleineren Staaten, bei denen er die Gefahr der Anmaßung staatlicher Gewalt f ü r größer hält u n d die Vorteile der Volksversammlungen neben den „organischen" Vertretungskörperschaften gering anschlägt. 21 F ü r das Mißtrauen gegen die „unorganischen Volksversammlungen" bei Bluntschli dürften neben seinem organischen Staatsverständnis auch die Erfahrungen m i t den freien schweizerischen Volksversammlungen nach 1830, die sich i n weitem Umfang Souveränitätsrechte anmaßten, eine Rolle spielen. Z u m schweizerischen Versammlungswesen der Regenerationszeit vgl. Hoerni, a.a.O., S. 22 ff., S. 29 ff. 19

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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Versammlungen aber andererseits wegen ihrer besonderen politischen Wichtigkeit und Gefährlichkeit stets nur unter bestimmten Beschränkungen zulässig sind 2 2 .

3. Die Betonung der positiven Funktionen des Versammlungsrechts

Steht bei den vorgenannten Autoren trotz oder sogar wegen seiner politischen Bedeutung die Beschränkbarkeit des Versammlungsrechts i m Vordergrund, so finden sich doch mit dem Abklingen der reaktionären Stimmung nach 1850 auch Stimmen in der Literatur, die die positive und staatsaufbauende Wirkung des freien Vereins- und Versammlungsrechts herausstellen. So bezeichnet v. Schulze-Gävernitz das Vereinigungsrecht, unter dem er Vereins- und Versammlungsfreiheit zusammenfaßt, als „wichtiges Grundrecht, ohne dessen Anerkennimg vor allem ein politisches Leben der Nation undenkbar ist" 2 3 . Er fordert deshalb auch ihre urkundliche Verbriefung als notwendige Konsequenz der konstitutionellen Staatsordnung, „indem die Repräsentatiwerfassung überall ein Spielwerk bleibt, wo nicht das Recht der freien Meinungsäußerung, das Vereins- und Versammlungsrecht der Bürger anerkannt ist" 2 4 . Deutlicher noch und i n differenzierter Würdigung t r i t t der positive Aspekt des freien Vereins- und Versammlungsrechts bei Brater hervor. Dies zeigt sich bereits i n dem abgewogenen Urteil und dem klaren Verständnis der spezifischen politischen Bedeutung und Wirkungsweise freier Versammlungen und Vereine, wenn er schreibt: „Die Vereine und Versammlungen, mit welchen sich Deutschland i m März 1848 bedeckte, haben unläugbar viel leeres Stroh gedroschen, demungeachtet waren ihre Bestrebungen keineswegs unfruchtbar. Von ihnen sind die Reformprogramme ausgegangen, die dann i n der Gesetzgebung der Einzelstaaten mehr oder weniger zur Verwirklichung gelangten" 25 . 22 v.Held, System des Verfassungsrechts, 1857, Bd. I I , S. 583 ff.; vgl. auch ders., Staat u n d Gesellschaft, Bd. I I , S. 587 u n d die dortige Bemerkung, daß die nichtpolitischen Vereine u n d Versammlungen i n den Gesetzen eigentlich n u r erwähnt wurden, damit die Vereins- u n d Versammlungsgesetze nicht bloß von Beschränkungen sprächen. 23 H. Schulze, Deutsches Staatsrecht, 1881, B. I , S. 386. 24 v. Schulze-Gävernitz, Preußisches Staatsrecht, 2. A u f l . 1888, Bd. I , S. 369; man vergleiche allerdings damit die Bemerkung Schulzes i n seiner Bearbeitung des Reichsstaatsrechts (Deutsches Staatsrecht, 1881, Bd. I , S. 369), daß die Reichsverfassung von 1871 m i t richtigem T a k t darauf verzichtet habe, Grundrechte festzustellen, die sich über „einige nichtssagende Phrasen" k a u m hätten erheben können. 2« Brater, a.a.O., X , S. 766.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Presse und Volksvertretungen allein hätten nicht genügt, die Reformforderungen durchzusetzen, wie überhaupt i n Staaten, die eine konstitutionelle Verfassung besäßen oder für sie reif seien, große und eingreifende Neuerungen selten zustande kommen könnten, ohne daß diese „Organe der öffentlichen Meinung" sich den entsprechenden Gedanken zu eigen gemacht hätten und dadurch der ihn vertretenen parlamentarischen Partei zum Siege verhülfen 2 6 . Brater sieht die Gefahren des freien Vereins- und Versammlungsrechtes durchaus, er sucht ihre Ursachen aber vor allem i n der mangelnden politischen Bildung des Volkes wie in der Tatsache, daß die Vereins- und Versammlungsfreiheit bisher i n Deutschland vor allem von den radikalen und liberalen Parteien i n Anspruch genommen worden sei, deren Führern die entsprechende Regierungserfahrung abgegangen sei 27 . Diese Gefahren dürften nicht überbewertet werden, da es keine gute Sache gebe, die nicht auch zu schlechten Zwecken mißbraucht werden könne. Für die Gesetzgebung eines der absolutistischen Staatsform entwachsenen Staates habe jedenfalls der Grundsatz der Freiheit für politische wie nichtpolitische Assoziationen zu gelten. Von dieser Basis aus kritisiert Brater das positive Vereins- und Versammlungsrecht, wobei er für die damalige Zeit (1865) außerordentlich progressive Ansichten vertritt. So meint er, das Verbot der Anwesenheit von Frauen i n politischen Versammlungen sei überflüssig, man solle diese Frage lieber der Sitte überlassen 28 . Ebenso sei es ausreichend» die Genehmigung von Versammlungen unter freiem Himmel durch eine Anzeige zu ersetzen, damit die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen von Seiten der Polizei getroffen werden könnten. Gerade bei Versammlungen unter freiem Himmel, die durch die Masse ihrer Teilnehmer w i r k e n sollten, sei es unzulässig, sie vom Belieben der Polizei oder der sie inspirierenden Oberbehörde abhängig zu machen 29 . Es ist k e i n Zufall, daß Brater v o r allem auf das englische V o r b i l d der public meetings and associations eingehend Bezug n i m m t u n d sich dabei auf die englische Verfassungsgeschichte von May stützt. Die W ü r d i g u n g der Rolle öffentlicher Versammlungen u n d politischer Vereine durch M a y w i r d bei Brater aufgenommen u n d beeinflußt seine Auffassung sehr deutlich. Brater, a.a.O., X , S. 768 befürwortet deshalb auch eine verbesserte p o l i tische Unterrichtung des Volkes, ohne d a r i n ein A l l h e i l m i t t e l zu sehen. 28 Vgl. aber auch den Hinweis auf die mögliche Rechtfertigung einer solchen Beschränkung unter dem Gesichtspunkt des fehlenden aktiven Bürgerrechts der Frauen, a.a.O., X , S. 769. 2 ® a.a.O., X , S. 769, 770, i n diesem Zusammenhang k r i t i s i e r t Brater auch die polizeiliche Aufsicht über die nichtöffentlichen Versammlungen u n d Ausschußsitzungen politischer Vereine l i n d die weiten Befugnisse der Polizei, aufgrund so vager Vermutungen w i e „Anreizung zu strafbaren Handlungen" Versammlungen aufzulösen. Wie w e i t diese Forderungen ihrer Zeit voraus waren, läßt sich daran erkennen, daß sie erst durch das Reichsvereinsgesetz, z. T. erst durch die Gesetzgebung der Weimarer Zeit, e r f ü l l t wurden.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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So stark Brater auch den politischen Funktionswert des freien Vereins- und Versammlungsrechts hervorhebt, sieht er doch auch sehr klar die Grenzen eines solchen funktionalen, positiven Verständnisses. Dies kommt i n seiner höchst bemerkenswerten K r i t i k an der Vereinslehre Lorenz v. Steins zum Ausdruck. Stein w i l l unter Betonung der positiven, staatsaufbauenden Wirkung der Vereine diese zu einem Organismus der Verwaltung „wie die Gemeinde und das A m t " machen. Auf dieser Grundlage hält Stein sämtliche politischen Vereine, die eine Änderung der Verfassung bezwecken, überhaupt für unzulässig und w i l l auch alle übrigen Vereine der Regierungsgenehmigung unterstellen, da der Staat darüber entscheiden können müsse, „ob er den Verein als mitarbeitendes Organ brauchen kann oder nicht" 3 0 . Brater lehnt diese Auffassung m i t einer geradezu modern wirkenden Begründung ab. Räume man der Staatsgewalt eine so weitgehende Befugnis ein, so werde jeder entwickelnde, fortbildende Einfluß des Vereinswesens auf den Staatsgeist abgeschnitten. Konsequenterweise müsse diese Auffassung dazu führen, jede Tätigkeit des einzelnen Privatmannes, die sich öffentlichen Angelegenheiten zuwende, beispielsweise auch die Tätigkeit der Presse, ins System der Staatsverwaltung einzureihen und denselben Beschränkungen zu unterwerfen. Hierdurch würden „Organe des öffentlichen Lebens", die unabhängig vom Staatsw i l l e n entstanden seien, zu Organen des Staates gemacht. Es müsse aber neben der Tätigkeit i n staatlichen Ämtern, den Vertretungskörpern und dem Heer „die Möglichkeit einer freien, gleichfalls den Interessen des Gemeinwesens zugekehrten, aber nicht i m Dienste desselben stehenden Thätigkeit unverkümmert sein". Assoziation und Presse seien die wichtigsten Formen solcher Tätigkeit. Man verneine ihr Wesen, wenn man sie zu Werkzeugen der Staatsgewalt stempele 31 . Die Erörterungen Braters zum Versammlungsrecht, seiner politischen Bedeutung und der Notwendigkeit seiner Freiheit vom Staat trotz aller Bezogenheit auf das Gemeinwesen sind hier etwas ausführlicher dargestellt worden, w e i l sie für ein modernes Verständnis der Versammlungsfreiheit auch i m demokratischen Staat i n vieler Hinsicht richtungsweisend erscheinen. I n ihrer Zeit bilden sie allerdings eine geradezu einzigartige Ausnahme 32 . 3° L . v. Stein, Verwaltungslehre, Leipzig 1865, Bd. I , S. 226, 535, 539, 573,

618, 621.

31 Brater, a.a.O., X , S. 760 f. 32 i n einem umfassenderen u n d w e i t über die Versammlungsfreiheit h i n ausreichenden Sinne hat auch Otto v. Gierke i m ersten B a n d seines Genossenschaftsrechts von 1868 die positiven W i r k u n g e n der freien Assoziationsidee hervorgehoben, w e n n er schreibt (a.a.O., I , S. 655): „ V o r allem den Staat selbst hat sie ins V o l k zurückzuverlegen begonnen, indem sie m i t der repräsentativen Verfassung, der öffentlichen K o n t r o l l e der Verwaltung, der Theilnahme des Volkes an der Rechtserzeugung u n d der

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit 4. Die Verengung auf das Verwaltungsrecht

Obwohl sich, wie gezeigt, in der Literatur zum Versammlungsrecht i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus Stimmen finden, die die positive Mitwirkungsfunktion des freien Versammlungsrechts herausstellen, bilden sie doch die Ausnahme. Insgesamt verliert sich i n der Lehre der aktive, staatsgestaltende Zug i m Verständnis der Versammlungsfreiheit, der noch bei den liberalen Autoren vor 1848 zu beobachten war. Dazu trägt die Tatsache nicht unerheblich bei, daß die Begründer des staatsrechtlichen Positivismus, Gerber und Laband, und ihnen folgend eine ganze Anzahl von Autoren, den Grundrechten die Eigenschaft subjektiver Rechte überhaupt absprachen und i n ihnen lediglich Sätze des objektiven Rechts sahen, durch die sich die Staatsgewalt selbst binde 3 3 . Versammlungen zu veranstalten und an ihnen teilzunehmen, ist nach diesem Grundrechtsverständnis keine rechtliche Kompetenz, kein verliehenes oder durch die Rechtsordnung anerkanntes Recht, sondern nur eine natürliche Fähigkeit. „Das ganze Vereins- und Versammlungsrecht besteht ausschließlich i n Beschränkungen dieser Fähigkeit 3 4 ." Soweit i n den Verfassungen derartige Rechte verbürgt sind, werden sie als historische Reminiszenzen behandelt, die an ehemalige Unterdrückungen erinnern 3 5 . Die „Staatsgrundlegungsrichtung" (Leisner), die den Grundrechtskatalog der Paulskirche gekennzeichnet hatte, ist damit endgültig aufgegeben. Diese Bedeutung der Grundrechtsverbürgungen geht i m positivistischen Grundrechtsverständnis auch bei jenen Autoren, die die Grundrechte weiterhin als subjektive Rechte ansehen, verloren. Für die Sicherung der natürlichen Freiheit der Bürger i m Rahmen der Gesetze glaubt man auf die „Krücken" einer urkundlichen Fixierung i n der Verfassung verzichten zu können 3 6 . V i e l besser als durch „einige Wiederherstellung einer v o l k s t ü m l i c h e n Rechtsprechung i m Strafprozeß, der Idee, daß der Staat nichts anderes als das organisierte V o l k ist, Ausdruck gegeben u n d diesen Staat unter obrigkeitlicher Spitze, aber auf der Grundlage einer Genossenschaft der Staatsbürger gebaut hat." 33 Meyer-Anschütz, Staatsrecht, 7. Aufl., S. 953 f. u n d die dortige Übersicht über die L i t e r a t u r zu dieser Streitfrage, die die Staatsrechtslehre i n zwei Lager spaltete. 34 Laband, Z u m E n t w u r f des RVG, D J Z 1908, Sp. 106. 3 5 Laband, Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. I, S. 141; vgl. auch Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 2. Aufl., Bd. I, S. 301: „ I m Grunde genommen sind diese sämtliche Rechte u n d Freiheiten n u r Ausdrücke des sehr bekannten Satzes, daß Alles erlaubt ist, was rechtlich nicht verboten ist . . . Die erwähnten Begriffe sind nicht logisch, sondern geschichtlich zu erklären. Sie bezeichnen nämlich die Thatsache, daß früher einmal etwas verboten war, was jetzt erlaubt ist, oder umgekehrt, sowie die Absicht des Herrschers, dergleichen Bestimmungen nicht mehr zu erlassen." 36 Bornhak, Grundriß des deutschen Staatsrechts, 1907, S. 45.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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nichtssagende Phrasen" 3 7 einer verfassungsrechtlichen Verbürgung ist die natürliche Handlungsfreiheit durch eine detaillierte Gesetzgebung zu schützen 38 . Die Bedeutung der Grundrechte schrumpft dabei auf eine Bindimg der staatlichen Behörden an das Gesetz. So besteht der politische Zweck der Versammlungsgesetzgebung für Bornhak i n der Sicherung der Hauptfreiheit der Untertanen innerhalb der gesetzlichen Schranken durch Verweisung der Behörden auf gesetzliche Schranken 39 . Was innerhalb dieser Schranken geschieht, ist für den Staat uninteressant, es sind für den Staat neutrale Handlungen der Untertanen. Sehr deutlich kommt dies bei Dantscher v. Kollesberg zum Ausdruck, der dem Versammlungsrecht deshalb auch die Eigenschaft eines politischen Rechtes abspricht. Die Tatsache, daß durch die Bildung von politischen Vereinen und die Einberufung und Abhaltung von Volksversammlungen eine entfernte Gefahr, selbst daß durch sie eine A r t elementarer Gewalt geschaffen werde, mache diese Handlungen noch nicht zu Handlungen gegenüber der Staatsgewalt, zu Eingriffen in die Sphäre und Handlungsfreiheit des Staates. Der Staat lege sich zwar deshalb i n seinem öffentlichen Rechte Befugnisse gegenüber diesen Tätigkeiten seiner Bürger zu, wie das Recht der Überwachung, Auflösung und Bestrafung, das ändere jedoch nichts daran, daß es sich i m Grunde u m neutrale Betätigungen handele, sonst werde eine jede Betätigung individueller Freiheit wie Essen, Trinken und freie Bewegung zu einem besonderen politischen Rechte gegen die Staatsgewalt gestempelt 40 . Ähnlich schreibt Seydel: „Sich versammeln . . . heißt also nichts anderes, als i n einer bestimmten Weise diejenige Freiheit des Wollens und Handelns bethätigen, die jedem Menschen innerhalb der Gesetze zukömmt. A n sich kann daher von einem besonderen ,Rechte4 sich zu versammeln . . . nicht die Rede sein." Es handele sich insoweit weder u m Rechte noch um öffentliche Rechte. Dem öffentlichen Recht gehörten nur die polizeilichen Beschränkungen, denen Versammlungen unterliegen, an. Das Vorhandensein solcher polizeilicher Eingriffsrechte mache das Gebiet privaten Handelns, auf das es sich beziehe, natürlich nicht zum Bestandteil des öffentlichen Rechtsgebietes41. 37 Schulze, Deutsches Staatsrecht, 1881, I , S. 369. 38 Sarwey, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, S. 176: „Einen j u r i stisch faßbaren I n h a l t erhalten sie (seil, die Grundrechte) erst durch die Ausführungsgesetze." Die Darstellung w i r d dabei ins Verwaltungsrecht verwiesen. a.a.O., S. 197. 39 Bornhak, 40

Preußisches Staatsrecht, 1890, Bd. I I I , S. 162.

Dantscher v. Kollesberg, 2. Lieferung, S. 100 ff., 103. 41

Politische Rechte, 1. Lieferung, S. 87 ff., 88;

Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 2. Aufl. 1896, Bd. I I I , S. 49 f.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Die Versammlungsfreiheit geht so i n der allgemeinen rechtsstaatlichen Freiheit von gesetzlich nicht begründetem Zwang auf oder, wenn man w i l l , unter. So ist auch bei Georg Jellinek, bei dem die Grundrechtsdiskussion jener Jahre einen vorläufigen Abschluß erfährt, die Versammlungsfreiheit nur ein Teil des allgemeinen „status negativus" des Bürgers. Jellinek schreibt: „ W i r wissen heute, daß die Freiheitsrechte nicht positiver, sondern negativer Natur sind, daß sie nicht Anspruch auf ein Tun, sondern ein Unterlassen begründen. Darin allein liegt ihre praktische Bedeutung 42 ." Sehr klar kommt dies auch bei Anschütz zum Ausdruck, i n dessen Kommentar zur Preußischen Verfassungsurkunde es über die Versammlungsfreiheit heißt: „Dieses Recht ist auf Abwehr staatlicher Eingriffe i n die persönliche Freiheit, nicht aber auf die Anteilnahme an der Bildung des Staatswillens gerichtet, es hat also m i t den staatsbürgerlichen oder politischen Rechten nicht das mindeste zu tun 4 3 ." Das spezifische Versammlungsrecht besteht ausschließlich i n den gesetzlich zulässigen polizeilichen Beschränkungen des allgemeinen Freiheitsrechts, die Versammlungsfreiheit i n dem subjektiven öffentlichen Recht, alle Beschränkungen von Seiten der Polizei, die i m Gesetz nicht begründet sind, zurückzuweisen. M i t dieser Reduktion der Grundrechte auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, d. h. der Bindung der Behörden an das Gesetz, werden die Grundrechte selbst zu Verwaltungsrecht 44 . Diese Verengung des Grundrechtsverständnisses macht sich auch bei jenen Autoren bemerkbar, die am subjektiven Rechtscharakter der einzelnen Grundrechte festhalten. So sind auch für Georg Meyer die individuellen Freiheitsrechte nur Schranken für die verwaltende Tätigkeit des Staates, und zwar speziell für die innere Verwaltung, nicht aber die Gesetzgebung, da sie, wenn auch i n Form der Verfassungsänderung, aufgehoben werden können 4 6 . Eine erschöpfende Darstellung ihres Inhalts soll wegen dieser Richtung auch nur i n einem System des Verwaltungsrechts gegeben werden können. Ähnlich verweist auch H.Schulze die Darstellung des „technischen Details" der Grundrechte in die Lehre vom Strafprozeß, Verwaltungs- und Polizeirecht 46 . 42 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff., ähnlich Anschütz, Enzyklopädie, S.89f.; K o m m e n t a r Preuß. Verf. Urk., S.96f. Nach dieser Auffassung ist zwar nicht jede i n der Verfassung verbriefte Freiheit ein individualisierter öffentlichrechtlicher Anspruch, aber alle diese F r e i heiten sind Ausfluß des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der als solcher Quelle eines ebenso allgemein subjektiven öffentlichen A b wehrrechts ist. 43 Anschütz, K o m m e n t a r Preuß. Verf. Urk., S. 527. 44

Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 38 ff., 45. « G. Meyer, Deutsches Staatsrecht, 6. A u f l . 1905, S. 801 Note 6. 46 Schulze, Deutsches Staatsrecht, 1881, Bd. I , S. 369; v. Schulze-Gävernitz,

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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Das Versammlungsrecht w i r d auf diese Weise fast ausschließlich zu einem polizeilichen Problem. Die Möglichkeit, sich zu versammeln ist frei und für den Staat ohne Belang, soweit sich die Bürger i m Rahmen der Gesetze bewegen. Nur soweit die Bürger sich politisch betätigen, werden ihre Versammlungen der Überwachung und Kontrolle durch den Staat unterstellt und gewissen Beschränkungen unterworfen. Das Wesen der entsprechenden positiven Normen liegt darin, die Polizei bei der Beschränkung und Überwachung der natürlichen Freiheit der Bürger, Versammlungen zu veranstalten und an ihnen teilzunehmen, an die Gesetze zu binden. Die darin zum Ausdruck kommende Haltung ist nicht notwendig freiheitsfeindlich. Sicherlich spricht aus den oben erörterten Stellungnahmen von Zoepfl, Bluntschli und Held noch deutlich das obrigkeitstaatliche Mißtrauen gegen die freie politische Tätigkeit der Bürger in Vereinen und Versammlungen, eine Einstellung, die sich auch noch aus manchen Bestimmungen der Versammlungsgesetze jener Zeit ablesen läßt. Insgesamt aber geht die Tendenz i n Gesetzgebung und Lehre gegen Ende des 19. Jahrhunderts dahin, auch die polizeilichen Beschränkungen des politischen Versammlungsrechts abzubauen. Das zeigen die relativ freiheitlichen Bestimmungen des Reichsvereinsgesetzes recht deutlich. Das Versammlungsrecht bleibt darin zwar grundsätzlich Polizeirecht, aber das Versammeln w i r d zu einer polizeilich privilegierten Tätigkeit. Es w i r d vor allem jene allgemeine polizeiliche Kompetenz, die aus dem allgemeinen Oberaufsichtsrecht 47 der Staatsgewalt gefolgert und gegen politisch mißliebige Versammlungen und Vereine i n Anspruch genommen wurde, gesetzlich eingeschränkt. Gerade die K r i t i k von Laband 48 am Entwurf des Reichsvereinsgesetzes zeigt klar, daß die positivistische und rein polizeirechtliche Betrachtung des Versammlungsrechts keineswegs m i t einer autoritären und freiheitsfeindlichen Haltung identisch ist. Laband geht dabei davon aus, daß eine reichseinheitliche Regelung nicht primär zur Beseitigung der Rechtszersplitterung erforderlich sei, sondern vor allem, u m bestimmte obrigkeitsstaatliche Überbleibsel des Vereins- und Versammlungsrechts zu entfernen. Er wendet sich gegen die „reaktionär-bürokratischen" Kritiker, die den Entwurf wegen seiner Freiheitlichkeit angreifen und i n dem Abbau der polizeilichen Befugnisse eine Gefahr für den Staat sehen. Diese polizeilichen Beschränkungen stammten aus Preußisches Staatsrecht, 2. A u f l . 1888, Bd. I , S. 367, w o allerdings darauf hingewiesen w i r d , daß die Freiheitsrechte notwendig i n ihren Fundamenten i n der Lehre von der öffentlichen Rechtsstellung der Staatsbürger ihren Platz hätten. 47 So noch v. Sarwey, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. I , S. 214 f. 48 Laband, J Z 1908, Sp. 1—9.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

einer Zeit, i n der die Regierungen vor jeder freien Betätigung des Volkes eine Furcht gehabt hätten, welche heute lächerlich erscheine. Es sei der Geist der Wiener Schlußakte, der Karlsbader Beschlüsse und der Reaktion auf die Bewegung von 1848, der hier zum Ausdruck komme, die Angst vor der Revolution „wie heut vor der Sozialdemokratie". Die Erfahrung habe gezeigt,daß man tiefgreifende Strömungen durch kleinliche Polizeimittel und Schikanen nicht aufhalten könne. Der einzige Maßstab als Begrenzimg für die „dem Menschen von Natur aus gegebene Fähigkeit, Vereine zu gründen und Versammlungen zu veranstalten", den Laband gelten läßt, ist das Bedürfnis der öffentlichen Ordnung. Er billigt deshalb die Abschaffung der polizeilichen Überwachung der Versammlungen politischer Vereine, die die bisherige Gesetzgebung allgemein vorsah, indem sie auch interne Versammlungen politischer Vereine dem gleichen Regime wie öffentliche politische Versammlungen unterstellte. Von seinem natürlichen Freiheitsbegriff her durchaus konsequent, beanstandet er die Beschränkung des Vereinsund Versammlungsrechts auf die deutschen Staatsbürger. Als einzige Gefahren, durch die die i m Gesetz vorgeschriebene Anzeige für öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen und das Erfordernis der Genehmigung für Versammlungen unter freiem Himmel zu rechtfertigen sei, sieht er Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit und den Verkehr an, wobei das Vorliegen solcher Gefahren objekt i v zu beurteilen sei und nicht als schikanöser Vorwand gebraucht werden dürfe. Auch die Pflicht, für Versammlungen, die öffentliche Angelegenheiten erörtern wollen, einen Leiter zu bestellen, sieht er nicht unter dem obrigkeitsstaatlichen Gesichtspunkt, einen Verantwortlichen zu haben, an den man sich halten kann, sondern allein unter dem ordnungspolizeilichen Gesichtspunkt, daß es nicht angehen könne, „eine Menschenmenge zur Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zusammenzurufen und sie dann völlig sich selbst zu überlassen". Bemerkenswert ist jedoch, daß bei dieser insgesamt außerordentlich liberalen K r i t i k 4 9 nicht auf die positive Bedeutung des freien Versammlungsrechts für den Staat Bezug genommen wird. Es ist eine durch und durch rechtsstaatliche, aber der demokratischen Mitwirkungsfunktion freier Versammlungen völlig fremd gegenüberstehende Betrachtungsweise, die sich hier manifestiert. I n dieser Anschauung spiegelt sich die politische und soziale Situation i n Deutschland nach dem Scheitern der liberalen Revolution von 1848. Man gewährt, vor 4» A u f die liberalen Züge des Labandschen Staatsrechts weist v. Oertzen, Die Bedeutung v. Gerbers f ü r die deutsche Staatslehre, i n : Festgabe für R. Smend, S. 183 ff., 186 hin. Vgl. auch die dortigen allgemeinen A u s f ü h r u n gen zur Ambivalenz des deutschen Positivismus u n d die K r i t i k an der einseitigen Interpretation dieses Staatsdenkens als autoritär u n d freiheitsfeindlich.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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allem i m gesellschaftlichen und privaten Bereich, eine weitgehende und rechtsstaatlich gesicherte Freiheit. Dabei w i r d auch anerkannt, daß diese Freiheit für den konstitutionellen Staat wesentlich ist und ihn vom Absolutismus unterscheidet, es bleibt aber i m Grunde eine Freiheit vom und gegen den Staat, nicht zum Staat. Man mag selbst das obrigkeitsstaatliche Mißtrauen gegen die politische Tätigkeit der Bürger abbauen und sich i m wesentlichen darauf beschränken, durch polizeiliche M i t t e l den reinen Gefahren für öffentliche Ordnung, Sicherheit und den allgemeinen Verkehr vorzubeugen, die Versammlungen nun einmal m i t sich bringen. Die Möglichkeit, sich zu versammeln, bleibt ausschließlich eine natürliche und i m Grunde neutrale Fähigkeit der Bürger. Aus ihrer politischen Bedeutung werden keine Konsequenzen für eine juristische und staatstheoretische Bestimmung von Inhalt und Umfang dieser Befugnis gezogen.

I V . Das Problem der Versammlungsordnung i n der L i t e r a t u r

Bei der fast ausschließlichen Betrachtung des Versammlungsrechtes unter polizeilichen Gesichtspunkten, die für diese Epoche kennzeichnend ist, überrascht es nicht, daß das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen kaum erörtert wird. Das rein negative und individualistische Grundrechtsverständnis des Positivismus bietet kaum einen Zugang zum Problem der inneren Ordnung und Organisation kollektiven Gruppenhandelns. Sieht man i n der Versammlungsfreiheit nur den Ausdruck der natürlichen Betätigungsfreiheit der Bürger i m Rahmen der Gesetze und ignoriert dabei die staatsaufbauende politische Bedeutung dieses Grundrechts, so ist es auch weitgehend gleichgültig, ob und wie öffentliche Versammlungen intern organisiert sind, ob sich Leiter und Teilnehmer derartiger Versammlungen an demokratische Spielregeln halten oder nicht. Solange nicht die Polizeigüter der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Rechte Dritter oder die Herrschaftsinteressen der Staatsgewalt tangiert sind, besteht kein A n laß für den Gesetzgeber, sich überhaupt um die Regelung und Ausgestaltung der internen Ordnung von Versammlungen zu kümmern. Es ist deshalb bezeichnend, daß die einzige tiefer dringende Erörterung des Problems der Versammlungsordnung — die wenigen Hinweise i n den Kommentaren und Beratungen zu § 10 RVG fallen kaum ins Gewicht — sich nicht i m Rahmen der Erörterung über die Rechte der Staatsbürger oder die „höhere Sicherheitspolizei" findet, wo das Vereins- und Versammlungsrecht i n den Lehrbüchern des Staatsrechts üblicherweise abgehandelt wird, sondern i m Rahmen einer Betrachtung über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

I n Haenels Staatsrecht von 1892 w i r d die bürgerliche Gesellschaft als Summe der gesellschaftlich aufeinander wirkenden menschlichen Kräfte, die sich i n den vom Staate unterschiedenen Organisationsformen der freien Anpassung, der Familie, der korporativen Verbände, der Grund- und Schutzherrschaft betätigen, definiert 6 0 . Der Staat soll und vermag dabei nicht mehr, als über und i n der bürgerlichen Gesellschaft eine Friedensordnung zu schaffen 61 . Da es jedoch i n der Natur korporativer Verbände liegt, ein eigentümliches, m i t der Struktur des Staates selbst wesensgleiches Gewaltverhältnis zu erzeugen, ergibt sich für den Staat die Notwendigkeit, sich m i t diesen korporativen Bildungen i n ein spezifisches Verhältnis zu setzen, vor allem, sie i n die allgemeine Rechtsordnimg einzureihen, einmal wegen der die Individualkraft überragenden Einwirkungsmöglichkeiten solcher Verbände, zum anderen aber auch wegen der möglichen Durchkreuzung der Staatsaufgaben durch sie 52 . Als notwendiges Element der Kulturentwicklung und wegen seiner Leistungskraft ist das Vereinswesen vom Staat jedoch anzuerkennen 63 . Haenel gliedert dabei das Vereinswesen in drei Gruppen, die korporative Selbstverwaltung, das freie Vereinswesen und die kirchlichen Verbände, zu denen der Staat jeweils i n einem spezifischen Verhältnis steht 54 . Während für die korporative Selbstverwaltung ihre Angliederung an Aufgaben und Organisation des Staates kennzeichnend ist, begründet gerade das Fehlen eines solchen Verhältnisses die Freiheit des Vereinswesens 65 . Die freien Vereine werden wiederum untergliedert, wobei die für unsere Untersuchung wichtigste Unterscheidung die nach rechtlichen Formen ist. Haenel teilt unter diesem Gesichtspunkt die freien Vereine i n zwei Gruppen: l . d e n korporativenVerband, der entweder nur ein inneres Rechtsverhältnis zwischen seinen Organen und Mitgliedern darstellt 6 6 , oder aber zugleich auch mit rechtlicher Wirksamkeit gegen Dritte m i t juristischer Persönlichkeit ausgestattet ist und 2. die Gesellschaft, die keine korporative Organisation besitzt. Auch innerhalb dieser beiden Grundformen werden weitere typische Gestaltungen unterschieden. „ A l l e i n hinzutritt noch ein weiterer eigentümlicher Typus: die Versammlung* 1" Sie entsteht korporativ überall da,

st 52 53 54 55

Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1892, Bd. I , S. 131. a.a.O., I, S. 132. a.a.O., I , S. 133. a.a.O., I, S. 134. a.a.O., I , S. 134 f. a.a.O., I, S. 145.

56 Haenel verweist i n diesem Zusammenhang auf den nichtrechtsfähigen Verein als Prototyp eines solchen Verbandes. a.a.O., I , S. 146. 57 a.a.O., I , S. 147, dort auch zum folgeden.

4. Kap.: Die Entwicklung bis zum Reichsvereinsgesetz von 1908

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wo nicht nur eine planlose Ansammlung oder eine passive Assistenz bei Leistungen Dritter gegeben ist. Bei einer „derartigen Versammlung i m engeren Sinne gliedern sich die Beteiligten nach Organen und M i t gliedern, um durch leitende Funktionen der einen und mitwirkendes Verhalten der anderen einen gesetzten Zweck zu erreichen". Die Versammlung ist nach Haenel ein korporativer Augenblicksverband 58 . Die Verpflichtungen der Organe und Mitglieder beschränken sich i m wesentlichen auf die Herstellung einer äußeren Ordnung. Aus der flüchtigen Natur dieser Beziehungen ergibt es sich, daß Verletzungen der Ordnung regelmäßig nicht geeignet sind, eine Wiederherstellung des Rechts oder rechtlichen Ausgleich zuzulassen. Ein staatlicher Rechtsschutz kann daher meist, wenn nicht besondere Tatumstände vorliegen, nur i m Wege des Strafrechts oder polizeilichen Eingreifens gewährt werden. „ U n d so liegt hier die Eigentümlichkeit vor, daß ein seinem innern Verhältnis nach privatrechtliches Verhältnis nur insofern Rechtsschutz findet, als seine Verletzung zugleich den Thatbestand einer Verletzung der öffentlichen Rechtsordnung darstellt." Die Ausführungen Haenels sind, soweit ersichtlich, die einzigen i n der Literatur, die das Problem der Versammlung und ihrer Ordnung überhaupt als Verbandsproblem erkennen und erörtern und es dabei zugleich auch bewußt i n den Rahmen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und des Staates zu den Verbänden und nicht, wie dies üblich ist, i n das Verhältnis von Staat und Individuum stellen. Dabei ist nicht zu verkennen, daß Haenel hierbei von einer deutlichen Trennung von Staat und Gesellschaft ausgeht, die gerade für den modernen Staat höchst problematisch geworden ist. Von Haenels Ausgangspunkt war es selbstverständlich, die Versammlung als „ein seinem inneren Verhältnis nach privatrechtliches Verhältnis" zu begreifen. Gerade die Wandlung der korporativen Selbstverwaltung, die für Haenel noch eine i m Grunde staatsunabhängig entstandene, vom Staate nur angegliederte Verbandsstruktur besaß, zur modernen, staatsintegrierten Selbstverwaltung zeigt jedoch deutlich die tiefgreifenden Wandlungen i m Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Die moderne Entwicklung des Rechts öffentlicher Versammlungen rückt diese aus einem rein privaten Bereich i n eine merkwürdige Nähe zu Selbstverwaltungsorganisationen des 19. Jahrhunderts, eine Erscheinung, der vor allem i m Hinblick auf die Bestimmung der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen noch nachzugehen sein wird. 58 Die Bezeichnung korporativ ist hier nicht i n dem Sinne zu verstehen, w i e sie oben S. 31 f. f ü r die mittelalterlichen Verbandsstrukturen verwendet wurde. K o r p o r a t i v ist hier vielmehr i m Sinne von „körperschaftlich" i m Gegensatz zu „anstaltlich" aufzufassen. Insofern besteht auch kein Gegensatz zu der oben (S. 33) aufgestellten Behauptung, die freie ad hoc gebildete Versammlung sei der Idealtypus eines assoziativen Verbandes.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit Fünftes

Kapitel

Die Versammlungsfreiheit in der Weimarer Zeit I . D i e positivrechtliche Entwicklung

Das Reichsvereinsgesetz enthielt, trotz seines insgesamt recht freiheitlichen Charakters, doch noch eine ganze Anzahl von Beschränkungen, die vor allem i n der polizeilichen Praxis gegen die politische Linke immer wieder zu Mißhelligkeiten führten 1 . So ist es zu verstehen, daß i m Rahmen der revolutionären Umwälzungen der Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 (RGBl S. 1313) apodiktisch „ m i t Gesetzeskraft" erklärte: „Das Vereins- und Versammlungsrecht unterliegt keiner Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter 2 ." Die rechtliche Tragweite dieser Bestimmung blieb allerdings i m einzelnen umstritten und bildete einen Gegenstand lebhafter Diskussion, da bei jeder einzelnen Bestimmimg des RVG geprüft werden mußte, ob sie eine Beschränkung des Vereins» und Versammlungsrechts darstellte oder nicht. A u f die Frage der Weitergeltung des § 10 RVG (Pflicht der Bestellung eines Leiters für politische Versammlungen) w i r d dabei weiter unten noch einzugehen sein. Vor allem aber nahm die Reichsverfassung i n ihrem Grundrechtsteil unter dem Abschnitt „Das Gemeinschaftsleben" i n ihrem A r t i k e l 123 die Versammlungsfreiheit als Grundrecht der Deutschen auf. Der betreffende A r t i k e l schließt sich mit seinem Wortlaut: „ A l l e Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln. Versammlungen unter freiem Himmel können durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden" eng an das Vorbild von 1848 an. Das Nebeneinander von verschiedenen Rechtsquellen und die dadurch geschaffene Rechtsunsicherheit führte zu mehreren Versuchen, das Vereins- und Versammlungsrecht neu zu regeln 3 . Die Gesetzentwürfe von 1926 (Drucks. Nr. 2279) und 1929 (Drucks. Nr. 1083) kamen jedoch i m Reichstag nicht zur Verhandlung. 1 v.Jan, a.a.O., S. 10 ff. verweist auf die Schwierigkeiten, die sich aus den insgesamt doch recht erheblichen Veränderungen gegenüber dem früheren partikularen Vereins- u n d Versammlungsrecht ergaben. 2 Die Geltungskraft dieser Bestimmung w a r zunächst umstritten, die h. M . stellte sich aber bald auf den Standpunkt, daß sie geltendes Recht sei. Vgl. v. Jan, a.a.O., S. 15. 3 Die Gesetzgebungskompetenz hierfür stand dem Reiche nach A r t . 7 Ziff. 6 W R V zu.

. Kap.: Die Versammlungsfreiheit n d e m r e e t

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U m den politischen und sozialen Unruhen zu begegnen, sah sich der Reichstag veranlaßt, am 21. Juni 1921 das Gesetz zum Schutze der Republik (RGBl. 385) zu erlassen. Dem zweiten Gesetz dieser A r t vom 25. März 1930 (RGBl. 91) blieb jedoch die entscheidende Wirkung versagt, zumal sich i m Reichstag keine Mehrheit für ein verfassungsänderndes Gesetz fand 4 . Gegenüber dem immer stärker werdenden Radikalismus von links und rechts, der seine Kämpfe i n zunehmendem Maße i n Saal- und Straßenschlachten austrug, blieb die Regierung praktisch machtlos. Es erwies sich i n dieser extremen Situation die Schwierigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit, einer revolutionären inneren Bewegung allein m i t polizeilichen Mitteln zu begegnen. Zugleich zeigte sich aber auch die Unzulänglichkeit des rein formalen Grundrechtsverständnisses des Positivismus, das es den Gegnern der freiheitlichen Verfassungsordnung ermöglichte, die mächtigen Waffen der Vereins- und Versammlungsfreiheit zur Zerstörung der Freiheit selbst zu mißbrauchen 5 . Durch das sogenannte Gesetz zum Schutze von V o l k und Staat, das i n Form einer auf A r t . 48 Abs. 2 WRV gestützten Notverordnung des Reichspräsidenten erging, suspendierte die nationalsozialistische Diktatur auch die Versammlungsfreiheit. Das freie Versammlungsrecht war damit vernichtet. I n der Hand der nazistischen Machthaber wurden Versammlungen zu einem Mittel staatlicher Propaganda und kritikloser Massenbegeisterung pervertiert.

I I . Die Versammlungsfreiheit i n der Lehre der W e i m a r e r Z e i t

Nach dem Zusammenbruch der konstitutionellen Monarchie und mit dem Entstehen der auf die Volkssouveränität gegründeten Weimarer Republik hätte es eigentlich nahe gelegen, die Versammlungsfreiheit als ein spezifisch demokratisches Grundrecht zu interpretieren und hieraus Konsequenzen für die Abgrenzung gegenüber anderen Rechten und für die theoretische und dogmatische Stellung des Versammlungsgrundrechts i m Gesamtsystem der Verfassung zu ziehen. Aber obwohl die politischen und sozialen Voraussetzungen jenes Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, der ausgesprochen und unausgesprochen die Grundrechtstheorie der konstitutionellen Monarchie beherrscht hatte, grundlegend verändert schienen, blieb dieser Wandel für das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der herrschenden Lehre — jedenfalls zunächst — praktisch ohne Wirkung. 4 5

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v. Jan, a.a.O., S. 14. Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 321.

Qui lisch

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit hat sich bekanntlich anfänglich nur sehr zögernd m i t den Grundrechten befaßt 6 . Die erste größere und tieferdringende verfassungstheoretische Untersuchung der Versammlungsfreiheit ist der berühmte Aufsatz von Thoma über „Grundrechte und Polizeigewalt" i n der Festschrift für das Preußische OVG aus dem Jahre 19257. Das darin von Thoma für die Freiheitsrechte speziell am Beispiel Versammlungsfreiheit entwickelte Grundrechtsverständnis ist für die herrschende Lehre der Weimarer Zeit richtungweisend geworden. Für Thoma sind Grundrechte: 1. das allgemeine Freiheitsrecht i m Verfassungsstaat 8 , 2. jedes einem unterstaatlichen Subjekt gegenüber der Staatsgewalt eingeräumte öffentliche oder private subjektive Hecht und 3. jedes zur Sicherung einer bestimmten Betätigung der Freiheit erhobene Grundrecht 9 . Grundrechte sind nur Rechte und Freiheiten der Individuen gegen den Staat 10 . Bei der außerordentlichen Verschiedenheit der i n den Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung aufgenommenen Rechtssätze stellt sich notwendig das Problem ihres juristischen Gehaltes und ihrer Geltung. Die große juristische Unterschiedlichkeit der Grundrechtsverbürgungen macht es unmöglich, sie einheitlich zu beurteilen, es muß vielmehr ein jeder Satz auf „die Goldwaage der juristischen Exegese" gelegt werden, u m zu sehen, was er bedeutet. Thoma unterscheidet dabei einmal nach der Geltungskraft 1. reichsverfassungskräftige Grundrechte ersten Grades, die überhaupt nicht eingeschränkt werden können, 2. reichsverfassungskräftige Grundrechte zweiten Grades, die Einschränkungen nach Maßgabe des A r t . 48 WRV unterliegen, 3. reichsgesetzeskräftige Grundrechte, die nur durch Reichs- nicht aber durch Landesgesetze beschränkt werden können, und schließlich 4. Grundrechte, die nur nach Maßgabe der Gesetze 6

Apelt, a.a.O., S. 297. 7 Thoma hat die dort entwickelten Gedanken später i n seinem Aufsatz „ D i e juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung", i n : Nipperdey, GR I, S. 1—53, weiter ausgeführt u n d i m einzelnen modifiziert. Der folgenden Erörterung des Verständnisses der Versammlungsfreiheit bei Thoma liegen beide Aufsätze zugrunde. 8 Dieses subjektive öffentliche Recht w i r d aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung u n d der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g abgeleitet, wobei betont w i r d , daß es bei einer zu w e i t gespannten Ermächtigung obrigkeitlichen Eingreifens zu einer leeren Schale werde (Thoma, Nipperdey, GR I , S. 15 f.). 9 Thoma, Festschrift OVG, S. 187; Nipperdey, GR I, S. 18. 10 Dieser individualistische u n d rein staatsgerichtete Zug des Thomasdien Grundrechtsverständnisses findet seine klassische Formulierung i n dem Satz: „Grundrechtsverbürgungen sind Stationen i n dem ewig h i n - u n d herflutenden Prozeß ,The m a n versus the State 4 " (Festschrift OVG, S. 187 Note 4).

5. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in der Weimarer Zeit

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gelten, die i m Grunde „leerlaufend" sind, da sie nur aussprechen, was ohnehin gilt und nur rechtsstaatsbetonend wirken 1 1 . Diese Unterscheidungsreihe überschneidet sich m i t einer zweiten nach Umfang und Richtung der Grundrechtsgewährleistung. Thoma führt hierfür das Beispiel der Versammlungsfreiheit des A r t . 123 Abs. 1 WRV an. Dieses Grundrecht sei einmal auf Deutsche beschränkt, also ein staatsbürgerliches oder reichsbürgerliches Grundrecht. Wichtiger als diese Einschränkung ist aber die zweite: obwohl i n A r t . 123 RV eine der Bestimmung des A r t . 124 RV entsprechende Vorschrift, daß das Recht, sich zu versammeln nur „zu Zwecken, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen", garantiert sei, fehle und auch nicht aus dem Worte „friedlich" entnommen werden könne, sei es doch zweifellos, daß die Versammlungsfreiheit nicht zum Verstoß gegen Strafgesetze i n Anspruch genommen werden könne. Eine solche Bestimmung sei aber auch überflüssig, denn man habe es bei der Versammlungsfreiheit mit einer Freiheitsbetätigung zu tun, die nach einem Ausdruck von Otto Meyer allein gegen einen bestimmten Zweig der Staatsgewalt „gemünzt" sei, nämlich gegen die Polizeigewalt. Für Thoma ist die Versammlungsfreiheit daher kein generelles, sondern nur ein spezielles, nur gegen jede öffentliche Gewalt, soweit sie sich materiell als polizeilich erweist, gewendetes Grundrecht. A u f dem Wege über diese i n der Klarheit ihrer juristischen Präzision bestechend wirkenden Einteilungskriterien w i r d so das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu einem polizeibegrenzenden, staatsbürgerlichen, reichsverfassungskräftigen Grundrecht zweiten Grades 12 . Die Problematik dieser immanenten Einschränkung der Grundrechtsgeltung auf die Beschränkung der Polizei i m allgemeinen Gewaltverhältnis w i r d allerdings schon bei Thoma selbst deutlich, wenn er zwar einerseits die Versammlungsfreiheit den Beschränkungen des Strafrechts, d. h. der echten Strafgesetzgebimg, unterwerfen w i l l , andererseits aber eine Strafgesetzgebung, die sich speziell gegen die Versammlungstätigkeit bestimmter politischer Gruppen richtet, für unzulässig hält 1 3 . Es zeigt sich bereits hier, daß es durchaus Fälle gibt, i n denen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen die (Straf)Gesetzgebung gemünzt ist. Die Auffassung Thomas von der lediglich polizeibegrenzenden W i r kung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit geht i m Grunde über n Thoma, Festschrift OVG, S. 181 ff.; vgl. auch i n Nipperdey, GR I , S. 33 ff., dort allerdings m i t Einschränkungen hinsichtlich der d r i t t e n Gruppe unter Einfluß des Instituts- u n d Kernbereichsdenkens. 12 Thoma, Festschrift OVG, S. 197 ff., 210. 13 Thoma, Festschrift OVG, S. 203.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

die Verbürgung i n § 1 des Reichsvereinsgesetzes nicht hinaus 1 4 , sie erhöht nur ihre formelle Geltungskraft 1 5 . Inhaltlich fixiert sie nur, wenn auch m i t größerer juristischer Präzision, den anerkannten Rechtszustand vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung. I n ihrer Betonung des negativen, oder richtiger negatorischen Charakters der Versammlungsfreiheit und ihrer individualistischen Grundhaltung, die die Funktion und spezifische Wirkungsweise kollektiven Gruppenhandelns nicht oder nur unter polizeilichem Aspekt zur Kenntnis nimmt, ist diese Auffassung rechtsstaatlich, aber nicht demokratisch bestimmt. Sie ist kennzeichnend für das herrschende Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der Lehre der Weimarer Zeit. So ist für Anschütz die Versammlungsfreiheit „polizeifest" 1 6 , Delius bezeichnet A r t . 123 und 124 WRV als „gegen die Polizeigewalt gemünzt" 1 7 , bei Stier-Somlo bedeutet sie nur „Beschränkung der Sicherheitspolizei" 18 , für W. Jellinek „bleibt . . . nur noch die Spitze gegen polizeiliche Eingriffe" 1 9 und von Jan bestimmt den Charakter der Versammlungs- und der Vereinsfreiheit unter Berufung auf Thoma als „polizeibegrenzende Rechte" 20 . Beschränkungen der individuellen Versammlungsfreiheit i m besonderen Gewaltverhältnis, ebenso wie auf dem Gebiet des Privatrechts aufgrund Vertrages, elterlicher Gewalt, eines Lehrverhältnisses, hält die herrschende Lehre allgemein für zulässig, weil A r t . 123 nur gegen die Polizei i m allgemeinen Gewaltverhältnis gerichtet sei 21 . Eine Ausnahme bildet die von Waldecker 22 vertretene Auffassung, i m Gegeni* Dies betont Thoma selbst, Festschrift OVG, S. 200 f., ähnlich Anschütz, Kommentar zur WRV, 14. Aufl., S. 568, durch die Weimarer Reichsverfassung sei keine wesentliche Änderung gegenüber dem Rechtszustand unter dem Reichsvereinsgesetz eingetreten. Thoma, Festschrift OVG, S. 193, spricht von einer Überbietung der n u r reichsgesetzeskräftigen Grundrechte des Reichsvereinsgesetzes durch die A r t i k e l 123 u n d 124 RV. 16 Anschütz, a.a.O., S. 517 f. 17 Delius, i n : Nipperdey, GR I I , S. 142 f. 18 Stier-Somlo, Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 6, S. 384. 19 W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 489. 20 v. Jan, a.a.O., S. 64. 21 Delius, i n : Nipperdey, GR I I , S. 142 f.; Anschütz, Kommentar WRV, 14. Aufl., S. 571 m i t Nachweisen; a. A . hinsichtlich der Beamten u n d Staatsarbeiter v. Jan, a.a.O., S. 21 f. unter Berufung auf den A u f r u f des Rates der Volksbeauftragten. Die mehrfach aufgeworfene Frage, ob eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit aufgrund eines Arbeitsverhältnisses zulässig sei, wurde allgemein dahin beantwortet, daß sie allein nach den Vorschriften des B G B zu beurteilen u n d i m konkreten F a l l zu prüfen sei, ob sie als sittenw i d r i g angesehen werden müsse. Vgl. Delius, a.a.O., S. 142; v.Jan, S. 27 f. 22 Waldecker, A r t i k e l Vereins- u n d Versammlungsfreiheit, Hdb.StW, Bd. I I , S. 637 ff., 644 f.

. Kap.: Die Versammlungsfreiheit n

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satz zum Reichsvereinsgesetz, das ein reines Polizeigesetz gewesen sei, entfalte die Grundrechtsverbürgung der Versammlungsfreiheit W i r kungen „für und gegen jedermann". Waldecker hält daher z.B. vertragliche Vereinbarungen, durch die auf das Versammlungsrecht verzichtet wird, unmittelbar wegen Verstoßes gegen die Verfassung für nichtig. Es handelt sich bei dieser Auffassung um einen der wenigen Fälle i n der Grundrechtslehre der Weimarer Zeit, i n denen eine unmittelbare D r i t t w i r k u n g der Grundrechte für das Privatrecht behauptet w i r d 2 3 . Zum Problem der Versammlungsordnung n i m m t Waldecker allerdings i n diesem Zusammenhang nicht Stellung. Das grundsätzlich staatsabwehrende, polizeirechtliche und individualistische Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der herrschenden Lehre der Weimarer Zeit hindert ihre Vertreter nicht, den positiven staatsaufbauenden Funktionen eines freien Versammlungsrechts ihre „Reverenz" 2 4 zu erweisen 25 . So hat beispielsweise Richard Thoma die „dynamische Funktion" der Grundrechte i m demokratischen Staat durchaus klar erkannt und hervorgehoben, daß i n der modernen Demokratie die Bestätigung des freien Wahlrechts nicht genüge. Es müsse vielmehr das Volk als freie Staatsbürgerschaft i n politisch-sozialer Freiheit der Rede und Presse, der religiösen, wissenschaftlichen und künstlerischen Betätigung, der Versammlungen, Vereine, Koalitionen, des Rechts der Petitionen und Beschwerden, der freien Selbstverwaltung der Gemeinden, die Möglichkeit haben, das nationale Leben aus sich selbst heraus zu gestalten. I n dieser Hinsicht seien die Grundrechte als Voraussetzung aller Demokratie anzusehen, die insofern nicht als Gegensatz, sondern als Verwirklichung der Prinzipien des Liberalismus zu verstehen sei, denen die englische, amerikanische und französische Revolution Bahn gebrochen habe 26 . Es zeigt sich hier deutlich der Einfluß des Grundrechtsverständnisses von Smend, das die politische Integrationsfunktion der Grundrechte i n den Mittelpunkt rückt. Allerdings hat die herrschende rechtspositivistische Lehre hier23 Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 249 FN30. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß die W R V i n den A r t i k e l n 118 Abs. 1 Satz 2; 152 Abs. 2, 159 Satz 2 u n d 160 Positivierungen grundrechtlicher Ansprüche gegen Private enthält. 24 Eine Formulierung von Hamel, Die Grundrechte i m sozialen Rechtsstaat, S. 11. 25 v g l . etwa Anschütz, K o m m e n t a r WRV, 14. Aufl., S. 516, w o die geistesgeschichtliche, politische u n d ethische Bedeutung der Grundrechte hervorgehoben w i r d ; auch v.Jan, a.a.O., S. 1 bezeichnet Vereine u n d Versammlungen als die wichtigsten M i t t e l neben der Presse zur politischen Erfassung u n d Beeinflussung des Volkes. 26 Thoma, i n : Nipperdey, GR I , S. 8. Diese Ausführungen stehen allerdings anders als die i n der Festschrift f ü r das O V G bereits deutlich unter dem Einfluß der Grundrechtsauffassung von Smend.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

aus noch keine Folgerungen für die praktische juristische Konstruktion und Interpretation der Grundrechte i m allgemeinen und der Versammlungsfreiheit i m besonderen gezogen. Dies ist für das Problem der Versammlungsordnung von entscheidender Bedeutung, denn von einem individualistischen, rein negativen, polizeiabwehrenden Verständnis der Versammlungsfreiheit konnte praktisch keine theoretische Grundlage für dieses Problem der Regelung kollektiven Gruppenhandelns und der Maßstäbe seiner inneren Ordnung gefunden werden. Es ist jedoch festzustellen, daß auch von jenen grundrechtstheoretischen Konzeptionen, von denen aus das Problem der Versammlungsordnung und der Ordnungsgewalt i n den Blick treten konnte, diese Frage nicht aufgegriffen oder der Zugang zu ihr verstellt wurde. So hätte vom Boden der Grundrechtstheorie Smends das Problem durchaus fruchtbar behandelt werden können. Smend hat den Integrationswert der Grundrechte, ihre Bedeutung für den demokratischen Prozeß, wie auch die gruppenbildende und gruppenschützende Funktion der Meinungsfreiheit 2 7 i m Gegensatz zu den Vertretern des Rechtspositivismus geradezu i n den Mittelpunkt seiner Grundrechtslehre gerückt 28 . A u f dieser Grundlage hätte sich durchaus die Frage stellen und erörtern lassen, wieweit innerhalb sozialer Gruppen, die unmittelbar auf den politischen Prozeß einwirken, auch demokratische Verfahren und Ordnungen zu beachten sind. Es mag dem kurzen Leben des Weimarer Staates zuzuschreiben sein, daß es dazu nicht mehr kam. Auch vom Boden der Lehre von den Instituts- und institutionellen Garantien, wie sie von Carl Schmitt und F. Klein entwickelt wurden, hätte möglicherweise ein Zugang zu einer verfassungstheoretischen Grundlegung des Problems der Versammlungsordnung bestanden. Ein institutionelles Verständnis, wie es i m Hinblick auf die privatrechtlichen Vereinsbestimmungen vor allem für die Vereinsfreiheit, möglicherweise aber auch für die Versammlungsfreiheit, nicht ausgeschlossen gewesen wäre, wurde hier aber durch die Einordnung dieser Rechte als individuelle Freiheitsrechte weitgehend verstellt. Kennzeichnend für eine solche Verstellung des Problems ist die Grundrechtsauffassung C. Schmitts. Freiheitsrechte sind für Schmitt als Folge des „Verteilungsprinzips", das die Grundlage des bürgere liehen freiheitlichen Rechtsstaats bildet, absolute Rechte, die höchstens * 7 Smend, W D S t R L 4, S. 44 ff., 50. 28 Smend erkennt u n d betont die ungenügende rechtstechnische F o r m u l i e r u n g der Grundrechte, die f ü r die rechtspositivistisch geschulten Juristen ein Greuel sein mußte, u n d schließt eben daraus ihre v o n den sonstigen technischen Normen grundsätzlich unterschiedene Bedeutung u n d F u n k t i o n f ü r das gesamte Verfassungsleben. W D S t R L 4, S. 44—49.

. Kap.: Die Versammlungsfreiheit n

d e m r e e t

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durch Gesetz geregelt werden dürfen 2 9 . Sie sind Individualrechte, Rechte des isolierten Einzelmenschen 80 . Sie schaffen einen Raum prinzipiell unkontrollierter, individueller Freiheit, i n dem rechtliche Beziehungen und rechtliche Regelungen, die Bindungen schaffen und voraussetzen würden, keinen Platz haben. Die Freiheit ist kein Institut und auch kein Rechtsgut, das m i t anderen Rechtsgütern i n Konkurrenz treten und Abwägungen erforderlich machen könnte 3 1 . Auch die Grundrechte einzelner i n Verbindung m i t anderen einzelnen sind noch echte Grundrechte i n diesem absoluten Sinn. Dies gilt jedenfalls „solange der einzelne nicht aus dem unpolitischen Zustand des bloß Gesellschaftlichen heraustritt". W i r d dieser Bereich allerdings überschritten, so verlieren diese Rechte ihren Charakter als individualistische Freiheitsrechte und damit auch die Absolutheit ihres Schutzes. Sie unterliegen, soweit sie „nicht i n der Sphäre des Privaten bleiben, sondern soziale Betätigungen enthalten", der Regelung und Normierung. Z u dieser A r t von Rechten gehört nach Auffassung von Carl Schmitt, neben Meinungs- und Pressefreiheit, K u l t - , Vereins- und Vereinigungsfreiheit, auch die Versammlungsfreiheit 32 . Es w i r d hier zwischen einer privaten, absolut freien und einer öffentlichen, der Normierung und Regelung unterliegenden Versammlungsfreiheit unterschieden. Dabei ist jedoch die Bemerkung, daß Rechte einer natürlichen oder organisierten Gemeinschaft innerhalb des Staates keine Grundrechte seien, sondern institutionelle Garantien darstellten 33 , nicht dahin zu verstehen, daß Schmitt i n der Versammlung eine Institution sieht. Sie bezieht sich vielmehr auf Gruppen wie die Gewerkschaften oder die Beamten 34 . Es liegt auf der Hand, daß m i t der radikalen Trennung der privaten unpolitischen und der öffentlichen sozial-politischen Sphäre, die der Auffassung von Schmitt zugrunde liegt, eine demokratische Interpretation des Versammlungsrechts unvereinbar ist. Die Regelung und Normierung der ins öffentliche reichenden Aspekte des Versammlungsrechts dürfte eher i m Sinne gesetzlicher Beschränkungen i m Interesse des „öffentlichen Wohls" als i m Sinne einer Grundrechtsausgestaltung i m Interesse freier demokratischer Ordnungen auch i m sozialen Bereich zu verstehen sein.

«9 C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl., S. 158, 166. so a.a.O., S. 164. a.a.O., S. 163, 164, 167. 52 a.a.O., S. 165. 33 a.a.O., S. 173. 34 a.a.O., S. 165.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit I I I . Das Problem der Weitergeltung des § 10 R V G

Auch unter einem anderen Gesichtspunkt hätte die Lehre der Weimarer Zeit das Problem der Versammlungsordnung näher behandeln können, nämlich i m Rahmen der Frage, ob die Bestimmungen des § 10 RVG durch den A u f r u f der Volksbeauftragten vom November 1918 als Beschränkung des Versammlungsrechtes aufgehoben sei. Die Frage der Weitergeltung des § 10 RVG wurde i n der Literatur unterschiedlich beurteilt. Während einerseits Anschütz und W. Jellinek die Auffassung vertraten, § 10 sei als Ordnungsvorschrift, die die polizeiliche Überwachung von Versammlungen erleichtern solle, aufgehoben 35 , und Kempe sowie Delius den Grund für die Aufhebung in der A u f lösungsbefugnis des § 10 Satz 4 sahen, die dem Versammlungsleiter jederzeit gestattete, den Versammelten i h r Versammlungsrecht zu entziehen und ihr Verweilen dadurch strafbar zu machen 36 , waren andererseits Brecht und v. Jan der Meinung, die betreffende Bestimmung sei als reine Ordnungsbestimmung noch gültig, da sie nur Selbstverständliches verlange 37 . Die Regierungsentwürfe aus den Jahren 1926 und 1929 sahen allerdings eine Pflicht zur Bestellung eines Leiters nicht mehr vor, da darin möglicherweise eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit gesehen werden konnte 3 8 . Es ist demnach unrichtig, wenn in der Begründung des Regierungsentwurfs zum Bundesversammlungsgesetz behauptet wird, auch unter der Geltung der Weimarer Verfassung sei allgemein anerkannt gewesen, daß Bestimmungen, die die Ordnung in der Versammlung bezweckten, keine Beschränkungen der Versammlungsfreiheit darstellten. 35 Anschütz, Kommentar W R V , 14. Aufl., S. 567; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 489; ders., J W 1924, 642; K G i n JW 31, S. 964. 36 Delius, i n : Nipperdey, GR I I , S. 157; Kempe, S. 46 zitiert nach v.Jan, S. 125; ebenso v. Bitter (Hrsg.), H d w b . Preuß. Verw., 3. Aufl., Bd. I I , S.927. 37 Brecht, i n : v. Brauchitsch, PreußVerwGes., 21. A u f l . 1928, Bd. I I , S. 197; v. Jan, a.a.O., S. 125. 38 Vgl. v. Jan, a.a.O., S. 125. Als unvereinbar m i t A r t . 123 RV, nicht n u r dem A u f r u f des Rates der Volksbeauftragten sieht auch Delius, a.a.O., I I , S. 157 die Bestimmung des § 10 R V G oder die Wiedereinführung einer derartigen Vorschrift an. Unrichtig daher v. Bitter (Hrsg.), H d w b . Preuß. Verw., B d . I I , S.927, wo behauptet w i r d , „unstreitig" stehe die Reichsverfassung der Wiedereinführung einer § 10 R V G entsprechenden Vorschrift nicht entgegen. Ebenso unzutreffend ist es auch, w e n n i n der Begründung des Regierungsentwurfs zum Bundesversammlungsgesetz behauptet w i r d , auch unter der Geltung der Weimarer Verfassung sei allgemein anerkannt gewesen, daß Bestimmungen, die die Erhaltung der Ordnung i n der Versammlung bezweckten, keine Beschränkungen der Versammlungsfreiheit darstellten. Die Frage w a r vielmehr äußerst umstritten. Vgl. auch Waldecker, a.a.O., I I , S. 645 u n d seine Polemik gegen die „ m e r k w ü r d i g e n Konstruktionen", m i t denen die Aufrechterhaltung von Bestimmungen des R V G „ z u m Schutze" des Vereins- u n d Versammlungsrechts begründet wurde.

. Kap.: Die Versammlungsfreiheit n

d e m r e e t 8 9

I n unserem Zusammenhang ist vor allem die Diskussion u m die Auflösungsbefugnis des Versammlungsleiters nach § 10 Satz 4 RVG bemerkenswert. A n dieser Frage zeigt sich deutlich die Problematik der Begrenzung der Abwehrrichtung der Versammlungsfreiheit gegen die Polizei und die Unklarheit über die dogmatische Einordnung der Befugnisse des Versammlungsleiters. So steht für Delius dieses Recht deshalb i m Widerspruch zur Reichsverfassung, weil es dem Versammlungsleiter nach freiem Gutdünken, auch wenn Ruhe und Ordnung i n der Versammlung nicht gestört sind, und ohne Rücksicht auf den Willen der Versammelten, das Recht gebe, die Versammlung aufzulösen und das Verharren am Versammlungsort strafbar zu machen. Offensichtlich geht Delius hier davon aus, ohne dies allerdings ausdrücklich zu sagen, daß das Grundrecht der Versammlungsfreiheit sich insoweit auch gegen den Versammlungsleiter richte. So erklärt er, der Versammlungsleiter habe zwar auch ohne gesetzliche Vorschrift das Hausrecht i m Versammlungslokal, daraus folge aber nicht, wie Kempe (S. 47) meine, daß ihm das Auflösungsrecht selbstverständlich zustehe. Auch i n der Wahl des Leiters liege noch keine Unterwerfung unter seine diskretionäre Gewalt, und es sei bedenklich, einer Privatperson gewissermaßen obrigkeitliche Gewalt anzuvertrauen. Falls der Leiter sich nicht aus eigener Macht durchsetzen könne, habe er die Möglichkeit, die Polizei zu Hilfe zu rufen 3 9 . Delius lehnt eine Ableitung der Auflösungsbefugnis des Versammlungsleiters aufgrund Hausrechts und aufgrund einer durch den Wahlakt übertragenen Gew a l t ab und sieht darin eine „gewissermaßen obrigkeitliche Gewalt". Es deutet sich hier jene Entwicklung an, die die Befugnisse des Versammlungsleiters, die ihm i m Versammlungsgesetz zugesprochen sind, gänzlich vom Hausrecht löst und als dem öffentlichen Recht angehörig ansieht. Dabei bleibt bei Delius allerdings offen, ob er das A u f lösungsrecht des Versammlungsleiters gerade deshalb für verfassungsw i d r i g hält, weil er diese Befugnis für hoheitlich hält, d. h. zwar keine unmittelbare Wirkung der Versammlungsfreiheit gegen Private, aber doch gegen den obrigkeitliche Gewalt ausübenden und das Versammlungsrecht auf diese Weise beschränkenden Versammlungsleiter annimmt. Umgekehrt hält v. Jan die Befugnisse des Versammlungsleiters zur Versammlungsauflösung gerade deshalb nicht für eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit, w e i l dieses Grundrecht nur „polizeibegrenzend" sei, und sich deshalb nicht gegen Veranstalter und Leiter richte. Löse der Versammlungsleiter die Versammlung auf, so mache er nur 39 Delius, a.a.O., GR I I , S. 157.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

von „dem i h m übrigens von selbst zustehenden, aus der Veranstaltung der Versammlung sich ergebenden, nicht erst verliehenen Rechte Gebrauch". Eine solche Versammlungsauflösung enthalte keine Beschränkung des Versammlungsrechts der Teilnehmer, da diesen entgegen dem Willen der Veranstalter und Leiter und dem ihnen zustehenden Hausrecht ein selbständiges Versammlungsrecht nicht zukomme. Nicht § 10, sondern das Hausrecht des Versammlungsleiters sei der eigentliche Rechtsgrund für den Versammlungsschluß 40 . Unklar bleibt bei diesen Ausführungen das Verhältnis zwischen Hausrecht und dem dem Versammlungsleiter „von selbst zustehenden Rechte" der Versammlungsauflösung. v.Jan geht allerdings i m Gegensatz zu Delius davon aus, daß es sich dabei nicht um eine gesetzlich verliehene öffentlichrechtliche Kompetenz handelt, läßt aber offen, ob ein solches Recht auch da eingreift, wo ein privates Hausrecht als Rechtsgrundlage fehlt. Ist dies der Fall, wofür immerhin eine Bemerkung an anderer Stelle 4 1 spricht, so w i r d man fragen müssen, wie ein solches Recht dogmatisch überhaupt zu fassen ist. v.Jan gibt auf diese Frage keine Antwort, sondern setzt sich selbst zu seiner wohl insgesamt privatrechtlich orientierten Auffassimg i n Widerspruch, wenn er die Wirkungen der Auflösung durch den Versammlungsleiter denen einer polizeilichen gleichsetzt und daraus folgert, auch der Eigentümer und Mieter, also die Inhaber des Hausrechts, müßten sich entfernen, soweit sie Versammlungsteilnehmer seien. Er begründet dies, unter Berufimg auf eine Entscheidimg des Reichsgerichts (RGSt 40, 300) m i t dem Argument, daß insoweit das öffentlichrechtliche Reichsvereinsgesetz die privatrechtlichen Befugnisse einschränke 42 . Wäre aber die Rechtsgrundlage der Auflösung das Hausrecht oder ein sonstwie geartetes, dem Versammlungsleiter „von selbst zustehendes" privates Recht, so ließe es sich sicherlich nicht gegen den Eigentümer, an den zumindest das Hausrecht bei Versammlungsauflösung i n vollem Umfang zurückfiele, durchsetzen. Uberblickt man diese Stellungnahmen zum Problem der Versammlungsordnung i m Rahmen des Streites um die Weitergeltung des § 10 RVG, so läßt sich feststellen, daß eine ganze Anzahl der verfassungstheoretischen und dogmatischen Probleme, die auch das Bundesver40 v. Jan, a.a.O., S. 125. 41 v. Jan, a.a.O., S. 130, w o der i n der Begründung des Regierungsentwurfs v. 1907, S. 32 vertretenen Auffassung zugestimmt w i r d , daß ein solches Auflösungsrecht selbstverständlich sei u n d gegen die i m Reichstag vertretene Meinung Stellung genommen w i r d , dieses Recht müsse f ü r jene Fälle ausdrücklich zugesprochen werden, i n denen der Versammlungsleiter das Hausrecht nicht besitze. 42 v. Jan, a.a.O., S. 156, 157.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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sammlungsgesetz stellt, bereits gesehen wurden. Es fehlt jedoch an einer systematischen und vertieften Erörterung der entsprechenden Fragen.

Sechstes Kapitel

Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz Vorbemerkung

Die Untersuchung wendet sich nunmehr dem geltenden Versammlungsrecht i n der Bundesrepublik und dem verfassungstheoretischen Verständnis des Grundrechts der Versammlungsfreiheit i n der modernen Literatur zu. Die folgenden Darlegungen bilden dabei i n gewissem Sinne eine Fortsetzung der vorangegangenen historischen Erörterungen, zugleich w i r d mit ihnen jedoch die in der Einleitung aufgezeigte Fragestellung unmittelbar wieder aufgenommen. Es w i r d auch hier zunächst ein Überblick über die positive Rechtslage gegeben, wobei die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes und ihr Verhältnis zu A r t . 8 GG i m Vordergrund der Betrachtung stehen. Daran anschließend werden die Auffassungen über Inhalt und rechtliche Garantie der Versammlungsfreiheit i n der Literatur dargestellt. Dabei w i r d zu zeigen sein, daß das in der deutschen Grundrechtstheorie bis i n die Weimarer Zeit vorherrschende rein rechtsstaatliche und individualrechtliche Verständnis der Versammlungsfreiheit bis i n die Gegenwart nachwirkt, daß sich aber gleichzeitig in der Lehre eine ganze Anzahl von Ansätzen eines demokratischen und institutionellen Verständnisses dieses Freiheitsrechts finden. Die Konsequenzen einer solchen gewandelten Grundrechtsauffassung bleiben allerdings weithin ungeklärt. Die kritische Auseinandersetzung m i t den i n der Literatur vertretenen Auffassungen zur Versammlungsfreiheit bildet zugleich die Überleitung zu dem i m zweiten Teil der Arbeit unternommenen Versuch einer eigenen verfassungstheoretischen Grundlegung dieses Grundrechts. Diese theoretischen Überlegungen sollen dann ihrerseits die Ausgangsbasis für die Behandlung des Problems der Versammlungsordnung, insbesondere der dogmatischen Bestimmung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters schaffen.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit I. Zur positiven Rechtslage 1. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen

Die zentrale Bestimmung des geltenden 1 Versammlungsrechts i n der Bundesrepublik enthält A r t . 8 des Grundgesetzes 2 : „(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes beschränkt werden." Ihrem Wortlaut nach schließt sich die Verbürgung der Versammlungsfreiheit i n A r t . 8 GG eng an die entsprechenden Vorschriften der Verfassungen von 1849 und 1919 an. Wie diese faßt sie die Versammlungsfreiheit als subjektives, individuelles Freiheitsrecht der Deutschen3, das für Versammlungen unter freiem Himmel besonderen Beschränkungen unterworfen werden kann 4 . Die formelle und materielle Geltungskraft der Versammlungsfreiheit, wie der Grundrechte überhaupt, ist allerdings durch das Grundgesetz gegenüber dem Verfassungszustand von Weimar erheblich gestärkt. Nicht nur die Polizeigewalt, sondern die Staatsgewalt i n allen ihren Manifestationen ist an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG); Wesensgehalt der Grundrechte und Rechtsschutz bei ihrer Verletzung durch die öffentliche Gewalt sind vom Verfassungsgesetzgeber ausdrücklich garantiert (Art. 19 Abs. 2 und 4 GG). Diese verstärkte Garantie kann allerdings nicht ohne Zusammenhang m i t der Bestimmung des A r t . 18 GG gesehen werden, durch die die Versammlungsfreiheit i n besonderer Weise an die freiheitlich-demokratische Ordnung gebunden wird, da sie zu 1 Die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit durch das Besatzungsrecht, die A r t . 8 GG zunächst überlagerten, sind durch das Gesetz Nr. A—2 der A l l i i e r t e n Hohen Kommission v o m 17. 3.1950 (ABl. 1950, S. 138 ff.) aufgehoben. 2 Z u r Entstehungsgeschichte des A r t . 8 G G u n d den Beratungen i m Parlamentarischen Rat vgl. JöR 1951, S. 113 ff.; v. Münch, Bonner Kommentar, Erl. I zu A r t . 8 GG. Eine grundsätzliche Erörterung über die Versammlungsfreiheit u n d ihre Bedeutung i m demokratischen Staat fand weder i n den Ausschüssen noch i m Plenum des Parlamentarischen Rates statt. 3 A r t . 8 des Herrenchiemseer Entwurfes hatte die Versammlungsfreiheit ursprünglich als allgemeines Menschenrecht f o r m u l i e r t ; das Redaktionskomitee des Grundsatzausschusses ersetzte jedoch die Formulierung „ A l l e " durch „ A l l e Deutschen". Vgl. JöR 1951, S.113f. 4 A r t . 8 Abs. 2 GG weicht allerdings von A r t . 123 Abs. 2 W R V insofern ab, als Versammlungsverbote bei „unmittelbarer Gefahr f ü r die öffentliche Ordnung u n d Sicherheit" direkt aufgrund der Verfassung nicht mehr möglich sind. Damit sind vor allem generelle Präventivverbote unzulässig, w i e dies auch i n §5 VersG ausdrücklich festgelegt ist. Vgl. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 6 Note 1 unter Hinweis auf Holtkotten, Bonner Kommentar, Erl. I I 2 a zu A r t . 142 GG.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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jenen Grundrechten gehört, die wegen ihres Mißbrauchs zum Kampf gegen diese Ordnung v e r w i r k t werden können. Es sind die Erfahrungen der Weimarer Zeit, die hier ihren positiven Niederschlag gefunden haben. Bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes hatten einzelne Länderverfassungen die Versammlungsfreiheit i n ihre Grundrechtskataloge aufgenommen 5 . Diese Verbürgungen sind zwar durch Art. 8 GG nicht gegenstandslos geworden, treten aber i n ihrer Bedeutung stark zurück 6 . Ihre Weitergeltung richtet sich nach A r t . 142 GG. Danach bleiben sie i n Kraft, soweit sie gleichen oder weitergehenden Schutz als das Grundgesetz gewähren. Soweit sie geringeren Schutz als A r t . 8 GG gewähren, sind sie aufgehoben; dies gilt vor allem für jene Vorschriften, die entsprechend A r t . 123 WRV, aber i m Gegensatz zu A r t . 8 GG, für Versammlungen unter freiem Himmel bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit ein unmittelbares Verbot zulassen7. Eine neuartige Entwicklung stellen die Garantien der Versammlungsfreiheit i m internationalen Recht dar. So ist i n A r t . 11 der „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" der Europarat-Staaten vom 4. November 1950 (Text: B G B l 1952 I I S. 685) die Versammlungsfreiheit als allgemeines Menschenrecht statuiert. Die Konvention hat allerdings i n der Bundesrepublik nur den Rang eines einfachen Gesetzes und keinen Verfassungsrang. Ihre Bedeutung liegt vor allem auf dem Gebiet des Völkerrechts 8 . Ohne unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit, aber von nicht zu unterschätzendem moralischen Gewicht ist auch die Aufnahme der Versammlungsfreiheit i n A r t . 20 Abs. 1 der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 (Text: United Nations Yearbook 1948/49, S. 35)9. s Bayern, A r t . 113; Bremen, A r t . 16; Hessen, A r t . 14; Rheinland-Pfalz, A r t . 12. Die Bestimmungen der Verfassungen von Baden (Art. 18), WürttembergBaden (Art. 14) u n d Württemberg-Hohenzollern (Art. 12) sind durch die Gründung des Landes Baden-Württemberg gegenstandslos geworden. « Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, daß eine Verletzung des G r u n d rechts der Versammlungsfreiheit auch nach Landesrecht m i t einer Verfassungsbeschwerde angefochten werden kann, soweit eine derartige Möglichkeit verfassungsgerichtlicher K o n t r o l l e i n den Ländern besteht. Vgl. Füßlein, a.a.O., S. 9. 7 Füßlein, a.a.O., S. 9. 8 Eine Verletzung des A r t . 11 der Konvention könnte möglicherweise ein völkerrechtliches D e l i k t der Bundesrepublik gegenüber den Unterzeichnerstaaten darstellen. Völkerrechtswidrig als Verstoß gegen das völkerrechtliche Fremdenrecht wäre auch eine völlige Aufhebung des Versammlungsrechts für Ausländer. Vgl. v. Münch, a.a.O., Rdnr. 3 zu A r t . 8. 9 Wegen der mittelbaren Rechtswirkungen der Menschenrechtserklärungen vgl. Friesenhahn, Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, i n : Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2 B e r l i n 1961, S. 511 ff., Bern. 1 u n d 2, S. 512, 513.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit 2. Die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes

Neben A r t . 8 GG ist das Versammlungsgesetz vom 24. J u l i 1953 (BGBl I S. 684) die wichtigste Rechtsquelle des geltenden Versammlungsrechts i n der Bundesrepublik 1 0 . Da der schon i n der Weimarer Zeit unübersichtlich gewordene Rechtszustand durch die politischen und rechtlichen Umwälzungen noch verworrener geworden w a r 1 1 , sah sich bereits der erste Deutsche Bundestag veranlaßt, von seiner Kompetenz zur Regelung des Versammlungsrechts (Art. 74 Ziff. 3) Gebrauch zu machen. Der Gesetzgeber wich dabei allerdings nicht nur von der traditionell üblichen gemeinsamen Regelung des Vereins- und Versammlungsrechtes ab, indem er das Versammlungsrecht selbständig regelte, er unternahm es auch, erstmalig Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer näher zu umschreiben und gegeneinander abzugrenzen 12 . Die durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes neu aufgeworfenen oder i n neuem Zusammenhang gestellten verfassungstheoretischen und dogmatischen Probleme sind bereits i n der Einleitung dieser Arbeit i m Zusammenhang m i t der Entscheidung des OVG Lüneburg umrissen worden. Es scheint jedoch sinnvoll, an dieser Stelle einen Uberblick über den Aufbau und die innere Systematik des Versammlungsgesetzes, insbesondere seiner Ordnungsbestimmungen, zu geben. Zunächst ist davon auszugehen, daß das Versammlungsgesetz, von wenigen Ausnahmen abgesehen 13 , nur für öffentliche Versammlungen gilt, während die Garantie des A r t . 8 GG nach allgemeiner Meinung auch nichtöffentliche Versammlungen umfaßt 1 4 . Das Gesetz enthält i n seinem Abschnitt I zunächst allgemeine Bestimmungen, die für alle öffentlichen Versammlungen gelten. Abschnitt I I behandelt öffentliche Versammlungen i n geschlossenen Räumen. Für diese Versammlungen w i r d eine relativ ausführliche Regelung getroffen, obwohl gerade für 10 Eine Sammlung weiterer f ü r das Versammlungsrecht einschlägiger Gesetzesbestimmungen findet sich i m Anhang der Kommentare zum V e r sammlungsgesetz von Enderling (S. 59 ff.) u n d Trubel-Hainka (S. 111 ff.). 11 Kennzeichnend für diese Rechtsunsicherheit ist ein U r t e i l des W ü r t t . Bad. V G H v o m 18.2.1952 (DVB1. 1952, S. 212), das sogar den Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts erschütterte, indem es Versammlungen allgemein der polizeilichen Generalklausel unterstellte. 12 Füßlein, a.a.O., S. 11, dort auch (Note 5) zum Gang der Verhandlungen i m Bundestag unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien. 13 Vgl. §§3, 4, 21, 23 u n d 28 VersG; Füßlein, a.a.O., S. 14; v.Münch, a.a.O., Rdnr. 13 zu A r t . 8. 14 Vgl. etwa Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 445; v.Münch, a.a.O., Rdnr. 23 zu A r t . 8; v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 3 a zu A r t . 8; Mallmann, Sp. 108.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem G r u n d g e s e t z 9 5 sie ein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt (Art. 8 Abs. 1) fehlt. Die Bestimmungen über öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel enthält Abschnitt I I I , wobei weitgehend auf die Regelung für Versammlungen i n geschlossenen Räumen verwiesen w i r d (§ 18 Abs. 1). Innerhalb des Abschnitts I I I sind öffentliche Aufzüge wegen ihrer Besonderheiten selbständig geregelt 15 . I m Abschnitt I V sind die Strafbestimmungen und i m Abschnitt V die Schlußbestimmungen enthalten. I n materieller Hinsicht lassen sich innerhalb des Versammlungsgesetzes grundsätzlich vier Gruppen von Normen unterscheiden: erstens Vorschriften, die das polizeiliche Eingreifen gegen Versammlungen regeln, d. h. Versammlungspolizeirecht im klassischen Sinne, zweitens Vorschriften, die bestimmte äußere Ordnungsanforderungen für öffentliche Versammlungen aufstellen, wobei ebenfalls das polizeiliche Ordnungsinteresse i m Vordergrund steht, drittens Bestimmungen über die innere Ordnung der Versammlung, d. h. solche, die die Beziehungen zwischen Veranstalter, Leiter und Teilnehmern regeln und schließlich viertens die Strafbestimmungen. Z u den Vorschriften der ersten Gruppe gehören vor allem die abschließend geregelten Verbots- und Auflösungsgründe der §§ 5 und 13 für Versammlungen i n geschlossenen Räumen und des § 15 für Versammlungen unter freiem Himmel. I n diesen Zusammenhang dürften auch die Bestimmungen des § 14 Abs. 1 (Anmeldepflicht), des § 14 Abs. 2 (Pflicht zur Angabe des verantwortlichen Leiters bei Veranstaltungen unter freiem Himmel i n der Anmeldung) und der §§18 Abs. 2, 19 Abs. 1 Satz 2 (Genehmigungspflicht für die Verwendung von Ordnern bei Versammlungen und Aufzügen unter freiem Himmel) zu rechnen sein, da deren Verletzung, zumindest soweit dadurch nach den Umständen des konkreten Falles die öffentliche Ordnung und Sicherheit unmittelbar gefährdet w i r d (§ 15 Abs. 1), zu polizeilichen Maßnahmen bis hin zur Versammlungsauflösung führen kann 1 6 . Unter die polizeilichen Eingriffsrechte lassen sich auch die Befugnis der Polizei, Störer auszuschließen (§§ 18 Abs. 3 und 19 Abs. 4) 17 , das Recht auf A n is Die Verweisung auf § 18 VersG in § 19 VersG (Aufzüge) ist anscheinend ein Redaktionsversehen. Es sollte sicher nicht auf diesem Wege auch für öffentliche Aufzüge auf die Regelung für Versammlungen in geschlossenen Räumen verwiesen werden. Die Erwähnung des § 9 Abs. 1 VersG in § 19 VersG wäre sonst überflüssig, da auf sie bereits in § 18 Abs. 1 verwiesen ist. Gemeint ist offenbar nur eine Verweisung auf § 18 Abs. 2. Vgl. TrubelHainka, a.a.O., S. 65; Füßlein, a.a.O., S. 77. 17 Nach Auffassung von Trubel-Hainka (a.a.O., S. 48) steht das Recht zum iß Vgl. dazu unten Störer S. 132 ff.der Polizei nicht nur bei Versammlungen unter Ausschluß einzelner freiem Himmel (§§ 18, 19 VersG), sondern auch bei Versammlungen in geschlossenen Räumen zu, obwohl eine ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt. Diese Meinung ist jedoch nicht unproblematisch, jedenfalls dann,

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Wesenheit und angemessenen Platz der i n die öffentliche Versammlung entsandten Polizeibeamten (§ 12) und die Befugnis, die Zahl der Ordner angemessen zu begrenzen (§ 9 Abs. 2), einzuordnen. Die letztgenannten Vorschriften stellen allerdings schon den Übergang zu der zweiten Gruppe von Normen des hier zugrunde gelegten Einteilungsschemas dar, nämlich derjenigen, die bestimmte äußere Ordnungsanforderungen für öffentliche Versammlungen festlegen. Sie normieren zwar keine unmittelbaren Eingriffsrechte der Polizei gegen die Versammlung als solche, enthalten aber Verpflichtungen gegenüber der öffentlichen Gewalt, wobei ihre Verletzung i m Einzelfall auch zu hoheitlichen Sanktionen führen kann. Nach dem Grade der möglichen Sanktionen gestaffelt ergibt sich dabei folgendes Bild: Ohne jegliche Sanktion sind die Verpflichtung des Veranstalters, i n der Einladung zu einer öffentlichen Versammlung seinen Namen anzugeben (§ 2), die Verpflichtung, für öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen einen Leiter zu bestellen, bzw. die Pflicht des Veranstalters, die Leitung zu übernehmen, sofern er sie nicht einer anderen Person überträgt (§ 7 Abs. 1 bis 3). Das gleiche gilt für die Verpflichtung des Versammlungsleiters, während der Versammlung für Ordnung zu sorgen (§ 8 Satz 2), sofern nicht dadurch die Versammlung gewalttätig und aufrührerisch w i r d und gemäß § 13 Abs. 1 Ziff. 2 aufgelöst werden kann. I n allen diesen Fällen handelt es sich um leges imperfectae, deren Nichtbeachtung für sich genommen keinen Grund zur Versammlungsauflösung bietet 1 8 . Dagegen sind die Pflicht, die Zahl der Ordner auf Anfordern der Polizei mitzuteilen und eine angemessene Beschränkung ihrer Zahl hinzunehmen (§ 9 Abs. 2), wie die Verpflichtimg, nur ehrenamtliche, unbewaffnete, volljährige Ordner zu verwenden, die nur eine weiße Armbinde m i t der Bezeichnung „Ordner" tragen dürfen (§ 9 Abs. 1) zumindest strafrechtlich sanktioniert. Ihre Verletzung stellt eine Ubertretung dar (§ 29 Ziff. 5 und 6), berechtigt aber für sich noch nicht zu einer Versammlungsauflösung 1 9 ' 2 0 . w e n n die Polizei gegen den W i l l e n des Versammlungsleiters einen Störer entfernen w i l l , ein zugegebenermaßen unwahrscheinlicher Fall. 18 Eine Verletzung dieser Pflichten könnte allerdings i m konkreten F a l l eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht (Schutzgesetz i. S. von § 823 Abs. 2 BGB) oder strafrechtliche Sanktionen auslösen (Unterlassungsdelikte). 19 Eine Ausnahme bildet die Verwendung bewaffneter Ordner, die einen Verbotstatbestand darstellt. § 5 Abs. 1 Ziff. 2, § 13 Abs. 1 Ziff. 3 VersG. 20 I n diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Polizei bei einer öffentlichen Versammlung gegen Ordner vorgehen darf, die den Bestimmungen des § 9 VersG nicht entsprechen. Nach allgemeiner Meinung enthält A r t . 8 GG kein strafrechtliches Privileg, so daß bei allem, was i n der V e r sammlung geschieht, auch die Strafgesetze beachtet werden müssen. Danach wäre ein polizeiliches Eingreifen durchaus zulässig, allerdings werden —

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem G r u n d g e s e t z 9 7 Es bleibt festzuhalten, daß über die einzelnen Verbotstatbestände und sonstigen Pflichten hinaus, deren Verletzung ein polizeiliches Eingreifen rechtfertigt, durch das Versammlungsgesetz bestimmte Ordnungsanforderungen nach außen aufgestellt werden, deren Nichtbeachtung entweder ganz ohne Sanktion oder nur strafrechtlich relevant ist. Die dritte Gruppe von Normen des Versammlungsgesetzes stellen jene Vorschriften dar, die die Rechte und Pflichten der an der Versammlung beteiligten Personen und Personengruppen untereinander regeln. Diese Bestimmungen über die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen sind das eigentlich Neuartige i n der Geschichte der Versammlungsgesetzgebung, da hier nicht Beziehungen zur öffentlichen Gewalt, insbesondere zur Polizei, sondern Beziehungen zwischen Personen geregelt werden, die grundsätzlich als Privatleute anzusehen sind. Den K e r n dieser Ordnungsbestimmungen bilden die Vorschriften über den Versammlungsleiter. Dieser übt nach § 7 Abs. 4 das Hausrecht 2 1 aus, bestimmt den Ablauf der Versammlung, die er jederzeit unterbrechen oder schließen kann (§ 8 Satz 1 und 3). Er ist befugt, Ordner zu bestellen (§ 9) und gröbliche Störer aus der Versammlung auszuschließen (§ 11). I n engem Zusammenhang mit der Rechtsstellung des Leiters steht die des Veranstalters 22 , da der Veranstalter entweder die Versammlungsleitung selbst übernehmen oder den Leiter bestellen darf (§ 7 Abs. 2 und 3). Versammlungsleiter und Veranstalter stehen insofern gegenüber den Versammlungsteilnehmern i n einer i m wesentlichen einheitlichen Position. Das schließt natürlich nicht aus, daß es i m konkreten Fall zwischen ihnen zu Konflikten kommen kann. Eine ausdrückliche Regelung solcher Konflikte i m Versammlungsgesetz fehlt jedoch. So ist beispielsweise nicht ersichtlich, ob die Befugnis, den Teilnehmerkreis für eine öffentliche Versammlung i n geschlossenen Räumen zu begrenzen (§ 6), dem Veranstalter oder dem Leiter zusteht und wie etwa eine Weigerung des Versammlungsleiters, die vom Veranstalter ausgesprochene Teilnahmebeschränkung durchzusetzen, rechtlich zu beurteilen wäre. sofern man die Bestimmung des § 9 VersG überhaupt f ü r verfassungsmäßig hält — i n einem noch näher zu erörternden Umfang die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit u n d der Güterabwägung zu berücksichtigen sein. 21 Wie bereits i n der Einleitung dieser A r b e i t erörtert, ist die Bedeutung dieser Bestimmung keineswegs k l a r u n d sicherlich nicht i m Sinne einer Verleihung des Hausrechts gegen den W i l l e n des privatrechtlich Verfügungsberechtigten zu verstehen. Vgl. oben S. 18 F N 32. 22 Die Bestimmungen des § 1 Abs. 2 Ziff. 1 bis 4, die die Veranstalterfreiheit einschränken, sind nicht als Ordnungsbestimmungen i m Sinne der hier zugrunde liegenden Einteilung anzusehen. Sie begründen vielmehr vor allem Eingriffsrechte der Polizei. 7

Quilisch

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Die hier aufgeführten Befugnisse stehen Veranstalter und Leiter grundsätzlich auch bei Veranstaltungen unter freiem Himmel zu (§18 Abs. 1). Es ergeben sich allerdings gewisse Einschränkungen. So fehlt das Recht der Teilnehmerbeschränkung i n der Einladung (§ 6). Die Befugnis des Veranstalters, die Leitung zu übernehmen oder zu übertragen, wird* durch die Erklärung i n der Anmeldung ausgeübt (§ 14). Dem Versammlungsleiter w i r d auch nicht das Hausrecht zugesprochen, ebenso fehlt i h m die Befugnis, gröbliche Störer selbst auszuschließen. Er ist hierfür vielmehr auf die Hilfe der Polizei angewiesen (§§ 18, 19). Auch zur Bestellung von Ordnern bedarf er polizeilicher Genehmigung (§ 18 Abs. 2). Besonders und unabhängig von den Befugnissen bei Versammlungen in geschlossenen Räumen oder unter freiem H i m mel ist die Rechtsstellung des Leiters bei öffentlichen Aufzügen festgelegt. Seine Befugnisse ergeben sich hier gleichsam negativ aus seiner Pflicht, für einen ordnungsmäßigen Ablauf zu sorgen (§ 19 Abs. 1) und der Verpflichtung der Teilnehmer, den Ordnungsweisungen des Leiters zu folgen (§ 19 Abs. 2). Stattet das Versammlungsgesetz den Veranstalter und Leiter i m wesentlichen nur m i t Rechten gegenüber den Teilnehmern aus, so treffen umgekehrt die Versammlungsteilnehmer, zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes, fast nur Pflichten. Der einzige ausdrückliche positive Anspruch der Versammlungsteilnehmer ist ihr Recht auf A n wesenheit i n öffentlichen Versammlungen (§ 1 Abs. 1), wobei die Formulierung des Gesetzes nicht erkennen läßt, ob sich dieser Anspruch überhaupt gegen den Veranstalter und Leiter richtet oder nur gegen den Staat. Auch wenn man ersteres annimmt, ist jedenfalls die praktische Bedeutimg dieses Rechtes problematisch, da — zumindest bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen — Veranstalter und Leiter das Recht haben, bestimmte Personen oder Gruppen von vornherein i n der Einladung auszuschließen (§ 6 Abs. 1). Eine bemerkenswerte Ausnahme besteht nur für Pressevertreter, die durch einen Presseausweis ordnungsgemäß legitimiert sind; ihnen kann i n keinem Fall die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen versagt werden. I m übrigen sind die Versammlungsteilnehmer verpflichtet, die vom Versammlungsleiter „zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anweisungen" zu befolgen (§10), eine Verpflichtung, die auch für Versammlungen unter freiem Himmel (§ 18 Abs. 1) und Aufzüge (§ 19 Abs. 2) besteht. Bei einem Versammlungsausschluß wegen gröblicher Störung haben sich die von der Versammlung ausgeschlossenen Teilnehmer sofort zu entfernen (§11 Abs. 2) 23 . Eine allgemeine Verhal23 Es ist bemerkenswert, daß das Versammlungsgesetz das außerordentliche Auflösungsrecht, das § 10 R V G dem Versammlungsleiter zusprach,

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

99

tenspflicht normiert darüber hinaus § 2 Abs. 2, danach hat jedermann, also auch Veranstalter, Leiter und Nichtteilnehmer, bei öffentlichen Versammlungen Störungen zu unterlassen, die eine Verhinderung der ordnungsgemäßen Durchführung bezwecken. Die Bestimmung ist verfassungstheoretisch insofern interessant, als hier auch für Dritte eine positivrechtliche Pflicht statuiert wird, die Ausübung eines Grundrechtes durch andere nicht zu stören. Fraglich ist allerdings, ob der Versammlungsleiter die Einhaltung dieser Pflicht durch Dritte, die nicht Versammlungsteilnehmer sind, aufgrund seiner Ordnungsgewalt durchsetzen kann 2 4 . Als eine vierte Gruppe von Normen des Versammlungsgesetzes kommen schließlich die Strafbestimmungen i n Betracht. Soweit sie Verstöße gegen die einzelnen Verbotstatbestände unter Strafe stellen, entsprechen sie dem traditionellen Versammlungsrecht (vgl. insbesondere §§ 23 bis 27 und 29 Ziff. 1 und 4). Neu ist dagegen der Strafrechtsschutz für Versammlungsleiter und Ordner gegen Widerstand bei der rechtmäßigen Ausübung ihrer Ordnungsbefugnisse (§ 22), eine Vorschrift, die dem Widerstand gegen die Staatsgewalt (§ 113 StGB) nachgebildet ist und ein Vergehen zum Gegenstand hat. Als Übertretung strafbar ist ferner die Fortsetzung einer Störung trotz wiederholter Zurechtweisung durch Leiter oder Ordner (§ 29 Ziff. 2) und das Verweilen trotz Versammlungsausschlusses durch Versammlungsleiter oder Polizei (§ 29 Ziff. 3 i. Verb. m. § 11, Abs. 2 u. § 18 Abs. 1, § 19). Die Strafbestimmungen wegen Verletzung der Bestimmungen über die Ordnerbestellung (§ 29 Ziff. 5 u. 6 i. Verb. m. § 9 Abs. 2, § 18 Abs. 2) sind bereits erwähnt worden. 3. Das Verhältnis der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes zu Art. 8 G G

Die hier vorgenommene Differenzierung der Bestimmungen des Versammlungsgesetzes nach ihrem materiellen Inhalt ist selbstverständnicht mehr kennt. Während nach § 10 R V G bei einer Auflösung der V e r sammlung durch den Leiter auch unter freiem H i m m e l eine allgemeine strafrechtlich sanktionierte Pflicht sämtlicher Teilnehmer, sich sofort zu entfernen, bestand, gibt das Versammlungsgesetz dem Leiter n u r f ü r V e r sammlungen i n geschlossenen Räumen ein individuelles, strafrechtlich sanktioniertes Ausschlußrecht, aber kein generelles Auflösungsrecht. Vgl. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 51, 63. 24 M a n w i r d dies w o h l verneinen müssen, denn das Versammlungsgesetz gibt dem Versammlungsleiter grundsätzlich n u r Befugnisse gegen Versammlungsteilnehmer u n d verpflichtet auch n u r Teilnehmer, den Ordnungsweisungen des Leiters zu folgen. M i t Recht bezeichnet Füßlein, a.a.O., S. 32 die Bestimmung des §2 Abs. 2 insoweit als lex imperfecta. Eine andere Frage ist es, ob sich Versammlungsleiter u n d Ordner etwa aufgrund privaten Hausrechts u n d gegebenenfalls aufgrund eines strafrechtlichen N o t w e h r rechtes einer Versammlungsstörung durch Außenstehende erwehren dürfen. 7*

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

lieh nicht die einzig mögliche. I m Zusammenhang dieser Untersuchung ging es darum, jene Bestimmungen herauszuarbeiten und von den anderen Normen des Versammlungsgesetzes zu unterscheiden, die sich auf die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen beziehen, da die verfassungstheoretische und dogmatische Einordnung dieser Ordnungsbestimmungen, insbesondere der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters, den Ausgangspunkt und das Kernproblem dieser Arbeit darstellt. Aus diesem Grunde erscheint es auch sinnvoll, an dieser Stelle die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes noch unter einem weiteren Gesichtspunkt zu analysieren, nämlich dem ihres Verhältnisses zu A r t . 8 GG. Sicherlich ist das Versammlungsgesetz insgesamt als Ausführungsgesetz zu A r t . 8 GG anzusehen 25 , zu dessen Erlaß der Bundesgesetzgeber zu A r t . 74 Ziff. 3 GG die Kompetenz besitzt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß unter dem Blickwinkel des A r t . 8 GG die einzelnen „Ausführungsbestimmungen" des Versammlungsgesetzes höchst unterschiedlichen Charakter tragen. Es lassen sich dabei, unabhängig von der hier noch nicht zu erörternden Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit, vor allem zwei Gruppen von Normen unterscheiden: erstens solche, die Beschränkungen des Grundrechts enthalten, d. h. die äußeren Grenzen seiner Ausübung festlegen, und zweitens solche, die das Grundrecht ausgestalten, insbesondere die Modalitäten seiner Ausübung zwischen den an dieser Ausübung beteiligten Grundrechtsträgern regeln. Ohne damit i n der Vorstellung von den Freiheitsrechten als einem Freiheitsraum mehr als ein B i l d zu sehen, das der Verdeutlichung dient, bestimmt die erste Gruppe von Normen gleichsam die Grenzen dieser Freiheit, insbesondere gegenüber der öffentlichen Gewalt und i n einem noch näher zu erörternden Umfang auch gegenüber Dritten, während die zweite Gruppe von Normen die Ausübung der Freiheit innerhalb dieses Freiheitsraumes rechtlich organisiert. Zu den Grundrechtsbegrenzungen i m Sinne der ersten Gruppe gehören unzweifelhaft die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit aufgrund des Gesetzesvorbehaltes für Versammlungen unter freiem Himmel i n A r t . 8 Abs. 2 GG, wie die Anmeldepflicht (§ 14), die Verbotsmöglichkeit aufgrund Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (§ 15), die Bannmeilenvorschriften (§ 16) und die Genehmigungspflicht für die Verwendung von Ordnern (§ 18 Abs. 2, § 19 Abs. 1 Satz 2). Äußere Begrenzungen der Versammlungsfreiheit enthalten auch die Vorschriften des Versammlungsgesetzes, die Eingriffsrechte der Poli25

Vgl. Trubel-Hainka,

a.a.O., S. 13.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

101

zei gegenüber öffentlichen Versammlungen i n geschlossenen Räumen begründen und bestimmte äußere Ordnungsanforderungen aufstellen. Sie stützen sich zwar nicht auf einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt, sondern sind als Interpretation der Grundrechtsgrenzen durch den Gesetzgeber anzusehen, wobei sie i m Grunde nur grundrechtsverdeutlichenden Charakter haben 26 . Dies zeigt sich k l a r an den i n den §§ 5 und 13 normierten Verbotstatbeständen für Versammlungen i n geschlossenen Räumen. So fällt beispielsweise eine Versammlung, i n der Bewaffneten Z u t r i t t gewährt w i r d (§ 5 Ziff. 2, § 13 Ziff. 2), oder die einen gewalttätigen, aufrührerischen Verlauf n i m m t (§ 5 Ziff. 3, § 13 Ziff. 3), nicht mehr unter die Garantie des A r t . 8, die nur unbewaffnete und friedliche Versammlungen umfaßt. Ähnliches gilt auch für die Verbote von Versammlungen, deren Veranstalter das Versammlungsrecht nach A r t . 18 GG v e r w i r k t haben oder die Ziele einer für verfassungswidrig erklärten Partei oder verbotenen Vereinigung fördern wollen (§ 1 Abs. 2 Ziff. 1 bis 4, i. Verb. m. §§ 5 Ziff. 1, 13 Ziff. 1), wie für das Verbot von Versammlungen, in denen durch Äußerungen, die ein Verbrechen oder von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen darstellen, gegen die Strafgesetze verstoßen w i r d (§ 5 Ziff. 4 und § 13 Ziff. 4). I n allen diesen Fällen handelt es sich i m Grunde nur um verdeutlichende, deklaratorische Bestimmungen, deren Inhalt sich auch ohne die ausdrückliche Normierung i m Versammlungsgesetz unmittelbar aus der Verfassung und dem Strafgesetz 27 ableiten ließe. Problematischer sind dagegen die Bestimmungen über das Anwesenheitsrecht der Polizei (§ 12), das Erfordernis der Leiterbestellung (§ 7 Abs. 1) und die Verwendung von Ordnern (§ 9), deren Inhalt über eine rein verdeutlichende Feststellung der Grenzen der Versammlungsfreiheit hinausgeht 28 und ein aus dem Wort „friedlich" i n A r t . 8 GG nicht ohne weiteres herauszulesendes Ordnungsinteresse zum Motiv hat. Es ist immerhin sehr fraglich, ob diese Bestimmungen, die nicht unmittelbar durch einen Gesetzesvorbehalt gedeckt sind, allein aus dem Gedanken des Grundrechtsmißbrauchs zu rechtfertigen sind. Dies gilt i n noch stärkerem Maße von der zweiten Gruppe der Normen des Versammlungsgesetzes, nämlich jenen, die nicht nur äußere 26 Z u m Begriff der „grundrechtsverdeutlichenden Normen" vgl. Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 106 f. 27 Die Bestimmung der §§5 Ziff. 4 u n d 13 Ziff. 4, wonach ein Versamm* lungsverbot nur ergehen kann, w e n n durch den Verlauf der Versammlung unter D u l d u n g des Veranstalters oder Leiters Straftatbestände v e r w i r k l i c h t werden, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben, stellt i n gewissem Sinne eine strafrechtliche Privilegierung der Versammlung dar, ohne allerdings die individuelle V e r antwortlichkeit der betreffenden Versammlungsteilnehmer zu berühren. 28 Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß eine Verletzung dieser Vorschriften nicht durch ein Verbot der Versammlung insgesamt sanktioniert i s t

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

Grenzen des Freiheitsraumes abstecken, sondern auch innerhalb des Freiheitsraumes selbst rechtliche Strukturen und Beziehungen 29 schaffen. Die Bestimmungen über die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen m i t ihrer Verteilung rechtlicher Befugnisse und Pflichten zwischen den Teilnehmern sind daher nicht mehr als eine grundrechtsbegrenzende, sondern als grundrechtsausgestaltende Gesetzgebung anzusehen. Sie enthalten, zumindest i m Ansatz, eine rechtliche Institutionalisierung

eines

klassischen

Freiheitsrechts.

Die

Ordnungs-

bestimmungen des Versammlungsrechts treten hier i n eine bemerkenswerte Parallele zu den Vorschriften des zivilen Vereinsrechts über die Stellung der Vorstände und Mitglieder der Vereine, die i n gewissem Sinne ebenfalls eine institutionelle Ausgestaltung des Grundrechts der Vereinsfreiheit (Art. 9 GG) darstellen. Es ist nicht zu verkennen, daß die grundrechtsausgestalteten Normen des Versammlungsgesetzes zugleich auch grundrechtsbegrenzenden Charakter besitzen, wobei allerdings die Bestimmungen über die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters und die entsprechenden Ordnungspflichten der Teilnehmer insgesamt einen versammlungsfreundlichen Charakter tragen. I m Gegensatz zu den Versammlungsgesetzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zielt das Versammlungsgesetz m i t seinen Organisationsanforderungen nicht primär auf eine Erleichterung der polizeilichen Überwachung, sondern w i l l offenbar den Bestand der Versammlung gegenüber störenden Angriffen auch von Seiten einzelner Versammlungsteilnehmer oder außenstehender Dritter schützen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß die durch das Gesetz aufgestellte Forderung, öffentliche Versammlungen müßten i n bestimmter Weise organisiert sein und durch die i m Gesetz wenigstens i n Grundzügen vorgenommene Ausgestaltung dieser Organisation, das Grundrecht der Versammlungsfreiheit i n seiner Ausübung begrenzt wird. Die Frage, ob eine solche Ausgestaltung eines Freiheitsrechts durch den Gesetzgeber zulässig ist und die weitere Frage, ob die konkrete Gestaltung der Verteilung von Rechten und Pflichten i n der öffentlichen Versammlung m i t ihrem starken Übergewicht von Veranstalter und Leiter m i t der Verfassung i n Einklang zu bringen ist, hängt entscheidend davon ab, welches verfassungstheoretische Verständnis der Versammlungsfreiheit man zugrunde legt und wie man auf dieser Basis die Befugnisse und Pflichten von Veranstalter, Leiter und Teilnehmern interpretiert.

29 Sicherlich finden Versammlungen, w i e Füßlein, a.a.O., S. 17 bemerkt, allgemein nicht i m rechtsleeren Raum statt. Die Regelung des Versammlungsgesetzes schafft aber versammlungsspezifische Rechtsbeziehungen.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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II. Das Verständnis der Versammlungsfreiheit in der neueren Literatur Wie i n den vorangegangenen Untersuchungen zur Entwicklung der Versammlungsfreiheit und ihrem verfassungstheoretischen Verständnis dargelegt, konnte sich i n der deutschen Grundrechtstheorie trotz einzelner Ansätze, vor allem bei den Autoren des Frühliberalismus, ein positives, den demokratischen Mitwirkungscharakter betonendes Verständnis dieses Grundrechts nicht entfalten. Insgesamt bleibt die Auffassung der Versammlungsfreiheit i n der deutschen Grundrechtslehre bis i n die Weimarer Zeit vor allem rechtsstaatlich. Die auf dem Boden der konstitutionellen und positivistischen Staatslehre erwachsene Auffassung, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit als Element des status negativus der Individuen begreift und es der vom Staat grundsätzlich getrennten „bürgerlichen Gesellschaft" zuordnet, w i r k t auch noch i n den Auffassungen zur Versammlungsfreiheit i n der neueren Literatur nach. Zugleich zeigen sich aber i n der Lehre deutliche Wandlungen i m Verständnis der Versammlungsfreiheit, die von einer institutionellen und einer demokratischen Sicht dieses Grundrechts ausgehen. Die Konsequenzen, die sich aus einem solchen gewandelten Grundrechtsverständnis für die Begründung wie die Abgrenzung und rechtliche Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit ergeben, bleiben allerdings weithin ungeklärt. 1. Individualrechtliche und institutionelle Aspekte der Versammlungsfreiheit in der neueren Literatur

Es ist bemerkenswert, daß der rein individualrechtliche Grundzug, der neben dem negativen staatsabwehrenden die herrschende Lehre der Weimarer Zeit kennzeichnete, i n der neueren Literatur zur Versammlungsfreiheit zurückzutreten beginnt. Zwar wird, soweit die einzelnen Autoren überhaupt auf diese Frage eingehen, einhellig die Meinung vertreten, als Träger des Grundrechts der Versammlungsfreiheit kämen nur individuelle natürliche und juristische 30 Personen, nicht aber die Versammlung selbst 31 , i n Betracht. Die Versammlungsfreiheit sei in diesem Sinne kein Gruppengrundrecht 32 . Keineswegs 30 F ü r juristische Personen k o m m t allerdings die Versammlungsfreiheit n u r i n der Form des Veranstaltens i n Betracht. Vgl. v. Münch, a.a.O., Rdnr. 5 zu A r t . 8; Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443; v.Mangoldt-Klein, Anm. I I 5 zu A r t . 8. 31 v.Münch, a.a.O., Rdnr. 8 zu A r t . 8; v. Mangoldt-Klein, A n m . 113 zu A r t . 8; Füßlein t i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443. 32 Die Einordnung der Versammlungsfreiheit unter die gruppenbildenden u n d gruppenschützenden Grundrechte bei Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 105 f., ist gleichfalls nicht i n dem Sinne zu verstehen, daß damit ein eigenes Rechtssubjekt „Versammlung" anerkannt würde.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

einheitlich sind dagegen die Auffassungen darüber, ob sich die Hechtsgarantie des A r t . 8 GG i n der Gewährleistung eines individuellen, subjektiven öffentlichen Freiheitsrechtes erschöpfe oder darüber hinaus rechtliche Wirkungen entfalte. Der Standpunkt, A r t . 8 GG enthalte lediglich ein subjektives öffentliches Recht i n der Form eines individuellen Freiheitsrechts, w i r d ausdrücklich durch v. Münch vertreten. Münch erkennt allerdings an, daß dieses Recht seinen Sinn nur i m Zusammentreffen von mehreren individuellen Grundrechtssituationen gewinne. Insoweit hält er es für gerechtfertigt, bei der Versammlungsfreiheit von einer Gewährleistung „eines vom Staate unbehinderten kollektiven Handelns" 3 3 zu sprechen. Er lehnt es jedoch ab, i n A r t . 8 GG eine Einrichtungsgarantie zu sehen. Abgesehen davon, daß die Unterscheidung von Freiheitsrechten einerseits und Institutsgarantien und institutionellen Garantien andererseits heute fragwürdig geworden sei 34 , besitze die Versammlungsfreiheit auch nicht die Merkmale, die für eine Einrichtungsgarantie i m Sinne der herkömmlichen Lehre kennzeichnend seien. Zwar enthalte das bürgerliche Recht eine Anzahl von Bestimmungen über Versammlungen (§§ 32 ff. BGB, §§ 102 ff. AktG). Da diese Regeln aber nicht allgemein für Versammlungen gälten, seien sie nicht ausreichend, u m die Versammlung zu einem eigenständigen Institut des Privatrechts zu machen 35 . Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit enthalte auch keine institutionelle Garantie. Zwar sei durch das Versammlungsgesetz eine verhältnismäßig eingehende öffentlich-rechtliche Regelung geschaffen worden, diese beziehe sich aber i m wesentlichen nur auf öffentliche Versammlungen. Es fehle also eine umfassende öffentlich-rechtliche Normierung für alle von A r t . 8 GG geschützten Versammlungstypen. Abgesehen davon könne schon deshalb nicht von einer Institution gesprochen werden, w e i l der Sachverhalt „Versammlung" keine „institutionelle Eigenständigkeit" (BVerfG, Beschluß v. 6.10.1959 E 10, 121 für die Presse) besitze. Bei der unübersehbaren Vielfalt seiner Erscheinungsformen sei er, trotz rechtlicher Fixierungen von Einzelheiten, zu vage, um „die für eine Institution erforderliche Verdichtung und Substanz" aufzuweisen 36 . 33 v. Münch, a.a.O., Rdnr. 11 zu A r t . 8 unter Hinweis auf Füßlein, DVB1. 1954, S. 553. 34 v. Münch, a.a.O., Rdnr. 12 zu A r t . 8 unter Hinweis auf Lerche, DVB1. 1958, S. 528. 38 v. Münch, a.a.O., Rdnr. 12 zu A r t . 8. 36 u. Münch, a.a.O., Rdnr. 13 zu A r t . 8. Das Problem, das darin liegt, daß durch die „rechtliche F i x i e r u n g v o n Einzelheiten" durch das Versammlungsgesetz die öffentliche Versammlung deutlich institutionelle Züge erhält, w i r d damit aber gerade umgangen. Gegen eine Einordnung der Versammlungsfreiheit als Instituts- oder institutionelle Garantie, i m Sinne der i n der Weimarer Zeit entwickelten Terminologie wendet sich auch Herzog, Rdnr. 7

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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Den rein individualrechtlichen Charakter des Versammlungsrechts zieht auch Nawiasky i n Zweifel. Nach i h m handelt es sich bei der Versammlungsfreiheit (und Vereinsfreiheit) „strenggenommen nicht mehr um reine Individualrechte, sondern um Einwirkungsmöglichkeiten in die soziale und politische Sphäre" 3 7 , sie „stehen m i t dem Bereich der Gesamtheit i n engstem Zusammenhang" 38 . Welcher A r t dieser Zusammenhang ist und welche rechtlichen Folgerungen daraus für die theoretische Begründung und Abgrenzung der Versammlungsfreiheit zu ziehen sind, bleibt allerdings unerörtert 3 9 . Eine doppelte Gewährleistung enthält A r t . 8 GG nach Auffassung von F. Klein: einmal, wie schon die herrschende Lehre der Weimarer Zeit annahm, ein subjektives öffentliches Recht der einzelnen auf das Sich-Versammeln, zum anderen die Gewährleistung eines gesellschaftlichen Sachverhalts („der Einrichtung i m natürlichen Sinne, der Erscheinungsform des Lebens, der Lebensform") „Versammlung" 4 0 . Ähnlich sieht auch Füßlein i n Art. 8 GG neben einem individuellen Freiheitsrecht das „Institut der Versammlung als eine für die Demokratie unentbehrliche Form der Meinungsäußerung und Meinungsbildung" garantiert 4 1 . Unklar bleibt dabei allerdings, ob damit ein rechtliches oder nur soziales Institut gemeint ist 4 2 . Dabei kennzeichnet Füßu n d 8 zu A r t . 8 GG, der jedoch auf die „soziologische B r e i t e n w i r k u n g " der Grundrechtsgewährleistung hinweist u n d es als „Geschmacksfrage" bezeichnet, ob man A r t . 8 GG institutionellen Charakter beimesse. 37 Nawiasky, Grundgedanken. S. 28; vgl. die entsprechende Formulierung bei Koellreutter, Staatsrecht, S. 57. 38 Nawiasky-Leusser, Kommentar Bayer. Verf., S. 195. 39 Ähnlich allgemein ist auch die Formulierung v o n Wernicke, Bonner Kommentar, Erl. I I 1 b zu A r t . 8 GG (Erstbearbeitung), daß A r t . 8 GG „das Grundrecht der freien geistigen W i r k s a m k e i t " (Art. 5) i m Bereich der Sozietät, u n d zwar i n einem größeren räumlich zusammengefaßten Personenkreis" garantiere. 40 v. MangoldUKlein, Anm. I I 3 zu A r t . 8; Vorbem. A I V 3 c, Abs. 4. Kritisch dazu v. Münch, a.a.O., Rdnr. 14 zu A r t . 8, der es als wenig sinnvoll bezeichnet, i n A r t . 8 neben einem Individualrecht eine „Garantie eines gesellschaftlichen Sachverhalts" zu sehen. Die Ausübung eines jeden Grundrechts sei (auch) ein gesellschaftlicher Vorgang. Der gesellschaftliche Vorgang „Versammlung" werde durch das tatsächlich k o l l e k t i v bezogene Grundrecht der V e r sammlungsfreiheit v o l l abgedeckt, so daß es einer Hervorhebung nicht bedürfe. Gegen K l e i n auch Abel, Die Bedeutung der Lehre v o n den E i n richtungsgarantien, S. 30 ff.; Lerche, Übermaß, S. 241 f., Note 336; vgl. auch die Bedenken gegen eine „Institutionalisierung großen Stils" bei MaunzDürig, Rdnr. 98 zu A r t . 1 Abs. 3. Zustimmend zur Auffassung Kleins H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 5. Aufl., S. 176 u n d Rüthers, Streik, S. 33 ff. 41 Füßleinin: Neumann-Nipperdey-Scheuher, GR I I , S. 443. 42 Diese U n k l a r h e i t w i r d v o n Münch (a.a.O., Rdnr. 12 zu A r t . 8) u n d v. Mangoldt-Klein (Anm. I I 3 zu A r t . 8) zu Recht gerügt. Während Münch der Auffassung ist, die Formulierung Füßleins deute auf die Annahme einer Institutsgarantie i m Rechtssinne, versteht Lerche, Übermaß, S. 242, Note 336, die Bemerkung Füßleins offenbar i m Sinne einer „Lebensformgarantie",

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

lein das Problem, das sich aus der Eigenart des Versammlungsrechts als kollektives Betätigungsrecht ergibt, recht treffend, wenn er schreibt: „ I m Gegensatz zu den lediglich auf individuelle Betätigung abgestellten Grundrechten handelt es sich bei der Versammlungsfreiheit um die Garantie eines vom Staate unbehinderten kollektiven Handelns, bei dem die Freiheit immer wieder ihre Grenze finden muß i n dem gleichberechtigten Betätigungswillen der Mitbeteiligten, die i n der Versammlung zuweilen gerade entgegengesetzte Ziele verfolgen 4 3 ." Während F. Klein die Versammlung lediglich als Einrichtung i m natürlichen Sinne betrachtet und auch bei Füßlein unklar bleibt, ob er das „Institut der Versammlung" als rechtliche Institution versteht, faßt H. J. Wolff die Versammlung eindeutig als verfassungsmäßig garantierte Hechtseinrichtung auf und zieht daraus die Folgerung, daß etwaige gesetzliche Einschränkungen eng und andere Bestimmungen so auszulegen sind, daß die geschützten Institute nicht gefährdet oder verletzt werden 4 4 . Auch Leisner rechnet die Versammlungsfreiheit neben „Ehe, Erbrecht und Vereinsfreiheit zu den Instituten" des Privatrechts (!), an deren Bestehen der Staat, weil er nicht ausschließlich auf unmittelbaren Beziehungen zu seinen Bürgern aufruhe und weil i h m das Bestehen bestimmter Beziehungen zwischen seinen Bürgern wesentlich sei, ein politisches Interesse habe 45 . Worin die rechtliche Substanz des Instituts „Versammlung" bestehen soll, welche „Normenkomplexe" des Privatrechts 4 6 eine solche Einrichtungsgarantie ausmachen sollen, bleibt allerdings offen. Überblickt man die hier angeführten Stellungnahmen zum Inhalt der Rechtsgarantie des A r t . 8 GG i n der neueren Literatur, so w i r d erkennbar, daß das Problem, das darin liegt, ein nur kollektiv auszuübendes Grundrecht als reines Individualrecht einzuordnen, mehr oder minder deutlich empfunden w i r d 4 7 . d . h . n u r eines gesellschaftlichen Sachverhalts. Lerche selbst leugnet den institutionellen Charakter der Versammlungsfreiheit nicht, sieht i h n aber auf jene Normenkomplexe beschränkt, die das freie Sichversammeln ermöglichen. 43 Füßlein, DVB1. 1954, S. 553. 44 H. J. Wolff, Verwaltungsrecht I , 5. Aufl., S. 176, wobei m e r k w ü r d i g e r weise i m Zusammenhang m i t der behaupteten Institutsgarantie der Versammlung auf A r t . 9 GG (!) Bezug genommen w i r d . Daneben sieht W o l f f i n der Versammlungsfreiheit anscheinend auch ein Individualgrundrecht (a.a.O., I , S. 174), ohne allerdings dessen Verhältnis zu der von i h m angenommenen Institutsgarantie näher zu bestimmen. 45 Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 397. 46 Das Problem, daß die herkömmlicherweise als rein öffentlich-rechtlich verstandenen Normen des Versammlungsgesetzes einer solchen privatrechtlichen Deutung der Rechtsbeziehungen zwischen den Versammelten entgegenstehen könnten, w i r d bei Leisner nicht gesehen. 47 Es ist sicherlich k e i n Zufall, daß gerade bei jenen Grundrechten, die Gruppenphänomene zum Gegenstand haben, w i e A r t . 6 (Ehe u n d Familie),

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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Zugleich spiegelt sich in der Hervorhebung institutioneller Gesichtspunkte bei der Erörterung des Art. 8 GG die allgemein i n der modernen Grundrechtslehre zu beobachtende Tendenz, auch i n den klassischen individuellen Freiheitsrechten institutionelle .Gehalte garantiert zu sehen 48 , ohne daß dabei allerdings i m einzelnen Einhelligkeit und Klarheit über die rechtliche Tragweite einer solchen Auffassung bestünde. Dies gilt vor allem für die Frage des Verhältnisses von individuellem Freiheitsrecht und Einrichtungsgarantie i m natürlichen Sinne (u. Mangoldt-Klein, wohl auch Füßlein) oder Rechtssinne (H. J. Wolff, Leisner), ebenso wie für das damit zusammenhängende Problem der Zulässigkeit und der Maßstäbe grundrechtsbegrenzender und grundrechtsausgestaltender Gesetzgebimg. Das von diesen Autoren behauptete Nebeneinander von individuellem Freiheitsrecht, i n das nur im Rahmen eines Gesetzes Vorbehalts „eingegriffen" werden kann, und einer institutionellen Garantie, die nur i n ihrem Wesensgehalt geschützt ist, verbindet ganz heterogene Grundrechtskonzeptionen m i t einander. Kennzeichnend für die mangelnde Klärung des Verhältnisses von institutionellem Gehalt und individuellem Freiheitsrecht bei der Versammlungsfreiheit ist die Tatsache, daß jene Bestimmungen des Versammlungsgesetzes, die nicht unmittelbar durch den Gesetzesvorbehalt des A r t . 8 Abs. 2 GG gedeckt sind, nicht als zulässige institutionelle Ausgestaltung des Versammlungsgrundrechts verstanden werden. Um ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit zu begründen, greift man, ganz i m Banne individualrechtlicher Vorstellungen, auf die Konstruktion eines „allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalte" (H. J. Wolff), einen „allgemeinen Verfassungsvorbehält" (Maunz) oder „immanente Gewährleistungsschranken" (v. Mangoldt-Klein) zurück. Das eigentümliche Problem, das darin liegt, daß durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes ein klassisches individuelles FreiheitsA r t . 5 (Meinungs-, insbesondere Pressefreiheit), A r t . 9 (Vereine u n d K o a l i tionen), A r t . 21 (Parteien), i n der Lehre institutionelle Gesichtspunkte auftauchen. I n allen diesen Fällen handelt es sich u m sozial strukturierte u n d normativ geordnete Gebilde überindividueller A r t , wobei allerdings der Grad staatlicher Normierung u n d Regelung sehr unterschiedlich ist. Sowohl die Notwendigkeit, die Stellung solcher Gruppen i m Rahmen der sozialen und politischen Ordnung zu bestimmen, wie auch die sich innerhalb solcher Gruppen ergebenden Konflikte,, können dazu führen, daß sich der staatliche Gesetzgeber zu einer m e h r oder minder eingehenden rechtlichen Regelung dieser Bereiche entschließt. Eine solche Regelung geht über die Relation I n d i v i d u u m - Staat hinaus u n d gehört i m Grunde auch nicht mehr i n den Bereich I n d i v i d u u m - I n d i v i d u u m , sondern stellt eine Regelung, Anerkennung u n d K o r r e k t u r der intermediären S t r u k t u r e n u n d Gewalten her, die zwischen den Polen von I n d i v i d u u m u n d Staat ihren Platz haben. 48 Z u den Ansätzen institutionellen Grundrechtsdenkens i n der neueren Rechtsprechung u n d Lehre vgl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 80—85.

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1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

recht institutionellrechtliche eher verstellt als erhellt.

Aspekte erhält, w i r d

dabei allerdings

2. Rechtsstaatliche und aktiv demokratische Aspekte i m Verständnis der Versammlungsfreiheit

Ebenso wie der rein individualrechtliche ist auch der negative, staatsabwehrende Grundzug, der das Verständnis der Versammlungsfreiheit noch i n der herrschenden Lehre der Weimarer Zeit prägte, i n der neueren Literatur keineswegs mehr eindeutig. So ist zwar für v. Mangoldt-Klein die Versammlungsfreiheit ein subjektives öffentliches Recht i m Sinne eines negativen Statusrechts 49 . Als solches richtet es sich ausschließlich gegen den Staat 50 . Zugleich aber w i r d von der Versammlungsfreiheit als einem „gegebenenfalls auch aktiv demokratischen Mittel, das Grundrecht der freien geistigen Wirksamkeit i m Bereich der Sozietät . . . zu sichern", gesprochen 51 . Ähnlich bestimmt v. Münch die Versammlungsfreiheit als klassisches individuelles Freiheitsrecht gegen den Staat, als Abwehrrecht „ i m Sinne eines negativen Statusrechts" 52 , wobei er allerdings in A r t . 8 GG neben rechtsstaatlichen auch freiheitlich-demokratische Elemente 5 3 enthalten sieht. Anders als v. Mangoldt-Klein lehnt Münch eine Wirkung der Versammlungsfreiheit gegenüber Dritten nicht grundsätzlich ab, sondern zählt A r t . 8 GG zu jenen Grundrechten, deren Rechtsgehalt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (E 7, 198 ff., 205 f.) i m bürgerlichen Recht mittelbar — vor allem über die Generalklauseln — entfaltet werde 5 4 . I n diesem Sinne richte sich das Versammlungsrecht in der Form der Teilnahme nicht nur gegen die öffentliche Gewalt, sondern möglicherweise auch gegen Veranstalter und (oder) Leiter der Versammlung 5 5 . 4» 80 ei von

v. Mangoldt-Klein, A n m . I I 3 zu A r t . 8. v. Mangoldt-Klein, A n m . I I 6 zu A r t . 8. v. Mangoldt-Klein, A n m . I I 2 a unter Übernahme einer Wernicke, Erl. I I 1 b zu A r t . 8.

Formulierung

m v. Münch, a.a.O., Rdnr. 15. m v. Münch, a.a.O., Rdnr. 11. «4 v. Münch, a.a.O., Rdnr. 25. «5 v.Münch, a.a.O., Rdnr. 26 unter Ablehnung der Auffassung des O V G Lüneburg (VwRspr. Bd. 8, Nr. 124). Es entgeht Münch dabei offenbar, daß ein Widerspruch zu der v o n i h m behaupteten mittelbaren W i r k u n g v o n A r t . 8 G G i m Privatrecht u n d der öffentlichrechtlichen R e c h t s s t e l l u n g des V e r sammlungsleiters, von der er anscheinend ausgeht (vgl. Rdnr. 13), besteht. Münch k o m m t so ungewollt zu der merkwürdigen Konstruktion, daß der Versammlungsleiters als öffentlichrechtlicher Rechtsträger m i t öffentlichrechtlichen Befugnissen an die Grundrechte n u r i m Wege einer mittelbaren D r i t t w i r k u n g bei der Interpretation des Privatrechts gebunden ist.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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Den aktiv demokratischen Aspekt der Versammlungsfreiheit betonen auch Nawiasky-Leusser m i t der Formulierimg: „Das Versammlungsrecht ist ein unverzichtbares M i t t e l einer aktiven Demokratie, w e i l es den breiten Massen der Bevölkerung die Möglichkeit gibt, mittelbar an den öffentlichen Diskussionen teilzunehmen" 5 6 . Ähnlich spricht Füßlein vom „Institut der Versammlung als einer für die Demokratie unentbehrlichen Form der Meinungsäußerung und Meinungsbildung" 5 7 . Ausführlicher setzt sich Ott m i t der aktiv demokratischen Funktion des freien Versammlungs- und Demonstrationsrechts auseinander. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere das Parteifinanzierungsurteil vom 19. 7.1966, betont er die Bedeutung der Versammlungsfreiheit als „eines der vorzüglichsten und ursprünglichsten M i t t e l zur M i t w i r k u n g an der politischen Willensbildung des Volkes und zur Einwirkung auf das Handeln der öffentlichen Gewalt — neben Parteien und Presse" 58 . Entsprechend der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts 59 , daß sich in der Demokratie die politische Willensbildung grundsätzlich vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk h i n zu vollziehen habe, vertritt Ott die Auffassung, daß es den Staatsorganen prinzipiell verwehrt sei, in den Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung regulierend einzugreifen; dieser Prozeß sei vielmehr grundsätzlich „staatsfrei" zu halten 6 0 . Von diesem theoretischen Ausgangspunkt setzt sich Ott vor allem m i t der noch immer herrschenden versammlungspolizeilichen Praxis auseinander, die darauf hinausläuft, gerade Versammlungen mit politischer Zwecksetzung i n besonderer Weise der Kontrolle und Beschränkungen zu unterwerfen. Darüber hinaus finden sich i n seiner Arbeit jedoch auch einige bemerkenswerte Ausführungen zur Stellung und Aufgabe des Versammlungsleiters. So weist er darauf hin, daß die Regelung des Versammlungsgesetzes eher am Vorbild des Führerprinzips als dem des primus inter pares orientiert sei, der der Versammlungsleiter nach demokratischem Reglement eigentlich sein solle. Dabei sieht er allerdings die Stellung, die das Versammlungsgesetz dem Leiter zuspricht, primär als Ausdruck eines ordnungspolizeilichen, 66

Nawiasky-Leusser, a.a.O., S. 195. Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443. 58 Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 28. 59 B V e r f G i n N J W 1966, S. 1499 ff., 1503. 60 Ott, a.a.O., S. 29; i n Anlehnung an O t t bezeinen auch Dietel-Gintzel die Versammlungsfreiheit nicht n u r als ein negatives, sondern auch als ein aktives Statusrecht, das als M i t t e l zur Teilnahme am staatlichen Willensbildungsprozeß i n der Demokratie von unten nach oben zu sehen sei u n d wegen seiner Bedeutung f ü r die Realisierung des Prinzips der V o l k s souveränität besonderen Rang besitze. Dietel-Gintzel, Rdnr. 17—21 zu § 1 VersG. 67

110

1. Teil: Grundzüge der Entfaltung der Versammlungsfreiheit

obrigkeitsstaatlichen Interesses 61 und nicht unter dem Gesichtspunkt des Funktionsschutzes und der Verstärkung des Versammlungsgrundrechts durch die rechtliche Möglichkeit hausrechtsunabhängiger Organisation 62 . Unter bewußter Absetzung gegen die frühere rein rechtsstaatliche und negative Auffassung bezeichnet auch Mallmann Vereins- und Versammlungsfreiheit „als unentbehrliches Mittel einer aktiven Demokratie", die „als unverzichtbare Garantien einer freien öffentlichen Meinungs- und Willensbildung positive, für Staats- und Gesellschaftsordnung grundlegende Bedeutung" besitzen 63 » 64 . Zusammen mit dem Wahlrecht, der Parteienfreiheit, der öffentlichen Meinungs- und Pressefreiheit und dem Petitionsrecht rechnet er die politische Vereins- und Versammlungsfreiheit zu den demokratischen Grundfreiheiten der Bürger, Gruppen und Verbände. Wegen der engen Verbindung von Vereins- und Versammlungsfreiheit m i t dem Grundrecht der Meinungsfreiheit müsse auch für diese gelten, was das Bundesverfassungsgericht i m L ü t h - U r t e i l für die Meinungsfreiheit festgestellt habe: sie sind „schlechthin konstituierend" für die freiheitliche Demokratie. M i t Recht weist Mallmann darauf hin, daß sich hieraus „wesentliche, i n Literatur und Rechtsprechung weitgehend nicht geklärte Konsequenzen für die Interpretation und Anwendung der A r t . 8, 9 GG, besonders auch die Abgrenzung ihres unantastbaren Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2 GG) und eine sachgerechte Abwägung m i t anderen Rechtsgütern" 6 5 ergeben. Eben zur Klärung der damit angesprochenen Probleme versucht die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu leisten. Sieht man in der Versammlungsfreiheit nicht nur ein staatsgerichtetes individuelles Freiheitsrecht, sondern zugleich auch ein Funktionselement von konstitutiver Bedeutung für die Demokratie, so ergeben sich hieraus nicht nur Konsequenzen für die Abgrenzung dieses Grundrechts gegenüber dem Staat und den Rechten Dritter, sondern auch für die gesetzliche Ausgestaltung der inneren Ordnung von Versammlungen und die Abel Ott, a.a.O., S. 22, 23.

62 Zutreffend erkennt Ott auch, daß das Versammlungsgesetz nichtorganisierten öffentlichen Versammlungen grundsätzlich ablehnend gegenübersteht u n d daß vor allem die nichtorganisierte Spontanversammlung nicht i n die Systematik des Gesetzes paßt (a.a.O., S. 55, 56); vgl. dazu auch i m T e x t unten S. 131 ff. 63 Mallmann, a.a.O., Sp. 107. 64 Ähnlich, w e n n auch m i t einer gewissen Zurückhaltung gegenüber einer zu starken funktionellen Beziehung der Versammlungsfreiheit auf den demokratischen Prozeß öffentlicher Meinungsbildung, Herzog, Rdnr. 2 u. 3 zu A r t . 8, der den Gesichtspunkt individueller Persönlichkeitsentfaltung stark i n den Vordergrund der Grundrechtsgewährleistung rückt. 65 Mallmann, a.a.O., Sp. 108.

6. Kap.: Die Versammlungsfreiheit unter dem Grundgesetz

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grenzung der Rechte und Pflichten der an einer Versammlung beteiligten Personen. Eine tiefergreifende und systematische Untersuchung dieser Probleme setzt allerdings eine grundsätzliche Besinnung auf Ort und Funktion der Versammlungsfreiheit i n einer demokratischen Verfassungsordnung voraus, die über die i n der neueren Literatur vorhandenen Ansätze eines institutionellen und aktiv demokratischen Verständnisses dieses Grundrechts notwendig hinausgehen muß. Sie soll nunmehr unternommen werden.

ZWEITER

TEIL

Versuch einer Theorie der Versammlungsfreiheit

Erstes Kapitel

Zur Ortsbestimmung des Problems I . Ausgangsfrage und R a h m e n der theoretischen Untersuchung

Bevor sich die Arbeit dem Versuch zuwendet, eine eigene theoretische Grundlegung der Versammlungsfreiheit zu entwickeln und hieraus konkrete Folgerungen für die Interpretation und Abgrenzung dieses Grundrechts abzuleiten, sei zunächst noch einmal die Ausgangsund Leitfrage der Untersuchung ins Gedächtnis gerufen, die auch i m Hintergrund der folgenden Erörterungen steht. Es ist die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters einer öffentlichen Versammlung und das damit zusammenhängende Problem der Bestimmung des Umfangs dieser Befugnisse, insbesondere der Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer. Wie i n der Einleitung dargelegt, ist dieses Problem durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes, durch die die Befugnisse des Versammlungsleiters unabhängig und abweichend vom privaten Hausrecht ausgestaltet worden sind, neu gestellt und i n weiterem Zusammenhang zu sehen. Es w i r d damit zugleich die Frage aufgeworfen, wieweit Versammlungen überhaupt rechtlich geordnete Gebilde sind und i n welchem Umfang eine Ausgestaltung ihrer inneren Ordnung durch den Gesetzgeber m i t dem Ziel „Spielregeln öffentlicher Diskussion . . . aus gesundem demokratischen Geist" zu schaffen, verfassungsrechtlich zulässig ist. Eine Klärung dieser dogmatischen und verfassungstheoretischen Probleme, die i n der Literatur bislang weitgehend fehlt, erfordert eine grundsätzliche Bestimmung von Ort und Funktion der Versammlungs-

.Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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freiheit i m Gesamtsystem der Verfassung und der Rechtsordnimg. Die Entwicklung einer solchen Theorie der Versammlungsfreiheit i m demokratischen Staat, für die in der Literatur ebenfalls nur Ansätze vorhanden sind, führt notwendig i n eine Auseinandersetzung mit Grundproblemen der Staats- und Verfassungstheorie. Obwohl eine ganze Anzahl dieser Probleme, i n deren Spannungsfeld eine Theorie der Versammlungsfreiheit zu entwickeln ist, bereits i m Verlauf der historischen Darlegung angeklungen sind, sollen die wichtigsten dieser Problemkreise hier noch einmal kurz zusammengefaßt und umrissen werden, da sie gleichsam den Rahmen der folgenden Erörterungen bilden. Die damit angestrebte Ortsbestimmung des Problems einer theoretischen Grundlegung der Versammlungsfreiheit hat zugleich den Sinn einer methodischen Vorüberlegung.

II. Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von „Staat" und „Gesellschaft" Versammlungen und Vereinigungen bilden nach einer Formulierung von Füßlein eine „Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft". Sie seien einerseits „naturgegebene Formen kollektiver gesellschaftlicher Betätigung", wirkten aber andererseits „zu allen Zeiten auf den Staat, bald f ö r d e r n d . . . , bald seine Autorität schwächend und zersetzend" 1 . Es w i r d damit auf ein Problem hingewiesen, das mehr oder minder bewußt i m Hintergrund der Diskussion u m die Versammlungsfreiheit steht: die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. N u n ist nicht zu verkennen, daß die „Trennungslinie" zwischen „Staat" und „Gesellschaft" — sofern man überhaupt an dieser Unterscheidung festhält 2 — i n einem demokratischen Gemeinwesen 3 anders zu ziehen ist, als unter einer konstitutionell rechtsstaatlichen Ordnung. Konnte die rein rechtsstaatliche Grundrechtstheorie die Versammlungsfreiheit als Recht des status negativus der Individuen noch insgesamt i n den Bereich einer unpolitisch verstandenen „Gesellschaft" verweisen und ihr, soweit sie die Belange des „Staates" überhaupt tangierte, 1 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 1, Hervorhebung n u r hier. 2 Die Berechtigung dieser Unterscheidung auch f ü r die Gegenwart w i r d , w e n n auch m i t verschiedener Begründung, u. a. v o n Kaiser, A r t i k e l Staatslehre, i n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 7, Sp. 589—606, 594; Koettgen, I n n e r staatliche Gliederung u n d moderne Gesellschaftsordnung, i n : Goettinger Festschrift für das O L G Celle 1961, S. 240 f.; Werner Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 2. Aufl. 1958 u n d Henke, Das Recht der politischen Parteien, 1964, insbes. S. 1 f., vertreten. 3 M i t dem Ausdruck „Gemeinwesen" soll hier der „Staat" u n d „Gesellschaft" umfassende Gesamtverband bezeichnet werden.

8 Quilisch

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

nur ein polizeirechtliches Interesse abgewinnen, so ist eine solche Auffassung unter der Herrschaft des Grundgesetzes nicht aufrechtzuerhalten. I n einer demokratischen Verfassungsordnung lassen sich die Grundrechte nicht mehr lediglich als Ausdruck eines bürgerlich liberalen „Verteilungsprinzips" deuten, durch die ein Bereich individueller Freiheit vor staatlichen Eingriffen ohne gesetzliche Grundlage geschützt wird. Die Freiheitsrechte erhalten vielmehr zugleich eine positive, staatsaufbauende Funktion, die auch die Bestimmung ihres Inhalts beeinflußt. Dies gilt i n besonderem Maße von jenen Grundrechten, die wie die öffentliche Meinungs- und Pressefreiheit, die Vereins- und Parteienfreiheit, das Petitions- und das Wahlrecht und eben auch die Versammlungsfreiheit, den Bürgern die Möglichkeit aktiv demokratischer Anteilnahme und Mitgestaltung i m Gemeinwesen eröffnen. Die Grundrechte gehören insofern zur „funktionellen Grundlage" der Demokratie 4 . Sie rücken, u m i m Bilde der verräumlichenden Denkweise der Bereiche von „Staat" und „Gesellschaft" zu bleiben, gleichsam näher an den Staat heran. Man könnte nun daran denken, den Ort der Versammlungsfreiheit zwischen „Staat" und „Gesellschaft" i n der Weise näher zu bestimmen, daß man untersucht, inwieweit und i n welcher Beziehung Versammlungen mehr dem einen oder dem anderen dieser Bereiche zuzurechnen sind 5 . Gegen ein solches Verfahren bestehen jedoch sowohl praktische wie grundsätzliche Bedenken. Eine Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, die sich nicht auf Allgemeinheiten beschränkte, müßte notwendig auf eine allgemeine Verfassungstheorie hinauslaufen. Wichtiger aber noch ist die Tatsache, daß der heuristische Wert dieser Unterscheidung für eine Erkenntnis der modernen Wirklichkeit höchst fragwürdig geworden ist. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat ihren geistesgeschichtlichen Ursprung i n einer spezifisch deutschen Tradition der konstitutionellen und positivistischen Staatslehre des 19. Jahrhunderts 6 . Sie spiegelte eine bestimmte soziale und politische Situation, die sich seitdem so tiefgreifend gewandelt hat, daß die Berechtigung dieser Kategorien insgesamt < Vgl. Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 17. E i n solches methodisches Vorgehen versucht Henke, a.a.O., S. 1 ff., der bei seiner Untersuchung der Stellung der Parteien die Prämisse zugrunde legt, die Parteien stünden zwischen Staat u n d Gesellschaft. Vgl. dazu die sehr polemische K r i t i k von Ridder, J Z 66, S. 78. « Grundlegend zur E n t w i c k l u n g dieser Unterscheidung jetzt Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, i n : Festgabe f ü r R. Smend, 1962, S. 23 ff. M a n w i r d allerdings auch bei der von Ehmke erwogenen Ersetzung dieses Begriffspaares durch die aus der angloamerikanischen Staatslehre entlehnten Begriffe v o n »civil society' u n d ,government' fragen müssen, ob sie jene Differenzierung zu leisten vermag, die Ehmke selbst (a.a.O., S. 47) zur Lösung der komplexen Probleme etwa der D r i t t w i r k u n g f ü r erforderlich hält. 5

1. Kap.: Z u r Ortsbestimmung des Problems

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z w e i f e l h a f t g e w o r d e n ist. K o n n t e m a n i n d e r k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n a r chie m i t i h r e m a u f d e n M o n a r c h e n v e r p f l i c h t e t e n B e a m t e n a p p a r a t noch m i t e i n i g e r B e r e c h t i g u n g 7 d e n „ S t a a t " d e r „ b ü r g e r l i c h e n Gesellschaft" gegenüberstellen, so l ä ß t sich i n e i n e r D e m o k r a t i e der S t a a t i m S i n n e des o r g a n i s i e r t e n H e r r s c h a f t s a p p a r a t e s n i c h t m e h r als e t w a s u n a b h ä n g i g v o n d e n sozialen K r ä f t e n u n d S t r e b u n g e n E x i s t i e r e n d e s b e g r e i f e n 8 . Diese A b h ä n g i g k e i t des „ S t a a t e s " v o n d e r „ G e s e l l s c h a f t " g e h t w e i t ü b e r das E r f o r d e r n i s d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m a t i o n s t a a t l i c h e r H e r r schaft h i n a u s , d e n n u m g e k e h r t w i r d auch d i e „ G e s e l l s c h a f t " m i t z u n e h m e n d e r S t a a t s t ä t i g k e i t i n a l l e n Lebensbereichen i m m e r m e h r v o m Staate a b h ä n g i g u n d i n i h r e r k o n k r e t e n G e s t a l t d e r a r t g e p r ä g t , daß sie w e i t h i n eher d e n C h a r a k t e r e i n e r s t a a t l i c h e n V e r a n s t a l t u n g a n n i m m t , als d e n eines Bereiches e i g e n s t ä n d i g e r S e l b s t r e g u l i e r u n g 9 . M i t d e r s t ä n d i g e n V e r d i c h t u n g sozialer K o n t a k t e z w i s c h e n i m m e r enger u n d i m m e r a b h ä n g i g e r z u s a m m e n l e b e n d e n M e n s c h e n u n d d e r wachsenden D i f f e r e n z i e r u n g u n d K o m p l e x i t ä t einer m o d e r n e n Massengesellschaft ist es u n a u s b l e i b l i c h , daß v i e l e Bereiche, die f r ü h e r w e i t g e h e n d sozialer S e l b s t r e g u l i e r u n g überlassen b l e i b e n k o n n t e n , i m m e r m e h r s t a a t l i c h e r R e g u l i e r u n g u n d A u s g e s t a l t u n g b e d ü r f e n 1 0 . Hesse 7 Ob diese Unterscheidung tatsächlich den politischen u n d sozialen Sachverhalt jener Zeit einigermaßen korrekt widerspiegelt, ist durchaus zweifelhaft. M i t Recht hat Dahrendorf. Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, 1966, S. 43 ff. darauf hingewiesen, daß beispielsweise die Industrialisierung Deutschlands i m letzten Jahrhundert keineswegs ein reines Werk der „Gesellschaft" war, sondern zum großen Teile v o m „Staat" getragen wurde. Es läßt sich nicht übersehen, daß sich hinter dieser Unterscheidung handfeste materielle und politische Interessen verbargen, nicht n u r von Seiten des .an der politischen Macht interessierten Adels, sondern auch v o n Seiten des an seiner wirtschaftlichen Freiheit interessierten Bürgertums. Eben diese Frage des ,cui bono' läßt sich ehrlicherweise auch nicht umgehen, w e n n m a n unter den modernen Verhältnissen an einer Trennung von Staat u n d Gesellschaft u n d vor allem der „überparteilichen" Stellung des Staates festhalten w i l l . Sieht m a n die Parteilichkeit der staatlichen Macht als Problem, so ist i h r v i e l eher zu begegnen, als w e n n m a n dem Staat von vornherein jene Vermutung der „Überparteilichkeit" zukommen läßt, die Radbruch als „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" bezeichnet hat. 8 Z u der f ü r die Staatstheorie der Moderne grundlegenden Erkenntnis, daß der moderne Staat nicht mehr als eine schicksalsgegebene, sondern eine dem Menschen verfügbare Ordnung verstanden w i r d , vgl. bereits Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852, S. 6 f. • Vgl. die K r i t i k Ehmkes, a.a.O., S. 43 f f an der These Forsthoff s, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, res publica, Heft 1 (1959), S. 14 ff. von der „Selbstorganisation der Gesellschaft", die die E n t w i c k l u n g i n der Bundesrepublik nach 1945 gekennzeichnet habe. I n einem Gemeinwesen, i n dem etwa ein D r i t t e l des jährlichen Volkseinkommens durch die öffentlichen Haushalte läuft, w i r d eine Unabhängigkeit der „Gesellschaft" v o m „Staat" ohneh i n illusorisch. io Ellul, Le droit occidental en 1970, i n : Futuribles (1963), H e f t 47 spricht i n diesem Zusammenhang v o n einer „Verstaatlichung des Rechts", die die moderne Entwicklung kennzeichne. Vgl. auch die eindrucksvollen Ausführungen bei Savatier, Les métamorphoses économiques et sociales d u

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

spricht in diesem Zusammenhang von einer „gegenseitigen Durchdringung" von Staat und Gesellschaft 11 . M i t dieser gegenseitigen Durchdringung ist auch eine Annäherung der Handlungsformen und Handlungsmaßstäbe „staatlicher" und „gesellschaftlicher" Tätigkeit zu verzeichnen 12 , eine Entwicklung, die sich i n der Diskussion u m die „schlichthoheitliche Verwaltung" und ihre Grundrechtsbindung 13 ebenso niederschlägt wie i m Streit um die „ D r i t t w i r k u n g " 1 4 der Grundrechte zwischen Privaten. Es ist eben diese zunehmende Konvergenz „staatlicher" und „gesellschaftlicher" Handlungsformen und -maßstäbe, die auch den Problemhintergrund für die Frage nach der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen und der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters abgibt und die ihren kennzeichnenden Ausdruck i n der Tatsache findet, daß durch ein herkömmlicherweise rein öffentlichrechtliches Gesetz wie das Versammlungsgesetz Rechtsbeziehungen zwischen Privaten geregelt und ausgestaltet werden. Eine Untersuchung, die von vornherein von einer qualitativen Verschiedenheit der Bereiche von „Staat" und „Gesellschaft" ausginge, würde unter diesen Umständen diese Probleme eher verstellen, zumindest jedenfalls eine Problemlösung schon durch ihre Prämissen i m wesentlichen vorwegnehmen. Es soll dah6r i m folgenden grundsätzlich eine induktive Betrachtungsweise verfolgt werden, die vom Problem der Versammlungsfreiheit und der Ordnung von Versammlungen ausgeht, dabei aber das verfassungstheoretische Problem des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft m i t i m Auge behält und i n die Fragestellung einbezieht. I I I . D i e Versammlungsfreiheit

im

Spannungsfeld von Staat u n d Verbänden

I n welchem Maße die Annahme einer grundsätzlichen Verschiedenheit von Staat und Gesellschaft die Ergebnisse der Betrachtung prädroit c i v i l d'aujourd'hui, 2. Aufl., Paris 1952 über die „Akzeleration des Rechtswandels". Den w e l t w e i t e n Charakter dieses Prozesses b r i n g t das Buch von Friedmann, L a w i n a Changing Society, London 1959, sehr deutlich v o r Augen. 11 Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungsystem des Grundgesetzes, i n : Festgabe f ü r R. Smend, 1962, S. 71 ff., 79, zugleich m i t kritischem Hinweis auf Ridder, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, 1960, der diesen Prozeß n u r i m H i n b l i c k auf das demokratische Prinzip sieht. 12 Diese Konvergenz von „Staat" u n d „Gesellschaft" ignoriert Henke, a.a.O., S. 1, w e n n er das Auseinandertreten von Staat u n d Gesellschaft als das typische Kennzeichen der modernen E n t w i c k l u n g ansieht. Z u m Problem Schranken der nichthoheitlichen V e r w a l t u n g vgl. Mallmann, V V D S t R L 19, S. 165 ff. u n d Zeidler, ebd., S. 208 ff. " Z u m Streitstand vgl. die Hinweise bei Leisner, a.a.O., S. 338 ff.

.Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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judiziert, zeigt sich auch bei dem zweiten verfassungstheoretischen Grundproblem, i n dessen Rahmen die Versammlungsfreiheit zu sehen ist, nämlich der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Verbänden. Diese Frage scheint auf den ersten Blick nur ein Teilaspekt des Problems von Staat und Gesellschaft zu sein. Sie betont jedoch einen Gesichtspunkt, der für das Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der modernen Demokratie von zentraler Bedeutung ist und der deshalb selbständig erörtert werden soll. Je nachdem ob man den „Staat" als etwas von den „gesellschaftlichen" Gruppen und Teilverbänden grundsätzlich Unterschiedenes betrachtet oder aber den Staat als den die Gesamtheit des politischen Gemeinwesens umgreifenden Gesamtverband ansieht und ihn auf diese Weise zu den Teilverbänden i n Beziehung setzt, ergibt sich schon i m Ansatz eine andere Fragestellung. Geht man i m ersten Falle von einer gleichsam a priori festgestellten Andersartigkeit aus, so w i r d i m zweiten Falle gerade die Frage nach der Verschiedenheit zwischen Gesamtverband und Teilverbänden zum Problem. Für die Zwecke dieser Untersuchung erscheint die zweite Fragestellung fruchtbarer, w e i l sie jene Präjudizierung vermeidet, die i n der grundsätzlichen Scheidung von Staat und Gesellschaft notwendig angelegt ist. Eine Betrachtung der Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von Staat und Teilverbänden t r i f f t allerdings auf besondere Schwierigkeiten. Einmal steht die kontinentaleuropäische Staatslehre, i m Gegensatz zur angloamerikanischen, dem Problem der Verbände i m Staat traditionell fremd, wenn nicht feindlich gegenüber 15 . I m Gefolge der vereinigungsfeindlichen Doktrin und Praxis der französischen Revolution und durch die Betonimg der totalen Andersartigkeit des Staates durch die konstitutionelle und positivistische Staatslehre 16 wurde das Problem des Verhältnisses von Gesamtverband und Teilverbänden weithin verschüttet und aus der verfassungstheoretischen Diskussion verdrängt 1 7 . « Scheuner, DVB1. 1965, S. 577 ff. Es ist allerdings zu beachten, daß die Assoziationsfeindlichkeit der französischen Staatslehre u n d Staatstheorie gerade von der grundsätzlichen Gleichartigkeit des Staates m i t anderen Verbänden ausging u n d ihre Ablehnung aller Teilverbände v o r allem auf der Konkurrenzfurcht des Staates beruhte. Anders als die französische D o k t r i n ging die konstitutionelle u n d positivistische Staatslehre i n Deutschland von einer grundsätzlichen Verschiedenheit v o n Staat u n d Teilverbänden aus. Bildet i n Frankreich gleichsam die ungeteilte Volkssouveränität den H i n t e r g r u n d der Verbandsfeindlichkpit, so ist es i n Deutschland v o r allem die v o n der gesellschaftlichen Realität bewußt abgelöste Staats Souveränität, die das Verbandsproblem verdrängt. 17 Daß sich hier i n der modernen staatsrechtlichen Diskussion eine deutliche Wandlung anbahnt, ist allerdings nicht zu übersehen. Vgl. etwa die

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Abgesehen von dieser generellen Vernachlässigung des Verbandsproblems i n der kontinentalen Staatslehre kommt für die Versammlungsfreiheit noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Eine verfassungstheoretische Erörterung der Versammlungsfreiheit unter dem Aspekt der Verbandsproblematik dürfte vor allem auch deshalb fehlen, w e i l — wie noch zu zeigen sein w i r d — bereits die soziologische Einordnung der Versammlung als „Augenblicksverband" nicht selbstverständlich ist. So w i r d herkömmlicherweise das Recht, sich frei zu versammeln, fast ausschließlich als eine Freiheit der Individuen i m Verhältnis zum Staat aufgefaßt, nicht aber als ein Problem der Stellung von Gruppen und Verbänden i m Staat und der grundrechtlichen Sicherung ihrer Positionen. Das rein individualrechtliche Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der traditionellen Grundrechtstheorie ist dabei ebenso Ausdruck wie selbst Ursache für die Vernachlässigung des Verbandsgesichtspunktes i n der Diskussion u m dieses Grundrecht. Es ist aber nicht zu übersehen, daß eine rein individualrechtliche Grundrechtsauffassung vor allem jenen Freiheitsrechten nicht gerecht wird, die eine kollektive Betätigung der Bürger schützen. Zu diesen gehört neben der Vereins-, Koalitionsund Parteienfreiheit auch die Versammlungsfreiheit. I n allen diesen Fällen handelt es sich nicht nur u m ein massenhaftes, gleichartig nebeneinander herlaufendes Verhalten unverbundener Individuen, sondern u m funktional differenziertes, aufeinander bezogenes Handeln einer abgegrenzten oder durch äußere und innere Merkmale abgrenzbaren Personenmehrheit. Der für die Ausübung dieser Rechte spezifische kollektive Handlungszusammenhang — und er ist das eigentliche Schutzobjekt des Grundrechts — entsteht erst durch sinnhaft aufeinander eingestelltes, normorientiertes Verhalten der Beteiligten. Daß diese Normen sozialer Natur sein können, d. h. durch Sitte und Konvention garantiert und nicht notwendig von der staatlichen Rechtsordnung anerkannt, ausgestaltet und sanktioniert sein müssen, steht auf einem anderen Blatt. Festzuhalten bleibt i n diesem Zusammenhang, daß durch die Versammlungsfreiheit nicht nur individuelles Verhalten, sondern auch organisiertes Gruppenhandeln geschützt wird. Feststellung von Eschenburg: „ K e i n Mensch streitet sich i n Deutschland mehr darüber, daß w i r i n der modernen Massengesellschaft die Verbände brauchen" (in: Bentier, Stein, Wagner [Hrsg.], Der Staat u n d die Verbände, Heidelberg 1957, S.30; dort auch zahlreiche Äußerungen i n ähnlichem Sinn). Kennzeichnend f ü r dieses neuerwachte Interesse an der Verbandsproblematik ist auch die Tatsache, daß die Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer von 1965 das Problem des Verhältnisses von Staat u n d Verbänden zum Beratungsgegenstand genommen hat. Vgl. Leibholz, Winkler, Staat u n d Verbände, W D S t R L Heft 24, S. 4 ff., 34 ff.

1. Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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Eine Theorie der Versammlungsfreiheit i m demokratischen Staat kann die Bedeutung eines solchen organisierten Gruppenhandelns nicht ignorieren. Der Vorgang der Meinungsbildung und Interessenvertretung i n der modernen hochdifferenzierten Gesellschaft führt notwendig zur Bildung von organisierten Gruppen und setzt deren Handeln als Gruppen für sein Funktionieren geradezu voraus 18 . Die Versammlungsfreiheit, die ein derartiges organisiertes Gruppen-, bzw. Verbandshandeln ermöglicht, ist deshalb nicht nur unter dem Aspekt individueller aktiv demokratischer M i t w i r k u n g i m Prozeß der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung, sondern vor allem auch wegen ihrer gruppenschützenden und gruppenbildenden W i r k u n g 1 9 ein wesentliches Funktionselement einer freiheitlichen Demokratie. I V . Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld zwischen Gruppe und einzelnem Löst man die Versammlungsfreiheit aus dem engen individualrechtlichen und rein staatsabwehrenden Verständnis und betrachtet sie unter dem Aspekt der Funktion organisierter und nichtorganisierter Gruppen i m politischen und sozialen Prozeß eines demokratischen Gemeinwesens, so stellt sich auch die Frage nach der inneren Ordnung von Versammlungen i n anderer Weise. Die Frage nach dem Umfang der Mitwirkungsrechte der Versammlungsteilnehmer und der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters w i r d dann zu einem Problem der Ordnung von Teilverbänden im Gesamt verband. Damit ergibt sich auch ein anderer Blickwinkel für die Frage der Grundrechtsgeltung und Grundrechtsbindung i n der Versammlung. Es handelt sich dann nicht mehr primär um das allgemeine Problem einer D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Rechtsverkehr zwischen Privaten, sondern u m die Frage, ob und inwieweit die Grundrechte als Ordnungsprinzipien des Gesamtverbandes auch für die Ordnung der Teilverbände maßgeblich sind 2 0 . Sicherlich läßt sich von der veränderten „Geltungshöhe" der Grundrechte unter dem Grundgesetz nicht ohne 18 Vgl. insbesondere zur Rolle der Interessenverbände u n d ihren u n v e r zichtbaren Funktionen unter den komplizierten sozialen, wirtschaftlichen u n d technischen Bedingungen der Gegenwart Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956, S. 182, 272, 338. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, S. 105 f. 20 Das Problem der Grundrechtsbindung innerhalb organisierter T e i l verbände w i r d hier bewußt aus dem allgemeinen Problemkreis der D r i t t w i r k u n g i m nichtstaatlichen Bereich herausgehoben. Die Problemstellung hat einen anderen Akzent als diejenige, die sich bei der Frage nach der Bedeutung der Grundrechte zwischen grundsätzlich gleichberechtigten I n dividuen i m Vertragsrecht ergibt. Sie ist auch zu unterscheiden von dem Problem der Grundrechtsbindung der Verbände u n d sonstigen ü b e r i n d i v i duellen nichtstaatlichen Mächten i n ihren externen Rechtsbeziehungen.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

weiteres auf eine Ausdehnung ihrer „Geltungsbreite" schließen 21 , ebensowenig läßt sich aber eine solche verstärkte Wirkung über den herkömmlichen Bereich der Staatsorganisation und das Verhältnis von Staatsgewalt und einzelnen hinaus von vornherein leugnen. Dies gilt vor allem für jene Grundrechte, die wie die Versammlungsfreiheit die Möglichkeit organisierter kollektiver Meinungsbildung und Interessenvertretung von Gruppen i m politischen Prozeß eröffnen. Betrachtet man die Versammlungsfreiheit i m wesentlichen als ein negatives, staatsabwehrendes Freiheitsrecht, so kann es mehr oder minder gleichgültig sein, ob eine Versammlung i n ihrem Verfahren demokratisch geordnet ist, welche Mitwirkungsrechte den Teilnehmern eingeräumt werden, wer zugelassen und wer ausgeschlossen wird, solange dabei nur die Polizeigüter der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht verletzt werden. Ganz anders aber w i r d die Lage, wenn man die Versammlungsfreiheit — dies gilt vor allem für öffentliche, politische Versammlungen — funktional auf den demokratischen Willensbildungsprozeß bezieht. Dann stellt sich die Frage, ob nicht i m Interesse einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung gleichsam die Kanäle freigehalten werden müssen, durch die die soziale Meinungsbildung und Interessenvertretung i n den institutionalisierten politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß einmünden. Das Problem der Versammlungsfreiheit und der Versammlungsordnung w i r d damit über das Problem der Freiheit der Individuen gegenüber dem Staat und der Freiheit der Gruppen und Verbände i m Staat hinaus zu einem Problem der Freiheit des einzelnen i n der Gruppe. Es geht dabei nicht nur — und wahrscheinlich nicht einmal primär — u m die Frage einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung i n der Versammlung, sondern darum, ob und inwieweit die innere Ordnung von Versammlungen demokratischen Grundsätzen entsprechen muß und was unter derartigen demokratischen Grundsätzen zu verstehen ist. Das Grundgesetz selbst hat i n dieser Hinsicht ein ausdrückliches Vorbild geschaffen, indem es von den Parteien i n A r t . 21 Abs. 1 Satz 2 GG eine nach demokratischen Grundsätzen gestaltete innere Ordnung verlangt. I n einer sehr weitgehenden Auslegung dieser Verfassungsbestimmung w i l l Ridder i n A r t . 21 die Haupt- und Grundnorm der F ü r die Frage des „ o b " u n d des „ w i e " einer D r i t t w i r k u n g sind i n allen diesen Fällen unterschiedliche Gesichtspunkte bedeutsam. Dies w i r d i n der Diskussion u m die D r i t t w i r k u n g der Grundrechte zumeist nicht hinlänglich beachtet. 21 Dies w i r f t Rupp, Eigentum an Staatsfunktionen?, 1963, S. 12 m i t Recht jenen Autoren vor, die eine unmittelbare D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Privatrecht m i t der veränderten „Geltungshöhe" der Grundrechte begründen.

1. Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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institutionellen öffentlichen Meinungsfreiheit i m modernen Parteienstaat sehen, die man „bedenkenlos" i n den entsprechenden Versionen auf die politische Presse und andere Einrichtungen des politischen Prozesses (wie etwa öffentliche politische Versammlungen), anwenden könne 2 2 . Es liegt daher der Gedanke nahe, i n den Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes, die das Ziel haben» „Spielregeln öffentlicher Diskussion . . . aus gesundem demokratischen Geist" 2 3 festzulegen, eine legislative Interpretation und Ausgestaltung der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen nach „demokratischen Grundsätzen" zu sehen. Auch wenn man der Auffassung von Ridder nicht folgt, läßt sich nicht verkennen, daß m i t einem Verständnis der Versammlungsfreiheit, das den gruppenschützenden und aktiv demokratischen Aspekt dieses Grundrechts betont, ein verfassungstheoretischer Ansatzpunkt für die legislative Ausgestaltung und Interpretation der inneren Strukturen von Versammlungen gegeben ist. Es mag an dieser Stelle dahingestellt bleiben, ob der Inhalt der Versammlungsfreiheit i n erster Linie unter dem Gesichtspunkt der positiven staatsaufbauenden Funktion dieses Grundrechts zu sehen ist, wie dies anscheinend Ridder für die öffentliche Meinungsfreiheit vertritt 2 4 . Sicherlich kann die Funktion eines solchen Hechtes nicht ohne Wirkung auf seinen Inhalt und seine Interpretation sein.

V. Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von öffentlichem Recht und Privatrecht Der Versuch einer verfassungstheoretischen Bestimmung des Ortes und der Funktion der Versammlungsfreiheit i m Gesamtsystem der Verfassung und der Rechtsordnung führt zugleich notwendig zu einer Auseinandersetzung mit dem Problem des Verhältnisses und der Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht. Bestimmungen des öffentlichen und des bürgerlichen Rechts verschränken sich i m Versammlungsrecht i n einer nur schwer entwirrbaren Weise. Eine einheitliche öffentlichrechtliche oder privatrechtliche Regelung, die für 22

Ridder, A r t i k e l Meinungsfreiheit, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 243 ff., 257. 23 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs zum Versammlungsgesetz, BT-Drucks. Nr. 1102, S. 9. 24 Ridder, a.a.O., S. 259, 269, der aber auch erkennt (a.a.O., S. 261), daß eine Begründung einer Freiheit durch ihre öffentliche Aufgabe n u r zu leicht die aufdringliche Fürsorge des Regimes wecke, welche unter dem Vorwand, den „wahren", „echten", „eigentlichen", „richtigen" Gebrauch der Freiheit zu bestimmen, zum Zwang u n d zur Beschränkung der Meinungsfreiheit werden könne.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

alle durch A r t . 8 GG garantierten Versammlungsformen und -typen gilt, fehlt 2 5 . Zwar finden sich i m Vereinsrecht des BGB (§§ 32 ff.) und i m Aktiengesetz (§§ 102 ff.) bestimmte Vorschriften des Privatrechts über Versammlungen. Diese betreffen aber grundsätzlich nur nichtöffentliche Versammlungen und nicht einmal diese insgesamt, da die private ad hoc Versammlung bislang unorganisierter einzelner von ihnen nicht umfaßt wird. Andererseits gelten die Normen des Versammlungsgesetzes, die herkömmlicherweise dem öffentlichen Recht zugerechnet werden, grundsätzlich nur für öffentliche Versammlungen 2 6 . Hinzu kommt, daß die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes, soweit sie die Rechtsbeziehungen zwischen den Versammlungsbeteiligten regeln, nur mit Schwierigkeit unter die herkömmliche Vorstellung vom öffentlichen Recht zu bringen sind 2 7 . Dies w i r d am Beispiel der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters besonders deutlich. Die Argumentation mit dem traditionell öffentlichrechtlichen Charakter der Versammlungsgesetzgebung, aufgrund deren Füßlein die Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters dem öffentlichen Recht zuweist 28 , hat nur geringe Überzeugungskraft. Für die Zuordnung zum privaten oder öffentlichen Recht kommt es auf die Natur der Rechtsbeziehungen zwischen Versammlungsleiter und Versammlungsteilnehmern an. Auch ein Rückgriff auf die herrschenden Theorien der Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht führt zu keinem klaren Ergebnis. Sicherlich besteht zwischen Leiter und Versammlungsteilnehmern eine A r t Uber- und Unterordnungsverhältnis (Subjektionstheorie). Gewaltverhältnisse mit Über- und Unterordnung und diskretionäre Weisungsbefugnisse gibt es jedoch auch zwischen privaten Rechtsträgern, wie ein Blick auf die elterliche Gewalt oder das Weisungsrecht des Arbeitgebers zeigt. Ebensowenig läßt sich für die dogmatische Bestimmung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters 25 v. Münch, Rdnr. 12, 13 zu A r t . 8 GG, der diese Tatsache allerdings i m Hinblick auf die ohnehin fragwürdige Unterscheidung v o n privatrechtlicher Institutsgarantie u n d öffentlichrechtlicher institutioneller Garantie hervorhebt. 26 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 14. Ausnahmen bilden lediglich die Bestimmungen der §§ 3, 4, 21, 23 u n d 28 VersG, die auch f ü r nichtöffentliche Versammlungen gelten. 27 Z w a r kennt auch das Vereinsrecht sowohl die Bestimmungen des bürgerlichen Vereins- u n d Gesellschaftsrechts einerseits, w i e die des öffentlichrechtlichen Vereinsgesetzes v o m 5.8.1964 ( B G B l I , S. 593) andererseits. I m Gegensatz zum Versammlungsgesetz beschränkt sich aber das Vereinsgesetz darauf, die Beziehungen der Vereine zur Staatsgewalt zu regeln, enthält also i m wesentlichen Vereinspolizeirecht u n d überläßt die innere Ordnung der durch A r t . 9 G G garantierten Vereinigungen dem Privatrecht. 28 Füßlein, a.a.O., S. 13.

1. Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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Entscheidendes gewinnen, wenn man m i t der Subjekttheorie das Wesen des öffentlichen Rechts i n einem „Sonderrecht der Verwaltung" 2 9 sieht. Kann man die Tätigkeit des Versammlungsleiters tatsächlich als eine A r t Verwaltung qualifizieren? Genügt es dafür, i h m eine A r t öffentlicher Aufgabe zuzusprechen 30 ? Auch wenn man i n der Versammlungsfreiheit ein staatsaufbauendes Funktionselement einer freiheitlichen Demokratie sieht, w i r d die Leitung öffentlicher Versammlungen dam i t noch nicht ohne weiteres zur Staatstätigkeit. Handelte es sich bei der Tätigkeit des Versammlungsleiters wirklich u m eine staatliche Aufgabe, so wäre kein Grund einzusehen, warum nicht der Staat Beamte delegieren könnte, um öffentliche Versammlungen zu leiten, ein Ergebnis, das sicherlich die Versammlungsfreiheit i n ihrem Kern träfe. Man könnte nun daran denken, anstelle des Begriffs der „staatlichen Aufgabe" den Begriff „Aufgaben i m Bereich des government "31 zu verwenden, um damit hervorzuheben, daß i m Bereich des politischen Prozesses durchaus Aufgaben denkbar sind, die ohne staatliche A u f gaben i m eigentlichen Sinne zu sein — deren Erfüllung sogar eine weitgehende Interventionsfreiheit von Seiten des organisierten Staatsapparates voraussetzen kann — doch eine so fundamentale Bedeutung haben, daß für sie andere Handlungsmaßstäbe gelten, als für das Verhalten privater Rechtsträger 32 . Doch auch dies würde nicht genügen, um die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters eindeutig dem öffentlichen Recht zuzuweisen. Zunächst erscheint es ohnehin in hohem Maße fraglich, ob sich die Aufgabe des Versammlungsleiters als Aufgabe i m Bereich des government darstellt, denn gerade i n der angloamerikanischen Tradition erscheint die Versammlungsfreiheit als M i t tel zur Beeinflussung des government und keineswegs als Teil des government. Und selbst, wenn man die Ordnungsgewalt zum government rechnete, würde es i m Grunde auf eine petitio principii hinaus29 H. J. Wolff , VerwR. I , 5. A u f l . 1963, S. 84. 3

® Eine „öffentliche Aufgabe" erfüllen auch Presse, Gewerkschaften u n d Parteien, ohne daß ihre innere Ordnung deshalb dem öffentlichen Recht unterstellt wäre (str. f ü r die Parteien, vgl. Henke, a.a.O., S. 60 u n d Hesse, W D S t R L 17, S. 11 ff., 44). Nicht ohne G r u n d hat sich Zeidler, W D S t R L 19, S. 208 ff., 217 gegen den Begriff der „öffentlichen Aufgabe" gewandt u n d versucht, i h n durch den der „staatlichen Aufgabe" zu ersetzen. 31 I n diese Richtung zielt der Vorschlag v o n Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, i n : Festgabe f ü r R. Smend, 1962, S. 23 ff., die Begriffe von „ c i v i l society" u n d „government" f ü r die deutsche Verfassungstheorie u n d -dogmatik fruchtbar zu machen. Vgl. insbes. a.a.O., S. 47 f. i m Hinblick auf die Frage, ob die Parteien zum „government" zu rechnen sind. 32 Eine entsprechende Überlegung liegt offenbar der Auffassung von Hesse, W D S t R L 17, S. 32 f., 44 zugrunde, wonach die Parteien nach öffentlichem Recht leben u n d auch bedingt an die Grundrechte gebunden sind.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

laufen, den Bereich des government generell als Bereich des öffentlichen Rechts zu reklamieren. Der Begriff des government ist zwar enger und von anderen Kriterien bestimmt als der Bereich staatlicher Aufgaben, das bedeutet aber nicht, daß er mit dem Bereich des öffentlichen Rechts zusammenfällt. Insgesamt w i r d an dem Problem der Rechtsnatur der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes das Dilemma sichtbar, in das die Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht i n ihrer spezifisch deutschen Ausprägung führt. I n welchem Maße die Scheidung beider Rechtsgebiete i n zwei eigenständige und qualitativ verschiedene Bereiche historisch bedingt ist und wie sehr sich diese Bedingungen i m modernen Staat gewandelt haben, ist neuerdings von Bullinger sehr eindrücklich aufgezeigt worden 3 3 . Zur Klärung, ob und wieweit sich diese Unterscheidung aufrechterhalten läßt, versucht auch die vorliegende Arbeit an Hand der konkreten Problemstellung der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes einen Beitrag zu leisten.

V I . Die Versammlungsfreiheit i m Spannungsfeld von Recht und Konvention Das Problem der Versammlungsfreiheit und der inneren Ordnung von Versammlungen ist schließlich auch i m Spannimgsfeld von Recht und Konvention zu sehen, d. h. als ein Problem der Abgrenzung und des Verhältnisses von staatlichen und sozialen Normen. Es geht dabei u m die Frage, inwieweit Versammlungen überhaupt rechtliche Gebilde eigener A r t sind 3 4 , sei es des öffentlichen Rechts, sei es des Privatrechts, oder wieweit es sich bei ihnen u m grundsätzlich konventionelle soziale Ordnungsgebilde 35 handelt, bei denen nur einzelne Beziehungen zwischen den Beteiligten rechtlicher Natur sind . Die Eigenart von Versammlungen, insbesondere ihre kurze Dauer, die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen und Zwecke, die möglicherweise ganz verschiedenen Interessenrichtung der Beteiligten bringt es mit sich, daß Versammlungen nur i n beschränktem Umfang einer gesetzlichen Regelung und Ausgestaltung ihrer Ordnung und Organisation zugänglich sind 3 6 . Während eine Gewährleistung der Vereinsfreiheit 33 Vgl. dazu Bullinger, öffentliches Recht u n d Privatrecht, 1968. 34 So w o h l H. J. Wolff, V e r w R I , S. 176 u n d Leisner, Grundrechte u n d Privatrecht, S. 397. 35 So v. Mangoldt-Klein, A n m . 113 zu A r t . 8 u n d w o h l auch Füßlein, in: Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443. 36 Diese geringe institutionelle Verfestigung w i r d von Münch, Rdnr. 13 zu A r t . 8 nicht zu Unrecht hervorgehoben.

1. Kap.: Zur Ortsbestimmung des Problems

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ohne ein Vereinsrecht kaum denkbar ist, das zumindest die grundsätzlichen Ordnungsstrukturen und Rechtsbeziehungen innerhalb der Vereine regelt 3 7 , gilt dies für die Versammlungsfreiheit keineswegs. Dies zeigt die Tatsache, daß nicht nur i n Deutschland bis zum Versammlungsgesetz eine spezifische rechtliche Regelung der Innenbeziehungen in Versammlungen fehlte, sondern daß auch das ausländische Versammlungsrecht entsprechende Vorschriften nicht kennt. Die besondere Eigenart der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes liegt nun darin, daß sie zwar einerseits eine Verrechtlichung des sozialen Sachverhalts „Versammlung", zumindest soweit er öffentliche Versammlungen betrifft, zum Gegenstand haben, daß aber andererseits diese rechtliche Ausgestaltung insgesamt partiell bleibt und sich i m wesentlichen auf einen geordneten Versammlungsablauf beschränkt, wobei zudem offenbleibt, was jeweils zu einem solchen geordneten Versammlungsablauf gehört. Während man deshalb die öffentliche Versammlung nicht als ein lediglich konventionelles Ordnungsgebilde bezeichnen kann 3 8 , bleibt es jedoch mindestens ebenso problematisch, sie als ein Rechtsinstitut eigener A r t zu bezeichnen 39 . Diese eigentümliche Zwischenstellung zwischen nur sozialem Ordnungsgebilde und verfestigtem Rechtsinstitut, das die öffentliche Versammlung kennzeichnet, kommt auch i n den Normen des Versammlungsgesetzes selbst zum Ausdruck, etwa, wenn das Erfordernis der Bestellung eines Versammlungsleiters nur als lex imperfecta ausgestaltet ist, deren Verletzung ohne staatliche Sanktion bleibt. Es werden so zwar soziale Ordnungsstrukturen und -normen der Versammlung durch den Gesetzgeber aufgegriffen und verrechtlicht 4 0 , ohne daß sie aber damit in allen Fällen volle Verbindlichkeit erhielten. Der fast unmerkliche Ubergang rechtlicher und sozialer Normen i n der Versammlung zeigt sich auch an einem anderen Problem. Während das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter ausdrücklich das Recht zuspricht, den Ablauf der Versammlung zu bestimmen (§ 8 VersG), sind andererseits die Versammlungsteilnehmer nur verpflichtet, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anweisungen 37 Diesen Gesichtspunkt, der i n der deutschen L i t e r a t u r zumeist vernachlässigt w i r d , hat Abderhalden, Die Vereinsfreiheit i m schweizerischen V e r fassungsrecht, 1938, S. 35 ff., 63 ff. sehr k l a r herausgearbeitet. 38 Das verkennt Klein (v. Mangoldt-Klein, A n m . I I 3 zu A r t . 8), w e n n er i n A r t . 8 neben einem Individualgrundrecht lediglich die Garantie eines sozialen Sachverhalts sieht. 39 Gleichwohl läßt sich der institutionelle Aspekt nicht gänzlich leugnen, wie v. Münch, Rdnr. 13 zu A r t . 8 G G dies tut. 40 Vgl. die Bemerkung von Füßlein, DVB1. 1954, S. 554, daß der Gesetzgeber sich an die durch Übung u n d Sitte bereits festgelegten „Spielregeln" des Versammlungsablaufs gehalten u n d diese lediglich gesetzlich normiert habe.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

zu befolgen (§11 VersG). Auch hier stellt sich die Frage, wieweit Verhaltensanforderungen, die der Versammlungsleiter i m Rahmen des von i h m bestimmten Versammlungsablaufes an die Teilnehmer stellt, rechtlich verbindlich sind oder ob es sich bei ihnen nur u m Forderungen des Anstands und des Takts handelt, d. h. nur konventionell sanktionierte Verhaltensanforderungen 41 . Dieses Spannungsverhältnis von Recht und Konvention ist nun nicht nur für die Frage der Abgrenzung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters und der Rechte der Versammlungsteilnehmer bedeutsam, es kennzeichnet zugleich auch die grundsätzliche Schwierigkeit einer verfassungstheoretischen Einordnung der Versammlungsfreiheit unter den herkömmlichen Kategorien von individuellem Freiheitsrecht und garantiertem Rechtsinstitut. Dies w i r d gerade an der durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes zumindest teilweise verrechtlichten öffentlichen Versammlung evident. M i t ihrer Zwischenstellung zwischen einem nur konventionellen sozialen Ordnungsgebilde und einem verfestigten Rechtsinstitut bildet sie gleichsam eine A r t Rechtseinrichtung in statu nascendi, deren weitere Entwicklung und dogmatische Erfassung i n weitem Umfang der Rechtsprechung und Lehre anheimgegeben ist.

V I I . Die Versammlung als Mittelpunkt einer Theorie der Versammlungsfreiheit Betrachtet man die Versammlungsfreiheit und das Problem der inneren Ordnung von Versammlungen i m Rahmen der hier bezeichneten Spannungsfelder, so w i r d zweierlei deutlich: einmal, daß es nicht zweckmäßig erscheint, Inhalt und Grenzen dieses Grundrechts von einem vorgefaßten verfassungstheoretischen Begriffssystem her gleichsam deduktiv zu entwickeln, zum anderen, daß eine induktive Entwicklung und Interpretation dieses Grundrechts zweckmäßigerweise nicht vom Individualrecht der einzelnen Versammlungsteilnehmer ausgeht, sondern von der Erscheinung der Versammlung selbst, die gleichsam i m Schnittpunkt der Spannungen zwischen Staat und Gesellschaft, Gruppe und einzelnen, zwischen öffentlichem Recht, privatem Recht und Konvention steht. Dies setzt eine vertiefte Ausein41 K a n n beispielsweise der Versammlungsleiter verlangen, daß sich die Versammlungsteilnehmer zu Ehren eines Verstorbenen erheben? Wie ist dieser F a l l zu beurteilen, w e n n gerade .diese E h r u n g Zweck der Versammlung ist oder ein ostentatives Sitzenbleiben einzelner Versammlungsteilnehmer die Gefahr eines unfriedlichen Versammlungsablaufs heraufbeschwört? Sind diejenigen, die die Ehrung verweigern, Störer u n d dürfen sie ausgeschlossen werden oder müssen sie umgekehrt sogar v o m Versammlungsleiter gegen den U n w i l l e n der übrigen Teilnehmer geschützt werden?

. Kap.:

liche und soziale

n der Versammlung

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andersetzung m i t dem Begriff der Versammlung als sozialer und rechtlicher Erscheinung voraus, die im folgenden unternommen werden soll.

Zweites

Kapitel

Rechtliche und soziale Typen der Versammlung I. Der polizeirechtliche Charakter der herkömmlichen Versammlungstypologie Weder i n Art. 8 GG noch i m Versammlungsgesetz w i r d der Begriff der Versammlung näher definiert. Dennoch scheint die Frage, was eine Versammlung eigentlich sei, durch die herkömmliche Begriffsbestimmung, wie sie sich i n Rechtsprechung und Lehre herausgebildet hat, hinlänglich beantwortet zu werden. Danach ist eine Versammlung ein räumliches Zusammenkommen einer Anzahl von Menschen m i t dem Zweck, sie gemeinsam interessierende öffentliche oder private Angelegenheiten zu diskutieren oder eine Kundgebung zu veranstalten 1 . Diese Definition umfaßt eine große Vielfalt recht unterschiedlicher sozialer Erscheinungen. Sie reicht vom informellen politischen Gesprächskreis ohne Diskussionsleitung i m privaten Rahmen bis zum straff organisierten Demonstrationszug der Bergarbeiter, die gegen eine Zechenstillegung protestieren. Sie umschließt die Jahreshauptversammlung der Mitglieder eines Kleintierzüchtervereins grundsätzlich ebenso wie die jedermann zugängliche Großkundgebimg einer politischen Partei i m Wahlkampf. Es liegt auf der Hand, daß bei einer so großen Vielzahl der Erscheinungsformen und Zwecksetzungen von Versammlungen ganz unterschiedliche Probleme innerer und äußerer Ordnung auftauchen. So unterscheiden auch das positive Recht und i h m folgend Rechtsprechung und Lehre je nach dem Ort des Zusammentretens Versammlungen unter freiem Himmel und solche i n geschlossenen Räumen 2 und je nach der Freiheit des Zugangs öffentliche und nicht öffent1

Vgl. oben S. 25 f. u n d die dortigen Nachweise. Eine Legaldefinition der Begriffe „ u n t e r freiem H i m m e l " u n d „ i n geschlossenen Räumen" fehlt zwar, ihre Bedeutung steht jedoch i n Rechtsprechung u n d Lehre seit langem fest (Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 39). Danach ist „geschlossener Raum" ein überdachter Raum, der auch nach den 2

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

liehe Versammlungen 3 . Es ist auffallend, wenn auch i m Grunde nicht überraschend, daß diese Unterscheidungen fast ausschließlich von äußeren polizeilichen Ordnungsinteressen bestimmt sind und den Gesichtspunkt der inneren Organisation von Versammlungen nahezu gänzlich ignorieren. Hierin spiegelt sich die überwiegend polizeirechtliche Betrachtungsweise von Versammlungen, die zwar einerseits bestimmte Privilegierungen gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht vorsieht, andererseits aber öffentliche Versammlungen, insbesondere solche unter freiem Himmel, einer spezifischen Kontrolle und Überwachung unterwirft. Diese polizeirechtlichen Unterscheidungen und Abgrenzungen waren und sind durchaus legitim, soweit es sich u m die Stellung von Versammlungen i m Verhältnis zur Polizei handelt. Sie sind aber wegen der Einseitigkeit ihrer Blickrichtung nicht ausreichend und nicht geeignet, zu einer Erhellung des Problems der inneren sozialen und rechtlichen Ordnungsstrukturen von Versammlungen beizutragen, das mit den Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes aufgeworfen wird. Obwohl der etablierte Versammlungsbegriff die Versammlung als eine rein tatsächliche soziale Erscheinung und nicht als eine Rechtseinrichtung faßt, fehlt doch eine vertiefte Auseinandersetzung m i t dem sozialen Sachverhalt „Versammlung". Nur vereinzelt finden sich Hinweise auf die innere soziale Struktur der Versammlung, so etwa, wenn i n der herkömmlichen Versammlungsdefinition selbst auf den Unterschied zwischen Diskussionsversammlung und KundgebungsverSeiten h i n geschlossen ist (Pr O V G 55, 277; 56, 308), ohne daß jedoch eine völlige seitliche Umschließung erforderlich wäre (Reger, 26, 151). Da sich die Begriffe „ u n t e r freiem H i m m e l " u n d „ i n geschlossenen Räumen" gegenseitig ausschließen (Füßlein, a.a.O., S. 39), sind als Versammlungen unter freiem H i m m e l alle anzusehen, die nicht i n geschlossenen Räumen stattfinden (Enderling, a.a.O., S. 41). 3 Auch der Begriff der „öffentlichen Versammlung" steht trotz Fehlens einer gesetzlichen Umschreibung i n Wissenschaft u n d Lehre fest (Füßlein, a.a.O., S. 22). Entscheidendes M e r k m a l der Abgrenzung zur „nichtöffentlichen Versammlung", bei der der Zugang auf einen i n d i v i d u e l l bezeichneten Personenkreis beschränkt ist, bildet die grundsätzliche Offenheit des Z u t r i t t s f ü r jedermann. Der Ausschluß bestimmter Personen u n d Personenkreise (§6 VersG) hebt jedoch den Charakter der Öffentlichkeit einer Versammlung nicht auf. Nach Auffassung von Rechtsprechung u n d Lehre können auch Mitgliederversammlungen eines Vereins öffentliche Versammlungen sein, sofern die Mitgliederzahl so groß u n d die Organisation so lose ist, daß die Versammelten keinen „ i n sich geschlossenen, bestimmt abgegrenzten Kreis von innerlich unter sich verbundenen Personen" bilden (RGSt 21, 256). Vgl. auch den Erlaß des R M i n d l . v o m 23.3.1932, abgedruckt bei Füßlein, a.a.O., S. 24. Dagegen gewinnt eine Vereinsversammlung durch die Zulassung von Gästen noch nicht automatisch den Charakter einer öffentlichen Versammlung.

. Kap.:

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Sammlung hingewiesen w i r d 4 . Ein anderer Gesichtspunkt, der mehrfach i n der Literatur und Rechtsprechung auftaucht, ist der» daß Versammlungen nicht nur auf einer räumlichen Vereinigung, sondern auch auf einer bestimmten inneren Einstellung ihrer Teilnehmer beruhen 5 . Diese für die Versammlung und ihre Ordnung außerordentlieh bedeutsame Feststellung w i r d allerdings nicht weiter verfolgt. Nur gelegentlich klingt sie an i n der Frage, ob und wieweit die Teilnehmer i n der Versammlung zu aktiver M i t w i r k u n g berufen seien 6 , ob Versammlungen organisiert sein müßten 7 , ob und inwieweit die Teilnehmer einer Versammlung gemeinsame Zwecke verfolgen müßten 8 . So liegt auch die Erkenntnis, daß Versammlungen funktional differenzierte und geordnete soziale Gruppen sind, dem Versammlungsgesetz zugrunde, das m i t seiner rechtlichen Umschreibung der Rollen von Veranstalter, Leiter und Teilnehmern bewußt an soziale Sachverhalte und Ordnungen i n der Versammlung anknüpft 9 .

II. Die Versammlung als „Augenblicksverband" Betrachtet man Versammlungen nicht primär unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Ordnungsinteresses, sondern unter dem Aspekt 4 Vgl. v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8 GG u n d die dortige A b lehnung der Auffassung von Füßlein, Versammlungsgesetz S. 23; ders., DVB1. 1954, S. 553 f. u n d Trubel-Hainka, a.a.O., S. 26, daß die Kundgebung i m Gegensatz zur Diskussionsversammlung eine gemeinsame Willensrichtung der Teilnehmer voraussetze. 5 v.Jan, a.a.O., S. 59; Hoerni, a.a.O., S. 68 f. ß Vgl. etwa Anschütz, Kommentar WRV, 15. Aufl., A n m . 1 zu A r t . 123; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 487; Wernicke, Erl. I I 1 b zu A r t . 8 G G ; v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8; vgl. auch oben Einleitung S. 21 ff. u n d die dortigen Nachweise. Es w i r d bei den genannten Autoren zumeist allerdings nie ganz klar, ob das Recht zu freier tätiger M i t w i r k u n g i n der Versammlung eine Frage interner Versammlungsordnung ist, oder ob sie lediglich i n dem Sinne zu verstehen ist, daß gegenüber der Staatsgewalt über die reine Anwesenheit i n der Versammlung hinaus auch die Freiheit, sich an den Diskussionen i n einer Versammlung zu beteiligen, geschützt ist. I n letzterem Sinne w o h l Anschütz (a.a.O.; vgl. auch ders., Komm. Preuß. Verf. Urk., S. 508) ; u n k l a r Jellinek (a.a.O.). Vgl. auch die K r i t i k bei v. Münch, Rdnr. 26 zu A r t . 8 an der Formulierung von Wernicke (a.a.O.). 7 Hoerni, a.a.O., S. 66; v.Jan, a.a.O., S. 66; Anschütz, K o m m . Preuß. Verf. Urk., S. 527; Während die Bedeutung des Organisationselements i n der V e r sammlung von der deutschen L i t e r a t u r weitgehend ignoriert wurde, w i r d sie i n der französischen Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r zum Versammlungsrecht sehr v i e l stärker hervorgehoben. Vgl. Burdeau, Les Libertés politiques, 1961, S. 180 f. u n d die dortigen Nachweise aus der Rechtsprechung des Conseil d'Etat u n d der Cour de Cassation, ebenso den Hinweis auf M. Menanteau, Nouveaux aspects de la liberté de réunion, Th. Paris 1937, der erklärt, der Begriff der Organisation sei untrennbar m i t dem Begriff der Versammlung verbunden. 8 Hoerni, a.a.O., S. 68 f.; Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 27, 50. » Füßlein, DVB1. 1954, S. 553 ff.

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Qui lisch

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2. T e i l : Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

i h r e r i n n e r e n O r d n u n g u n d O r g a n i s a t i o n , so f ü h r t dies z u ganz ander e n E i n t e i l u n g e n u n d U n t e r s c h e i d u n g e n . E i n e solche T y p o l o g i e der V e r s a m m l u n g s o l l h i e r zunächst u n a b h ä n g i g v o n d e r F r a g e i h r e r r e c h t l i c h e n A u s g e s t a l t u n g e n t w i c k e l t w e r d e n . D a m i t w i r d k e i n e ausf ü h r l i c h e Soziologie d e r V e r s a m m l u n g a n g e s t r e b t ; es g e h t v i e l m e h r d a r u m , d i e sozialen O r d n u n g s s t r u k t u r e n v o n V e r s a m m l u n g e n , s o w e i t sie f ü r d e n r e c h t l i c h e n I n h a l t d e r G a r a n t i e des A r t . 8 G G u n d d i e gesetzliche A u s g e s t a l t u n g d e r i n n e r e n O r d n u n g v o n V e r s a m m l u n g e n bed e u t s a m sind, z u e r h e l l e n . S i e h t m a n i n d e r V e r s a m m l u n g s f r e i h e i t n i c h t n u r die G e w ä h r l e i s t u n g eines i n d i v i d u e l l e n , s o n d e r n auch d e n Schutz eines k o l l e k t i v e n H a n d e l n s 1 0 , so ist doch n i c h t z u v e r k e n n e n , daß d i e F o r m e n eines solchen k o l l e k t i v e n H a n d e l n s , seine Zwecksetzung, die i n n e r e B e t e i l i g u n g u n d I n t e r a k t i o n d e r T e i l n e h m e r a n diesem H a n d e l n sehr v e r s c h i e d e n a r t i g gestaltet sein k ö n n e n . E i n e entscheidende R o l l e s p i e l t d a b e i das V o r h a n d e n s e i n oder das F e h l e n e i n e r Zentralinstanz 11. Unter d e m G e s i c h t s p u n k t d e r O r g a n i s a t i o n lassen sich d a h e r z w e i G r u n d t y p e n der V e r s a m m l u n g u n t e r s c h e i d e n : solche m i t e i n e r Z e n t r a l i n s t a n z , d. h. e i n e m V e r a n s t a l t e r u n d / o d e r L e i t e r u n d solche o h n e Z e n t r a l instanz, b z w . o r g a n i s i e r t e u n d n i c h t o r g a n i s i e r t e V e r s a m m l u n g e n 1 2 . i® Das w i r d heute auch von solchen A u t o r e n anerkannt, die i n der V e r sammlungsfreiheit grundsätzlich n u r ein individuelles Freiheitsrecht sehen. Vgl. etwa v.Münch, Rdnr. 11 zu A r t . 8; v. Mangoldt-Klein, A n m . 113 zu A r t . 8. 11 M i t der Bezeichnung „Zentralinstanz" soll der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die Versammlungsleitung nicht n u r von einem i n d i v i duellen Leiter, sondern auch v o n einem Präsidium, w i e beispielsweise dem „bureau" des französischen Versammlungsrechts, ausgeübt werden kann. Ferner w i r d damit darauf hingewiesen, daß Veranstalter, Leiter u n d i n gewissem Sinne auch die Ordner als „Verwaltungsstab" (vgl. dazu unten S. 137 zur Verbandsdefinition M a x Webers) gegenüber den einfachen V e r sammlungsteilnehmern eine weitgehend einheitliche Position innehaben. 12 Allerdings besitzen auch Versammlungen ohne Zentralinstanz regelmäßig ein gewisses Maß an innerer Ordnung und, w e n n m a n so w i l l , Organisation. Es fehlt ihnen aber wegen der grundsätzlichen Gleichstellung aller Teilnehmer eine spezifische Instanz, die über die E i n h a l t u n g dieser Ordnung wacht u n d sie gegebenenfalls m i t Zwangsmitteln sozialer oder rechtlicher A r t durchsetzen kann. Auch i n einer Versammlung ohne Zentralinstanz w i r d regelmäßig bis zu einem gewissen Grade, unabhängig v o n jeder rechtlichen oder sozialen Sanktion, das Eigeninteresse der Teilnehmer für ein M i n i m u m an Ordnung sorgen, sei es, daß sie den Versammlungszweck unmittelbar fördern wollen, sei es, daß sie zumindest hören wollen, was gesagt w i r d . Es entsteht damit schon eine natürliche Tendenz zur Vermeidung von Störungen. Diese Tatsache darf bei der Betrachtung der sozialen Grundlagen der Versammlungsordnung nicht übersehen werden; sie ist allerdings auch nicht überzubewerten, denn bei schwerwiegenden Interessenkonflikten, vor allem w e n n eine Teilgruppe i n der Versammlung den Versammlungszweck zu vereiteln trachtet, reicht das Eigeninteresse der Teilnehmer nicht aus, u m einen geordneten Versammlungsablauf zu garantieren.

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1. Versammlungen ohne Zentralinstanz

Der herkömmliche Versammlungsbegriff umfaßt organisierte und nichtorganisierte Versammlungen gleichermaßen. Insgesamt spielen jedoch Versammlungen ohne Zentralinstanz eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle, und zwar nicht nur aus praktischen, sondern auch aus rechtlichen Gründen. I h r innerer Zusammenhalt und ihre innere Ordnung bleiben stets prekär, obwohl sie, vor allem i n der Form spontaner Demonstrationsversammlungen ohne erkennbaren Veranstalter und Leiter, eine große momentane Durchschlagskraft entfalten können. Versammlungen ohne Zentralinstanz stehen auf der Grenze zur einfachen Ansammlung von Menschen, wie etwa der Menge auf Messen und Märkten, i n einem Kaufhaus oder einem Restaurant. Von derartigen Menschenansammlungen unterscheiden sie sich durch das Element gemeinsamer Meinungsäußerung und den Willen und das Bewußtsein, die bei den einzelnen Teilnehmern allerdings verschieden stark sein können, i m Hinblick auf einen bestimmten Zweck i n Gemeinschaft zu handeln 1 5 . Die stets gefährdete innere Ordnung derartiger Versammlungen bringt auch meist die Gefahr eines unfriedlichen Versammlungsablaufes m i t sich, zumindest sobald eine größere Teilnehmerzahl erreicht ist. Schon aus praktischen Gründen w i r d daher selbst i n einer Spontanversammlung, die sich ohne erkennbaren Veranstalter und Leiter konstituiert und einen größeren Umfang annimmt, ein Leiter bestellt werden, sei es, daß sich ein Versammlungsteilnehmer selbst dazu aufschwingt und von den übrigen anerkannt wird, sei es, daß er förmlich gewählt wird. Neben diesem rein praktischen Gesichtspunkt ist aber vor allem die Tatsache zu berücksichtigen, daß das geltende Versammlungsrecht öffentlichen Versammlungen ohne Zentralinstanz grundsätzlich ablehnend gegenübersteht und die geplante und organisierte Versammlung eindeutig als den Regelfall ansieht. I n gewissem Sinne statuiert das Versammlungsgesetz geradezu eine generelle Organisationspflicht für öffentliche Versammlungen und Aufzüge 14 . Diese Rechtspflicht zur Organisation ist allerdings nur unvollkommen sanktioniert. Eine geDas Bewußtsein, i n Gemeinschaft zu handeln, bedeutet nicht, daß i n Versammlungen generell eine einhellige Auffassung u n d homogene Willensrichtung herrschen müßte. Zweck einer Versammlung k a n n gerade auch der Aus trag von Meinungsverschiedenheiten i n öffentlicher Diskussion sein (Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 27, 50). Eine einheitliche Willensrichtung der Teilnehmer ist auch bei Kundgebungen u n d Aufzügen nicht unbedingt erforderlich. So zutreffend v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8 GG gegen Füßlein u. Trubel-Hainka. Vgl. oben S. 129, F N 4. n Das Versammlungsgesetz geht insofern noch über die Regelung des § 10 R V G hinaus, die n u r f ü r öffentliche politische Versammlungen eine Pflicht zur Bestellung eines Versammlungsleiters vorsah.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

nauere Betrachtung zeigt nämlich, daß das Fehlen einer Zentralinstanz für sich genommen noch nicht zum Anlaß polizeilicher Maßnahmen gegen öffentliche Versammlungen genommen werden darf. Dies gilt nicht nur für öffentliche Versammlungen i n geschlossenen Räumen, wo die Pflicht des Veranstalters, in der Einladung seinen Namen anzugeben (§ 2 Abs. 1 VersG) und die Verpflichtung, einen Versammlungsleiter zu bestellen (§ 7 Abs. 1 VersG) den Charakter nicht durchsetzbarer leges imperfectae besitzen. Es gilt vielmehr grundsätzlich auch für öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel. Zwar schreibt das Versammlungsgesetz hier nicht nur die Bestellung eines Versammlungsleiters vor (§ 18 Abs. 1 i. Verb. m. § 7 Abs. 1 VersG) und verlangt die Angabe der Person des verantwortlichen Leiters in der Anmeldung bei der zuständigen Behörde (§ 14 Abs. 2); sondern die Bestellung eines Leiters kann hier auch i m Wege einer polizeilichen Auflage durchgesetzt 15 (§15 Abs. 1 VersG) und die Nichtbeachtung einer solchen Auflage sogar zum Anlaß einer Versammlungsauflösung gemacht werden (§ 15 Abs. 2 VersG). Entscheidend ist jedoch, daß eine entsprechende polizeiliche Auflage nicht generell, sondern nach § 15 Abs. 1 VersG nur unter der Voraussetzung zulässig ist, daß sie der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dient. Liegen keinerlei konkrete Anhaltspunkte für eine solche Gefährdung vor, so kann auch bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel die Bestellung eines Versammlungsleiters durch die Polizei nicht durchgesetzt und vor allem nicht zum Anlaß von Sanktionen gegen die Versammlung gemacht werden. Sicherlich kann die Nichtbestellung eines Versammlungsleiters, dessen Person nach § 14 Abs. 2 in der Anmeldung anzugeben ist, zugleich auch eine Abweichung von den Angaben i n der Anmeldung darstellen. Man w i r d jedoch die Bestimmimg des § 15 Abs. 2 VersG, wonach Abweichungen von Angaben i n der Anmeldung und Zuwiderhandlungen gegen Auflagen polizeiliche Maßnahmen bis hin zur Versammlungsauflösung rechtfertigen können, i m Zusammenhang m i t der Bestimmung des § 15 Abs. 1 VersG interpretieren müssen, die polizeiliche Maßnahmen gegen öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich auf die Abwehr von unmittelbaren Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit beschränkt 16 . Das bedeutet, daß keineswegs jede geringfügige Abweichung 1 7 von den Angaben i n der iß Vgl. Ott, a.a.O., S. 21. Bei der Beurteilung, ob eine solche unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung u n d Sicherheit vorliegt, ist allerdings der Zweck der Versammlung durchaus relevant. Vgl. dazu unten S. 172 ff., 180. 17 Vgl. auch die Strafbestimmung des § 25 Ziff. 1 VersG, die n u r wesentliche Abweichungen der Durchführung gegenüber den Angaben i n der A n meldung unter Strafe stellt. 16

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Anmeldung — man denke etwa an die Auswechslung des Versammlungsleiters — zu polizeilichem Einschreiten berechtigt, sondern prinzipiell nur solche Abweichungen, deren Kenntnis bei der Anmeldung der zuständigen Behörde das Recht gegeben hätte, die Versammlung zu verbieten oder i h r Auflagen zu machen. Gleichwohl bleibt die grundsätzlich ablehnende Haltung des Versammlungsgesetzes gegenüber nichtorganisierten öffentlichen Versammlungen unverkennbar. Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Frage, ob nichtorganisierte öffentliche Spontanversammlungen unter freiem Himmel nach dem Versammlungsgesetz überhaupt zulässig sind. M i t Recht hat Ott darauf aufmerksam gemacht, daß der Typ der Spontanversammlung, die sich ohne erkennbaren Veranstalter und Leiter, d. h. ohne von vornherein bestehende Zentralinstanz konstituiert, nicht i n die Systematik des Versammlungsgesetzes paßt 1 8 . Dieses geht vielmehr generell davon aus, daß öffentliche Versammlungen einen Veranstalter haben und daß dieser die Leitung übernimmt oder für die Bestellung eines Versammlungsleiters sorgt. E i n ausdrückliches Verbot öffentlicher Spontanversammlungen unter freiem Himmel enthält das Versammlungsgesetz allerdings nicht'. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Füßlein i n seinem Referentenkommentar zum Versammlungsgesetz ein solches allgemeines Verbot „nach dem Gesetzeszusammenhang" annehmen w i l l 1 9 . Er stützt sich dabei vor allem auf das Argument, daß m i t der Zulassung solcher Spontanversammlungen unter freiem Himmel 2 0 eine Möglichkeit eröffnet würde, Versammlungsverbote nach § 15 VersG zu umgehen, weil die Versammlungen dann von anderen Personen als von dem durch ein Verbot betroffenen Veranstalter durchgeführt werden könnten. Dieses Argument verkennt jedoch das Wesen der echten Spontanversammlung 21 , die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie sich ohne planende Vorbereitung aufgrund ad hoc gefaßter spontaner Entschließung der Anwe18 Ott, a.a.O., S. 56, ebenso Hoch, JZ 69, S. 18ff. 19 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 65. 20 Spontanversammlungen i n geschlossenen Räumen hält dagegen auch Füßlein f ü r zulässig, wobei er allerdings die Pflicht zur Bestellung eines Versammlungsleiters betont; vgl. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 25. 21 Ott, a.a.O., S. 56. Nicht als Spontanversammmlungen anzusehen sind deshalb öffentliche Versammlungen, die einen Veranstalter haben, die aber, u m überhaupt ihren Zweck zu erfüllen, so kurzfristig einberufen werden müssen, daß die 48stündige Anmeldefrist nicht eingehalten werden kann. F ü r diesen Versammlungstyp w i r d hier der Ausdruck Eilversammlung vorgeschlagen. N u r bei Eilversammlungen stellt sich die Frage, ob eine Versammlung deshalb unzulässig sein kann, w e i l sie — ohne ihren Zweck zu verfehlen — auch später stattfinden könnte. Bei Spontanversammlungen ist eine derartige Frage sinnlos, denn die Verschiebung einer Spontanversammlung ist begrifflich ein Unding. U n k l a r Dietel-Gintzel, A n m . 20 zu § 14 VersG, deren Beispiel den F a l l einer Eilversammlung, nicht aber einer Spontanversammlung betrifft, u n d B V e r w G , i n : DVB1. 1967, S.421f.

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senden bildet, wobei die nach § 14 Abs. 1 VersG grundsätzlich vorgeschriebene Anmeldung schon begrifflich ausgeschlossen ist 2 2 . Wo ein Veranstalter vorhanden ist und eine Anmeldung prinzipiell möglich wäre und nur aus Gründen der Gesetzesumgehung unterlassen wird, liegt eine Spontanversammlung überhaupt nicht vor. Das Problem der Zulässigkeit öffentlicher Spontanversammlungen unter freiem Himmel beruht deshalb genau genommen nur mittelbar auf dem Fehlen eines verantwortlichen Veranstalters, es ist vor allem eine Frage der rechtlichen Bewertung der i n § 14 Abs. 2 VersG vorgeschriebenen Anmeldepflicht, der bei Spontanversammlungen i n keinem Falle genügt werden kann. Dabei ist davon auszugehen, daß der Anmeldepflicht bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel primär ein formales Ordnungsinteresse zugrunde liegt 2 3 und dadurch nicht etwa eine inhaltliche Kontrolle geplanter Veranstaltungen ermöglicht werden soll. Dieses formale Ordnungsinteresse kann nicht so hoch veranschlagt werden, daß es generell die Möglichkeit von spontanen Versammlungen unter freiem Himmel ausschließt. Eine absolute Geltung der Anmeldepflicht, auch für Spontan- und Eilversammlungen, verstieße gegen das Ubermaßverbot, denn sie enthielte eine stärkere Einschränkung des Versammlungsgrundrechts, als sie aus sachlichen Gründen erforderlich wäre 2 4 . I m übrigen ist zu berücksichtigen, daß auch nach den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes eine nicht angemeldete Versammlung zwar aufgelöst werden kann (§ 15 Abs. 2 VersG), aber nicht wie eine verbotene Versammlung aufgelöst werden muß (§15 Abs. 3 VersG), wobei die Polizei keineswegs willkürlich, sondern nur nach pflichtgemäßem Ermessen einschreiten darf 2 5 , d. h. sie muß die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit i m konkreten Fall gegen das grundrechtlich geschützte Betätigungsinteresse der Versammelten abwägen. Gleichgültig, ob man den Weg über eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 14 Abs. 1 und 15 Abs. 2 VersG 22 Beispiele f ü r echte Spontanversammlungen bei Ott, a.a.O., S. 57, der m i t Recht hervorhebt, daß geringfügige Maßnahmen der Organisation eine Versammlung noch n i d i t zur „einberufenen" machen. Spontanversammlungen können sich auch i m Anschluß an eine veranstaltete öffentliche Versammlung bilden, w e n n einzelne Teilnehmer beschließen, weiterzudiskutieren oder zu demonstrieren. 28 Die Anmeldung dient v o r allem dazu, die zuständige Behörde i n Stand zu setzen, Vorkehrungen zu treffen, damit die Versammlung stattfinden kann, sowie gegebenenfalls Interessen anderer oder der Allgemeinheit gegen übermäßige Beeinträchtigung zu sichern. Vgl. Dietel-Gintzel, A n m . 8 zu § 14 VersG. 24 Dietel-Gintzel, A n m . 11 zu § 26 VersG. 25 Vgl. Ott, a.a.O., S. 60, B V e r w G , i n : DVB1. 1967, S.422. Dieser Grundsatz g i l t selbstverständlich nicht n u r f ü r Spontanversammlungen, sondern ist auch bei Eilversammlungen zu berücksichtigen.

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w ä h l t 2 6 oder überhaupt auf ihre Anwendung auf Spontanversammlungen verzichtet und i m Hinblick auf die so entstehende Regelungslücke unmittelbar aus Art. 8 GG argumentiert 2 7 , muß man zu dem Ergebnis kommen, daß öffentliche Spontanversammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich zulässig sind. Gegen die Zulässigkeit öffentlicher Spontanversammlungen unter freiem Himmel spricht auch nicht die Strafbestimmung des § 26 Abs. 1 Nr. 2 VersG 2 8 ; vielmehr muß umgekehrt die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung, die das Veranstalten und Leiten nichtangemeldeter Versammlungen generell unter Strafe stellt, bezweifelt werden. Sind Spontanversammlungen nicht unzulässig, so kann auch das Leiten derartiger Versammlungen — ein Veranstalten käme nur bei Eilversammlungen i n Betracht — nicht rechtswidrig und strafbar sein. Es ist i n der Tat bemerkenswert, daß das sonst so organisationsfreundliche Versammlungsgesetz bei den seiner Systematik fremden Spontanversammlungen organisationsfeindliche Züge gewinnt, daß die Organisationspflicht hier mit einem Male in ein Organisationsverbot umschlägt. Sieht man jedoch, wie noch darzulegen sein wird, die Organisationsnormen des Versammlungsgesetzes primär unter dem Gesichtspunkt der Steigerung der Wirksamkeit des Versammlungsgrundrechts und nicht unter dem Gesichtspunkt der Erleichterung obrigkeitlicher Kontrolle, so steht es mit dieser Gesetzesintention i m Widerspruch, Spontanversammlungen die Möglichkeit der Organisation unter einem Leiter zu nehmen. Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift des § 26 Abs. 1 Nr. 2, wie sie das Bundesverwaltungsgericht erwägt 2 9 , scheitert an dem Charakter der Vorschrift als Strafnorm, die eine eindeutige Tatbestandsfixierung erfordert 3 0 . I n seiner gegenwärtigen Formulierung, die sich auch auf Spontan- und Eilversammlungen erstreckt, ist § 26 VersG verfassungswidrig, denn ein generelles Organisationsverbot für Spontanversammlungen ist weder erforderlich noch verhältnismäßig, sondern stellt eine sachlich nicht gerechtfertigte Einschränkung einer grundsätzlich zulässigen Ausübungsform des Versammlungsgrundrechts, nämlich der öffentlichen Spontanversammlung unter freiem Himmel, dar. Zusammenfassend ist i m Hinblick auf nicht organisierte öffentliche Versammlungen folgendes festzuhalten; sie sind grundsätzlich nicht unzulässig, das Fehlen einer verantwortlichen Zentralinstanz und auch 26 So die hier vertretene Auffassung, ähnlich Ott, a.a.O., S. 60; Gintzel, A n m . 11 zu §26 VersG. 27 Hoch, JZ 69, S. 19. 28 So aber Füßlein, A n m . 3 zu § 14 VersG. 29 B V e r w G i n DVB1. 1967, S. 421. 30 So m i t Recht Dietel-Gintzel, A n m . 11—16 zu § 26 VersG.

Dietel-

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

das Fehlen einer Anmeldung 3 1 bei echten Spontanversammlungen rechtfertigen für sich genommen noch keine Versammlungsauflösung. Andererseits ist aber nicht zu übersehen, daß das Maß der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, das von veranstalterund leiterlosen öffentlichen Versammlungen ausgeht, regelmäßig größer sein w i r d als bei organisierten Versammlungen und damit leichter Anlaß zu polizeilichem Eingreifen bieten wird. Insofern stellt das Vorhandensein einer Zentralinstanz, wie sie das Versammlungsgesetz für öffentliche Versammlungen grundsätzlich vorsieht, keineswegs primär eine Beschränkung des freien Versammlungsrechts dar — denn auch nichtorganisierte Versammlungen bleiben zulässig —, sondern enthält vor allem praktisch wie rechtlich eine Verstärkung der Bestandskraft öffentlicher Versammlungen gegenüber hoheitlichen Eingriffen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es gerechtfertigt, die organisierte Versammlung als den Normalfall der Versammlung zu bezeichnen, zumal es sich auch bei nichtöffentlichen Versammlungen, für die eine Organisationspflicht nach dem Versammlungsgesetz nicht besteht, i n der Mehrzahl der Fälle um Mitgliederversammlungen bereits organisierter Gruppen handeln wird, bei denen eine Zentralinstanz schon vorhanden ist.

2. Versammlungen m i t Zentralinstanz

Das Vorhandensein einer Zentralinstanz i n der Versammlung, dessen Bedeutung i n der herkömmlichen Diskussion u m den Versammlungsbegriff zumeist vernachlässigt wird, ist vor allem aber unter einem weiteren Gesichtspunkt bedeutsam. Die Anerkennung einer zentralen Leitung verändert die soziale Interaktion der an der Versammlung Beteiligten grundlegend. Zwar treten auch schon i n der nichtorgnisierten Versammlung gewisse soziale Rollendifferenzierungen auf, insbesondere die zwischen Redenden und Zuhörenden. M i t der Anerkennimg einer Zentralinstanz kommt jedoch ein ganz neues Element i n die Versammlung, nämlich ein Verhältnis von Über- und Unterordnung. Die unter einer Zentralinstanz organisierte Versammlung verläßt den Bereich kollektiven Handelns grundsätzlich Gleichberechtigter, sie w i r d zum Augenblicksverband. Die von Haenel geprägte 32 Bezeichnung der Versammlung als Augenblicksverband kommt nach der hier vertretenen Auffassung zwar nicht allen Versammlungen schlechthin, aber doch dem praktisch und rechtlich bedeutsamsten Versammlungs31 Ganz generell hat neuerdings Werbke, N J W 70, S. 1 ff. überzeugend dargelegt, daß auch bei veranstalteten öffentlichen Versammlungen das Fehlen einer Anmeldung allein noch keinen Auflösungsgrund bildet. 32 Haenel, Deutsches Staatsrecht 1892, Bd. I , S. 147.

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t y p zu, nämlich der unter einer Zentralinstanz organisierten Versammlung. I m Grunde enthält auch die Definition der Versammlung bei Haenel bereits das hier als entscheidend herausgestellte Merkmal der Zentralinstanz, wenn er das Wesen der Versammlung i n einer Gliederung der Beteiligten nach Organen und Mitgliedern erblickt, „ u m durch leitende Funktionen der einen und mitwirkendes Verhalten der anderen einen gesetzten Zweck zu erreichen" 33 . Dieser Versammlungsbegriff scheidet jedoch nicht nur die nichtorganisierte Versammlung aus, er umfaßt auch nicht den Fall bloß passiver Assistenz mehrerer bei Leistungen Dritter. Damit w i r d zumindest zweifelhaft, ob die reine Zuhöhrerversammlung noch unter diesen Begriff des Augenblicksverbandes fällt. M i t der Betonung des körperschaftlichen Elementes, d. h. der Mitgliedstellung und Mitwirkungsfunktion der Versammlungsteilnehmer, übersieht Haenel den stark anstaltlichen Zug vieler Versammlungen, i n der die Teilnehmer schon vom Versammlungszweck her weitgehend auf eine passive Rolle, eine A r t Benutzerstatus, beschränkt bleiben. Diese Vorbelastung des Verbandsbegriffes m i t einem körperschaftlichen Verständnis vermeidet die Verbandsdefinition Max Webers, die den folgenden Erörterungen zur Verbandseigenschaft organisierter Versammlungen zugrunde gelegt wird. Weber definiert: „Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert w i r d durch das eigenst auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat 3 4 ." Der Webersche Verbandsbegriff, der allein auf die Existenz einer Zentralinstanz abstellt 3 5 , die für die Einhaltung der Ordnung i n einer bestimmten Gruppe Sorge trägt, umfaßt nicht nur anstaltliche und körperschaftliche Strukturen gleichermaßen, er vermeidet es auch, dem Verband eine von der Existenz und dem Willen seiner Angehörigen unabhängige Eigenpersönlichkeit und eigenen Willen zuzuschreiben 3 6 . Soweit aufgrund der hier vertretenen Auffassimg davon gespro33

Haenel, a.a.O., I, S. 147. Hervorhebung n u r hier. * Max Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, 4. Aufl. 1963, Bd. I , S. 26, Hervorhebung i m Original. S5 Max Weber, a.a.O., I, § 26 Ziff. 2, S. 26. 36 Kritisch zum Weberschen Verbandsbegriff Otaka, Grundlegung der Lehre v o m sozialen Verband, 1932, § 4, S. 27 ff., der meint, Weber verkenne die ideale über die Individualmitglieder hinausgehende Existenz des V e r bandes. Die p r i m ä r erkenntnistheoretische Frage, ob u n d i n w i e w e i t dem 3

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2. T e i l : Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

chen w i r d , d i e V e r s a m m l u n g s f r e i h e i t g a r a n t i e r e n i c h t n u r i n d i v i d u e l l e s H a n d e l n , s o n d e r n auch organisiertes G r u p p e n h a n d e l n , d. h. V e r b a n d s h a n d e l n , ist d a m i t n i c h t d i e G a r a n t i e d e r B e t ä t i g u n g s f r e i h e i t e i n e r realen Verbandsperson „ V e r s a m m l u n g " gemeint37. A l s garantiertes Verbandshandeln w i r d v i e l m e h r i m Sinne der Definition M a x Webers „ d a s a u f D u r c h f ü h r u n g der O r d n u n g bezogene . . . l e g i t i m e H a n d e l n des V e r w a l t u n g s s t a b e s selbst" u n d „das v o n i h m d u r c h A n o r d n u n g e n geleitete H a n d e l n der Verbandsbeteiligten" 38 verstanden. S i e h t m a n die u n t e r einer Z e n t r a l i n s t a n z o r g a n i s i e r t e V e r s a m m l u n g als V e r b a n d i n d e m h i e r d a r g e l e g t e n Sinne, so e r g e b e n sich daraus w i c h t i g e K o n s e q u e n z e n f ü r d i e O r d n u n g s g e w a l t des V e r s a m m l u n g s leiters. E i n m a l w i r d d e u t l i c h , daß d i e O r d n u n g s g e w a l t des V e r s a m m l u n g s l e i t e r s u n t e r sozialem G e s i c h t s p u n k t als Verbandsgewalt zu qual i f i z i e r e n ist, z u m a n d e r e n zeigt sich, daß d e r V e r s a m m l u n g s l e i t e r als Z e n t r a l i n s t a n z entscheidenden E i n f l u ß a u f d e n I n h a l t u n d d i e R i c h t u n g des V e r b a n d s h a n d e l n s besitzt, w e n n m a n als V e r b a n d s h a n d e l n das v o n i h m i m R a h m e n seiner l e g i t i m e n Befugnisse p l a n v o l l geleitete Handeln der Verbandsangehörigen versteht. Es i s t d a h e r auch k e i n Z u f a l l , s o n d e r n e n t s p r i c h t d e r sozialen S t r u k t u r v o n V e r s a m m l u n g e n m i t Z e n t r a l i n s t a n z , daß das V e r s a m m l u n g s gesetz d i e S t e l l u n g v o n V e r a n s t a l t e r u n d L e i t e r i n das Z e n t r u m seiner R e g e l u n g s t e l l t . Schon v o n d e r sozialen O r d n u n g s s t r u k t u r o r g a n i s i e r v e r b a n d unabhängig von der realen Existenz u n d dem W i l l e n seiner Angehörigen eigene reale oder ideale Existenz zukommt, k a n n jedoch f ü r die Zwecke dieser Untersuchung dahingestellt bleiben. Es soll aber nicht v e r schwiegen werden, daß die hier vertretene Auffassung der Annahme einer „realen Verbandsperson" i m Sinne Gierkes skeptisch gegenübersteht. Sicherlich ist der i n einer verbandlich organisierten Gruppe gebildete W i l l e regelmäßig nicht m i t dem W i l l e n irgendeines der realen Verbandsmitglieder identisch; ebenso werden sich auch die Angehörigen eines Verbandes regelmäßig so verhalten, als ob der Verband eigene Realität u n d eigenen W i l l e n besäße. Dies besagt aber nicht mehr, als daß der Verband i n der Vorstellung seiner realen Träger existiert u n d i h r Handeln bestimmt, begründet aber noch keine Notwendigkeit, eine von der realen Existenz seiner Träger unabhängige eigene Existenz des Verbandes anzunehmen. Die Annahme einer realen Verbandsperson ist zudem eher geeignet, das Problem der Konflikte zwischen Verbandsangehörigen, das gerade audh die innere Ordnung v o n Auch nach kennzeichnet, der hier vertretenen Auffassung ist die VersammlungsVersammlungen zu verstellen als zu erhellen. freiheit k e i n Gruppengrundrecht i n dem Sinne, daß als i h r Träger die V e r sammlung als eigene grundrechtsfähige Rechtspersönlichkeit i n Betracht kommt. V o n der Frage des Grundrechtsträgers ist aber die des Schutzobjektes der Grundrechts zu unterscheiden. Unter dem Gesichtspunkt der Garantie organisierten kollektiven Handelns ist die Versammlungsfreiheit durchaus als Gruppengrundrecht anzusehen. Schutzobjekt des A r t . 8 G G ist neben der individuellen Versammlungsfreiheit die Versammlung selbst als sozial u n d — w i e zu zeigen sein w i r d — auch rechtlich organisierter Handlungszusammenhang. 38 M a x Weber, a.a.O., I , § 12 Ziff. 3 a, S. 26.

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ter Versammlungen her und unabhängig v o n der rechtlichen Ausgestaltung liegt das Schwergewicht der Versammlungsfreiheit auf der Veranstalter- u n d Leiterfreiheit. Betrachtet man die Versammlungsfreiheit nicht einfach als eine Summierung konkreter, individueller Grundrechtspositionen, sondern als Garantie eines funktional differenzierten Handlungszusammenhangs, so w i r d deutlich, daß zumindest i h r soziales u n d politisches Schwergewicht bei jenen liegt, die die Ordnung dieses Handlungszusammenhangs garantieren u n d das k o l lektive Handeln leiten. 3. Die Abgrenzung von Versammlung und Verein

M i t der soziologischen Einordnung der unter einer Zentralinstanz organisierten Versammlung als Augenblicksverband u n d der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters als Verbandsgewalt stellt sich das Problem der Abgrenzung der Versammlung von der sozialen Verbandsform des Vereins und der i n i h m ausgeübten Vereins- bzw. Verbandsgewalt. Beide sozialen Gebilde sind eng miteinander verwandt, sie haben ihre gemeinsame Wurzel i n der Tatsache, daß Menschen zur Steigerung ihrer individuellen K r ä f t e sich zu Handlungseinheiten verbinden, u m bestimmte Zwecke zu erreichen. Gemeinsam ist ihnen auch der assoziative Grundzug, d. h. der Charakter der Zweckvereinigung. Gleichwohl handelt es sich nicht n u r rechtlich, sondern auch sozial u m unterschiedliche Gebilde. Ihre Abgrenzung i m konkreten F a l l bleibt allerdings problematisch. Dies zeigt eine Analyse der i n der L i t e r a t u r verwendeten Abgrenzungskriterien. Insbesondere das K r i t e r i u m der Organisation unter einer Zentralinstanz, das f ü r den Verein als begriffswesentlich bezeichnet, bei der Versammlung aber als entbehrlich betrachtet w i r d 3 9 , ist als Unterscheidungsmerkmal n u r bedingt geeignet. Aus tatsächlichen w i e aus rechtlichen Gründen bildet die Versammlung ohne Zentralinstanz die Ausnahme, den Normalfall stellt die Versammlung m i t Zentralinstanz dar. E i n deutlicheres Unterscheidungsmerkmal bietet dagegen das Element der Dauer. F ü r Versammlungen ist die Einmaligkeit u n d der vorübergehende Charakter der Verbindung der Teilnehmer begriffsbestimmend, während bei Vereinen regelmäßig die Absicht bestehen w i r d , eine Handlungseinheit auf längere Zeit zu bilden. Da allerdings Vereine m i t n u r kurzfristiger Zwecksetzung denkbar sind, ist auch das Zeitelement n u r ein typisches, nicht aber ein absolutes K r i t e r i u m 4 0 . Vgl. etwa Anschütz, Komm. Preuß. Verf. Urk., S. 526f.; Schnorr, ö f f e n t liches Vereinsrecht, Anm. 22 zu § 2 ; Hoerni, a.a.O., S. 66. 40 Vgl. aber § 2 des Vereinsgesetzes vom 5. 8.1964 (BGBl. I , S. 593), w o der

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Als drittes Abgrenzungsmerkmal w i r d das Element der räumlichen Vereinigung herangezogen. I n der Tat ist eine Versammlung ohne ein räumliches Zusammenkommen der Versammlungsteilnehmer nicht möglich. Aber auch Vereine sind regelmäßig auf eine unmittelbare Kommunikation ihrer Mitglieder in Form von Vereinsversammlungen angewiesen, obzwar Vereine denkbar sind, die mit einer ausschließlich schriftlichen Verständigung ihrer Mitglieder auskommen. Ein viertes K r i t e r i u m könnte schließlich i n der A r t des verfolgten Zweckes gesehen werden. Nach herkömmlicher Auffassung sind Vereine zu jedem gesetzlich zulässigen Zweck möglich, Versammlungen jedoch per definitionem auf den Zweck der Diskussion oder Kundgabe, d. h. Zwecke der Meinungsäußerung und -bildung beschränkt 41 . M i t Recht hat Hoerni jedoch darauf hingewiesen, daß dieser Auffassung eine Verwechselung von Zweck und Mittel zugrunde liegt. Eine Versammlung könne durchaus auch Zwecken dienen, die keine Meinungsäußerung zum Gegenstand hätten, wie etwa der Vorbereitung eines Festes 42 . I n der Hervorhebung der Bedeutung der Meinungsäußerung für den Begriff der Versammlung steckt gleichwohl ein richtiger Kern. Während Vereine grundsätzlich zur Verfolgung rein tatsächlicher Interessen ohne jede Meinungsbildung und -äußerung möglich sind, ist für die Versammlung das Mittel der Meinungsäußerung unverzichtbar. I h r Zweck kann — ebenso wie beim Verein — die Vorbereitung und Förderung rein tatsächlicher Handlungen sein. Faßt man das Ergebnis dieses Uberblicks über die Abgrenzungsversuche von Versammlung und Verein i n der Literatur zusammen, so läßt sich feststellen, daß die einzelnen Unterscheidungsmerkmale nur typischen, nicht aber absoluten Charakter besitzen, wobei für das Merkmal der Organisation unter einer Zentralinstanz fraglich bleibt, ob es überhaupt als typisches Unterscheidungsmerkmal geeignet ist. Der typische Unterschied zwischen Versammlung und Verein liegt weniger i n dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Zentralinstanz, er liegt vielmehr i n der A r t der Konstituierung dieser Zentralinstanz. I m Gegensatz zum Verein, der primär körperschaftlich organisiert ist, zeigt die Versammlung — jedenfalls i n der Form der ad hoc Versammlung bislang unorganisierter einzelner — starke Zusammenschluß f ü r „längere Zeit" als Begriffsmerkmal des Vereins verwendet w i r d . Schnorr, a.a.O., A n m . 14 zu § 2 Vereinsgesetz weist allerdings darauf hin, daß dieses Erfordernis nicht zu eng aufgefaßt werden darf. 41 a. A. allerdings bereits Loening, a.a.O., S. 165, 168; vgl. O V G 20, 437, der jeden gemeinsamen i n Gemeinschaft verfolgten Zweck genügen lassen w i l l . Gegen Loening Anschütz, K o m m . Preuß. Verf. Urk., S. 527. 4 2 Hoefni, a.a.O., S. 69 f.

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anstaltliche Ordnungselemente 43 . Beruht die Verbandsgewalt der Zentralinstanz i m Verein typischerweise auf einer Vereinbarung der Verbandsmitglieder, so ist dies in der Versammlung typischerweise gerade nicht der Fall. Diese Tatsache ist für die soziale und, wie zu zeigen sein wird, auch für die rechtliche Natur der Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters und den Umfang der Mitwirkungsrechte der Teilnehmer von entscheidender Bedeutung. Baut sich der Verein gleichsam von unten nach oben auf, so bildet sich umgekehrt die organisierte, geplante, „veranstaltete" Versammlung von oben nach unten. Während die Zentralinstanz des Vereins regelmäßig aus einer Wahl der Vereinsmitglieder hervorgeht und ihnen verantwortlich bleibt, besteht bei der organisierten Versammlung die Zentralinstanz zumeist schon von vornherein i n der Person des Veranstalters oder des von ihm bestellten Leiters. Das Element demokratischer Legitimation und Kontrolle durch die Mitglieder, das für den Verein typisch ist, fehlt i n der Versammlung gewöhnlich schon aus praktischen Gründen. I n ihrer sozialen Struktur zeigt die organisierte Versammlung eher Ähnlichkeit mit der ebenfalls anstaltlich strukturierten „ S t i f t u n g " 4 4 als m i t dem körperschaftlich strukturierten „Verein". Sie stellt gleichsam die Eröffnung eines geistigen Betätigungsraumes dar, den der Veranstalter den Versammlungsteilnehmern zur Verfügung stellt, wobei er zugleich die Nutzungsbedingungen festlegt. Dies geschieht vor allem durch die Bestimmung der Versammlungsform und des Versammlungszwecks, m i t der bereits i n sozialer Hinsicht eine gewisse Vorentscheidung über A r t und Umfang der Beteiligungsmöglichkeiten der Teilnehmer i n der Versammlung getroffen wird. Es entspricht bereits dem sozialen Ordnungsbild einer Vortrags- oder Kundgebungsversammlung, daß die Teilnehmer regelmäßig keine Gelegenheit zu eigener abweichender Meinungsäußerung haben, und auch i n einer Diskussionsversammlung w i r d der Spielraum der Äußerung durch das Versammlungsthema grundsätzlich begrenzt sein. 43 „Verein" u n d „ A n s t a l t " werden hier i m Sinne M a x Webers als zwei unterschiedliche Typen der Verbandsorganisation verstanden. So definiert Weber (a.a.O., I, S. 28): „Verein soll ein vereinbarter Verband heißen, dessen gesatzte Ordnung n u r f ü r die k r a f t persönlichen Eintritts Beteiligten Geltung beanspruchen kann. Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereichs jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden." 44 A u f die strukturelle Verwandtschaft der Anstalt m i t der bürgerlichrechtlichen Stiftung weisen auch Enneccerus-Nipperdey, Allg. T e i l des bürgerlichen Rechts, § 104 I I I , hin, wobei sie allerdings entsprechend den traditionellen juristischen Kategorien u n d i m Unterschied zu der hier gewählten soziologischen Betrachtungsweise den Verbandscharakter dieser sozialen Organisationsform leugnen.

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Nach der hier vertretenen Auffassung ist deshalb die Versammlung als soziale Erscheinung viel eher als „anstaltlich" geordneter Augenblicksverband anzusehen, denn als körperschaftlicher Augenblicksverband i. S. Haenels. Sicherlich zeigen auch manche sozialen Typen der Versammlung deutliche körperschaftliche Züge. Dies gilt vor allem für die Mitgliederversammlung von Vereinen, bei der die Zentralinstanz ihre Befugnisse von den Mitgliedern ableitet 45 , ebenso wie für die ad hoc Versammlung, i n der der Versammlungsleiter von den Teilnehmern erst gewählt wird. Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, daß schon das Erscheinen i n der Versammlung selbst, durch das die Versammlung überhaupt erst entsteht, und mehr noch die Beteiligung an stattfindenden Diskussionen Elemente körperschaftlicher M i t w i r k i m g am Versammlungszweck enthalten. Sie treten aber insgesamt zurück vor der Tatsache, daß typischerweise die Befugnisse der Zentralinstanz i n der Versammlung nicht von den Teilnehmern abgeleitet sind und auch die Bestimmung des Versammlungszweckes nicht den Versammlungsteilnehmern überlassen ist, sondern vom Veranstalter vorgenommen und seine Einhaltung vom Versammlungsleiter überwacht wird. Kann man den Verein soziologisch als vereinbarten Verband 4 6 bezeichnen, dessen Zentralinstanz an die von den Mitgliedern beschlossene Satzung gebunden ist, so t r i f f t dies für die Versammlung typischerweise nicht zu. Eine Vereinbarung zu gemeinsamem Wirken unter einer Zentralinstanz läßt sich jedenfalls bei der ad hoc zusammentretenden Versammlung nur sehr bedingt konstruieren. Man müßte dann annehmen, daß sich die Versammlungsteilnehmer bereits durch ihr Erscheinen m i t dem Versammlungszweck einverstanden erklären. Gerade dies ist bei der Versammlung nicht notwendig der Fall. Während beim Verein die Mitglieder durch ihren Beitritt ihre grundsätzliche Billigung des Vereinszwecks erklären und sich — regelmäßig in rechtlich verbindlicher Weise — zur Förderung dieses Zweckes verpflichten, enthält die Teilnahme an einer Versammlung keineswegs eine vergleichbare Einverständnis- und Verpflichtungserklärung. Vor allem bei öffentlichen Versammlungen mit grundsätzlich freiem Zugang ist es nicht ausgeschlossen, daß Teilnehmer dem Versammlungszweck, wie er vom Veranstalter bestimmt ist, ablehnend, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Es ist sogar denkbar, daß die Gegner des « Wie noch darzulegen sein w i r d , umfaßt die Versammlungsfreiheit die Mitgliederversammlungen der Vereine u n d sonstiger organisierter Gruppen überhaupt n u r am Rande. I h r eigentliches Schwergewicht liegt auf der Garantie der ad hoc Versammlungen, während die Mitgliederversammlungen organisierter Gruppen unmittelbar durch die Gewährleistung der V e r eins-, Koalitions- u n d Parteienfreiheit umfaßt werden. 4« Vgl. die Definition M a x Webers oben S. 141 F N 43.

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Versammlungszweckes i n der Versammlung i m Verhältnis zum Veranstalter und seinem Anhang die Mehrheit bilden. Auch wenn man davon ausgeht, daß mit der Teilnahme an einer Veranstaltung gewisse Pflichten entstehen, Störungen zu unterlassen, würde es bei der möglichen heterogenen und antagonistischen Zwecksetzung der Versammlungsbeteiligten dem tatsächlichen Sachverhalt widersprechen, in der Versammlung einen „vereinbarten Verband" zu sehen 47 .

I I I . Der soziale Sachverhalt „Versammlung" und seine rechtliche Ausgestaltung Die i n den vorangegangenen Erörterungen versuchte soziologische Betrachtung des Phänomens Versammlung und der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters, die dazu geführt hat, die organisierte Versammlung als Augenblicksverband mit stark anstaltlichen Ordnungselementen und die Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters als soziale Verbandsgewalt zu bestimmen, soll nunmehr als Grundlage für die Erörterung der rechtlichen Ausgestaltung dieses sozialen Phänomens durch den Gesetzgeber dienen. Die soziologische Einordnung der organisierten Versammlung als Verband und der Ordnungsgewalt als Verbandsgewalt besagt nicht ohne weiteres etwas über die Rechtsnatur, insbesondere ihre dogmatisch-juristische Bestimmung, sie ist aber geeignet, diese Frage zu erhellen 48 . Bereits bei der Betrachtung des sozialen Phänomens Versammlung zeigte sich, daß die soziale Gestalt der Versammlung i n erheblichem Maße durch rechtliche Normen überformt und geprägt ist. Versammlungen und ihre innere Ordnung stehen nicht i n einem rechtsleeren Raum, sondern i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung. Diese Tatsache ist nicht nur dafür bedeutsam, daß die Versammelten grundsätzlich an die allgemeinen Gesetze gebunden sind, insbesondere gehalten sind, die Rechte anderer, etwa ihre körperliche Unversehrtheit 47 Dies ist der richtige K e r n der Argumentation von Füßlein, i n : NeumannNipperdey-Scheuner, GR I I , S. 426, w e n n er es ablehnt, wegen der möglichen Gegensätze i n der Versammlung i n i h r einen Augenblicksverband zu sehen. Die unterschiedliche Interessenrichtung i n der Versammlung w i d e r spricht jedoch, zumindest nach der hier zugrunde gelegten Definition, die allein auf die Existenz einer Zentralinstanz abstellt, nicht dem Verbandscharakter der Versammlung. Sie kennzeichnet n u r ihren Unterschied zum Verein als vereinbarten Verband. 4

» Z u r Frage der Erhellung dogmatisch juristischer Probleme durch rechtssoziologische Untersuchungen vgl. Trappe, Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, Einleitung zu Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 13 ff., 35, der jedoch m i t Recht die Eigenständigkeit der juristischen Dogmatik betont.

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und ihr Eigentum zu respektieren und prinzipiell auch keine strafrechtliche Privilegierung in Anspruch nehmen können 4 9 , sie bestimmt auch die assoziative Grundstruktur der Versammlungsorganisation. Ohne die allgemeine individuelle Rechtsgleichheit der Teilnehmer, wie sie durch die staatliche Rechtsordnung garantiert wird, sind Versammlungen i m modernen Sinne als Vereinigung prinzipiell Gleichberechtigter zu einem bestimmten Zweck auch als soziale Erscheinung praktisch nicht denkbar. Aus diesem Grunde ist es nicht zutreffend, von der Versammlung als „naturgegebener Form" menschlicher Assoziation zu sprechen 50 . „Naturgegeben" ist zwar die menschliche Fähigkeit zur Vereinigung m i t anderen, die Formen dieser Verbindungen sind aber von der konkreten Rechtsordnung nicht ablösbar. Die Bedeutung der allgemeinen Gesetze für die rechtliche und soziale Ordnungsstruktur von Versammlungen reicht jedoch über die Prägimg des assoziativen Charakters von Versammlungen hinaus. Geht man davon aus, daß die Versammlung und damit auch die Befugnisse ihrer Zentralinstanz grundsätzlich nicht auf einer Vereinbarung der Versammlungsteilnehmer, d. h. auf Vertrag beruhen, so kommt — läßt man die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes zunächst außer Betracht — als Rechtsgrundlage für die Ordnungsgewalt von Veranstalter und Leiter nur das bürgerliche Hausrecht i n Betracht. Die Innehabung des Hausrechts, das die Versammlungsteilnehmer i m Rahmen ihrer Bindung an die allgemeinen Gesetze zu respektieren haben, macht die Zentralinstanz in der Versammlung rechtlich von der Zustimmung und dem Willen der Versammlungsteilnehmer unabhängig. Schon nach den allgemeinen Gesetzen haben daher Veranstalter und Leiter einer Versammlung, sofern sie über das Hausrecht verfügen, rechtlich die Möglichkeit, die Ordnung in der Versammlung nach ihrem Willen zu gestalten und mit der Sanktion der Verweisung aus dem Versammlungsraum durchzusetzen. Auch wenn man annimmt, die privaten hausrechtlichen Befugnisse des Versammlungsleiters seien durch die Grundrechte der übrigen Versammlungsteilnehmer i n gewissem Umfang eingeschränkt 51 , ändert dies nichts an der Tatsache, daß die unter privatem Hausrecht organisierte Versammlung typisch anstaltliche Züge trägt. Diese Tendenz w i r d nun durch das Versammlungsgesetz und seine Ordnungsbestimmungen aufgenommen und auch auf Versammlungen 49 Dies w i r d immer wieder i n L i t e r a t u r u n d Rechtsprechung betont. Vgl. etwa Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 17 unter Hinweis auf die Entscheidungen des Reichsgerichts, J W 1928, 1305; RGtS 56, 191. 50 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 1. 51 Etwa i. S. einer mittelbaren E i n w i r k u n g der Grundrechte auf das Privatrecht nach dem V o r b i l d des L ü t h - U r t e i l s des Bundesverfassungsgerichts.

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übertragen, bei denen das private Hausrecht keine Rolle spielt, wie etwa bei Versammlungen unter freiem Himmel. Die Ordnungsgewalt des Veranstalters, wie sie i m Versammlungsgesetz positiv festgelegt ist, stellt zwar keine Ausgestaltung des privaten Hausrechts dar, sie ist diesem Hausrecht aber nachgebildet 52 . Dies kommt nicht nur i n den Bestimmungen über die Begrenzung des Zugangs zur Versammlung zum Ausdruck (§ 6 VersG), wie i n dem Recht zum Versammlungsausschluß (§11 VersG) und der Befugnis zur Bestimmung des Versammlungsablaufs (§ 8 Satz 1 VersG), sondern zeigt sich vor allem auch i n der Tatsache, daß der Leiter grundsätzlich nicht von den Versammlungsteilnehmern gewählt, sondern vom Veranstalter bestellt w i r d (§ 7 Abs. 2 und 3 VersG). Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß die Befugnisse des Veranstalters und Leiters nach dem Versammlungsgesetz, zumindest bei öffentlichen Versammlungen i n geschlossenen Räumen, teilweise enger sind, als die aufgrund privaten Hausrechts. So kann der Zugang zur Versammlung nur i n der Einladung beschränkt werden, wobei die Nichtzulassung von Pressevertretern überhaupt unstatthaft ist (§ 6 VersG), und auch die Ausschlußbefugnis steht nur gegenüber gröblichen Störern zu Gebote (§11 VersG). Die Rechtsstellung der Versammlungsteilnehmer ist demnach günstiger als die i n einer aufgrund privaten Hausrechts organisierten Versammlung. Gleichwohl bleibt aber die durch das Versammlungsgesetz vorgeschriebene anstaltliche Organisation öffentlicher Versammlungen, die auch dort verbindlich ist, wo kein privates Hausrecht als Grundlage der Ordnungsgewalt eine Rolle spielt, verfassungsrechtlich problematisch. Denn es ist zu fragen, ob nicht schon das Erfordernis, daß öffentliche Versammlungen überhaupt einen Leiter haben müssen (§ 7 VersG), eine unzulässige, weil durch Gesetzesvorbehalt (Art. 8 Abs. 1 GG) nicht gedeckte Beschränkung der Versammlungsfreiheit darstellt. Das private Hausrecht, soweit es i m Einzelfall gegeben ist, berechtigt den Leiter nur, seine Ordnungsgewalt darauf zu stützen, verpflichtet ihn aber nicht, die Versammlung auf dieser Grundlage zu organisieren. Weiter ist zu fragen, ob das anstaltliche Ordnungsprinzip, wie es das Versammlungsgesetz allgemein für öffentliche Versammlungen vorsieht, mit dem Charakter der Versammlungsfreiheit als demokratisches Grundrecht zu vereinbaren ist. Allerdings w i r d man 52 Die Frage, ob u n d i n w i e w e i t neben den Ordnungsbefugnissen aufgrund des Versammungsgesetzes auch noch Befugnisse aus p r i v a t e m Hausrecht, soweit ein solches i m konkreten F a l l gegeben ist, i n Frage kommen, w i r d noch zu erörtern sein. Es ist nicht zu übersehen, daß das Versammlungsgesetz selbst i n §7 Abs. 4 dem Versammlungsleiter die Ausübung des (privaten) Hausrechts zuspricht.

10 Quilisch

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

die Versammlungsordnung, wie sie i m Versammlungsgesetz ausgestaltet ist, wegen der fehlenden demokratischen Legitimation der Zentralinstanz nicht schlechthin als undemokratisch bezeichnen können. Die Gründe für die Unabhängigkeit der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters vom Willen der Teilnehmer sind leicht ersichtlich. Es soll damit verhindert werden, daß eine dem Veranstalter und seinem Anhang gegenüber feindliche Mehrheit Einfluß auf den Versammlungsablauf gewinnt 5 3 . Würde i n einem solchen Fall der Versammlungsleiter von den Teilnehmern gewählt, so wäre mit Sicherheit ein i n den Augen des Veranstalters unerwünschter Versammlungsablauf zu erwarten. Die Unabhängigkeit der Zentralinstanz der Versammlung vom Willen der Versammlungsteilnehmer stellt insofern gerade auch für solche Minderheitsgruppen einen Schutz dar, die durch die Veranstaltung einer öffentlichen Versammlung unbequeme Themen aufgreifen und damit den Widerstand der Mehrheit provozieren. Ein solcher Schutz von Minderheiten ist für ein Demokratieverständnis, das i m Interesse der Offenheit des demokratischen Prozesses der Übermacht der Mehrheit Grenzen setzt, unverzichtbar. Läßt sich die anstaltliche Ausgestaltung der Ordnungsgewalt i n der öffentlichen Versammlung deshalb nicht einfach als undemokratisch bezeichnen, so liegen doch i n ihr bestimmte Gefahren, die nicht übersehen werden dürfen. Eine solche Gefahr bildet vor allem der diktatorische Mißbrauch der Ordnungsgewalt, u m Meinungsäußerungen i n der Versammlung einseitig zu steuern oder zu unterdrücken. I n diesem Zusammenhang w i r d nun die Frage der dogmatischen Bestimmung der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt relevant. Gerade der anstaltliche Charakter der Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters macht die Frage dringend, wo die Grenzen dieser Befugnisse liegen. Während die Zentralinstanz i m Verein demokratisch durch die Mitglieder legitimiert und kontrolliert w i r d und ihr Umfang grundsätzlich vom Willen der Vereinsmitglieder abhängt, stellt sich bei der Versammlung das Problem, den rechtlichen Umfang der Ordnungsgewalt von vornherein so auszugestalten, zu interpretieren und zu begrenzen, daß ein Mißbrauch verhindert und die legitimen Freiheitsinteressen der Versammlungsteilnehmer nicht ungebührlich beeinträchtigt werden. Die Analyse des sozialen Sachverhalts Versammlung läßt zwar erkennen, daß es sich dabei um einen Augenblicksverband mit stark anstaltlichen Elementen handelt, und die Untersuchung der rechtlichen Ausgestaltung zeigt, daß dieser Grundzug der Versammlungsordnung auch i n der rechtlichen Ausgestaltung aufgenommen und intensiviert m So schon v. Jan, a.a.O., S. 130 i m H i n b l i c k auf die Bestimmung des § 10 R V G u n d unter Hinweis auf die Beratungen i m Reichstag.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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wird. Damit bleibt aber die Frage noch immer unbeantwortet, ob diese rechtliche Ausgestaltung über den Bereich des Hausrechts hinaus überhaupt zulässig ist, und wenn sie zulässig ist, welchen Rechtscharakter die damit zuerkannten Befugnisse haben. Läßt sich die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters auch in gewissem Umfang als eine A r t Nachbildung privaten Hausrechts bezeichnen, jedenfalls soweit es sich um öffentliche Versammlungen i n geschlossenen Räumen handelt 5 4 , so besagt dies noch nicht, daß es sich dabei u m privatrechtliche Befugnisse handelt. Ihre Regelung i n einem herkömmlicherweise rein öffentlichrechtlichen Gesetz ist nicht zu übersehen. U m die grundsätzlichen Fragen zu klären, ob der Gesetzgeber überhaupt einen derartigen Organisationszwang für Versammlungen festlegen durfte, ob die gewählte Organisationsform verfassungsrechtlich zulässig ist und welche Rechtsnatur die darin ausgestalteten Befugnisse haben, insbesondere wo ihre Grenzen liegen, ist auf die soziale und politische Funktion der Versammlungsfreiheit i m demokratischen Staat einzugehen.

Drittes

Kapitel

Die politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit in der modernen Demokratie I. Die Versammlungsfreiheit als Meinungs- und Organisationsgrundrecht Der Gedanke, daß die Versammlungsfreiheit sich nicht i n der Garantie individualrechtlicher allein gegen die Staatsgewalt gerichteter Grundrechtspositionen erschöpfe, daß ihr vielmehr auch eine positive, staatsaufbauende Funktion zukomme, w i r d i n der neueren Literatur zwar mehrfach aufgenommen, eine genauere Untersuchung dieser öffentlichen, aktiv-demokratischen Funktion und ihrer Bedeutung für die Interpretation und Abgrenzung des Versammlungsgrundrechts fehlt jedoch 1 . 54 Bei Versammlungen unter freiem H i m m e l fehlt bezeichnenderweise die Befugnis zur Zugangsbeschränkung (§ 6 VersG) u n d zum Ausschluß von Störern (§11 VersG). Der anstaltliche Charakter der Ordnungsgewalt bleibt aber gleichwohl gewahrt, da der Versammlungsleiter auch hier den V e r sammlungsablauf bestimmen darf u n d die Teilnehmer seinen Ordnungsweisungen zu folgen haben (§ 18 i n Verbindung m i t §§ 8, 10 VersG). 1 Vgl. oben S. 108 ff. zum Verständnis der Versammlungsfreiheit i n der neueren Literatur.

10*

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Die entsprechenden Bemerkungen i m Schrifttum begnügen sich zumeist mit dem Hinweis auf den engen Zusammenhang von Meinungsund Versammlungsfreiheit, um aufgrund dessen die Versammlungsfreiheit als „unverzichtbare Garantie einer öffentlichen Meinungs- und Willensbildung" 2 , als „für die Demokratie unentbehrliche Form der Meinungsäußerung und Meinungsbildung" 3 zu bezeichnen. I n der Tat ist nicht zu übersehen, daß der enge historische und funktionelle Zusammenhang beider Grundrechte i n einem demokratischen Gemeinwesen, für das die Meinungsfreiheit „schlechthin konstituierend" 4 ist, besonderes Gewicht erhält. M i t der einseitigen Hervorhebimg des Elements der Meinungsäußerung und Meinungsbildung in Versammlungen 5 w i r d jedoch der Blick auf einen anderen Aspekt des Versammlungsgrundrechts verstellt, der für sein Verständnis und seine Bedeutung i n einer demokratischen Verfassungsordnung nicht minder bedeutsam ist: nämlich die gruppenbildende und gruppenschützende Funktion dieses Grundrechts. Sicherlich kommt den freien Versammlungen i m Prozeß der freien Meinungs- und Entscheidungsbildung, der das Lebenselement eines demokratischen Staates ausmacht, eine besondere Rolle zu. Versammlungen sind ein wichtiges M i t t e l zur Entwicklung und Vorklärung neuer Ideen und Meinungen wie zur Verbreitung und Propagierung bereits etablierter Auffassungen. Sie dienen damit der Aufbereitung, A r t i k u lierung und auch der Übersichtlichkeit der „öffentlichen Meinung" 6 . Neben und i m Zusammenhang m i t einer freien Presse, der Vereinsund Parteienfreiheit, dem Petitions- und dem Wahlrecht sind Versammlungen eine der wichtigsten Möglichkeiten der Bürger, auf den institutionalisierten politischen und staatlichen Willensbildungsprozeß Einfluß zu nehmen und i h n mitzubestimmen. Unzweifelhaft auch gewinnt die Versammlungsfreiheit gerade unter dem Aspekt der M i t 2 Mallmann, a.a.O., Sp. 107. 3 Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443. 4 So die bekannte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts — BVerfGE 7, 198 (208). s Es ist bereits i m Zusammenhang m i t der Diskussion des Versammlungsbegriffs darauf hingewiesen worden, daß der Zweck von Versammlungen sich keineswegs auf die B i l d u n g u n d Kundgabe von Meinungen beschränkt. Meinungsäußerung u n d Meinungsbildung sind n u r begriffsnotwendige u n d unverzichtbare Mittel von Versammlungen. Vgl. oben S. 140. * Vgl. Brater, a.a.O., S. 761, 766, der Versammlungen geradezu als „Organe der öffentlichen Meinung" bezeichnet. H i n t e r dieser Auffassung steht allerdings noch deutlich die bürgerlich liberale Vorstellung einer i m Grunde einheitlichen, allein der Hervorbringung der Wahrheit verpflichteten Instanz der Öffentlichkeit, die sich i n dieser F o r m auf die heutige organisierte Gruppenöffentlichkeit einer interessengespaltenen Gesellschaft nicht ohne weiteres übertragen läßt. Vgl. dazu allgemein Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, 1962.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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Wirkung und Einwirkung bei der politischen Willensbildung aktiv demokratische staatsaufbauende Züge 7 . Sie garantiert insofern nicht nur Freiheit vom, sondern auch zum Staat. Als M i t t e l öffentlicher Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten, ermöglicht sie es den Bürgern nicht nur, ihre Meinungen und Interessen gegenüber den staatlichen Organen zu artikulieren und zu vertreten und i n gewissem Umfang auch eine Kontrolle auszuüben, sie gibt zugleich auch den Regierenden die Möglichkeit, diese Interessen zu erkennen und zu berücksichtigen 8 . Gleichwohl läßt sich das Wesen der Versammlungsfreiheit nicht voll erfassen, w e n n m a n i n i h r n u r ein Meinungsgrundrecht

sieht. D i e

Versammlungsfreiheit muß vielmehr zugleich auch als ein Organisationsgrundrecht 9 verstanden werden 1 0 . Schutzobjekt des Versammlungsgrundrechts ist nicht nur eine arithmetische Summierung individueller Grundrechtspositionen, sondern ein kollektiver, sozial und in gewissem Umfang auch rechtlich geordneter Handlungszusammenhang. Nicht nur die individuelle Handlungs- und Meinungsfreiheit einzelner, sondern die Möglichkeit organisierten Gruppenhandelns, die Bildung und Betätigung von Augenblicksverbänden w i r d durch die Versammlungsfreiheit geschützt. Erst die Garantie organisierter Gruppenbildung und Gruppenbetätigung, d. h. die gruppenbildende und gruppenschützende Funktion des freien Versammlungsrechts, die allerdings i n engem Zusammenhang m i t dem Meinungsgrundrecht zu sehen ist 1 1 , gibt der Versamm7 Dies gilt vor allem f ü r öffentliche Versammlungen m i t politischer Zwecksetzung. Hier t r i t t der i n der historischen Entwicklung des Versammlungsgrundrechts angelegte Bezug zum Gedanken der Volkssouveränität besonders deutlich hervor. Die M i t w i r k u n g an der politischen Willensbildung ist gemäß A r t . 21 Abs. 1 G G keineswegs ein Monopol der Parteien, sondern auch anderen politischen Faktoren offen. 8 Die F u n k t i o n öffentlicher Versammlungen als eine A r t von Revolutionsv e n t i l spielt vor allem i n der Argumentation der liberalen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Es ist aber nicht zu verkennen, daß sie auch i n einer repräsentativen Demokratie, i n der alle Staatsgewalt v o m Volke ausgeht, bedeutsam bleibt. 9 Der Begriff des Organisationsgrundrechts i n dem hier gemeinten Sinne ist, soweit ersichtlich, i n der L i t e r a t u r bislang nicht bekannt. Der dahinter stehende Gedanke, daß durch die Organisation k o l l e k t i v e n Handelns eine qualitative Steigerung der Wirkungsmöglichkeiten erreicht werden kann, ist jedoch seit langem geläufig u n d spielt vor allem i m Zusammenhang m i t der Vereinsfreiheit u n d der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer eine Rolle. Vgl. etwa Michels, Soziologie des Parteiwesens, S. 24: „ D i e Organisation ist die gegebene Waffe der Schwachen i m Kampfe m i t den Starken . . 10 Daß A r t . 8 GG auch die Organisation der Versammlung garantiert, betont neuerdings auch Herzog, Rdnr. 61, 62, 63 zu A r t . 8 GG. 11 Auch die Meinungsfreiheit umfaßt nicht n u r die individuelle Meinungsäußerung, sondern schützt auch Gruppenmeinungen. So bereits Smend, W D S t R L , Heft 4, S. 50.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

lungsfreiheit ihr spezifisches Gewicht i n einem demokratischen Gemeinwesen. Die moderne Demokratie setzt für i h r Funktionieren eine differenzierte, nach vielfältigen Interessen und Zwecken gegliederte und organisierte, u m ein viel gebrauchtes und mißbrauchtes Wort zu verwenden, eine pluralistische Gruppengesellschaft voraus. Die sozialen und politischen Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger als einzelne sind unter den Bedingungen, wie sie i n den heutigen industriellen Flächenstaaten m i t hoher Bevölkerungsdichte und vielschichtigen sozialen Differenzierungen und Abhängigkeiten bestehen, zumeist äußerst begrenzt. I n der Mehrzahl der Fälle w i r d deshalb nur kollektives, organisiertes Handeln zusammengeschlossener einzelner Aussicht auf Erfolg und Durchsetzung haben. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der modernen Massendemokratie, daß auch individuelle Interessen und Freiheitsrechte sich weithin überhaupt nur kollektiv behaupten und durchsetzen lassen. Damit w i r d ein Aspekt der gruppenbildenden und gruppenschützenden Funktion des Versammlungsgrundrechts sichtbar, der für sein Verständnis i n der modernen Demokratie außerordentlich bedeutsam ist: die freiheitssichernde Wirkung der Versammlungsfreiheit i n einer differenzierten Gruppengesellschaft. Das Recht der Bürger, sich frei zu versammeln und als organisierte Gruppen zu handeln, ist nicht nur selbst ein Stück sozialer und politischer Freiheit, es ist zugleich ein wichtiges Instrument individueller und kollektiver Freiheits- und Interessenbehauptung i n anderen Lebensbereichen. Dieses Moment gew i n n t mit dem Übergang vom liberalen Rechtsstaat zum demokratischen Sozialstaat eine neuartige Dimension. I n dem Maße, i n dem die Freiheits- und Entfaltungschancen der Bürger i n politisch vermittelten Prozessen gestaltet und zugeteilt werden, nimmt auch das Gewicht jener Grundrechte zu, die eine demokratische Teilnahme der Bürger an jenen Prozessen ermöglichen, i n denen solche Entscheidungen getroffen werden.

II. Die Versammlungsfreiheit als politisches und soziales Kampf recht Die Bedeutung der freiheitssichernden Wirkung des Versammlungsgrundrechts beschränkt sich dabei keineswegs auf die Abwehr staatlicher Übergriffe und die Einflußnahme auf den Prozeß staatlicher Willensbildung, wenn auch aus historischen Gründen diese Richtung des Grundrechtsschutzes besonders hervortritt. I n einer pluralistischen Gruppengesellschaft w i r d die Versammlungsfreiheit zugleich zu einem

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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wichtigen Instrument gegenseitiger Kontrolle und Machtbegrenzung der Teilverbände i m Staate. Als M i t t e l der Interessenbehauptung und -durchsetzung ist das freie Versammlungsrecht ein wichtiges politisches und soziales Kampfrecht i m Rahmen einer demokratischen Verfassungsordnung. Als solches steht es nicht nur den bereits organisierten Gruppen zu, sondern gibt auch bislang nicht organisierten einzelnen die Möglichkeit, sich ihrerseits zusammenzuschließen und sonst übermächtigen Gruppeninteressen zu begegnen. Die Versammlungsfreiheit ist insofern sowohl M i t t e l des Gruppenkampfes bereits etablierter Teilverbände, wie auch M i t t e l zum Kampf gegen die etablierten Gruppen. Sie w i r k t deshalb nicht nur gruppenbildend und gruppenschützend, sondern hemmt zugleich auch die Machtentfaltung und den Machtmißbrauch der etablierten sozialen und politischen Teilverbände. Diese Doppelfunktion der Versammlungsfreiheit, die Bedeutung für die Förderung wie die Begrenzung sozialer Gruppenmacht, w i r d i m Verhältnis der Versammlungsfreiheit zu anderen Grundrechten, die ebenfalls organisierte kollektive Handlungsformen schützen, wie etwa die Vereins-, Koalitions- und Parteienfreiheit, besonders deutlich. Einerseits fördert die Versammlungsfreiheit die anderen Grundrechte organisierter Gruppenbildung und -tätigkeit i n ihrer sozialen, politischen und auch rechtlichen Wirksamkeit, andererseits hemmt und begrenzt sie sie jedoch auch. Als Verstärkung der verfassungsrechtlichen Position von Vereinen, Koalitionen und Parteien ist das Versammlungsgrundrecht dabei i n zweifacher Weise relevant: es schützt einmal das Selbstversammlungsrecht ihrer Mitglieder — ein Gesichtspunkt, der allerdings stark an Bedeutung zurücktritt 1 2 , und es gibt den genannten Gruppen die Möglichkeit, als Veranstalter und Träger öffentlicher Versammlungen unmittelbar auf ein breiteres Publikum einzuwirken, ihre Interessen 12 Z w a r umfaßt nach allgemeiner Meinung die Garantie des A r t . 8 G G auch nichtöffentliche Versammlungen (Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 445; Mallmann, Sp. 108; v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 3 a zu A r t . 8 G G ; v. Münch, B. K., Rdnr. 24) u n d damit auch die Mitgliederversammlungen bereits organisierter Gruppen Es ist aber nicht zu übersehen, daß das Selbstversammlungsrecht v o n Vereinen, Koalitionen u n d Parteien p r i m ä r durch die jeweiligen spezifischen Grundrechtsgarantien abgedeckt ist. Selbst w e n n eine ausdrückliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit i m Katalog der Grundrechte fehlte, müßte zumindest das Selbstversammlungsrecht organisierter Gruppen durch das Grundrecht der Vereinsfreiheit als gewährleistet gelten. (Vgl. f ü r die Schweizerische Bundesverfassung, die n u r eine Garantie der Vereinsfreiheit kennt, Abderhalden, Vereinsfreiheit, S. 69 ff., dort auch zu der streitigen Frage, ob aus der Vereinsfreiheit allgemein die Versammlungsfreiheit abgeleitet werden könne. Vgl. auch Hoerni, Versammlungsfreiheit, S. 73 ff., 92 ff.) Das historische, politische u n d soziale Schwergewicht der Garantie der Versammlungsfreiheit i n A r t . 8 G G liegt eindeutig auf dem Schutz der ad hoc gebildeten Versammlung u n d umfaßt das Selbstversammlungsrecht bereits organisierter Gruppen n u r am Rande m i t .

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

zu vertreten, Anhänger zu gewinnen und ihren Gegnern Widerpart zu leisten. Umgekehrt w i r d die Versammlungsfreiheit auch durch ein freies Vereinigungsrecht der Bürger in seiner Wirksamkeit gefördert. Denn ebenso wie Vereinigungen regelmäßig für ihr internes und öffentliches Wirken des Mittels der Versammlung bedürfen, gewinnen Versammlungen Durchschlagskraft und Einfluß weithin erst dadurch, daß sie von organisierten Gruppen vorbereitet und getragen werden, die damit den jeweiligen Bestrebungen die Kontinuität verleihen, die der einzelnen Versammlung selbst fehlt. Ein funktionsfähiges Versammlungswesen ist ohne ein freies Vereinsrecht ebensowenig denkbar, wie ein lebendiges Vereins- und Parteienwesen ohne freies Versammlungsrecht 13 . Die Garantie der Versammlungsfreiheit stärkt die Vereine, Parteien und Koalitionen aber nicht nur i n ihrer sozialen und politischen Wirkungsmöglichkeit, sie bewirkt zugleich auch eine Kontrolle und Hemmung der Macht dieser kollektiven Gebilde. Dem Recht der einen Gruppe, sich zur Verfolgung ihrer Ziele des Mittels der Versammlung zu bedienen, begegnet nicht nur das Recht anderer Gruppen, hierauf m i t dem gleichen M i t t e l zu antworten. Die Versammlungsfreiheit gibt darüber hinaus auch jenen ein relativ wirksames und vergleichsweise billiges Kampfmittel i n die Hand, die sich i n ihren Interessen und Auffassungen durch die etablierten Gruppen beeinträchtigt oder zumindest nicht repräsentiert fühlen. Auch wenn man davon ausgeht, daß die meisten öffentlichen Versammlungen von bereits organisierten Gruppen veranstaltet und i n ihrem Ablauf bestimmt werden 1 4 , darf doch die Bedeutung freier ad hoc gebildeter Versammlungen bislang nicht organisierter einzelner nicht außer acht gelassen werden. Die damit eröffnete Möglichkeit, sich gegen übermächtige Einflüsse des Staates und etablierter Gruppen zu wehren und sich Gehör zu verschaffen, ist i n einer Gesellschaft, i n der soziale und politische Gruppen i n vieler Hinsicht die Tendenz zur „Mediatisierung" ihrer Mitglieder annehmen, für die Lebendigkeit und vor allem die Offenheit des demokratischen Prozesses von nicht zu unterschätzender Bedeutung. 13 Dieser enge funktionelle Zusammenhang von (politischer) Versammlungsfreiheit u n d Vereinsfreiheit zeigt sich bereits bei den ersten großen politischen Agitationen i n England gegen Ende des 18. Jahrhunderts, i n deren Verlauf sich die Versammlungsfreiheit als eigenständiges Grundrecht überhaupt erst entfaltet. Vgl. oben S. 38. 14 Dies k o m m t auch i n der Regelung des Versammlungsgesetzes selbst zum Ausdruck, das i n §7 Abs. 2 Satz 2 ausdrücklich bestimmt: „ W i r d eine Versammlung von einer Vereinigung veranstaltet, so ist i h r Vorsitzender der Leiter."

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I I I . Die integrative und disjunktive Funktion der Versammlungsfreiheit Der Charakter der Versammlungsfreiheit als Kampf- und Organisationsrecht i n einer pluralistischen Gruppengesellschaft ist i n den vorangegangenen Erörterungen bewußt herausgestellt worden. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die Elemente der Organisation unter einer Zentralinstanz und der Auseinandersetzung m i t dem Staat oder anderen sozialen und politischen Gruppen in jeder Versammlung notwendig gegeben sein müßten. Der Sinn der Hervorhebung ist vielmehr ein anderer. Es soll damit vor allem darauf hingewiesen werden, daß diese Aspekte i n der verfassungstheoretischen Diskussion des Versammlungsgrundrechts gemeinhin nicht genügend berücksichtigt werden, obwohl sie für das Verständnis seiner Funktion i m demokratischen Prozeß von entscheidender Bedeutung sind. Versteht man die Versammlungsfreiheit als politisches und soziales Kampfrecht, das nicht nur auf den Staat i m Sinne des organisierten Herrschaftsapparates bezogen ist, sondern auch den organisierten Gruppen gegeneinander wie den ad hoc zusammengeschlossenen einzelnen gegen die etablierten Gruppen zusteht, so w i r d deutlich, daß die staatsaufbauende Funktion dieses Grundrechts nicht überbetont werden darf. Vor allem darf die durch dieses Grundrecht ermöglichte M i t w i r k u n g bei der politischen Willensbildung nicht einseitig unter dem Gesichtspunkt politischer Einheitsbildung und Einheitserhaltung gesehen werden. Sicherlich liegt bereits i m Kampf der Gruppen und Meinungen ein wichtiges Moment sozialer und politischer Integration. Die notwendige Zusammenfassung und Organisation individueller Interessen, die daraus resultierende Vorordnung und Filterung der sozialen und politischen Bestrebungen, die Kommunikation und Begegnung unterschiedlicher Gruppeninteressen, der Zwang, i n gewissem Umfang Spielregeln für den Austrag des Kampfes zu finden und zu beachten sowie Kompromisse zu schließen, alle diese Erscheinungen zeigen die integrierende W i r kung sozialer und politischer Auseinandersetzung, des Sichschlagens und Sichvertragens. Unzweifelhaft kommt den Grundrechten der freien Gruppenbildung und -tätigkeit, i n deren Rahmen die Versammlungsfreiheit zu sehen ist, auch insofern einheitsbildende Wirkung zu, als sie den Bürgern und ihren Verbänden Einwirkungsmöglichkeiten auf den staatlichen Willensbildungsprozeß eröffnen, sie so an den Staat heranführen und die sozialen und politischen Kräfte für die immer neue Herstellung der staatlichen Einheit nutzbar machen. A u f der anderen Seite stellt aber der Kampf der Gruppen und Interessen die Einheit des politischen Gemeinwesens auch immer wieder in

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Frage u n d soll dies auch tun, u m der Verfestigung von Mehrheiten und etablierten Auffassungen, der Herausbildung oligarchischer u n d oligopolistischer Ordnungsstrukturen entgegenzuwirken. Aus diesem Grunde schützt die Versammlungfreiheit nicht n u r die M i t w i r k u n g staatsaufbauender und staatserhaltender Kräfte, sondern auch das Recht unbequemer Minderheiten, die keine Chance und/oder keinen W i l l e n haben, zur Mehrheit zu werden und bewußt ihre Eigenart bewahren wollen, ebenso w i e den Zusammenschluß einzelner, die m i t dem M i t t e l öffentlicher Versammlungen die Stellung etablierter „staatstragender" Gruppen anzugreifen versuchen. Das freie Versammlungsrecht fördert insofern nicht n u r den Ausgleich von Gruppeninteressen, es k a n n auch ebenso zur Verhärtung und Verschärfung sozialer u n d politischer Gegensätze beitragen. Es w i r k t nicht n u r integrierend, es w i r k t auch disjunktiv. Diese disjunktive Funktion 15 der Versammlungsfreiheit ist für den demokratischen Prozeß von mindestens der gleichen Bedeutung wie ihre integrative Funktion, denn sie gewährleistet die grundsätzliche Offenheit des politischen Gemeinwesens f ü r neue Strömungen, Gedanken, Ziele, Werte u n d Gruppen, die sich u m diese kristallisieren. D a m i t w i r d nicht einem apolitischen und antipolitischen Freiheitsverständnis das W o r t geredet. Vielmehr erfordert gerade die Sicht der Versammlungsfreiheit als „Funktionselement" einer demokratischen Verfassungsordnung, die der politischen Freiheit ihrer Bürger dienen soll, den Schutz und die Anerkennung der disjunktiven F u n k t i o n jener Grundrechte, die eine freie Gruppenbildung u n d Gruppenbetätigung gewährleisten 1 6 . Nicht n u r die Einheit des politischen Gemeinwesens ist Sinn u n d Aufgabe der Verfassung, sondern auch seine Offenheit u n d Vielfalt, u n d zwar jene grundsätzliche Offenheit und Pluralität, die eine freiheitliche politische und soziale Ordnung von einer totalitären durch eine allgegenwärtige Einheitsideologie geprägten D i k t a t u r unterscheidet.

" Vgl. Scheuner, Politische Repräsentation u n d Interessenvertretung, DÖV 1965, S. 577 unter Hinweis auf Eckstein, Pressure Group Politics, London 1960, S. 30, der die „disjunctive function" organisierter Gruppen i m politischen Prozeß hervorhebt. i« Nicht n u r das Maß der Pressefreiheit (vgl. dazu Scheuner, W D S t R L , Heft 22, S. 19 m i t Nachweisen), sondern auch das Maß, i n dem eine freie Gruppenbildung u n d -betätigung gewährleistet ist, ist ein sicheres Barometer für den Grad der Freiheitlichkeit eines politischen Gemeinwesens. Die Gewährleistung individueller Meinungsfreiheit u n d Interessenverfolgung bleibt unzulänglich, solange sie nicht durch die Möglichkeit ergänzt w i r d , sich zu ihrer Durchsetzung zu organisieren.

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IV. Die Versammlungsfreiheit und die Einheit der Verfassung Die hier vertretene Auffassung der Versammlungsfreiheit als kollektives politisches und soziales Kampfrecht i n einer pluralistischen Gruppengesellschaft wendet sich nicht nur gegen ein apolitisches, rein staatsabwehrendes Verständnis dieses Grundrechts. Sie enthält vielmehr auch eine kritische Absetzung von einer Überbetonung des Gedankens der materialen Einheit der Verfassung, wie er bei Smend angelegt ist und sich neuerdings in der institutionellen Grundrechtstheorie Haberies zu bedenklichen Konsequenzen steigert. Bei allen Verdiensten der Integrationslehre Smends für die Überwindung eines rein formalen positivistischen Grundrechtsverständnisses, läßt sich doch die Einseitigkeit ihres verfassungstheoretischen Ansatzes nicht verkennen. Die zentrale Bedeutung der Grundrechte für die Offenheit und damit die Freiheitlichkeit des demokratischen Prozesses w i r d i n gefährlicher Weise verengt, wenn man die Verfassung primär als rechtliche Normierung des Prozesses staatlicher Einheitsbildung sieht 1 7 und auch die Grundrechte einseitig unter diesem Aspekt interpretiert 1 8 . Zwar betont auch Smend die Notwendigkeit sozialer und politischer Vielfalt und des Kampfes der Interessen und Meinungen; er ordnet sie aber von vornherein einem Prozeß ziel- und wertörientierter Einheitsbildung unter, i n dem sie dialektisch „aufgehoben" werden. Die durch die freie Auseinandersetzung auf dem M a r k t der Interessen bewirkte sachliche Integration w i r d nicht als ein prinzipiell offener Prozeß begriffen 1 9 , sondern als eine Aufgabe, die die Herstellung eines einheitlichen K u l t u r - und Wertsystems zum Gegenstand hat, das i n der Verfassung und vor allem den Grundrechten angelegt ist 2 0 . Indem das Ergebnis der sozialen und politischen Auseinandersetzung so von vornherein auf die Erhaltung eines bestimmten Wertsystems verpflichtet wird, gerät die m i t der Verfassung „aufgegebene Einheit" i n die Gefahr, auf Kosten ihrer Offenheit zur „vorgegebenen bzw. gegebenen Einheit" zu werden. Sicherlich lassen sich die Bestimmungen der Verfassung nicht beziehungslos und isoliert interpretieren, sondern bilden einen insgesamt einheitlichen, wenn auch in sich spannungsvollen Sinnzusammenhang 21 , 17 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, i n : Staatsrechtliche A b handlungen, S. 189. 18 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, a.a.O., S. 260 ff., 265. 19 Smend, Das Problem der Institutionen u n d der Staat, i n : Zeitschrift f. ev. E t h i k , Heft 2, 1962. 20 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, a.a.O., S. 265. 21 Vgl. Ehmke, V V D S t R L , Heft 20, S. 77; Scheuner, W D S t R L , Heft 22, S. 53.

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der auch bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen ist. Das zentrale Thema dieses Sinnzusammenhangs, die Bewährimg und Verwirklichung einer freiheitlich demokratischen und sozialstaatlichen Ordnung i m Wandel historischer Herausforderungen, w i r d bei Smend jedoch einseitig auf ein Problem politischer Bewußtseinsbildung, auf die Integration zu einer nationalen K u l t u r - und Wertgemeinschaft reduziert. Dies führt notwendig zu einer Vernachlässigung der organisatorischen und institutionellen Aspekte des durch die Verfassung geregelten und geschützten politischen Prozesses. M i t Hecht hat Hermann Heller 22 darauf hingewiesen, daß nicht die „Einheit des Fühlens und Denkens" die Einheit des politischen Gemeinwesens ausmache — eine Einheit, die i n der modernen interessengespaltenen Gesellschaft ohnehin illusorisch wäre —, sondern die Organisation der Prozesse politischer und sozialer Macht- und Rechtsbildung zu einem „wirklichen Leistungszusammenhang". Es ist die Intention, diesen realen Leistungs- und Handlungszusammenhang zu einer politischen „Entscheidungs- und Wirkungseinheit" 2 3 zu organisieren, der nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis die Einheit der Verfassung kennzeichnet. Damit w i r d die Bedeutung materialer Wertgesichtspunkte für die Verfassungsinterpretation keineswegs geleugnet. Es ist nicht zu übersehen, daß der durch die Verfassung geordnete und geschützte politische Prozeß auf bestimmten materiellen Grundwerten beruht, die ihn überhaupt erst ermöglichen und die darüber hinaus i n diesem Prozeß immer neu verwirklicht werden sollen 24 . Gleichwohl bedeutet es einen tiefgreifenden Unterschied, ob man die Einheit der Verfassung wie Smend i n der Herstellung eines einheitlichen politischen Bewußtseins, i n der „ B i l d u n g einer bestimmten politischen Gesamthaltung" 2 5 sieht, oder ob man sie aus dem Gedanken der Organisation politischer Handlungsfähigkeit zur Verwirklichung materialer Verfassungsziele begreift. Z w a r führt auch die Integrationslehre zu einer Überwindung des liberalen „Verteilungsprinzips", das die Grundrechte generell einer unpolitischen „Gesellschaft" zuweist. Indem aber sämtliche Verfassungsbestimmungen einseitig als Normierungen eines auf Einheitsbildung gerichteten Bewußtseinsprozesses verstanden und auf dieses Ziel hin interpretiert werden, w i r d die i n der Verfassung zugleich angelegte prinzipielle Spannung zwischen unterschiedlichen Bereichen politischer 22 Heiler, Staatslehre, S. 88. 23 Heller, a.a.O., S. 228 ff. 24 Dies bringt das Grundgesetz positiv zum Ausdruck, indem es bestimmte Grundprinzipien der Verfassung selbst der Änderung durch den Verfassungsgesetzgeber entzieht (Art. 79 Abs. 3 GG), oder den Wesensgehalt der Grundrechte für unantastbar erklärt (Art. 19 Abs. 2 GG). 25 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, a.a.O., S. 154.

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Tätigkeit und Organisation vorschnell verwischt und harmonisiert. Der Blick auf die qualitativen Unterschiede der verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Legitimation w i e Verantwortungsstruktur der staatlichen Herrschaftsinstanzen und der Betätigung i m grundrechtlich geschützten Bereich öffentlicher Auseinandersetzung w i r d damit verstellt. Nicht nur der institutionelle und organisatorische Aspekt des Verfassungsprozesses, sondern auch sein materieller Wertaspekt w i r d dabei i m Grunde nicht erfaßt. Denn die Frage, wie die materiellen Verfassungsziele zu verwirklichen sind, vor allem welches diese Ziele sein sollen und welche Verbindlichkeiten ihnen i n den verschiedenen Bereichen politischer A k t i o n und Verantwortung zukommt, wer über ihre Interpretation und Realisation verfügt, t r i t t völlig hinter der Intention zurück, eine Einheit, wenn nicht gar Einheitlichkeit, des politischen Bewußtseins herzustellen. So w i r d bei Smend der Bereich öffentlicher grundrechtlich garantierter und organisierter Auseinandersetzung durch ein starkes ethisches und nationales Pflichtmoment überlagert. Die durch die Grundrechte als „Berufsrechte der B ü r g e r " 2 6 ermöglichte Teilnahme am politischen Prozeß gewinnt damit i n gewissem Umfang den Charakter einer sittlichen und nationalen Berufspflicht, sich am Prozeß der staatlichen Integration zu beteiligen und zur Erhaltung der gegebenen K u l t u r - und Wertordnung beizutragen. Diese starke Betonung des Einheitsgedankens und die Ausrichtung und Verpflichtung der Grundrechte auf eine wertbestimmte Einheitsbildung und -erhaltung ist bei Smend allerdings vor dem Hintergrund der Weimarer Republik zu sehen, wo sich politische Indifferenz der Bourgeoisie und politischer Radikalismus organisierter Gruppen unter dem Schutz rein formal verstandener Grundrechtsgarantien zu einer Zerstörung der demokratischen Verfassungsordnung verbanden 2 7 . Trotz allem sind die antipluralistischen und sozialkonservativen Züge der Smendschen Integrationslehre nicht zu übersehen. Sie erhalten vor allem ein bedenkliches Gewicht, wenn ihre Gedanken unkritisch oder i n polemischer Überreaktion auf die Erfahrungen von Weimar, auf die ganz andere politische und soziale Situation der Bundesrepublik übertragen werden, wie dies zum Teil durch die neuerdings zu beobachtende Renaissance institutionellen Grundrechtsdenkens geschieht. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die von Häberle i m Zusammenhang m i t seiner Untersuchung der Wesensgehaltsgarantie des 26 Smend, Bürger und Bourgeois i m deutschen Staatsrecht, i n : Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 318 f. 27 Smend, A r t i k e l Integrationslehre i m Hdb.StW, Bd. 5, S. 299 (301) hat dies selbst eingeräumt.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

A r t . 19 Abs. 2 GG vertretene Grundrechtsauffassung 28 . Ausgehend vom institutionellen Rechtsdenken E. Kaufmanns und M. Haurious und unter Aufnahme von Gedanken Smends und Hamels, sieht Häberle nicht nur i n allen Grundrechten institutionelle Garantien, „verfassungsrechtliche Gewährleistungen freiheitlich geordneter und ausgestalteter Lebensbereiche" 29 , sondern diese „objektiven Ordnungen" schließen sich darüber hinaus „zum Ganzen der Verfassung" 30 zusammen. Da die Grundrechte ein „objektives, einheitliches System von konstitutiver Bedeutung für das Ganze der Verfassung" 31 und m i t dem organisatorischen Teil der Verfassung eine „innere Einheit" bilden, sind ihr Inhalt und ihre Grenzen nur in einer „Zusammenschau", d. h. i m Wege „ganzheitlicher" Verfassungsauslegung zu erschließen 32 . Als „Verfassungsrechtsgüter" bedingen sie sich gegenseitig 33 und dürfen nicht gegeneinander durchgesetzt und ausgespielt werden 3 4 . Die Bestimmung der Grundrechtsgrenzen, die zugleich zum Zentrum ihrer Inhaltsbestimmung wird, soll dabei i m Lichte der „Totalität des verfassungsrechtlichen Wertsystems" 35 als Entfaltung „immanenter" Grenzen verstanden und i m Wege einer Güterabwägung nach dem Vorbild des Lüth-Urteils vorgenommen werden. Hierbei w i r d der Gesetzgebung die entscheidende Rolle für die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte zugeschrieben, um dem jeweiligen Grundrecht jenen Platz zuzuweisen, „den es von vornherein i m Ganzen der Verfassung einnimmt". Ohne hier auf eine detaillierte K r i t i k der Vorzüge und Schwächen der Grundrechtsauffassung Häberles einzugehen, mag bereits diese knappe Andeutung ihrer Grundzüge genügen, u m die bedenklichen Implikationen seiner „Theorie des großen Ineinander" 3 6 offenzulegen. Ganz abgesehen von dem möglichen Mißbrauch einer solchen Theorie i n den Händen einer geschlossenen und entschlossenen Ideologie 37 ist der harmonistische und z. T. geradezu quietistische Charakter dieser Grundrechtsauffassung nicht zu übersehen. Schon von ihrem Ansatz her vermag sie die Bedeutung des politischen und sozialen Kampfes für die Freiheitlichkeit und Offenheit des politischen Gemeinwesens m Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 GG, Diss j u r . Freiburg 1962. Häberle, a.a.O., S. 70 unter Hinweis auf Hesse, W D S t R L , Heft 17, S. 11. so Häberle, a.a.O., S.70. 31 Häberle, a.a.O., S. 4. 32 Häberle, a.a.O., S. 5. 33 Häberle, a.a.O., S. 6. 34 Häberle, a.a.O., S. 12. 35 Häberle, a.a.O., S. 7. 36 Vgl. Lerche, D Ö V 65, S. 212. 37 So Lerche, D Ö V 65, S. 212.

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nicht zu erfassen. I n einer Verfassungsordnung, i n der alle Elemente sich gegenseitig bedingen und begrenzen, i n der die Grundrechte sich nicht mehr widersprechen, sondern nur noch gegenseitig verstärken können, i n der organisatorischer und Grundrechtsteil der Verfassung zu innerer Einheit verschmolzen sind, ist i m Grunde kein Raum mehr für Widersprüche und Konflikte, die die überindividuellen Institutionen i n Frage stellen und nicht nur umzuinterpretieren, sondern auch zu verändern vermögen 38 . Die Einheit der Verfassung ist hier nicht mehr durch das Moment bewußter Organisation politischer Handlungsfähigkeit i n einer interessengespaltenen Gesellschaft bestimmt, die Verfassung w i r d vielmehr zu einem von vornherein widerspruchslosen System gegenseitiger Bedingtheiten und Abwägungen, i n dem alle Konflikte grundsätzlich bereits gelöst sind, bzw. die Bewältigung und Regelung von Konflikten von einem Problem politischer Auseinandersetzung und Gestaltung zu einem Problem institutioneller Verfassungsinterpretation wird. Der an sich berechtigte Gedanke der Einheit der Verfassung i m Sinne der Einheit rechtlicher Gestaltung und Sicherung eines „wirklichen Leistungszusammenhanges" 39 , i n dem offene politische und soziale Konflikte und Auseinandersetzungen ein legitimes und notwendiges Element darstellen, w i r d zu einem juristischen Instrument zur Harmonisierung politischer und sozialer Interessenkonflikte. Der Pluralismus der Interessen und Werte einer modernen Industriegesellschaft w i r d durch einen Pluralismus einander bedingender Institutionen ersetzt 40 . Es ist vor allem diese i m institutionellen Einheitsdenken angelegte Tendenz zur Verrechtlichung, Reglementierung und damit Harmonisierung aller politischen und sozialen Auseinandersetzungen, gegen die sich die hier hervorgehobene Auffassung von der Versammlungsfreiheit als Kampfrecht i n einer pluralistischen Gruppengesellschaft wendet. Nicht nur das Sichvertragen, sondern auch das Sichschlagen gehört zu einer demokratischen Verfassungsordnung. W i l l man Bürger, die bereit und i n der Lage sind, sich auch in kritischen Situationen für die Erhaltung und Bewahrung der Freiheit einzusetzen und dafür zu 38 Der auch von Haberle betonte individualrechtliche Aspekt der G r u n d rechte w i r d dabei auf die Bedeutung eines Entreebületts i n vorgeordnete Lebensbereiche reduziert. Die Grundrechte werden zu einem Gehäuse harmonistischer u n d quietistischer Daseinserfüllung. 39 Eben diese Einheit der Verfassung als rechtlich organisierter H a n d lungs- u n d Wirkungszusammenhang k o m m t nicht i n den Blick, w e n n m a n die Verfassung als eine Zusammenfügung unterschiedlicher Institutionen zu einer A r t Überinstitution begreift. 40 M i t Recht macht Denniger, J Z 63, S. 424 darauf aufmerksam, daß dem Grundrechtsverständnis Häberles ein offener politischer u n d sozialer P l u r a lismus i m Grunde fremd ist.

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kämpfen, so kann man nicht jeden Gebrauch der Freiheit von Staats wegen regulieren und ausgestalten. Freiheit, deren Schutz allein zu einer Angelegenheit des Staates, seiner Gesetzgebung und seiner Gerichte wird, erstickt den politischen Freiheitssinn der Bürger. Freiheit muß auch riskiert werden, um bewahrt werden zu können.

V. Die Versammlungsfreiheit und die Offenheit der Verfassungsordnung Trotz der i m vorangegangenen Abschnitt erhobenen kritischen Einwände gegen die institutionelle Grundrechtstheorie ist jedoch nicht zu verkennen, daß eine ganze Anzahl der praktischen Konsequenzen der i n dieser Arbeit entwickelten Auffassung der Versammlungsfreiheit m i t denen der Haberle sehen Grundrechtskonzeption übereinstimmen. So w i r d keineswegs geleugnet, daß das Versammlungsgrundrecht i n gewissem Umfang institutionelle Züge trägt. I m Gegenteil, es ist eine der zentralen Thesen dieser Arbeit, daß sich die Versammlungsfreiheit nicht als reines Individualgrundrecht erfassen läßt, daß sie vielmehr zugleich als Gewährleistung eines sozial und i n gewissem Umfang auch rechtlich geordneten und organisierten kollektiven Handlungszusammenhangs begriffen werden muß. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich Inhalt und Grenzen dieses Grundrechts nur aus einer „Gesamtschau" einer als Einheit der Institutionen verstandenen Verfassung ableiten lassen und daß die rechtlichen Grenzen und Ausgestaltungen, die durchaus notwendige Organisation der Freiheit (Heller), zugleich deren Erfüllung und Wesensgehalt ausmachen. I m Gegensatz zum institutionellen Rechtsdenken w i r d der institutionelle Aspekt des Versammlungsgrundrechts hier nicht aus der Vorstellung einer überindividuellen „idée directrice" abgeleitet, er w i r d vielmehr als Ausdruck und Folge jener bewußten Organisation zu politischer Handlungsfähigkeit eines demokratischen Gemeinwesens verstanden, die die Verfassung intendiert und insofern auch legitimiert. Trotz der Bedeutung des institutionellen und organisatorischen Aspekts der Freiheitsrechte bleibt jedoch festzustellen, daß ihr Wesen damit nicht erfaßt wird. I n diesem Punkte, nämlich i m Hinblick auf das zugrunde liegende Freiheitsverständnis, unterscheidet sich die hier entwickelte Auffassung der Versammlungsfreiheit prinzipiell von der institutionellen Grundrechtstheorie. So findet für Häberle die Freiheit i n der rechtlichen Gestaltung und Begrenzung ihr eigentliches Wesen, sie geht gleichsam in ihr auf. Dagegen bleibt nach der hier vertretenen Auffassung hinter aller sozialen und rechtlichen Ausgestaltung der Freiheitsrechte der Bürger die natürliche Freiheit

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des Menschen bestehen; sie legitimiert nicht nur die bestehenden Ordnungen, sondern stellt sie auch immer wieder i n Frage 41 . Sicherlich läßt sich diese Freiheit rechtlich nur i n rechtlichen Ordnungen und Ausgestaltungen schützen, dies macht aber nicht ihr Wesen aus, denn alle rechtlichen und sozialen Ordnungen behalten unter dem Gesichtswinkel dieser natürlichen Freiheit des Menschen den Charakter der Vorläufigkeit. Obwohl der Mensch als Gemeinschaftswesen i n einer geordneten Gemeinschaft leben muß, transzendiert er diese doch, da er sie, indem er i n ihr lebt, hervorbringt, nicht nur ihr Geschöpf, sondern auch ihr Schöpfer ist 4 2 . Dieses alle konkreten sozialen und politischen Ordnungen transzendierende Moment der Freiheit läßt sich rechtlich nicht positiv fassen, es läßt sich nur aussparen. Eben deshalb kann und darf auch alle Organisation der Freiheit das Element der W i l l k ü r , des ,Sowollens, weil man so will', nicht ersticken. Man mag diesen Raum der W i l l k ü r beschränken und i n den Rahmen rechtlicher und sozialer Ordnung fassen, ihn gänzlich beseitigen kann man nicht, ohne zugleich die Freiheit zu beseitigen 43 . Weil die Freiheit die Ordnungen, i n denen sie sich manifestiert, zugleich transzendiert, muß jeder Versuch, das Wesen dieser Freiheit i n einer institutionellen Zusammenschau zu erfassen und einzuschließen, am Wesen dieser Freiheit vorbeigehen. M i t dieser Freiheitsauffassung w i r d der Rechtsgutcharakter der einzelnen Grundrechte keineswegs geleugnet. Die i n den Grundrechten ausgeformten und gestalteten Freiheiten lassen sich durchaus als Rechtsgüter auffassen und insofern auch rechtlich gegeneinander abgrenzen und abwägen. Das transzendierende Moment der Freiheit, dessen rechtlicher Sicherung die einzelnen Grundrechte dienen, kann und muß dabei i m Prozeß der Grundrechtsinterpretation und Grundrechtsbegrenzung berücksichtigt werden. Denn das bei den einzelnen Grundrechten unterschiedliche Maß an zulässiger und erforderlicher rechtlicher Begrenzung und Organisation ihrer Ausübung w i r d entscheidend dadurch bestimmt, daß dadurch dem Schutz und der Verwirklichungsmöglichkeit, nicht aber der Gängelung und Erstickung dieses Moments der Freiheit gedient wird. 41 I n gewissem Sinne liegen dem hier vertretenen Freiheitsverständnis durchaus naturrechtliche Vorstellungen zugrunde, allerdings nicht i n der F o r m eines materiellen, sondern eines funktionellen Naturrechts, i n dem sich Gesichtspunkte der Legitimation w i e der K r i t i k positiver rechtlicher Gestaltung verbinden. Vgl. dazu E r i k Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 108 f. 42 Es gehört zur Würde des Menschen, daß er nicht n u r als ein Objekt seiner eigenen Ordnungen verstanden werden darf. 43 Vgl. dazu das schöne W o r t von Pekelis, L a w and Social Action, S. 124, i m Rahmen der Drittwirkungsdiskussion: " L e t us not t r y to reduce society to an agglomeration of due process robots or of equal protection automatons." Z i t i e r t bei Ehmke, Wirtschaft u n d Verfassung, S. 666.

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Aus dieser prinzipiellen Freiheit, die i n den einzelnen Grundrechten zwar rechtlich gesichert, aber nicht i n ihrem Wesen erfaßt wird, folgt nicht nur ein Mandat zur Ausgestaltung und Organisation dieser Freiheit, um ihr unter den konkreten politischen und sozialen Bedingungen optimale Verwirklichungschancen zu schaffen, sondern auch ein dauernder Vorbehalt gegenüber jeder rechtlichen und sozialen Ausgestaltung und Organisation der Freiheitsausübung. Dieses Zusammenspiel von Gestaltungsauftrag und Vorbehalt gegenüber der jeweils gestalteten Ordnung, das aus dem Wesen der Freiheit selbst folgt, ist das Kennzeichen eines offenen Gemeinwesens. Offenheit i n dem hier gemeinten Sinne bedeutet nicht nur die Möglichkeit, durch subjektive Spontaneität die überindividuellen Institutionen m i t Leben zu erfüllen, sie bedeutet vor allem das Offenhalten und Offenbleiben der politischen und sozialen Ordnung des Gemeinwesens i n die Zukunft hinein. Es geht nicht nur darum, den staatlichen Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß für die sozialen und politischen Bestrebungen der Bürger zu öffnen, u m m i t den Strömen ihrer A k t i v i t ä t die Mühlen staatlicher Integration zu betreiben, es geht vielmehr darum, i m Rahmen des Möglichen zu verhindern, daß irgendeine Auffassung und Gestaltung des Gemeinwesens als endgültig angesehen und verabsolutiert wird, daß eine Generation die Entwicklung nachfolgender Generationen i n das Prokrustesbett einer geschlossenen Ideologie zwingen kann. Der hier — i n bewußtem Gegensatz zum institutionellen Rechtsdenken — hervorgehobene Gedanke der Offenheit und Offenhaltung der politischen und sozialen Ordnung des Gemeinwesens einschließlich seiner Verfassungsordnung bedeutet keineswegs einen totalen Verfassungsrelativismus. Es steht damit nicht i m Widerspruch, wenn das Grundgesetz bestimmte Prinzipien der Verfassung auch der Veränderung durch den Verfassungsgesetzgeber entzieht (Art. 79 Abs. 3 GG) oder den Wesensgehalt der Grundrechte (Art. 19 Abs. 2 GG) für unantastbar erklärt. Eben diese Festlegung auf die Prinzipien der Demokratie, des Sozialstaates und des Rechtsstaates, die Anerkennung der Würde des Menschen und die Unantastbarkeit des Wesensgehalts der Grundrechte sind normativer Ausdruck der rechtlichen Sicherung der prinzipiellen Offenheit der verfassungsmäßigen Ordnung des Gemeinwesens und seiner politischen und sozialen Gestaltungen. Sicherlich hat eine jede Generation ein Recht zur Gestaltung und Einrichtung der Ordnung, i n der sie leben w i l l ; sie darf aber die Alternativen zu den Entscheidungen, die von den durch die jeweilige Mehrheit Legitimierten getroffen werden, nicht vernichten. I n dieser Offenhaltung von Wahlmöglichkeiten liegt der tiefste Sinn des pluralistischen Kampfes der Gruppen um ihre Interessen und Meinungen. Ohne die Möglichkeit zwischen Alternativen zu wählen und selbst neue A l t e r -

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nativen schaffen zu können, w i r d die Freiheit zur Farce, zur Einsicht i n die Notwendigkeit, wie sie von den Verwaltern einer totalitären Ideologie interpretiert wird. Erkennt man diese zentrale Bedeutung offener pluralistischer Vielfalt und Auseinandersetzung für die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens, so w i r d deutlich, daß es nicht nur Sinn und Aufgabe der Verfassung ist, „zu einer Einheit zusammenzuordnen", sondern auch die Differenzierung i n offene und gegensätzliche Vielfalt zu ermöglichen und zu garantieren; einer Vielfalt, aus der die Einheit nicht nur immer neu gewonnen werden muß, sondern durch die die jeweils gewonnene Einheit zugleich i n Frage und unter Vorbehalt gestellt bleibt. Nicht nur der Prozeß der Integration, sondern auch der Desintegration und Disjunktion w i r d durch die Normen der Verfassung geschützt 44 . Die offene Auseinandersetzung der Interessen und Meinungen i n einem demokratischen Gemeinwesen ist insofern nicht nur ein Naturphänomen, daß durch die Verfassung i n rechtliche Kanäle mit dem Ziel politischer Integration zusammengeordnet wird. Ihre Schutzwürdigkeit kann nicht allein aus ihrer Integrationsfunktion abgeleitet werden, sondern besitzt ihre eigene Legitimation i m Prinzip der Freiheit selbst und dem daraus gespeisten Gedanken der Kontrolle und Begrenzung von Macht wie der Offenhaltung politischer und sozialer Alternativen. U m allerdings wirksam werden zu können, bedürfen auch jene Freiheitsrechte, die den Kampf und die Auseinandersetzimg der Interessen und Meinungen sichern, eines gewissen Maßes an rechtlicher Ausgestaltung und Organisation. Dies gilt nicht nur i m Hinblick auf gewisse Spielregeln der Auseinandersetzung, sondern auch i m Hinblick auf die Möglichkeit organisatorischer Zusammenfassung der Interessen und Meinungen, ohne die individuelle Freiheitsrechte weithin illusorisch bleiben würden. I n diesem Sinne w i r d auch die Versammlungsfreiheit, die ein solches organisiertes kollektives Handeln gewährleistet, hier zugleich als Meinungs- und Organisationsgrundrecht verstanden. V I . Die Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht und i h r Verhältnis zum Organisationsteil der Verfassung Es ist vor allem der Charakter der Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht zusammen m i t dem Moment öffentlicher demokra44 Integration u n d Desintegration sind hier, trotz gewisser Berührungspunkte, nicht i m Sinne von J. H. Kaiser, Die D i a l e k t i k der Repräsentation, i n : Festgabe für C. Schmitt, S. 71 ff. zu verstehen, denn sie werden nicht w i e bei Kaiser dem „Staat" einerseits u n d der „Gesellschaft" andererseits als bestimmende Prinzipien zugeordnet, sondern als Gestaltungsprinzipien v e r standen, die i n unterschiedlicher u n d i n sich spannungsvoller Akzentuierung das gesamte politische Gemeinwesen bestimmen; vgl. dazu auch unten S. 164 f.

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tischer Teilnahme am politischen Willensbildungsprozeß, der dieses Grundrecht i n eine spezifische Nähe zum sogenannten Organisationsteil der Verfassung rückt, d. h. jenen Normen, die den institutionell organisatorischen A u f b a u des Staatsapparates regeln. Gerade unter dem B l i c k w i n k e l der doppelten Aufgabe der Verfassung, zugleich zusammenordnende Einheitsbildung w i e offene Vielfalt rechtlich zu garantieren u n d zu einem „ w i r k l i c h e n Leistungszusammenhang" zu organisieren, w i r d die eigentümliche Schwierigkeit der Bestimmung des verfassungstheoretischen Ortes jener Grundrechte sichtbar, die nicht n u r i n d i v i duell privates, sondern auch k o l l e k t i v organisiertes öffentliches u n d politisches Handeln gewährleisten. Dies g i l t f ü r die Versammlungsfreiheit ebenso w i e für die Vereinsfreiheit, soweit sie über den u n mittelbar privaten Bereich hinausgeht, wie f ü r die Koalitions- u n d Parteienfreiheit. Eben diese Problematik spiegelt sich auch i n der Frage nach der Rechtsnatur v o n Gewerkschaften, Parteien, öffentlichen Interessenverbänden u n d nicht zuletzt i n der Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen, die rechtlich w i e sozial das Z e n t r u m der Versammlungsorganisation kennzeichnet. Doch auch w e n n m a n davon ausgeht, daß die Bedeutung des Organisationsmomentes der Verfassung über den sogenannten Organisationsteil hinausreicht und insofern die Berechtigung der K r i t i k an der positivistischen Trennung von Grundrechten u n d Organisationsnormen der Verfassung anerkennt, läßt sich nicht verkennen, daß die Normen über den Aufbau des institutionell organisatorischen Staatsapparats einerseits und die Grundrechte, auch soweit sie den Charakter politischer Organisationsgrundrechte tragen, der Einheit und der Offenheit des Gemeinwesens nicht i n gleicher Weise dienen. Während der Akzent der Bestimmungen über den institutionellen Staatsapparat auf dem Gedanken liegt, daß überhaupt staatliche Einheit u n d Herrschaft sein soll, sind die Grundrechte vor allem dem Gedanken der Offenheit dieser Einheit u n d der Erhaltung der Pluralität der sie bildenden Faktoren verpflichtet. Obwohl die hier vertretene Auffassung sich i n einigen Punkten m i t der von Kaiser 45 getroffenen Unterscheidung v o n Staat und Gesellschaft berührt, folgt sie i h r keineswegs i n vollem Umfang. Anders als bei Kaiser werden Einheit u n d offene Vielfalt hier nicht als K r i t e r i e n grundsätzlich geschiedener, wenn auch dialektisch aufeinander bezogener Bereiche verstanden, sondern als Gestaltungsprinzipien, die den A u f b a u des gesamten Gemeinwesens durchziehen, u n d die bei der « Vgl. j . h . Kaiser, A r t i k e l Staatslehre, i n : Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 7, Sp. 589—606, 594; ders., Die Repräsentation organisierter Interessen, S. 3 3 8 1

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Interpretation einer jeden Verfassungsbestimmung, auch eines jeden Grundrechts, i n unterschiedlicher Akzentuierung zu berücksichtigen sind. Nicht eine dichotomische Betrachtungsweise, die die Versammlungsfreiheit als pluralistisches Meinungs- und Kampfrecht von vornherein dem Bereich offener Vielfalt und damit der „Gesellschaft" zuweisen müßte, sondern eine akzentuierende und differenzierte Betrachtungsweise w i r d damit angestrebt, bei der das wichtige Moment der Spannung zwischen unterschiedlichen Verfassungsbereichen keineswegs aufgegeben wird. W i l l man einerseits eine Entpolitisierung der Grundrechte vermeiden, ohne die Grundrechte andererseits zu verstaatlichen, d. h. ihre Ausübung zu einer vom Staat regulierten und dekretierten Aufgabe zu machen, so werden zwar absolute Zuordnungskriterien wie die von „Staat" und „Gesellschaft" sinnlos, klare Akzentsetzungen bleiben jedoch unerläßlich. Es ist i m Sinne einer solchen Akzentsetzung zu verstehen, wenn hier die These vertreten wird, daß die Grundrechte primär vom Gestaltungsprinzip der offenen Vielfalt des Gemeinwesens her zu begreifen und zu interpretieren sind. Damit w i r d die öffentlich politische Funktion jener Grundrechte, die wie die Versammlungsfreiheit den Bürgern die Möglichkeit organisierter Teilnahme am demokratischen Prozeß eröffnen, nicht geleugnet oder i n ihrer Bedeutung geschmälert, es geht vielmehr darum, sich eindeutig von einer Grundrechtsauffassung abzusetzen, die die Offenheit und Offenhaltung des demokratischen Prozesses dadurch gefährdet, daß sie das m i t der Versammlungsfreiheit garantierte Mitwirkungsrecht zu einer Mitwirkungspflicht macht und dadurch einer inhaltlichen Reglementierung und Ausrichtung der Grundrechtsausübung auf die bestehende Ordnimg, wie sie von den jeweils Herrschenden interpretiert wird, Tür und Tor öffnet.

V I I . Folgerungen für die Grundrechtsinterpretation Aus der hier vertretenen These, daß die Grundrechte primär vom Prinzip der offenen Vielfalt des Gemeinwesens her zu interpretieren sind, ergeben sich eine Reihe grundsätzlicher Konsequenzen. Zunächst folgt daraus, daß die Ausübung von Grundrechten keinesfalls als Wahrnehmung einer staatlichen Aufgabe und Funktion angesehen werden darf. Dies gilt auch für jene Grundrechte, die — wie die Versammlungsfreiheit — nicht nur privat-individuelle Betätigung, sondern auch die Möglichkeit organisierter M i t w i r k u n g bei der politischen Willensbildung und die Einwirkung auf den Prozeß der institutionalisierten Staatswillensbildung garantieren. Trotz und i n gewissem Sinne geradezu wegen des Moments demokratischer Teil-

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nähme und der damit verbundenen Nähe zu den Verfassungsnormen über den institutionellen Staatsapparat dürfen sie nicht i n den Bereich organisierter Staatlichkeit einbezogen werden, wenn die offene Vielfalt des demokratischen Prozesses erhalten bleiben soll. Selbst wenn man dem freien Versammlungswesen i m Hinblick auf die öffentliche Auseinandersetzung der politischen und sozialen Gruppen die M i t w i r k u n g an der Bestimmung der politischen Richtung des Gesamtverbandes und die Kontrolle der staatlichen Organe, ähnlich wie der freien Presse eine „öffentliche Aufgabe" zuschreibt, bleibt es doch „ i m Vorfeld des Staatlich-Institutionellen" 4 6 . Dieser nichtstaatliche Charakter der Versammlungsfreiheit ist für die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsbefugnisse des Leiters einer öffentlichen Versammlung von grundsätzlicher Bedeutung. Leitet man nämlich die Aufgabe und die Befugnisse des Versammlungsleiters aus dem Gedanken des Funktionsschutzes öffentlicher Versammlungen und damit aus dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Meinungsund Organisationsgrundrecht selbst ab, so w i r d deutlich, daß der Versammlungsleiter keine i m eigentlichen Sinne staatliche Aufgabe wahrnimmt, die derjenigen der staatlichen Organe vergleichbar wäre, mag auch der demokratische Staat am Schutz des Versammlungsgrundrechts ein eigenes Interesse haben und den Versammlungsleiter aus diesem Grunde m i t besonderen Befugnissen ausstatten. Aus der hier vorgenommenen Akzentsetzung bei der Grundrechtsinterpretation ergibt sich auch ein wichtiger Ansatzpunkt für die Lösung des Problems der Grundrechtsgeltung i n öffentlichen Versammlungen, insbesondere die Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Teilnehmer. Sieht man die Stellung und Funktion der staatlichen Organe primär unter dem Gesichtspunkt ihrer zusammenordnenden, der Einheit des Gemeinwesens verpflichteten Aufgabe und den ihnen dafür zur Verfügung stehenden Machtmitteln, so w i r d deutlich, daß die staatlichen Organe i n besonders scharfer Weise an die Grundrechte gebunden sein müssen, die die Offenheit des Gemeinwesens garantieren. Dagegen ist eine solche strenge Grundrechtsbindung bei denjenigen, die selbst ein Grundrecht ausüben, das Ausdruck der offenen Vielfalt des Gemeinwesens ist, nicht erforderlich. I m Gegenteil, eine strikte Grundrechtsbindung i n diesem Bereich würde eher zu einer Erstickung und Gängelung der politischen und sozialen Vielfalt führen und die Offenheit des Gemeinwesens eher gefährden als i h r dienen. Die Grundrechte sind deshalb für die innere Ordnung von Teilverbänden i n einem demokratischen Gemeinwesen nicht 46 Vgl. Scheuner, freiheit.

W D S t R L , Heft 22, S. 74 i m H i n b l i c k auf die Presse-

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schlechthin irrelevant, ihre unmittelbare, „schneidige" Anwendung verbietet sich jedoch. Ihre Bedeutung dürfte sich vor allem auf die Ausschaltung schwerwiegender Mißbrauchsfälle beschränken, deren Überhandnehmen die Offenheit des Gemeinwesens und des demokratischen Prozesses selbst gefährdet. Die hier vorgenommene Akzentsetzung bei der Grundrechtsinterpretation ist zugleich auch für die Frage des Ranges der Grundrechte in ihrem Verhältnis zueinander und zu anderen Rechtsgütern bedeutsam. Es ist nicht zu übersehen, daß die einzelnen Grundrechte für die Gewährleistung der Offenheit des Gemeinwesens von unterschiedlichem Gewicht sind. I n einer freiheitlichen Verfassungsordnung, die darauf angelegt ist, ihre eigene Offenheit i n die Zukunft zu sichern und eine ideologische Abschließung zu vermeiden, erhalten vor allem jene Grundrechte entscheidendes Gewicht, die die Möglichkeit garantieren, neue Ideen und Gedanken zu entwickeln, für sie zu werben und zu kämpfen. I n diesem Sinne stellt die Freiheit der Meinungsäußerung geradezu das Zentralgrundrecht einer freiheitlichen Verfassung dar. Die Rolle der Meinungsfreiheit kann dabei nicht allein politisch funktional, i m Hinblick auf die M i t w i r k u n g am demokratischen Meinungsbildungsprozeß, verstanden werden. Ihre Bedeutung reicht tiefer, sie umfaßt grundsätzlich den gesamten Bereich geistiger A k t i v i t ä t des Menschen. Die Notwendigkeit, die Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen rechtlich zu sichern, beschränkt sich nicht auf den öffentlich politischen Bereich, sie besteht auch für andere Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens. Ohne die Gewährleistung eines privaten vor- und auch apolitischen „Spielraumes" individueller Entfaltung und W i l l k ü r würde auch die öffentlich politische Funktion der Meinungsfreiheit auf die Dauer gefährdet. Dem hier zugrunde gelegten Freiheitsverständnis entspricht es, den Begriff der Meinungsäußerung weit zu fassen und i h n prinzipiell auf alle Äußerungen zu erstrecken, die der Diskussion und geistigen Auseinandersetzung zugänglich sind. Eine solche weite Auslegung des Meinungsbegriffs bedeutet jedoch nicht, daß sämtliche Manifestationen freier Meinungsäußerung in gleichem Maße schutzwürdig und schutzbedürftig sind. Es sind vielmehr auch innerhalb des grundrechtlich gesicherten Bereichs freier Meinungsäußerung durchaus Abstufungen und Differenzierungen möglich und erforderlich. Dabei sind vor allem die funktionelle Bedeutung des Inhalts der Meinungsäußerung und ihr Adressat zu berücksichtigen. So w i r d man Meinungsäußerungen i m Bereich öffentlicher Diskussion grundsätzlich ein höheres Maß an Schutz und Freiheit von rechtlicher Begrenzung und Regulierung zubilligen müssen, als Meinungs-

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äußerungen i m Bereich wirtschaftlicher Werbung 4 7 . Ebenso w i r d der Rahmen zulässiger Formen und M i t t e l der K r i t i k dort weiter zu spannen sein, wo sie sich gegen die staatlichen Organe und andere Träger institutionalisierter Macht wendet als i m Bereich der Auseinandersetzung zwischen einzelnen Individuen. I m Gegensatz zur Grundrechtstheorie des Positivismus, die ihren Schwerpunkt i n der Sicherung eines Bereiches apolitisch verstandener individueller und wirtschaftlicher Freiheit hatte und jeder Teilnahme der Bürger am politischen Prozeß möglichst enge Zügel anlegte, verlangt eine Grundrechtsauffassung, die vom Gedanken eines offenen demokratischen Gemeinwesens ausgeht, daß gerade die öffentliche Teilnahmefunktion der Grundrechte in besonderem Maße geschützt wird. Diese erhöhte Schutzwürdigkeit grundrechtlich gesicherter politischer Teilnahme folgt nicht allein und nicht einmal primär aus dem Gedanken, daß damit ein Beitrag zur staatlichen Integration i m Sinne der Herstellung eines einheitlichen K u l t u r - und Wertbewußtseins geleistet wird. Der Grund hierfür ist vielmehr ein anderer. Unter den Bedingungen des modernen Sozialstaates politisch vermittelter Daseinsvorsorge w i r d die rechtliche Sicherung der Freiheit immer mehr zu einem Problem der Sicherung von Partizipationsrechten an dem Prozeß, i n dem über die Gestaltung und Verteilung politisch vermittelter Freiheits- und Entwicklungschancen entschieden wird. Für den demokratischen Sozialstaat erhält daher die grundrechtliche Gewährleistung öffentlicher Teilnahme am politischen Prozeß eine ähnlich zentrale Bedeutung wie die Garantie der Eigentumsfreiheit i m liberalen Rechtsstaat. 47 Allerdings erscheint es fraglich, ob auch die p r i m ä r wirtschaftlichen Zwecken dienende Werbung unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt. So ließe sich durchaus die Auffassung vertreten, daß Werbung als wirtschaftliche Betätigung n u r unter den Grundrechten der Eigentums- u n d Berufsfreiheit geschützt sei u n d nicht als Manifestation der Meinungsfreiheit gelten könne (so die bislang überwiegende Lehre u n d Rechtsprechung, vgl. Lerche, Werbung u n d Verfassung, S. 76 f. m i t Nachweisen). Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die moderne Technik der ,public relations' i n der Werbung, v o r allem ihre Übertragung i n den Bereich der politischen Propaganda, eine klare Abgrenzung von wirtschaftlicher Werbung u n d Meinungsäußerung nahezu unmöglich macht (vgl. Lerche, a.a.O., S. 78 ff.). D e m hier vertretenen weiten, aber zugleich differenzierenden Meinungsbegriff entspricht es unter diesen Umständen zwar auch, die wirtschaftliche Werbung m i t i n den Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu ziehen, zugleich aber dort, w o sie p r i m ä r der Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke dient, ein höheres Maß an rechtlicher Einschränkung u n d Regulierung zuzulassen. Danach erstreckt sich beispielsweise der Schutz der Meinungsfreiheit auch u n m i t t e l bar auf den Inseratenteil einer Zeitimg; er enthält also mehr als einen n u r mittelbaren institutionellen Schutz unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Bedeutung des Inseratengeschäfts f ü r eine freie Presse. Zugleich aber ist es zulässig, i m Rahmen einer Pressegesetzgebung strengere Maßstäbe f ü r F o r m u n d I n h a l t wirtschaftlicher Anzeigen vorzusehen als f ü r den redaktionellen T e i l einer Zeitung.

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Neben der besonderen Schutzwürdigkeit des Bereiches öffentlicher Diskussion und Auseinandersetzung bleibt auch seine besondere Schutzbedürftigkeit zu berücksichtigen. Denn auch i n einem demokratischen Gemeinwesen ist die für die Offenheit des politischen Prozesses unerläßliche K r i t i k und die Partizipation ihrer Vertreter an der öffentlichen Auseinandersetzung stets gefährdet. Nahezu jeder Angriff auf den status quo w i r d bei der etablierten Mehrheit die Tendenz hervorrufen, ihre institutionellen Machtmittel, einschließlich der Machtmittel des Staatsapparates, einzusetzen, um unbequeme und kritische Forderungen und Äußerungen zu unterdrücken. Die zentrale Bedeutung der grundrechtlichen Sicherung des Prozesses freier Meinungsäußerung für die Offenheit und Offenhaltung der politischen und sozialen Ordnung des Gemeinwesens ist für den Rang des Versammlungsgrundrechts und die Schutzwürdigkeit seiner Manifestationen unmittelbar relevant. Die m i t der Versammlungsfreiheit eröffnete Möglichkeit organisierter Meinungsbildung und Meinungsäußerung räumlich zusammengefaßter Gruppen verleiht den i n Versammlungen geäußerten Ansichten eine Resonanz und Durchschlagskraft, die der individuellen Meinungsäußerung regelmäßig abgeht. Als Instrument kollektiver organisierter Meinungsäußerung und Interessenrepräsentation bildet das freie Versammlungsrecht eine wesentliche Verstärkimg des Meinungsgrundrechts i n einer freiheitlichen Verfassungsordnung. Die Versammlungsfreiheit ist dabei mehr als ein sachlicher Unterfall der i n A r t . 5 GG gewährleisteten individuellen Meinungsfreiheit 48 . Denn nicht nur das Moment der Meinungsäußerung, sondern auch die Momente räumlicher Zusammenfassung der Teilnehmer und Möglichkeit ihrer Organisation zur Erreichung des Versammlungszwecks gehören zum Kern der Versammlungsfreiheit und sind durch sie geschützt. Es ist die Verbindung dieser drei Momente, die die Versammlungsfreiheit zu einem eigenständigen Grundrecht macht. Da das Moment der Meinungsäußerung begriffsnotwendig zum Wesen der Versammlungsfreiheit gehört, folgt daraus, daß Meinungsäußerungen i n und durch Versammlungen bereits unmittelbar durch das Versammlungsgrundrecht selbst geschützt sind. Das bedeutet zugleich, daß sich die Grenzen individueller Meinungsfreiheit nicht ohne weiteres auf Meinungsäußerungen i n Versammlungen übertragen lassen 49 , sondern 48 a. A . Enderling, Versammlungsgesetz, S. 23, dagegen m i t Recht v. Münch, B K , Rdnr. 18 zu A r t . 8, v. Mangoldt-Klein, A n m . I I b zu A r t . 8, Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 18. 4 ® So aber anscheinend Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 18, der davon ausgeht, daß A r t . 5 u n d A r t . 8 unabhängig nebeneinander stehen u n d die f ü r jedes Grundrecht geltenden besonderen Beschränkungen zulässig sind. Weitergehend noch von Mangoldt-Klein, A n m . I I b zu A r t . 8, die sogar bei

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unter Berücksichtigung des geschützten kollektiven Handlungszusammenhanges, wie i h n die Versammlung darstellt, ermittelt werden müssen. Ebenso wie für die Meinungsfreiheit gilt aber auch für die Versammlungsfreiheit, daß nicht alle Manifestationen der Ausübung dieses Grundrechts i n gleichem Maße schutzwürdig und schutzbedürftig sind. So würde es zwar dem hier zugrunde gelegten Freiheitsverständnis widersprechen, die Versammlungsfreiheit allein politisch funktional zu verstehen und sie auf die Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zu beschränken 50 . Gleichwohl sind Gegenstand und Zweck einer Versammlung nicht ohne Belang für die Intensität ihres grundrechtlichen Schutzes. Unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Bedeutung für die Offenheit des demokratischen Prozesses w i r d man Versammlungen, die m i t dem Ziel der Teilnahme an der öffentlichen Auseinandersetzung u m die Gestaltung und Verteilung politisch vermittelter Freiheits- und Entwicklungschancen zusammentreten, d. h. sich m i t „öffentlichen Angelegenheiten" befassen, ein höheres Maß an Schutz zubilligen müssen als Versammlungen, die lediglich die apolitischen Privatinteressen ihrer Teilnehmer verfolgen. Das bedeutet, daß beispielsweise den Wahlversammlungen der Parteien oder öffentlichen Versammlungen anderer institutionalisierter Gruppen m i t öffentlicher Funktion, wie etwa der Gewerkschaften — aber auch Versammlungen, die sich gegen die Ziele solcher Gruppen richten — grundsätzlich ein weiterer Spielraum zu gewähren ist als etwa den Versammlungen eines Kleintierzüchter- oder Sportvereins, die damit öffentlich für ihre Zwecke zu werben suchen. Eine solche Differenzierung zwischen einem mehr privaten und einem mehr öffentlich funktionell ausgerichteten Versammlungsrecht i m Hinblick auf Schutzwürdigkeit und — wie noch zu entwickeln sein w i r d — die Verantwortungsmaßstäbe zwischen den Versammlungsbeteiligten, darf jedoch nicht i m Sinne einer prinzipiellen verfassungsrechtlichen Scheidung zwischen einer nur „privaten", womöglich nur i m Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG geschützten und einer „öffentlichen" Versammlungsfreiheit verstanden werden. Selbst wenn man öffentlichen Versammlungen, zumindest solchen, die sich m i t „öffentlichen Angelegenheiten" befassen, einen besonderen Überschreitung der Grenzen des A r t . 5 Abs. 2 durch einzelne Versammlungsteilnehmer ein generelles Versammlungsverbot zulassen wollen, falls die V e r sammelten sich m i t entsprechenden Äußerungen identifizieren. F ü r eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit auf „öffentliche A n gelegenheiten" Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 443; v. Mangoldt-Klein, A n m . I I I 2 zu A r t . 8, dagegen Mallmann, a.a.O., Sp. 108, Hamann, A n m . A / B zu A r t . 8, v. Münch, Rdnr. 22 zu A r t . 8.

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öffentlichen Status zuspricht, und hieraus Konsequenzen für die Rechtsstellung des Versammlungsleiters und die Verantwortungsmaßstäbe seines Handelns ableitet, darf dieser öffentliche Charakter jedenfalls nicht i m Sinne einer Extension des Bereiches institutionalisierter Staatlichkeit und seiner „Öffentlichkeit" interpretiert werden. Nach dem hier vertretenen Freiheitsverständnis bleibt auch die öffentliche Funktion der Grundrechte immer an den Gedanken der Gewährleistung individueller Freiheit und Spontaneität gebunden. Eine Ablösung der öffentlichen Versammlungsfreiheit von dieser Basis und ihre rein politisch funktionale Begründung würde das die konkreten Ordnungen transzendierende Moment der Freiheit verkennen und das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen den Freiheitsrechten und dem Bereich der organisierten Staatsmacht, auch soweit diese demokratisch legitimiert ist, verschütten.

V I I I . Die Grenzen der Versammlungsfreiheit i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung Die hier entwickelte Auffassung vom Rang und von der Funktion des Versammlungsgrundrechts i n einem demokratischen und sozialstaatlichen Gemeinwesen w i r k t sich auch auf die Bestimmung der Grenzen der Versammlungsfreiheit i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung aus. Da damit eine Reihe grundsätzlicher Fragen berührt wird, die in der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung u m das Versammlungsrecht in der letzten Zeit eine erhebliche Rolle gespielt haben, sollen einige der wichtigsten Folgerungen des hier vertretenen verfassungstheoretischen Ansatzes i n dieser Richtung kurz dargestellt werden, ehe sich die Untersuchung wieder unmittelbar dem Problem der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters und der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen zuwendet. Versammlungen finden nicht in einem vom übrigen Recht unberührten Raum statt 5 1 , vielmehr bleiben die Versammlungsteilnehmer auch i n der Versammlung an die Beachtung der allgemeinen Rechtsordnung gebunden 52 . Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Versammlungsfreiheit wie die Meinungsfreiheit und genau genommen sämtliche Grundrechte nur i m Rahmen der allgemeinen Gesetze garantiert. Entscheidend ist jedoch, daß die Grenzen, die der Ausübung der einzelnen Grundrechte durch die allgemeinen Gesetze gezogen sind, nicht generell 51

Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 17. So ist es seit jeher i n Rechtsprechung u n d Lehre anerkannt, daß die Ausübung des Versammlungsgrundrechts nicht zur Verletzung der Strafgesetze oder fremden Eigentums berechtigt.

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abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung der Eigenart des jeweiligen Grundrechts bestimmen lassen. Dies verkennt Füßlein, wenn er meint, die Versammlungsfreiheit garantiere ein vom Staate ungehindertes Handeln nur i n dem Umfang, wie es dem einzelnen erlaubt sei 53 . Eine solche Auffassung ignoriert nicht nur den quantitativen und qualitativen Unterschied zwischen individuellem Handeln und kollektivem Gruppenhandeln; sie läßt vor allem auch die spezifische Funktion des Versammlungsgrundrechts i n einem demokratischen Gemeinwesen aucher acht 54 . So lassen sich auch die Grenzen der allgemeinen Handlungsfreiheit des A r t . 2 Abs. 1 GG nicht generell auf die Versammlungsfreiheit oder andere Grundrechte übertragen 55 . Ein solches allgemeines Schrankensystem verkennt die historische und funktionelle Eigenart und den unterschiedlichen Wertgehalt der einzelnen Grundrechtsgarantien. Trotz des inneren Zusammenhangs einzelner Grundrechte bilden diese kein lückenloses und geschlossenes System 56 . Bei der Bestimmung der spezifischen Grenzen der Versammlungsfreiheit i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung unter Berücksichtigung der Eigenart und des besonderen Wertgehalts dieses Grundrechts ist notwendig i n ähnlicher Weise auf den Grundsatz der Güterabwägung zurückzugreifen, wie dies das Bundesverfassungsgericht i m L ü t h U r t e i l 5 7 getan hat, d. h. das Rechtsgut der Versammlungsfreiheit zu den hinter den allgemeinen Gesetzen stehenden Rechtsgütern, m i t denen es i m konkreten Fall i n Konflikt gerät, i n Beziehung zu setzen und gegeneinander abzuwägen. Die Schwierigkeiten und Gefahren einer solchen Interpretation der allgemeinen Gesetze 58 i m Lichte des spezifischen Wertgehalts des Versammlungsgrundrechts sind evident, sie dürfen allerdings auch nicht überschätzt werden. Sicherlich w i r d dadurch i n gewissem Umfang eine Relativierung der Grundrechtsgrenzen bewirkt, dies bedeutet aber grundsätzlich keine Abschwächung, sondern i m Gegenteil eine Verstärkung der Grundrechtsgeltung. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 17. M Vgl. auch Lerche, Übermaß, S. 128, F N 101 u n d H. Krüger, D Ö V 1955, S. 601. So aber Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 17, v. Mangoldt-Klein, Anm. I V 3 zu A r t . 8, Hamann, Erl. 6 zu A r t . 8, v. Münch, Rdnr. 31 zu A r t . 8. «6 Ehmke, W D S t R L , Heft 20, S . 8 8 1 ; Scheuner, W D S t R L , Heft 22, S . 3 7 1 «7 B V e r f G 7, 198 ff. 68 Eine solche Güterabwägung setzt voraus, daß die allgemeinen Gesetze i m Sinne materialer Allgemeinheit verstanden werden (vgl. Smend, W D S t R L , Heft 4, S. 52 f.), d . h . als solche, die ein der Versammlungsfreiheit i m k o n kreten F a l l gleich- oder höherwertiges Rechtsgut schützen und nicht n u r i m Sinne formaler Allgemeinheit, d . h . eines allgemeineren persönlichen u n d sachlichen Geltungsbereichs.

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Ohne damit eine umfassende und systematische Bestimmung der Grenzen der Versammlungsfreiheit i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnimg anzustreben, soll die hier aufgestellte These von der Erweiterung der Grundrechtsgeltung anhand einer Reihe wichtiger Konfliktfälle von Versammlungsfreiheit m i t anderen Rechtsgütern erhärtet werden. So zeigt i m Grunde bereits die Privilegierung öffentlicher Versammlungen gegenüber den allgemeinen Polizeigesetzen, daß sich die allgemeinen Gesetze nicht ohne Rücksicht auf die Eigenart des Versammlungsgrundrechts als Gewährleistung eines kollektiven Gruppenhandelns und die politische und soziale Funktion eines solchen Handelns auslegen lassen. I n gewissem Sinne enthält der Grundsatz der „Polizeifestigkeit" öffentlicher Versammlungen, d. h. die Unzulässigkeit genereller Versammlungsverbote und Beschränkung der Verbots- und Auflösungsgründe eine positive, vom Gesetzgeber vorgenommene Güterabwägung zwischen dem Rechtsgut der Versammlungsfreiheit und den Rechtsgütern der öffentlichen Ordnung und Sicherheit 59 . Es w i r d damit positiv festgelegt, daß die Interessen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, sofern nicht die besonderen Verbots- und Auflösungstatbestände des Versammlungsgesetzes vorliegen, gegenüber dem Interesse an der freien Betätigung des Versammlungsgrundrechts i n der Form öffentlicher Versammlungen zurückzutreten haben. Mehr noch, der besondere Wertgehalt des Versammlungsgrundrechts verlangt von der Polizei nicht nur die von öffentlichen Versammlungen möglicherweise ausgehenden Beeinträchtigungen und Gefahren zu dulden, die Polizei muß vielmehr diejenigen, die friedlich und unbewaffnet das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ausüben, gegen Störungen durch Versammlungsgegner wirksam schützen. Diese Schutzpflicht der Polizei besteht auch dort, wo Versammlungen unmittelbar oder mittelbar der polizeilichen Generalklausel unterstellt sind, wie bei nichtöffentlichen Versammlungen 6 0 und öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel 6 1 . Versammlungen dürfen grundsätzlich nicht deshalb verboten werden, weil die Polizei befürchtet, die Versammlung werde dadurch einen gewalttätigen und aufrührerischen 59 Abzulehnen ist deshalb die Auffassung v o n Dürig (AöR, Bd. 79, S. 57), der aus dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung i n A r t . 2 G G die allgemeine Anwendbarkeit der polizeilichen Generalklausel gegenüber V e r sammlungen folgert. Gegen Dürig m i t Nachdruck Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 20. 60

Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 14 f. Das Versammlungsgesetz enthält i n § 15 Abs. 1 m i t der Formulierung: „ w e n n nach den Umständen die öffentliche Ordnung u n d Sicherheit gefährdet ist" selbst eine polizeiliche Generalklausel f ü r öffentliche Versammlungen unter freiem H i m m e l (vgl. v. Münch, Rdnr. 37 zu A r t . 8 GG), die aber ihrerseits unter Berücksichtigung des kollektiven Handlungszusammenhangs u n d der F u n k t i o n öffentlicher Versammlungen interpretiert werden muß.

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Verlauf nehmen, daß Gegner sie zu sprengen suchen. Es werden hier vielmehr ausreichende Polizeikräfte herangezogen werden müssen, u m derartige strafbare Versammlungssprengungen zu verhindern 6 2 . Der Grundsatz der „Polizeifestigkeit" öffentlicher Versammlungen und die Pflicht der Polizei, die Ausübung des Versammlungsgrundrechts zu schützen, bedeuten nun allerdings nicht, daß gegen die Verletzung der allgemeinen Gesetze durch einzelne Versammlungsteilnehmer überhaupt nicht eingeschritten werden könnte. Entscheidend ist jedoch, daß die Frage, ob überhaupt eine Hechtsverletzung vorliegt, nur unter Berücksichtigung des durch die Versammlungsfreiheit geschützten kollektiven Handlungszusammenhangs und seiner politischen und sozialen Funktion beantwortet werden kann, und daß auch beim Vorliegen einer Gesetzesverletzung i n der Versammlung bei einem eventuellen polizeilichen Eingreifen Rücksicht auf diesen Handlungszusammenhang genommen werden muß. Dies sei an folgendem Beispiel verdeutlicht: Ein Versammlungsteilnehmer äußert i n einer öffentlichen Versammlung Tatsachen i m Hinblick auf die Amtsführung eines Politikers, die nicht erweislich wahr und geeignet sind, diesen Politiker verächtlich zu machen und sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren (§§ 187, 187 a StGB) 6 3 . Zunächst ist festzuhalten, daß die Polizei hier nicht gegen die Versammlung insgesamt vorgehen und sie auflösen kann. Nach den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes käme ein Verbot oder eine Versammlungsauflösung nur i n Frage, wenn ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen gegeben wäre und dies vom Veranstalter und seinem Anhang beabsichtigt oder vom Versammlungsleiter geduldet würde (§§ 5 Ziff. 4, 13 Ziff. 4 VersG). Damit scheiden praktisch sämtliche Beleidigungsdelikte als Antragsdelikte (§ 194 StGB) aus, u m eine Versammlungsauflösung darauf zu stützen 64 . Aber auch gegen den individuellen Versammlungsteilnehmer kann die Polizei nicht ohne weiteres einschreiten. Man w i r d vielmehr annehmen müssen, 62 N u r ausnahmsweise i m Falle eines sog. polizeüichen Notstandes w i r d ein Versammlungsverbot auch dann zulässig sein, w e n n die Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung u n d Sicherheit nicht v o m Veranstalter u n d seinem Anhang, sondern von D r i t t e n ausgeht. Vgl. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 68 f. 63 Das Problem der Verfassungsmäßigkeit dieser Strafbestimmimg, die eine erhebliche Einschränkung öffentlicher K r i t i k bedeutet, soll hier ausgek l a m m e r t bleiben. 64 Diese Regelung des Versammlungsgesetzes enthält i m Grunde ebenfalls einen F a l l einer gesetzlich positivierten Güterabwägung, da sie n u r schwerwiegende Straftatbestände als Verbotsgründe zuläßt. Z w a r gelten die §§5 u n d 13 VersG unmittelbar n u r f ü r Versammlungen i n geschlossenen Räumen, der dahinter stehende Grundgedanke bleibt jedoch auch bei öffentlichen Versammlungen unter freiem H i m m e l relevant. Die individuelle strafrechtliche Verantwortung bleibt davon allerdings prinzipiell unberührt.

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daß auch Äußerungen in öffentlichen Versammlungen i n gleichem Umfang durch den Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) gerechtfertigt sind wie Äußerungen i n der Presse. Ebenso wie die neuere Lehre und Rechtsprechung 65 der Presse den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB auch da zubilligt, wo keine unmittelbar eigenen Interessen, sondern nur das allgemeine Interesse an der Aufdeckung und K r i t i k politischer und sozialer Mißstände i m Spiel ist, w i r d man auch bei Äußerungen in öffentlichen Versammlungen kein persönliches Interesse der Versammlungsteilnehmer als Rechtfertigungsgrund verlangen dürfen. Selbst wenn i m konkreten Fall tatsächlich eine Beleidigung vorliegt und kein Rechtfertigungsgrund eingreift, w i r d die Polizei so vorgehen müssen, daß sie die Versammlung insgesamt möglichst wenig beeinträchtigt 6 6 . Entgegen der i n der Literatur teilweise vertretenen Ansicht 6 7 lassen sich die Grenzen der individuellen Meinungsfreiheit nicht ohne weiteres auf Äußerungen in öffentlichen Versammlungen übertragen. Es muß vielmehr bei ihrer Bestimmung Rücksicht auf den durch die Versammlungsfreiheit geschützten kollektiven Handlungszusammenhang und dessen politische und soziale Funktion genommen werden 6 8 . Eben hierin zeigt sich der institutionelle, das Individualrecht verstärkende Gehalt der Versammlungsfreiheit 69 . M i t dem Grundsatz der „Polizeifestigkeit" von Versammlungen steht es allerdings nicht i m Widerspruch, daß Versammlungen aus bau-, jeuer- und gesundheitspolizeilichen Gründen beschränkt und gegebenenfalls sogar auch verboten werden können. Dies w i r d i n der Literatur allgemein, wenn auch mit unterschiedlicher dogmatischer und Vgl. Schwarz-Dreher, Strafgesetzbuch, 27. A u f l . 1965, A n m . 5 A b bb u n d B b zu § 193 StGB; Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 13. A u f l . 1967, A n m . 14, 15 zu § 193 StGB m i t Nachweisen. 66 Trubel-Hainka, Versammlungsgesetz, S. 52. 67 Vgl. v. Münch, Rdnr. 33 zu A r t . 8. Über den Rahmen der §§ 5 und 13 VersG hinaus w o l l e n v. Mangoldt-Klein, A n m . I V 2 b zu A r t . 8, sogar auch dort eine Versammlungsauflösung zulassen, w o nach dem polizeilichen V e r bot einzelner Meinungsäußerungen die Versammelten m i t demonstrativem Schweigen (!) reagieren. 68 Die Rücksichtnahme auf den Gesamtzusammenhang der Versammlung u n d seine F u n k t i o n ist auch dort erforderlich, w o es sich nicht u m Äußerungsdelikte handelt, so z. B. w e n n die Polizei gegen Ordner einschreitet, die den Vorschriften des § 9 VersG nicht entsprechen, oder gegen einzelne T e i l nehmer, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit v e r w i r k t haben (§ 1 Abs. 2 Ziff. 1 VersG i. V. m i t A r t . 18 GG). 69 So w i r d m a n nicht n u r dem u n m i t t e l b a r Betroffenen, sondern auch dem Veranstalter, möglicherweise sogar einem jeden Versammlungsteilnehmer, ein verwaltungsgerichtliches Anfechtungsrecht u n d gegebenenfalls die V e r fassungsbeschwerde zubilligen müssen, w e n n die Polizei zu Unrecht den Hauptredner einer Versammlung wegen angeblich beleidigender Äußerungen festnimmt u n d hierdurch die geplante Veranstaltung praktisch unmöglich macht.

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verfassungstheoretischer Begründung anerkannt 7 0 . Zumeist w i r d dabei argumentiert, die entsprechenden Polizeimaßnahmen, etwa bei Baufälligkeit oder Brandgefährdung des Versammlungslokals, enthielten überhaupt keine Beschränkung der Versammlungsfreiheit, da sie außerhalb des Versammlungsrechts lägen und generell Menschenansammlungen i n dem betreffenden Raum unmöglich machten 71 . Demgegenüber betonen v. Mangoldt-Klein, daß i n derartigen Fällen durchaus echte Beschränkungen der Versammlungsfreiheit vorlägen. Ihre Zulässigkeit w i r d dabei mit einem Rückgriff auf A r t . 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründet, wobei ausgeführt wird, m i t der Ausübung der Versammlungsfreiheit werde zugleich auch immer das Grundrecht der Freiheit der Person (körperliche Bewegungsfreiheit) wahrgenommen, das seinerseits gemäß A r t . 2 Abs. 2 Satz 3 einschränkbar sei. Allerdings seien nur solche Beschränkungen zulässig, die zwingend erforderlich seien und sich nicht gegen die Versammlung als solche richteten 72 . A l l e n diesen Auffassungen ist gemeinsam, daß sie i m Grunde die Grenzen individueller Handlungsfreiheit abstrakt auf die Versammlungsfreiheit übertragen und ohne Rücksicht auf den besonderen Wertgehalt dieses Grundrechts bestimmen. Nach der hier vertretenen Auffassung läßt sich aber eine befriedigende Lösung des Konflikts von Versammlungsfreiheit m i t bau-, feuer- und gesundheitspolizeilichen Vorschriften nur finden, wenn i m konkreten Fall die jeweiligen Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden 7 3 . Keineswegs jedes polizeiliche Interesse an der Einhaltung von Vorschriften der Bau-, Feuer- und Gesundheitspolizei berechtigt daher zu einer Beschränkung oder sogar zu einem Verbot von Versammlungen. Man w i r d vielmehr grundsätzlich nur solche Maßnahmen für zulässig halten dürfen, die der Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer (und anderer Personen) dienen 74 . Aber auch hier können die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit nicht abstrakt dem Rechtsgut der Versammlungsfreiheit gegenübergestellt werden, obwohl sie i h m gene70 Vgl. v. Münch, Rdnr. 33 zu A r t . 3 G G m i t Nachweisen. 71 Enderling, Versammlungsgesetz, S. 29 f.; Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 18, DVB1. 1954, S. 555 u n d i n Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 449 f.; Trubel-Hainka, Versammlungsrecht, S. 36 f. Zweifelnd Nawiasky, Grundgedanken, S. 29, der eine ausdrückliche Einschränkungsmöglichkeit unter seuchenpolizeilichen Gesichtspunkten vermißt. M i t der Begründung, den Grundrechten seien seit jeher „gewisse natürliche Schranken" als „ i n härent" gedacht, hält auch Scholtissek, N J W 1952, S. 562 Beschränkungen von Versammlungen wegen Seuchengefahr f ü r zulässig. 72 v. Mangoldt-Klein, A n m . I V 2 b zu A r t . 8. 73 So bereits Waldecker, HdBDStR, Bd. I I , S. 648 f ü r A r t . 123 W R V , der ein Eingreifen unter feuer-, bau- u n d seuchenpolizeilichen Gesichtspunkten überhaupt n u r unter dem Gedanken der Güterabwägungstheorie f ü r zulässig hält. 74 Vgl. Enderling, Versammlungsgesetz, S. 39; Pr. OVG, Bd. 63, S. 265.

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rell vorgehen, sondern sind i m konkreten Fall gegeneinander abzuwägen. Man w i r d die polizeiliche Praxis des Obrigkeitsstaates nicht vergessen dürfen, wo unter dem Vorwand unzulänglicher sanitärer Einrichtungen, mangelhafter Beleuchtung, der Feuergefahr i m Versammlungsraum u. ä. unliebsame politische Versammlungen verboten wurden. Neben dem Grundsatz der Güterabwägung ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. So kann beispielsweise, wenn ein Rauchverbot i m Versammlungslokal zur Abwendung der Feuergefahr ausreicht, kein Versammlungsverbot ergehen 75 . Insgesamt w i r d die Polizei danach trachten müssen, i n Zusammenarbeit m i t Veranstalter und Leiter in versammlungsfreundlichem Sinne tätig zu werden, d. h. erforderliche Beschränkungen so einzurichten, daß die Versammlung nach Möglichkeit stattfinden kann. Die Forderung nach Kooperation der Polizei mit Veranstalter und Leiter öffentlicher Versammlungen i n versammlungsfreundlichem Sinne hat darüber hinaus prinzipielle Bedeutung. Sie folgt nicht allein aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 7 6 , sondern zugleich auch aus dem Gedanken der Respektierung der „Selbstverwaltung" i n der öffentlichen Versammlung. Das Versammlungsgesetz bringt dies selbst positiv zum Ausdruck, wenn es beispielsweise ein polizeiliches Einschreiten gegen bewaffnete Versammlungsteilnehmer prinzipiell davon abhängig macht, daß zunächst der Versammlungsleiter für deren Entfernung sorgt und nur, wenn er dieser Verpflichtung nicht nachkommt, unmittelbares polizeiliches Eingreifen vorsieht (§ 13 Abs. 1 Ziff. 3 VersG). Allgemein w i r d bei einem polizeilichen Einschreiten deshalb zu berücksichtigen sein, daß die Ordnung i n der Versammlung primär Aufgabe der „Organe" der Versammlung selbst ist und nur dort, wo diese offensichtlich versagen, unmittelbarer polizeilicher Einsatz zulässig ist. Damit w i r d der Versammlungsleiter nicht etwa zu einem Hilfsorgan der Polizei degradiert. Sieht man seine Stellung vielmehr als unmittelbar aus dem Wesen der Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht abgeleitet 77 , so folgt daraus, daß seine Funktion so ausgelegt werden muß, daß sie auf eine Minimisierung hoheitlicher Beschränkungen und Eingriffe i n das freie Versammlungsrecht zielt. Die Notwendigkeit, bei der Auslegung der allgemeinen Gesetze auf die Grundsätze der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeit zurückzugreifen, zeigt sich auch i m Verhältnis der Versammlungsfreiheit 7« Enderling, Versammlungsgesetz, S. 29 ; Pr. OVG, Bd. 59, S. 298. 76 Dieser Grundsatz u n d das daraus folgende Übermaßverbot haben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsrang, BVerfGE 9, 338, 346; 19, 348 f. 77 Vgl. dazu unten S. 191 f. 12 Quilisch

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zu den Straßenverkehrsvorschriften. Verstünde man die Gesetze zur Regelung des Straßenverkehrs i m Sinne formaler Allgemeinheit und hielte die Versammlungsteilnehmer i n gleichem Umfang an sie gebunden wie den individuellen Verkehrsteilnehmer, so wären öffentliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel, die auf die Inanspruchnahme öffentlicher Straßen und Plätze, vor allem auch die sonst dem Kraftverkehr vorbehaltene Fahrbahn, angewiesen sind, praktisch unmöglich. Umgekehrt wären sicherlich schwerwiegende Störungen des Straßenverkehrs zu besorgen, wenn Veranstaltungen überall und jederzeit und ohne jegliche Beachtung von Verkehrsregeln und Verkehrsinteresse stattfinden könnten. Der hier auftretende Konflikt zwischen Versammlungsfreiheit und den allgemeinen Verkehrsgesetzen läßt sich nur lösen, wenn man die jeweiligen Rechtsgüter i m konkreten Fall gegeneinander abwägt und dabei zugleich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt. Dies tun i n gewissem Umfang auch jene Autoren, die einerseits eine Bindung der Versammlungsteilnehmer an die Verkehrsregeln behaupten 7 8 , andererseits aber einräumen, daß gewisse Erschwerungen und vorübergehende Störungen des Verkehrs durch Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel hingenommen werden müßten, es sei denn, daß dies infolge einer besonders angespannten Verkehrssituation unvertretbar erschiene 79 . Man w i r d jedoch noch über diese Auffassung hinausgehen müssen. Die Versammlungsfreiheit schafft nicht nur eine A r t praktischer verkehrsrechtlicher Privilegierung, die sich schon allein aus der Eigenart kollektiven Gruppenhandelns ergibt, das durch sie gewährleistet ist 8 0 . Sie bewirkt vielmehr darüber hinaus eine echte rechtliche Privilegierung von Versammlungen und ihren Teilnehmern i m öffentlichen Straßenverkehr 8 1 . Keineswegs jedes Interesse an der Beachtung verkehrsrechtlicher Vorschriften oder an der Sicherheit und Leichtigkeit 8 2 des Ver78 Vgl. etwa v. Münch, Rdnr. 38 zu A r t . 8; Füßlein, i n : Neumann-NipperdeyScheuner, G r I I , S. 453; Trubel-Hainka, a.a.O., S. 57. 7» v. Münch, Rdnr. 38 zu A r t . 8; Enderling, a.a.O., S. 45. so I n diesem Sinn hat bereits das Preußische Oberverwaltungsgericht (Bd. 57, S. 329) ausgeführt: „Eine gewisse Beeinträchtigung des öffentlichen Verkehrs t r i t t stets ein, w e n n Menschenmengen als festgefügtes u n d gegliedertes Ganzes, also i n F o r m eines Aufzuges, durch die Straßen gehen." Entsprechendes g i l t aber auch f ü r „stehende" Versammlungen unter freiem H i m m e l , die auf einem dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Platz oder sonstigem Straßenraum stattfinden. 81 Gerade eine solche Privilegierung w i r d v o n Delius, i n : Nipperdey, G R I , S. 150 verneint, w e n n er behauptet, es gebe keinen Vorrang der Versamml u n g vor dem übrigen Verkehr. 82 Bedenklich die Auffassung von Enderling, a.a.O., S. 45, wonach auch die Leichtigkeit des Verkehrs „eine der unerläßlichen Voraussetzungen f ü r ein geordnetes menschliches Zusammenleben" ist u n d ihre Störung u n d Ge-

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kehrs berechtigt die Polizei dazu, Versammlungen zu verbieten oder ihnen Auflagen zu machen. „Die Straße gehört nun einmal", nach einem Wort von Walter Jellinek, „dem Volke". Nicht nur die Eigenart der Versammlung als kollektiver Handlungszusammenhang, sondern die besondere Schutzwürdigkeit der politischen und sozialen Funktion öffentlicher Versammlungen verlangt es, daß die allgemeinen Verkehrsinteressen i n weitem Umfang hinter der Versammlungsfreiheit zurücktreten müssen. So w i r d man aus Gründen der Leichtigkeit des Straßenverkehrs, insbesondere des Kraftverkehrs, öffentlichen Aufzügen nicht generell die Benutzung der Fahrbahn verweigern oder öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel, deren Ziel es gerade ist, möglichst große Menschenmengen anzuziehen und zu beeinflussen, allgemein von den Zentren des Verkehrs fernhalten dürfen 8 3 . I m Gegenteil, die Polizei w i r d hier zum Schutze des Versammlungsgrundrechts, sofern nicht überwiegende Verkehrsinteressen entgegenstehen, den Verkehr umleiten müssen, um Versammlungen und Aufzügen Raum zu schaffen 84 . Bei der Abwägung von Verkehrsinteresse und dem Interesse an der Ausübung der Versammlungsfreiheit i m konkreten Fall ist allerdings auch auf die unterschiedliche Schutzwürdigkeit der jeweiligen Versammlung abzustellen. So w i r d man insgesamt bei öffentlichen politischen Versammlungen, dies gilt vor allem i m Wahlkampf, ein höheres Maß an Verkehrsbeeinträchtigung hinnehmen müssen, als etwa bei einer öffentlichen Versammlung, die die Vorzüge natürlicher Ernährungsweise, der Kleintierzucht oder der Schrebergärten zu propagieren sucht. Wegen ihrer Bedeutung für den offenen Prozeß demokratischer Meinungsbildung und Interessenvertretung und wegen ihrer besonfährdung „ohne weiteres eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung d a r stellt". Vgl. auch das U r t e i l des W ü r t t B a d V G H v o m 18.12.1952 (DÖV 1952, S. 280 f.), das unter dem Gesichtspunkt des Verkehrsinteresses insgesamt den Grundsatz der „Polizeifestigkeit" von Versammlungen aufgeben wollte. 83 Vgl. i n diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Entscheidung des L G H a m b u r g v o m 7.2.1952 (DVB1. 1952, S. 314 ff.), insbesondere die A u s führung S. 315: „ A u s dieser Entstehungsgeschichte des A r t . 8 G G ergibt sich einmal, daß das Recht auf die Straße ein ganz elementares u n d fundamentales Recht i m demokratischen Staat ist, u n d ferner, daß dieses Recht von einer Erlaubnis der Polizei nicht abhängig gemacht werden darf . . . W e n n schon die Rücksichtnahme auf den Großstadtverkehr zum Verbot berechtigt, dann w ü r d e n Aufzüge i m Stadtinnern, also da, w o sie am wirkungsvollsten sind, überhaupt nicht mehr möglich sein." 84 Auch bei den nach § 15 Abs. 1 VersG zulässigen Auflagen (z. B. E i n h a l tung einer Straßenseite, Unterbrechungen, u m kreuzenden Verkehr passieren zu lassen usw.) w i r d die Polizei grundsätzlich i n versammlungsfreundlichem Sinne u n d unter Berücksichtigung des v o m Veranstalter intendierten V e r sammlungszwecks vorzugehen haben, indem sie Vorkehrungen gegen bestimmte Gefahren t r i f f t , u m die Versammlung insgesamt möglichst ungehindert zu ermöglichen.

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deren Gefährdung durch den parteilichen Einsatz der Staatsmacht gegen sie, verdienen gerade politische Versammlungen besonderen Schutz. Die Gefahren einer solchen Differenzierung nach dem Inhalt des Versammlungszwecks und seiner Bedeutung für den politischen Prozeß sind allerdings evident. So darf eine solche Differenzierung nicht i m Sinne einer Unterscheidung zwischen „guten" und „schlechten" Versammlungen erfolgen. Dies gilt vor allem auf dem Gebiet des politischen Versammlungsrecht selbst. Die funktionelle Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Offenheit und Pluralität des demokratischen Prozesses verlangt es, grundsätzlich alle Gruppen zu schützen, die einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion und Auseinandersetzung der Interessen leisten wollen. I m Interesse der Erhaltung der Pluralität und K r i t i k i n einem demokratischen Gemeinwesen verdienen die Versammlungen unbequemer politischer Minderheiten mindestens den gleichen Schutz wie die etablierter Mehrheitsgruppen 8 5 ' 8 6 . Geht man davon aus, daß das „Hecht auf die Straße" zur Veranstaltung von öffentlichen Versammlungen und Aufzügen „ein ganz elementares und fundamentales Recht i m demokratiskchen Staate" 8 7 ist, so folgt daraus auch, daß über die i n § 14 VersG vorgesehene Anmeldung hinaus keine polizeiliche Genehmigung nach § 5 Abs. 1 Satz 1 StVO (Sondernutzung über das verkehrsübliche Maß) erforderlich ist 8 8 . Die es Es k a n n nicht übersehen werden, daß die bisherige polizeiliche Praxis bei der Behandlung politischer Versammlungen dieser Forderung weitgehend widerspricht. Dies zeigen die Fälle, die Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 38 ff. anführt, m i t großer Deutlichkeit. Vgl. auch die Entscheidung des B a y V G H v o m 15.3.1963, VerwRspr. Bd. 16, Nr. 24, w o es u m die A u f hebung von Auflagen gegen einen Ostermarsch ging, dessen Teilnehmern u. a. untersagt wurde, vor Kasernen der Bundeswehr haltzumachen, obwohl überhaupt keine Kasernen auf dem Wege des Demonstrationszuges lagen. I m Unterschied zu Ott, (a.a.O., S. 26 f.), der eine Differenzierung von politischen u n d nichtpolitischen Versammlungen ablehnt u n d n u r ihre Gleichbehandlung fordert, läuft die hier vertretene Auffassung auf eine Besserstellung von öffentlichen Versammlungen m i t politischer Zwecksetzung hinaus. M i t Recht machen übrigens Dietel-Gintzel, A n m . 23 u. 28 zu § 17 VersG, darauf aufmerksam, daß, i m Gegensatz zu der Auffassung v o n Ott, § 17 VersG keine Privilegierung unpolitischer Versammlungen enthält, sondern Ansammlungen (Prozessionen, Leichenbegängnisse, hergebrachte Volksfeste u. a.) betrifft, die typischerweise nicht Versammlungen sind. 86 Abgesehen von dem allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung, der i n A r t . 3 G G seine Grundlage besitzt, ist bei der Beurteilung i m konkreten F a l l auch der Kampfcharakter des Versammlungsrechts insoweit zu berücksichtigen, daß die Behörde bei Beschränkungen u n d eventuellen Verboten von Versammlungen auch darauf eingeht, daß i n gewissem Umfang auch eine A r t Antwortrecht besteht, der Versammlung einer Gruppe durch die Versammlung einer anderen zu begegnen. 87 Vgl. L G Hamburg, DVB1. 1952, S. 315. 88 Dies w i r d auch i n der Lehre, allerdings ohne nähere dogmatische u n d verfassungstheoretische Begründung, anerkannt. Vgl. Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 67; Trubel-Hainka, Versammlungsrecht, S. 57 f.; Floegel-

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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Ausübung des Versammlungsrechts unter Beachtung der Verkehrsgesetze i m soeben erörterten Umfang gehört zum Gemeingebrauch an öffentlichen Wegen. Die Bestimmungen des § 7 Abs. 1 Satz 3 BFernstraßenG und der entsprechenden Straßengesetze der Länder stehen dem nicht entgegen 89 . Sie dürfen, obwohl sie den Gemeingebrauch unter dem Gesichtspunkt der Verkehrsnutzung definieren, nicht i n dem Sinne interpretiert werden, daß Aufzüge und Versammlungen, auch wenn sie nicht primär Erscheinungen des Verkehrs sind und anderen Zwecken dienen, vom Gemeingebrauch ausgeschlossen sind. Unzulässig ist auch jede Einflußnahme des Eigentümers der öffentlichen Straßen und Plätze, da Versammlungen sich i m Rahmen des durch die öffentlich-rechtliche Widmung bestimmten Nutzungsbereichs halten 9 0 . Über den Rahmen einer Abwägung von Demonstrationsinteresse und Interesse an der Leichtigkeit Verkehrs hinaus geht die Frage, ob vorsätzliche Blockierungen von Verkehrswegen oder Zugängen zu bestimmten Gebäuden durch das Versammlungsgrundrecht gedeckt werden. Diese Frage ist i m Zusammenhang m i t den Sitzstreiks gegen die Erhöhung von Straßenbahntarifen und Blockierungen der Zeitungsauslieferung des Springer-Verlages i n neuester Zeit akut geworden und hat zu unterschiedlichen juristischen Beurteilungen geführt 9 1 . Es geht dabei vor allem darum, ob Gewalt überhaupt ein zulässiges Kampfmittel von Demonstrationen ist und, wenn man dies nicht schlechthin verneint, in welchem Umfang und i n welcher Form ihre Anwendung legitim ist. Unter dem Gesichtspunkt, daß das Grundgesetz nur friedliche Versammlungen gewährleistet, sind m i t Sicherheit alle Formen aggressiver Gewaltanwendung gegen Personen wie gegen Sachen als Härtung, Straßenverkehrsrecht, 14. Aufl., R d n r . 3 zu § 5 S t V O u n t e r H i n w e i s auf Abs. 4 der A l l g . V e r w . Vorschr. StVO. 89 V.Münch, R d n r . 3 8 zu A r t . 8; a. M . Wimmer, M D R 1964, S.280ff., 282ff., 282, der die Benutzung der Straße durch Versammlungen z w a r als Sondern u t z u n g ansieht, die Straßenverkehrsgesetze aber insofern als verfassungsw i d r i g ansieht, als sie nicht neben dem verkehrsbestimmten Gemeingebrauch ausdrücklich das Recht zur Benutzung zu Versammlungszwecken g e w ä h r leisten. Hierdurch werde das Versammlungsrecht der Genehmigung durch den Wegebaulastträger u n t e r w o r f e n u n d i n einer Weise ins Ermessen der Genehmigungsbehörde gestellt, die das Grundrecht des A r t . 8 G G i n seinem Wesensgehalt antaste. Vgl. auch die A r g u m e n t a t i o n des L G H a m b u r g , DVB1. 1952, S. 315. so So schon W. Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., S. 490 zu A r t . 123 W R V : „ E i n Hausrecht des H e r r n der Straße Umzügen gegenüber w ü r d e dem S i n n der R V widersprechen." 9i Vgl. etwa die U r t e i l e des B G H N J W 69, S. 1770 (Kölner Straßenbahnfall) u n d des O L G S t u t t g a r t N J W 69, S. 1543 (Springer-Blockade) einerseits u n d die Auffassung der Vorinstanz i m K ö l n e r Straßenbahnfall, sowie die Entscheidung des A G B r e m e n v o m 22.4.1968, abgedruckt i n Kritische Justiz 1968, S. 78 ff., andererseits.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Kampfmittel von Versammlungen auszuschließen. Fraglich ist nur die Zulässigkeit „passiver" Gewaltanwendung, etwa i n Form von Sitzstreiks auf Straßenbahnschienen. Es wäre verfehlt, bei solchen Maßnahmen den Gewaltcharakter, d. h. das Vorliegen eines zumindest psychischen Zwanges gegenüber anderen zu einem T u n oder Unterlassen, zu leugnen. Entscheidend ist, ob die Anwendung derartiger Gewalt i m konkreten Fall rechtswidrig ist oder nicht. Eben dies verkennen die Urteile des B G H zum Kölner Straßenbahnstreik und des OLG Stuttgart zur Springerblockade, denn sie laufen i m wesentlichen darauf hinaus, das Versammlungsgrundrecht als ein reines Meinungsgrundrecht zu verstehen, bei dem jeder über das reine Argument hinausgehende psychische Zwang Gewalt ist und weil er Gewalt ist, als unzulässig betrachtet w i r d 9 2 . Sieht man dagegen die Versammlungsfreiheit als ein politisches und soziales Kampfrecht zur A r t i k u lierung wie zur Durchsetzung von Interessen und Meinungen von Gruppen, so erscheint das Moment psychischen Zwanges durch passive Gewalt nicht von vornherein als Überschreitung der Grenzen friedlichen Versammelns. Zugleich w i r d auch deutlich, daß die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit derartiger kollektiver Kampfmaßnahmen nicht mehr adäquat auf individualrechtlicher Basis gelöst werden kann 9 3 . Als kollektives Organisations- und Kampfrecht muß die Versammlungsfreiheit i n einer gewissen Parallele zum arbeitsrechtlichen Streikrecht gesehen werden. Auch beim Streik ist die individuelle Arbeitsniederlegung nicht rechtswidrig, wenn sie i m Rahmen sozialadäquater Arbeitskampfmaßnahmen erfolgt 9 4 . Ähnlich kann auch die Frage, ob eine Straßen- oder Verlagsblockierung eine rechtswidrige Nötigung und Gewaltmaßnahme darstellt, nicht individualrechtlich beurteilt werden, sondern nur im Rahmen der Frage, ob die kollektive Kampfmaßnahme noch sozialadäquat ist oder nicht. Sicherlich w i r d es für die Beurteilung, ob eine Kampfmaßnahme noch sozialadäquat ist, sehr stark auf den konkreten Einzelfall ankommen, gleichwohl lassen sich einige grundsätzliche Kriterien angeben, die für die Frage der Sozialadäquanz über den jeweiligen Einzelfall hinaus relevant sind. So w i r d man ganz allgemein einen klaren ®2 Vgl. B G H N J W 69, S. 1773: „Niemand ist berechtigt, . . . Gewalt zu üben, u m auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen u n d eigenen Interessen oder Auffassungen Geltung zu verschaffen." So aber der B G H f ü r den K ö l n e r Straßenbahnstreik, w e n n er i n alter liberal-individualistischer T r a d i t i o n argumentiert, was dem einzelnen nicht erlaubt sei, auch bei k o l l e k t i v e m Handeln nicht rechtmäßig sein könnte. 94 A u f das Problem der Sozialadäquanz i m Streikrecht, insbesondere seine restriktive Interpretation i m Hinblick auf sogenannte w i l d e Streiks, k a n n hier nicht näher eingegangen werden, da dies eine eigene Untersuchung erfordern würde.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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Sachzusammenhang von Kampfmaßnahme und Kampfzweck fordern müssen. Unter diesem Gesichtspunkt wären beispielsweise Straßenblockierungen durch Sitzstreiks, u m gegen generelle Preiserhöhungen zu protestieren mangels Sachzusammenhang rechtswidrig, dagegen wäre dies bei einer entsprechenden Kampfmaßnahme gegen die Erhöhung von Straßenbahntarifen nicht ohne weiteres der Fall. Über den Sachzusammenhang hinaus w i r d außerdem die Verhältnismäßigkeit von Kampfmittel und Kampfzweck zu beachten sein. Dabei spielt für die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht nur eine Abwägung der jeweils gegenüberstehenden Interessen, sondern vor allem auch die Möglichkeit ihrer anderweitigen Artikulation und Verfolgung eine entscheidende Rolle. Sieht man die Garantie der Versammlungsfreiheit unter dem Aspekt der Offenhaltung der politischen und sozialen Auseinandersetzung, so verdient gerade die durch dieses Grundrecht eröffnete Möglichkeit der Interessenartikulation für bislang nicht repräsentierte Gruppen besonderen Schutz. Bei der regelmäßig vorhandenen außerordentlichen Übermacht bereits etablierter und organisierter Interessen hieße es, die Wirkungsmöglichkeit des freien Versammlungsrechts auf die Gewährleistung eines relativ unverbindlichen Äußerns von Meinungen zu reduzieren, wenn nicht auch i n gewissem Umfang ein legaler und legitimer Zwang zur Diskussion und Durchsetzung von Meinungen und Interessen ausgeübt werden könnte. Insgesamt allerdings w i r d man die Zulässigkeit passiver Gewaltmaßnahmen i m Rahmen von Demonstrationen auf eng begrenzte Ausnahmesituationen beschränken müssen. Es kann i m wesentlichen nur um die Legitimierung „symbolischer Gewalt" zur Erzwingung von Diskussionen gehen, wo schwerwiegend Betroffenen die Möglichkeit anderweitiger nachhaltiger Interessenartikulation weitgehend versperrt ist. Doch auch bei der hier vertretenen Erweiterung des Spielraums zulässigen Gruppenkampfes unter Anerkennung der Zulässigkeit von sozialadäquaten passiven Gewaltmaßnahmen durch Demonstrationen zur Erzwingung öffentlicher Diskussion bleibt unübersehbar, daß hier juristisch nicht mehr v o l l lösbare Konflikte von Legalität und Legitimität auftreten können. Jede positive Rechtsordnung ist Verkörperung des status quo und seiner bestimmenden Interessen. Jeder Versuch einer Veränderung des status quo w i r d daher meist sehr schnell auf rechtliche Grenzen stoßen. Ein Akzeptieren der vorhandenen Spielregeln zur Veränderung des positiven Rechts macht nur zu oft die Durchsetzung des Veränderung suchenden Interesse illusorisch, vor allem dann, wenn die Spielregeln den etablierten Interessen praktisch nicht mehr einholbare Startvorteile bieten, Gerade i n solchen

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Fällen kann die bewußte und kalkulierte Regelverletzung und das heißt gegebenenfalls auch die Verletzung positiven Rechts — man denke etwa an sit-ins, Instituts- und Rektoratsbesetzungen unter Verletzung des Hausrechts, Schüler- und Elternstreiks unter Verletzung der Schulpflicht — die wirksamste Methode der Durchsetzung legitimer Interessen sein und gerade der Offenheit des politischen und sozialen Prozesses dienen. Die positive Rechtswidrigkeit des Handelns i n solchen Fällen ist nicht zu leugnen, sie ist meist sogar intendiert. Die Regelverletzung w i r d bewußt politisch eingesetzt, u m auf den angeblichen oder tatsächlichen Ungerechtigkeitscharakter der angegriff enen Situation und ihrer rechtlichen Regelung hinzuweisen. Derartige Angriffe auf Teile der positiven Rechtsordnung lassen sich juristisch nicht einfach legalisieren; man brächte sie damit ohnehin u m ihren politischen Effekt und die Handelnden u m die politische Verantwortung, die jeder A n griff auf den status quo notwendig enthält. Wichtig ist jedoch, daß derartige begrenzte Regelverletzungen des positiven Rechts nicht ohne weiteres mit Angriffen auf die verfassungsmäßige Ordnung gleichgesetzt werden dürfen, dies muß jedenfalls so lange gelten, als solche Aktionen den Legitimierungszusammenhang mit den Grundprinzipien der Verfassung nicht generell aufgeben. Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit als konstituierendes Funktionselement des demokratischen Prozesses ist auch für die Bestimmung ihrer Grenzen i m besonderen Gewaltverhältnis zu berücksichtigen. Z u weitgehend ist allerdings die Auffassung von Füßlein, der jede Beschränkung der Versammlungsfreiheit i m besonderen Gewaltverhältnis ablehnt und nur über Art. 5 Abs. 2 GG Beschränkungen zulassen w i l l 9 5 . Es ist vielmehr nach der A r t der Gewaltverhältnisse zu differenzieren 96 , wobei nur solche Beschränkungen zulässig sind, die für das „Funktionieren" 9 7 des jeweiligen Gewaltverhältnisses unbedingt erforderlich sind 9 8 . 05 Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 2 1 1 ; DVB1. 1954, S. 556 f. u n d i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner GR I I , S. 450 f. unter Berufung auf A r t . 1 Abs. 3 GG. M i t Recht weisen v. Mangoldt-Klein, A n m . I V 2 c zu A r t . 8 auf die Inkonsequenz hin, die d a r i n liegt, daß Füßlein selbst (Neumann-NipperdeyScheuner GR I I , S. 449, F N 115) gesetzliche Freiheitsentziehungen als zulässige Schranken der Versammlungsfreiheit ansieht. 86 v.Münch, Rdnr. 34 zu A r t . 8; ders., Freie Meinungsäußerung i m besonderen Gewaltverhältnis, S. 40. Vgl. auch den Hinweis a.a.O., S. 37, daß die Verfassung bestimmte Gewaltverhältnisse institutionalisiert habe, w e i l sie an deren Bestand u n d Funktionieren ein vitales Interesse habe. 97 v. Münch, Freie Meinungsäußerung i m besonderen Gewaltverhältnis, S. 45, der m i t dieser Formulierung eine Einengung der möglichen G r u n d rechtseinschränkungen gegenüber der herrschenden Lehre intendiert, die a l l gemein n u r auf den „Zweck" des besonderen Gewaltverhältnisses abstellt. 98 U n k l a r v. Mangoldt-Klein, A n m . I V 2 c, die allgemein eine „ w e i t e r gehende Beschränkung" der Versammlungsfreiheit i m besonderen G e w a l t verhältnis zulassen wollen.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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So ergibt sich aus der Funktion des Strafvollzugs (Art. 104 GG), daß hier kein Raum für die Ausübung des Versammlungsgrundrechts ist. Anders liegt es i m Beamtenverhältnis (Art. 33 Abs. 5 GG). Hier w i r d die Teilnahme an Versammlungen außerhalb der Dienstzeit grundsätzlich nur unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Beamtentums zu beschränken sein. So hat beispielsweise das LVG Düsseldorf entschieden", daß Protestversammlungen oder Schweigemärsche von Beamten nicht gegen die Dienstpflicht verstoßen, sofern nicht besondere Umstände vorliegen. Für die Angehörigen der Bundeswehr sieht Art. 17 a Abs. 1 GG die Möglichkeit vor, das Versammlungsrecht durch Gesetz «u begrenzen. Eine entsprechende Gesetzgebung fehlt jedoch bislang. I m Schulverhältnis (Art. 7 GG) und i m Hochschulverhältnis (Art. 5 Abs. 3 GG) w i r d man generell Beschränkungen des Versammlungsgrundrechts, die sich über den unmittelbaren räumlichen Bereich von Universität und Schule hinaus erstrecken, für unzulässig halten müssen, da die Funktionsfähigkeit dieser Einrichtungen vom Verhalten ihrer Angehörigen außerhalb grundsätzlich unberührt bleibt. Unter dem Gesichtspunkt der Anstaltsgewalt kann deshalb Schülern und Studenten 1 0 0 die Veranstaltung und Teilnahme an Protestversammlungen und Demonstrationen außerhalb des räumlichen Anstaltsbereichs, auch wenn sie sich kritisch mit den Problemen von Schule und Universität auseinandersetzen, nicht versagt und zum Anlaß disziplinarischer Maßnahmen gemacht werden. Die Frage, inwieweit innerhalb des räumlichen Bereiches von Schule und Universität Einschränkungen des Versammlungsrechts der A n staltsangehörigen zulässig sind, kann hier nicht i m Detail untersucht werden. Ihre Beantwortung würde eine grundsätzliche Auseinandersetzung m i t dem Rechtsinstitut des besonderen Gewaltverhältnisses und der Funktion von Schule und Universität i m demokratischen Sozial- und Rechtsstaat voraussetzen, die den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Es sei aber darauf hingewiesen, daß auch hier bei etwaigen Beschränkungen der soziale Handlungszusammenhang und die politische Funktion des Versammlungsrechts zu beachten sind. So dürfte es beispielsweise unzulässig sein, bei einer rechtmäßigen 99 L V G Düsseldorf, Beschluß v o m 20.12.1955, i n : Die Polizei 1956, S. 55 ff. 100 D a ß a u c h M i n d e r j ä h r i g e n das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zusteht, dürfte allgemein anerkannt sein. F ü r die Ausübung w i r d allerdings Grundrechtsmündigkeit verlangt. (Vgl. v. Münch, Rdnr. 4 zu A r t . 8; Füßlein, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, S. 443, 430; Ott, a.a.O., S. 94). M i t Recht weist Ott (a.a.O.) darauf hin, daß es für die Frage der Grundrechtsmündigkeit allein auf die Ernsthaftigkeit einer Demonstration ankomme, nicht etwa auf die privatrechtliche Geschäftsfähigkeit der Teilnehmer (so v.Münch, a.a.O.).

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

Versammlung innerhalb der Universität, bestimmten Personen aufgrund des Hausrechts das Betreten des Universitätsgeländes zu verwehren. Dies muß auch dann gelten, wenn es sich bei dem Ausgeschlossenen nicht u m einen Anstaltsangehörigen handelt, der aber als Hauptredner der Versammlung vorgesehen ist 1 0 1 . Ebenso kann bei einer zulässigen Versammlung innerhalb des A n staltsbereichs prinzipiell nicht i n den Versammlungsablauf eingegriffen werden. Auch hier ist der Funktionsbereich des Versammlungsleiters von den Inhabern der Anstaltsgewalt und des Hausrechts prinzipiell zu respektieren, sofern nicht der Rahmen friedlichen und unbewaffneten Versammelns offensichtlich überschritten w i r d 1 0 2 . Die bislang erörterten Probleme der Auslegung der allgemeinen Gesetze unter Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit als konstitutives Funktionselement des demokratischen Prozesses betrafen i m wesentlichen die Frage i m allgemeinen und besonderen Gewaltverhältnis, d. h. i m klassischen Bereich des Grundrechtsschutzes gegenüber der Staatsgewalt. Die funktionelle Bedeutung der Versammlungsfreiheit ist jedoch auch bei der Bestimmung ihrer Grenzen i m Rahmen der allgemeinen Gesetze des Privatrechts zu beachten. Dies soll am Problem des Konflikts von Versammlungsfreiheit und Eigent u m und vor allem an dem gerade für die innere Ordnung der Versammlung bedeutsamen Problem des Konflikts von Versammlungsfreiheit und Hausrecht verdeutlicht werden. Nach allgemeiner Meinung berechtigt die Ausübung des Versammlungsgrundrechts nicht zur Verletzung fremden Eigentums. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Benutzung fremder Grundstücke ohne privatrechtliche Gestattung des Verfügungsberechtigten für Versammlungszwecke nicht dadurch rechtens wird, daß sich die Versammelten auf A r t . 8 GG berufen. Der Eigentümer kann sich gegen eine solche Störung und Beeinträchtigung seines Rechtes selbstverständlich zur Wehr setzen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die aus dem Eigentum und Besitz fließenden Befugnisse der Störungsabwehr der Versammlungs101 Unter diesem Gesichtspunkt w a r beispielsweise das „Hausverbot" des Rektors der Freien Universität B e r l i n gegen den Schriftsteller Erich K u b y , der i n einer öffentlichen Veranstaltung des A S t A i m A u d i t o r i u m m a x i m u m sprechen sollte, ein rechtswidriger Eingriff i n die Versammlungsfreiheit. Vgl. zu diesen Vorgängen, die den Beginn der Berliner Studentenunruhen bezeichnen, den Bericht des Untersuchungsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin, V. Wahlperiode, Drucksache Nr. 442, S. 9 ff. 102 Zulässig dürften dagegen solche Beschränkungen des Versammlungsrechts sein, die sich aus allgemeinen Regelungen der Anstaltsnutzung m i t dem Zweck des ungestörten Universitäts- u n d Schulbetriebes ergeben. So muß auch von einer Versammlung prinzipiell der zeitliche Rahmen respekt i e r t werden, i n dem der jeweilige Versammlungsraum insgesamt dem öffentlichen Verkehr zugänglich ist.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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freiheit i n jedem Falle vorgehen, genauer gesagt, daß der Umfang dieser Befugnisse zur Störungsabwehr generell und abstrakt und ohne Rücksicht auf den Wertgehalt der Versammlungsfreiheit zu bestimmen ist. Dies zeigt sich bei der Frage des Immissionsschutzes nach den §§ 1004, 906 BGB. Aufgrund dieser Bestimmungen hat der Eigentümer zwar das Recht, erhebliche und ortsunübliche Geräuschbelästigungen, die von einem Nachbargrundstück ausgehen, zu untersagen. Gleichwohl w i r d man bei der Beurteilung des Maßes an Belästigung, das vom Grundstückseigentümer hingenommen werden muß, nicht unberücksichtigt lassen können, ob der störende L ä r m von einer Tanzveranstaltung oder der Lautsprecherübertragung einer öffentlichen politischen Versammlung ausgeht. Wie der Konflikt zwischen dem allgemeinen Gesetz des § 1004 BGB und der Versammlungsfreiheit i m konkreten Fall zu entscheiden ist, w i r d weitgehend von den Umständen des Einzelfalles abhängen. Ebenso wie die Tatsache, ob es sich um eine Versammlung mit rein privaten Zwecken oder mit dem Ziel, einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion zu leisten, handelt, w i r d andererseits auch das Interesse des Eigentümers am Schutz seiner Privatsphäre zu berücksichtigen sein. So w i r d man eine Untersagung der Benutzung privater Wohnräume eines Mieters zur Abhaltung öffentlicher politischer Versammlungen durch den Hauseigentümer dann nicht für unzulässig halten können, wenn durch derartige Versammlungen eine erhebliche Lärmbelästigung der Mitbewohner eintritt 1 0 3 . Für das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen, das i m Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist jedoch die Frage des Konflikts von privatem Hausrecht und Versammlungsrecht i n jenen Fällen, i n denen das Hausrecht dem Versammlungsleiter zusteht, bedeutsamer als der Konflikt von Versammlungsfreiheit und Eigentum. Legte man das private Hausrecht ohne Rücksicht auf das Versammlungsgrundrecht aus, so könnte der Versammlungsleiter den Zugang zur Versammlung grundsätzlich nach völlig freiem Belieben beschränken und Teilnehmer jederzeit ohne besonderen Grund aus der Versammlung verweisen. Gerade hier t r i f f t nun das Versammlungsgesetz, bezeichnenderweise aber nur für öffentliche Versammlungen, die Regelung, daß der Z u t r i t t nur i n der Einladung beschränkt und nur gröbliche Störer ausgeschlossen werden dürfen. Diese Einschränkung des Hausrechts, besser, die Auslegung des privaten Hausrechts als allgemeines Gesetz i m Lichte des besonderen Wertgehalts der Versamm*03 Entgegen der Entscheidung BVerfGE 7, 234 w i r d m a n jedoch die Störung eines ideellen „Hausfriedens" durch politische A k t i v i t ä t eines Mieters nicht als ausreichenden Untersagungsgrund ansehen können.

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2. Teil: Versuch einer Theorie zur Versammlungsfreiheit

lungsfreiheit, w i r d hier allerdings nicht durch die Rechtsprechung, sondern positiv durch den Gesetzgeber vorgenommen 104 . Obwohl eine ausdrückliche Motivierung dieser Vorschriften des Versammlungsgesetzes i n den Gesetzgebungsmaterialien fehlt, läßt sich doch die hier zugrunde liegende Güterabwägung, insbesondere die Intention, den Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung zu schützen, i n ihren Grundgedanken erschließen. So steht hinter der Vorschrift des § 6 VersG, wonach der Zugang zu öffentlichen Versammlungen i n geschlossenen Räumen nur i n der Einladung beschränkt werden darf, offensichtlich der Wille des Gesetzgebers, i m Interesse des Funktionierens und der Selbstkontrolle des Versammlungsrechts einen möglichst weitgehenden Zugang zu öffentlichen Versammlungen zu garantieren und diskriminierende Zutrittsbeschränkungen zu erschweren, indem der Veranstalter gezwungen wird, sie von vornherein publik zu machen. Zugleich w i r d damit der Tatsache Rechnung getragen, daß der Veranstalter mit seiner öffentlichen Einladung gleichsam ein Stück seines an sich schutzwürdigen Hausrechts aufgibt und aus der Privatsphäre heraustritt. Seine Einladung enthält insofern ein Element rechtlicher Selbstbindung, zu der er sich nicht selbst in Widerspruch setzen darf. Allgemein kommt i n dieser Regelung zum Ausdruck, daß das Maß zulässiger willkürlicher Diskriminierung abnimmt, je stärker jemand in den Bereich der Öffentlichkeit hinaustritt105. Noch deutlicher w i r d dies bei der Beschränkung des Ausschlußrechts auf die Fälle gröblicher Störung der Versammlung (§11 VersG). Indem der Veranstalter und Leiter einen Raum öffentlicher Diskussion und Meinungsbildung eröffnen, setzen sie zugleich auch den von ihnen bestimmten Versammlungszweck der öffentlichen K r i t i k aus. Die sonst durch das private Hausrecht eröffnete Möglichkeit, eine solche K r i t i k durch den Ausschluß aus der Versammlung zu unterdrücken, w i r d hier versagt. Das Rechtsgut der freien Ausübung des öffentlichen Versammlungsrechts geht insoweit dem Rechtsgut des Hausrechts vor. Zu im Es ist allerdings festzuhalten, daß die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters nicht als hausrechtliche Befugnis anzusehen ist. Vielmehr w i r d sie als eigenständige Befugnis ebenfalls begrenzt, u n d zwar, w i e noch darzulegen sein w i r d , vor allem durch das Versammlungsrecht der Teilnehmer. los Die Gedanken formaler Öffentlichkeit u n d rechtlicher Selbstbindung sind allerdings nicht ausreichend, u m eine solche Begrenzung der hausrechtlichen Befugnisse zu legitimieren. Sie träfen auch bei einem dem öffentlichen Verkehr zugänglichen Kaufhaus oder einer Gaststätte zu, w o das private Hausrecht es prinzipiell ermöglicht, beliebigen Personen den Zugang zu v e r sagen oder sie ohne nähere Begründung aus dem Hause zu weisen. Es ist v i e l mehr außerdem der Gedanke des Schutzes der Versammlungsfreiheit i n der F o r m der Teilnehmerfreiheit, der hier das private Hausrecht (und die Ordnungsgewalt) des Versammlungsleiters begrenzt.

3. Kap.: Politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit

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beachten ist, daß die Regelung des Ausschlußrechts auch auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rücksicht nimmt, indem sie nur gröbliche Störungen als Grund für einen Ausschluß aus öffentlichen Versammlungen genügen läßt. I m Ergebnis führt diese Regelung dazu, daß das Hausrecht als Ordnungsmittel aus der öffentlichen Versammlung auch in geschlossenen Räumen fast völlig verdrängt wird. Der Grund hierfür ist allerdings nicht, wie Füßlein i n dogmatisch positivistischer Argumentationsweise meint 1 0 6 , i m Vorrang der angeblich öffentlichrechtlichen Ordnungsgewalt aufgrund des Versammlungsgesetzes gegenüber dem nur privatrechtlichen Hausrecht zu suchen. Den eigentlichen Grund bildet vielmehr die Intention, den internen Funktions- und „Selbstverwaltungs"bereich der öffentlichen Versammlung gegen mögliche Eingriffe aufgrund des besitzgebundenen Hausrechts, jedenfalls soweit sie über die versammlungsspezifische Ordnungsgewalt hinausgehen, abzuschirmen. Das bedeutet, daß nicht nur ein außenstehender Dritter, auch wenn er i m gegebenen Fall Inhaber des Hausrechts ist, prinzipiell den Funktionsbereich des Versammlungsleiters zu respektieren hat und nicht i n den Versammlungsablauf eingreifen darf, sondern daß auch der Versammlungsleiter selbst aufgrund des i h m etwa zustehenden Hausrechts keine Maßnahmen gegen Versammlungsteilnehmer treffen darf 1 0 7 , die über die Grenzen seiner versammlungsbezogenen Ordnungsgewalt hinausgehen. Für das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen ist der hier zugrunde liegende Konflikt von Versammlungsfreiheit und Hausrecht und seine Lösung durch den Gesetzgeber deshalb interessant, weil es sich dabei nicht nur um einen Konflikt von Versammlungsfreiheit und Privatrecht, sondern um einen Konflikt zweier Grundrechte, nämlich der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und des Hausrechts (Art. 13 GG) handelt. Dies ist nicht nur für das Verhältnis der Versammlungsfreiheit zu anderen Grundrechten relevant, sondern vor allem auch für die Regelung der Konflikte innerhalb des Versammlungsgrundrechts selbst, die sich aus seiner Eigenart als kollektives Betätigungsrecht ergeben und die den eigentlichen Kern des Problems der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen ausmachen.

10Ä

Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 13. Während Nichtteilnehmer dem Hausrecht prinzipiell i n vollem Umfang unterliegen, w i r d dieses den Versammlungsteilnehmern gegenüber erst da relevant, w o die Ordnungsgewalt aufhört, etwa bei der Durchsetzung eines aufgrund der Ordnungsbefugnisse ausgesprochenen Ausschlusses aus der Versammlung. 107

DRITTER

TEIL

D i e Ordnung i n der Versammlung

Erstes

Kapitel

Die Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters A u f der Grundlage der vorangegangenen Erörterungen über die soziale Struktur von Versammlungen, die politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit und der dabei entwickelten Interpretationsprinzipien soll nimmehr das Problem der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen näher untersucht werden. I m Zentrum des Interesses steht dabei die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen, ihrem Umfang und ihren Grenzen. I n diesem Zusammenhang soll zunächst erörtert werden, ob und inwieweit sich die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters unter eine der bekannten Rechtsfiguren des öffentlichen oder privaten Rechts einordnen läßt.

I. Die Ordnungsgewalt als verliehene hoheitliche Befugnis? Anders als das Reichsvereinsgesetz von 1908 verpflichtet das Versammlungsgesetz von 1953 den Leiter einer öffentlichen Versammlung nicht nur, für die Aufrechterhaltung der Ordnung i n der Versammlung zu sorgen; es spricht ihm vielmehr ausdrücklich zu diesem Zweck besondere, nach Inhalt und Umfang vom privaten Hausrecht abweichende Befugnisse zu und verpflichtet die Versammlungsteilnehmer ausdrücklich, den rechtmäßigen Ordnungsweisungen des Leiters Folge zu leisten. I m Hinblick auf die Tatsache, daß die Versammlungsgesetze herkömmlicherweise ausschließlich öffentliches Recht enthalten 1 , liegt der Gedanke nahe, daß es sich bei der dem Versamm1 Dies ist allerdings vor dem H i n t e r g r u n d des rein polizeirechtlichen Charakters der traditionellen Versammlungsgesetzgebung zu sehen, v o n dem

. Kap.:

e n

der Ordnungsgewalt

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lungsleiter zustehenden Ordnungsgewalt u m eine öffentlichrechtliche Befugnis handelt. Die erste Frage, die sich i n diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob es sich bei der Ordnungsgewalt u m eine verliehene hoheitliche Gewaltbefugnis handelt, m i t der der Versammlungsleiter als eine A r t „beliehener Unternehmer" ausgestattet ist. Das Recht und die Pflicht des Versammlungsleiters, für einen geordneten, störungsfreien Versammlungsablauf zu sorgen, scheinen zumindest auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit m i t der Aufgabe der Polizei zu haben, die ja ebenfalls berechtigt und verpflichtet ist, Versammlungen gegen Störungen zu schützen. Man könnte daher daran denken, i n der Ordnungsaufgabe des Versammlungsleiters eine i h m übertragene polizeiliche Aufgabe und i n der i h m zustehenden Ordnungsgewalt eine A r t verliehener Polizeigewalt zu sehen, zumal das Versammlungsgesetz den Leiter bei der Ausübung seiner Befugnisse mit einem Strafrechtsschutz ausstattet, der offensichtlich den Bestimmungen über den W i derstand gegen die Staatsgewalt nachgebildet ist (§ 22 VersG und § 113 StGB). Gegen eine solche dogmatische Konstruktion spricht jedoch nicht nur die Begründung des Regierungsentwurfs 2 in der ausdrücklich betont wird, das Versammlungsgesetz habe davon abgesehen, den Leiter zur Erfüllung seiner Ordnungsaufgaben m i t öffentlichrechtlichen Exekutivbefugnissen auszustatten, sie stünde auch i m Widerspruch zu dem hier entwickelten und zugrunde gelegten verfassungstheoretischen Verständnis der Versammlungsfreiheit. Die scheinbare Ähnlichkeit eines Teils 3 der Aufgaben und Befugnisse des Leiters einer öffentlichen Versammlung m i t denen der Polizei kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Versammlungsleiter keine ihm übertragene staatliche Aufgabe wahrnimmt und auch keine verliehenen hoheitlichen Befugnisse ausübt. Stellung und Befugnisse des Versammlungsleiters folgen vielmehr unmittelbar aus der Eigenart der Versammlungsfreiheit als kollektives Betätigungs- und Organisationsgrundrecht. das Versammlungsgesetz m i t seinen Bestimmungen über die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen deutlich abweicht. 2 1. Dt. Bundestag, BT.Drucks. Nr. 1102, S. 10 f. 3 Die Ähnlichkeit besteht i m Grunde genommen, n u r i m H i n b l i c k auf die „negative" Aufgabe der Störungsabwehr. Dem Versammlungsleiter steht nach dem Versammlungsgesetz aber auch die „positive" Befugnis zu, den Versammlungsablauf zu bestimmen. Diese Befugnis zur Bestimmung der Versammlungsablaufs, die von entscheidender Bedeutung dafür ist, was als Störung der Versammlung zu gelten hat, k a n n aber keinesfalls als staatliche Aufgabe angesehen werden; ihre Ausübung u n d Reglementierung durch staatliche Organe w ü r d e das Versammlungsgrundrecht i n seinem Wesensgehalt treffen u n d denaturieren.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Sieht man i n A r t . 8 GG nicht nur die Gewährleistung eines individuellen Freiheitsrechts, sondern auch die Garantie organisierten Gruppenhandelns i m Sinne eines durch eine Zentralinstanz geleiteten Verbandshandelns, so muß das Leiten von Versammlungen als integrierender Bestandteil der Versammlungsfreiheit angesehen werden. Hiervon geht offensichtlich auch die Regelung der Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters i m Versammlungsgesetz aus. Denn dieses Gesetz hat, wie Füßlein insofern ganz treffend formuliert, indem es die Positionen der Versammlungsbeteiligten rechtlich ausgestaltet und gegeneinander abgegrenzt hat, die Versammlungsfreiheit in eine Veranstalter-, Leiter- und Teilnehmerfreiheit „aufgeteilt" 4 . Folgen aber Stellung und Befugnisse des Leiters öffentlicher Versammlungen aus dem Charakter der organisierten Versammlung als Augenblicksverband und damit aus dem Wesen der Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht, so kann es sich bei der Ordnungsgewalt nicht u m eine verliehene staatliche, geschweige denn hoheitliche Befugnis handeln. Die Ausübung des Versammlungsgrundrechts — und nichts anderes als eine besondere Form der Ausübung dieses Grundrechts ist das Leiten öffentlicher Versammlungen — stellt trotz und i n gewissem Sinne gerade wegen ihrer konstitutiven Bedeutung für den demokratischen Staat nicht die Wahrnehmung einer staatlichen Aufgabe und Befugnis dar. Eine dogmatische Einordnung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters aufgrund des Versammlungsgesetzes als verliehene quasi polizeiliche öffentlichrechtliche Exekutivgewalt ist demnach abzulehnen.

I I . Die Ordnungsgewalt als hausrechtliche Befugnis? Während i n der Begründung des Regierungsentwurfs zum Versammlungsgesetz ausdrücklich betont wird, es sei davon abgesehen worden, dem Versammlungsleiter öffentlichrechtliche Exekutivbefugnisse zuzusprechen, werden dort die Rechte des Versammlungsleiters als Befugnisse bezeichnet, die „auf der Grundlage des Hausrechts . . . näher entwickelt" worden seien. I n der Tat ist nicht zu verkennen, daß die Ausgestaltung der Ordnungsbefugnisse i m Versammlungsgesetz am Vorbild des privaten Hausrechts orientiert ist. So bestimmt auch § 7 Abs. 4 VersG ausdrücklich: „Der Leiter übt das Hausrecht aus". Eine dogmatische Konstruktion der Ordnungsgewalt als privates Hausrecht versagt jedoch vor der Tatsache, daß die Ordnungsgewalt auch dort ihre Wirkungen entfaltet, wo dem Versammlungsleiter der pri4

Füßlein,

Versammlungsgesetz, S.27f.; DVB1. 1954, S.553f.

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vatrechtliche Besitz des räumlichen Versammlungsbereiches, der die notwendige Grundlage eines bürgerlichrechtlichen Hausrechts bildet, fehlt. I m Hinblick auf den traditionell rein öffentlichrechtlichen Charakter der Normen der Versammlungsgesetze könnte man jedoch daran denken, i n der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters eine A r t öffentlichrechtlichen Hausrechts zu sehen, genauer gesagt einen spezifisch normierten Sonderfall eines allgemein öffentlichrechtlichen Hausrechts. Für den Bereich des Verwaltungsvermögens, insbesondere den räumlichen Tätigkeitsbereich der staatlichen Behörden, hat neuerdings Frühling ein solches allgemeines öffentlichrechtliches Hausrecht dogmatisch zu begründen versucht 5 . Bei diesem öffentlichrechtlichen Hausrecht soll es sich um ein dem privaten Hausrecht i n seinen Grundgedanken zwar verwandtes, insgesamt aber eigenständiges Institut des öffentlichen Rechts handeln. Gemeinsam sei beiden Arten des Hausrechts ihre Grundlage i n der tatsächlichen Sachherrschaft über einen bestimmten räumlichen Bereich. Während aber das private Hausrecht seine Grundlage i m bürgerlichrechtlichen Besitzrecht habe, folge das öffentlichrechtliche Hausrecht aus einer besonderen öffentlichrechtlichen Sachherrschaft, die mit der Widmung einer öffentlichen Einrichtung für die Zwecke der Verwaltung entstehe 6 . Als allgemeines M i t t e l der Störungsabwehr für die Verwaltungstätigkeit des Staates sei dieses öffentlichrechtliche Hausrecht geeignet, die nach Meinung von Frühling unzulässige Anstaltspolizei zu ersetzen 7 . Von dem Zwangsmittel der Anstaltspolizei unterscheide sich das öffentlichrechtliche Hausrecht durch seine „raumbezogene Komponente". Es schütze das Funktionieren der staatlichen Verwaltung nicht generell, sondern nur mittelbar, indem es erlaube, den räumlichen Tätigkeitsbereich der Verwaltung, über den sich die Sachherrschaft i n der öffentlichen Einrichtung erstrecke, gegen Störungen abzuschirmen. Obwohl das öffentlichrechtliche Hausrecht wie das bürgerlichrechtliche Hausrecht seine Grundlage i m Gedanken des Besitzschutzes hat, sollen doch für seine Ausübung wesentlich strengere Bindungen gelten. Während der Inhaber des privaten Hausrechts i m Rahmen seiner gesetzlichen Befugnisse — sofern er sich nicht vertraglich gebunden habe oder die Grenzen von Treu und Glauben überschreite — frei entscheiden könne, ob, gegen wen und i n welchem Umfang er von seinem Recht Gebrauch mache, könne der Staat die Maßnahmen, zu denen ihn das öffentlichrechtliche Hausrecht berechtige nur i m Rah5 Frühling, 1963. 6 Frühling, 7 Frühling,

13 Quilisch

Das Hausrecht öffentlicher Einrichtungen, Diss. j u r . Göttingen, a.a.O., S. 94, 121 f. a.a.O., S. 105 ff.

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men pflichtgemäßen Ermessens ergreifen und durchführen und sei dabei auch zur Beachtung der Grundrechte verpflichtet 8 . Während es dem Privatmann unbenommen sei, sein Hausrecht auch „zweckfremd", d. h. zu Zwecken, die nicht unmittelbar der Abwehr von Störungen seines befriedeten Besitztums und der dort stattfindenden Tätigkeit dienten, einzusetzen 9 , seien die staatlichen Behörden allein zu Maßnahmen befugt, die geeignet und erforderlich seien, die staatliche Tätigkeit i m Rahmen der Zweckbestimmung ihrer öffentlichen Einrichtungen zu schützen 10 . Allerdings könne der Staat weitgehend darauf Einfluß nehmen, was als Störung seiner Tätigkeit zu gelten habe, denn kraft seiner Organisationsgewalt innerhalb seiner öffentlichen Einrichtungen könne er auch deren Ordnung festlegen, deren Verletzung durch das Publikum eine Störung darstelle 11 . Nach Auffassung von Frühling beschränkt sich die Bedeutung dieses öffentlichrechtlichen Hausrechts nicht auf den Bereich der Verwaltung, es dient vielmehr auch dem Schutz von Legislative und Gerichtsbarkeit. So versteht er das Hausrecht des Parlamentspräsidenten (Art. 40 Abs. 2 GG) i m Gegensatz zur herrschenden Lehre, die dieses privatrechtlich auffaßt 12 , als einen positiv normierten Sonderfall des allgemein öffentlichrechtlichen Hausrechts 18 . I n gleicher Weise versucht er die Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden (§§ 176 ff. GVG) dogmatisch einzuordnen 14 . Vor allem w i r f t er auch die Frage auf, ob es sich bei der i m Versammlungsgesetz geregelten Ordnungsgewalt u m ein positiv normiertes öffentlichrechtliches Hausrecht handele, m i t dem der Leiter als „beliehener Unternehmer" ausgestattet sei. Er geht dieser Frage allerdings i m Rahmen seiner Untersuchung nicht näher nach 15 . Es soll hier auf eine grundsätzliche Auseinandersetzung m i t dieser Lehre vom öffentlichrechtlichen Hausrecht verzichtet werden, denn eine genauere Betrachtung zeigt, daß es sich bei der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters weder um eine „verliehene" noch u m eine 8

Frühling, a.a.O., S. 128. Frühling, a.a.O., S. 129 erwähnt i n diesem Zusammenhang das Beispiel des Gastwirts, der einem Gast die Aufnahme i n sein L o k a l verweigert, w e i l er sich über die Partei, der dieser Gast angehört, geärgert hat u n d weiter den Fall, daß der Gastwirt den weiteren Aufenthalt seiner Gäste davon abhängig macht, daß diese eine Postkarte an „seinen" Fußballverein u n t e r zeichnen. 9

10

u 12 « 14 iß

Frühling, Frühling, Frühling, Frühling, Frühling, Frühling,

a.a.O., S. 129 f. a.a.O., S. 131. a.a.O., S. 66 m i t Nachweisen. a.a.O., S. 160. a.a.O., S. 166. a.a.O., S. 56, F N 200; S. 70, F N 262.

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„hausrechtliche" Befugnis handelt. Wie bereits i m vorangegangenen Abschnitt dargelegt, übt der Versammlungsleiter nicht etwa eine i h m übertragene staatliche Aufgabe und Befugnis aus, sondern seine Stellung und Funktion ergeben sich aus dem Wesen der Versammlung als organisierter kollektiver Handlungszusammenhang, d. h. als Augenblicksverband. Betrachtet man aber das Leiten von Versammlungen lediglich als eine spezifische Ausübungsform der Versammlungsfreiheit, so ist der Versammlungsleiter ebensowenig als „beliehener Unternehmer" anzusehen wie ein einfacher Versammlungsteilnehmer. Selbst wenn man die Ordnungsgewalt aufgrund des Versammlungsgesetzes trotz ihres nichtstaatlichen Charakters als „verliehene" Befugnis verstehen wollte, wäre sie jedenfalls keine „hausrechtliche" Befugnis. Da sich die Ausübung der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters notwendig auf den räumlichen Versammlungsbereich beschränkt, hat auch sie scheinbar jene „raumbezogene Komponente", die nach Frühling das öffentlichrechtliche und private Hausrecht kennzeichnet. Das bedeutet aber nicht, daß sie ihre Grundlage i n der Innehabung der privatrechtlichen oder einer verliehenen öffentlichrechtlichen Sachherrschaft über den räumlichen Bereich, i n dem die öffentliche Versammlung stattfindet, hätte. Handelte es sich bei der Ordnungsgewalt tatsächlich um eine hausrechtliche Befugnis — wobei von der dogmatischen Schwierigkeit, eine Sachherrschaft des Versammlungsleiters an den i m Gemeingebrauch stehenden öffentlichen Straßen und Plätzen zu begründen, ganz abgesehen w i r d —, so müßte ihr grundsätzlich jedermann unterliegen, der i n den räumlichen Versammlungsbereich gerät. Gerade dies ist aber nicht der Fall. Nach der Regelung des Versammlungsgesetzes sind vielmehr ausdrücklich nur die Versammlungsteilnehmer verpflichtet, den Ordnungsweisungen des Leiters zu folgen. Versammlungsteilnehmer kann aber nur derjenige sein, der an dem kollektiven Handlungszusammenhang, den die Versammlung darstellt, i n irgendeiner Form innerlich beteiligt ist und nicht etwa jede Person, die sich ohne Bezug auf den Versammlungszweck i m Versammlungsbereich aufhält 1 6 . Zwar statuiert das Versammlungsgesetz auch für Nichtteilnehmer die Pflicht, Störungen von Versammlungen zu unterlassen, anders als die Teilnehmer unterwirft es sie aber nicht der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters. 16 Z u m Problem der Teilnehmereigenschaft vgl. Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 13 f., der zutreffend hervorhebt, daß das Teilnehmen sich nicht auf das räumliche Anwesendsein beschränkt, sondern ein gewisses Maß an innerer B i n d u n g u n d Beteiligungswillen voraussetzt. Vgl. auch Diete!Gintzel, A n m . 1 zu § 10 VersG.

13*

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So k a n n auch die Bestimmung des § 7 Abs. 4 VersG, wonach bei öffentlichen Versammlungen i n geschlossenen Räumen der Versammlungsleiter das Hausrecht ausübt, nicht i m Sinne einer Verleihung öffentlichrechtlicher Sachherrschaft u n d damit eines öffentlichrechtlichen Hausrechts ohne oder gegen den W i l l e n des privatrechtlich Berechtigten verstanden werden. Sinn der Vorschrift ist nur, klarzustellen, daß wenn bei der A b h a l t u n g einer Versammlung i m konkreten F a l l das Hausrecht übertragen ist, seine Ausübung allein dem Versammlungsleiter zusteht und darüber unter den Beteiligten nicht anders verfügt werden darf 1 7 . Es bleibt demnach festzuhalten, daß Grundlage der Ordnungsgew a l t i n der öffentlichen Versammlung grundsätzlich nicht die Sachherrschaft über den räumlichen Versammlungsbereich ist, u n d daß die Ordnungsgewalt, obwohl ihre Ausgestaltung i m Versammlungsgesetz an dem V o r b i l d des privaten Hausrechts orientiert ist, keine hausrechtliche Befugnis darstellt.

I I I . Die Ordnungsgewalt als öffentlichrechtliche Anstaltsgewalt? I n der Ablösung von der Sachherrschaft über den räumlichen Versammlungsbereich zeigt sich ein Grundzug der Ordnungsgewalt, der für die Bestimmung ihrer Rechtsnatur v o n zentraler Bedeutung ist. Nicht der Gedanke des Besitzschutzes w i e beim Hausrecht, sondern der Gedanke des Funktionsschutzes der Versammlungstätigkeit bildet die Grundlage der Ordnungsgewalt. Dieses Element unmittelbaren Funktionsschutzes einer bestimmten Tätigkeit rückt die Ordnungsgewalt i n die Nähe v o n zwei anderen öffentlichrechtlichen M i t t e l n der Störungsabwehr, nämlich der Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden (§§ 176 ff. G V G ) 1 8 und der u m strittenen Anstaltspolizei 19, die ebenfalls unabhängig von der Sach17

So m i t Recht Füßlein, Versammlungsgesetz, S. 13, der darauf hinweist, daß i n den Ausschußberatungen i m Bundestag ausdrücklich die Auffassung abgelehnt wurde, dem Versammlungsleiter werde durch das Versammlungsgesetz ein eigenständiges Hausrecht gegen den W i l l e n des privatrechtlich Berechtigten eingeräumt. 18 I m Gegensatz zu F r ü h l i n g (a.a.O., S. 160) w i r d die Sitzungspolizei hier nicht als eine hausrechtliche Befugnis verstanden, sondern als von der Sachherrschaft unabhängige eigenständige öffentlichrechtliche Befugnis. Vgl. oben S. 19 F N 35 u n d 36. 19 A u f die stark umstrittene Frage der Zulässigkeit einer allgemeinen Anstaltspolizei soll hier nicht weiter eingegangen werden, da sie i m Z u sammenhang der hier verfolgten Untersuchung nicht unmittelbar relevant ist. Z u m Streitstand vgl. Frühling, a.a.O., S. 105 ff.

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herrschaft über einen bestimmten räumlichen Bereich sind. Aber abgesehen davon, daß diese öffentlichrechtlichen Zwangsmittel dem Schutz eindeutig staatlicher Tätigkeit dienen, das öffentliche Sichversammeln aber nicht als Ausübung einer staatlichen Aufgabe und Funktion gelten kann, unterscheidet sich die Ordnungsgewalt auch in einem anderen wesentlichen Punkt von Anstalts- und Sitzungspolizei. Während Anstalts- und Sitzungspolizei sich grundsätzlich gegen jedermann richten, der den Ablauf einer Gerichtsverhandlung oder die Tätigkeit der staatlichen Verwaltung beeinträchtigt, unterliegen der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters keineswegs sämtliche Personen, die als Störer einer öffentlichen Versammlung i n Betracht kommen, sondern nur die Versammlungsteilnehmer. Diese Begrenzung des persönlichen Geltungsbereichs der Ordnungsgewalt auf die Versammlungsteilnehmer unterscheidet diese nicht nur vom Hausrecht wie von Anstalts- und Sitzungspolizei, sie kennzeichnet zugleich auch den Verbandscharakter der organisierten Versammlung. Vor allem aber weist sie eine deutliche Parallele zu einem anderen öffentlichrechtlichen Institut auf, nämlich der Anstaltsgewalt Auch die Anstaltsgewalt ist unabhängig von der Sachherrschaft und dient unmittelbar dem Funktionsschutz der Anstaltstätigkeit, auch sie richtet sich nur gegen die Anstaltsangehörigen bzw. die Anstaltsbenutzer, d. h. solche Personen, die i n einem bestimmten inneren Verhältnis zum Anstaltszweck stehen und nicht gegen jedermann, der i n den räumlichen Anstaltsbereich gerät 20 . Ebenso wie Anstaltsangehörige und Anstaltsbenutzer der Anstaltsgewalt unmittelbar aufgrund Gesetzes oder „Unterwerfung" unterliegen, wobei diese Unterwerfung auch durch konkludentes Handeln erfolgen kann 2 1 , sind auch die Versammlungsteilnehmer bereits aufgrund des Aktes der Versammlungsteilnahme gehalten, den Ordnungsweisungen des Versammlungsleiters Folge zu leisten, ohne daß hierfür eine besondere vertragliche Vereinbarung erforderlich wäre. Es ist diese Unabhängigkeit der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters vom Willen der Versammlungsteilnehmer, die den anstaltlichen Charakter der öffentlichen ad hoc gebildeten Versammlung kennzeichnet und ihr den Anschein einer verliehenen staatlichen Befugnis gibt. 20 E i n T e i l der Lehre v e r t r i t t allerdings die Auffassung, daß die Anstaltsgewalt jeden erfasse, der i n den räumlichen Anstaltsbereich gerate. Diese Auffassung, die auf Otto Mayer, Verwaltungsrecht, Bd. I I , S. 285 f. zurückgeht, w i r d jedoch i n der neueren L i t e r a t u r abgelehnt. Vgl. Frühling, a.a.O., S. 143 m i t Nachweisen. Voraussetzung der Anstaltsgewalt ist vielmehr nach der gegenwärtig herrschenden Lehre ein durch Gesetz oder Unterwerfungsakt begründetes „besonderes Gewaltverhältnis". 2 * Frühling, a.a.O., S. 142.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Anders als i n einem privaten Verein, bei dem sich die Befugnisse der Zentralinstanzen aus einem privatrechtlichen Rechtsgeschäft ergeben, kann die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters gerade nicht aus einem bürgerlichrechtlichen Rechtsgeschäft zwischen Versammlungsteilnehmer und Veranstalter oder Leiter abgeleitet werden. So w i r d der Versammlungsleiter nach der Regelung des Versammlungsgesetzes nicht durch Wahl der Versammelten, sondern durch den Veranstalter bestellt. Nun könnte man allerdings argumentieren, die Teilnehmer schlössen mit dem Veranstalter durch i h r Erscheinen i n der Versammlung konkludent einen Vertrag, aufgrund dessen der Veranstalter berechtigt sein soll, die Versammlungsleitung zu übernehmen oder auf eine Person seines Vertrauens zu übertragen, während sich die Teilnehmer verpflichteten, den Ordnungsweisungen eines so bestellten Leiters zu folgen. Gegen eine solche Konstruktion bestehen jedoch grundsätzliche Bedenken. Einmal wäre damit die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters über minderjährige Versammlungsteilnehmer kaum zu begründen, da diesen ein solcher Vertrag keineswegs lediglich rechtliche Vorteile brächte, vor allem versagt diese Konstruktion da, wo, wie bei einer öffentlichen Spontanversammlung, ein erkennbarer Veranstalter fehlt. Zwar könnte man hier möglicherweise mit der Wahl des Leiters einer solchen Versammlung eine vertragliche Verpflichtung der zustimmenden Versammlungsteilnehmer zur Beachtung der Ordnungsweisungen des Leiters begründen, aber nicht eine Verpflichtung der ablehnenden Minderheit zur Anerkennung der Autorität des Versammlungsleiters. Trotzdem sind nach der Regelung des Versammlungsgesetzes auch bei einer Spontanversammlung sämtliche Versammlungsteilnehmer der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters in vollem Umfang unterworfen. Unverkennbar zielt das Versammlungsgesetz darauf, den Versammlungsleiter bei der Ausübung seiner Befugnisse vom Willen der Versammlungsteilnehmer unabhängig zu machen. Anders als der Verein des Privatrechts, bei dessen Gründung sich die Vereinsmitglieder zur gemeinsamen Förderung des Vereinszweckes vertraglich verpflichten und sich einer Zentralinstanz mit einer aus dem Willen der Mitglieder abgeleiteten und von ihnen kontrollierten Verbandsgewalt unterwerfen, stellt die öffentliche, ad hoc gebildete Versammlung keinen vereinbarten, körperschaftlich strukturierten, sondern einen anstaltlich geordneten Verband dar. Trotz der hier herausgearbeiteten Parallelen der Ordnungsgewalt aufgrund des Versammlungsgesetzes m i t der öffentlichrechtlichen A n staltsgewalt läßt sich jedoch nicht übersehen, daß diese Befugnisse sich

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i n einem ganz wesentlichen Punkte unterscheiden. Bei allem Streit um die Begriffe der öffentlichrechtlichen Anstalt und der Anstaltsgewalt i m einzelnen besteht doch Einhelligkeit darüber, daß es sich hier u m Organisation- bzw. Handlungsformen staatlicher Betätigung handelt. Gerade dies ist jedoch bei der öffentlichen Versammlung nicht der Fall. Weder das öffentliche Versammeln selbst noch das Leiten öffentlicher Versammlungen stellt eine staatliche Betätigung dar. Auch wenn man von der anstaltlichen Struktur der öffentlichen Versammlung und der Ähnlichkeit von Ordnungsgewalt und Anstaltsgewalt ausgeht, bedeutet dies deshalb nicht notwendig, daß die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters tatsächlich als öffentlichrechtliche Anstaltsgewalt anzusehen ist und daß die Rechtsbeziehung zwischen Versammlungsteilnehmern und Versammlungsleiter i n ähnlicher Weise und mit ähnlichen Folgerungen i m Hinblick auf die Grundrechtsbindung und die Bindung an die Grundsätze des Verwaltungshandelns als besonderes Gewaltverhältnis zu qualifizieren ist wie jenes, das zwischen Anstaltsangehörigen und den Organen einer öffentlichrechtlichen Anstalt besteht.

I V . Die Ordnungsgewalt als nichtstaatliche öffentliche Verbandsgewalt? Damit stellt sich die entscheidende Frage, ob es sich bei der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters u m eine öffentlichrechtliche Befugnis handelt, obwohl sie nichtstaatlichen Charakter besitzt, ob die öffentliche Versammlung ihrer Natur nach eine zwar nichtstaatliche aber gleichwohl öffentlichrechtliche Organisationsform darstellt. Einen solchen nichtstaatlichen, aber trotzdem öffentlichrechtlichen Charakter hat Hesse für die politischen Parteien zu begründen und aus einem besonderen Status der Öffentlichkeit abzuleiten versucht. Danach sind die Parteien zwar nicht als Körperschaften des öffentlichen Rechts i m herkömmlichen Sinne 2 2 anzusehen, sie leben aber gleichwohl nach öffentlichem Recht als dem „Recht der öffentlichen Lebensverhältnisse" 23 . Zumindest in gewissem Umfang und unter Berücksichtigung ihrer Eigenart seien deshalb auch die Parteien i m Verhältnis zu ihren Mitgliedern unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Diese Grundrechtsbindung w i r d von Hesse ausdrücklich i n Paral22

So darf auch keine Parallele zwischen der öffentlichen Versammlung u n d öffentlichrechtlichen Körperschaften der mittelbaren Staatsverwaltung, w i e beispielsweise K a m m e r n u n d Innungen, gezogen werden, deren B i l d u n g nicht frei ist u n d die prinzipiell staatlicher Aufsicht unterliegen. 2 3 Hesse, W D S t R L , Heft 17, S. 44.

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lele zur Grundrechtsbindung i m „besonderen Gewaltverhältnis" und nicht in den Rahmen der „ D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Privatrecht" gestellt 24 » 25 . I m Hintergrund dieser Auffassung steht die Erkenntnis, daß sich die Handlungs- und Verantwortungsmaßstäbe des traditionellen bürgerlichen Rechts, die i m Hinblick auf solche organisierten Gruppen konzipiert sind, die primär private Interessen verfolgen, sich nicht ohne weiteres auf die Parteien und andere Institutionen übertragen lassen, die ohne i n den Staatsapparat eingefügt zu sein, wichtige öffentliche Funktionen erfüllen. Einen bemerkenswerten verfassungstheoretischen Ansatz zur Lösung des damit aufgeworfenen Problems hat neuerdings 17. K . Preuß i n einer Studie zum Organisationsrecht kultureller Einrichtungen 2 6 entwickelt. Ausgehend von der Beobachtung, daß privatrechtlich verfaßte Organisationen (z. B. das Deutsche Studentenwerk e. V., die Deutsche Forschungsgemeinschaft e. V., der Deutsche Volkshochschul-Verband e. V. u. a. m.) i n zunehmendem Maße öffentliche Aufgaben von großer Tragweite wahrnehmen, w i r d ebenfalls die Frage gestellt, ob die privatrechtliche Organisationsform der Funktion und Bedeutung dieser Institutionen noch gerecht wird. Unter kritischer Auseinandersetzung mit dem staatsrechtlichen Theorem des Dualismus von „Staat" und „Gesellschaft" und unter Weiterführung von Gedanken Hermann Hellers versucht Preuß, einen neuartigen zugleich erweiterten und differenzierten Begriff des öffentlichen zu entwickeln. Danach stellt der Staat i m Sinne des institutionalisierten Herrschaftsapparates innerhalb der durch die Verfassung konstituierten öffentlichen Gesamtordnung nur einen Teilbereich dar, dessen spezifische Legitimation durch das Moment der demokratischen Wahl begründet ist. Darüber hinaus werden jedoch drei weitere Bereiche des öffentlichen mit jeweils verschiedenen Legitimationsprinzipien und Formen der Verantwortung unterschieden: der Bereich umfassender demokratischer Teilnahme als Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung über die politische Vermittlung und Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums, der Bereich der Teilhabe, der durch das Moment der Daseinsvorsorge i n Form massenhaft gleichförmiger Leistungen gekennzeichnet ist, und schließlich der Bereich sozialstaat24 Hesse, a.a.O., S. 32. 25 I n seinem Buch „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland", S. 71 spricht Hesse den Parteien allerdings n u r noch einen „singulären öffentlichen Status" zu, ohne an ihrem öffentlichrechtlichen Charakter ausdrücklich festzuhalten. Das Problem der Rechtsnatur der Parteien u n d der Kompetenzen ihrer Organe bleibt aber i m Hinblick auf die neueste Parteiengesetzgebung von großer A k t u a l i t ä t . 26 u. K. Preuß, Z u m staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, untersucht a m Beispiel des verfassungsrechtlichen Status kultureller Organisationen. Stuttgart 1967.

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licher Selbstverwaltung, als Eigenbereich demokratischer Selbstbestimmung über jene sozialstaatlichen Leistungen, die ihrer Eigenart nach nicht standardisierbar sind und für ihre Produktion und Vermittlung der demokratischen Teilnahme ihrer Destinatäre bedürfen 27 . Legt man einen solchen erweiterten und zugleich differenzierten Öffentlichkeitsbegriff zugrunde, so gehört die öffentliche Versammlung, ähnlich wie die Parteien, die Gewerkschaften und i n gewissem Sinne auch die Kirchen i n den Bereich demokratischer Teilnahme. Dabei ist wichtig, daß sich der spezifische öffentliche Status dieser Institutionen nicht aus dem Gedanken des Beitrags zur politischen Einheitsbildung i m Sinne einer wertverwirklichenden Integration ableitet 2 8 . Er ist vielmehr vor dem Hintergrund einer zunehmenden Politisierung vordem privater Lebensbereiche i m Sozialstaat politisch vermittelter Daseinsvorsorge i n einer interessengespaltenen sozialen Wirklichkeit zu sehen. Er folgt aus der Tatsache, daß das Grundgesetz die sozialen Konflikte in das System seiner politischen Institutionen hineingenommen hat 2 9 und den politischen Kampf und die öffentliche Auseinandersetzung um die Gestaltung und Verteilung politisch vermittelter Lebens- und Entfaltungschancen i n besonderer Weise legitimiert 3 0 . Nicht die Orientierung an einem vorgegebenen „Gemeinwohl" 3 1 , sondern die i n den A r t i k e l n 9 und 21 GG sowie die i m Sozialstaats- und Demokratiegebot des A r t . 21 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommende Intention der Ausweitung demokratischer Teilnahme bildet die Grundlage für den öffentlichen Status der betreffenden Institutionen. Die Auffassung vom öffentlichen Status jener organisierten Gruppen und Einrichtungen, die die demokratische Teilnahme der Bürger am Prozeß der politischen Gestaltung ihrer Lebensgrundlagen vermitteln, berührt sich unmittelbar mit dem hier entwickelten Verständnis der Versammlungsfreiheit als eines demokratischen Kampf- und Organisationsgrundrechts i n einer pluralistischen Gruppengesellschaft. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß ihr eine andere verfassungstheoretische Akzentsetzung zugrunde liegt. Während Preuß die Bereiche 27 Vgl. Preuß, a.a.O., S. 161 ff. 28 So aber Smend, Bürger u n d Bourgeois, i n : Staatsrechtliche A b h a n d lungen, S. 309—325. 29 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 7. 30 Preuß, a.a.O., S. 169. 31 D a m i t w i r d die i n der Lehre (vgl. etwa Leibholz, Staat u n d Verbände, W D S t R L , Heft 24, S. 5—33, S. 21 f.) immer wieder betonte Unterscheidung zwischen „gemeinwohlbestimmten" Parteien u n d „interessenbestimmten" Verbänden bewußt abgelehnt, da sie den Gegensatz von Staat und Gesellschaft i m Grunde n u r auf anderer Ebene reproduziert. Das bedeutet allerdings nicht, daß damit die Notwendigkeit einer differenzierenden, funktionsund interessenspezifischen Betrachtungsweise f ü r die Parteien u n d einzelne Verbandstypen geleugnet würde. Vgl. dazu Ehmke, Diskussionsbeitrag i n W D S t R L , Heft 24, S. 94 ff.

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nichtstaatlicher Öffentlichkeit zusammen m i t dem Bereich der staatlichen Öffentlichkeit dem Bereich des Privaten gegenüberstellt, w i r d hier das Spannungsverhältnis der Bereiche des Privaten wie der nichtstaatlichen Öffentlichkeit gegenüber dem institutionalisierten Staatsapparat hervorgehoben. I n ihrer Konsequenz läuft die von Preuß vertretene Auffassung auf eine prinzipielle Scheidung zwischen einer „öffentlichen", nur politisch funktional begründeten Versammlungsfreiheit und einer nur „privaten" Versammlungsfreiheit hinaus. Wenn demgegenüber i n dieser Arbeit bewußt an einem einheitlichen, wenn auch differenzierten Versammlungsbegriff festgehalten wird, der die Verfolgung privater wie öffentlicher Zwecke gleichermaßen umfaßt, so wendet sich dies gegen eine solche Gefahr der Auseinanderreißung des Versammlungsgrundrechts in zwei heterogene Bereiche, vor allem gegen die radikale Ablösung der öffentlichen Funktion dieses Grundrechts von der Basis individueller, die konkreten Ordnungen transzendierender und sie immer wieder i n Frage stellender Freiheit. Die hier geltend gemachten Bedenken gegenüber der Konzeption von Preuß richten sich nicht dagegen, öffentlichen Versammlungen, insbesondere soweit sie öffentliche Angelegenheiten verfolgen, einen spezifischen Status der Öffentlichkeit i m Bereich demokratischer Teilnahme zuzusprechen und hieraus auch Konsequenzen für die Handlungs- und Verantwortungsmaßstäbe der Versammlungsbeteiligten zu ziehen, sondern dagegen, diesen öffentlichen Status vom Bereich des Individuell-Privaten gänzlich zu trennen. Ganz ähnliche Bedenken bestehen übrigens auch dagegen, den Status öffentlicher Versammlungen dem Bereich des „government" zuzurechnen 32 . Sicherlich steht hinter den Kategorien von „ c i v i l society" und „government" eine andere staatstheoretische Grundkonzeption als hinter denen von „Staat" und „Gesellschaft". Dennoch ist nicht zu übersehen, daß eine Übertragung des Begriffs des „government" i n die deutsche Staatstheorie nur zu leicht dahin interpretiert werden könnte, daß sie nichts weiter impliziert als eine vom „Staat" i m traditionellen Sinne her verstandene Ausweitung des Bereiches politischer Öffentlichkeit. Der Bereich institutioneller Staatlichkeit würde dadurch nur, gleichsam i m Wege oligopolistischer Kooptation, um einen Kranz öffentlicher Institutionen wie Parteien, öffentlicher Versammlungen und bestimmter Verbände erweitert** 3. Der öffentliche Status dieser 32 v g l . die i n diese Richtung zielenden Gedankengänge bei Ehmke, „Staat" u n d „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, i n : Festgabe f ü r R. Smend, 1962, S. 23 ff., S. 47 f. 33 A u f die Gefahr, durch die Subsumption des Prozesses der MeinungFu n d Willensbildung unter die Kategorie des „government" erneut ein p o l i tisches Zentrum zu bilden, das einer unpolitisch verstandenen Gesellschaft gegenübergestellt werden könnte, weist Preuß, a.a.O., S. 154 m i t Recht hin.

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Institutionen bliebe unter diesen Umständen immer am öffentlichen Status des „Staates" und der für diesen Bereich geltenden Handlungsund Verantwortungsmaßstäbe orientiert. Für die Rechtsnatur der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes und die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters ergibt sich aus diesen Überlegungen folgende Konsequenz: auch wenn man öffentlichen Versammlungen einen besonderen öffentlichen Status im Bereich demokratischer Teilnahme zuspricht, so sind doch die für sie geltenden Organisationsnormen und damit auch die Befugnisse des Versammlungsleiters nicht notwendig dem öffentlichen Recht zuzurechnen. Eine dogmatische Einordnung der Ordnungsgewalt als öffentlichrechtliche Befugnis w i r d vielmehr deshalb abgelehnt, weil die Kategorie des öffentlichen Rechts inhaltlich zu eng am Recht des organisierten Staatsapparates orientiert bleibt. Diese Ablehnung einer öffentlichrechtlichen Konstruktion richtet sich nicht dagegen, für den Bereich nichtstaatlicher Öffentlichkeit, soweit der Versammlungsleiter i n ihm agiert, Handlungs- und Verantwortungskriterien zu entwickeln, die sich von denen des Privatrechts zumindest teilweise unterscheiden; sie richtet sich jedoch dagegen, das traditionelle Verständnis des öffentlichen Rechts zum Ausgangspunkt einer solchen Überlegung zu machen. Der hier vertretenen Auffassung, daß die Grundrechte, auch soweit sie die Organisation der Bürger zu öffentlich politischer Wirksamkeit garantieren, primär vom Gedanken der Gewährleistung der offenen Vielfalt des Gemeinwesens her zu interpretieren sind, entspricht es vielmehr, die Rechtsnatur der öffentlichen Versammlung und die Stellung ihres Leiters vom Privatrecht her zu begreifen. Damit ist nicht gesagt, daß die Organisationsnormen öffentlicher Versammlungen schlechthin als Privatrecht i m traditionellen Sinne anzusehen wären; sie werden jedoch auch nicht als ein Recht sui generis begriffen, zumindest nicht i n dem Sinne, daß sie zu einem eigenständigen Rechtsbereich nichtstaatlicher Öffentlichkeit gerechnet würden, für den eine vom Privatrecht gänzlich abgelöste Dogmatik und Systematik zu entwickeln wäre 3 4 . Hinter der hier verfolgten Betrachtungsweise steht der Gedanke, die Rechtsordnung insgesamt als eine Einheit zu betrachten. Der Bereich des Privatrechts w i r d dabei nicht einfach als der Bereich individueller Freiheit und W i l l k ü r dem des öffentlichen Rechts als dem Bereich des Zwangs und der Herrschaft diametral gegenübergestellt. Das Privatrecht w i r d vielmehr i m Sinne eines Gemeinrechts begriffen, auf dessen 34 Es w i r d also nicht eine Dreiteilung der Rechtsordnung vorgenommen u n d zwischen den Polen von Privatrecht u n d öffentlichem Recht ein eigener Rechtsbereich postuliert.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Basis sich für einzelne Handlungsbereiche auch unterschiedliche Handlungs- und Verantwortungsmaßstäbe entwickeln lassen 35 . Das Maß der jeweiligen Differenzierung und Besonderheit mag dabei für einzelne Bereiche verschieden sein und so weit gehen, daß man beispielsweise von einem spezifischen Parteienrecht, Gewerkschaftsrecht und auch einem Recht öffentlicher Versammlungen als dem Recht bestimmter nichtstaatlicher öffentlicher Bereiche sprechen könnte. Das bedeutet jedoch keine radikale Ablösung des oder der Bereiche nichtstaatlicher Öffentlichkeit von einer gemeinrechtlichen Grundlage und deren Dogmatik und Systematik. Trotz der dogmatischen Ähnlichkeiten mit dem Institut der öffentlichrechtlichen Anstaltsgewalt und trotz ihrer Regelung in einem traditionell rein öffentlichrechtlichen Gesetz kann deshalb die Ordnungsgewalt des Leiters einer öffentlichen Versammlung nicht als öffentlichrechtliche Befugnis angesehen werden. Die Parallele zur Anstaltsgew a l t bleibt jedoch bedeutsam; sie verweist darauf, daß es sich bei der Ordnungsgewalt i n gewissem Sinne u m eine Selbstverwaltungsbefugnis handelt. Diese Selbstverwaltungsbefugnis, die als soziale Verbandsgewalt anstaltlicher Prägung von der Rechtsordnung anerkannt und legitimiert wird, darf allerdings nicht i m Sinne der mittelbaren Staatsverwaltung verstanden werden. Sie ist vielmehr als eine nichtstaatliche Selbstverwaltungsbefugnis anzusehen, deren spezifische Legitimation sich aus der verfassungsmäßigen Gewährleistung kollektiven organisierten Gruppenhandelns und der demokratischen Teilnahme am Prozeß der politischen Vermittlung und Verteilung von Freiheitsund Lebenschancen durch das Versammlungsgrundrecht ergibt 3 6 . Auch als öffentliche Verbandsgewalt und Selbstverwaltungsbefugnis i n dem hier entwickelten Sinne bleibt jedoch die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters von einem als Gemeinrecht verstandenen Privatrecht her zu interpretieren. Damit w i r d zugleich die einer öffentlich35 Vgl. dazu Bullinger, öffentliches Recht u n d Privatrecht, S. 81 ff. 36 Der hier gemeinte Selbstverwaltungsbegriff darf insofern weder i m Sinne der Selbstverwaltung als Instrument mittelbarer Staatsverwaltung (so vor allem Forsthoff, Lehrbuch 9. Aufl., S. 437 ff.) verstanden werden noch einfach i m Sinne einer Wiederbelebung der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen staatsgerichteten Selbstverwaltungsgarantie eigenständiger Lebensbereiche (so Salzwedel, Staatsaufsicht i n der Verwaltung, W D S t R L , Heft 22, S. 233 ff.). Z w a r ist dem hier i m Zusammenhang m i t dem Versammlungsgrundrecht zugrunde gelegten Verständnis von „Selbstverwaltung" durchaus ein Moment der Spannung u n d Opposition gegenüber dem i n s t i t u tionalisierten Staatsapparat eigen; das soziale Substrat, das hier „ v e r w a l t e t " w i r d , ist aber weitgehend k e i n vorpolitisches mehr, sondern w i r d durch die Partizipation am Prozeß politischer Gestaltung, V e r m i t t l u n g u n d Verteilung von Lebens- u n d Freiheitschancen bestimmt. Die „Selbstverwaltung" i n der öffentlichen Versammlung steht insofern i n einer Parallele zu der „Selbstv e r w a l t u n g " der Parteien oder der Gewerkschaften.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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rechtlichen Konstruktion der Ordnungsgewalt implizite Vermutung einer unmittelbaren Grundrechtsbindung des Versammlungsleiters abgelehnt, es w i r d vielmehr erforderlich, i n einer sach- und problemorientierten Untersuchung festzustellen, i n welchem Umfang und welchen Fällen eine Grundrechtsbindung des Versammlungsleiters überhaupt sinnvoll und erforderlich ist und welche Rolle der öffentliche Charakter seiner Funktion hierbei spielt.

Zweites

Kapitel

Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt in der öffentlichen Versammlung Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich, daß es nicht ausreichen kann, die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters dogmatisch dem öffentlichen oder dem bürgerlichen Recht i m traditionellen Sinne zuzuordnen, um ihren Inhalt und ihre Grenzen zu bestimmen. Auch wenn man die Ordnungsgewalt als eine grundsätzlich vom Privatrecht als Gemeinrecht her zu verstehende Befugnis begreift, bleibt doch zu berücksichtigen, daß sie i n erheblichem Umfang i n den Bereich nichtstaatlicher Öffentlichkeit hineinragt und insofern möglicherweise anderen Begrenzungen und Bindungen unterliegt als eine rein privatrechtliche Befugnis i m traditionellen Sinne. Aus diesem Grunde ist eine primär dogmatisch-systematische A b leitung des Inhalts und der Grenzen der Ordnungsgewalt nicht sinnvoll, es empfiehlt sich vielmehr, einen anderen Weg einzuschlagen, der stärker an der sozialen Eigenart der Versammlung und der Funktion des Versammlungsgrundrechts orientiert ist und eine interessenspezifische Differenzierung ermöglicht. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Überlegung, daß die Ordnungsgewalt des Leiters einer öffentlichen Versammlung als von der Rechtsordnung legitimierte Verbandsgewalt und „Selbstverwaltungsbefugnis" i n einem nicht.staatlichen Teilverband m i t — zumindest teilweise — öffentlicher Funktion in doppelter Weise begrenzt ist: einmal durch die Grenzen, die der Tätigkeit von Teilverbänden in einem demokratischen Gemeinwesen insgesamt gezogen sind, zum anderen durch die Begrenzung, die den Befugnissen der Zentralinstanz durch die Rechte der übrigen Verbandsangehörigen auferlegt ist. Beide Arten der Begrenzung stehen dabei allerdings, wie zu zeigen sein wird, i n einem inneren Zusammenhang.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

I. Die Prinzipien der Einheit und der Offenheit des Gemeinwesens als generelle Grenzen freier Versammlungstätigkeit Auch i n einem demokratischen Staat findet die Freiheit der Bildung und Betätigimg von Teilverbänden und damit auch die Befugnis der Organe solcher Teilverbände notwendig ihre Grenze am Erfordernis der Einheit des Gesamtverbandes. Ebenso wie die staatlichen Organe die Offenheit des Gemeinwesens nicht zerstören dürfen und gerade auch aus diesem Grunde besonders streng an die Grundrechte gebunden sind, die diese Offenheit gewährleisten, darf umgekehrt die durch die Grundrechte garantierte Freiheit der Gruppenbildung und Gruppenbetätigung die Einheit des Gemeinwesens nicht sprengen und muß den Funktionsbereich der verfassungsmäßig bestellten Organe respektieren. Der Gesichtspunkt der notwendigen Einheit des Gemeinwesens bildet deshalb nicht nur die Grundlage der Beschränkung des Versammlungsrechts auf friedliche M i t t e l und des Verbots bewaffneter Versammlungen 1 . Es folgt daraus allgemein das Verbot für die organisierten Teilverbände und ihre Organe, sich selbst die Befugnisse staatlicher Organe zuzulegen und m i t dem Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit i n den institutionalisierten Prozeß der Staatswillensbildung einzugreifen, genauer gesagt, ihn zu ignorieren und sich an seine Stelle zu setzen2. Auch i n einem demokratischen Gemeinwesen, wo alle Staatsgewalt vom souveränen Volke ausgeht, muß eine klare Unterscheidung zwischen dem institutionalisierten Willens- und Entscheidungsbildungsprozeß der verfassungsmäßig bestellten Organe des Gesamtverbandes und der Willens- und Entscheidungsbildung in den organisierten Teilverbänden getroffen werden. Sicherlich ist nicht zu übersehen, daß der besondere Rang gerade des politischen Versammlungsrechts vom Gedanken der Volkssouveränität mitbestimmt ist, daß sich i n öffentlichen Volksversammlungen ein Stück unmittelbarer Demokratie manifestiert und i n der Konstituierung einer solchen Versammlung ein Element der Schaffung einer originären Gewalt lebendig ist. Gleichwohl kann den Handlungen und Beschlüssen solcher Versammlungen keine unmittelbare Verbindlichkeit für die staatlichen Organe zukommen. Das politische Versammlungsrecht ist insofern zwar ein Recht zur Einwirkung auf das „government", es gibt den Bürgern die Möglichkeit, durch Versamm1 B i l l i g t e m a n den organisierten Teilverbänden die Möglichkeit zu, ihre Ziele m i t den M i t t e l n a k t i v e r u n d aggressiver Gewalt durchzusetzen, so zerfiele der Gesamtverband notwendig i n eine Anarchie v o n Gruppenfehden. Z u r Problematik „passiver" Gewaltanwendung durch Versammlungen vgl. oben S. 181 ff. * Wo dies dennoch geschieht, ist der Rahmen der Verfassung gesprengt; es handelt sich dann eindeutig u m revolutionäre Akte, w i e z.B. bei den Clubs u n d Volksgesellschaften der französischen Revolution.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

207

lungen i n friedlicher Weise legitimen Druck auf Parlament, Regierung und Verwaltung auszuüben und sie zu beeinflussen, es gibt ihnen aber kein Recht, sich an die Stelle des „government" zu setzen. Trotzdem darf das unmittelbar demokratische Element des politischen Versammlungsrechts nicht völlig ignoriert werden 3 . Gerade i n einer repräsentativen Demokratie gewinnt es einen durchaus positiven Akzent, denn es stellt i n gewissem Umfang ein Korrektiv zur Mediatisierung der Bürger durch ihre verfassungsmäßig gewählten Vertreter und die Parteien dar. Es ermöglicht, ähnlich wie die freie Presse, über Wahlen und Abstimmungen hinaus den politisch Interessierten m i t Nachdruck Einfluß und Kontrolle auszuüben, gegebenenfalls auch dort, wo Parteien und Parlament zu versagen drohen, ohne deshalb die verfassungsmäßig bestellten und demokratisch legitimierten staatlichen Organe grundsätzlich i n der Freiheit und Verantwortung für ihre Entscheidungen anzutasten. Geht man davon aus, daß auch i n einem demokratischen Gemeinwesen die Teilverbände i m Interesse der Einheit des Gesamtverbandes sich keine Kompetenzen staatlicher Organe zulegen oder in deren Handlungsbereich verbindlich eingreifen dürfen, so w i r d deutlich, daß auch umgekehrt grundsätzliche Bedenken dagegen bestehen, daß der Staat den Teilverbänden und deren Organen typischerweise staatliche Befugnisse verleiht. Dies gilt in besonderem Maße für die Ausstattung m i t Exekutivbefugnissen, die die Möglichkeit unmittelbarer zwangsweiser Durchsetzung eröffnen. Die Einheit des Gesamtverbandes w i r d in schwerwiegender Weise tangiert, wenn den Organen eines nicht i n die staatliche Organisation eingegliederten Teilverbandes unmittelbare Gewaltbefugnisse gegen seine Mitglieder oder gar gegen Außenstehende zur Durchsetzung seiner partikularen Verbandszwecke zuerkannt werden 4 . Die Ausstattung m i t derartigen staatlichen Zwangs8 B e i aller rechtlichen u n d politischen Bändigung spontaner Volksbewegungen i n einem repräsentativ verfaßten demokratischen Gemeinwesen schwingen doch gerade i n der politischen Versammlungsfreiheit die Gedanken der unmittelbaren Demokratie, der Volkssouveränität, des W i d e r stands- u n d Revolutionsrechts des Volkes m i t . Diese Züge, die dem V e r sammlungsgrundrecht aus seiner historischen Entwicklung anhaften, lassen sich zwar, w i e das Beispiel des Widerstands- u n d Revolutionsrechts zeigt, i n einer positiven Rechtsordnung nicht w i r k l i c h erfassen (Zur Problematik der Positivierung des Widerstandsrechts i n A r t . 20 Abs. 4 G G ; vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 3. Aufl., S. 276 f.); i m verfassungstheoretischen u n d verfassungspolitischen Verständnis der Versammlungsfreiheit können sie jedoch nicht unbeachtet bleiben. Sie sind mitbestimmend f ü r den besonderen Rang w i e f ü r die besonderen Gefahren dieses Grundrechts, die erst i n extremen Situationen v o l l sichtbar werden.

* Die Verleihung staatlicher Exekutivbefugnisse an nichtstaatliche T e i l verbände bringt deshalb fast notwendig die Folge ihrer Eingliederung i n den Bereich organisierter Staatlichkeit m i t sich, zugleich m i t einer entsprechenden Staatsaufsicht u n d Ausrichtung auf die Staatszwecke. Eine solche Integration

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

mittein mag da gerechtfertigt sein, wo der Staat aus Gründen der Praktikabilität privaten Rechtsträgern staatliche Aufgaben überträgt, die er i m Grunde selbst wahrnehmen könnte 5 , sie w i r d aber dort i n hohem Maße bedenklich, wo sie zur Durchsetzung einer eindeutig nichtstaatlichen Aufgabe und Funktion, wie sie das Leiten öffentlicher Versammlungen darstellt, die von staatlichen Organen nicht wahrgenommen werden könnte, erfolgt. Insofern hat das Versammlungsgesetz m i t Recht davon abgesehen, den Versammlungsleiter m i t unmittelbarer quasi polizeilicher Zwangsgewalt auszustatten. Aber nicht nur das Erfordernis der Einheit, sondern auch der Grundsatz der Offenheit des Gemeinwesens setzt der Ausübung des Versammlungsgrundrechts und damit auch der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters Grenzen. Auch wenn man den Akzent der Interpretation der Versammlungsfreiheit auf die Gewährleistung der offenen Vielfalt legt und deshalb grundsätzlich allen Gruppen und Auffassungen die Möglichkeit der Teilnahme am Prozeß der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung einräumt, darf die Ausübung dieses Rechts doch nicht zur Vernichtung oder schwerwiegenden Gefährdung der Offenheit des Gemeinwesens selbst führen. Der durchaus legitime Kampf der Gruppen um Macht und Einfluß darf nicht nur die Einheit des Gemeinwesens nicht sprengen, er darf auch nicht bis zur Negation der Existenzberechtigung anderer Gruppen und Auffassungen gehen. So findet die Freiheit des Veranstalters und Leiters, Zweck und Ziel der Versammlung zu bestimmen, notwendig dort ihre Grenze, wo sie darauf gerichtet ist, die Spielregeln des offenen demokratischen Prozesses überhaupt zu zerstören. Ein solches Vorgehen muß als Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung angesehen werden. Soll die Offenheit des Gemeinwesens i n die Zukunft hinein gesichert werden, so muß die Möglichkeit bestehen, gegen einen solchen Grundrechtsmißbrauch vorzugehen. Vor allem unter diesem Gesichtspunkt ist die Bestimmung des Art. 18 GG zu sehen, wonach das Grundrecht der Versammlungsfreiheit durch einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts v e r w i r k t werden kann, wenn es zum Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung eingesetzt wird. Das Versammlungsgesetz zieht des freien Vereins- u n d Versammlungsrechts i n die staatliche Organisation würde aber diese grundrechtlich gesicherten k o l l e k t i v e n Handlungsformen i n i h r e m Wesen treffen. « Es ist grundsätzlich die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben u n d F u n k tionen, die die Rechtsflgur des beliehenen Unternehmers kennzeichnet. Dies verkennt Zeidler, W D S t R L , Heft 19, S. 211, F N 15, w e n n er die Rechtsfigur des beliehenen Unternehmers nicht unter dem Gesichtspunkt der wahrgenommenen Funktion, sondern allein unter dem Gesichtspunkt der Übertragung obrigkeitlicher M i t t e l verstehen w i l l .

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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hieraus nur die Konsequenz, wenn es jenen das Recht zur Veranstaltung und Leitung öffentlicher Versammlungen versagt, die dieses Grundrecht verwirkt haben oder durch öffentliche Versammlungen die Ziele einer für verfassungswidrig erklärten Partei oder deren Ersatzorganisation fördern. Der Grundsatz der Offenheit des Gemeinwesens bildet jedoch nicht nur eine Grenze für die zulässigen Zielsetzungen bei der Ausübung des Versammlungsgrundrechts, er ist auch bei der Gestaltung der inneren Ordnung von Versammlungen zu berücksichtigen. Gerade wenn man die Versammlungsfreiheit in ihrer funktionellen Bedeutung für die Offenheit des sozialen und politischen Prozesses sieht, stellt sich die Frage, wieweit die innere Ordnung von Versammlungen selbst diesem Grundsatz entsprechen muß, insbesondere, ob die Organe nichtstaatlicher Teilverbände m i t öffentlicher Funktion i m Bereich demokratischer Teilnahme i n ähnlicher Weise an die Grundrechte gebunden sind wie die staatlichen Organe des Gesamtverbandes und inwieweit organisierte Gruppen, die am öffentlich politischen Willensbildungsprozeß teilnehmen, intern demokratisch organisiert sein müssen. Hier berührt sich das Problem der generellen Grenzen, die das Prinzip der Offenheit des Gemeinwesens der Versammlungsfreiheit setzt, unmittelbar mit dem Problem der Begrenzung der Ordnungsgewalt durch die Rechte der Versammlungsteilnehmer.

II. Die Rechte der Versammlungsteilnehmer als Grenzen der Ordnungsgewalt Es liegt in der Eigenart der Grundrechte, die wie die Vereins-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit nicht nur individuelles, sondern auch organisiertes kollektives Gruppenhandeln schützen, daß die Betätigungsfreiheit der einzelnen Gruppenmitglieder innerhalb des grundrechtlich gewährleisteten Handlungszusammenhangs nicht unbeschränkt sein kann, sondern ihre Grenze an der ebenfalls garantierten Freiheit der Mitbeteiligten findet 6 . Sieht man in den Befugnissen des Leiters einer öffentlichen Versammlung keine verliehene hoheitliche Gewalt, sondern leitet man die Stellung des Versammlungsleiters aus dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht ab, d. h. betrachtet man das Leiten öffentlicher Versammlungen ebenso als eine Ausübungsform der Versammlungsfreiheit wie das Teilnehmen an derartigen Versammlungen, so w i r d deutlich, daß i m Spannungsverhältnis zwischen Leiter und Teilnehmer auf beiden Seiten grundrechtlich geschützte Interessenpositionen miteinander i n Konflikt stehen. « Füßlein, 14 Qui lisch

DVB1. 1954, S. 553.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Die entscheidende Frage ist dabei, nach welchen Kriterien dieser grundrechtsimmanente Konflikt zu lösen ist und inwieweit er überhaupt rechtlicher Lösung zugänglich ist. Diese Kriterien sollen nun aufgrund der vorangegangenen Überlegungen zur Funktion des Versammlungsgrundrechts i m demokratischen Staat und zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters näher bestimmt werden. 1. Kriterien für die Lösung des grundrechtsimmanenten Konflikts in der Versammlung

Eines der auffälligsten Charakteristika der Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes ist die außerordentlich starke Stellung, die dem Veranstalter und Leiter öffentlicher Versammlungen zugesprochen wird. Diese starke, prinzipiell vom Willen der Versammlungsteilnehmer unabhängige Stellung rechtfertigt sich nicht allein und nicht einmal primär aus der scheinbar quasipolizeilichen Aufgabe, für Ordnung i n der Versammlung zu sorgen, i n ihr spiegelt sich vielmehr vor allem die Tatsache, daß das politische und soziale Schwergewicht der Versammlungsfreiheit i n der Veranstalter- und Leiterfreiheit liegt. Die Privilegierung von Veranstalter und Leiter läßt sich verfassungstheoretisch zumindest grundsätzlich legitimieren, denn Veranstalter und Leiter sind es, die die für die Offenheit des politischen und sozialen Prozesses so bedeutsame Versammlungsbildung und -betätigung i n Gang setzen und regelmäßig auch die für die Ausübung des Versammlungsgrundrechts der Teilnehmer erforderlichen praktischen und rechtlichen Vorkehrungen treffen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es gerechtfertigt, wenn das Versammlungsgesetz versucht, den bestimmenden Einfluß von Veranstalter und Leiter auf Zweck und Ablauf öffentlicher Versammlungen auch rechtlich zu sichern. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Veranstalter und Leiter keinerlei Pflicht trifft, die ebenfalls grundrechtlich geschützten Betätigungsinteressen der Versammlungsteilnehmer bei der Ausübung der Ordnungs- und Leitungsgewalt zu respektieren. Auch wenn man davon ausgeht, daß die Freiheitsrechte und damit auch die Versammlungsfreiheit primär vom Gedanken der Gewährleistung der Offenheit des Gemeinwesens her zu interpretieren sind, daß zu ihrem Wesen ein gewisses Maß an W i l l k ü r und Beliebigkeit gehört und dies auch bei der Interpretation der Befugnisse des Versammlungsleiters, die eine Ausübungsform des Versammlungsgrundrechts darstellen, berücksichtigt werden muß, bleibt doch nicht zu übersehen, daß gerade das Prinzip der Offenheit des Gemeinwesens der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters Grenzen setzt. Dies gilt nicht nur i m Hinblick auf die zulässigen Zielsetzungen bei der Ausübung des Versammlungsgrundrechts (Art. 18 GG), sondern ist auch für die innere Ordnung von

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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Versammlungen, d. h. die Lösung des grundrechtsimmanenten Konflikts der Rechte von Versammlungsleitung und Versammlungsteilnehmern bedeutsam. Gerade wenn man die funktionelle Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Offenheit des sozialen und politischen Prozesses i n einem demokratischen Gemeinwesen hervorhebt, stellt sich die Frage, inwieweit die innere Ordnung von Versammlungen selbst diesem Grundsatz entsprechen muß. Dies gilt vor allem für die öffentliche Versammlung. Nach der hier entwickelten Auffassung handelt es sich bei der Ordnungsgewalt aufgrund des Versammlungsgesetzes um von der Rechtsordnung anerkannte und legitimierte nichtstaatliche Verbandsgewalt, die wesentlich i n den Bereich materieller Öffentlichkeit i m Sinne demokratischer Teilnahme hineinreicht und insofern Züge einer „demokratischen Selbstverwaltungsbefugnis" trägt. Damit stellt sich die prinzipielle Frage, ob die Organe nichtstaatlicher Teilverbände mit öffentlicher Funktion i m Bereich demokratischer Teilnahme i n ähnlicher Weise an die Grundrechte, die die Offenheit des politischen und sozialen Prozesses gewährleisten, gebunden sein müssen wie die Organe des institutionalisierten Staatsapparates. Diese Frage läßt sich nicht allein aufgrund einer dogmatisch-systematischen Bestimmung der Rechtsnatur der Organe nichtstaatlicher Teilverbände beantworten. Sie verlangt vielmehr eine differenzierende, die soziale Eigenart und Funktion der jeweiligen organisierten Gruppen berücksichtigende Betrachtungsweise. Auszugehen ist dabei von dem Grundsatz, daß eine strenge Grundrechtsbindung derjenigen, die selbst ein Grundrecht ausüben, das Ausdruck der offenen sozialen und politischen Vielfalt des Gemeinwesens ist, nicht ohne weiteres erforderlich ist. Auch für die Organe nichtstaatlicher Teilverbände, die i m Bereich demokratischer Teilnahme tätig werden, w i r d man eine unmittelbare, „schneidige" Bindung an die Grundrechte als Handlungsmaßstab ablehnen müssen. Die Gefahren einer einseitigen Orientierung der inneren Ordnung sozialer Gruppen am B i l d des „Staates" und seiner Ordnungsprinzipien. und damit die Gefahren einer Unitarisierung und Reglementierung der sozialen und politischen Vielfalt sind offensichtlich 7 . Damit werden zwar die Grundrechte für die innere Ordnung solcher nichtstaatlichen Teilverbände nicht irrelevant, ihre Bedeutung dürfte sich jedoch auf solche Fälle beschränken, deren Überhandnehmen die Offenheit der Ordnung des Gemeinwesens, insbesondere des demokratischen Prozesses selbst, schwerwiegend gefährden könnte. Für die Beurteilung, wann ein solcher Mißbrauchsfall vorliegt, ist es nun allerdings bedeutsam, ob es sich u m einen nichtstaatlichen Teilverband handelt, der primär private Zwecke verfolgt, oder u m eine organisierte Gruppe, die i m Bereich demokratischer Teilnahme an der 7

14*

Vgl. oben S. 166 f.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

öffentlichen Auseinandersetzung über die politische Gestaltung des Gemeinwesens tätig wird. Da die Gefahren eines die Offenheit des demokratischen Prozesses tangierenden Mißbrauchs verbandsinterner Ordnungsgewalt i m Bereich demokratischer Teilnahme gravierender sind als i m rein privaten Bereich, liegt der Gedanke nahe, hier insgesamt einen strengeren Maßstab anzulegen und die Rechte der einfachen Gruppenmitglieder i n besonderer Weise zu schützen. Das heißt jedoch nicht, daß die Frage der Grundrechtsbindung für den gesamten Bereich demokratischer Teilnahme einheitlich zu beantworten wäre. Man w i r d die Mißbrauchsgrenze bei einem so stark pluralistischen, d.h. von vielfältigen Gruppen ausgeübten Recht wie der Versammlungsfreiheit, bei der ohnehin nur ephemere Verbandsstrukturen entstehen, sehr viel weiter zu ziehen haben als etwa bei der Koalitionsund Parteienfreiheit, die i n viel stärkerem Maße zu verfestigten Verbandsstrukturen führen und in denen die Teilnahmerechte der M i t glieder gegenüber der Zentralinstanz von ungleich größerem Gewicht sind. Das Problem der Grundrechtsbindung in nichtstaatlichen Teilverbänden m i t öffentlicher Funktion ist dabei i n unmittelbarem Zusammenhang m i t der Frage der internen demokratischen Organisation solcher Institutionen zu sehen. Die Frage, ob der Versammlungsleiter an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer gebunden ist, ob diese einen Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG), auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) und Respektierung ihres Versammlungsrechts (Art. 8 GG) besitzen 8 , steht i n einer deutlichen Parallele zu der Frage, ob öffentliche Versammlungen demokratisch organisiert sein müssen, d.h. ob und i n welchem Umfang den Versammelten Teilnahmerechte zukommen und ob und i n welchem Umfang der Leiter einer öffentlichen Versammlung gehalten ist, demokratische Spielregeln einer öffentlichen Diskussion zu beachten. Es ist nicht zu übersehen, daß die Offenheit des demokratischen Prozesses auch dadurch gefährdet werden kann, daß er unter den bestimmenden Einfluß von Gruppenmeinungen gerät, die ihrerseits ohne die Beachtung demokratischer Verfahrensweisen gebildet sind. Eben diese Gefahr ist es, die den Verfassungsgesetzgeber veranlaßt hat, von den Parteien eine demokratischen Grundsätzen entsprechende innere Ordnung zu verlangen (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG). Nicht zu Unrecht hat deshalb auch das Bundesverfassungsgericht bei den Parteiverbotsentscheidungen einen inneren Zusammenhang zwischen antidemokratischer Zielsetzung und undemokratischer interner Parteiorganisation angenommen 9 . 8

Andere Grundrechte werden i n diesem Zusammenhang k a u m relevant. » Vgl. Leibholz-Rinck, Grundgesetz, A n m . 15 zu A r t . 21 G G ; BVerfGE 2,14.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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Nun ist allerdings die Gefahr, daß durch undemokratisch organisierte öffentliche Versammlungen eine schwerwiegende Gefährdung der Offenheit des demokratischen Prozesses eintritt, deutlich geringer als bei den Parteien. Trotz der in A r t i k e l 21 Abs. 1 Satz 2 GG statuierten generellen Gründungsfreiheit kann das Grundrecht der Parteienfreiheit aus praktischen wie aus rechtlichen Gründen nur von einer vergleichsweise kleinen Zahl von Gruppen wahrgenommen werden. Dagegen steht die Möglichkeit, durch öffentliche Versammlungen auf den politischen Prozeß einzuwirken, einer nahezu unbegrenzten Vielzahl bereits bestehender oder ad hoc gebildeter Gruppen offen. I m Rahmen der Versammlungsfreiheit bietet allein die Pluralität und Partialität der Versammlungszwecke, ebenso wie die Konkurrenz einer großen Vielfalt von Gruppierungen regelmäßig eine hinlängliche Gewähr dafür, daß durch Versammlungen, deren Aufbau und Willensbildung demokratischen Grundsätzen widerspricht, keine schwerwiegende Gefahr für die Offenheit des demokratischen Prozesse heraufbeschworen wird. Zugleich bewirkt die Möglichkeit, dem Ausschluß von demokratischer M i t w i r k u n g i n einer Versammlung durch Besuch oder Veranstaltung von Gegenversammlungen zu begegnen, i n erheblichem Umfang eine Selbstkorrektur i m Sinne demokratischer Verfahrensweisen. Bei den Parteien ist die entsprechende Möglichkeit, der Versagung demokratischer M i t w i r k u n g durch Parteiwechsel oder gar die Gründung einer Gegenpartei zu begegnen unvergleichlich viel schwerer zu verwirklichen. Ganz abgesehen von den besonderen Gefahren, die generell von undemokratisch organisierten Parteien für die demokratische Grundordnung ausgehen, ist deshalb schon i m Hinblick auf die durch die Wahlgesetzgebung geförderte und im Interesse regierungsfähiger Mehrheiten auch verfassungspolitisch gerechtfertigte Tendenz zu wenigen, großen Parteien das Gebot interner Demokratie für die Parteien praktisch unabweisbar. Umgekehrt ist jedoch kein zwingender Grund ersichtlich, dieses Gebot von Verfassungs wegen generell auf öffentliche Versammlungen, Vereine und die politische Presse 10 zu übertragen, solange die offene Vielfalt und Vielzahl dieser Faktoren öffentlicher Meinungsbildung gewährleistet ist 1 1 . 10

Allerdings zeigt gerade das Beispiel der politischen Pressefreiheit, daß der Gedanke intern demokratischer Organisation f ü r Einrichtungen, die demokratische Teilnahme der Bürger an der öffentlichen Auseinandersetzung vermitteln, i n unterschiedlichem Maße relevant ist. Bei der zunehmenden Konzentration i m Pressewesen der Bundesrepublik, die i m Hinblick auf Leistungsfähigkeit v o n Presseunternehmen keineswegs n u r negativ zu beurteilen ist, stellt sich i n der Tat die Frage, ob nicht neben pluralitätssichernden Maßnahmen der Auflagen- u n d Verflechtungsbeschränkung auch Maßnahmen zur Sicherung der Unabhängigkeit u n d „Selbstverwaltung" einzelner Zeitungsredaktionen von Verfassungs wegen geboten sind. 11 Die generelle Anwendung des A r t . 21 Abs. 1 Satz 3 GG auf den ge-

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Die für den demokratischen Prozeß und seine Offenheit so bedeutsame Vielfalt und Vielzahl der Faktoren politischer Diskussion w i r d gerade bei der Versammlungsfreiheit dadurch gesichert, daß man den bestimmenden Einfluß des Veranstalters auf die Versammlung garantiert und ihn bei der Erreichung des von i h m verfolgten Versammlungszweckes gegen massive Störungen von innen und außen und eine Umkehrung seiner Veranstaltung durch die Gegner der Versammlung schützt. Eben dies rechtfertigt die starke Stellung, die das Versammlungsgesetz dem Veranstalter bzw. dem von i h m bestellten Leiter zuerkennt. Auch wenn aus der Bestimmung des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG kein generelles Gebot abzuleiten ist, sämtliche öffentliche Versammlungen nach demokratischen Grundsätzen zu organisieren, bleibt doch die prinzipiell bestehende Freiheit des Veranstalters und des von ihm bestellten Versammlungsleiters, die innere Ordnung von Versammlungen nach ihrem Willen zu gestalten, durch die Rechte der ebenfalls das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ausübenden Versammlungsteilnehmer begrenzt. Wo diese durch die Rechte der Versammlungsteilnehmer gezogene Grenze der Gestaltungsfreiheit der inneren Ordnung von Versammlungen und damit auch der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters verläuft, läßt sich zwar nicht einheitlich für alle Versammlungsarten bestimmen. Es lassen sich jedoch einige grundsätzliche Gesichtspunkte angeben, die bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind. Als ein solcher Gesichtspunkt ist zunächst der Grad der Öffentlichkeit einer Versammlung von Bedeutung. Während man bei nichtöffentlichen Versammlungen, die sich auf einen individualisierten Personenkreis beschränken und sich praktisch noch i m Bereich der Privatsphäre abspielen, eine rechtliche Bindung an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer oder an bestimmte demokratische Spielregeln prinzipiell nicht annehmen kann, gilt dies für öffentliche Versammlungen nicht ohne weiteres. Bereits durch die Einladung eines nicht näher bestimmten Personenkreises treten Veranstalter und Leiter aus dem Bereich der unmittelbaren Privatsphäre heraus und setzen damit den Versammlungszweck öffentlicher Stellungnahme und K r i t i k aus. Dies impliziert ein gewisses Maß an Selbstbindung der Versammlungsleitung, eine Reduktion des Spielraumes willkürlicher Diskriminierung und eine verstärkte Pflicht zur Respektierung der ebenfalls gewährleisteten Versammlungsfreiheit der Teilnehmer. samten Bereich der institutionellen öffentlichen Meinungsfreiheit, wie sie von Ridder, i n : Neumann-Nipperdey-Scheuner, GR I I , S. 257, vertreten w i r d , ist insofern abzulehnen.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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Das t r i f f t vor allem dort zu, wo der Versammlungsleiter nicht nur i m Bereich formaler, durch das Prinzip der Allgemeinzugänglichkeit gekennzeichneter Öffentlichkeit, sondern auch i m Bereich materialer Öffentlichkeit tätig wird, d.h. i m Bereich demokratischer Teilnahme am Prozeß der öffentlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung und Verteilung politisch vermittelter Freiheits- und Lebenschancen. I n einer zunehmend politisierten Gesellschaft ist der willkürliche Ausschluß von der M i t w i r k u n g i n Einrichtungen, die politische Teilnahmeund Einflußmöglichkeiten vermitteln, unter Umständen von ähnlichem oder gar noch größerem Gewicht wie der Ausschluß aus einem privaten Verein, der die Vermögensinteressen eines Mitgliedes berührt. Andererseits bleibt gerade auch bei der öffentlichen Versammlung i m Bereich demokratischer Teilnahme zu berücksichtigen, daß sie ein Instrument

des organisierten

politischen

Gruppenkampfes

ist, i n d e m

das Interesse an einer möglichst geschlossenen und nachdrücklichen Zweckverfolgung durchaus Begrenzungen der Teilnahme und der Äußerungsfreiheit rechtfertigen kann. I n dem grundrechtsimmanenten Konflikt zwischen den Mitwirkungsinteressen der Teilnehmer einerseits und dem Interesse von Veranstalter und Leiter an Geschlossenheit und Homogenität der Versammlung andererseits spielt allerdings der Gesichtspunkt der tatsächlich bestehenden Pluralität der Grundrechtsausübung eine Rolle. Je oligopolistischer die Veranstaltungsmöglichkeit ist, und je geringer damit die Alternativen für die Versammlungsteilnehmer werden, andere Versammlungen zu besuchen oder zu veranstalten, desto notwendiger w i r d auch die Sicherung der Teilnehmerinteressen und die Beachtung demokratischer Spielregeln i n einer öffentlichen Versammlung. Insofern liegt der Gedanke nahe, beispielsweise i n öffentlichen Wahlkampfversammlungen, für die als Veranstalter praktisch nur die Parteien in Frage kommen und i n denen die M i t w i r k u n g für die Teilnehmer von besonderem Interesse ist, die Versammlungsleitung strengeren Bindungen zu unterwerfen als i n anderen öffentlichen Versammlungen, die von einer Vielzahl sozialer Gruppen veranstaltet werden können. Generell bleibt jedoch bei der Lösung des grundrechtsimmanenten Interessenkonfliktes i n der öffentlichen Versammlung ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt zu beachten, nämlich die Frage, inwieweit die Beziehungen zwischen den Versammlungsbeteiligten überhaupt sinnvollerweise einer differenzierten Verrechtlichung zugänglich sind, und inwieweit sie dem Prozeß sozialer Selbstregulierung überlassen bleiben sollten. I m Unterschied zu Dauerverbänden ist eine über bestimmte Minima hinausgehende rechtliche Durchnormierung bei der Versammlung als Augenblicksverband schon aus Gründen der praktischen Durchsetzung kaum möglich. Vor allem aber bestehen grundsätzliche

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, für öffentliche Versammlungen i n größerem Umfang detaillierte und strikte Verfahrensregeln festzulegen und rechtlich zu sanktionieren. Diese Bedenken beruhen nicht etwa darauf, daß zumindest für Versammlungen i n geschlossenen Räumen ein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt i n A r t . 8 Abs. 1 GG fehlt und deshalb eine gesetzliche Regelung der inneren Ordnung von Versammlungen überhaupt unzulässig wäre. Versteht man die Versammlungsfreiheit nicht nur als ein Individualgrundrecht, sondern als ein Organisationsgrundrecht zur kollektiven Meinungs- und Interessenvertretung, so erscheint es durchaus gerechtfertigt, wenn der Gesetzgeber auch gewisse rechtliche Organisationsmittel für die Ausübung dieses Grundrechts zur Verfügung stellt 1 2 und gewisse grundrechtsimmanente Interessenkonflikte zumindest teilweise zu lösen versucht. Wichtig ist jedoch, daß eine derartige Regelung die Funktion des grundrechtlich gewährleisteten Handlungszusammenhangs nicht in seinem Wesen beeinträchtigt, sondern prinzipiell seiner Förderimg dient 1 3 . Eine weitgehende Verrechtlichung der Beziehungen der Versammlungsbeteiligten und der versammlungsinternen Verfahrensweisen widerspräche jedoch der sozialen und politischen Funktion eines freien Versammlungswesens in einem demokratischen Gemeinwesen. Dies gilt auch und vielleicht sogar i n beson!2 So bliebe beispielsweise die Gewährleistung der Vereinsfreiheit i n A r t . 9 GG eine leere Hülle, w e n n nicht der Gesetzgeber i m bürgerlichen Recht die Organdsationsformen des rechtsfähigen u n d nichtrechtsfähigen Vereins oder der Gesellschaften zur Verfügung stellte. 13 Z u Unrecht sieht Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 21 f., 23, bereits i n der Tatsache, daß bei öffentlichen Versammlungen regelmäßig die Bestellung eines Leiters vorgesehen ist, der v o m W ü l e n der Teilnehmer grundsätzlich unabhängig ist, den Ausdruck des restaurativen Charakters des Versammlungsgesetzes. Er verkennt dabei, daß die Möglichkeit rechtlicher Organisation unabhängig v o m privaten Hausrecht durchaus eine Verstärkung des freien Versammlungsrechts bedeutet. Es ist Ott allerdings zuzustimmen, daß der Zwang zur Organisation, den das Versammlungsgesetz zu implizieren scheint, verfassungsrechtlich bedenklich ist. Dies gilt nicht so sehr für öffentliche Versammlungen i n geschlossenen Räumen, bei denen die Pflicht zur Bestellung eines Leiters (§ 7 Abs. 1 VersG) ohne Sanktion ist, sondern betrifft vor allem, trotz des Gesetzesvorbehalts i n A r t . 8 Abs. 2 GG, öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel. Bei rein formaler Auslegung der betreffenden Bestimmungen des Versammlungsgesetzes könnte hier i n der T a t allein das Fehlen einer Versammlungsleitung zum Anlaß von Sanktionen bis h i n zur Versammlungsauflösung gemacht werden. Unter Berücksichtigung der besonderen Schutzwürdigkeit der V e r sammlungsfreiheit, w i r d man die Bestimmungen des Versammlungsgesetzes jedoch so zu interpretieren haben, daß polizeiliche Maßnahmen und Auflagen wegen des Fehlens einer L e i t u n g n u r dann u n d n u r insoweit zulässig sind, als durch eben dieses Fehlen eine unmittelbare Gefahr f ü r die öffentliche Sicherheit entsteht. Unter Beschränkung auf diese rein sicherheitspolizeilichen Gesichtspunkte ist ein Zwang zur Organisation öffentlicher Versammlungen unter freiem Himmel, w i e anscheinend auch Ott zugibt (a.a.O., S. 31), jedenfalls nicht verfassungswidrig. Vgl. auch oben S. 132 ff.

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derem Maße für öffentliche Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme. Gerade die Innovationsfunktion öffentlicher Versammlungen i m Prozeß politischer Meinungsbildung und Interessenvertretung erfordert ein hohes Maß an Flexibilität i n den Formen ihrer Wahrnehmung. Dies macht nicht nur auf Seiten des Gesetzgebers, sondern auch auf Seiten von Rechtsprechung und Rechtslehre ein hohes Maß an Zurückhaltung bei der Aufstellung von Handlungsmaßstäben für die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen notwendig. A u f der Grundlage der hier angeführten Gesichtspunkte für die Lösung des grundrechtsimmanenten Konfliktes zwischen den Versammlungsbeteiligten sollen nunmehr konkrete Folgerungen für die Bestimmung des Umfanges der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters gezogen werden. Dabei ist vor allem zu erörtern, ob es ein Recht auf Z u t r i t t zu öffentlichen Versammlungen gibt, unter welchen Voraussetzungen ein Versammlungsausschluß zulässig ist und ob und in welchem Umfang es ein Recht der Teilnehmer auf aktive Mitwirkung, insbesondere auf Beteiligung an Diskussionen, gibt. 2. Das Recht auf Zutritt zu öffentlichen Versammlungen

Unabhängig von der Regelung des Versammlungsgesetzes ist bei der Beantwortung der Frage, ob es einen Anspruch auf Z u t r i t t zu öffentlichen Versammlungen gibt, zunächst davon auszugehen, daß es der Veranstalter i n der Hand hat, ob er eine Versammlung als öffentliche oder als nichtöffentliche abhalten will, ob er nur einen individuell bestimmten Personenkreis oder grundsätzlich jedermann die Teilnahme eröffnen w i l l . Ist aber eine Versammlung öffentlich, sei es durch ausdrückliche Erklärung i n der Einladung, sei es durch die tatsächliche Gewährung generell freien Zutritts, so besteht grundsätzlich auch ein Recht auf Zulassung für jeden potentiellen Versammlungsteilnehmer. Dies bringt § 1 Abs. 1 VersG positiv zum Ausdruck. Das damit statuierte Recht richtet sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen Veranstalter und Leiter öffentlicher Versammlungen. Es w i r d dadurch nicht nur das etwa bestehende private Hausrecht verdrängt, sondern auch die Ordnungsgewalt der Versammlungsleitung durch das Recht der Versammlungsteilnehmer begrenzt. Das Zugangsrecht der Versammlungsteilnehmer bei öffentlichen Versammlungen ist allerdings nicht absolut, sondern kann i n gewissem Umfang durch Veranstalter und Leiter eingeschränkt werden. Die entscheidende Frage ist jedoch, unter welchen Umständen und nach welchen Kriterien derartige Beschränkungen der Öffentlichkeit zulässig sind. Nach der Regelung des Versammlungsgesetzes (§ 6 VersG) kann bestimmten Personen und Personengruppen — zumindest bei öffent-

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

liehen Versammlungen i n geschlossenen Räumen — der Z u t r i t t von vornherein versagt werden. Diese Beschränkungsmöglichkeit w i r d zumeist unter Hinweis auf das private Hausrecht gerechtfertigt. Nach der hier vertretenen Auffassung beruht diese Befugnis jedoch nicht auf dem Hausrecht, sondern ist Teil der Ordnungs- und Leitungsgewalt i n der öffentlichen Versammlung, die das private Hausrecht als Ordnungsmittel verdrängt und auch dort gilt, wo das Hausrecht i m konkreten Fall nicht übertragen ist. Diese Ordnungsgewalt ist zwar grundsätzlich vom Privatrecht i m Sinne eines Gemeinrechts her zu verstehen, i m Unterschied zum bürgerlichrechtlichen Hausrecht dient sie aber nicht primär dem Schutz der privaten Besitzsphäre, sondern dem Schutz der öffentlichen Funktion des Versammlungsrechts. Die Frage ist deshalb, ob es m i t der aus dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Organisationsrecht abgeleiteten Stellung desVersammlungs-, leiters vereinbar ist, daß er den Z u t r i t t zu einer öffentlichen Versammlung w i l l k ü r l i c h versagt. Man w i r d eine solche diskriminierende Zutrittsbeschränkung dort für unbedenklich halten können, wo es bei einer Versammlung u m die Verfolgung privater Zwecke geht. Problematisch w i r d sie aber bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme. Hier verdient einerseits das Partizipationsinteresse an den Einrichtungen, die die Teilnahme der Bürger am demokratisch politischen Prozeß vermitteln, besonderen Schutz; andererseits ist aber gerade auch i m politischen Kampf das Interesse von Veranstalter und Leiter an einer gewissen Geschlossenheit der Versammlung zu berücksichtigen. Das Problem der willkürlichen Versagung des Zutritts zu einer öffentlichen Versammlung t r i t t hier i n eine deutliche Parallele zum Problem der willkürlichen Versagung der Aufnahme in einen Dauerverband. Während bei einem rein privaten Zwecken dienenden Verein die Versagung des Beitritts regelmäßig keiner Begründung bedarf, also auch w i l l k ü r lich erfolgen kann, stellt sich bei Verbänden, die i m hier entwickelten Sinne einen öffentlichen Status i m Bereich demokratischer Teilnahme besitzen, wie etwa Parteien und Gewerkschaften, auch wenn sie grundsätzlich privatrechtlich organisiert sind, durchaus die Frage, ob eine willkürliche, insbesondere durch sachliche Verbandsziele nicht gerechtfertigte Beitrittsversagung unzulässig und i m Wege gerichtlicher Nachprüfung angreifbar ist. Aber auch wenn man für derartige Dauerverbände m i t zwar nichtstaatlichem, aber gleichwohl öffentlichem Status i m Bereich demokratischer Teilnahme zu dem Ergebnis kommt 1 4 , daß bei ihnen grundsätz14 E i n solches Ergebnis läge zumindest i n der Konsequenz der hier vertretenen Auffassung; seine detaillierte Begründung würde jedoch eine eigene Untersuchung erfordern.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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lieh ein Aufnahmeanspruch besteht, bzw. ein Aufnahmeantrag nur unter eng begrenzten sachlichen Gesichtspunkten abgelehnt werden darf, bleibt doch fraglich, ob sich entsprechende Grundsätze auf öffentliche Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme übertragen lassen. Es ist dabei nicht nur der gegenüber öffentlichen Versammlungen wesentlich oligopolistischere Charakter solcher Dauerverbände zu berücksichtigen, der nur eine eng begrenzte Zahl von Alternativen offenläßt, sondern auch der ephemere Charakter öffentlicher Versammlungen, der für durchgefeilte und stark differenzierte rechtliche Regelungen schon aus Gründen der Praktikabilität kaum Raum bietet. So geht denn auch die Regelung des § 6 VersG einen etwas anderen Weg, indem sie vorsieht, daß bei öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen prinzipiell nur solche Beschränkungen zulässig sind, die i n der Einladung von vornherein angekündigt sind 1 5 . Durch diesen Zwang zur öffentlichen Bekanntgabe werden Zutrittsbeschränkungen erschwert, da sie der öffentlichen K r i t i k ausgesetzt werden. Zugleich w i r d klargestellt, daß jeder, der durch die Einladung nicht ausgeschlossen ist, prinzipiell auch ein Recht auf Z u t r i t t hat 1 6 , während andererseits durch die Möglichkeit, den Teilnehmerkreis in der Einladung zu beschränken, dem legitimen Interesse des Veranstalters an einer gewissen Homogenität und Gegnerfreiheit der Veranstaltung Rechnung getragen wird. Der Grundgedanke, durch Zwang zur Öffentlichkeit zugleich auch ein gewisses Maß an Selbstregulierung und Selbstkontrolle des öffentlichen Meinungs- und Interessenkampfes zu erreichen, dürfte auch hinter der i n der Geschichte des deutschen Versammlungsrechts ebenfalls neuartigen Bestimmung des § 6 Abs. 2 VersG stehen, nach der auch i n geschlossenen Räumen ordnungsgemäß ausgewiesenen Pressevertretern der Z u t r i t t zu öffentlichen Versammlungen nicht versagt werden darf. Die damit garantierte ungehinderte öffentliche Berichterstattung dient nicht nur der Propagierung, sondern auch der Exponierung und öffentlichen Kontrolle der i n öffentlichen Versammlungen vertretenen Daß darüber hinaus die Versagung des Z u t r i t t s auch aus Gründen der Überfüllung des Versammlungslokals zulässig ist, ist i m Hinblick auf die Ordnungsaufgabe des Versammlungsleiters selbstverständlich. M a n w i r d auch dort ein Zutrittsverbot f ü r zulässig halten müssen, w o Personen i n m a n i fester Störabsicht den Versammlungsraum betreten. 16 Grundsätzlich zulässig ist daher das „Packen" gegnerischer Versammlungen, w e n n keine spezifischen Zutrittsbeschränkungen i n der Einladung erklärt sind. Dagegen steht die F o r m des „go i n " auf der Grenzlinie. Wo sie nicht n u r M i t t e l friedlicher Gegendemonstration ist, sondern den Charakter einer bewußten u n d gröblichen Störung des Versammlungsablaufs annimmt, w i r d sie rechtswidrig u n d berechtigt den Versammlungsleiter gegebenenfalls zum Versammlungsausschluß.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Meinungen und Interessen einschließlich des demokratischen oder undemokratischen Stils der Versammlungsleitung 17 . Bei dieser Regelung handelt es sich zugleich u m einen Fall einer vom Gesetzgeber vorgenommenen Güterabwägung zur Lösung eines Grundrechtskonflikts. Das Interesse des Veranstalters an einer beschränkten Öffentlichkeit der Versammlung, das i m Hinblick auf den Charakter der Versammlungsfreiheit als Kampf- und Organisationsrecht, d. h. als M i t t e l möglichst nachdrücklicher Meinungs- und Interessenvertretung durchaus legitim ist, hat hier hinter dem Interesse der Information der Gesamtöffentlichkeit durch die Presse zurückzutreten 18 . Anders als i m Verhältnis der einfachen Versammlungsteilnehmer zur Versammlungsleitung handelt es sich hier nicht um einen dem Versammlungsgrundrecht immanenten Grundrechtskonflikt, sondern um einen Konflikt zweier Grundrechte. Dabei ist es das über das einfache Teilnehmerinteresse hinausgehende, auf die Pressefreiheit und den damit zusammenhängenden Gedanken der Kontrolle durch Öffentlichkeit gestützte Interesse, das die Privilegierung der Pressevertreter in öffentlichen Versammlungen rechtfertigt. Dagegen w i r d man Zutrittsbeschränkungen, die das Ziel haben, bestimmte Meinungen und Interessen auszuschalten, auch bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme nicht generell als Verstoß gegen die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit ansehen können. Zwar ist der Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit für die Begrenzung der Ordnungsgewalt i n der öffentlichen Versammlung nicht schlechthin irrelevant 1 9 . Da das Moment der Meinungsäußerung unmittelbar vom Versammlungsgrundrecht selbst mitumfaßt wird, handelt es sich hier nicht wie i m Verhältnis zur Presse um einen Konflikt zweier Grundrechte, sondern um einen Konflikt innerhalb ein und desselben Grundrechts. M i t dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Kampf- und Organisationsgrundrecht erscheint es jedoch durchaus vereinbar, daß um einer nachdrücklichen Öffentlichen W i r k i m g w i l l e n das Spektrum möglicher Interessen und Das Beschränkungsverbot des § 6 Abs. 2 VersG g i l t dementsprechend generell. Veranstalter u n d Leiter können deshalb nicht einzelnen Pressevertretern den Z u t r i t t m i t dem Hinweis versagen, für die Berichterstattung sei bereits durch die Anwesenheit anderer Presseleute gesorgt. Vgl. TrubelHainka, Versammlungsgesetz, S. 40. Dieser Gedanke des §6 Abs. 2 VersG läßt sich selbstverständlich auch auf die Vertreter von Rundfunk und Fernsehen übertragen, obwohl das Versammlungsgesetz dies nicht ausdrücklich hervorhebt. 19 Generell unzulässig ist ein Zwang zur Meinungsäußerung aufgrund der Ordnungs- und Leitungsgewalt i n öffentlichen Versammlungen. Dies gilt nicht n u r i m Hinblick auf stattfindende Diskussionen, vielmehr k a n n auch der Z u t r i t t zu einer öffentlichen Versammlung nicht davon abhängig gemacht werden, daß die Teilnehmer sich zur Förderung des Versammlungszweckes positiv verpflichten, beispielsweise eine Petition zu unterschreiben.

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Meinungen in der Versammlung von vornherein eingeschränkt wird, daß beispielsweise Vermietern zu einer öffentlichen Versammlung zur Verfolgung von Mieterinteressen kein Z u t r i t t gewährt wird. Doch auch wenn man Veranstalter und Leiter unter dem Gesichtspunkt des sozialen und politischen Kampfes und seiner Selbstregulierung durch das Prinzip der Öffentlichkeit grundsätzlich einen sehr weiten Spielraum bei der Bestimmung des Teilnehmerkreises zubilligt, bleibt die Frage, ob Diskriminierungen i n der Einladung, für die überhaupt kein sachlicher Grund ersichtlich ist und die bestimmte Personengruppen ohne Rücksicht auf den Versammlungszweck generell von der Teilnahme ausschließen, zulässig sind. Nach den oben entwickelten Kriterien für die Lösung des gnmdrechtsimmanenten Interessenkonflikts zwischen Versammlungsleiter und Versammlungsteilnehmern ist von dem Grundsatz auszugehen, daß das Maß zulässiger W i l l k ü r abnimmt, je weiter eine Tätigkeit i n den Bereich der Öffentlichkeit hineinreicht. Zumindest für öffentliche Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme, bei denen das Partizipationsinteresse der Bürger i n besonderer Weise schutzwürdig ist, dürfte daher eine willkürliche, d.h. grundlos oder ohne versammlungsbezogene Motive erfolgende Zutrittsbeschränkung unzulässig sein. So darf beispielsweise bei einer öffentlichen Versammlung mit politischer Zwecksetzung nicht generell Frauen und Jugendlichen oder den Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft ohne Rücksicht auf den Versammlungszweck der Z u t r i t t versagt werden. Ebenso unzulässig wäre es auch, wollten Veranstalter oder Versammlungsleiter bei einer derartigen Versammlung Einzelpersonen ausschließen, m i t denen sie aus privaten Gründen verfeindet sind, oder — um ein etwas absurdes Beispiel zu wählen — den Z u t r i t t von der Haar- oder Augenfarbe der Teilnehmer abhängig machen. Die hier behauptete Unzulässigkeit nicht versammlungsbezogener, willkürlicher Zutrittsbeschränkungen bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme steht nicht i m Widerspruch zu der Regelung des § 6 Abs. 1 VersG. Es w i r d damit vielmehr für die Auslegung des Umfangs dieser Befugnis nur die Konsequenz daraus gezogen, daß der Versammlungsleiter hier i m Bereich nichtstaatlicher materialer Öffentlichkeit tätig w i r d und insofern strengeren Bindungen unterliegt als der Inhaber des privaten Hausrechts, das diesem prinzipiell auch willkürliche Diskriminierungen erlauben würde. Die Möglichkeit, den Z u t r i t t zu öffentlichen Versammlungen zu beschränken, besteht allerdings nur bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen. Zwar kann auch bei Versammlungen unter freiem Himmel ein legitimes Interesse daran bestehen, bestimmten Personen oder Personengruppen die Teilnahme zu verweigern. Das Versammlungsgesetz hat

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jedoch mit Recht davon abgesehen, für Versammlungen unter freiem Himmel eine dem § 6 VersG entsprechende Regelung zu treffen, da bei derartigen Versammlungen regelmäßig gar keine praktische Möglichkeit der Zugangskontrolle besteht und sich die Teilnehmer, sofern die Versammlung auf öffentlichen Straßen und Plätzen stattfindet, auf ihr Recht zum Gemeingebrauch berufen können. Sicherlich kann die Aufforderung zu einer Demonstration oder einem Aufzug unter freiem Himmel nur an eine bestimmte Personengruppe gerichtet sein und w i r d zumeist auch nur von den Angesprochenen befolgt werden. Veranstalter und Leiter besitzen hier jedoch keine rechtliche Handhabe, um eine friedliche Teilnahme von Versammlungsgegnern zu hindern, selbst dann nicht, wenn diese ihre gegensätzliche Auffassung durch Plakate und Transparente kundtun 2 0 . Aufgrund der Befugnis, den Ablauf der Versammlung zu bestimmen (§ 8 Abs. 1 VersG) und der Pflicht der Versammlungsteilnehmer, die Ordnungsweisungen des Leiters zu befolgen (§§ 10, 19 Abs. 2 VersG), w i r d man jedoch dem Versammlungsleiter das Recht zubilligen müssen, eine räumliche Trennung von Anhängern und manifesten Gegnern des Versammlungszweckes anzuordnen, um einen unfriedlichen Versammlungsablauf zu verhindern. 3. Voraussetzungen des Versammlungsausschlusses

Hat ein Versammlungsteilnehmer ein Recht auf Z u t r i t t zu einer öffentlichen Versammlung, so hat er auch ein Recht auf Anwesenheit, das vom Versammlungsleiter bei der Ausübimg seiner Befugnisse respektiert werden muß. Anders als aufgrund des privaten Hausrechts kann i h m dieses Anwesenheitsrecht keineswegs willkürlich, sondern nur beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen entzogen werden. Das Versammlungsgesetz bringt dies positiv zum Ausdruck, indem es bestimmt, daß nur solche Teilnehmer ausgeschlossen werden dürfen, die die Versammlung gröblich stören (§11 Abs. 1 VersG). Auch hier handelt es sich u m eine vom Gesetzgeber vorgenommene Lösung eines grundrechtsimmanenten Interessenkonflikts, durch die die ebenfalls grundrechtlich geschützte Position der Versammlungsteilnehmer, zu der auch das Moment der Meinungsfreiheit, zumindest i n der Form der Informationsfreiheit gehört, gegen willkürliche Diskriminierungen von Seiten der Versammlungsleitung geschützt wird. Auffallend ist, daß der Versammlungsleiter durch diese Regelung bei Versammlungsausschlüssen einer strengeren Bindung unterworfen w i r d als bei der Frage der Zutrittsbeschränkungen. Denn während Veranstalter und Leiter bei Zutrittsbeschränkungen nur das W i l l k ü r 20

Wie hier Dietel-Gintzel,

A n m . 5 zu § 1 VersG.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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verbot zu beachten haben — und dies nach der hier vertretenen Auffassung auch nur, soweit es sich u m öffentliche Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme handelt —, sind sie bei Versammlungsausschlüssen darüber hinaus auch, zumindest teilweise, an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Keineswegs jede, sondern nur eine gröbliche Störung berechtigt zum Versammlungsausschluß. Die stärkere Verpflichtung zur Respektierung des Anwesenheitsrechtes der Teilnehmer ist dabei nicht allein als Folge des i n der öffentlichen Einladung enthaltenen Moments der Selbstbindung zu sehen, sie entspricht auch der materiellen Interessenlage. Die Interessenposition dessen, der bereits Versammlungsteilnehmer ist und es bleiben möchte, ist insgesamt i n höherem Maße schutzwürdig als die desjenigen, der es erst werden möchte. A n dieser Stelle zeigt sich klar der Unterschied zwischen einer nur dogmatisch systematischen und der hier unternommenen interessendifferenzierenden Betrachtungsweise. Versuchte man beispielsweise unmittelbar aus dem Charakter der Ordnungsgewalt als einer „demokratischen Selbstverwaltungsbefugnis" Handlungsmaßstäbe zu gewinnen, so wäre es durchaus konsequent, den Versammlungleiter bei jeder einzelnen seiner Befugnisse den gleichen Bindungen, etwa den Grundsätzen des Verwaltungsermessens, zu unterwerfen, zumindest soweit er i m Bereich materialer Öffentlichkeit tätig wird. Die hier verfolgte Betrachtimgsweise erlaubt es jedoch, ohne daß es notwendig wäre auf den konkreten Einzelfall abzustellen, für die unterschiedlichen Befugnisse des Versammlungsleiters je nach der unterschiedlichen Interessenlage der Versammlungsbeteiligten andere Handlungsmaßstäbe aufzustellen. Ähnlich wie die Frage, wann eine Zutrittsbeschränkung unzulässig ist, läßt sich allerdings auch die Frage, wann eine gröbliche Störung vorliegt, die einen Versammlungsausschluß rechtfertigt, nicht einheitlich für alle öffentlichen Versammlungen beantworten. So w i r d man bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme wegen der besonderen Schutzwürdigkeit des Partizipationsinteresses der Teilnehmer bei einem Versammlungsausschluß grundsätzlich strengere Anforderungen stellen müssen als bei einer öffentlichen Versammlung, die primär private Zwecke verfolgt. Wo sich Veranstalter und Leiter nicht nur i m Bereich formaler, sondern auch materialer Öffentlichkeit bewegen, kann keineswegs jeder Zwischenruf, jede Mißfallensäußerung, nicht einmal das Entfalten von Transparenten m i t gegnerischen Parolen als gröbliche Störung angesehen werden, sofern dadurch nicht der friedliche Versammlungsablauf konkret gefährdet wird. Allerdings w i r d man auch bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme den konkreten Zweck und Charakter be-

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rücksichtigen müssen. Was i n einer öffentlichen Wahlversammlung zulässig sein kann, kann i n einer öffentlichen Trauerkundgebung oder Gedenkfeier durchaus als gröbliche Störung wirken. Hervorzuheben ist jedoch, daß der Versammlungsleiter bei Versammlungsausschlüssen nicht i n gleichem Umfang an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden ist, wie eine staatliche Verwaltungsinstanz. Dies gilt vor allem i m Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des angewendeten Mittels, d. h. ein Versammlungsausschluß ist nicht deshalb unzulässig, weil ein geringeres Mittel, etwa eine Verwarnung oder ein Ordnungsruf ausgereicht hätte, u m die Ordnung wiederherzustellen. Zwar scheint eine solche strenge Bindimg an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zumindest bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme und i m Hinblick auf den „Selbstverwaltungscharakter" der Ordnungsgewalt erwägenswert. Einer derart differenzierten Verrechtlichung steht jedoch entgegen, daß sie dem nur vorübergehenden und auch intern äußerst vielfältigen Charakter solcher Versammlungen nicht angemessen ist und praktikable Kriterien für die Beurteilung der akuten Konfliktsituation regelmäßig fehlen. I m übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Ausschlußbefugnis des Versammlungsleiters nicht nur auf gröbliche Störungen begrenzt ist, sondern daß sie ihm auch nur bei Versammlungen i n geschlossenen Räumen und nur bei solchen Störungen zusteht, die von Personen ausgehen, die als Versammlungsteilnehmer anzusehen sind 2 1 . Deshalb können Personen, die sich ohne innere Beziehung zum Versammlungszweck i m Versammlungslokal aufhalten, wie etwa das Bedienungspersonal in einer Gastwirtschaft 22 , vom Versammlungsleiter aufgrund seiner Ordnungsgewalt auch dann nicht ausgeschlossen werden, wenn sie die Versammlung stören. Auch gegenüber sonstigen Dritten, die, ohne Versammlungsteilnehmer zu sein, eine öffentliche Versammlung von außen her stören, ist der Versammlungsleiter grundsätzlich auf das private Hausrecht angewiesen, sofern und soweit ihm dies i m konkreten Fall übertragen ist. Bemerkenswert ist, daß das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel überhaupt kein Ausschlußrecht zugebilligt hat. Das Recht, gröbliche Störer auszu21 H i e r i n zeigt sich der Charakter der Ordnungsgewalt als Verbandsgewalt, der n u r Mitglieder unterworfen sind und zugleich der Unterschied zur öffentlichrechtlichen Sitzungspolizei des Gerichtsvorsitzenden, der p r i n zipiell alle i m räumlichen Bereich unterliegen, i n dem das Gericht tätig w i r d . 22 Z w a r t r i f f t auch Nichtteilnehmer eine Pflicht, Störungen zu unterlassen, die die ordnungsgemäße Durchführung einer Versammlung bezwecken (§2 Abs. 2 VersG). Ihnen gegenüber versagt jedoch die Ordnungsgewalt. Es k o m m t hier allenfalls ein allgemeines Notwehrrecht gegen rechtswidrige Angriffe i n Betracht.

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schließen, ist hier grundsätzlich der Polizei vorbehalten (§ 18 Abs. 3). Diese Regelung scheint nicht unproblematisch, da sie den Bestand einer öffentlichen Versammlung weitgehend vom Schutzwillen der Polizei abhängig macht. Für diese Regelung spricht jedoch andererseits, daß die Zuerkennung eines generellen unmittelbar und gegebenenfalls auch gewaltsam durchsetzbaren Ausschlußrechts bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel bei der notwendigen Parteilichkeit des Versammlungsleiters und seiner Ordner sehr leicht zu schwerwiegenden Übergriffen führen könnte. Soweit allerdings polizeiliche Hilfe nicht zu erhalten ist, w i r d man auch bei öffentlichen Versammlungen dem Leiter und seinen Ordnern zumindest unter dem Gesichtspunkt der Notwehr (§ 53 StGB) ein Recht zur Abwehr gegenwärtiger innerer und äußerer Versammlungsstörungen zubilligen müssen. Auch in diesem Rahmen ist jedoch nicht die Abwehr jeder, sondern nur gröblicher Störungen zulässig. 4. Aktive Mitwirkungsrechte insbesondere das Recht auf Diskussion

Soweit nach den bisherigen Darlegungen ein Recht der Teilnehmer auf Anwesenheit i n öffentlichen Versammlungen besteht, das auch vom Versammlungsleiter bei der Ausübung seiner Befugnisse zu beachten ist, besitzt dies i m wesentlichen nur passiven Charakter. Die Frage ist jedoch, ob darüber hinaus auch aktive Mitwirkungsrechte bestehen. Nach der Regelung des Versammlungsgesetzes ist der Versammlungsleiter bei der Ausübung seiner Befugnisse prinzipiell vom Willen der Teilnehmer unabhängig und bedarf keiner Legitimation durch Wahl oder Abstimmung. Dieser anstaltliche Zug der Versammlungsorganisation erscheint auf den ersten Blick einer Einrichtung, die wie die öffentliche Versammlung die demokratische Teilnahme der Bürger am politischen Prozeß ermöglichen soll, unangemessen. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß dies keineswegs der Fall ist, denn indem diese Regelung dem Veranstalter und Leiter einer öffentlichen Versammlung die Möglichkeit gibt, zufällige oder geplante „Umkehrungen" ihrer Veranstaltung zu verhindern, schützt sie die für den demokratischen Prozeß konstitutive Offenheit und damit nicht nur das Recht etablierter Mehrheiten, sondern gerade auch kritischer Minderheiten, sich m i t dem M i t t e l der Versammlung Gehör zu verschaffen und ihre Interessen nachdrücklich zu vertreten 2 3 . 23 Es ist i n diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß das Versammlungsgesetz eine W a h l des Versammlungsleiters nicht generell ausschließt. Dies gilt nicht n u r für die Spontanversammlung, w o ein Veranstalter fehlt, sondern auch dort, w o ein Veranstalter vorhanden ist. So bestimmt zwar §7 VersG, daß der Veranstalter, der die L e i t u n g der V e r sammlung selbst nicht übernimmt, sie einer anderen Person übertragen

IS Quilisch

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

So stellt es auch keine unzulässige und undemokratische Verkürzung der Rechte der Versammlungsteilnehmer dar, wenn das Versammlungsgesetz dem Versammlungsleiter die Bestimmung des Versammlungsablaufs überläßt (§ 8 VersG). Unter dem Gesichtspunkt, daß Veranstalter und Leiter es sind, die die für den demokratischen Prozeß so wichtige Versammlungsbildung und -betätigung initiieren, erscheint es gerechtfertigt, ihren bestimmten Einfluß auch rechtlich zu sichern. Danach unterliegt es allein der Entscheidung des Veranstalters bzw. des von ihm bestellten Versammlungsleiters, ob i n einer öffentlichen Versammlung überhaupt eine Diskussion stattfindet oder nicht. Sicherlich w i r d oder sollte ein geschickter Versammlungleiter aus praktischen Gründen und um einen unfriedlichen Versammlungsablauf zu vermeiden, dem heftig geäußerten Wunsch nach Diskussion Rechnung tragen; ein Recht einer Minderheit oder selbst der Mehrheit der Versammlungsteilnehmer, eine Diskussion zu erzwingen, besteht jedoch nicht. Das Problem der aktiven Mitwirkungsrechte, insbesondere der Diskussionsfreiheit i n öffentlichen Versammlungen, reduziert sich deshalb auf die Frage, ob und in welchem Umfang ein Anspruch auf Beteiligung an einer stattfindenden Diskussion besteht, bzw. unter welchen Voraussetzungen ein Ausschluß von einer derartigen Diskussion oder eine Einflußnahme auf den Inhalt von Diskussionsbeiträgen zulässig ist. Eben dies war das materielle Problem des am Anfang dieser Arbeit erwähnten Falles, i n dem dem Teilnehmer einer öffentlichen, von einer politischen Partei veranstalteten Versammlung trotz seiner Wortmeldung das Wort ohne Begründung nicht erteilt wurde. Es läßt sich hier nicht einfach so, wie das Oberverwaltungsgericht Lüneburg dies i n dem genannten Fall getan hat, argumentieren, der Versammlungleiter übe keine hoheitliche Gewalt aus und die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer seien für ihn deshalb irrelevant. Vielmehr geht es durchaus u m einen Interessenkonflikt, i n dem auf beiden Seiten grundrechtlich geschützte Positionen eine Rolle spielen, und zwar u m einen Interessenkonflikt, der nicht nur auf der Ebene kann. Die Form dieser Übertragung ist jedoch nicht vorgeschrieben. Die Bestellung k a n n deshalb auch dadurch erfolgen, daß der Veranstalter den Leiter durch die Teilnehmer wählen läßt. Ist der Leiter jedoch bestellt, sei es unmittelbar durch den Veranstalter, sei es durch die W a h l oder Zustimmung der Teilnehmer, ist er grundsätzlich v o m W i l l e n der Versammelten unabhängig. Er k a n n auch vom Veranstalter nicht mehr w i l l k ü r l i c h abberufen werden. Eine ausdrückliche Regelung eines derartigen Konfliktes i m Versammlungsgesetz fehlt allerdings. I m Interesse klarer, von den Teilnehmern überblickbarer Zuständigkeiten w i r d m a n jedoch eine Abberufung oder Ersetzung des Versammlungsleiters durch den Veranstalter n u r dort f ü r zulässig halten dürfen, w o der Veranstalter überhaupt erkennbar hervorgetreten ist u n d die A r t der Versammlungsleitung offenkundig gegen die Intentionen des Veranstalters verstößt. (Vgl. auch Dietel-Gintzel, A n m . 28 zu § 1 VersG)

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des traditionellen Privatrechts liegt, sondern der i n den Bereich nichtstaatlicher materialer Öffentlichkeit hineinreicht. Deshalb kann auch nicht i m Wege eines argumentum a maiore ad minus aus dem Recht des Versammlungsleiters, darüber zu bestimmen, ob überhaupt eine Diskussion stattfindet und diese Diskussion gegebenenfalls auch gänzlich abzubrechen, ohne weiteres ein Recht abgeleitet werden, innerhalb der Diskussion willkürlich darüber zu entscheiden, wer sprechen und was gesagt werden darf. Selbst wenn dies i m Ergebnis zutreffen würde, läßt sich dies nicht i m Wege einer positivistisch formallogischen Argumentation, sondern nur auf der Grundlage materieller Kriterien der Interessenabgrenzung wirklich befriedigend begründen. Zweifellos enthält die Befugnis des Versammlungsleiters, den Ablauf der Versammlung zu bestimmen, grundsätzlich auch das Recht, das Wort zu erteilen und zu entziehen 24 . Die entscheidende Frage ist jedoch, welchen Bindungen der Versammlungsleiter bei der Ausübung dieser Befugnis unterliegt. Hier w i r d nun die i n den vorangegangenen Überlegungen entwickelte Auffassung über die Rechtsnatur der Befugnisse des Versammlungsleiters relevant. Handelte es sich bei seiner Ordnungsgewalt u m eine „verliehene" staatliche Befugnis, so wäre es in der Tat folgerichtig, die Aufgabe des Leiters i n der öffentlichen Versammlung lediglich als formal und als prinzipiell unparteilich zu begreifen und jedem potentiellen Diskussionsredner unabhängig vom Inhalt seiner Äußerungen das gleiche Recht auf Gehör zuzubilligen, kurzum eine unmittelbare Grundrechtsbindung anzunehmen. Die Diskussionsleitung müßte sich dann darauf beschränken, formal die Reihenfolge der Diskussionsteilnehmer festzustellen, vielleicht auch die Redezeit zu begrenzen, u m andere ebenfalls zu Wort kommen zu lassen und allenfalls dafür zu sorgen, daß die Diskutierenden „zur Sache" sprechen. Eine darüber hinausgehende Einflußnahme auf den Inhalt von Diskussionsbeiträgen wäre prinzipiell unzulässig und eine Verletzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Teilnehmer. Es bliebe nur die Frage, ob und i n welcher Form den Versammlungsteilnehmern bei einer etwaigen Verletzung ihrer Rechte Rechtsschutz gewährt werden kann. Leitet man dagegen die Befugnisse des Versammlungsleiters aus dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Organisations- und Meinungsgrundrecht ab, sieht i n ihnen also nichts anderes als eine besondere Ausübungsform dieses Grundrechts, so w i r d deutlich, daß der Ordnungsund Leitungsgewalt von vornherein ein gewisses Maß an Parteilichkeit innewohnt und bei ihrer Ausübung auch durchaus legitim ist. Eine generelle Pflicht des Versammlungsleiters, völlig imparteilich zu ver24 So auch noch ausdrücklich die Formulierung des Regierungsentwurfs zum Versammlungsgesetz, l.Dt.B.T. f B.T.Drucks. Nr. 1102, S. 3.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

fahren und den Vertretern jeder Meinungsrichtung gleichermaßen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, besteht demnach nicht. Zwar handelt es sich bei der Frage der Diskussionsfreiheit i n der öffentlichen Versammlung u m einen grundrechtsimmanenten Konflikt zwischen den Interessen der Teilnehmer einerseits und denen des Veranstalters und Leiters andererseits, wobei auf beiden Seiten grundrechtlich relevante Interessen an der freien Ausübung des Versammlungsrechts einschließlich der Möglichkeit freier Meinungsäußerung zu berücksichtigen sind. Nach dem hier entwickelten Verständnis der Versammlungsfreiheit kommt jedoch denjenigen, die den Prozeß der Versammlungsbildung und -betätigung i n Gang setzen und organisieren, i n diesem Konflikt ein gewisser Vorrang zu. Sieht man i n der Versammlungsfreiheit nicht nur ein staatsgerichtetes Individualgrundrecht, sondern ein kollektives Kampf- und Organisationsgrundrecht zur öffentlichen politischen Auseinandersetzung und Interessenverfolgung i n einer interessengespaltenen Gruppengesellschaft, so erscheint es gerechtfertigt, den Initiatoren einer öffentlichen Versammlung nicht nur einen Einfluß auf das „Ob", sondern auch das „Wie" und „Was" versammlungsinterner Diskussionen, d . h . auf die inhaltliche Gestaltung des Diskussionsablaufs zuzubilligen. So w i r d man es beispielsweise nicht als unzulässig ansehen können, daß der Versammlungsleiter nur eine Schaudiskussion m i t vorher festgelegten Teilnehmern und Diskussionsbeiträgen veranstaltet und andere Wortmeldungen nicht berücksichtigt. Selbst eine Manipulation der Rednerliste m i t dem Ziel einseitiger Bevorzugung bestimmter, dem Veranstalter und Leiter genehmer Äußerungen w i r d man nicht für rechtswidrig halten können, auch wenn man sie als Ausdruck schlechten politischen Stils verurteilen mag. Das Moment der Meinungsfreiheit der Teilnehmer einer öffentlichen Versammlung ist deshalb jedoch für die Abgrenzung der Befugnisse des Versammlungsleiters nicht unbeachtlich. Auch wenn man Veranstalter und Leiter einen bestimmenden Einfluß auf den inhaltlichen Ablauf stattfindender Diskussionen zubilligt, bleibt dieser Einfluß prinzipiell negativer Natur. So kann zwar das Spektrum möglicher Meinungsrichtungen durch eine selektive Worterteilung eingeschränkt werden, unzulässig wäre es aber, die Versammlungsteilnehmer i n irgendeiner Form positiv zur Stellungnahme zu verpflichten oder ihnen den Inhalt ihrer Äußerungen vorzuschreiben und die Nichtbefolgung einer derartigen Anordnung durch einen Versammlungsausschluß zu sanktionieren, wie dies aufgrund des privaten Hausrechts möglich wäre 2 5 . Soweit jedoch kein positiver Zwang zur Stellungnahme ausgeübt wird, steht es dem Versammlungsleiter grundsätzlich frei zu 25 Vgl. dazu das oben S. 194 F N 9 angeführte Beispiel von Frühling die Möglichkeit, das Hausrecht „zweckfremd" einzusetzen.

über

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

229

entscheiden, wem er in einer stattfindenden Diskussion das Wort erteilen w i l l . Ein Rechtsanspruch auf Worterteilung besteht demnach nicht. Dies muß selbst dort gelten, wo es sich u m Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme handelt. Sicherlich ist gerade hier das aktive Mitwirkungsinteresse der Teilnehmer von besonderem Gewicht, vor allem dort, wo aus praktischen Gründen die Möglichkeit, vergleichbare Versammlungen zu veranstalten oder zu besuchen, eng begrenzt ist und eine besondere Nähe zum Prozeß der Staatswillensbildung besteht, wie bei öffentlichen Wahlversammlungen politischer Parteien. Unzweifelhaft richtet sich der Gedanke des Schutzes kritischer Minderheiten und der Gewährleistung eines offenen pluralistischen Meinungskampfes hier i n gewisser Weise auch gegen die Versammlungsleitung. Ebensowenig sind die Gefahren für den demokratischen Charakter des politischen Gesamtprozesses zu übersehen, die sich daraus ergeben können, daß i n öffentlichen Versammlungen u m einer nicht auf rational diskutierter Uberzeugung, sondern auf Manipulation und Disziplinierung beruhenden Scheingeschlossenheit w i l l e n die offene Auseinandersetzung unterdrückt und zugleich eine Freund-FeindHaltung gefördert wird, die Kommunikation und Diskussion unmöglich macht. Eine manipulative Unterdrückung kontroverser Meinungsrichtungen i n der Versammlung w i r d zudem bei den Betroffenen sehr leicht die Tendenz erwecken, ihrem für legitim gehalten Standpunkt auch unter Verletzung der Legalität Ausdruck und Gehör zu verschaffen und einen unfriedlichen Versammlungsablauf heraufzubeschwören. Wenn trotz dieser Bedenken die Auffassung vertreten wird, daß auch bei öffentlichen Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme kein Rechtsanspruch auf Worterteilung besteht und selbst die Diskriminierung bestimmter Meinungsrichtungen durch die Versammlungsleitung nicht rechtswidrig ist, so nicht deshalb, w e i l die Ordnungsund Leitungsgewalt vom Privatrecht und nicht vom öffentlichen Recht her verstanden und eine unmittelbare Grundrechtsbindung des Versammlungsleiters abgelehnt wird. Die Gründe für diese Auffassung sind nicht primär dogmatischer Natur, sie ergeben sich vielmehr daraus, daß es nicht möglich scheint, praktikable Gesichtspunkte festzustellen, die eine differenzierte Verrechtlichung des hier zugrunde liegenden Interessenkonflikts erlauben. B i l l i g t man nämlich dem Versammlungsleiter und dem hinter i h m stehenden Veranstalter i m Hinblick auf ihre Initiativfunktion und den Charakter der Versammlungsfreiheit als Kampf- und Organisationsgrundrecht überhaupt ein gewisses Maß an Parteilichkeit bei der inhaltlichen Gestaltung stattfindender Diskussion zu und hält sie nicht wie staatliche Funktionsträger für verpflichtet, jede Meinungsrichtung i n der Versammlung zu dulden, so

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

würde die Frage, ob durch eine unter Meinungsgesichtspunkten erfolgende Wortverweigerimg oder -entziehung das Maß zulässiger Parteilichkeit überschritten ist, notwendig zu einer auf den jeweiligen konkreten Fall bezogenen Einzelabwägung führen. Eine derartige rechtliche Einzelabwägung, bei der i m Grunde Meinung gegen Meinung steht, mag zwar bei Mitgliederversammlungen von Dauerverbänden möglich und sogar erforderlich sein, der ad hoc gebildeten öffentlichen Versammlung ist sie jedoch nicht angemessen. Abgesehen von dem Problem der rechtlichen Durchsetzung des Ergebnisses einer solchen Einzelabwägung, das bei dem Augenblicksverband einer öffentlichen Versammlung ungleich schwieriger zu lösen wäre als i n einem Dauerverband, ist zu berücksichtigen, daß die Frage der aktiven Mitwirkungsrechte und ihres rechtlichen Schutzes i n einem inneren Zusammenhang mit der Einstellung zum Verbandszweck steht. Die Mitglieder eines Dauerverbandes identifizieren sich durch ihren Beitritt grundsätzlich positiv mit den inhaltlichen Verbandszielen und verpflichten sich zu deren Förderung. Dem entspricht andererseits ein Rechtsanspruch auf aktive M i t w i r k u n g und innerverbandliche Gleichbehandlung, der vor allem dort, wo es sich u m Dauerverbände handelt, die i m Bereich demokratischer Teilnahme tätig werden, auch durch die Verbandssatzung prinzipiell nicht beseitigt werden darf. Zwar kann auch i n einer politischen Partei oder i n einer Gewerkschaft trotz des Gebotes innerverbandlicher Demokratie 2 6 keine absolute Meinungsfreiheit herrschen. Die durch den Gedanken der Verbandsschädigung und das Prinzip der Gegnerfreiheit bedingten Grenzen sind auch hier zu beachten. Gleichwohl erscheint eine rechtliche Einzelabwägung zwischen den Erfordernissen verbandlicher Geschlossenheit einerseits und dem demokratischen Mitwirkungs- und Meinungsinteresse der Mitglieder nicht nur möglich, sondern auch geboten, zumal auch kritische Äußerungen grundsätzlich die Vermutung der Verbandsloyalität für sich haben. Eine entsprechende Loyalitätsvermutung besteht dagegen für die Teilnehmer einer ad hoc gebildeten öffentlichen Versammlung nicht. Die Teilnahme begründet lediglich die Pflicht, gröbliche Störungen des Versammlungsablaufs zu unterlassen, enthält aber keineswegs eine Zustimmung zum von Veranstalter und Leiter bestimmten inhaltlichen 2« Obwohl eine generelle Übertragung des Gebotes innerverbandlicher Demokratie des A r t . 21 Abs. 1 Satz 3 GG auf den gesamten Bereich institutioneller öffentlicher Meinungsfreiheit abzulehnen ist, ist dennoch eine Ausdehnung dieses Grundsatzes über die Parteien hinaus durchaus möglich und gegebenenfalls sogar geboten. I m Unterschied zu Ridder, der eine solche Übertragung „bedenkenlos" vornehmen w i l l , w i r d hier jedoch die A u f fassung vertreten, daß i m konkreten F a l l u n d f ü r die einzelnen Intitutionen sehr genau untersucht werden muß, ob u n d inwieweit das Gebot interner demokratischer Ordnung angemessen u n d erforderlich ist.

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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Versammlungszweck, geschweige denn eine Verpflichtung zu seiner Förderung. Es wäre vielmehr sogar unzulässig, eine positive Zustimmung zum Versammlungszweck verbindlich zu fordern und zur Zutrittsvoraussetzung zu machen. Die i n der öffentlichen Versammlung i m Unterschied zu Dauerverbänden fehlende grundsätzliche Interessenund Meinungshomogenität macht eine rechtliche Einzelabwägung des Meinungsinteresses von Veranstalter und Leiter einerseits und Versammlungsteilnehmern andererseits praktisch unmöglich. So läßt sich auch der vereinsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung nicht auf die öffentliche Versammlung übertragen, denn seine innere Rechtfertigung bildet die Zustimmung und die Pflicht zur Förderung der inhaltlichen Verbandsziele. Da aber die Versammlungsteilnehmer keinerlei Verpflichtung zur Billigung und Förderung des vom Veranstalter und Leiter bestimmten inhaltlichen Versammlungszweckes trifft, w i r d man umgekehrt auch keine Verpflichtung von Veranstalter und Leiter annehmen können, die Mitwirkungs- und Meinungsinteressen der Versammlungsteilnehmer i n besonderer Weise zu respektieren. Danach unterliegt der Versammlungsleiter bei der Worterteilung und Wortentziehung, anders als bei Zutrittsbeschränkungen und Versammlungsausschlüssen, keinen rechtlichen Bindungen. Diese unterschiedliche Behandlung der Befugnisse zur Zutrittsbeschränkung und zum Versammlungsausschluß einerseits und zur Worterteilung und -entziehung andererseits ist allerdings nicht allein dogmatisch zu begründen, sie entspricht jedoch einem materiellen Unterschied i n der grundrechtsimmanenten Konflikt- und Interessenlage. Durch das einfache Zutrittsund Anwesenheitsrecht der Versammlungsteilnehmer w i r d das Recht von Veranstalter und Leiter, auf den inhaltlichen Ablauf der Versammlung Einfluß zu nehmen, in viel geringerem Maße berührt als durch eine aktive Diskussionsteilnahme. Dementsprechend ist das schutzwürdige Interesse von Veranstalter und Leiter, bestimmten Personen oder Personengruppen die Anwesenheit i n der Versammlung zu verwehren, deutlich geringer als ihr Interesse zu verhindern, daß bestimmte Personen an der Diskussion teilnehmen und dadurch aktiv auf den inhaltlichen Versammlungszweck Einfluß nehmen. Anders ausgedrückt, da das i n der Versammlungsfreiheit der Teilnehmer enthaltene Moment der Meinungsfreiheit i n der Form der Informationsfreiheit die ebenfalls aus der Versammlungsfreiheit folgenden legitimen Interessen von Veranstalter und Leiter viel weniger berührt als das Moment der Meinungsfreiheit der Teilnehmer i n Form der Äußerungsfreiheit, kann es auch nicht i n gleichem Maße eingeschränkt werden. I m übrigen ist darauf hinzuweisen, daß ein rechtlicher Schutz gegenüber willkürlichen Zutrittsbeschränkungen und Versammlungsaus-

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

schlüssen, zumindest auch sozial einen Schutz gegenüber diskriminierenden Manipulationen der Diskussionsleitung darstellt. Nicht nur die Pluralität der Grundrechtsausübung, die es erlaubt, Diskriminierungen durch den Besuch anderer Versammlungen auszuweichen, sondern auch der Zwang, vor einem Publikum zu agieren, das nicht nur aus eingeschworenen Anhängern besteht, sondern i n dem sich auch Personen befinden, die sich nur informieren wollen, trägt zu einer sozialen Selbstregulierung i m Sinne fairer und demokratischer Verfahrensweisen i n öffentlichen Versammlungen bei. Da eine manipulative, als unsachlich empfundene Diskussionsleitung sehr leicht dazu führen wird, den vom Veranstalter und Leiter verfolgten Versammlungszweck insgesamt zu diskreditieren, w i r d ein halbwegs geschickter Versammlungsleiter schon i m eigenen Interesse danach trachten, einen entsprechenden Eindruck zu vermeiden. I m Hinblick auf die Inhomogenität der Interessen der Versammlungsbeteiligten und m i t Rücksicht auf das Moment sozialer Selbstregulierung durch eine pluralistische Öffentlichkeit w i r d man bei der öffentlichen Versammlung von einer Verrechtlichung der Diskussionsfreiheit der Teilnehmer absehen müssen. Anders als die rechtliche Sicherung des einfachen Anwesenheitsrechts gegen willkürliche Diskriminierungen von Seiten der Versammlungsleitung würde auch eine differenzierte Verrechtlichung der aktiven Mitwirkungsinteressen der Teilnehmer die Funktionsfähigkeit eines freien Versammlungswesens eher beeinträchtigen als sie fördern. Eine rechtliche Regelung des Ablaufs, insbesondere des Dikussionsablaufes i n öffentlichen Versammlungen, die den Leiter an die Beachtung von aktiven Mitwirkungsrechten der Teilnehmer bindet, müßte sich entweder damit begnügen, Grundsätze aufzustellen, die nicht durchsetzbar wären und deshalb von der Praxis ignoriert würden, oder sie müßte rechtliche Sanktionen vorsehen, deren Durchsetzung den von der Diskussion Ausgeschlossenen regelmäßig wenig nützen, andererseits aber die Gefahr m i t sich bringen würde, öffentliche Versammlungen einer Schematik des Ablaufs zu unterwerfen, die i m Widerspruch zu ihrem Charakter als Instrument innovatorischer öffentlicher Interessen- und Meinungsvertretung stünde. Wollte man den Versammlungsteilnehmern tatsächlich ein vom Versammlungsleiter zu respektierendes Recht auf aktive M i t w i r k i m g , insbesondere auf Worterteilung zubilligen, so könnte dies grundsätzlich nur nachträglich i m Wege eines Rechtsstreits durchgesetzt werden. Einen Anspruch auf immittelbare Durchsetzung i n der Versammlung selbst, sei es i m Wege der Selbsthilfe, sei es unter Einschaltung der Polizei, w i r d man nicht ernsthaft i n Erwägung ziehen können. M i t der Möglichkeit einer nachträglichen gerichtlichen Entscheidung ist einem von der Diskussion ausgeschlossenen Teilnehmer aber normalerweise

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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kaum gedient. Umgekehrt könnte eine weitgehende Klagemöglichkeit, aufgrund deren, unter Umständen sogar m i t Aussicht auf Erfolg, die Verletzung aktiver Mitwirkungsrechte geltend gemacht werden könnte, von Versammlungsgegnern sehr leicht dazu mißbraucht werden, Veranstalter und Leiter von vornherein unter das Damoklesschwert nachfolgender Prozesse zu stellen, was gerade für Marginalgruppen ein nicht unerhebliches Hindernis bei der Wahrnehmung ihres Veranstaltungsrechts darstellen könnte.

I I I . Rechtsschutz gegen Anordnungen des Versammlungsleiters Trotz der Bedenken gegen eine weitgehende Verrechtlichung der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen w i r d man jedoch eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Weisungen des Versammlungsleiters nicht generell ausschließen dürfen. Eben diese Frage, inwieweit eine Klage gegen Anordnungen des Versammlungsleiters zulässig und welcher Rechtsweg dabei einzuschlagen sei, stellte sich i n dem Fall, der den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildete. Bei der Prüfung der Zulässigkeit einer solchen Klage war das Oberverwaltungsgericht Lüneburg zutreffend, wenn auch m i t unzulänglicher Begründung, davon ausgegangen, daß die Weisungen des Versammlungsleiters keine Verwaltungsakte sind. Seine Befugnisse aufgrund des Versammlungsgesetzes sind nicht als quasipolizeiliche, hoheitliche Gewaltbefugnisse anzusehen, mit denen er als „beliehener Unternehmer" ausgestattet ist. Sie folgen vielmehr aus dem Charakter der Versammlungsfreiheit als Organisationsgrundrecht, d.h. als Recht zu organisierter Interessen- und Meinungsvertretung und stellen lediglich eine besondere Ausübungsform dieses Grundrechts dar. Offengelassen hatte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg i n dem genannten Fall die Frage, ob eine Streitigkeit zwischen Leiter und Teilnehmern öffentlicher Versammlungen über den Umfang ihrer Befugnisse als sonstige Streitigkeiten des öffentlichen Rechts anzusehen sei. Nach der hier entwickelten Auffassung zur Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters ist diese Frage zu verneinen. Zwar handelt es sich bei der Ordnungs- und Leitungsgewalt des Versammlungsgesetzes um in einem traditionell rein öffentlichrechtlichen Gesetz geregelte Befugnisse; das ändert aber nichts daran, daß diese Befugnisse ihrer Natur nach prinzipiell zum Privatrecht zu rechnen sind, auch wenn sie über den Bereich der Privatsphäre hinaus deutlich i n den Bereich materialer Öffentlichkeit i m Sinne demokratischer Teilnahme hineinreichen und insofern Züge einer „demokratischen Selbstverwaltungsbefugnis" tragen.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Der i n diesem Sinne zumindest teilweise öffentliche Status der Rechtsstellung des Versammlungsleiters zeigt allerdings, daß die traditionellen Kategorien von öffentlichem Recht und Privatrecht als Rechtsmaterien wechselseitig exklusiver Bereiche und der dahinter stehende verfassungstheoretische Gegensatz von „Staat" und „Gesellschaft" der Verfassungswirklichkeit und dem Verfassungsauftrag eines sozialstaatlichen und demokratischen Gemeinwesens nicht mehr angemessen sind. Aber eben w e i l sich damit die Aufgabe stellt, die Dichotomie von öffentlichem und privatem Recht i n ihrer überkommenen Form durch eine differenziertere Betrachtungsweise aufzulösen und Handlungsmaßstäbe zu entwickeln, die auf die politische und soziale Funktion unterschiedlicher Handlungsbereiche und die Interessen der daran Beteiligten abgestellt sind, wäre es verfehlt, nichtstaatliche Teilverbände und Einrichtungen i m Bereich demokratischer Teilnahme dem öffentlichen Recht zuzurechnen, dessen Handlungsmaßstäbe tendenziell immer am B i l d des „Staates" orientiert bleiben. Vom Boden des hier vertretenen Grundrechts- und Freiheitsverständnisses, das den Akzent der Grundrechte primär auf die Gewährleistung der offenen Vielfalt des Gemeinwesens legt, erscheint es vielmehr angemessener, das Privatrecht i m Sinne eines Gemeinrechts zum Ausgangspunkt einer solchen differenzierenden Betrachtungsweise zu machen. Eine Streitigkeit zwischen Leiter und Teilnehmern einer öffentlichen Versammlung über den Umfang ihrer Rechte darf deshalb nicht in Parallele zu einer Streitigkeit über Umfang und Grenzen der öffentlichrechtlichen Anstaltsgewalt i m besonderen Gewaltverhältnis gestellt werden, auch wenn die öffentliche Versammlung unverkennbar anstaltliche Züge trägt. Sie ist vielmehr i n Analogie zu einer Streitigkeit zwischen Organen und Mitgliedern eines Vereins über innerverbandliche Rechtsbeziehungen zu sehen. Auch hier ändert die Tatsache, daß bestimmte privatrechtlich verfaßte Verbände, wie etwa Parteien und Gewerkschaften, wichtige öffentliche Funktionen i m Bereich demokratischer Teilnahme wahrnehmen und deshalb auch bei der Gestaltung ihrer inneren Ordnung zumindest teilweise anderen Handlungsmaßstäben unterliegen als Verbände, die primär private Zwecke verfolgen, nichts daran, daß Streitigkeiten über Umfang und Grenzen der Rechte der Verbandsbeteiligten vor die ordentlichen Gerichte und nicht vor die Verwaltungsgerichte gehören. Zwar beruht die Rechtsstellung des Teilnehmers einer ad hoc gebildeten öffentlichen Versammlung i m Unterschied zur Stellung des M i t gliedes eines Dauerverbandes nicht auf einer i m Rahmen der Verbandsautonomie vereinbarten Satzung. Sie ergibt sich vielmehr immittelbar aus dem Versammlungsgesetz, dessen Ordnungsbestimmungen man insofern als eine gesetzlich fixierte Mindestsatzung für den Augenblicks-

2. Kap.: Umfang und Grenzen der Ordnungsgewalt

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verband der öffentlichen Versammlung bezeichnen könnte, die keiner Vereinbarung zwischen den Versammlungsbeteiligten bedarf. Dieser Unterschied i n der Begründung der jeweiligen Rechtsstellung hindert jedoch nicht, dem Teilnehmer einer öffentlichen Versammlung bei einer angeblichen Verletzung seiner Teilnehmerrechte durch den Versammlungsleiter oder Veranstalter grundsätzlich i n ähnlicher Weise Rechtsschutz durch die Gerichte zu gewähren wie dem Mitglied eines privatrechtlich organisierten Dauerverbandes gegen angebliche Verletzungen seiner Mitgliedsrechte durch die Verbandsorgane. Die Zulässigkeit einer Klage gegen Anordnungen des Leiters einer öffentlichen Versammlung, durch die sich ein Teilnehmer in seiner Rechtsstellung verletzt sieht, bleibt allerdings unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzinteresses bei dem Augenblicksverband der Versammlung problematischer als bei einem Dauerverband. Nach Lage der Dinge w i r d regelmäßig nur eine privatrechtliche Feststellungsklage in Betracht kommen 2 7 , für die nach §256 ZPO ausdrücklich ein rechtliches Interesse an der gerichtlichen Feststellung zur Voraussetzung gemacht ist. Anders als bei einem Dauerverband, bei dem die Wirkungen einer rechtsverletzenden Maßnahme der Verbandsorgane zum Zeitpunkt der Klageerhebung meist noch fortbestehen und durch einen Rechtsstreit beseitigt werden können, ist es bei dem nur vorübergehenden Charakter öffentlicher Versammlungen in hohem Maße fraglich, ob überhaupt noch ein rechtliches Interesse eines Versammlungsteilnehmers besteht, nachträglich feststellen zu lassen, daß eine Anordnung des Versammlungsleiters seine Rechte in unzulässiger Weise verletzt hat. I n diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Begriff des rechtlichen Interesses im Sinne von § 256 ZPO grundsätzlich weit und frei auszulegen ist 2 8 . Entscheidend ist eine tatsächliche Unsicherheit der Rechtslage und die Absicht des Klägers, sein Verhalten entsprechend der gerichtlichen Feststellung einzurichten 29 . Unter diesem Gesichtspunkt w i r d man eine Feststellungsklage gegen Anordnungen 27 Eine Schadensersatzklage ist auszuschließen, da eine Naturalrestitution durch eine Wiederholung der Versammlung unmöglich erscheint, und auch ein Ersatz i n Geld f ü r einen immateriellen Schaden abzulehnen ist. Z w a r hat die Rechtsprechung über die unmittelbaren Haftungstatbestände des B G B hinaus auch bei Verletzung des sogenannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts materielle Geldentschädigungen zuerkannt. Eine Ausdehnung dieser Rechtsprechung auf Verletzungen des Versammlungsrechts w ü r d e aber zu einer Kommerzialisierung des Prozesses öffentlicher Auseinandersetzung führen, die das freie Versammlungsrecht eher gefährden als schützen würde. 28 So hat beispielsweise die Rechtsprechung eine Klage auf Feststellung der Ungültigkeit eines Vereinsausschlusses auch da f ü r zulässig gehalten, w o ein Vereinsmitglied seinerseits f r e i w i l l i g ausgeschieden war, ein Rechtsverhältnis zwischen den Parteien also nicht mehr bestand. Vgl. Rosenberg, § 86111c; RGZ 122, 269 f. 29 Baumbach-Lauterbach, A n m . 3 B zu §256 ZPO; RG H R R 42, 684; RGZ 113, 209.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

der Versammlungsleitung zumindest dort für zulässig halten müssen, wo erkennbar die Möglichkeit besteht, daß der Kläger bei weiteren Versammlungen desselben Veranstalters und Leiters wiederum m i t Maßnahmen zu rechnen hat, die er als ungerechtfertigte Diskriminierungen empfindet 30 . Ein gerichtlicher Rechtsschutz in diesem Umfang dürfte kaum zu einer mißbräuchlichen Ausnutzung durch Versammlungsgegner führen. Er würde aber andererseits doch diskriminierende Praktiken treffen, durch die bestimmten Personen und Personengruppen generell und ohne sachlichen Grund die Partizipation an öffentlichen Versammlungen verschlossen werden soll.

Drittes

Kapitel

Zusammenfassung Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Frage nach der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen und den für seine Tätigkeit geltenden Verantwortungsmaßstäben, insbesondere der Bindung des Versammlungsleiters an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer. Diese Frage ist durch die Ordnungsbestimmungen des Versammlungsgesetzes, das es erstmalig unternimmt, die Rechte und Pflichten der Beteiligten an öffentlichen Versammlungen gegeneinander abzugrenzen, i n neuartiger Weise gestellt. Die Beantwortung dieser Frage, die bislang von Rechtsprechung und Lehre noch nicht geleistet wurde, erfordert eine vertiefte verfassungstheoretische Auseinandersetzung m i t der politischen und sozialen Funktion des Versammlungsgrundrechts i n einem demokratischen Gemeinwesen, die bisher ebenfalls nur i n Ansätzen besteht. U m die Grundlage für eine solche Theorie der Versammlungsfreiheit zu gewinnen, w i r d zunächst die historische Entwicklung dieses Grundrechts und seines Verständnisses i n der Staatslehre nachgezeichnet. Hervorzuheben ist dabei, daß bereits in den Ursprüngen der Versammlungsfreiheit als eigenständiges Grundrecht i n England und Amerika gegen Ende des 18. Jahrhunderts die politische Mitwirkungsfunk30 Die Klage k a n n nicht n u r gegen den Versammlungsleiter, sondern gegen den Veranstalter gerichtet werden. Da sich der Veranstalter des sammlungsleiters bei der Erfüllung seiner Pflichten gegenüber den nehmern bedient, hat er i n entsprechender Anwendung des § 278 B G B f ü r das Verhalten des Leiters einzustehen.

auch VerTeilauch

3. Kap.: Zusammenfassung

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tion i m Zusammenhang m i t dem „right to petition the government" klar hervortritt. Dieser politisch instrumentale Zug des freien Versammlungsrechts, seine Nähe zu den Rechten des status activus und zum Gedanken der Volksrepräsentation, geht jedoch i n der individualistischen Grundrechtsauffassung der Menschenrechtserklärungen und Verfassungen der französischen Revolution weitgehend verloren. Durch die Praxis der Clubs und Volksgesellschaften, sich selbst Funktionen des „govenment" anzumaßen, gewinnt die Versammlungsfreiheit allerdings i n Frankreich zugleich ein revolutionäres und radikal-demokratisches Moment, das i h r i n England und den USA gleichermaßen fremd ist. Für die Entwicklung und das Verständnis der Versammlungsfreiheit in Deutschland wurde i n erster Linie das Vorbild der französischen Menschenrechtserklärungen maßgebend, deren individualistischer und dogmatischer Grundzug den liberalen Vorkämpfern für die Anerkennung dieses Grundrechts vor 1848 i n besonderer Weise entsprach und ihren weithin noch vernunftrechtlichen Kategorien verhafteten Vorstellungen entgegenkam. Neben den vorherrschenden Ableitungen der Versammlungsfreiheit als vorstaatliches individuelles Menschenrecht findet sich bei den Autoren des deutschen Frühliberalismus jedoch auch deutlich eine Tendenz, den politischen Mitwirkungscharakter eines freien Versammlungswesens und seinen Zusammenhang mit dem Repräsentativsystem hervorzuheben. M i t dem Scheitern der liberalen Revolution von 1848 geht jedoch dieses politisch akzentuierte Verständnis der Versammlungsfreiheit fast völlig verloren und macht einer positivistischen Betrachtungsweise Platz, i n der das Problem des freien Versammlungsrechts i m wesentlichen auf eine Frage des Polizeirechts reduziert wird. Diese positivistische Grundrechtsauffassung, die die Versammlungsfreiheit i n den Bereich einer grundsätzlich apolitisch verstandenen „Gesellschaft" verweist und sich darauf beschränkt, sie gegen gesetzlich nicht begründete Eingriffe des Staates zu schützen, w i r k t trotz tiefgreifender sozialer, politischer und rechtlicher Wandlungen auch i n der Weimarer Zeit und darüber hinaus bis heute fort. Zwar zeigen sich in der neueren Literatur Ansätze zu einer Überwindung des rein individualrechtlichen und staatsabwehrenden Verständnisses der Versammlung durch eine Betonung der institutionellen und demokratischen Aspekte dieses Grundrechts. Eine tieferdringende verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit den Konsequenzen eines solchen gewandelten Grundrechtsverständnisses gerade auch für die innere Ordnung öffentlicher Versammlungen fehlt jedoch.

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Der i n der Arbeit unternommene Versuch einer eigenen theoretischen Grundlegung der Versammlungsfreiheit löst sich bewußt von der traditionellen Betrachtung dieses Grundrechts als subjektives öffentliches Individualrecht, er stellt vielmehr die Versammlung selbst i n den Mittelpunkt, die als Verbandsphänomen begriffen wird, und zwar als „Augenblicksverband" m i t stark anstaltlicher Prägung. Die Ordnungsgewalt des Versammlungsleiters gewinnt dementsprechend den Charakter einer durch die Rechtsordnung anerkannten und ausgestalteten sozialen Verbandsgewalt. Von diesem Ansatzpunkt her w i r d die Auffassung entwickelt, daß sich die Versammlungsfreiheit nicht auf die Gewährleistung der Handlungs- und Meinungsfreiheit einzelner beschränkt, sondern daß sie vor allem auch die Möglichkeit zu organisiertem Gruppenhandeln, d. h. die Bildung und Betätigung von Augenblicksverbänden umfaßt. Sie ist insofern nicht nur ein Meinungs-, sondern auch ein Organisationsgrundrecht. Ihre politische und soziale Funktion i n einem demokratischen Gemeinwesen w i r d vor dem Hintergrund der modernen differenzierten und pluralistischen Gruppengesellschaft gesehen, i n der sich auch individuelle Interessen und Freiheitsrechte weithin nur noch kollektiv behaupten und durchsetzen lassen. Dabei gewinnt das Moment der Freiheitssicherung durch die Versammlungsfreiheit als kollektives Meinungs- und Organisationsgrundrecht vor allem unter dem Gesichtspunkt aktiv demokratischer M i t w i r k u n g am politischen Prozeß mit dem Ubergang vom liberalen Rechtsstaat zum demokratischen Sozialstaat eine neue verfassungstheoretische Dimension. Bei der zunehmenden Abhängigkeit der individuellen und kollektiven Lebensgrundlagen von politischer Gestaltung, die die hochindustrielle Gesellschaft kennzeichnet und die i m Begriff des demokratischen Sozialstaats i m Grundgesetz selbst formelhaft zum Ausdruck kommt, erhalten jene Grundrechte, die wie die Versammlungsfreiheit die demokratische Teilnahme der Bürger und ihrer organisierten Gruppen an den Prozessen der öffentlichen Auseinandersetzung über die Gestaltung und Verteilung politisch vermittelter Freiheits- und Entfaltungschancen garantieren, den Charakter konstitutiver Funktionselemente der öffentlichen Ordnung eines demokratischen Gemeinwesens. I n diesem Sinne erscheint es gerechtfertigt, die Ausübung des freien Versammlungsrechts, zumindest soweit damit über die Sphäre primär privater Zwecke hinaus die Partizipation an der öffentlichen Auseinandersetzung über die politische Gestaltung des Gemeinwesens intendiert wird, als Wahrnehmung einer öffentlichen Funktion anzusehen. Diese öffentliche Funktion behält gleichwohl nichtstaatlichen Charakter, denn auch soweit die Versammlungsfreiheit die demokratische Teilnahme an der öffentlichen politischen Meinungs- und Willens-

3. Kap.: Zusammenfassung

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bildung schützt, bleibt sie primär dem Gedanken der Gewährleistung der Offenheit und der Vielfalt des Gemeinwesens verpflichtet. Insofern darf die öffentliche Funktion der Versammlungsfreiheit nicht einseitig unter dem Aspekt der Integration, d. h. des Beitrags zur politischen Einheitsbildung, sondern muß i n gleichem Maße auch unter dem Gesichtspunkt der Disjunktion, der immer neuen Infragestellung dieser Einheit gesehen werden. Für die Bestimmung der Rechtsnatur der Ordnungsgewalt des Leiters öffentlicher Versammlungen ergibt sich aus diesen verfassungstheoretischen Überlegungen folgendes: Trotz des scheinbar quasipolizeilichen Charakters eines Teils seiner Aufgaben (Störungsabwehr) übt der Versammlungsleiter keine verliehenen „staatlichen" Befugnisse aus. Seine Stellung und seine Aufgaben folgen vielmehr unmittelbar aus dem Gedanken der Gewährleistung organisierten Gruppenhandelns durch die Versammlungsfreiheit; sie stellen lediglich eine besondere Ausübungsform dieses Grundrechts dar. Als rechtlich anerkannte und ausgestaltete Verbandsgewalt, der nur die Versammlungsteilnehmer unterworfen sind, ist die Ordnungsgewalt unabhängig von der Sachherrschaft über den räumlichen Versammlungsbereich und nicht als hausrechtliche Befugnis anzusehen. Sie zeigt zwar deutliche Parallelen zur öffentlichrechtlichen Anstaltsgewalt, ist aber als nichtstaatliche Befugnis nicht dem öffentlichen Recht zuzurechnen, sondern vom Privatrecht i. S. eines Gemeinrechts her zu interpretieren. Soweit sie i n dem durch das Prinzip der demokratischen Teilnahme gekennzeichneten Bereich nichtstaatlicher Öffentlichkeit ausgeübt wird, gewinnt die Ordnungs- und Leitungsgewalt den Charakter einer „demokratischen Selbstverwaltungsbefugnis"; als solche unterliegt sie zumindest teilweise anderen Verantwortungsmaßstäben und Bindungen als sie für das Privatrecht i m traditionellen Verständnis gelten. Diese für die zwar nichtstaatliche, aber gleichwohl öffentliche Funktion des Versammlungsleiters geltenden spezifischen Handlungsmaßstäbe lassen sich nicht abstrakt dogmatisch, sondern nur i n einer differenzierenden Betrachtungsweise entwickeln, die die soziale Eigenart und Funktion des durch die Versammlungsfreiheit gewährleisteten Handlungszusammenhangs berücksichtigt. Als Ausübungsform der Versammlungsfreiheit ist die Ordnungsgewalt in doppelter Weise begrenzt, einmal durch die generellen Grenzen organisierten Gruppenhandelns i n einem repräsentativ verfaßten demokratischen Gemeinwesen, zum anderen durch die ebenfalls gewährleistete Betätigungsfreiheit der übrigen Versammlungsbeteiligten. Als solche generellen Grenzen der Betätigungsfreiheit organisierter Gruppen und ihrer Organe sind die Prinzipien der Einheit und der

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

Offenheit der Ordnung des politischen Gemeinwesens zu beachten. So folgt aus dem Prinzip der Einheit des Gesamtverbandes nicht nur die Beschränkung des Versammlungsrechts auf gewaltlose Mittel, sondern auch das Verbot für nichtstaatliche Teilverbände, über den legitimen Druck auf Regierung, Parlament und Verwaltung hinaus sich selbst an die Stelle dieser Organe zu setzen und mit Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit für das gesamte Gemeinwesen aufzutreten. Dem entspricht ein grundsätzliches verfassungsrechtliches Bedenken, die Organe von Teilverbänden m i t öffentlicher Funktion, die nicht i n den institutionellen Staatsapparat eingegliedert sind und auch nicht eingegliedert werden dürfen, mit unmittelbar durchsetzbaren öffentlichrechtlichen Gewaltbefugnissen auszustatten. Auch das Prinzip der Offenheit der Ordnung des Gemeinwesens legitimiert nicht nur die B i l dung und Betätigung organisierter Gruppen, sie begrenzt sie vielmehr auch. Dies gilt nicht nur für die Zielsetzung solcher Gruppen, die nicht darauf gerichtet sein darf, die Offenheit des Gemeinwesens selbst zu beseitigen, sondern tangiert auch die innere Ordnung nichtstaatlicher Teilverbände, die nicht so gestaltet werden darf, daß sie zu einer schwerwiegenden Gefährdung der Offenheit der Partizipation am demokratisch politischen Prozeß führt. Daneben bleiben die Grenzen zu beachten, die der Ausübung des freien Versammlungsrechts i m Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung gezogen sind. Die Berücksichtigung der aktiv demokratischen Funktion der Versammlungsfreiheit und ihres institutionellen Charakters als Gewährleistung eines sozial und partiell auch rechtlich geordneten Handlungszusammenhangs führt dabei grundsätzlich zu einer Ausweitung des Schutzbereiches gegenüber einem nur individualrechtlichen Verständnis dieses Grundrechts. Dies gilt nicht nur i m Verhältnis zur staatlichen Gewalt, insbesondere der Polizei, sondern auch im Verhältnis zu den Normen der Strafrechts und Privatrechts, die unter Beachtung des besonderen Wertgehalts der Versammlungsfreiheit als Meinungs- und Organisationsgrundrecht und ihrer Bedeutung für den demokratischen Prozeß auszulegen sind. Dabei w i r d die besondere Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit öffentlicher Versammlungen, die i m Bereich demokratischer Teilnahme an der öffentlichen Auseinandersetzung über politisch vermittelte Freiheits- und Lebenschancen tätig werden, hervorgehoben. Für die Gestaltung der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen ist jedoch entscheidend, daß die Betätigungsfreiheit des Versammlungsleiters nicht nur den generellen Schranken organisierten Gruppenhandelns unterliegt, sondern i n spezifischer Weise durch die ebenfalls grundrechtlich geschützte Betätigungsfreiheit der übrigen Versammlungsbeteiligten begrenzt wird. Eine unmittelbare Bindung des

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Versammlungsleiters an die Grundrechte der Versammlungsteilnehmer ist jedoch abzulehnen. Sie widerspräche einem Handlungsbereich, der selbst Ausdruck jener offenen sozialen und politischen Vielfalt des Gemeinwesens ist, deren Schutz die Grundrechte primär dienen. Ebenso ist eine generelle Ausdehnung des Gebots interner demokratischer Ordnimg (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) auf öffentliche Versammlungen, selbst wo diese i m Bereich öffentlicher demokratischer Teilnahme tätig werden, nicht erforderlich. I m Hinblick auf den nur vorübergehenden Charakter öffentlicher Versammlungen und die Pluralität der Ausübungsmöglichkeiten dieses Grundrechts sind die von undemokratisch organisierten öffentlichen Versammlungen ausgehenden Gefahren ungleich geringer als bei den Parteien oder anderen oligopolitischen Dauerverbänden mit öffentlicher Funktion. Bei der Versammlungsfreiheit w i r d vielmehr die für die Offenheit des demokratischen Prozesses unverzichtbare Vielfalt und Vielzahl der Faktoren öffentlicher Auseinandersetzung gerade dadurch gewährleistet, daß der bestimmende Einfluß des Veranstalters bzw. des von diesem bestellten Versammlungsleiters auf den Ablauf von Versammlungen — gegebenenfalls auch gegen den Willen der Teilnehmer — rechtlich gesichert wird. Dieser bestimmende Einfluß von Veranstalter und Leiter, den das Versammlungsgesetz für öffentliche Versammlungen unabhängig vom privaten Hausrecht positiv festlegt, ist allerdings nicht völlig unbegrenzt; vielmehr bleibt die Tatsache zu beachten, daß auch die einfachen Versammlungsteilnehmer dasselbe Grundrecht ausüben. Das Problem der Begrenzung der Ordnungsgewalt i n öffentlichen Versammlungen durch die Rechte der Teilnehmer ist dabei nicht primär unter dem Gesichtspunkt der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte i m Privatrecht zu sehen, sondern als ein Problem der Lösung eines grundrechtsimmanenten Interessenkonfliktes. Dieser grundrechtsimmanente Konflikt, der sich aus der Eigenart der Versammlungsfreiheit als kollektives Meinungs- und Organisationsgrundrecht ergibt, läßt sich nicht für alle Versammlungstypen einheitlich lösen. Es ist jedoch davon auszugehen, daß das Mitwirkungsinteresse der Teilnehmer öffentlicher Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme an der öffentlichen Auseinandersetzung über die politische Gestaltung des Gemeinwesens auch rechtlich i n höherem Maße schutzwürdig ist als bei Versammlungen, die primär privaten Zwecken dienen. Dies gilt nicht nur i m Verhältnis zur Staatsgewalt, sondern auch gegenüber dem Versammlungsleiter. Daraus w i r d die Folgerung gezogen, daß bei öffentlichen Versammlungen, die i m Bereich demokratischer Teilnahme tätig werden, vor allem das Zutritts- und Anwesenheitsrecht nicht w i l l k ü r lich eingeschränkt oder entzogen werden kann. Zwar rechtfertigt auch bei solchen Versammlungen die Absicht von Veranstalter und Leiter, 16 Qniliscb

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3. Teil: Die Ordnung in der Versammlung

eine möglichst geschlossene und nachdrückliche Meinungs- und Interessenrepräsentation zu erreichen, durchaus gewisse Beschränkungen des Zugangs unter Meinungsgesichtspunkten. Zugangsbeschränkungen jedoch, die in keinem sachlichen Zusammenhang m i t dem Versammlungszweck stehen und durch ihn nicht gedeckt sind, sind als rechtsw i d r i g anzusehen. Ebenso sind auch Versammlungsausschlüsse, die aus anderen Gründen als einer gröblichen Störung des Versammlungsablaufs erfolgen, unzulässig. Der Schutz des Anwesenheitsrechts gegen willkürliche Diskriminierungen durch Veranstalter oder Leiter w i r d dabei zugleich unter dem Gesichtspunkt der Selbstregulierung und Kontrolle der Gestaltung der inneren Ordnung öffentlicher Versammlungen durch das Prinzip der Öffentlichkeit selbst gesehen. Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt auch die Regelung des Versammlungsgesetzes, wonach nur solche Zutrittsbeschränkungen zulässig sind, die i n der Einladung öffentlich angekündigt sind und wonach ordnungsgemäß ausgewiesenen Pressevertretern der Z u t r i t t generell nicht versagt werden darf. Dagegen w i r d ein über das grundsätzlich nur passive Anwesenheitsrecht hinausgehendes aktives Mitwirkungsrecht der Teilnehmer, insbesondere ein Recht auf Worterteilung i n stattfindenden Diskussionen, auch soweit es sich u m öffentliche Versammlungen i m Bereich demokratischer Teilnahme handelt, abgelehnt. Da keine Rechtspflicht der Versammlungsteilnehmer zur Förderung des materiellen Versammlungszweckes besteht, besteht umgekehrt auch keine Verpflichtung von Veranstalter und Leiter, den Teilnehmern ohne Rücksicht auf deren Einstellung zum Versammlungszweck Gelegenheit zur Meinungsäußerung und damit Einfluß auf den inhaltlichen Ablauf der Versammlung zu gewähren. Vor allem würde eine differenzierte Verrechtlichung des hier zugrunde liegenden Interessen- und Meinungskonfliktes notwendig die Gefahr einer Schematik des Ablaufs öffentlicher Versammlungen m i t sich bringen, die i m Widerspruch zum Charakter des freien Versammlungsrechts als Instrument flexibler öffentlicher Interessenund Meinungsvertretung stünde und die die demokratische K r i t i k - und Innovationsfunktion der Versammlungsfreiheit i n einem offenen Gemeinwesen eher beeinträchtigen als fördern würde. Soweit ein Versammlungsteilnehmer jedoch i n seiner Rechtsstellung durch Maßnahmen des Versammlungsleiters verletzt wird, steht i h m grundsätzlich der Rechtsweg offen. Die Rechte des Versammlungsteilnehmers sind dabei nicht als subjektive öffentliche Rechte zu verstehen, sondern i n Parallele zu den Rechten des Mitgliedes eines privatrechtlich organisierten Dauerverbandes m i t öffentlicher Funktion zu sehen. Allerdings w i r d man bei einer entsprechenden Klage, die regelmäßig i n die Form einer zivilrechtlichen Feststellungs-, allenfalls einer

3. Kap.: Zusammenfassung

243

Unterlassungsklage zu kleiden wäre, ein Rechtsschutzinteresse nur dann annehmen können, wenn erkennbar die Möglichkeit erneuter Diskriminierungen des betreffenden Teilnehmers i n weiteren öffentlichen Versammlungen desselben Veranstalters und/oder Leiters besteht.

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