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German Pages [409] Year 2016
Jörg Noller
Die Bestimmung des Willens Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant
ALBER SYMPOSION
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Wie ist es möglich, dass der Mensch als freiwilliger Urheber seiner Handlungen – seien sie moralisch gut oder böse – angesehen werden kann? Die Studie verfolgt historisch-systematisch verschiedene im Ausgang von Kant hervorgebrachte Antworten auf diese Frage – bei Karl Leonhard Reinhold, Friedrich Schiller, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Die Studie zeigt, dass diese Freiheitsdebatte in einer größeren Tradition von Entwürfen willentlicher Selbstbestimmung steht, die sich über Leibniz, Duns Scotus und Thomas von Aquin bis hin zu Augustinus zurückverfolgen lassen und im Begriff des liberum arbitrium voluntatis, einer reflektierten und moralisch qualifizierten Entscheidungsfreiheit, ihren systematischen Bezugspunkt haben.
Der Autor: Jörg Noller, Jahrgang 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Redakteur des Philosophischen Jahrbuchs an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Er studierte in Tübingen und München und verbrachte Forschungsaufenthalte an den Universitäten Notre Dame (Indiana) und Chicago (Illinois).
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Jörg Noller Die Bestimmung des Willens
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SYMPOSION PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON CHRISTOPH HALBIG, JÖRN MÜLLER Band 136
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Jörg Noller
Die Bestimmung des Willens Zum Problem individueller Freiheit im Ausgang von Kant
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
2. Auflage 2016 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48771-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80817-7
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Vorwort zur ersten Auflage
Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die leicht überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2014 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-MaximiliansUniversität München angenommen wurde. An dieser Stelle gilt es, vielen Personen und Institutionen zu danken. Herrn Prof. Thomas Buchheim bin ich für die intensive Betreuung während der Entstehung der Arbeit und für die zahlreichen, sehr hilfreichen Anregungen zu großem Dank verpflichtet. Herrn Prof. Günter Zöller danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Den Herausgebern der Reihe »Symposion«, Herrn Prof. Christoph Halbig und ganz besonders Herrn Prof. Jörn Müller, danke ich für ihre instruktiven Anmerkungen zum Manuskript. Bei der Konrad-Adenauer-Stiftung möchte ich mich für die großzügige finanzielle Förderung während der Abfassung der Dissertation durch ein Promotionsstipendium bedanken und auch für die Möglichkeit, im akademischen Jahr 2011/2012 einen Forschungsaufenthalt an den Universitäten Notre Dame und Chicago verbringen zu können. Profitiert habe ich während dieser Zeit vor allem von den Anregungen von Prof. Karl Ameriks. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sei für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses gedankt. Das Buch ist meinen Eltern, Ruth und Dieter Noller, gewidmet. München, im August 2015
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Vorwort zur zweiten Auflage
Erfreulicherweise ist bereits ein Jahr nach Erscheinen der ersten Auflage eine zweite erforderlich geworden. Abgesehen von der Korrektur kleinerer Fehler wurden dabei keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen. München, im August 2016
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Inhalt
I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹. Kant und das Autonomie-Problem . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung: Das Autonomie-Problem nach Kant: Scheinproblem, Aporie oder Aufbruch zu neuen (alten) Ufern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Freiheit als Autonomie . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Autonomie als Problem . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheitstheoretischer Forschungsbedarf im Ausgang von Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur nachkantischen Freiheitsdebatte im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zu Kants Autonomiebegriff . . . . . . . . . . . . 2.3 Zur nachkantischen Freiheitsdebatte im Speziellen 3. Methode und Aufriss der Untersuchung . . . . . . . .
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II. Freiheit und Vernunft. Historisch-systematische Koordinaten 1. Indifferentismus oder intelligibler Fatalismus: Das freiheitstheoretische Grunddilemma . . . . . . . 2. Der Gebrauch der Vernunft. Vorkantisches Lösungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Liberum arbitrium (I): Die Binnendifferenzierung des Willens nach Augustinus . . . . . . . . . . . 2.2 Liberum arbitrium (II): Die Vernunft des Willens nach Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . 2.3 Liberum arbitrium (III): Die Bestimmung des Willens nach Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik des Willens. Systematisches Lösungspotenzial nach Harry G. Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung: Eckpunkte personaler Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der Vernunft. Kants Theorie vernünftiger Willensbestimmung . . . . . . . . . . . 1.1 Gründe als Ursachen. Das Problem einer Kausalität aus Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Ordnung der praktischen Vernunft . . . . . . 1.3 Der formale Bestimmungsgrund des Willens . . . 1.4 Der materiale und objektive Bestimmungsgrund des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der subjektive Bestimmungsgrund des Willens . . 2. Zusammenfassung: Die Notwendigkeit der Vernunft . 2.1 Perspektiven des Autonomie-Problems . . . . . . 2.2 Das Problem des intelligiblen Fatalismus . . . . . IV. Freiheit des Willens. Transformationen autonomer Vernunft . 1. Die Maximierung des Willens. Kants Kritik der Willkür in der Religionsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Der Gebrauch der Freiheit . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Grund des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Natur der Person . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Bestimmung des Grundes . . . . . . . . . . 2. Die Bestimmung des Willens. Reinholds Kritik der reinen praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Historisch-systematische Vorbemerkungen . . . . 2.2 Die Befreiung des Willens . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Sittlichkeit der Triebe . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Natur der Person . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Der Grund der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Die Grundlosigkeit des Grundes . . . . . . . . . 3. Die Stimmung des Willens. Schillers Begriff individueller Freiheit im Ausgang von Kant und Reinhold . . 3.1 Dramatische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Harmonische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Natur der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Freiheit des Geistes . . . . . . . . . . . . . .
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105 105 105 134 147 156 165 176 176 183 189 189 189 192 200 203 206 206 213 220 225 230 233 236 236 242 248 255
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Inhalt
4. Die Reflexion des Willens. Fichtes Theorie individueller Selbstbestimmung im Ausgang von Kant und Reinhold 4.1 Die Individualität des Willens . . . . . . . . . . . 4.2 Die Reinheit des Willens . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Trägheit des Willens . . . . . . . . . . . . . 5. Die Willkür des Willens. Kants Versuch einer Entscheidung der Freiheitsdebatte in der Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Bestimmung der Willkür . . . . . . . . . . . 5.2 Das Unvermögen der Freiheit . . . . . . . . . . . 5.3 Die Willkür im Willen. Reinholds letztes Wort . . 5.4 Zusammenfassung: Ein nur vorläufiges Ende der Freiheitsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Freiheit der Person. Historisch-systematische Perspektiven . 1. Die Situierung des Willens. Schellings Transformation des Kantischen Autonomiebegriffs in den Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit . 1.1 »Vermögen des Guten und Bösen«. Schellings Projekt individueller Freiheit . . . . . . . . . . . 1.2 Freiheit »vom StandPunkt des Bewusstseyns«: Schellings frühe Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Natur der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . 1.4 Der Geist der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fazit: Zur systematischen Relevanz der nachkantischen Freiheitsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . Digitale Hilfsmittel Siglen . . . . . . . Quellen . . . . . . Literatur . . . . .
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Personenregister Begriffsregister
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I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹. Kant und das Autonomie-Problem
1.
1.1
Einleitung: Das Autonomie-Problem nach Kant: Scheinproblem, Aporie oder Aufbruch zu neuen (alten) Ufern? Freiheit als Autonomie Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat […]. Er steht am Scheidepunkt; was er auch wähle, es wird seine Tat sein. 1
Wie ist es möglich, dass der Mensch als freiwilliger Urheber seiner Handlungen – seien sie moralisch oder unmoralisch – angesehen werden kann? Ist dies überhaupt möglich, oder verhält es sich nicht vielmehr so, wie der Platonische Sokrates erwägt, »niemand täte mit Willen Unrecht, sondern alle Unrechttuenden täten Unrecht wider Willen« 2 , so »daß niemand aus freier Wahl dem Bösen nachgeht oder dem, was er für böse hält« 3 ? Auf diese Fragen hat Kant grundsätzliche und für die auf ihn folgende philosophische Entwicklung provokative Antworten gegeben. 4 Kants Anliegen besteht darin, einen Schelling, FS, 46 (SW VII, 374). Platon, Gorgias, 509e5: »[…] μηδένα βουλόμενον ἀδικεῖν, ἀλλ’ ἄκοντας τοὺς ἀδικοῦντας πάντας ἀδικεῖν«. Übersetzungen nach Friedrich Schleiermacher. 3 Platon, Protagoras, 358c: »ἐπί γε τὰ κακὰ οὐδεὶς ἑκὼν ἔρχεται οὐδὲ ἐπὶ ἃ οἴεται κακὰ εἶναι«. 4 Kants Schriften werden mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, welche nach der B-Auflage zitiert wird, unter Angabe der Sigle und der Band- und Seitenzahl nachgewiesen gemäß der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Akademie-Ausgabe, Berlin 1900 ff. (KpV = Kritik der praktischen Vernunft [V, 1–164]; KrV = Kritik der reinen Vernunft, GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [IV, 385–463], RGV = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [VI, 1–202]; MdS = Die Metaphysik der Sitten [VI, 203–493]; KdU = Kritik der Urteilskraft [V, 165–485]; Prol. = Prolegomena zu einer jeden zukünftigen 1 2
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I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹
Begriff von Freiheit als absolut-willentlicher Selbstbestimmung zu entwickeln, um die individuelle Zurechenbarkeit des Menschen angesichts objektiver Moralprinzipien zu begründen: »Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein« 5 . In diesem Zitat sind bereits die wichtigsten Begriffe für die folgende Untersuchung konstellativ versammelt: Das moralisch Gute und Böse, die moralische Zurechenbarkeit, die Selbstbestimmung bzw. Autonomie und – nicht zuletzt – die freie Willkür. Um die anspruchsvolle Forderung nach absoluter moralischer Zurechenbarkeit zu erfüllen, muss Kants Theorie zwei starken Intuitionen begrifflich gerecht werden. Zum einen darf die Entscheidung der Person nicht von äußeren Faktoren abhängig sein – nicht einmal den kontingenten Umständen der individuellen Person selbst. Eine daraus resultierende Handlung wäre nicht vollständig dem eigentlichen ›Kern‹ des handelnden Subjekts zuzurechnen, welches nach Kant absolute Entscheidungsfreiheit besitzen muss. Zum anderen darf eine solche Entscheidung nicht grundlos erfolgen, sondern muss aus Gründen, die unmittelbar dem besagtem ›Kern‹ des Subjekts entstammen, geschehen. Beide Forderungen versucht Kant durch den Begriff des »reinen Willens« 6 zu erfüllen. Der reine Wille ist seinem Wesen nach unabhängig von äußeren Einflüssen und Vorschriften und nur von eigenen Gesetzen abhängig. Wie aber sind ein solcher Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können [IV, 252–384]). Ursprünglich gesperrt gedruckte Wörter werden zur besseren Lesbarkeit im Folgenden kursiv wiedergegeben. Sprachliche Abweichungen von der Akademie-Ausgabe betreffen vor allem die moderne Schreibweise »k« statt »c« sowie »t« statt »th«. Zitate aus Kants Reflexionen und dem handschriftlichen Nachlass werden dagegen in der Originalschreibweise übernommen, um diese weniger systematischen Texte auf diese Art von seinen Hauptschriften auch sprachlich abzugrenzen. Alle weiteren historischen Quellentexte werden mit Kurztitel bzw. Sigle und, wo verfügbar, nach der Bandnummer der einschlägigen Werkausgabe zitiert, wobei bei größeren philosophischen Werken beim erstmaligen Zitieren die vollständigen bibliographischen Angaben erfolgen. Eine Auflösung der Kurztitel und Siglen ist dem Literaturverzeichnis vorangestellt. Alle übrige Literatur wird nach dem Schema »Nachname (Erscheinungsjahr), Seitennummer« zitiert. Englische Texte werden im Original zitiert, französische, lateinische und griechische Texte im Haupttext in der deutschen Übersetzung unter Angabe der zentralen Fachtermini in Klammern hinter dem deutschen Wort. 5 Kant, RGV, AA VI, 44. 6 Kant, GMS, AA IV, 453.
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Einleitung: Das Autonomie-Problem nach Kant
Wille und besagter ›Kern‹ der Person zu verstehen, und wie müssen derartige willensbestimmende Gründe und Gesetze beschaffen sein, um absolute Willensfreiheit zu garantieren? 7 Vor dem Hintergrund dieser Frage betrachtet Kant das Verhältnis von Verstand und Wille. Beide menschlichen Vermögen stellen nach Kant »Grundkräfte« dar, »deren der letztere, so fern er durch den erstern bestimmt wird, ein Vermögen ist, Etwas gemäß einer Idee, die Zweck genannt wird, hervorzubringen.« 8 Wie ist dieser Zweck zu verstehen und wie denkt Kant eine solche Hervorbringung? Kant versucht seine ambitionierte Theorie absoluter Willensfreiheit durch seinen Begriff einer Autonomie der Vernunft zu entwickeln. In seiner Kritik der praktischen Vernunft hat Kant die für sein Autonomie-Projekt leitende »erste Frage« 9 dahingehend formuliert, »ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne [Hervorh. J. N.].« 10 Diese Frage, die im Folgenden als »Autonomie-Frage« bezeichnet werden soll, ergibt sich unmittelbar aus der kritischen Stellung des menschlichen Willens. Dieser steht nach Kant »mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege« 11 . Eine solche vollständige Disjunktion von bloß empirisch-materialen und rein vernünftigformalen Bestimmungsgründen des menschlichen Willens ist wegweisend für Kants gesamte Theorie menschlicher Autonomie. Nach Kant führt der einzige gangbare Weg absoluter Willensfreiheit über die gesetzliche Form reiner, d. h. empirisch unvermischter Vernunft. Eine Entscheidung des individuellen Willens – oder genauer gesagt: der Willkür – auf Grund von materialen, d. h. konkreten und kontingenten Bestimmungsgründen hingegen würde die Autonomie aufheben, insofern »alle Gesetze, die auf ein Objekt bestimmt sind, Heteronomie geben« 12 . In der Unabhängigkeit des Willens von Harry Frankfurt spricht mit Blick auf diesen Wesenskern auch von der »essential nature of a person’s will« (Frankfurt [1994], 436). Vgl. zum Problem der Autonomie bei Kant auch Schmidt (2012), 25 f. 8 Kant, Über den Gebrauch, AA VIII, 181. 9 Kant, KpV, AA V, 15. Die Bezeichnung »erste« kann sowohl im Sinne der logischen Reihenfolge als auch prinzipientheoretisch verstanden werden. Beides trifft hier zu. 10 Kant, KpV, AA V, 15. 11 Kant, GMS, AA IV, 400. 12 Kant, GMS, AA IV, 458. 7
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I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹
materialen Bestimmungsgründen liegt also die erste Bedingung von Autonomie; »ihr erster Begriff« ist, wie Kant sagt, »negativ« 13 . Zentral für Kants Begriff einer Autonomie der Vernunft ist jedoch vor allem sein Begriff positiver Freiheit, einer Freiheit zu etwas. 14 Die negative Freiheit als Unabhängigkeit vom Naturgesetz genügt für sich genommen noch nicht für eine vollständige Autonomie des Willens: »Die angeführte Erklärung der Freiheit ist negativ und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist.« 15 Ein ganz und gar gesetzloser Wille wäre zwar unabhängig vom Naturgesetz, doch enthielte so die Freiheitsentscheidung keine Bestimmtheit und wäre im schlechten Sinne des Wortes ›willkürlich‹ zu nennen: »[S]o ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding [Hervorh. J. N.].« 16 Kant vertritt also die Ansicht, dass positive Freiheit selbst gesetzmäßig verfasst sein muss, jedoch von gänzlich anderer Art als Naturgesetzlichkeit. Diese besondere Art von Gesetzlichkeit bringt Kant mit einem spezifischen Begriff von Kausalität in Verbindung, welche er in Abhebung von der Naturkausalität als »Kausalität durch Freiheit« 17 oder auch als
KpV, AA V, 29. Zu den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit nach Kant der menschliche Wille frei genannt werden kann vgl. auch Schmidt (2012), 25 f. 14 Vgl. dazu die Unterscheidung von Isaiah Berlin (1969) als »not freedom from, but freedom to« (131). 15 Kant, GMS, AA IV, 446. 16 Kant, GMS, AA IV, 446. Vgl. auch Kants Reflexionen zur Indifferenzfreiheit: »Man stelle sich die Freyheit, d. i. eine Willkühr vor, die von Instinkten oder überhaupt der Leitung der Natur unabhängig ist. so ist sie an sich selbst eine Regellosigkeit und der Ursprung alles Übels und aller Unordnung, wo sie nicht sich selbst eine Regel ist. Es muß demnach die freyheit unter der Bedingung der allgemeinen Regelmäßigkeit stehen und eine Verständige freyheit seyn, sonst ist sie blind oder wild.« (Kant, Refl. 7220, AA XIX, 289); »Wäre aber jeder frey ohne Gesetz, so könnte nichts schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern was er wollte, und so wäre keiner frey. Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem Gesetzlosen Menschen« (Kant, Naturrecht Feyerabend, AA XXVII, 1320). 17 Vgl. etwa Kant, KrV, B 566 u. 472; KpV, AA V, 47 u. 105; KdU, AA V, 195 u. 448 Fn.; Kant verwendet darüber hinaus die Wendung »Kausalität aus Freiheit« an folgenden Stellen: KrV, B 586; KpV, AA V, 16 u. 70. 13
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Einleitung: Das Autonomie-Problem nach Kant
»Kausalität der Vernunft« 18 bezeichnet. Am Leitfaden einer solchen Freiheitskausalität gewinnt der positive Begriff der Kantischen Autonomielehre an Profil. Worin besteht der Unterschied beider Arten von Kausalitäten und Gesetzlichkeiten – der Natur und der Vernunft? Handelt es sich nicht beide Male um eine Determination des Willens, die gerade die von Kant angestrebte absolute Entscheidungsfreiheit zu unterminieren droht? Nach Kant besteht jedoch eine grundlegende Asymmetrie zwischen beiden Arten der Determination: Im Gegensatz zur Naturkausalität wirkt die Kausalität der vernünftigen Gesetzmäßigkeit nicht auf den Willen von außen ein, bestimmt den Willen also nicht heteronom, sondern entfaltet ihre Determinationskraft aus dem allgemein-vernünftigen Wesen des reinen Willens selbst, 19 der dadurch – und im Gegensatz zu einem durch materiale Bestimmungsgründe determinierten »unteren Begehrungsvermögen« 20 – als ein »oberes Begehrungsvermögen« ausgezeichnet ist. 21 Wie aber ist diese Art vernünftiger Gesetzmäßigkeit des oberen Begehrungsvermögens näher zu verstehen? Der Bestimmungsgrund des freien Willens kann nicht in der Heteronomie materialer und insofern bloß subjektiver und individueller Zwecke bestehen, sondern nur in der Objektivität, Universalität und Formalität des Vernunftgesetzes selbst. Das Vernunftgesetz erhebt den menschlichen Willen aus dem Bereich der Naturgesetzlichkeit und ihrer Kausalität, wie Kant sagt, »in eine ganz andere Sphäre als die empirische, und die Notwendigkeit, die es ausdrückt, da sie keine Naturnotwendigkeit sein soll, kann also bloß in formalen Bedingungen der Möglichkeit eines Gesetzes überhaupt bestehen« 22 . Durch die Bestimmung des Vgl. etwa Kant, KrV, B 579, B 831; Prol., AA IV, 354; GMS, AA IV, 458; KpV, AA V, 80; KdU, AA V, 475. 19 Vgl. zum allgemeinen Status des intelligiblen Selbst auch Ameriks (2013), 68: »[T]he authorial self surely must be not a particular individual as such, but the faculty of reason in general […], and in a general sense that is not limited to the human species.« (69) 20 Kant, KpV, AA V, 24. 21 Vgl. Kant, KpV, AA V, 25: »Alsdenn allein ist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), ein wahres oberes Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist, und wirklich, ja spezifisch von diesem unterschieden, so daß sogar die mindeste Beimischung von den Antrieben der letzteren ihrer Stärke und [ihrem] Vorzuge Abbruch tut«. Vgl. zum vernünftigen Wesen des freien Willens auch Schmidt (2012), 26. 22 Kant, KpV, AA V, 34. 18
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I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹
Willens durch reine Vernunft wird dieser zu einer, wie Kant es nennt, »Kausalität aus Freiheit«, die sich in der Welt konkret als Handlung verwirklicht: »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann« 23 . Worin genau besteht diese Formalität der Vernunftgesetzlichkeit, die den positiven Begriff von Freiheit des Willens bestimmen soll? Kant hat seine metaphysische Theorie des autonomen Willens als Freiheitskausalität aufs Engste mit seiner normativen Theorie menschlicher Moralität verknüpft, so dass man mit Blick auf Kants absoluten Freiheitsbegriff von einer »Ethik der Autonomie« 24 sprechen kann: Absolute Willensfreiheit ist für Kant Freiheit angesichts der Normativität der Moralität. Die spezifische Gesetzlichkeit, unter der erst der Wille autonom genannt werden kann, ist das Sittengesetz als absoluter Maßstab und Kriterium für Moralität. Dabei eignet dem Willen eine spezifische Reflexivität: Der Wille gibt sich selbst ein Gesetz, jedoch nicht irgendeines, welches ihm als ein Fremdes immer noch entgegenstände, sondern dieses Sittengesetz ist wesentlich sein eigenes Gesetz: »Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß.« 25 Freiheit im Sinne von Autonomie bedeutet demnach die »Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen, außer allein dem moralischen Gesetze« 26 . Die Autonomie der Vernunft lässt sich insofern als eine selbstidentifizierende Selbst-Gesetzgebung, also als Heautonomie charakterisieren – nicht nur der Akt der Selbstgesetzgebung, sondern zugleich die Reflexion und Identifikation des Gesetzes, die dieses als ein wesentlich eigenes Gesetz erkennen lässt, wird zum konstitutiven Moment der vernünftigen Freiheit: »Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen GesetzKant, GMS, AA IV, 446. So der Titel von Dieter Henrichs 1982 erschienenem Aufsatz, der bereits 1963 im Wesentlichen inhaltsgleich unter dem Titel »Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus« erschienen war. 25 Kant, GMS, AA IV, 431. 26 Kant, KpV, AA V, 94. 23 24
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Einleitung: Das Autonomie-Problem nach Kant
gebung unterworfen sei« 27 , so Kant. 28 Das moralische Gesetz kann deshalb als »Wesensgesetz« 29 des autonomen Willens als oberem Begehrungsvermögen bestimmt werden: »[A]lso ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.« 30 Die Autonomie des Willens lässt sich noch weiter bestimmen, indem zwei Funktionen des Willensvermögens zur Abhebung gebracht werden: Zum einen der Wille im engeren Sinne als Gesetzgebungsinstanz, zum andern die Willkür als Wahl- und Entscheidungsinstanz. 31 Der Wille (im weiteren Sinne) gibt sich insofern sein Gesetz heautonom, als der Wille (im engeren Sinne, d. h. der Vernunftwille) sein universelles normatives Gesetz der Willkür vorhält bzw. vorschlägt, wobei der Mensch qua Willkür die Forderung dieses Gesetzes durch Entscheidung in eine konkrete Handlung überführt. So betrachtet ist die Willkür eine Zwischeninstanz zwischen dem vernunftgesetzlichen Willen und der empirischen Welt der Handlungen. Wie ist jedoch Kants positiver Begriff von Freiheit, also die rein vernünftige Willensbestimmung durch das Sittengesetz, näher zu verstehen? Kant hat bislang nur formale Kriterien für die Autonomie des Willens gegeben. Wie kann aber gerade ein kategorisch gebietendes Gesetz, wie es das Sittengesetz ist, Freiheit konkret ermöglichen? Oder mit Kant gesprochen: Wie kann Freiheit praktisch werden? Der Mensch als ein Wesen, »dessen Vernunft nicht, schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetze notwendig gemäß ist« 32 , dessen Wille Kant, GMS, AA IV, 432. Vgl. zur Reflexivität des Willens, welche statt »Autonomie« besser als »Heautonomie« charakterisiert ist auch Stolzenberg (2001), 44. Allerdings ist diese Heautonomie keine individuelle Selbstbestimmung im starken Sinne. Denn es ist immer noch das intelligible, und damit allgemeine Vernunftsubjekt, welches sich sein eigenes – universelles – Gesetz gibt. Spezifisch individuelle Freiheit als Heautonomie eines individuellen Gesetzes denkt Kant hingegen durch das Vermögen der Urteilskraft: »Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt«. (Kant, KdU, AA V, 185 f.). 28 Vgl. auch Kant, GMS, AA IV, 448: »Sie [die Vernunft; J. N.] muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden«. 29 Schmidt (2012), 26. 30 Kant, GMS, AA IV, 447. 31 Vgl. zur internen Differenzierung des Willens Beck (1984), 201 und Allison (1990), 130 f. 32 Kant, KpV, AA V, 72. 27
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also in ein oberes und unteres Begehrungsvermögen gespalten ist, benötigt eine verbindliche Motivation, um die Form einer Vernunftkausalität anzunehmen. Kant charakterisiert diesbezüglich »das Verhältnis eines solchen Willens [scil. eines Menschen] zu diesem Gesetze [scil. dem Sittengesetz]« als »Abhängigkeit« und als »Nötigung«, die jedoch eigentlich »Pflicht« genannt werden kann, und zwar deshalb, »weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür, einen Wunsch bei sich führt, der aus subjektiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objektiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann, und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller, Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf« 33 . Worin genau besteht diese »moralische Nötigung«, dieser »intellektuelle Zwang«, von dem Kant an dieser Stelle spricht? Hier nun verlagert sich der Fokus der Betrachtung menschlicher Freiheit vom Willen auf die Wirkungsweise und Bestimmungskraft der reinen praktischen Vernunft. Eine autonome Willensbestimmung reiner Vernunft »für sich allein« 34 , wie sie Kant vorschwebt, muss drei Anforderungen genügen: 35 Zunächst muss reine Vernunft aus sich selbst heraus den Willen orientieren und informieren, d. h. moralische Kriterien zur Verfügung stellen, anhand deren sich die Willensbildung vollziehen kann. In dieser Hinsicht stellt die Vernunft ein Urteilsprinzip (principium diiudicationis) dar. Diese reinrationale Urteils- und Objektivierungsfunktion ist lediglich ein notwendiges, jedoch für sich genommen noch kein hinreichendes Kriterium für die Autonomie des Willens. Ebenso muss die Vernunft ein Spezifikationsprinzip (principium specificationis) enthalten, welches die Gegenstände der Handlung – das moralisch Richtige (Gute) und Verfehlte (Böse) – näher bestimmt und zubereitet. 36 Durch die bloße Bestimmung der möglichen Gegenstände einer Handlung im Sinne
Kant, KpV, AA V, 32. Kant, KpV, AA V, 15. 35 Vgl. dazu im Folgenden Henrich (1982), 13 f., der jedoch nur zwei Anforderungen namhaft macht. Henrichs klassischer Aufsatz wird in Teil I.2.2 einer ausführlicheren kritischen Würdigung unterzogen. 36 Den Begriff einer libertas specificationis hat Thomas von Aquin geprägt. Kant selbst verwendet diesen Begriff nicht, obwohl er der Sache nach gut auf das zweite Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft angewendet werden kann. Vgl. dazu Teil III.1.4 der Untersuchung. 33 34
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des Guten und Bösen wird diese Handlung allerdings noch nicht realisiert. Reine Vernunft bliebe so bei sich und käme nicht zur Wirklichkeit, d. h. sie würde nicht, wie Kants Begriff absoluter Willensfreiheit es fordert, praktisch werden. Der Mensch wüsste dann zwar, was moralisch richtig und was verfehlt ist, auch hätte er die jeweilige – gute oder böse – Willensgesinnung in Bezug auf reine praktische Vernunft angenommen. Er würde jedoch aus diesem Zustand heraus nicht seinen Willen handlungswirksam werden lassen können. Die Vernunft benötigt zusätzlich ein Ausführungs- und Motivationsprinzip (principium executionis), durch welches sie im Stande ist, vernünftige Handlungen allein aus sich selbst heraus zu motivieren und zu besagter »Kausalität aus Freiheit« zu werden. In der Realisierung dieser drei Anforderungen besteht Kants eigentlicher Begriff positiver Freiheit, also der Weg, wie reine Vernunft praktisch werden kann.
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Autonomie als Problem
Kants Theorie einer Autonomie der reinen praktischen Vernunft wirft allerdings ein schwerwiegendes Problem auf. Dieses Problem – das sogenannte »Autonomie-Problem« 37 oder spezieller: das ZuAuf dieses Problem hat in der historischen Debatte als erster ausdrücklich Karl Leonhard Reinhold hingewiesen im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie (1792). Auch Schellings Freiheitsschrift (1809) setzt, wie im Folgenden gezeigt werden soll, an diesem Autonomie-Problem an. Im englischsprachigen Raum hat Henry Sidgwick (1888) als erster auf dieses Problem hingewiesen: »Kant, either expressly or by implication, identifies Will and Reason; for this identification obviously excludes the possibility of Will’s choosing between Reason and non-rational impulses.« (411). Sidgwick konstatiert dabei eine »confusion« zwischen zwei verschiedenen Freiheitskonzepten der Kantischen Theorie: »(1) the Freedom that is only realised in right conduct, when reason successfully resists the seductions of appetite or passion, and (2) the Freedom to choose between right and wrong, which is, of course, equally realised in either choice.« (405). Ausführlich hat dieses Autonomie-Problem neuerdings Prauss (1983), 82 u. 84 behandelt und auch seinen Begriff geprägt. Vgl. zum Autonomie-Problem ferner Olivier (1941); Patzig (1985) und Schulte (1988), 29. Für die angelsächsische Diskussion vgl. Allison (1986), der diesbezüglich den treffenden Begriff »Reinhold’s dilemma« geprägt hat (422). Zur systematischen Bedeutung der Reinholdschen Kritik vgl. Allison (1990), 133–136. Zur neueren angelsächsischen Debatte um den Kantischen Freiheitsbegriff vgl. Korsgaard (2009), 159 f. Einen Überblick über die zeitgenössische, v. a. deutschsprachige Kritik am Kantischen Autonomiebegriff gibt Bojanowski (2006), 229. Zum Problem einer Freiheit zum Bösen vgl. neuerdings Brandt (2010), 71–80.
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rechenbarkeits-Problem 38 – entsteht durch den Konflikt zwischen einer allgemeinen Zurechenbarkeits-These (ZT), die Kant teilt und der von ihm entwickelten Autonomie-These (AT), die gerade dazu entwickelt wird, um die Zurechenbarkeits-These zu erklären und zu begründen: (ZT) Der freie Mensch ist für seine moralisch richtigen und verfehlten Handlungen verantwortlich und hat also die freie Wahl zwischen den Alternativen des moralisch Guten und Bösen. 39 (AT) Die absolut spontane Ursache der autonomen Handlung liegt in der Kausalität der reinen praktischen Vernunft und ihrer moralischen Gesetzlichkeit (dem Sittengesetz) begründet. Das daraus folgende Autonomie-Problem (AP) lässt sich am Leitfaden des Begriffs des Bösen einmal in einem starken (AP1) und einmal in einem schwachen Sinne (AP2) weiter explizieren: (AP1) Eine Kausalität der freien Handlung, die der Ordnung des Vernunftgesetzes zuwiderläuft, lässt sich nicht widerspruchsfrei denken, da diese Kausalität ja aus reiner Vernunft stammen soll. Eine böse Handlung kann also im Rahmen dieser Theorie
Vgl. Hudson (1991), 179, der im angelsächsischen Raum mit Blick auf Kant den Begriff des »imputability problem« geprägt hat. Vgl. auch Ortwein (1983), 7 f. und Klemme (2008), 222 f. 39 Vgl. Kant, RGV, AA VI, 44: »Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein.« Vgl. aber auch bereits Kants frühe Nova dilucidatio (1755), AA I, 404: »Alles, was durch den Willen von verständigen Wesen geschieht, die mit dem Vermögen, sich frei zu bestimmen, begabt sind, das ist aus einem innern Prinzip und aus bewußten Begierden und der Wahl eines Theils, nach der Freiheit der Willkür hervorgegangen. Wenn also auch der Zustand der Dinge vor den freien Handlungen in gewisser Weise festgestellt ist, und wenngleich jenes verständige Wesen in diese Verbindung der Umstände mit eingestellt ist, daß sicherlich moralische Übel von ihm kommen werden, und es dies voraussehen kann, so wird doch diese Verwirklichung durch solche Gründe bestimmt, in welchen deren freie Richtung nach der schlechten Seite hin die Angel bildet, und wo die Handlung deshalb dem Sündigenden angenehm war, und deshalb muß man ihn selbst als die Ursache davon erklären, und es entspricht vollkommen der Gerechtigkeit, daß er Strafe für die unerlaubte Wollust leide.« Vgl. ferner Kants Betonung der Kontingenz der Willensentscheidung im Naturrecht Feyerabend, AA XXVII, 1322 f.: »Der Mensch kann das Gute und Böse wählen, also ist der gute Wille bei dem Menschen ein zufälliger Wille.« 38
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nicht eine Hervorbringung autonomer Vernunft sein, ist mithin keine autonome Handlung. (AP2) Eine Entscheidung für das Böse bedeutet, sich bewusst gegen die Autonomie der Vernunft zu entscheiden, also in der Entscheidung für das Böse zugleich die Entscheidung zu treffen, seine Autonomie aufzugeben durch einen Sprung aus der Autonomie in die Heteronomie. Allerdings lässt sich dieser Sprung selbst wiederum nicht mehr im Rahmen der Autonomie-Lehre beschreiben und erscheint so als ein grundloses Ereignis. Ein freier Sprung in die Heteronomie ›sprengt‹ also den Autonomie-Begriff, da er sich in gesetzlosem Raum ereignet. 40 Eine Strategie, den Kantischen Autonomie-Begriff angesichts von AP2 weiter zu stützen, besteht darin, Kant hinsichtlich des Gebrauchs des Wortes »Freiheit« eine Ambivalenz zu unterstellen im Sinne eines schwachen und eines starken Freiheitsbegriffs – der (schwachen) Freiheit der Willkür und der (starken) Autonomie der Ver-
Diese »schwache« Formulierung des Autonomie-Problems ähnelt in einigen Punkten dem sog. »Paradox der Autonomie«, welches darin besteht, dass der Akt der Selbstgesetzgebung selbst noch nicht unter das sich zu gebende Gesetz fällt und damit nicht eigentlich autonom, sondern im schlechten Sinne willkürlich genannt werden muss. Vgl. Pippin (2000), 192: »The idea of a subject, prior to there being a binding law, authoring one and then subjecting itself to it is extremely hard to imagine. It always seems that such a subject could not be imagined doing so unless he were already subject to some sort of law, a law that decreed he ought so to subject himself, making the paradox of this notion of ›self-subjection‹ all the clearer.« M. E. lässt sich Kant jedoch gegen diesen Paradoxie-Vorwurf in Schutz nehmen, wenn seine Theorie so interpretiert wird, dass das Sittengesetz dem Willen des Subjekts wesentlich ist. Der Wille verhält sich zum Sittengesetz nicht allein in Art des Gesetzgebers, sondern in erster Linie in Art des Urhebers dieses Gesetzes. Vgl. Kant, GMS, AA IV, 431. Damit geht jedoch die Notwendigkeit einher, dass das Subjekt der Autonomie in erster Linie nicht als ein kontingentes, raum-zeitlich verortetes Individuum, sondern als ein universeller intelligibler Charakter (als das »eigentliche Selbst« des Menschen) gedacht werden muss. Erst aus dieser Annahme scheint das eigentliche AutonomieProblem in Gestalt des Zurechenbarkeits-Problems zu resultieren, während die schwächere Auffassung des Paradoxes der Autonomie vielmehr auf eine gesellschafts- und sozialtheoretische Dimension, wie sie Pippin in Hegels Theorie des objektiven Geistes bzw. gesellschaftlicher Institutionen als eine Lösung zu diesem Paradox erkennt, hinausläuft. Vgl. zu dieser abgeschwächten Form des AutonomieProblems, die im Folgenden nicht im Zentrum stehen soll: Dorschel (1992), Pinkard (2002) sowie Khurana/Menke (Hg.) (2011).
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nunft. 41 Ein autonomer Wille wäre demnach ein Wille, dessen Willkür sich aus innerster Überzeugung – aus Achtung vor dem Sittengesetz – für die Forderung der reinen praktischen Vernunft entscheidet und diese Entscheidung in eine Handlung überführt. Dies entspräche einem Handeln aus bzw. durch Freiheit. 42 Würde sich die Person qua Willkür gegen das Willensgesetz entscheiden, so wäre der Wille nicht mehr autonom, die Willkür könnte aber dennoch frei genannt werden, wenn auch nicht mehr im Sinne der Autonomie. Dies entspräche einer Handlung, die bloß unter Freiheit, also angesichts des Sittengesetzes geschähe, und zwar im Sinne eines Unvermögens der Autonomie. 43 Allerdings löst die Unterscheidung zwischen einer Freiheit im starken und schwachen Sinne – zwischen Vermögen und so verstandenem Unvermögen – nicht das Autonomie- und ZurechenbarkeitsProblem – es verschiebt dieses nur. Das handelnde Subjekt wäre demnach für seine un- und nichtmoralischen Handlungen stets in geringerem Maße verantwortlich als für die guten, und die Freiheit zum Bösen würde, je unmoralischer die Handlung wäre, sich immer mehr dem Extrempunkt einer vollständigen Unfreiheit im schlechthin Bösen – dem Bösen um des Bösen willen – annähern. Nicht nur das Böse würde damit privativ bestimmt werden, sondern auch die Freiheit zum Bösen selbst. Da nach Kant die Freiheit der Willkür nur über Vgl. zu dieser Strategie einer Unterscheidung zwischen starker und schwacher Freiheit und ihrem Verhältnis zur Autonomie Timmermann (2003), 43. 42 Kant erläutert die Wendung »durch Freiheit« mit: »durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt« (Kant, KdU, AA V, 303) und bringt diese mit »einer obersten Intelligenz« (Kant, Prol., AA IV, 363) bzw. der Triebfeder der Achtung (vgl. Kant, KpV, AA V, 82) sowie mit dem Bereich des Praktischen (»Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist«; Kant, KrV, B 828) in Verbindung. Analog dazu unterscheidet Kant Handlungen »aus Freiheit« von Ereignissen »nach der Natur« (Kant, KrV, B 560). 43 Vgl. etwa Kant, MdS, AA VI, 227: »Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen.« Vgl. auch Kant, Verkündigung, AA VIII, 415: »In Ansehung des Wohlseins und der Übel (der Schmerzen) steht der Mensch (so wie alle Sinnenwesen) unter dem Gesetz der Natur und ist bloß leidend; in Ansehung des Bösen (und Guten) unter dem Gesetz der Freiheit. Jenes enthält das, was der Mensch leidet; dieses, was er freiwillig tut [Hervorh. J. N.].« Vgl. auch Kants Bestimmung des Willens gegenüber der Willkür: »[D]er Wille ist nicht unter dem Gesetz sondern er ist selbst der Gesetzgeber für die Willkür und ist absolute praktische Spontaneität in Bestimmung der Willkür.« (Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 248). Zum Problem des Unvermögens bei Kant vgl. Teil IV.5.2 der Arbeit. 41
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das Sittengesetz definiert ist, markiert die Entscheidung gegen das Sittengesetz eine freiheitstheoretische und definitorische ›Leerstelle‹ – ein »Unvermögen« 44 , das nicht weiter bestimmt werden kann. Die Willkür steht innerhalb von Kants Autonomie-Theorie also grundsätzlich, besonders aber im Falle einer Entscheidung gegen das Sittengesetz, in einer gesetzlosen Grauzone. Als ein solches »Unding« 45 kann sie im Rahmen der transzendentalphilosophischen Unterscheidungen von materialen und formalen Bestimmungsgründen des Willens nicht positiv weiter bestimmt werden: Es handelt sich um eine ortslose, hybride Willkür, deren Freiheit nur daran ermessen werden könnte, inwieweit sie, wenn schon nicht aus Freiheit, so doch unter Freiheit ihre bösen Entscheidungen trifft. 46 Rationale Gründe für eine Entscheidung gegen die Forderung des Sittengesetzes lassen sich somit nicht angeben, da sie einen Bereich von Gründen betreffen, der weder mit der reinen praktischen Vernunft, noch mit der Naturgesetzlichkeit der empirischen Bestimmungsgründe zusammenfällt. 47 Die nicht gesetzeskonforme bzw. gesetzwidrige Willkür hat als Unvermögen keinen festen Platz innerhalb der Kantischen Theorie autonomer Vernunft inne – sie stellt eine theoretische Leerstelle, einen »Nichtgedanken« 48 , wie Carl Christian Erhard Schmid sagen sollte, dar. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Ort der individuelKant, MdS, AA VI, 227. Rebentisch/Setton (2011), 22. 46 Vgl. Kant, Refl. 5618, AA XVII, 257: »Die reine Freyheit handelt nach Gesetzen innerlich bestimender Gründe, aber sie fallen nicht in die Sinne. Die thierische Willkühr verfahrt nach sinnlich bestimbaren Gesetzen. Die Vermischte Menschliche Wilkühr (libertas hybrida) handelt auch nach Gesetzen, aber deren Gründe nicht in der Erscheinung […] ganzlich vorkommen.« Vgl. zum hybriden Status der Willkür bei Kant ferner Timmermann (2003), 59 f. sowie 137 Fn.: »Einerseits scheint die fehlbare Willkür nicht in die vollkommene intelligible Welt zu gehören, in die phänomenale Welt jedoch auch nicht ganz, denn dann wäre sie nicht frei.« Timmermann übersieht hier allerdings, dass es sich bei der moralisch bösen Handlung im eigentlichen Sinne nicht um einen begangenen Fehler im Sinne eines Defekts handelt, sondern um eine bewusste Entscheidung, so dass die Willkür in beiden Fällen – der Entscheidung zum Guten und Bösen – um ihre Freiheit zu bewahren, in gleichem Maße wirken müsste. 47 Es ist auffällig, dass Kant die individuelle Willkür in seinen drei transzendentalen Hauptwerken, die sich ja als Kritiken der rationalen menschlichen Vermögen verstehen, nirgends eingehend behandelt. Bemerkungen zu diesem durch den transzendentalen Idealismus nicht abgedeckten Zwischenbereich finden sich denn auch in Art einer ›Grauzone‹ außerhalb der drei Kritiken, nicht zuletzt auch in seinen Reflexionen und Vorarbeiten zu seinen Werken. 48 Schmid, Vorrede, X. 44 45
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len Freiheit der konkreten Person, nach der individuellen Entscheidungsfreiheit, der frei bestimmten Wahl des Willens bzw. der auf Gründen basierenden Willkür, 49 die nicht mit dem Zwang des allgemeinen Vernunftgesetzes identisch ist und der so Alternativen der Wahl offen stehen. Vermögen und Unvermögen des moralisch Guten dürfen angesichts dieser Anforderung nicht mit Freiheit und Unfreiheit gleichgesetzt werden. Vielmehr gilt es, einen Begriff von Unvermögen zu entwickeln, welcher einerseits das Moment des Misslingens des Guten bewahrt, zugleich aber die Positivität dieses Misslingens als eine Folge desselben rationalen Vermögens, welches Grund des Gelingens ist, verständlich machen kann. 50 Ein so gefasstes Unvermögen ist gerade kein Vernunftdefekt, sondern ein besonderer willentlicher Gebrauch der Vernunft als ein Vermögen zum Guten und Bösen. Die Grundspannung des Autonomie-Problems von Individualität (Willkür) und Allgemeinheit (Vernunft) freier Selbstbestimmung, die sich besonders im Begriff des Unvermögens manifestiert, zieht sich auf verschiedenen Ebenen durch das gesamte Kantische Werk. Es handelt sich bei der Schwierigkeit, die Freiheit zum Bösen als Fall autonomer Selbstbestimmung zu verstehen um ein Problem, welches die Kantische Grundlegung menschlicher Freiheit, ja die Grundfesten seines ganzen Systems eines transzendentalen Idealismus betrifft
Das Wort »Willkür» setzt sich zusammen aus den Bestandteilen »Wille« und »Kür«, bedeutet also soviel wie die freie »Wahl des Willens«. Damit ist bereits begrifflich angezeigt, dass es sich bei der Freiheit der Willkür nicht um Handlungsfreiheit, sondern um Willensfreiheit handelt, die einen in sich differenzierten, reflexiven Begriff des Willens voraussetzt, denn die Wahl des Willens muss selbst willentlich erfolgen und dies nicht aufgrund von Indifferenz, sondern so, dass der handlungswirksame Wille »auserkoren« und zu einer Entscheidung geführt wird. Zur Ideengeschichte der Bedeutungsverengung und -verschlechterung des Willkürbegriffs vgl. Kap. I.3, 52–54. 50 Vgl. zu einem so verstandenen Unvermögen Setton (2012), der in diesem Zusammenhang von der »paradoxe[n] Struktur« unseres Handlungsvermögens spricht, welche darin besteht, »sich mit und gegen sich selbst zu aktualisieren, sich aus seiner rationalen Konstitution heraus und gegen dieselbe zu manifestieren« (281). Setton begreift ein so verstandenes Unvermögen denn auch ganz konsequent als ein »UnVermögen«: Er nimmt ihm damit den privativen Charakter und kann es so als eine Ausübung ein und desselben Vermögens verstehen: »Im Besitz eines rationalen Vermögens zu sein bedeutet, das eigene Vermögen mit und gegen es selbst verwirklichen zu können.« (11) Setton spricht in diesem Zusammenhang zutreffend von einem »transzendenten« Gebrauch des Vernunftvermögens (281). 49
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und ins Schwanken zu bringen droht. 51 Bereits Kants Zeitgenossen registrierten diese Verwerfungen. Carl Christian Erhard Schmid, der angesichts des Autonomie-Problems den Begriff des »intelligiblen Fatalismus« für die nach- und mitkantische Debatte prägen sollte, brachte das Kantische Dilemma deutlich auf den Punkt: »Wenn wir keinen (vernunftlosen) Zufall einräumen wollen, so bleibt nichts mehr übrig als Nothwendigkeit; denn es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen beyden.« 52 Auch Leonhard Creuzer, Verfasser der Skeptischen Betrachtungen über die Freiheit des Willens, sah es seinerzeit ähnlich: »Nach unserer ganzen bisherigen Untersuchung sind nur 2 Wege für uns offen, entweder Indifferentismus oder Fatalismus [Hervorh. J. N.].« 53 Doch will sich Creuzer, anders als Schmid, der für die Seite eines intelligiblen Fatalismus plädiert, mit dieser unbefriedigenden Alternative nicht abgeben; er kann weder der einen noch der anderen Option zustimmen: »Also – ein dritter Ausweg?« fragt Creuzer, und dann weiter, ernüchtert: »Aber was soll dies für ein Ausweg seyn?« 54 Er schließt seine Gedanken mit folgender skeptischen Betrachtung angesichts des scheinbar unauflöslichen Freiheitsdilemmas: Gerade an dieser gefährlichen Stelle scheinen die großen Männer des Jahrhunderts den redlichen wahrheitssuchenden Forscher mitten auf dem weiten Ozeane menschlicher Meinungen sich selbst zu überlassen. Schon mancher nicht geringen Gefahr durch Hülfe des besseren Kompasses und der neuen Charte entgangen, die er beyde dem unsterblichen Stifter der kritischen Philosophie verdankt, scheint ihm hier weder Charte noch Kompas zu helfen. Er mag steuern nach welcher Seite er will, nirgends erwartet ihn ein sicherer Hafen, und doch scheint auch das Stillestehen, (die skeptische εποχη) moralisch unmöglich. 55
Vgl. zu dieser systemsprengenden Dimension des Autonomie-Problems auch Klemme (2013), 39. 52 Schmid, Versuch (1790), 255, 209. 53 Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 293. 54 Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 203. 55 Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 201 f. Creuzer unterscheidet wie Schmid zwischen zwei Großparteien, die er weiter differenziert in »Aquilibristen« und »Indifferentisten« auf der einen, und »moralisch metaphysische Eleutheriologen« auf der anderen Seite (119). Erstere Position lässt sich wiederum unterscheiden in »blos empirische oder transcendente [d. h. intelligible; J. N.] Indifferentisten« (119 f.), letztere in »blos empirische Fatalisten – Deterministen, oder intelligible Fatalisten« (120). 51
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Das von Creuzer so dramatisch dargestellte Autonomie-Problem und die daraus folgende freiheitstheoretische Orientierungslosigkeit dokumentiert sich in der unmittelbaren Wirkungsgeschichte der Kantischen Freiheitslehre. Es sollte eine Vielzahl an unterschiedlichen Lösungsversuchen freisetzen, den Begriff der Willkür auf der philosophischen Karte nach Kant neu zu verorten. Angesichts dieser historischen Tatsache lässt sich das Kantische Autonomie-Problem nicht ohne weiteres als ein Scheinproblem abtun. Vielmehr handelt es sich um eine Debatte, »an der sich in dem Jahrzehnt nach dem Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft die besten Köpfe beteiligt haben – nämlich der über die Freiheit des Willens. Sie entzündete sich an den offenbaren Zumutungen und Unzulänglichkeiten von Kants Freiheitstheorie.« 56 Es hat, wie die Herausgeber der Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft weiter betonen, »später nicht wieder eine so dichte Debatte über dieses für die kantische Ethik entscheidende Problem [einer Autonomie der Vernunft; J. N.] gegeben wie in dieser Phase ihrer Rezeption.« 57 Die nachkantische Willensfreiheitsdebatte lässt sich angesichts des Autonomie-Problems historisch und systematisch eingrenzen und dadurch zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung machen. Worin besteht das Charakteristische dieser Debatte? Die Debatte um das Autonomie-Problem im Ausgang von Kant ist dadurch näher bestimmt, dass sie den von Creuzer vergeblich gesuchten »dritten Ausweg« einzuschlagen versucht. Dies geschieht in Art eines Kompatibilismus – eines Mittelwegs zwischen den beiden für sich genommen unbefriedigenden Alternativen von alternativlosem Vernunftzwang und vernunftloser Indifferenz –, wobei eben jene in Kants Theorie klaffende ›Lücke‹ der Unbestimmtheit der Willkür begrifflich aufgefüllt werden soll. 58 Das gemeinsame Projekt der Autonomie-Debatte im Ausgang von Kant kann als dasjenige einer Bestimmung des Willens verstanden werden: Es stellt sich nicht die Frage, ob der Wille bestimmt ist, sondern vielmehr, wie die Bestimmung des Willens gedacht werden muss, damit dieser als frei im Sinne der Entscheidungsfreiheit zum moralisch Guten und Bösen gelten kann. Bittner/Cramer (1975), 17 f. Bittner/Cramer (1975), 18 f. 58 Dies hat auch Kant so gesehen: »Zwischen Natur und Zufall giebts ein drittes, nämlich Freyheit.« (Refl. 5369, AA XVIII, 163). 56 57
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Die im Folgenden näher zu untersuchende Freiheitsdebatte nach Kant ist vor diesem gemeinsamen Interesse durch den dreifachen Sinn der Wendung »Bestimmung des Willens« charakterisiert. Zum einen – im Sinne des genitivus objectivus – richtet sich diese Debatte darauf, den Willen zu definieren und ihn als individuelles Vermögen gegenüber demjenigen der Vernunft zu profilieren. Zum anderen geht es – ebenfalls im Sinne des genitivus objectivus – darum, wie der Wille, nach seiner Unterscheidung von dem Vermögen reiner praktischer Vernunft, trotz seiner Individualität, durch Bestimmungsgründe determiniert werden muss, um frei genannt werden zu können und um der Gefahr eines Indifferentismus zu entgehen. Ein freier Wille, so die gemeinsame Überzeugung der nachkantischen Debatte, ist kein unbestimmter Wille, sondern ein individueller, d. h. von entschiedener, eindeutiger und begründeter Freiheit. Schließlich aber – nun im Sinne des Genitivus subjectivus – handelt es sich bei der Wendung »Bestimmung des Willens« um die Frage, in welchem bestimmten Verhältnis der Wille zu sich selbst steht, soll er als freier Wille angesehen werden. Hierbei rückt die Binnenstruktur des Willens ins Zentrum als reflexives Verhältnis von Wille, Willkür und Vernunft. Die im Folgenden zu untersuchende Freiheitsdebatte besitzt denn auch – anders als die erkenntnistheoretische Debatte im Ausgang der Kritik der reinen Vernunft – eine historische Eigentümlichkeit, welche sich in der Mehrdeutigkeit der Wendung »nach Kant« widerspiegelt. Denn sie ereignet sich nicht nur zeitlich und kausal in Folge von oder wegen Kant, sondern auch relational mit und gegenüber Kant – gleichsam dialektisch. Kant trägt die Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem, die sich im Anschluss an seine moralphilosophischen Grundlegungsschriften entspann, in nuce selbst in seinem darauf folgenden Werk aus. Mit seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 und seiner Kritik der praktischen Vernunft von 1788 bildet er den Ausgangspunkt und den Boden der sich in den 1790er Jahren entfaltenden Debatte um die Freiheit des Willens. In seiner Religionsschrift von 1792/93 nimmt Kant in der Folge explizit Bezug auf Problempunkte seiner Grundlegungsschriften, um dem Verdacht eines »intelligiblen Fatalismus« zu entgehen. In seiner Metaphysik der Sitten von 1797 hat Kant schließlich sein »eigenes spätes Wort zur Freiheitstheorie« 59 – gewissermaßen ein 59
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»Machtwort« 60 – in dieser Debatte gesprochen. Kant ist also zugleich Initiator und Protagonist der Debatte. Dadurch, dass Kant – anders als in der erkenntnistheoretischen Debatte – selbst ein Protagonist ist, wird die Freiheitsdebatte zusätzlich dynamisiert: Sie darf geradezu als »Musterfall eines Diskussionszusammenhangs« 61 gelten, innerhalb dessen sich am Leitfaden des Autonomie-Problems verschiedene Transformationen des Willens- und Freiheitsbegriffs vollziehen. Die Debatte um das Autonomie-Problem ist also nicht dadurch bereits hinreichend bestimmt, dass sie sich »im Anschluss« 62 an Kant ereignet. Dies würde suggerieren, dass es sich dabei um eine bloße Fortsetzung auf Basis identischer Prämissen handelte. Vielmehr bietet es sich an, sie ›am Rande des Idealismus‹ 63 zu verorten. Diese ›kritische‹ Stellung der Freiheitsdebatte besteht ganz allgemein darin, dass sie sich nicht allein affirmativ zu Kants Theorie einer Autonomie der Vernunft verhält, sondern diese vor allem problematisiert. ›Kritisch‹ ist diese Debatte historisch deswegen, weil sie nicht geradlinig »von Kant bis Hegel« 64 verläuft. Vielmehr handelt es sich um eine offene Debatte auf wenig bekannten ›Nebenwegen‹, welche aus der anfänglichen Unterbestimmtheit der Kantischen Willenstheorie und ihrem ›blinden Fleck‹ der Willkür und des Unvermögens einer Freiheit zum Bösen erwächst. In vielen Fällen erfolgt diese Debatte nicht durch streng ausgearbeitete Systeme, sondern häufig in der freien Form von kritischen Kommentaren, Repliken, Rezensionen und (fiktiven) Briefen – also wie gesprächsweise. ›Kritisch‹ ist dieses Debatte auch systematisch durch ihren Gegenstand: Sie kreist um einen Begriff der Willkür, der in idealistischer Tradition häufig unter den Verdacht einer Freiheit der bloßen Beliebigkeit gestellt wurde. Zusätzlich rückt der Begriff einer Freiheit zum Bösen ins Zentrum, welche vor und nach Kant häufig privativ gefasst und freiheitstheoretisch als bloßes Unvermögen depotenziert worden war. ›Kritisch‹ ist diese Freiheitsdebatte schließlich aber auch insofern, als sie zur Lösung des Autonomie-Problems auf ein Reservoir vorkantischer Theorieelemente
Bondeli (2001), 244. Bittner/Cramer (1975), 18. 62 So der Titel von Bondeli (2001): »Freiheit im Anschluss an Kant«. 63 Vgl. zur Prägung dieser Wendung, jedoch nur mit Blick auf Karl Leonhard Reinhold und ohne Berücksichtigung der Freiheitsdimension: Kersting/Westerkamp (2008), 7. 64 Kroner (1921). 60 61
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zurückgreift, die den Begriff der individuellen Entscheidungsfreiheit – des liberum arbitrium voluntatis – konstituieren. Es handelt sich also bei dem Autonomie-Problem im Ausgang von Kant weder nur um ein Scheinproblem, das getrost ignoriert werden darf, noch um eine Aporie, die jede weitere Fortentwicklung des Freiheitsbegriffs bereits von vornherein unmöglich machen würde. Vielmehr handelt es sich um eine Provokation diverser Lösungsversuche, welche angesichts ihrer begrifflichen Differenziertheit auch hinsichtlich der gegenwärtigen Freiheitsdebatte von systematischem Interesse sind.
2. 2.1
Freiheitstheoretischer Forschungsbedarf im Ausgang von Kant Zur nachkantischen Freiheitsdebatte im Allgemeinen
Die Freiheitsdebatte im unmittelbaren Ausgang von Kant stand bislang eher im Schatten der Forschung. 65 Dies ist erstaunlich, darf doch der Freiheitsbegriff, nicht nur bei Kant, der ihn als »Schlussstein« 66 seines Systems ansieht und der praktischen Vernunft den Primat vor der theoretischen gibt, sondern auch für die gesamte klassische deutsche Philosophie als Fundamentalbegriff gelten – in Schellings Worten: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!« 67 Dieser Forschungsbedarf ist nicht unbeachtet geblieben. Dieter Henrich stellt fest, dass zu der Willensfreiheitsdebatte im Ausgang von Kant »noch immer eine umfassende Untersuchung fehlt« 68 und auch Klaus Düsing bemerkt, dass »[d]iese Freiheitsdebatte im Spannungsraum zwischen Kants Lehre und frühidealistischen Theorien […] noch erhellt werden [kann].« 69 Ebenso bemerkt Paul Guyer, dass Henrich (2004), 20, hat darauf hingewiesen, dass »[e]ines der Defizite« der gegenwärtigen philosophischen Forschung »in der ungenügenden Erschließung von Kants Freiheitslehre« liegt. 66 Kant, KpV, AA V, 3. 67 Schelling, IPP, HKA I, 2, 101. 68 Henrich (2007), 369. 69 Düsing (2006), 117. Vgl. auch Düsing (2003), 225: »Die Freiheitsdiskussion in der Entwicklung von Kant zu Fichte und zu Schiller als Grundlage frühidealistischer Freiheitstheorien ist noch nicht genügend aufgeklärt.« Vgl. aber schon Henrich (1975), 97: »Kants wenig differenzierte Begriffe vom Willen sind seinen Schülern schon früh als unzureichend für die überzeugende Darstellung der kritischen Moralphilosophie 65
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es noch »genügend Raum für weitere Forschung im Zusammenhang von Ursprung und Rezeption Kantischer Philosophie, insbesondere seiner Moral[philosophie]« 70 gibt. Ein Grund für die Vernachlässigung der nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte kann in ihrer zuvor beschriebenen kritischen ›Randständigkeit‹ erblickt werden. Auch ist sie aufs Engste mit der Moralitätsdebatte verwoben, so dass sie sich nur mit einiger Mühe identifizieren, isolieren und eigens thematisieren lässt. Schließlich steht sie, indem sie Kants wirkmächtigen Autonomie-Begriff problematisiert, in vielerlei Hinsicht quer zur gängigen Auffassung der nachkantischen Freiheitsdebatte als einer überwiegend affirmativen Übernahme und Weiterentwicklung der Kantischen Theorie autonomer Vernunft. 71 Bislang existiert keine ausführliche Studie, welche die nachkantische Freiheitsdebatte als einen systematischen Diskussionszusammenhang um das Autonomie- und Zurechenbarkeits-Problem begreift, 72 dabei Kants eigene systematische Beiträge als Reaktion mit einbezieht und zugleich kritisch reflektiert. 73 Vorarbeiten zur systematischen Erschließung dieser Freiheitsdebatte hat der 1975 von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer herausgegebene SuhrkampBand Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft geleistet. Das Verdienst dieser sehr umfangreichen Anthologie (sie umfasst beinahe 500 Seiten) besteht darin, bis dahin nur schwer zugängliche freiheitstheoretische Texte im Ausgang von Kant einer breiten phierschienen. Ihre Bemühungen, eine vollständige Theorie des Willens auszuarbeiten, waren auch für die frühen Stadien der Entwicklung des spekulativen Idealismus von einiger Bedeutung. Noch hat niemand die wichtige Aufgabe in Angriff genommen, diese Arbeiten […] zu analysieren und ins Verhältnis zu setzen zu Kants weiterentwickelten Definitionen in der ›Metaphysik der Sitten‹«. 70 Guyer (2004), 21. 71 Vgl. Stolzenberg (2001), 41, wonach »es Kants praktische Philosophie und die Lehre von der Autonomie des Willens« ist, »die für die Nachfolger Kants zum Orientierungspunkt für ihre eigenen systematischen Überlegungen wurde.« 72 Zum Zurechenbarkeits-Problem bei Kant Vgl. Fischer (1988), 21 f. Fn.: »[D]ie Zurechnungsfrage, an der doch das ganze Gewicht der Freiheitsfrage hängt, ist ein Stiefkind nicht nur der Kantforschung.« 73 Vgl. dazu Guyer (2004), 21: »[E]rst seit kurzem erkennen die Forscher, dass Kants Schriften in den 1790ern als eigene Periode angesehen werden sollten, in der er die konkreten Auswirkungen der abstrakten Prinzipien kritischer Philosophie zu zeigen versuchte, die er von 1781–1790 entwickelt hatte; hier ist noch viel Arbeit zu tun. Ganz allgemein gesprochen muss eigentlich die Geschichte von Kants Wirkung auf die gesamte Folgezeit der Philosophie noch geschrieben werden«.
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losophischen Öffentlichkeit in zentralen Auszügen zugänglich gemacht zu haben. Allerdings liegen die Nachteile einer solchen losen Zusammenstellung auf der Hand: Sie bedarf, um philosophischen Ertrag abzuwerfen, einer umfassenden historisch-systematischen Einordnung der jeweiligen Texte, was im engen Rahmen der einleitenden Bemerkungen, die sich auf ein knapp 20-seitiges »Vorwort« beschränken, seinerzeit nicht geleistet werden konnte, so dass aufgrund der Heterogenität der versammelten Entwürfe ein systematischer ›roter Faden‹ der nachkantischen Debatte nicht sichtbar wird. Obwohl mittlerweile einige der darin enthaltenen Quellentexte kritisch ediert vorliegen, 74 erweist sich der Materialienband immer noch als eine, ja die primäre Bezugsquelle für eine Untersuchung der Freiheitsdebatte bei und im Ausgang von Kant. 75 Als einer der klassischen Beiträge zur Erschließung der nachkantischen Freiheitsdebatte darf Dieter Henrichs Studie Ethik der Autonomie gelten. 76 Sie erschien 1982 und stellt eine leicht überarbeitete Version seines 1963 erschienenen Aufsatzes über »Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus« dar. 77 Henrichs Arbeit spiegelt insofern den Forschungsstand vor der Veröffentlichung des von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer herausgegebenen Materialienbandes (1975) wider. Die Studie konzentriert sich auf Kants Begriff einer Autonomie der Vernunft, den Henrich weiter analysiert, indem er auf die beiden Vernunftleistungen des principium diiudicationis und executionis hinweist, die den komplexen Begriff einer Autonomie der Vernunft konstituieren. AllerZu nennen ist hier an erster Stelle die Edition des zweiten Bands von Karl Leonhard Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie, hg. von Martin Bondeli, Basel 2008. 75 Eine grundlegend neu strukturierte Edition einer solchen Textsammlung, welche die neuesten Forschungen einbezieht und zugleich einen ausführlichen Kommentar zu den sorgfältig ausgewählten Texten enthält, ist nach wie vor ein Desiderat. Auch eine englische Übersetzung der im Materialienband versammelten Texte, die bislang nur in deutscher Sprache existieren, steht noch aus. Während der vergriffene Materialienband eine Fülle an unverbundenen und nur wenig zusammenhängenden Dokumenten bot (und somit in erster Linie eine lose Materialiensammlung war), müsste eine solche Neufassung einen stärkeren Fokus auf die systematische Einheit der Texte legen, insofern sich diese als problemorientierte Beiträge und Dokumente zu der von Kant initiierten und klar umrissenen Freiheitsdebatte verstehen lassen. Hierbei könnte sich gerade auch die Konfrontation mit der modernen (analytischen) Freiheitsdebatte als fruchtbar erweisen. 76 Henrich (1982). 77 Henrich (1963). 74
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dings ist Henrichs Untersuchung zu sehr auf Einheit und Kontinuität des Autonomie-Gedankens ausgerichtet, so dass Spannungen und Kontroversen der Debatte, die sich im Wesentlichen als eine Kritik der Kantischen Autonomie-Lehre verstehen lässt, nicht erfasst werden können. Nach Henrich ergibt sich die »Kontinuität der kritischen und der spekulativen Philosophie […] daraus, daß beide [scil. Kant und die auf ihn folgenden Denker] das Prinzip der Autonomie der Vernunft annehmen [!] und versuchen, es in seine Konsequenzen zu entwickeln« 78 . Henrichs teleologischer Perspektive entgeht, dass Kants Konzept einer Autonomie der Vernunft bereits früh nicht so sehr als ein unhinterfragter Ausgangspunkt angesehen, sondern als eine Herausforderung verstanden wurde, deren gravierende Probleme es in immer neuen Theorieentwürfen zu beheben galt. Auch ist Henrichs Analyse der Autonomieproblematik zu sehr auf die Subjektivitätsproblematik ausgerichtet. So wird Kants Theorie autonomer Vernunft nach Henrich »zum Kriterium, an dem sich entscheidet, ob und in welchem Umfang ein Entwurf der Ontologie oder der Theorie der Subjektivität angemessen ist« 79 . Henrich lässt hier gerade die für die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant entscheidende Frage nach der Freiheit der individuellen Person, ihrer moralischen Zurechenbarkeit und voluntativen Struktur außer Acht. 80 Henrich (1982), 42 f. Henrich (1982), 8. Nach Henrich umfasst »die Problematik, die mit der Formel der Autonomie der Vernunft durch Kant erschlossen worden ist, drei Bereiche, die sich wechselseitig aufeinander beziehen: 1. eine neue Analyse des sittlichen Bewußtseins und seiner Gestalten, 2. eine Theorie über den Ursprung aller seiner Momente im vernünftigen Wesen des Menschen, 3. eine Grundlegung der Philosophie im ganzen, in deren Vernunftbegriff die Orientierung am sittlichen Bewußtsein eingeht.« (ebd., 8) Ähnlich wie Henrich interpretiert auch Allison (2013) das Autonomie-Problem und seine nachkantische Diskussion, ohne auf Reinhold explizit einzugehen. Der Grund dafür besteht darin, dass er Kant gegen das Zurechenbarkeits-Problem in Schutz zu nehmen versucht, insofern nach Kant Freiheit »in the capacity to obey the law rather than in actual obedience« bestehe: »[Kant] is not guilty of the absurdity (which is sometimes attributed to him) of holding that we are free (autonomous) only insofar as we act on the basis of the Categorical Imperative, which would entail that we cannot be held responsible for our immoral actions.« (133 f.) Dabei entgeht Allison allerdings das fundamentale Problem des Unvermögens der Freiheit: Wie ist eine Freiheit zum Bösen innerhalb der Autonomie-Lehre positiv zu denken? 80 Vgl. dazu Sandkaulen (2004), 218: »Festzuhalten ist […], daß sich der Fokus der Diskussionen in jüngster Zeit merklich verschoben hat. Unversehens ist die in den Hintergrund abgedrängte Person zur Hauptperson avanciert, um die sich der philoso78 79
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Im Folgenden soll ein zu Henrichs Perspektive komplementärer Weg eingeschlagen werden. Ich werde versuchen zu zeigen, dass das Kantische Konzept einer Autonomie der Vernunft nicht nur als affirmativer Anknüpfungspunkt, sondern schon sehr bald als gravierendes Problem erkannt wurde, was eine tiefgreifende Kritik und Transformation der Kantischen Freiheitslehre zur Folge hatte. Mit Blick auf dieses kritische Potenzial der nachkantischen Freiheitsdebatte hat Gerold Prauss’ 1983 erschienene Studie »Kant über Freiheit als Autonomie« einen wichtigen Forschungsbeitrag geliefert und dabei ganz allgemein das »Autonomie-Problem« 81 und speziell das »Problem des nichtmoralischen Handelns« in den Blick genommen. 82 Prauss kommt das Verdienst zu, als einer der ersten dezidiert auf die historische Folgedebatte des Autonomie-Problems – zumal durch Karl Leonhard Reinhold – hingewiesen und deren systematische Relevanz herausgestellt zu haben. 83 Ein weiterer wichtiger Forschungsbeitrag der Studie besteht darin, dass sie Kants eigene Lösungsversuche und Beiträge zur Freiheitsdebatte mitberücksichtigt und kritisch diskutiert, so dass sich durch die Auseinandersetzung mit Reinholds Kant-Kritik (84–96) und mit derjenigen Schillers (242– 259) die Konturen dieses komplexen Diskussionszusammenhangs bereits abzeichnen. Freilich hat auch diese Studie ihre Grenzen. So wird insbesondere Reinholds Freiheitstheorie vorschnell als »viel zu einfache Lösung« 84 verworfen, ohne dabei deren ganzes systematisches Potenzial zu berücksichtigen, welches für die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant gerade auch historisch von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Der Grund hierfür besteht darin, dass Prauss ganz auf Basis von Kantischen Kategorien am Leitfaden transzendentaler Freiheit argumentiert und Kants Grundprämissen unhinterfragt lässt. Aber auch in seiner Kant-Kritik verfährt Prauss an vielen Stellen zu voreilig, da er dessen Freiheitstheorie nicht genug aus ihrem historisch-systematischen Kontext heraus begreift und so nicht ge-
phische Diskurs nun intensiv bemüht.« Vgl. ebd., 219: »Im Zuge der neuen Diskussionssituation scheint es nicht länger irrelevant zu sein, was die bedeutenden Texte dieser [klassischen deutschen] Tradition über die Person zu sagen haben. Vor allem die praktische Philosophie Kants rückt nun anstelle seines ›Ich denke‹ in den Blick«. 81 Prauss (1983), 62 ff. 82 Prauss (1983), 70 ff. 83 Vgl. Prauss (1983), 84 ff. 84 Prauss (1983), 96. Die Bestimmung des Willens
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nug als einen eigenen systematischen Beitrag zur Freiheitsdebatte zu würdigen vermag. 85 Ähnlich wie Gerold Prauss hat Birger Ortwein in seiner Studie über Kants problematische Freiheitslehre 86 darauf hingewiesen, »daß eine Einheitlichkeit und innere Geschlossenheit in Kants Argumentation unterstellt wird, die bei ihm gar nicht zu finden ist« 87 . Ortwein kritisiert eine »Sichtweise« auf das Kantische Werk, »die das Unebene, ja mitunter Widersprüchliche in Kants Freiheitstheorie übergeht« 88 . So verdienstvoll eine auf Einheit abzielende Interpretation der Kantischen Freiheitstheorie auf Grund des Prinzips der wohlwollenden Interpretation, des principle of charity, auch sei; es werde dadurch, so Ortwein, »der Zugang zum Verständnis der nachkantischen Diskussion versperrt« 89 . Ortwein argumentiert dafür, »daß der eigentliche Bruch in Kants Argumentation […] zwischen der Fassung der Freiheit als Vernunftkausalität auf der einen Seite und der als Willkür auf der anderen« 90 zu finden sei. Damit stellt Ortweins Studie eine Extremposition innerhalb der Kant-Forschung dar, wonach Kants Freiheitslehre nicht nur hinsichtlich einer Lösung des Autonomie-Problems aporetisch, sondern auch werkimmanent widersprüchlich sei. Es gilt im Folgenden zu prüfen, inwieweit sich Kants Bojanowski (2006) hat versucht, Kants Theorie gegen die Vorwürfe von Prauss durchweg in Schutz zu nehmen und zu rehabilitieren. Auch dieses Vorgehen scheint mir der Sache nach nicht gänzlich überzeugend zu sein, weil dabei zahlreiche Verwerfungen der Kantischen Theorie zum Zwecke der inneren Kohärenz geglättet werden. So aber kann die nachkantische Freiheitsdebatte nicht als systematischer Diskurs begriffen werden, sondern muss als von vornherein verfehltes Unternehmen erscheinen. 86 Ortwein (1983). 87 Ortwein (1983), 145. 88 Ortwein (1983), 145 Fn. 89 Ortwein (1983), 145: »Die Annahme, Kant konzipiere Freiheit von vornherein als libertas indifferentiae, verdeckt die hier liegende Problematik und führt leicht dazu, die ganze Kantische Freiheitstheorie von der Religionsschrift her zu sehen und zu rekonstruieren. Das hat zur Konsequenz, daß eine Einheit unterstellt wird, die bei ihm gar nicht zu finden ist. Dadurch wird nicht nur der Zugang zum Verständnis der nachkantischen Diskussion versperrt, sondern auch der Neuansatz in der MdS bleibt unverstanden. Man verkennt dann allzu leicht den Sinn und die Bedeutsamkeit dieses letzten wichtigen Wortes zur Freiheitsproblematik und begreift nicht, daß Kant hier nur einen weiteren Schritt in der komplexen Entwicklung seiner Freiheitslehre tut«. 90 Ortwein (1983), 145; Kursives im Original fett. Vgl. auch Bittner/Cramer (Hg.) (1975), 18, wonach Kant sich in seinen späten moralphilosophischen Schriften »zu einer Modifikation der in der Kritik der praktischen Vernunft vertretenen Position gezwungen sah. Sinn und Motiv dieser Modifikation sind bis heute nicht aufgeklärt.« 85
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Aussagen tatsächlich widersprechen, oder ob sich seine Modifikationen nicht im Kontext der nachkantischen Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem weiter verständlich machen lassen. Eine bedeutende Station innerhalb der Erforschung der nachkantischen Freiheitsdebatte markiert Karl Ameriks’ Studie Kant and the Fate of Autonomy. Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy. 91 Ameriks versteht seine Untersuchung als »a story about how the original post-Kantians reacted to the metaphysical problem of absolute freedom« 92 . Allerdings legt Ameriks den Fokus mehr auf den erkenntnistheoretischen Autonomiebegriff und die damit verbundene Subjektivitätsproblematik, und weniger auf den im engeren Sinne freiheitstheoretischen Autonomie-Begriff und dessen Verwobenheit mit dem Begriff des menschlichen Willens. Durch diese Konzentration auf die Subjektivitätsproblematik folgt Ameriks Henrichs Perspektive auf die nachkantische Entwicklung, auch wenn Ameriks’ Interesse im Gegensatz zu demjenigen Henrichs darin besteht, die Kantische Theorie zu verteidigen und die nachkantische Debatte als »a series of misconceptions« 93 bzw. »influential misunderstandings introduced after Kant« 94 auszuweisen. Ameriks’ Ziel besteht darin, »to explain how there were important confusions, rather than mere ›improvements‹ and ›completions‹ in the works of Kant’s immediate successors« 95 . Eine kritische Diskussion der Freiheitsdebatte im engeren Sinne – mit Blick auf das Autonomie-Problem – findet nur an wenigen Stellen statt. 96 Auf diese Weise bringt Ameriks Kants Theorie und die Entwürfe der nachfolgenden Freiheitsdebatte in ein unvermittelbares Oppositionsverhältnis; er betrachtet diese Debatte weniger als einen fruchtbaren und produktiven Diskussionszusammenhang, 97 welche durch Kants eigene Teilnahme einen zusätzlichen Impuls erhielt. Das ›Schicksal‹ der Kantischen Autonomielehre besteht denn auch, so könnte man mit Blick auf den Titel von Ameriks’ Studie (»The Fate of AutoAmeriks (2000). Ameriks (2000), 18. 93 Ameriks (2000), 3. 94 Ameriks (2000), 9. 95 Ameriks (2000), 9. 96 Eine Ausnahme stellt Ameriks’ Untersuchung der Freiheitsdebatte bei Reinhold und Schmid dar (152–158). 97 Ameriks versucht dagegen zu zeigen, »that these neighborly ›friends‹ of Kantian autonomy were the greatest danger to it« (5). 91 92
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nomy«) sagen, nicht darin, verkannt und missverstanden, 98 sondern vielmehr darin, recht bald als überaus problematisch erkannt worden zu sein. Kants Theorie autonomer Vernunft stellt, so gesehen, weniger einen Ausgangspunkt für affirmative Kontinuitäten oder Missverständnisse dar, sondern konstituiert ein systematisches Sachprobem – eine theoretische Zumutung, die verschiedene Reaktionen provozierte. Eine weitere wichtige Station bei der Erforschung der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant stellt die Studie Angelica Nuzzos dar, die sich der Metamorphosen der Freiheit im unmittelbaren Ausgang von Kant annimmt. 99 Im Gegensatz zu Henrichs Studie begreift Nuzzo diese Entwicklung weniger als ein teleologisch ausgerichtetes Unternehmen, sondern als verschiedene Entwürfe und distinkte Transformationen, die einem komplexen Problemfeld entspringen und zu verschiedenen Lösungen drängen. Nuzzo beabsichtigt dabei, »den systematischen Veränderungen nachzugehen, die der Begriff der Freiheit notwendigerweise erfährt, sobald er in eine gegenüber der Kantischen modifizierte Philosophieauffassung eingeht«. 100 Ebenso besteht das Ziel der Studie darin, »die erste Rezeption der Kantischen Philosophie unter Berücksichtigung der Freiheitsproblematik einzuordnen« 101 . Nuzzos Leitfrage lautet dabei folgendermaßen: »Wie verändert sich der Kantische Begriff von Freiheit, wenn sich die systematischen und theoretischen Voraussetzungen ändern, auf denen dieser Begriff gründet?« 102 Dadurch ist Nuzzos Untersuchung nicht strikt an die Kantischen Prämissen gebunden, wodurch der systematische Aspekt der Freiheitsdebatte mehr in den Vordergrund rückt. In diesem Zusammenhang identifiziert die Studie drei zentrale Vgl. Ameriks (2000), 3: »[I]it can be argued that Kant’s all-consuming effort to bring autonomy to the center of philosophy (and life in general) has had, in the long run, the unintended effect of leading to a widespread discrediting of philosophy (in its traditional special role) as such, and to an undermining of the notion of autonomy itself.« 99 Nuzzo (1994). 100 Nuzzo (1994), 484. Vgl. auch ebd., 485: »Der Übergang vom Freiheitsbegriff der Kantischen Transzendentalphilosophie zu derjenigen Auffassung von Freiheit, die dem spekulativen Idealismus Hegels eigen ist, kann nur aufgeklärt werden anhand einer vorhergehenden Analyse der Transformationen, welche die Kantische Freiheitslehre noch zur Zeit ihrer Ausarbeitung erfahren hat. Diese Transformationen werden daher zugleich als Alternativen zum Kantischen Programm erscheinen.« 101 Nuzzo (1994), 486. 102 Nuzzo (1994), 486. 98
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Herausforderungen der nachkantischen Freiheitsdebatte: »(a) den Dualismus des menschlichen Wesens zu überwinden; (b) das Ding an sich zu eliminieren und trotzdem den Primat der praktischen Vernunft zu erhalten; (c) die These der Erkennbarkeit der Dinge an sich aufzustellen oder die Grenzen von theoretischer und praktischer Erkenntnis neu zu ziehen?« 103 . Allerdings berücksichtigt Nuzzo hier nicht das Problem der Willensfreiheit und der moralischen Zurechenbarkeit, welches als das zentrale freiheitstheoretische Problem im Ausgang von Kant gelten darf, und mit dem die übrigen von Nuzzo genannten Problemfelder wiederum aufs Engste zusammenhängen. Eine weitere Station bei der Erforschung der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant, welche nun jedoch explizit das Problem der moralischen Zurechenbarkeit als ein Leitproblem in den Blick nimmt, stellt die kurze Studie Martin Bondelis über Freiheit im Anschluss an Kant 104 dar. Bondeli widmet sich ausdrücklich der »Kant-ReinholdKontroverse und ihren Folgen«, wobei diese jedoch auf neun Seiten nur »schwerpunktartig umrissen« werden kann. 105 Die Studie hebt allerdings Karl Leonhard Reinholds Bedeutung für die folgende Entwicklung klar hervor. Auch ist in diesem Zusammenhang die Studie von Bernhard Milz über Freiheit und Unbestimmtheit. Kants Problem mit der Willensfreiheit von Interesse. 106 Milz untersucht darin die historische Entwicklung der Kantischen Freiheitstheorie unter dem Aspekt der Spannung zwischen (Vernunft-)Determinismus und Wahlfreiheit, um zugleich auf deren systematische Probleme hinzuweisen. Allerdings erkennt Milz kein theoretisches Vermittlungspotenzial in der nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte, sondern nur die unvermittelbare Alternative zwischen Vernunftdeterminismus oder Willkürfreiheit, deren beide Positionen er für unbefriedigend hält. 107 Milz entgeht hier, dass bei Kant selbst und in der ganzen nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte theoretische Bemühungen zu finden sind, dieses Problem zu lösen, indem die jeweiligen Denker mit größerem oder geringerem Erfolg versuchen, einen gangbaren
Nuzzo (1994), 486 Bondeli (2001). 105 Bondeli (2001), 243. 106 Milz (2005). 107 Vgl. Milz (2005) , 155: »Es war Kants Schicksal, dass er sich aus dieser unbefriedigenden Situation [zwischen Indifferentismus und intelligiblem Fatalismus; J. N.] nicht mehr befreien konnte.« 103 104
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»dritten Ausweg« aus dem Autonomie-Dilemma zu finden, der um den Begriff individueller Selbstbestimmung kreist. Ebenfalls aus systematischer Perspektive hat sich Jochen Bojanowski in seiner 2006 erschienenen Studie über Kants Theorie der Freiheit ausdrücklich dem Autonomie-Problem angenommen und auch die Reinholdsche Kritik berücksichtigt. 108 Der gesamte dritte Teil seiner Studie (»Scheitert das Autonomiekonzept an der Unmöglichkeit moralisch böser Handlungen« [229–286]), ist der Auseinandersetzung mit Reinholds Freiheitslehre gewidmet. 109 Generelles Anliegen ist es, »Kants Freiheitstheorie durch systematische Argumentationsanalyse zu rehabilitieren« und zu zeigen, »daß ein großer Teil der Einwände, die bisher gegen diese Theorie erhoben worden sind, sich auflösen lassen« 110 . Konkret vertritt Bojanowski die These, »dass die Reinhold-Kritik auf einem Missverständnis von Kants Bestimmung der positiven Freiheit beruht«, deren »absurde Konsequenzen« es herauszustellen gelte. 111 Bojanowskis Studie kann insofern als ein Gegenentwurf zu den Studien von Prauss und Ortwein gelesen werden, die ausschließlich Kants Theorie autonomer Vernunft problematisiert hatten. Die gegen Kants Freiheitstheorie vorgebrachte Kritik angesichts des Autonomie- und Zurechenbarkeits-Problems bezeichnet Bojanowski denn auch rundweg als »Mythos«, den er versucht, wieder »zum Guten zu wenden« 112 . Dadurch wird jedoch die Kantische Freiheitstheorie in ihrem systematischen Gehalt von der historischen Debatte losgelöst und als ein bereits von Anfang an im Wesentlichen identisches System begriffen, obwohl Bojanowski selbst auf die Bedeutung der übrigen Teilnehmer der nachkantischen Freiheitsdebatte hinweist. 113 Zugleich erscheint aus einer solchen einseitigen Perspektive heraus der Versuch problematisch, Kants Freiheitsbegriff als »systematische Alternative« 114 gegenüber gegenwärtigen Theorien profilieren zu wolBojanowski (2006). Vgl. auch Bojanowski (2007). 110 Bojanowski (2006), IX. 111 Bojanowski (2006), 229. 112 Bojanowski (2006), X. 113 Vgl. Bojanowski (2006), 233: »Es mangelt an Arbeiten, die den Einfluß der kleineren und in Vergessenheit geratenen Schriften von Kants philosophischen Zeitgenossen auf seine Schriften untersuchen. Auch Kants kritische Auseinandersetzung mit seinen Rezensenten wird zu wenig berücksichtigt. Oft aber wird die Stoßrichtung von Kants Argumentation nur vor dem Hintergrund dieser Subtexte verständlich.« 114 Bojanowski (2006), 4. 108 109
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len. Für einen Anschluss an die aktuelle Freiheitsdebatte wäre es gerade im Gegenteil notwendig, Kants eigene Modifikationen des Freiheitsbegriffs stärker zu berücksichtigen und als Teil eines dichten Diskussionszusammenhangs zu begreifen, der mit demjenigen der gegenwärtigen Debatte systematische Überschneidungen und Parallelen aufweist. Gegen Bojanowskis Rehabilitations-These soll deshalb im Folgenden die kritische Frage erhoben werden, ob nicht vielmehr der eigentliche ›Mythos‹ darin besteht, Kants Theorie als ein a priori unveränderliches System anzusehen und so von vornherein jegliche Fortschrittsentwicklung des Freiheitsbegriffs innerhalb seines umfangreichen Werkes auszublenden. Im Gegensatz zu Bojanowskis Studie soll denn auch die nachkantische Freiheitsdebatte möglichst unparteiisch betrachtet werden, und zwar so, dass die verschiedenen Beiträge der Debatte zur Lösung des Autonomie-Problems (und damit auch Kants eigene Beiträge) auf ihr systematisches Potential hin untersucht werden. 115
2.2
Zu Kants Autonomiebegriff
Für die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant ist besonders die im Jahre 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft von Bedeutung. Die drei Jahre zuvor erschienene und wesentlich kompaktere Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist ihrem Anspruch nach nur eine Grundlegung, nicht aber eine systematisch entwickelte Theorie menschlicher Freiheit und Moralität, wie es eine Kritik des ganzen praktischen Vernunftgebrauchs erfordern würde. Die Kritik der praktischen Vernunft darf als der maßgebliche systematische Bezugspunkt für die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant gelten. 116 Kants Kritik der praktischen Vernunft steht innerhalb der Forschung allerdings im Schatten der Grundlegungsschrift. 117 Zu Unrecht, denn sie ist von ihrer Anlage und von ihrem philosophischen Anspruch her Vgl. zur Notwendigkeit einer solchen Methode auch Noller (2014), 298 f. Vgl. dazu Kants eigene Stellungnahme in der Kritik der praktischen Vernunft, wonach deren System »zwar die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten voraus [setzt], aber nur in so fern, als diese mit dem Prinzip der Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt; sonst besteht es durch sich selbst [Hervorh. J. N.].« (KpV, AA V, 8). 117 Vgl. Höffe (2012), 71: »Obwohl in der Wirkungsgeschichte die Grundlegung weit 115 116
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auf eine Stufe mit der Kritik der reinen Vernunft zu stellen, insofern diese durch eine Kritik des praktischen Vernunftgebrauchs komplementiert wird. Dies soll freilich nicht heißen, dass nicht auch andere Werke einen Bezugspunkt der nachkantischen Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem darstellen. Allerdings erfordert eine systematische Kritik der Kantischen Freiheitstheorie den Bezug auf ein ausgearbeitetes System, welches allein die Kritik der praktischen Vernunft liefert. Bislang lag der Fokus der Erforschung der Kritik der praktischen Vernunft auf der Frage nach der Herleitung des kategorischen Imperativs, wie Kant diese im ersten Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft »Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft« unternimmt. Im Schatten der Forschung stand dagegen das zweite Hauptstück der Analytik (»Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft«; »Kategorien der Freiheit« und »Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft«), in welchem Kant explizit die moralischen Begriffe des Guten und Bösen thematisiert, welche für die Frage nach der moralischen Zurechenbarkeit der Person von größter Bedeutung sind. 118 Auch das dritte Hauptstück der Analytik, in welchem Kant die motivationale Anwendung des Sittengesetzes auf die Sphäre der Handlungen thematisiert und damit das Moment positiver Freiheit als Autonomie konzipiert, 119 steht immer noch im Schatten des ersten Hauptmehr Einfluß erhält, kommt […] dieser Kritik der praktischen Vernunft der größere philosophische Rang zu«. 118 Aufgrund seiner zentralen Funktion, die in neuerer Zeit innerhalb der Kant-Forschung größere Aufmerksamkeit erfahren hat, haben sich neben Bobzien (1988) und Graband (2005) auch die Studien von Zimmermann (2011) und Puls (2013) dem zweiten Hauptstück, und dabei besonders den »Kategorien der Freiheit« angenommen. Allerdings wird auch in diesen Arbeiten das zweite Hauptstück hinsichtlich seiner freiheits- und autonomietheoretischen Rolle nicht in den Kontext des gesamten komplexen Willensbildungsprozesses gerückt, der ja erst die vollständige Autonomie des Willens konstituiert, sondern überwiegend isoliert betrachtet. Zwar stellen die Kategorien der Freiheit eine zentrale Funktion innerhalb des Bildungsprozesses des Willens dar. Doch haben sie aufs Ganze – die freie Handlung – gesehen immer noch vorbereitende Funktion, da sie selbst keine Verwirklichung der Willensgesinnung in die konkrete Handlung erreichen können, insofern ihnen das subjektive und exekutive Moment der Willkür (der libertas exercitii) fehlt – diese Dimension autonomer Vernunft wird erst im dritten Hauptstück über die »Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« behandelt. 119 Vgl. dazu Sandkühler (2005), 150: »Trotz der immensen Bedeutung, die diese Theorie des moralischen Gefühls in Kants Moralphilosophie hat, wird ihm in der
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stücks. 120 Kants Theorie der moralischen Triebfeder der Achtung wurde in erster Line als moralphilosophisches Lehrstück und nicht als konstitutives Moment einer Theorie autonomer Vernunft gelesen. Auch wurden alle drei Hauptstücke in der Regel isoliert betrachtet und nur selten im Kontext der Logik der Autonomie als Momente eines komplexen Willensbestimmungsprozesses begriffen. Entscheidend ist hierbei jedoch gerade, dass erst alle drei Hauptstücke zusammengenommen, in ihrer spezifischen Verzahnung und ihrem Zusammenspiel eine vollständige Systematik der vernünftigen Willensbestimmung und damit der Autonomie der Vernunft im Sinne einer Kausalität aus Freiheit konstituieren. 121
Rezeption keine allzu große Beachtung geschenkt.« Der Artikel »Achtung« im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Misgeld [1971], Sp. 75) verzeichnet als »[w]ichtigste Kritiker des kantischen Lehrstücks« Hegel und Scheler. Die wohl scharfsinnigste, weil immanente Kritik an der Kantischen Achtungstheorie, die auf Reinhold zurückgeht, findet dort keine Erwähnung. 120 Vgl. Giordanetti (1998), 1: »In der Forschung wird die Realität des Ethischen bei Kant fast ausschließlich hinsichtlich des Formcharakters des kategorischen Imperativs und des moralischen Urteils untersucht. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei auf einen Vergleich mit der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten angekündigten und nicht gelungenen ›Deduktion‹ des kategorischen Imperativs sowie auf die Einführung der Zwei-Welten-Lehre. […] Kant hat die Frage nach der Realität des Ethischen nicht schnell und flüchtig durch die Lehre vom Faktum der Vernunft beantwortet, sondern hat ihr neben den Erwägungen in der ›Analytik der Grundsätze‹ und der ›Begriffe‹ auch die ganze Triebfederlehre und endlich die Methodenlehre gewidmet.« 121 Vgl. zum Kausalitätsproblem der Kantischen Freiheitslehre bereits Maimon, Wörterbuch, (1791), 76 f.: »Endlich in dem Kantischen System ist das höchste Gute der freie Wille; dieser aber ist ein solcher, der durch die allgemeine Vernunftform der Identität bestimmt wird, nehmlich er muß diejenige Form der Handlung wollen, die ohne Widerspruch allgemeingültig, d. h. Gesetz seyn kann. Hier fehlt gleichfalls der Beweis von Pflicht. Die Vernunft kann zwar eine Causa formalis, d. h. Bestimmungsgrund der Handlung seyn, wie wird sie aber Causa efficiens?« Maimon fährt an derselben Stelle fort: »Könnte also die Realität dieser Autonomie des Willens bewiesen werden, so wäre sie nicht bloß Idee, sondern auch reeller Begriff; da aber dieses unmöglich ist, so ist sie nicht einmal eine reelle Idee, sondern ohngefehr wie der Winkel den Parallellinien mit einander machen, der Cosinus und Tangens eines rechten Winkels u. dgl., die nicht reelle Ideen, sondern Gränzbegriffe sind.« Die Bestimmung des Willens
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2.3
Zur nachkantischen Freiheitsdebatte im Speziellen
An eben jenem Kantischen Begriff von Freiheit als Kausalität der Vernunft hat sich die im Folgenden zu untersuchende Freiheitsdebatte zunächst entzündet. Eine besondere Rolle kommt dabei Carl Christian Erhard Schmid als prominentem Hauptvertreter der Position eines »intelligiblen Fatalismus« zu, die dieser in zwei Auflagen seines Versuch[s] einer Moralphilosophie von 1790 und 1792 entwickelt hat. 122 Schmids Position des »intelligiblen Fatalismus« lässt sich als eine Verschärfung der bereits bei Kant angelegten Problematik verstehen, insofern danach nun explizit moralisch böse Handlungen nicht mehr frei genannt werden können, sondern nur noch moralisch gute. Der Materialienband hat zwar aus der ersten Auflage zentrale Auszüge unter dem Titel »Determinismus und Freiheit« neu zugänglich gemacht. 123 Allerdings wird der praktischen Philosophie Schmids und ihrer systematischen Bedeutung für die historische Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 124 Angesichts dieses durch Schmid manifest gewordenen systematischen Problems des Kantischen Autonomie-Begriffs kommt besonders der Philosophie Karl Leonhard Reinholds große Bedeutung zu, welche in jüngster Zeit verstärktes Interesse erfährt. 125 Reinholds Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, Jena 1790; 2. vermehrte Auflage, Jena 1792. 123 Bittner/Cramer (1975), 241–252. 124 Zum Forschungsbedarf bei Schmid vgl. Wallwitz (1998), 182: »Die heutige Forschung wird sich […] nicht von den Stars blenden lassen dürfen, wenn sie Schmid, und mit ihm den Frühkantianismus, wiederentdeckt. Ihr wird durch die Beschäftigung mit Schmid ein neues Feld eröffnet, das bislang noch einen Dornröschenschlaf pflegt.« Vgl. ebd., 5: »Der früheste Kantianismus im allgemeinen ist fast ebensowenig erforscht, wie die Umformung der Kantschen Lehre durch Schmid im besonderen. Das gilt auch für diejenigen neueren Arbeiten, in deren Gebiet wenigstens einige Worte zu diesem Themenkomplex angebracht wären […] Insbesondere im Fall der Diskussion um den intelligiblen Fatalismus ist dies ein schweres Versäumnis.« 125 Vgl. dazu Lazzari (2003b), 191: »Karl Leonhard Reinholds praktische Philosophie, seine Theorie der Freiheit und seine Ansichten zur Moral- und Rechtsphilosophie haben in der Literatur des XX. Jahrhunderts eine eher geringe Aufmerksamkeit gefunden. Diese Lage hat sich auch nach den wichtigen Arbeiten der letzten Jahre nicht wesentlich verändert. Im Mittelpunkt der Reinhold-Forschung steht immer noch die Selbstbewußtseins-, Grundsatz- und Ableitungsthematik, während Untersuchungen zu Reinholds praktischer Philosophie eher spärlich sind.« Vgl. auch Bondeli (2008c), 41: »Ins Blickfeld der neueren Forschung und Interpretation zur klassischen deut122
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Theorie erwächst aus der Problematik des »intelligiblen Fatalismus«, wie ihn Schmid im Ausgang von Kant entwickelt. Kants Kritik der praktischen Vernunft darf für Reinhold als ein »Schlüsseltext« 126 gelten, an dem sich seine Schriften abarbeiten. Eine besondere Bedeutung kommt hier Reinholds freiheitstheoretischen Reflexionen im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie, »Reinholds praktisch-philosophischem Hauptwerk« 127 , zu. Reinhold reflektiert allerdings nicht nur das Autonomie-Problem, sondern wird damit selbst zu einem Protagonisten der Freiheitsdebatte, die er durch verschiedene Lösungsansätze bis ins Jahr 1797 mitbestimmt. 128 Während Reinhold lange Zeit als unorigineller Epigone ganz am Beginn einer Kontinuität »von Kant bis Hegel« 129 verortet wurde, hat die neuere Forschung gezeigt, dass Reinhold immer mehr als ein Denker angesehen werden kann, »der die komplexe Entwicklung im Anschluss an Kant weitaus tiefer geprägt hat, als bisher wahrgenommen wurde und von den philosophischen ›Giganten‹ dieser Zeit eingeräumt werden konnte.« 130 Dieses neu erwachte Interesse an Reinhold betrifft nun vor allem seine Moral- und Freiheitsphilosophie. 131 In jüngster Zeit hat die Reinhold-Forschung auch durch verschiedene Neueditionen seiner Werke Impulse erhalten. Speziell Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie gehören zu den »auffälligsten schen Philosophie rücken zunehmend Karl Leonhard Reinholds Qualitäten als eigenwilliger, die nachkantische Spekulation mit erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Fragen konfrontierender Denker. Vor allem ist auch bezüglich eines gängigen Urteils über Reinholds Kant-Phase, der Ansicht, diese stehe im Banne eines verkünderischen und zur Verflachung des Kritizismus neigenden Kantianismus, ein markanter Wechsel eingetreten.« Der folgende Forschungsbericht zu Reinholds praktischer Philosophie knüpft in weiten Teilen an den sehr instruktiven Überblick bei Lazzari (2004), 15–25, Marx (2011), 1–13 sowie, unter explizit freiheitstheoretischen Gesichtspunkten, bei Noller (2012a) an. 126 Bondeli (2008a), IX. 127 Lazzari (2004), 17. 128 Vgl. zur freiheitstheoretischen Bedeutung Reinholds allgemein: Fabbianelli (2000); Bondeli (2001). 129 Vgl. Kroner (1921), 316: »In seinem Leben ist keine lebendige Schöpferkraft; er versucht, den Kritizismus in einer bestimmten einseitigen Richtung zu dogmatisieren.« 130 Lazzari (2004), 17. 131 Darauf hat besonders Lazzari (2004), 16 ff. hingewiesen, dessen Studie zusammen mit Marx (2011) als exemplarisch für dieses neue Interesse gelten darf. Vgl. zu einer Übersicht über die neueste Reinhold-Forschung speziell unter dem Gesichtspunkt seiner freiheitstheoretischen Bedeutung: Noller (2012a). Die Bestimmung des Willens
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und wirkungsmächtigsten Produkten seines umfangreichen publizistischen Schaffens« 132 . Eine Neuedition der beiden Bände der Reinholdschen Briefe – zumal des Zweiten Bandes, der in der jüngsten Reinholdforschung besondere Beachtung findet 133 – war lange Zeit ein Desiderat, und bildet nun eine solide Grundlage für weitere Forschungen. Allerdings darf Reinholds Freiheitsbegriff immer noch als ein Stiefkind der Forschung gelten. Ein im Jahr 2012 erschienener Sammelband hat versucht, dem Abhilfe zu schaffen und thematisiert die Freiheitsproblematik bei Reinhold unter dem Titel »Wille, Willkür, Freiheit« 134 , womit bereits die Leitbegriffe der Freiheitsdebatte nach Kant genannt sind. Laut den Herausgebern des Sammelbandes »gilt es [nach wie vor] genauer aufzuzeigen, wie man Reinholds Begriff der Willensfreiheit in seinem Verhältnis zu den Begriffen der praktischen Vernunft und des Sittengesetzes im Detail zu deuten und zu beurteilen hat« 135 . Ebenso gilt es »[n]ach wie vor […] näher zu erörtern, welche Differenzen zwischen Reinholds Begriff der Willensfreiheit und Kants Auffassung von moralischer Freiheit oder Willkürfreiheit in der Sache eigentlich bestehen und woraus sich diese ergeben« 136 . Dabei muss, wie die Herausgeber zu Recht hervorheben, der Tatsache Rechnung getragen werden, »dass beide Denker ihre Freiheitsauffassungen sowohl terminologisch als auch sachlich präzisiert oder auch verändert haben« 137 . Eine systematische Analyse von Reinholds Freiheitsbegriff als eine genuine Form von personaler Willensfreiheit, die
Bondeli (2007), VII. Vgl. Lazzari (2004), 272, der darauf hingewiesen hat, dass der zweite Band der Briefe nicht »als einfache Fortsetzung von Briefe I, sondern als eigenständiges Werk innerhalb eines besonderen Entstehungs- und Problemkontextes« angesehen werden muss. Damit korrigiert Lazzari die lange Zeit vorherrschende Einschätzung der Briefe II, wie sie sich etwa bei Wundt (1932), 172 findet: »Man tut Reinhold […] kein Unrecht, wenn man den zweiten Band seiner Briefe geringer einschätzt, als den ersten.« 134 Heinz/Stolz/Bondeli (Hg.) (2012). 135 Heinz/Stolz/Bondeli (Hg.) (2012), 2. Zu Recht werfen die Herausgeber folgende wegweisende Fragen auf: »Hat Reinhold tatsächlich, wie gelegentlich behauptet wird, die moralische Freiheit im Sittengesetz durch ein irrational-dezisionistisches Wählen des Sittengesetzes gefährdet? Hat er nicht vielmehr ein überlegtes Wählen angenommen und damit der Freiheit im Sittengesetz allererst ihre vollständige Bestimmung verliehen?« (ebd.). 136 Heinz/Stolz/Bondeli (Hg.) (2012), 2. 137 Heinz/Stolz/Bondeli (Hg.) (2012), 2. 132 133
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ihr Profil vor dem Hintergrund des Autonomie-Problems erhält, darf immer noch als ein Desiderat gelten. 138 Hinsichtlich der Bewertung der Reinholdschen Freiheitslehre lassen sich zwei entgegengesetzte Positionen innerhalb der Forschung unterscheiden. Die erste, Kant-affine Partei erblickt in seiner Theorie den fehlgeleiteten Versuch, Kants Freiheitslehre weiter zu analysieren. 139 Eine solche Sicht birgt in sich allerdings das Problem, dass Reinhold so in bloßer Abhängigkeit von Kant betrachtet wird und eine systematische Würdigung seiner Eigenständigkeit nicht erfolgen kann. Eine zweite Position erkennt in Reinholds Theorie genuin neuartige Ansätze und verortet diese im Entstehungskontext und der Kontinuität des deutschen Idealismus. 140 Allerdings wird hierbei Reinholds Eigenständigkeit häufig nur insofern gewürdigt, als sie als eine Durchgangsstation für immer konsequentere idealistische Systementwürfe begriffen werden kann. Es soll deswegen im Folgenden ein dritter Weg eingeschlagen werden, wonach Reinholds Freiheitstheorie weder in exklusiver Abhängigkeit von Kant steht, noch in einer systemlogischen Abhängigkeit der Entwürfe des deutschen Idealismus, so dass seiner kritischen Sonderstellung ›am Rande des Idealismus‹ entsprochen werden kann. 141 Durch die Berücksichtigung der Eigenständigkeit Reinholds kann also gerade ein neuer, kritischer Blick auf die Freiheitsdebatte nach Kant geworfen werden. Dabei ist besonders Reinholds Auseinandersetzung mit Kants Kritik der praktischen Vernunft, seiner Religionsschrift und seiner Metaphysik der Sitten von freiheitstheoretischer Relevanz. Auch die Bedeutung der Reinholdschen Freiheitslehre für Schiller ist bislang nur wenig beachtet worden. 142 Eine ähn138 Als eine der wenigen Studien versucht Breazeale (2012) zu zeigen, »that Reinhold’s theory of freedom is not as implausible as many of his readers and critics – both past and present – might have one believe.« (91 f.). 139 Vgl. Ameriks (2000); Bojanowski (2006). 140 Vgl. Henrich (1982); Lazzari (2004). 141 Vgl. dazu auch treffend Zöller (2005), 75, wonach »Reinholds näheres Verständnis von Freiheit nicht so sehr geprägt ist von Kantischen Konzeptionen als vielmehr von inhaltlichen Annahmen und methodischen Einstellungen, die insgesamt einem anderen als dem kantischen Denken verpflichtet sind.« Zu den vorkantischen Wurzeln der Reinholdschen Philosophie vgl. auch Marx (2011). 142 Vgl. dazu Roehr (2003b), 121: »Reinhold deeply influenced Schiller’s reception of the Kantian philosophy, a fact that has not gained enough attention up until now.« Vgl. Ferner Beiser (2005), 213: »For all its importance, Schiller’s ideal of freedom remains relatively understudied in the vast corpus of secondary literature.«
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liche Asymmetrie der Forschung, welche bei Reinhold und seinem Einfluss auf Schiller sichtbar wird, zeigt sich auch mit Blick auf die frühen philosophischen Entwürfe Fichtes. Dabei waren es gerade freiheitstheoretische Fragestellungen, welche Fichte veranlasst haben, über Kant hinauszugehen, worauf Georg Wallwitz hingewiesen hat: »Der Motor in Fichtes Denken ist der Begriff der Freiheit gewesen« 143 . Der Forschung entgehe, so Wallwitz weiter, »die Bedeutung der Auseinandersetzung innerhalb des Kantischen Lagers, die Fichte bei der Gewinnung seiner eigenen Position berücksichtigen mußte.« 144 Wallwitz äußert dabei die Vermutung, »daß Freiheit und Selbstbewußtsein in mindestens ebenso tiefem Zusammenhang stehen wie Denken und Selbstbewusstsein« und konstatiert: Gerade »dem Verhältnis von Freiheit und Selbstbewußtsein« sei, so Wallwitz, »nur wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden.« Der Grund hierfür bestehe darin, »daß über die historischen Formationsbedingungen von Fichtes Freiheitskonzeption und deren Rolle bei der Genese der Wissenschaftslehre nur wenig bekannt ist«. 145 Schließlich spielt Reinholds Freiheitsbegriff auch für Schellings Freiheitsphilosophie eine nicht zu unterschätzende Rolle: Auch Schelling hat sich, wie gezeigt werden kann, seit seinen frühesten Freiheitsentwürfen mit Reinholds Kant-Kritik befasst und in Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Problem seine Freiheitentwürfe entwickelt. 146
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Methode und Aufriss der Untersuchung
Wie im vorigen Kapitel anhand von Reinholds Philosophie gezeigt, zerfällt die Forschung in zwei Lager hinsichtlich der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant. Auf der einen Seite stehen die ›konservativen‹ Kant-Interpreten oder »Freunde der Kantischen Philosophie« – um eine Wendung Karl Leonhard Reinholds zu benutzen –, deren Bestreben darin besteht, Kants Theorie gegen jede Form von Kritik in Wallwitz (1999), 123. Wallwitz (1999), 122 f. 145 Wallwitz (1999), 123. 146 Einige der wenigen Studien diesbezüglich stellen Peetz (1995), 202 sowie Schmidt (2012) dar. Peetz betrachtet das Verhältnis von Reinhold und Schelling allerdings primär unter dem Aspekt des Wissens, und nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt individueller Freiheit. 143 144
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Schutz zu nehmen und alternative Freiheitsentwürfe bereits im Ansatz für verfehlt zu halten. Auf der anderen Seite stehen die ›idealistischen‹ Kant-Interpreten, die Kants Freiheitstheorie als defizitären Ausgangspunkt begreifen, der durch immer kühnere spekulative Entwürfe ›aufgehoben‹ und so als bloßes Moment in eine umfassendere Theorie einbezogen werden müsse. Allerdings gerät unter diesen beiden sich gegenseitig ausschließenden Perspektiven das eigentliche Spezifikum der im Folgenden zu untersuchenden Freiheitsdebatte – ihr dialogischer Charakter – schnell aus dem Blick. Die folgende Untersuchung will deshalb einen Mittelweg ›am Rande des Idealismus‹, zwischen den für die Forschungslandschaft paradigmatischen Positionen Ameriks’ (als Vertreter der ›Konservativen‹) und Henrichs (als Vertreter der ›Idealisten‹) einschlagen, der Kants Freiheitstheorie nicht als ein von vornherein feststehendes Gebilde begreift, sondern als ein offenes Experiment der Freiheit, welches nur im Verweisungskontext mit anderen Freiheitsentwürfen sein Gepräge erhält. 147 Damit nimmt die vorliegende Studie eine Vermittlungsposition ein zwischen einseitigen Verteidigungs- und Harmonisierungsversuchen der Kantischen Theorie, die die freiheitstheoretische Relevanz der nachkantischen Debatte nur schwer zu fassen vermögen 148 und einseitigen kritischen Studien, die allein auf vermeintliche Brüche und Widersprüche innerhalb der Kantischen Theorie hinweisen und es somit ebenfalls nicht erlauben, die nachkantische Freiheitsdebatte als einen produktiven Diskussionszusammenhang zu begreifen. 149 Kants Autonomielehre erscheint aus der im Folgenden zugrunde gelegten Perspektive nicht mehr als unbestrittener affirmativer Bezugspunkt und unhinterfragte Vorgabe, sondern als wesentlich problematischer Hintergrund, vor dem verschiedene Versuche unternommen werden, das Zurechenbarkeits-Problem zu lösen. Diese Perspektive ist also nicht an ein bestimmtes Lager – die ›Freunde‹ 147 Der Vergleich mit einem Experiment ist auch deswegen naheliegend, da Kant selbst sich häufig an der naturwissenschaftlichen Methode orientiert. Vgl. Prauss (1983), 9: »Sogar inmitten der veröffentlichten Schriften seiner klassisch-kritischen Periode ist er [Kant] noch auf Schritt und Tritt in Experimenten begriffen, deren Ausgang für ihn selbst und dann erst recht für seine Leser offen bleibt.« 148 Exemplarisch hierfür ist die Studie von Bojanowski (2006), die sich als eine »Rehabilitierung« der Kantischen Freiheitslehre versteht. 149 Vgl. stellvertretend hierfür die Studien von Prauss (1984) und von Ortwein (1983), die den programmatischen Titel »Kants problematische Freiheitslehre« trägt.
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oder ›Feinde‹ der Kantischen Theorie – gebunden, sondern vielmehr an das allen Denkern dieser Debatte gemeinsame Sachproblem, das durch einen gemeinsamen Diskurs und verschiedene Entwürfe einer Lösung zugeführt werden soll – nicht zuletzt durch Kant selbst. Die im Folgenden entwickelte Perspektive ist also nicht die eines ›Mitoder-gegen-Kant‹, sondern vielmehr eines ›Mit-Kant-gegen-Kant‹ : Seine Philosophie muss sich an seinem eigenen Anspruch, eine stichhaltige Theorie moralischer Zurechenbarkeit zu entwickeln, messen lassen. Die Studie versucht insofern, Kants eigene Modifikationen seines Freiheitsbegriffs aus der historischen Dynamik der Debatte heraus zu begreifen und ist insofern wesentlich historisch-systematisch angelegt. Um die systematische Eigenständigkeit der übrigen Teilnehmer der Debatte gegenüber Kant herauszuarbeiten, ist jedoch eine methodische Reflexion auf die verwendete Freiheitsterminologie notwendig. Entgegen dem ersten Anschein handelt es sich dabei nämlich nicht um bloße Adaptionen Kantischer Theoreme und Kategorien – was diesen Denkern den Anschein bloßer Epigonen verleihen könnte –, sondern um sukzessive Ablösungsprozesse, die verdeckt unter dem Mantel der Schüler- und Gefolgschaft verlaufen und erst in der systematischen Neukonfiguration der Begriffe, als Begriffskonstellation, eigenständige Theorien erkennen lassen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Willkür zu. Er muss aufgrund seines äquivoken Gebrauchs unterschieden werden in einen verkürzten Begriff von überwiegend negativen Konnotationen und einen historischen Fachterminus im Sinne eines Gründe-sensitiven Vermögens, 150 ein – wie Kant es nennt – »arbitrium sensitivum«, als ein »arbitrium liberum voluntatis«, wie die Willkür in der philosophischen Tradition genannt wird. 151 Aufschluss über diese Ambivalenz des Willkürbegriffs gibt seine Begriffsgeschichte. Es ist auffällig, dass der Begriff der Willkür gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine negative Umdeutung erfahren hat. Das Grimmsche Wörterbuch (1854 ff.) bemerkt dazu: »[S]eit der zweiten hälfte des 18. jhs. herrscht […] die tadelnde verwendung vor« (Bd. 30, 216) und führt neben dem »neuer[en] gebrauch, meist mit tadelndem sinn« (Bd. 30, 210) im Vergleich zahlreiche »ältere 150 Vgl. dazu den Begriff einer »reasons-responsiveness« bzw. »reasons-receptiveness« in der analytischen Freiheitsdebatte bei Fischer/Ravizza (1998), 41 ff. 151 Vgl. Kant, KrV, B 562.
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verwendungen, ohne tadelnden sinn« auf (Bd. 30, 205). Diese Bedeutungsverschiebung und -verengung findet sich speziell auch in dem Adjektiv »willkürlich«. Es bedeutete im »ältere[n] sprachgebrauch, ohne tadelnden sinn« soviel wie »freiwillig« bzw. »nach freier Selbstbestimmung handelnd« (Bd. 30, 214), während es im »neuere[n] sprachgebrauch, mit tadelndem sinn« die »zu der grundbedeutung hinzutrendenden nebenvorstellungen ›subjectiv, einseitig‹« enthält (Bd. 30, 215), wie etwa »ungerechtfertigt, ungesetzlich, gewaltthätig, zügellos« bzw. »aus der luft gegriffen, unbegründet, unüberlegt« (Bd. 30, 216). Gründe für die zunehmend negative Konnotation können in der veränderten politischen Situation der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erblickt werden, in welcher die Freiheit weniger als Machtkonzentration (im Sinne etwa von »Fürstenwillkür«, die keiner Rechtfertigung bedarf, sondern sich nach bloß individuellen Vorlieben richtet), denn als öffentliches, allgemeines oder sittliches Vermögen gefordert wurde. Das wohl entscheidende historische Ereignis stellt hierbei die Französische Revolution dar, aber bereits Rousseaus 1762 erschienener Contrat Social (CS) weist in diese Richtung, wonach Freiheit gerade im »Gehorsam gegen das selbst gegebene Gesetz« (CS, I, 8, 39) besteht: »[L]’obéissance à la loi qu’on s’est prescritte est liberté.« Die Konzeption einer Autonomie der Vernunft und ihre asymmetrische Fixierung auf ein Vernunftgesetz des moralisch Guten kann denn auch vor diesem Hintergrund als ein Gegenentwurf zu diesem problematisch gewordenen individuellen Missbrauch der Freiheit angesehen werden, insofern dadurch der Gebrauch der Freiheit normativ neu gerade über ein allgemeines Vermögen, wie die Vernunft es ist, definiert wurde. Damit koinzidiert der Wendepunkt der positiven zur negativen Begriffsbedeutung mit der Entstehung der Kantischen Freiheitstheorie, was sich konkret daran zeigt, dass bei Kant der Begriff der Willkür i. S. von liberum arbitrium, zumal in der Kritik der reinen Vernunft, noch durchaus positiv besetzt ist. 152 Kants Philosophie markiert, so 152 Vgl. Kant, KrV, B 562: »Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.« Vgl. auch Kant, KrV, B 830: Eine Willkür, »welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum)«.
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könnte man insofern sagen, philosophiegeschichtlich einen ›kritischen‹ Punkt hinsichtlich des Willkürbegriffs. Vor allem bei Hegel jedoch sollte dieser Begriff in der Folge allerdings immer mehr in Misskredit geraten, so dass er seitdem gemeinhin als Musterbeispiel eines falschen, weil grund- und vernunftlosen Freiheitsverständnisses gilt. 153 Das Wort »willkürlich« und »arbiträr« kann nun geradezu synonym zu »wahllos« verstanden werden, so dass sich seine ursprüngliche Bedeutung ins genaue Gegenteil verkehrt hat. 154 Ein solches negatives Verständnis wird aber dem Willkürbegriff nicht gerecht, denn es übersieht seine lange philosophische Tradition als liberum arbitrium voluntatis. Der Begriff der Willkür bedeutet seinem Ursprung nach nicht eine grundlos-beliebige Wahl, sondern eine begründete Entscheidung, welche aufs Engste mit dem Vermögen der Vernunft verbunden ist. Die enge Verbindung von Rationalität und Entscheidungsfreiheit deutet bereits die Etymologie des Wortes »Willkür« an, denn eine »Kür« ist alles andere als ein grundloser, dezisionistischer Akt: Wer zu etwas auserkoren wird, wird dies nach reiflicher Überlegung und Erwägung (arbitrium), oft nicht nur aus einzelnen, sondern vielen, und zwar guten Gründen, unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven und Meinungen, die durch Abwägungen zu einer bestimmten Entscheidung gebracht werden. Gerade das aktive Moment der »Kür« des Willens impliziert also eine deliberative Prozessstruktur im Sinne der freien Willensbildung. 155 Indem der Begriff der Willkür so gefasst seine negative Bedeutung verliert, eröffnet sich zugleich mit seiner positiven Bedeutung die Möglichkeit, die nach- und mitkantische Freiheitsdebatte innerhalb größerer Kontexte zu situieren: Sie kann auf das Theorieprofil der paradigmatischen Konzeptionen des liberum arbitrium voluntatis der vorkantischen Tradition bezogen und mit dieser in ein Gespräch gebracht werden. Der Vorteil einer solchen Kontextualisierung besteht näher darin, dass die Tradition des liberum arbitrium zentrale philosophische Kategorien für ein differenziertes Begreifen des Auto153 Vgl. etwa folgende Zitate Hegels: »Die Willkühr ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu seyn, vielmehr der Wille als der Widerspruch. […] so kann die Willkühr allerdings, wenn sie die Freyheit seyn soll, eine Täuschung genannt werden.« (GPR, GW 14,1, 39). Als bloßer »Schein der Freiheit« ist die Willkür insofern »aus dem Begriff der Wissenschaften des Absoluten verbannt« (Diff., GW 4, 72). 154 Vgl. den Eintrag »willkürlich« im Duden Synonymwörterbuch (2010), 1086. 155 In der neueren Zeit lassen sich Versuche einer ›Rehabilitierung‹ des Willkürbegriffs beobachten. Vgl. z. B. Rebentisch/Setton (Hg.) (2011).
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nomie-Problems bereit stellt, auf welches auch in der nachkantischen Debatte – implizit oder explizit – rekurriert wird. Die nach- und mitkantische Freiheitsdebatte wird, so die im Folgenden vertretene These, gerade als Teil der langen Tradition der Debatte um die Freiheit des Willens verständlich. 156 Vor der eigentlichen Untersuchung der nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem sollen daher anhand von vorkantischen Theorien Kategorien und Kriterien gewonnen werden, die es erlauben, die nachkantische Freiheitsdebatte losgelöst von immanenter und innerkantischer Terminologie zu begreifen (Teil II: »Freiheit und Vernunft. Historisch-systematische Koordinaten«). Diese aus dem begrifflichen Fundus vorkantischer Tradition gewonnenen Kategorien dienen als historisch-systematische Referenzen, gegenüber denen sich die nach- und mitkantischen Entwürfe verorten lassen. Ein solcher ›Begriffsexternalismus‹ bietet den Vorteil, dass die nachkantische Freiheitsdebatte mit außerkantischen Kategorien eines größeren Kontextes begriffen werden kann, – nicht zuletzt deswegen, weil die Kantischen Begriffsprägungen durch ihre Wirkmächtigkeit davon abweichende Neuprägungen in der unmittelbaren Debatte extrem erschwert haben. 157 Nur in einem von Kants Terminologie unabhängigen Begriffsnetz kann also überhaupt die nach- und mitkantische Freiheitsdebatte systematisch evaluiert werden. Indem auf diese Weise vorkantisches Lösungspotenzial reaktiviert und revitalisiert wird, erlaubt eine solche Anbindung an außerkantische Kategorien auch, den Bezug zu aktuellen Theorien der analytischen Freiheitsdebatte herzustellen. 158 Hierbei erweist sich besonders die Freiheitstheorie Harry Frankfurts als anschlussfähig an die historische Freiheitsdebatte. 159 Die nachund mitkantische Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem kann 156 Vgl. zum Desiderat einer solchen Kontextualisierung der nachkantischen Freiheitsdebatte auch Noller (2014), 308. 157 Zur Bedeutung der Kantischen Begriffsprägungen, Metaphern und Topoi für die Philosophie und Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. Pietsch (2010). 158 Auf die Notwendigkeit, sich in der modernen, speziell nachkantischen Willensfreiheitsdebatte wieder stärker auf die vorkantischen Wurzeln zu besinnen, verweist auch Peetz (2004), 54 f. 159 Auf das Desiderat einer »kundige[n] Einordnung der Konzeption Frankfurts in die Geschichte und den systematischen Problemkontext der Willensfreiheit« hat Wolfgang Kersting in seiner Rezension von Betzler/Guckes (2001) (Hg.) in der FAZ vom 22. 10. 2001, Nr. 245, 52, hingewiesen. Einen Vergleich von Fichtes und Frankfurts Freiheitsbegriffen unternehmen im Sinne praktischer Subjektivität (wenn auch nicht
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damit also gleich zweifach situiert werden, insofern sie an den historischen und aktuellen Freiheitsdiskurs angebunden wird. Nur so kann diese Debatte möglichst unabhängig von Voraussetzungen des Kantischen Systems begriffen werden, wodurch die jeweiligen systematischen Stärken und Schwächen deutlicher zum Vorschein kommen. Die Methode der Untersuchung ist also historisch-systematisch, insofern jeder der untersuchten historischen Beträge auf das Autonomie-Problem bezogen werden soll. Hierbei interessieren folgende Fragen: Inwiefern wird der Gedankengang der Debatte zu einer möglichen Lösung des Problems weitergetrieben? Wo bestehen die jeweiligen Defizite der Entwürfe, und wie kann der Gedankengang danach noch weitergeführt werden? Es handelt sich im Folgenden also nicht um eine Untersuchung der historischen Debatte mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern nur um Studien, die sich auf zentrale Stationen der Debatte zur Lösung des Autonomie-Problems konzentrieren, welche als treibende Kräfte dieses Gedankengangs gelten dürfen. Auf weniger einschlägige Beiträge – häufig in Form von kleineren Rezensionen des Kantischen Werks – wird hingegen nur in den Fußnoten eingegangen. 160 Die folgenden Studien verfolgen den Gedankengang um das Autonomie-Problem weitgehend chronologisch und versuchen, die jeweiligen Entwürfe aus dem historisch-systematischen Gesamtzusammenhang heraus zu begreifen. Die Abfolge der Kantischen Werke zur Autonomie-Problematik gibt die Gliederung der Arbeit vor, wobei in einem ersten Schritt die metaphysische Wurzel des Autonomie-Problems in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft aufgesucht wird, in welcher Kant transzendentale Freiheit im Sinne einer absoluten Spontaneität der Ursachen bzw. als einer Kausalität aus Freiheit denkt. 161 In den moralphilosophieigentlich Personalität): Stolzenberg (1998), 618; Klotz (2002), 170 ff. und Ulrichs (2013), 307 ff. 160 Zu nennen sind hier vor allem August Wilhelm Rehbergs Rezension der Kritik der praktischen Vernunft (1788), Ulrichs Eleutheriologie (1788) und Schmids Versuch einer Moralphilosophie (1790/92). Eine sehr gute Dokumentation dieser frühen Rezensionen findet sich im Materialienband, auch wenn die jeweiligen Texte nicht weiter kommentiert und systematisch ausgewertet werden. 161 Eine ähnliche Herangehensweise an das Freiheitsproblem findet sich bei Dittrich (2004), 169 f. Dittrich lässt jedoch das eigentliche Grundproblem außer Acht: Die Spannung zwischen einer Theorie autonomer Vernunft und einer Theorie der indivi-
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schen Grundlegungsschriften (der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft) wird daraufhin dieser bloße Freiheitsgedanke unter dem Gesichtspunkt der reinen praktischen Vernunft, als praktische Freiheit, weiter positiv bestimmt, gemäß der Autonomie-Frage, wie reine Vernunft praktisch werden kann. Kants Theorie autonomer Vernunft wird auf diese Weise als historisch-systematischer Hintergrund rekonstruiert, vor dem dann die verschiedenen nachkantischen Theorie-Entwürfe zur Lösung des Autonomie-Problems – Kants eigene Beiträge eingeschlossen – an Profil gewinnen (Teil III: »Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit«). Der Fokus liegt dabei auf der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft. In logischer Abfolge ihrer drei Hauptstücke wird Kants Autonomie-Lehre als ein vernünftiger Willensbildungsprozess rekonstruiert. Von den verschiedenen Rezeptionslinien im Ausgang von Kant wird zunächst jene verfolgt, welche den Kantischen Autonomiegedanken derart radikalisierte, dass daraus schließlich von Carl Christian Erhard Schmid die Position eines »intelligiblen Fatalismus« entwickelt wurde, nach welchem Freiheit allein in Vernunftdetermination bestehe und ausdrücklich nur eine Freiheit zum Guten, nicht jedoch zum Bösen möglich sei. Vor diesem Problemprofil des Autonomie-Begriffs sollen die darauf folgenden Lösungsversuche rekonstruiert und auf ihre systematische Leistungsfähigkeit hin befragt werden. Nicht mehr steht hier das praktisch-Werden reiner Vernunft und die Verwirklichung des moralisch Guten im Zentrum, sondern der individuelle Wille und die Möglichkeit der Wahl zwischen dem moralisch Guten und Bösen, d. h. der ganze Gebrauch der Freiheit, Vermögen und Unvermögen, rücken in den Blick (Teil IV: »Freiheit des Willens. Transformationen autonomer Vernunft«). Kant selbst hat als Reaktion auf das Autonomie-Problem in seinem Aufsatz »Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur«, der 1792 in der Berlinischen Monatsschrift erschien und 1793 dann als Erstes Stück in die Religionsschrift einbezogen wurde, eine Theorie moralischer Zurechenbarkeit und Motivation vor dem Hintergrund des intelligiblen Fatalismus entwickelt. Ins Zentrum rückt dabei Kants Begriff der Maxime als individuelles Willensgesetz und der Beduellen Freiheitsentscheidung, wie sie sich in der Kantischen Opposition von Wille und Willkür äußert. Die Bestimmung des Willens
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griff eines Gebrauchs der Willkür, der nicht mehr extensional mit dem praktischen Vernunftgebrauch zusammenfällt. Zur selben Zeit wie Kant hat Reinhold im Zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie (1792) ebenfalls eine systematische Antwort auf die Herausforderung des intelligiblen Fatalismus gegeben. Ich interpretiere diese im Wesentlichen als eine personalitätstheoretische Kritik der Kantischen Autonomie-Lehre 162, wobei Reinhold zwar an Kant anknüpft, die Identität der Person jedoch nicht nur in ihrem moralischen, sondern in ihrem ganzen Gebrauch der Freiheit – zum moralisch Guten wie Bösen – erblickt. Zentral ist hierbei Reinholds Begriff des Gebrauchs der Vernunft, der den Kantischen Begriff eines Gebrauchs der Willkür weiter spezifiziert. Der blinde Fleck der Willkür, der in Kants Grundlegungsschriften unbestimmt gelassen worden war, wird nun bei Reinhold durch ein eigens konzipiertes »Grundvermögen« besetzt. Damit hofft Reinhold, den »dritten Ausweg« zwischen intelligiblem Fatalismus und Indifferentismus erfolgreich einschlagen zu können. Im Anschluss an die Untersuchung von Reinholds Freiheitsbegriff wende ich mich Schillers nur wenig bekanntem Beitrag zur nachkantischen Autonomie-Problematik zu. Dabei versuche ich zu zeigen, dass und wie sich in Schillers Schrift Über Anmut und Würde (1793), mehr noch aber in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) eine weitere Transformation des Kantischen Autonomie-Begriffs vollzieht. Schillers Ziel besteht darin, das Vermögen der Willkür durch Rekurs auf den in Reinholds Briefen entwickelten individuellen Willensbegriff und auf Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft weiter zu bestimmen, um so der objektiven Notwendigkeit des alternativlosen Vernunftzwangs des kategorischen Imperativs auf der einen, und einem grundlosen Indifferentismus auf der anderen Seite zu entgehen. Dabei ist systematisch besonders Schillers Begriff des Geistes von Interesse, den er im Sinne einer Heautonomie gegen den Begriff einer Autonomie reiner praktischer Vernunft abgrenzt und der die Einheit der individuellen Person in ihrer Freiheitsentscheidung leisten soll. Ausgehend von Reinholds Kant-Kritik wird dann der Versuch unternommen, Fichtes bislang nur wenig untersuchte Reaktion auf das Autonomie-Problem angesichts der Herausforderung des intelligiblen Fatalismus zu rekonstruieren. Im Zentrum steht dabei weniger 162
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Vgl. auch Noller (2012b).
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seine Wissenschaftslehre von 1794/95 als seine Wissenschaftslehre nova methodo (1796/97–1798/99) und sein System der Sittenlehre (1798). Gemeinsames Anliegen dieser beiden Schriften ist es, einen Begriff individueller Selbstbestimmung zu entwickeln, der weder mit bloßer Indifferenz, noch mit der Autonomie der Vernunft zusammenfällt, sondern es erlaubt, die unbedingte volitionale Sebsttreue der Person in ihrer Freiheit zu denken. Die historisch-systematische Anlage der Studie erlaubt es schließlich, Kants Distinktionen und Modifikationen des Freiheitsbegriffs – v. a. seinen Begriff des Unvermögens, aber auch die zentrale Unterscheidung von Wille und Willkür –, wie sie in seiner Metaphysik der Sitten von 1797 vorgenommen wurde, aus dem Kontext der Freiheitsdebatte heraus besser zu verstehen. Allerdings wird sich dabei herausstellen, dass auch Kants letztes Wort in der Freiheitsdebatte das Autonomie-Problem, das seine Grundlegungsschriften auslösten, nicht endgültig zu lösen vermag. Vielmehr erweist sich Kants Versuch einer definitiven Entscheidung der Debatte als Ausgangspunkt für eine erneute Auflage der Freiheitsdebatte. Vor dem erarbeiteten Problemhorizont einer Theorie autonomer Vernunft sollen im letzten Teil der Studie verschiedene Ausblicke erfolgen, die sich allesamt als eine Weiterführung der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant verstehen lassen (Teil V: »Freiheit der Person. Historisch-systematische Perspektiven«). Zunächst wird dazu Schellings Freiheitsbegriff in seinen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) auf das historisch-systematische Problemprofil bezogen. Es wird sich dabei zeigen, dass Schelling in diesem Werk – nach einer intensiven Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold in seinen Frühschriften – schließlich im Abstand von über zehn Jahren systematisch ernstzunehmende Lösungsvorschläge für das Autonomie-Problem bietet. Dass das Autonomie-Problem auch für die aktuelle Freiheitsdebatte von Relevanz ist, zeigt die Diskussion um die prominente Position der Akteurskausalität, eine Position, die ihre Ressourcen in vielerlei Hinsicht aus der Kantischen Theorie schöpft, so dass ein gemeinsamer Bezugspunkt beider Debatten gegeben ist. 163 Ähnlich 163 Vgl. zur systematischen Bedeutung der nachkantischen Freiheitsdebatte auch Henrich (2004), 20: »Auch die gegenwärtige Diskussion um Erkenntnisversprechen der Neurowissenschaften, in der verkürzte Freiheitsvorstellungen unreflektiert transportiert werden, müsste von deren Fortführung Gewinn haben.«
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I. Freiheit ›am Rande des Idealismus‹
wie in der nach- und mitkantischen Debatte sind in der aktuellen verschiedene Versuche unternommen worden, einen Begriff personaler Freiheit zu entwickeln, der den Anforderungen an Verständlichkeit und alternative Möglichkeiten der Freiheitsentscheidung genügen will. Die aktuelle Freiheitsdebatte lässt sich an diesem Punkt mit der historischen Debatte in ein fruchtbares Gespräch bringen.
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II. Freiheit und Vernunft. Historisch-systematische Koordinaten
1.
Indifferentismus oder intelligibler Fatalismus: Das freiheitstheoretische Grunddilemma
Aufgrund der komplexen Problemlage der Kantischen Freiheitslehre ist es methodisch geboten, Grundlinien des Autonomie-Problems aufzuzeigen, die als Koordinaten für die folgende Untersuchung dienen können. Ausgehend von dem Problem der Kantischen Konzeption von Willensfreiheit als Autonomie der Vernunft, werden im Folgenden – zunächst unabhängig von der Kantischen Lehre – ein Theoriemodell entwickelt und systematische Orientierungspunkte aufgezeigt, wobei auf vorkantisches und aktuelles Lösungspotenzial rekurriert wird. Diese Theorien bilden, wie sich im Folgenden zeigen wird, für die nachkantische Debatte einen Lösungshorizont, von dem aus die Entwürfe der nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte auf ihr systematisches Potenzial hin befragt werden können, ohne dabei der Gefahr einer nur Kant-immanenten Interpretation zu erliegen. Das Autonomie-Problem lässt sich durch folgende zwei, für einen unverkürzten Freiheitsbegriff zentrale Bedingungen beschreiben, welche scheinbar in einem Widerspruch stehen: (OA) Ontologische Anforderung: Der menschliche Wille ist nicht durch ein allgemeines Gesetz vorher festgelegt (prädeterminiert), sondern benötigt alternative Möglichkeiten, die durch die individuelle Person zur Entscheidung zu bringen sind, so dass die Handlung auf die individuelle Person zurückgeführt werden kann. 1
In der analytischen Freiheitsdebatte hat Robert Kane den Begriff der »Ultimacy Condition« geprägt, der im Großen und Ganzen der OA entspricht. Vgl. Kane (1989), 226.
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II. Freiheit und Vernunft
(RA) Rationale Anforderung: Die freie Entscheidung erfolgt nicht grundlos und aus Unbestimmtheit, sondern setzt Gründe der Selbstbestimmung voraus. 2 Nun führen diese beiden Bedingungen in ihrer jeweiligen Radikalform wiederum ihrerseits in neue Probleme. Wird die ontologische Anforderung einseitig betont (OA*), so hat dies zur Konsequenz eine völlige Beliebigkeit der Alternativen, und eine Entscheidung käme nie begründet zustande. Eine grundlose Entscheidung wäre nichts anderes als eine »frei flottierende, bedingungslose, launische Willkür, die zu erleben nicht wie Freiheit wäre, sondern wie ein Alptraum« 3 und könnte, ähnlich der »Beliebigkeit eines Münzwurfs« 4 , nicht als frei, sondern nur als völlig zufällig angesehen werden. 5 Auf der anderen Seite darf die rationale Anforderung nicht derart überstrapaziert werden, dass die Bestimmung und Begründung des Willens als eine Art von Notwendigkeit im Sinne eines alternativlosen Vernunftzwanges gefasst wird (RA*). Denn dies würde für die Entscheidung der freien Person, zumal zwischen moralisch guten und bösen Handlungen, welche die Rahmenbedingungen substanzieller Willensfreiheit darstellen, 6 keinen deliberativen Spielraum lassen. 7
Hierfür wiederum hat Robert Kane in der aktuellen Freiheitsdebatte den Begriff der »Explanation Condition« geprägt. Vgl. Kane (1989), 225. 3 Bieri (2005), 25. 4 Pauen (2005), 17. 5 Vgl. dazu Kant, Reflexionen zur Metaphysik, Nr. 4036, AA XVII, 392 f.: »Nicht die Notwendigkeit, sondern die Zufälligkeit ist für die Vernunft unbegreiflich.« 6 Auf die Bedeutung von substantiellen Entscheidungen, wie die zwischen Gut und Böse, im Gegensatz zu bloß instrumentellen Entscheidungen (zwischen Nützlich und Schädlich) hat Peter Bieri zu Recht hingewiesen: »Was ist es eigentlich, was ich will? Wenn wir uns eine solche Frage stellen, stehen wir vor einer Entscheidung neuer Art. Es ist eine Entscheidung von größerer Tiefe als bisher, denn in ihr beschäftigen wir uns nachhaltiger und ausdrücklicher mit unserem Willen als bei einer bloß instrumentellen Entscheidung. Wir sind uns selbst auf ganz andere Weise Thema, als wenn wir uns nur fragen, wie wir am besten zum Ziel kommen. Jetzt geht es um die Substanz unseres Lebens, und ich werde solche Entscheidungen deshalb substantielle Entscheidungen nennen.« (Bieri [2001], 63). 7 Auf die existentielle Bedeutung einer Freiheit zum Bösen für eine vollständige Freiheitstheorie hat Peter Bieri in seinem Buch über »Das Handwerk der Freiheit« eindrucksvoll anhand von Dostojewskis Roman »Schuld und Sühne« (bzw. nach der neueren Übersetzung: »Verbrechen und Strafe«) hingewiesen. Dostojewskis Roman ist im Grunde nichts anderes als eine poetische Darstellung des reflektierten, existenziellen Vollzugs der Freiheit zum Bösen. 2
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Der Gebrauch der Vernunft
Es gilt also einen Freiheitsbegriff zu entwickeln, welcher den Einseitigkeiten beider Radikalpositionen entgeht und so weder einem Indifferentismus der Willkürentscheidung unterliegt (OA*), noch ausschließlich in rein vernünftiger Willensbestimmung, d. h. vorgegebenem, alternativlosem Vernunftzwang, besteht (RA*). Eine Theorie, die dies erreichen möchte, muss die Skylla eines freiheitstheoretischen Indifferentismus auf der einen und die Charybdis des (intelligiblen) Fatalismus auf der anderen Seite umschiffen. Damit sind die Grundkoordinaten für ein Diskussionsfeld abgesteckt, innerhalb dessen sich die Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant begrifflich bewegt.
2.
Der Gebrauch der Vernunft. Vorkantisches Lösungspotenzial
Das Autonomie-Problem besitzt Wurzeln, die sich auf die vorkantischen Tradition, auf Denker wie Augustinus, Thomas von Aquin und Leibniz zurückverfolgen lassen. Deren systematisches Potenzial besteht in der Herausarbeitung einer Logik des Willens, der vom Vermögen der Vernunft zwar unterschieden ist, jedoch in einem spezifisch reflektierten Verhältnis zu ihr steht. 8 Wille und Willkür sollen dabei nicht als zwei ontologisch verschiedene Wesenheiten verstanden werden, sondern als Aspekte eines in sich differenzierten volitionalen Vermögens. Zwei Anforderungen gilt es hierbei also gerecht zu werden: Das Vermögen des Willens darf zum einen nicht vergegenständlicht und von der Vernunft gänzlich abgekoppelt werden – dies würde mitten hinein in einen grundlosen Indifferentismus führen. Das Willensvermögen darf zum andern aber auch nicht gänzlich in das Vermögen der Vernunft aufgehoben werden – dies würde in einen alternativlosen Vernunftdeterminismus führen, da eine willentliche Abweichung von der Vernunfterkenntnis nicht konsistent denkbar wäre (ein »Unvermögen« im schlechten Sinne). Der Zentralbegriff, der diesen beiden Anforderungen Genüge tun soll, ist derjenige der Willkür im Sinne eines liberum arbitrium voluntatis. Ein Wille ist frei im Sinne der Willkür, wenn er mit dem Auf die wechselseitige Abhängigkeit von Wille und Vernunft in der Freiheitsentscheidung (προαίρεσις) hat bereits Aristoteles hingewiesen, der dafür den Begriff des überlegten Strebens (ὄρεξις βουλευτική) geprägt hat. Vgl. EN, 1039a23.
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II. Freiheit und Vernunft
gefällten Urteil der Person übereinstimmt und diesem Urteil prinzipiell zu folgen vermag, wenn also das Urteilsprinzip (principium diiudicationis) mit dem Ausführungsprinzip (principium executionis) übereinstimmt. 9 Nun ist ein solches Urteil aber nicht bloß Akt eines abstrakten theoretischen Vermögens, sondern selbst willentlich verfasst. Das liberum arbitrium voluntatis ist deshalb wohl am besten übersetzt mit »freie Urteilskraft des Willens«. 10
2.1
Liberum arbitrium (I): Die Binnendifferenzierung des Willens nach Augustinus
Die systematische Bedeutung der Augustinischen Freiheitstheorie besteht in ihrem Begriff eines reflexiven Willens. 11 Durch seine reflexive Willenstheorie, die sich entschieden von der Platonischen These abgrenzt, wonach »niemand aus freier Wahl dem Bösen nachgeht oder dem, was er für böse hält« 12 , kann Augustinus in historischer Hinsicht als der »Erfinder des ›modernen‹ Willensbegriffs« 13 gelten. Er entwickelt seine Theorie des reflexiven Willens in Auseinandersetzung mit dem bereits bei Paulus beschriebenen Problem der Willensschwäche. 14 In dem Phänomen der Willensschwäche wird 9 Vgl. Bieri (2005), 27: »Unser Wille ist frei, wenn er sich unserem Urteil darüber fügt, was zu wollen in einer bestimmten Situation richtig ist.« Bieri spricht in diesem Zusammenhang von der Freiheit als »Plastizität des Willens relativ auf das Urteilen«. 10 Auch in der neueren Freiheitsdebatte wird wieder auf diesen Begriff rekurriert. Vgl. Kane (1998), 22. 11 Augustins Werke werden im Folgenden zitiert nach den Siglen LA (De libero arbitrio – Der freie Wille, übers. u. hg. von Johannes Brachtendorf, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2006.) unter Angabe von römischer Buch- und Kapitelzahl sowie arabischer Nummer und Seitenzahl der Neuausgabe; CF (Confessiones. Bekenntnisse, übers. von Wilhelm Thimme, Düsseldorf/Zürich 2004.) unter Angabe von römischer Buch- und arabischer Paragraphennummer sowie der Seitenzahl der Neuausgabe; CD (Vom Gottesstaat [De Civitate Dei], Bd. 1 u. 2, übers. von Wilhelm Thimme, München 1977 f.) unter Band-, Buch-, Kapitel- und Seitenzahl; hierbei wird auf die lateinische Textausgabe, hg. von Bernard Dombart, Sancti Aurelii Augustini Episcopi De Civitate Dei, Leipzig 1877, rekurriert). 12 Platon, Protagoras, 358c: »ἐπί γε τὰ κακὰ οὐδεὶς ἑκὼν ἔρχεται οὐδὲ ἐπὶ ἃ οἴεται κακὰ εἶναι«. Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher. 13 Dihle (1985), 162 und im Anschluss daran Horn (1996). Für Hannah Arendt ist Augustinus sogar der »erste Philosoph des Willens« (Arendt [1979], 82). 14 Vgl. Paulus, Römer 7, 14–25, speziell 18 f.: »Wollen (θέλειν) habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute (ἀγαθόν), das ich will, das tue ich
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Der Gebrauch der Vernunft
deutlich, dass intentionale Phänomene wie handlungs- und objektorientierte Willensaktivitäten wiederum von einer zweiten Stufe – von ›Volitionen zweiter Ordnung‹ – aus willentlich evaluiert werden können. Daraus ergibt sich die problematische Möglichkeit, dass diese höherstufigen Willensakte keine Wirkung auf die bewusst gewolltoder nicht gewollten basalen Willensstrebungen erzielen können, so dass beide Stufen des Willens desintegriert koexistieren. Eine Person ist demnach in ihrem Handeln gespalten – sie vermag sich mit diesem nur teilweise willentlich zu identifizieren. Ein vollständig harmonisch gefügter Wille, der aus voller Entschiedenheit und Selbstidentifikation zur Handlung führt, ist in diesem Fall ausgeschlossen. Die Willensschwäche resultiert also daraus, dass die ›Volitionen zweiter Ordnung‹ nicht einheitlich sind, so dass sie sich nicht sammeln und eine Wirkung auf die Willenstendenzen erster Stufe ausüben können. 15 Diese in sich differenzierte Struktur des Willens lässt sich als »Willensspaltung« 16 bzw. »Willensverdopplung« 17 beschreiben. Der Wille ist nach Augustinus also insofern reflexiv, als er sich selbst problematisch wird: Er kann keine volle Kontrolle mehr über die Volitionen erster Ordnung ausüben, und in diesem reflexiven Kontrollverlust des eigenen volitionalen Vermögens besteht der Grund willensschwachen Handelns. Präferenzen erster Stufe sind nach dieser differenzierten Willensauffassung also nicht mehr heteronome, dem Freiheitssubjekt von außen aufgezwungene Einflüsse und Neigungen, sondern immer schon willensmäßig strukturiert: Sie konstituieren als affectiones nicht; sondern das Böse (κακόν), das ich nicht will, das tue ich.« Eine detaillierte Untersuchung des Problems der Willensschwäche, speziell mit Blick auf Paulus und Augustinus findet sich bei Müller (2009). Eine ausführliche Analyse der Phänomenologie der Willensschwäche bei Paulus gibt außerdem Achtner (2010), 40 ff., dessen Studie ausgezeichnet die theologischen Wurzeln des modernen Begriffs der Willensfreiheit freilegt. 15 Der Begriff einer Volition zweiter Ordnung ist in dem für die moderne Freiheitsdebatte überaus wirkmächtigen Aufsatz von Harry Frankfurt (1971) als eine Münze geprägt worden. Freilich – und dies macht der Aufsatz nicht explizit – besitzt er einen zentralen Vorläufer in der Augustinischen Willensanalyse. Zu einer Auseinandersetzung mit der Willensfreiheitstheorie Harry Frankfurts und anderen aktuellen Theorien der analytischen Freiheitsdebatte vor dem Hintergrund der nachkantischen Debatte vgl. Teil V.2 dieser Arbeit. Vgl. zur Interpretation des Phänomens der Willensspaltung allgemein: Brachtendorf (2005), 167 ff. 16 Brachtendorf (2005), 167. 17 Achtner (2010), 71. Die Bestimmung des Willens
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II. Freiheit und Vernunft
animi die vorgegebene Willensbasis der Person, zu welcher diese sich wiederum willentlich verhalten kann. 18 Damit ist das Problem der Willensfreiheit als reflektiertes Wollen über die internen Willensstrebungen virulent geworden, welche nun von der Handlungsfreiheit, als bloße Realisierung der primär objektorientierten Willenstendenzen, unterschieden werden kann. 19 Augustinus analysiert das von Paulus beschriebene Phänomen der Willensschwäche im Achten Buch seiner Confessiones weiter. Er schildert in einer autobiographischen Phänomenologie der Willensschwäche das menschliche Phänomen, »daß zwei Willen in einem Menschen sich widerstreiten (duas voluntates in homine uno adversan sibi sentiunt)« 20 ; »ein alter und ein neuer, der eine fleischlich, der andere geistig […] und ihr Hader zerriß meine Seele« 21 . Eine Analyse Vgl. zum voluntativen Status der affectiones animi: Augustinus, CD, 14, 6, 164: »Denn in ihnen allen ist Wille, vielmehr allesamt sind sie nichts anders als Willensrichtungen (voluntates). Denn was ist Begierde (cupiditas) und Lust (laetitia) anders als Wille (voluntas), der bejaht, was wir wollen (volumus), was Furcht und Traurigkeit anders als Wille, der verneint, was wir nicht wollen (nolumus)? Äußert sich die Bejahung im Streben nach dem, was wir wollen, nennen wir’s Begierde, äußert sie sich im Genuß dessen, was wir wollen, Lust. Desgleichen, wollen wir nicht, daß etwas uns trifft, und verneinen wir es deswegen, heißt solcher Wille Furcht (metus), trifft uns dagegen etwas wider Willen, und verneinen wir es deswegen, heißt solcher Wille Traurigkeit (tristitia). Kurz, je nach der Verschiedenheit der Dinge, die man erstrebt oder flieht, bald angezogen, bald abgestoßen, wendet und wandelt sich der Wille in diese oder jene Gemütsbewegungen (affectus).« 19 Vgl. zur Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit sowie der internen Differenziertheit und Reflexion des Willens bei Augustinus: Brachtendorf (2006), 47; Brachtendorf (2007); 223; Müller (2007), 53 f.; Müller (2009); 314 f.; Achtner (2010), 70. Brachtendorfs mit Frankfurts Kategorien operierende Interpretation kann dabei als eine »alternative Interpretation« zur »traditionellen Interpretation« der Augustinischen Freiheitslehre angesehen werden. Vgl. Müller (2007), 53: »Der eigentliche Konflikt liegt hier [bei der traditionellen Interpretation; J. N.] auf einer einzigen Ebene des Wollens, die von verschiedenen Wünschen affiziert bzw. inkliniert wird«. Ich schließe mich im Folgenden der von Brachtendorf vorgebrachten Lesart einer Willensspaltung zwischen Objekt- und Metaebene an, wobei das Hauptaugenmerk Augustins Schrift De libero arbitrio und den Confessiones gilt. 20 Augustinus, CF, VIII, 24, 353. 21 Augustinus, CF, VIII, 10, 331. Vgl. dazu Müller (2007), 60: »Diesen paulinischen Gegensatz von ›Geist‹ und ›Fleisch‹ darf man nun nicht vorschnell in eine an Platons Phaidon geschulte Kontraposition von ›Seele‹ und ›Körper‹ übertragen. Augustinus betont über das Konzept der ›Zustimmung‹ gerade, dass der Konflikt im homo sub lege ein innergeistiger ist und somit nicht etwa auf eine heteronome Fremdsteuerung des Geistes durch den Körper zurückgeführt werden kann. ›Fleisch‹ und ›Geist‹ supponieren hier eher für zwei miteinander konkurrierende Wertsphären, auf die sich der 18
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dieses Phänomens der Willenszersplitterung fördert zu Tage, dass zwar Volitionen zweiter Ordnung vorliegen, diese jedoch aufgrund ihrer Uneinheitlichkeit keinen Einfluss auf die Präferenzen erster Ordnung auszuüben vermögen. Augustinus beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: »Wollen war schon Tun, und doch geschah es nicht. Leichter gehorchte der Körper dem geringsten Willensantrieb der Seele und bewegte auf ihren Wink seine Glieder, als daß die Seele sich selbst gehorcht und allein durch ihren Willen ihr starkes Wollen in Tat umgesetzt hätte.« 22 Die verschiedenen Willenstendenzen sind für sich genommen also keine »verschiedene[n] Wesenheiten« 23 (diversae substantiae), sondern Spaltungen ein und desselben menschlichen Willens. Sie »streiten […] so lange miteinander, bis man eines erwählt, auf das sich nun der eine ganze, vorher zerteilte Wille wirft (quo feratur tota voluntas una, quae in plures dividebatur)« 24 . Augustinus bezeichnet diesen Willensstreit als »Krankheit des Geistes« 25 (aegritudo animi). Das Problem besteht darin, dass die Willenseinheit des Menschen auf Grund der unmittelbar vorfindlichen Willensspaltung nicht unmittelbar geleistet werden kann: »Also sind es zwei Willen (duae voluntates), denn der eine von ihnen ist nicht ganz, und was dem einen fehlt, das hat der andere.« 26 Die erstrebte Einheit und Identifikation des Willens auf beiden Stufen mit sich selbst ist in diesem ererbten »ungeheuerlichen Zustand« (monstrum) nicht mehr unmittelbar gegeben: »[E]r befiehlt nicht voll und ganz (plena), darum geschieht auch nicht, was er befiehlt.« 27 Das menschliche Geist ausrichten kann, was seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Kontraposition von ›Leben nach dem Geist‹ und ›Leben nach dem Fleisch‹ findet.« 22 Augustinus, CF, VIII, 20, 349. 23 Augustinus, CF, VIII, 24, 355. 24 Augustinus, CF, VIII, 24, 355. 25 Augustinus, CF, VIII, 21, 351. 26 Augustinus, CF, VIII, 21, 351. 27 Augustinus, CF, VIII, 21, 352. Diese vorgängige Willensspaltung des Menschen zu einem uneinheitlichen Willen wird von Augustinus mit dessen postlapsarischem Zustand in Verbindung gebracht. Vgl. Stump (2001), 130: »A post-Fall human being is not able to bring his first-order volitions under the control of his good second-order desires, and in this sense he is unable to will not to sin. But his good second-order desire is enough to enable him to form the first-order volition to ask God to strengthen his will in good; and when he does, God gives him the strength of will he wants and needs. In this sense, even a post-Fall human being is able to will not to sin.« Vgl. ferner Peetz (1997), 65 f. sowie Müller (2009), 328, der diese Willensspaltung als »Signatur des Seinsverlustes, den der Mensch durch den Sündenfall erfahren hat« interpretiert. Die Bestimmung des Willens
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II. Freiheit und Vernunft
Wollen geschieht in diesem Zustand nicht »kraftvoll und ungeteilt« (fortiter et integre), sondern vielmehr »halbgelähmt hin und her taumeln[d] und schwanken[d] mit einem sich selbst widerstreitenden (voluntatem […] luctantem), teils aufstrebenden, teils absinkenden Willen« 28 . In seiner Frühschrift De libero arbitrio hat Augustinus die Reflexivität des Willens weiter analysiert. Der Wille ist als ein »mittleres Gut« (medium bonum) durch seine reflexive Zwischenstellung posititioniert zwischen »Tugenden, durch die man rechtschaffen lebt«, die »große Güter« (magna bona) sind, und zwischen den »Gestalten irgendwelcher Körper, ohne die man durchaus rechtschaffen leben kann«, die »die kleinsten Güter« (minima bona) darstellen. Der Unterschied zwischen den Tugenden und dem Willen besteht darin, dass der Wille als geistiges Vermögen intentional flexibel ist, der Mensch den Willen »nicht nur gut, sondern auch schlecht gebrauchen« (bene et male uti) kann, während dies bei den Tugenden nicht der Fall ist – sie sind intrinsisch gut. 29 Wie aber ist dieser Gebrauch des Willens zu denken? Im Dialog mit seinem Freund Evodius bemerkt Augustinus: »Wundere dich […] nicht, daß, wenn wir das übrige durch den freien Willen gebrauchen (per liberam voluntatem utimur), wir auch den freien Willen selbst durch ihn selbst gebrauchen können, so daß sich der Wille, der das übrige gebraucht, in gewisser Weise selbst gebraucht (ut quodam modo se ipsa utatur voluntas quae utitur ceteris). 30 Nach Augustinus ist es also möglich, sich willentlich durch das Entscheidungsvermögen (liberum arbitrium voluntatis) auf die unmittelbar objektorientierten Willenstendenzen (voluntates) 31 zu beziehen und so sein Wollen selbst zu bestimmen, d. h. sich seinen eiCF, VIII, 19, 347. Vgl. zur Willensspaltung auch Müller (2007), 67: »Die Zerrissenheit bzw. Spaltung des Willens liegt also wesentlich darin, dass in ihm simultan zwei inkompatible Wertmaßstäbe bzw. Handlungsprinzipien, prudentia carnis und prudentia spiritus, präsent sind, welche die objektorientierten Volitionen verschieden bewerten: Deshalb wird ein und dasselbe teils gewollt, teils nicht gewollt, aber eben nichts mit ganzem Willen eindeutig gewollt.« 29 Augustinus, LA II, 50, 190, 198 ff.: »Nam neque prudentia neque fortitudine neque temperantia male quis utitur; etiam in his enim omnibus, sicut in ipsa quam tu commemorasti iustitia, recta ratio viget, sine qua virtutes esse non possunt. Recta autem ratione male uti nemo potest [Hervorh. J. N.].« 30 Augustinus, LA II, 51, 194, 201. 31 Vgl. zur Interpretation der voluntates als Willenstendenzen Brachtendorf (2006), 45 f. sowie Müller (2007), 52. Achtner (2010), 63, übersetzt »voluntates« mit »Wil28
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genen Willen zu einer gewollten Einheit (der voluntas) zu bilden und in ein Ganzes zu integrieren. Wie verhalten sich das Gute und Böse zum Willen? Es steht für Augustinus fest, »daß nichts anderes den Geist (mens) zum Genossen der Begierde macht als der eigene Wille (propria voluntas) und die freie Entscheidung (liberum arbitrium)« 32 . Das Gute besteht darin, sich »dem gemeinsamen (commune) und unwandelbaren (incommutabile) Gut« anzuschließen. Das Böse liegt dementsprechend in einer perversio begründet: »[D]er Wille, der sich vom unwandelbaren und gemeinsamen Gut abwendet (voluntas aversa) und sich dem privaten Gut, dem Äußeren oder dem Niederen zuwendet (conversa), sündigt.« 33 Verantwortlich für den Status einer guten oder bösen Handlung ist also nicht so sehr das angestrebte Objekt bzw. Gut (bonum) – auch wenn es gegenüber höherwertigen Objekten als minderwertig erscheint –, sondern vielmehr die Art und Weise des Erstrebens dieser Objekte, also die Intentionalität oder Willensabsicht der individuellen Präferenzordnung: So kommt es, daß weder jene Güter, die die Sünder begehren, auf irgendeine Weise schlecht (mala) sind, noch der freie Wille (voluntas libera) selbst […] sondern das Böse ist seine Abkehr (aversio) vom unwandelbaren Gut und seine Hinkehr (conversio) zu den veränderlichen Gütern (mutabilia bona). Da aber diese Abkehr und Hinkehr nicht erzwungen wird (non cogitur), sondern freiwillig (voluntaria) geschieht, folgt ihr als angemessene und gerechte Strafe das Unglück. 34
Der Mensch sündigt nach Augustinus deswegen »nicht mit Notwendigkeit (necessitate), sondern durch den Willen (voluntate)« 35 . Der menschliche Wille kann freien Gebrauch von seinen Gegenständen machen, und dieser spezifische gute oder schlechte Gebrauch kann ihm dann auch zugerechnet werden: Es ist »nichts so sehr in unserer Macht wie der Wille selbst« 36 , so »daß es am Willen liegt, was jeder lensrichtungen« bzw. – noch zutreffender – mit »affektiv getönte Willensregungen« (67). 32 Augustinus, LA I, 21, 76, 105. 33 Augustinus, LA II, 53, 199, 203. 34 Augustinus, LA II, 53, 200, 203. 35 Augustinus, LA III, 6, 21, 215. 36 Augustinus, LA III, 7, 27, 117. Die Willensfreiheit des Menschen ist nach Augustinus kompatibel mit dem Vorherwissen Gottes: »So leugnen wir nicht, daß Gott alles Zukünftige kennt und wir dennoch wollen, was wir wollen. Denn da er unseren Willensentschluß vorausweiß, wird es das, was er vorausweiß, auch geben. Es wird also Die Bestimmung des Willens
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als zu Erjagendes und zu Umfangendes wählt, und daß der Geist (mens) durch nichts aus der Burg seiner Herrschaft (arx dominandi) und aus der rechten Ordnung (recto ordine) herausgeworfen wird als nur durch den Willen« 37 . Dieser Gebrauch des Willens ist rational strukturiert, jedoch nicht im Sinne allgemeiner, sondern individueller Vernunft. Augustinus unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Geist (mens) und Vernunft (ratio). Das Verhältnis beider Vermögen besteht darin, dass der Geist die Vernunft gebrauchen kann (uti posse), und so selbst zu einer individuellen rational-voluntativen Aktivität wird. 38 Damit ist nach Augustinus ausdrücklich eine Freiheit zum Bösen möglich (male facimus ex libero voluntatis arbitrio), denn auch diese Entscheidung ist durch den Geist begründet. 39 Das Böse ist demnach nicht so sehr ein dem Willen entgegenstehendes Objekt, sondern selbst eine Weise seiner Betätigung. Wie denkt Augustinus das Böse? Das Böse besteht wie bereits beschrieben in einer Abkehr vom Guten, nämlich darin, »daß jemand [ein verkehrter und ungeordneter Geist (perversi tamen animi et inordinati)] sich vom Göttlichen und wahrhaft Bleibenden abwendet (avertitur) und sich dem Wandelbaren und Unsicheren zuwendet« 40 . Allerdings begreift Augustinus diese »Bewegung der Abkehr (motus aversionis), die wir Sünde genannt haben« als »eine Bewegung zum Mangel«, von der gilt: »[A]ller Mangel […] stammt vom Nichts (omnis autem defectus ex nihilo est).« Trotz seines privativen Status ist nach Augustinus das Böse sehr wohl zurechenbar: »Weil der Mangel freiwillig (voluntarius) ist, steht er in unserer Macht.« 41 Das Böse ist jedoch gegenüber dem Guten ontologisch depotenziert, was sich an seiner spezifischen Kausalität zeigt: »So frage mich niemand nach der bewirkenden Ursache (efficientem causam) des böden Willensentschluß geben, weil er ihn vorausweiß. Es wird keinen Willensentschluß geben können, wenn er nicht in unserer Macht stehen wird. Also weiß er auch die Macht vorher. Folglich wird mir die Macht durch sein Vorherwissen nicht genommen; vielmehr wird sie mir um so sicherer zur Verfügung stehen, weil er, dessen Vorherwissen unfehlbar ist, vorherweiß, daß ich sie besitzen werde.« (LA III, 8, 34, 221). 37 Augustinus, LA I, 34, 114, 123. 38 Vgl. Augustinus, LA I, 19, 68, 100: »Sed si aliud ratio, aliud mens, constat certe nonnisi mentem uti posse ratione.« 39 Augustinus, LA I, 35, 117, 125. 40 Augustinus, LA I, 35, 116, 123. 41 Augustinus, LA II, 54, 204, 205.
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sen Willens. Denn da gibt’s keine bewirkende, sondern nur eine versagende (deficiens), weil keine Wirkung (effectio), sondern nur Versagen (defectio).« 42 Als ein solches Versagen, bzw. Unvermögen der Freiheit zieht die defizitäre Verursachung epistemische Einschränkungen mit sich: »Die Ursachen solchen Abfalls, die ja, wie gesagt, keine wirkenden, sondern versagenden sind, ausfindig machen wollen, hieße die Finsternis sehen, Schweigen hören wollen.« 43 Das liberum arbitrium ist also nach Augustinus das Vermögen der freien Wahl des Willens. Die voluntates stellen die zu wählenden primären Willenstendenzen dar, 44 während sich die voluntas schließlich als vollständig integrierter Wille verstehen lässt, der insofern Handlungsfreiheit ermöglicht, als sich durch ihn die durch das liberum arbitrium gewählten Willensregungen erster Stufe in die Realität überführen lassen. 45 Das liberum arbitrium ist demnach kein ontologisch separates Vermögen neben der voluntas, sondern ein spezifisches Selbstverhältnis des individuellen Willens. Erst wenn das liberum arbitrium die voluntates – durch Willensfreiheit – reflexiv bestimmt und diese Entscheidung dann auch noch – durch Handlungsfreiheit – über die voluntas realisiert wird, ist Freiheit im vollen Sinne erreicht.
2.2
Liberum arbitrium (II): Die Vernunft des Willens nach Thomas von Aquin
Eine weitere paradigmatische Position innerhalb der Tradition des liberum arbitrium stellt die thomanische Freiheitslehre dar, 46 die im Augustinus, CF, 12, 522. Augustinus, CF, 12, 522 f. 44 Vgl. Müller (2007), 53: »Zum Wesen von Willenstendenzen erster Stufe gehört […] nicht nur, dass sie etwas wollen, sondern auch, dass sie selbst auf der höheren Ebene gewollt werden.« 45 Vgl. zum freiheitstheoretischen Verhältnis von »liberum arbitrium«, »voluntas« und »voluntates«: Brachtendorf (2006), 45 f. u. Achtner (2010), 66 f. 46 Zentrale Theoriestücke zur Willensfreiheitsproblematik sind enthalten in der Summa theologiae [ST], zit. nach den Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. 4–5: Pars prima Summae theologiae (Ex Typographia Polyglotta S. C. de Propaganda Fide, Romae, 1888–1889); ST I-II: Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, t. 6–7: Prima secundae Summae theologiae (Ex Typographia Polyglotta S. C. de Propaganda Fide, Romae, 1891–1892), unter Angabe der quaestiones [q.] und des Artikels [a.], Übersetzung nach Ceslaus Maria Schneider. Weitere zen42 43
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Ausgang von Paulus 47 und Augustinus die Willensfreiheit in ihrer engen Verflochtenheit mit dem Vernunftvermögen weiter bestimmt hat. »Die Willensfreiheit«, so Thomas, »ist eine Fähigkeit (facultas) des Willens und der Vernunft« 48 . Wie ist das Verhältnis von Vernunft und Wille im Freiheitsakt zu denken? Das spezifisch Reflexive der Willensentscheidung besteht nach Thomas darin, dass der Mensch aus dem Urteil der Vernunft heraus zur Handlung bewegt wird, 49 also mögliche Handlungsoptionen (actus) im reflexiven Urteilsakt (liberum arbitrium) vergleichen (conferre) 50 und darüber mit sich zu Rate gehen (consiliari) kann. 51 Der rationale Grund der Willensfreiheit besteht wiederum darin, dass die Vernunft in ihrem Urteil (iudicium) jedes Objekt des Willens beliebig perspektivieren kann hinsichtlich des Guten (bonum) und Schlechten (malum, defectum), und dementsprechend als wählbar (eligibile) bzw. fliehbar (fugibile) zu begreifen (apprehendere) vermag. 52 Nun führt das Vernunfturteil jedoch nicht automatisch zur Willensentscheidung, sondern auch die Vernunft selbst ist Objekt des Willens: »Denn ich erkenne, weil ich will. Und in ähnlicher Weise bringe ich alle Vermögen und Wirkbereitschaften zur Anwendung, trale Begriffsbestimmungen finden sich in den Quaestiones disputatae de malo [QdM] und den Quaestiones disputatae de veritate [QdV], die unter Angabe der quaestio [q.] und der Seitenzahl nach der Ausgabe und Übersetzung von Gustav Siewerth: Thomas von Aquin: Die menschliche Willensfreiheit, Düsseldorf 1954 zitiert wird. Daneben finden sich zentrale Stellen in seiner Summa contra gentiles [ScG], Buch III, Teil I, Kapitel 4–16: Über das Böse, hg. u. übers. von Karl Allgaier, Darmstadt 2001 und seinem Scriptum super libros sententiarum, Bd. 2 [Sent. II], Ed. R. P. Mandonnet, Paris 1929, welches ebenso unter Angabe der quaestio [q.] und des Artikels [a.] zitiert wird. 47 Vgl. Thomas, QdM, q. 6, 162: »[D]icendum, quod ille qui facit quod non vult non habet liberam actionem, sed potest habere liberam voluntatem.« Dieses Zitat liest sich geradezu als eine Erläuterung zum Problem der Willensschwäche bei Paulus, Römer 7, 18 f. 48 Thomas, QdV, q. 24, 225: »[L]iberum arbitrium est facultas voluntatis et rationis.«; »Sed in homine invenitur ratio et voluntas. Ergo et liberum arbitrium.« Durch die enge Verbindung von Wille und Vernunft im Freiheitsakt unterscheidet sich die thomanische Theorie von anderen Theorien des 13. Jahrhunderts, in welcher das liberum arbitrium als eine dritte Instanz neben dem Willen und der Vernunft konzipiert wurde. 49 Thomas, QdV, q. 24, 228: »Ex iudicio rationis homines agunt et moventur«. 50 Thomas, QdV, q. 24, 228: »[…] conferunt enim de agendis«. 51 Thomas, QdV, q. 24, 225: »Sed homines de suis actibus consiliantur. Ergo homines sunt domini suorum actuum, et per hoc liberi arbitrii.« 52 Vgl. Thomas, STh I-II, q. 12, a. 1, ad 4.
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Der Gebrauch der Vernunft
weil ich will.« 53 Eine freie Entscheidung ist also Produkt eines willentlichen Gebrauchs der Vernunft: »Das Urteil, dem Freiheit zugeschrieben wird, ist ein Urteil der Wahl (iudicium electionis); nicht jedoch ein Urteil, das der Mensch aus den Schlußfolgerungen in den spekulativen Wissenschaften (scientiae speculativae) fällt; denn die Wahl selbst ist gleichsam ein Wissen über vorher Beratenes (scientia de praeconsiliatis).« 54 Durch das flexible Verhältnis von Wille und Vernunft lässt sich die thomanische Grundproblematik einer Theorie des freien Willens auf eine Art beschreiben, die strukturell mit dem Autonomie-Problem im Ausgang von Kant verwandt ist: Der Wille darf in seinem freien Entschluss weder mit der erkennenden Tätigkeit der Vernunft identifiziert, noch als gänzlich von ihr losgelöst gedacht werden. Im ersteren Falle drohte eine Art von Vernunftdeterminismus, im letzteren Fall ein grundloser Indifferentismus. 55 Die systematische Bedeutung der thomanischen Freiheitslehre besteht also darin, Wille und Vernunft zwar aufs engste aufeinander zu beziehen, dabei jedoch beide nicht einfach zu identifizieren, sondern als im Freiheitsakt verschränkte und reflexiv verbundene Vermögen des Menschen zu begreifen. 56 Die Wurzel (radix) aller Freiheit liegt nach Thomas in der Vernunft begründet, 57 auch wenn die freie Willensentscheidung nicht in der Befolgung der Vernunfteinsicht allein aufgeht, sondern in letzter Instanz eine Angelegenheit der Willenswahl (electio) ist, die auf
Thomas, QdM, q. 6, 149: »Intelligo enim quia volo; et similiter utor omnibus potentiis et habitibus quia volo«. 54 Thomas, QdV, q. 24, 236 55 Vgl. zu diesem Dilemma auch Schönberger (1998), 138: »Entweder der Wille will einfach das, was ihm die Vernunft als das Erstrebenswertere zeigt – dann aber ist der Wille nicht eigentlich frei, sondern nur eine exekutive Instanz, die aus einem Vernunfturteil praktische Konsequenzen zieht. Oder der Wille bestimmt sich unabhängig von den Einschätzungen der Vernunft, dann ist er zwar frei – doch ist diese Freiheit von Beliebigkeit nun nicht mehr unterschieden.« Vgl. zur thomanischen Freiheitslehre allgemein auch Siewerth (1957), Welp (1979), Kim (2007) und Franke (2011). 56 Vgl. zur Charakterisierung dieses Problems auch Schönberger (1998), 136: »Wie muß man das Zusammenspiel von Wille und Vernunft denken, damit der Willensentschluß als ein freier verständlich wird?« Vgl. auch die sehr treffende Charakteristik bei Welp (1979), 155, wonach »die Freiheitsproblematik immer um zwei Gegebenheiten kreisen muß: um einen subjektiven Verhalt, nach dem Freiheit immer das Engagement eines Selbst darstellt und um eine Objektbeziehung, nach der jeder Freiheitsvollzug eine Determination auf einen bestimmten Wert bedeutet.« 57 Vgl. Thomas, QdV, q. 24, 239: »[T]otius libertatis radix est in ratione constituta«. 53
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das zu-Rate-Gehen des Verstandes (consilare), d. h. das Abwägen von Gründen, folgt. Deutlich wird die Eigenart der thomanischen Freiheitslehre im Vergleich zu derjenigen des Johannes Duns Scotus, der den Freiheitsakzent stärker auf den Willen gelegt 58 und dabei in Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Vermögenslehre 59 wirkmächtig zwischen der Notwendigkeit der Natur und der Freiheit des Willens unterschieden hat. Seiner voluntaristischen Theorie zufolge bieten sich allein dem Willen alternative Möglichkeiten dar, während die Vernunft dem Bereich der Natur (natura) angehört – also ein natürliches Vermögen darstellt – insofern sie hinsichtlich ihrer Operationsweise vollständig determiniert ist: Die Ausübung der eigenen Tätigkeit (modus eliciendi operationem propriam) kann grundsätzlich nur auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Entweder ist ein Vermögen (potentia) von sich daraufhin bestimmt (determinata), tätig zu sein, so dass es von sich aus nicht fähig ist, untätig zu sein, wenn es von außen unbehindert ist; oder es ist von sich aus nicht bestimmt, sondern kann diesen Akt oder den gegenteiligen Akt (oppositum actum) hervorbringen, beziehungsweise handeln oder nicht handeln. Das erste Vermögen wird gewöhnlich »Natur« (natura) genannt, das zweite »Wille« (voluntas). 60
Während also die Natur nur eine einzige Wirkung hat, und zwar auf determinierte Weise (determinate), verhält sich der Wille indeterminiert (indeterminate) zu gegenteiligen Zuständen (opposita). 61 Diese Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis, Liber IX, in: Ders.: Freiheit, Tugenden und Naturgesetz, übers. von Tobias Hoffmann, in: Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, Bd. 27, hg. von Matthias Lutz-Bachmann, Alexander Fidora u. Andreas Niederberger, Freiburg/Br. 2012, 54–97. Im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle QLMA IX unter Angabe der Nummer und der Seitenzahl. 59 Duns Scotus entwickelt seine Vermögenslehre in Auseinandersetzung mit dem IX. Buch der Aristotelischen Metaphysik und deren Begriff der dynamis. Allerdings ist bei Aristoteles das Vermögen der Freiheit immer auf die Vernunft verwiesen: »[S]o müssen offenbar auch von den Vermögen einige unvernünftig sein, andere mit Vernunft verbunden (μετὰ λόγου) […] von den mit Vernunft verbundenen Vermögen je ein und dasselbe auf das Entgegengesetzte, die unvernünftigen dagegen gehen jeweils nur auf ein Objekt [Hervorh. J. N.]«. (1046b1 ff.). Vgl. zur systematischen Relevanz eines rationalen Vermögens als »logos plus strebende Seele«: Buchheim (2007), 22. 60 Scotus, QLMA IX, 22, 63. 61 Scotus, QLMA IX, 24, 64. In vielerlei Hinsicht kann die Scotistische Theorie als Vorläufertheorie der Kantischen Theorie der transzendentalen Freiheit im Sinne einer absoluten Spontaneität der Ursachen angesehen werden. 58
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Unbestimmtheit des Willens darf jedoch nicht als äquilibristische Indifferenz verstanden werden, die aufgrund ihrer unzureichenden Potenz niemals zu einer Handlung gelangte. Vielmehr besitzt der Wille – im Gegensatz zur Unbestimmtheit der Unzulänglichkeit (indeterminatio insufficientiae), wie sie die bloße Materie durch ihren Mangel an Aktualität (defectus actualitatis) aufweist – eine spezielle Unbestimmtheit in Art einer herausragenden (excellens) und aktiven (activa) Vollkommenheit, also eine Indifferenz aufgrund von kausalem Überschuss (indeterminatio superabundantis sufficientiae) 62 , der erst durch die bestimmende und restringierende Entscheidung handlungswirksam wird. Nach Duns Scotus ist also der Wille gegenüber der Vernunft das wirklich freie Vermögen, weil er sich willkürlich und auf kontingente Weise (contingenter) auf Gegenteiliges beziehen 63 und zur Handlung übergehen kann, ohne dass ihm zeitlich und der Natur nach (tempore et natura) eine Determination vorangeht. 64 Dies hat bei Duns Scotus zur Folge, dass sich Freiheit auf ein einziges, von allen kontingenten und individuellen Verhältnissen abstrahiertes Vermögen des Menschen konzentriert, welches gewissermaßen einen Homunculus darstellt, so dass sich die Freiheitsentscheidung nur in der Person ereignet, jedoch nicht durch die Person vollziehen lässt. Anders verhält es sich diesbezüglich mit der thomanischen Freiheitslehre, wonach die Freiheit nicht in einem Vermögen allein – gleich einer Gewaltenballung – begründet liegt, sondern im personalen, holistischen Zusammenspiel von Wille und Vernunft zu suchen ist. 65 Die systematische Relevanz der thomanischen Freiheitslehre besteht angesichts des Autonomie-Problems darin, eine funktionale Gewaltenteilung der verschiedenen Vermögen vorzunehmen, zugleich aber die komplexe kausale Willensbestimmung durch die Vernunft zu explizieren. Durch seine enge Verflochtenheit mit der VerScotus, QLMA IX, 36, 69. Darin weist Duns Scoutus bereits auf Kants Begriff einer transzendentalen Freiheit im Sinne einer überdeterminierten, absoluten Spontaneität der Ursachen voraus. Vgl. auch Buchheim (2004b), 66. 63 Scotus, QLMA IX, 65, 91. 64 Scotus, QLMA IX, 66, 93. 65 Vgl. dazu auch Aristoteles, Metaphysik IX, 1046b36 ff. u. 1048a20 ff., der die Vermögen als Prinzipien der Veränderung, wie etwa im Falle des Menschen, in den beseelten Substanzen verortet, so dass diese Vermögen erst durch den Gebrauch des Menschen, der diese »hat« (ἔχει), ihre Wirkung in die eine oder andere Richtung ausüben können. 62
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nunft (intellectus) nimmt der Wille die Form eines rationalen Strebevermögens (appetitus rationalis) an. 66 Dabei lassen sich beide Vermögen klar unterscheiden, insofern sie als zwei geistige Kräfte angesehen werden können, 67 die sich als unterschiedene in ein und derselben individuellen Substanz der Person befinden. Ihre Vereinigung durch die Person bringt es mit sich, dass sie immer schon aufeinander bezogen sind durch die sie umgreifende Einheit der beseelten Substanz. 68 Die Reflexion der Vermögen innerhalb der sie integrierenden Person legt nahe, dass Willensfreiheit erst im personalen Zusammenspiel und der Koordination mehrerer Vermögen ihre Gestalt erhält, so dass die Freiheit nicht beschränkt auf das Vermögen des Willens oder der Vernunft in der Person ist, sondern als ein holistischer Reflexionsprozess durch die Person verstanden werden muss. 69 Wie ist dieser Reflexionsprozess beider Vermögen zu denken? Wille und Vernunft unterscheiden sich hinsichtlich ihrer spezifischen Objekte: Der zu erkennende Gegenstand der Vernunft ist das Wahre (verum), während der zu begehrende Gegenstand des Willens das Gute (bonum) ist. 70 Nun lassen sich aber die Gegenstände der einzelnen Vermögen durch das jeweils andere Vermögen perspektivieren und gebrauchen: »Das Wahre ist in gewisser Hinsicht ein Gut (quoddam bonum) und das Gute etwas Wahres (quoddam verum), wodurch die Gegenstände des Willens unter die Vernunft und diejenigen der Vernunft unter den Willen fallen können.« 71 Vernunft und Wille Thomas, ST I, q. 83, a. 4 arg. 3: »[V]oluntas est appetitus intellectivus«. Vgl. auch ST I-II, q. 6, a. 2, co. sowie ST I-II, q. 26, a.1 co. 67 Thomas, ST I-II, q. 10, a. 2 arg. 2: »[S]icut voluntas est vis immaterialis, ita et intellectus«. 68 Thomas, S. Th. I, q. 87, a. 4 ad 1: »[C]um utrumque radicetur in una substantia animae, et unum sit quodammodo principium alterius, consequens est ut quod est in voluntate, sit etiam quodammodo in intellectu.« Zum »geistigen« Charakter beider Vermögen und ihrer Reflexivität vgl. Welp (1979), 158. 69 Vgl. auch Welp (1979), 176. 70 Thomas, S. Th. I, q. 87, a. 4 ad 2 »[B]onum et verum, quae sunt obiecta voluntatis et intellectus, differunt quidem ratione«. 71 Thomas, S. Th. I, q. 87, a. 4 ad 2. Vgl. auch ST I-II, q. 9, a. 1 ad 3: »[V]oluntas movet intellectum quantum ad exercitium actus: quia et ipsum verum, quod est perfectio intellectus, continetur sub universali bono ut quoddam bonum particulare. Sed quantum ad determinationem actus, quae est ex parte obiecti, intellectus movet voluntatem: quia et ipsum bonum apprehenditur secundum quandam specialem rationem comprehensam sub universali ratione veri. Et sic patet quod non est idem movens et motum secundum idem.« 66
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befinden sich also im Verhältnis gegenseitiger Inklusion: Der Wille vermag sich voluntativ auf die Erkenntnis der Vernunft zu beziehen und ebenfalls die Vernunft das Wollen des Willens erkennen, 72 so dass Wille und Vernunft im konkreten Wahlakt durch ihre Reflexivität stets in Paarungen vorkommen. 73 Durch diese noch näher zu bestimmende Verwobenheit beider Vermögen eröffnet der Aquinate einen Ausweg aus dem Dilemma von indifferentistischem Voluntarismus und alternativlosem Vernunftdeterminismus: 74 Nicht allein die Vernunft bestimmt den Willen, sondern es ist nun auch möglich, die Vernunft selbst willentlich zu gebrauchen. 75 Als höhere Seelenvermögen (potentiae animae superiores), die nicht stofflich (immateriales) verfasst sind, verfügen Wille und Vernunft über die Eigenschaft der Reflexion, so »daß sie sich über sich selbst zurückbeugen können (reflectantur super seipsas).« 76 Diese immaterielle, d. h. geistige Verfasstheit der Seelenvermögen erlaubt eine gegenseitige Kommunikation und Assimilation: 77 Wenn »ein Seelenvermögen sich auf ein anderes richtet (fertur), tritt es zu ihm entsprechend seiner Eigenart sich angleichend in Verbindung, wie z. B. der Verstand, wenn er erkennt, daß der Wille etwas will, in sich
Thomas, ST I, q. 16, a. 4 ad 1: »[V]oluntas et intellectus mutuo se includunt: nam intellectus intelligit voluntatem, et voluntas vult intellectum intelligere.« 73 Vgl. Thomas, S. TH I, q. 16, a. 4 ad 1: »Unde in ordine appetibilium, bonum se habet ut universale, et verum ut particulare: in ordine autem intelligibilium est e converso.« »Et simili ratione bonum continetur sub vero, inquantum est quoddam verum intellectum; et verum continctur sub bono, inquantum est quoddam bonum desideratum.« (ST I, q. 82, a. 4 ad 1). Achtner (2010), 102, spricht in diesem Zusammenhang von »Vernunftwille« und »Willensvernunft«. Man könnte in diesem Fall auch von »Allgemeinwille« (»uneigennütziger Trieb«) und »Eigenwille« (»Eigennütziger Trieb«) sprechen, wie dies in der Folge Reinhold und Schelling getan haben. Eine übersichtliche Schematisierung der verschiedenen Akte von Wille und Vernunft nach Thomas von Aquin findet sich bei Stump (2003), 287–290. 74 Vgl. Welp (1979), 183. Die thomanische Freiheitslehre kann deshalb als Versuch einer Synthese von Intellektualismus und Voluntarismus angesehen werden. Vgl. zu dieser Einschätzung Achtner (2010), 95 sowie Franke (2011), 283. 75 Vgl. zum Begriff des Gebrauchs (usus) als einer Tätigkeit der konkret Mittel anwendenden Urteilskraft (arbitrium) auch Thomas, ST I-II, q. 16, a. 2 co.: »[U]ti est applicare aliquod principium actionis ad actionem: sicut consentire est applicare motum appetitivum ad aliquid appetendum, ut dictum est. Applicare autem aliquid ad alterum non est nisi eius quod habet arbitrium super illud [Hervorh. J. N.]«. Vgl. auch Franke (2011), 287. 76 Thomas, QdV, q. 24, 207. 77 Vgl. zur Reflexivität der geistigen Vermögen auch Welp (1979), 158. 72
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selbst die Wesensart des Wollens aufnimmt« 78 . Der Gegenstand des Willens als ein zu erstrebendes Gut muss deshalb nicht nur als ein Allgemeines »unter dem Gesichtspunkt des Guten erfaßt« werden, sondern als ein Konkretes »unter dem Gesichtspunkt des Angemessenen (in ratione convenientis)«, wodurch immer auch die jeweilige Situation der Freiheitsentscheidung mit reflektiert wird. 79 Der reflexive Prozess der freien Willensbestimmung beinhaltet zwei zentrale Momente – das der Exekution und Spezifikation des Willens: »Um also zu zeigen, daß der Wille nicht aus Notwendigkeit bewegt wird«, so Thomas, »muß man die Bewegung des Willens hinsichtlich der Ausführung und der Bestimmung des Aktes, die vom Gegenstand her kommt, ins Auge fassen.« 80 Der menschliche Wille wird auf zweifache Art zur freien Handlung bestimmt und bewegt: auf subjektive (ex parte subiecti) und auf objektive Weise (ex parte obiecti), d. h. von Seiten des intendierten Gegenstandes. 81 Die Bewegung des Willens ist also eine komplexe, denn »sowohl das Ziel (finis) wie das Bewegende (efficiens) bewegen, aber in verschiedener Weise (diversimode)«, so dass »man in jedem Tun ein Zweifaches ins Auge fassen muß, nämlich das Handelnde (agens) und den Grund (ratio) des Handelns« 82 . Die subjektive Weise der Willensbestimmung entspricht der freien Ausübung einer Tätigkeit (exercitius actus) als den Willen bewegende libertas exercitii, die objektive Weise der Willensbestimmung – also die handlungsbestimmenden Gründe – der Spezifikation einer Handlung (specificatio actus) als die dem Willen aus der Vorstellung des Gegenstandes Form gebende libertas specificandi. 83 Die libertas specificandi lässt sich damit als Moment der Wahl hinsichtlich der Art des zu erstrebenden Gegenstandes charakterisieren, während die libertas exercitii die generelle Wahlfreiheit bedeutet, zu handeln oder nicht zu handeln. 84 Thomas, QdV, q. 24, 208. Thomas, QdM, q. 6, 151. 80 Thomas, QdM, q. 6, 149 f. 81 Thomas, QdM, q. 6, 147. 82 Thomas, QdV, q. 24, 206. 83 Thomas, ST I-II, q. 10, a. 2 co. Vgl. auch ST I-II, q. 18, a.2 ad 2: »[O]biectum non est materia ex qua, sed materia circa quam: et habet quodammodo rationem formae, inquantum dat speciem.« Vgl. auch Thomas, ST I-II, q. 18, a. 2 co.: »Sicut autem res naturalis habet speciem ex sua forma, ita actio habet speciem ex obiecto«. 84 Vgl. Thomas, STh I-II, q. 12, a.1, ad 4: »Potest enim homo velle et non velle, agere 78 79
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Das Verhältnis von Wille und Vernunft lässt sich als eine komplexe geschlossene kausale Struktur verstehen, die »gewisse Ähnlichkeit mit der Kreisbewegung (quaedam similitudo motus circularis)« aufweist und die derjenigen einer Wechselwirkung gleicht. 85 Je nach Perspektivierung des Wechselverhältnisses erscheint einmal die libertas specificationis, ein andermal die libertas executionis als primär. 86 Damit kann die Gefahr eines Vernunftdeterminismus insofern gebannt werden, als der Vorrang der Vernunftbestimmung reflexiv-voluntativ eingeholt wird: »Obwohl […] der Verstand an sich das Frühere (prior) ist gegenüber dem Willen, wird er doch durch die Zurückbeugung (reflexio) das Spätere (posterior) gegenüber dem Willen. Und so kann der Wille den Verstand bewegen.« 87 Durch die kausale Einwirkung auf die Vernunft wirkt der Wille mittelbar wiederum auf sich selbst zurück, und es entsteht eine Art ›Rückkopplung‹ der Willensintention. Diese Verstärkung wiederum begünstigt die Selbstkontrolle des Willens und damit letztlich auch die Ausübung der intendierten Handlung. 88 Wie denkt Thomas angesichts des Verhältnisses von Wille und Vernunft die konkrete Entscheidung i. S. von liberum arbitrium voluntatis? Das freie Entscheidungsvermögen (liberum arbitrium) ist nach Thomas »eine einzige Fähigkeit (una potentia), die durch ihre Kraft (virtus) die verschiedenen anderen Fähigkeiten bewegt« 89 , also ein Aspekt des Willens selbst und kein drittes Grundvermögen neben dem Willen und der Vernunft. 90 Das Verhältnis von Vernunft, Wille und Willkür, die in der gegenseitigen Duchdringung beider Vermögen besteht, fasst Thomas folgendermaßen zusammen: »[D]er Akt der Vernunft (ratio) besteht im bloßen Erkennen (cognitio); die et non agere: potest etiam velle hoc aut illud, et agere hoc aut illud.« Vgl. zum Verhältnis von libertas exercitii und libertas specificationis auch Franke (2011), 281 f. 85 Thomas, QdV, q. 24, 208. 86 Thomas, QdM, q. 6, 148 f. 87 Thomas, QdV, q. 24, 208. Vgl. zur Verkettung von Vernunft und Wille im Freiheitsakt die treffende Charakterisierung bei Welp (1979), 173: »[I]m Willensakt der Wahl […] wirken Erkennen und Wollen nicht wie essentiell (oder akzidentell) zusammengefügte Seinsteile oder Seinseinheiten, sondern wirkt das Wollen als unmittelbar wahlhervorbringende Potenz, insofern in ihm etwas von den ihm vorgeordneten Erkenntnisfähigkeiten verbleibt.» 88 Vgl. zur indirekten Reflexivität des Willens: Stump (1997), 185. 89 Thomas, QdV, q. 24, 248. 90 Thomas, QdV, q. 24, 249. Vgl. auch die Leitfrage von ST I, q. 83, a. 4: »Utrum liberum arbitrium sit alia potentia a voluntate«. Die Bestimmung des Willens
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Tätigkeit des Willens (voluntas) aber bezieht sich auf das Gute (bonum) als auf sein Ziel; das freie Entscheiden (liberum arbitrium) vollends auf ein Gut, das auf ein Ziel (ad finem) hinführt.« 91 Die konkrete Willenshandlung ist Produkt eines mehrstufigen Prozesses, einer strukturierten Abfolge (ordo) der Ausübung verschiedener Vermögen: [D]eren erstes ist die ausführende Kraft (virtus executiva), nämlich die Bewegkraft (vis motiva), durch die die Glieder bewegt werden, den Befehl des Willens (imperium voluntatis) auszuführen. Daher wird diese Kraft vom Willen bewegt, der das zweite Prinzip ist. Der Wille aber wird vom Urteil der erkennenden Kraft (iudicium virtutis apprehensivae) bewegt, die darüber urteilt, daß der konkrete Sachverhalt gut oder böse sei; dies sind die Gegenstände (obiecta) des Willens: das eine bewegt (ihn) dazu, es zu verfolgen, das andere, zu fliehen. 92
In seinem Sentenzenkommentar bestimmt Thomas das liberum arbitrium voluntatis darüber hinaus als ein kollektives Vermögen, welches die Kraft des Willens und der Vernunft in sich auf komplexe Weise vereint (liberum arbitrium virtutem voluntatis et rationis colligit). 93 Diese Vereinigung findet nicht auf essentielle Weise (essentialiter) statt, in der Art, wie sich das Ganze aus seinen Teilen additiv zusammensetzt. Vielmehr handelt es sich bei der Vereinigung unter dem liberum arbitrium um eine Vereinigung dynamischer oder virtueller Art (virtualiter), im Sinne der Vereinigung von Potenzen und Kräften: Als eine in sich differenzierte Potenz (quasi una potentia determinata) vereint das liberum arbitrium verschiedene andere Potenzen – den Willen und die Vernunft – in sich. Die Potenz des liberum arbitrium setzt damit die beiden anderen Potenzen voraus, wie der Akt des Strebens (actus appetitivae) denjenigen der Erfassung eines Gegenstandes (actus apprehensivae) voraussetzt. Dadurch aber verbleiben die Kräfte der vorausgegangenen Potenzen in der aus ihr erfolgenden Potenz (virtus unius potentiae praecedentis relinquitur in subsequenti). Die synthetische Leistung des liberum arbitrium ist also im Sinne eines Gebrauchs und Potenzierens von Kräften zu verstehen. In diesem Sinne ist der Akt des Wählens (eligere) kein dezisionistischer, Thomas, QdV, q. 24, 250. Thomas, ScG, X, 43. 93 Thomas, Sent. II, Dist. XXIV, q. 1, a. 2. co. Vgl. zu dieser Stelle auch die instruktive Interpretation bei Welp (1979), 178 ff. 91 92
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sondern ein deliberativer Akt, der die rationale Potenz der Unterscheidung (distinctio) und die voluntative Potenz des Begehrens (desiderium) zum Entschluss verbindend in sich vereinigt, und zwar so, dass bei dieser Superposition stets eine Reflexion auf die Grundpotenzen involviert ist, was ohne die Kraft des Willens und der Vernunft nicht verwirklicht werden kann (sine virtute voluntatis et rationis perfici non possunt). 94 Das liberum arbitrium ist daher zwar ein Akt des Willens (actus voluntatis), jedoch nicht des Willens schlechthin (non absolute), da im Entscheidungsvermögen die Kraft der vorher beratschlagenden Vernunft (ratio consilians) gewissermaßen verbleibt, wodurch dieses eine voluntativ-deliberative Vernunftstruktur besitzt. 95 Der letztgültige Willensakt ist also nicht als ein Indifferentismus zu verstehen, sondern besitzt insofern eine rationale Struktur, »da in der Wahl das hervortritt, was ein Eigentümliches des Verstandes ist, nämlich eines auf das andere hin beziehen (conferre) oder eines dem anderen vorziehen (praeferre)« 96 .
2.3
Liberum arbitrium (III): Die Bestimmung des Willens nach Leibniz
Die Besonderheit der Leibnizschen Theorie besteht angesichts des Autonomie-Problems darin, Freiheit und Bestimmtheit der Willenshandlung so in Einklang zu bringen, dass die Entscheidung der Person weder durch Notwendigkeit zustande kommt, noch indifferent ist, sondern auf bestimmte Weise erfolgt. Diese Determination des Willens soll nach Leibniz gerade alternative Möglichkeiten der Wahl zulassen. 97 Damit erfüllt Leibniz’ Freiheitslehre ihrem Anspruch nach Thomas, Sent. II, Dist. XXIV, q.1, a. 2. co. Thomas, Sent. II, Dist. XXIV, q.1, a. 3, co. 96 Thomas, QdV, q. 24, 217. Vgl. zum exekutiven Primat des Willens auch Stump (1997), 185 f. 97 Leibniz’ Werke werden im Folgenden zitiert unter der Verwendung der Siglen CD (Causa Dei, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Bd. VI, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1885, 439–460); CP (Confessio Philosophi. Ein Dialog, Kritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar von Otto Saame, Frankfurt/M. 1967), NE (Nouveaux essais sur l’entendement humain, in: Philosophische Schriften, Bd. 5, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–1890, 39–509; dt.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand [NA], in: Philosophische Werke in vier Bänden, Bd. 3, hg. von Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Hamburg 1996), T (Essais de Theodizee sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et 94 95
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sowohl die ontologische als auch die rationale Freiheitsanforderung, welche beide notwendige Bedingungen für die Lösung des Autonomie-Problems darstellen. 98 Wie Leibniz im 21. Kapitel seiner Nouveaux Essais bemerkt, ist der Begriff der Freiheit »sehr zweideutig« 99 (fort ambigu), was eine weitere Differenzierung des Begriffs erfordert. Leibniz wendet sich dazu zunächst der »tatsächlichen[n] Freiheit« (liberté de fait) zu, die er von der rechtlichen (liberté de droit) unterscheidet, nach der etwa ein Sklave nicht als frei gelten würde. Die faktische Freiheit des Menschen unterscheidet Leibniz weiter in die »Freiheit des Wollens« (liberté de vouloir) und die »Freiheit des Handelns« (liberté de faire). 100 Ihr spezifisches Profil erhält die Leibnizsche Freiheitslehre in Abgrenzung eines Begriffs von Handlungsfreiheit, wie ihn John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding 101 unmittelbar zuvor vertreten hatte. 102 Anders als Locke geht es Leibniz darum, den Begriff des freien Willens zu verteidigen und weiter zu begründen – es interessiert ihn dabei nicht so sehr die Frage, ob man tun kann, was man will, sondern die Struktur des freien Willens rückt selbst in den Vordergrund. 103 l’Origine du Mal, in: Philosophische Schriften, Bd. 6, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–1890, 21–436; dt.: Die Theodizee, übers. von Artur Buchenau, Hamburg 1968; unter Angabe von Paragraphen- und Seitenzahl), F (Über die Freiheit, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übers. von Artur Buchenau, hg. von Ernst Cassirer, Teil II, Hamburg 1996, 654–660.); VNC (Vérités nécessaires et contingentes, in: Opuscules et Fragments Inedits de Leibniz, hg. von Louis Coutrat, Paris 1902, 16–24). Die im deutschen Text gesperrt gedruckten Wörter werden im Folgenden kursiv wiedergegeben. 98 Dass die Leibnizsche Freiheitslehre diesen ambitionierten Anspruch vertritt, ist jedoch – nicht zuletzt auch durch Kants eigene Philosophie – in Vergessenheit geraten, hatte doch Kant Leibniz’ Freiheitsbegriff allzu schnell als bloße »Freiheit eines Bratenwenders« abgetan. Vgl. Kant, KpV, AA V, 97. 99 Leibniz, NA II, 21, 150. 100 Leibniz, NA II, 21, 150. 101 Lockes An Essay Concerning Human Understanding [EHU] wird im Folgenden zitiert unter Verwendung der englischen Ausgabe, ed. Peter H. Nidditch, Oxford 1975. Die deutsche Übersetzung folgt mit Ausnahme einiger weniger Präzisierungen meinerseits der deutschen Ausgabe: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. 1, übers. v. Carl Winckler, Hamburg 2000. 102 Vgl. Locke, EHU, 21, 244: »[A]s far as this Power reaches, of acting, or not acting, by the determination of his own Thought preferring either, so far is a Man free.« 103 »Quand on raisonne sur la liberté de la volonté ou sur le Franc arbitre, on ne demande pas, si l’homme peut faire ce qu’il veut, mais s’il y a assés d’independance dans sa Volonté même. On ne demande pas, s’il a les jambes libres, ou les coudées
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Die Freiheit des Wollens (la liberté de la volonté) unterscheidet Leibniz in zwei Formen: 104 Zunächst in die Freiheit, welche »eigentlich unseren Verstand (entendement)« betrifft. Frei kann demnach niemand genannt werden, der »von einer großen Leidenschaft in Anspruch genommen ist«, da hier »der Geist unter einem Zwange und einer Hemmung […] handelt«. Gemäß einem solchen Freiheitsbegriff ist nur ein Weiser frei, und Gott vollkommen frei zu nennen. Endliche Geister »sind es nur in dem Maße, als sie über die Leidenschaften erhaben sind«. Von dieser Freiheit, die »eigentlich unseren Verstand« betrifft und nach der nur verstandesgemäße Entscheidungen frei genannt werden können – man könnte sie auch als Form eines ›Vernunftdeterminismus‹ bezeichnen –, kann jedoch noch eine andere Form von Freiheit unterschieden werden, die Leibniz die »Freiheit des Geistes« (liberté de l’esprit) nennt. Diese betrifft »bloß den Willen« – »sofern er sich vom Verstand unterscheidet«, markiert also genau jene von Augustinus entdeckte Reflexion des Willens und den von Augustinus und Thomas analysierten Gebrauch der Vernunft 105 und kann demnach »freie Willkür« 106 (franc-arbitre) genannt werden. Leibniz grenzt diese Willkür – im Sinne des liberum arbitrium voluntatis – von der Notwendigkeit der Verstandesfreiheit ab, da für jene gilt, »daß der Willensakt trotz den stärksten Gründen oder Motiven, die der Verstand dem Willen vorhält« – also der Spezifikation des Willens – »nichtsdestoweniger immer zufällig bleibt und keine absolute und sozusagen metaphysische Notwendigkeit besitzt«. 107 Der Verstand kann die Willkür »zwar auf sichere und unfehlbare Art bestimmen« 108 , was jedoch nicht bedeutet, dass er ihn dabei nötigt. Wie ist diese Freiheit der Willkür näher zu verstehen? In Paragraph 288 seiner Theodizee gibt Leibniz die »Bedingungen« 109 (conditions) dafür an. 110 Zentral ist zunächst sein differenzierter Begriff franches, mais s’il a l’esprit libre, et en quoy cela consiste [Hervorh. J. N.].« Leibniz, NE II, 21, 166 f. 104 Diese Unterscheidung findet sich in Leibniz, NA II, 21, 150. 105 Vgl. Augustinus, LA I, 19, 68, 101 und Thomas, ST I-II, q. 16, a. 2 co. 106 Leibniz, NA II, 21, 150 f. 107 Leibniz, NA II, 21, 151. 108 Leibniz, NA II, 21, 150. 109 Leibniz, T III, 288, 320. 110 Eine detaillierte Explikation dieser Freiheitsbedingungen findet sich bei Hermanni (2002), 69–72 sowie bei Buchheim (2009), 237–243. Die Bestimmung des Willens
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der Kontingenz der Freiheitsentscheidung, die er als qualitative Auszeichnung des Existierenden bzw. als die spezifische »Wahrheit von individuellen Dingen« 111 begreift. Eine Handlung ist nach Leibniz dann kontingent, wenn es »keinen Zwang für diesen oder jenen Entschluß« gibt, sie also quasi-indifferent geschieht – »wofern man unter Indifferenz versteht, es gebe keinen Zwang für diesen oder jenen Entschluß«. 112 Allerdings darf dieser Zustand nicht als ein »indifferentes Gleichgewicht« (indifference d’equilibre), verstanden werden, »wo die Bedingungen auf beiden Seiten vollständig gleich sind, und wo keine stärkere Neigung für die eine Seite vorhanden ist« 113 . Eine absolute Indifferenz der Willkür würde gerade keine Freiheit bedeuten, sondern, neben einer ausbleibenden Freiheitsentscheidung, die Grundstruktur der Wirklichkeit selbst in Frage stellen: Sie würde, wie Leibniz feststellt, »das große Prinzip des bestimmenden Grundes vernichten« 114 . Deshalb darf der Wille nicht verstanden werden als »irgendein unerhörtes und sinnloses Vermögen (inauditam absurdamque potentiam agendi), ohne Grund (sine ratione) zu handeln oder nicht zu handeln« 115 . Eine solche Freiheit basierte auf einem »widernatürlichen Vermögen einer gewissermaßen vernünftigen Unvernunft (monstrosam potentiam rationalis cuiusdam irrationalitatis)« 116 . Leibniz’ Unterscheidung zwischen Determination und Notwendigkeit soll also ermöglichen, eine Entscheidung der freien Willkür (franc-arbitre) als ein Ereignis zu begreifen, welches kontingenterweise und doch durch Bestimmung hervorgebracht wurde. Wie kann aber dieser freiheitsermöglichende Begriff von Kontingenz von Entscheidungen aus reiner Laune heraus (par caprice) 117 unterschieden werden? Der Schlüssel zur Lösung dieses Indifferenz-Problems liegt in Leibniz’ Unterscheidung von Bestimmtheit (détermination) und Notwendigkeit (necessité). Man muss nach Leibniz 111 Leibniz, F, 656. Vgl. zur das Existierende auszeichnenden Funktion der Kontingenz ausführlich Buchheim (1996b). 112 Leibniz, T I, 46, 126. 113 Leibniz, T I, 46, 126. 114 Leibniz, T II, 175, 236. Vgl. auch NA II, 21, 155, wonach die Annahme, »daß die freien Wesen auf eine unbestimmte Art und Weise wirken« als ein Irrtum gelten muss, »der viele Geister gefangen genommen hat und die wichtigsten Wahrheiten, ja sogar jenen fundamentalen Satz zerstört hat, daß nichts ohne Ursache geschieht«. 115 Leibniz, CP, 83. 116 Leibniz, CP, 83. 117 Leibniz, CP, 83.
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das Notwendige vom Zufälligen, auch wenn dieses bestimmt ist, unterscheiden. Denn nicht nur sind die zufälligen Wahrheiten selbst nicht notwendig, sondern auch ihre Verknüpfungen haben nicht immer eine absolute Notwendigkeit; denn ohne Zweifel besteht ein Unterschied in der Bestimmung der Konsequenzen im Bereich des Notwendigen und im Bereich des Zufälligen. Die geometrischen und metaphysischen Konsequenzen enthalten eine Nötigung (necessitent), die physischen und moralischen aber machen nur geneigt, ohne zu nötigen (inclinent sans necessiter) [Hervorh. J. N.]. 118
Leibniz’ Unterscheidung von Tatsachen- und Vernunftwahrheiten bildet demnach die metaphysische Grundlage für seine ambitionierte Theorie der Willensfreiheit, die sowohl der rationalen als auch der ontologischen Freiheitsanforderung genügen will. Dass sich Kontingenz und Determination der Handlung zusammendenken lassen, beruht auf der Unendlichkeitsstruktur von Tatsachenwahrheiten. 119 Deren Negation birgt – anders als im Falle von Vernunftwahrheiten – keinen Widerspruch in sich, da in einem wahren Tatsachenurteil Subjekt und Prädikat niemals ganz auf eine analytische Gleichung gebracht werden können, obwohl das Prädikat im Subjekt enthalten ist, insofern »die Auflösung vielmehr ins Unendliche weitergeht« – analog zu einer asymptotischen Annäherung an einen bestimmten Limes. 120 Im Begriff dieser unendlichen Annäherung liegt nach Leibniz der Grund kontingenter und zugleich bestimmter Freiheit. Ein zweites elementares Moment des Leibnizschen Freiheitsbegriffs – »gewissermaßen die Seele der Freiheit« – bildet die »Intelligenz« (intelligence/déliberation), »die eine deutliche Erkenntnis des zu beschließenden Gegenstandes in sich faßt«. 121 Wie Thomas von Aquin, so kennt auch Leibniz den Begriff des Vernunftgebrauchs 122 (usus rationis), den er als die »wahre[] Wurzel der Freiheit« (vera
Leibniz, NA II, 21,155. Leibniz, F, 655: »[E]s gibt zwei Labyrinthe für den menschlichen Geist: das eine betrifft die Zusammensetzung des Kontinuums, das andre das Wesen der Freiheit. Das eine wie das andre aber entspringt aus derselben Quelle, nämlich aus dem Begriff des Unendlichen.« 120 Vgl. Leibniz, F, 657. Zur weiteren Analyse der Tatsachenwahrheiten vgl. Buchheim (1996b), 94–99 sowie Buchheim (2009), 230 f. 121 Leibniz, T III, 288, 320. 122 Leibniz, CP, 87 ff.: »Die Freiheit hängt also vom Gebrauch der Vernunft ab, je nachdem diese rein oder getrübt ist; entweder schreiten wir aufrecht auf dem herrscherlichen Pfad der Pflichten oder wir taumeln im Unwegsamen«. 118 119
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radix rationis) 123 ansieht. Der Wille ist demnach nicht notwendigerweise an das Gute und allgemein Vernünftige gebunden, sondern kann sich dazu mittels der individuellen Vernunft frei verhalten und dieses verschiedentlich perspektivieren. 124 Auch im Bösen findet ein Vernunftgebrauch statt, auch wenn dieser privativ begriffen wird 125 : »[D]ie Toren, die Irrenden, die Schurken [machen] durchaus Gebrauch von ihrem Verstand, jedoch nicht im Hinblick auf die Hauptsache«. 126 In der Zuwendung zum Bösen »verdreht (pervertit) ein anderer Verstand den Verstand, ein geringerer den höheren, ein bestimmter, der durch Veranlagung, Erziehung und Gewohnheit geprägt ist, den umfassenden« 127 . Das dritte von Leibniz angeführte Moment der Willensfreiheit bildet die Spontaneität (spontaneité). Der Mensch ist »umso mehr spontan, je mehr seine Handlungen aus seiner Natur (natura) fließen und je weniger sie von außen verändert werden« 128 . Willensfreiheit ist also nach Leibniz graduierbar und keine Sache von Alles oder Nichts, da positive Freiheit einen mehr oder weniger authentischen Ausdruck der individuellen Person darstellt. Worin besteht aber der Bestimmungsgrund des Willens? Leibniz fasst die Willensbestimmung als ein holistisches Zusammenspiel aller an dem Zustandekommen der Handlung beteiligten Instanzen auf: »[W]ir wollen […] nur das, was harmonisch (harmonicum) erscheint. Was aber harmonisch erscheinen kann, hängt von der Beschaffenheit des Empfindenden, des Objekts (objecti) und des Mittels (medii) ab.« 129 Dieses Herstellen einer harmonischen Willensordnung begreift Leibniz als deliberativen Prozess. Willensfreiheit besteht demnach im Herstellen einer persönlichen Harmonie von Gründen, die der eigenen Wesensnatur
Leibniz, CP, 87. Vgl. Leibniz, T I, 45, 124: »[W]eil die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten stattfindet und der Wille nur durch die vorherrschende Güte des Gegenstandes bestimmt wird, ist die Wahl frei und von der Notwendigkeit unabhängig.« Vgl. zum Begriff subjektiver Vernunft bei Leibniz und ihrem systematischen Potenzial für einen ›qualitativen‹ Freiheitsbegriff jenseits von Determinismus und Indeterminismus: Buchheim (2001b), 340. 125 Vgl. Leibniz, CP, 89, wonach »jede Sünde aus dem Irrtum« erfolgt (peccatum omne ab errore); vgl. auch T I, 153, 214: »Das Übel stammt allein aus Privation«. 126 Leibniz, CP, 91. 127 Leibniz, CP, 91. 128 Leibniz, CP, 83. 129 Leibniz, CP, 79. 123 124
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entsprechen und dieser schließlich in der Handlung Ausdruck verleihen. Wie ist diese Deliberation näher zu verstehen? Zentral für den Prozess der Deliberation ist nach Leibniz, wie bereits zuvor bei Thomas von Aquin, zunächst die libertas specificationis, die den Spielraum des Entscheidungsvermögens eröffnet. 130 Dabei lässt sich der Wille in verschiedene »Abstufungen« (degrés) 131 analysieren. Gemäß der Leibnizschen Willensunterteilung (voluntatis divisio) in eine voluntas antecedens und eine voluntas consequens beginnt der Willensbildungs- und Spezifizierungsprozess mit unmittelbar handlungsorientierten Willenstendenzen (voluntas inclinatoria), bei denen der Wille auf einzelne Güter gerichtet ist (ad bonum aliquod in se et particulariter) und »getrennt jedes Gut in seinem Fürsichsein betrachtet (à part en tant que bien)«, d. h. spezifiziert. 132 Der Mensch vermag sich nun aber Dank seiner ›Volitionen zweiter Ordnung‹ auf seine primären Willenstendenzen (voluntas inclinatoria) reflexiv zu beziehen, sein Urteil aufzuschieben (judicium usque ad ulteriorem deliberationem suspendere) und andere mögliche Handlungsgründe mit einzubeziehen (animum ad alia cogitanda avertere). 133 Auf die objektive Willensstruktur der voluntas antecedens als voluntas inclinatoria folgt durch Reflexion und den Gebrauch der Vernunft schließlich die voluntas consequens, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nicht partikular, sondern holistisch ausgerichtet ist (spectet totale) und damit als voluntas absoluta et decretoria die volle Entscheidungsgewalt (also die libertas executionis) besitzt (ultimam determinationem contineat). 134 Die Willensentscheidung ist also nach Leibniz nicht losgelöst von den primären inklinierenden Bestimmungsgründen, sondern gewissermaßen die ›Resultante‹ ihrer Summe (voluntas decretoria ex omnibus inclinatoriis resultans), 135 gleich einer Aufgipfelung und Aufsummierung verschiedener vektorialer Strebungen: »[A]us dem Zusammentreffen aller partikulären Wollungen (volontés particulieres) […] entsteht der Gesamtwille: Wie in der Mechanik die zuVgl. dazu auch Liske (1993), 256 ff. Leibniz, T I, 22, 110. 132 Leibniz, CD, 15, 442; T I, 22, 110. 133 Leibniz, VNC, 21. Zum Problem des unendlichen Regresses noch höherstufiger Willensebenen bei Leibniz vgl. Liske (1993), 261. 134 Leibniz, CD, 24, 442. 135 Leibniz, CD, 27, 443. 130 131
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sammengesetzte Bewegung aus allen Kräften, die auf ein und denselben beweglichen Körper wirken, resultiert, und in gleicher Weise einer jeden dieser Kräfte genügt, so weit es möglich ist, alles auf einmal zu tun.« 136 Die entscheidende Inklination des Willens ist nach Leibniz also komplex und in sich differenziert: Sie ist keine Inklination neben den anderen, sondern übergreift diese holistisch im Sinne einer Resultante eines Abwägungs- und Additionsprozesses verschiedener Partikularinklinationen (einer ›Maximierung‹) zu einem diese umgreifenden, integrierenden und zu einer Entscheidung bringenden Gesamtwillen. 137
3.
Kritik des Willens. Systematisches Lösungspotenzial nach Harry G. Frankfurt
Die klassischen Analysen des freien Willens als liberum arbitrium voluntatis lassen sich auch mit neueren, mittlerweile ebenfalls ›klassisch‹ zu nennenden Theorien aus der gegenwärtigen analytischen Freiheitsdebatte in ein fruchtbares Verhältnis bringen. 138 Einen paradigmatischen Referenz- und Kristallisationspunkt der aktuellen Debatte stellt Harry Frankfurts Aufsatz Freedom of the Will and the Concept of a Person 139 dar, der in der Tradition des reflexiven Willensbegriffs im Ausgang von Augustinus steht. 140 Frankfurts Freiheitsbegriff bietet sich gerade deshalb als ein weiterer systematischer Bezugsrahmen für die nachkantische Freiheitsdebatte an, da er zen-
Leibniz, T I, 22, 111 f. Vgl. auch T I, 43, 12 f.: »[W]enn man aber von dem stärksten Antrieb des Willens spricht, dann spricht man von dem Ergebnis aller Neigungen«. Vgl. zum Prozess der Deliberation bei Leibniz auch Liske (1993), 257 f. 138 Auch wenn der Begriff der »analytischen Philosophie« nicht eindeutig definiert ist, so soll damit im Folgenden jene begriffsanalytische Richtung traditionell angelsächsischer Philosophie bezeichnet werden, die in jüngster Zeit den Freiheitsbegriff anhand der Koordinaten »Kompatibilismus«, »Inkompatibilismus«, »Determinismus«, »Indeterminismus« und »Libertarianismus« weiter bestimmt hat. 139 Frankfurt (1971). 140 Frankfurt (1971) erwähnt Augustinus nicht explizit. Allerdings kommt Frankfurt im Zuge seiner Beschäftigung mit der Phänomenologie der Willensspaltung ausdrücklich auf Augustinus zu sprechen. Vgl. Frankfurt (1992), 9. Zum Verhältnis der Willensbegriffe bei Augustinus und Frankfurt vgl. Brachtendorf (2007), Müller (2007) und Kiesel (2011). 136 137
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Kritik des Willens
trale Begriffe der vorkantischen Tradition auf analytische Weise neu prägt und systematisch anschlussfähig macht. Zu nennen sind hierbei vor allem die Unterscheidung von Wünschen erster und zweiter Stufe (first and second-order desires), der Begriff des Triebhaften (wanton) sowie der Begriff der volitionalen Notwendigkeit (volitional necessity). Im Zentrum von Frankfurts Freiheitstheorie steht der Begriff der Person, die durch eine in sich differenzierte, reflexive Struktur des Willens ausgezeichnet ist. Diese Struktur lässt sich weiter analysieren als ein hierarchisches Willensmodell von Willenstendenzen erster Stufe (first-order desires) und sich darauf evaluativ beziehenden Volitionen zweiter Stufe (second-order volitions). 141 Frankfurt konzipiert dabei Willensfreiheit in Analogie zur Handlungsfreiheit. So wie Handlungsfreiheit im Grunde bedeutet, tun zu können, was man will, 142 so bedeutet Willensfreiheit, wollen zu können, was man will. 143 Während Willenstendenzen erster Stufe stets objektorientiert, also auf konkrete Handlungszwecke ausgerichtet sind, so sind Volitionen zweiter Stufe insofern normativ ausgerichtet, als sie personale Wertmaßstäbe enthalten, die sich auf Willenstendenzen erster Stufe evaluativ beziehen. 144 Die objektorientierten Willenstendenzen stellen die operative Ausgangsbasis dar, aus der dann durch verschiedene deliberative Leistungen wie Priorisierung, Integrierung und Separierung durch Volitionen zweiter Stufe eine einheitliche und harmonische Willensordnung hergestellt wird. 145 Gerade in ihrer Fähigkeit zur voluntativ-reflexiven Selbstbewertung (reflective self-
141 Vgl. Frankfurt (1971), 6: »It is my view that one essential difference between persons and other creatures is to be found in the structure of a person’s will […] It seems to be peculiarly characteristic of humans […] that they are able to form what I shall call ›second-order desires‹ or ›desires of the second order‹«; »[I]t is having second order volitions, and not having second-order desires generally, that I regard as essential to being a person.« (ebd., 10). 142 Vgl. hierzu Leibniz, der die »liberté de faire« prägnant als »la puissance de faire ce qu’on veut« definiert (Leibniz, NE II, 21, 160). 143 Vgl. Frankfurt (1971), 15: »Just as the question about the freedom of an agent’s action has to do with whether it is the action he wants to perform, so the question about the freedom of his will has to do with whether it is the will he wants to have.« 144 Fischer/Ravizza (1998), 185, bezeichnen Frankfurts Theorie deshalb als eine »›mesh‹ theory« (›Verzahnungs‹-Theorie). 145 Vgl. Frankfurt (1987), 39. Vgl. auch Frankfurt (1971), 17: »[V]olitions of the second order, or of higher orders, must be formed deliberately.«
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evaluation) 146 und Selbstformierung besteht nach Frankfurt das Wesen der Person. 147 So wie Handlungsfreiheit darin besteht, dass unmittelbar handlungsorientierte Willenstendenzen zur Verwirklichung in eine Handlung überführt werden können, so besteht die Freiheit des Willens darin, dass sich normative Volitionen zweiter Stufe kontrolliert und handlungswirksam auf Willenstendenzen erster Stufe auswirken und so eine Zusammenstimmung herzustellen vermögen, welche dann zu einem einheitlichen Willen als einem handlungswirksamen Wunsch 148 führt. 149 Die freie Person identifiziert sich dabei mit einer Auswahl an Willenstendenzen erster Stufe und übernimmt so die Verantwortung für die aus diesem gebildeten Willen resultierenden Handlungen. Nicht willensfrei ist ein handelndes Subjekt dann, wenn es angesichts seiner primären Willenstendenzen keine Volitionen zweiter Ordnung auszubilden vermag, so dass es von seinen unmittelbaren Willensregungen im Strom der Wünsche und Neigungen gleichsam mitgerissen wird. Frankfurt bezeichnet ein solches Subjekt als einen Triebhaften (wanton). 150 Ein Triebhafter ist also im Gegensatz zu einer Person dadurch charakterisiert, dass für ihn sein Wille gerade nicht zum Problem werden kann. 151 Frankfurt führt hierzu das Beispiel eines Süchtigen an, dessen Wille ganz und gar vom Zweck der Drogenbeschaffung bestimmt ist, und für den der einzige Handlungsspielraum in der Art der Mittel zur Erreichung dieses Zwecks liegt. Der Unterschied zwischen einem Süchtigen und einer Frankfurt (1971), 7. Vgl. Frankfurt (1993), 23: »To be a person entails having evaluative attitudes (not necessarily based on moral considerations) toward oneself.« 148 Vgl. Frankfurt (1971), 8: »[A]n effective desire – one that moves […] a person all the way to action.« 149 Vgl. Frankfurt (1971), 15: »It is in securing the conformity of his will to his second-order volitions, then, that a person exercises freedom of the will.« 150 »The essential characteristic of a wanton is that he does not care about his will. His desires move him to do certain things, without its being true of him either that he wants to be moved by those desires or that he prefers to be moved by other desires.« (Frankfurt [1971], 11); Vgl. auch ebd.: »Not only does he pursue whatever course of action he is most strongly inclined to pursue, but he does not care which of his inclinations is the strongest.« 151 Vgl. Frankfurt (1971), 15: »It is only because a person has volitions of the second order that he is capable both of enjoying and of lacking freedom of the will. The concept of a person is not only, then, the concept of a type of entity that has both first-order desires and volitions of the second order. It can also be construed as the concept of a type of entity for whom the freedom of its will may be a problem.« 146 147
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Person besteht allerdings nicht darin, dass eine Person nicht der Drogensucht erliegen kann. Vielmehr besteht er darin, dass eine Person ihren süchtigen Willen evaluiert und willentlich verändern möchte. Auch wenn dies aufgrund von Willensschwäche nicht gelingen sollte und die Person damit nicht im strengen Sinne willensfrei genannt werden kann, bleibt sie doch auf Grund der Ausbildung von höherstufigen Volitionen eine Person; sie ist dann ein widerwillig Süchtiger (unwilling addict). Sie ist zwar eine Person, jedoch keine wirklich freie Person. 152 Es existieren zwei Möglichkeiten, einen in sich differenzierten Willen darzustellen anhand zweier Arten von willentlicher Entzweiung und Inkohärenz (volitional incoherence). Eine erste Konfliktmöglichkeit besteht, wie im Falle der Willensschwäche eines widerwillig Drogensüchtigen, zwischen Willenstendenzen erster und Volitionen zweiter Stufe. Die Willenstendenzen erster Stufe lassen sich nicht willentlich kontrollieren und werden, so sie sich durchsetzen, als fremd und äußerlich (external) erfahren. 153 Eine zweite Möglichkeit willentlicher Zerrissenheit besteht in der Uneinheitlichkeit der Volitionen zweiter Stufe selbst. Es geht hierbei also nicht mehr um das Problem der Willensschwäche, bei der sich Willenstendenzen erster Stufe wider Willen durchsetzen und daher als fremd und äußerlich erfahren werden, sondern um die Zerrissenheit der Person selbst, d. h. um einen rein innerlichen Konflikt im Wesenskern der Person. 154 Willensfreiheit im vollendeten Sinne besteht deshalb nach Frankfurt darin, dass (i) die Volitionen zweiter Stufe, d. h. der Wesenskern der Person einheitlich ist, und dass (ii) diese Einheitlichkeit zu einer Willensstärke bzw. Willenskonzentration führt, welche es erlaubt, Willenstendenzen erster Stufe kontrolliert zu beeinflussen und deliberativ zu steuern. 155 Die Person konstituiert sich somit willentlich im deliberativen Prozess der Entscheidung, indem sie die bloß
152 Vgl. Frankfurt (1971), 12. Vgl. dazu auch die Charakterisierungen der Willensschwäche bei Paulus und Augustinus. 153 Vgl. Frankfurt (1987), 32. 154 Vgl. Frankfurt (1987), 33. 155 Vgl. Frankfurt (1971), 43: »A person who is deliberating about what to do is seeking an alternative to ›doing what comes naturally.‹ His aim is to replace the liberty of anarchic impulsive behavior with the autonomy of being under his own control [Hervorh. J. N.].« Auch hier scheint Frankfurt, wenn auch implizit, auf das Prinzip alternativer Möglichkeiten zu rekurrieren.
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inklinierenden Willenstendenzen erster Stufe zum ungeteilten handlungswirksamen Willen erhebt. 156 Dieses hierarchische Willensmodell lässt sich auf das Autonomie-Problem im Ausgang von Kant fruchtbar anwenden. Hierbei interessiert zum einen die epistemische Geartetheit willensbestimmender Gründe und zum andern die Art der Operation bzw. Durchführung der Willensbestimmung durch diese Gründe. Wie sind Gründe der freien Willensbestimmung genauer zu verstehen? Gründe für Handlungen entstehen dann, wenn Willenstendenzen erster Ordnung durch höherstufige Volitionen in Betracht gezogen und gegeneinander abgewogen werden. Diese Gründe stellen damit die ›Objektebene‹ bzw. ›Operablen‹ dar, auf die sich Volitionen zweiter Ordnung operierend beziehen. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob die Volitionen zweiter Ordnung nicht wiederum selbst als Gründe angesehen werden müssen, die ihrerseits die operative Basis für noch höherstufigere Volitionen darstellen. 157 Wie kann also vermieden werden, dass die Person (i) durch die Inflation unendlicher Meta-Volitionen in ihrer volitionalen Einheit handlungsunfähig gemacht, ja geradezu zerstört würde, und dass stattdessen (ii) willkürlich eine beliebige Willensebene als Endpunkt der Reflexion erklärt wird? 158 Hier scheint sich unmittelbar folgender Lösungsweg anzubieten: Eine ›Deckelung‹ der potentiell unendlichen Reihe von Metagründen könnte dadurch erfolgen, dass man die Reihe von Metagründen gerade in ein nicht weiter objektivierbares subjektives Grundvermögen münden lässt, welches die Volitionen zweiter Stufe in sich vereint. 159 156 Vgl. Frankfurt (1987), 38. Vgl. auch die analoge Unterscheidung von voluntates und voluntas bei Augustinus. 157 Man kann diese Sachlage auch als das »logical problem« von Frankfurts »mesh theory« bezeichnen. Vgl. Fischer/Ravizza (1998), 200. 158 Auf diese Gefahr hat Frankfurt (1971), 16, selbst hingewiesen: »There is no theoretical limit to the length of the series of desires of higher and higher orders; nothing except common sense and, perhaps, a saving fatigue prevents an individual from obsessively refusing to identify himself with any of his desires until he forms a desire of the next higher order. The tendency to generate such a series of acts of forming desires, which would be a case of humanization run wild, also leads toward the destruction of a person.« 159 Dies ist die die inkompatibilistische Strategie von Libertariern wie Roderick Chisholm, die eine nicht weiter objektivierbare agent causality postulieren. Vgl. Chisholm (1982), 33. In der nachkantischen Debatte hat Karl Leonhard Reinhold eine vergleichbare Theorie vertreten. Vgl. dazu im Folgenden Teil IV.2.6 sowie zur Diskussion von Chisholms Freiheitstheorie und der aktuellen Debatte Teil V.2.
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Allerdings ist dieser Lösungsversuch freiheitstheoretisch unbefriedigend: Die Freiheitsentscheidung wäre so prinzipiell unverständlich. Ein anderer Versuch, diesem drohenden Regress unendlicher Metagründe zu entgehen und zugleich die Objektivität der Freiheitsentscheidung aufrecht zu erhalten könnte darin bestehen, dass man die potentiell unendlich vielen Metavolitionen durch einen maximal allgemeinen, unbedingten reinen Willen abschließt, bzw. ihn in einem normativen Prinzip – etwa der reinen praktischen Vernunft – fundiert. 160 Dies böte zwar den Vorteil einer prinzipiellen Verständlichkeit, ebenso wie die Gewissheit, dass die Volitionen zweiter Stufe nicht ihrerseits wiederum bloße unkontrollierte Triebstrukturen sind. 161 Allerdings würde dies gerade wieder die Gefahr eines intelligiblen Fatalismus mit sich führen, wonach die freie Person nur solche normativen Volitionen zweiter Stufe ausbilden könnte, die moralisch gut sind – eine Freiheit zum Bösen wäre damit ausgeschlossen. 162 Zugleich ginge damit die Individualität der Person verloren, da ihr Wesenskern einem allgemeinen Gesetz unterstehen würde und nur ein reiner, allgemeiner Wille ein freier Wille wäre. 163 Diese Option zur Lösung des Regress-Problems wählt Kant. Vgl. dazu Teil III.1.3. Vgl. zu diesem Lösungsvorschlag Watson (1975). Watson wirft Frankfurts indentitätsbasiertem Freiheitsbegriff bloße Willkür vor (»this is arbitrary« [218]) und plädiert stattdessen – in Anlehnung an eine »platonic concetion of practical reasoning« (207) und im Grunde ganz auf Kants Linie – für einen Freiheitsbegriff als praktischWerden reiner Vernunft im Sinne der Einheit von principium diiudicationis und principium executionis: »[O]ne’s valuational system must have some (considerable) grip upon one’s motivational system. The problem is that there are motivational factors other than valuational ones. The free agent has the capacity to translate his values into action; his actions flow from his evaluational system.« (215 f.). Um dem Problem des intelligiblen Fatalismus zu entgehen, dürfte dieses »valuational system« nicht als universell und allgemein begriffen werden, sondern müsste vielmehr der individuellen Person entspringen. 162 Vgl. Frankfurt (1994), 435: »I believe that the most genuine freedom is not only compatible with being necessitated; as Kant suggests, it actually requires necessity. I do not share Kant’s view, however, that autonomy consists essentially and exclusively in submission to the requirements of duty. In my opinion actions may be autonomous, whether or not they are in accordance with duty«. 163 Vgl. Frankfurt (1994), 436: »[T]his pure will is a very peculiar and unlikely place in which to locate an indispensable condition of individual autonomy. After all, its purity consists precisely in the fact that it is wholly untouched by any of the contingent personal features that make people distinctive and that characterise their specific identities. What it wills can be determined entirely a priori, as a matter of universally valid necessary truth. The pure will has no individuality whatsoever. It is identical in everyone, and its volitions are everywhere exactly the same. In other words, the pure 160 161
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Um das Problem eines intelligiblen Fatalismus bei der vernünftigen Bestimmung des Willens durch Gründe zu vermeiden und um die Zurechenbarkeit der individuellen Person in guten wie bösen Handlungen aufrecht zu erhalten, muss also zwischen praktischer Vernunft und Wille so unterschieden werden, dass dieser sich nochmals reflexiv auf jene als ein mögliches Objekt zu beziehen vermag – im Sinne eines Gebrauchs der Vernunft. Einen solchen volitionalen Gebrauch der Vernunft weiter zu bestimmen, kann als die Hauptaufgabe der im Folgenden betrachteten nach- und mitkantischen Freiheitsdebatte gelten. Die Alternative »vernünftig-empirisch« bzw. »formal-material« darf also nicht im Sinne der Alternative »autonom-heteronom« oder gar »frei-unfrei« bestimmt werden, sondern muss in die Struktur eines in sich differenzierten Willens einbezogen, d. h. voluntativ gefasst werden. Es liegt angesichts der beiden problematischen Versuche, Volitionen zweiter Ordnung entweder als reinen Willen oder als subjektives Grundvermögen zu fassen, nahe, das Verhältnis der Person zu möglichen Handlungsgründen auf eine gänzlich andere Weise zu bestimmen, also einen dritten Weg einzuschlagen: Demzufolge darf der ›Grund‹ der Freiheitsentscheidung nicht als absoluter Schluss- bzw. Anfangsgrund der Willensbestimmung angesehen werden – weder als ein absolut objektiver im Sinne des reinen Willens noch als ein absolut subjektiver im Sinne des Dezisionismus –, sondern besteht im spezifisch reflektierten Verhältnis der Person zu allen übrigen objektiven Gründen im Raum der Gründe. Die Freiheitsentscheidung ergibt sich dann nicht aus einem übergeordneten (maximal objektiven oder subjektiven) Grund, sondern aus dem Verhältnis der objektiven Gründe (bzw. der Willenstendenzen erster Stufe) auf die individuelle Person (als reflektierender Wille zweiter Stufe). Die Freiheit der Person besteht demnach im Operieren mit einer Menge von in Betracht gezogenen objektiven Gründen in ihrer Wirkung auf sich selbst. Es geht dabei nicht um einzelne Gründe, die sukzessive in Betracht gezogen werden, sondern um eine holistische Konstellation von Gründen in ihrem personalen Zusammenhang. Mit Blick auf eine solche holistische Wirkung des Netzes von Gründen auf die Person hat Harry Frankfurt den Begriff des »Resonanz-
will is thoroughly impersonal. The commands that it issues are issued by no one in particular.« (436).
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effekts« (resonance effect) 164 geprägt. 165 Nur wenn durch das Zurechtlegen von Gründen die richtige personale Frequenz und Kohärenz erreicht ist, die mit dem individuellen Wesen der Person übereinstimmt, wenn also eine gewisse Auswahl und Ordnung an Willenstendenzen erster Stufe auf ihr Verhältnis zu den Volitionen zweiter Stufe angemessen hingeordnet wird, kann eine voluntative Integration und Einheit erzielt werden. 166 Eine kluge Art und Weise des Abwägens von Gründen kann dabei die Resonanz maximieren, so dass Willensfreiheit als ein Prozess der Willensbildung begriffen wird, der verschiedene Grade kennt. Frankfurt charakterisiert den Zustand eines solchen ungeteilten, harmonisch integrierten Willens, der mit sich selbst identisch ist, als »wholeheartedness« 167 . Gegenüber einem solchen Willensgefüge ist die individuelle Person keine separate dritte Instanz, sondern verhält sich zu diesem als selbstbewusster ›Resonanzraum‹. Der Prozess der Willensbildung gehorcht aufgrund des holistischen Charakters der Gründe auch keiner gewöhnlichen, sukzessiven Zeitordnung, sondern muss gleichfalls holistisch verstanden werden. 168 Willenstendenzen erster Stufe stellen für die Person ein Reservoir an volitionalen Möglichkeiten, gewisserweise das voluntative
Frankfurt (1987), 37. Vgl. Frankfurt (1971), 37: »The fact that a commitment resounds endlessly is simply the fact that the commitment is decisive. For a commitment is decisive if and only if it is made without reservation. And making a commitment without reservation means that the person who makes it does so in the belief that no further accurate inquiry would require him to change his mind. It is therefore pointless to pursue the inquiry any further.« 166 Vgl. Frankfurt (1971), 16: »When a person identifies himself decisively with one of his first-order desires, this commitment ›resounds‹ throughout the potentially endless array of higher orders […] The fact that his second-order volition to be moved by this desire is a decisive one means that there is no room for questions concerning the pertinence of desires or volitions of higher orders.« 167 Frankfurt (1987), 44. 168 Frankfurts Freiheitsbegriff ist deshalb als eine »nonhistorical (or ›current timeslice‹)«-Theorie bezeichnet worden (Fischer/Ravizza [1998], 171; 184), die Anklänge an das Konzept einer »intelligblen Tat« enthält. Vgl. Frankfurt (1975), 121 f.: »[T]o the extent that a person identifies himself with the springs of his actions, he takes responsibility for those actions and acquires moral responsibility for them; moreover, the questions of how the actions and his identifications with their springs are caused is irrelevant to the questions of whether he performs the actions freely or is morally responsible for performing them.« 164 165
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»Rohmaterial« (raw material) dar, 169 aus dem sie ihren Willen deliberativ und reflexiv formiert und der schließlich ihre Individualität ausdrückt. 170 Ein solcher deliberativer Willensbildungsprozess soll die Person zwischen der Gefahr des Indifferentismus und des intelligiblen Determinismus hindurch manövrieren: Im ersteren Falle würde die Person sich überhaupt nicht ausdrücken, im zweiten Falle wäre ihr Ausdruck ein bloßer Fall eines allgemeinen Gesetzes – die Person würde als bloße Instanz ausgedrückt werden. 171 In der aktuellen Freiheitsdebatte hat Harry Frankfurt für diesen individuellen Willensausdruck der Person den Begriff der »voluntativen Notwendigkeit« (volitional necessity) geprägt und – ähnlich wie Leibniz zuvor 172 – von einer metaphysischen Notwendigkeit (Frankfurt nennt sie »causal necessity« 173 ) unterschieden. 174 Wie ist diese willentliche Notwendigkeit, (eine »somewhat obscure kind of necessity« 175 ) genauer zu verstehen? Der Zustand willentlicher Notwendigkeit ist einerseits authentischer und entschiedener Ausdruck der Person, andererseits aber ist dieser Zustand
169 Vgl. Frankfurt (1994), 442, der von einem rudimentär volitionalen »raw material« spricht, »out of which he must design and fashion the character and the structure of his will.« 170 Vgl. Frankfurt (1987), 39: »It is these acts of ordering and of rejection – integration and separation – that create a self out of the raw materials of inner life. They define the intrapsychic constraints and boundaries with respect to which a person’s autonomy may be threatened even by his own desires.« Da demnach freie Handlungen die Folge eines Formierungsprozesses angesichts kontingenter volitionaler Strukturen, und keine absoluten Hervorbringungen der reinen praktischen Vernunft sind, stellt Frankfurts Freiheitstheorie gegenüber der Kantischen Theorie autonomer Vernunft eine Herabstufung dar. Auf diese ›passive‹ Seite von Frankfurts Freiheitstheorie hat Knappik (2013), 97, zu Recht hingewiesen. 171 Vgl. Frankfurt (1994), 440: »What autonomy requires is not that the essential nature of the will be a priori, but that the imperatives deriving from it carry genuine authority. Kant insists that the requisite authority can be provided only by the necessities of reason.« 172 Vgl. Leibniz, NE II, 21, 164: »Les consequences Geometriques et Metaphysiques necessitent, mais les consequences Physiques et Morales inclinent sans necessiter«. 173 Frankfurt (1982), 264. 174 Vgl. Frankfurt (1994), 443: »These constraints [of volitional necessity] cannot be determined by conceptual or logical analysis. They are substantive, rather than merely formal. They pertain to the purposes, the preferences, and the other personal characteristics that the individual cannot help having and that effectively determine the activities of his will [Hervorh. J. N.].« 175 Frankfurt (1982), 263.
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kontingent. 176 Willentliche Notwendigkeit bedeutet demnach eine Übereinstimmung von Willenstendenzen erster Stufe mit dem individuellen Wertesystem (als Volitionen zweiter Stufe) der Person, im Sinne einer Kohärenz des Willens, bei dem die Gesamtheit der personalen Präferenzen maximale Geltung erhält. 177 So verstanden handelt es sich also um keine äußere, sondern um eine innere Notwendigkeit, die dazu beiträgt, die personale Identität im Wollen und Handeln aufrecht zu erhalten. Willentliche Notwendigkeit hat nach Frankfurt gerade insofern eine befreiende Wirkung (liberating effect), als sie angesichts der verwirrenden Vielfalt der Willenstendenzen erster Stufe eine Konzentration und Orientierung auf den personalen Wesenskern ermöglicht. 178 Frankfurts Begriff einer voluntativen Notwendigkeit ist in der Folge von Charles Taylor noch weiter analysiert worden, der diesbezüglich den Begriff einer »starken Wertung« (strong evaluation) geprägt hat. 179 Eine freie Person ist nach Taylor dadurch gekennzeichnet, dass sie sich bei ihrer Entscheidungsfindung nicht allein von Gründen der Effizienz und des unmittelbaren Nutzens abhängig macht (sonst wäre sie ein wanton), sondern dass ihre Entscheidung eine »tiefere« (deeper) Dimension besitzt, die den ›Kern‹ der Person mit ihren grundlegendsten Überzeugungen betrifft. 180 Durch diese Tiefenmetaphorik wirft Taylor eine andere Perspektive auf das zweistufige Willensmodell Frankfurts und ersetzt es durch ein Schichtenmodell: Volitionen zweiter Stufe ›schweben‹ demnach nicht mehr reflexiv über den primären Willenstendenzen, sondern liegen ihnen zugrunde, sie fundieren sie, insofern sie eine tiefere Dimension des Willens betreffen: Sie werden ›im Grunde‹ zu Volitionen primärer Ordnung, womit Taylor die Frankfurtsche Stufenordnung umkehrt. Das entscheidende Charakteristikum der starken Wertungen be176 Vgl. Frankfurt (1994), 443: »The essential identity of an individual differs, however, from that of a type of thing. The essence of triangularity is an a priori matter of definitional or conceptual necessity. The essence of a person, on the other hand, is a matter of the contingent volitional necessities by which the will of the person is as a matter of fact constrained [letzte Hervorh. J. N.].« 177 Vgl. zum Begriff der personalen Präferenzen: Pauen (2005), 87 sowie Teil V.2 der Untersuchung. 178 Vgl. Frankfurt (1982), 265. 179 Vgl. Taylor (1985a) u. Taylor (1985b). 180 Vgl. Taylor (1985a), 26: »Strong evaluation is not just a condition of articulacy about preferences, but also about the quality of life, the kind of beings we are or want to be. It is in this sense deeper.«
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steht darin, dass sie gegenüber den »oberflächlichen« (shallow) Entscheidungen holistisch artikuliert ausfallen: Sie betreffen die individuelle Person im Ganzen, ihre normative Identität als Gefüge ihrer Grundüberzeugungen, und nicht nur einzelne, diffus wechselnde Vorlieben und Bedürfnisse, die konsequenterweise Willenstendenzen sekundärer Ordnung genannt werden müssten, da sie nur die »äußerste« Willensschicht betreffen. Durch diese voluntative Tiefenschicht der starken Wertungen ist es nun möglich, die diffusen oberflächlichen Willenstendenzen (oder in Frankfurts Terminologie: die primären Willenstendenzen) zu formen und artikuliert in eine Ordnung zu bringen, wodurch sich distinkte alternative Möglichkeiten eröffnen. 181 Taylors Konzeption der starken Abwägung erhält ihr Profil auch in Abgrenzung zu einem ›existentialistischen‹ Konzept der »radical choice« 182 . Nach Taylor ist eine radikale Wahl eher mit einer schwachen Abwägung zu vergleichen. Dies kann dadurch erklärt werden, dass in der radikalen Wahl nicht genügend schwerwiegende Gründe angeführt und gegeneinander abgewogen werden. Eine radikale Wahl scheint vielmehr eher unreflektiert, unmittelbar und im schlechten Sinne ›willkürlich‹ zu geschehen. Eine radikale Wahl würde bedeuten, »that we choose without criteria« 183 . Der Prozess des Abwägens ist daher nicht eigentlich als bloße Wahl zu beschreiben, sondern als volitionale und normative Artikulation des individuellen Wertekanons. Eine wichtige Bedingung für personale Zurechenbarkeit besteht nach Taylors Willensmodell darin, dass die starken Überzeugungen und Werte, die den Kern der Person konstituieren, selbst wiederum nicht fixiert, sondern prinzipiell für eine tiefgreifende Revision (examination) offen sind. 184 Eine Person ist demnach trotz ihrer normativen Einheit der starken Wertungen keine geschlossene, monolithische Einheit, sondern flexibel durch radikale Abwägung (radical evaluation), 185 was gerade durch die Fähigkeit der Selbstdistanzie181 Vgl. Taylor (1985a), 26: »[W]here there is articulacy there is the possibility of a plurality of visions which there was not before.« 182 Taylor (1976), 292. 183 Taylor (1976), 296. 184 Vgl. Taylor (1985a), 39: »Responsibility falls to us in the sense that it is always possible that fresh insight might alter my evaluations and hence even myself for the better.« 185 Vgl. Taylor (1985a), 42: »[R]adical evaluation is a deep reflection, and a self-re-
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rung und die Einnahme eines interpersonalen Standpunkts im Sinne einer Öffnung für Einflüsse ermöglicht wird. 186
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Zusammenfassung: Eckpunkte personaler Willensfreiheit
Im Anschluss an die reichhaltige Tradition des liberum arbitrium voluntatis lassen sich nun zahlreiche Eckpunkte abstecken, die aussichtsreiche Perspektiven zwischen der Skylla des Indifferentismus und der Charybdis des intelligiblen Fatalismus eröffnen. Dabei rückt als Orientierungspunkt dieser heiklen Navigation der Begriff der individuellen Person ins Zentrum. (1) Der personale Wille ist ein Vermögen der voluntativen Selbstdistanzierung. Er ist komplex und lässt sich differenzieren in unmittelbar handlungsbezogene Präferenzen erster Ordnung (im Sinne von ›oberflächlichen‹ Willenstendenzen) und sich darauf reflexiv beziehende Volitionen zweiter Ordnung (als ›tiefe‹ Willensstrukturen), wobei zwischen beiden Stufen ein normatives Bestimmungsverhältnis herrscht. (2) Personales Selbstbewusstsein besteht im Gegensatz zum Selbstbewusstsein des reinen Willens darin, dass Neigungen nicht als auszuschließende heteronome Bestimmungsgründe, sondern als zu integrierende volitionale Ausgangsbasis betrachtet werden, die selbst Teil des personalen Willens sind. Neigungen sind insofern nicht gleichzusetzen mit heteronomen Ursachen, sondern können durch voluntative Reflexion zu Gründen der Selbstbestimmung erhoben werden. (3) Durch die voluntative Selbstdistanzierung des in sich differenzierten Willens eröffnet sich ein Spielraum 187 der Deliberation 188 flection in a special sense: it is a reflection about the self, its most fundamental issues, and a reflection which engages the self most wholly and deeply.« 186 Vgl. zu dieser konsitutiven Offenheit der Volitionen zweiter Stufe Taylor (1985a), 39: »[I]t is always possible that fresh insight might alter my evaluations and hence even myself for the better.« Vgl. mit Blick auf das Böse auch Leibniz, CP, 89: »[D]enn wie ein Licht gleichsam durch Ritzen mitten in die Finsternis einfällt, steht ein Mittel zu entrinnen in unserer Macht, vorausgesetzt, daß wir es gebrauchen wollen«. 187 Vgl. dazu auch den Begriff des »elbow room« den Dennett (1984), 63, folgendermaßen geprägt hat: »[W]e want to keep our options open, so that our chances of maintaining control over our operations, come what may, are enhanced.« 188 John Locke erblickt in dieser Selbstdistanzierung »die Quelle aller Freiheit«: »[W]e have a power to suspend the prosecution of this or that desire, as every one Die Bestimmung des Willens
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und willentlichen Selbstbestimmung. 189 Die Freiheit des Willens besteht deshalb nicht schon darin, Wünschen und Willenstendenzen erster Stufe unmittelbar nachkommen zu können (das wäre bloße Aktions- bzw. Handlungsfreiheit im Sinne eines wanton), 190 sondern darin, diese Willenstendenzen wiederum voluntativ in eine individuelle Ordnung zu bringen, die sich dann konkret in einer Handlung als Manifestation des personalen Charakters niederschlägt. (4) Personale Willensfreiheit besteht nicht im separaten Wirken eines (allgemeinen) Vermögens (in) der Person – etwa dem Willen oder der Vernunft in Form eines ›Akteurs im Akteur‹ (als Homunculus) –, sondern kommt erst der Person als ganzer durch ihre Vermögen zu, die zueinander in kausalen Wechsel- und Bestimmungsverhältnissen stehen. 191 (5) Die Willkür ist kein vom Willen ontologisch verschiedenes daily may Experiment in himself. This seems to me the source of all liberty; in this seems to consist that, which is […] call’d Free will. For during this suspension of any desire, before the will be determined to action, and the action (which follows that determination) done, we have opportunity to examine, view, and judge, of the good or evil of what we are going to do« (263). 189 Vgl. auch die konzise Bestimmung personaler Autonomie bei Dworkin (1988), 20: »[A]utonomy is conceived of as a second-order capacity of persons to reflect critically upon their first-order preferences, desires, wishes, and so forth and the capacity to accept or attempt to change these in light of higher-order preferences and values. By exercising such a capacity, persons define their nature, give meaning and coherence to their lives, and take responsibility for the kind of person they are.« 190 Darin hatte Thomas Hobbes gerade die Freiheit des Menschen erblickt: »Liberty, and Necessity are consistent; as in the water, that hath not only liberty, but a necessity of descending by the Channel; so likewise in the Actions which men voluntarily doe: which, because they proceed from their will, proceed from liberty« (Leviathan, 21, 326). 191 Auf diesen Kategorienfehler einer Hypostasierung der Vermögen hat Locke eindringlich hingewiesen: »[T]o ask, whether the Will has Freedom, is to ask, whether one Power has another Power, one Ability another Ability; a Question at first sight too grosly absurd to make a Dispute, or need an Answer. For who is it that sees not, that Powers belong only to Agents, and are Attributes only of Substances, and not of Powers themselves? So that this way of putting the Question, viz. whether the Will be free, is in effect to ask, whether the Will be a Substance, an Agent, or at least to suppose it, since Freedom can properly be attributed to nothing else, if Freedom can with any propriety of Speech be applied to Power, it may be attributed to the Power, that is in a Man, to produce, or forbear producing Motion in parts of his Body, by choice or preference; which is that which denominates him free, and is Freedom it self. But if any one should ask, whether Freedom were free, he would be suspected, not to understand well what he said«. (EHU, 241). Vgl. aber bereits Aristoteles, Metaphysik IX, 1046b36 ff. u. 1048a20 ff. sowie Thomas, ST I, q. 87, a. 4 ad 1.
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Vermögen, sondern ein reflexives Moment des Willens selbst. Durch die Willkür reflektiert die Person voluntativ-urteilend auf ihren Willen (sie ›kürt‹ ihn). Diese ›Kür‹ entspricht einem kontrollierten Verhältnis von Volitionen zweiter Stufe zu Willenstendenzen erster Ordnung. 192 (6) Personale Willensfreiheit besteht im Herstellen einer kohärenten voluntativen Ordnung im Sinne einer voluntativen Selbstaneignung des Willens. Willenstendenzen erster Stufe werden erst auf Basis von Volitionen zweiter Stufe von bloß inklinierenden zu handlungsbestimmenden Gründen erhoben. 193 Die Identifikation der Person mit ihren Willenstendenzen erster Stufe erfolgt dabei auf zweierlei Art, im Sinne von negativer und positiver Freiheit: Präferenzen erster Stufe werden auf Basis von normativen Präferenzen zweiter Stufe für die Willensbildung entweder (i) negierend ausgeschlossen oder (ii) affirmierend angenommen. Der Grad dieser erzielten Integration und Fügung des Willens ist ausschlaggebend für den Grad an personaler Freiheit. 194 (7) Volitionen zweiter Ordnung sind nicht fixiert auf und nezessitiert durch ein universelles normatives Prinzip, sondern entspringen der individuellen Person selbst, in Art eines unauflöslich subjektiven Engagements, welches trotz seiner Entschiedenheit kontingent ist. 195 Die Identität der Person ist damit auf der Ebene von Volitionen
192 In der modernen Freiheitsdebatte firmiert diese Anforderung unter der Bezeichnung »control condition«: »It specifies that the agent must not behave as he does as the result of undue force; that is, […] that the agent must control his behavior in a suitable sense, in order to be morally responsible for it.« (Fischer/Ravizza [1998], 13). 193 Zum Verhältnis von Gründen und Wünschen vgl. Nida-Rümelin (2005), 45: »Gründe abzuwägen ist nicht dasselbe wie dem nachzuspüren, was meine stärksten inneren Motive oder Wünsche sind.« 194 Eine elaborierte Theorie genuin personaler Freiheit findet sich bei Pauen (2004). Im Schlussteil der Arbeit (V.2) wird darauf näher eingegangen. 195 Vgl. zur Anforderung individueller Rationalität auch Nida-Rümelin (2005), 57: »Die durch das Abwägen von Gründen in den Entscheidungsprozess eingeführte Rationalität ist keine unbedingte, sie hat ihre letzten Bestimmungsgründe nicht in einem wie auch immer gearteten Rationalitätsprinzip, sondern in nicht mehr weiter zu hinterfragenden konativen und epistemischen Einstellungen. Da diese nicht ein für alle Mal bestimmt sind, sondern z. B. dann in Frage stehen, wenn die auf ihnen beruhenden Begründungen zu Inkohärenzen führen, sind wir damit nicht auf eine fundamentalistische Rationalitätstheorie festgelegt. Es gibt nicht fundamentale, grundsätzlich nicht mehr bezweifelbare epistemische und konative Einstellungen, die das Gesamt der Begründung tragen.«
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zweiter Stufe an prinzipiell revidierbare individuelle Gesetze gebunden, nicht jedoch notwendigerweise an universelle Gesetze. 196 (8) Trotz der Individualität und Kontingenz impliziert die freie Willensentscheidung der Person keine Indifferenz, sondern eine voluntative Identifikation und Bestimmtheit mit dem eigenen Wollen d. h. voluntative Selbsttreue. Willensfreiheit ist nicht Freiheit von Bestimmtheit, sondern dasjenige an der Bestimmung des Willens, was diese zu einer freien Bestimmung macht – eine Willensqualifikation. 197 Die Selbstbestimmung der Person mündet in eine Art von Entschiedenheit (»voluntative Notwendigkeit«), die von metaphysischer und logischer Notwendigkeit, welche Freiheit unmöglich macht, verschieden ist. 198 (9) Die individuelle Freiheit der Person zeigt und bewährt sich besonders in substantiellen Entscheidungssituationen, im Sinne der Alternative zwischen Gut und Böse. Diese Alternative stellt die vorgegebene normative Rahmenbedingung (die ›Grammatik‹) dar, angesichts derer erst personale Freiheit artikuliert werden kann. (10) Damit einer Person ihre guten wie bösen Handlungen zurechenbar sind, darf eine Entscheidung zum Bösen nicht als ein privatives Geschehen gedacht, sondern muss als eine bewusste Aktivität verstanden werden. Der Gebrauch der Vernunft hört nicht auf, ein freier zu sei, auch wenn er ein Missbrauch der Vernunft ist, solange 196 Vgl. zum Begriff des individuellen Gesetzes speziell mit Blick auf Kant: Gerhardt (1999), 404 f. 197 Vgl. dazu Leibniz’ Unterscheidung zwischen Determination und Notwendigkeit, aber auch Hume, THN, 407: »Few are capable of distinguishing betwixt the liberty of spontaniety, as it is call’d in the schools, and the liberty of indifference; betwixt that which is oppos’d to violence, and that which means a negation of necessity and causes.« 198 Man kann diese »voluntative Notwendigkeit« auch mit Leibniz als Determination im Unterschied zur (metaphysischen) Notwendigkeit bezeichnen. Frankfurt scheint eine ähnliche Ansicht zu vertreten, wenn er die »volitional necessity« von einer »merely conceptual« necessity abgrenzt (Frankfurt [1993], 23) und sie als »a kind of necessity« (26) charakterisiert. Diese willentliche Notwendigkeit schränkt die Handlungsoptionen zwar ein, jedoch so, dass sie in eine Identitätsrelation zur Person gebracht werden und damit gerade ihre Freiheit ermöglichen sollen: »Just as the essence of a triangle consists in what it must be, so the essential nature of a person consists in what he must will. The boundaries of his will define his shape as a person.« (Frankfurt [1993], 24). Auch wenn Frankfurt nicht ausdrücklich von der Kontingenz dieser voluntativen Notwendigkeit spricht, so hebt er sie doch von derjenigen einer begrifflichen Notwendigkeit ab, indem er diese nicht als »universal«, sondern als »particular« (26), also als individuell charakterisiert.
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es sich dabei um ein Abwägen von Gründen handelt. 199 Die Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen ist damit der eigentliche Prüfstein einer jeden Theorie personaler Freiheit. (11) Personale Freiheit erfordert, dass nicht nur die allgemeine Vernunft den Willen zu bestimmen vermag – dies führte in letzter Konsequenz in einen intelligiblen Fatalismus –, sondern auch der Wille die Vernunft im Sinne eines Gebrauchs der Vernunft. Individuelle Rationalität ist also beweglich vor dem Hintergrund der allgemeinen Vernunft und fällt mit dieser nicht a priori zusammen. Der subjektive Gebrauch der Vernunft vollzieht sich immer vor der allgemeinen Vernunft, so dass er angesichts dieses objektiven Maßstabs moralisch qualifiziert werden kann. Der subjektive Gebrauch der Vernunft eröffnet eine Form von personaler Rationalität, die von der Allgemeinheit der Vernunft insofern verschieden ist, als er nicht von einem absoluten Standpunkt aus dem Nichts heraus zur Bestimmtheit erfolgt, sondern die besondere Situation und die Umstände der Entscheidung in die Kalkulation von Gründen mit einbezieht. (12) Die personale Bestimmung des Willens erfolgt nicht autark und abgeschlossen, gleich einer »inneren Zitadelle« 200 , sondern ist intersubjektiv ausgerichtet und prinzipiell offen. Die Deliberation des Willens ist situiert, d. h. sie findet statt im Kontext der eigenen Natur, Biografie, der Geschichte und Gesellschaft, so dass personale Willensfreiheit sich unter Berücksichtigung der Freiheit anderer Personen ereignet. Dem Gebrauch der Vernunft als Anwendung auf die jeweilige Freiheitssituation entspricht das Vermögen der Klugheit und Urteilskraft im Sinne der eigentlichen Bedeutung des liberum arbitrium voluntatis als freies Urteilsvermögen des Willens.
199 Vgl. auch Bittner (2005), wonach »man unvernünftiges Handeln aus Gründen in jeder Gründe-Theorie zulassen müssen« wird. 200 Vgl. zu dieser Metapher: Berlin (1969), 135: »It is as if I had performed a strategic retreat into an inner citadel – my reason, my soul, my ›noumenal‹ self – which, do what they may, neither external blind force, nor human malice, can touch. I have withdrawn into myself; there, and there alone, I am secure.« Man könnte den Zustand eines reinen Willens ebenfalls zu den Gestalten einer solchen »inneren Zitadelle« zählen. Zum Begriff einer solchen Herrschaftsburg (arx dominandi) des Willens vgl. Augustinus, LA I, 34, 114, 123.
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III. Freiheit der Vernunft. Kants Grundlegung menschlicher Freiheit
1. 1.1
Die Autonomie der Vernunft. Kants Theorie vernünftiger Willensbestimmung Gründe als Ursachen. Das Problem einer Kausalität aus Freiheit Ich gestehe es gern, dieser doppelte Charakter des Menschen, diese zwey Ichs in dem einfachen Subjekt, sind mir bey allen den Erklärungen, die Kant selbst und seine Schüler darüber gegeben haben, bey allen den Anwendungen, die sie davon insonderheit zur Auflösung der bekannten Antinomie von der Freyheit machen, das Dunkelste und Unbegreiflichste in der ganzen kritischen Philosophie. 1
Stellen wir uns folgende zwei Ereignisse vor: (1) Ein flüchtender Dieb wird zufälligerweise von einem um die Ecke biegenden Hund zu Fall gebracht. Der nacheilende Polizist kann daraufhin den Dieb verhaften und das Diebesgut an die bestohlene Person zurückgeben. (2) Einem flüchtenden Dieb wird von einem engagierten Passanten absichtlich das Bein gestellt. Der nacheilende Polizist kann daraufhin den Dieb verhaften und das Diebesgut an die bestohlene Person zurückgeben. In beiden Fällen sind der Hund bzw. der Passant kausal für das Ereignis der Verhaftung des Diebes und die Rückgabe der Beute an ihren Eigentümer verantwortlich. Beide Ereignisse, das Zufall-Bringen des Diebes und die damit verbundene Rückgabe des Eigentums, lassen sich auf dieselbe Weise im Sinne einer Wirkursache beschreiben: Das kausale Einwirken eines Hindernisses auf die Beine des Diebes verursachte dessen Fall. Im Gegensatz zu dem um die Ecke bie-
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Pistorius (2007; 11794), 95.
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genden Hund ist der Passant jedoch nicht nur in dieser Weise kausal für das Zufall-Bringen und die Verhaftung des Diebes verantwortlich, sondern auch in moralischer Hinsicht: Seine Handlung wird ihm so zugerechnet, dass sie moralisches Lob verdient. Dem Passanten wird unterstellt, er habe moralische Gründe für sein Verhalten gehabt, die sich intentional und ursächlich in einer mutigen Handlung niederschlugen: Er brachte den Dieb zu Fall, weil er dessen Vergehen für unmoralisch hielt und dementsprechend einen engagierten Entschluss fasste. Der Passant, so die Unterstellung, habe sich frei aus moralischen Erwägungen heraus willentlich dafür entschieden, den Dieb aufzuhalten. Die Handlung des Passanten ist also gegenüber der bloßen Verursachung des Hundes noch zusätzlich bestimmt – sie ist, mit anderen Worten, kausal überdeterminiert. 2 Wie aber ist diese für die Handlung des Passanten charakteristische zusätzliche Art von Kausalität zu verstehen? Oder allgemeiner gefragt: Worin besteht der Unterschied zwischen handlungsleitenden Gründen und bloßen Ursachen? Eine der großen Herausforderungen von Kants Kritik der reinen Vernunft besteht darin, den Denkraum einer solchen Überdetermination im Falle von moralischer Zurechenbarkeit weiter auszuloten und individueller Freiheit angesichts der vollständigen kausalen Determination der Welt einen Raum der Gründe zu eröffnen. 3 Die Herausforderung besteht für Kant genauer darin, zu zeigen, wie ein und dasselbe Ereignis, etwa eine spontan und frei vollzogene, und daher moralisch qualifizierbare Handlung, sowohl durch Naturkausalität wissenschaftlich erklärbar, als auch durch eine spezielle Art von mentaler Verursachung – durch Gründe – verständlich ist, so dass Mentales nicht auf Naturgesetzlichkeit allein reduziert wird. 4 Kant möchVgl. dazu auch Fischer/Ravizza (1998), 2: »[W]hereas both persons and nonpersons can be causally responsible for an event, only persons can be morally responsible.« 3 Vgl. auch Kant, Refl. 3860, AA XVII, 316: »Die größte Schwierigkeit stekt darin: wie eine subiectiv unbedingte Willkühr könne gedacht werden […] in (nach) dem nexu causarum efficientium sive determinantium oder, wenn man davon abgeht, wie die imputabilitaet der Handlungen möglich sey.« 4 Vgl. zu diesem Programm in direktem Anschluss an Kant – »essentially the Kantian line« (209) – auch Donald Davidsons (1970) Konzept eines »Anomalen Monismus« (Anomalous monism) – »Generalize human actions to mental events, substitute anomaly for freedom, and this is a description of my problem. And of course the connection is closer, since Kant believed freedom entails anomaly.« (207) –, wonach gilt: »[T]here are no strict deterministic laws on the basis of which mental events can be predicted and explained (the Anomalism of the Mental).« (208). Davidsons Bemühun2
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te, anders gesagt, zeigen, dass moralische Überdetermination angesichts der vollständigen Bestimmung der Ereignisse der Welt (und damit auch der menschlichen Handlungen) durch die Naturgesetzlichkeit zumindest denkmöglich, d. h. nicht widersprüchlich ist. 5 Die Herausforderung besteht für Kant also ganz allgemein darin, die Objektivität der Naturwissenschaften sicherzustellen und zugleich die Möglichkeit menschlicher Freiheit denkbar zu machen, d. h. zu zeigen, »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite« 6 . Dadurch möchte Kant der ontologischen Anforderung an die Freiheit – im Sinne absoluter Urheberschaft und alternativer Möglichkeiten – sowie der rationalen Anforderung im Sinne der Verständlichkeit der Freiheitsentscheidung – gerecht werden. Kant bezeichnet eine solche Art mentaler Kausalität, zusätzlich zur Naturkausalität der bloßen Wirkursachen, als Freiheitskausalität bzw. als »absolute Spontaneität der Ursachen«, oder auch als »transzendentale Freiheit«. 7 Ein freiheitskausales Ereignis unterscheidet sich dadurch von einem naturkausalen, dass es nicht selbst wiederum die Wirkung einer vorausgehenden Ursache ist. In diesem Fall nämlich könnte die eigentliche Ursache immer weiter zurück delegiert werden, so dass die kausale Einheit des zurechenbaren Subjekts unterminiert würde: Die Gründe seiner Entscheidung lägen vor seiner Geburt, könnten ihm also nicht mehr zugerechnet werden. Beide Arten von Kausalität – Freiheits- und Naturkausalität – müssen nach Kant deshalb »als notwendig vereinigt in demselben Subjekt gedacht werden« 8 können: »[W]ie kann«, fragt Kant, »derjenige in demselben Zeitpunkte in Absicht auf dieselbe Handlung ganz frei heißen, in wel-
gen gehen wie Kant dahin, den Bereich des Mentalen vor einer vollständigen naturgesetzlichen Reduktion zu bewahren, so dass dadurch Spontaneität denkmöglich bleiben soll: »The anomalism of the mental is thus a necessary condition for viewing action as autonomous.« (225). 5 Vgl. Kants epistemische Einschränkungen: »Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf«; »Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann.« (Kant, GMS, AA IV, 459). 6 Kant, KrV, B 586. Vgl. Kants rückblickende Einordnung: »Man muß wohl bemerken: daß wir hiedurch nicht die Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten, haben dartun wollen.« (Kant, KrV, B 585 f.). 7 Kant, KrV, B 474. 8 Kant, GMS, AA IV, 456. Die Bestimmung des Willens
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chem, und in derselben Absicht, er doch unter einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit steht?« 9 Dieser Idee einer »Kausalität aus Freiheit« kommt innerhalb der Kantischen Philosophie eine systemübergreifende Rolle zu. Sie besitzt nach Kant im grundlegendsten Sinne dynamischen und synthetischen Charakter: »Die Idee der Freiheit«, so Kant in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, »findet lediglich in dem Verhältnisse des Intellektuellen als Ursache zur Erscheinung als Wirkung statt.« 10 Freiheit stellt eine besondere Art von Kausalität dar, welche eine spezifische inhärente Richtung auf Erscheinungen besitzt 11 und damit die dynamische Verbindung von zwei fundamentalen Reflexionsstufen und -ebenen – des Vernünftigen und Empirischen – in ihrem Begriff synthetisch vereint. 12 Die Idee der Freiheit spannt wie ein Rahmen beide Reflexionsebenen auf und setzt diese zugleich zueinander in Beziehung. Dieser Rahmen kann jedoch nicht durch Kants theoretische Philosophie ausgeleuchtet werden – es fehlt dazu die empirische Anschauung: »[Ü]ber das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie« 13 . Der Übergang vom Intelligiblen zum Sensiblen impliziert also eine theoretische Leerstelle, die darauf harrt, in anderer Hinsicht gefüllt und epistemisch zugänglich gemacht zu werden. Er weist über das Theoretische hinaus in den Bereich des Praktischen, so dass zur Bestimmung des Begriffs einer Kausalität der Freiheit immer auch die moralphilosophischen Referenzen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft, die sich als praktische Substanziierung dieses Begriffs verstehen lassen, mitreflektiert werden müssen. 14 Kant bemerkt, bereits auf seine Kritik der Kant, KpV, AA V, 95. Kant, Prol., AA IV, 344 Fn. 11 In der analytischen Philosophie des Geistes wird diese Art von Kausalität häufig unter den Begriff einer (mental) downward causation bzw. einer top-bottom-causality gefasst. 12 Hier soll nicht weiter darauf eingegangen werden, ob es sich bei Kants Begriffen des Intelligiblen und Sensiblen auch um ontologische Bestimmungen im starken Sinne handelt. Ontologische Verpflichtungen besitzt jedoch diese Unterscheidung allemal durch die damit implizierte Dualität zweier Arten von Strukturen bzw. Gesetzmäßigkeiten: der Natur- und der Freiheitskausalität – zumal letztere, wie Kant argumentiert, gerade faktisch ist. 13 Kant, MdS, AA VI, 439 Fn. 14 Die Tatsache, dass das Freiheitsproblem der Kritik der reinen Vernunft auch in den darauf folgenden Werken präsent ist, zeigt sich an verschiedenen systematischen Re9
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praktischen Vernunft vorgreifend, dass es »überaus merkwürdig« sei, »daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe« 15 . Der bloß theoretische Begriff einer absoluten Spontaneität, in seiner theoretischen Denkbarkeit und kosmologischen Ausrichtung, fundiert die praktische Spontaneität im Sinne einer freien Handlung, die aus moralisch qualifizierten Gründen in der naturkausal verfassten Welt ihren Niederschlag findet, als Bedingung ihrer Möglichkeit: Praktische Freiheit ist nach Kant »diejenige, in welcher die Vernunft nach objektiv-bestimmenden Gründen Kausalität hat«. 16 Kants Theorie von Freiheit als Kausalität der Vernunft hängt also mit den Voraussetzungen und Ergebnissen seiner theoretischen Philosophie aufs Engste zusammen. 17 Das Problem einer Kausalität aus Freiheit markiert die Schnittstelle von theoretiferenzen. Neben den Prolegomena von 1783, wo Kant aus zeitlicher und entwicklungsgeschichtlicher Distanz zur Kritik der reinen Vernunft einen sehr konzisen Rückblick auf die theoretische Freiheitsproblematik gibt, wird auch im Abschnitt »Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie« in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Kant, GMS, AA IV, 455–463), und vor allem in der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft (Kant, KpV, AA V, 89–106) der systematische Zusammenhang der theoretischen Freiheitsproblematik der Kritik der reinen Vernunft mit der Fragestellung der Kritik der praktischen Vernunft thematisiert. Kant weist den Leser ausdrücklich darauf hin, »das, was zum Schlusse der Analytik [der Kritik der praktischen Vernunft; J. N.] über diesen Begriff gesagt wird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen« (Kant, KpV, AA V, 8). 15 Kant, KrV, B 561. 16 Kant, Prol., AA IV, 346. Vgl. zum Begriff des Praktischen auch Kant, KdU, AA V, 171, wo »praktisch« für die Art und Weise der »Willensbestimmung« reserviert ist. 17 Kants Freiheits- und Moraltheorie wird in der Forschung häufig aus ihrem systematischen Kontext gerissen und isoliert betrachtet. Dabei zeugen Kants häufige Referenzen und Rückblenden in späteren Werken auf dieses theoretische Systemstück gerade von ihrer engen Verzahnung. Freiheit und Moral hängen nach Kants Transzendentalphilosophie aufs Engste mit metaphysischen Fragestellungen zusammen. Die Tatsache, dass Kant die Metaphysica Specialis in ihrer Ausrichtung auf Psychologie, Kosmologie und Theologie im Rahmen einer Dialektik der reinen Vernunft behandelt, bedeutet nicht, dass diese damit gegenstandslos wäre, sondern nur, dass sie einer Reform, d. h. Kritik bedarf. Und eben diese Kritik der theoretischen Vernunft weist über sie hinaus auf einen Begriff von reiner praktischen Vernunft, in welcher die kritisierten Fragen neu thematisiert und epistemisch versichert werden können. Diese betreffen vor allem das kausale Verhältnis von Vernunft und Natur sowie die kosmologische Frage nach einer schlechthin ersten Ursache. Vgl. Kants rückblickende Betrachtung in den Prolegomena: »Hieraus wird der Leser ersehen, daß, da ich Freiheit als das Vermögen eine Begebenheit von selbst anzufangen erklärte, ich genau den Begriff traf, der das Problem der Metaphysik ist.« (Kant, Prol., AA IV, 345 Fn.). Die Bestimmung des Willens
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scher und praktischer Philosophie, von Selbst- und Weltbezug. Mehr noch: In der Kritik der reinen Vernunft ist die gesamte nach- und mitkantische Freiheitsproblematik um das Autonomie-Problem bereits in nuce angelegt und vorgezeichnet. Die Idee der Freiheit als absolute Spontaneität der Ursachen ergibt sich nach Kant unmittelbar aus der Struktur der menschlichen Vernunft, und dies gleich in dreifacher Hinsicht: Sie erzeugt diese Idee, problematisiert sie dann kritisch in ihrer Funktion als Verstandesvermögen und eröffnet schließlich selbst den Denkraum zur Lösung des Problems. Die praktische Vernunft fordert von der theoretischen, »daß sie diese Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie anbauen will, streitig machen könnten« 18 und dass die theoretische Vernunft »der praktischen freie Bahn schaffe« 19 . Die Idee der Freiheit ist innerhalb des Kantischen Systems der Transzendentalphilosophie mit dem Problem einer Antinomie belastet, das sich unmittelbar aus der Analyse des reinen Gebrauchs der Vernunft ergibt. Kant scheint diese Wendung hier jedoch im Sinne eines genitivus subiectivus zu verstehen: Es ist nicht die Person oder der Wille, der die Vernunft in einer bestimmten Hinsicht gebraucht, vielmehr handelt es sich um Aspekte oder Dimensionen der Vernunft, die durch die Vernunft selbst je nach Kontext zur Geltung kommen. Als »das ganze obere Erkenntnisvermögen« 20 lässt sich die Vernunft im weiteren Sinne unterscheiden in das Verstandesvermögen einerseits, als »das Vermögen der Regeln«, und in das Vernunftvermögen im engeren Sinne, als »das Vermögen der Prinzipien«. 21 Die Vernunft, so Kant, »wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinaus zu gehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen [Hervorh. J. N.]«. 22 In ihrem realen Gebrauch enthält die Vernunft in sich »den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze, die sie weder von den Sinnen,
18 19 20 21 22
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Kant, GMS, AA IV, 456 f. Kant, GMS, AA IV, 456. Kant, KrV, B 863. Kant, KrV, B 356. Kant, KrV, B 825.
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noch vom Verstande entlehnt« 23 , wodurch diese einen »dialektischen Schein« 24 erzeugt, der einer epistemischen Klärung bedarf. Während sich die konstitutiven Verstandesbegriffe auf »Gegenstände der Anschauung« beziehen und damit die theoretische Objektivität der Naturwissenschaften sicherstellen, 25 bezieht sich die Vernunft in ihrem transzendentalen Gebrauch reflexiv und regulativ auf das Verstandesvermögen. Während der Verstand »ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst der Regeln« ist, »so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien. Sie geht also niemals zunächst auf Erfahrung, oder auf irgend einen Gegenstand, sondern auf den Verstand, um den mannigfaltigen Erkenntnissen desselben Einheit a priori durch Begriffe zu geben, welche Vernunfteinheit heißen mag, und von ganz anderer Art ist, als sie von dem Verstande geleistet werden kann« 26 . Die Antinomie der Vernunft besteht also angesichts der Idee der Freiheit in einem vernunftimmanenten Streit zwischen Verstand und Vernunft im engeren Sinne, im Konflikt ihres jeweiligen Anspruchs auf den Geltungsbereich ihres Gebrauchs. Während der Begriff der Naturkausalität »durch Erfahrung bestätigt« wird und »selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden [muss], wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll«, also ein »Verstandesbegriff« ist, »der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß«, so ist Freiheitskausalität »nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist«. 27 Das Vernunftinteresse nimmt angesichts der Idee der Freiheit eine kosmologische Dimension an, insofern es nicht, wie im Falle des Verstandesbegriffs, einer bloß relativen Kausalbeziehung, sondern »dem schlechthin, d. i. in jeder Beziehung, Unbedingten« 28 gilt. In ihrem absoluten Interesse bezieht sich die Vernunft auf die Begriffe des Verstandes, indem sie diesen »von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung, frei mache[n], und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Ver-
23 24 25 26 27 28
Kant, KrV, B 355. Kant, Prol., AA IV, 340. Kant, KrV, B 382. Kant, KrV, B 359. Kant, GMS, AA IV, 455. Kant, KrV, B 382.
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knüpfung mit demselben zu erweitern« 29 trachtet. Die transzendentale Idee der Freiheit nimmt insofern eine Zwischenposition ein: Zwar stellt sie, da sie nicht den kognitiven Status eines konstitutiven Verstandesbegriffs hat, streng genommen kein Wissen dar (ihr kann keine Anschauung unterlegt werden), da »die kosmologischen Ideen nichts als regulative Prinzipien« 30 sind, doch ist sie dennoch kein bloßes beliebiges Phantasiegebilde, sondern eine strukturelle Denknotwendigkeit – sie ist, wie Kant sagt, »ganz notwendig in der Vernunft nach ihren ursprünglichen Gesetzen erzeugt worden« 31 . Diese holistische und regulative Dimension der Vernunft, wie sie sich in ihren Ideen zeigt, besteht gegenüber dem Vermögen des Verstandes darin, dass sie »im Schließen die große Mannigfaltigkeit der Erkenntnis des Verstandes auf die kleinste Zahl der Prinzipien (allgemeiner Bedingungen) zu bringen und dadurch die höchste Einheit derselben zu bewirken suche« 32 . Bei den kosmologischen Ideen handelt es sich damit um Schlüsse »nach der Analogie mit hypothetischen Vernunftschlüssen«, insofern sie »die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung zu ihrem Inhalte machen«. 33 Sie können nach Kant eigentlich »vernünftelnde« Schlüsse genannt werden, »weil sie doch nicht erdichtet, oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind« 34 . Worin besteht der Gehalt der Idee der Freiheit? Die kosmologische Idee der reinen Vernunft besteht ganz allgemein darin, »daß sie zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen […] absolute Totalität fodert«, um, nach dem Grundsatz »wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben«, »absolute Vollständigkeit« der Bedingungen zu erreichen. 35 Vernunftideen sind nichts anderes als »bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien« des Verstan-
Kant, KrV, B 435 f. Kant, KrV, B 713. 31 Kant, KrV, B 396. 32 Kant, KrV, B 361. 33 Kant, KrV, B 433. 34 Kant, KrV, B 397. Vgl. auch ebd.: Vernunftschlüsse sind damit »Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst«. Kant kennt neben diesem theoretischen Vernünfteln auch noch ein genuin praktisches Vernünfteln, welches – als Eigendünkel – die Ursache für unmoralisches Handeln ist. Vgl. zu diesem praktischen Vernünfteln Teil III.1.5. 35 Kant, KrV, B 436. 29 30
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des, 36 und markieren als solche »natürliche und unvermeidliche Probleme der Vernunft« 37 , die danach drängen, durch die Vernunft selbst aufgelöst zu werden. Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten, »ob ich in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden des Schicksals geleitet sei« 38 , findet sich die Vernunft in einem antinomischen »Gedränge von Gründen und Gegengründen« 39 wieder. Erst im Durchgang durch die Antinomie des theoretischen Vernunftvermögens mit sich selbst, im Abwägen von Gründen und Gegengründen, vermag sie selbst die Konturen eines widerspruchsfreien Denkraums auszuloten und die rechtmäßigen Ansprüche des in sich differenzierten Vernunftvermögens, zwischen Vernunft im engeren Sinne und Verstand, zu ermitteln. Diese Selbstaufklärung der Vernunft ähnelt der Situation eines »Streithandels, darin die Vernunft verflochten ist« 40 , der sich auf einem »dialektischen Kampfplatz« 41 ›abspielt‹ 42 . Dieser Streit der reinen Vernunft mit sich selbst spielt sich vor den Augen des philosophischen Betrachters ganz natürlich, in Art eines »freien und ungehinderten Wettstreits« 43 ab, der hierbei nur als unparteiischer Kampfrichter fungiert. Die Rolle des philosophischen Betrachters besteht also darin, dem »Streite der Behauptungen zuzusehen«: Die in zwei antinomische Streitparteien auseinandergetretene Vernunft muss »ihre Sache erst unter sich ausmachen«, wobei die Aussicht besteht, dass, »nachdem sie einander mehr ermüdet als geschadet haben, sie die Nichtigkeit ihres Streithandels von selbst einsehen und als gute Freunde auseinander gehen« 44 , die Vernunft sich also mit sich selbst im Sinne einer transzendentalen Selbsterkenntnis versöhnt. Die transzendentale Idee der Freiheit im Sinne einer »absolute[n] Spontaneität der Handlungen«, die »den eigentlichen Grund der ImKant, KrV, B 436. Kant, KrV, B 490. 38 Kant, KrV, B 491. 39 Kant, KrV, B 492. 40 Kant, KrV, B 557. 41 Kant, KrV, B 450. 42 Vgl. auch Kant, KrV, B 490, wo von einem »dialektische[n] Spiel der kosmologischen Ideen« die Rede ist. 43 Kant, KrV, B 453. 44 Kant, KrV, B 451. 36 37
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putabilität« des Menschen ausmacht, ist, wie Kant betont, »der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie«. 45 Ihre Anstößigkeit lässt sich als eine Antinomie zwischen zwei grundsätzlichen Auffassungen bezüglich der kausalen Verfasstheit der Welt verstehen, die nach Kant auf Basis eines transzendentalen Realismus gleichermaßen bewiesen werden können und daher notwendig zu einer Kritik der jeweiligen ontologischen Verpflichtungen führen müssen. 46 Wie ist nun der Streit der Vernunft um die Idee der absoluten Freiheit verfasst? Auf der einen Seite steht die Thesis, wonach »[d]ie Kausalität nach Gesetzen der Natur […] nicht die einzige [sei], aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können«, also »noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig« sei. 47 Auf der anderen Seite steht die Antithesis, wonach »alles in der Welt […] lediglich nach Gesetzen der Natur« geschehe und somit »keine Freiheit« im kosmologischen und transzendentalen Verstande möglich sei. 48 Die Ausgangslage der kosmologischen Vernunftideen besteht darin, dass der Vertreter der Thesis die Position eines »Dogmatism der reinen Vernunft« einnimmt, während derjenige der Antithesis »ein Principium des reinen Empirismus« zugrunde legt. 49 Zwischen beiden Thesen besteht allerdings eine Asymmetrie: Das »architektonische Interesse der Vernunft«, welches nach Kant immer »reine Vernunfteinheit fordert«, enthält »eine natürliche Empfehlung für die Behauptung der Thesis«. 50 Die Thesis ist gegenüber der Antithesis genauer durch ein »gewisses praktisches Interesse« ausgezeichnet, indem die Überzeugung gerechtfertigt werden soll, dass der Mensch »in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei«. 51 Damit weist die Verfasstheit der Antinomie bereits über den Bereich des rein Theoretischen hinaus. Kant, KrV, B 476. Vgl. Kants pädagogische Absicht rückblickend in den Prolegomena: »Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung [der Antinomie; J. N.] dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntniß der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen.« (Kant, Prol., AA IV, 341 Fn.) 47 Kant, KrV, B 472. 48 Kant, KrV, B 473. 49 Kant, KrV, B 494. 50 Kant, KrV, B 503. 51 Kant, KrV, B 494. Vgl. zum »Interesse der Vernunft« bei Kant ausführlich Hutter (2003). 45 46
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Kant bestimmt die kosmologische Dimension der Idee der Freiheit am Begriff der Kausalität weiter. Man kann sich nach Kant »nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken [Hervorh. J. N.]« 52 . Ereignisse können gemäß dieser vollständigen Disjunktion »entweder nach der Natur, oder aus Freiheit« 53 hervorgegangen sein. Während die Kausalität der Natur »die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt« bedeutet und als »Kausalität der Erscheinungen auf Zeitbedingungen beruht«, 54 versteht Kant unter Kausalität aus Freiheit im negativen Sinne die »Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt« 55 . Im positiven Sinne versteht Kant darunter die »Freiheit, im kosmologischen Verstande«, d. h. »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte«. 56 Welche Argumente lassen sich für die Thesis anführen? Wenn es nur Naturkausalität gäbe, so der Argumentationsgang des Vertreters der These, dann könnte auf diese Weise niemals eine »Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen« bzw. eine »hinreichend a priori bestimmte Ursache« zu einem beliebigen Ereignis angegeben werden, 57 weil jedes vorhergehende Ereignis wiederum eine Ursache hätte usw. ad infinitum. Es gäbe so gesehen »nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang« 58 . Durch diese Unvollständigkeit innerhalb der Reihe der Ursachen ist aber gerade das »Gesetz der Natur« verletzt, wonach »ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe«. 59 Damit ein Ereignis hinreichend bestimmt werden kann und »die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen« vollständig ist, müsste demnach »eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei«; es müsste also eine »absolute Spontaneität der Ursachen« bzw. 52 53 54 55 56 57 58 59
Kant, KrV, B 560. Kant, KrV, B 560. Kant, KrV, B 560. Kant, KpV, AA V, 97. Kant, KrV, B 561. Kant, KrV, B 474. Kant, KrV, B 473 f. Kant, KrV, B 474.
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»transzendentale Freiheit« angenommen werden, welche ohne vorhergehende Ursachen ein Ereignis hervorbringt. 60 Die Pointe der Argumentation der These besteht also nicht vorrangig im Aufzeigen der Notwendigkeit von Freiheitskausalität gleich einem »ersten Beweger« 61 für freie Handlungen, sondern der Notwendigkeit einer kausalen Einheit der Natur selbst, welche durch den Begriff der Naturkausalität allein nicht geleistet werden kann. Die hierbei zugrunde gelegte Argumentationsstrategie ist also die einer immanenten Kritik, die auf Basis der Prämissen der Gegenthese einen Widerspruch aufzeigt und die Form eines apagogischen Beweises annimmt. Der Argumentationsgang für die Antithese verläuft auf analoge Weise immanent und apagogisch: Wenn es so etwas wie Freiheitskausalität – also eine »besondere Art von Kausalität«, also »Freiheit im transzendentalen Verstande« 62 – gäbe, dann würden wir in der Zeit und in der Natur einen spontanen Kausalanfang annehmen müssen. Dies würde jedoch eine ›Lücke‹ in der Erfahrung mit sich bringen und damit ein Moment der Gesetzlosigkeit, gleich einer nicht stetigen und differenzierbaren mathematischen Funktion, deren Graph eine ›Lücke‹ bzw. einen ›Knick‹ aufweist. Ein solches Ereignis einer Freiheitskausalität würde im Kontext der zusammenhängenden Naturursachen wie ein Wunder erscheinen müssen, insofern es »zwar auf jene folgt, aber daraus nicht erfolgt« 63 . Freiheit könnte so nur im Sinne eines »gesetzlosen Vermögens« 64 gedacht werden. Wie im Falle der These besteht auch die Pointe des Antithetikers darin, den Thetiker auf seinem eigenen Feld zu schlagen: Absolute Freiheit stellt sich als eigentliche Unfreiheit heraus: »Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln«, sie ist völlig willkürlich: »Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit«. 65 Transzendentale Freiheit wäre so nur »das Blendwerk von Freiheit«, eine Freiheit, die »selbst blind ist«. 66 Freiheit, so die Einsicht des Antithetikers, Kant, KrV, B 474. Kant bezeichnet eine solche Kausalität auch als »caußalitas originaria« (Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 383). 61 Kant, KrV, B 478. 62 Kant, KrV, B 473. 63 Kant, KrV, B 478. 64 Kant, KrV, B 479. 65 Kant, KrV, B 475. 66 Kant, KrV, B 475. 60
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darf also gerade nicht in gänzlicher Gesetzlosigkeit bestehen, sondern erfordert eine spezifische Gesetzmäßigkeit. Da diese jedoch auf derselben Ebene wie der Naturkausalität nicht widerspruchsfrei denkbar ist – da, wenn die Kausalität der Freiheit »nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur« wäre –, »so würde dieses Vermögen doch wenigstens nur außerhalb der Welt sein müssen« 67 , was allerdings den theoretischen Rahmen eines transzendentalen Realismus sprengen würde. Angesichts der Tatsache, dass auf Basis eines transzendentalen Realismus sowohl die These als auch die Antithese bewiesen werden können, stellt sich dem philosophischen Betrachter dieses Streits – d. h. für die Vernunft im weiten Sinne – die kompatibilistische Frage, »ob es ein richtigdisjunktiver Satz sei, daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne [Hervorh. J. N.]«, sie also »mit der Allgemeinheit des Naturgesetzes der Kausalität zusammen bestehen könne«. 68 Es stellt sich mithin die Frage, »ob, wenn man in der ganzen Reihe aller Begebenheiten lauter Naturnotwendigkeit anerkennt, es doch möglich sei, eben dieselbe, die einer Seits bloße Naturwirkung ist, doch anderer Seits als Wirkung aus Freiheit anzusehen« 69 . Wie ist es möglich, Natur- und Freiheitskausalität konsistent zusammenzudenken, »Natur und Freiheit mit einander zu vereinigen [Hervorh. J. N.]« 70 ? Die Möglichkeit einer Auflösung der Freiheitsantinomie besteht in der kritischen Reflexion auf die ontologischen Kant, KrV, B 479. Kant, KrV, B 564. 69 Kant, KrV, B 571. 70 Kant, KrV, B 565. Es ist schwierig, Kants Freiheitstheorie auf Basis seines transzendentalen Idealismus innerhalb der Kompatibilismus-Inkompatibilismus-Debatte zu verorten, denn er scheint die Vereinigung von Natur und Freiheit auf einer anderen Grundlage (nämlich der eines transzendentalen Idealismus) zu vollziehen, wie in der gewohnten Diskussion, deren ontologische Verpflichtungen nach Kant denjenigen eines transzendentalen Realismus entsprächen. Vgl. dazu Wood (1984), 74: »When we consider all Kant’s views together, it is tempting to say that he wants to show not only the compatibility of freedom and determinism, but also the compatibility of compatibilism and incompatibilism.« Vgl. zur neueren Diskussion dieser Frage: Bojanowski (2012), der Kant als Kompatibilist u. Rosefeldt (2012), der Kant als Inkompatibilist versteht. 67 68
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Verpflichtungen des transzendentalen Realismus: »Wenn Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, mithin Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst« 71 , »so ist Freiheit nicht zu retten« 72 , da so die wirkursächlich strukturierte Natur »die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit« 73 wäre. Das Subjekt würde in diesem Fall »vom Strom der Naturnotwendigkeit fortgerissen« 74 . Eine Handlung könnte dadurch nur im Sinne der Wirkursächlichkeit erklärt werden, jedoch nicht zugleich im Sinne einer moralisch interessierten causa finalis. Wären Erscheinungen Dinge an sich, und Raum und Zeit ontologische Strukturen, so würde »die Aufhebung der transzendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen«, da diese voraussetzt, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihr Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen. 75
Kant bemüht bei seiner Argumentation gegen die Position eines transzendentalen Realismus das in neuerer Terminologie so genannte Konsequenz-Argument 76 , welches sich folgendermaßen gliedert: [1] »Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, [2] so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, notwendig sein, [3] d. i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei.« 77 Kant, KrV, B 563. Kant, KrV, B 564. 73 Kant, KrV, B 565. 74 Kant, KpV, AA V, 98. 75 Kant, KrV B 562. 76 In der neueren Freiheitsdiskussion hat den Inkompatibilismus von Freiheit und Determinismus prominent Peter van Inwagen auf Basis seines »Konsequenzarguments« bestritten: »If determinism is true, then our acts are the consequences of the laws of nature and events in the remote past. But it is not up to us what went on before we were born, and neither is it up to us what the laws of nature are. Therefore, the consequences of these things (including our present acts) are not up to us.« (van Inwagen [2003], 39). 77 Kant, KpV, AA V, 94. Vgl. auch die analoge Argumentation ebd., 95: »Denn in jedem Zeitpunkte stehe ich doch immer unter der Notwendigkeit, durch das zum Handeln bestimmt zu sein, was nicht in meiner Gewalt ist, und die a parte priori 71 72
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Auf Basis der ontologischen Verpflichtungen eines transzendentalen Realismus lässt sich die Geltung des Sittengesetzes also nicht mit menschlicher Freiheit vereinbaren. Es »wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst« 78 . Die zentrale ontologische Verpflichtung des transzendentalen Realismus, die in der »absoluten Realität der Erscheinungen« besteht, ist in freiheitstheoretischer Hinsicht, so Kants Diagnose, »zwar eine gemeine, aber betrügliche Voraussetzung«, insofern sie einen »nachteiligen Einfluß« ausübt, »die Vernunft zu verwirren«. 79 Um »jenes schwere Problem […], an dessen Auflösung Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben« 80 zu beheben, das in der Frage besteht, »ob Freiheit der Naturnotwendigkeit in einer und derselben Handlung widerstreite« 81 , müssen nach Kant also die ontologischen Verpflichtungen 82 eines transzendentalen Realismus revidiert werden 83 zugunsten eines transzendentalen Idealismus und dessen tragender Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Der unendliche Reihe der Begebenheiten, die ich immer nur, nach einer schon vorherbestimmten Ordnung, fortsetzen, nirgend selbst anfangen würde, wäre eine stetige Naturkette, meine Kausalität also niemals Freiheit.« 78 Kant, KpV, AA V, 101. Vgl. auch Kants Veranschaulichung dieser Position ebd., 97: »Der Mensch wäre Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewusstsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.« 79 Kant, KrV, B 564. 80 Kant, KpV, AA V, 96. 81 Kant, KrV, B 585. 82 Ich verwende den Begriff der ontologischen Verpflichtung in Anlehnung an den von Quine geprägten der ontological commitments bzw. ontological presuppositions, wonach »a theory is committed to those and only those entities to which the bound variables of the theory must be capable of referring in order that the affirmations made in the theory be true.« (Quine [1948], 33). 83 Kants Philosophie kann deshalb als »revisionäre Metaphysik« bezeichnet werden. Vgl. Strawson (1959), 9: »Descriptive metaphysics is content to describe the actual structure of our thought about the world, revisionary metaphysics is concerned to produce a better structure.« Ich halte deshalb Strawsons Behauptung, wonach Kant im Gegenteil ein deskriptiver Metaphysiker sei, für falsch (vgl. ebd.). Die Bestimmung des Willens
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transzendentale Idealismus kann, wie Kant sagt, »als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik« 84 angesehen werden, dessen zentrale Lehre in der »Absonderung der Zeit (so wie des Raums) von der Existenz der Dinge an sich selbst« 85 besteht. Gemäß dem »Lehrbegriff« 86 des transzendentalen Idealismus sind »alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung« »nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen«, die »außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben«. 87 Was zeichnet die Position des transzendentalen Idealismus freiheitstheoretisch aus? Ihr Vorteil besteht gegenüber jener des transzendentalen Realismus darin, dass nun »einem Gegenstande der Sinne« ein weiterer, nicht bloß empirischer, sondern intelligibler, d. h. raum- und zeitloser Aspekt abgewonnen werden kann, dergestalt, »daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können« 88 . Wie kann mit diesem Schlüssel des transzendentalen Idealismus die dritte Antinomie aufgelöst werden? Wie Kant eingesteht, hat die »Auflösung der Schwierigkeit« der dritten Antinomie »viel Schweres in sich« 89 . Es soll und kann nicht theoretisch bewiesen werden, dass und wie Freiheits- und Naturkausalität sich in ein und derselben Handlung vereinigen. Die Rahmenbedingungen eines transzendentalen Idealismus erlauben es nur, »den Schattenriß der Auflösung« 90 dieser Antinomie zu geben, d. h. die bloße Denkmöglichkeit oder Widerspruchsfreiheit als logische Kontur vorzuzeichnen, die erst im Bereich des praktischen Vernunftgebrauchs real bestätigt, besetzt, und, gleich einem detaillierten und echtfarbenen Bild, konkret ausgeführt werden kann. Entscheidend ist dabei, dass diese Bestätigung nur in einem anderen Beschreibungsrahmen, nämlich dem Praktischen, d. h. dem Bereich des menschlichen Willens erfolgen muss. Wie findet die Anwendung der transzendentalen UnterscheiKant, KrV, B 518. Kant, KpV, AA V, 103. 86 Kant, KrV, B 519. 87 Kant, KrV, B 518 f. 88 Kant, KrV, B XXVI. 89 Kant, KpV, AA V, 103. Auf die Problematik dieser Auflösung und die Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung kann hier nur am Rande eingegangen werden. Ihr weiter nachzugehen wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit. 90 Kant, KrV, B 570. 84 85
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dung von Ding an sich und Erscheinung konkret statt? Menschliche Handlungen sind in dieser neuen Perspektive sowohl durch Naturals auch durch Freiheitskausalität verursacht; sie koexistieren logisch widerspruchsfrei in ein und derselben Handlung, wenn auch »nicht in einer und derselben Beziehung genommen« 91 . Handlungen sind in der Natur Erscheinungen, also »bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen«; sie müssen aber gleichwohl für ihre Konsistenz als intentionale und zurechenbare Aktionen »selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind« 92 . Derartige Gründe bestehen in einer »intelligibele[n] Ursache«, die »samt ihrer Kausalität außer der Reihe« der naturgesetzlichen Erscheinungen steht, während »ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden«. 93 Eine Kausalität aus Freiheit, die in ihrer Art einer Zweckursache gleicht, ist damit kausal überdeterminiert: »Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden [Hervorh. J. N.]« 94 . In einem zweiten Schritt gilt es, diese Doppelperspektivität des empirischen und intelligiblen Aspekts von einer bloß vergegenständlichenden Betrachtungsweise (als »Ding an sich« und »Ding in der Erscheinung«) »auf Erfahrung an[zu]wenden« 95 , d. h. konkret auf die Handlung eines freien und durch seine Handlungen wirklichen Subjekts zu beziehen. Kant selbst betont, dass diese Unterscheidung »wenn sie im Allgemeinen und ganz abstrakt vorgetragen wird, äußerst subtil und dunkel erscheinen muß«, dass sie »sich aber in der Anwendung aufklären wird« 96 . Die Anwendung der abstrakten Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung auf den Menschen äußert sich in der Unterscheidung von intelligiblem und sensiblem Kant, Prol., AA IV, 346. Kant, KrV, B 565. 93 Kant, KrV, B 565. 94 Kant, KrV, B 565. 95 Kant, KrV, B 575. 96 Kant, KrV, B 565. Allerdings bekennt Kant diesbezüglich in der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft, dass »in der Anwendung, wenn man sie als in einer und derselben Handlung vereinigt, und also diese Vereinigung selbst erklären will, […] sich doch große Schwierigkeiten hervor[tun], die eine solche Vereinigung untunlich zu machen scheinen.« (Kant, KpV, AA V, 95). 91 92
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Charakter. 97 Den Charakter einer wirkenden Ursache bestimmt Kant ganz allgemein als »Gesetz ihrer Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde« 98 . Angewendet auf den Menschen kann man »die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung in der Sinnenwelt« 99 . Aus letzterer Perspektive erscheint das handelnde Subjekt als bloße »causa phaenomenon« 100 , während »der Begriff eines Wesens, das freien Willen hat, der Begriff einer causa noumenon« 101 ist. Kants Ziel besteht nun in praktischer Hinsicht darin, durch die Unterscheidung beider Charaktere »den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit in ein und derselben Handlung […] aufzuheben [Hervorh. J. N.]« 102 . In der Handlung werden beide Arten von Kausalität so zusammen gedacht, dass sie als freie Handlung unter dem Exponenten des Intelligiblen steht, während dieselbe Handlung als bloßes Ereignis unter dem Exponenten der Naturkausalität steht. Der Mensch kann damit »in zweierlei Bedeutung«, »nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst« betrachtet werden, wodurch »eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne daß hierbei ein Widerspruch vorgeht«. 103 Das freie Subjekt besitzt also »zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind« 104 . Wie ist das Verhältnis von intelligiblem und sensiblem CharakZum Begriff des Charakters bei Kant vgl. Willaschek (1992), 274 ff. und Timmermann (2003), 181 ff. 98 Kant, KrV, B 567. 99 Kant, KrV, B 566. 100 Kant, KrV, B, 573. 101 Kant, KpV, AA V, 55. 102 Kant, KpV, AA V, 97. 103 Kant, KrV, B XXVII f. 104 Kant, GMS, AA IV, 452. 97
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ter angesichts der freien menschlichen Handlung zu verstehen? Entscheidend für die Denkmöglichkeit einer Vereinigung beider Charaktere in ein und demselben handelnden Subjekt sind die zeitliche Struktur des intelligiblen Charakters und dessen fundierendes Verhältnis gegenüber dem empirischen. Kant denkt den intelligiblen Charakter angesichts seiner freien Handlung als »durch Gründe der Vernunft bestimmt« 105 bzw. »als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt« 106 . Diese vernünftige Willensbestimmung des Subjekts erfolgt außerhalb der zeitlichen und naturkausalen Ordnung: »In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen, mithin würde es auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen, unterworfen sein« 107 . Die zeitlose Verfasstheit des intelligiblen Charakters erlaubt es, das Verhältnis zum empirischen, zeitlichen Charakter im Sinne eines Fundierungsverhältnisses zu denken. Damit Naturkausalität und Freiheitskausalität miteinander im logischen Raum koexistieren können, muss die Freiheitskausalität die gesamte Reihe der Erscheinungen des empirischen Charakters bereits durchlaufen haben, was insofern möglich ist, als sie nicht zeitlich verfasst ist: »Die Kausalität der Vernunft im intelligibelen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen.« 108 Insofern die Vernunft und ihre Wirkungsweise zeitlos gedacht wird, kann sie in dieser Fundierungsfunktion als Substanz des empirischen Charakters verstanden werden: »Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben.« 109 Der intelligible Charakter fundiert also zeitlos die konkreten, kausal erklärbaren Handlungen als Ereignisse, er hält sich durch die empirischen Handlungen in der Zeit durch, die nur ein Ausdruck dieses intelligiblen Charakters sind: »Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint. Kant, KrV, B 578. Kant, KpV, AA V, 97 f. 107 Kant, KrV, B 567 f. Vgl. ebd., 579: »Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen.« 108 Kant, KrV, B 579. 109 Kant, KrV, B 584. 105 106
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Jede derselben ist im empirischen Charakter des Menschen vorher bestimmt, ehe noch als sie geschieht.« 110 Das zeitlose Fundierungsverhältnis lässt sich über die ursprüngliche Bedeutung des Charakters als Zeichen bzw. Prägung weiter bestimmen: Der intelligible Charakter wird »durch den empirischen als das sinnliche Zeichen desselben angegeben« 111 , insofern die empirischen Handlungen »bloße Schemata« 112 des intelligiblen Charakters sind. 113 Während der physische Charakter anzeigt, »was sich aus dem Menschen machen lässt«, ihn also im Modus der dinghaften Deskriptivität darstellt, so bedeutet der moralische Charakter dasjenige, »was er aus sich selbst zu machen bereit ist« – also die normative und freiheitstheoretische Dimension. 114 Es ist demnach nur indirekt möglich, vom empirischen auf den intelligiblen Charakter zu schließen, insofern »dadurch dieses Sinnenwesen selbst auf das intelligibele Substrat in uns bezogen wird« 115 , also indem die naturkausalen Strukturen holistisch interpretiert und auf einen personalen, der Zurechenbarkeit fähigen Einheitspunkt, quasi eine Wurzel, in Art einer »regressiven Synthesis« 116 bezogen werden. 117 Wie lässt sich der intelligible Charakter weiter verständlich machen, zumal seine Zeitlosigkeit? Fasst man den intelligiblen CharakKant, KrV, B 581. Kant, KrV, B 574. 112 Kant, Refl. 5612, AA XVIII, 252. 113 Vgl. zum allgemeinen Begriff des Charakters: Kant, Anth., AA VII, 285: »In pragmatischer Rücksicht bedient sich die allgemeine, natürliche (nicht bürgerliche) Zeichenlehre (semiotica universalis) des Worts Charakter in zwiefacher Bedeutung, da man theils sagt: ein gewisser Mensch hat diesen oder jenen (physischen) Charakter, teils: er hat überhaupt einen Charakter (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann. Das erste ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines sinnlichen oder Naturwesens; das zweite desselben als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens.« 114 Kant, Anth., AA VII, 285. 115 Kant, KpV, AA V, 99. 116 Kant, KrV, B 438. Vgl. auch Kants allgemeine kosmologische Bemerkung: »Ich will die Synthesis einer Reihe auf der Seite der Bedingungen, also von derjenigen an, welche die nächste zur gegebenen Erscheinung ist, und so zu den entfernteren bedingungen, die regressive, diejenige aber, die auf der Seite des bedingten, von der nächsten Folge zu den entfernteren, fortgeht, die progressive Synthesis nennen. […] Die kosmologischen Ideen also beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis«. (Kant, KrV, B 438). 117 Vgl. zur holistischen Dimension des intelligiblen Charakters und seiner Bedeutung für die Auflösung des Problems kausaler Überdetermination: Willaschek (1992), 130 ff. 110 111
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ter im Sinne einer Fundierung des empirischen auf, so lässt sich die Zeitlosigkeit in dem Sinne interpretieren, als Personen hinsichtlich ihres intelligiblen Charakters als persistierende Kontinuanten und hinsichtlich ihres empirischen Charakters als zeitlich abwechselnde Okurrenten angesehen werden können. 118 Die Zeitlosigkeit des intelligiblen Charakters kann darüber hinaus durch die normative Dimension der Moral und Freiheit weiter plausibilisiert werden: Gründe der Selbstbestimmung, die individuelle Person konstituierende Maximen, sind nicht zeitlich, sondern holistisch zu denken; sie gehorchen einer anderen Zeitlogik, die in metaphorischer Hinsicht der räumlichen Logik des Fundierens gleicht. Kant formuliert diese Einsicht folgendermaßen: »[D]as Verhältnis der Handlung zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis: hier geht das, was die Kausalität bestimmt, nicht der Zeit nach vor der Handlung vorher, weil solche bestimmende Gründe nicht Beziehung der Gegenstände auf Sinne, mithin nicht auf Ursachen in der Erscheinung, sondern bestimmende Ursachen als Dinge an sich selbst, die nicht unter Zeitbedingungen stehen, vorstellen.« 119 Wie lässt sich die intelligible Charakteristik gegenüber der empirischen weiter plausibilisieren? Offensichtlich so, dass das Zeichen des empirischen Charakters sich durch seine kausale Struktur von anderen kausalen Ordnungen unterscheidet und Anlass gibt, sie als überdeterminiert aufzufassen bzw. hinter ihr durch freiheitstheoretisch-reflektierende Urteilskraft ein fundierendes Konstitutionsprinzip zu vermuten. 120 Konkret ›erfahren‹ wir den intelligiblen Cha118 Vgl. zur substanzontologischen Interpretation des intelligiblen Charakters: Rosefeldt (2012), 89 sowie Keil (2012), 242. 119 Kant, Prol., AA IV, 346. 120 Man kann sich das Verhältnis beider Charaktere so vorstellen, als ob der intelligible Charakter ein dreidimensionales Objekt (etwa eine Kugel) ist, welches auf eine Ebene (der Naturkausalität) projiziert wird (und so einen Kreis darstellt). Dabei geht die dritte Dimension (die Freiheitskausalität) verloren. Schelling verdeutlicht dieses Verhältnis am Abhängigkeitsverhältnis von Organismus und Mechanismus in seiner Schrift Von der Weltseele (1798) folgendermaßen: »Ist der Mechanismus Etwas für sich Bestehendes, und ist er nicht vielmehr selbst nur das Negative des Organismus? – Mußte der Organismus nicht früher seyn, als der Mechanismus, das Positive früher, als das Negative? [Hervorh. J. N.]«; Die Unterscheidung von organischen und mechanischen Strukturen entspricht in vielerlei Hinsicht der kausaltheoretischen Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung, denn aus der Sicht des Organismus »verschwinden die einzelnen Successionen von Ursachen und Wirkungen, (die mit dem Scheine des Mechanismus uns täuschen), als unendlich kleine gerade Linien in der allgemeinen Kreislinie des Organismus [Hervorh. J. N.].« (Schelling, HKA VI, 69).
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rakter »durch Kräfte und Vermögen, die er in seinen Wirkungen äußert«, während wir bei freiheitsindifferenten Erfahrungsobjekten, »der leblosen oder bloß tierisch belebten Natur«, so Kant, »keinen Grund« finden, »irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken« 121 . Die regressive Synthesis, die alle Erscheinungen des empirischen Charakters »auf das intelligibele Substrat in uns« 122 und die »Spontaneität des Subjekts, als Dinges an sich selbst« bezieht, gleicht somit in ihrem holistischen Erfassen und Beziehen »einer intellektuellen Anschauung«, die sich von der bloßen diskursiven und sukzessiven kausalen Erklärung des empirischen Charakters kategorisch unterscheidet. 123 Welche Evidenzen existieren aber dafür, dem Menschen einen tatsächlichen intelligiblen Charakter zuzugestehen, seinen Willen also als vernünftigen und zeitlosen Gesetzen unterworfen zu denken? Diese bloß der Denkmöglichkeit nach entworfene Ordnung des intelligiblen Charakters und seiner spezifischen Kausalität findet phänomenologisch eine Bestätigung im Übergang von transzendentaler zu praktischer Freiheit. Die Plausibilität der bloß theoretischen Annahme einer Kausalität der Vernunft kann durch das Phänomen der Normativität von Handlungsanweisungen und -absichten weiter gestärkt werden: Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist
121 Kant, KrV, B 574. Auch ein bereits in der Antike von Chrysippos gegebenes Beispiel mag das Verhältnis von intelligiblem zu empirischen Charakter weiter veranschaulichen: Werden eine Walze und ein Kreisel von außen kausal beeinflusst, so bewegen sie sich auf ihre spezifische Art des Rollens bzw. Drehens. Während also die äußerliche Einwirkung nur die allgemeine Bewegung verursacht, zeigt sich in der spezifischen Bewegung gerade das innere Wesen der Gegenstände. Auf dieses Beispiel, welches den intelligiblen Charakter als Substanz denken lässt, hat im Zusammenhang mit der Kantischen Freiheitsdebatte Timmermann (2003), 118 ff. hingewiesen. 122 Kant, KpV, AA V, 99. Vgl. auch Kant, KdU, AA V, 345. 123 Kant, KpV, AA V, 99. Kant veranschaulicht dies an folgendem Beispiel: »Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.« (KpV, AA V, 99).
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unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können gar nicht fragen: was in der Natur geschehen soll; eben so wenig, als: was für Eigenschaften ein Zirkel haben soll, sondern, was darin geschieht, oder welche Eigenschaften der letztere hat. 124
Durch die normative Sensibilität der Vernunft vermag die Person, sich in eine reflektierte Distanz zu unmittelbaren Handlungsanreizen zu begeben im Sinne negativer Freiheit: »[S]o gibt die Vernunft nicht demjenigen Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen«; vielmehr besitzt sie die Möglichkeit eines Selbstentwurfs als »das regulative Prinzip der Vernunft« 125 im Sinne positiver Freiheit: Die Vernunft »macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt« 126 , so dass sie sich »in eine Verstandeswelt hinein denkt«, auch wenn sie in diese nicht »hineinschauen« bzw. »hineinempfinden« vermag. 127 Konkrete moralphilosophische Bedeutung erhält der intelligible Charakter im Falle einer »willkürliche[n] Handlung« wie einer »boshafte[n] Lüge«: 128 Durch die Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Charakter kann man »diese Tat […] als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Täter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe« 129 . Der raumund zeitlose intelligible Charakter ermöglicht also durch seine eigene Gesetzlichkeit und seinen substanziellen Status als fundierende In124 Kant, KrV, B 575. Hier ist freilich nicht klar, ob es sich nur um moralisch-normative Imperative oder auch hypothetische Imperative handelt. Doch legen die anderen Stellen nahe, dass im Grunde moralische Bestimmungsgründe gemeint sind und dass die Normativität moralisch zu verstehen ist: »Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist; da hingegen von einer bloßen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muß. Nun muß die Handlung allerdings unter Naturbedingungen möglich sein, wenn auf sie das Sollen gerichtet ist; aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkür selbst, sondern nur die Wirkung und den Erfolg derselben in der Erscheinung.« (Kant, KrV, B 575 f.). 125 Kant, KrV, B 581. 126 Kant, KrV, B 576. 127 Kant, GMS, AA IV, 458. 128 Kant, KrV, B 582. 129 Kant, KrV, B 583.
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stanz die Zuschreibung moralischer Verantwortung angesichts der konkreten Handlung auf der Ebene des empirischen Charakters: Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen […] die Handlung wird seinem intelligibelen Charakter beigemessen, er hat jetzt in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der Tat, völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen. 130
Die freie, moralische qualifizierbare Handlung ist demnach allein der zeitlosen, intelligiblen Tat des intelligiblen Charakters zuzuschreiben. An dieser intelligiblen Instanz greift deshalb das freiheitsskeptische Konsequenz-Argument nicht: »In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich, als Erscheinung, in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und so fern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können« 131 . Mit der strikten Trennung von intelligiblem und empirischem Charakter ist nach Kant zwar die Möglichkeit gegeben, die Vernunft als frei von heteronomen Bestimmungsgründen zu denken. Allerdings wird die konsistente Denkmöglichkeit absoluter Willensfreiheit erkauft zum Preis der prinzipiellen Unverständlichkeit der Freiheit: »Wir können […] mit der Beurteilung freier Handlungen, in Ansehung ihrer Kausalität, nur bis an die intelligibele Ursache, aber nicht über dieselbe hinaus kommen«, wie Kant betont: »Warum […] der intelligibele Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreitet so weit alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten« 132 . Der Grund für diese epistemische Opazität der Freiheitsentscheidung der Willkür liegt darin, dass uns zu dem intelligiblen Charakter die entsprechende empirische Anschauung fehlt. 133 Kant 130 Kant, KrV, B 583. Vgl. auch ebd., B 583 f.: »Man siehet diesem zurechnenden Urteil es leicht an, daß man dabei in Gedanken habe, die Vernunft werde durch alle jene Sinnlichkeit gar nicht affiziert, sie verändere sich nicht […], in ihr gehe kein Zustand vorher, der den folgenden bestimme, mithin gehöre sie gar nicht in die Reihe der sinnlichen Bedingungen, welche die Erscheinungen nach Naturgesetzen notwendig machen.« 131 Kant, KpV, AA V, 98. 132 Kant, KrV, B 585. 133 Vgl. dazu die konzise Zusammenfassung der Kantischen Erkenntnistheorie in
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hat damit die ontologische Freiheitsanforderung, wie es scheint, zum Preis der rationalen Anforderung erkauft. Trotz der epistemischen Hürden kann die Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Charakter nach Kant weiter normativ interpretiert und praktisch motiviert werden. Eine bloß epistemische zwei-Aspekte-Interpretation der beiden Charaktere ist zu schwach, da es sich nach Kant um zwei distinkte Arten von faktischen Kausalitäten und Geprägen handelt, die normative Relevanz besitzen. Eine streng ontologische Interpretation im Sinne von zwei separat von einander existierenden Welten hingegen ist zu stark, da beide Arten von Kausalitäten durch eine Fundierungsrelation vermittelt sind. 134 Im Folgenden sollen deshalb in einer Art Vermittlungsversuch beide Charaktere auf das Vermögen des Willens bezogen und voluntativ interpretiert werden. Kants Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Charakter enthält tiefere normative Implikationen: »Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz […]. Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist, die der Sitten nur auf das, was da sein soll [Hervorh. J. N.].« 135 Diese Unterscheidung wird nun von Kant auf die menschliche Willkür und das praktische Selbstbewusstsein des Menschen angewandt. Eine Willkür, »welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellet werden, bestimmet werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird Praktisch genannt.« 136 Dagegen ist eine Willkür »bloß tierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch, bestimmt werden kann« 137 . Wie sind die Bestimmungsgründe des intelligiblen Charakters näher zu verstehen? Der menschliche Wille bildet zunächst Wünsche erster KrV, B 75: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 134 Zum Problem einer »two-standpoint version of Kant’s theory of freedom« vgl. Frierson (2010), 84. 135 Kant, KrV, B 868. 136 Kant, KrV, B 830. 137 Kant, KrV, B 830. Die Bestimmung des Willens
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Stufe aus: Unsere Natur ist »so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung, oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst […] seine Ansprüche vorher und als die erste und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt ist« 138 . Ein Wesen, welches allein ein solches arbitrium brutum besäße, das nur einen unmittelbar handlungsorientierten Willen bilden könnte, wäre in Frankfurts Terminologie ein bloßer wanton. Der Mensch als freie Person verfügt durch seinen intelligiblen Charakter aber auch über die Möglichkeit, Volitionen zweiter Stufe auszubilden und sich damit zu seinen Wünschen erster Stufe zu verhalten. Eine solche »Freiheit im praktischen Verstande« versteht Kant als »Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«. 139 Praktische Freiheit zeigt sich speziell im Falle von normativen Erwägungen, die eine Aufschiebung und reflexive Distanzierung zu Willenstendenzen erster Stufe ermöglichen. Kant drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: »Denn nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden« 140 . Die Normativität vernünftiger Bestimmungsgründe des Willens wird damit strikt von der Deskriptivität empirischer Bestimmungsgründe unterschieden: »Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht notwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt.« 141 Dieses Verhältnis von empirischem zu intelligiblem Charakter wird von Kant willenstheoretisch weiter ausdifferenziert. Der von Kant kosmologisch hergeleitete Begriff einer Kausalität aus Freiheit wird auf den Willen appliziert und dadurch zu einem Begriff praktischer Freiheit transformiert. Zugleich wird der kausale Aspekt weiter 138 139 140 141
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Kant, KpV, AA V, 74. Kant, KrV, B 562. Kant, KrV, B 830. Kant, KrV, B 576.
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analysiert im Sinne vernünftiger Gründe der Willensbestimmung: »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann« 142 . Der reine Wille als »Vernunftursache« ist frei der »formalen Bedingung nach, d. i. der Allgemeinheit« 143 . Über diesen Begriff von Formalität und Allgemeinheit kann der Begriff positiver Freiheit weiter bestimmt werden, »welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, daß das Prinzip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d. i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als eines Gesetzes, gemäß sei« 144 . Kant identifiziert also die ›Volitionen zweiter Stufe‹ mit der Normativität des Sittengesetzes: Der intelligible Charakter ist »nichts anders, als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft« 145 . Kants Ausführungen über den objektiven Bestimmungsgrund der Willkür als freier Bestimmungsgrund sind jedoch ambivalent und enthalten bereits die entscheidende Problematik für die Frage nach der Zurechenbarkeit guter und böser Handlungen. Kant schreibt dazu in seinen Reflexionen unter dem Titel »Arbitrium« und »Spontaneitas« Folgendes: »Wäre alles durch Vernunft bestimmt, so wäre alles nothwendig, aber auch gut. Wäre es durch die Sinnlichkeit bestimmt, so wäre nichts Böses oder Gutes, überhaupt nichts praktisches. Nun sind die Handlungen durch sinnlichkeit großen Theils veranlaßt, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muß ein complement der Zulänglichkeit geben.« 146 Die Instanz der Freiheitsentscheidung und ihre Regel darf also weder in reiner Vernunftbestimmung noch in rein empirischer Determination bestehen. Der Wille, oder genauer gesagt, die Willkür, wird durch beide Gesetze nicht nezessitiert, sondern nur inkliniert. 147 In Kants Begriff eines »Komplements der Zulänglichkeit« ist jeKant, GMS, AA IV, 446. Kant, GMS, AA IV, 458. 144 Kant, GMS, AA IV, 458. 145 Kant, KpV, AA V, 43. 146 Kant, Refl. 5611, AA XVIII, 252. 147 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Leibniz: »Die geometrischen und metaphysischen Konsequenzen enthalten eine Nötigung (necessitent), die physischen und moralischen aber machen nur geneigt, ohne zu nötigen (inclinent sans necessiter).« (NA II, 21, 155). 142 143
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doch in nuce die gesamte Autonomie-Problematik enthalten. Denn wie ist dieses »Komplement« genau zu denken? Es darf jedenfalls nicht mit reiner Vernunft identisch sein, denn sonst liefe die Willensentscheidung auf einen intelligiblen Fatalismus hinaus – es wäre dann, wie Kant sagt, »alles nothwendig, aber auch gut«. Noch darf das Komplement der Zulänglichkeit in empirischen Bestimmungsgründen gesucht werden – auch hier würde sich dem Subjekt der Freiheit keine freie Wahl der Entscheidung bieten. Das Komplement muss also einem Zwischenbereich zwischen Natur- und Vernunftkausalität entstammen, einem zwar rationalen Vermögen, welches jedoch nicht mit reiner praktischer Vernunft zusammenfällt, insofern es prinzipiell von der Vernunftgesetzlichkeit unabhängig ist und diese nur durch einen Entschluss zu verbindlichen Gesetzen erheben würde. Interpretiert man Kants Begriff eines Komplements der Zulänglichkeit auf diese Weise, so kann man es als eine freie und individuelle Form der Willkür, die auf Gründen beruht, verstehen – also im Sinne eines liberum arbitrium voluntatis. Weiteren Aufschluss über die Struktur dieses gesuchten Komplements der Zulänglichkeit gibt Kants Begriff des intelligiblen Charakters, den er als die der Zurechnung fähige individuelle Instanz anzusehen scheint. Als Ursprungsort besagten Komplements müsste der intelligible Charakter klar von der Allgemeinheit der reinen praktischen Vernunft und ihrem universell gültigen Sittengesetz unterschieden werden im Sinne einer individuellen Vernunft. 148 Ein solcher individueller intelligibler Charakter wäre, wie Markus Willaschek und im Anschluss daran Jens Timmermann vorgeschlagen hat, denkbar im Sinne der »Gesamtheit der zusammenhängenden Gründe, aus denen eine Person handelt« 149 , also der der Gesamtheit der individuell angenommenen und geordneten Maximen. Dieser Interpretation kommt entgegen, dass Kant die »eigentümliche Beschaffenheit« des menschlichen Willens ebenfalls als »Charakter« bezeichnet. 150 Kant spricht außerdem davon, dass die »erste Bemühung bei der moralischen Erziehung« darin bestehen müsse, »einen Charakter 148 Willaschek (1992), 124, spricht in diesem Zusammenhang von einer »intelligible[n] Individualität«: »[W]ährend sich die Vernunft des einen Subjekts nicht von der eines anderen unterscheidet, muß der intelligible Charakter, sowohl der Wortbedeutung als auch der ihm zugedachten Funktion nach, etwas je Individuelles sein.« 149 Willaschek (1992), 247. 150 Kant, GMS, AA IV, 393. Vgl. auch Kant, Refl. 1218, AA XV, 544: »Die Gemüthsart besteht aus lauter Neigung, der Charakter beruht auf Maximen«.
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zu gründen«. 151 Ein solcher Charakter, der aus einem Bildungsprozess entsteht, wäre demnach ein individueller Charakter. Allerdings sieht sich eine solche individualistische Interpretation des intelligiblen Charakters mit großen Problemen konfrontiert, die direkt aus Kants Theorie transzendentaler und praktischer Freiheit folgen. Es stellt sich nämlich die Frage, auf welcher Basis Kant die Individualität des intelligiblen Charakters begrifflich zu leisten vermag. Die Individualität des freien Charakters darf nicht erkauft sein durch die Vermischung mit empirischen, heteronomen Momenten, denn so wäre diese Individualität gerade nicht Ursprungsort des freien Komplements, sondern nur eine unvollkommene Form eines reinen Vernunftideals. Wie kann der Charakter aber außerdem als vernünftig und zugleich individuell bestimmt werden? Kant scheint im Rahmen seines transzendentalen Idealismus keinen Begriff individueller Vernunft zu besitzen; ja, ein solcher Begriff scheint innerhalb der Kantischen Theorie eine contradictio in adiecto darzustellen: Nach Kant ist die Vernunft als »Vermögen der Prinzipien« gerade das Vermögen der Allgemeinheit und Notwendigkeit. 152 Freiheit besteht nach Kant »in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien einer intelligibelen Welt, von der er [der Mensch; J. N.] wohl nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft, das Gesetz gebe«, so dass der Mensch »nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist [Hervorh. J. N.]« 153 . Es wird sich im Folgenden herausstellen, dass die Problematik von Kants Theorie autonomer Vernunft in diesem Spannungsfeld zwischen Individualität und Allgemeinheit des intelligiblen Charakters fundiert ist und seine gesamte Freiheitstheorie auf verschiedenen Ebenen durchzieht. Dies wird besonders im Falle der individuellen Freiheitsentscheidung greifbar, denn eine Freiheit zum Bösen erscheint als unvernünftiger Gebrauch der Vernunft – als contradictio in adiecto.154 Der individuelle Charakter ist also, wie die individuelle Kant, Päd., AA IX, 481. So etwa auch in ihrem logischen Gebrauch: »Die Funktion der Vernunft bei ihren Schlüssen« besteht nach Kant »in der Allgemeinheit der Erkenntnis nach Begriffen« (KrV, B 378). 153 Kant, GMS, AA IV, 457. 154 Vgl. Kant, KdU, AA V, 196: »[D]ie Kausalität der Freiheit (der reinen und praktischen Vernunft) ist die Kausalität einer jener untergeordneten Naturursache (des 151 152
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Willkür und Person, innerhalb von Kants transzendentalem Idealismus eine durch und durch hybride Instanz, deren freiheitstheoretischer und epistemischer Status nur in Relation auf das allgemeine und objektive Sittengesetz positiv bestimmt werden kann.
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Die Ordnung der praktischen Vernunft Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus. 155
Kants Theorie einer praktischen Vernunft erhellt vor dem Hintergrund ihrer empiristischen Infragestellung, wie sie sich paradigmatisch in David Humes Traktat über die menschliche Natur findet. 156 Humes praktischer Skeptizismus lässt sich in einen »inhaltlichen« und einen »motivationalen Skeptizismus« weiter ausdifferenzieren. 157 Er richtet sich gegen die praktische Vernunft (i) als principium diiudicationis – als normatives Beurteilungsprinzip und Kriterium für Moralität –, 158 gegen die praktische Vernunft (ii) als principium specificationis – gegen den Vernunftursprung der objektiven moralischen Prädikate »gut« und »böse« 159 – sowie gegen die praktische Subjekts als Mensch, folglich als Erscheinung betrachtet), von deren Bestimmung das Intelligibele, welches unter der Freiheit gedacht wird, auf eine […] unerklärliche Art den Grund enthält.« 155 Kant, KpV, AA V, 3 f. 156 Humes A Treatise of Human Nature (1739 f.) wird im Folgenden zitiert nach der englischen Ausgabe, ed. Lewis Amherst Selby-Bigge, Second Ed. by Peter H. Nidditch, Oxford 1978 [zitiert unter der Sigle THN mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl]. (Dt.: Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1 u. 2: Über den Verstand; Über die Affekte, Über Moral, übers. von Theodor Lipps, hg. von Reinhard Brandt, Hamburg 1978). 157 Vgl. zur Prägung der Begriffe »content skepticism« und »motivational skepticism« Korsgaard (1986), 5. 158 »’Tis not contrary to reason for me to chuse my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ’Tis as little contrary to reason to prefer even my own acknowledg’d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter.« (Hume, THN II, 416). 159 »Reason is wholly inactive, and can never be the source of so active a principle as conscience, or a sense of morals.« (Hume, THN II, 458). Moralische gute wie böse
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Vernunft (iii) als principium executionis – als das Ausübungsprinzip der Moralität und ihren motivationalen Einfluss auf den Willen 160 . Gegen Humes Skeptizismus setzt sich Kant zum Ziel, »reine Vernunft, ohne Beimischung irgendeines empirischen Bestimmungsgrundes« 161 als praktisch, d. h. als letztlich willensbestimmend und handlungswirksam zu erweisen – und zwar in allen drei von Hume kritisierten Dimensionen. Die Bedeutung, die das Vermögen praktischer Vernunft für Kant besitzt, tritt weiter hervor, wenn man es auf das Vermögen der reinen spekulativen Vernunft bezieht. Auch wenn die Idee der Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft nur als denkmöglich ausgewiesen werden konnte, so bleibt immer noch die Möglichkeit, »zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise […] über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus […] gelangen« 162 . Die spekulative Vernunft hat trotz ihrer immanenten Grenzen »zu solcher Erweiterung« im Sinne des praktischen Vernunftgebrauchs, wie Kant konstatiert, »doch wenigstens Platz verschafft«, wenngleich, wie Kant betont, »sie ihn […] leer lassen mußte«. 163 Wir sind deshalb, so Kant mit Blick auf die spekulative Vernunft weiter, »durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir können, auszufüllen« 164 . Die theoretische Restriktion reiner Vernunft in ihrer Erkenntnisfunktion lässt sich als impliziter Verweis auf einen anderen – praktischen – Bereich verstehen, so dass es möglich ist, die »Weigerung unserer [theoretischen; J. N.] Vernunft, den neugierigen über dieses Leben hinaus reichenden Fragen befriedigende Antwort zu geben, als einen Wink derselben anzusehen, unser Selbsterkenntnis von der fruchtlosen überschwenglichen Spekulation zum fruchtbaren praktischen Gebrauche Sachverhalte sind demnach »the object of feeling, not of reason« (Hume, THN II, 469). 160 Hume argumentiert demzufolge dafür, »that reason alone can never be a motive to any action of the will; and […] that it can never oppose passion in the direction of the will.« (THN II, 413); Vgl. auch folgende Bestimmungen: »[R]eason alone can never produce any action, or give rise to volition« (THN II, 414); »Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.« (THN II, 415). 161 Kant, KpV, AA V, 90. 162 Kant, KrV, B XXI. 163 Kant, KrV, B XXI. 164 Kant, KrV, B XXI f. Die Bestimmung des Willens
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anzuwenden« 165 , da die spekulative Vernunft »diesen Gedanken [der Freiheit; J. N.] nicht realisieren, d. h. ihn nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens, auch nur bloß seiner Möglichkeit nach, verwandeln konnte« 166 . Kants Freiheitsbegriff basiert auf der Unterscheidung zwischen einem theoretischen und einem praktischen Gebrauch der Vernunft. In der Naturerkenntnis, in der es um die »Prinzipien dessen, was geschieht« geht, ist der Gebrauch der Vernunft »theoretisch und durch die Beschaffenheit der Objekte bestimmt« 167 , geschieht also nicht gänzlich autonom und absolut spontan, sondern in wesentlichen Momenten heteronom. »Mit dem praktischen Gebrauche der Vernunft«, so Kant, »verhält es sich schon anders«, denn hier »beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben […], d. i. seine Kausalität zu bestimmen« 168 , wodurch »a priori erkannt wird, was geschehen solle« und nicht allein – wie im Falle des theoretischen Gebrauchs – »was da ist«. 169 Zwischen dem theoretischen und dem praktischen Vernunftgebrauch besteht also eine fundamentale Asymmetrie zugunsten der praktischen Seite, »weil praktische Vernunft es nicht mit Gegenständen, sie zu erkennen, sondern mit ihrem eigenen Vermögen, jene (der Erkenntnis derselben gemäß) wirklich zu machen, d. i. es mit einem Willen zu tun hat, welcher eine Kausalität ist, so fern Vernunft den Bestimmungsgrund derselben enthält« 170 . Der reine praktische Gebrauch der Vernunft ist genau dadurch vor dem theoretischen ausgezeichnet, dass er keine empirisch gegebene Anschauung benötigt, um realisiert werden zu können, sondern auf das Vermögen des Willens, gleich einem teleologischen bestimmbaren Medium – einem arbitrium liberum – als Operationsweise angewendet werden kann. Die empirisch praktische Vernunft hingegen ist »pathologisch bedingt«, insofern sie in diesem Gebrauch nur »das Interesse der Neigungen unter dem sinnlichen Prinzip der Glückseligkeit« verwaltet, also nicht 165 166 167 168 169 170
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Kant, KrV, B 421. Kant, KpV, AA V, 49. Kant, KpV, AA V, 19 f. Kant, KpV, AA V, 15. Kant, KrV, B 661. Kant, KpV, AA V, 89.
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selbstzweckhaft, sondern nur als Mittel zum Zweck fungiert 171 – sie erfüllt hier, mit Hume gesprochen, nur die Funktion einer Sklavin der Affekte und »wäre alsdenn nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, aufzurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen« 172 . War in der Auflösung der Dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft transzendentale Freiheit als absolute Spontaneität der Ursachen und Kausalität der Vernunft zumindest als denkmöglich ausgewiesen worden, so kommt es in der Kritik der praktischen Vernunft darauf an, »daß dieses [in der Kritik der reinen Vernunft aufgezeigte; J. N.] Können in ein Sein verwandelt würde, d. i. daß man in einem wirklichen Falle, gleichsam durch ein Faktum, beweisen könne: daß gewisse Handlungen eine solche Kausalität (die intellektuelle, sinnlich unbedingte) voraussetzen« 173 . Es gilt deshalb nach Kant zu zeigen, »daß reine Vernunft […] allein, und nicht die empirisch-beschränkte, unbedingterweise praktisch sei« 174 . Theoretischer Ansatzpunkt bei diesem Aufweis des reinen praktischen Vernunftgebrauchs ist der Begriff des Willens; in diesem »ist der Begriff der Kausalität schon enthalten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einer Kausalität mit Freiheit, d. i. die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar, folglich keiner empirischen Anschauung, als Beweises seiner Realität, fähig ist« 175 . Der Wille stellt damit eine Zwischeninstanz dar, die es der reinen Vernunft erlaubt, a priori tätig zu werden; er stellt dabei gewissermaßen ein freies ›Anschauungsmaterial‹ dar, welches erst durch den reinen praktischen Vernunftgebrauch seine (autonome) Gesetzlichkeit verliehen bekommt. Worin bestehen die »praktische[n] Data« der Vernunft, welche die Leerstelle einer transzendentalen Freiheit nach Kant konkret »auszufüllen« vermögen? 176 »Diesen leeren Platz«, so Kant, »füllt nun reine praktische Vernunft, durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität in einer intelligibelen Welt (durch Freiheit), nämlich das mora-
171 172 173 174 175 176
Kant, KpV, AA V, 120. Kant, KpV, AA V, 61 f. Kant, KpV, AA V, 104. Kant, KpV, AA V, 15. Kant, KpV, AA V, 55. Kant, KrV, B XXII.
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lische Gesetz aus« 177 . Das Pleroma der theoretisch-spekulativen Leerstelle menschlicher Freiheit bildet im praktischen Vernunftgebrauch »das Bewußtsein« des moralischen Gesetzes und seinem Anspruch auf unbedingte Geltung, welches Kant als »Faktum der Vernunft« bezeichnet. 178 Es kann als eine Art ›praktischer Anschauung‹ verstanden werden, welche zu einer »Realisierung des sonst transzendenten Begriffs der Freiheit« 179 durch das Sittengesetz führt. Das Faktum der Vernunft als unmittelbar zum Bewusstsein kommende Normativität der Moral ist das fundamentum inconcussum der Freiheit, jedoch nicht im Sinne eines theoretischen Fundaments à la Descartes, sondern in Art eines praktischen Selbstbewusstseins. Es handelt sich bei diesem Faktum um einen »Grundsatz«, der, anders als bei Descartes, »keines Suchens und keiner Erfindung« bedarf, sondern »längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt« ist – einen »Grundsatz der Sittlichkeit«. 180 Das Faktum der Vernunft als praktisches Selbstbewusstsein lässt sich näherhin als eine »Willensbestimmung« charakterisieren, »die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht«. 181 Durch dieses vernünftige Faktum erhält die bloß denkmögliche Idee transzendentaler Freiheit, die wegen der fehlenden Anschauung ›leer‹ bleiben musste, »in praktischer Beziehung«, wie Kant sagt, »Bedeutung« 182 und »objektive Realität« 183 , ja »ihre volle Bestätigung« 184 . Kant selbst zeigt sich über diese komplementäre Funktion des Faktums der Vernunft, die eine Analyse des praktischen Vernunftgebrauchs erbrachte, erstaunt, da »jeder Schritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar im praktischen Felde, wo man auf subtile Spekulation gar nicht Rücksicht nimmt, dennoch sich so genau und zwar von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mit überlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zu verschaffen, ausgedacht wäre« 185 . Im Bereich des Wirkens reiner praktischer Vernunft, so Kant, »erklärt sich auch allererst 177 178 179 180 181 182 183 184 185
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Kant, KpV, AA V, 49. Kant, KpV, AA V, 31. Kant, KpV, AA V, 94 Kant, KpV, AA V, 105. Kant, KpV, AA V, 55. Kant, KpV, AA V, 56 Kant, KpV, AA V, 47. Kant, KpV, AA V, 6. Kant, KpV, AA V, 106.
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das Rätsel der Kritik, wie man dem übersinnlichen Gebrauche der Kategorien in der Spekulation objektive Realität absprechen, und ihnen doch, in Ansehung der Objekte der reinen praktischen Vernunft, diese Realität zugestehen könne« 186 . Es handelt sich dabei, wie Kant in der Kritischen Beleuchtung der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft rückblickend dem Leser versichert, um eine »auf keinerlei Weise gesuchte, sondern […] sich von selbst findende, genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen Vernunft, mit denen oft zu subtil und unnötig scheinenden Bemerkungen der Kritik der spekulativen«, welche »überrascht« und »in Verwunderung« setzt. 187 Durch die Vollendungsfunktion der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch macht »[d]er Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, […] nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus« 188 . Es ist nach Kant also faktisch so, dass reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch den menschlichen Willen zu bestimmen vermag, womit autonome Willensbestimmung als prinzipiell gesichert gelten darf. Durch die Faktizität reiner Vernunft lässt sich für Kant das grundlegende Autonomie-Problem eines infiniten Regresses immer höherstufiger Bestimmungsgründe vermeiden, denn es eröffnet eine ›wesentliche‹ Dimension des Willens, welche nicht mehr weiter hintergangen werden kann, ohne die Willensstruktur selbst zu unterminieren. Hier schließt sich jedoch die Frage an, wie diese Willensbestimmung konkret gedacht werden muss. Der Nachvollzug dieser Willensbestimmung zur Handlung durch reine praktische Vernunft erweist sich als überaus problematisch, denn vom Verhältnis des Intelligiblen zum Empirischen existiert wegen der fehlenden Anschauung keine theoretische Erkenntnis. Allein der praktische Gebrauch der Vernunft erlaubt es, dieses Verhältnis zu verstehen, wenn auch nicht naturgesetzlich, durch den theoretischen Gebrauch der Vernunft, zu erklären. 189 Kant, KpV, AA V, 5. Kant, KpV, AA V, 106. 188 Kant, KpV, AA V, 3 f. 189 Kant, KpV, AA V, 50. Die Bedeutung des Faktums der Vernunft besteht epistemologisch in der Kompensation des fehlenden Vermögens der intellektuellen Anschauung. Durch das Vermögen einer »intellektuellen Anschauung«, welches dem Menschen nicht gegeben ist, »würden wir doch inne werden, daß diese ganze Kette von 186 187
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Durch die Evidenz des Faktums der Vernunft lässt sich, gleich einem praktischen ›Wink‹, das Sittengesetz im Sinne der gesuchten Kausalität aus Freiheit am Leitfaden des Willens weiter analysieren. Die praktische Vernunft ist, wie Kant sagt, »befugt«, vom Begriff einer Kausalität »keinen anderen Gebrauch als in Beziehung auf das moralische Gesetz, das seine Realität bestimmt, d. i. nur einen praktischen Gebrauch zu machen« 190 . Reine praktische Vernunft kann vom Begriff einer Kausalität aus Freiheit insofern Gebrauch machen, als sie »von dessen Anwendung auf Objekte zum Behuf theoretischer Erkenntnisse hier abstrahieren kann«, »weil dieser Begriff immer im Verstande, auch unabhängig von aller Anschauung, a priori angetroffen wird«. 191 Die Kategorie der Kausalität muss also nicht erst »auf Anschauungen warten«, »um Bedeutung zu bekommen« 192 ; vielmehr kann sie autonom auf die Struktur des Willens angewendet werden, wodurch sich praktische Erkenntnis im Modus der Hervorbringung vollzieht: Der Unterschied also zwischen den Gesetzen einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist, und einer Natur, die einem Willen (in Ansehung dessen, was Beziehung desselben auf seine freien Handlungen hat) unterworfen ist, beruht darauf, daß bei jener die Objekte Ursachen der Vorstellungen sein müssen, die den Willen bestimmen, bei dieser aber der Wille Ursache von den Objekten sein soll, so daß die Kausalität desselben ihren Bestimmungsgrund lediglich in reinem Vernunftvermögen liegen hat, welches deshalb auch eine reine praktische Vernunft genannt werden kann. 193
Wie ist diese Hervorbringung des Willens als Kausalität der Vernunft zu verstehen? Die »positive Bestimmung« des Begriffs einer transzendentalen Freiheit im Sinne praktischer Freiheit besteht nach Kant in »einer den Willen unmittelbar […] bestimmenden Vernunft«, wodurch sie »ihren transzendenten Gebrauch in einen immanenten (im Erscheinungen in Ansehung dessen, was nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneität des Subjekts, als Dinges an sich selbst, abhängt, von deren Bestimmung sich gar keine physische Erklärung geben läßt. In Ermangelung dieser Anschauung versichert uns das moralische Gesetz diesen Unterschied der Beziehung unserer Handlungen, als Erscheinungen, auf das Sinnenwesen unseres Subjekts, von derjenigen, dadurch dieses Sinnenwesen selbst auf das intelligibele Substrat in uns bezogen wird.« (Kant, KpV, AA V, 99). 190 Kant, KpV, AA V, 56 191 Kant, KpV, AA V, 49. 192 Kant, KpV, AA V, 66. 193 Kant, KpV, AA V, 44.
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Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursache zu sein) verwandelt«. 194 Die Kausalität aus Freiheit differenziert sich am Leitfaden reiner praktischer Vernunft im Medium des reinen Willens immer weiter aus, bis hin zur Verwirklichung in der konkreten Handlung. Ausgangspunkt für die Formierung einer so verstandenen Kausalität ist nach Kant der menschliche Akteur, bei dem »die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt« 195 , wodurch die Art der »Abhängigkeit des Willens von Prinzipien der Vernunft« 196 thematisch wird. Die spezifische Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft ist diejenige des Vermögens der Freiheit, d. h. der vollständigen Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz. Als Vermögen der Freiheit im Sinne einer vernunftkausalen Realisierung des Sittengesetzes ist der Wille genauer »ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt« 197 . Kants Begriff des Vermögens darf hier also nicht mit der bloßen Möglichkeit gleichgesetzt werden, sondern bedeutet die kausale Kraft oder das Wesen des freien Willens, im Sinne der Willensstärke. 198 Die dabei entscheidenden »erste[n] Frage[n]« eines solchen Vermögens der Freiheit lauten, »ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne« 199 bzw. »wie reine Vernunft praktisch, d. i. unmittelbar willensbestimmend sein könne« 200 . Um zu zeigen, wie reine Vernunft »im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursache« 201 sein könne, muss die transzendentale Kausalität aus Freiheit in praktischer Hinsicht als vernünftige Bestimmung des Willens bis zur Handlung expliziert werden im SinKant, KpV, AA V, 48 Kant, KpV, AA V, 79. 196 KantGMS, AA IV, 413 197 Kant, GMS, AA IV, 412. 198 Vgl. Kant, GMS, AA IV, 389, wonach der Mensch, »als selbst mit so vielen Neigungen affiziert, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen.« 199 Kant, KpV, AA V, 15. 200 Kant, KpV, AA V, 46. Vgl. auch Kant, KpV, AA V, 45. Vgl. dazu Kant, KpV, AA V, 72 sowie Kant, GMS, AA IV, 458 f. 201 Kant, KpV, AA V, 48. 194 195
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ne einer willenstheoretischen Analyse des Faktums der Vernunft. Damit schlägt die praktische Vernunft eine Brücke von der Objektivität und Allgemeinheit des Sittengesetzes hin zur konkreten empirischen Handlung in der Sinnenwelt: 202 Praktische Vernunft erweist sich im wahrsten Sinne des Wortes als ›praktisch‹, d. h. handlungswirksam, insofern sie schließlich eine »Tat hervorbringen« 203 kann. 204 Speziell gewinnt die Wirkungsweise reiner praktischer Vernunft im direkten Vergleich mit dem Unternehmen einer Kritik der reinen spekulativen Vernunft an Profil. Kant betont immer wieder die Parallelen, aber auch die gewichtigen Unterschiede beider Weisen des Vernunftgebrauchs, was sich nicht nur im Titel der beiden Kritiken niederschlägt, sondern auch in der Struktur und Anlage der Schriften. Man kann deshalb von einer spezifischen Ordnungslogik der Kritik der praktischen Vernunft sprechen, die allein im systematischen Vergleich mit der ersten Kritik – dem abwechselnden Aufzeigen von Analogien, Parallelen und Differenzen – ihre spezifische Prägnanz und Motivation erhält. 205 Im Vergleich des praktischen mit dem theoretischen Vernunftgebrauch ergeben sich »bei einer merkwürdigen Analogie […] nicht weniger merkwürdige Unterschiede« 206 , welche Kant auch als das »Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft« 207 bezeichnet. Worin bestehen diese »merkwürdigen« Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Kritiken? Die Analytik der praktischen Vernunft teilt, so Kant, »ganz analogisch mit der theoretischen den ganzen Umfang aller Bedingungen ihres Gebrauchs« – darin liegt die Analogie –, »aber«, wie Kant betont, »in umgekehrter Ord-
202 Vgl. zu diesem ›metaphysischen‹ Übergang allgemein Lauener (1981), aber auch Buchheim (2002), 384. 203 Kant, KpV, AA V, 49. 204 Vgl. dazu auch Bojanowski (2006), 30: »Wenn Kant die positive Freiheit als das ›Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein‹ definiert, ist, wie sich zeigen wird, mit der Praktizität der Vernunft mehr als nur das Hervorbringen eines mentalen Zustandes, einer ›Pro-Einstellung‹ zu einer begehrten Handlungsalternative gemeint. Vielmehr ist damit impliziert, daß reine Vernunft handlungswirksam sein kann und genau diese mögliche Handlungswirksamkeit der reinen Vernunft ist die positive Definition der (absoluten) Freiheit unseres Willens.« 205 Neben dem theoretischen »Vermögen einer reinen Vernunfterkenntnis« ist in praktischer Hinsicht die »natürliche Menschenvernunft« zentral (KpV, AA V, 91). 206 Kant, KpV, AA V, 91. 207 Kant, KpV, AA V, 62.
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nung« 208 – darin besteht der Unterschied. Diese veränderte Ordnung der ansonsten strukturgleichen Systemteile rührt von einer diametral entgegengesetzten Ausgangslage her, da der praktische Gebrauch der Vernunft durch das Faktum der Vernunft versichert »von reinen praktischen Gesetzen und deren Wirklichkeit anfangen« 209 kann, während der theoretische Gebrauch ohne entsprechende Anschauung »leer« ist. Während der reine Gebrauch der theoretischen Vernunft auf Grund der fehlenden Anschauung in eine Dialektik führt, die Vernunft also transzendent wird, insofern ihren Ideen keine Anschauung mehr unterlegt werden kann, so herrscht im Falle des praktischen Gebrauchs der Vernunft »gerade das umgekehrte Verhältnis« 210 : Hier ist es die praktische Vernunft, die den Hang besitzt, als empirisch bedingte Vernunft wirksam zu werden, weshalb Kant »nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern nur der praktischen Vernunft überhaupt« 211 unternimmt. Das Ziel einer Kritik der praktischen Vernunft besteht darin, »bloß dar[zu]tun, daß es reine praktische Vernunft gebe« 212 , und dass sie »für sich, unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne« 213 . Worin besteht diese veränderte Ordnung der praktischen Vernunftkritik gegenüber der theoretischen genau? Während die Analyse des theoretischen Vernunftgebrauchs in der Transzendentalen Ästhetik mit einer Klärung der empirischen Ausgangsbasis beschäftigt war, an welche sich die Analytik der Begriffe und die Analytik der Grundsätze anschlossen, so muss die Analytik des praktischen Vernunftgebrauchs »von Grundsätzen anfangend zu Begriffen und von diesen allererst, wo möglich, zu den Sinnen gehen«, wovon der Grund darin besteht, »daß wir es jetzt mit einem Willen zu tun haben, und die Vernunft nicht im Verhältnis auf Gegenstände, sondern auf diesen Willen und dessen Kausalität zu erwägen haben«. 214 Insofern der praktische Vernunftgebrauch an der teleologisch offenen Struktur des durch vernünftige Gründe prinzipiell bestimmbaren 208 Kant, KpV, AA V, 90. Vgl. zur »umgekehrten Ordnung« beider Analytiken auch Kant, KpV, AA V, 16. 209 Kant, KpV, AA V, 46. Vgl. auch KrV, B 75: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 210 Kant, KpV, AA V, 16. 211 Kant, KpV, AA V, 3. 212 Kant, KpV, AA V, 3. 213 Kant, KpV, AA V, 42. 214 Kant, KpV, AA V, 16.
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Willens ansetzt, macht das Faktum der Vernunft als »ein reiner praktischer Grundsatz«, so Kant, »hier unvermeidlich den Anfang, und bestimmt die Gegenstände, worauf er allein bezogen werden kann«. 215 Aus dieser volitionalen Perspektive praktischer Vernunft kann auch das Moment der Anschauung auf grundsätzlich andere Weise, d. h. autonom bestimmt werden, denn »hier wird die Sinnlichkeit gar nicht als Anschauungsfähigkeit, sondern bloß als Gefühl (das ein subjektiver Grund des Begehrens sein kann) betrachtet« in Art einer »Ästhetik der reinen praktischen Vernunft«. 216 Die umgekehrt zur Analytik der Kritik der reinen Vernunft stehende Systemlogik des praktischen Vernunftgebrauchs erlaubt nach Kant eine interessante Parallelisierung: Ihre »Einteilung« entspricht, so Kants Analogie, »der eines Vernunftschlusses«, der sich »vom Allgemeinen im Obersatze (dem moralischen Prinzip) durch eine im Untersatze vorgenommene Subsumtion möglicher Handlungen (als guter und böser) unter jenen zu dem Schlußsatze, nämlich der subjektiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktischmöglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime)« 217 quasi-deduktiv vollzieht. Die Besonderheit dieses Vernunftschlusses des praktischen Vernunftgebrauchs besteht darin, dass die Konklusion nicht, wie bei einem theoretischen Vernunftschluss, aus etwas Bedingtem (einer Verstandesregel) abgeleitet, sondern durch etwas Unbedingtes (das Sittengesetz) hervorgebracht wird. Dieser praktische Vernunftschluss lässt sich als praktische Erkenntnis, als eine apriorisch-voluntative Konstruktion im Medium des Faktums der Vernunft verstehen, deren verschiedene logische Schritte Momente einer Kausalität aus Freiheit konstituieren. 218 Ein solcher volitionaler Vernunftschluss kann als eine Konkretisierung und Zuspitzung reiner praktischer Vernunft vom universellen und absolut gültigen Sittengesetz, über die objektive Willensspezifikation schließlich hin zur subjektiven Motivation der moralisch guten Handlung angesehen werden, im Sinne
Kant, KpV, AA V, 16. Kant, KpV, AA V, 90. 217 Kant, KpV, AA V, 90. 218 Vgl. dazu Kants allgemeine Bestimmung des Vernunftschlusses: »In jedem Vernunftschlusse denke ich zuerst eine Regel (major) durch den Verstand. Zweitens subsumiere ich ein Erkenntnis unter die Bedingung der Regel (minor) vermittelst der Urteilskraft. Endlich bestimme ich mein Erkenntnis durch das Prädikat der Regel (conclusio), mithin a priori durch die Vernunft.« (Kant, KrV, B 360 f.). 215 216
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einer raum- und zeitlosen intelligiblen Tat. 219 Der praktische Gebrauch der Vernunft leistet also keine Objekterkenntnis der Dinge, wie sie sind, sondern Erkenntnis darüber, was wir tun sollen und ist im Falle des Gelingens der Erkenntnis eine Hervorbringung von moralischen Gesinnungen und Motivationen, die schließlich in eine konkrete moralische Handlung münden. In Analogie zu besagtem »Vernunftschluss« lässt sich reine praktische Vernunft bei ihrer Konstruktion einer Kausalität aus Freiheit in drei Momente einer »Bildungsgeschichte« 220 des Willens unterscheiden. Die Realität praktischer Freiheit kann demnach als ein komplexes Projekt einer kausalen Bestimmungsanreicherung des Willens verstanden werden. Kant fasst den dreistufigen Prozess der prinzipiell überschüssigen, aus sich selbst heraus praktisch werdenden Vernunft folgendermaßen zusammen: Das moralische Gesetz, so wie es [i] formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es [ii] zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen ist, so ist es [iii] auch subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die Sinnlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist. 221
Die Abfolge dieser drei Stationen der rein-vernünftigen Willensbestimmung ist nun nicht zeitlich und additiv zu verstehen, sondern im holistischen Sinne von willenslogischen Momenten, die erst in ihrer Einheit die Autonomie der Vernunft konstituieren. Es gilt, dass hierbei »die Grundsätze der empirisch unbedingten Kausalität den Anfang machen müssen, nach welchem der Versuch gemacht werden kann, unsere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens, ihrer Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subjekt
219 Es bleibt hier die Frage offen, ob die praktische Vernunft in ihrer Analytizität auch einen »Fehlschluss« produzieren kann, indem sie am Ende nicht zu einer guten, sondern bösen Gesinnung und Handlung führt. Vgl. zur Architektonik der Analytik auch Metz (2004), 141. 220 Kaulbach (1988), 182. 221 Kant, KpV, AA V, 75. Auf diese Folge der drei Bestimmungsgründe haben Lauener (1981), 260 und Metz (2004), 142, hingewiesen, dabei jedoch nur die moralphilosophische und systemarchitektonische, nicht aber die eminente freiheits- und autonomietheoretische Bedeutung dieser Stationen behandelt.
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und dessen Sinnlichkeit, allererst festzusetzen« 222 . Der normativkausale Überschuss reiner praktischer Vernunft ›ergießt‹ sich gewissermaßen über drei Stufen auf den Boden der empirischen Wirklichkeit und Handlung: 223 Das erste Moment des praktisch-Werdens reiner Vernunft stellt das principium diiudicationis, d. h. die allgemeine und formale Erkenntnisfunktion des Sittengesetzes als kategorischer Imperativ dar – dies wird im ersten Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft entfaltet. Das zweite Moment leistet die konkrete und materiale Gegenstandserkenntnis im Sinne möglicher Willensgesinnungen des Guten und Bösen – ein Prinzip, welches in Anlehnung an die thomanische Freiheitstheorie als principium specificationis bezeichnet werden kann und Inhalt des zweiten Hauptstücks der Analytik ist. Schließlich muss, damit reine Vernunft wirklich praktisch werden kann, diese Willensgesinnung zu einer Handlung motiviert werden. Dies geschieht im dritten Hauptstück von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft, worin die Leistung eines principium executionis begründet liegt. 224 Kant dekliniert damit vernunfttheoretisch das liberum arbitrium voluntatis im Zuge der drei Hauptstücke. Der praktische Erkenntnisvorgang reiner Vernunft erweist sich also in letzter Konsequenz als ein kausales, apriorisches Hervorbringen einer Handlung. Nichts anderes bedeutet Kants Rede davon, dass reine Vernunft praktisch zu werden vermag. Kants auf den ersten Blick opaker Begriff einer »Kausalität aus Freiheit« bzw. einer »Kausalität der Vernunft« lässt sich gemäß dieser drei Stationen in drei Kausalitätskomponenten zerlegen: in eine causa formalis (das formale Sittengesetz); eine causa specificationis (die Kant, KpV, AA V, 16. Vgl. hierzu die Entsprechung einer indeterminatio superabundantis sufficientiae nach Duns Scotus, QLMA IX, 36, 69. 224 Vgl. Kants Zusammenfassung in der Metaphysik der Sitten: »Zu aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder äußere Handlungen und diese entweder a priori durch bloße Vernunft, oder durch die Willkür eines andern vorschreiben) gehören zwei Stücke: erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft; mithin ist das zweite Stück dieses: daß das Gesetz die Pflicht zur Triebfeder macht. Durch das erstere wird die Handlung als Pflicht vorgestellt, welches ein bloßes theoretisches Erkenntnis der möglichen Bestimmung der Willkür, d. i. praktischer Regeln, ist: durch das zweite wird die Verbindlichkeit so zu handeln mit einem Bestimmungsgrunde der Willkür überhaupt im Subjekte verbunden.« (MdS, AA VI, 218). 222 223
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selbst hervorgebrachten Gegenstände der reinen praktischen Vernunft) und eine causa efficiens (die moralische Triebfeder, das vernunftgewirkte Gefühl der Achtung als principium executionis). 225 Die drei Hauptstücke der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft sind also komplementär im Sinne einer sich zuspitzenden Klimax angeordnet, wobei die vollständige vernünftige Willensbestimmung erst im dritten Hauptstück, in Kants Theorie der Achtung, erreicht wird. Jeder dieser einzelnen Bestimmungsgründe ist für sich genommen notwendig; erst zusammengenommen enthält reine praktische Vernunft einen »zur Willensbestimmung hinreichenden Grund« 226 . Die Analytik beschreibt damit den erfolgreichen Bildungsgang eines empirischen Willens zu einem reinen Willen und intelligiblen Charakter und die Auswirkungen desselben in der Handlung – sie beschreibt zusammengenommen das Vermögen der Freiheit.
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Der formale Bestimmungsgrund des Willens
Das Erste Hauptstück der Analytik entwirft einen komplexen praktischen Erkenntniszusammenhang: Es stellt die formalen und kriteriellen Rahmenbedingungen sowie die Methode dar, gemäß deren die autonome Willensbestimmung zu erfolgen hat. Die Funktion dieses Hauptstücks besteht also zunächst nur in einer orientierenden und einer begründenden Aufgabe: Es sollen diejenigen Bestimmungsgründe des Willens identifiziert und epistemisch ausgezeichnet werden, die sich für eine autonome Willensbestimmung eignen, denn praktische Erkenntnis ist eine Erkenntnis, »welche es bloß mit Bestimmungsgründen des Willens zu tun hat« 227 . Sie betrifft als praktische Erkenntnis zu realisierende bzw. hervorzubringende Zwecke und Handlungen, während die theoretische Naturerkenntnis es mit gegebenen Objekten zu tun hat, die erkannt werden sollen. Der Bereich praktischer Bestimmungsgründe konstituiert in moderner Begrifflichkeit den normativen Bereich der Volitionen zweiter Stufe, deren Ausbildung überhaupt erst Autonomie des Wil225 Vgl. zur Möglichkeit einer kausalitätstheoretischen Interpretation der Bestimmungsgründe des Willens auch Lee (1987), 233. 226 Kant, KpV, AA V, 19. 227 Kant, KpV, AA V, 20.
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lens zulässt. Das praktische Selbstbewusstsein als Faktum der Vernunft lässt sich freiheitstheoretisch als Bestätigung und Verifizierung der Existenz von Volitionen zweiter Stufe verstehen. Den epistemischen Ausgangspunkt autonomer Willensbestimmung bildet das »Faktum der Vernunft« als die unmittelbare Gewissheit der Verbindlichkeit und Existenz moralischer Normativität im Sinne des Sittengesetzes. Dieser Ansatzpunkt des Faktums reiner Vernunft lässt sich als Beginn der Formierung einer Kausalität aus Freiheit verstehen, insofern damit – gleich einem »Wink« der Vernunft – die richtige Bahn des Willensbildungsprozesses gewiesen und ein Erkenntniszusammenhang eröffnet wird. Durch das Faktum der Vernunft wird die interne Differenzierung des Willens in Form der Unterscheidung von unterem und oberem Begehrungsvermögen epistemisch zugänglich, zusammen mit der darauf bezogenen Unterscheidung von materialen und formalen Bestimmungsgründen des Willens: »Alle materiale praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen, und, gäbe es gar keine bloß formale Gesetze derselben, die den Willen hinreichend bestimmeten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können.« 228 Unter »Materie« versteht Kant dabei ein konkretes Objekt, »einen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird« 229 . Materiale Bestimmungsgründe, die Kant auch als »Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes« 230 bestimmt, sind unmittelbar objektorientiert und erlauben noch keine autonome Willensbestimmung, »weil sie [die Lust; J. N.] von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt« 231 und »alle Gesetze, die auf ein Objekt bestimmt sind, Heteronomie geben« 232 . Das heteronom bestimmte Subjekt steht willentlich in keiner potentiell reflexiven und diese suspendierenden Distanz zu seinen Neigungen, sondern folgt diesen ›Volitionen erster Stufe‹ unmittelbar. 233 Einen praktischen Gebrauch der Vernunft angesichts dieser materialen Bestimmungsgründe bezeichnet Kant als
Kant, KpV, AA V, 22. Kant, KpV, AA V, 21. 230 Kant, KpV, AA V, 21. 231 Kant, KpV, AA V, 22. 232 Kant, GMS, AA IV, 458. 233 Es fehlt dem Akteur auf dieser Stufe also das, was Locke als Vermögen der Suspendierung von Präferenzen erster Ordnung und als »the source of all liberty« bezeichnet hatte. 228 229
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»hypothetisch« bzw. »bedingt«, und zwar insofern, als diese den Willen »nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen«. 234 Bestimmungsgründe des unteren Begehrungsvermögens versteht Kant als dem vernünftigen Subjekt externe Einflüsse im Sinne von »pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen«, so dass ihre Befolgung ein Sprung in die Heteronomie bedeutet. 235 Autonome Willensbestimmung ist also nur unter Ausschluss von kontingenten Vorgaben des Willens möglich. Durch die Unterscheidung eines oberen von einem unteren Begehrungsvermögen eröffnet Kant den Raum für Prinzipien, die nicht unmittelbar die Handlung empirisch bestimmen, sondern »das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen« darstellen, »nach dem es handeln soll« 236 . Unteres und oberes Begehrungsvermögen sind nun aber nicht im Sinne von zwei ontologisch verschiedenen Vermögen zu denken, sondern nur Stufen ein und desselben Willens, eines liberum arbitrium, welches durch materiale Zwecke nicht nezessitiert wird, sondern prinzipiell durch reine Vernunft bestimmt werden kann. Aus der Differenz beider Willensstufen heraus erhellt erst Kants Begriff der Autonomie sowie der negativen und positiven Freiheit: Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze […]; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und als solche, praktischen Vernunft, ist Freiheit im positiven Verstande. 237
Während das untere Begehrungsvermögen durch materiale Bestimmungsgründe, d. h. konkrete, an Lust und Unlust gebundene Zwecke im Sinne der »Vorstellung des Angenehmen und Unangenehmen« affiziert ist, wird das obere Begehrungsvermögen nur durch solche Gründe bestimmt, die von aller Materie abstrahieren, d. h. »durch 234 235 236 237
Kant, KpV, AA V, 20. Kant, KpV, AA V, 20. Kant, GMS, AA IV, 420 f. Vgl. auch Kant, KpV, AA V, 19. Kant, KpV, AA V, 33.
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die bloße Form der praktischen Regel« bestimmend ist. 238 Ein solches »wahres oberes Begehrungsvermögen«, welches den Bereich von Volitionen zweiter Stufe markiert, ist mit praktischer Vernunft dann und nur dann identisch, wenn diese »nicht im Dienste der Neigungen ist«. 239 An dieser Stelle führt Kant den für sein Willensprojekt zentralen Begriff der Maxime ein. Die Ausgangsbasis des menschlichen Wollens stellen unmittelbar handlungsbezogene materiale Interessen dar. Um überhaupt handeln zu können, müssen wir unsere Neigungen auf einen bestimmten Zweck hinordnen, denn ansonsten wäre der Wille angesichts seiner zahlreichen Inklinationen gespalten und käme zu keiner Entscheidung. Diese Ordnung und Bündelung der Neigungen zu einer handlungsleitenden Regel des Wollens, welche sich begrifflich artikuliert, fasst Kant unter den Begriff der Maxime. Eine Maxime ist, wie Kant selbst sagt, »das subjektive Prinzip des Wollens« 240 und »der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt« 241 . Maximen sind nur »generelle, aber niemals universelle Regeln« 242 , insofern sie immer gegenstandsbezogen und daher »bloße Maximen [Hervorh. J. N.]« 243 sind. 244 Während auf Basis von bloßen Maximen nur Handlungsfreiheit realisiert werden kann, besteht die Dimension des autonomen WilKant, KpV, AA V, 24. Kant, KpV, AA V, 25. 240 Kant, GMS, AA IV, 400 Fn. Vgl. zum voluntativen Status der Maxime auch Höffe (1977), 361: »Die Maxime bezeichnet eine allgemeine Willenshaltung, die einer Vielzahl und auch Vielfalt von Absichten und Handlungen ihren gemeinsamen Richtungssinn verleiht.« 241 Kant, GMS, AA IV, 420 f. Vgl. auch Kant, KpV, AA V, 19. 242 Kant, KpV, AA V, 36. 243 Kant, KpV, AA V, 19. 244 Kants Verwendung des Begriffs »Maxime« wird im Rahmen seines philosophischen Werks mehrdeutig verwendet und ist im Verlauf der Weiterentwicklung seiner Freiheitstheorie in der Religionsschrift präzisiert worden. Die Mehrdeutigkeit bezieht sich vor allem auf den Gegenstandsbereich der Maxime. Wie in Kapitel IV.1 gezeigt werden wird, unterscheidet Kant zwischen unmittelbar objekt- und handlungsbezogenen Maximen – gewissermaßen ›Maximen erster Ordnung‹ – und Maximen ›zweiter Ordnung‹, die sich auf Maximen erster Ordnung voluntativ beziehen. Maximen zweiter Ordnung, die selbst Gegenstand der Willkür sind, scheint Kant in der Kritik der praktischen Vernunft noch nicht explizit zu bestimmen. Die Metaebene ist hier diejenige des Sittengesetzes bzw. des »reinen Willens«, also der Autonomie der Vernunft und nicht der Willkür. Vgl. zur Unterscheidung der Maximen: Schwartz (2006), 24. Vgl. zum Begriff der Maxime bei Kant allgemein Bittner (1974). 238 239
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lens in der Reflexion auf die Materie der Maximen, also darin, »nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien« 245 , bzw. »nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d. i. als gut, erkennt« 246 . Zur Autonomie des Willens ist eine voluntative und normative Selbstdistanzierung notwendig: Diese besteht in der Selbstdifferenzierung des Willens in das untere und obere Begehrungsvermögen, dergestalt, dass alle auf Basis des unteren Begehrungsvermögens gebildeten »bloßen« Maximen normativ evaluiert und auf ihre vernünftige, d. h. prinzipiell universalisierbare, Struktur hin geprüft werden. Dies geschieht, indem sich die durch das obere Begehrungsvermögen ausgebildeten Volitionen zweiter Stufe willentlich auf die objektbezogenen Willenstendenzen richten, diese nach ihren normativen Kriterien strukturieren und so eine voluntativ-konstistente Einheit unter der Einheit des Sittengesetzes herstellen. Wie ist diese Einheit der Maximen zu verstehen? Maximen müssen insofern kohärent und konsistent sein, als sie sich zum einen intersubjektiv für jeden vernünftigen Willen »als praktische allgemeine Gesetze denken« 247 lassen, 248 und dass zum anderen bei einer innersubjektiven Verallgemeinerung kein voluntativer Widerspruch mit der Forderung des Sittengesetzes entsteht. An diesem Punkt wird der Unterschied von Freiheit und Autonomie greifbar: Ein freier Wille ist für Kant ein Wille, »dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann [Hervorh. J. N.]« 249 . Dies bedeutet, dass ein Wille dann frei ist, wenn er vor dem Horizont des Sittengesetzes steht, also nicht nur dann, wenn er ihm auch faktisch folgt. Ein autonomer Wille hingegen ist ganz und gar über seine Gesetzestreue definiert: Er ist kein Wille unter sittlichen Gesetzen, sondern durch sittliche Gesetze. 250 Die normativen Volitionen zweiter Stufe konstituieren als praktische Gesetze bzw. als das »eigentliche Selbst« 251 des Menschen als Kant, GMS, AA IV, 440. Kant, GMS, AA IV, 412. 247 Kant, KpV, AA V, 27. 248 Vgl. auch Kant, KpV, AA V, 30: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 249 Kant, KpV, AA V, 29. 250 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Timmermann (2003), 43. 251 Kant, GMS, AA IV, 457. 245 246
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»objektive Realität eines reinen Willens, oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft« 252 . Als ein wesenhaft vernünftiger Wille, als oberes Begehrungsvermögen, ist der autonome Wille ein überindividueller, »reine[r] Wille« 253 , von welchem alle individuellen und kontingenten Bestimmungsgründe abgesondert sind. 254 Der Bestimmungsgrund dieser Volitionen zweiter Stufe ist also nicht, wie die ›bloßen‹ material orientierten Maximen, »subjektiv gültig«, sondern von einer »durchaus objektive[n] und nicht bloß subjektive[n] Notwendigkeit«. 255 Wie aber ist dieser objektive Bestimmungsgrund der Volitionen zweiter Stufe beschaffen und wie kann er überhaupt erkannt werden? Es stellt sich also die Frage »[w]ie […] das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich« 256 ist. Zur Analyse der Volitionen zweiter Stufe, die eine Reflexion und Selbstdistanzierung von materialen Maximen ermöglichen sollen, stellt Kant ein martialisches Gedankenexperiment an. Er identifiziert auf der Ebene unmittelbar handlungsorientierter Präferenzen erster Ordnung eine denkbar größte Neigung, nämlich den (Über)Lebenstrieb, oder wie Kant schreibt: die »Liebe zum Leben« 257 – als maximale Summe unserer bloßen unmittelbar objektorientierten Präferenzen, die in ihrer Ganzheit das Interesse unserer natürlichen Existenz bilden. Gemessen an diesem Überlebenstrieb muss jegliche partikuläre Präferenz, etwa im Sinne einer »wollüstigen Neigung«, von der die Person behauptet, sie sei »ganz unwiderstehlich« – als unerheblich erscheinen. 258 Nun konstruiert Kant in Gedanken einen Fall, in dem eine Person vor die Wahl gestellt wird, eine unschuldige andere Person entweder »unter scheinbaren Vorwänden verderben« 259 zu müssen oder auf der Stelle am Galgen erhängt zu werden. Hier zeigt sich nun nach Kant, dass die vor die Wahl gestellte Person tatsächlich noch eine Alternative zu den Präferenzen des unteren Begehrungsvermögens hat, dass dieser natürliche (Über)Lebenstrieb also gerade Kant, KpV, AA V, 55. Kant, KpV; AA V, 55. 254 Vgl. dazu auch Baumgarten, Metaphysik. 1783, § 510, wo das am oberen Erkenntnisvermögen orientierte Begehrungsvermögen als »das obere oder der Wille (facultas appetitiva superior, animus, voluntas vel noluntas)« bezeichnet wird. Vgl. zur Identität von Wille und praktischer Vernunft auch Zimmermann (2011), 101. 255 Kant, KpV, AA V, 26. 256 Kant, KpV, AA V, 30. 257 Kant, KpV, AA V, 30. 258 Kant, KpV, AA V, 30. 259 Kant, KpV, AA V, 30. 252 253
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nicht das absolute Maß ist, an dem gemessen alle anderen Präferenzen geringer ausfallen müssen. Durch das Sittengesetz, dessen Existenz durch das Faktum der Vernunft verbürgt ist, 260 vermögen wir einen epistemischen Zugang zu einer gänzlich anderen Sphäre als der Natur aufzunehmen – zum normativen Bereich der Moralität bzw. zu »einer übersinnlichen Natur« 261 , die nach Kant den normativen Bereich unserer Präferenzen zweiter Stufe konstituieren. Diese Ebene der Volitionen zweiter Stufe eröffnet dem empirisch-vernünftig affizierten Willensakteur den Spielraum der moralischen Deliberation: »Er urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« 262 Durch den Aufweis der unauflöslichen Verschränkung von moralischer Normativität und Freiheit gelingt es Kant, den drohenden infiniten Regress von Volitionen höherer Stufe abzuschließen: Moralität besitzt absolute Geltung gegenüber den Präferenzen erster Ordnung und ist ihrerseits nicht mehr von einem höheren Standpunkt aus evaluierbar, denn das moralische Gesetz ist, wie Kant betont, »apodiktisch gewiß« 263 . Die autonome Willensbestimmung erfolgt nun nach Kant dergestalt, dass auf Basis von Volitionen zweiter Stufe, also universellen moralischen Gesetzen, auf die Präferenzen erster Stufe in Form von bloßen materialen Maximen normativ reflektiert wird. Dieses evaluative Verhältnis beider Willensstufen fasst Kant als eine Art von Testverfahren auf: Eine jede materiale Maxime kann »durch die praktische Vernunft geprüft« 264 werden. Es ist dem menschlichen Akteur, wie Kant metaphorisch schreibt, »mit diesem Kompasse [des Sittengesetzes] in der Hand«, »in allen vorkommenden Fällen« möglich, »zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig« ist. 265 Kant vergleicht dieses Verfahren ferner mit der Tätigkeit 260 Vgl. auch Kant, RGV, AA VI, 26 Fn.: »Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unserer Willkür von der Bestimmung durch alle anderen Triebfedern (unserer Freiheit) und hiermit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.« 261 Kant, KpV, AA V, 43 262 Kant, KpV, AA V, 30. 263 Kant, KpV, AA V, 47. 264 Kant, KpV, AA V, 44. 265 Kant, GMS, AA IV, 403 f.
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eines »Chemist[en]«, der »ein Experiment mit jedes Menschen praktischer Vernunft anstellen kann« 266 , um darin »den moralischen (reinen) Bestimmungsgrund vom empirischen zu unterscheiden« 267 . Das Sittengesetz eignet sich als Kriterium, materiale und formale Bestimmungsgründe aufs Reinlichste voneinander zu scheiden. 268 Dies geschieht dadurch, dass der Philosoph »zu dem empirisch-affizierten Willen (z. B. desjenigen, der gerne lügen möchte, weil er sich dadurch was erwerben kann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund) zusetzt« 269 . Kant möchte also zweierlei zeigen: (i) Es muss prinzipiell möglich sein, anhand der bloßen Form einer Maxime ihre Moralität zu erkennen. (ii) Diese Erkenntnis darf jedoch nicht in dem Sinne formal vorgestellt werden, dass es sich um die bloße Feststellung einer abstrakten logischen Relation handelte. Vielmehr muss diese Verhältnisbestimmung voluntativ gedacht werden, und zwar derart, dass die erkannte Form der Maxime selbst zum Bestimmungsgrund des Willens erhoben wird. Wie funktioniert dieses Test- und Evaluationsverfahren der materialen Maximen durch die Volitionen zweiter Stufe? Kant versichert gleich zu Beginn seines Beispiels, dass »der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden« könne, [w]elche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke […] und welche nicht« 270 . Kant geht dabei von folgender Präferenz erster Stufe aus: »Ich habe […] es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern.« 271 Die materiale Maxime M hat also die logische Form eines Konditionals: Kant, KpV, AA V, 92. Kant, KpV, AA V, 92. 268 Kant führt diese Analogie zur Chemie noch weiter aus: »Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salzgeist verläßt sofort den Kalk, vereinigt sich mit dem Alkali, jener wird zu Boden gestürzt. Eben so haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist […] das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners erkennt, sofort verläßt seine praktische Vernunft (im Urteil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vorteil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und der Vorteil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhängsel der Vernunft […] abgesondert und gewaschen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte [Hervorh. J. N.].« (Kant, KpV, AA V, 92 f.). 269 Kant, KpV, AA V, 92. 270 Kant, KpV, AA V, 27. 271 Kant, KpV, AA V, 27. 266 267
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M
Für alle x gilt: Wenn x ein sicheres Mittel ist, mein Vermögen zu vergrößern, dann will ich dieses x dafür einsetzen.
Nun tritt der konkrete Fall E ein: E
»Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat.« 272
Die Sicherheit ist also gegeben, dass niemand beweisen kann, dass der Akteur im Besitz des Depositums ist (dass er nur Besitzer, nicht aber zugleich Eigentümer des Depositums ist). Der Maxime M gemäß kann mittels modus ponens durch Einsetzung des Gehalts von E in M eine konkrete Handlungsintention H abgeleitet werden. H
Ich will durch das sichere Mittel des Depositums, dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat, mein Vermögen vergrößern.
Der Maximentest T, der ermitteln soll, »ob jene Maxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gelten könne«, hat nun folgende Form: T
»Ich wende jene [Maxime M] also auf gegenwärtigen Fall [E] an und frage, ob sie [als konkrete Handlungsintention H] wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime [H] zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann.« 273
Der Test fällt nach Kant negativ aus, die konkrete Handlungsintention H lässt sich nämlich unter dem Sittengesetz nicht voluntativ widerspruchsfrei verallgemeinern: »Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe [Hervorh. J. N.].« 274 Nach Kant gilt also, dass eine moralisch böse Maxime sich »in der Form eines allgemeinen Gesetzes« »selbst aufreiben« muss; 275 sie führt in einen voluntativen Widerspruch. Es geht also nicht darum, dass das konkrete Depositum (z. B. eine Vase) »sich selbst vernichten würde« (die geliehene Vase wäre immer noch heil, auch wenn ich sie 272 273 274 275
Kant, KpV, AA V, 27. Kant, KpV, AA V, 27. Kant, KpV, AA V, 27. Kant, KpV, AA V, 28.
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nicht zurückgeben würde), sondern der Begriff, d. h. das Konzept eines Depositums: Wenn alle Menschen eine solche Maxime hätten, »daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann«, dann würde man keinen konsistenten Gebrauch dieses normativen Begriffs mehr machen können. Der Begriff selbst, der auf der Unterscheidung von Besitzer und Eigentümer basiert, würde unbrauchbar werden: Ein Besitzer wäre immer zugleich der Eigentümer, so dass auf dieser Basis der Begriff eines Depositums nicht mehr sinnvoll gebildet werden könnte. Ein solcher voluntativer Widerspruch ist jedoch nicht ein bloß formaler Widerspruch im Sinne einer behaupteten logischen Relation, sondern eine Willenshandlung gegenüber dem Sittengesetz, die gerade dadurch moralisch zurechenbar ist. Das Bestehen eines solchen Prüfverfahrens ist jedoch nur die notwendige, nicht aber bereits die hinreichende Bedingung für das praktisch-Werden reiner Vernunft. Zur vollständigen Autonomie des Willens muss neben der formalen Prüfung der Maximen auch noch das Moment der Selbstprüfung hinzutreten, also nicht nur das formale Verhältnis der Maximen, sondern auch das voluntative Verhältnis von verallgemeinerter Maxime zum willentlichen Akteur selbst kontrolliert werden. Dies ist Gegenstand des dritten und letzten Hauptstücks der Analytik. Wie aber kann der Maßstab des kategorischen Imperativs in das Gefüge der Maximen gebracht werden bzw. wie geschieht die normative Einheitsbildung der Maximen unter dem Sittengesetz?
1.4
Der materiale und objektive Bestimmungsgrund des Willens
Nachdem in einem ersten Schritt der Willensbildung reine praktische Vernunft qua Sittengesetz als »formaler Bestimmungsgrund« 276 des Willens ausgewiesen wurde, geht es Kant in einem zweiten Schritt darum zu zeigen, dass reine praktische Vernunft durch das Sittengesetz auch ein »materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund« 277 des Willens ist. »Material« meint in diesem Sinne, dass die Willensbildung mittels »Kategorien der Freiheit« schließlich zu konkreten moralisch qualifizierten Maximen (»Willensmeinungen des Indivi276 277
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Kant, KpV, AA V, 75. Kant, KpV, AA V, 75.
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duums« 278 ) führt. 279 »Objektiv« bedeutet in diesem praktischen Erkenntniszusammenhang das Ergebnis dieser Formierung, eine »mögliche[] Wirkung durch Freiheit« 280 , also die moralisch gute oder böse Willensgesinnung als die »alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft« 281 . Es geht hierbei also nicht um die Frage, ob eine konkrete Handlung als ein Objekt des Interesses mittels eines »physischen Vermögen[s]« 282 realisiert werden kann, sondern darum, dass der Wille »sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung« 283 machen kann. Nicht die »Naturbedingungen […] der Ausführung seiner Absicht« – die Präferenzen erster Ordnung –, sondern die »Willensbestimmung« selbst – der Bereich von Volitionen zweiter Ordnung – ist Gegenstand der Kategorien der Freiheit. 284 Die kategoriale Willensbestimmung und Willensspezifizierung unter dem Sittengesetz kann als Prozess der Bildung eines moralisch qualifizierten Charakters verstanden werden. An der Bestimmung als »materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund [Hervorh. J. N.]« der Handlung zeigt sich, dass die Funktion des zweiten Hauptstücks in mehrfacher Hinsicht den Übergang vom ersten zum dritten und letzten Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft markiert. Der darin verhandelte Bestimmungsgrund ist im Gegensatz zum formalen des ersten Hauptstücks der Analytik nicht rein kriteriell, sondern material, insofern durch das Sittengesetz nun eine konkrete Willensbestimmung vorgenommen wird, die sich schließlich in einer materialen Maxime manifestiert. Diese Art der Willensbestimmung ist jedoch im Gegensatz zum Dritten Hauptstück nicht subjektiv, sondern insofern nur objektiv, als hierbei die Wirkung auf den empirischen Zustand des Subjekts keine Rolle spielt, sondern nur die kategoriale Beschaffenheit des spezifizierten Willens. Die Kategorien der Freiheit stecken damit dem freien Subjekt einen objektiven Spielraum für die Willensbestimmung ab; sie müssen, wie Kant sagt, »auf die Bestimmung Kant, KpV, AA V, 66. Vgl. zur Ordnungsfunktion der Kategorien der Freiheit Graband (2005), 48; 65. 280 Kant, KpV, AA V, 57. 281 Kant, KpV, AA V, 58. Vgl. zum Guten und Bösen als Gegenstände (obiecta) des Willens auch Thomas, ScG, X, 43. 282 Kant, KpV, AA V, 58 f. 283 Kant, KpV, AA V, 60. 284 Kant, KpV, AA V, 66. 278 279
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einer freien Willkür gehen« 285 . Die spezifische Willensbildung durch die Kategorien der Freiheit soll also nach Kant eine Frage der individuellen Entscheidung sein, wobei es mit den Gegenständen des Guten und Bösen gewissermaßen zwei voluntative Lösungen der praktischen Erkenntnis angesichts des Sittengesetzes gibt. 286 Es handelt sich bei dieser Willensspezifikation, anders gesagt, um die Art und Weise, wie Volitionen zweiter Stufe sich auf die primären Willenstendenzen richten und diese in eine bestimmte kategoriale Ordnung unter dem Sittengesetz bringen können. Insofern reine praktische Vernunft nicht nur formal die Gesetzmäßigkeit von Maximen zu prüfen, sondern den menschlichen Willen auch konkret zu bestimmen vermag, stellt sie dem im ersten Hauptstück exponierten principium diiudicationis ein principium specificationis an die Seite, welches die Entscheidungsfreiheit angesichts des zu erstrebenden Gegenstandes des Willens ermöglicht. 287 Systematisch haben die Kategorien der Freiheit als »Nahtstelle« 288 zwischen dem Bereich des Intelligiblen des Sittengesetzes und dem Empirischen der Handlung eine Übergangsfunktion inne, die darin besteht, zwischen der abstrakten Formalität des Sittengesetzes und der konkreten Handlung in der Sinnenwelt zu vermitteln – wenn auch der eigentliche ›Übergang‹ zur verwirklichten Handlung in der Sinnenwelt erst im dritten Hauptstück »Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« geleistet wird. Diese Mittelstellung des zweiten Hauptstücks entspricht – in der Kantischen Analogie eines praktischen »Vernunftschlusses« – einer »im Untersatze vorgenommene[n] Subsumtion möglicher Handlungen (als guter und böser)« unter das »Allgemeine[] im Obersatze (dem moralischen Kant, KpV, AA V, 65. Freilich denkt Kant hier im Rahmen seiner Autonomie-Lehre keinen starken Begriff der Willkür, der losgelöst vom Vermögen der Vernunft ein exekutives und motivationales Moment zukäme. Das exekutiv Ausführende kommt allein der reinen praktischen Vernunft zu, und zwar durch die vernunftgewirkte Triebfeder der Achtung, wie im folgenden Kapitel näher ausgeführt wird. Zur Willkür bei Kant als »Aspekt des Willens« vgl. auch Graband (2005), 46. Graband berücksichtigt dabei allerdings nicht die gravierenden Probleme, wie die Gefahr des intelligiblen Fatalismus, die mit der Identifizierung von Erkenntnis- und Entscheidungsfunktion der Vernunft zusammenhängen. 287 Vgl. dazu den Begriff der libertas specificandi bei Thomas, ST I-II, q. 18, a. 2 co.: »Sicut autem res naturalis habet speciem ex sua forma, ita actio habet speciem ex obiecto«. Vgl. ferner Teil II.2.2 der Arbeit. 288 Bobzien (1988), 195. 285 286
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Prinzip)«. 289 Die ›Konklusion‹ dieses Vernunftschlusses leistet erst das dritte Hauptstück, das den subjektiven Bestimmungsgrund des Willens verhandelt. Die Kategorien der Freiheit eröffnen also einen Raum der willentlichen Selbstformierung: Im Durchlaufen der Kategorien der Freiheit wird der Wille von anfänglichen bloßen Begehrungen zu Maximen geordnet, kategorial angereichert und schließlich zugespitzt auf das Gute oder Böse – als Vermögen oder Unvermögen der moralischen Freiheit. 290 Der ›Weg‹ entlang der Kategorien vollzieht sich dabei »von den moralisch noch unbestimmten, und sinnlich-bedingten, zu denen, die, sinnlich-unbedingt, bloß durchs Gesetz bestimmt sind« 291 . Die verschiedenen »Willensmeinungen des Individuums« 292 müssen hierbei in ein spezifisches Verhältnis zum Sittengesetz gebracht werden, wobei das Gute und das Böse die beiden normativen Endpunkte für diesen Willensbildungsprozess bilden. Der Prozess dieser vernünftigen Selbstformierung des Willens darf jedoch nicht zeitlich, sondern muss logisch im Sinne einer apriorischen Konstruktion verstanden werden, insofern diese – analog zu einer apriorisch-geometrischen Konstruktion in der reinen Anschauungsform des Raumes und der Zeit – »ein reines praktisches Gesetz a priori zum Grunde liegen hat« 293 . Die spezifisch praktische Bedeutung der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft als dem Guten und Bösen erhellt durch den Vergleich mit dem empirischen Begriff des Angenehmen und Unangenehmen. Im Gegensatz zum bloß relativ Guten, dem Angenehmen, muss das moralisch Gute als »für sich selbst« 294 gut, d. h. absolut gut, angesehen werden, »so daß es zwei ganz verschiedene Beurteilungen sind, ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse derselben, oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtung ziehen« 295 . Kant argumentiert dafür, dass die Gegenstände des Guten und Bösen nicht dem Sittengesetz vorhergehen können. Ein dem Sittengesetz vorhergehendes Gutes könnte, wie Kant argumentiert, »nur der Begriff von Kant, KpV, AA V, 90. Vgl. zur praktischen Gegenstsandskonsitution, wenn auch unter Auslassung des Unvermögens: Graband (2005), 65. 291 Kant, KpV, AA V, 66. 292 Kant, KpV, AA V, 66. 293 Kant, KpV, AA V, 65. 294 Kant, KpV, AA V, 59. 295 Kant, KpV, AA V, 60 f. 289 290
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etwas sein, dessen Existenz Lust verheißt und so die Kausalität des Subjekts zur Hervorbringung desselben, d. i. das Begehrungsvermögen, bestimmt« 296 . Nun ist es aber, wie Kant in Anlehnung an seine früheren Überlegungen argumentiert, unmöglich, »a priori einzusehen, welche Vorstellung mit Lust, welche hingegen mit Unlust werde begleitet sein« – es komme »lediglich auf Erfahrung an, es auszumachen, was unmittelbar gut oder böse sei« 297 . Während sich das empirische malum also bloß auf den Zustand des durch heteronome Faktoren bestimmbaren unteren Begehrungsvermögens bezieht, richtet sich der moralische Begriff des Bösen auf den Menschen als freie Person: Das »schlechthin« Gute oder Böse, so Kant, ist »die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst, als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache« 298 . Im Gegensatz zum theoretischen Vernunftgebrauch geht es im praktischen Vernunftgebrauch nicht allein darum, Gegenstände zu erkennen. Vielmehr befasst er sich »mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben […], d. i. seine Kausalität zu bestimmen« 299 . Praktische Erkenntnis ist Erkenntnis darüber, was wir tun sollen, nicht darüber, was ist, d. h. ihr Gegenstands- und Geltungsbereich ist der der Normativität. 300 Dies ist jedoch nicht der einzige Unterschied. Zentraler noch ist ihr Charakteristikum, dass der Gegenstand der reinen praktischen Vernunft nicht rezeptive Momente enthält, wie dies bei der Anschauung der theoretischen Gegenstände der Fall ist. Vielmehr bringt die praktische Vernunft ihr Objekt selbst hervor, ohne an die empirische Anschauung verwiesen zu sein. Die Kategorien der Freiheit gehen nämlich nicht auf die Anschauungen der Sinnenwelt, sie haben nicht die Funktion, »das Mannigfaltige der (sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a priori zu bringen«, vielmehr besteht ihre Funktion darin, »das Mannigfache der Begehrungen, der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden Kant, KpV, AA V, 58. Kant, KpV, AA V, 58. 298 Kant, KpV, AA V, 60. 299 Kant, KpV, AA V, 15. 300 Vgl. dazu Bobzien (1988), 197 f.: »[W]ie es durch die theoretische kategoriale Synthesis erst möglich wird, jede Erfahrungserkenntnis unter die Geltungsdifferenz wahr/falsch zu stellen, so ermöglicht es die praktische kategoriale Synthesis, jede Handlung als Erscheinung unter die Geltungsdifferenz gut/böse zu stellen.« 296 297
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praktischen Vernunft […] zu unterwerfen«. 301 Kant bestimmt den Gegenstand der praktischen Vernunft deshalb als »die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit« 302 : Die Gegenstände des Guten und Bösen sind »modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Kausalität« 303 – besagter in der Kritik der reinen Vernunft nur angedachten Kausalität aus Freiheit. Ein Gegenstand der praktischen Vernunft betrifft »die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er, oder sein Gegenteil, wirklichgemacht würde« 304 . Im Gegensatz zu den »Kategorien der Natur« haben die Kategorien der Freiheit »einen augenscheinlichen Vorzug«, der darin besteht, dass erstere »nur Gedankenformen« sind, die unwillkürlich jede erfahrbare Anschauung unter einen Begriff bringen, wir darin also heteronom sind. 305 Im Gegensatz zur objektkonstituierenden Leistung des Verstandes geht es dem praktischen Gebrauch der Vernunft »nur um die Willensbestimmung«, nicht aber »um die Naturbedingungen« – sie können insofern autonom gebraucht werden, als sie nicht, wie dies bei den Kategorien der Natur der Fall ist, »auf Anschauungen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen«. 306 Wie Kant hervorhebt, geschieht dies aus dem »merkwürdigen Grunde«, »weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (die Willensgesinnung), selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist [Hervorh. J. N.]«. 307 Die im zweiten Hauptstück der Analytik verhandelte libertas specificandi ist also nicht im Sinne einer bloßen Wahlfreiheit angesichts bereits gegebener Gegenstände zu verstehen, sondern diese Gegenstände werden durch die kategoriale Selbstbestimmung vor dem Hintergrund des Sittengesetzes erst als gut oder böse konstituiert: Das Gute oder Böse bedeutet […] jederzeit eine Beziehung auf den Willen, so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen; wie er denn durch das Objekt und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine
301 302 303 304 305 306 307
Kant, KpV, AA V, 65. Kant, KpV, AA V, 57. Kant, KpV, AA V, 65 Kant, KpV, AA V, 57. Kant, KpV, AA V, 65. Kant, KpV, AA V, 66. Kant, KpV, AA V, 66.
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Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Objekt wirklichwerden kann) zu machen [Hevorh. J. N.]. 308
Kant bezeichnet denn auch die Tatsache als ein »Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft«, dass »der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müsste), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse«. 309 Dieses »Paradoxon« besteht genauer darin, »daß nicht der Begriff des Guten, als eines Gegenstandes, das moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralische Gesetz allererst den Begriff des Guten, so fern es diesen Namen schlechthin verdient, bestimme und möglich mache« 310 . Die Gegenstände des Guten und Bösen sind demnach »Folgen der Willensbestimmung a priori«, was bedeutet, dass sie eine »Kausalität der reinen Vernunft voraussetzen«, deren freiheitskausale Hervorbringungen sie sind. 311 Die Kategorien der Freiheit konstituieren also den deliberativen Spielraum der Willensbildung unter der absoluten Forderung des Sittengesetzes. Die Besonderheit dieses Spielraums besteht darin, dass er innerhalb des Bereichs der reinen praktischen Vernunft selbst angesiedelt ist, er, wie Kant sagt, »ein reines praktisches Gesetz a priori zum Grunde liegen hat« 312 . Damit der Übergang vom intelligiblen Bereich des Sittengesetzes und seiner praktischen Objekterkenntnis zur konkreten Handlung in der Welt der Erscheinungen stattfinden kann, ist eine Vermittlungsleistung durch bestimmende praktische Urteilskraft 313 nötig, die die »Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetze« vornimmt, 314 so dass, gleich einem Untersatz im praktischen Ver-
Kant, KpV, AA V, 60. Kant, KpV, AA V, 62 f. 310 Kant, KpV, AA V, 64. 311 Kant, KpV, AA V, 65. 312 Kant, KpV, AA V, 65. 313 Vgl. Kant, KdU, AA V, 179: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch, wenn sie als transzendentale Urteilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend.« Vgl. allgemein zur praktischen Urteilskraft: Torralba (2007). 314 Kant, KpV, AA V, 68. 308 309
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nunftschluss, »dasjenige, was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird« 315 . Auch hier erhellt die Funktion der praktischen Urteilskraft aus der Differenz mit derjenigen im theoretischen Vernunftgebrauch. Denn Kategorien stellen in der theoretischen Erkenntnis nur dann einen Gegenstand vor, wenn sie über ein transzendentales Schema an die Sinnlichkeit vermittelt sind: Die Konstitutionalität der theoretischen Kategorien »kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert«, wohingegen die Schemata der Sinnlichkeit »die Kategorien allererst realisieren, d. i. auf Bedingungen einschränken, die außer dem Verstande liegen«. 316 Im Gegensatz zur theoretischen Gegenstandserkenntnis ist das Objekt der praktischen Erkenntnis jedoch etwas »Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefunden werden kann« 317 . Hier zeigt sich wiederum die Verschiedenheit des Kantischen Begriffs einer Kausalität aus Freiheit von dem einer Kausalität der Natur, denn »dem Gesetze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Kausalität), mithin auch dem Begriffe des Unbedingt-Guten, kann keine Anschauung, mithin kein Schema zum Behuf seiner Anwendung in concreto unterlegt werden« 318 . Dasjenige Erkenntnisvermögen, welches zwischen dem Sittengesetz und den moralisch zu beurteilenden Handlungen in der Natur vermittelt, ist deshalb auch nicht wie im theoretischen Vernunftgebrauch die Einbildungskraft, die durch das transzendentale Schema die reinen Verstandesbegriffe in der reinen Anschauungsform der Zeit ›veranschaulicht‹. Als »vermittelndes Erkenntnisvermögen« 319 dient hier vielmehr der Verstand als praktische Urteilskraft. 320 Da die Beurteilung moralischer Handlungen in der Sinnenwelt nicht, wie im Falle eines Schemas, unter dem Gesichtspunkt der Naturkausalität und somit auch nicht unter Zeitbedingungen erfolgen darf, 321 sondern gerade im Sinne einer Kausalität aus Freiheit, so kann das Kant, KpV, AA V, 67. Kant, KrV, B 187. 317 Kant, KpV, AA V, 68. 318 Kant, KpV, AA V, 69. 319 Kant, KpV, AA V, 69. 320 Kant bestimmt das transzendentale Schema als ein »allgemeine[s] Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (Kant, KrV, B 179 f.). 321 Nach Kant sind Schemata »nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln« (Kant, KrV, B 184). 315 316
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Naturgesetz nur als eine Analogie des Sittengesetzes, d. h. »nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft« verwendet werden, welches Kant als »den Typus des Sittengesetzes« bezeichnet. 322 Es geht Kant also um die Auffindung einer »Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft« 323 . Diese Regel wird in Analogie zum Naturgesetz gefasst, als »Vergleichung der Maxime seiner Handlungen mit einem allgemeinen Naturgesetze« 324 , was der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs entspricht, 325 welche fordert, dass die Maxime »an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält« 326 . Das Naturgesetz wird im praktischen Vernunftgebrauch also »bloß zum Typus eines Gesetzes der Freiheit [Hervorh. J. N.]« 327 und vermittelt nur analogisch die Handlungen in der Sinnenwelt mit dem Sittengesetz, indem diese durch seine Vermittlung so beurteilt werden, als ob sie unter der Notwendigkeit der Naturkausalität stünden. Es ist deshalb im praktischen Gebrauch der Vernunft möglich, »die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligiblen Natur« zu verwenden, sofern es dabei bloß auf »die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt« ankommt, d. h. diese »zum reinen Gebrauche der Vernunft« gezählt wird und keine Anwendung auf Anschauungen stattfindet. 328 Dadurch ist es nun möglich, ein Naturereignis zugleich als ein Freiheitsereignis, d. h. als Handlung und Produkt einer Kausalität aus Freiheit zu verstehen, womit das in der dritten Antinomie entworfene Denkmodell der kausalen Überdetermination im Sinne praktischer Freiheit weiter konkretisiert wird. Im Durchlaufen der zweiten Station des Willensbildungsprozesses – durch das principium specificationis – ist demnach folgendes Ergebnis erzielt worden: Die Kategorien der Freiheit ermöglichen eine gute wie böse Konstituierung der Willensgesinnung, denn der Mensch kann sich – gemäß der Kategorie der Modalität – zum Unerlaubten und Pflichtwidrigen bestimmen. Darin manifestiert sich in letzterem Falle ein Vermögen, im ersteren Falle aber ein Unvermögen moralischer Freiheit. Dieses Unvermögen besitzt insofern eine paraKant, KpV, AA V, 69. Kant, KpV, AA V, 69. 324 Kant, KpV, AA V, 69. 325 Vgl. Kant, GMS, AA IV, 421: »[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch einen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« 326 Kant, KpV, AA V, 69. 327 Kant, KpV, AA V, 70. 328 Kant, KpV, AA V, 70. 322 323
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doxe Struktur, als durch die moralische Vernunft hindurch das dem Sittengesetz Widrige kategorial bestimmt und hervorgebracht worden ist. Allerdings ist damit noch nichts über die faktische Verwirklichung der Willensgesinnung innerhalb einer konkreten Handlung gesagt: Reine Vernunft ist damit noch nicht praktisch geworden. Das Verständnis von Willkür des zweiten Hauptstücks ist nur eine spezifizierende Willkür – eine libertas specificandi –, die dem Vermögen der praktischen Urteilskraft entspricht, also selbst nicht eigentlich handlungswirksam wird. Zur vollständigen, exekutiven Willkür bedarf es noch eines motivationalen Moments, um die objektivierte Willensgesinnung zur Handlung zu überführen. Diese Funktion kommt dem moralischen Gefühl der Achtung als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft zu, welche im dritten und letzten Hauptstück der Analytik behandelt wird und welches die letzte Station des vernünftigen Willensbildungsprozesses – das praktisch-Werden reiner Vernunft im Sinne der libertas exercitii – darstellt.
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Der subjektive Bestimmungsgrund des Willens [D]as kann und wird auch keiner einsehen, daß der Verstand sollte eine bewegende Kraft zu urteilen haben. Urteilen kann der Verstand freilich, aber diesem Verstandesurteil eine Kraft zu geben, und daß es eine Triebfeder werde den Willen zu bewegen, die Handlung auszuüben, das ist der Stein der Weisen [Hervorh. J. N.]. 329
Die systematische Aufgabe des dritten Hauptstücks besteht darin, die ersten beiden Hauptstücke der Kritik der praktischen Vernunft zu einer Einheit der moralischen Handlung aus reiner Vernunft zu bringen, d. h. Freiheit und Moralität kausal zu verwirklichen und in den Bereich der Erfahrung zu überführen. 330 Damit stellt die Triebfedernlehre den End- und Gipfelpunkt einer Theorie der Autonomie der Vernunft dar: Sie steuert das letzte begriffliche Moment zur komple329 Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie [zit. als Vorlesung], hg. von Werner Stark, Berlin/New York 2004, 68 f. 330 Kant spricht im dritten Hauptstück auffallend häufig von »Handlung«. Das Wort »Handlung« findet sich darin mit 28 Vorkommnissen genau doppelt so häufig wie das Wort »Maxime« mit 14 Mal.
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xen Kausalität aus Freiheit im Sinne von praktischer Freiheit bei, wie diese in der Kritik der reinen Vernunft im Sinne einer transzendentalen Freiheit als bloße Denkmöglichkeit konzipiert worden war, 331 und stellt demnach das »complement der Zulänglichkeit« 332 der Vernunft im Sinne eines genitivus subiectivus dar. Ist, wie Kant schreibt, »die Einteilung der Analytik der reinen praktischen Vernunft der eines Vernunftschlusses ähnlich«, so muss das dritte Hauptstück einem »Schlußsatze, nämlich der subjektiven Willensbestimmung (einem Interesse an dem praktisch-möglichen Guten und der darauf gegründeten Maxime)« 333 entsprechen. Im subjektiven Bestimmungsgrund des Willens koinzidieren vernünftiges Urteilen und Wollen; das Vernunfturteil wird dabei vermittels eines Gefühls in einen Willensakt übersetzt: Die Achtung ist ein »subjektiver Bestimmungsgrund […], indem es auf die Sinnlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist« 334 . Als solches ist die Achtung »kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl« 335 . Reine Vernunft gibt nicht nur – legislativ – das Gesetz, und sie spezifiziert nicht nur die Gegenstände des Guten und Bösen, sondern sie motiviert zugleich auch noch dieses Gesetz, wobei das exekutive Moment der Motivation letztlich nur die subjektiv gewendete Erscheinungsweise – der empirische Charakter – des Sittengesetzes selbst ist. Kant bezeichnet die moralische Triebfeder der reinen praktischen Vernunft denn auch als »Macht der Vernunft in Ansehung der Freiheit« 336 und als »Ein-
331 Vgl. zur systematischen Einschätzung des Triebfedernkapitels Henrich (1982), 34: »Dieser Begriff der Achtung schließt das Kantische System der Moralphilosophie insofern ab, als er es erlaubt, alle seine Lehrstücke miteinander zu vereinen und sie konsequent mit den Ergebnissen der Kritik der reinen Vernunft zu verbinden«. Henrich spricht deswegen m. E. zu Recht davon, dass es sich dabei um das »wichtigste Lehrstück« (29) der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft handelt. Henrich betrachtet allerdings die Triebfedernlehre nicht in erster Linie aus einem freiheitstheoretischen Gesichtspunkt, sondern aus einem subjektivitätstheoretischen, so dass nicht der autonome Wille, sondern das moralische Selbstbewusstsein in den Vordergrund rückt. 332 Kant, Refl. 5611, AA XVIII, 252. 333 Kant, KpV, AA V, 90. 334 Kant, KpV, AA V, 75. 335 Kant, GMS, AA IV, 402 Fn. 336 Kant, Refl. 6864, AA XIX, 184.
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fluß einer bloß intellektuellen Idee aufs Gefühl« 337 . Die dabei zugrunde gelegte Perspektive ist also das Vermögen der Freiheit im Sinne eines moralisch handlungswirksamen Willens. Dadurch kann die spezifische Herrschaftsstruktur der Vernunft konkretisiert werden: Die Autonomie der Vernunft wird durch diesen dritten Bestimmungsschritt zur Autokratie erhoben. 338 Warum ist überhaupt eine solche vernünftige Triebfeder für autonomes Handeln erforderlich? Die Notwendigkeit einer solchen moralischen Triebfeder ergibt sich, wie Kant sagt, aus der »Endlichkeit« 339 des Menschen als eines natürlich-vernünftigen Zwischenwesens. Kant versteht unter einer »Triebfeder (elater animi)« den »subjektive[n] Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht, schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetze notwendig gemäß ist« 340 . Die »Natur« des Menschen ist so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei 341 .
Die faktische Ausgangslage des Problems moralischer Motivation ist also die Willensspaltung des Menschen zwischen oberem und unterem Begehrungsvermögen, bei dem »die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt […], weil ein inneres Hindernis derselben entgegensteht« 342 : »Die Antriebe der Natur enthalten«, so Kant, »Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft […] zu besiegen er sich vermögend urteilen Kant, KpV, AA V, 80. Vgl. Kant, MM II, AA XXIX, 626: »Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie die Kraft einer Triebfeder, sie hat alsdenn nicht bloß Autonomie sondern auch Autokratie. Sie hat denn gesetzgebende und auch executive Gewalt. Die autocratie der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl.« Vgl. zum Begriff der Autokratie auch Kant, AA XXIII, 396. 339 Kant, KpV, AA V, 76. 340 Kant, KpV, AA V, 72 341 Kant, KpV, AA V, 74. 342 Kant, KpV, AA V, 79. 337 338
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muss [Hervorh. J. N.]« 343 . Das Verhältnis des menschlichen Willens zum Sittengesetz kann angesichts dieser anthropologischen Grundsituation ganz allgemein als »Abhängigkeit« bestimmt werden, welche sich genauer als eine bestimmte Art von volitionaler Notwendigkeit, nämlich als »Pflicht« und »intellektueller[] Zwang« darstellt. 344 . Gemäß der Perspektive des Vermögens der Freiheit erscheint die menschliche Willensspaltung als ein durch die vernünftige Willenskontrolle der Pflicht zu beseitigendes Hindernis. Das liberum arbitrium wird im dritten Hauptstück der Analytik unter dem Gesichtspunkt der vollständigen Vernunftbestimmung betrachtet, so dass aus dieser Vernunftperspektive heraus alle materialen Bestimmungsgründe als ein »Hindernis« der Autonomie erscheinen müssen. 345 Es geht Kant deshalb darum zu zeigen, wie das Sittengesetz idealerweise den menschlichen Eigendünkel, d. h. den voluntativen Hang, die eigene Individualität über das Sittengesetz zu stellen, subjektiv soweit einschränken kann, dass dadurch ein Raum eröffnet wird, innerhalb dessen sich Moralität durchsetzen kann, so dass reine Vernunft praktisch werden, d. h. den Willen bis zur konkreten moralisch guten Handlung bestimmen kann. Kants Aufgabe besteht also in der zweiten Kritik allein darin, »sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe, vorgehe« 346 . Wie lässt sich dieses Hindernis des Eigendünkels freiheitstheoretisch näher beschreiben? Kant versteht darunter einen »Hang« des Menschen, »wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln, und ihre Gültigkeit […] in Zweifel zu ziehen« 347 . Dieser Hang besteht darin, »sich selbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt« und »zur obersten praktischen Bedingung zu machen«. 348 Es geht hierbei also nicht darum, dass sich innerhalb des Menschen verschiedene Anlagen durchsetzen oder nicht und die Vernunft durch Kant, MdS, AA VI, 380. Kant, KpV, AA V, 32. Vgl. auch Kant, GMS, AA IV, 413: »[D]ie Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemäß ist Nötigung«. 345 Vgl. zur idealen Perspektivierung des Willens in der Kritik der praktischen Vernunft auch Buchheim (2001a), 658. 346 Kant, KpV, AA V, 72. 347 Kant, GMS, AA IV, 405. 348 Kant, KpV, AA V, 74. 343 344
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Neigungen gewissermaßen ›überwältigt‹ wird. Wir sind nach Kant nicht passive Zuschauer eines innerpsychischen Kräftespiels, vielmehr muss der von Kant beschriebene Hang des Eigendünkels selbst als willensmäßig strukturiert verstanden werden – nicht als ein bloßer Defekt, sondern als etwas Aktives, welches selbst moralisch zurechenbar ist. Worin kann die Aktivität dieses »Hanges« bestehen? Sie besteht im »Vernünfteln«, d. h. dem Versuch, mit Hilfe der Vernunft gegen die Vernunft des Sittengesetzes zu argumentieren und in praktischer Hinsicht die Vernunft zu missbrauchen. 349 Wer vernünftelt, der versucht nach Kant Gründe zu finden, seine individuellen Interessen als der Forderung des Sittengesetzes ausnahmsweise enthoben zu rechtfertigen, also die »Reinigkeit und Strenge [der moralischen Gesetze; J. N.] in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben« 350 . Die moralische Triebfeder der Achtung leistet unter dem Gesichtspunkt des Vermögens der Freiheit den freiheitskausalen Übergang von der intelligiblen Sphäre des Sittengesetzes zur sinnlichen Sphäre der konkreten Handlung, so dass reine Vernunft ›praktisch‹ werden kann. 351 Das Gefühl der Achtung entsteht, wie Kant betont, »nicht pathologisch […], sondern allein praktisch, d. i. durch eine vorhergehende (objektive) Willensbestimmung und Kausalität der Vernunft« 352 und ist »die bewegende Kraft der reinen Vorstellung der Tugend« 353 . Es entspringt dem »Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Kausalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß zu bestimmen« und kann demnach als »eine besondere Art von Kausalität« angesehen werden. 354 Die normativen Volitionen zweiter Stufe, die die Forderung des Sittengesetzes ausdrücken, werden dabei auf die Präferenzen erster Stufe bezogen, wobei eine nor349 Vgl. dazu den theoretischen Hang der Vernunft zum Vernünfteln in Form der transzendentalen Ideen: Sie könnten eigentlich »vernünftelnde« Schlüsse genannt werden, »weil sie doch nicht erdichtet, oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind« (Kant, KrV, B 397). 350 Kant, GMS, AA IV, 405. 351 Vgl. Lauener (1981). 352 Kant, KpV, AA V, 80. 353 Kant, KpV, AA V, 153. 354 Kant, GMS, AA IV, 460.
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mative Kontrolle ausgeübt und eine voluntative Identifikation dadurch erreicht wird, dass nicht gesetzeskonforme Präferenzen verworfen und eliminiert werden. Die Art der Übereinstimmung von Volitionen erster und zweiter Ordnung ist als (Selbst-)Achtung ein phänomenaler Ausdruck von willentlicher Notwendigkeit: »Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz« 355 , wobei dieser »Zwang« im Grunde ein »Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein)« 356 ist. Es geht also im dritten Hauptstück im Sinne der moralischen Selbstprüfung nicht allein um die formale Beschaffenheit und Legalität, sondern darum, »die objektiv-praktischen Gesetze der reinen Vernunft durch bloße reine Vorstellung der Pflicht subjektiv-praktisch zu machen« 357 . Die willentliche Notwendigkeit der Übereinstimmung von beiden Willensstufen konstituiert also Moralität in zwei verschiedenen Hinsichten: »Der Begriff der Pflicht fodert also an der Handlung, objektiv, Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber, subjektiv, Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe [Hervorh. J. N.].« 358 Das Sittengesetz als principium diiudicationis gewährleistet nur die Legalität der subjektiven Grundsätze, der Maximen und der Gesinnung, nicht jedoch Moralität, welche für Autonomie im Vollsinn notwendig ist. Zum Erkenntnisprinzip der Moralität muss das Motivationsprinzip, das principium executionis hinzutreten, damit die verfolgte Handlung nicht nur pflichtgemäß, sondern aus Pflicht geschieht. Erst durch die Dopplung beider Prinzipien, durch das Erkenntnis- und Ausführungsprinzip, kann der Weg nachgezeichnet werden, den reine praktische Vernunft bis zu ihrer Verwirklichung in der Welt der Erfahrung nehmen muss. 359 Die moralische Triebfeder stellt sicher, dass die Willensbestimmung nicht nur »gemäß dem moralischen GeKant, MdS, AA VI, 379. Kant, MdS, AA VI, 380. 357 Kant, KpV, AA V, 153. 358 Kant, KpV, AA V, 81. 359 Vgl. dazu Kant, Vorlesung, 55 f.: »Wir haben hier zuerst auf zwey Stükke zu sehen, auf das principium der Diiudication der Verbindlichkeit, und auf das principium der Execution oder Leistung der Verbindlichkeit. Richtschnur und Triebfeder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der Diiudication und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit, indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch.« Vgl. zum Verhältnis beider Prinzipien grundlegend: Henrich (1982). 355 356
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setze«, sondern »um des Gesetzes willen« geschieht, 360 so dass das Sittengesetz nicht nur objektiver, sondern auch subjektiver Bestimmungsgrund des Willens a priori ist, wodurch die »Grundstufe« der Legalität zur »Vollendungsstufe« der Moralität erhoben wird. 361 Kant bezeichnet eine derartige Einstellung zu den Maximen, die einer vernünftigen Selbstprüfung Genüge tut – also das autonome Verhältnis von Volitionen zweiter Stufe zu Willenstendenzen erster Stufe – als ein »moralische[s] Interesse« 362 , »welches rein praktisch und frei ist« 363 , ein »reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft«, »das man an der Befolgung des Gesetzes nimmt«. 364 Ein solches vernünftiges Interesse ist ein Interesse des oberen Begehrungsvermögens und darf nicht mit dem unmittelbar objektorientierten empirischen Interesse des unteren Begehrungsvermögens verwechselt werden, welches durch materiale Bestimmungsgründe heteronom determiniert ist. 365 Ein solches moralisches Interesse ist nach Kant »das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache wird« 366 , »wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein genugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist« 367 . Unter der idealen Perspektive einer Kausalität der Vernunft, als Vermögen der Freiheit, muss die Willensbestimmung unter Ausschluss aller heteronomen Neigungen erfolgen. Das Verhältnis von vernünftigen und empirischen Bestimmungsgründen wird dabei als eine Art Konkurrenzverhältnis gedacht: Natürliche und vernünftige Triebfedern ›streiten‹ unter dieser Perspektive gewissermaßen im
Kant, KpV, AA V, 71. Vgl. Höffe (2012), 192. 362 Kant, KpV, AA V, 79. 363 Kant, KpV, AA V, 81. 364 Kant, KpV, AA V, 79. 365 Vgl. zu dieser zweifachen Bedeutung von »Interesse« auch KpV, AA V, 81: »[D]a dieser Zwang [des Sittengesetzes] bloß durch Gesetzgebung der eigenen Vernunft ausgeübt wird, enthält es [scil. das Gefühl der Achtung] auch Erhebung, und die subjektive Wirkung aufs Gefühl, so fern davon reine praktische Vernunft die alleinige Ursache ist, kann also bloß Selbstbilligung in Ansehung der letzteren heißen, indem man sich dazu ohne alles Interesse, bloß durchs Gesetz bestimmt erkennt, und sich nunmehro eines ganz anderen, dadurch subjektiv hervorgebrachten, Interesse, welches rein praktisch und frei ist, bewußt wird [Hervorh. J. N.]«. 366 Kant, GMS, AA IV, 459 Fn. 367 Kant, GMS, AA IV, 460 Fn. 360 361
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Menschen um ihren bestimmenden Einfluss auf den Willen, 368 um so ihr spezifisches »Interesse« 369 in eine Handlung umzusetzen. Kant bestimmt deswegen den Zustand menschlicher Moralität bzw. Tugend als »moralische Gesinnung im Kampfe« 370 . In seiner Wirkung auf das menschliche Begehrungsvermögen ist das Sittengesetz äußerst ambivalent, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass das dritte Hauptstück im Plural »Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft [Hervorh. J. N.]« 371 handelt, wo es doch eigentlich nur eine vernunftgewirkte Triebfeder, nämlich die der Achtung, gibt. Die komplexe vernunftkausale Willensbestimmung artikuliert sich auf zwei eng miteinander verwobenen Ebenen: auf einer rationalen Urteilsstruktur, die sich zugleich emotional manifestiert. Das moralische Gesetz ist, so Kant, »für sich selbst im Urteile der Vernunft Triebfeder [Hervorh. J. N.]« 372 . Kant denkt im Begriff der Triebfedern der reinen praktischen Vernunft den objektiven Bestimmungsgrund und die subjektive Triebfeder derart zusammen, dass beide nicht der Unterscheidung vernünftig-empirisch gehorchen, sondern allein auf die autonome Wirkungsweise des praktischen Vernunftvermögens bezogen sind. 373 Kant charakterisiert die »Niederschlagung« des Eigendünkels als eine Wirkung des Sittengesetzes auf das durch Neigungen bestimmte und sich bestimmende Subjekt und dessen unteres Begehrungsvermögen, welches »den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip gänzlich aus[schaltet]« 374 . Wie ist diese Einschränkung bzw. »Ausschaltung« des Eigendünkels durch das Sittengesetz zu verstehen? Nach Kant »demütigt« das Sittengesetz den menschlichen Eigendünkel »in unserem eigenen Urteil«. 375 Dieses eigene negative 368 Diese Kampfmetaphorik ist insofern problematisch, als dadurch suggeriert wird, dass in der Person verschiedene Instanzen ohne ihr Zutun agieren. 369 Kant kennt neben dem »Interesse der Neigungen unter dem sinnlichen Prinzip der Glückseligkeit« (KpV, AA V, 120) auch noch ein »reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft«, welches auch als »das moralische Interesse« bezeichnet werden kann (Kant, KpV, AA V, 79). 370 Kant, KpV, AA V, 84. 371 Kant, KpV, AA V, 71. 372 Kant, RGV, AA VI, 24. 373 Vgl. dazu die Unterscheidung in der Grundlegung: »Der subjektive Grund des Begehrens ist die Triebfeder, der objektive des Wollens der Beweggrund« (Kant, GMS, AA IV, 427). 374 Kant, KpV, AA V, 74. 375 Kant, KpV, AA V, 74.
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Urteil über den Eigendünkel wird dadurch erreicht, dass der Mensch »den sinnlichen Hang seiner Natur« mit der absoluten Geltung des Sittengesetzes »vergleicht« 376 . Der Eigendünkel, oder, wie Kant den Hang der Überordnung der Individualinteressen über das Sittengesetz auch nennt, »das liebe Selbst« 377 , wird durch den Vergleich mit dem Sittengesetz relativiert, was zu einer Art ›narzisstischen Kränkung‹ führt. Dieses negative Gefühl infolge moralischer Selbsterkenntnis kann als »Schmerz« 378 und »Unlust« 379 charakterisiert werden. Konfrontiert mit der absoluten Geltung des Sittengesetzes muss jede individuelle und relative Qualität bzw. »Naturgabe« des Menschen als unbedeutend erscheinen. 380 Von einem anderen, vernünftigen Standpunkt aus betrachtet, erweist sich das Gefühl der Achtung im Urteil der Vernunft jedoch als positiv, indem es »Erhebung« 381 über das empirisch affizierte Begehrungsvermögen verheißt und so als intellektuelle »Selbstbilligung« 382 charakterisiert werden kann, welche den reinen Willen gegenüber dem Eigendünkel an Profil gewinnen lässt. Damit erweist sich die Achtung letztlich als Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft innerhalb eines sinnlich-vernünftigen Wesens, wie es der Mensch darstellt: »Achtung fürs Gesetz«, so Kant, ist nicht »Triebfeder zur Sittlichkeit«; vielmehr ist sie »die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet« 383 . Das positive Moment der Achtung besteht also darin, dass sie praktische »Selbstbilligung« des Menschen ist, d. h., dass der Mensch sich als mit dem Sittengesetz durch seine Vernunft identisch erkennt und »sich nunmehr eines ganz anderen, dadurch subjektiv hervorgebrachten, Interesses, welches rein praktisch und frei ist, bewußt wird«. 384 Achtung erweist sich in letzter Kant, KpV, AA V, 74. Kant, GMS, AA IV, 407. 378 Kant, KpV, AA V, 73. 379 Kant, KpV, AA V, 78; 80. 380 Vgl. dazu Kant, GMS, AA IV, 393: »Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist.« 381 Kant, KpV, AA V, 80. 382 Kant, KpV, AA V, 81. 383 Kant, KpV, AA V, 76. 384 Kant, KpV, AA V, 81. 376 377
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Hinsicht als Selbstachtung, wobei dieses »eigentliche Selbst« nicht als Individuum, sondern als reiner Wille und intelligibler Charakter begriffen wird. Diese Selbstaffirmation der Vernunft differenziert sich in ein zweifaches Urteil: Zum einen ist Achtung »eine Selbstschätzung (der Menschheit in uns) [Hervorh. J. N.]« 385 ; zum andern zeigt sie sich als »intellektuelle Verachtung« 386 des Eigendünkels und damit der sich selbst behaupten wollenden kontingenten Individualität. Die Urteilsstruktur des Achtungsgefühls manifestiert sich in negativer Hinsicht als »innere Wahrnehmung der Unangemessenheit alles sinnlichen Maßstabes zur Größenschätzung der Vernunft« und in positiver Hinsicht als »Gefühl unserer übersinnlichen Bestimmung«. 387 Subjekt und Objekt der Achtung fallen damit zusammen in der reinen praktischen Vernunft. Diese selbstreflexive Vernunftstruktur bestimmt Kant als »Persönlichkeit« 388 : Sie ist »die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet [Hervorh. J. N.]« 389 . Gemäß der dynamischen Charakterisierung der Achtung wird die von vernünftigen und empirischen Triebfedern bestimmbare Willkür von Kant im mechanischen Modell einer Waage veranschaulicht, wobei das Gegengewicht zu den inklinierenden Neigungen durch die Vernunft maximiert werden muss. 390 Dies kann jedoch nicht unmittelbar dadurch geschehen, dass vernünftige Gründe in eine der Waagschalen gelegt werden. Kant denkt vielmehr einen anfänglich asymmetrischen Zustand, wonach die Waage zu den empirischen Bestimmungsgründen hinneigt, der insofern zugunsten der Vernunft entschieden werden soll, als die empirischen Bestimmungsgründe entfernt werden. Nach Kant entspricht »jede Verminderung der Hindernisse einer Tätigkeit«, einer »Beförderung dieser Tätigkeit selbst« 391 , so dass also »die Wegräumung eines Hindernisses [der reinen praktischen Vernunft] einer positiven Beförderung der Kausalität gleichgeschätzt wird [Hervorh. J. N.]« 392 . Eine solche »Wegschaffung
Kant, KdU, AA V, 335. Kant, KpV, AA V, 75. 387 Kant, KdU, AA V, 258. 388 Kant, KpV AA V, 87. 389 Kant, RGV, AA VI, 28. 390 Vgl. zur Diskussion der Waage als Wille: Leibniz, T III, 324 f., 344 f. sowie Timmermann (2003), 203 ff. 391 Kant, KpV AA V, 79. 392 Kant, KpV AA V, 75. 385 386
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des Gegengewichtes« 393 der reinen praktischen Vernunft entspricht aus der Perspektive des Vermögens der Freiheit »einer positiven Beförderung« der Autonomie: Demnach entspricht »die Herabsetzung der Ansprüche der moralischen Selbstschätzung, d. i. die Demütigung auf der sinnlichen Seite« einer »Erhebung der moralischen, d. i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellektuellen«. 394 Wie ist dieses Waagschalen-Modell angesichts des AutonomieProblems zu bewerten? Die freiheitstheoretische Ambivalenz dieser Waagen-Metapher besteht darin, dass das Gegengewicht zur Autonomie als ein gänzlich externes Hindernis aufgefasst wird, so dass die empirischen Bestimmungsgründe nur als heteronome Momente, jedoch nicht als mögliche Gründe eines deliberativen Abwägungsprozesses begriffen werden können. 395 Eine Bedingung dafür wäre, dass kontingente Entscheidungsgründe selbst in die Struktur des Willens einbezogen würden und nicht a priori Heteronomie bedeuten. Stattdessen versteht Kant sie jedoch grundsätzlich freiheitsindifferent und nicht voluntativ. Aus der Perspektive einer Autonomie der Vernunft können demnach bewusst nur ›gute‹, d. h. moralische Gründe in die Waagschale gelegt werden. 396 Die Frage, wie aus Freiheit eine böse Handlung gewichtend konstituiert werden kann, fällt angesichts der Frage nach dem praktisch-Werden reiner Vernunft also aus dem Fokus des Triebfedernkapitels: Sie ist ein bloßes Unvermögen. An diesem Gipfelpunkt der Kantischen Autonomie-Lehre wird denn auch, gleichsam einer ›Krisis‹, der Punkt ihrer tiefsten Schwierigkeit manifest: Freiheit als Autonomie der Vernunft scheint nur so lange gegeben zu sein, wie die erzielte Handlung moralisch gut ist; eine moralisch böse Handlung wäre als heteronom zu bezeichnen. Dieses Autonomie-Problem und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, aber auch die möglichen Lösungswege gilt es im Folgenden historisch-systematisch genauer zu untersuchen.
Kant, KpV AA V, 76. Kant, KpV AA V, 79. 395 Vgl. Kant, KpV AA V, 118: »Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht bloß den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen.« 396 Diese Problematik scheint mir Timmermann (2003), 203 ff. im Zuge seiner Behandlung der Waagschalen-Metapher zu übersehen. 393 394
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2. 2.1
Zusammenfassung: Die Notwendigkeit der Vernunft Perspektiven des Autonomie-Problems
Bezieht man die Autonomie-Lehre der Kritik der praktischen Vernunft auf die Theorie transzendentaler Freiheit, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft entworfen wird, so lässt sich bezüglich der individuellen Freiheitsentscheidung, zumal der Entscheidung zum Bösen, eine grundlegende Ambivalenz konstatieren, die sich durch alle Momente des Autonomie-Begriffs wie ein roter Faden zieht. In der Auflösung der dritten Antinomie hatte Kant die Idee eines intelligiblen Charakters als Ausgangspunkt einer Kausalität der Vernunft als denkmöglich erwiesen. Kant war es darum gegangen, den Bereich von Gründen der Freiheitsentscheidung einer gänzlichen Naturalisierung zu entziehen, um so der ontologischen Anforderung nach alternativen Möglichkeiten der Freiheitsentscheidung Genüge zu tun. Er hatte jedoch aufgrund der epistemischen Grenzen seiner theoretischen Philosophie – durch das Fehlen empirischer Anschauung – die rationale Anforderung an seinen Freiheitsbegriff nicht erfüllen können: Kant hatte offen lassen müssen, wie diese Gründe der Freiheitsentscheidung näher zu bestimmen sind. Im Übergang von transzendentaler zu praktischer Freiheit hatte Kant den Freiheitsbegriff als Autonomie der Vernunft im Rahmen des praktischen Vernunftgebrauchs weiter bestimmen können, da hierbei nicht die Sinnlichkeit, sondern das Faktum der Vernunft die Anschauungsform lieferte. Kants Absicht bezüglich praktischer Freiheit bestand darin, die in seinem Begriff transzendentaler Freiheit erfüllte ontologische Anforderung nach alternativen Möglichkeiten durch die rationale Anforderung nach Verständlichkeit der Handlung zu ergänzen. Gründe autonomen Handelns sind für Kant danach vernünftige Gründe der Willensbestimmung, die ihren Ursprung in reiner praktischer Vernunft haben. Es stellte sich heraus, dass die rationale Anforderung nur zur Hälfte erfüllt werden konnte: Es lassen sich nämlich nur solche Gründe verstehen, die zu einer moralisch guten Handlung führen. Gründe der Willensbestimmung, die zu bösen Handlungen führen, entziehen sich prinzipiell unserer Erkenntnis – sie lassen sich weder durch einen reinen praktischen, noch durch einen empirischen Gebrauch der Vernunft erklären: Man hätte hier nur die Alternative zwischen alternativlosem Vernunft- oder Naturdeterminismus. 176
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Da Kant im Übergang von transzendentaler zu praktischer Freiheit den intelligiblen Charakter aufs Engste mit der allgemeinen Verfasstheit des Sittengesetzes verbunden hatte, wurde zugleich dessen Individualität in der Freiheitsentscheidung problematisch. Genauer stellte sich die Frage, wie ein intelligibler Charakter sich überhaupt gegenüber dem Sittengesetz verhalten – d. h. sich dazu in eine reflexive Distanz der Wahl begeben – kann, oder ob er nicht vielmehr immer schon diesem a priori gemäß ist. Den in der Kritik der reinen Vernunft unbestimmten Bereich des Normativen restringiert Kant im Übergang zur Kritik der praktischen Vernunft auf reine praktische Vernunft und Moralität. Das sich daraus ergebende Problem lässt sich als das »Zitadellen-Problem« beschreiben: Das intelligible Selbst oder der reine Wille besitzen eine selbstbezügliche Struktur, die eine freie Abweichung vom Sittengesetz bereits auf begrifflicher Ebene nicht erlauben. Kants Forderung nach einem »complement der Zulänglichkeit« 397 , welches selbst aus der Vernunft stamme, um bloß inklinierende Handlungsgründe zu bestimmenden zu erheben, käme zwar einer solchen gesuchten individuellen Vernunft bzw. einem willentlichen Gebrauch der Vernunft gleich. Doch kann dieser Begriff im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus nicht konsistent gedacht werden, ist doch letztlich die objektive Vernunft »die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint« 398 . Kants Theorie der freien Person steht deshalb in der Spannung von Individualität und Allgemeinheit, zwischen dem durch Eigendünkel konstituierten »liebe[n] Selbst« 399 auf der einen, und dem durch reine praktische Vernunft bestimmten »eigentliche[n] Selbst« 400 oder »bessere[n] Person« 401 , zwischen rein vernünftiger Autonomie und empirischer Heteronomie. Die Kantische Lehre ist also überlagert von zwei verschiedenen Perspektiven auf die Freiheit: Zum einen im Sinne eines durch Gründe bestimmbaren liberum arbitrium, wie es in der Kritik der reinen Vernunft konzipiert wird, zum andern als ein oberes Begehrungsvermögen, welches durch moralische Gründe Autonomie ermöglicht, wie sie in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt wird. Aus
397 398 399 400 401
Kant, Refl. 5611, AA XVIII, 252. Kant, KrV, B 581. Kant, GMS, AA IV, 407. Kant, GMS, AA IV, 457. Kant, GMS, AA IV, 455.
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der Perspektive einer Freiheit als Autonomie »ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft«, er ist »ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig, d. i. als gut, erkennt«. 402 »Das Prinzip der Autonomie«, besteht insofern darin, »nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien« 403 . Für die Frage nach der Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen hatte sich besonders das zweite Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft als zentral erwiesen. Als ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist das Böse nichts Vorgefundenes, sondern stellt – ebenso wie das Gute – eine Hervorbringung der reinen praktischen Vernunft als Willensgesinnung dar, die sich konkret in einer Handlung manifestiert. Hier stellt sich nun allerdings die Frage, ob reine praktische Vernunft überhaupt das Böse, als ihr Gegenprinzip, hervorzubringen vermag, oder ob dies nicht bereits aus begrifflichen Gründen unmöglich ist. Zwar spricht Kant davon, dass die Kategorien der Freiheit »auf die Bestimmung einer freien Willkür gehen« 404 . Wie aber kann eine Freiheit zum Bösen überhaupt sinnvoll gedacht werden, wo doch nach Kant der freien Willkür bei der kategorialen Selbstbestimmung »ein reines praktisches Gesetz« 405 und »die Form eines reinen Willens« 406 zu Grunde liegen? Eine freie Hervorbringung einer bösen Willensgesinnung im Medium der reinen praktischen Vernunft lässt sich demnach nur als Konstituierung eines voluntativen Selbstwiderspruchs, also im Sinne einer moralisch verkehrten Einheitsbildung verstehen. Diese falsche Einheitsbildung jedoch kann nicht mehr als ein voluntativ kontrollierter Akt verstanden werden, sondern scheint eher einem logischen ›Fehlschluss‹ zu ähneln. 407 Im Bösen vermag der Mensch keine stimmige Einheit unter seinen Maximen im Bewußtsein der Forderung des Sittengesetzes Kant, GMS, AA IV, 412. Kant, GMS, AA IV, 440. 404 Kant, KpV, AA V, 65. 405 Kant, KpV, AA V, 65. 406 Kant, KpV, AA V, 66. 407 Dies legt auch Kants Vergleich der autonomen Willensentscheidung mit einem Vernunftschluss nahe: Ist der Obersatz eines solchen Schlusses das Sittengesetz, dann kann nur insofern eine böse Konklusion ›gewonnen‹ werden, als es sich um einen Fehlschluss handelt. Aber ist ein Fehlschluss willentlich möglich? Müsste dieser Fehlschluss nicht vielmehr als eine von zwei gleich möglichen Auflösungen eines Erkenntniszusammenhangs aufgefasst werden. Vgl. Kant, KpV, AA V, 90. 402 403
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mehr herzustellen: Er ist willentlich mit sich selbst (als eigentlich reiner Wille) uneins und gespalten. Dieses Problem wird auch dadurch virulent, dass Kant unter dem moralisch Guten einen notwendigen Gegenstand des Begehrungsvermögens versteht, während er unter dem Bösen einen Gegenstand des »Verabscheuungsvermögens« erblickt – »beides aber nach einem Prinzip der Vernunft«. 408 Ist nicht aber ein Wollen des Bösen durch ein solches Verabscheuungsvermögen, und das Ausführen des Bösen als ein Unvermögen der vernünftigen Autonomie bereits begrifflich ausgeschlossen? Am deutlichsten tritt jedoch das Autonomie-Problem in Kants Theorie moralischer Motivation zum Vorschein. Zwar kennt Kant mit seinem Begriff des »Vernünftelns« eine Art von Gebrauch der Vernunft, doch hebt er diese nicht deutlich genug von bloß passiven »Hindernissen« heteronomer Willensbestimmung ab. Kant schwankt darin, ob der Konflikt der Willensbildung angesichts des Bösen ein bloß äußerer (als ein privatives Unvermögen) ist – das legt die Rede von einem »Hindernis« nahe, oder ob er selbst ein intern-willentlicher (als ein aktives »Un-Vermögen«) ist. 409 Der heteronome Gebrauch der Vernunft lässt sich nicht als ein Missbrauch der Vernunft denken, weil Kant Neigungen prinzipiell als heteronom begreift, die dem Vernunftsubjekt wesentlich fremd sind. Dadurch können jedoch Neigungen nicht zu möglichen Gründen der Freiheitsentscheidung erhoben und reflexiv in einen Willen integriert werden. Da Kant an dieser Stelle nicht streng genug zwischen einem willentlichen Hang und einer heteronomen Neigung unterscheidet, entsteht das Problem, dass eine böse Handlung nur schwer der Person zugerechnet werden kann. Die spezifische Autonomie-Perspektive des praktisch-Werdens reiner Vernunft vermag Neigungen nur als passives Hindernis ohne reflexiv-voluntative Dimension zu verstehen: Nur in dem Fall, wo das Hindernis der Neigungen nicht zu groß ist, wird sich die praktische Vernunft durchsetzen können; im andern Fall würde die Heteronomie des Menschen durch sinnliche Bestimmungsgründe die Oberhand behalten. Die individuelle Person bleibt dabei bloße Zuschauerin der innerpsychischen Kämpfe zwischen den Kant, KpV, AA V, 58. Christine Korsgaard interpretiert die Wirklichkeit des Bösen im ersteren Sinne: »[T]here is after all an element of truth in Kant’s idea that badness is a kind of heteronomy. The bad person is determined from outside, for he is a conduit for forces working in him and through him, and he is to that extent, internally, enslaved.« (Korsgaard [2009], 161). 408 409
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sie konstituierenden Prinzipien der Vernunft und Sinnlichkeit um die Vorherrschaft über den Willen. Kants Bindung von Volitionen zweiter Stufe an das rein Intelligible des Sittengesetzes schließt eine freie Entscheidung zum Bösen kategorisch aus: Die autonome Willkür vermag nur solche Maximen zu wählen, die allein auf das Gute ausgerichtet sind. Das eigentliche Selbst des Menschen ist bereits seiner Natur nach auf das Gute ausgerichtet und so nur für die vernunftgewirkte Triebfeder der Achtung für moralische Handlungen empfänglich. Eine frei gewirkte Triebfeder zum Bösen ist innerhalb von Kants Theorie autonomer Vernunft nicht konsistent denkbar. 410 All diese Probleme bei der Bestimmung des Bösen ergeben sich aus der Kants Theorie zugrunde gelegten hypothetischen Perspektive 411 des idealen Akteurs, also des autonomen praktisch-Werdens reiner Vernunft und ihres Durchschlagens in den Bereich der Handlung in der Sinnenwelt als Kausalität aus Freiheit. Das Moment der Wahl des Bösen, welches nicht auf Basis einer universellen, sondern gerade individuellen Gesetzlichkeit – einer Maxime – basieren müsste, wird dadurch systematisch ausgeblendet. 412 Es lässt sich damit festhalten, dass Kant seine Theorie autonomer Vernunft gewissermaßen normativ überdeterminiert, was zu einer Asymmetrie innerhalb einer möglichen Entscheidung zum Guten oder Bösen führt: Kant erklärt die Freiheit zum moralisch Guten gewissermaßen zu gut. 413 Um jedoch moralische Zurechenbarkeit angesichts einer symmetrischen Alternative von Gut oder Böse, und damit volle moralische Zurechenbarkeit, aufrecht zu erhalten, muss dieser normative Überschuss abgebaut und in das einer individuellen Person adäquate Maß gerückt werden. Eine solche adäquate Perspektive ist nicht diejenige eines reinen Willens und reiner praktischer Vgl. zu diesem Problem: Brandt (2010), 75. Vgl. zu diesem hypothetischen Status der Kantischen Autonomie-Lehre auch die konditionalen Wendungen im ersten Hauptstück der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft: »Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Formel der Maximen allein der zureichende Bestimmungsgrund eines Willens sei« (28); »Vorausgesetzt, daß ein Wille frei sei, das Gesetz zu finden, welches ihn allein notwendig zu bestimmen tauglich ist.« (29). 412 Vgl. Kant, KdU, AA V, 210: »Denn wo das sittliche Gesetz spricht, da gibt es objektiv weiter keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu tun sei«. 413 Vgl. Korsgaard (2009), 160: »[T]he action must meet the normative standard: it just isn’t action if it doesn’t. But it also seems as if it explains it rather too well, for it seems to imply that only good action really is action, and that there is nothing left for bad action to be.« 410 411
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Vernunft, sondern die eines natürlich-vernünftigen, in Kontexten situierten Akteurs. Um personale Identität auch in Konflikt mit dem Sittengesetz aufrecht zu erhalten, muss also der Autonomie-Begriff abgeschwächt werden. Dies darf jedoch nicht derart erfolgen, dass die enge Bindung von Freiheit und Gesetz gänzlich aufgelöst wird, denn so drohte ein freiheitstheoretischer Indifferentismus; sie muss aber zumindest soweit gelockert werden, dass die individuelle Person über ein individuelles Gesetz ihre Identität gegenüber dem Sittengesetz aufrecht erhalten kann. 414 Dieses Zurechtrücken und Herabstufen der moralischen Überdetermination autonomer Willensbestimmung kann ganz allgemein als ein Übergang von einer idealen zu einer realen Perspektive auf den Willen verstanden werden. In folgenden Hinsichten könnte eine solche abschwächende Modifikation der Kantischen Autonomie-Lehre erfolgen: (1) Willenstheoretisch: Die Begriffe von Neigung, Hang, Hindernis und Heteronomie müssen auf die interne Struktur des Willens selbst bezogen werden. 415 So gesehen sind die materialen Triebfedern (bzw. die Neigungen) bereits – als Willenstendenzen erster Ordnung – willentlich strukturiert, werden also nur aus der idealen Perspektive reiner praktischer Vernunft und des ›oberen‹ Begehrungsvermögens als etwas Heteronomes erfahren. Aus der Perspektive der individuellen Person hingegen stellen materiale Triebfedern mögliche handlungsbestimmende Gründe dar, die nur inklinieren, jedoch nicht nezessitieren. 416 Neigungen dürfen demnach nicht als Hindernisse, sondern müssen gerade als freiheitsermöglichende Operationsbasis und Kräftevektoren begriffen werden, die zu einer Entscheidung gleich einer Resultante reflexiv aufsummiert bzw. maximiert werden. Der Hang zum Bösen darf nicht als etwas Passives (als Unvermögen) 414 Vgl. zur Notwendigkeit einer herabstufenden Modifikation des starken Kantischen Autonomie-Konzepts für eine Theorie individueller personaler Autonomie: Pauer-Studer (2005), 190. 415 Dies war bereits die entscheidende Neuerung der Augustinischen Freiheitslehre. Vgl. zum voluntativen Status der affectiones animi: Augustinus, CD, XIV, 6, 164. Zwar unterscheidet Kant ein oberes von einem unteren Begehrungsvermögen, welches alle Neigungen umfasst, doch wird dieses von Kant gegenüber dem oberen Begehrungsvermögen und dem es bestimmenden Sittengesetz nicht als autonom, sondern als heteronom charakterisiert. 416 Problematisch ist deshalb folgende personifizierende Charakterisierung der Neigung bei Timmermann (2003), 2: »Die Sinnlichkeit macht ihre Ansprüche nicht nur geltend, sie versucht diese Geltung auch vor der Vernunft anzumelden.«
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verstanden werden, soll er moralisch zurechenbar sein: vielmehr ist er selbst ein prinzipiell freies und voluntatives Geschehen – ein »UnVermögen«. (2) Metaphysisch: Die Begriffe der Determination und der Notwendigkeit müssen streng voneinander unterschieden werden. Eine freie Handlung muss wesentlich determiniert sein, um der rationalen Anforderung an die Freiheit gerecht zu werden. Es muss somit denkbar werden, dass eine Person eine Handlung auf kontingente und zugleich bestimmte Weise hervorbringt. Die Willensbestimmung durch Neigungen darf nicht mit Notwendigkeit und Heteronomie gleichgesetzt werden, sondern muss als Inklination verstanden werden, die mit Freiheit kompatibel ist, insofern sie willentlich strukturiert ist. (3) Freiheitstheoretisch: Es muss ein Ort individueller Willkür identifiziert und bestimmt werden, der nicht der vollständigen Unterscheidung von intelligibler (autonomer) und sensibler (heteronomer) Welt gehorcht. Dieser Ort muss derjenige eines individuellen Gesetzes – einer Maxime – sein, welches die Person weder nötigt noch indifferent handeln lässt. Eine solche individuelle Freiheit muss die Person mit ihrer naturalen Basis verbinden, zu der sie sich frei verhalten kann. (4) Rationalitätstheoretisch: Der Raum für individuelle Rationalität und Gesetzlichkeit, wie sie sich im Begriff der Maxime zeigt, muss weiter ausgelotet werden. Auch böse Handlungen, die auf dem Eigendünkel der Person basieren, müssen sich als Produkt einer rationalen Entscheidung verstehen lassen. Es muss also ein freier Gebrauch der Vernunft auch gegen die Geltung des Sittengesetzes als objektiver und allgemeiner Vernunft möglich sein, wodurch das Verhältnis von Wille und Vernunft nun nicht mehr ein fixiertes und asymmetrisches, sondern ein flexibles ist, welches verschiedene Auflösungen des Gebrauchs – zum Guten oder Bösen – zulässt. 417 Individuelle Rationalität ist insofern nicht gleichzusetzen mit der Wirkungsweise bloßer hypothetischer Imperative, also im Sinne eines 417 Vgl. dagegen Willaschek (1992), 247: »Wie man sich frei und trotzdem unvernünftig entscheiden kann, bleibt nach Kant ein Rätsel, denn freie Entscheidungen kann man nicht naturwissenschaftlich erklären, unvernünftige Entscheidungen nicht ausreichend begründen. Doch mit diesem Rätsel kann man leben, denn der Anspruch, auch das Unvernünftige noch vernünftig begründen oder erklären zu wollen, ist sinnlos [Hervorh. J. N.].« Das Ziel der nachkantischen Freiheitsdebatte wird gerade darin bestehen, das Unvernünftige noch weiter zu erklären, indem dieses willenstheoretisch analysiert wird.
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heteronomen, empirisch-praktischen Gebrauchs der Vernunft, als Sklavin der Affekte. Vielmehr muss das sich-in-Dienst-Stellen der Vernunft angesichts der Neigungen als ein willentliches und zurechenbares Geschehen aufgefasst werden, dessen Gesetz nicht mehr universell, sondern individuell ist. (5) Personalitätstheoretisch: Der Begriff der Person muss so analysiert werden, dass darunter nicht mehr ein allgemeines und unbestimmtes Vernunftsubjekt fällt, sondern damit ein freies Individuum gedacht werden kann, welches sich auf spezifische Weise von anderen Subjekten unterscheidet. Der Wille einer solchen Person fällt nicht mit dem rein-vernünftigen Willen zusammen, sondern konstituiert sich aus natürlichen und vernünftigen Momenten. Die enge Bindung von Volitionen zweiter Ordnung an das Sittengesetz muss derart gelockert werden, dass dessen Forderung selbst zum Gegenstand einer willentlichen Evaluation werden kann. (6) Autonomietheoretisch: Kants Theorie einer Autonomie der Vernunft muss insgesamt herabgestuft werden zu einer Theorie personaler und individueller Selbstbestimmung. Dabei wird das Verhältnis von Wille und Vernunft reflexiv: Nicht nur die allgemeine Vernunft muss den Willen im Sinne ihres praktisch-Werdens bestimmen können, sondern auch der Wille die Vernunft im Sinne ihres Gebrauchs. Reine praktische Vernunft besitzt aus dieser personalen Perspektive nur noch legislative, nicht mehr hingegen eine exekutive und willkürliche Funktion.
2.2
Das Problem des intelligiblen Fatalismus
Einen dringenden Anlass, die virulenten Probleme der Kantischen Autonomie-Lehre einer möglichen Lösung zuzuführen, bot im unmittelbaren Ausgang von Kants Kritik der praktischen Vernunft Carl Christian Erhard Schmids radikale Interpretation des »intelligiblen Fatalismus«. 418 Die historisch-systematische Bedeutung der Schmidschen Interpretation besteht darin, dass sie die gravierenden Probleme des Kantischen Autonomie-Begriffs herausstellt, indem sie darin nicht weiter ausgeführte, implizite Gedanken konsequent zu Ende 418 Schmids Freiheitslehre findet sich in seinem Versuch einer Moralphilosophie, Jena 1790; 21792 (zit. nach Paragraph- und Seitenzahl). Für einen allgemeinen Überblick über Schmids Philosophie vgl. Wallwitz (1998).
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denkt und ad absurdum führt. Schmid setzt dort an, wo die Kritik der praktischen Vernunft nähere Fragen, vor allem hinsichtlich des Problems einer Freiheit zum Bösen, offen gelassen hatte. Liest man Kants Projekt der Kritik der praktischen Vernunft als eine Definition und Begründung wirklicher menschlicher Freiheit – also nicht im Sinne einer Hypothese oder idealen Perspektive des praktisch-Werdens reiner Vernunft, sondern im Sinne einer Ontologie –, so führt die darin enthaltene Triebfedernlehre in die Problematik eines »intelligiblen Fatalismus« 419 , wonach allein die vernünftige und moralisch gute Spur der Willensbestimmung – qua Zwang – gangbar ist, und eine selbstbestimmte Abweichung von dieser Spur, eine Freiheit zum Bösen, unmöglich gemacht wird. 420 Das Böse erscheint so als bloße Entgleisung aus der Vernunftbahn; eine vernünftige Spurtreue hingegen als fatalistische Bindung. Schmids »intelligibler Fatalismus« enthält daher mit Blick auf das moralisch Gute »die Behauptung einer allgemeinen Nothwendigkeit nach Vernunftgesetzen« 421 . Schmids fatalistische Interpretation der Kantischen AutonomieLehre kann als ein Katalysator angesehen werden, der eine ganze Reihe von freiheitstheoretischen Gegenentwürfen nach sich zog, welche die Kantische Theorie einerseits gegen die von Schmid aufgezeigten Konsequenzen verteidigen wollten, sich andererseits aber gezwungen sahen, die Kantische Autonomie-Lehre aufgrund klar zu Tage tretender begrifflicher Insuffizienzen weiter zu klären und auch an bestimmten Punkten zu modifizieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Kant selbst zu diesen Philosophen gehörte und in seiner Religionsschrift auf das Problem des »intelligiblen Fatalismus« reagierte. Dafür spricht die Tatsache, dass Kant im Besitz beider Auflagen von Schmids Versuch einer Moralphilosophie war, der die Theorie des
Schmid, Versuch (1790), 257, 211. Schmid kann bei dieser Interpretation an Johann August Heinrich Ulrichs Eleutheriologie (1788) anknüpfen. Darin hatte Ulrich mit Blick auf das Vermögen der reinen praktischen Vernunft die Frage nach ihrer Anwendung und ihrem Gebrauch gestellt: »Ein anders ist doch das Vermögen, ein anders die Anwendung dieses Vermögens, oder die Unterlassung der Anwendung« (12, 33). Daraus hatte sich eine fatalistische Konsequenz ergeben: »Warum wird dieses Vermögen bey gewissen Handlungen angewendet, bey anderen nicht? Entweder ist etwas vorhanden, welches einmal der [!] Grund der Anwendung, ein andermal den Grund der Unterlassung enthält, oder nicht. Im ersten Fall Nothwendigkeit, im andern Fall Zufall.« (12, 34). 421 Schmid, Versuch (1792), 263, 397. 419 420
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»intelligiblen Fatalismus« enthielt, so dass Kant bereits ab 1790 mit dem Autonomie-Problem vertraut gewesen sein musste. 422 Bereits in seinem Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften hatte Schmid unter dem Lemma »Autonomie« geschrieben: »Frey, automatisch und sittlichgut handeln, sind Synonimen.« 423 Auch wenn es sich bei dem Wort »automatisch« wohl um einen Druckfehler handelt – es müsste wohl richtig »autonomisch« lauten 424 – ist damit doch bereits die Grundproblematik der Kantischen Autonomie-Lehre auf den Punkt gebracht: Diese betrifft die fehlende Möglichkeit eines willentlichen Gebrauchs der Vernunft, so dass der Vernunft nur eine Richtung ihres freien Gebrauchs vorgeschrieben ist, was sich in der quasi-mechanistischen Metaphorik der Kantischen Theorie moralischer Motivation und der vernunftgewirkten Triebfeder der Achtung niederschlägt. Konkret setzt Schmid an Kants Begriff eines »Hindernisses« 425 der reinen praktischen Vernunft an, welches er nun ontologisch weiter denkt. 426 Für die Frage nach der Möglichkeit moralischer Verantwortung der individuellen Person bedeutet dies: Böse Handlungen entstehen nicht durch eine freie Willensentscheidung, sondern dadurch, dass das Vorhaben der reinen praktischen Vernunft, das ihr 422 Dies zeigt ein Blick in die Bestandsliste der Kantischen Bibliothek. Vgl. dazu Warda (1922), 55. Vgl. auch Prauss (1983), 90 f.: »Auch wenn es sich nicht zwingend erweisen läßt, so spricht doch einiges dafür, daß er [scil. Kant] […] durch die Schriften von […] Schmid auf jenes Problem des nichtmoralischen Handelns aufmerksam wurde.« Vgl. auch Prauss (1983), 91: »Es kann daher auch keineswegs als Zufall gelten, sondern muß als ein Versuch betrachtet werden, dieser Herausforderung [des »intelligiblen Fatalismus«; J. N.] zu begegnen, wenn Kant danach erst eigene Untersuchungen anstellt, ob und wie im Rahmen seiner Konzeption sich auch die Möglichkeit des nichtmoralischen Handelns erklären lasse, insbesondere des moralisch bösen«. Vgl. zu Kants Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Problem in der Religionsschrift Teil III.1 der folgenden Untersuchung. 423 Carl Christian Erhard Schmid, Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, Jena 1788, 6. 424 Vgl. Lazzari (2004), 203 f., Fn. Die Vertauschung beider Wörter erinnert an einen lapsus linguae Freudscher Manier. 425 Kant, KpV, AA V, 75. 426 Kant selbst hat zum Problem des Hindernisses Stellung bezogen in der 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft: »Einer von den verschiedenen vermeinten Widersprüchen in dieser gänzlichen Unterscheidung der Naturkausalität von der durch Freiheit ist der, da man ihr den Vorwurf macht, daß, wenn ich von Hindernissen, die die Natur der Kausalität nach Freiheitsgesetzen (den moralischen) legt, oder ihrer Beförderung durch dieselbe rede, ich doch der ersteren auf die letztere einen Einfluß einräume.« (Kant, KdU, AA V, 195 Fn.).
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inhärente Gute zu verwirklichen, von einer vernunftexternen Instanz verhindert wurde. 427 Eine freie und damit auch gute Handlung ist also nach Schmid dann und nur dann gegeben, wenn sie auf ein ungehindertes Wirken der praktischen Vernunft kausal zurückzuführen ist: »Wenn und sofern Handlungen das Gepräge der vernünftigen Selbstthätigkeit an sich tragen, oder sofern ein gegebener Stoff der Vernunftform gemäß bestimmt und behandelt worden: in so fern sind sie moralische Handlungen; unmoralisch hingegen, in so fern keine Spur von einer Würkung der selbstthätigen Vernunft darin erscheinet.« 428 Indem Schmid keinen willkürlichen Gebrauch der Freiheit denkt, demzufolge auch das Böse aus Gründen erfolgen kann, ergibt sich nicht nur eine Privationstheorie des Bösen, sondern eine Privationstheorie der Freiheit zum Bösen: »Immoralische Handlungen und Gesinnungen hängen«, so Schmid, »auf keine Weise von der (Freyheit) eigenen, absoluten Selbstthätigkeit […], sondern vielmehr von dem Mangel derselben ab« 429 . Das »Vermögen unsittlich zu handeln«, so Schmid, »ist eine Folge der Einschränkung unsrer Freyheit, also in Beziehung auf die Vernunft, ihres Unvermögens [Hevorh. J. N.]« 430 . Daraus folgt nach Schmid: »[D]er Mensch ist zu der Zeit, da er Unrecht verübt, nie völlig bey Sinnen, d. h. er hat den Gebrauch seiner moralischen Freyheit nicht.« 431 Wir haben also nach Schmid »keine Freyheit, keinen ursprünglichen innern Bestimmungsgrund, das Böse zu wollen«, sondern sind »in dieser Rücksicht […] bloß abhängig« 432 . Die überaus problematischen Konsequenzen des »intelligiblen Fatalismus« hat in der Folge Leonhard Creuzer in seinen Skeptischen Betrachtungen über die Freiheit des Willens 433 deutlich herausgestellt: »[W]enn die moralische Freyheit sich nur auf das erstreckt, was sie wirklich thut, und wenn sie im Gegentheil eingeschränkt ist, Vgl. Schmid, Versuch (1790), 252, 206. Schmid, Versuch (1790), 251, 206. 429 Schmid Versuch (1792), 252, 342, Anm. 5. 430 Schmid 1792, § 249, 335, Anm. 2. An dieser Stelle sei bereits auf Kants Begriff des »Unvermögens« in der Metaphysik der Sitten von 1797 verwiesen, der sich als eine Aufnahme des Schmidschen Gedankenguts verstehen lässt. 431 Schmid 1792, § 249, 336, Anm. 3. 432 Schmid 1792, § 252, 341, Anm. 1. 433 Leonhard Creuzer: Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens, Giessen 1793. 427 428
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in Absicht auf alles, was sie nicht thut, so folgt daraus unwidersprechlich, daß jede unmoralische Handlung gänzlich außer unserer Gewalt liegt« 434 . Creuzer macht dabei auf zwei gravierende und untrennbar miteinander zusammenhängende Probleme aufmerksam: Zum einen lässt sich, sofern die Vernunft die Instanz der Freiheit ist, keine individuelle Freiheit mehr denken, so dass »nicht nur alle Schuld wegfällt, sondern daß auch […] wenn es Verdienst giebt, dies Verdienst bey allen Menschen gleich seyn müsse. Denn die Vernunft ist sich selbst gleich« 435 . Im Falle eines fehlenden Hindernisses der allgemeinen Vernunft muss dann aber Freiheit als notwendige Realisierung des moralisch Guten erscheinen, die nicht mehr dem individuellen Freiheitssubjekt zur Disposition steht: »Nim[m]t man alle diese Einschränkung hinweg, so steht der Selbstbestimmung keine größre fremde Gegenbestimmung im Wege. Ich kann alsdenn nicht mehr sagen: Ich soll moralisch handeln, sondern ich muß moralisch handeln.« 436 Dadurch wird nicht nur die Freiheit zum Bösen, sondern auch die Freiheit zum Guten problematisch, wie Creuzer im Rahmen seiner immanenten Kritik herausstellt: »Der Begriff von Verdienst verliert also eben so gut seine Gültigkeit, als der Begriff von Schuld, mit dem er ohnehin als ein nothwendiges Korrelat steht oder fällt.« 437 Schmid selbst hat direkt auf Creuzers konsequente Interpretation seiner Theorie des »intelligiblen Fatalismus« geantwortet, und zwar im Vorwort von Creuzers Skeptischen Betrachtungen aus dem Jahr 1793. Dort verleiht Schmid seinen gravierenden Schwierigkeiten Ausdruck, individuelle Freiheit zu denken, angesichts der Frage, ob eine Freiheit zum Bösen nur ein Unvermögen oder doch ein Vermögen sei. Er changiert dabei zwischen zwei möglichen Ansichten der Willkür, gelangt jedoch zu keiner befriedigenden Lösung. Die Freiheit zum Bösen sei, wie er konstatiert, die »eines Unvermögens, das doch das völligste Vermögen ist, eines vollständigen Grundes, der nicht nothwendig begründet, eines Individualdings, das sich wie ein abgezogenes Allgemeinding verhält, also bestimmt und auch unbestimmt ist« 438 . Damit hat Schmid selbst bereits einen Ausweg aus seiner Theorie des »intelligiblen Fatalismus« aufgezeigt: Die Freiheit
434 435 436 437 438
Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 184. Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 184 f. Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 185. Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 185. Schmid, Vorrede, IX f.
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III. Freiheit der Vernunft
zum Bösen ist »das völligste Vermögen«, sie ist ein »vollständiger Grund«, also durchaus bestimmt, wenn auch »nicht nothwendig begründet«. Dennoch handelt es sich für Schmid, der immer noch den Begrifflichkeiten der Kantischen Transzendentalphilosophie anhängt, bei der individuellen Willkürentscheidung zum Bösen um einen »undenkbaren Gedanken« bzw. einen »Nichtgedanken« 439 . Dieses Denkproblem hat Schmid als »moralisches Unvermögen« bezeichnet: »[W]ir Menschenkinder sind weder mächtig genug, um ein moralisches Vermögen in ein sittliches Unvermögen, oder dieses in jenes umzuschaffen; noch ist uns sammt und sonders die Bosheit eigen, unser eignes sittliches Vermögen in sittliches Unvermögen, oder gar in ein unsittliches Vermögen umzuwandeln« 440 . Das Anliegen, diesen »Nichtgedanken« bzw. dieses »Unvermögen« einer Freiheit zum Bösen als ein Vermögen positiv zu denken und damit individuelle Freiheit gerade verständlich zu machen – also die rationale Anforderung an einen Begriff von Willensfreiheit zu erfüllen – vereint die im Folgenden zu untersuchenden Freiheitsentwürfe bei und im Ausgang von Kant.
439 440
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Schmid, Vorrede, X. Schmid, Vorrede, XIII.
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IV. Freiheit des Willens. Transformationen autonomer Vernunft
1.
Die Maximierung des Willens. Kants Kritik der Willkür in der Religionsschrift [W]ie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird. 1
1.1
Der Gebrauch der Freiheit
Der in Kants Religionsschrift entwickelte Begriff einer Freiheit der Willkür erhält sein spezifisches Profil angesichts des durch Carl Christian Erhard Schmids Theorie des »intelligiblen Fatalismus« virulent gewordenen Problems einer Freiheit zum Bösen. Kants Modifikationen seiner Theorie autonomer Vernunft sind dabei weniger als eine »Selbstkritik« 2 zu verstehen, sondern vielmehr als eine Neuperspektivierung seines Freiheitsbegriffs im Sinne individueller Entscheidungsfreiheit: Kants Behandlung der individuellen Willkür der Person lässt sich gegenüber dem häufig vorgebrachten Vorwurf eines Bruchs 3 und einer radikalen Neukonzeption 4 innerhalb seiner FreiKant, RGV, AA VI, 49 Fn. Prauss (1983), 93. 3 So etwa Ortwein (1983), 9: »Der Übergang zu einer Willkürkonzeption stellt einen Bruch dar, den Kant um der moralischen Verantwortlichkeit des Menschen für alle Handlungen und um der theoretischen Einordnung des bis dahin problematischen Begriffs des Bösen wegen in Kauf nimmt.« An einer anderen Stelle jedoch spricht Ortwein dann, wiederum zutreffender, von einer »grundsätzliche[n] Spannung in Kants Freiheitstheorie« (8). 4 Vgl. dazu Ortweins Charakterisierung der Willkürkonzeption der Religionsschrift 1 2
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heitstheorie verteidigen, wenn man seine Differenzierungen in der Religionsschrift als ein zu seiner Theorie autonomer Vernunft komplementäres Unternehmen begreift: In der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant die Freiheit im Wesentlichen unter einer idealen Perspektive – vom gelingenden moralischen Guten als praktischWerden reiner Vernunft her – betrachtet, wohingegen nun die konkrete, individuelle Willkürentscheidung aus der Perspektive des moralisch Bösen thematisch wird. 5 Dem idealistischen Begriff menschlicher Freiheit stellt Kant in seiner Religionsschrift also einen realen Begriff an die Seite: Es geht Kant hier um eine Analyse »des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz« 6 . Wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vom faktisch gelingenden Guten (dem Faktum der Vernunft) ausgegangen war, so geht er in der Religionsschrift nun vom faktisch vorgefundenen Bösen (dem ›Faktum des Bösen‹) aus, 7 wobei beide facta gleichermaßen zurechenbar sein müssen: Das moralisch Böse »muß aus Freiheit entspringen« 8 , wie Kant ausdrücklich betont, und erläuternd hinzufügt: »Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein.« 9 Kant bestimmt diese individuelle Freiheit in Anknüpfung an seinen Begriff transzendentaler Freiheit ganz allgemein als »absolute Spontaneität der Willkür« 10 . Im Zuge seiner Analyse der Willkür unals eine »Zäsur«, insofern darin »Freiheit zum ersten Mal konsequent als libertas indifferentiae und nicht mehr als Vernunftkausalität bzw. Willensbestimmung aus Achtung vor dem Sittengesetz« bestimmt wird (145). Diese These ist insofern problematisch, als Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft die Freiheit als liberum arbitrium begreift. Ferner ist kritisch anzumerken, dass Kant selbst in der Religionsschrift nicht von einer »libertas indifferentiae« spricht, sondern von einer Freiheit der Willkür. Wie in Folgenden gezeigt werden soll, richtet sich Kant dabei gerade gegen eine Annahme von Freiheit als Indifferenz und Grundlosigkeit. Stattdessen versucht er einen Begriff von begründeter Entscheidungsfreiheit, d. h. deliberativer Freiheit, zu entwickeln. 5 Vgl. Buchheim (2001a), 658. 6 Kant, RGV, AA VI, 35. 7 Vgl. Klar (2007), 68. 8 Kant, RGV, AA VI, 31. 9 Kant, RGV, AA VI, 45. 10 Kant, RGV, AA VI, 24.
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terscheidet Kant zusätzlich zu seiner Kritik des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft 11 auch einen Gebrauch der Freiheit. Kants Religionsschrift kann insofern als eine Kritik des individuellen Freiheitsgebrauchs verstanden werden. 12 Auch spricht Kant in diesem Zusammenhang nicht mehr von der Bestimmung der Willkür durch reine praktische Vernunft 13 – dies geschah aus der idealen Perspektive –, sondern vom »Gebrauch der Willkür« 14 . Angesichts des vollständigen Freiheitsgebrauchs, »es sei zum Guten oder Bösen« 15 , versteht Kant unter der »Natur« des Menschen »nur de[n] subjektive[n] Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt«, jedoch stets, wie er betont, »unter objektiven moralischen Gesetzen«, wenn auch nicht durch moralische Gesetze. 16 Die Willkür wird damit von der Bindung an das Sittengesetz reflexiv gelöst, zu dessen Imperativen sie sich frei verhalten kann. Der »ganze Gebrauch der Freiheit« 17 ist deshalb ein »Gebrauch, oder Mißbrauch der Willkür des Menschen, in Ansehung des sittlichen Gesetzes« 18 . Freiheit besteht demnach nicht in der reinen praktischen Vernunft, sondern im Verhältnis zu ihr, auf Basis der individuellen Natur der Person. Eine solche individuelle Perspektivierung menschlicher Freiheit angesichts des Bösen erfordert verschiedene begriffliche Unterscheidungen. Zunächst muss das Verhältnis von individueller Natur und Vernunft zur allgemeinen Forderung reiner praktischer Vernunft geEs wäre Aufgabe einer eigenen Untersuchung, das systematische Verhältnis der verschiedenen Gebräuche der Vernunft nach Kant aufzuklären. Kant unterscheidet nämlich u. a. noch zwischen einem »apodiktischen« (KrV, B 674), einem »hypothetischen« (KrV, B 675), »spekulativen« (GMS, AA IV, 463), »transzendentalen« (KrV, B 543), »empirischen«, »reinen« (KrV, B 592), »kritischen« (KdU, AA V, 365), »passiven« (AA IX, 76), »gesetzlosen« (VIII, 145) und einem »dialektischen« (IV, 348) Gebrauch der Vernunft. 12 Die Wendung »Gebrauch der Freiheit« findet sich auffällig oft in der Religionsschrift – insgesamt sieben Mal –, jedoch nur ein Mal in der Kritik der praktischen Vernunft und nicht in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Dieser Befund kann zur Untermauerung der These dienen, wonach Kant in den Grundlegungsschriften nicht auf die individuelle Willkür fokussiert. Interessanterweise kennt Kant keinen missbräuchlichen Gebrauch der Vernunft bzw. einen Missbrauch der Vernunft. 13 Vgl. etwa Kant, KpV, AA V, 33, wonach die Autonomie des Willens in der »Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form« besteht. 14 Kant, RGV, AA VI, 28. 15 Kant, RGV, AA VI, 31. 16 Kant, RGV, AA VI, 21. 17 Kant, RGV, AA VI, 25. 18 Kant, RGV, AA VI, 21. 11
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klärt werden. Es muss also eine spezifisch anthropologische Reflexion auf metaphysische Prinzipien erfolgen im Sinne eines Begriffs von individueller menschlicher Personalität (1). Davon ausgehend muss die Operation der individuellen Willkürentscheidung weiter begrifflich analysiert werden, so dass die Möglichkeit einer symmetrischen Entscheidung zum Guten wie Bösen aufrecht erhalten bleibt (2). Dabei kommt dem Begriff der Maxime eine besondere Stellung zu: Der Wille wird dadurch gebildet, dass Präferenzen erster Stufe so evaluiert werden, dass sie eine kohärente Einheit ergeben, die mit den personalen Volitionen zweiter Stufe zusammenstimmen. Diese Volitionen zweiter Stufe sind nun jedoch nicht mehr extensional mit dem reinen und vernunftgesetzlichen Willen identisch, sondern stellen individuelle Gesetze dar. 19 Insofern der Gebrauch der Freiheit immer ein zurechenbarer, und damit ein rationaler sein muss, gilt es, zwischen der spezifischen Rationalität des Sittengesetzes, welche notwendig mit dem moralisch Guten verbunden ist und einer – immer noch intelligiblen – begründeten Entscheidung zum Guten oder Bösen zu differenzieren (3). Hierbei muss Kant speziell zeigen, dass eine böse Handlung kein privatives Geschehen sondern ein »Aktus der Freiheit« 20 ist (4).
1.2
Der Grund des Bösen
Obwohl nach Kant das Böse »durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz« epistemisch zugänglich ist, genügt dieses empirische Faktum nicht, um »die eigentliche Beschaffenheit« bzw. »den Grund dieses Widerstreits« zu verstehen. 21 Dieser Grund des Bösen ist nichts Empirisches, sondern betrifft den Bereich des Intelligiblen als »eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (wovon der Begriff gleichfalls rein intellektuell ist)«, so dass nach Kant die Freiheit zum Bösen nur durch die »Entwickelung des Begriffs« des Bösen
Vgl. zum Moment der Maximierung hinsichtlich der Maximen: Gerhardt (1999), 410. 20 Kant, RGV, AA VI, 21. 21 Kant, RGV, AA VI, 35. 19
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selbst, also nur »a priori« erfolgen kann. 22 Kant diskutiert nun verschiedene Möglichkeiten, worin der Grund des Bösen liegen könnte: (i) in den Neigungen, (ii) in der praktischen Vernunft selbst, (iii) in der Willensreflexion auf (i) und (ii). Von besonderer Bedeutung erweist sich dabei Kants Unterscheidung von Hang und Neigung. Zu (i): Der Akt des Bösen darf, wie Kant betont, »nicht bloßer Naturfehler« 23 sein. Der Grund der bösen Willkürentscheidung kann, wie Kant betont, nicht »in der Sinnlichkeit des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden« 24 . Der Grund für diese moralische Indifferenz der Neigungen besteht genauer darin, »daß diese keine gerade Beziehung aufs Böse haben« 25 und »wir ihr Dasein nicht verantworten« können, »weil sie als anerschaffen uns nicht zu Urhebern haben« 26 . Als »Grund des Moralisch-Bösen im Menschen«, so Kant, »enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß Tierischen« 27 . Stattdessen sind empirische Bestimmungsgründe der Neigung an sich moralisch-intentional indifferent; Neigung wird erst nach Gebrauch moralisch gut oder böse: »Natürliche Neigungen sind«, wie Kant betont, »an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen« 28 . Zu (ii): Ebenso wenig lässt sich aber der Grund des aus Freiheit Bösen »in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft« finden, »gleich als ob diese das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen könne«. 29 Eine »boshafte Vernunft (ein schlechthin böser Wille)«, so Kant, »enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder […] erhoben und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht werden würde« 30 . Zu (iii): Der Grund des Bösen kann deshalb nur im »Unterschied 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Kant, RGV, AA VI, 35. Kant, RGV, AA VI, 59. Kant, RGV, AA VI, 34. Kant, RGV, AA VI, 34. Kant, RGV, AA VI, 35. Kant, RGV, AA VI, 35. Kant, RGV, AA VI, 58. Kant, RGV, AA VI, 35. Kant, RGV, AA VI, 35.
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IV. Freiheit des Willens
der Maximen« liegen, nicht »bloß auf den Unterschied der Triebfedern«, als »der Materie der Maximen« gründen, also nicht darin, »ob das Gesetz, oder der Sinnenantrieb eine solche abgeben«. 31 Der eigentliche Grund der Freiheitsentscheidung muss vor dieser materialen Struktur, im Prozess der Willensbildung, liegen: Eine moralisch böse Handlung des Menschen besteht nicht aus »auf ihn einfließenden Naturursachen«, sondern muss aus dem »Vernunftursprung«, d. h. nach seinem »ursprüngliche[n] Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden« 32 . Moralisches Gesetz und Neigungen stellen demnach Willenstendenzen erster Stufe dar, insofern der Mensch »natürlicherweise beide« in den Prozess seiner Willensbildung »aufnimmt« und »da er auch jede für sich, wenn sie allein wäre, zur Willensbestimmung hinreichend finden würde«. 33 Sittengesetz und Neigungen inklinieren den menschlichen Willen nur, sie nezessitieren ihn jedoch nicht. Darin besteht die negative Freiheit der Person. Worin besteht die positive Freiheit der Willkür? Da der Grund des Bösen nicht in der Materie – weder derjenigen der Neigungen noch der moralischen Triebfeder der reinen praktischen Vernunft selbst – liegen kann, bleibt nur noch die Möglichkeit, dass der Grund der bösen Freiheitsentscheidung in einem rein formalen Verhältnis zu den der menschlichen Freiheit zur Entscheidung gegebenen Bestimmungsgründen des Willens besteht, als »der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat« 34 . Kant konzipiert dieses formale Verhältnis im Sinne einer aktiven Hinwendung des Willens zu den Objekten des Interesses: 35 Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der anderen macht. Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung Kant, RGV, AA VI, 36. Kant, RGV, AA VI, 41. 33 Kant, RGV, AA VI, 36. 34 Kant, RGV, AA VI, 31. 35 Diese Position findet sich bereits bei Augustinus: »[N]ur dann, wenn der Wille sich vom Höheren ab- und dem Niederen zuwendet wird er böse, nicht als wäre das böse, zu dem er sich hinwendet (convertit), sondern weil die Hinwendung (conversio) selber verkehrt (perversa) ist. Also machte nicht ein niederes Ding den Willen böse; sondern schlecht und ordnungswidrig (inordinate), weil er selber böse ward, trachtete er nach dem niederen Ding.« (CD, 12, 6, 68). 31 32
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der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt [Hervorh. J. N.]. 36
Kant konzipiert durch das aktive Moment der »Aufnehmung« eine zugleich effektive und perversive Theorie des Bösen, welche im Gegensatz zur Tradition der Privationstheorie steht. 37 Das Böse wie das Gute sind nun beides Produkte aktiver Formursachen, die sich willentlich selbst behaupten wollen. Worin besteht diese Positivität des Bösen nach Kant? Das Böse ist eine »Korruption« 38 der moralischen Ordnung, es besteht in der »Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür« 39 . Eine solche böse Willkür besteht als »Bösartigkeit« – im Gegensatz zur »Schwäche« bzw. »Gebrechlichkeit der menschlichen Natur« und der »Unlauterkeit«, als »Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen« – in einem »Hang zur Annehmung böser Maximen«. 40 Genauer besteht dieses Böse in der Absicht, »die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz anderen (nicht moralischen) nachzusetzen«, was auch als »Verkehrtheit (perversitas)« bezeichnet werden kann, insofern »sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt«. 41 Der Grund des Bösen besteht so in der »Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen« 42 . Das Böse, so Kant weiter, ist »nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen« 43 . Das »eigentliche Böse«, so Kant schließlich, »besteht darin, daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung reizen, nicht widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind« 44 . Kant verortet die Spontaneität der Freiheitsentscheidung gemäß seiner Inkorporationsthese 45 nicht mehr in der Kausalität der VerKant, RGV, AA VI, 36. Vgl. dazu die Privationstheorie in Augustins Confessiones, CF, 12, 522. 38 Kant, RGV, AA VI, 43. 39 Kant, RGV, AA VI, 50. 40 Kant, RGV, AA VI, 29. 41 Kant, RGV, AA VI, 30. 42 Kant, RGV, AA VI, 43. 43 Kant, RGV, AA VI, 58 Fn. 44 Kant, RGV, AA VI, 58 Fn. 45 Den Begriff der »Incorporation Thesis« hat Henry Allison geprägt. Vgl. Allison (1990), 50: »[I]ncentives (Triebfedern) do not motivate by themselves causing action 36 37
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IV. Freiheit des Willens
nunft als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens, sondern in der individuellen Willkür, welche in einer reflexiven Beziehung zum Sittengesetz steht, obgleich jene, wie dieses, einen »Vernunftursprung« 46 haben soll. Die »Freiheit der Willkür«, so Kant, ist »von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« 47 . Zentral für Kants Analyse individueller Freiheit ist der Begriff der Maxime, die er nun als »Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht« 48 charakterisiert. An dieser Definition der Maxime zeigt sich, dass Kant die Freiheit der Willkür nicht als ein indifferentes Vermögen, nicht als libertas indifferentiae begreift, sondern als durch ein individuelles Gesetz, eine Regel, begründet. Kant bestimmt die Maxime deshalb auch als die »Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht« 49 . Durch die Analyse individueller Freiheit bringt Kant gegenüber dem Theorieprofil der Kritik der praktischen Vernunft weitere Differenzierungen am Begriff der Maxime an. 50 Während Kant dort die Maxime als subjektive Regel – als »bloße Maxime« – eines »pathologisch-affizierten Willens« von den objektiven praktischen Gesetzen der reinen Vernunft abgegrenzt hatte, 51 wird nun eine Maxime als Endprodukt und Resultante einer Abwägung von Willenstendenzen erster Stufe verstanden, die als mögliche Gründe zu einer Entscheidung ›maximiert‹ und so nicht nur zum subjektiven Grundbut rather by being taken as reasons and incorporated into maxims […]. Although reason, according to this picture, is not literally an efficient cause of action, free actions are not regarded as uncaused. It is rather that the act of incorporation is conceived as the genuine causal factor«. Vgl. auch Allison (1996), 109: »Kant’s ›Incorporation Thesis,‹ that is, the view that inclinations or desires do not of themselves constitute an incentive or sufficient reason to act but do so only insofar as they are ›taken up‹ or ›incorporated‹ into a maxim.« 46 Kant, RGV, AA VI, 43. 47 Kant, RGV, AA VI, 23. 48 Kant, RGV, AA VI, 21. 49 Kant, MdS, AA VI, 225. 50 Vgl. zur Differenzierung der Maximen bei Kant auch Timmermann (2003), 150 ff. u. Schwartz (2006), 24. 51 Kant, KpV, AA V, 19.
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satz, sondern zum individuell handlungswirksamen Gesetz werden, welches nicht noch einmal durch das allgemeine Sittengesetz approbiert werden muss, um freiheitstheoretisch relevant zu sein. Der Grund der Evaluation von Willenstendenzen erster Ordnung zur Aufnahme in die Maxime ist nichts Indifferentes, noch ist er fundiert in reiner praktischer Vernunft, sondern er besteht wiederum in einer Maxime, die sich als Maxime zweiter Ordnung bzw. »oberste Maxime« 52 bestimmen lässt, und die Kant als »einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen […] Maximen, der selbst wiederum Maxime ist« 53 , bezeichnet. Der deliberative Prozess der Maximenbildung ist zweistufig angelegt. Zunächst werden aus den Begehrungen unmittelbar handlungsorientierte Maximen erster Ordnung gebildet, als mögliche Gründe für Handlungen. 54 Diese Maximen werden in einem zweiten Schritt von der »obersten Maxime«, die den individuellen Charakter und damit die Volitionen zweiter Stufe betrifft, evaluiert. Der Grund des Bösen ist deshalb »in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz«, in einer »intelligiblen Tat« zu suchen, die »vor aller Erfahrung vorhergeht« 55 . Daraus, dass als Grund unmoralischer Handlungen der intelligible Charakter, wie Kant sagt, »böse ist« 56 , geht hervor, dass der intelligible Charakter nicht in reiner praktischer Vernunft fundiert sein kann. Maximen zweiter Ordnung sind nicht a priori identisch mit dem allgemeinen Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft, denn eine »boshafte Vernunft« 57 ist für Kant hinsichtlich des Menschen schlechthin ausgeschlossen. Wie differenziert sich der intelligible Charakter hinsichtlich der aus ihm entspringenden obersten Maximen des Guten und Bösen weiter aus? Kant fasst diese Maximen als Hang zum Bösen, der, indem er »frei zugezogen« ist, immer schon zurechenbar ist. 58 Kant widmet sich dem Bösen in Art einer transzendentalen Untersuchung: Er thematisiert den »Hang zum Bösen« in der menschlichen Natur, den er als »den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung« Vgl. Kant, RGV, AA VI, 31; 36; 39 Fn.; 66. Kant, RGV, AA VI, 20. 54 Vgl. bereits Kant, KrV, B 840: »Praktische Gesetze, so fern sie zugleich subjektive Gründe der Handlungen, d. i. subjektive Grundsätze, werden, heißen Maximen.« 55 Kant, RGV, AA VI, 39 Fn. 56 Kant, RGV, AA VI, 37. 57 Kant, RGV, AA VI, 35. 58 Vgl. Kant, RGV AA VI, 43. 52 53
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versteht, »sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist«. 59 Kant analysiert hierbei den in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften noch undifferenziert verwendeten Begriff eines »Hanges« weiter und grenzt diesen schärfer von bloß heteronomer Neigung ab. 60 Diese Analyse fällt nun willenstheoretisch aus: Es geht Kant um die freiheitstheoretische Grundverfassung eines jeden Menschen überhaupt, sich aus Freiheit heraus zum Bösen entscheiden zu können. 61 Der Hang darf deshalb nicht als ein passives Hindernis verstanden werden, sondern wird von Kant voluntativ begriffen, insofern es sich dabei um eine »Bestimmung der freien Willkür« 62 handelt. Der Hang zum Bösen muss, wie Kant betont, »(wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er Böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden [Hervorh. J. N.]« 63 . Sowohl die Anlage zum Guten als auch den Hang zum Bösen begreift Kant als individuelle Willensstrukturen, denen jedoch für sich genommen keine besondere, sondern allgemeine Existenz zukommt. Es gilt nach Kant, dass dieser Hang »als allgemein zum Menschen (also dem Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf« 64 , also nicht auf exklusiven Umständen beruht, sondern »auf der Allgemeinheit des Hanges zum Bösen unter Menschen« bzw. »der menschlichen Natur«. 65 Damit stellt Kant sicher, dass die Freiheitsentscheidung aller Menschen auf derselben Basis stattfindet. 66 Er argumentiert dafür, »daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen«, so dass die gute oder böse Gesinnung als aus der Natur des Menschen stammend immer »von der Gattung« gilt. 67 Insofern der Hang zum Bösen sowohl für die Gattung des Menschen allgemein gilt und als »der oberste subjektive Grund aller Maximen« 68 die Ebene von Volitionen zweiter Ordnung betrifft, kann
Kant, RGV, AA VI, 28. Vgl. zum Problem von Hang und Neigung: Kant, GMS, AA IV, 405; KpV, AA V, 74 sowie Teil III.1.6. 61 Vgl. zu dieser Perspektive in der Religionsschrift: Klar (2007), 40. 62 Kant, RGV, AA VI, 29. 63 Kant, RVG, AA VI, 29. 64 Kant, RGV, AA VI, 29. 65 Kant, RGV, AA VI, 30. 66 Vgl. zum ›demokratischen‹ Aspekt des Hangs zum Bösen auch Buchheim (2001a), 662. 67 Kant, RGV, AA VI, 25. 68 Kant, RGV, AA VI, 37. 59 60
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Kant dieses als das »radikale Böse in der menschlichen Natur« 69 charakterisieren. Als ein »natürlicher Hang« ist diese Maxime zweiter Stufe »nicht zu vertilgen« – also dem Menschen a priori als Grundausstattung mitgegeben. Allerdings bedeutet dieser Hang nicht die Notwendigkeit des Bösen im Sinne einer felix culpa: Er ist, wie Kant betont, »eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren« 70 , betrifft also die transzendentale Bedingung der Möglichkeit bösen Handelns des Menschen als Menschen überhaupt und ist »zu überwiegen möglich«, insofern er »in dem Menschen als frei handelnden Wesen angetroffen wird [Hervorh. J. N.]«. 71 Der Hang zum Bösen ist insofern natürlich, als er als faktisch bzw. als immer schon aus Freiheit zugezogen latent vorhanden, jedoch nicht notwendigerweise verwirklicht ist: »Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder, er ist von Natur böse: so bedeutet dies nun so viel, als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen, und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.« 72 Der Begriff des frei zugezogenen Hangs zum Bösen kann in Anknüpfung an Kants Begriff des »Vernünftelns« 73 und des »Eigendünkels« 74 seiner moralphilosophischen Grundlegungsschriften noch weiter bestimmt werden. Im Hang zum Bösen zeigt sich demnach die Möglichkeit eines Missbrauchs der Vernunft: Es ist nach Kant möglich, dass »die Vernunft die Einheit der Maximen überhaupt, welche dem moralischen Gesetze eigen ist, bloß dazu braucht [Hervorh. J. N.], um in die Triebfedern der Neigung, unter dem Namen Glückseligkeit, Einheit der Maximen, die ihnen sonst nicht zukom-
Kant, RGV, AA VI, 19. Kant, RGV, AA VI, 28 Fn. 71 Kant, RGV, AA VI, 37. Gerade an dem letzten Teilsatz zeigt sich, dass Goethes Kritik, wonach Kant »seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert« habe, »damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen«, nicht zutrifft. (Brief an Johann Gottfried Herder und Caroline Herder vom 7. Juni 1793; in: Goethe, Weimarer Ausgabe IV, 10, 75). Vgl. zum transzendentalen Status des Hangs zum Bösen auch Klar (2007), 39 f. 72 Kant, RGV, AA VI, 21. 73 Kant, GMS, AA IV, 405. 74 Kant, KpV, AA V, 74. 69 70
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men kann, hinein zu bringen« 75 . Der Missbrauch der Vernunft liegt darin, das Gebot des Sittengesetzes »zu einem bloß (unter dem Prinzip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herab zu vernünfteln, woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz in die Maxime zu handeln aufgenommen und so gesündigt« 76 wird. Der Hang zum Bösen ist daher »ein Hang, sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum Nachteil desselben selbst zu belügen« 77 . Allerdings ist der Hang zum Bösen nicht prinzipiell irreversibel. Kant denkt hier den intelligiblen Charakter trotz seiner epistemischen Unzugänglichkeit als prinzipiell flexibel. Die Volitionen zweiter Stufe bzw. die »obersten Maximen« lassen sich durch eine, mit Taylor gesprochen, »radical evaluation« verändern. Kant fasst diesen Gedanken in den Begriff einer »Revolution der Gesinnung« bzw. einer »Revolution für die Denkungsart«, 78 im Sinne der freien »Gründung eines Charakters« 79 , der nun gegenüber dem intelligiblen Charakter der Grundlegungsschriften nicht mehr als allgemein, sondern als individuell gedacht wird.
1.3
Die Natur der Person
Komplementär zu seiner Analyse des Hangs zum Bösen analysiert Kant zum Zweck der Bestimmung des »ganzen Gebrauch[s] der Freiheit [Hervorh. J. N.]« 80 auch das Element einer »ursprünglichen Anlage zum Guten« 81 , da sich beide »unmittelbar auf das Begehrungsvermögen und den Gebrauch der Willkür beziehen« 82 . Die Anlage zum Guten lässt sich in drei Stufen unterscheiden: Zunächst, und gewissermaßen auf der untersten Stufe, verortet Kant die »Anlage für die Tierheit des Menschen, als eines lebenden« Wesens. Kant charakterisiert diese Anlage als Form einer »mechanischen Selbstliebe«, »wozu nicht Vernunft erforderlich ist«. Die 75 76 77 78 79 80 81 82
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Kant, RGV, AA VI, 37 f. Kant, RGV, AA VI, 42 Kant, RGV, AA VI, 42 Fn. Kant, RGV, AA VI, 47. Kant, RGV, AA VI, 48. Kant, RGV, AA VI, 25. Kant, RGV, AA VI, 26. Kant, RGV, AA VI, 28.
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zweite Anlage charakterisiert Kant als »die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen« Wesens. 83 Sie basiert zwar ebenfalls auf einer physischen, »aber doch vergleichenden Selbstliebe (wozu Vernunft erfordert wird)« 84 . Diese Anlage besteht im empirisch praktischen Gebrauch der Vernunft und der damit zusammenhängenden Möglichkeit, sich »als glücklich oder unglücklich zu beurteilen« 85 . Der Mensch als Mensch verfügt also zwar über praktische Vernunft, allerdings ist sie – ähnlich der Humeschen Definition – eine »nur anderen Triebfedern dienstbare« 86 . Die in dieser Anlage verfügbare Rationalität besteht in dem Interesse, »sich in der Meinung anderer einen Wert zu verschaffen« 87 , d. h. die Vernunft erkennt darin nur relative Werte im Sinne von hypothetischen Imperativen. Wichtig ist hierbei, dass Kant die höchste und letzte Anlage des Menschen für »seine Persönlichkeit, als einer vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens« 88 , nicht als »schon in dem Begriff der vorigen [Anlage zur Menschheit] enthalten«, denkt, sondern von ihr aussagt, dass man sie »notwendig als eine besondere Anlage betrachten [Hevorh. J. N.]« muss. 89 Die Besonderheit dieser Anlage besteht darin, dass der Mensch neben seinem theoretischen bzw. instrumentellen Vernunftgebrauch die Vernunft auch rein praktisch gebrauchen kann, was bedeutet, dass er »die Willkür unbedingt, durch die bloße Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen« 90 vermag. Hinsichtlich dieser dritten und letzten Anlage, der Persönlichkeit, bringt Kant nun eine im Vergleich zum Theorieniveau Kritik der praktischen Vernunft wesentlich komplexere Unterscheidung an. Sie betrifft Kants Theorie moralischer Motivation, insofern sie um die Perspektive einer Freiheit zum Bösen erweitert wird. 91 Kant bestimmt die Anlage für die Persönlichkeit allgemein als »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hin83 84 85 86 87 88 89 90 91
Kant, RGV, AA VI, 26. Kant, RGV, AA VI, 27. Kant, RGV, AA VI, 27. Kant, RGV, AA VI, 28. Kant, RGV, AA VI, 27. Kant, RGV, AA VI, 26. Kant, RGV AA VI, 26 Fn. Kant, RGV, AA VI, 26 Fn. Vgl. zu dieser Modifikation: Buchheim (2001a), 660 ff.
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reichenden Triebfeder der Willkür« 92 . Er betont jedoch, dass man die »Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung« nicht als »eine Anlage für die Persönlichkeit« verstehen darf, 93 da bei jener eine notwendige, analytische Verbindung vorliegt, »worauf schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann« 94 ; vielmehr ist sie »die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet)« 95 . Diese objektiv–notwendige und allgemeine Verbindung der Persönlichkeit mit reiner praktischer Vernunft hatte Kant in der Kritik der praktischen Vernunft im Zuge seiner Autonomie-Lehre ausschließlich betrachtet – aus der Perspektive des erfolgreichen praktisch-Werdens reiner Vernunft im Sinne des Durchschlagens der Achtung zur konkreten Handlung in die empirische Welt – ohne Reflexion auf die individuelle Willkür. Eine solche Perspektivierung hatte jedoch das Problem zur Folge gehabt, dass die Person dabei zur bloßen Zuschauerin und Zeugin eines internen Wettstreits zwischen autonomer Vernunft und heteronomer Neigung wurde, ohne sich selbst entscheidungsmäßig einbringen zu können. 96 Kants begriffliche Anstrengungen gehen deswegen in der Religionsschrift dahin, eine Verbindung zwischen der Allgemeinheit der Idee der Persönlichkeit und der darin analytisch enthaltenen Achtung auf der einen, und der individuellen, darauf reflektierenden Freiheitsentscheidung auf der anderen Seite herzustellen. 97 Kant unterscheidet dazu zwischen der »Persönlichkeit selbst«, als moralischer Vernunftnatur, und einem »Zusatz zur Persönlichkeit«, der in dem »subjektive[n] Grund« besteht, »daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen«. 98 Dieser Zusatz ist die eigentlich zurechenbare Aktivität der Willkür und entspricht jenem »complement der Zulänglichkeit« 99 , von dem Kant in seinen Reflexionen aus der Zeit der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft gesprochen Kant, RGV, AA VI, 27. Kant, RGV, AA VI, 28. 94 Kant, RGV, AA VI, 27. 95 Kant, RGV, AA VI, 28. 96 Diese Problematik der Kritik der praktischen Vernunft kritisiert und veranschaulicht in ihrem ganzen Ausmaße Karl Leonhard Reinhold im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie. Vgl. dazu Teil IV.2 der Arbeit. 97 Vgl. zu diesem »Übergang« auch Buchheim (2001a), 660. 98 Kant, RGV, AA VI, 28. 99 Kant, Refl. 5611, AA XVIII, 252. 92 93
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hatte. Es handelt sich dabei deshalb um einen Zusatz, weil die »Persönlichkeit selbst«, als »die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet«, bereits begrifflich aufs Engste mit der »Idee des moralischen Gesetzes« verwoben, und damit a priori nicht mit der Möglichkeit einer Abweichung vom Sittengesetz vereinbar ist. 100 Die individuelle Perspektivierung menschlicher Freiheit in der Religionsschrift erlaubt durch diesen »Zusatz zur Persönlichkeit« unter dem Sittengesetz eine voluntative Positionierung der Achtung im Gefüge der Maximen, wodurch gute und böse Entscheidungen nun beide zurechenbar sind.
1.4
Die Bestimmung des Grundes
Im Zuge seiner Neuperspektivierung menschlicher Freiheit als individuelle Willkür führt Kant eine weitere, gegenüber dem Theorieprofil der Kritik der praktischen Vernunft wesentlich differenziertere, Unterscheidung ein, welche die willensbestimmenden Gründe selbst betrifft. Die Position des Determinismus als These »der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe« darf nach Kant nicht zu einem »Blendwerk« gemacht werden, »gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen« 101 . Problematisch ist vielmehr die Position des »Prädeterminism«, »nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist)«. 102 Durch die rein begriffliche Unterscheidung von Determinismus und Prädeterminismus versucht Kant drei Gefahren zu entgehen: (i) einem »Indeterminism«, da »Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determiniert sei)« 103 , bestehen kann; (ii) der Gefahr eines »Prädeterminism«: Die grundsätzliche Bestimmtheit einer Handlung bedeutet noch nicht, dass sie alternativlos vorbestimmt ist; (iii) schließlich aber auch der Gefahr des intelligiblen Fatalismus, da Kant diese Determination des Willens offensicht100 Kant, RGV, AA VI, 28. Vgl. zum Verhältnis von »Zusatz« und »Anlage« zur Idee der Persönlichkeit auch Fischer (1988), 42. 101 Kant, RGV, AA VI, 49 Fn. 102 Kant, GV, AA VI, 49 f. Fn. 103 Kant, RGV, AA VI, 50.
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lich nicht mehr mit der vernunftkausalen Willensbestimmung durch das Sittengesetz gleichsetzt. Damit wird aber ein Raum für individuelle Willkür eröffnet, was einem deliberativen Verständnis einer gründebasierten Freiheit entspricht, im Sinne einer »Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe« 104 , die zwar inklinieren, jedoch nicht nezessitieren. Kant erkauft sich allerdings die kompatibilistisch motivierte Unterscheidung zwischen Determinismus und Prädeterminismus zum Preis einer fundamentalen epistemischen Unsicherheit. Wenn die Volitionen zweiter Stufe nicht mehr identisch mit der Normativität des Sittengesetzes im Sinne eines reinen Willens sind, so ist die Reihe höhrerstufiger Bestimmungsgründe des Willens nicht mehr absolut ›gedeckelt‹, sondern prinzipiell unabschließbar – es droht ein infiniter Regress: Von der Wahl einer Maxime »kann nun nicht wieder der subjektive Grund, oder die Ursache, erkannt werden […] weil sonst wiederum eine Maxime angeführt werden müßte, in welche diese Gesinnung aufgenommen worden, die eben so wiederum ihren Grund haben muß« 105 . Nach Kant ist daher der »erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen« prinzipiell »unerforschlich«, da er »immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjektiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können«. 106 Durch die Postulierung eines »erste[n] subjektive[n] Grund[s] der Annehmung moralischer Maximen« wird jedoch individuelle Freiheit zu einem Fluchtpunkt, der nicht weiter analysiert werden kann. Weil im System des Kantischen transzendentalen Idealismus nur zwei Arten von möglichen Bestimmungsgründen des Willens denkbar sind – empirisch-subjektive und rein vernünftig-objektive –, bleibt die spezifische Weise der »Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe« im Dunkeln. Der oberste Entscheidungsgrund für die Bestimmung des Willens zur Handlung – der Bereich der Volitionen zweiter Ordnung – wird der Erkenntnis prinzipiell entzogen: Der »Grund des Gebrauchs der Freiheit […] so wie der Be104 105 106
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Kant, RGV, AA VI, 49 Fn. Kant, RGV, AA VI, 25. Kant, RGV, AA VI, 21 Fn.
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stimmungsgrund der freien Willkür überhaupt« kann nach Kant »lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden« 107 , die, im Gegensatz zur »sensible[n] Tat« 108 , die »empirisch in der Zeit gegeben ist« 109 , »als intelligibele Tat, vor aller Erfahrung vorhergeht«, und welche die »Einheit der obersten Maxime« darstellt. 110 Diese intelligible Tat und der frei zugezogene Hang zum Bösen werden von Kant nicht rein individuell gedacht, da sie kontingenterweise der Gattung des Menschen angehören. 111 Die einzige Möglichkeit, den Grund freier Willensbestimmung zu erkennen, besteht im Bereich des moralisch Guten durch das Sittengesetz – dies war das Programm einer Kritik der praktischen Vernunft gewesen. Gründe für moralisch böse Handlungen hingegen entziehen sich prinzipiell weiterer Einsicht. 112 Diese Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Kant dem Grund des Bösen einen »Vernunftursprung« einräumt, der aber nicht mit dem Vernunftgrund des Sittengesetzes identisch sein kann. 113 Speziell der Hang zum Bösen besitzt damit den Status einer Voraussetzung, als nicht weiter erkennbare, jedoch notwendig zu denkende Bedingung der Möglichkeit unmoralischen Handelns eines jeden Menschen. 114 Wie aber gerade eine böse Handlung aus objektiven Gründen individuell im Sinne einer Maxime gedacht werden kann, bleibt weiterhin offen. Die rationale Anforderung an die Freiheit ist insofern immer noch nicht eingelöst.
Kant, RGV, AA VI, 40. Kant, RGV, AA VI, 39 Fn. 109 Kant, RGV, AA VI, 36. 110 Kant, RGV, AA VI, 39 Fn. 111 Vgl. zur Allgemeinheit des Hanges auch Zöller (2005), 88. 112 Vgl. bereits Augustinus, CF, 12, 522 f.: »Die Ursachen solchen Abfalls [vom Guten], die ja, wie gesagt, keine wirkenden, sondern versagenden sind, ausfindig machen wollen, hieße die Finsternis sehen, Schweigen hören wollen.« 113 Vgl. Zu diesem Problem auch Brandt (2010), 82: »Wie kann die Intelligibilität mit etwas verbunden werden, was ihr gerade entgegen gesetzt ist, indem es ihre Ordnung verkehrt? In beiden Fällen ist nicht ersichtlich, warum der Mensch sich die anonyme Tat als seine zueigen machen soll, damit aber auch, welchen Erklärungswert die intelligible Tat gegenüber der Konstatierung der Unerklärbarkeit realer böser Gesinnungen haben kann.« 114 Vgl. auch Buchheim (2012), 212: »Die Freiheit eines jeden droht wegen der erforderlichen inneren Konsistenz und der […] Selbstvoraussetzung der guten oder bösen Maxime zum ausweglosen Gefängnis seines Charakters zu werden.« 107 108
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IV. Freiheit des Willens
2.
Die Bestimmung des Willens. Reinholds Kritik der reinen praktischen Vernunft Ich habe es nur mit der Freiheit des menschlichen Willens zu thun; der Mensch ist mir weder intelligibles Wesen noch Sinnenwesen, sondern beydes zugleich; und ich halte ihn auch nur für frey, weil und in wieferne er beydes zugleich ist, während Kant ihn nur in wieferne er intelligibles Wesen ist, für frey zu halten scheint 115 .
2.1
Historisch-systematische Vorbemerkungen
Im zweiten Band seiner Briefe über die Kantische Philosophie – seinem »praktisch-philosophische[n] Hauptwerk« 116 – hat Karl Leonhard Reinhold in kritischer Auseinandersetzung mit Kants Autonomie-Lehre eine Theorie individueller personaler Freiheit entwickelt, die gerade auch im Falle des Bösen moralische Zurechenbarkeit aufrecht erhalten soll. 117 Reinholds Kant-Bezug ist überaus vielschichtig, so dass die historischen Umstände der Entstehung des zweiten Briefbands sowie seine Begriffs- und Formaspekte zunächst berücksichtigt werden müssen, um möglichen Missverständnissen und Fehlinterpretationen seiner Freiheitstheorie von vornherein vorzubeugen, bevor dann zu einer eigentlich systematischen Rekonstruktion und Evaluation seiner Theorie übergegangen werden kann. Eine erste interpretatorische Schwierigkeit zeigt sich bereits auf sprachlich-begrifflicher Ebene. Reinhold verwendet überwiegend eine Kantische Terminologie, womit auf den ersten Blick suggeriert wird, es handle sich – wie der Titel »Briefe über die Kantische Philosophie« nahelegt – um eine bloße Exegese bzw. um erläuternde Anmerkungen zum Zwecke der Popularisierung und Allgemeinverständlichkeit. Entgegen dieser in der Vergangenheit immer wieder vertretenen Lesart wird im Folgenden die These vertreten, dass Reinhold im zweiten Briefband eine scharfsinnige immanente Kritik und 115 Karl Leonhard Reinhold: Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens, in: Ders.: Auswahl vermischter Schriften. Zweyter Theil, Jena 1797, 364–400, hier 393; auch: Materialien, 321. 116 Lazzari (2004), 17. 117 Reinholds Briefe II werden zitiert nach der von Martin Bondeli 2008 herausgegebenen Kommentierten Ausgabe der Gesammelten Werke, Bd. 2/2.
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Transformation der Kantischen Freiheitslehre vollzieht. Dabei rückt besonders der von Kant unterbestimmte Begriff des Willens ins Zentrum. 118 Einer Kritik der praktischen Vernunft muss deshalb, will man die Wirklichkeit menschlicher Freiheit verstehen, eine Kritik des Willens folgen. 119 Da seine Auseinandersetzung mit Kants Freiheitslehre in Form von Briefen erfolgt, liefert Reinhold keine systematisch ausgearbeitete Theorie. Ihr freiheitstheoretisch-doktrinaler Gehalt liegt nicht in strenger Systemform vor, sondern ist auf verschiedene Briefe verteilt, die nicht nach einem systembildenden Prinzip aufeinander aufbauen, sondern, gleich einem offenen Gespräch, um das Autonomie-Problem kreisen und sich ihm in immer neuen Anläufen annähern. 120 Es ist deswegen erforderlich, die Reinholdsche Freiheitstheorie zu rekonstruieren, d. h., wo irgend möglich, in eine ihr gemäße Systematik zu bringen. Dies soll dadurch geschehen, dass Reinholds Freiheits-, Willens- und Personbegriff auf das Problem-Profil der nachkantischen Autonomie-Debatte bezogen wird. Einer systematischen Rekonstruktion der Reinholdschen Freiheitstheorie, die bislang immer noch ein Desiderat ist, 121 muss eine werkgeschichtliche Kontextualisierung vorangehen. 122 Die Notwen118 Ameriks (2012) spricht in diesem Zusammenhang treffend von »Ambiguities in the Will«, die sich im Ausgang von Kant zeigen. 119 Reinholds Bemühungen, den Kantischen Begriff des Willens weiter zu bestimmen und deutlicher vom Begriff einer reinen praktischen Vernunft abzuheben, zeichnen sich bereits in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789, also ein Jahr nach Veröffentlichung der zweiten Kritik, ab. Dort entwickelt Reinhold Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens, auch wenn diese Theorie eigentlich erst im zweiten Briefband zu ihrer vollen Entfaltung kommt. Die in seinem Versuch enthaltene Freiheitstheorie enthält nämlich noch nicht die zentrale Unterscheidung von Wille und praktischer Vernunft, welche Reinhold erst im April 1792 – zeitgleich mit Kants Aufsatz Über das radikale Böse in der menschlichen Natur – entwickelt hat. 120 Die Absicht von Reinholds Briefen besteht nach eigener Aussage darin, »meinen Freund zum Studium der Kantischen Philosophie einzuladen« (Briefe II, 3). Dementsprechend ist der Adressat ein imaginierter »lieber Freund«, den Reinhold zu Beginn seiner Briefe direkt anspricht. 121 Reinholds Freiheitslehre wurde lange Zeit aus subjektivitätstheoretischem Interesse Beachtung geschenkt, jedoch weniger aus genuin freiheitstheoretischem, welches auf die Begriffe »Wille«, Willkür«, »Person«, »Grund« und »Vernunft« zu reflektieren hätte. Das verstärkte Interesse an dieser Thematik wird bereits am Titel des 2012 erschienenen Tagungsbandes »Wille, Willkür, Freiheit« ersichtlich. Vgl. dazu den Überblick über den Forschungsstand in Teil I.2 der Studie. 122 Eine ausführliche historisch-systematische Verortung der Reinholdschen Frei-
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digkeit einer Situierung von Reinholds praktischem Hauptwerk erhellt aus der historischen Tatsache, dass der zweite Briefband in einer engen zeitlichen Nachbarschaft mit dem Erscheinen von Kants Aufsatz Über das radikale Böse in der menschlichen Natur steht, so dass sich aufgrund der ähnlichen Thematik beider Texte – dem Problem einer Freiheit zum Bösen – die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung automatisch stellt. Wie lässt sich diese Frage klären? Reinholds Freiheitstheorie und seine Auseinandersetzung mit Kants Autonomie-Begriff finden sich im sechsten 123 , siebten 124 und ganz besonders im achten Brief 125 des zweiten Briefbands. Diese drei Briefe erschienen im Zeitraum zwischen April und Oktober 1792, also erst nach der Veröffentlichung des ersten Hauptstücks der Religionsschrift, das schon im April desselben Jahres erschienen war. 126 Dies bedeutet, dass Reinholds Briefe Kant hierbei nicht beeinflusst haben können, wie in der Vergangenheit teilweise angenommen wurde. 127 Daraus folgt jedoch nicht im Umkehrschluss, dass Reinhold erst durch Kant auf das Autonomie- und Zurechenbarkeits-Problem gestoßen worden wäre. Vielmehr lässt sich nachweisen, dass Reinhold bereits vor der Veröffentlichung des ersten Hauptstücks der Religionsschrift alle seine später geäußerten Kritikpunkte deutlich vor Augen hatte. 128 In einem Brief an Jens Immanuel Baggesen vom 28. März 1792 – also unmittelbar vor Erscheinen des ersten Hauptheitslehre findet bei Lazzari (2004), 165–325 sowie bei Bondeli (2008a), X–LXXXVI. Eine systematische Zusammenschau der für Reinholds Freiheitstheorie zentralen Aspekte war bislang ein Desiderat und soll im Folgenden eingelöst werden. 123 Sechster Brief: Versuch einer neuen Darstellung der Grundbegriffe und Grundsätze der Moral und des Naturrechts (Briefe II, 174–219). 124 Siebenter Brief: Über den bisher verkannten Unterschied zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Triebe, und zwischen diesen beiden Trieben und dem Willen (Briefe II, 220–261). 125 Achter Brief: Erörterung des Begriffes von der Freiheit des Willens (Briefe II, 262– 307). 126 Vgl. dazu Bondeli (2008a), XIII sowie Lazzari (2004), 187–198. Zur Textentstehung des zweiten Briefbands vgl. v. a. Bondeli (2008a), X-XIV. 127 Vgl. etwa Neuhouser (1990), 146: »What is clear is that Kant’s explicit discussion of Willkür in the Religion is directly motivated by the criticism made by various contemporaries, including Reinhold, that Kant’s moral theory required for its coherence some notion of the freedom of choice.« Vgl. zum entstehungsgeschichtlichen Verhältnis der Schriften Kants und Reinholds auch Prauss (1984), 84 sowie Bojanowski (2006), 232 und Ludwig (2014), 261 Fn. Reinhold selbst sandte Kant den zweiten Band seiner Briefe am 29. 10. 1792 zu. Vgl. Briefwechsel 1792, AA XI, 382. 128 Es ist wahrscheinlich, dass Reinhold, wie auch Kant selbst, durch die fatalistischen
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stücks der Religionsschrift im April desselben Jahres – gibt Reinhold auf geradezu programmatische Weise Auskunft über seine Kant-Kritik, in der bereits alle entscheidenden Momente seines eigenen Freiheitsbegriffs in nuce enthalten sind: »Gänzlich entferne ich mich von Kant und den Kantianern im Begriffe vom Willen, den ich weder für Causalität der Vernunft, noch Vermögen, nach vorgestellten Gesetzen u. s. f. zu handeln, sondern als ein von der Vernunft und Sinnlichkeit gleich verschiedenes Vermögen der Person halte, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens (Foderung des eigennützigen Triebes) zu bestimmen.« Nach dieser überwiegend negativen Bestimmung fährt Reinhold fort, indem er seinen Begriff positiver Freiheit näher charakterisiert: Diese Selbstbestimmung geschieht freilich durch Vorschriften, folglich in sofern durch die Vernunft; aber die Vernunft verhält sich dabei als bloßes Vermögen, welches dazu vom Subjekte beim Wollen auf zweierlei Art gebraucht werden kann, indem es auf das Subjekt ankömmt, die Vorschrift entweder zum bloßen Mittel der Befriedigung des eigennützigen Triebes, oder zum Zweck, und die Befriedigung zum bloßen Mittel, die Vorschrift zu realisieren, zu machen [Hervorh. J. N.] 129 .
Neben dem hier bereits deutlich modifizierten Verständnis des Vernunftgebrauchs findet sich auch eine entscheidende Modifikation des freiheitstheoretischen Verhältnisses von empirischen und vernünftigen Bestimmungsgründen des Willens. Reinhold fügt nämlich im selben Brief hinzu: »Ich [entferne] mich sogar über den Begriff von Sittlichkeit von Kant […], indem ich mir ohne Sinnlichkeit keine Sittlichkeit denken kann.« 130 Dass Reinhold bereits zeitgleich mit dem Erscheinen von Kants Schrift Über das radikale Böse in der menschlichen Natur deutlich die Probleme der Kantischen Autonomie-Lehre vor Augen hatte, zeigt auch seine im April 1792 erschienene Rezension von Schmids Empirischer Psychologie 131 . Darin findet sich bereits die für Reinholds Freiheitstheorie zentrale Unterscheidung von (freiem) Willen
Interpretationen von Ulrich und Schmid auf das Autonomie-Problem aufmerksam gemacht wurde. Vgl. dazu auch Prauss (1983), 84 ff. 129 Baggesen-Briefe, 1, 168 f. 130 Baggesen-Briefe, 1, 168. Vgl. dagegen Reinhold, KA 3, 19 f. 131 Erschienen in der Allgemeinen Literaturzeitung, April 1792, Nr. 86, 1–8; Nr. 87, 9–14. Die Bestimmung des Willens
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und (reiner) praktischer Vernunft. 132 Kants ebenfalls zeitgleich erschienenes Erstes Hauptstück der Religionsschrift tritt also dort auf, wo Reinhold sowieso schon laboriert: an der Zurechenbarkeit böser Handlungen und an der Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen. Die historische Eigentümlichkeit von Reinholds Kant-Kritik besteht allerdings nicht nur in der Tatsache, dass Reinhold bereits vor Kants einschlägigen Äußerungen in der Religionsschrift ähnliche Gedanken entwickelt hatte. Es lässt sich nämlich zeigen, dass Reinhold das Erste Hauptstück der Religionsschrift während der Abfassung seines zweiten Briefbands gelesen haben muss und sogar darauf intertextuell Bezug nimmt. 133 Kants Text wird somit für Reinhold zum Medium eigener Gedanken, indem er mit Kant gegen Kant argumentieren kann: Er nimmt diejenigen begrifflichen Differenzierungen der Religionsschrift auf, die ihm angesichts seiner bisherigen Überlegungen zur Kritik der praktischen Vernunft als konsequent erscheinen und integriert sie in sein eigenes Projekt einer Bestimmung des Willens. Reinholds philosophische Eigenständigkeit gegenüber Kant erhellt jedoch nicht nur aus der Tatsache, dass er bereits vor Kants Religionsschrift Gründe für eine Modifikation seines Autonomie-Begriffs fand. Sie wird ganz allgemein auch vor dem Hintergrund seines intellektuellen Werdegangs plausibel, denn Reinholds philosophische Bildung reicht weiter zurück als seine Beschäftigung mit Kant; sie hat, wie in der jüngsten Forschung gezeigt wurde, nachweis132 Vgl. dazu Reinholds klare Formulierung der Differenz von Wille und praktischer Vernunft: »Wille ist also das Vermögen (nicht der Vernunft, sondern) des Subjectes, sich selbst in Rücksicht auf die Forderungen des begehrenden, oder eigennützigen, Triebes zu bestimmen; und der Begriff vom Willen wird eben so sehr verfehlt, wenn er in der bloßen Vernunft, als wenn er im bloßen eigennützigen Triebe aufgesucht wird.« (12). Auffällig ist hierbei freilich, dass Reinhold in diesen frühen Entwürfen noch den Begriff des Subjekts als Instanz der Zurechenbarkeit gebraucht, den er erst später im zweiten Briefband durch den Begriff der Person ersetzen wird. 133 Dass sich Reinhold explizit auf das Erste Hauptstück der Religionsschrift bezieht, wird anhand einer Textstelle aus dem 7. Brief deutlich, welche geradezu ein Zitat einer Stelle aus dem ersten Hauptstück ist. Statt »als nur sofern der Mensch sie [scil. die Triebfeder; J. N.] in seine Maxime aufgenommen hat« (RGV, AA VI, 23 f.) steht bei Reinhold: »als sie [die Triebe] von der Person in ihre Maxime aufgenommen werden.« (Briefe II, 179). Vgl. dazu auch Bondeli (2008a), LXXVI f. sowie 372. Interessant ist hier, dass Reinhold zwar den Begriff der Maxime, nicht aber den Begriff des Menschen von Kant übernimmt, sondern stattdessen den Begriff der Person ins Spiel bringt, unter der er explizit ein Subjekt versteht, dem moralisch gute und böse Handlungen zurechenbar sind.
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bar vorkantische Wurzeln, die auf seine eigenständige Sozialisation und große Vertrautheit mit der Aufklärungsphilosophie – darunter prominent die Debatte zwischen Locke und Leibniz, die ihm »keineswegs nur aus den neuern philosophischen Produkten [seiner] Landsleute bekannt« waren – schließen lassen: »Drei Jahre hindurch hatte er [scil. der Autor selbst – also Reinhold; J. N.] philosophische Vorlesungen nach dem leibnizischen Systeme gehalten« 134 . Die Tatsache, dass Reinhold von einer Gegnerschaft zwischen Locke und Leibniz spricht, lässt darauf schließen, dass dabei Leibniz’ Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand im Zentrum standen, die selbst als ein kritischer Kommentar zu Lockes Philosophie gelten dürfen. 135 Ein weiterer zentraler Bezugspunkt stellt neben Kants moralphilosophischen Grundlegungsschriften auch Carl Christian Erhard Schmids Theorie des »intelligiblen Fatalismus« dar, die sich ebenfalls als eine Konkretisierung der Unbestimmtheit der Kantischen Begrifflichkeit verstanden hatte, jedoch zu einem der Reinholdschen Theorie diametral entgegengesetzten Ergebnis gelangt war: 136 Seine [d. h. Schmids; J. N.] Behauptung: daß der Mensch nur bei den sittlichen, aber nicht bei den unsittlichen Handlungen frei handle, daß er zu den Letztern unvermeidlich bestimmt werde, empört mich im höchsten Grade. Gleichwohl muß ich den Scharfsinn bewundern, den er darauf verschwendet hat. Sein πρῶτον ψεῦδος ist der kantische Begriff von Willen als Causalität der Vernunft; woraus sich freilich ergibt, daß, wenn die Sittlichkeit die Handlung der Vernunft ist, die Unsittlichkeit nicht die Handlung der Vernunft sein könne, und folglich, da nur die Handlung der Vernunft frei sein soll, auch nicht frei sein könne. 137
134 Reinhold, Versuch I, 51. Vgl. zur Leibniz-Rezeption durch Reinhold: Bondeli (2001), 246; Bondeli (2008a), XXIX; Bondeli (2012), 154 sowie Ivaldo (2012), 338. Zur frühen Bekanntschaft Reinholds mit Leibniz vgl. auch Marx (2011), 17, deren Studie auf Reinholds vorkantisches Erbe reflektiert und sich der Frage widmet, »How Karl Leonhard Reinhold’s Commitment to Enlightenment Influenced His Reception of Kant«. 135 Auch wenn Reinhold, wie noch gezeigt wird, in vielerlei Hinsicht an die Leibnizsche Terminologie anknüpft, so trennt ihn doch insofern eine kritische Distanz von Leibniz, als er in ihm einen »Deterministen« erblickt, der in seinen Augen die Probleme des Freiheitsbegriffs nicht zu lösen vermag: »Der Leibnizische Determinismus, das allgemeine Lieblingssystem unsrer bessern Köpfe, weist die Einwendungen der Fatalisten, und Aequilibristen keineswegs ab.« (Brief an Christian Gottlob von Voigt in Weimar, Anfang November 1786, KA 1, 156). 136 Vgl. Teil III.2.2. 137 Baggesen-Briefe, 1, 169.
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Zu nennen ist neben Schmids Theorie des »intelligiblen Fatalismus« schließlich auch August Wilhelm Rehbergs Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, welche bereits im August 1788 in der Allgemeinen Literaturzeitung erschienen war. 138 Sie sollte insofern Reinholds Kant-Kritik beeinflussen, als sie seinen Blick für die Problematik einer Freiheit als Kausalität der Vernunft schärfte. 139 Eine Schwierigkeit der Interpretation der Reinholdschen Briefe besteht jedoch darin, dass Reinhold in den meisten Fällen nicht explizit Kant kritisiert, sondern seine Kritik an die »Freunde der Kantischen Philosophie« adressiert. Dies hängt damit zusammen, dass Reinhold die Kantische Freiheitstheorie, im Gegensatz zu Schmid – einem der besagten »Freunde der Kantischen Philosophie« – nicht als logische Wesensdefinition der Freiheit begreift, sondern nur als »Expositionen« 140 , d. h. als systematische Vorbestimmungen, welche es wegen ihrer begrifflichen Vagheit noch genauer zu klären und zu vervollständigen gilt. Speziell der Willensbegriff ist von Kant, so Reinhold, »in der Kritik der praktischen Vernunft sowohl als in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zwar nicht unrichtig, aber völlig unentwickelt vorausgesetzt« worden, weshalb dieser »Mangel an Bestimmtheit« ausgeglichen werden muss, soll ein tragfähiger Begriff von menschlicher Willensfreiheit entwickelt werden. 141 Ein sol138 August Wilhelm Rehberg: »Rezension der ›Kritik der praktischen Vernunft‹«, in: ALZ 188a u. 188b, 345–352 u. 353–360. Eine kritische Ausgabe dieses Textes findet sich im Anhang I bei Schulz (1975), 230–256. Nach Rehberg gilt – ganz analog zur spekulativen Vernunft – »daß die [praktische] Vernunft sich immer nur in sich selbst herumdreht« (Rehberg, Rez. KpV, 353.), wodurch sie nicht handlungswirksam zu werden vermag. 139 Reinhold bezieht sich in der Vorrede des zweiten Briefbands auf Rehberg: »Ich kann mir, so wenig als Er […] die Vernunft in dem Sinne praktisch nennen, als ob sie den vollständigen, durch sich selbst bestimmenden Grund einer Handlung des Willens enthielte.« (Briefe II, IX f.). Zur Bedeutung der Rehbergschen Kritik für die Freiheitsdebatte nach Kant vgl. Schulz (1975), 177 ff. Zur Wirkung auf Reinhold vgl. Fabbianelli (2000), 432. 140 Vgl. Reinhold, Briefe II, 186: »Kants Aeußerungen von dem Willen sollten, seiner eigenen Absicht nach, immer nur eine gewisse Bestimmung des Willens, die mit andern zum Wesen desselben gehört, nie aber das Wesen selbst ausdrücken. Wenn er daher den Willen bald ›Causalität der Vernunft‹, bald ›ein Vermögen, etwas gemäß einer Idee hervorzubringen‹ nennt: so ist es seine Schuld nicht, wenn diese Redensarten, die, als bloße Expositionen von ihm gebraucht, völlig wahr sind, von seinen Schülern zu Definitionen erhoben, und eben dadurch schlechterdings unwahr werden.« 141 Reinhold, Briefe II, 4.
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cher »Mangel eines bestimmten Begriffes vom Willen«, so Reinholds Diagnose, »macht es begreiflich, wie man die Handlung der praktischen Vernunft ein Wollen nennen konnte« 142 . Reinholds generelles Anliegen lässt sich damit in erster Linie als ein begriffsanalytisches verstehen, insofern er der von Kant ausgelösten freiheitstheoretischen »Sprachverwirrung« 143 vorbeugen möchte, welche nicht genügend zwischen Wille und Vernunft unterschieden hatte. Reinholds Bestimmung des Willens besteht darin, beide Begriffe zum einen voneinander scharf abzugrenzen, sie in einem zweiten Schritt jedoch wieder aufeinander zu beziehen. Sein zweiter Briefband enthält also, versteckt unter dem Gestus der bloßen Auslegung, eine eigenständige Theorie menschlicher Freiheit. Allerdings bedient sich Reinhold dabei immer noch überwiegend der Kantischen Terminologie, so dass die einzelnen Begriffe seiner Theorie ihre Bedeutung nur aus ihrer Neupositionierung, d. h. der spezifischen Relation und Differenz zu benachbarten Begriffen erhalten. 144 Man kann Reinholds freiheitstheoretisches Programm im zweiten Briefband deshalb als eine immanente Kritik der reinen praktischen Vernunft beschreiben, infolge derer sich ›unter der Hand‹ eine Verschiebung der gesamten Kantischen Konstellation freiheitstheoretischer Begriffe ereignet. Innerhalb dieser Neukonfiguration der freiheitstheoretischen Begriffe nimmt, wie noch zu zeigen sein wird, Reinholds Begriff der Person als begriffliches Zentrum eine prominente Stellung ein. 145
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Die Befreiung des Willens
Durch Reinholds Bestimmung des Willens soll eben jene individuelle Leistung der Willkür weiter expliziert werden, die in Kants moralphiReinhold, Briefe II, 203. Vgl. auch ebd., 185: »Ueber diese Freyheit [der Vernunft; J. N.], die nichts als die Unabhängigkeit der praktischen Vernunft von allen Bestimmungsgründen durch Lust und Unlust ist, und welche zwar zur Freyheit des Willens gehört, aber keineswegs dieselbe allein ausmacht, habe ich in den meisten hieher gehörigen Schriften der Freunde der Kantischen Philosophie Aeußerungen angetroffen, die mich nichts anderers vermuthen lassen, als daß dieses Merkmal der Freyheit von diesen Schriftstellern für die ganze Freyheit gehalten wird.« 143 Reinhold, Briefe II, 189. 144 Vgl. zu den Konsequenzen der Reinholdschen Freiheitstheorie auch die sehr konzise Darstellung bei Peetz (1995), 205 f. 145 Zur Bedeutung des Person-Begriffs für Reinholds Freiheitsprojekt allgemein vgl. Noller (2012b). 142
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losophischen Grundlegungsschriften ausgespart worden war. Nur so kann die rationale Freiheitsanforderung nach Verständlichkeit der Handlung erfüllt werden. Die Grundproblematik, von der Reinholds Freiheitstheorie ausgeht, ist das in der Kantischen Theorie angelegte Problem des intelligiblen Fatalismus: Die »Freunde der Kantischen Philosophie« wussten, wie Reinhold diagnostiziert, »den Willen nicht anders von der Sklaverey des Instinktes zu retten, als dadurch, daß sie ihn zum Sklaven der Denkkraft« machten. Man dachte »sich die Nöthigung desselben durch die Sinnlichkeit nur dadurch vermeidlich, daß er durch Vernunft unvermeidlich genöthiget würde«. 146 Dadurch aber konnte die sittliche Handlung »nur als bloße Wirkung dieser Vernunft zugleich nothwendig und frey« gedacht werden. 147 Wenn »der Wille nur in Rücksicht auf die sittlichen Handlungen frey, und der Grund der unsittlichen außer dem Willen in äußeren Hindernissen und Schranken der Freyheit aufzusuchen« ist, so würde auch der Grund der sittlichen Handlung keineswegs in der bloßen Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, sondern auch in der von dieser Vernunft ganz unabhängigen Abwesenheit jener Hindernisse aufgesucht werden müssen. Die ganze Freyheit dieser Vernunft, und durch dieselbe der Person, bestünde also lediglich in einer zufälligen, auf gewisse Fälle eingeschränkten Unabhängigkeit von äußerm Zwang, die keineswegs in der Gewalt der Person läge. Die sittliche Handlung erfolgte unvermeidlich durch eine ganz unwillkührliche Wirkung der praktischen Vernunft, sobald kein Hinderniß da wäre; und allein der Anwesenheit oder Abwesenheit des letztern müsste also sowohl die sittliche als die unsittliche Handlung zugerechnet werden. 148
Indem der intelligible Fatalist »die Ursache der unsittlichen Handlungen außer der Willkühr der Person in unvermeidlichen Hindernissen bestehen lassen muß«, so Reinholds Diagnose, »hängt die ungehinderte Handlung der praktischen Vernunft von der Abwesenheit dieser Hindernisse, und in so ferne das sittliche sowohl als das unsittliche Wollen zuletzt von einer und derselben Naturnothwendigkeit ab« 149 . Intelligibler Fatalismus und empirischer Determinismus sind, so Reinholds zentrale freiheitstheoretische Einsicht, nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. So weit Reinholds Bestandsaufnahme. 146 147 148 149
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Wie geht Reinhold bei seinem Projekt einer Neubestimmung des Willens vor? Zunächst muss in einem ersten Schritt, der sich als eine Befreiung des Willens charakterisieren lässt, 150 der Willensbegriff aus seiner engen begrifflichen Bindung an die reine praktische Vernunft herausgelöst und isoliert werden, um so der in der Kantischen Theorie angelegten Problematik eines intelligiblen Fatalismus zu entgehen. 151 Ein solches Projekt einer Dissoziation des Willens von der Vernunft dient dem Zweck, einen Begriff von negativer Freiheit zu entwickeln, der sich gegenüber Kants Autonomie-Begriff stärker an Kants Begriff eines liberum arbitrium anschließt, wobei er, deutlicher noch als Kant dies getan hatte, den Aspekt der bloßen Inklination nicht nur auf empirische, sondern auch auf rein vernünftige Bestimmungsgründe ausdehnt. In einem zweiten Schritt bestimmt Reinhold den Willen insofern, als er diesen als ein Grundvermögen – als Willkür – über den anderen drei menschlichen Grundvermögen »als die Sinnlichkeit, der Verstand und die Vernunft« 152 verortet und auf die symmetrische Grundalternative von rein empirischen und rein vernünftigen Bestimmungsgründen – dem »eigennützigen« und »uneigennützigen Trieb«, wie Reinhold diese reformuliert – hin orientiert. In einem dritten Schritt erfolgt die Bestimmung des Willens in reflexiver Manier, d. h. dadurch, dass dieser als Willkür der Person sich selbst zu möglichen Handlungsalternativen aus Freiheit bestimmt und durch ihren Entschluss realisiert, wodurch schließlich ein Begriff positiver Freiheit entwickelt werden soll, der den entsprechenden Kantischen Begriff um die Freiheit zum Bösen vervollständigt. Reinhold entwickelt zu diesem Zweck eine kritische Handlungstheorie, im Zuge derer er Vernunft und Wille in ein reflexives Ver150 Vgl. zu dieser Bestimmung der Reinholdschen Freiheitstheorie Marx (2011), 286, die Reinholds Projekt unter die Formel »freeing the will« bringt. Weiter zu klären ist hier jedoch die Frage, inwiefern es sich dabei um eine bloß negative Freiheit handelt, oder ob nicht doch auch Momente einer positiven Freiheit erforderlich sind, und worin diese genau besteht. 151 Nach Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist der Wille »nichts anderes als praktische Vernunft«; er ist »ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.« (GMS, AA IV, 412). Gemäß Kants Kritik der praktischen Vernunft heißt der Wille »der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist« (KpV, AA V, 55). Hieran zeigt sich Kants Orientierung an Baumgartens Begriff des Willens als »oberem Begehrungsvermögen«. 152 Reinhold, Briefe II, 194.
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IV. Freiheit des Willens
hältnis des Gebrauchs bringt: »Die Wirkung der Vernunft kann nie der Vernunft widersprechen; wohl aber die Handlung der Person durch Vernunft, weil diese letztere nicht in der bestimmten Handlungsweise der Vernunft, sondern in dem Vermögen, sich seine Handlungsweise selbst zu bestimmen, und die Vernunft willkührlich zu gebrauchen, gegründet ist [Hervorh. J. N.].« 153 Man hat im Gefolge Kants, so Reinholds Diagnose, »die Handlungen des Willens mit den Aeußerungen der Vernunft beym Wollen verwechselt« und »durch eine sehr natürliche Erschleichung die Vernunft bey den sittlichen Handlungen personificier[t], oder, welches eben so viel heißt, die praktische Vernunft unabhängig von der Willkühr der Person handeln lassen« 154 . Die Folge einer solchen Identifizierung besteht darin, dass »der handelnden Vernunft keine andere Maxime möglich [bleibt], als das praktische Gesetz selbst. Es giebt dann keinen willkührlichen Gebrauch der Vernunft beym Wollen, und die unsittlichen Handlungen hören auf frey zu seyn [Hervorh. J. N.]« 155 . Damit knüpft Reinhold an Kants Begriff eines Gebrauchs der Vernunft an, erweitert ihn jedoch um die Bedeutung eines genitivus obiectivus: Die Vernunft wird nicht nur in ihrer theoretischen und praktischen Dimension (als »Gebrauch der Vernunft« im Sinne eines genitivus subiecivus) betrachtet, sondern kann, wie Reinhold sagt, »vom Subjekte beim Wollen auf zweierlei Art gebraucht werden« 156 , d. h. selbst zum Gegenstand des Willens werden, während Kant zuvor allein den Willen als Objekt der Vernunftbestimmung betrachtet hatte. Dadurch wird das Verhältnis von Wille und Vernunft um eine entReinhold, Briefe II, 180. Reinhold, Briefe II, 180. Vgl. auch folgende Stelle: »Der Wille kann durchaus nicht als Kausalität der Vernunft definiert werden; wodurch er mit der Denkkraft verwechselt würde; auch nicht als das Vermögen, etwas einer Idee gemäß hervorzubringen, wodurch er von der produktiven Einbildungskraft, die oft nach Ideen handelt, nicht unterschieden wäre. Auch der kritischen Philosophie fehlt es bis itzt noch an einem bestimmten Begriff vom Willen.« (Beytrag zur genaueren Bestimmung der Grundbegriffe der Moral und des Naturrechtes. Als Beylage zu dem Dialog der Weltbürger, in: Der neue Teutsche Merkur 2 [1792], 105–139, hier 111). 155 Reinhold, Briefe II, 179 f. Vgl. dazu auch Harry Frankfurts Charakterisierung des »vernünftig Triebhaften« (»rational wanton«): »What distinguishes the rational wanton from other rational agents is that he is not concerned with the desirability of his desires themselves. He ignores the question of what his will is to be. Not only does he pursue whatever course of action he is most strongly inclined to pursue, but he does not care which of his inclinations is the strongest.« (Frankfurt [1971], 11). 156 Baggesen-Briefe, 1, 168 f. 153 154
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scheidende weitere reflexive Dimension ergänzt, insofern nun beide in einer kausalen Wechselwirkung stehen. 157 Reinholds personalitätstheoretische Kritik am Kantischen Handlungsbegriff tritt sehr prägnant in folgender Feststellung zu Tage: »[D]ie praktische Vernunft ist kein Wille, ob sie gleich wesentlich zum Willen gehört, und sie bey jedem eigentlichen Wollen äußert [nämlich insofern sie individuell gebraucht wird; J. N.]. Die Handlung der praktischen Vernunft ist bloß unwillkührlich.« 158 Hierin zeigt sich erneut, dass Reinhold Wille und Vernunft aufs engste zusammendenkt, jedoch nicht in Art einer Identität, sondern in einem freien und reflexiven Verhältnis im Modus des Gebrauchs. Damit vollzieht sich aber in seiner Freiheitstheorie ein Wechsel von der Freiheit als Autonomie der Vernunft zur Freiheit der Willkür im Sinne des liberum arbitrium voluntatis. Der Kantische Begriff einer praktisch werdenden reinen Vernunft wird also deswegen für Reinhold problematisch, weil hierbei das Urteils- bzw. Erkenntnis- und das Ausführungsprinzip der Moralität aufs Engste miteinander verwoben und nicht voneinander unabhängig sind. Aus dieser Koppelung und Gleichschaltung beider Prinzipien lässt sich, wie dies bei Schmids »intelligiblem Fatalismus« manifest geworden war, die Notwendigkeit moralisch guter Handlungen sowie die Unmöglichkeit der Zurechenbarkeit moralisch böser Handlungen folgern: »Sobald einmal angenommen ist, daß die Freyheit des reinen Wollens lediglich in der Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft besteht, so muß man auch zugeben, daß das unreine Wollen, welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frey sey.« 159 Konkret kritisiert Reinhold an Kants Autonomie-Lehre die Kop157 Vgl. zum Gebrauch der Vernunft Augustins Begriff des usus rationis, aber auch an die Willenslehre von Thomas von Aquin, der hinsichtlich dieses Verhältnisses von Wille und Vernunft von einer »gewisse[n] Ähnlichkeit mit der Kreisbewegung (quaedam similitudo motus circularis)« spricht (QdV, q. 24, 208.). 158 Reinhold, Briefe II, 198. 159 Reinhold, Briefe II, 185 f. Vgl. auch ebd., 187: »Nach allen diesen Angaben würde der empirische Wille nicht frey seyn, würde die Freyheit bloß auf den Reinen eingeschränkt werden müssen.« Diese in der Kantischen Theorie einer Autonomie der reinen praktischen Vernunft angelegte Antinomie hat Martin Bondeli sehr treffend folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Wir kommen, wenn wir uns als intelligibles Wesen vorstellen, aus der Intelligibilität und dem damit verbundenen moralischen Zustand (bzw. moralischen Zwangscharakter) nicht heraus. Und wir kommen, wenn wir uns als empirisch-sinnliche Wesen vorstellen, nicht in die Intelligibilität
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pelung von principium diiudicationis und principium executionis, insofern »die praktische Vernunft nicht bloß das Gesetz gebe, sondern auch die demselben gemäße Handlung durch sich selbst hervorbringe« 160 . Die Vernunft ist zwar »bey der sittlichen Gesetzgebung (aber nicht bey der Ausführung des Gesetzes, die nicht der Vernunft, sondern dem Willen zukömmt) praktisch« 161 . Der Grund dieser Fehlidentifikation besteht nach Reinhold in einer problematischen Analogisierung des Praktischen mit dem Theoretischen, nämlich darin, dass man »die Selbstthätigkeit, die sich bey jeder Handlung des Willens im Selbstbewußtseyn ankündigt, aus den Aeußerungen der Denkkraft, die bey diesem Zustande des Gemüthes geschäftig ist, zu erklären gesucht, und daher die Wirksamkeit der Vernunft in die Definition des Willens aufgenommen« 162 hat. 163 Die Möglichkeit einer Freiheit, gegen das Sittengesetz zu handeln, kann Reinhold durch die Unterscheidung zwischen einer normativen und einer ontologischen Gesetzesbindung denken. Erstere ist notwendig, letztere ist kontingent und der menschlichen Willkür anheim gestellt: »Die Person ist sich bewußt, daß es nicht auf sie ankomme zu Sollen oder Nicht zu sollen, wohl aber das, was sie Soll oder Nicht soll, zu wollen oder nicht zu wollen, daß sie nicht im Sollen und Nichtsollen, aber im Wollen und Nichtwollen frey ist« 164 . Hierbei wird klar ersichtlich, dass die Person sich nach Reinhold reflexiv auf die Normen reiner praktischer Vernunft beziehen kann. Praktisches Selbstbewusstsein ist also gegenüber der Normativität des Sittlichen nicht indifferent, jedoch auch nicht an dieses entscheidungsmäßig gebunden, sondern vermag sich dem Anspruch des Sittengesetzes gegenüber frei zu verhalten, so dass dieses nicht automatisch handlungswirksam ist, sondern erst vermittels der willentlichen Reflexion darauf, also auf Basis von Volitionen zweiter Stufe, zur Handlung realisiert werden kann: hinein. Die Möglichkeit, sich in Freiheit zur moralischen Freiheit zu erheben oder sie in Freiheit zu verwerfen, erscheint ausgeschlossen.« (Bondeli [2001], 246). 160 Reinhold, Briefe II, 195. 161 Reinhold, Briefe II, 197. 162 Reinhold, Briefe II, 175. 163 Damit wendet sich Reinhold wie in der vorkantischen Tradition Augustinus implizit gegen die Platonische Parallelisierung von Wollen und Denken, wonach ebenso wie bei einem Denkfehler gilt, »daß niemand aus freier Wahl dem Bösen nachgeht oder dem, was er für böse hält« (Platon, Protagoras, 358c). 164 Reinhold, Briefe II, 198 f.
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Die Realität der Freyheit hängt vom Bewußtseyn der Forderung sowohl des eigennützigen als des uneigennützigen Triebes, aber auch noch überdies von dem Bewußtseyn des Vermögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des Eigennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützigen selbst zu bestimmen. Das eine ist das Bewußtseyn der veranlassenden Gründe, das andere das Bewußtseyn des durch sich selbst bestimmenden Grundes, der die veranlassenden zu bestimmenden erhebt; das eigentliche Bewußtseyn seines bloßen Selbstes, als handelndes Wesen. 165
Freie Selbstbestimmung fällt gemäß Reinholds Theorie personalen Selbstbewusstseins also nicht mehr mit dem reinen Wollen zusammen, sondern ist auch im Modus unreinen Wollens möglich. Entscheidend für die Freiheit des Willens ist demnach nicht die Frage, ob Vernunft den Willen bestimmt, sondern wie sie dies tut: »Die unsittliche Handlung läßt sich so wenig als die sittliche ohne den zum Wesen der Handlung gehörigen Gebrauch der Vernunft denken [Hervorh. J. N.].« 166 Reinhold übernimmt zwar Kants Begriff des principium diiudicationis: Die Person gibt sich das Sittengesetz »durch bloße Vernunft, und dieses ist daher unwillkürlich und unvermeidlich, und immer eben dasselbe.« 167 Allerdings ist damit nicht automatisch auch die Realisierung des von der Vernunft Vorgeschriebenen in einer Handlung verbunden. Vielmehr besitzt die Person alternative Möglichkeiten der Entscheidung und bringt die konkrete Handlung »durch Willkür hervor«, d. h. »immer so, daß sie auch das Gegenteil davon hervorbringen kann, und oft wirklich hervorbringt [Hervorh. J. N.].« 168 Selbstbestimmung bedeutet nach Reinhold insofern »Freyheit durch oder wider das Gesetz [Hervorh. J. N.]« 169 . Durch seine Unterscheidung zwischen objektiver Vernunfterkenntnis und individuellem Gebrauch der Vernunft, der nicht mit dem principium executionis der Vernunft zusammenfällt, entwirft Reinhold eine Doppelaspekttheorie des Willens: »Der Wille hört auf frey zu seyn, wenn man denselben einseitig [Hervorh. J. N.] betrachtet.« 170 Bei genauerer Betrachtung sind der reine und der empirische Wille nämlich »ein und eben derselbe Wille nur aus verschiedenen 165 166 167 168 169 170
Reinhold, Briefe II, 190. Reinhold, Briefe II, 175. Reinhold, Briefe II, 199. Reinhold, Briefe II, 294. Reinhold, Briefe II, 198 f. Reinhold, Briefe II, 189. Vgl. auch Briefe II, 176: »Eine willkührliche Befriedigung
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IV. Freiheit des Willens
Gesichtspunkten betrachtet« 171 . Wie Reinhold betont, sind daher »[d]er reine Wille sowohl als der unreine […] nichts andres als die beyden gleich möglichen Handlungsweisen des freyen Willens; beyde zusammen genommen gehören zur Natur der Freyheit, die ohne die Eine von beyden denkbar zu seyn aufhört [Hervorh. J. N.]« 172 . Reinholds Begriff negativer Freiheit entspricht insofern Kants Bestimmung einer »Freiheit im negativen […] Verstande« im Sinne »der Unabhängigkeit [des Willens; J. N.] […] von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte)« 173 , als auch bei ihm das freiheitstheoretisch relevante Moment in der Suspension von unmittelbar handlungsorientierten Bestimmungsgründen liegt. Beide Begriffe unterscheiden sich dagegen stark hinsichtlich positiver Freiheit. Auch wenn diese bei Kant und Reinhold durch die Suspension und Evaluation von materialen Bestimmungsgründen einen formalen Aspekt betrifft, so ist »Freiheit im positiven Verstande« nach Kant die »eigene Gesetzgebung […] der reinen, und als solche, praktischen Vernunft«, während für Reinhold Freiheit »im positiven Sinne« »das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz« 174 darstellt. In dieser positiven Bestimmung der Freiheit gegenüber dem Sittengesetz zeigt sich in aller Deutlichkeit Reinholds von Kant grundsätzlich abweichende Bestimmung des Freiheitssubjekts als Person, insofern diese darin nicht eine reine Vernunftform annimmt, sondern ihren individuellen Ausdruck als ein natürlich-vernünftiges Wesen findet. 175
2.3
Die Sittlichkeit der Triebe
Die Basis von Reinholds positivem Freiheitsbegriff bildet seine komplexe, in sich differenzierte Trieblehre, welche er in expliziter Ausdes eigennützigen Triebes hört darum nicht auf ein Wollen zu seyn, weil sie dem Gesetze der Vernunft zuwider ist; denn es giebt auch ein unsittliches Wollen«. 171 Reinhold, Briefe II, 189. 172 Reinhold, Briefe II, 188. 173 Kant, KpV, AA V, 33. 174 Reinhold, Briefe II, 188. 175 Vgl. zu einer solchen expressivistischen Auffassung von positiver Freiheit auch Taylor (1979), 156: »Negative freedom usually means freedom defined as independent from external interference, whereas ›positive‹ conceptions define it rather as realized in action which comes from or expresses the true self [Hervorh. J. N.].« Zum Verhältnis von Reinhold und Kant vgl. auch Peetz (1995), 204.
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einandersetzung mit Kants Triebfedern-Lehre entwickelt. Als programmatisch kann dabei der Titel des Siebten Briefs gelten: Über den bisher verkannten Unterschied zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Triebe, und zwischen diesen beiden Trieben und dem Willen. Die zentrale Differenz zwischen dem uneigennützigen und dem eigennützigen Trieb ist, wie Reinhold betont, ein Unterschied, »aus dem sich, wenn er einmal zugegeben ist, alle in jener Darstellung […] aufgestellten Grund- Lehr und Folgesätze […] ergeben« 176 . Reinholds Trieblehre lässt sich in das Modell eines reflexiven zweistufigen Willens bringen, so dass beide Triebe Präferenzen erster Ordnung darstellen. Sie sind als menschliche Grundtendenzen immer schon willensmäßig strukturiert: »Die Forderungen der beyden Triebe, des eigennützigen und uneigennützigen, heißen Triebfedern des Willens, in wie ferne sie bey den willkürlichen Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen des Begehrens beschäftigt sind.« 177 In seinem Begriff der »Forderung« der Triebe denkt Reinhold bereits eine begriffliche Struktur der jeweiligen Triebe, so dass sie im Sinne von Maximen erster Ordnung verstanden werden können. Charakteristisch für jeden der beiden Grundtriebe erster Ordnung ist, dass sie nicht schon für sich allein genommen hinreichend für die Willensbestimmung sind, sondern nur inklinieren. Um handlungswirksam zu sein, bedürfen sie einer reflexiv-vernünftigen Zusatzhandlung – mit Kant gesprochen: eines »Komplements der Zulänglichkeit«. 178 Anders als es die Tradition im Gefolge von Wolff und Baumgarten getan hatte, analysiert Reinhold den Willen nicht in ein oberes Reinhold, Briefe II, 161. Reinhold, Briefe II, 178. 178 Reinhold knüpft hier explizit an die begriffliche Tradition der Aufklärung (bei Leibniz, Wolff und Baumgarten) an, in welcher der Begriff des Triebes unter Rückgriff auf die Antike (etwa den Aristotelischen Begriff der ὄρεξις), weit verbreitet war, auch wenn der Triebbegriff dort nicht einheitlich gebraucht und definiert wurde. Zur detaillierten triebtheoretischen Auseinandersetzung Reinholds mit Aufklärungsphilosophen wie Crusius, Platner, Schulze und Tetens vgl. Bondeli (2008b), 366 f. Ausdrücklich führt Reinholds den Begriff des Triebes – wenn auch noch nicht die Unterscheidung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb – in den praktischen Diskurs im Dritten Buch seines Versuchs einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789; hg. von Martin Bondeli u. Silvan Imhof, Basel 2013) ein, wo er die »Grundlinien der Theorie des Begehrungsvermögens« darlegt (355–366). Vgl. zum Begriff des Triebes ganz allgemein sowie speziell mit Blick auf Reinhold: Cesa (1993), 167 ff. 176 177
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und ein unteres Begehrungsvermögen, 179 sondern »in zwey ursprüngliche, wesentliche verschiedene und wesentlich vereinigte Triebe«, »wovon der Eine, in der Sinnlichkeit gegründet, das Vergnügen überhaupt zum Objekte hat, der Andere, in der persönlichen Selbstthätigkeit vorhanden, ein lediglich durch sich selbst nothwendiges Gesetz aufstellt« 180 . Reinholds triebtheoretische Reformulierung des kategorischen Imperativs 181 führt im Rahmen seiner personalitätstheoretischen Transformation der Kantischen AutonomieLehre zu folgender Neubestimmung: »Bey allen deinen Willenshandlungen sey die Befriedigung oder Nichtbefriedigung deines eigennützigen Triebes der Forderung des uneigennützigen untergeordnet.« 182 Die Forderung des eigennützigen wie des uneigennützigen Triebes sind »Vorschriften, die der Person, die eine durch bloße praktische Vernunft, die andere durch theoretische Vernunft, vermittelst Lust und Unlust gegeben sind.« 183 Beide Triebe lassen sich als verschiedene Arten des Vernunftgebrauchs verstehen – als theoretische Vernunft, die als instrumentelle Vernunft den eigennützigen Trieb befriedigt, indem sie die Zweck-Mittel-Relation auf Gegenstände anwendet, also die Welt allein aus der Eigenperspektive betrachtet, und als praktische, die den uneigennützigen Trieb befriedigt, indem sie eine normative Dimension eröffnet und die Interessen und Perspektiven anderer frei handelnder Personen der individuellen Entscheidung zu Grunde legt. Der uneigennützige Trieb lässt sich damit als geschichtlich und gesellschaftlich situierte und materialisierte Form des Sittengesetzes verstehen, welches dadurch in eine Realstruktur transformiert ist. Zugleich aber wird die Forderung des eigennützigen Triebs nicht mit Heteronomie eines unteren Begehrungsvermögens schlechthin iden-
179 Baumgarten definiert in seiner Metaphysik, 510, 163, das Begehrungsvermögen »in so ferne es dem obern Erkenntnißvermögen folgt« als »das obere oder der Wille (facultas appetiua superior, animus, voluntas vel noluntas)«. 180 Reinhold, Briefe II, 134. 181 »Ich nenne sie [die praktische Vernunft] einen Trieb, in wie ferne sie unwillkührlich thätig ist, und eine bestimmte, einzig mögliche, folglich schlechthin nothwendige Handlungsweise hat.« (Briefe II, 134). 182 Reinhold, Briefe II, 139. Der uneigennützige Trieb ist »einzig und allein die praktische Vernunft im Gegensatz mit dem Triebe nach Vergnügen, in wie ferne sie als Trieb gedacht werden muß, dessen Forderung ein Gesetz ist, dem alle freywilligen Befriedigungen des eigennützigen Triebes unterworfen sind.« (Briefe II, 135). 183 Reinhold, Briefe II, 179.
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tifiziert, sondern ist als Eigeninteresse eine ebenso mögliche Option freier Selbstbestimmung. Die Forderungen beider Triebe sind begrifflich artikuliert, so dass sie selbst zu Momenten eines deliberativen Prozesses werden: Sie »müssen freylich bey jedem Wollen vorhanden seyn, und sind schon darum, weil ohne sie kein Wollen denkbar ist, Gründe, und weil die Gegenstände des Wollens durch sie bestimmt werden, objektive Gründe des Willens« 184 . Als objektive Gründe stellen die Artikulationen der beiden Triebe damit die Operationsbasis für den Gebrauch der Vernunft dar. Durch diese gründetheoretische Reformulierung beider Triebe sind die Gegenstände des Guten und Bösen nicht mehr wie bei Kant Hervorbringungen der reinen praktischen Vernunft, sondern gleichermaßen mögliche Angebote, – »an und für sich nur veranlassende, und nicht durch sich selbst bestimmende Gründe« 185 des Willens. 186 Dies bedeutet, dass jede Freiheitsentscheidung mit beiden Ansprüchen oder Forderungen der Triebe operieren muss, indem die Person diese in eine bestimmte Ordnung bringt: Sie werden »nicht durch die unwillkührliche Forderung, die nur allein Befriedigung, sondern durch die Willkühr, welche Befriedigung oder Nichtbefriedigung zum Objekt hat; nicht durch eine Wirkung der Person, sondern durch eine Handlung der Person« 187 befriedigt. Ein Subjekt, welches durch diese Triebe unwillkürlich und unmittelbar bestimmt würde – wie im Falle einer für sich selber praktischen Vernunft, die aufzuweisen gerade das Ziel der Kantischen Grundlegungsschriften war – wäre nach Reinhold, um die Terminologie Harry Frankfurts zu verwenden, ein bloß »Triebhafter«. Von beiden Trieben ist der Wille reflexiv dadurch unterschieden, »daß er sich selbst seine Handlungsweise bestimmt, mehr als Eine Handlungsweise hat, kein Trieb, sondern ein freyes Vermögen ist« 188 . Der Wille, oder genauer gesagt die Willkür (zwischen denen Reinhold nicht streng unterscheidet 189 ) betrifft nach Reinhold die Reinhold, Briefe II, 181. Reinhold, Briefe II, 181. 186 Hier knüpft Reinhold an die Unterscheidung von bloß inklinierenden und nezessitierenden Gründen des Willens nach Leibniz an (Leibniz, NA II, 21,155). Vgl. auch Bondeli (2008b), 372. 187 Reinhold, Briefe II, 174. 188 Reinhold, Briefe II, 134. 189 Reinholds Verwendung des Willkürbegriffs im zweiten Briefband ist durchaus ›willkürlich‹ zu nennen, denn er grenzt diesen nicht streng genug von dem Begriff 184 185
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Ebene der reflexiven Einstellungen gegenüber den verschiedenen Arten des Begehrens, insofern die Person sich »selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens, oder einer Forderung […] bestimmen« 190 kann. Beide Triebe gelten somit als zu wählende Optionen der Freiheit, nicht als ihre Produkte: Sie konstituieren die dynamisch strukturierte Basis der Freiheit, welche Reinhold in einem weiten Sinne als »Sittlichkeit« bezeichnet. 191 Im Gegensatz zu Kant vermag Reinhold dadurch zwischen einem engen und weiten Begriff von Sittlichkeit zu unterscheiden, was Kant durch die Fixierung auf das obere Begehrungsvermögen nicht zu leisten vermochte. Die Freiheitsentscheidung entsteht nun durch die spezifische Zusammenführung beider Triebe zu einem integrierten Willen: In der sittlichen Handlung ist absolute praktische Nothwendigkeit und Freyheit in so ferne vereinigt [Hervorh. J. N.], als das absolut nothwendige Gesetz, die Wirkung der praktischen Vernunft, durch Willkühr in einem gegebenen Falle ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit gemacht ist. In der unsittlichen Handlung ist die Naturnothwendigkeit und die Freyheit in so ferne vereinigt [Hervorh. J. N.], als die bloß dem Naturgesetze des Begehrens gemäße, aber dem praktischen Gesetze widersprechende Forderung des eigennützigen Triebes durch Willkühr ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit erhoben ist. 192
Der Kantische Gedanke einer Autonomie der Vernunft wird damit durch Reinhold entschieden herabgestuft, denn es ist nicht mehr die reine praktische Vernunft, die als Freiheitsinstanz den Willen allein unmittelbar zu bestimmen und zur Wirklichkeit erheben vermag. ›bloßer Willkür‹ ab. So findet sich zwar an einschlägigen Stellen im Siebten Brief die Wendung einer Freiheit »durch die Willkühr« (174), und auch Wendungen eines willkürlichen Vernunftgebrauchs (z. B. 179 f.). Häufig wird der Begriff jedoch nur in Abgrenzungsverhältnissen (»unwillkührlich«) oder gar im pejorativen Sinn (»Willkühr eines Despoten; [78]; »willkührliche Fürstengewalt und Intoleranz« [90]; »Privatwillkühr« [84]; »bloße Willkühr« [113]). Damit gehört Reinhold, wie Kant, in eben jene Phase des ideengeschichtlichen ›Wendepunktes‹ der Bedeutung des Willkürbegriffs. 190 Reinhold, Briefe II, 174. 191 Vgl. Reinhold, Briefe II, 138: »Sittlichkeit (Moralität) in weiterer Bedeutung, heißt das bey einer Willenshandlung vorkommende Verhältniß zwischen den Forderungen des eigennützigen und uneigennützigen Triebes. Sittlichkeit in engerer Bedeutung, (moralische Güte) die bey einer Willenshandlung vorkommende Unterordnung der Befriedigung des eigennützigen Triebes, unter die Forderung des uneigennützigen; das Gegenteil davon – Unsittlichkeit (Immoralität). Vgl. zu den realistischen Implikationen dieses Sittlichkeitsbegriffs auch Bondeli (2001), 251. 192 Reinhold, Briefe II, 201.
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Oder wie Reinhold formuliert: »Die Wirklichkeit der Befriedigung des eigennützigen Triebes hängt nicht mehr von diesem [uneigennützigen] Triebe allein ab« 193 . Positive Freiheit besteht nach Reinhold deshalb »in der Selbstthätigkeit der Person beym Wollen, einer ganz besondern Selbstthätigkeit, die von der Selbstthätigkeit der Vernunft, oder durch Vernunft genau unterschieden werden muß« 194 . Diese »besondere Selbsttätigkeit« besteht, wie bereits beschrieben, in der Wirkung der Willkür, die, obwohl von reiner praktischer Vernunft verschieden, dennoch in einem reflexiven Verhältnis des Gebrauchs zu ihr steht.
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Die Natur der Person
Durch den Übergang von der Wirkungsweise reiner praktischer Vernunft zur Freiheitsentscheidung der Person bezieht Reinhold – in Anknüpfung an die philosophische Tradition des Person-Begriffs 195 – die individuelle Natur in den Prozess der Willensbildung mit ein – eine Wendung, die Kant bereits im ersten Hauptstück der Religionsschrift selbst teilweise vollzogen hatte. 196 Willensfreiheit besteht nach Reinhold nun im reflexiven Verhältnis der Person zu ihrer eigenen Natur, die aktiv in die individuelle Willensentscheidung einbezogen wird: »Beyde Triebe sind der menschlichen Natur wesentlich, und der Uneigennützige kann zur Befriedigung seiner eigenen Forderung, zur Erfüllung des Sittengesetzes, des eigennützigen keineswegs entbehren [Hervorh. J. N.].« 197 Angesichts dieser unauflöslichen Verwobenheit beider Grundtendenzen in der individuellen Person besteht Willensfreiheit in einer harmonischen Fügung ihres Willens, so dass sich der freie Wille als ein personal integriertes Triebgeflecht verstehen lässt: Vgl. Reinhold, Briefe II, 197 f. Reinhold, Briefe II, 192. 195 Vgl. dazu die klassische Definition der Person bei Boethius als »einer verständigen Natur unteilbare Substanz« (rationabilis naturae individua substantia). (Gegen Eutyches und Nestorius, 74 f.). 196 Vgl. dazu Kant, RGV, AA IV, 21, wo Kant »unter der Natur des Menschen nur de[n] subjektive[n] Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt« versteht. Vgl. auch RGV, AA VI, 58: »Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen«. 197 Reinhold, Briefe II, 141. 193 194
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Der richtige Begriff von dem vollständigen Objekte des sittlichen Willens, dem GANZEN Gute des Menschen (das man unrichtig das höchste genannt hat), ist nur durch einen richtigen Begriff vom Willen möglich […]. Gleichwie dieses ganze Gut nur in der Befriedigung beyder Triebe der menschlichen Natur bestehen kann, so setzt der richtige Begriff von demselben einen Begriff vom Willen voraus, in welchem nicht nur keiner dieser Triebe den andern aufhebt, sondern vielmehr der eine sich ohne den andern nicht denken läßt 198 .
Beide natürliche Willenstendenzen – der eigennützige und der uneigennützige Trieb – werden im Freiheitsakt aufeinander bezogen und durch einen deliberativen Prozess der Willensbildung vermittelnd zur Entscheidung gebracht: »Das Wollen ist also keine bloße Aeußerung weder des eigennützigen noch des uneigennützigen Triebes, keine Forderung weder des Einen noch des Andern; sondern Selbstbestimmung für oder gegen die Forderung des uneigennützigen Triebes zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen.« 199 Durch diese unauflösliche Verwobenheit beider Triebe im Freiheitsakt wird Reinholds Abgrenzung von Kants Begriff eines reinen Willens deutlich. Willensfreiheit ist nur möglich auf Basis der ganzen Natur des Menschen: »[D]a der Wille überhaupt das Vermögen ist, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes zu bestimmen; diese Forderungen aber mittelbar oder unmittelbar von der Erfahrung abhängen: so ist alles Wollen in dieser Rücksicht empirisch.« 200 Durch den Rekurs auf triebhaft strukturierte Willenstendenzen erster Stufe lässt sich Reinholds Freiheitsprojekt als Versuch einer Realisierung der Kantischen Theorie verstehen, was jedoch nicht bereits impliziert, dass es sich dabei um eine bloße Moralpsychologie handelt. Vielmehr geht es Reinhold darin um eine Analyse des Willens und des ganzen Gebrauchs der Freiheit. 201 Dabei erweist sich Kants in der Religionsschrift modifizierter Maximenbegriff als ein fruchtbarer Anschlusspunkt für Reinhold: »Die Forderungen des eigennützigen Triebes sowohl als die des uneigennützigen können nur durch willkührliche Vorschriften, nur durch Maximen zu Triebfedern Reinhold, Briefe II, 257 f. Reinhold, Briefe II, 135 f. 200 Reinhold, Briefe II, 188. 201 Heinz (2012), 169, vertritt dagegen die These, »dass Reinhold die Konzeption einer anthropologisierenden Moralpsychologie an die Stelle von Kants Projekt einer Metaphysik der Sitten setzt.« 198 199
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des Willens werden; sie sind nur in so ferne als Bestimmungsgründe der Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes beym Wollen denkbar, als sie von der Person in ihre Maxime aufgenommen werden.« 202 Der personale Wille, oder genauer: die Willkür, ist nach Reinhold ausdrücklich »das Vermögen der Maximen« 203 , wobei sich Reinhold an der ursprünglichen Wortbedeutung orientiert: »Eigentliche Willkühr, WILLkühr im strengsten Sinne, findet, wie schon der Name andeutet, nie außer der Willenshandlung, die sich ihre Handlungsweise selbst wählt (erkührt)« 204 statt, denn nur »die Maxime ist willkührlich« 205 . Der von Kant übernommene Begriff der Maxime kann als Schlüsselbegriff für Reinholds Theorie von personaler Willensfreiheit angesehen werden, denn hier allein ist die Willkür als freier Vernunftgebrauch zu finden: In der Maxime ist Vernunft mit Willkühr; im Naturgesetz des Begehrens Vernunft mit dem Triebe nach Vergnügen vereinigt; im praktischen Gesetze ist Vernunft für sich allein geschäftig. DREYERLEY Vorschriften, die als Vorschriften Aeußerungen der Vernunft sind, unter denen aber die erste ihren determinierenden Grund [Hervorh. J. N.] in der Freyheit der Person, die zweyte in Lust und Unlust, die dritte in der bloßen Vernunft hat. 206
Reinhold verschiebt damit den Akzent von der immer schon auf das Gute hin orientierten reinen praktischen Vernunft auf die Person als zurechenbare Instanz der Freiheitsentscheidung, und zwar deshalb, weil hier die Vernunft selbst wiederum Gegenstand der Willkür ist: »Der Wille giebt sich durch die Maximen seine Handlungsweise selbst, oder vielmehr, er bestimmt sich zu einer von zwey entgegengesetzten, der Person gegebenen [Hervorh. J. N.] Handlungsweisen, während das Denken durch Vernunft an eine einzige gebunden ist.« 207 Zwar ist die Befriedigung eines der beiden Grundtriebe, wie Reinhold betont, »ein nothwendiger Gegenstand des unwillkührlichen Begehrens« – d. h. jede Willensentscheidung ist bestimmt durch ein Motiv – sie ist »aber nur ein zufälliger des Wollens, welches auch die Nichtbefriedigung hätte beschließen können [Hervorh. 202 203 204 205 206 207
Reinhold, Briefe II, 179. Reinhold, Briefe II, 178. Reinhold, Briefe II, 206. Reinhold, Briefe II, 179. Reinhold, Briefe II, 178. Reinhold, Briefe II, 180.
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J. N.]« 208 . Es gilt daher, dass »die Vorschrift zur Wirklichkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedigung zufällig ist, und jenem Gesetze gemäß oder zuwider seyn kann, kein Gesetz, sondern die Handlung der Selbstbestimmung ist, bey welcher die Person ihre Vernunft dem praktischen Gesetze derselben gemäß oder zuwider gebrauchen kann [Hervorh. J. N.]« 209 . Da beide Triebe als Äußerungen verschiedenen Vernunftgebrauchs, des theoretischen und praktischen, angesehen werden können, ermöglicht der komplexe Begriff der Person einen vollständigen Begriff sittlichen Selbstbewusstseins, indem beide Weisen des Vernunftgebrauchs in ein bestimmtes Verhältnis gebracht werden. Ein solches personales Selbstbewusstsein ist also nicht mehr, wie in der Perspektive der Kantischen Grundlegungsschriften, allein an die reine praktische Vernunft gebunden; 210 es ist vielmehr ein holistisches und symmetrisches Bewusstsein, welches die gesamte Natur des Menschen umgreift und reflektiert: »Die Realität der Freyheit hängt vom Bewußtseyn der Forderung sowohl des eigennützigen als des uneigennützigen Triebes, aber auch noch überdies von dem Bewußtseyn des Vermögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des Eigennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützigen selbst zu bestimmen.« 211 Der durch ein vollständiges, symmetrisches praktisches Selbstbewusstsein informierte Entschluss der Person durchbricht die äquilibristische Indifferenz der bloß inklinierenden Willenstendenzen erster Stufe, indem die Person einen der Triebe durch den jeweils anderen befriedigt. Durch dieses personale Selbstbewusstsein, welches durch ein reflexives Verhältnis zum Sittengesetz ausgezeichnet ist, handelt die Person auch da frei, wo sie sich willentlich in Konflikt mit der Forderung des uneigennützigen Triebes begibt, ohne sich dadurch selbst –
Reinhold, Briefe II, 174. Reinhold, Briefe II, 177. 210 Vgl. Reinhold, Briefe II, 190: »Die Person kann sich des Vermögens sich selbst zu bestimmen nur in so ferne bewußt werden, als sie sich des Vermögens sich nach zwey verschiedenen Gesetzen zu bestimmen, und folglich als sie sich dieser verschiedenen Gesetze selbst bewußt ist. Aber eben darum kann auch die Freyheit keineswegs in dem Vermögen nur Eines von beyden Gesetzen zu befolgen bestehen, und jene Kantische Behauptung kann keineswegs den Sinn haben: ›daß die Realität der Freyheit von dem Bewußtseyn des Sittengesetzes allein abhänge.‹« Vgl. ferner Lazzari (2012), 279 f. 211 Reinhold, Briefe II, 190. 208 209
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wie es bei reiner praktischer Vernunft der Fall wäre – aufzuheben. 212 Dies führt zu der – bei Kant nicht vorhandenen – realen Möglichkeit, dass die Person durch einen voluntativen »Widerspruch mit sich selbst« 213 der Forderung des uneigennützigen Triebes zuwider handeln kann. Nach Reinhold ist »dieser Widerspruch der Person mit sich selbst […] durch eben dieselbe Freyheit des Willes möglich, durch welche sie die Forderung des uneigennützigen Triebes gegen eine derselben widersprechende Forderung des eigennützigen durchzusetzen vermag« 214 . Die Person vermag also insofern »beym Wollen den Aussprüchen der Vernunft entgegen [zu] handeln«, als sie »die Vernunft mißbrauchen [Hervorh. J. N.]« kann. 215 Dieser Begriff eines Missbrauchs der Vernunft ist gegenüber Kants Religionsschrift neu. Kant hatte dort zwar den Gedanken eines Missbrauchs der Freiheit erörtert, 216 jedoch diesen Missbrauch nicht auf die Vernunft, sondern auf die Willkür bezogen. 217 Nach Reinhold, und im Gegensatz zu Kant, ist die Vernunft jedoch gerade auch im Bösen aktiv: Die Person vermag darin »ihre Vernunft gesetzmäßig oder gesetzwidrig, folglich willkührlich gebrauchen. Der Antheil, den die Vernunft an der Selbstbestimmung beym Wollen hat, muß also der Willkührlichkeit ihres Gebrauches bey diesem Gemüthszustande nicht widersprechen; es muß sich ein willkührlicher Gebrauch der Vernunft denken lassen [Hervorh. J. N.]« 218 . Indem bei der Freiheitsentscheidung eine reflektierte Verhältnisbestimmung von eigennützigem und uneigennützigem Trieb vorgenommen werden muss, wird eine gemeinschaftstheoretische Dimension mit in die Freiheitsentscheidung einbezogen, insofern immer auch schon neben der ›egoistischen‹ individuellen Perspektive 212 Vgl. dazu auch Heinz (2012), 190: »Unsittliches Handeln ist nicht Folge von Vernunftschwäche, die Vernunft als solche wirft diesen Schatten, statuiert das Paradox, vernünftig vernunftwidrig handeln zu können.« 213 Reinhold, Briefe II, 137. 214 Reinhold, Briefe II, 137. 215 Reinhold, Briefe II, 175. 216 Vgl. Kant, RGV, AA VI, 21, wo Kant vom »Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes« spricht. 217 Vgl. Kant, RGV, AA VI, 37: »Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist also nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung (subjektives Prinzip der Maximen), das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch)«. 218 Reinhold, Briefe II, 176. Reinhold schließt hier deutlich an die vorkantischen Konzeptionen des usus rationis an. Vgl. Teil II.2.
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eine universelle Perspektive eingenommen werden muss. Der uneigennützige Trieb lässt sich personalitätstheoretisch als Perspektive des Anderen – als ein objektives Selbst 219 – verstehen, die bei jeder Entscheidung berücksichtigt und gegenüber dem Eigeninteresse abgewogen werden muss. Damit erscheint der uneigennützige Trieb nicht mehr als formales und abstraktes Vermögen und Aufforderung zur Prüfung von Maximen wie das apriorische Sittengesetz bei Kant, sondern lässt sich am Leitfaden der Person als eine Orientierung begreifen, welche die bloß individuelle Perspektive des eigennützigen Triebes transzendiert. 220 Wie genau ist die Freiheitsentscheidung nach Reinhold zu denken? Zur Befriedigung des ›intersubjektiven‹ uneigennützigen Triebs (als natural und gesellschaftlich situierte praktische Vernunft) muss, wie Reinhold konstatiert, der eigennützige Trieb in Form von instrumenteller theoretischer Vernunft in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden. Dieser Vernunftgebrauch ist dabei immer ein konkret an die jeweilige Situation angepasster, und zwar insofern, als bei moralisch guten Handlungen in die allgemeine Perspektive die Eigenperspektive mit einbezogen wird: Der uneigennützige Trieb »kann zur Befriedigung seiner eigenen Forderung, zur Erfüllung des Sittengesetzes, des eigennützigen keineswegs entbehren« 221 , wie umgekehrt bei moralisch bösen Handlungen sich der Vernunftgebrauch als eine Indienstnahme des uneigennützigen Triebes für Privatzwecke verstehen lässt.
2.5
Der Grund der Freiheit
Durch die Loslösung der Willkür vom Vermögen der reinen praktischen Vernunft sieht sich die Person nach Reinhold einem Indifferenzzustand von gleichermaßen inklinierenden Bestimmungsgründen gegenüber. Wie kann jedoch aus diesem Zustand heraus eine bestimmte Entscheidung gefällt und in eine Handlung überführt werden? Das Ende des Willensbildungsprozesses konstituiert nach Reinhold »das ganz Eigenthümliche der Willenshandlung«, der »Ent-
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Vgl. zu diesem Begriff: Nagel (1986), 126. Vgl. dazu auch Bondeli (2008b), 361 f. Reinhold, Briefe II, 141.
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schluß« als »Aktus der Person beym Wollen«. 222 Reinhold versucht, der Gefahr des Äquilibrismus dadurch zu entgehen, als die Person seiner Theorie zufolge nicht darin aufgeht, passiv im Indifferenzpunkt zwischen den beiden Trieben zu verharren, sondern vielmehr darin ihre Individualität behauptet, insofern sie aktiv beide Triebe voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht, um diese in ein bestimmtes Verhältnis nach individuellen Zwecksetzungen zu bringen. 223 Die Person geht also nicht in einem Indifferenzzustand auf, sondern sieht sich konfrontiert mit einem normativ differenzierten Handlungsfeld, welches sie durch Handlungsgründe kreativ gestalten kann. Das Problem einer Auffassung von Freiheit als einem äquilibristischem Zustand liegt nach Reinhold deshalb »in ihrem unbestimmten Begriffe vom Willen« 224 und der fehlenden Analyse der genauen Unabhängigkeit der »Selbstbestimmung beym Wollen von der Vernunft und der Sinnlichkeit« 225 . Der Äquilibrismus führt, so Reinhold, »eine solche Unabhängigkeit des Willens« ein, »die wirklich nicht Statt findet, die anderen Thatsachen des Bewußtseyns widerspricht, ja die sogar den Begriff des Willens selbst aufhebt« 226 . Eine freie Willensentscheidung ist nach Reinhold a priori nicht indifferent und neutral gegenüber den beiden vorgegebenen Alternativen, sondern wesentlich durch den Gebrauch der Vernunft bestimmt. Die Anhänger des Äquilibrismus haben dagegen, so Reinholds Diagnose, »die Unentbehrlichkeit der Vernunft zum Akt der Selbstbestimmung, der in der Maxime […] besteht, verkannt« 227 . Die Willkür ließe sich denn auch »ohne den Gebrauch, den sie dabey von der Vernunft macht, […] nicht als Bestimmungsgrund der Willenshandlung, nicht als das durch den Entschluß wirkende denken« 228 . Reinholds Freiheitstheorie entgeht also dadurch der Gefahr des Indifferentismus, dass beide Triebe völlig unterschiedliche Forderungen im Sinne eines theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft an die Person stellen, die in jede Entscheidung durch den individuellen Gebrauch der Vernunft auf eine bestimmte Weise mit eingehen. 222 223 224 225 226 227 228
Reinhold, Briefe II, 177. Vgl. dazu auch Lazzari (2012), 281 f. Reinhold, Briefe II, 190. Reinhold, Briefe II, 190. Reinhold, Briefe II, 190 f. Reinhold, Briefe II, 191. Reinhold, Briefe II, 191.
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IV. Freiheit des Willens
Wie aber denkt Reinhold den handlungswirksamen Entschluss der Person? Reinhold knüpft hierbei an die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Gründen an, die Kant in seiner Religionsschrift 229 vollzogen hatte. Durch die Konzentration auf den individuellen Willensentschluss kann Reinholds Position als eine Art »Autodeterminismus« 230 bezeichnet werden, wobei die Selbstbestimmung immer angesichts der objektiven Gründe der beiden natürlichen Triebtendenzen erfolgt: »Der Wille hat nur einen einzigen durch sich selbst bestimmenden Grund, und dieser ist die Freyheit, das Vermögen der Selbstbestimmung, durch welches einer von den beyden veranlassenden zum bestimmenden gemacht wird.« 231 Wie lässt sich Reinholds voluntaristische Rede von einem »durch sich selbst bestimmenden Grund« verstehen? Offensichtlich besteht das Entscheidende dieses Grundes in der »Befriedigung« der beiden Grundtriebe, also ihrer Gewichtung und Maximierung zur Handlung im Sinne des von Kant postulierten »Komplements der Zulänglichkeit«. Für Reinhold steht fest, »daß das Wollen etwas mehr als ein bloßes unwillkürliches Begehren ist, daß bey jenem Gemüthszustande [des Wollens; J. N.] eine besondere Handlung vorkomme, welche Entschluß heißt, und welche durch Reflexion über dieselbe von der Forderung des unwillkürlichen Begehrens unterschieden wird [Hervorh. J. N.]« 232 . Der subjektive Grund besteht also in der reflexiven Selbstvermehrung des Willens angesichts der inklinierenden objektiven Gründe. Die objektiven Gründe werden durch die Maxime der Willkür reflexiv vermittelt und durch den subjektiven Entschluss der Person entscheidbar gemacht: Eine individuelle Maxime, so Reinhold, »ist das Resultat der Willkühr und der Vernunft [Hervorh. J. N.]« 233 , also Produkt einer rationalen volitionalen Operation, und insofern kein indifferentistisches Geschehen. 234
Kant, RGV, AA VI, 21 Fn. Zöller (2005), 81 231 Reinhold, Briefe II, 181. 232 Reinhold, Briefe II, 195. 233 Reinhold, Briefe II, 191. Vgl. zu dieser Vermittlungsleistung der Willkür auch Ivaldo (2012), 339. 234 Vgl. zum Begriff des Resultats als einer »Maximierung« eines komplexen Willens in die ein oder andere Richtung auch Leibniz, T I, 22, 111 f. und Teil II.2.3 dieser Arbeit. 229 230
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2.6
Die Grundlosigkeit des Grundes
Durch seinen Begriff eines sich selbst bestimmenden Grundes versucht Reinhold die Idee einer absoluten Ursache der Freiheitsentscheidung im Sinne der ontologischen Freiheitsanforderung nach Zurechenbarkeit mit der rationalen Anforderung nach Bestimmtheit zusammenzubringen, um zugleich der Gefahr eines Indifferentismus zu entgehen. Diese Synthese soll durch Rekurs auf eine erkenntnistheoretische Unterscheidung gelingen, welche zwar einen subjektiven Grund als Bereich der Volitionen zweiter Stufe anerkennt, diesen jedoch nicht objektivieren lässt, womit Reinhold einen unendlichen Regress weiterer Gründe vermeiden möchte und an Kants Unterscheidung von objektiven und »unerforschlichen« subjektiven Gründen der Maximen in der Religionsschrift anknüpft. 235 Kants Voraussetzung der Freiheit des Hangs zum Bösen und der Anlage zum Guten bezieht Reinhold nun aber auf ein einziges Vermögen, welches er zugleich ontologisiert. 236 Freiheit ist nach Reinhold »ein GRUNDVERMÖGEN […], das sich als ein solches von keinem Andern ableiten, und daher auch aus keinem Andern begreifen und erklären läßt« 237 . »Es kann daher«, so Reinhold, »nicht ohne Ungereimtheit nach dem objektiven, außer der Freyheit des Subjekts gelegenen Grunde der freyen und eigenthümlichen Handlung des Willens ge235 Vgl. Kant, RGV, AA VI, 21 Fn.: »Daß der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei, ist daraus schon vorläufig zu ersehen: daß, da diese Annehmung frei ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böse und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wiederum in einer Maxime gesucht werden muß; und, da auch diese eben so wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjektiven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurück gewiesen wird, ohne auf den ersten Grund kommen zu können.« 236 Dies zeigt sich auch an der Debatte mit Salomon Maimon, der Reinhold mit dem Vorwurf der bloßen Zufälligkeit der Freiheitsentscheidung konfrontierte, worauf dieser antwortete: »Ich lasse den Willen von Zufall abhängen!! haben Sie den siebenten und achten Brief gelesen! Es ist mir unmöglich Ihnen das Gegentheil dieser Beschuldigungen deutlicher zu zeigen als es in diesen beiden Briefen geschehen ist. – Ich lasse den Willen von sich selbst abhängen. – Er ist kein Zufall, sondern eine erste Ursache, eine absolute Ursache in Rücksicht auf seine Wirkung.« (Reinhold, Streitereien, 235). 237 Reinhold, Briefe II, 194. Vgl. auch Kant, KpV, AA V, 46 f.: »Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber ebenso wenig beliebig erdichtet und angenommen werden.«
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fragt werden. Diese Frage würde eben so viel heißen, als: ›Worin liegt der objektive Grund, durch welchen das Vermögen von objektiven Gründen unabhängig zu handeln bestimmt wird?‹«. Dies bedeutet konkret, dass »sich kein objektiver Grund des Wollens denken« 238 lässt, der nicht schon die eigentümlich zerbrechliche Freiheitsqualität dieses Wollens durch Vergegenständlichung und begründete Nachvollziehbarkeit zerstören würde. Die freie Handlung ist nach Reinhold deshalb schlechthin »grundlos«: Ihr Grund ist die Freyheit selbst. Aber diese ist auch der letzte denkbare Grund jener Handlung. Sie ist die absolute, die erste Ursache ihrer Handlung, über welche sich nicht weiter hinausgehen lässt, weil sie wirklich von keiner andern abhängt. Fragen: Warum der freye Wille sich auf diese oder jene Art bestimmt habe, heißt fragen: Warum er frey ist? Voraussetzen, er bedürfe eines von ihm selbst verschiedenen Grundes, heißt ihm seine Freyheit abzusprechen. 239
Wie ist nun Reinholds Freiheitstheorie angesichts des AutonomieProblems im Ausgang von Kant systematisch zu beurteilen? Reinholds Freiheitstheorie wird zwar nicht durch einen Äquilibrismus gelähmt, doch liegt ihr ein – wenn auch reflektierter – Dezisionismus zu Grunde: 240 Die Person handelt zwar aus bestimmten Gründen heraus – entweder dem eigennützigen oder dem uneigennützigen Trieb –, der Grund für diese Wahl wiederum ist jedoch prinzipiell nicht verständlich. Reinhold verschiebt das Problem der Willensbestimmung also auf eine andere Ebene: Der subjektive Grund der freien Entscheidung, den Reinhold zur Sicherung der ontologischen Anforderung an die menschliche Freiheit nach absoluter Zurechenbarkeit und alternativen Möglichkeiten von den objektiven abhebt, mündet schließlich in die Instanz eines Grundvermögens in Art eines Homunculus 241, der konsequenterweise – gleich einer Matrjoschka-Puppe – unendlich weitere Instanzen in sich enthalten müsste. Um einem solchen unendlichen Regress zu entgehen, versucht Reinhold den von Creuzer geforderten »dritten Ausweg« einzuschlagen, indem er die Freiheitsentscheidung in einem hybriden Zwischenbereich von Determination
Reinhold, Briefe II, 193. Reinhold, Briefe II, 193. 240 Vgl. zum Dezisionismus-Problem bei Reinhold: Zöller (2005), 81 u. Heinz (2012), 184. 241 Vgl. zu dieser Bewertung Zöller (2005), 82. 238 239
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und Indetermination des Willens verortet. 242 Dieser Zwischenbereich ist jedoch epistemisch prekär und höchst instabil. Der Grund der Entscheidung löst sich so in einem absolut privaten, nicht erklärbaren, Gefühl der Freiheit auf, welches sich als Phänomen, ja als ein Mysterium 243 zwar bemerken, jedoch nicht mehr rational begreifen lässt. Damit gelingt es Reinhold aber gerade nicht, der rationalen Anforderung an die Verständlichkeit menschlicher Handlungen Genüge zu tun. Man kann insofern die Freiheitsentscheidung nach Reinhold mit einer »black box« vergleichen, die zwar – in Form von objektiven Gründen input von außen erhält, deren output aber von diesen äußerlichen Bedingungen auf opake und nicht weiter begründbare Weise abweichen kann. 244 Reinholds Konzeption changiert also zwischen Determinismus und Indeterminismus des Willens wie ein Kippbild, was in der paradoxen Wendung eines ›grundlosen Grundvermögens‹ seinen deutlichsten Ausdruck findet: Die Akzentuierung der ontologischen Freiheitsanforderung nach alternativen Möglichkeiten lässt für ihn die Freiheit unverständlich werden, die Anforderung an die Verständlichkeit der Entscheidung als subjektiver Grund hingegen löst das Grundvermögen in eine bloße, vage epistemische Perspektive auf. Der von Reinhold in Auseinandersetzung mit Kant eingeschlagene Weg erweist sich deshalb auch nicht als der von Creuzer erhoffte »dritte Ausweg« 245 aus dem Autonomie-Problem, sondern – trotz allen scharfsinnigen Distinktionen – als eine ins begrifflich Dunkle mündende Sackgasse.
242 Reinhold wählt diesen dritten Weg deshalb, weil für ihn in letzter Konsequenz kein Unterschied zwischen einer Determination und Notwendigkeit des Willens besteht – eine Voraussetzung, die er unhinterfragt übernimmt und nicht explizit macht. 243 So auch in der neueren Debatte van Inwagen (2002): »Free will remains a mystery [Hervorh. J. N.]«. Van Inwagens Theorie steht damit in einer Kontinuität zum bekannten Diktum Malebranches, wonach gilt: »La liberté est un mystère«. 244 Vgl. dazu Fabbianelli (2012), 290. 245 Creuzer, Skeptische Betrachtungen, 203.
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3. 3.1
Die Stimmung des Willens. Schillers Begriff individueller Freiheit im Ausgang von Kant und Reinhold Dramatische Freiheit Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen […] Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will. 246
Auch Friedrich Schiller hat im Ausgang von Kant und Reinhold einen Beitrag zum Autonomie-Problem geleistet. Die systematische Bedeutung seiner Theorie liegt jedoch nicht offen zutage: Ihr freiheitstheoretisches Potenzial muss erst im Zuge einer Rekonstruktion unter der Schicht rein ästhetischer Diskurse freigelegt werden. 247 Dies kann dadurch gelingen, dass man Schillers Werk auf direkte Bezüge zu Kant und Reinhold hin untersucht. Ein Indiz dafür, dass Karl Leonhard Reinholds Theorie individueller Freiheit für die Philosophie Schillers von großem Einfluss war, zeigt sich in einer – leicht zu übersehenden – Fußnote in seiner Schrift Über Anmut und Würde. 248 Schiller referiert darin auf »die aller Aufmerksamkeit würdige Theorie des Willens im zweyten Theil der Reinholdischen Briefe« 249 . Allerdings 246 Schiller, Ueber das Erhabene, NA XXI, 38. Schillers Schriften werden im Folgenden zitiert nach der Nationalausgabe [NA] unter Angabe von Band- und Seitenzahl. Dort gesperrt gedruckte Wörter werden kursiv wiedergegeben. Folgende Siglen werden dabei verwendet: AW: Über Anmut und Würde (1793), in: NA XX, 252–308; ÄE: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: NA XX, 309–412. Schillers Kallias-Briefe werden zitiert unter der Sigle Kallias nach: Friedrich Schiller: Kallias, oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner, in: Ders.: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt/M. 2008, 276–329, da sie in der Nationalausgabe nicht einheitlich veröffentlicht sind. 247 So stellt sich hier folgende Frage: »Ist Schillers Idee der Selbstbestimmung nicht durch die Konzentration auf das Schöne in einem Maße vereinseitigt und damit auch unterschätzt worden […]?« (Koopmann [1982], 204). Koopmann vertritt die Auffassung, »daß die großen Schriften der 90er Jahre mit den Erörterungen über das Wesen des Schönen an sich und über dessen Zwecklosigkeit Sekundärerscheinungen sind und nicht ein ursprüngliches Zentrum des Schillerschen Denkens ausmachen« (ebd., 204). 248 Zum bislang nur wenig erforschten freiheitstheoretischen Verhältnis von Reinhold und Schiller vgl. Roehr (2003a) u. (2003b), 115: »Wie ist nun diese Übernahme des Reinhold’schen Willensbegriffes durch Schiller in der Sekundärliteratur aufgenommen worden? Überraschenderweise – oder vielleicht auch nicht überraschend – ist sie fast gar nicht beachtet worden.« 249 Schiller, AW, 290.
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adaptiert Schiller nicht einfach den Reinholdschen Willensbegriff, sondern versucht diesen durch weitere Bestimmungen zu konkretisieren. Neben Reinholds Willensbegriff ist es Kants Theorie der Urteilskraft, die Schiller aufgrund ihrer vermögenstheoretischen Zwischenstellung angesichts des Dilemmas von intelligiblem Fatalismus und Indifferentismus für seinen Begriff personaler Freiheit fruchtbar zu machen versucht. 250 Während die Forschungsliteratur zu Schillers philosophischer Ästhetik kaum überschaubar ist, ist die Forschung nur selten zu Schillers eigentlichem freiheitstheoretischen Kern – seinem Willensbegriff – vorgedrungen, um diesen zu isolieren und dann wieder in Beziehung zu anderen Theorieelementen zu setzen. 251 Worin besteht die systematische Bedeutung von Schillers Freiheitsbegriff? Sein eigenständiger philosophischer Beitrag zur Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant darf nicht nur als ein ästhetisches Ausbalancieren und Abmildern des Kantischen Rigorismus verstanden werden. 252 Tatsächlich weist er gegenüber dem Kantischen Ansatz gravierende Transformationen auf, was es rechtfertigt, ihn nicht als bloße Modifikation bzw. »ästhetische Ergänzung« 253 , sondern als einen kritischen Schritt über Kants Theorie einer Autonomie der Vernunft hinaus zu verstehen. 254 Erschwerend für eine Würdigung des 250 Vgl. Schillers Brief an Körner vom 3. 3. 1791, NA XXVI, 77: »Du erräthst wohl nicht, was ich jetzt lese und studiere? Nichts schlechteres als – Kant. Seine Critik der Urtheilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren neuen lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beygebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hinein zu arbeiten.« Am 25. 4. 1792 schreibt er wiederum an Körner, nun schon konkreter mit Blick auf sein eigenes Werk, er »lese in dieser Absicht Kants Urtheilskraft wieder« (NA XXVI, 141). Bereits in den 80er Jahren hatte sich Schiller dagegen mit Kants praktischer Philosophie, vor allem mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, befasst. Vgl. Feger (2005), 439. 251 Ansätze, meist aber nur Hinweise zu einer explizit freiheitstheoretischen Interpretation der Schriften Schillers finden sich bei Kaiser (1967), Pott (1980), 39, Barnouw (1983), Peetz (1995), 163–172, Roehr (2003a), Roehr (2003b), Beiser (2005), 213–237, Rott (2006), Schindler (2008) sowie Schindler (2012), 49–110. Besonders Roehr (2003b) erweist sich für die folgende Untersuchung als zentral. 252 Darauf hat Pott (1980), 37, sehr zu Recht hingewiesen. Bislang lag der Fokus der Forschung zumeist auf der Vervollständigungsleistung der Schillerschen Theorie. Vgl. etwa Baxley (2008), die von »Schiller’s ›Completion‹ of Kant’s Ethics« spricht. 253 Vorländer (1984), VI. 254 Hamburger (1959), 50 spricht von einer »Loslösung« des Schillerschen Willensbegriffs von demjenigen Kants. Zur Spannung zwischen Schillers vorgeblicher, bloßer Popularisierung Kantischer Theoreme und seiner tatsächlichen Revision und Transformation derselben vgl. Meier (2011) sowie Brelage (1965), 234: »Schillers Kritik restringiert nicht nur die Geltung der Kantischen Moralphilosophie und erschließt
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Schillerschen Freiheitsbegriffs kommt hinzu, dass Schillers Verhältnis zu Kant nicht immer eindeutig ist. Schillers Freiheitsbegriff vermag sich nicht gänzlich vom Kantischen zu emanzipieren, so dass er an einigen Stellen geradezu zwei Freiheitsbegriffe – die Kantische Theorie einer Autonomie der Vernunft und seinen eigenen, im Ausgang von Reinhold entwickelten, zu vertreten scheint. 255 Es zeigt sich jedoch bei näherer Betrachtung, dass Schiller in seinem Bemühen, die Kantische Theorie weiter im Sinne individueller Freiheit zu ergänzen, immer mehr von deren Grundannahmen abweicht und einer – wenn auch begrifflich nicht weiter zu einem systematischen Gegenentwurf entwickelten – kritischen Revision unterzieht. Mit Blick auf Kant wählt Schiller ein ähnliches Vorgehen: Ein oberflächliches Versichern, ein »Freund« der Kantischen Philosophie zu sein, d. h., wenn nicht dem Kantischen Buchstaben, so doch seinem Geist zu folgen – jedoch unter der Hand damit zu brechen. In diesem Sinne kann man Schillers Bemerkungen gleich zu Beginn seiner Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, »daß es größtentheils Kantische Grundsätze sind, auf denen die nachfolgenden Behauptungen ruhen« 256 als eine »bewusste Strategie« 257 lesen. Es geht Schiller freiheitstheoretisch also nicht so sehr um ästhetische Ausbalancierungen, sondern durchaus um gewichtige, von Kant geerbte und durch Reinhold vermittelte Sachprobleme, deren Auflösung er im Medium der Ästhetik nur veranschaulicht. Schillers Theorie des Schönen kann deshalb als eine Phänomenologie indivi-
neben ihr einen neuen Bereich sittlicher Phänomene, sondern die quantitative Erweiterung läßt sich überhaupt nur auf Grund einer Revision ihrer Grundlagen vornehmen [Hervorh. J. N.].« Für einen guten Forschungsüberblick über die historische Bewertung von Schillers Philosophie vgl. immer noch Muehleck-Müller (1989), V ff. Man hat teilweise versucht, Schillers Philosophie der individuellen Person mit der Existenzphilosophie zusammenzubringen. Vgl. dazu Hamburger (1959), 34, welche von dem »gegen-idealistischen, de[m] […] realistischen Aspekt des Schillerproblems« spricht. Schillers Realismus wird systematisch gerade aus dem historisch-systematischen Kontext der Freiheitsdebatte im Ausgang von Kant verständlich, wobei speziell der Begriff des Willens ins Zentrum rückt. 255 Vgl. Roehr (2003a), 134. Die Gründe für diese Koexistenz zweier Freiheitsbegriffe liegen auf der Hand: Wie auch Reinhold, so scheint sich Schiller schwer damit zu tun, sich von der überwältigenden Kraft der Kantischen Begriffsprägungen zu emanzipieren, so dass er seine neue Einsicht nur im Gewand Kantischer Terminologie zu präsentieren vermag. 256 Schiller, ÄE, 309. 257 Meier (2011), 51.
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dueller Freiheit verstanden werden; sie beschreibt die Wirklichkeit der Freiheit, d. h. die Struktur des individuellen Willens als Wahlund Vermittlungsinstanz. »Schönheit«, so Schiller, »ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung« 258 . Worin genau besteht die Transformationsleistung von Schillers Freiheitsbegriff gegenüber Kants Autonomie-Lehre? Schillers Freiheitsprojekt im Ausgang von Kant ist ganz allgemein dadurch motiviert, einen unverkürzten Freiheitsbegriff zu entwickeln, der auf Basis der vollständigen Natur des Menschen eine Freiheit zum Guten und Bösen einschließt. Die immense philosophische Bedeutung eines umfassenden Freiheitsbegriffs wird vor dem Hintergrund von Schillers dramatischem Werk ersichtlich. In der Vorrede zu den Räubern schreibt Schiller geradezu rechtfertigend, dass es die Gattung des Dramas erfordere, »daß mancher Karakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt, und die Zärtlichkeit unserer Sitten empört«. Schiller fährt – für sein Freiheitsprojekt programmatisch – fort: »Jeder Menschenmaler ist in diese Notwendigkeit gesezt, wenn er anders eine Kopie der wirklichen Welt, und keine idealische Affektationen, keine Kompendienmenschen will geliefert haben [Hervorh. J. N.].« 259 Dem poetischen Gegenstück zu einem solchen »Kompendienmenschen«, der nur Ausdruck eines allgemeinen, jedoch nicht individuellen Charakters ist – der Person des Karl Moor –, legt Schiller deshalb folgende Worte in den Mund, die geradezu eine Programmatik seiner Freiheit zum Bösen als gewollte Verletzung von Gesetzen darstellen: »Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust, und meinen Willen schnüren in Geseze. Das Gesez hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesez hat noch keinen grossen Mann gebildet, aber die Freyheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.« 260 Und auch die Person des Christian Wolf, des Verbrechers aus verlorener Ehre, bekennt rückblickend auf ihr bisheriges Leben: »Ich wollte Böses tun, soviel erinnere ich mich noch dunkel. Ich wollte mein Schicksal verdienen. Die Gesetze, meinte ich, wären Wohltaten für die Welt, also faßte ich den Vorsatz, sie zu verletzen; ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn ge-
Schiller, Kallias, 285. Schiller, NA III, 5. Vgl. zu dieser engen Verbindung von Schillers dramatischem Interesse mit seiner Philosophie Roehr (2003a), 126; Roehr (2003b), 105 u. 114. 260 Schiller, NA III, 21. 258 259
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sündigt, jetzt tat ich’s aus freier Wahl zu meinem Vergnügen [Hervorh. J. N.].« 261 Es geht Schiller also ausdrücklich um die konkrete, ›dramatische‹ Wirklichkeit des Menschen und seiner individuellen Freiheit, oder, wie er selbst in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen – in kritischer Abhebung von Kants Freiheitslehre – betont: »Um aller Mißdeutung vorzubeugen, bemerke ich, daß, so oft hier von Freyheit die Rede ist, nicht diejenige gemeynt ist, die dem Menschen, als Intelligenz betrachtet, nothwendig zukommt […], sondern diejenige, welche sich auf seine gemischte Natur gründet [Hervorh. J. N.].« 262 Die Freiheit des Menschen verdankt sich nach Schiller also nicht – wie der Kantische Begriff einer »Kausalität aus Freiheit« – allein der exklusiven Beziehung auf das allgemeine Sittengesetz der Vernunft und einen intelligiblen Charakter, sondern einer freien Reflexion darauf und unter Einschluss seiner ganzen Natur: »Dadurch daß der Mensch überhaupt nur vernünftig handelt, beweist er eine Freyheit der ersteren Art [nämlich als Intelligenz; J. N.], dadurch, daß er in den Schranken des Stoffes vernünftig, und unter Gesetzen der Vernunft materiell handelt, beweist er eine Freyheit der zweyten Art [nämlich als natürlich-vernünftige Person; J. N.].« 263 Der Unterschied zu Kant besteht also ganz allgemein darin, dass die empirische, endliche Natur des Menschen in die Freiheitsentscheidung mit einbezogen wird, so dass Schiller »die letztere schlechtweg durch eine natürliche MöglichSchiller, NA XVI, 14 f. Schiller, ÄE, 373 Fn. Dieses Interesse an dem wirklichen Menschen, d. h. der konkreten Person und ihrem Willen, legt es nahe, mit Blick auf Schiller freiheitstheoretisch eher von einem »Realisten« als einem »Idealisten« zu sprechen, als der er in der Regel klassifiziert wird. Jedenfalls steht Schiller, wie Reinhold und der Schelling der Freiheitsschrift, ›am Rande des Idealismus‹. Vgl. zu Schillers Realismus Riedel (2006), 148: »So richtig es ist, in Schiller einen Exponenten des Deutschen Idealismus zu sehen, so wichtig ist es zugleich […], in ihm einen, und zwar exzeptionellen, Exponenten der zeitgenössischen Anthropologie zu erkennen, und das heißt, im Blick auf den Menschen, seine Natur und seine Möglichkeiten, einen Realisten.« Vgl. zur gewöhnlichen Lesart Schillers Safranski (2004), 11, der diesen mit der »Erfindung des Deutschen Idealismus« (so der Untertitel der Biographie) in Verbindung bringt. Allerdings wird von Safranski die Bedeutung des Willens für Schiller klar hervorgehoben: Schillers Idealismus, so Safranski, sei »der Triumph eines erleuchteten, eines hellen Willens. Bei Schiller war der Wille das Organ der Freiheit«. Zu ergänzen wäre hier allerdings im Sinne Schillers Realismus noch, dass der Wille nicht nur ›hell‹, sondern durchaus auch ›dunkel‹ präsentiert wird. 263 Schiller, ÄE, 373 Fn. 261 262
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keit der erstern erklären« 264 kann. Freiheit ist deshalb nur möglich auf Basis von Vernunft und Natur, ja »die Freyheit selbst [ist] eine Wirkung der Natur« 265 . Wie ist Schillers Freiheitsbegriff beschaffen? Wie Reinholds Theorie, so enthält auch diejenige Schillers einen negativen (destruktiven) und positiven (konstruktiven) Teil. Die Kant-Kritik, welche die Grundlage von Schillers Freiheitstheorie darstellt, ist in seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793) enthalten. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) – »Schillers theoretische [m] Hauptwerk« 266 – findet sich hingegen seine ausgearbeitete Theorie positiver Freiheit. 267 Ersterer Schrift kommt also Grundlegungscharakter zu, enthält sie doch die eigentliche, immanente, Kritik am Kantischen Freiheitsbegriff; letztere hingegen darf als konkrete Ausarbeitung seines Freiheitsprojekts gelten. Schillers Ziel ist es zunächst, einen formalen Begriff »harmonischer Freiheit« zu entwickeln, der die Leitlinien für sein Freiheitsprojekt angibt und sich phänomenal mit dem Bereich des Ästhetischen – zumal der Stellung des Vermögens der reflektierenden Urteilskraft –parallelisieren lässt. Dies versucht Schiller dadurch zu erreichen, dass er verschiedene voluntative Selbstverhältnisse des Menschen ihrer Form nach analysiert und schließlich dasjenige identifiziert, welches einem realen Freiheitsbegriff angemessen ist. In einem zweiten Schritt wird dieser zunächst rein formale Begriff harmonischer Freiheit weiter substanziiert, indem er auf eine komplexe Trieblehre im Sinne von Willenstendenzen erster Stufe bezogen und damit materialisiert wird. Diese interne Struktur des Willens führt Schiller zu einem abgeschwächten Dualismus, der Vernunft und Natur nicht mehr rigoristisch entgegensetzt, sondern beide durch Freiheit kompatibilistisch verbinden lässt, ja die Vernunft im Verlauf der »Geschichte der menschlichen Freyheit« 268 aus der Natur gar hervorSchiller, ÄE, 373 Fn. Schiller, ÄE, 373. Vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Natur bei Schiller auch Peetz (1995), 164 f. Wie bei Reinhold, so ist auch bei Schiller eine Annäherung an die klassische Person-Theorie bei Boethius festzustellen. 266 Bolten (1984), 9. Vgl. auch Beiser (2005), 119. 267 Weitere Theorielemente finden sich in den Kallias-Briefen, welche ebenfalls für eine Rekonstruktion des Schillerschen Freiheitsbegriffs hinzugezogen werden müssen. Die zentrale Bedeutung dieser Briefe wird klar von Schindler (2008) herausgestellt. 268 Schiller, ÄE, 374. 264 265
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gehen lässt. In einem dritten Schritt wird Schillers Begriff des Geistes untersucht, den er explizit von dem Kantischen Begriff reiner Vernunft abgrenzt und der für seinen Begriff positiver Freiheit von entscheidender Rolle ist. Die spezifische Aktivität des Geistes besteht in der Reflexion auf die dem Menschen von Natur aus eingepflanzten widerstrebenden Grundtendenzen und in dem Synthetisieren und Integrieren beider zu einer Willenseinheit. Freiheit wird dadurch nicht mehr im Sinne einer absoluten Ursache verstanden, sondern als eine Qualität von Handlungen und Willensgefügen, die verschiedene Stufen innerhalb eines Willensbildungsprozesses kennt.
3.2
Harmonische Freiheit
In seiner Schrift Ueber Anmut und Würde schafft Schiller die Grundlagen für seine Freiheitstheorie der »gemischte[n] Natur« 269 des Menschen. 270 Dabei setzt er an der Position des Willens als liberum arbitrium zwischen Natur- und Vernunftgesetz an, versucht jedoch, anders als Kant, das Moment der Willenskontrolle nicht im Modell einer Herrschaftsstruktur der reinen Vernunft über den empirischen Willen des Menschen zu erreichen. Vielmehr besteht für ihn Willenskontrolle im Herstellen einer harmonischen Struktur von Willenstendenzen erster und Volitionen zweiter Ordnung, die sich am Leitfraden der reflektierenden Urteilskraft und der in ihrer teleologischen Perspektive realisierten »Einstimmung« 271 der verschiedenen Vermögen beschreiben lässt. Wie begreift Schiller den Willen? Schiller bestimmt den menschlichen Willen ganz allgemein als »ein übersinnliches VerSchiller, ÄE, 373. Dieses Interesse an der ganzen Natur des Menschen lässt sich bis in Schillers früheste Werke zurückverfolgen. So schreibt er in seinem 1780 entstandenen Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (NA XX, 37–75): »Vollkommenheit des Menschen ligt in der Uebung seiner Kräfte durch Betrachtung des Weltplans; und da zwischen dem Maase der Kraft, und dem Zwek, auf den sie wirket, die genaueste Harmonie seyn muß, so wird Vollkommenheit in der höchstmöglichsten Thätigkeit seiner Kräfte, und ihrer wechselseitigen Unterordnung bestehen [Hervorh. J. N.].« (50). Ein indirekter Einfluss durch die Philosophie Leibniz’, zumal durch dessen perfektionistische Ethik, ist hier sehr wahrscheinlich, auch wenn sich eine direkte Leibniz-Rezeption Schillers nicht nachweisen lässt. Vgl. dazu Beiser (2005), 187. 271 Kant, KdU, AA V, 190. 269 270
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mögen«, welches »weder dem Gesetz der Natur, noch dem der Vernunft, so unterworfen ist, daß ihm nicht vollkommen freye Wahl bliebe, sich entweder nach diesem oder nach jenem zu richten« 272 . »Der Wille des Menschen«, so Schiller, »ist ein erhabener Begriff, auch dann, wenn man auf seinen moralischen Gebrauch nicht achtet« 273 . »Der Wille«, so Schiller weiter, »steht […] zwischen beyden Gerichtsbarkeiten [der Natur und der Vernunft; J. N.], und es kommt ganz auf ihn selbst an, von welcher er das Gesetz empfangen will« 274 . Er ist deswegen das »Vermögen der Wahl« 275 . Diese Freiheit des individuellen Willens, der »vollkommen frey zwischen Pflicht und Neigung steht«, bezeichnet Schiller als das »Majestätsrecht der Person« 276 . Schiller löst also, ebenso wie Reinhold, den Willen von seiner exklusiven Bindung an die Vernunft und verortet ihn reflexiv dazu. Dieses »Majestätsrecht« des Willens und seinen Geltungsbereich weiter zu analysieren, setzt sich Schiller in einem ersten Schritt zum Ziel. Zunächst geschieht dies auf dem indirekten Weg einer Phänomenologie der Freiheit am Leitfaden des Status des Schönen im Modus »subjektive[r] Allgemeinheit« 277 : »Die Schönheit«, so Schiller, ist die »Consummation« des freien Menschen. 278 Oder anders formuliert: Aus dem freiheitstheoretischen Orientierungspunkt des »Faktums der Vernunft« bei Kant wird bei Schiller das ›Faktum der Schönheit‹. Die formale Bedingung für spezifisch personale Willensfreiheit besteht für Schiller in einem harmonischen Verhältnis des menschlichen Willens, darin, »beide Naturen in dem Menschen in die innigste Gemeinschaft setzen« 279 . Schillers Einsicht besteht also darin, dass Schiller, AW, 290. Schiller, AW, 290. 274 Schiller, AW, 290. 275 Schiller, AW, 290. 276 Schiller, ÄE, 316. 277 Kant, KdU, AA V, 198. 278 Schiller, ÄE, 356. 279 Der Hintergrund, vor dem dieser Vermittlungsversuch stattfindet, bildet das ›naive‹ antike Ideal der Einheit von Vernunft und Natur: »Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur, darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft, darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maaßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freyheit, die nur im Olympus zu Hause ist-, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.« (Schiller, 272 273
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IV. Freiheit des Willens
erst in einem bestimmten Verhältnis von Natur und Vernunft des Menschen eine reflexive Willenstätigkeit entspringen kann, da ein Ungleichgewicht die Selbstdistanzierung des Willens hinsichtlich seiner primären Willenstendenzen nicht erlauben würde: »Jede ausschliessende Herrschaft eines seiner beyden Grundtriebe ist für ihn ein Zustand des Zwanges und der Gewalt; und Freyheit liegt nur in der Zusammenwirkung seiner beyden Naturen.« 280 Es kommt deshalb, wie Schiller betont, darauf an, »eine innige Übereinstimmung zwischen seinen beyden Naturen zu stiften« 281 . Diese »innige Übereinstimmung« lässt sich freiheitstheoretisch als ein kontrolliertes, harmonisches Gefüge von Willenstendenzen erster Ordnung und Volitionen zweiter Ordnung verstehen, in dem die spezifische ›Resonanzfrequenz‹ der Person realisiert ist. Wie zuvor Reinhold, so depotenziert auch Schiller das Vermögen der reinen praktischen Vernunft um ihr principium executionis, welches er dem Vermögen der Willkür zuschlägt: »Die Vernunft hat geleistet, was sie leisten kann, wenn sie das Gesetz findet und aufstellt; vollstrecken muß es der muthige Wille, und das lebendige Gefühl.« 282 Als paradigmatischer Bezugspunkt seiner Kritik erweist sich dabei Kants Begriff der moralischen Motivation durch das Gefühl der Achtung. Eine moralische Gesinnung – und damit der Raum der Autonomie – ist nach Kant nicht dadurch zu gewinnen, dass Vernunft und Neigung in einem harmonischen Verhältnis stehen; vielmehr muss die Vernunft prinzipiell der Neigung übergeordnet werden – was zwar nicht gleichbedeutend, jedoch durchaus kompatibel mit einer Unterdrückung empirischer Willenstendenzen ist. 283 Deshalb charakterisiert Kant auch an prominenter Stelle den Zustand autonomer Vernunft als »moralische Gesinnung im Kampfe« 284 . AW, 254). Schiller spricht in diesem Zusammenhang von dem »zärtliche[n] Sinn der Griechen […], der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet« (ebd., 255). 280 Schiller, ÄE, 365. 281 Schiller, AW, 289. 282 Schiller, ÄE, 330. 283 Für Kant besteht das Kennzeichen von Moralität – und damit Freiheit – darin, dass die Vernunft der primäre Bestimmungsgrund des Willens ist, »sollte dies auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein.« (GMS, AA IV, 396). Im Triebfedernkapitel der Kritik der praktischen Vernunft wird Kant sogar noch deutlicher, wenn er vom »Niederschlagen« der Neigungen spricht (vgl. Kant, KpV, AA V, 73). 284 Kant, KpV, AA V, 84.
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Schiller hingegen charakterisiert Kants Autonomie-Begriff nur als eine spezielle Perspektive auf die Freiheit – als rein rationale und »moralische Freyheit« 285 . Sein personaler Begriff von Selbstbestimmung soll dagegen »ein verbundeneres Ganze[s] in der Wirklichkeit« 286 darstellen. Als Paradigma der manifesten Vermittlung beider Bereiche – der Natur und der Vernunft – bietet sich für Schiller der Begriff der Schönheit an. »Die Schönheit«, so Schiller, ist als »die Bürgerin zwoer Welten anzusehen, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört«, wodurch »die Sinnenwelt gewißermaßen in ein Reich der Freyheit verwandelt« 287 wird. Worin besteht dieser harmonische und ästhetische Zustand personaler Freiheit genau? Die Zwischenstellung des Willens erlaubt es, diesen in eine Strukturanalogie zum ästhetischen Vermögen der reflektierenden Urteilskraft zu bringen, durch welches Kant den Status des Geschmacksurteils als »subjektive Allgemeinheit« 288 bestimmt hatte. Gerade das Ästhetische wird bei Kant als Effekt eines harmonisch gefügten, freien Verhältnisses der menschlichen Natur gedacht: »Die Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen, deren Zusammenstimmung den Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittlung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich« 289 . Wie das Vermögen der Urteilskraft, die nach Kant »ihr eigenes Prinzip nach Gesetzen« als »ein bloß subjektives, a priori in sich enthalten dürfte« 290 und zwischen Natur- und Vernunftgesetz steht, so bezieht nach Schiller auch die Willkür ihren spezifischen Platz im Gefüge der menschlichen Vermögen. Subjektiv ist ihr Freiheitszustand insofern, als er sich weder auf die Gesetzlichkeit reiner praktischer Vernunft, noch auf die Gesetzlichkeit der Natur reduzieren lässt. Allgemein ist er insofern, als er darin nicht unbestimmt ist, sondern eine objektive Struktur aufweist, die sich im Anspruch einer Zweckmäßigkeit bzw. in der holistischen Fügung der Willenstendenzen zeigt. Dieser Bereich des »subjektiven Allgemeinen« als derjenige des »sonderbaren Vermögens« 291 der Urteilskraft ist also strukturanalog 285 286 287 288 289 290 291
Schiller, AW, 280. Schiller, AW, 286. Schiller, AW, 260. Kant, KdU, AA V, 198. Kant, KdU, AA V, 197. Kant, KpV, AA V, 177. Kant, KdU, AA V, 281.
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zum Vermögen der Willkür und ihrer Maximen als »subjektiven Grundsätzen« 292 bzw. individuellen Gesetzen, insofern beide dazu dienen, zwischen Vernunft- und Naturgesetz ein individuelles Willensprojekt (als Maxime) nach Zwecken auszubilden und in die konkrete Handlung (durch Urteilskraft) umzusetzen. Schillers harmonistischer Freiheitsbegriff kann auch insofern an Kants ästhetischen Freiheitsbegriff anschließen, als nach diesem »das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit« beruht, die einem »freien Spiele« der Vermögen entspricht. 293 Von Reinhold hingegen übernimmt Schiller durch seine Theorie harmonischer Willensfügung den Begriff des »GANZEN Gute[s] des Menschen«, welches »nur in der Befriedigung beyder [Grund]Triebe der menschlichen Natur [d. h. der vernünftigen und der empirischen Triebfeder; J. N.] bestehen kann« und einen Willen voraussetzt, »in welchem nicht nur keiner dieser Triebe den andern aufhebt, sondern vielmehr der eine sich ohne den andern nicht denken läßt«. 294 Zentral für Schillers weitere freiheitstheoretische Überlegungen ist seine Klassifikation verschiedener »Verhältnisse, in welchen der Mensch zu sich selbst d. i. sein sinnlicher Theil zu seinem vernünftigen, stehen kann.« 295 Dabei bildet Kants Begriff autonomer Vernunft einen kritischen Abstoßungspunkt. Schillers Kritik an der Kantischen Theorie rationaler Willenskontrolle betrifft zwei Punkte. Zum einen ist die Achtung ein Zustand des Zwangs, der dem Menschen als individuelles Naturwesen von außen unmittelbar und unwillkürlich auferlegt wird. Der zweite Kritikpunkt hängt mit dem ersten direkt zusammen und betrifft die Wirklichkeit individueller Freiheit, denn »Achtung […] geht nur auf das Verhältniß der sinnlichen Natur zu den Forderungen reiner praktischer Vernunft überhaupt, ohne Rücksicht auf eine wirkliche Erfüllung« 296 . In der Zusammenstimmung der Achtung mit dem allgemeinen Sittengesetz ist also nach Schiller die Unmöglichkeit der Herausbildung einer individuellen Willensstruktur manifest geworden.
292 293 294 295 296
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Kant, KpV, AA V, 20. Kant, KdU, AA V, 287. Reinhold, Briefe II, 257 f. Schiller, AW, 280. Schiller, AW, 303.
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Schiller setzt dem Begriff der Achtung bei Kant deshalb den Begriff der Liebe entgegen, welche er im Gegensatz zum Zwang der Achtung als eine »freye Empfindung« charakterisiert, »denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freyheit«. 297 Freiheit soll hierbei nicht unter Ausschluss der Individualität stattfinden, sondern gerade ein Ausdruck derselben sein. Die Liebe geht insofern »auf eine wirkliche Erfüllung« 298 des Sittengesetzes in der konkreten Handlung. Schließlich zeigt sich die Wirklichkeit personaler Freiheit gerade auch in der Intentionalität der Liebe, denn sie wird »nicht für das Gesetz, sondern für die Person, die demselben gemäß handelt, empfunden« 299 . Dies hat zur Folge, dass für Schiller ausdrücklich – und im Gegensatz zu Kant 300 – auch der materiale Bestimmungsgrund einer Handlung um des Anderen Willen frei und moralisch zu nennen ist. 301 Moralität besteht deshalb in der Ausbildung von konkreten Tugenden und praktischer Urteilskraft, d. h. dem Ziel, »Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes« zu verbinden, damit man dadurch nicht »dem wirklichen Menschen, der unsre Hülfe auffodert, in Gedanken den Ideal-Menschen unterschiebt, der sich wahrscheinlich selbst helfen könnte« 302 . Das von Schiller favorisierte Freiheitsverhältnis besteht im Sinne positiver Freiheit darin, dass der Mensch Vernunft und Sinnlichkeit »in Harmonie« setzt, wodurch er »einig mit sich selbst« ist. 303 Nach Schiller gilt rein formal, dass »die Freyheit zwischen dem geSchiller, AW, 303. Schiller, AW, 303. 299 Schiller, AW, 303 Fn. 300 Vgl. Kant, KpV, AA V, 34: »Wäre sie [scil. fremder Wesen Glückseligkeit] Bestimmungsgrund der Maxime, so müßte man voraussetzen, daß wir in dem Wohlsein anderer nicht allein ein natürliches Vergnügen, sondern auch ein Bedürfnis finden, so wie die sympathische Sinnesart bei Menschen es mit sich bringt. Aber dieses Bedürfnis kann ich nicht bei jedem vernünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen.« 301 Vgl. dazu Schillers auf die Kantische Problematik materialer Bestimmungsgründe (vgl. Kant, KpV, AA V, 29) anspielendes Distichon Nr. 388 »Gewissensscrupel«: »Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.« (Xenien [1797], NA I, 357). 302 Schiller, AW, 351. Schiller unterscheidet hierbei explizit zwischen einer bloßen Ausbildung des Verstandes (»formieren«; ebd.) und der auf die Harmonie der gemischten Natur abzielenden Erziehung oder Bildung. 303 Schiller, AW, 280. Diese freiheitstheoretische Forderung nach Harmonie findet auch in Hegels Ideal einer »Einigkeit des ganzen Menschen« (ChR, GW 2, 116) in Hegels Theologischen Jugendschriften (1797 ff.) eine Weiterführung. 297 298
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IV. Freiheit des Willens
setzlichen Druck und der Anarchie mitten inne liegt« 304 – weder darf Freiheit in einen intelligiblen Vernunftdeterminismus, noch in einen Indifferentismus münden. Freiheit und Sittlichkeit müssen vielmehr aus der »gesammten Menschheit als die vereinigte Wirkung beyder Principien [scil. der Vernunft und der Natur; J. N.]« 305 hervorquellen. Hierin zeigt sich, dass Schiller im Gegensatz zu Kant einen dynamischen, am Begriff des Lebens und der Wirklichkeit orientierten Begriff von Selbstbestimmung zu entwickeln versucht, der holistisch immer auf die Ganzheit des Menschen bezogen ist: »Der Mensch«, so Schiller, »ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu seyn« 306 . Schiller bezeichnet den von ihm konzipierten harmonischen Zustand des Willens als denjenigen einer »schönen Seele«, in der »die Natur zugleich Freyheit besitzen, und ihre Form bewahren [kann], da sie erstere unter der Herrschaft eines strengen Gemüths, letztere unter der Anarchie der Sinnlichkeit einbüßt«. 307 In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen charakterisiert Schiller einen solchen äquilibristischen Zustand darüber hinaus als Bedingung der Möglichkeit der Emergenz von Freiheit: »Aus der Wechselwirkung zwey entgegengesetzter Triebe, und aus der Verbindung zwey entgegengesetzter Principien haben wir das Schöne hervorgehen sehen, dessen höchstes Ideal also in dem möglichst vollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn.« 308 Die freie Person ist nicht als reine Vernunfttätigkeit, sondern nur als harmonisch kontrollierende Einheit ihrer empirisch-vernünftigen Willenstendenzen angemessen zu verstehen.
3.3
Die Natur der Freiheit
Nachdem Schiller das voluntative Grundverhältnis der freien Person formal bestimmt hat, behandelt er die materiale Verfasstheit dieses harmonischen Zustandes und seine konstitutiven Momente. Der menschliche Wille ist gespalten in zwei »Tendenzen« bzw. »Triebe«,
304 305 306 307 308
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Schiller, AW, 282 Schiller, AW, 284. Schiller, AW, 283. Schiller, AW, 288. Schiller, AW, 360.
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»die den Begriff der Menschheit erschöpfen«. 309 Anders als die in Kants Grundlegungsschriften eingeführte Unterscheidung von Vernunft und Natur folgt Schillers Unterscheidung dieser Willenstendenzen nicht der Opposition »Autonomie-Heteronomie«, sondern er fasst beide Triebe als Basis des Freiheitsgebrauchs auf: 310 Ich trage kein Bedenken, diesen Ausdruck [scil. »Trieb»] sowohl von demjenigen, was nach Befolgung eines Gesetzes [scil. dem Formtrieb] als von dem, was nach Befriedigung eines Bedürfnisses strebt [dem Stofftrieb], gemeinschaftlich zu gebrauchen wiewohl man ihn sonst nur auf das letztere einzuschränken pflegt. So wie nehmlich Vernunftideen zu Imperativen oder Pflichten werden, sobald man sie überhaupt in die Schranken der Zeit setzt, so werden aus diesen Pflichten Triebe, sobald sie auf etwas bestimmtes und wirkliches bezogen werden. […] Dieser Trieb [scil. der Formtrieb] entsteht nothwendig, und fehlt auch bey demjenigen nicht, der ihm gerade entgegen handelt. Ohne ihn würde es keinen moralisch bösen, folglich auch keinen moralisch guten Willen geben [Hervorh. J. N.]. 311
Moralisch böse Handlungen entstehen also gerade durch den reflektierten Gebrauch beider Triebe, der eine bestimmte moralisch qualifizierte Wendung nehmen kann, und nicht allein durch das Wirken des Stofftriebs. Aus dem Kantischen Modell der Vernunftherrschaft »kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen«. Das Verhältnis beider Triebe darf nicht so geartet sein, dass sie unabhängig voneinander existieren – der Mensch bliebe so »ewig fort getheilt«. Vielmehr müssen beide Triebe »wechselseitig« in einem Unterordnungsverhältnis stehen: »Beyde Principien sind einander also zugleich subordiniert und coordiniert, d. h. stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form« 312 .
309 Schiller, ÄE, 347. Schillers Interesse für diese Thematik findet sich bereits in seiner 1780 entstandenen Dissertation über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, welche nach heutigen Begrifflichkeiten ein Thema der Philosophie des Geistes, nämlich die Leib-Seele-Problematik behandelt. Darin widmet er sich der »Geschichte des Individuums« und untersucht, »wie sich alle seine Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben entwikeln.« (50). Schiller stellt dabei das »Fundamentalgesez der gemischten Naturen« auf, welches lautet: »Die Thätigkeiten des Körpers entsprechen den Thätigkeiten des Geistes«. (57). 310 Auch hierin besteht eine strukturelle Verwandtschaft zu Augustins affectiones animi. 311 Schiller, NA XXI, 243 f. Diese Anmerkung aus der Horen-Fassung schließt sich direkt an ÄE, 344, 20 an. 312 Schiller, ÄE, 347 f. Fn.
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Indem Schiller Freiheit nicht mehr als Vernunftkausalität versteht, ist es ihm möglich, Selbstbestimmung als eine graduell vorkommende Qualität menschlichen Handelns zu begreifen, die von der Art und dem Grad gelungener Willenskontrolle- bzw. Harmonie der ganzen menschlichen Natur abhängig ist: Freiheit besitzt keinen reinen Vernunftursprung im Sinne eines intelligiblen Charakters, sondern ist natürlich situiert; sie ist »kein Werk des Menschen«, sondern »eine Wirkung der Natur« und kann daher »auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden« 313 . Wie sind nun beide Triebe der menschlichen Natur beschaffen? Schiller beschreibt die komplexe personale Triebstruktur wie folgt: Der »sinnliche Trieb« 314 , oder der »Stofftrieb« 315 – wie Schiller die ›erste‹ Natur des Menschen reformuliert und damit die reale Seite seines Freiheitsbegriffs analysiert – »geht aus von dem physischen Daseyn des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur, und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen« 316 . Hier ist der Mensch »nichts als eine Größen-Einheit, ein erfüllter Moment der Zeit«, hier dringt der sinnliche Trieb »auf Realität des Daseyns, auf einen Inhalt unsrer Erkenntnisse, und auf einen Zweck unsers Handelns«. 317 »Der Gegenstand des sinnlichen Triebes«, so Schiller zusammenfassend, »heißt Leben, […] ein Begriff, der alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet«. 318 Als »Lebenstrieb« 319 stellt dieser Trieb die auf Erhaltung des Individuums gerichtete Willenstendenz dar – ganz analog zu Reinholds eigennützigem Trieb. Während der Stofftrieb die materiale Seite der Person konstituiert, hat komplementär dazu der Formtrieb die »Gestalt« zum Gegenstand, insofern er »alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt.« 320
313 Schiller, ÄE, 373. Zur Gradualität zwischen Natur und Geist vgl. Beiser (2005), 218. Zur Verortung der Freiheit vgl. Beiser (2005), 3: »[Schiller] sees moral agency within nature, as the product of history and the education of sensibility.« 314 Diese Verwendung findet sich an folgenden Stellen: Schiller, ÄE, 345; 347; 350; 352; 353; 354; 355; 360; 373; 374; 392. 315 Dieser Begriff kommt dagegen seltener vor, etwa bei Schiller, ÄE, 349; 352. 316 Schiller, ÄE, 344. 317 Schiller, ÄE, 345. 318 Schiller, ÄE, 355. 319 Schiller, ÄE, 374. 320 Schiller, ÄE, 355.
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Der Formtrieb beinhaltet also eine die bloß natürliche Person transzendierende intersubjektive und geschichtliche Perspektive, indem er nicht nur die durch Eigeninteresse erfüllte Gegenwart, sondern »die ganze Folge der Zeit« betrifft und darauf gerichtet ist, »daß das Wirkliche nothwendig und ewig, und daß das Ewige und Nothwendige wirklich sey«. 321 Schiller vermittelt insofern Individualität und Universalität in der personalen Freiheit, als der Mensch durch beide Willenstendenzen immer schon in interpersonalen Kontexten situiert ist: »Er soll sich eine Welt gegenüber stellen, weil er Person ist, und soll Person seyn, weil ihm eine Welt gegenüber steht.« 322 Beide Triebe befinden sich jedoch nicht nur in einem synchronen Verhältnis der Koordination, sondern auch in einem genetischen der Evolution. Schiller konzipiert hierzu eine Entwicklungstheorie menschlicher Freiheit auf Basis der Natur: »Der sinnliche Trieb erwacht mit der Erfahrung des Lebens (mit dem Anfang des Individuums), der vernünftige mit der Erfahrung des Gesetzes […], und jetzt erst, nachdem beyde zum Daseyn gekommen, ist seine Menschheit aufgekommen.« 323 In der »Priorität des sinnlichen Triebes«, so Schiller, »finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit« 324 . Freiheit, so Schiller weiter, »nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben« 325 . Die Natur stellt also die reale Freiheitsbasis dar, an deren Spitze dann, als letzte Stufe der Evolution, erst die menschliche Freiheitsentscheidung auftritt. Schiller stellt also die indiduelle Person der Natur weder schroff entgegen (hier drohte das Problem des intelligiblen Fatalismus), noch lässt er sie darin ganz aufgehen (hier drohte das Problem des Naturdeterminismus und Indifferentismus), sondern verortet sie genetisch und reflexiv dazu: Durch die individuelle Entscheidung wird der im Grunde ›blinden Naturanlage‹ ein bestimmter Ausdruck verliehen, insofern der Mensch seine Natur nicht ist, sondern hat: 326 »Da die Natur dem Menschen zwar die Bestimmung giebt, aber die Erfüllung derselben in seinen Willen Schiller, ÄE, 346. Schiller, ÄE, 353. Vgl. zu diesem Schillerschen Motiv der Verbindung beider Perspektiven auch Beiser (2005), 140 f. 323 Schiller, ÄE, 373. 324 Schiller, ÄE, 374. 325 Schiller, ÄE, 374. 326 Vgl. zum »Haben« der Natur mit Blick auf den Begriff der Person auch Spaemann (1996), 211. 321 322
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stellt, so kann das gegenwärtige Verhältniß seines Zustandes zu seiner Bestimmung nicht Werk der Natur, sondern muß sein eigenes Werk seyn. Der Ausdruck dieses Verhältnisses in seiner Bildung gehört also nicht der Natur, sondern ihm selbst an, das ist, es ist ein persönlicher Ausdruck [Hervorh. J. N.]« 327 . Schiller will also die Natur positiv mit in die Person und ihre Freiheit einbeziehen, wodurch er sich gegen die Bestimmung der Natur als Einschränkung und Hindernis, wie sie sich bei Kant 328 bzw. Fichte 329 findet, wendet: »In einer Transcendental-Philosophie, wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreyen, und das Nothwendige von allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken, und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bey diesem Geschäfte im Wege steht, in einem nothwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen.« 330 An der Behandlung des sinnlichen Triebs wird also in nuce das ›idealismuskritische‹ Potenzial Schillers deutlich. 331 Wie ist das Wechselverhältnis beider Triebe angesichts individueller Willensfreiheit beschaffen? Durch die »doppelte Nöthigung« der entgegengesetzten Willenstendenzen entsteht ein in sich diffeSchiller, AW, 273. Kant versteht die Natur als Grund empirischer Bestimmungsgründe des Willens als »Hindernis der reinen praktischen Vernunft« (KpV, AA V, 75): »Also sind alle materiale Prinzipien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgendeines Gegenstand des Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oder Unlust setzen, so fern gänzlich von einerlei Art, daß sie insgesamt zum Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit gehören.« (KpV, AA V, 22). 329 Vgl. Fichte, Beitrag, GA I, 1, 242: »In diesem Kampfe [um die Freiheit; J. N.] nun muß mit der Sinnlichkeit zweierlei geschehen. Sie soll erstlich bezähmt und unterjocht werden; sie soll nicht mehr gebieten, sondern dienen; sie soll sich nicht mehr anmaßen, uns unsere Zwecke vorzuschreiben, oder sie zu bedingen. Dies ist die erste Handlung der Befreiung unsers Ich; die Bezähmung der Sinnlichkeit. – Aber damit ist noch lange nicht alles geschehen. Die Sinnlichkeit soll nicht nur nicht Gebieter, sie soll auch Diener, und zwar ein geschickter, tauglicher Diener seyn; sie soll zu brauchen seyn.« Fichte ist ein seinen Frühschriften noch sehr Kants Begriff einer Autonomie der Vernunft verhaftet. Zu einer Untersuchung von Fichtes kritischem Begriff individueller Freiheit vgl. Teil IV.4. 330 Schiller, ÄE, 348 Fn. 331 Vgl. dazu auch Acosta (2011), der entgegen der lange Zeit vorherrschenden Tendenz »eine[r] Reduktion der ästhetischen Briefe auf die Fichtesche Philosophie« (4) auf die »unauflösbaren, weil fundamentalen, Differenzen zwischen Schiller und Fichte« (4) verweist. Dabei hat Wildenburg (1997) darauf hingewiesen, dass die Debatte zwischen Fichte und Schiller – der Jeanaer Horenstreit von 1795 – im Wesentlichen »um das Problem der konkreten Freiheit […] des Menschen« (29) kreiste. 327 328
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renzierter Zustand des Gleichgewichts, wodurch der menschliche Wille »eine vollkommene Freyheit zwischen beyden« behaupten kann. 332 Damit hat Schiller einen Begriff negativer Freiheit entwickelt. Wie aber ist angesichts dieses harmonischen und äquilibristischen Zustands positive Freiheit zu denken? Schiller begreift die gegenseitige Durchdringung und Verbindung beider Triebe durch die Entscheidung nicht als einen separaten Zustand, sondern als ein kontrolliertes Resultat beider, als »Spieltrieb« 333 : »Der Spieltrieb also, als in welchem beyde [Grundtriebe; J. N.] verbunden wirken, wird das Gemüth zugleich moralisch und physisch nöthigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung aufheben, und den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit setzen.« 334 Der Zustand eines solchen harmonisch integrierten Willens, in welchem beide Willenstendenzen erster Stufe mit den Volitionen zweiter Stufe harmonieren, ist »als ein Zustand der höchsten Realität anzusehen, insofern man dabey auf die Abwesenheit aller Schranken, und auf die Summe der Kräfte achtet, die in derselben gemeinschaftlich thätig sind [Hervorh. J. N.]« 335 , so dass es nun »durch den Gebrauch seiner Freyheit« – durch spezifische Spontaneität – »auf den Geist anSchiller, ÄE, 371. Schillers Spieltrieb ist von Fichtes »ästhetischem Trieb« gänzlich unterschieden. Fichte führte diesen als eine Antwort auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen in seiner Schrift Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (GA I, 6, 333–361) als zwischen dem »ErkentnißTrieb« und dem »praktischen Trieb« vermittelnden ein, der von beiden Trieben grundsätzlich verschieden ist und nicht – wie bei Schiller – aus der Verbindung beider hervorgeht: »Er zielt auf eine Vorstellung, und auf eine bestimmte Vorstellung, lediglich um ihrer Bestimmung, und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigner Zweck; sie entlehnt ihren Werth nicht von ihrer Uebereinstimmung mit dem Gegenstande, auf welchen hierbei nicht gesehen wird, sondern sie hat ihn in sich selbst; es wird nicht nach dem Abgebildeten, sondern nach der freien unabhängigen Form des Bildes selbst gefragt. Ohne alle WechselBestimmung mit einem Objecte steht eine solche Vorstellung isolirt, als letztes Ziel des Triebes, da, und wird auf kein Ding bezogen, nach welchem sie, oder welches nach ihr sich richte.« (342). Schiller hatte Fichtes für die Horen eingereichtes Manuskript aufgrund der fundamentalen sachlichen Differenzen abgelehnt. Der Text erschien erst fünf Jahre später, im Jahr 1800 im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Vgl. zu diesem sogenannten »Horenstreit« und seinen Folgen auch den ausführlichen Kommentar in GA I, 6, 315–332 sowie den Kommentar von Alt/Meier/Riedel (2004) zu Schillers Sämtlichen Werken, Bd. 5, 1228. 334 Schiller, ÄE, 354. 335 Schiller, ÄE, 379. Im Begriff der Summe der Kräfte als Resultante liegt wiederum eine Parallele zu Leibniz’ Freiheitsbegriff. Vgl. Leibniz, T I, 22, 111 f. 332 333
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kommt, welchen Gebrauch er von seinen Werkzeugen machen will«. 336 Das Spiel ist also nicht so sehr eine »Einschränkung«, sondern vielmehr eine »Erweiterung« des Menschen, 337 oder wie Schiller in seinem berühmten Diktum konstatiert: »[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« 338 Worin besteht nun genau die freiheitstheoretische Auszeichnung des Spiels? Im Spiel, so Schillers Gedanke, fungiert die Spielregel als individueller Zweck (bzw. individuelles Allgemeines) weniger als eine Einschränkung, sondern als Ermöglichungsgrund artikulierter Freiheit: Im Spiel sind »[s]owohl der materielle Zwang der Naturgesetze, als der geistige Zwang der Sittengesetze« in einem »höhren Begriff von Nothwendigkeit« aufgehoben, aus der »die wahre Freyheit« hervorgeht. 339 Analog zur Spielregel ließe sich die Grammatik denken, mittels derer erst individuell verfasste Texte als Produkte der Freiheit realisiert werden. Willentliche Notwendigkeit versteht Schiller als Zustand einer »realen und aktiven Bestimmbarkeit« 340 , also als Einheit von Determination und Kontingenz im Sinne alternativer Möglichkeiten, die – im Gegensatz zur metaphysischen oder objektiven Notwendigkeit – als eine individuelle Gesetzlichkeit (als Einheit der ›Spielzüge ‹) ein unverwechselbarer Ausdruck personaler Freiheit ist. Im Spiel, so Schiller weiter, sind beide primären Willenstendenzen aufgehoben, so dass dieser Zustand »nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht Willkührlichkeit, sondern höchste innere Nothwendigkeit ist« 341 . Diesen freien Zustand innerer Notwendigkeit grenzt Schiller von demjenigen des Vernunftzwangs der Kantischen Autonomie-Lehre ab, indem er diesem Begriff denjenigen der Heautonomie gegenüberstellt. Damit argumentiert Schiller gewissermaßen mit Kant gegen Kant, denn der Begriff der Heautonomie bezieht sich auf das Vermögen der ästhetischen Urteilskraft: »Das Vollkommene kann Autonomie haben, insofern seine Form durch seinen Begriff rein bestimmt worden ist; aber Heautonomie hat nur das Schöne, weil nur an diesem die Form durch das innere 336 337 338 339 340 341
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Schiller, AW, 263. Schiller, ÄE, 358. Schiller, ÄE, 359. Schiller, ÄE, 359. Schiller, ÄE, 375. Schiller, ÄE, 367.
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Wesen bestimmt ist.« 342 Dieses »innere Wesen« und seine »Form« ist nun nicht mehr gleichbedeutend mit dem intelligiblen Selbst im Sinne einer allgemeinen praktischen Vernunftstruktur; vielmehr ist es willentliche Rationalität auf Basis eigener Natur, so dass Heautonomie im Gegensatz zur Autonomie der Vernunft gerade bedeutet, sich ein individuelles Gesetz zu geben. 343
3.4
Die Freiheit des Geistes
Wie lässt sich Schillers Begriff des Spieltriebs weiter freiheitstheoretisch fruchtbar machen? Im äquilibristischen Zustand einer »realen und aktiven Bestimmbarkeit« ist der menschliche Wille nicht nezessitiert, sondern allein inkliniert. Es entsteht ein in sich determinierter Zustand, »in welche[m] Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind« und »in welche[m] das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt, und doch auf beyde Art thätig ist«. 344 Freiheit zeichnet sich insofern nach Schiller durch die Möglichkeit der reflexiven Suspension der inklinierenden primären Willenstendenzen durch die Herausbildung von Volitionen zweiter Stufe aus, indem die Person »die Gewalt der Begierde bricht, die mit Vorschnelligkeit ihrer Befriedigung zueilt« und sich so als ein Wesen erweist, »welches nie bloß begehren oder bloß verabscheuen, sondern seine Verabscheuung und Begierde jederzeit wollen muß«. 345 Deshalb ist auch »[d]ie Betrachtung (Reflexion)« nach Schiller »das erste liberale Verhältniß des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgiebt« – oder, wie Schiller den Unterschied von Willenstendenzen erster und Volitionen zweiter Stufe angesichts des Vermögens der Aufschiebung formuliert: »Wenn die Begierde Schiller, Kallias, 310. Vgl. auch Schiller, Kallias, 306: »Das innre Prinzip der Existenz an einem Dinge, zugleich als der Grund seiner Form betrachtet; die innre Notwendigkeit der Form. Die Form muß im eigentlichsten Sinn zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein, nicht bloße Autonomie sondern Heautonomie muß da sein.« Vgl. bereits Kants Begriff der Heautonomie als individueller Selbstbestimmung gegenüber universeller Selbstbestimmung: »Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Rücksicht, in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt«. (Kant, KdU, AA V, 185 f.). Vgl. zum Unterschied von Autonomie und Heautonomie auch Schindler (2012), 67. 344 Schiller, ÄE, 375. 345 Schiller, AW, 292. 342 343
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IV. Freiheit des Willens
ihren Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne, und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigenthum [Hervorh. J. N.]« 346 . Schiller versucht nun auf Basis seines negativen Begriffs von Freiheit einen positiven Begriff zu entwickeln. Im Gegensatz zur »bloße[n] Bestimmungslosigkeit«, die »ohne Realität ist« 347 – also einem bloßen indifferenten Äquilibrismus –, geht es Schiller darum, »eine gleiche Bestimmungslosigkeit, und eine gleich unbegrenzte Bestimmbarkeit mit dem größtmöglichen Gehalt zu vereinbaren«, »weil unmittelbar aus diesem Zustand etwas positives erfolgen soll«. 348 Die Bestimmbarkeit des Willens muss also auf Basis von Bestimmtheit erfolgen – dies ist Schillers ›kompatibilistischer‹ Grundgedanke. Wie muss die Bestimmung des Willens gedacht werden? Willensfreiheit vollzieht sich nach Schiller auf Basis von primären Willenstendenzen: »Die Bestimmung, die er [scil. der Mensch; J. N.] durch Sensation empfangen, muß also festgehalten werden, weil er die Realität nicht verlieren darf« 349 ; es drohte ansonsten ein grundloser Indifferentismus. Allerdings darf die Bestimmung primärer Willenstendenzen nicht ausschließlich gelten: »Die Aufgabe ist also, die Determination des Zustandes zugleich zu vernichten und beyzubehalten« 350 . Indem die Person auf die ihren Willen bloß inklinierenden Tendenzen reflektiert, entsteht eine »mittlere Stimmung«, die Schiller als »freye Stimmung« charakterisiert. 351 Das Gemüt – oder besser: der Wille ist nicht von diesen primären Willenstendenzen unterschieden, es geht vielmehr darin ganz auf, dass es diese immer wieder aufs neue integriert und reflektiert: Es »hat keine Schranken, weil es alle Realität vereinigt« 352 , es ist keine »leere Unendlichkeit«, sondern »eine erfüllte Unendlichkeit«. 353 Es stellt sich nun freilich die Frage, wie Schillers Begriff einer »höheren Notwendigkeit«, aus der heraus ja die individuelle FreiSchiller, ÄE, 394. Schiller, ÄE, 376. 348 Schiller, ÄE, 375. 349 Schiller, ÄE, 375. 350 Schiller, ÄE, 375. Schiller verdeutlicht diesen potententiellen Äquilibrismus bildhaft folgendermaßen: »Die Schalen einer Wage stehen gleich, wenn sie leer sind; sie stehen aber auch gleich, wenn sie gleiche Gewichte enthalten.« (ebd., 375). 351 Schiller, ÄE, 375. 352 Schiller, ÄE, 376. 353 Schiller, ÄE, 377. 346 347
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heitsentscheidung erfolgen soll, genauer zu verstehen ist. Aufschluss dazu mag eine Stelle aus Schillers Wallenstein geben, in welcher dieser am Ende des dritten Auftritts des zweiten Aktes entschlossen gegenüber der Person des Terzki und Illo folgende Beschreibung dieser volitionalen Notwendigkeit gibt: Des Menschen Taten und Gedanken, wißt! Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen. Die innre Welt, sein Mikrokosmus, ist Der tiefe Schacht, aus dem sie ewig quellen. Sie sind notwendig, wie des Baumes Frucht, Sie kann der Zufall gaukelnd nicht verwandeln. Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln. 354
Menschliche Handlungen sind also nach Schiller keine grundlosen Produkte einer Indifferenzfreiheit, sondern wesentlich determiniert. Dabei schließt jede Entscheidung immer schon eine Reflexion der allgemeinen Vernunft im Sinne ihres Gebrauchs ein: »Gebunden ist er [scil. der Wille] an keine [Gesetzgebung], aber verbunden ist er mit dem Gesetz der Vernunft [Hervorh. J. N.].« 355 Ein Missbrauch der Freiheit zum Bösen ist also ausdrücklich möglich, denn der Wille »gebraucht […] seine Freyheit wirklich, wenn er gleich der Vernunft widersprechend handelt« [Hervorh. J. N.] 356 . Schiller führt damit den Gedanken Karl Leonhard Reinholds konsequent fort, der in seinen Briefen über die Kantische Philosophie die Identität von freiem Willen und reiner praktischer Vernunft derart aufgelöst hatte, dass die Vernunft selbst zum Gegenstand des freien Willens werden konnte. 357 Worin bestehen die Unterschiede zu Reinholds Theorie? Die Unterscheidung zwischen Wille und reiner praktischer Vernunft führt Schiller anders als bei Reinhold nicht zu einem opaken und separaten Grundvermögen, das neben den Grundtrieben existiert, 358 354 Wallensteins Tod, 2. Aufzug, 3. Auftritt; NA VIII, 214. Schillers Rede vom »Quellen« der Freiheit aus der individuellen Natur der Person entspricht Leibniz’ Begriff der Spontaneität als Ausfluss der Handlungen aus der individuellen Natur und Substanz des Menschen. Vgl. zum Schiller-Zitat auch Hermanni (2002), 72. 355 Schiller, AW, 290. Vgl. dazu die Aristotelische Bestimmung der phronesis als »ein mit richtiger Vernunft verbundenes (μετὰ λόγου) handelndes Verhalten« (NE, VI, 1140b6). 356 Schiller, AW, 290. 357 Vgl. Reinhold, Briefe II, 198 f. Vgl. auch Teil IV.2.2. 358 Reinhold hatte den Willen als ein »Grundvermögen« bestimmt, »das sich als ein
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sondern zu einer in sich differenzierten reflexiven Willensstruktur, die er als »Geist« bezeichnet: »Diese Innnewohnung zweyer Grundtriebe [im Menschen] widerspricht […] auf keine Weise der absoluten Einheit des Geistes, sobald man nur von beyden Trieben ihn selbst unterscheidet.« 359 Die Freiheit des Geistes besteht im Gegensatz zur Freiheit der Vernunft darin, dass in ihr der Wille sich reflexiv zu seiner Natur, d. h. den beiden Willenstendenzen des sinnlichen Triebs und des Formtriebs (d. h. der Vernunft) verhalten und diese gebrauchen kann. 360 Schiller schreibt mit Blick auf Kants Autonomie-Problem und das Problem des intelligiblen Fatalismus: »Beyde Triebe existieren und wirken zwar in ihm [dem Geist; J. N.], aber Er selbst ist weder Materie noch Form, weder Sinnlichkeit noch Vernunft, welches diejenigen, die den menschlichen Geist nur da selbst handeln lassen, wo sein Verfahren mit der Vernunft übereinstimmt, und wo dieses der Vernunft widerspricht, ihn bloß für passiv erklären, nicht immer bedacht zu haben scheinen.« 361 Schillers Begriff des Geistes nimmt dabei eine analoge Stellung zu Kants Begriff des Vermögens der Urteilskraft ein, insofern sie »in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied« 362 darstellt, ohne hinsichtlich ihrer Gesetzlichkeit auf Naturoder Vernunftkausalität reduziert werden zu können. Wie gestaltet sich die Wirkungsweise des Geistes im Gegensatz zur Vernunft? Anders als Kant denkt Schiller die Freiheitsentscheidung nicht im Sinne einer absoluten Kausalität der Vernunft, die qua Achtung sich unmittelbar in der empirischen Handlung niederschlägt, sondern als ein formelles »Verfahren« 363 des Geistes, ein Herstellen einer individuell harmonischen Ordnung, welche sich aus dem reflektierten Verhältnis zu beiden Trieben ergibt. Geistigkeit ist demnach eine synthetische Leistung, eine Aktivität des Verbindens und Maximierens von primären Willenstendenzen. Freiheit, wie Schiller solches von keinem Andern ableiten, und daher auch aus keinem Andern begreifen und erklären läßt.« (Briefe II, 194). 359 Schiller, ÄE, 371. 360 Vgl. zu Schillers Freiheitsbegriff auch das reflexive Verhältnis der mens zur ratio bei Augustinus, LA I, 19, 68, 101 sowie Leibniz’ Unterscheidung zwischen einer bloßen Freiheit des Verstandes (liberté de l’entendement) und einer Freiheit des Geistes (liberté de l’esprit) (NA II, 21, 150). 361 Schiller, ÄE, 371. 362 Kant, KdU, AA V, 168. 363 Schiller, ÄE, 371.
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sie am Leitfaden der Schönheit versteht, erlangt ihre Bestimmtheit »nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller« 364 , also nicht durch Exklusion, sondern durch Inklusion und Integration: Geistige Freiheit ist umso größer, je größer die Mannigfaltigkeit primärer Willenstendenzen harmonisch in eine Willenseinheit integriert werden kann. 365 Diese Integration ist ausdrücklich auch im Sinne einer intersubjektiven Integration zu verstehen: »Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frey zu seyn, er muß alles andere um sich her, auch das Leblose, in Freyheit setzen.« 366 Ein freier Geist überträgt also seine innerharmonische Willensstruktur auf eine interpersonale Gemeinschaft, die er in eine gemeinsame ›Resonanzfrequenz‹ versetzt. Wie ist nun Schillers Freiheitsbegriff im Ausgang von Kant und Reinhold zu bewerten? Ein Fortschritt gegenüber dem Theorieprofil von Kant und Reinhold kann in drei Punkten gefunden werden: (i) Schiller analysiert die Freiheitsentscheidung weiter und fundiert diese nicht mehr in einem opaken Grundvermögen. Der Geist verhält sich holistisch-übergreifend zu den Grundtrieben und nicht wie eine separate Instanz. Ebenso findet sich bei Schiller nicht mehr die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Gründen der Freiheitsentscheidung. Indem Schiller das Vermögen der Vernunft von demjenigen des Geistes unterscheidet, vermag er Kants Begriff eines »Komplements der Zulänglichkeit« der Vernunft begrifflich weiter zu analysieren: Der Bereich des Geistes ist zwischen Naturund Vernunftgesetz zu verorten, in Analogie zu Kants Vermögen der Urteilskraft, als rationales Vermögen der individuellen Zwecke und Projekte. Ein Zweck besteht in keinem allgemeinen, sondern einem individuellen Gesetz im Sinne einer Maxime, welches durch seine personale Passung und ›Harmonie‹ ausgezeichnet ist. (ii) Schiller entwickelt einen kompatibilistisch zu nennenden Freiheitsbegriff, der die Natur des Menschen nicht als ein heterono-
Schiller, ÄE, 367. Schiller bringt diesen Zustand der vollständigen Integration der primären Willenstendenzen mit seinem Ideal der antiken Griechen in Verbindung: »Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze, als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Nothwendigkeit, der beyde so Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit jener beyden Nothwendigkeiten gieng ihnen erst die wahre Freyheit hervor.« (Schiller, ÄE, 359). 366 Schiller, ÄE, 386 Fn. 364 365
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mes Hindernis ausschließt, sondern integriert und als lebendige Grundlage begreift, aus der heraus sich diese entwickelt. (iii) Schiller verortet damit bereits ansatzweise Freiheit in einem geschichtlichen wie auch sozialen Kontext, insofern lebendige Freiheit im Austausch mit anderem Leben steht und Freiheitsübertragung und -beeinflussung somit denkbar wird. Allerdings sind auch die Grenzen des Schillerschen Freiheitsbegriffs deutlich sichtbar. Zwar vermag Schiller durch seinen Rückgriff auf ästhetische Begrifflichkeiten die komplexe interne Struktur des Willens als harmonisches Gefüge von Willenstendenzen erster Ordnung und Volitionen zweiter Ordnung weiter zu erhellen. Diese Konzentration auf die interne Kohärenz des Willens, die es ihm erlaubt, einen Kompatibilismus von Freiheit und Natur zu denken, führt jedoch letztendlich dazu, dass die normative Frage einer Freiheit zum Guten wie Bösen ausgeblendet wird. Formtrieb und Stofftrieb lassen sich nicht mehr unmittelbar moralisch qualifizieren, sondern erscheinen als primär ästhetische Kategorien, die gegenüber der normativen und objektiven Dimension von Freiheit indifferent sind. Durch seine strukturelle Anbindung an den Begriff der Schönheit besitzt Schillers Freiheitsbegriff selbst den Status eines ›interesselosen Wohlgefallens‹. Ist Schönheit ein »Symbol der Sittlichkeit« 367 , wie Kant in der Kritik der Urteilskraft schreibt, so droht in Schillers Theorie die Freiheit auf einen passiven Zustand harmonischer, selbstgefälliger Selbstgenügsamkeit und Ausgleichs reduziert zu werden, ohne als eigentliche dynamische Tätigkeit begriffen werden zu können.
4. 4.1
Die Reflexion des Willens. Fichtes Theorie individueller Selbstbestimmung im Ausgang von Kant und Reinhold Die Individualität des Willens
Fichtes Freiheitslehre knüpft in vielerlei Hinsicht an Kants Begriff einer Autonomie der praktischen Vernunft an. 368 Allerdings gewinnt Kant, KdU, AA V, 351. Vgl. Fichtes euphorischen Brief aus dem Jahr 1790 an Friedrich August Weißhuhn, in dem er schreibt: »Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen un367 368
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Fichtes Theorie willentlicher Selbstbestimmung ihr Profil nicht allein durch Adaption der Kantischen Lehre, sondern vor allem vor dem Hintergrund der Debatte um den intelligiblen Fatalismus. Sie lässt sich, wie diejenige Reinholds und Schillers, angesichts des Autonomie-Problems als eine Kritik und Modifikation des Kantischen Willensbegriffs verstehen, auch wenn diese aufgrund einer sehr ähnlich gewählten Terminologie nicht unmittelbar ins Auge sticht. 369 Es lassen sich bei Fichte im Ausgang von Kant und Reinhold vier freiheitstheoretische Ziele identifizieren: (i) Die moralisch zurechenbare Person muss als ein einheitliches, vernünftig-sinnliches Individuum gedacht werden. (ii) Der freie Wille muss von der engen Bindung an die reine praktische Vernunft gelöst werden, um nicht der Gefahr des intelligiblen Fatalismus zu unterliegen, so dass ein Begriff individueller Selbstbestimmung entwickelt werden muss. (iii) Dennoch muss eine spezifische Rationalität und Reflexivität des Willens bewahrt und analysiert werden, damit die Freiheitsentscheidung nicht der Gefahr des Indifferentismus oder empirischen Determinismus unterliegt. (iv) Die freie Entscheidung zum Bösen muss angesichts des Sittengesetzes als zurechenbare Handlung und Aktivität verständlich gemacht werden. Fichtes entscheidende Transformationen des Kantischen Autonomie- und Willensbegriffs finden sich weniger in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) 370 als vielmehr in seiner umstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit […] sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher.« (Briefe 1775–1793, GA III, 1, 167). 369 Zur Vernachlässigung der explizit freiheitstheoretischen Dimension von Fichtes Werk vgl. Wallwitz (1999), 122 f.: »Die Konzentration auf die Frage nach der Struktur des Selbstbewußtseins ist sogar dominierend genug, daß kaum je nach dem Verhältnis von Freiheit und Selbstbewußtsein gefragt wird. […] wenn man Fichtes Anspruch ernst nimmt, das Selbstbewußtsein zum Prinzip theoretischer und praktischer Philosophie, zum Prinzip vernünftigen Denkens und Handelns zu machen, so gibt es nichts näherliegendes als die Vermutung, daß Freiheit und Selbstbewußtsein in mindestens ebenso tiefem Zusammenhang stehen wie Denken und Selbstbewußtsein. Gleichwohl ist dem Verhältnis von Freiheit und Selbstbewußtsein nur wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Das mag daran liegen, daß über die historischen Formationsbedingungen von Fichtes Freiheitskonzeption und deren Rolle bei der Genese der Wissenschaftslehre nur wenig bekannt ist.« 370 Damit soll nicht behauptet werden, dass Fichte nicht auch darin auf die KantDie Bestimmung des Willens
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Wissenschaftslehre nova methodo (1796/97–1798/99) 371 und in seinem System der Sittenlehre (1798). Bereits in seiner im Jahr 1793 erschienenen Rezension von Leonhard Creuzers Skeptischen Betrachtungen über die Freyheit des Willens gesteht Fichte Reinhold ausdrücklich das Verdienst zu, auf die Gefahr des intelligiblen Fatalismus hingewiesen zu haben, die immer dann entsteht, wenn Wille und reine praktische Vernunft identifiziert werden: Es ist von mehreren Freunden der kritischen Philosophie erinnert, und von Reinhold einleuchtend gezeigt worden, dass man zwischen derjenigen Aeusserung der absoluten Selbstthätigkeit, durch welche die Vernunft praktisch ist und sich selbst ein Gesetz giebt, und derjenigen, durch welche der Mensch sich (in dieser Function seinen Willen) bestimmt, diesem Gesetze zu gehorchen, oder nicht, sorgfältig zu unterscheiden habe. 372
Wie Reinhold, so erblickt auch Fichte in der Willkür das entscheidende Moment individueller Freiheit: »[S]o ist der Wille stets ein Vermögen zu wählen, wie ihn Reinhold sehr richtig beschreibt. Es ist kein Wille ohne Willkühr. Willkühr nemlich nennt man den Willen, wenn man auf das […] Merkmal sieht, daß er nothwendig unter mehrern gleich möglichen Handlungen eine Auswahl trifft.« 373 Fichtes Theorie freier Willensbestimmung knüpft zwar an Kants Begriff eines reinen Willens an, entwickelt diesen aber nicht als universelle Struktur des Sittengesetzes, sondern als Identitätsgesetz der
Reinhold-Debatte reagiert hat. Zum Einfluss von Reinhold auf Fichtes erste Wissenschaftslehre vgl. Lazzari (1997). 371 Zum freiheitstheoretischen Unterschied der Perspektiven beider Wissenschaftslehren vgl. Fichte, WNM, GA IV, 3, 380: »Als das höchste und erste im Menschen wird sowohl in der alten als neuen Bearbeitung [der Wissenschaftslehre; J. N.] das Streben oder der Trieb angenommen. Gegenwärtig [d. h. in der WNM; J. N.] wird vom unmittelbaren Objecte des Bewustseins, von der Freiheit[,] ausgegangen, und die Bedingungen derselben aufgestellt. Die freie Handlung ist das wesentlichste unsrer Untersuchung, in der ehemaligen Behandlung wurde die freie Handlung[,] das Streben und der Trieb nur gebraucht als Erklärungsgrund der Vorstellungen und der Intelligenz, welches dort der Hauptzweck der Untersuchung war; in der gegenwärtigen Beh[andlung]. ist das praktische unmittelbar Object«. Eine der seltenen Untersuchungen zu Fichtes Begriff individueller praktischer Subjektivität in der WNM findet sich in Stolzenberg (1998), Klotz (2002), 55–181 und Crone (2005), 72–123. Allerdings wird auch hier die genuin freiheitstheoretische Dimension von Fichtes Theorie nicht eigens thematisiert, sondern nur im Rahmen der Behandlung seiner Subjektivitätstheorie gestreift. 372 Fichte, Creuzer-Rezension, GA I, 2, 7 f. 373 Fichte, SSL, GA I, 5, 148 f.
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individuellen Person: »Die erste Vorstellung die ich haben kann ist die Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen.« 374 Man könnte in diesem Zusammenhang analog zu Kants »Faktum der Vernunft« bei Fichte von einem »Faktum der Individualität« sprechen. Diese Identität der Person fasst Fichte als ein holistisches volitionales Zusammenstimmen: »Der Wille ist nicht frei, aber der Mensch ist frei. Alle seine Vermögen hängen innigst zusammen, und greifen bei dem Handeln gesetzmäsig ineinander ein« 375 . Gegenüber der Identifizierung des Willens mit allgemeiner, reiner praktischer Vernunft bei Kant betont Fichte also die volitionale Einheit der individuellen Person: »Der höchste Trieb im Menschen ist […] der Trieb nach Identität, nach vollkommener Uebereinstimmung mit sich selbst« 376 . Freiheit besteht gerade darin, dass der menschliche Wille harmonisch gefügt ist und nicht, wie bei Kant, dass er dem Sittengesetz konform ist: »Der Mensch soll stets einig mit sich selbst seyn; er soll sich nie widersprechen.« 377 Fichte führt für seinen Begriff individuell-gesetzmäßiger Freiheit den Begriff des »reinen Ichs« ein, welches nun nicht mehr wie der reine Wille bei Kant als mit bloßer Vernunft identisch begriffen, sondern als volitionale Selbsttreue verstanden wird, welche die diachrone Identität der Person erst ermöglicht: Die lezte Bestimmung aller endlichen vernünftigen Wesen ist demnach absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Uebereinstimmung mit sich selbst. Diese absolute Identität ist die Form des reinen Ich und die einzige wahre Form desselben; oder vielmehr: an der Denkbarkeit der Identität wird der Ausdruck jener Form erkannt. Welche Bestimmung aber ewig dauernd gedacht werden kann, dieselbe ist der reinen Form des Ich gemäß. – Man verstehe dieses nicht halb, und nicht einseitig. Nicht etwa bloß der Wille soll stets einig mit sich selbst seyn, – von diesem ist nur in der Sittenlehre die Rede – sondern alle Kräfte des Menschen, welche an sich nur Eine Kraft sind, und bloß in ihrer Anwendung auf verschiedne Gegenstände unterschieden werden – sie alle sollen zu vollkommener Identität übereinstimmen, und unter sich zusammenstimmen. 378
374 375 376 377 378
Fichte, WNM, GA IV, 3, 468. Fichte, Geist und Buchstab, GA I, 3, 345 Fn. Fichte, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, 35. Fichte, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, 30. Fichte, Bestimmung des Gelehrten, GA I, 3, 30.
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Diese absolute Freiheitsforderung der Harmonie des Willens entspricht in formaler Hinsicht der Forderung des kategorischen Imperativs. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings inhaltlich darin, dass die im Kantischen Sinne geforderte Harmonie eine moralisch-universelle und gerade keine individuelle Ordnung darstellt: »Diese bloße Form des Wollens, dieses absolute Fordern [nach individueller Identität; J. N.] ist noch nicht das Sittengesez« 379 , wie Fichte betont. »Das reine Wollen«, so Fichte, »wird […] hier nicht so gebraucht [wie das Sittengesetz; J. N.], sondern nur zur Erklärung des Bewustseins überhaupt. Kant braucht den kategorischen Imperativ nur zur Erklärung des Bewustseins der Pflicht.« 380 Damit transformiert Fichte die absolute Forderung des Sittengesetzes als moralischer Notwendigkeit zu einer Art von willentlicher Notwendigkeit, die sich, wie Fichte sie in Analogie zum kategorischen Imperativ fasst, als »Gefühl des Sollens« 381 manifestiert. Diese praktische Identität ist dadurch ausgezeichnet, dass die Gründe, die sie konstituieren, einem kategorischen Imperativ gehorchen, der allein für die Identität des Individuums Geltung hat und damit ein individuelles Gesetz darstellt.
4.2
Die Reinheit des Willens
Fichte unterscheidet den Willen der individuellen Person nicht nur von der Allgemeinheit reiner praktischer Vernunft, sondern auch von der Endlichkeit empirischer Bestimmtheit: »Es soll ein reiner Wille zu Grunde liegen, nicht ein empirisches Wollen, oder Vernunft überhaupt, oder Absolutheit des Vernunftreichs« 382 . Es handelt sich bei dem so gefassten reinen Wollen um »ein Hervorgehen der INDIVIDUALITAET aus der Vernunft« 383 , also um eine Form individueller Vernunft. Die individuelle Person ist »ein durch sich selbst herausgegriffener Theil aus den Vernunftwesen« 384 , d. h. ein willentlich-reflektierter Gebrauch, den der Mensch von der Vernunft machen
379 380 381 382 383 384
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Fichte, WNM, GA IV, 3, 439. Fichte, WNM, GA IV, 3, 440. Fichte, WNM, GA IV, 3, 532. Fichte, WNM, GA IV, 3, 468 Fichte, WNM, GA IV, 3, 468. Fichte, WNM, GA IV, 3, 468.
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kann. Im so verstandenen, individuellen reinen Willen »ist der Vereinigungspunct der übersinnlichen und sinnlichen Welt angegeben« 385 . Entscheidend an dem reinen Willen ist seine Reflexivität: »In dieser freien und absolut höchsten REFLEXION erscheine ich mir als wollend; diese REFLEXION erscheint mir nicht als solche, sondern als Wille.« 386 Fichte denkt also Freiheit als reflektiertes Wollen, in welchem Wille und individuelle Vernunft verschränkt sind: »Durch diese Reflexion reißt sich […] das Individuum los vom Naturtriebe, und stellt sich unabhängig von ihm hin, als freie Intelligenz; erhält dadurch für sich selbst das Vermögen, die Selbstbestimmung aufzuschieben; und mit diesem das Vermögen zwischen mehrern Arten, den Naturtrieb zu befriedigen, eine Auswahl zu treffen: welche Mehrheit eben durch die Reflexion und den Aufschub des Entschlusses entsteht.« 387 Zugleich unterscheidet Fichte verschiedene Stufen des reflektierten Wollens: Der Trieb treibt den Menschen nicht unwiederstehlich, wie etwa die Elasticität materieller Körper; denn es ist ein Trieb gerichtet an ein selbstständiges Wesen. Es bedarf der Reflexion auf seine Richtung; diese Reflexion ist der Anfangspunkt des fortgehenden steten Fadens, und davon ob überhaupt reflektirt wird oder nicht, und davon wie reflektirt wird, ob auf die vollständige Anregung, oder nur auf einen niedern, und geringen Theil derselben, davon hängt es ab, wie die Willensbestimmung ausfalle. 388
Was Fichte hier mit der Metapher des »roten Fadens« zu veranschaulichen sucht, ist nichts anderes als die sich reflexiv durchhaltende volitionale Selbsttreue der individuellen Person auf Basis von ›Volitionen zweiter Stufe‹. Fichte beschreibt diese sich durchhaltende Identität der Person auch als »Kraft«: »Die sich selbst bestimmende Kraft, wird durch das unendliche mannigfaltige für die Wahl hindurch erblickt, u. in diesem erblicken ist nur mein Denken, Selbstbestimmen, welches solches nur der Form nach ist, weil die Selbstbestimmung nirgends aufhört.« 389 Kraft ist für Fichte »[d]as, wodurch das Ich sich bestimmt« 390 . 385 386 387 388 389 390
Fichte, WNM, GA IV, 3, 451. Fichte, WNM, GA IV, 3, 452. Fichte, SSL, GA 5, 165 f. Fichte, Geist und Buchstab, GA I, 3, 345 Fn. Fichte, GA IV, 2, 218. Fichte, WNM, GA IV, 3, 429.
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IV. Freiheit des Willens
Fichte verortet also die reflexive Identität der Person nicht mehr wie Kant in der reinen praktischen Vernunft, sondern in einem Zwischenbereich: »Das Denken als solches, als sich etwas Denken ist das Mittelglied zwischen dem Intelligiblen und der Sinnenwelt; durch das Denken sonach müßte der reine Wille versinnlicht werden und zwar nicht nur so, daß etwas objectives in demselben zugleich mitgedacht würde, sondern auch daß er lediglich durchs Denken zu einem empirischen Willen würde.« 391 Der individuelle Wille des Menschen ist »kein bloß sinnlicher, und kein bloß intelligibler Begriff sondern beides zum Theil« 392 . Wie ist die Reflexivität des so bestimmten Willens näher zu verstehen? Fichte charakterisiert ihn angesichts seiner Zwischenstellung »seiner Form nach als Uibergehen[,] als Bestimmtheit, der eine Bestimmbarkeit entgegengesezt wird; wodurch das Ich Individuum wird.« 393 Fichte bezeichnet diese Individuierung nicht als etwas empirisch-Materiales, sondern als eine, wie er es nennt, »formelle Versinnlichung« 394 , im Sinne vernünftiger Individualität. Fichte versucht damit, eine spezifische individuelle Form willentlicher Rationalität zu entwickeln, die er, jenseits von intelligibler Vernunftdetermination, als Übergang »von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit« 395 denkt: »Unser synthetischer Begriff ist Freiheit und Bestimmtheit in Einem, Freiheit in wiefern angefangen wird, Bestimmtheit in wiefern nur so angefangen werden kann.« 396 Ein solcher Wille ist nach Fichte »ein absolut freies Übergehen von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit, mit dem Bewußtseyn desselben« 397 . Als Instanz eines solchen Übergangs ist der Wille eine reflexive Instanz, die zwischen bestimmten alternativen Möglichkeiten (der Unbestimmtheit) wählt und diese dann durch Deliberation zu einer bestimmten Entscheidung bringt: Das Ich in wiefern es will, giebt als Intelligenz sich selbst das Object seines Wollens, indem es aus den mehrern möglichen eins wählt; und die Unbestimmtheit, welche die Intelligenz anschaut und begreift, erhebt zu einer gleichfalls gedachten und begriffenen Bestimmtheit. – Diesem widerspricht nicht, daß das Object durch den Naturtrieb gegeben seyn könne. Es ist 391 392 393 394 395 396 397
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Fichte, WNM, GA IV, 3, 448 f. Fichte, WNM, GA IV, 3, 430. Fichte, WNM, GA IV, 3, 449. Fichte, WNM, GA IV, 3, 449. Fichte, SSL, GA I, 5, 148. Fichte, WNM, GA IV, 3, 438. Fichte, SSL, GA I, 5, 147.
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durch ihn gegeben als Object des Sehnens, des Begehrens; aber keinesweges des Willens, des bestimmten Entschlusses, dasselbe zu realisiren. In dieser Rücksicht giebt es absolut der Wille sich selbst. Kurz, der Wille ist schlechthin frei, und ein unfreier Wille ist ein Unding. 398
Die in diesem Zitat genannten Objekte des Sehnens und Begehrens lassen sich in Frankfurts Terminologie als Willenstendenzen erster Stufe verstehen. Der reflektierte Übergang von der Unbestimmtheit von Willenstendenzen erster Stufe zur handlungswirksamen Bestimmtheit beschreibt den Prozess der Entscheidung: »Die CONCENTRATION dieses zerstreuten Strebens in einem Punkt heißt Wollen.« 399 Fichte charakterisiert das Herstellen der Willensordnung in diesem Sinn als ein »Act der angestrengten Aufmerksamkeit« 400 . Der freiheitstheoretische Zentralbegriff ist in Fichtes Theorie individueller Selbstbestimmung denn auch nicht mehr reine praktische Vernunft, sondern die Reflexion des reinen Willens: »Jene freie REFLEXION ist bestimmt das, was man Freiheit der Willkühr, auch Freiheit der Wahl nennt.« 401 Ein solcher Wille ist ein in sich differenzierter Begriff, der Unbestimmtheit und Bestimmtheit, sowie den Übergang vom einen zum anderen in sich fasst. Die Reflexion charakterisiert Fichte denn auch als ein »synthetisches Vermögen« 402 : »Sonach wären die Glieder der Synthesis vereinigt nehmlich Bestimmbarkeit und Bestimmtheit, und das aufzuzeigende und zu erörternde Glied wäre beiderlei, in wiefern man es ansähe. Bestimmtheit, in wiefern man es bezöge auf das auser ihm liegende; Bestimmbarkeit, in wiefern [aus] ihm eine Wahl durch Freiheit möglich sein soll.« 403
4.3
Die Trägheit des Willens
Fichte ist sich des Problems des intelligiblen Fatalismus angesichts der Frage, wie eine Freiheit zum Bösen gedacht werden kann, klar bewusst. Es steht für ihn fest, dass der intelligible Fatalismus »alle Moral völlig aufhebe«, und daher »Zurechnung, Schuld und Verdienst
398 399 400 401 402 403
Fichte, SSL, GA I, 5, 148. Fichte, WNM, GA IV, 3, 423. Fichte, WNM, GA IV, 3, 425 f. Fichte, WNM, GA IV, 3, 452. Fichte, WNM, GA IV, 3, 456. Fichte, WNM, GA IV, 3, 438.
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IV. Freiheit des Willens
bei dieser Theorie […] weg[falle]« 404 . Es stellt sich daher Fichte, wie den anderen Denkern der Debatte um das Autonomie-Problem, die Frage, wie das Böse willentlich aus reflektierter Freiheit begangen werden kann angesichts der Normativität des kategorischen Imperativs: [W]ird auf die Anfoderung des Gesetzes [der Sittlichkeit; J. N.] fortdauernd reflectirt, bleibt sie uns vor Augen, so ist es unmöglich, nicht nach ihr zu handeln, und ihr zu widerstehen. Verschwindet sie uns, so ist es unmöglich, nach ihr zu handeln. In beiden Fällen also herrscht Nothwendigkeit; und wir scheinen hier in einen intelligiblen Fatalismus, nur von einem niedern Grade, als der gewöhnliche, zu gerathen. Nemlich im gewöhnlichen wirkt einmal das ohne alles Zuthun der Freiheit vorhandene Sittengesetz im Menschen Bewußtseyn seiner selbst, und eine ihm entsprechende Handlung; ein andermal hat es diese Kraft nicht, und es ist in Ermangelung dieser Triebfeder eine niedere bestimmend. 405
Um einen Ausweg aus diesem Dilemma des intelligiblen Fatalismus zu finden, betrachtet Fichte die Art und Weise des Gegebenseins des Sittengesetzes. Vom Bewusstsein des Sittengesetzes, so Fichte, gilt, dass es »gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zuthun in uns sey, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird.« Im intelligiblen Fatalismus hingegen »dauert das Bewußtseyn desselben entweder fort, und dann bewirkt es nothwendig die moralische Handlung; oder es verschwindet, und dann ist ein moralisches Handeln unmöglich.« Dagegen gilt für Fichte gerade, »daß es ja von unserer Freiheit abhänge, ob jenes Bewußtseyn fortdauere, oder sich verdunkle.« 406 Es ist dem Menschen immer möglich, ein klares Bewusstsein des Sittengesetzes zu entwickeln – »und wenn er es nicht gethan hat, so liegt dies am Nichtgebrauche seiner Freiheit […]. In sofern hat das Böse im Menschen seinen Grund in der Freiheit.« 407 Dieser Grund des Bösen besteht nach Fichte darin, »daß er auf diesem Reflexionspunkte stehen bleibt […]; er sollte schlechthin sich auf einen höhern schwingen, und könnte es auch.« 408 Fichte, Creuzer-Rezension, GA I, 2, 13. Der intelligible Fatalismus ist nach Fichte nicht zuletzt anthropologisch inadäquat: »Von der Gottheit […] würde, wenn nur nicht überhaupt ein solcher Begriff für uns überschwenglich wäre, das System des intelligiblen Fatalismus gelten.« (GWL, GA I, 2, 398 Fn.). 405 Fichte, SSL, GA I, 5, 177. 406 Fichte, SSL, GA I, 5, 177. 407 Fichte, SSL, GA I, 5, 169. 408 Fichte, SSL, GA I, 5, 168. 404
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Worin liegt aber der freiheitstheoretische Grund des Bösen? Es ist nach Fichte, wie auch für Kant, »schlechthin unmöglich, und widersprechend, daß jemand bei dem deutlichen Bewußtseyn seiner Pflicht im Augenblicke des Handelns, mit gutem Bewußtseyn, sich entschließe, seine Pflicht nicht zu thun« 409 . Inwiefern liegt darin ein Widerspruch? Es ist nach Fichte begrifflich ausgeschlossen, dass der Mensch sich durch das Vermögen, welches ihm die Normativität der Moral vorhält (nämlich seine Vernunft) gegen dasselbe handelt: »Es wären sonach in demselben Momente durch dasselbe Vermögen in ihm widersprechende Foderungen, welche Voraussetzung sich selbst vernichtet, und der klarste offenbarste Widerspruch ist.« 410 Eine immanent auf das Böse gerichtete Vernunft ist für Fichte, wie auch für Kant, grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Vernunft, die zugleich gebietet, was gut ist, und den Grund für das Zuwiderhandeln ihres Gebots desselben in sich birgt, würde sich selbst aufheben. Worin liegt dann jedoch der Grund für die Entscheidung zum Bösen, wenn er nicht im Vermögen der Vernunft selbst liegen kann? In einer unscheinbaren Anmerkung zu seiner im Sommersemester 1796 gehaltenen Vorlesung über die Moral findet sich ein entscheidender Hinweis. Zwar sei es, so Fichte, »gewiß unstreitig, daß der Mensch, aus böser Absicht, und blos weil er will, die Pflicht nicht unterlaßen kann«. Fichte fügt dann aber hinzu: »In deßen kan er doch wohl bey dem klarsten Bewustseyn d[er]. Pflicht etwas thun was nicht Pflicht ist, denn s[eine]. Freyheit ist ja nicht s[eine]: Vernunft; sondern e[in]. Vermögen zwischen Anforderungen der Vernunft oder d[er]. sinlichen Triebe zu wählen.« 411 Das Vermögen des Bösen ist demnach, ebenso wie bei Reinhold, von der Vernunft geschieden, womit sich Fichte wörtlich auf Reinholds Terminologie bezieht. 412 Wie kann aber dann das Böse als freie Handlung erklärt werden, wenn dessen Grund weder in der Vernunft noch in der Sinnlichkeit liegen soll? Können wir uns, anders gesprochen, eine Form von individueller Rationalität denken, die nicht mit der universellen RationaFichte, SSL, GA I, 5, 176. Vgl. auch Kant, RGV, AA VI, 37. Fichte, SSL, GA I, 5, 176. 411 Fichte, GA IV, 1, 95 Fn. 412 Vgl. etwa Reinhold, Briefe II, 190: »Die Realität der Freyheit hängt vom Bewußtseyn der Forderung sowohl des eigennützigen als des uneigennützigen Triebes, aber auch noch überdies von dem Bewußtseyn des Vermögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des Eigennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützigen selbst zu bestimmen.« 409 410
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lität des Sittengesetzes identisch ist und den Grund für die Zurechenbarkeit des begangenen Bösen darstellt? Es steht für Fichte fest, dass der Mensch nur dann gegen die Forderung des Sittengesetzes zu handeln vermag, wenn er dessen Verdunkelung im Bewusstsein herbeiführen kann, so dass die Forderungen des Eigenwillens die Oberhand gewinnen. Diese fehlende Reflexion charakterisiert Fichte als »Gedankenlosigkeit« und »Unaufmerksamkeit auf unsere höhere Natur«. 413 Es ist deswegen geboten, das sittliche Bewusstsein durch »Übung und Aufmerksamkeit« und »fortgesetzte Anstrengung« wach zu halten. 414 Der Grund für die Möglichkeit und immanente Tendenz der Verdunkelung des Guten im menschlichen Bewusstsein besteht nach Fichte in einer »ursprüngliche[n] Trägheit zur Reflexion«, welche er in Anlehnung an Kant als »ein wahres positives radikales Übel« bezeichnet. 415 Diese Trägheit zur Reflexion soll nun aber nicht allein im Sinne einer reinen Privationstheorie des Bösen gedacht werden, sondern selbst Anlass zur moralischen Zurechenbarkeit geben. Fichte analysiert das Unterlassen der Reflexion deshalb weiter als eine »Kraft der Trägheit (vis inertiae)«, als eine »Tendenz in dem gewohnten Geleise zu verbleiben« 416 . Als solches hat das Böse seinen letzten Grund in der Natur »als Nicht-Ich, und Object überhaupt« – ihr ist »gar keine thätige Kraft zuzuschreiben. Aber sie hat eben, um zu bestehen, ein Quantum Tendenz oder Kraft zu bleiben, was sie ist« 417 . 418 Eine solche »ursprüngliche Trägheit zur Reflexion« ist nach Fichte, SSL, GA I, 5, 178. Fichte, SSL, GA I, 5, 178. 415 Fichte, SSL, GA I, 5, 182. 416 Fichte, SSL, GA I, 5, 183. 417 Fichte, SSL, GA I, 5, 183. 418 Fichtes Versuch, das Wesen des Bösen über den Begriff der Trägheit zu bestimmen, hat in Leibniz einen historisch-systematischen Vorgänger. Leibniz bezieht sich auf das physikalische Phänomen der Trägheit, die man »als ein vollendetes Bild und als Muster für die ursprüngliche Beschränktheit der Geschöpfe [d. h. als malum metaphysicum] betrachten« könne (T I, 115). So treiben aufgrund ihrer Trägheit unterschiedlich schwer beladene Schiffe unterschiedlich schnell einen Fluss hinab: »Der Stoff selbst also neigt ursprünglich zur Trägheit oder zum Mangel an Geschwindigkeit: er verringert sie nicht durch sich selbst, wenn er diese Geschwindigkeit schon erhalten hat, denn dann würde er handeln, aber er mindert die Wirkung des Eindrucks, den er erhalten soll, durch seine Empfänglichkeit.« (T I, 116) Leibniz beschreibt diese Trägheit als eine »Art Widerwillen gegen das Bewegtwerden« (ebd.): Das Böse besteht demnach in einer aktiven Verschlossenheit, sich von dem Guten oder Wahren leiten zu lassen. 413 414
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Fichte ein »wahres positives radikales Übel [Hervorh. J. N.]« 419 . Sobald der Eigenwille aus seiner Selbstbezogenheit durch die Universalität des Pflichtgebots herausgefordert wird, regt sich in ihm eine Gegentendenz, in seinem bisherigen Zustand zu bleiben, eine Art Abwehr- oder Trotzreaktion. Diese Re-Aktion macht gerade die positive Seite des Bösen trotz seiner immanenten Negativität aus. Fichte veranschaulicht die abstrakte Widerspenstigkeit einer solchen »Kraft der Trägheit« durch seinen Begriff des »Schlendrians«: Dessen Trägheit ist ein »gänzliches Unvermögen zum Guten«, ja das »wahre, angebohrne, in der menschlichen Natur selbst liegende radicale Uebel«. 420 An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, ob das Böse wirklich im Sinne einer Trägheit und Nachlässigkeit angemessen bestimmt ist, um dessen volle moralische Zurechenbarkeit zu gewährleisten. Durch Fichtes Analogisierung der Trägheit des Bösen mit dem »Nicht-Ich« der Natur droht gerade die Subjektivität des Bösen und damit auch dessen Zurechenbarkeit reduziert zu werden. Eine böse Handlung aus vernünftiger Aktivität, ja penibler Genauigkeit und Beflissenheit, wie sie in manchen Verbrechen zum Vorschein kommt, ist für Fichte damit undenkbar. Der Grund hierfür liegt in Fichtes transzendentaler Perspektive, die, wie diejenige Kants, den Zwischenbereich der Willkür zwischen Vernunft und Natur nicht weiter positiv zu bestimmen vermag. Zwar ist aus der Perspektive des Sittengesetzes jede Abweichung von der moralischen Norm als eine Nachlässigkeit und Trägheit zu verstehen, jedoch nicht aus der Sicht des privaten, individuellen Eigenwillens, dessen Aktivität gerade darin zum Vorschein kommt, je mehr er sich von der allgemeinen Vorgabe des Sittengesetzes distanziert. Aus Fichtes am Sittengesetz orientierter Perspektive folgt demnach, dass seine Theorie starke Momente einer Privationstheorie enthält. Das Böse geschieht nicht durch Reflexion, sondern durch die rudimentäre Aktion des Unterlassens von Reflexion, womit Fichte am Ende die Freiheit zum Bösen nicht als ein Vermögen, sondern als defizitäres Unvermögen begreift.
419 420
Fichte, SSL, GA I, 5, 182. Fichte, SSL, GA I, 5, 185.
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5.
Die Willkür des Willens. Kants Versuch einer Entscheidung der Freiheitsdebatte in der Metaphysik der Sitten
5.1
Die Bestimmung der Willkür
Die Bedeutung von Kants freiheitstheoretischen Ausführungen in der Metaphysik der Sitten besteht darin, dass sie als seine abschließenden begrifflichen Klärungsversuche hinsichtlich des Verhältnisses von Wille, Willkür, Vernunft und Sittengesetz gelten können. Kant versucht in dieser Schrift, die freiheitstheoretischen Elemente seiner vorangegangenen Werke – insbesondere den ›idealistischen‹ Freiheitsbegriff der Kritik der praktischen Vernunft als Autonomie der Vernunft und den ›realistischen‹ Begriff der Religionsschrift als Willkür – in eine begrifflich konsistente Einheit zu bringen und gegenüber alternativen Konzeptionen abzugrenzen. Kants abschließende Äußerungen lassen sich genauer als ein Ringen um eine definitive Bestimmung der Willkür verstehen: Kant versucht, dem Begriff der Willkür innerhalb seines Systems schließlich doch noch einen konkreten Ort zuzuweisen, und zu klären, durch was die Willkür selbst bestimmt ist, damit sie nicht als ein grundloses Vermögen erscheint, sondern als freiheitstheoretisch relevant qualifiziert werden kann. Kants Projekt einer Bestimmung der Willkür lässt sich als eine direkte Antwort auf Reinholds Insistieren auf der Möglichkeit positiver Freiheit gegen das Sittengesetz verstehen. Kants finale Ausführungen über Willensfreiheit finden sich auf gedrängtem Raum im vierten Abschnitt der Einleitung der Metaphysik der Sitten, in welcher Kant »Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten« näher bestimmt. Die freiheitstheoretisch entscheidenden Stellen nehmen dabei nur etwas über eine Seite ein 421 und lesen sich mehr als erläuternde Anmerkungen, denn als eine eigentliche Theorie. Ihre Kürze und ihr erläuternder Charakter darf jedoch über die historisch-systematische Bedeutung der dabei gegebenen Bestimmungen nicht hinwegtäuschen, denn Kant antwortet darin auf die von ihm zuvor angestoßene Freiheitsdebatte und versucht, diese durch ein finales »Machtwort« 422 zu entscheiden. Wie bereits zuvor in seiner Religionsschrift, so bestimmt Kant 421 422
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Kant, MdS, AA VI, 226 f. Bondeli (2001), 244.
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nun die individuelle Freiheit der Maxime als »Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht« und die »bei einerlei Gesetzen« dennoch »sehr verschieden sein können« 423 . Das Sittengesetz stellt den konstanten normativen Hintergrund dar – die ratio cognoscendi der Freiheit –, vor dem die individuelle menschliche Willkür im Bewusstsein ihrer Freiheit zu zurechenbaren Entscheidungen – ggf. auch im Sinne einer Abweichung von dem Sittengesetz – gelangt. Eine Maxime ist »das subjektive Prinzip zu handeln, was sich das Subjekt selbst zur Regel macht (wie es nämlich handeln will)« 424 . Ferner bestimmt Kant den Begriff der Tat als »eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird« und den Begriff der Person als »dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind« 425 . Die menschliche Willkür bestimmt Kant weiter als »Begehrungsvermögen nach Begriffen«, also als oberes Begehrungsvermögen, »sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird«, was eine Handlung durch das untere Begehrungsvermögen bedeuten würde. 426 Auffällig ist hierbei, dass Kant das »Begehrungsvermögen nach Begriffen«, welches er mit dem »Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen« 427 , also der Willkür – dem liberum arbitrium – identifiziert, nicht mehr, wie zuvor in der Kritik der praktischen Vernunft, allein mit der reinen praktischen Vernunft gleichsetzt. 428 Damit kündigt sich bereits die für die Metaphysik der Sitten zentrale begriffliche Unterscheidung von Willkür und Wille an, die in der Religionsschrift durch die Bestimmung der Freiheit zum Bösen bereits vorbereitet worden war. Kant bestimmt den Willen nämlich als »das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die HandKant, MdS, AA VI, 225. Kant, MdS, AA VI, 225. 425 Kant, MdS, AA VI, 223. 426 Kant, MdS, AA VI, 213. 427 Kant, MdS, AA VI, 213. 428 Vgl. Kant, KpV, AA V, 24 f.: »Alsdenn allein ist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienst der Neigungen ist), ein wahres oberes Begehrungsvermögen«. Vgl. auch KpV, AA V, 22: »gäbe es gar keine bloß formale Gesetze […], die den Willen hinreichend bestimmeten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können.« 423 424
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lung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet«; der Wille »hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist […] die praktische Vernunft selbst«, »sofern sie die Willkür bestimmen kann«. 429 Es ist damit nicht mehr die reine praktische Vernunft, die sich als principium executionis durch die Triebfeder der Achtung unvermittelt in eine Handlung übersetzt, sondern die Willkür übernimmt diese Vermittlungsposition als eine Art Zwischeninstanz. Kant verortet die Willkür insofern unterhalb des Willens und bestimmt sie als Durchsetzungskraft des Handelns zwischen Vernunftwille und der Handlung in der empirischen Welt. 430 Diese Bestimmung der Willkür hat also zur Folge, dass der Wille nunmehr nur noch legislative Funktion besitzt und das exekutive Moment bzw. die Spontaneität ganz dem Vermögen der Willkür übertragen wird: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen.« 431 Dies wiederum hat Konsequenten für den freiheitstheoretischen Status beider Vermögen: Da der Wille damit »auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann [er] weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht.« 432 Damit steht fest: »Nur die Willkür […] kann frei genannt werden.« 433 Der Grund dafür besteht darin, dass sie die konkrete Materie der Maxime wählen kann, während der Wille qua Sittengesetz immer notwendigerweise nur die Form vorgibt, zu der sich die Willkür auf Grund ihrer Zwischenstellung im Prinzip frei verhalten kann – eine Unterscheidung, welche auf Reinholds Kant-Kritik zurückzuführen sein dürfte. 434 Wie ist Kants Aussage, wonach der Wille nicht frei sei, genauer zu verstehen? Und ist die Willkür wirklich frei gegenüber dem Gesetz Kant, MdS, AA VI, 213. Vgl. Kant, MdS, AA VI, 213. 431 Kant, MdS, AA VI, 226. 432 Kant, MdS, AA VI, 226. Vgl. auch Baum (2012), 160: »Als Gesetz für die Setzung von Zwecken als Objekten der Willkür und für die Annehmung ihnen entsprechender Maximen, aber auch für das Rechthandeln im äußeren Verhältnis des Menschen zu sich und anderen Menschen, kann das durch den Willen der Willkür gegebene Gesetz seinerseits keiner Wahl unterliegen, sondern nur ein notwendiger Ausdruck der reinen praktischen Vernunft als Gesetzgeberin sein, von dem man allenfalls metaphorisch sagen kann, dass der Wille ihn gewollt habe.« 433 Kant, MdS, AA VI, 226. 434 Vgl. auch Baum (2012), 159. 429 430
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des Willens? Nähere Aufschlüsse über diese zentrale, jedoch allzu knappe Bestimmung des Verhältnisses von Wille und Willkür finden sich in den Vorarbeiten zur Vorrede und Einleitung in die Metaphysik der Sitten, 435 wo Kant auf der begrifflichen Unterscheidung von Wille und Willkür insistiert. 436 Der Wille kann deshalb nicht frei genannt werden, weil er »nicht unter dem Gesetz, sondern […] selbst der Gesetzgeber für die Willkür und […] absolute praktische Spontaneität in Bestimmung der Willkür« 437 ist. Aus diesem Grund ist der Wille »in allen Menschen gut und es gibt kein gesetzwidriges Wollen« 438 . Die Willkür steht unter dem Willen, der als Instanz der Gesetzgebung fungiert. Insofern sie nicht begrifflich an das Sittengesetz gebunden ist, bestimmt Kant die Willkür als ein »Naturvermögen«, deren Maximen, »weil sie auf Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt gehen […] böse seyn« können: Sie ist durch das Sittengesetz »eigentlich nicht unmittelbar bestimmbar«, »sondern nur vermittelst der Maximen sie jenem gemäs oder zuwieder zu nehmen«. 439 Kant weist bei näherer Betrachtung dem Willen dennoch eine spezifische Form der Freiheit zu. Während die Willkür als ein Phänomen die Freiheit besitzt, sich material für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, ist »der Wille […] auf eine andere Art frey weil er gesetzgebend nicht gehorchend ist weder dem Naturgesetz noch einem andern u. so fern ist die Freyheit ein positives Vermögen nicht etwa zu wählen denn hier ist keine Wahl sondern das Subject in Ansehung des sinnlichen der Handlung zu bestimmen« 440 .
5.2
Das Unvermögen der Freiheit
Hatte Kant davon gesprochen, dass nur die Willkür und nicht der Wille »frei genannt werden« 441 könne, so scheint er dieser Aussage unmittelbar darauf zu widersprechen, wenn er, auf Reinholds Frei-
Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 243–252, hier 248–250. »Der Wille des Menschen muß von der Willkür unterschieden werden.« Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 248. 437 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 248. 438 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 248. 439 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 248. 440 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 249. 441 Kant, MdS, AA VI, 226. 435 436
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heitstheorie anspielend, 442 feststellt: »Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definiert werden – wie es wohl einige [scil. Reinhold] versucht haben, – obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt.« 443 Wie ist diese auf den ersten Blick paradoxe Aussage zu verstehen? Es handelt sich bei genauerer Betrachtung nicht um einen begrifflichen Widerspruch, wie einige Interpreten vermutet haben. 444 Beide sich scheinbar widersprechende Aussagen über die Freiheit der Willkür lassen sich miteinander vereinbaren, wenn man berücksichtigt, dass Kant das eine Mal im schwachen Sinne von ›frei genannt werden‹, das andere Mal hingegen im starken Sinne von ›definiert werden‹ spricht. Eine Analyse der Kantischen Theorie der Willkür muss daher die ontologische Dimension streng von der epistemischen oder definitorischen trennen. Nur so kann geklärt werden, inwiefern für Kant eine willentliche Entscheidung gegen die Forderung des Sittengesetzes möglich ist. Der Grund für Kants definitorische Restriktion der Willkür liegt, wie im Vorigen gezeigt, in den epistemologischen Grenzen seines transzendentalen Idealismus. Kant ringt auch in seinen letzten freiheitstheoretischen Ausführungen mit der Bestimmung der Willkür zwischen dem Bereich des Intelligiblen und Sensiblen: Die Freiheit der Willkür »kann nicht so erklärt werden daß es die subjective Möglichkeit sey dem Gesetze gemäs oder zuwieder d. i. die Gesetzwiedrigkeit der Handlungen überhaupt zu beschließen denn das wäre so viel als ein böser Wille – Das wäre ein Herüberziehen der Sinnlichkeit in das Feld des reinen Vernunftvermögens [Hervorh. J. N.].« 445
442 Vgl. Reinhold, Briefe II, 188: »[I]m positiven Sinne ist sie [scil. die menschliche Freiheit] das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz.« Zu den historischen Plausibilisierungen, dass es sich dabei um Reinhold handelt, vgl. Bojanowski (2006), 245 f. 443 Kant, MdS, AA VI, 226. 444 Vgl. etwa Ortwein (1983), 157 Fn.: »Es ist schon recht merkwürdig, daß Kant diesen Widerspruch offensichtlich nicht bemerkt hat.« 445 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 248. Vgl. ebd., 249: »Worauf es nun beruhe daß dieses Vermögen nicht immer die Bestimmung der Willkühr zum Guten zur Folge hat sondern des guten Willens ungeachtet des bösen Handlungen und Maximen entspringen kan als phaenomen nicht aus dem intelligibelen Substrat des freyen Willens erklärt werden.«
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Oder anders formuliert: »Die Willkühr und deren subjectives Gesetz muß nicht ins übersinnliche gezogen werden.« 446 Wo ist das subjektive Gesetz der Willkür aber dann angesiedelt, wenn es nicht in den Bereich des Übersinnlichen als ein Vernunftvermögen gehört? Es kann auch nicht in den heteronomen Neigungen bestehen, wie Kant in der Religionsschrift betont hatte – hier würde gerade die Idee moralischer Zurechenbarkeit zunichte gemacht werden. 447 Aber es kann auch nicht in dem Bereich der reinen praktischen Vernunft, welche strukturanalog zum Sittengesetz ist, angesiedelt sein: Der Gedanke einer Abweichung vom Sittengesetz im Bereich reiner praktischer Vernunft selbst wäre ein widersprüchlicher Gedanke. Die Tatsache also, dass »der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen« bedeutet nicht, dass »dadurch […] seine Freiheit als intelligiblen Wesens definiert werden könne«. 448 Der Grund dafür liegt darin, dass »Erscheinungen kein übersinnliches Objekt (dergleichen doch die freie Willkür ist) verständlich machen können, und daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann [Hervorh. J. N.]« 449 . Eine vernunftwidrige Handlung eines vernünftigen Subjekts bzw. intelligiblen Charakters ist begrifflich widersprüchlich, so dass die positive Freiheit der Willkür grundsätzlich unserer Erkenntnis und begrifflichen Definitionsmöglichkeit entzogen ist. 450 Von einer solchen Freiheit der Entscheidung zum Bösen können wir, so Kant, »die Möglichkeit nicht begreifen« 451 . Es ist nach Kant deshalb notwendig, zwischen der Tatsache zu unterscheiden, dass es möglich ist, »einen Satz (der Erfahrung) ein Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 249. Kant, RGV, AA VI, 58 Fn., wonach das Böse »nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst zu suchen ist«. 448 Kant, MdS, AA VI, 226. 449 Kant, MdS, AA VI, 226. 450 Vgl. auch Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 248: »Die Freyheit der Willkühr in Ansehung der Handlungen des Menschen als Phänomenon besteht allerdings in dem Vermögen unter zwey entgegengesetzten (der gesetzmäßigen und gesetzwiedrigen) zu wählen und nach dieser betrachtet sich der Mensch selbst als Phänomen. – Der Mensch als Noumen ist sich selbst so wohl theoretisch als praktisch gesetzgebend für die Objecte der Willkühr und so fern frey aber ohne Wahl.« (248). Vgl. dazu auch Baum (2012), 157. 451 Kant, MdS, AA VI, 226. 446 447
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[zu]räumen« – wie im Falle der empirischen Handlung wider das Sittengesetz durch das »Naturvermögen« der Willkür, und einen solchen empirischen Satz »zum Erklärungsprinzip (des Begriffs der freien Willkür) und allgemeinen Unterscheidungsmerkmal (vom arbitrio bruto s. servo)« zu machen. 452 Damit letzteres der Fall wäre, müsste gezeigt werden können, dass die Möglichkeit, dem Sittengesetz zuwiderhandeln zu können, »notwendig zum Begriff [einer freien Willkür] gehöre« 453 , was jedoch gemäß der Kantischen Erkenntnistheorie gerade unmöglich ist. Eine Definition der freien Willkür als einer Freiheit, gegen das Sittengesetz handeln zu können, wäre, wie Kant betont, »eine Bastarderklärung (definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt,« 454 indem sie nicht notwendige, sondern empirische und kontingente Momente in die Wesensbestimmung mit aufnähme, insofern sie »über den praktischen Begriff noch die Ausübung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzutut« 455 . Der Bereich der Willkür jenseits von reiner Vernunftbestimmung ist also gemäß Kants transzendentalem Idealismus gerade nicht definierbar, vielmehr handelt es sich um eine »Vermischung« der Sphären: »Die reine Freyheit«, so Kant in seinen Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, »handelt nach Gesetzen innerlich bestimende[r] Gründe, aber sie fallen nicht in die Sinne. Die thierische Willkühr verfahrt nach sinnlich bestimbaren Gesetzen. Die Vermischte Menschliche Wilkühr (libertas hybrida) handelt auch nach Gesetzen, aber deren Gründe nicht in der Erscheinung […] ganzlich vorkommen« 456 . Der unbestimmte Zwischenbereich der bösen Willkür markiert damit eben jenes »complement der Zulänglichkeit«, welches die Vernunft nach Kant zur Entscheidung noch »geben« muss, auch wenn sie es nur im Selbstwiderspruch erklären kann. 457 Angesichts dieser ›kritischen‹ Position der Willkür wird nun Kants These, wonach »[d]ie Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft […] eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen« 458 sei, verKant, MdS, AA VI, 226. Kant, MdS, AA VI, 227. 454 Kant, MdS, AA VI, 227. 455 Kant, MdS, AA VI, 227. Vgl. zum Problem von Notwendigkeit und Kontingenz bei der Bestimmung der freien Willkür auch Bojanowski (2006), 259. 456 Kant, Refl. 5618, AA XVIII, 257. 457 Kant, Refl. 5611, AA XVIII, 252. 458 Kant, MdS, AA VI, 227. 452 453
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ständlich. 459 Die Tatsache, dass Kant in diesem Satz auf »Möglichkeit« unmittelbar den Begriff des »Unvermögens« folgen lässt, hat jedoch Interpreten dazu verleitet, anzunehmen, Kant behaupte hier – ontologisch – die Unmöglichkeit einer willentlichen Abweichung vom Sittengesetz. 460 Dass aber »Unvermögen« nicht als »Unmöglichkeit« verstanden werden darf, sondern nur als etwas Privatives 461, zeigt auch die Verwendung dieses Begriffs an anderen Stellen des Kantischen Werks, welche eine Interpretation als Unfähigkeit, als Einschränkung eines Vermögens nahelegen. 462 Eine positive Bestimmung moralisch böser Handlungen kann also, will man sie nicht als heteronome Ereignisse fassen, nur im Sinne eines Unvermögens geschehen, also im Sinne eines Handelns wider besseren Wissens – als Willensschwäche. 463 Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass Kant die Willkür nach wie vor als Durchsetzungskraft des Handelns versteht, welche gewissermaßen ›unterhalb‹ des Willens verortet wird, insofern sie in einem Verhältnis zur empirischen Welt der Handlungen und materialen Zwecken steht. Kants Versuch, Autonomie und Willkür gemeinsam im Bereich des Intelligiblen zu verorten, sind insofern Grenzen gesetzt, als der Bereich des Intelligiblen freiheitstheo459 Vgl. auch Kant, Refl. 3868, AA XVII, 318: »Das Vermögen, das erkante Gute, was in unserer Gewalt ist, thatig zu wollen, ist die Freyheit; aber […] es gehort nicht eben so nothwendig dazu das Vermögen, das erkante Böse, dessen Verhinderung in unsrer Gewalt ist, zu wollen. Dieses ist auch nicht eigentlich ein Vermögen, sondern eine Möglichkeit zu leiden. Böse Handlungen stehen zwar unter der Freyheit, aber geschehen nicht durch sie [Hervorh. J. N.].« 460 So etwa Prauss (1983), 112: »Indem er [Kant] aber diese Möglichkeit jetzt widerruft, fällt er auch auf jenen Standpunkt vor der REL wieder zurück«, sowie ebd.: »Daß Kant hier das moralisch Böse lediglich auf ein ›Unvermögen‹ zurückführen möchte, bedeutet, daß es jetzt erneut auf jene bloße ›Heteronomie‹ zurückgehen soll, aus der es aber prinzipiell nicht zu verstehen ist, eine Einsicht, bis zu der Kant in der REL selbst schon fortgeschritten war.« 461 Vgl. zum Begriff des Unvermögens: Augustinus, CF, 12, 522. 462 In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, AA IV, 551 spricht Kant von der »Trägheit der Materie, d. i. bloßes Unvermögen sich von selbst zu bewegen«; in der Physischen Geographie, AA IX, 194, vom »Unvermögen der Menschen […] lange im Wasser auszuhalten«. Vgl. auch KrV, B 22, wo Kant vom »Vermögen und Unvermögen der Vernunft« spricht. Vgl. zur Interpretation von »Unvermögen« als Schwäche Bojanowski (2006), 258. 463 Vgl. Kant, Refl. 3867, AA XVII, 317. »Die Möglichkeit, das, was durch Vernunft gemisbilligt wird, mit Bewustseyn zu wollen, ist der schwache Wille«. Vgl. zum Problem der Willensschwäche bei Kant, jedoch in apologetischer Hinsicht: Willaschek (1992), 243.
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IV. Freiheit des Willens
retisch exklusiv auf den Bereich reiner praktischer Vernunft restringiert ist. Kants Schwanken bezüglich des Willkürbegriffs zeigt sich auch darin, dass er einerseits davon spricht, dass die »Willkühr und deren subjectives Gesetz […] nicht ins übersinnliche gezogen werden« 464 dürften, andererseits jedoch gerade betont, dass die Willkür nicht durch ein Phänomen der Erfahrung definiert werden könne, was impliziert, dass Kant diese gerade als ein übersinnliches Vermögen versteht. 465 Eine Lösung dieser Problematik wäre nur dann gegeben, wenn der Bereich des intelligiblen weiter differenziert würde, indem also die Willkür über den Willen geordnet würde: nicht als ein höheres distinktes Vermögen, sondern als eine Struktur des Willens selbst, d. h. als Selbstreflexion bzw. ›Kür‹ des Willens im Sinne Volitionen zweiter Stufe, die nicht a priori an das Sittengesetz gebunden sind. Dies ist jedoch für Kant wie gesagt undenkbar, denn »das Abweichen vom Gesetz ist kein übersinnliches Vermögen« 466 . Die Willkür nimmt insofern auch in Kants letzter Stellungnahme eine ›utopische‹ Position zwischen dem Bereich des Intelligiblen und Empirischen, zwischen Autonomie und Heteronomie ein: 467 Während die »Freyheit der Willkühr in Ansehung der Handlungen des Menschen als Phänomenon« nach Kant in dem Vermögen besteht, »unter zwey entgegengesetzten (der gesetzmäßigen und gesetzwiedrigen) [Handlungen; J. N.] zu wählen«, welche »ein Verhältnis nach Gesetzen der Sinnlichkeit betreffen« – also ein Vermögen ist, »unter gegebenen Gegenständen zu wählen [Hervorh. J. N.]« 468 , so ist der Mensch »als Noumen« »sich selbst so wohl theoretisch als praktisch gesetzgebend für die Objecte der Willkühr und so fern frey aber ohne Wahl« 469 . Für die Kontingenz individueller Freiheit – unabhängig von der Notwendigkeit des Sitten- und Naturgesetzes – gibt Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, II, 249. Kant, MdS, AA VI, 227. 466 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 249. 467 Diese Ambivalenz in der Verwendung des Willkürbegriffs hat bereits Olivier (1941), 62, bemerkt: »Kant verwendet den Begriff [der Willkür; J. N.] und faßt etwas damit, aber er verwendet ihn nur um gleichzeitig zu zeigen, daß dieser Begriff zu einer eigentlichen Bestimmung des Willens nicht zureicht.« (62). M. E. irrt jedoch Olivier, wenn er dieser Ambivalenz einen tieferen Sinn abgewinnen zu können glaubt: »Die scheinbare Unbestimmtheit des Willens […] enthüllt sich als Tiefe des Bestimmens und als Tiefe aller hier möglichen Bestimmungen.« (65). 468 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 248. 469 Kant, Vorarbeiten MdS, AA XXIII, 248. 464 465
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es innerhalb des Kantischen Systems keinen begrifflichen Raum: 470 Als intelligibles Vermögen läuft die Willkür auf einen intelligiblen Fatalismus hinaus, da sie nur moralisch gute Maximen durch ihre vernünftige Willensbestimmung zu wählen vermag, als Naturvermögen erhält sie nur den begrifflich diffusen Status eines Unvermögens, das nur empirisch erfahren, nicht jedoch begrifflich positiv definiert werden kann. Das Vermögen der Willkür des Bösen stellt also einen Spaltpilz für Kants System des transzendentalen Idealismus dar: Während die Willkür des moralisch Guten im Rahmen von Kants Theorie autonomer Vernunft positiv thematisiert werden kann, so kann die Willkür des Bösen nur im Modus der Privation dargestellt werden, sie fällt ganz aus dem Fokus. 471 Indem das subjektive Gesetz der Willkür des Bösen nicht aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft erklärt werden kann, ist nur die Möglichkeit gegeben, das moralisch Gute als Entscheidung der Willkür zu definieren, was dann jedoch begrifflich mit einer Handlung aus autonomer Vernunft zusammenfällt. Damit vertritt Kant jedoch ausdrücklich keinen intelligiblen Fatalismus. Dieser ergibt sich nur dann, wenn man seine epistemische und definitorische Restriktion der bösen Willkür ontologisch liest. 472 Kants epistemischer Ausweg aus dem ontologischen Problem des intelligiblen Fatalismus besteht in der minimalen Freiheitsdifferenz zwischen Unvermögen und Unmöglichkeit des Bösen und entspricht damit dem schillernden begrifflichen Status eines subjektiven Grundes in seiner Religionsschrift und in Reinholds zweitem Briefband.
5.3
Die Willkür im Willen. Reinholds letztes Wort
Nicht Kant, sondern Reinhold sollte jedoch das letzte Wort in der Freiheitsdebatte haben. Reinhold selbst hat unmittelbar nach ErscheiVgl. auch Baum (2012), 160. Vgl. Kant, MdS, AA VI, 213 f.: »Die Freiheit der Willkür ist die Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe, dies ist der negative Begriff derselben; der positive ist das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein.« 472 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Reinholds Unterscheidung zwischen »Expositionen« und »Definitionen« des Willens aus dem Jahr 1792. Vgl. Reinhold, Briefe II, 186. Allerdings enthält die Bestimmung der bösen Willkür als Unvermögen bereits ontologische Implikationen, die sich fatalistisch verstehen lassen. Alles hängt dabei an Kants Begriff des Vermögens. 470 471
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nen der Metaphysik der Sitten Stellung zu den von Kant gegebenen abschließenden begrifflichen Differenzierungen bezogen und die darin enthaltene Kritik an seiner Theorie zum Anlass einer scharfsinnigen Rechtfertigung und Kritik genommen. 473 Seine Ausführungen dürfen, wie die Herausgeber des Materialienbandes betonen, »als der beste kritische Kommentar zu den diesbezüglichen Ausführungen Kants […] gelten« 474 . Zugleich bietet sich dabei Reinhold die Gelegenheit, seine eigene Freiheitstheorie gegenüber dem Reflexionsniveau seiner Briefe noch weiter zu präzisieren. Dabei konzentriert sich Reinhold vor allem auf das Verhältnis von Wille und Willkür. In seinen Briefen hatte Reinhold zwar die Bedeutung des Vermögens der Willkür betont, deren Verhältnis zum Willen jedoch nicht weiter bestimmt, sondern nur innerhalb eines opaken Grundvermögens verortet. 475 Wie bereits in seinem zweiten Briefband, so steht auch in Reinholds später Kant-Replik fest, dass sich »Zurechnungsfähigkeit nur unter der Voraussetzung einer sowohl von der Selbsttätigkeit der Vernunft als von dem Streben der Begierde verschiedenen Freiheit des Willens denken lasse« 476 . Rückblickend konstatiert Reinhold, er habe zwar »diese und keine andere Freiheit durch die Lehren [der Religionsschrift] […] wirklich behauptet« 477 gefunden, komme nun aber nicht umhin, die in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten enthaltenen Ausführungen zum Freiheitsbegriff »entweder unverständlich oder unhaltbar zu finden« 478 . Dabei hat Reinhold die Problematik der engen Verbindung von definitorischer und ontologischer Unmöglich473 Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre« von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freiheit des Willens, in: Ders.: Auswahl vermischter Schriften, 2. Teil, Jena 1797, 364–400. Im Folgenden wird dieser Text nach der leicht gekürzten Fassung in Bittner/Cramer (1975), 310–324, zitiert unter dem Kurztitel Bemerkungen. 474 Reinhold, Bemerkungen, 18. Erstaunlicherweise wurde diesen scharfsinnigen Ausführungen Reinholds, die allesamt um die Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen kreisen, bislang nur wenig Beachtung geschenkt. Ganz im Kantischen Sinne wurden Reinholds späte kritische Anmerkungen vielmehr so interpretiert, als ob Reinhold »dieser Kantischen Konzeption einer Autonomie der reinen praktischen Vernunft […] nicht zu folgen« (275) und sie »nicht zu verstehen« (278) vermochte, wie etwa Stolzenberg (2004) argumentiert. 475 Vgl. dazu Teil IV.2.6. 476 Reinhold, Bemerkungen, 310. 477 Reinhold, Bemerkungen, 310. 478 Reinhold, Bemerkungen, 311.
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keit der bösen Willkür, wie sie bei Kant durch das »Unvermögen« 479 charakterisiert worden war, klar im Blick: »Wird […] von der Erfahrung, die uns über die Moralität der illegalen Handlung nichts sagen kann, weggesehen, und hält man sich an das intelligible Wesen und an diejenige Freiheit, in welcher Kant allein die Moralität aufgesucht wissen will: an das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein, so begreifen wir nicht etwa nur nicht, wie das Subjekt unmoralisch handeln könne, sondern wir begreifen wirklich, daß es nicht unmoralisch handeln könne« 480 . Aus Kants Bestimmung des Verhältnisses von Wille und Willkür folgt nach Reinhold nicht nur die definitorische Unmöglichkeit, eine Freiheit zum Bösen zu bestimmen, sondern ihre ontologische Unmöglichkeit: »[D]ie moralischböse Handlung wird nicht unbegreiflich, sondern schlechterdings unmöglich.« 481 Die schwache epistemische Unterscheidung zwischen Unmöglichkeit und Unvermögen einer Freiheit zum Bösen kollabiert nach Reinhold in letzter Hinsicht zu einem intelligiblen Fatalismus: das Unvermögen nähert sich asymptotisch der Unmöglichkeit an, jedoch ist dieser infinitesimale Rest gerade kein Raum für positive Freiheit. Kant, so Reinholds Freiheitsdiagnose, hat insofern »den Begriff des moralischen Gesetzes zu weit gefaßt«, indem er »den Willen für die praktische Vernunft selbst zu erklären und das Wollen auf die Tätigkeit durch praktische Vernunft zugleich einzuschränken und auszudehnen« 482 versucht habe. Freiheit, so Reinholds Definition, ist aber gerade »das Vermögen der Person, sich ihre Handlungsweise beim Wollen durch Wahl zu bestimmen«. Das »Vermögen, unmoralisch zu handeln« ist deshalb nach Reinhold »kein Unvermögen, sondern dasselbe Vermögen, ohne welches sich kein Moralischhandeln denken läßt« 483 . Reinhold analysiert nun das komplexe Verhältnis von Maxime als individuellem Gesetz und Wille sowie praktischer Vernunft als universellem Gesetz weiter, wobei er Wille und Vernunft in ein freies und reflexives Verhältnis bringt. Während Kant die These vertreten hatte, dass vom Willen die Gesetze und »von der Willkür die Maxi-
479 480 481 482 483
Kant, MdS, AA VI, 227. Reinhold, Bemerkungen, 321. Reinhold, Bemerkungen, 321. Reinhold, Bemerkungen, 323. Reinhold, Bemerkungen, 324.
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men« 484 ausgehen, gehen nach Reinhold »die Gesetze überhaupt nur von der Vernunft, und geht das moralische Gesetz von der Vernunft in ihrem Verhältnisse zum Willen, der nicht Vernunft ist, die Maximen aber von dem Willen in seinem Verhältnisse zur Vernunft aus«, wobei er die Maximen als »durch den Willen angenommene Maßregeln« bestimmt, »die entweder mit der Forderung der Vernunft übereinstimmen oder derselben widersprechen« 485 . Reinholds entscheidende Änderung hinsichtlich des Verhältnisses von Wille und Willkür gegenüber der Kantischen Theorie besteht also darin, dass er den Willen von der exklusiven Bindung an die praktische Vernunft und ihr Sittengesetz löst und diesen stattdessen in ein Verhältnis zur Willkür bringt: »Sowohl das Gesetz als die Maximen setzen im Willen selbst Willkür voraus. Eigentliche Willkür ist, wie schon ihr Name andeutet, nur in einem Willen denkbar« 486 . Reinhold identifiziert also die Willkür als eine Struktur des Willens selbst: »Die menschliche Willkür ist das dem Willen eigentümliche Vermögen zu wählen (zu küren)« 487 . Damit rückt zugleich die reflexive Dimension der Willkür als reflexiver Bereich von Volitionen zweiter Stufe ins Zentrum: »So wie keine Willkür ohne Willen, so ist kein menschlicher Wille ohne Willkür denkbar. Ohne sie würde sich im Menschen nur ein zwar durch Raisonnement (theoretische Vernunft) modifiziertes, aber doch nur bloßes Begehren, kein Wollen, keine freie Selbstbestimmung in Rücksicht auf ein Begehren denken lassen.« 488 Reinhold verortet die Willkür damit nicht mehr, wie Kant dies getan hatte, unter dem vernunftgesetzlichen Willen, sondern über diesem. Ein Wille nämlich, »von dem das Gesetz ausgeht und der auf nichts als aufs Gesetz geht«, könnte nach Reinhold eigentlich »nichts als eine metaphorische Bezeichnung der reinen Vernunft als der Quelle der Gesetze« sein. 489 »Der eigentliche Wille«, d. h. für Reinhold, »der menschliche« Wille, steht mit dem Sittengesetz nur dann in einer Beziehung, »wenn und inwiefern er (um mit Kant zu sprechen) dasselbe in seine Maxime aufnimmt« 490 . Reinhold argu484 485 486 487 488 489 490
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Kant, MdS, AA VI, 226. Reinhold, Bemerkungen, 311. Reinhold, Bemerkungen, 311. Reinhold, Bemerkungen, 311. Reinhold, Bemerkungen, 311 f. Reinhold, Bemerkungen, 312. Reinhold, Bemerkungen, 312. Reinhold bezieht sich hier auf eine Stelle in der
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mentiert damit also gegen Kant, der die These vertreten hatte, dass vom Willen die Gesetze ausgehen, und dreht das Verhältnis von Sittengesetz und Wille um, insofern »es nicht von ihm ausgeht, er selbst eben sowohl darauf gehen als auch nicht darauf gehen kann, inwiefern er Willkür hat [!] und in derselben und durch dieselbe frei ist. Er hört nicht auf, Wille zu sein, wenn er nicht aufs Gesetz geht, sondern beweiset sich eben auch dadurch als Wille« 491 . Bei Kant hingegen, so Reinholds Vorwurf, ist der Wille »nur eine Funktion der reinen Vernunft, die den Akt der freien Willkür ausmachte; die Willkür wäre nur frei, inwiefern sie vom sinnlichen Antrieb unabhängig ist, und sie wäre nur insofern von diesem Antrieb unabhängig, als sie Akt der bloßen Vernunft ist« 492 . Sowohl Wille als auch Willkür wären demnach Aspekte ein und derselben reinen praktischen Vernunft, einer Vernunft, »die tut, was sie nicht lassen kann, aber eben darum auch lassen muß, was sie nicht tun kann«, wobei diese Einschränkung gerade mit dem Begriff einer transzendentalen Freiheit als Spontaneität in Konflikt gerät, da diese »doch absolutes Vermögen ist«, wie Reinhold betont, und insofern frei zu jeder beliebigen Alternative sein müsste. 493 Der Wille im Sinne von Volitionen zweiter Stufe muss deshalb durch das Moment der Selbstreflexion von primären Willenstendenzen unterschieden werden. Reinhold differenziert insofern »das eigentliche Wollen, als das sich entschließen, von dem bloßen Begehren, das mit oder ohne Entschluß statt findet« 494 . Sowohl die Notwendigkeit der reinen praktischen Vernunft als reiner Wille, als auch die empirischen Bestimmungsgründe sind als solche noch nicht frei zu nennen. Vielmehr ist Freiheit erst da gegeben, wo sich der Mensch durch das Vermögen der Willkür auf diese Präferenzen erster Ordnung willentlich bezieht: »Begehren ist ein durch Lust und Unlust (von was immer für einer Art) begründetes Streben, welches notReligionsschrift: »[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen [Hervorh. J. N.].« 491 Reinhold, Bemerkungen, 312. 492 Reinhold, Bemerkungen, 319. 493 Reinhold, Bemerkungen, 319. 494 Reinhold, Bemerkungen, 312. Die Bestimmung des Willens
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wendig im Subjekte wirkt – Wollen ist Selbstbestimmung durch Freiheit, wobei das Subjekt selbst wirkt.« 495 Da Reinhold diese Unterscheidung auch in Kants abschließenden Bemerkungen vermisst, wirft er ihm vor, auf die Problematik des intelligiblen Fatalismus, speziell auf die Frage nach der Möglichkeit einer Freiheit zum Bösen, keine Lösung gefunden zu haben: 496 »Wäre die praktische Vernunft der Wille, so müßte entweder der sittlichböse Mensch gar keinen Willen haben, oder seine Praktische Vernunft das Böse tun und der Sittlichgute könnte nichts wollen als das Gesetz« 497 . Reinhold macht dagegen darauf aufmerksam, dass die Willensfreiheit immer schon den individuellen Gebrauch der Vernunft voraussetzt, der unabhängig von der allgemeinen Vernunft des Sittengesetzes ist: »Die Praktische Vernunft als praktisch beim Wollen […] wird vom guten und vom bösen Willen gemeinschaftlich vorausgesetzt« 498 . Damit bricht Reinhold die Kantische Alternative der einzigen beiden möglichen Bestimmungsgründe der Willkür – im Sinne von reiner praktischer Vernunft und im Sinne von empirischen und damit heteronomen Bestimmungsgründen zugunsten einer dritten Möglichkeit einer flexiblen und symmetrischen Indienstnahme der Vernunft auf. Die menschliche Willkür »ist nie vernunftlos und kann nie vernunftlos, aber sie kann vernunftmäßig und vernunftwidrig handeln« 499 . Reinhold kritisiert in diesem Zusammenhang auch Kants Versuch, »die Freiheit des Menschen als intelligiblen Wesens definieren zu wollen«. Der Mensch, so Reinhold, ist »weder intelligibles Wesen noch Sinnenwesen, sondern beides zugleich« – er ist nur insofern frei, »weil und in wiefern er beides zugleich ist, während Kant ihn nur, in wiefern er intelligibles Wesen ist, für frei zu halten scheint«. Die Person kann also nicht als »bloße reine Vernunft verstanden werden«, da sie so zwar in Freiheit der Vernunft besteht, nicht aber »Freiheit des Willens hat«. 500
Reinhold, Bemerkungen, 313. Reinhold, Bemerkungen, 318: »Diese Fragen kann ich mir aus der kantischen Theorie der Freiheit entweder gar nicht oder nur nach den Prinzipien des intelligiblen Fatalismus beantworten« 497 Reinhold, Bemerkungen, 313. 498 Reinhold, Bemerkungen, 313. 499 Reinhold, Bemerkungen, 316. 500 Reinhold, Bemerkungen, 321. 495 496
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Zusammenfassung: Ein nur vorläufiges Ende der Freiheitsdebatte
Die Freiheitsdebatte um das Autonomie-Problem im Ausgang von Kants Kritik der praktischen Vernunft bis hin zu Kants letztem Wort in der Metaphysik der Sitten lässt sich rückblickend als gemeinschaftlich-kontroverses Projekt einer Bestimmung der individuellen Willkür charakterisieren. Zusammenfassend entfaltet es sich in einen mehrschrittigen, konsequenten Gedankengang: (1) Kants systematischer Beitrag in der Religionsschrift besteht darin, den individuellen Gebrauch der Freiheit am Paradigma des moralisch Bösen weiter zu analysieren, womit er die Betrachtung der Freiheit zum Guten in der Kritik der praktischen Vernunft perspektivisch komplementiert und der ontologischen Anforderung nach alternativen Möglichkeiten der Freiheitsentscheidung gerecht zu werden versucht. Dies wird besonders dort deutlich, wo Kant von einem individuellen »Gebrauch der Freiheit« 501 bzw. von dem »ganzen Gebrauch der Freiheit« 502 spricht, der das moralisch Gute wie Böse mit einschließt. Gegenüber dem Begriff einer Kausalität der Vernunft rückt dabei der Begriff der Maxime als individuelles Gesetz ins Zentrum. Eine wichtige Modifikation betrifft in diesem Zusammenhang auch Kants Neubewertung der Neigungen: Sie werden nun nicht mehr als auszuschließende, heteronome Momente, sondern als primäre Willenstendenzen aufgefasst, die als zu integrierende Momente der Willensbildung – durch Inkorporation in eine Maxime – grundsätzlich freiheitsdifferent sind. Ebenso stellt sich die moralische Triebfeder der Achtung aus dieser Perspektive nicht mehr als ein quasi-automatisch ablaufender Prozess dar, der im bloßen Durchschlagen der praktischen Vernunft in die Handlung besteht. Vielmehr steht die Achtung nun selbst zur Disposition, insofern sie, wie auch die Neigungen, als bloße inklinierende Willenstendenz erst durch Reflexion in die Maxime aufgenommen werden muss, um handlungswirksam werden zu können. Die rationale Anforderung nach Verständlichkeit der Handlung stellt für Kant allerdings ein großes Problem dar: Angesichts des Dilemmas zwischen einem grundlosen Dezisionismus auf der einen und einem unendlichen Regress von Meta-Maximen
501 502
Kant, RGV, AA VI, 21; 31; 38; 40. Kant, RGV, AA VI, 25.
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auf der anderen Seite setzt Kant die Freiheit zum Bösen in Form eines subjektiven Grundes voraus, der prinzipiell »unerforschlich« ist. (2) Die Bedeutung von Reinholds Freiheitslehre besteht angesichts des Autonomie-Problems darin, dass er Kants Gedanken eines »Gebrauchs der Freiheit« im Sinne des Gebrauchs und Missbrauchs der Vernunft weiter bestimmt. Dadurch ist es nun möglich, das moralisch Böse als Folge rationaler Deliberation zu verstehen. Zentral ist hierbei Reinholds strenge Unterscheidung zwischen Wille und praktischer Vernunft, die er jedoch nicht einander unverbunden entgegensetzt, sondern im Begriff eines Gebrauchs der Vernunft als reflexiv aufeinander bezogen denkt. Im Gegensatz zu Kant, der den Grund der Freiheit des Menschen im »Charakter seiner Gattung« verortet hatte, will Reinhold gerade die Freiheit des individuellen Charakters denkbar machen. Zu diesem Zweck hypostasiert und individuiert Reinhold Kants Voraussetzung eines unerforschlichen subjektiven Grundes der Freiheitsentscheidung zu einem opaken Grundvermögen. Reinholds Bestreben, der bis dahin in der Debatte unbestimmten Willkür einen eindeutigen Ort zuzuweisen, führt jedoch durch ihre Hypostasierung zu einem Gegenextrem – ihrer autarken Abschottung und Zementierung – einer »inneren Zitadelle« 503 . (3) Schillers Beitrag zur Lösung des Autonomie-Problems kann in seinem Begriff des Geistes erblickt werden, den er, wie Reinhold den Willen, vom Vermögen der reinen praktischen Vernunft abgrenzt und auf dieses zugleich reflexiv bezieht. Neben Reinholds Willensbegriff kann Schiller von Kants Begriff der Urteilskraft profitieren, welche als ein eigenes Grundvermögen neben Vernunft und Verstand eine eigene Gesetzlichkeit der Zweckmäßigkeit besitzt, die sich im Sinne der »subjektiven Allgemeinheit« einer Maxime und der Willensharmonie weiter analysieren lässt. Anders als Reinhold denkt Schiller seinen Begriff des Geistes nicht als ein abgeschottetes Grundvermögen, sondern als holistisch-emergentes Produkt des harmonischen Zusammenwirkens der menschlichen Grundprinzipien von Vernunft und Natur. Da Schiller jedoch Freiheit in struktureller Analogie zum Vermögen der ästhetischen Urteilskraft konzipiert, gerät dadurch die moralisch-normative Dimension der Freiheit aus dem Blick. Speziell die Freiheit zum Bösen kann nicht mehr auf Basis ästhetischer Begrifflichkeit als Modus einer Willensharmonie erklärt 503
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Vgl. zu dieser Metapher: Berlin (1969), 135.
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werden, da Schiller Moralität und Schönheit aufs Engste miteinander verknüpft. Schiller gelingt es also nicht, zu zeigen, wie im Verhältnis der den Geist konstituierenden Prinzipien von Form- und Stofftrieb eine Freiheit zum Bösen gedacht werden kann, die dem Verdacht eines, wenn auch ›anmutigen‹, Indifferentismus entgehen könnte. Dadurch aber schlägt die Schillersche Willenstheorie in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht um: Freiheit scheint nur im Guten und Schönen einen möglichen Ausdruck zu finden. (4) Im Ausgang von Kant und Reinhold hat Fichte in seiner Wissenschaftslehre nova methodo – ähnlich wie Kant in seiner Religionsschrift – seine Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre durch die Entwicklung einer individuellen Perspektive komplementiert. Wie Reinhold und Kant, so versucht auch Fichte einen Begriff individueller Willkür zu denken, der weder mit der reinen praktischen Vernunft, noch mit einem rein empirisch determinierten Begehrungsvermögen oder bloßer Indifferenzfreiheit identisch ist. Ins Zentrum rückt dabei sein Begriff des reinen Willens, dessen interne Struktur der Notwendigkeit und des Sollens sich, anders als Kants gleichlautender Begriff, nicht auf das allgemeine Sittengesetz, sondern auf die voluntative Selbsttreue der individuellen Person bezieht. Dieser Begriff ist insofern ein reflektierter Mittelbegriff, als in ihm die Struktur des Übergangs von Unbestimmtheit zur Bestimmtheit der Entscheidung gefasst ist. Die Identität der Person denkt Fichte, ähnlich wie Schiller, als ein harmonisches Willensgefüge, in welchem die Person ihrem Wesensgesetz gemäß handelt. Allerdings gelingt es Fichte nicht, seinen Begriff des reinen Willens für eine Theorie des Bösen fruchtbar zu machen, dergemäß auch eine unmoralische Handlung als Produkt rationaler Deliberation gefasst werden kann. Stattdessen entrückt Fichte das Böse durch Analogisierung mit der Trägheitskraft der Natur in einen Bereich des Privativen, in welchem nicht rational agiert, sondern nur unreflektiert reagiert wird. (5) Gegenüber Reinholds Isolation der Willkür hat Kant in seiner Metaphysik der Sitten versucht, diese wieder an das Gefüge der Vermögen anzubinden und in seinen Autonomie-Begriff zu integrieren. Da eine Verortung der Willkür im Vermögen der reinen praktischen Vernunft begrifflich ausgeschlossen ist – hier wäre begrifflich keine Freiheit gegen das Sittengesetz möglich –, verortet er sie nun zwischen Vernunft und empirischer Handlung. So wird zwar eine Freiheit zum Guten denkbar: Der reine Wille bestimmt die Willkür, die durch die Achtung gesetzeskonforme Maximen wählt und zur Die Bestimmung des Willens
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Handlung motiviert. Eine Freiheit zum Bösen bleibt jedoch weiterhin nicht verständlich, so dass die böse Willkür, wenn nicht als Unmöglichkeit, so doch als ein Unvermögen beschrieben werden muss. Ein willkürlich vernunftwidriger Gebrauch der Vernunft ist nach Kant dagegen definitorisch ausgeschlossen. 504 Eine dritte Art von definitorisch unproblematischer, objektiver Regelhaftigkeit existiert jedoch für Kant hinsichtlich einer moralisch qualifizierbaren Freiheit nicht. Nur insofern eine moralisch gute Entscheidung im Bereich der Regelhaftigkeit des Sittengesetzes liegt, ist diese Handlung verständlich. Unterliegt sie ausschließlich dem Naturgesetz, so ist sie keine Handlung mehr, sondern nur ein erkennbares Ereignis. Verlässt sie aber beide Arten von Gesetzmäßigkeiten, so fällt sie als ein »Unding« gänzlich aus dem System des transzendentalen Idealismus heraus. 505 Das Autonomie-Problem scheint also im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus grundsätzlich nicht behebbar zu sein: Dem Problem einer Freiheit zum Bösen liegt eine unauflösbare »Antinomie der praktischen Vernunft« 506 zu Grunde. Die idealistische Perspektive der Grundlegungsschriften auf Freiheit als Autonomie der Vernunft und die reale Perspektive der Religionsschrift auf Freiheit als Willkür können von Kant letztlich nicht konsistent vereinheitlicht werden. Der ›idealistische‹ Ausgang vom Guten und der ›realistische‹ Ausgang vom Bösen verhalten sich, bildhaft gesprochen, in ihrer Verlängerung zueinander windschief: Sie treffen sich nicht an einem Einheitspunkt, sondern führen aneinander vorbei in die be504 Vgl. zu diesem aporetischen Unternehmen treffend Brandt (2010), 84 f.: »Die moralische Notwendigkeit erzwingt eine Selbstverursachung des Bösen in einer je eigenen intelligiblen Tat, die ihre Realität aus dem kategorischen Imperativ schöpft und sich als Ausgangspunkt alles Guten in dieser Welt erweist. Eine faustische Vision, an die zu glauben große Geisteskraft erfordert.« 505 Vgl. Brandt (2010), 79: »Im Zwei- Weltensystem der Transzendentalen Kosmologie, das der KpV als Grund diente, ist die Willkür ein exterritoriales Gebilde […] Kant benutzt einen Freiheitsbegriff, der in der dualen Weltordnung nicht lokalisierbar ist, er benötigt und benutzt und verbietet ihn, um eine Entscheidung für oder gegen das moralische Gesetz des ›mundus intelligibilis‹ zu rekonstruieren«. 506 Vgl. Klemme (2008), 223: »[Es] liegt offenbar eine Antinomie der praktischen Vernunft vor, nämlich zwischen [der] These der praktischen Vernunft, dass wir Menschen uns faktisch zum Guten wie zum Schlechten entscheiden können, und der These der reinen praktischen Vernunft, dass wir das moralisch Schlechte nicht wählen können, ohne unsere Freiheit aufzuheben.« Vgl. auch Klemme (2013), 39: »Im Unterschied zu den in den drei Kritiken vorgetragenen Antinomien zeichnet sich die Antinomie von 1797 durch eine Besonderheit aus: Es gibt keine Möglichkeit, sie durch den Rekurs auf den transzendentalen Idealismus aufzulösen.«
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grifflich dunkle Perspektive eines Unvermögens. Dieses Problem hat Reinhold in seinem »letzten Wort« zur Freiheitsdebatte klar erkannt. Kants Versuch einer definitiven Entscheidung der Freiheitsdebatte führt also gerade nicht dazu, dass sie ad acta gelegt werden kann. Vielmehr stellt sie sich nun als möglicher Ausgangspunkt für eine neue Debatte dar. Diese Debatte ereignet sich nun freilich auf einem höheren Niveau, insofern sie die vorherige in sich ›aufgehoben‹ hat. Durch den problematischen Begriff des Unvermögens und Reinholds Replik erweist sich Kants Schlusswort der Metaphysik der Sitten also weniger als ein Endpunkt, sondern gerade als Ausgangspunkt einer neuen Debatte um das Autonomie-Problem. Wie kann ihr Gedankengang konsequent fortgeführt werden?
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V. Freiheit der Person. Historisch-systematische Perspektiven
1.
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Die Situierung des Willens. Schellings Transformation des Kantischen Autonomiebegriffs in den Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit »Vermögen des Guten und Bösen«. Schellings Projekt individueller Freiheit
Mit Kants abschließender Stellungnahme in der Metaphysik der Sitten und Reinholds Replik hat die historische Debatte um das Autonomie-Problem nur einen scheinbaren Schluss- und Höhepunkt erreicht. Denn auch Schelling hat nachweislich an diese Debatte angeknüpft, und dies bereits in seinen frühesten Schriften. 1 Eine entscheidende Rolle kommt jedoch Schellings 1809 erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände 2 zu. Schellings Freiheitsschrift kann, so die im Folgenden vertretene These, als ein systematischer Beitrag zum Autonomie-Problem im Ausgang von Kant verstanden werden, wobei besonders Kants Kritik der Das Interesse an einer Freiheit zum Bösen wird bereits in Schellings 1792 erschienenen Tübinger Magisterdissertation De Malorum Origine deutlich. Darin zitiert Schelling mehrmals Kants im April desselben Jahres erschienenen Aufsatz Über das radikale Böse in der menschlichen Natur. Vgl. Schelling, HKA I, 63. 2 Schellings Freiheitsschrift wird im Folgenden zitiert nach: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 22011 unter Angabe der Sigle FS und der Seitenzahl. Schellings Werke werden ansonsten, soweit bereits ediert, zitiert nach der Historisch-kritischen Ausgabe der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (HKA), I. Abteilung, Werke, hg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs u. Hermann Krings unter Angabe von Band- und Seitenzahl, oder, sofern noch nicht dort ediert, nach den von seinem Sohn Karl Friedrich August Schelling herausgegebenen Sämtlichen Werken (SW) unter Angabe von römischer Bandund arabischer Seitenzahl. 1. Abteilung Bd. I–X; 2. Abteilung Bd. XI–XIV, Stuttgart 1856–1861. Gesperrt gedruckte Wörter werden im Folgenden kursiv wiedergegeben. 1
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praktischen Vernunft, die Religionsschrift und Metaphysik der Sitten sowie Reinholds Willenstheorie der Briefe über die Kantische Philosophie und seiner späten Replik einen historisch-systematischen Bezugspunkt darstellen. 3 Wie gestaltet sich Schellings Anknüpfung an die nachkantische Freiheitsdebatte? Schelling steht vor der systematischen Aufgabe, vernünftige Selbstbestimmung im Sinne der rationalen Anforderung (Kant) und das Moment individueller Willensentscheidung im Sinne der ontologischen Anforderung (Reinhold) in einen komplexen Begriff von Freiheit zu integrieren und dabei die Zurechenbarkeit der je individuellen Freiheitstat angesichts der Alternativen des Guten und Bösen begrifflich weiter durchsichtig zu machen, als dies bei Kant (als »Unvermögen«) und Reinhold (als »Grundvermögen«) möglich gewesen war. 4 Schellings Begriff menschlicher Freiheit ist deshalb aufs Engste an die Möglichkeit, genauer: an den Begriff des Vermögens einer Freiheit zum Bösen geknüpft. Sein Anspruch kann gerade darin erblickt werden, Kants Unvermögen einer Freiheit zum Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht auch andere Freiheitstheorien für Schelling eine Rolle spielen. Zu nennen sind vor allem die Theorien Spinozas, Leibniz’, Jacobis, Fichtes und Hegels, zumal angesichts der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und System. Auf das Verhältnis Kant-Reinhold-Schelling mit Blick auf das Autonomie-Problem hat als einer der ersten Hermanni (1994), 133 f. hingewiesen. Auf die Bedeutung von Reinhold (und Schiller) für die Schellingsche Willensfreiheitstheorie weist ferner die Studie von Peetz (1995) hin, wonach »Schellings Freiheitskonzept die Frucht einer im Abstand von einem Jahrzehnt wiederholten Auseinandersetzung mit Reinhold ist« und »Reinholds Kant-Kritik« das »verborgene Movens« des Schellingschen Freiheitsbegriffs darstellt (202). Ebenso hat Bondeli (2001) mit Blick auf Schellings Freiheitsbegriff von einer »frappanten Annäherung an Reinholds Freiheitsauffassung« (250) gesprochen, ohne diese jedoch genauer zu untersuchen und ohne die zweifellos bei Schelling vorhandenen Abweichungen bzw. theoretischen Fortschritte gegenüber Reinhold im Einzelnen zu reflektieren. Auch in der angelsächsischen Forschung wird der Einfluss Reinholds auf Schelling gewürdigt. Vgl. Kosch (2006), die sich im Zusammenhang mit Schellings Freiheitsbegriff »Reinhold’s complaint« (55) bezüglich einer Freiheit zum Bösen widmet: »[M]orally responsible agents are capable of good and evil, and accounts of freedom that reduce freedom to rational self-determination cannot account for this. By 1809, Schelling had come to the conclusion that the investigation into the conditions of possibility of rational self-determination could shed no further light on the question of the conditions of possibility of moral agency in a more general sense, because it could shed no light at all on the possibility of moral evil.« (88). 4 Hier steht Kants Aussage im Hintergrund, wonach die Freiheit des Menschen »als intelligiblen Wesens«, »dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen […] nicht […] definiert werden könne« (Kant, MdS, AA VI, 226). 3
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Bösen als ein Vermögen positiv zu entwickeln. Der Begriff des Bösen stellt also eine Art Leitfaden dar, entlang dessen sich Schellings Freiheitsbegriff in seinen verschiedenen Dimensionen entfaltet. Gegenüber Kants definitorischer Zurückhaltung in der Metaphysik der Sitten argumentiert Schelling gerade dafür, dass die Möglichkeit, sich bewusst gegen das Gute und für das Böse zu entscheiden, »notwendig zum Begriff [einer freien Willkür] gehöre«, dass also eine »Bastarderklärung« der Willkür widerspruchsfrei denkbar ist. 5 Die Besonderheit von Schellings Theorie individueller Freiheit besteht darin, dass der ›idealistische‹ Begriff von Freiheit als Autonomie und Kausalität der Vernunft nun ausdrücklich zu einem Problem wird. Insofern lässt sich Schellings Freiheitsschrift zum einen als eine Kritik am philosophischen ›Idealismus‹ im Ausgang von Kant lesen, 6 jedoch im Wesentlichen als eine systematische und konsequente Weiterführung der nachkantischen Freiheitsdebatte angesichts des Problems einer Freiheit zum Bösen verstehen, die die ideale Perspektive autonomer Vernunft um eine reale Dimension ergänzen möchte. Schellings auf den ersten Blick dunkle und metaphysisch überladene Gedanken der Freiheitsschrift lassen sich, so die im Folgenden vertretene These, durch den historisch-systematischen Bezug auf die nachkantische Freiheitsdebatte als eine überaus kritische Bestimmung des Willens und der individuellen Person lesen, im Rahmen derer zahlreiche ›vorkantische‹ Freiheitskonzepte revitalisiert werden. Bislang ist Schellings Freiheitsbegriff, speziell derjenige der Freiheitsschrift, nur selten auf seinen systematischen Gehalt hin befragt worden, 7 ja man konnte in diesem Zusammenhang lange Zeit gar von einer »Rezeptionsverweigerung« 8 sprechen. Und auch Schellings Freiheitsbegriff in seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit stand lange Zeit »kaum im MittelKant, MdS, AA VI, 227. Vgl. auch Sturma (1995), 154 f. sowie 165. 7 Auf das Erfordernis einer systematischen Rekonstruktion von Schellings Begriff menschlicher Willensfreiheit hat Buchheim (2012), 187, hingewiesen: »Obwohl Schelling eine eigene Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit geschrieben hat, ist der Begriff, den er von ihr entwickelt, so gut wie unbekannt und von der Forschung […] bisher noch nicht klar und im ganzen Umfang herausgestellt worden.« Die folgende Untersuchung bezweckt, anknüpfend an Buchheim (2012), diese Forschungslücke weiter zu schließen und fokussiert dabei auf die darin aufzeigte »Situiertheit« (199) des Schellingschen Freiheitsbegriffs. 8 Sturma (1995), 150. 5 6
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punkt des systematischen Interesses.« 9 In jüngster Zeit ist hier allerdings ein Wandel festzustellen, der sich darin zeigt, dass Schellings Begriff der Freiheit und der Person ein verstärktes Interesse zukommt. 10 Das systematische Potenzial von Schellings Freiheitsbegriff erschließt sich dann, wenn man diesen nicht isoliert betrachtet, sondern als eine Antwort auf ein historisch-systematisches Problem – das Autonomie-Problem im Ausgang von Kant. Da Schelling bislang nur selten im Kontext dieses Problems gelesen wurde, erschien sein Beitrag der Freiheitsschrift häufig als monolithisch, 11 ohne erkennbare Anknüpfungsmöglichkeiten zu bieten – weder für die historische, noch für die aktuelle Freiheitsdebatte. 12 Auch wurde Schellings Freiheitsschrift nur selten in den Kontext seiner eigenen, früheren Schriften zum Freiheitsproblem gestellt. Es existiert denn auch, abgesehen von einzelnen Versuchen, noch keine Studie, die Schellings Freiheitsbegriff durch systematischen Bezug auf das Autonomie-Problem erörtert. 13 Neben der auf den ersten Blick monolithischen Stellung der Freiheitsschrift irritieren auch Schellings unterschiedliche Perspektivierungen der Freiheit innerhalb seines philosophischen Schaffens. Sturma (1994), 284. Vgl. auch Sturma (1995), 150: »Obwohl Schellings Arbeit zu den wenigen klassischen philosophischen Texten gehört, die den Begriff der Freiheit ausdrücklich im Titel führen, ist sie im Rahmen der Bemühungen um eine Philosophie der Freiheit weitgehend unberücksichtigt geblieben.« 10 Vgl. Sturma (1995), 150 f.: »Schellings Freiheitsschrift enthält Einsichten, die von hohem systematischen Interesse sind und mit Gewinn in die gegenwärtigen Bemühungen um eine Theorie von Freiheit und Selbstbestimmung eingebracht werden können.« Neuere Studien, die sich systematisch mit Schellings Freiheitsbegriff befassen sind: Buchheim (2004a); Buchheim/Hermanni (Hg.) (2004); Sturma (2004); Florig (2010); Dörendahl (2011); Buchheim (2012) und Schwenzfeuer (2013). 11 Auf die Notwendigkeit einer Situierung von Schellings Freiheitsschrift hat Zöller (2012), 266, hingewiesen. 12 Vgl. Buchheim (2012), 188 Fn.: »Es liegen zwar eine ganze Reihe von guten einschlägigen Arbeiten vor, die jedoch stärker texthermeneutische als systematische Absichten verfolgen und daher zwar mehr oder weniger genau die einzelnen Züge nachzeichnen, sich aber kaum um ihre Integration zu einem Gesamtkonzept der Willensfreiheit gemäß Schellings ›Untersuchungen‹ bemühen und dieses auch nicht ins Verhältnis zu den Standardanforderungen der heutigen Freiheitsdebatte setzen.« 13 Peetz (1995) verortet zwar Schellings Freiheitsbegriff im Kontext der Kant-Reinhold-Debatte und stellt auch einen Bezug zu Schillers Freiheitsbegriff her, reflektiert jedoch primär auf den epistemischen Aspekt menschlicher Freiheit, wie sich auch am Titel seiner Schrift (»Die Freiheit im Wissen«) zeigt. Die in sich differenzierte (praktische) Struktur des Willens tritt dabei in den Hintergrund. Einen instruktiven Anfang macht diesbezüglich Buchheim (2012). 9
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Einige Äußerungen aus seiner Phase der Identitätsphilosophie, also in den Jahren von 1801 bis 1806, legen nahe, er interessiere sich philosophisch nicht für die spezifisch endliche und individuelle Freiheit des Menschen, sondern allein für eine Form von absoluter Freiheit, in welcher Freiheit und Notwendigkeit identitätsphilosophisch derart zusammenfallen, dass sich endliche Freiheit darin aufzulösen droht. 14 Davon verschieden ist hingegen Schellings Perspektive der Freiheitsschrift. In ihr wird der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit nicht zu einer Identität aufgehoben, sondern als Grundspannung vorausgesetzt, innerhalb derer individuelle Freiheit ihren spezifischen Ort hat. 15 Erst mit dem Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit kommt, so Schelling, »der innerste Mittelpunkt der Philosophie zur Betrachtung« 16 , und »ohne den Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit würde nicht Philosophie allein, sondern jedes höhere Wollen des Geistes in Tod versinken«. 17 Freiheit und Notwendigkeit sind also für Schellings Freiheitsschrift in ihrem Verhältnis keine von vornherein ›ausgemachte Sache‹, sondern vielmehr Stein des Anstoßes. Eine besondere Bedeutung kommt nach Schelling der Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Freiheit zum Bösen zu – in In seinem Würzburger System von 1804 (System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere, in: SW VI, 131–576) behandelt Schelling die Freiheit innerhalb der »Construction der idealen Welt und ihrer Potenzen«, im Bereich der zweiten Potenz, die dem Handeln entspricht, wo er die »Lehre von der Freiheit, dem Bösen, der Schuld etc.« (537 ff.) thematisiert. Schelling vertritt dort die These »daß alle andere Freiheit außer der, die im Göttlichen ist, nichtig sey, und Gott allein wahrhaft frei heißen könne« (539). Schelling bestimmt hier die Freiheit also im Wesentlichen als absolute Eigenschaft, die mit Endlichkeit inkompatibel ist: »Der menschlichen Seele Freiheit zuzuschreiben, wurde man vorzüglich dadurch verleitet, daß man ihr erst einen besondern Willen als ein eignes Vermögen zuschrieb, welches ein bloßes Produkt der Imagination ist. In der Seele als solcher finden wir wahrhaft nichts als einzelne Akte des Wollens; aber außer diesen einzelnen Akten des Wollens gibt es so wenig noch einen besondern Willen, als es etwa außer den einzelnen ausgedehnten Dingen noch eine besondere Ausdehnung, oder außer den körperlichen Dingen noch eine besondere Körperlichkeit gibt. Die einzelnen Akte des Wollens sind aber in der Seele als Seele jederzeit nothwendig bestimmt, und also nicht frei, nicht absolut. […] demnach absolut frei ist nur das Göttliche als das Wesen der Seele; der Mensch ist nicht für sich selbst frei« (541 f.) Für weitere Stellen vgl. ebd., 542 f. Zum Problem absoluter Freiheit im Gegensatz zu Schellings Anliegen in der Freiheitsschrift vgl. auch Buchheim (2011a), XI. 15 Vgl. Buchheim (2011a), XI f. 16 Schelling, FS, 4 (SW VII, 333). 17 Schelling, FS, 11 (SW VII, 338). 14
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Komplementarität zu Kant, dessen Autonomielehre, wie sie in der Kritik der praktischen Vernunft ihre Vollendung findet, durch das Faktum der Vernunft vom Gelingen des moralisch Guten ausgegangen war. Entgegen Heideggers wirkmächtiger Interpretation der Freiheitsschrift, wonach darin eine »Metaphysik des Bösen« 18 entwickelt werde, der zufolge »das Böse metaphysisch notwendig« 19 sei, wird im Folgenden dafür argumentiert, dass gerade Schellings Begriff des Bösen als ein systematischer Beitrag zum Autonomie-Problem im Ausgang von Kant angesehen werden kann. Mehr noch als die Frage nach einer Freiheit zum Guten stellt das Problem einer Freiheit zum Bösen nach Schelling den »Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit« 20 dar. Zugleich hebt Schelling – in Abhebung von Kants abschließender Definition einer Freiheit des Bösen als ein »Unvermögen« in der Metaphysik der Sitten 21 – explizit den positiven, nicht privativen, sondern aktiven und pervasiven Status des Bösen hervor: »Der reale und lebendige Begriff« der Freiheit besteht, wie Schelling betont, gerade darin, »daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen« 22 , ja »ein lebendiges positives Vermögen zum Guten und zum Bösen« 23 ist. 24 So klar und eindrücklich Schellings Intention des Freiheitsprojekts zu Tage tritt, so schwer ist es allerdings, seinen systematischen Beitrag zum Autonomie-Problem im Dickicht verschiedener Themenstränge der Freiheitsschrift – u. a. der Theodizee-Problematik 25 , der Schöpfungsproblematik 26 , der Systemproblematik 27 – zu isolieren. 28 Schellings Freiheitsschrift hat, so scheint es, mit Ausnahme Heidegger, GA 42, 168. Heidegger, GA 42, 277. Heidegger fährt fort: »Das Böse könnte daher nur unter einer metaphysischen Bedingung nicht sein, wenn nämlich das Absolute selbst nicht sein müßte. Es muß aber sein, sofern überhaupt Seiendes ist.« 20 Schelling, FS, 25 (SW VII, 352). 21 »Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen« (Kant, MdS, AA VI, 226). 22 Schelling, FS, 25 (SW VII, 352). 23 Schelling, FS, 26 (SW VII, 354). 24 Vgl. zu Schellings realem Begriff der Freiheit auch Theunissen (1965), 178. 25 Vgl. dazu Hermanni (1994). 26 Vgl. dazu Brouwer (2011). 27 Vgl. dazu Jürgensen (1997); Sandkaulen (2004); Köhler (2006). 28 Zur Freiheitsschrift in Sachen Theodizee vgl. vor allem Hermanni (1994) und Buchheim (2009). Vgl. auch Buchheim (2011a), 106: »Daß dieses Problem so sehr ins Zentrum rückt, hängt damit zusammen, daß Schelling nunmehr die menschliche 18 19
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des Titels und der eminenten Bedeutung des Begriffs des Bösen, zunächst einmal nur wenig mit der spezifisch nachkantischen Freiheitsdebatte gemein. Allzu oft erwecken auch Schellings Metaphern – wie etwa »Grund« 29 , »Licht« 30 , »Dunkel« 31 , »Finsternis« 32 , »Sehnsucht« 33 – eher den Eindruck einer im schlechten Sinne des Wortes ›metaphysischen‹ oder ›romantischen‹ Verschleierung als einer klaren begrifflichen Bestimmung des Freiheitsbegriffs, so dass der systematische Beitrag zur nachkantischen Freiheitsdebatte erst aufgeschlüsselt werden muss. Als roter Faden dient dabei im Folgenden Schellings komplexer Begriff des Willens. Da Schelling Freiheit am Leitfaden dieses Willensbegriffs als ein »lebendiges« Vermögen ansieht, sollen seine verschiedenen vitalistischen Metaphern als Ausdrücke und phänomenologische Hinweise freiheitstheoretischer Aspekte, d. h. als Bestimmungen eines solchen personalen Willens verstanden werden: Entgegen Kants Rede von der »Unerforschlichkeit« der Freiheit zum Bösen und Reinholds Begriff eines opaken »Grundvermögens« versucht Schelling das Problem böser Willkür – trotz zahlreicher Metaphern – gerade weiter aufzuhellen: »Aber eben wie nun im einzelnen Menschen die Entscheidung für Böses oder Gutes vorgehe, dies ist noch in gänzliches Dunkel gehüllt und scheint eine besondere Untersuchung zu fordern [Hervorh. J. N.].« 34 Ebenso wie in der Freiheitsdebatte im unmittelbaren Ausgang von Kant, wird auch in Schellings Freiheitsschrift die interne Struktur des Willens am Leitfaden der Freiheit zum Bösen thematisch und weiter differenziert. So dunkel Schellings Freiheitsschrift also auch auf den ersten Blick anmutet, sie besitzt die Struktur eines Gedankengangs. Das darin verfolgte Willensfreiheitsprojekt verläuft »wie gesprächsweise« 35 oder endliche Freiheit als eingebettet in ein ›System‹ der gesamten Wirklichkeit betrachtet und nicht als ein isoliertes Phänomen oder auch Prinzip aller Phänomene wie in seinen Frühschriften.« 29 Vgl. v. a. Schelling, FS, 80 (SW VII, 409); 85 (SW VII, 41). 30 Vgl. v. a. Schelling, FS, 75 (SW VII, 403); 77 (SW VII, 405); 80 (SW VII, 408). 31 Vgl. v. a. Schelling, FS, 71 (SW VII, 399); 85 (SW VII, 413). 32 Vgl. v. a. Schelling, FS, 32 (SW VII, 360); 37 (SW VII, 364); 47 (SW VII, 374). 33 Vgl. v. a. Schelling, FS, 33 (SW VII, 360); 34 (SW VII, 361). 34 Schelling, FS, 54 (SW VII, 382). 35 Schelling, FS, 81, Fn. (SW VII, 409). In dieser offenen Form des Gesprächs zeigt sich Schellings kritische ›Randständigkeit‹ zu den Systementwürfen der klassischen deutschen Philosophie bei Fichte und Hegel und zugleich auch eine Parallele zu den Brief-Entwürfen bei Reinhold und Schiller. Die Bestimmung des Willens
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über verschiedene Stationen, die, einer Freiheitslogik folgend, systematisch aufeinander aufbauen. 36 Schellings Begriff ist dabei holistisch, »da die individuelle Freiheit doch auf irgend eine Weise mit dem Weltganzen […] zusammenhängt« 37 , so dass »der Zusammenhang des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht«, wie Schelling betont, »Gegenstand einer notwendigen Aufgabe« ist. 38 Der Begriff der Freiheit muss also, »wenn er überhaupt Realität hat, kein bloß untergeordneter oder Nebenbegriff, sondern einer der herrschenden Mittelpunkte des Systems sein« 39 . Schellings Freiheitsbegriff ist deswegen eigentlich keine Freiheitstheorie im strengen Sinne eines Systems 40, sondern eine Darstellung und Explikation des Begriffs personaler Freiheit mit hypothetischem Status. 41
1.2
Freiheit »vom StandPunkt des Bewusstseyns«: Schellings frühe Auseinandersetzung mit Kant und Reinhold
Dass sich Schelling mit dem von Reinhold namhaft gemachten Autonomie-Problem bereits früh auseinandersetzte, zeigt die Tatsache, dass er im selben Jahr, in welchem Kant in seiner Metaphysik der Sitten ein vorläufiges »Schlusswort« in der Freiheitsdebatte gesprochen hatte, selbst in die Debatte in seiner Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Litteratur 42 eingegriffen und diese dann Eine hilfreiche Übersicht über den Argumentationsgang der Freiheitsschrift findet sich in Buchheim (2011a), 169–188, wobei auch Schellings eigene Gliederungspunkte, wie sie in seinem Jahreskalender 1809 enthalten sind, angegeben werden. 37 Schelling, FS, 9 (SW VII, 337). 38 Schelling, FS, 11 (SW VII, 338). 39 Schelling, FS, 9 (SW VII, 336). 40 Vgl. dazu Schellings eigene Aussage in der Vorrede der Freiheitsschrift: »Dergleichen [scil. »ein fertiges, beschlossenes System«; J. N.] hat der Verfasser bis jetzt nie aufgestellt, sondern nur einzelne Seiten eines solchen […]; somit seine Schriften für Bruchstücke eines Ganzen erklärt.« (5; SW VII, 334). 41 Schellings Theorie versteht sich daher als ein Angebot des Autors an den Leser: »Wer es nicht so von ihm nehmen kann oder will, der nehme überhaupt nichts von ihm: er suche andere Quellen.« (FS, 81; SW VII, 410). Vgl. zum hypothetischen Status des Schellingschen Freiheitsbegriffs auch Buchheim (2012), 191. 42 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur. Im Folgenden zitiert nach der Sigle AÜ. Dieses Werk wurde unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre im selben ersten Band seiner Philosophischen Schriften zusammen mit der Freiheitsschrift im Jahre 1809 veröffentlicht (201–340). 36
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drei Jahre später in seinem System des transzendentalen Idealismus 43 fortgeführt hat. 44 Aber auch schon zwei Jahre vor der Kant-ReinholdDebatte hatte Schelling sich mit Reinholds Freiheitstheorie kritisch auseinandergesetzt und dieser – trotz ihres »empirischen« Standpunkts – hinsichtlich der Entwicklung eines Begriffs von individueller Freiheit »grosse Verdienste« attestiert. 45 Wie lässt sich Schellings frühe Freiheitstheorie angesichts des Autonomie-Problems bestimmen? Schellings frühe Stellungnahme kann ganz allgemein als »Versuch einer Synthese« 46 der Freiheitstheorien Kants und Reinholds angesehen werden, so wie sie unmittelbar vor dem Erscheinen von Schellings Allgemeinen Übersicht im Jahr 1797 in Kants Metaphysik der Sitten und in Reinholds sich darauf beziehender späten Replik vorlagen. Es gilt, wie Schelling mit Blick auf die Debatte zwischen Kant und Reinhold betont, »den Widerstreit auszugleichen, der in den Behauptungen zweier berühmten Philosophen über diesen Gegenstand statt zu finden scheint« 47 . Dieser »Widerstreit« besteht in der jeweiligen Auffassung des Willens beider Philosophen, wobei besonders der Begriff der Willkür positiv weiter bestimmt werden soll als dies bei Kant – durch die Charakterisierung als »Unvermögen« 48 – der Fall gewesen war. Die sich entgehenstehenden Positionen Kants und Reinholds werden so bereits für den frühen Schelling zu systematischen Ausgangs- und Orientierungspunkten seiner freiheitstheoretischen Überlegungen, in deren Zentrum der Begriff des Willens steht. Wie verhält sich Schelling zu beiden Freiheitsentwürfen? InsFriedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). Im Folgenden zitiert unter der Sigle STI. 44 Der erste Band seiner Philosophischen Schriften enthielt neben der Freiheitsschrift wohl nicht ohne Grund die für die individuelle Freiheit gegenüber seinem Identitätssystem sensibleren idealistischen Frühschriften. Vgl. dazu auch Buchheim (2011b), IX ff. 45 Vgl. Schelling, IPP, HKA I, 2, 171 Fn.: »Reinholds Theorie [der Freiheit] hat sehr grosse Verdienste, aber in seinem System (das nur vom empirischen Ich ausgeht), ist sie unbegreiflich, und es würde ihrem scharfsinnigen Urheber selbst schwer fallen, seinem Systeme Einheit, und seiner Theorie der Freiheit einen durch das oberste Princip, (das nicht nur dem Ganzen zu Grunde liegen, sondern durch alle einzelne Theile des Systems hindurch herrschen soll), begründeten Zusammenhang mit seinem übrigen Systeme zu geben.« 46 Schmidt (2012), 36. 47 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 157. 48 Kant, MdS, AA VI, 227. 43
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gesamt lässt sich Schellings Theorie als ein Versuch verstehen, den Kantischen Freiheitsbegriff gegenüber demjenigen Reinholds zu verteidigen, gleichzeitig jedoch Kants problematische Äußerungen über den Willensbegriff so zu rekonstruieren, dass er der in gewissen Punkten berechtigten Reinholdschen Kritik standhält. Dabei kann Schellings Freiheitstheorie trotz aller Kritik an Reinhold als ein unausgesprochenes Eingeständnis der Richtigkeit des Reinholdschen Insistierens auf der Willkür als eigentliche Freiheit der individuellen Person gelesen werden. Reinhold war, so Schellings Urteil, »nicht dazu bestimmt, das eigentliche Problem der Philosophie zu lösen, aber dazu, es auf die bestimmteste Art vorzustellen« 49 . Der Kantische Standpunkt des absoluten Willens bzw. der reinen praktischen Vernunft ist nach Schelling insofern dem Reinholdschen überlegen, als von dessen Position her die Willkür abgeleitet und erklärt werden kann, indem Kant »sich über den StandPunkt des gemeinen Bewusstseyns« 50 erhebe, Reinhold hingegen aus seinem Begriff der Willkür denjenigen des Willens nicht erklären könne, weil diesem dabei »nichts übrig [bleibe] als sich auf das Urtheil des gemeinen praktischen Verstandes zu berufen, das er selbst nicht weiter erklären kann« 51 . Während Reinhold bei seiner Analyse der Willkür im Bereich des Empirischen stehen bleibe, könne Kant »aus Principien beweisen« 52 , dass der Wille »als freie Willkür erscheinen« müsse, 53 »obgleich dieses Vermögen im absoluten Willen (der allgemein gesetzgebend ist) gar nicht gedenkbar sey« 54 – was der Grund dafür war, dass Kant die Willkür zum Bösen als ein »Unvermögen« bezeichnet hatte. Schelling kritisiert also Reinhold ausdrücklich nicht deswegen, dass er eigentliche Freiheit als Freiheit der Willkür begreift, sondern Vgl. dazu auch Schellings allgemeine Charakterisierung von Reinholds Philosophie in seiner Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie (1795). Im Folgenden zitiert unter der Sigle IPP: »Er [Reinhold] war nicht dazu bestimmt, das eigentliche Problem der Philosophie zu lösen, aber dazu, es auf die bestimmteste Art vorzustellen, und wer weiß nicht, welche grosse Wirkung eine solche bestimmte Vorstellung des eigentlichen Streitpunkts gerade in der Philosophie hervorbringen muß, wo diese Bestimmung gewöhnlich nur durch einen glüklichen Vorblik auf die zu entdekende Wahrheit selbst möglich wird.« (99). 50 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 161. 51 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 162. 52 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 161. 53 Vgl. dazu auch Kant, KrV B 581: »Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint [Hervorh. J. N.].« 54 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 162. 49
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nur die Art des Begreifens selbst, d. h. den philosophischen Standpunkt, von dem aus er diese Willkür zu begründen sucht. Schellings Kritik richtet sich nicht gegen Reinhold, insofern er Freiheit als Willkür bestimmt – darin folgt Schelling ausdrücklich Reinhold – sondern insofern, als er seinen Freiheitsbegriff vom »gemeinen Bewusstsein« ableitet, d. h., dass Reinhold den Freiheitsbegriff nicht hinreichend innerhalb eines philosophischen Systems (welches nach Schelling immer vom Absoluten ausgehen muss) thematisiert. Mit dem Begriff der Willkür rückt der Begriff endlicher, individueller Freiheit ins Zentrum von Schellings Überlegungen. Zwar hatte Schelling spezifisch menschliche, und daher endliche Freiheit in seiner Schrift Vom Ich als Princip aus dem Jahr 1795 bereits thematisiert. 55 Allerdings hatte darin »das lezte Ziel alles Strebens« in der »Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit« bzw. in der »Zernichtung derselben« bestanden. 56 Das Ziel für Schellings Freiheitsbegriff im Ausgang von Kant und Reinhold besteht nun darin, den Begriff individuell zurechenbarer Freiheit vom Standpunkt des absoluten Willens her zu entwickeln bzw. zu deduzieren 57 , – also »das Bewusstseyn der Freiheit begreiflich zu machen (gleichsam zu construiren)«, was »durch den Begriff der Willkür« geschehen soll. 58 Schelling geht dabei nicht – wie später in seiner Identitätsphilosophie – von einem Zusammenfall von Freiheit und absolutem Willen aus – dies würde die Gefahr eines intelligiblen Fatalismus mit sich führen –, sondern bringt beide in ein Abhängigkeitsverhältnis: »Wir bedürfen also zur Erklärung der freien Willkür, (als einer Thatsache des gemeinen Bewusstseyns,) der Idee von absoluter Freiheit; ohne diese begreifen wir keine Freiheit der Wahl; mit ihr allein begreifen wir nicht, wie noch eine Wahl überhaupt in uns möglich, und warum das ursprüngliche Gesetz in uns nicht zur Nothwendigkeit geworden ist.« 59 Der 55 »Das Unbegreifliche ist nicht, wie ein absolutes, sondern wie ein empirisches Ich Freiheit haben solle, nicht wie ein intellectuales Ich intellectual, d. h. absolut-frei seyn könne, sondern wie es möglich seye, daß ein empirisches Ich zugleich intellectual seye, d. h. Kaussalität durch Freiheit habe.« (IPP, HKA I, 2, 167 f.). 56 »Im endlichen Ich ist Einheit des Bewußtseyns, d. h. Persönlichkeit. Das unendliche Ich aber kennt gar kein Object, also auch kein Bewußtseyn und keine Einheit des Bewußtseyns, Persönlichkeit. Mithin kann das lezte Ziel alles Strebens auch als Erweiterung der Persönlichkeit zur Unendlichkeit, d. h. als Zernichtung derselben vorgestellt werden.« (Schelling, IPP, HKA I, 2, 128). 57 Vgl. Schelling, STI, HKA I, 9, 277. 58 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 163. 59 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 165. Vgl. auch Buchheim (2011b), XIII.
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Willkür kommt damit die entscheidende Funktion einer ratio cognoscendi der Freiheit zu: 60 »Daß es eine Freyheit des Willens giebt, davon läßt sich das gemeine Bewußtseyn nur durch die Willkühr überzeugen, d. h. dadurch, daß wir in jedem Wollen uns einer Wahl zwischen Entgegengesetzten bewußt werden.« 61 Für Schelling steht damit fest, dass »Freyheit = Willkühr ist« 62 . Die Freiheit der Willkür ist insofern aufs Engste mit dem Begriff der Endlichkeit verbunden: »Mit der Einen Handlung, durch welche das Absolute in uns sich selbst zum Object (die Freiheit zur Willkür) wird, entfaltet sich auch ein ganzes System endlicher Vorstellungen, und zugleich das so tief in uns liegende Gefühl unsrer moralischen Endlichkeit, wodurch wir erst in der AußenWelt, als der Sphäre unsrer Endlichkeit, einheimisch werden.« 63 Der absolute Wille kann an sich nicht frei genannt werden – hier knüpft Schelling an Kants abschließende Klärungen in der Metaphysik der Sitten 64 an: »Vom Willen absolut gedacht kann man also nicht sagen, weder daß er frey, noch daß er nicht frey sey, denn das Absolute kann nicht als handelnd nach einem Gesetze gedacht werden, das ihm nicht durch die innere Nothwendigkeit seiner Natur schon vorgeschrieben wäre.« 65 Der absolute Wille kann nur in Gestalt der Willkür als Erscheinung als frei gedacht werden: »Die Willkür«, so Schelling, »ist zur Möglichkeit des Vorstellens unsers freien Handelns notwendig« 66 . Wie ist diese Erscheinung des absoluten Willens als Willkür näher zu verstehen? Schelling möchte durch den Begriff der Willkür der ontologischen Anforderung an menschliche Willensfreiheit gerecht werden. Dabei wird zwangsläufig das Moment der Wahl und Entscheidung relevant, welches auf dem Prinzip alternativer Möglichkeiten, d. h. dem Unterschied von guten und bösen Handlungen basiert: »Diese Entgegensetzung [von Gut und Böse; J. N.] muß real seyn, d. h. beide Handlungen müssen im Bewusstseyn als gleich MÖGLICH vorkommen. Daß die Eine oder die Andre ausgeschlossen wird, muß aus einer positiven Handlung des Willens erklärt werden [Her-
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Dagegen hatte Kant die ratio cognoscendi im Sittengesetz erblickt. Schelling, STI, HKA I, 9, 275. Schelling, STI, HKA I, 9, 275. Schelling, STI, HKA I, 9, 276. Kant, MdS, AA VI, 226. Schelling, STI, HKA I, 9, 275. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 157, Anm.
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vorh. J. N.].« 67 Schelling begreift die Willkür also konkret als ein positives Vermögen der Wahl zwischen Gut und Böse, wobei er das Böse – in Anknüpfung an Kants Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen 68 nicht als einen Mangel des Guten, sondern ausdrücklich als eine »reale Entgegensetzung« begreift: »[W]ir können uns keine positiv moralische Handlung denken, ohne ihr eine positiv unmoralische entgegenzusetzen« 69 . Wie kann nun genau der Streit zwischen Kant und Reinhold über die Freiheit des Willens geschlichtet werden? Zunächst stellt Schelling die Freiheitsbegriffe Kants und Reinholds gegenüber, um den Grund ihres Dissenses zu identifizieren, und sie danach einer Lösung zuzuführen: »Kant behauptet in der Kritik der praktischen Vernunft, der Wille und die praktische d. h. gesetzgebende Vernunft seyen Eins und dasselbe.« Schelling fährt fort: »Reinhold behauptet, [›]Moralität und Zurechnungsfähigkeit der Handlungen lassen sich nur unter der Voraussetzung einer sowohl von der Selbstthätigkeit der Vernunft als von dem Streben der Begierde verschiedenen Freiheit des Willens denken.‹« 70 »Der Grund dieses Wiederspruchs« zwischen Kant und Reinhold liegt nach Schelling »im Object selbst«, d. h. im Willen: 71 »Wenn Kant behauptet: Der Wille an sich ist weder frei noch unfrei, also auch weder gut noch böse; Reinhold dagegen sagt, der Wille, als solcher, könne nicht anders, als frei seyn, und er sey nur insofern Wille, als er böse oder gut seyn könne: so ist doch hier offenbar von zwei ganz verschiednen Willen die Rede.« 72 Schel-
Schelling, AÜ, HKA I, 4, 157. Schelling bezieht sich dabei auf die folgende Stelle bei Kant, welcher er »[v]ortreffliche und aus der Tiefe der menschlichen Natur geschöpfte Anmerkungen« (Schelling, AÜ, HKA I, 4, 156 Anm.) entnimmt: »Die Begriffe der realen Entgegensetzung haben auch ihre nützliche Anwendung in der praktischen Weltweisheit. Untugend (demeritum) ist nicht lediglich eine Verneinung, sondern eine negative Tugend (meritum negativum). Denn Untugend kann nur Statt finden, in so fern als in einem Wesen ein inneres Gesetz ist (entweder bloß das Gewissen oder auch das Bewußtsein eines positiven Gesetzes), welchem entgegengehandelt wird. Dieses innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung, und die Folge kann bloß darum Zero sein, weil diejenige, welche aus dem Bewußtsein des Gesetzes allein fließen würde, aufgehoben wird. Es ist also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht bloß ein Mangel.« (AA II, 182 f.). Vgl. dazu auch Hermanni (1994), 130 Fn. 69 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 157. 70 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 157. 71 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 161. 72 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 161. 67 68
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ling wirft also Kant und Reinhold eine Äquivokation des Willensbegriffs vor, die aufgelöst werden muss. Wie kann diese Äquivokation geklärt werden? Schelling versucht, beide Auffassungen des Willens als Aspekte ein und derselben Sache anzusehen, d. h. einen in sich differenzierten Willensbegriff anzusetzen: »Es fragt sich, ob nicht das Object (der Wille) selbst eine solche doppelte Ansicht möglich macht.« 73 Schellings Vermittlungsversuch beider Willensfreiheitsbegriffe besteht weiter darin, den Begriff des endlichen Willens näher zu spezifizieren, indem er »vom StandPunkt des Bewusstseyns« 74 aus verstanden wird: »Der Wille also, wenn er erscheint, muß nothwendig als Willkür erscheinen« 75 , denn »der Charakter des endlichen Geistes« besteht darin, »daß er in’s unendliche fort sich selbst erscheine, sein eignes Object sey, für sich selbst empirisch werde«. 76 Die Willkür kann damit als willentliches Selbstbewusstsein bzw. Reflexion des Willens angesehen werden, 77 wobei »empirisch« hier nun nicht mehr gleichzusetzen ist mit dem Kantischen Begriff bloßer Erscheinung – ein Schritt, den Schelling hier über Kant hinaus geht. Dadurch vermag Schelling die Freiheit auch positiv als Willkür zu bestimmen, ohne damit »eine Bastarderklärung (definitio hybrida)« zu geben, »welche den Begriff im falschen Lichte darstellt« 78 , wie Kant einen solchen Versuch in der Metaphysik der Sitten genannt hatte. Die Freiheit der Willkür, so betont Schelling gegenüber Kants Bedenken, »wird dadurch, daß sie bloß zu unsrer Endlichkeit gehört, und insofern Erscheinung ist, nicht sofort zu einem bloßen Schein« 79 , sondern hat ein eigenes, relativ positives Gepräge: »[D]iese Erscheinung des absoluten Willens erst ist die eigentliche Freyheit« 80 . Aus dem »falschen Licht« der bloßen Erscheinung bei Kant und aus dem »Unvermögen« einer Freiheit zum Bösen ist nun in Schellings Theorie der Ansatz einer realen Struktur eines in sich differenzierten Willens geworden, die entgegen der Kantischen Restriktion 81 73 74 75 76 77 78 79 80 81
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Schelling, AÜ, HKA I, 4, 161. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 163. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 162. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 162. Vgl. auch Schmidt (2012), 36 f. Kant, MdS, AA VI, 227. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 163; 165. Schelling, AÜ, HKA I, 4, 276. Vgl. Kant, MdS, AA VI, 226: »Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das
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nun nicht nur frei genannt, sondern als frei definiert werden kann: »Die Willkür also kann erklärt [!] werden, als der absolute Wille, unter den Schranken der Endlichkeit« 82 . Die Schranken der Endlichkeit bedeuten, dass der Wille als Willkür vor Alternativen, d. h. sich entgegengesetzte Willenstendenzen, gestellt ist und sich so durch Reflexion und Entscheidung zu einer Handlung bestimmen muss: »Jener Gegensatz gleich möglicher Handlungen im Bewußtseyn ist also die Bedingung, unter welcher allein der absolute Willensact dem Ich selbst wieder zum Object werden kann.« 83 Die Willkür ist nach Schellings früher Freiheitslehre Erscheinung, jedoch nicht bloß empirisch scheinhaft, sondern endliches Bewusstsein in Form eines Aspektes des Willens – der Willkür des reinen Willens. Dadurch steht die Willkür nun in einem reflexiven Verhältnis zum absoluten Willen (mit Kant gesprochen: der reinen praktischen Vernunft), wodurch Schelling diese nicht mehr der Willkür über-, sondern gerade reflexiv unterordnet, insofern er Gegenstand der Willkür ist. Schelling bestimmt deswegen die Willkür als »das zwischen dem Subjectiven und Objectiven des Wollens schwebende, eins durch das andere Bestimmende, oder das sich selbst Bestimmende in der zweyten Potenz, welchem allein die Freyheit zugeschrieben wird« 84 . Die Willkür markiert damit den Bereich von Volitionen zweiter Stufe, die nicht mit dem reinen Willen und den Neigungen identisch sind: Reflectire ich also blos auf die objective Thätigkeit als solche, so ist im Ich bloße Naturnothwendigkeit; reflectire ich blos auf die subjective, so ist in ihm nur ein absolutes Wollen, welches seiner Natur nach kein anderes Object hat, als das Selbstbestimmen an sich; reflectire ich endlich auf die über beyde gehobene zugleich die subjective und objective bestimmende Thätigkeit, so ist im Ich Willkühr, und mit derselben Freyheit des Willens [Hervorh. J. N.]. 85
Die Willkür steht also reflexiv über der Notwendigkeit der Natur und derjenigen der reinen praktischen Vernunft, über Natur- und FreiVermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definiert werden – wie es wohl einige [scil. Reinhold] versucht haben, – obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt.« 82 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 167. 83 Schelling, STI, HKA I, 9, 275. 84 Schelling, HKA I, 9, 277. 85 Schelling, HKA I, 9, 277. Die Bestimmung des Willens
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heitsgesetz, womit Schellings Theorie des liberum arbitrium in eine große systematische Nähe zum Begriff einer Freiheit des Geistes bei Augustinus 86 und Leibniz 87 rückt. Schelling sieht sich durch die Reflexion des Willens in der Willkür (als »Erscheinung«) also in die Lage versetzt, die im Ausgang von Kant zur Debatte stehenden Freiheitspositionen insofern zu verstehen, als nach ihm »[a]us diesen verschiedenen Richtungen der Reflexion die verschiedenen Systeme über die Freyheit« als mögliche Freiheitsverhältnisse des Willens entstehen, deren letztes Modell einzig und allein zu überzeugen vermag: Zunächst der empirische (Prä)determinismus, welcher »die Freyheit schlechthin läugnet«, dann der intelligible Fatalismus, der die Freiheit »blos in die reine Vernunft, d. h. in jene ideelle, unmittelbar auf das Selbstbestimmen gehende Thätigkeit setzt, (durch welche Annahme man genöthigt wird, bei allen der Vernunft zuwider bestimmten Handlungen ein bloßes grundloses Quiesciren derselben anzunehmen, wodurch aber eben alle Freyheit des Willens aufgehoben wird,)«, 88 ferner »ein System der absoluten Gesetzlosigkeit«, welches sich auf die problematische Annahme gründet, »daß in allem Thun und Handeln kein Gesetz und keine Notwendigkeit sey«, 89 schließlich aber »eine über die beyden, ideelle und objective hinausgehende Thätigkeit als diejenige, welcher allein Freyheit zukommen kann« – die Freiheit der Willkür. 90 Trotz Schellings Aufwertung des bloßen Scheins der Willkür zur Erscheinung und Reflexion hat sie keine eigenständige, substanzielle Realität, denn »[d]ie Endlichkeit ist nicht unser ursprünglicher Zustand, und diese gantze Endlichkeit ist nichts, was durch sich selbst Vgl. das reflexive Verhältnis der mens zur ratio bei Augustinus, LA I, 19, 68, 101. Leibniz, NA II, 21, 150 f.: »Die Freiheit des Geistes aber, welche der Notwendigkeit entgegengesetzt ist, betrifft bloß den Willen, und zwar sofern er sich vom Verstand unterscheidet. Sie ist dasjenige, was man freie Willkür nennt, womit gemeint sein soll, daß der Willensakt trotz den stärksten Gründen oder Motiven, die der Verstand dem Willen vorhält, nichtsdestoweniger immer zufällig bleibt und keine absolute und sozusagen metaphysische Notwendigkeit besitzt.« Dass seit 1797 Leibniz wieder einen affirmativen Bezugspunkt im Schellingschen Denken darstellt, zeigt dessen Äußerung in den Ideen zu einer Philosophie der Natur, wo Schelling mit Blick auf Leibniz programmatisch fordert: »Die Zeit ist gekommen, da man seine Philosophie wieder herstellen kann.« In: HKA V, hg. von Manfred Durner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 77. 88 Schelling, STI, HKA I, 9, 277. 89 Schelling, STI, HKA I, 9, 300. 90 Schelling, STI, HKA I, 9, 277. 86 87
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bestünde« 91 . Es gelingt Schelling nicht, die individuelle Willkür zu begründen, da er keinen Begriff einer selbständigen Person als Trägerin der Willkür besitzt. Die vom absoluten Willen an ihm unterschiedene endliche Willkür ist, trotz ihrer positiven Definition, nach wie vor – diesmal jedoch ontologisch – hybrid, insofern sie, ihre Endlichkeit transzendierend, zum absoluten Willen zurückstrebt, ohne diesen erreichen zu können: Die Willkür »ist nichts Objectives, was an sich Realität hätte, sondern das Absolut-Subjective, die Anschauung des absoluten Willens selbst, wodurch dieser in’s Unendliche fort sich selbst Object wird« 92 . Schelling gelingt es also innerhalb seiner Theorie der Willkür nicht, den drohenden infiniten Regress höherstufiger Volitionen aufzuhalten, nachdem der absolute Wille bzw. das Sittengesetz als ›Regress-Stopper‹ ausscheidet. Die individuelle Willkür droht sich in ihrer Reflexivität aufzulösen und zu keiner bestimmten Handlung gelangen zu können. Schelling hat das Problem reflexiver Willkürfreiheit jedoch bereits im System des transzendentalen Idealismus erkannt: »Ich muß also das Wollen schon gewollt haben, ehe ich frey handeln kann, und gleichwohl entsteht mir der Begriff des Wollens, mit dem des Ichs, erst durch jene Handlung.« 93 Aus einem solchen »offenbare[n] Circel« kann nur dann ausgebrochen werden, wenn dem sich selbst bestimmenden Subjekt »das Wollen vor dem Wollen zum Object werden kann«. Die Möglichkeit der Auflösung dieses Zirkels bzw. unendlichen Regresses immer höherstufiger Volitionen liegt in einem Begriff des Wollens, »der mir durch das Handeln einer Intelligenz entstünde«. 94 Die Lösung des Problems liegt also darin, »daß die Thätigkeit anderer Vernunftwesen, insofern sie durch Objecte fixirt oder dargestellt ist, dazu dient, mich zur Selbstbestimmung zu bestimmen« 95 . Personale Willensfreiheit ist demnach nur dann wirklich möglich, wenn sich das selbstbestimmte Individuum immer schon in einer Gemeinschaft anderer Personen befindet.
91 92 93 94 95
Schelling, AÜ, HKA I, 4, 165 f. Schelling, STI, HKA I, 9, 276. Schelling, STI, HKA I, 9, 239. Schelling, STI, HKA I, 9, 239. Schelling, STI, HKA I, 9, 252.
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1.3
Die Natur der Persönlichkeit
Schelling hat in seiner Freiheitsschrift den Versuch unternommen, die Möglichkeit und Wirklichkeit individueller Willkür zum Bösen (d. h. das Vermögen des Bösen) konsistent zu denken, und dazu den Rahmen des transzendentalen Idealismus seiner Frühschriften verlassen. Ein solcher Freiheitsbegriff hängt aufs Engste mit der individuellen Person bzw. der »Persönlichkeit« 96 zusammen, wie Schelling sie in der Freiheitsschrift in terminologischer Anlehnung an die Kantische Begrifflichkeit 97 nennt. In deutlicher Abgrenzung zu Kants Bestimmung der Persönlichkeit und auch in Abgrenzung zu seiner eigenen früheren Theorie, welche die »Zernichtung« 98 der Persönlichkeit zum Ziel hatte, ist es nun die endliche, individuelle Person, deren spezifische Freiheit und Zurechenbarkeit Schelling in den Blick nimmt. 99 Kant hatte hingegen in seiner Kritik der praktischen Vernunft die »Persönlichkeit« als ein allgemeines und intelligibles Wesensmoment bestimmt, der die individuelle und kontingente »Person«, »als zur Sinnenwelt gehörig«, »unterworfen ist«, so dass die Persönlichkeit als »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur« das eigentliche Selbst der Person konstituierte. 100 Besonders deutlich wird die Bedeutung von Schellings Begriff individueller Freiheit vor dem Hintergrund der Theorie seines Würzburger Systems, wo Schelling die These vertreten hatte, dass »es nichts Positives an den Dingen ist, wodurch sie endlich sind, sondern eine bloße Privation« 101 . Schelling hatte daraus geschlossen: Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). Während »Person« bei Kant das natürlich-vernünftige Wesen meint, bestimmt er die »Persönlichkeit« als »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur«. Die Persönlichkeit stellt damit den eigentlichen »Kern« der Person dar: Die Person ist »ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen […], so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört«. (Kant, KpV AA V, 87). 98 Schelling, AÜ, HKA I, 4, 128. 99 Vgl. zu dieser früheren Auffassung auch Schellings Brief an Hegel vom 4. Februar 1795: »Persönlichkeit entsteht durch Einheit des Bewußtseyns. Bewußtseyn aber ist nicht ohne Objekt möglich, für Gott aber d. h. für das absolute Ich, giebt es gar kein Objekt, denn dadurch hörte es auf, absolut zu seyn – mithin giebt es keinen persönlichen Gott, und unser höchstes Bestreben ist die Zerstörung unsrer Persönlichkeit, Übergang in die absolute Sphäre des Seyns, der aber in Ewigkeit nicht möglich ist – daher nur praktische Annäherung zum Absoluten, und daher – Unsterblichkeit.« (Briefe, HKA III, 1, 23). 100 Kant, KpV, AA V, 87. 101 Schelling, SW VI, 543. 96 97
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»Der Mensch ist nicht für sich selbst frei; nur das Handeln, was aus Gott stammt, ist frei«; »[i]n der Seele als solcher ist also keine Freiheit des Wollens«. 102 Schellings Willensprojekt individueller Freiheit geht einher mit einer metaphilosophischen Reflexion, welche die ›idealistische‹ Tradition des Autonomie-Gedankens im Ausgang von Kant nicht einfach ablösen, sondern systematisch um die Dimension der individuellen Existenz der Person und der Freiheit zum Bösen ergänzen will. Sein Freiheitsprojekt versteht sich also als eine ›realistische‹ Fortführung des (nach)Kantischen ›idealistischen‹ Begriffs vernünftiger Selbstbestimmung, dessen Verdienste um den Begriff vernünftiger Autonomie Schelling zweifellos anerkennt, jedoch mit Blick auf das Autonomie-Problem durch das Einbeziehen einer naturphilosophischen Dimension systematisch zu ergänzen sucht: »Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus.« 103 Schellings Freiheitstheorie lässt sich denn auch als eine Transformation der Kantischen Theorie autonomer Vernunft verstehen: »Allein der Idealismus selbst, so hoch wir durch ihn in dieser Hinsicht gestellt sind, und so gewiß es ist, daß wir ihm den ersten vollkommenen Begriff der formellen Freiheit verdanken, ist doch selbst für sich nichts weniger als vollendetes System, und läßt uns, sobald wir in das genauere und bestimmtere eingehen wollen, in der Lehre der Freiheit dennoch ratlos.« 104 Zwar ist durch die Kantische Theorie einer Autonomie der Vernunft ein erster Schritt zur Freiheit vollzogen worden, indem Freiheit als vernünftige Selbstbestimmung in Abhebung von der heteronomen Determination des Willens durch die Natur begriffen wurde. Allerdings wird durch die exklusive Bindung der Freiheit an den Bereich reiner praktischer Vernunft »die Untersuchung über menschliche Freiheit wieder ins Allgemeine zurückgeworfen« 105 , womit individuelle Freiheit gerade nicht gedacht werden kann. Es mangelt dem Autonomie-Gedanken reiner praktischer Vernunft, so Schelling, an der Möglichkeit, die »spezifische Differenz, d. h. eben das Bestimmte der menschlichen Freiheit zu zeigen« und so individuelle Freiheit konsistent denkbar zu machen. Es muss 102 103 104 105
Schelling, SW VI, 542. Schelling, FS, 29 (SW VII, 356). Schelling, FS, 23 (SW VII, 351). Schelling, FS, 24 (SW VII, 352).
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daher »der bloße Idealismus« 106 und damit auch seine Theorie einer Autonomie der Vernunft systematisch erweitert werden: »Der Idealismus, wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein ebenso leeres und abgezogenes System« 107 . Der Grund für die begriffliche Insuffizienz des Idealismus liegt, wie Schelling diagnostiziert, darin, dass er »einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit« 108 gibt. Schellings Formalismus-Vorwurf richtet sich speziell gegen die allgemeine Geltung des Sittengesetzes, welches sich dadurch profiliert und verwirklicht, dass es die Individualität der Person gerade ausschließt. In seinem System des transzendentalen Idealismus hatte Schelling bereits recht deutlich die Probleme der Kantischen Theorie einer Autonomie der Vernunft und ihres allgemeinen Sittengesetzes für das individuelle Freiheitsbewusstsein herausgestellt: »Dieses Gesetz wendet sich ursprünglich nicht an mich, insofern ich diese bestimmte Intelligenz bin, es schlägt vielmehr alles nieder, was zur Individualität gehört, und vernichtet sie völlig« 109 . Die realistische Ergänzung der idealistischen Freiheitslehre unternimmt Schelling nun dadurch, dass er in der Freiheitsschrift das Problem einer Freiheit zum Bösen durch Rekurs auf den Begriff des Willens weiter aufzuklären versucht. Schelling entwickelt den Begriff des individuellen Willens als eines Vermögens, welches zwar auf die Vernunft und ihre formale Dimension der Allgemeinheit bezogen, jedoch von dieser klar unterschieden ist. Neben dem veränderten Person- und Willensbegriff besteht Schellings realistische Ergänzung der Kantischen idealistischen Autonomie-Lehre in einem verschiedenem Naturbegriff, der nicht mehr, wie im idealistischen Gefolge Kants, »an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen« 110 ist. »[N]ur aus den Grundsätzen einer wahren Naturphilosophie«, so Schelling, »läßt sich diejenige Ansicht entwickeln, welche der hier stattfindenden Aufgabe vollkommen Genüge tut« 111 . Diese »wahre Naturphilosophie« ist eben jene zuvor geforderte Zusammenfügung aus idealistischen und realistischen
Schelling, FS, 24 (SW VII, 352). Schelling, FS, 28 (SW VII, 356). 108 Schelling, FS, 25 (SW VII, 352). 109 Schelling, STI, HKA I, 9, 272 f. Vgl. auch Sturma (2004), 64, der diesbezüglich von Schellings Entdeckung des »Paradoxon[s] der Autonomie« spricht. 110 Kant, KrV, A 114. 111 Schelling, FS, 29 (SW VII, 357). 106 107
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Momenten für einen Begriff individueller Freiheit. Sie soll nicht nur die Autonomie-Lehre um das Vermögen einer Freiheit zum Bösen ergänzen und dadurch »die spezifische Differenz, d. h. eben das Bestimmte der menschlichen Freiheit« 112 in Abhebung bringen, sondern auch das dadurch möglich gewordene individuelle Subjekt der Freiheit in einem größeren, es umgreifenden Kontext situieren, »da die individuelle Freiheit doch auf irgend eine Weise mit dem Weltganzen […] zusammenhängt« 113 . Durch diese systematische Einbeziehung der Natur zielt Schelling auf einen kompatibilistischen Freiheitsbegriff ab: »Jedes organische Individuum«, so Schelling, »ist als ein Gewordenes nur durch ein anderes, und insofern abhängig dem Werden, aber keineswegs dem Sein nach« 114 . »Abhängigkeit«, so Schelling weiter, »hebt Selbständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf. Sie bestimmt nicht das Wesen, und sagt nur, daß das Abhängige, was es auch immer sein möge, nur als Folge von dem sein könne, von dem es abhängig ist; sie sagt nicht, was es sei, und was es nicht sei« 115 . Schelling betrachtet im Rahmen seiner Naturphilosophie die Grund-Folge-Relation natürlich entsprungener Existenzen also gerade nicht als einen fatalistischen Notwendigkeitszusammenhang, 116 sondern als einen freiheitsermöglichenden und -begründenden Determinationszusammenhang, der trotz seiner Bestimmtheit alternative Möglichkeiten der Wahl zulässt, womit er ebenfalls der Problematik des freiheitsvernichtenden Indeterminismus zu entgehen sucht. Schelling bezeichnet in seinem Jahreskalender das Vorhaben der natürlichen Entwicklung eines Begriffs individueller Freiheit als »naSchelling, FS, 24 (SW VII, 352). Schelling, FS, 9 (SW VII, 353). 114 Schelling, FS, 18 (SW VII, 346). 115 Schelling, FS, 18 (SW VII, 346). 116 Vgl. Schellings Spinoza-Kritik: »Der Fehler seines Systems liegt keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin, daß es Dinge sind – in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichen Substanz selber, die ihm eben auch ein Ding ist. Daher sind seine Argumente gegen die Freiheit ganz deterministisch, auf keine Weise pantheistisch. Er behandelt auch den Willen als eine Sache, und beweist dann sehr natürlich, daß er in jedem Fall des Wirkens durch eine andere Sache bestimmt sein müsse, die wieder durch eine andere bestimmt ist usf. ins Unendliche. Daher die Leblosigkeit seines Systems, die Gemütlosigkeit der Form, die Dürftigkeit der Begriffe und Ausdrücke, das unerbittlich Herbe der Bestimmungen, das sich mit der abstrakten Betrachtungsweise vortrefflich verträgt; daher auch ganz folgerichtig seine mechanische Naturansicht.« (FS, 22; SW VII, 349). 112 113
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turphilosophische Deduction« 117 , so dass er die individuelle Person gewissermaßen ›von unten nach oben‹ konstruiert. 118 Vor diesem kompatibilistisch interessierten Hintergrund tritt die für Schellings Freiheitsprojekt zentrale naturphilosophische Unterscheidung »zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist« 119 auf, »auf welche die […] Untersuchung sich gründet« 120 . »Jedes […] in der Natur entstandene Wesen«, so Schelling, »hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im Grunde nur Ein und das nämliche ist, von den beiden möglichen Seiten betrachtet.« 121 Unter »Grund von Existenz« versteht Schelling den natürlich-kausalen Ermöglichungsgrund individueller Existenz, gewissermaßen ihren ›Nährboden‹, unter »Existenz« dagegen eine solche Seinsweise, wie sie auf dieser Basis konkret in Erscheinung tritt und sich in ihrer individuellen Freiheitsentscheidung behauptet. 122 Gemäß seiner Naturphilosophie, die zentrale Prämissen seiner früheren Identitätsphilosophie teilt, knüpft Schelling an ein Denkmodell an, demzufolge kontradiktorische Gegensätze nicht als absolut getrennt und unvermittelbar, sondern als polare Gegensätze oder »Potenzen« angesehen werden können, 123 sofern sie auf natürliche
117 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Entwürfe und Tagebücher 1809–1813. Philosophie der Freiheit und der Weltalter, hg. von Lothar Knatz/Hans Jörg Sandkühler/Martin Schraven, Hamburg 1994, 14, Eintrag vom 20. März 1809. 118 Vgl. zu diesem Projekt auch Shibuya (2005), 143: »Schelling findet erst in der Freiheitsschrift denjenigen Ansatz, durch den er den transzendentalphilosophisch verstandenen Begriff der Persönlichkeit lebendig, d. i. in der Kontinuität mit der Natur auffassen kann. Die bis dahin bloß ideal verstandene Persönlichkeit erhält nunmehr ihre Basis in der Realität.« 119 Schelling, FS, 29 (SW VII, 357). 120 Schelling, FS, 30 (SW VII, 357). Vgl. Buchheim (1996a), 223: »An der […] Unterscheidung [scil. von Grund und Existenz] hängt die Freiheitsschrift – und nicht nur die Schrift, sondern zuletzt auch der Freiheitsgedanke Schellings.« 121 Schelling, FS, 35 (SW VII, 362). Heidegger hat dieses »Grundgefüge« als »Seynsfuge« bezeichnet. Vgl. Heidegger GA 42, 188. Diese Unterscheidung hat ihren letzten Grund in Gott selbst, so dass man diesbezüglich von einem »internen Dualismus« sprechen kann, mithilfe dessen Schelling das Theodizee-Problem zu lösen versucht. Vgl. zur theologischen Dimension der Grund-Existenz-Unterscheidung und diesem Begriff Hermanni (1994), 73 ff. Im Folgenden wird allein auf die willentstheoretische Explikation menschlicher Freiheit fokussiert. 122 Vgl. Buchheim (1996a), 228 ff.; Heidegger GA 42, 187; Peetz (2006), 506; Buchheim (2011a), 113. 123 Vgl. Schelling, Darstellung, HKA X, 135: »Jede bestimmte Potenz bezeichnet eine bestimmte quantitative Differenz der S[ubjektivität] und O[bjektivität]«.
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Entitäten bezogen sind. 124 Das ideale und reale Prinzip sind demnach nicht kategorisch verschiedene, sondern polare Gegensätze, zwischen denen ein Kontinuum herrscht: »[B]eide sind, obwohl nur in bestimmtem Grade, Eins in jedem Naturwesen.« 125 »Grund von Existenz« und »Existirendes« werden also auf dasselbe individuelle natürliche Wesen bezogen als zwei Aspekte bzw. Momente seiner Konstitution. 126 Dies bedeutet für jeden Pol, dass von ihm der jeweils andere nicht getrennt, sondern in ihm bereits angelegt ist, ähnlich einem Magnet, der durch immer weitere Zerteilungen seine Polarität nicht verliert, insofern in jedem Pol dasselbe Verhältnis wiederkehrt. 127 Ein Magnet besitzt keine absoluten Pole, derart, dass eine Halbierung des Magneten zwei isolierte Pole ergäbe. Vielmehr kehrt in jedem Pol die Unterscheidung wieder, gleich einer selbstähnlichen Figur. 128 Es handelt sich also nur um relative, oder wie Schelling sagt, »quantitative« Verhältnisse, nicht aber um absolute, wie Schelling in seiner Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 darlegt. Die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem sind keine absoluten, sondern nur relative Gegensätze, bei denen in einem Pol ein Moment das andere überwiegt. 129 Schellings Analyse naturentsprungener individueller Existenz verläuft willenstheoretisch. Seine realistisch-willenstheoretische An124 Schelling hatte in seinen 1797 erschienenen Ideen zu einer Philosophie der Natur [IPN] die These vertreten, dass »Anschauung und Begriff, Form und Gegenstand, Ideales und Reales ursprünglich eines und dasselbe ist« (101) und zugleich gefordert: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen.« (Schelling, IPN, AA V, 107). Zur naturphilosophischen Situierung der Freiheitsschrift vgl. Schwenzfeuer (2012), 267 f. sowie Florig (2010), 127, wonach »die Konstitution des Geistes sinnvoll als Fortführung der die Naturphilosophie beherrschenden Potenzierungslogik verstanden werden kann« (127). 125 Schelling, FS, 35 (SW VII, 363). 126 Vgl. Heidegger GA 42, 187, wonach die Grundunterscheidung »innerhalb dessen vollzogen [wird], was bisher unbestimmt ›existentia‹ heißt«. 127 Vgl. Schelling, Darstellung, HKA X, 138: »Weder A noch B kann an sich gesetzt werden, sondern nur das Eine und Selbe mit der überwiegenden Subjectivität und Objectivität zugleich und der quantitativen Indifferenz beider.« 128 Nach Schelling gilt, »daß an den Enden des Magnets kein reines + oder - M, anzutreffen ist, sondern beides nur mit überwiegendem + oder -, B und A, zugleich.« (Darstellung, HKA X, 153). 129 Vgl. Schelling, Darstellung, HKA X, 138: »[W]enn quantitative Differenz […] gesetzt ist, so ist es nur unter der Form des Ueberwiegens der Einen über die andere«.
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näherung an das Freiheitsproblem fasst Schelling in den auf den ersten Blick dunklen Satz: »Wollen ist Ursein.« 130 Der Fundamentalbegriff, mit welchem die Welt als Ort von Freiheit verstanden werden kann, ist also der Begriff des Willens: »Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen.« 131 Im Grund der Existenz ist bereits durch das rudimentäre Wollen die Basis für die freie Existenz des Menschen angelegt: Die »Wurzel der Freiheit«, so Schelling, liegt »in dem unabhängigen Grunde der Natur«. 132 Das generelle Charakteristikum dieses Wollens besteht in seiner »Selbstbejahung« 133 . Diese Selbstbejahung lässt sich so verstehen, dass dem Wollen das Moment der Selbstreflexivität zukommt: Das Wollen wird nicht von etwas anderem als dem Willen heteronom bestimmt, sondern durch sich selbst – darin besteht seine Autonomie. Diese rudimentäre Struktur basaler Selbstbestimmung charakterisiert Schelling mit Prädikaten wie »Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit«, wobei »Grundlosigkeit« hier, wie sich im Weiteren herausstellen wird, gerade nicht Indifferenz bedeuten soll. 134 Da für Schelling natürliche Existenz und Wollen aufs Engste verbunden sind, ist es nun möglich, die Wesensunterscheidung von Grund und Existenz willenstheoretisch zu analysieren: »Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist«, kann als »der Eigenwille der Kreatur« angesehen werden. 135 Auf basaler Ebene und auf den Menschen bezogen lässt sich der Grund der Existenz in seiner spezifischen Erscheinungsweise zunächst als »Gefühl« 136 , »Sehnsucht« 137 und »Begierde« 138 ; kurz: als »reales« Prinzip verstehen. Dieser bloße Eigenwille natürlicher Existenz besitzt eine rudimentäre volitionale Struktur und verfügt als »blinder Wille« 139 bzw. als »Wille, in dem kein Verstand ist« 140 noch nicht über ausgeprägtes, sondern 130 Schelling, FS, 23 (SW VII, 350). Damit korrespondiert auch Schellings Motto, der Freiheit »alles analog zu machen.« (FS, 24; SW VII, 351). 131 Schelling, FS, 23 (SW VII, 350). 132 Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). 133 Schelling, FS, 23 (SW VII, 350). 134 Schelling, FS, 23 (SW VII, 350). 135 Schelling, FS, 35 (SW VII, 363). 136 Schelling, FS, 33 (SW VII, 360). Vgl. zur Bedeutung des Gefühls mit Blick auf den Geist des Menschen auch Hennigfeld (2001), 73. 137 Schelling, FS, 31 (SW VII, 359). 138 Schelling, FS, 32 (SW VII, 359). 139 Schelling, FS, 35 (SW VII, 363). Vgl. Frankfurts Begriff des wanton. 140 Schelling, FS, 32 (SW VII, 359).
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nur der Möglichkeit nach angelegtes Selbstbewusstsein, so dass sich auf dieser Basis allein noch keine stabile Individualität konstituieren kann. 141 Gegenüber Kants Verortung der Neigungen in den Bereich der Heteronomie ist also nach Schelling »überall, wo Lust und Begierde« zu finden sind, »schon an sich eine Art der Freiheit [Hervorh. J. N.]« 142 . Doch ist diese rudimentäre Freiheit noch nicht für das Naturwesen, d. h. noch nicht mit Selbstbewusstsein verbunden. Diese rudimentäre Willensstruktur macht also nur »den Grund jedes besonderen Naturlebens« aus, was bedeutet, sich in einem »bestimmten«, wenn auch noch nicht individuellen, »Dasein zu erhalten«. 143 Die ein jedes Naturwesen fundierende Triebstruktur des Eigenwillens ist insofern nur die Grundbedingung dafür, dass aus ihr heraus überhaupt personale Individualität im Sinne eines freien und reflexiven Willens (von »Volitionen zweiter Stufe«) entstehen kann. In dem rudimentären ›Willen erster Stufe‹ ist – gemäß dem Identitätsdenken der Schellingschen Naturphilosophie – nun aber bereits ein reflektierter ›Wille zweiter Stufe‹ angelegt, oder wie Schelling metaphorisch-performativ sagt: »[A]us dem Dunkeln des Verstandlosen (aus Gefühl, Sehnsucht, der herrlichen Mutter der Erkenntnis) erwachsen erst die lichten Gedanken.« 144 Der ›Wille erster Stufe‹ enthält also bereits »an sich« und unreflektiert diesen ›Willen zweiter Stufe‹ : Er ist »nicht ein bewußter, sondern ein ahnender Wille, dessen Ahndung der Verstand ist« 145 . Derartige ›Willenstendenzen erster Stufe‹ sind insofern nicht selbstbewusst, als sie unmittelbar handlungsorientiert sind. Sie werden an sich nicht reflektiert, sondern sind an das Objekt der unmittelbaren Begierde gebunden, ohne einen Spielraum der Reflexion durch Aufschiebung zu eröffnen. Der im ›Willen erster Stufe‹ bereits angelegte ›Wille zweiter Stufe‹ ist dagegen ein »selbständiger und vollkommener Wille, indem der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist« 146 . Schelling fasst also die Rationalität des Verstandes bereits willentlich strukturiert auf: Der Wille zweiter Stufe als Verstand ist wesentlich selbstreflexiv. Schelling beschreibt diese reflexive Struktur des Willens als »das 141 Vgl. zum Verhältnis von Eigenwille und Individualität auch Vossenkuhl (1995), 115. 142 Schelling, FS, 48 (SW VII, 376). 143 Schelling, FS, 48 (SW VII, 376); Hervorh. J. N. 144 Schelling, FS, 33 (SW VII, 360). 145 Schelling, FS, 32 (SW VII, 359). 146 Schelling, FS, 32 (SW VII, 359).
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Wort jener Sehnsucht« 147 , also als eine propositionale, artikulierte Struktur, als »etwas Begreifliches« 148 und als »Regel, Ordnung, Form« 149 . Wie gestaltet sich der reflexive Wille im Menschen? Die spezifische Auszeichnung menschlicher Freiheit erhellt im Kontrast zur Verfasstheit des tierischen Willens. Der Eigenwille ist im Tier »noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben« 150 . Das Tier vermag sich zu seiner Natur nicht zu verhalten; es ist seine Natur, hat sie aber nicht. Insofern es nur Willensregungen erster Stufe auszubilden vermag, ist es also eine bloß triebhafte Existenz (ein wanton). »Diesem Eigenwillen der Kreatur«, so Schelling, »steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet« 151 . Der Eigenwille des Tieres erhebt sich also nicht zum freien Individuum, sondern dient als besondere Existenz nur der Gattung als Allgemeinem. Der Allgemeinwille stellt dabei überhaupt den Rahmen der besonderen Existenz unreflektierten Eigenwillens dar: »Nie kann das Tier aus der Einheit heraustreten« 152 . Wie lässt sich der Eigenwille näher bestimmen? Der noch unreflektierte Eigenwille lässt sich als Selbsterhaltungstrieb verstehen, der sich behaupten will, jedoch im Grunde bloßes Instrument und Mittel des Universalwillens ist. 153 Das Tier kann sich zum Universalwillen nicht frei verhalten, sondern geht ganz in seinen Vorgaben auf. Das Verhältnis von Eigen- und Universalwille ist also im Tier ein symbiotisches: Der Allgemeinwille ermöglicht überhaupt besondere Existenz im Sinne einer Aktionsfreiheit, während der Eigenwille selbst ein konkreter, affirmativer Ausdruck des Universalwillens im Modus der Anpassung ist. Das Tier ist bloßes Objekt des AllgemeiSchelling, FS, 33 (SW VII, 361). Schelling, FS, 34 (SW VII, 361). 149 Schelling, FS, 32 (SW VII, 359). 150 Schelling, FS, 35 (SW VII, 363). 151 Schelling, FS, 35 (SW VII, 363). Vgl. auch Hennigfeld (2001), 72. 152 Schelling, FS, 45 (SW VII, 372). Dieses Verhältnis hat Heidegger sehr treffend beschrieben: »Das Tier ist ein einzelnes Dieses, und es könnte solches nicht sein, wenn in ihm nicht die Sucht zur Vereinzelung wäre. Aber das Tier kommt trotz dieser Sucht nie zu sich selbst, sondern eigensüchtig dient es nur wieder der Gattung; und es könnte dieser Dienst nicht sein, wenn nicht zugleich mit dem Partikularwillen ein Universalwille in ihm strebte.« (GA 42, 242). 153 Vgl. dazu auch Hegels analogischen Begriff einer List der Vernunft in EPW, GW 20, 213. 147 148
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nen, es besteht aus endlicher Allgemeinheit ohne jegliche Individualität und Subjektivität. Im Gegensatz zum Tier ist das Verhältnis von Eigen- und Universalwille im Menschen kein starres, sondern ein flexibles. 154 Der Mensch ist nicht nur seine Natur, sondern befindet sich in einem freien Verhältnis dazu, d. h. er hat seine Natur, und zwar so, »daß der Mensch das ewige Band der Kräfte willkürlich zerreißen kann [Hervorh. J. N.]« 155 . Schelling bezeichnet diese reflexive Verwobenheit des Eigenwillens mit dem Universalwillen – in terminologischer Kontinuität zu Augustinus 156, Leibniz 157 und Schiller 158 – als Geist: »Dadurch aber, daß die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus dem Kreatürlichen ins Überkreatürliche gehoben, sie ist Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur ist.« 159 Der geistige Eigenwille kann sich durch seine außer- und übernatürliche Existenz, anders als das Tier, reflexiv zum Allgemeinwillen verhalten, er kann dies aber nur mittels des Allgemeinwillens. Der Mensch vermag sich also dem Allgemeinen als seinem Werkzeug zu entziehen und die ursprüngliche Ordnung umzukehren, d. h. »das Geistige in sich zum Mittel zu machen« 160 . Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch also nicht ein bloßes Objekt des Universalwillens, sondern der Universalwille ist selbst Objekt des Menschen. Durch dieses reflexive Verhältnis zum Allgemeinwillen stellt der Mensch nicht nur, wie das Tier, besondere, sondern vielmehr geistige, d. h. individuelle Allgemeinheit dar. Schelling drückt 154 Vgl. dagegen m. E. unzutreffend Sturma (2004), 58: »Schelling sieht Reflexion und Vernunft nicht mehr als grundlegend für Personalität.« 155 Schelling, FS, 45 (SW VII, 373). Vgl. zum ›Haben‹ der Natur bei Schelling: Buchheim (2004a), 27 sowie Heidegger, GA 42, 244: »Im Menschen kommt das Werden der Natur zur Ruhe derart, daß im Menschen zugleich die Natur verlassen wird.« 156 Vgl. das reflexive Verhältnis der mens zur ratio bei Augustinus, LA I, 19, 68, 101. 157 Vgl. Leibniz’ Unterscheidung zwischen einer bloßen Freiheit des Verstandes (liberté de l’entendement) und einer Freiheit des Geistes (liberté de l’esprit) (NA II, 21, 150). 158 Vgl. Schillers Begriff des Geistes in Abhebung von Form- und Stofftrieb (ÄE, 371). 159 Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). 160 Schelling, FS, 61 (SW VII, 389). Heidegger hat dieses reflexive Verhältnis sehr treffend beschrieben: »Das Prinzip des Grundes, die Natur als eigensüchtige, dient nicht einfach mehr einer ebenfalls nur in sich rollenden, ohnmächtigen Gattung wie beim Tier, sondern die Eigensucht kann als geistige so und so gelenkt werden. Sie ist als Eigenwille frei beweglich gegen den Allgemeinwillen.« (Heidegger, GA 42, 245).
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dieses reflexive Verhältnis der geistigen Individualität der Person zum Universalwillen metaphorisch so aus, dass »der Geist über dem Licht steht« 161 : Die individuelle Persönlichkeit kann sich, in Kantischer Terminologie gesprochen, frei zur allgemeinen und objektiven Vernunft verhalten und steht insofern über ihr, als sie Gebrauch von ihr machen kann. Wie ist diese Verwobenheit von Eigenwille und Universalwille als Geist näher zu bestimmen? Aufschluss gibt hierbei Schellings Rezension von Friedrich Immanuel Niethammers Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit 162 , die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Abfassung der Freiheitsschrift entstand. 163 Schelling selbst profiliert darin seinen Begriff der individuellen Person gegenüber dem – nicht zuletzt von Kant vertretenen – Begriff eines allgemeinen Vernunftsubjekts und intelligiblen Charakters: Der Vernunft, die als das Vernehmende und Allgemeine in Ansehung des Menschen mehr den Charakter der Ruhe und Hingebung hat, kann bloß das Thätige, Selbstwirkende, mit Einem Worte die Persönlichkeit entgegengesetzt werden. Jene, die Vernunft, bestimmt an dem Menschen überall nur seinen Gattungsbegriff, seinen allgemeinen Wesenscharakter; diese, die Persönlichkeit, ist es, nach welcher wir die besondere Tüchtigkeit und Trefflichkeit des Menschen schätzen, so daß z. B. ein vernünftiger Mann genannt zu werden (das Allgemeinste, was von einem Menschen ausgesagt werden kann) ein fast ebenso zweideutiges Lob ist, als das andere, ein guter Mann zu heißen, während dagegen Persönlichkeit an und für sich und ohne weiteren Zusatz Lob erhält. In der That fassen wir alle Tugenden und Eigenschaften, welche der Mensch in kräftiger Verwirklichung der Ideen zeigt, unter diesem Namen zusammen. 164
Eine Persönlichkeit ist also insofern gegenüber einem bloßen Vernunftsubjekt ausgezeichnet, als ihr ein individueller Charakter zugesprochen wird, welcher Ausdruck individueller Freiheit und Verantwortlichkeit – zum Guten wie Bösen – ist. Wie kann Schelling nun die individuelle Persönlichkeit als geistige Einheit aus natürlichen und vernünftigen Momenten denken? Es handelt sich dabei nach Schelling nicht um eine bloße und statische Identität beider Schelling, FS, 37 (SW VII, 365). Erschienen in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 13–15 (1809); 16. bis 18. Januar. (97–104; 105–112; 113–115). 163 Vgl. Shibuya (2003), 16 u. Shibuya (2005), 145. 164 Schelling, NR, SW VII, 516. 161 162
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Prinzipien als Indifferenz oder Harmonie im Sinne Schillers, sondern um eine dynamische Identität, die sich erst durch das Handeln formiert: »Indem nun die Seele lebendige Identität beider Prinzipien ist, ist sie Geist [Hervorh. J. N.].« 165 Diese »lebendige Identität« beider Prinzipien – die wie gesagt bei Schiller nur eine ästhetische und daher indifferente Harmonie gewesen war – begreift Schelling als einen Prozess der Selbstaneignung des Allgemeinen: »Nur diejenigen Grundsätze und Begriffe, welche bis zur unwiderstehlichen Klarheit für den Verstand gelangt sind, nehmen auch von unserer Persönlichkeit Besitz, und hören auf allgemeine Begriffe und Grundsätze zu seyn, indem sie unsere eignen und individuellen werden; ohne dieses Persönlichwerden aber sind die höchsten Grundsätze der Vernunft, die erhabensten Ideen des Verstandes nur tönendes Erz und klingende Schellen.« 166 Damit grenzt sich Schelling auch insofern von Kants Autonomie-Gedanken ab, als darin gerade von aller kontingenten Individualität zugunsten eines allgemeinen Vernunftcharakters abstrahiert werden sollte – also ein entgegengesetzer Prozess der Willensbildung erfolgte. Der Bereich des Geistes ist nun aber durch seine Verbundenheit mit dem Eigenwillen gerade nichts streng von der Natur Geschiedenes, wie der Bereich der reinen praktischen Vernunft bei Kant, sondern ein emergentes Produkt einer »Selbsttranszendierung der Natur« 167 . Schellings Begriff personaler Freiheit ist also nicht so sehr ein Begriff von vernünftiger Autonomie oder Selbstbestimmung, sondern wesentlich der Selbstbildung: 168 165 Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). Vgl. zur dynamischen Dimension der Selbstbestimmung der Person bei Schelling durch ihre Handlung: Dörendahl (2011), 176; Shibuya (2003), 33; Shibuya (2005) sowie Florig (2010). 166 Schelling, NR, SW VII, 526. In diesem Interesse steht Schelling in systematischer Nähe zu Hegels bereits früher geäußerter Kritik an der Abstraktheit und Formalität des »kalte[n] Gebot[s] der Vernunft« (ChR, GW 2, 160). 167 Peetz (2006), 509. Vgl. zum Charakter der »Selbstproduktion« auch Florig (2010), 152. Schelling formuliert diesen Evolutionsprozess folgendermaßen: »[D]adurch, daß eben dieses Prinzip [scil. der Eigenwille; J. N.] – ohne daß es deshalb aufhörte, dem Grunde nach dunkel zu sein – in Licht verklärt ist, geht zugleich ein Höheres in ihm auf, der Geist.« (FS, 36; SW VII, 363) Der Geist als Produkt des Verhältnisses von Eigen- und Universalwille steht in einer auffälligen Strukturanalogie zu Schillers Begriff des Geistes als Wechselspiel von Form- und Stofftrieb (im Sinne des Spieltriebs). Freilich analysiert Schiller dieses komplexe Verhältnis nicht weiter angesichts der Problematik einer Freiheit zum Bösen Vgl. dazu auch Pieper (1995), 95 Fn. 168 Vgl. dazu auch Florig (2010), 136 f.
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V. Freiheit der Person
Die Individualität ist zwar nicht die Persönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam ihr Organ. Das mögliche Ideal der Bildung in einem Individuum ist erreicht, wenn es mit einer herzhaften Weltansicht (auf welche Art es nun dazu gelangt sey) und aufgehellter, sicherer Vernunft die entschiedene Ausbildung desjenigen besonderen Talents, derjenigen bestimmten geistigen oder materiellen Anlage verbindet, die in seiner Individualität liegt. 169
Wie lässt sich das komplexe Verhältnis von Eigen- und Universalwille in der individuellen Person freiheitstheoretisch weiter bestimmen? Während das im ›Grunde‹ bleibende Tier durch seinen dem Allgemeinwillen untergeordneten Eigenwillen wie zuvor beschrieben nur Willenstendenzen erster Stufe auszubilden vermag, also im besten Fall nur Aktionsfreiheit besitzt, vermag die geistige Person durch ihre freie Verbindung mit dem Allgemeinwillen sich zu ihren Willenstendenzen erster Stufe zu verhalten und höherstufige Volitionen auszubilden. Geistigkeit lässt sich somit als diejenige Ebene von Volitionen zweiter Stufe bezeichnen, mithilfe derer sich die Person normativ positionieren kann, indem sie die relative Identität von Eigenund Universalwille gewichtet. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass Geistigkeit nicht nur auf Moralität beschränkt ist, sondern sich in jeder Praxis als Ausdruck der Individualität manifestiert. Volitionen zweiter Ordnung sind nicht im Sinne eines allgemeinen Gesetzes – dem Kantischen Sittengesetz – zu verstehen, sondern im Sinne des Gebrauchs dieses Allgemeinwillens, der von dem Eigenwillen vollständig ›durchwirkt‹ ist: Persönlichkeit ist, wie Schelling prägnant formuliert, die »zur Geistigkeit erhobene Selbstheit« 170 . Es handelt sich dabei also nicht um universelle, sondern um individuelle Allgemeinheit. Das »Geistige« der Person ist deswegen im Grunde auch ihr individueller Ausdruck und Charakter. 171 Als solche geistige Existenz ist die Persönlichkeit nicht ein ontologisch auf der selben Ebene wie Eigen- und Universalwillen vorhandenes drittes Prinzip, sondern eine besondere Art der Verbindung und Modifikation beider Prinzipien, dergestalt, dass der Eigenwille durch Momente des Allgemein-
Schelling, NR, SW VII, 528. Schelling, FS, 43 (SW VII, 370). 171 Vgl. auch Schelling, FS, 86 (SW VII, 414): »Das Band unserer Persönlichkeit ist der Geist, und wenn nur die werktätige Verbindung beider Prinzipien schaffend und erzeugend werden kann, so ist Begeisterung im eigentlichen Sinn das wirksame Prinzip jeder erzeugenden und bildenden Kunst oder Wissenschaft.« 169 170
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willens angereichert wird und sich so zum Allgemeinwillen verhalten kann. Zur Verdeutlichung dieses komplexen Verhältnisses vergleicht Schelling die holistische Struktur des Geistes mit einem artikulierten (»ausgesprochenen« 172 ) Wort. Während bloß natürliche Existenzen zwar ebenfalls beide Prinzipien in sich tragen, jedoch, »wegen der Mangelhaftigkeit des aus dem Grunde Erhobenen« gleich einem bloß geschriebenen oder einem unverständlichen »zurückgehaltene[n] und unvollständig[n] Wort«, wie Schelling sagt, »ohne völlige Konsonanz« sind, so ist dieses Wort im Menschen »völlig ausgesprochen«. 173 Wie ein Wort in der Artikulation aus Vokalen und Konsonanten synthetisiert ist, so auch der menschliche Geist aus Eigenund Universalwille, wobei das Wort in seiner Ganzheit freilich mehr ist als die Summe der es konstituierenden Vokale und Konsonanten. Die Einheit des Wortes besteht nicht im summarischen Materialbestand seiner phonetischen Elemente, sondern in der spezifischen Art der Verbindung, d. h. in syntaktischen Regeln, die mit dem Bereich des Geistes verglichen werden können. In Schellings Analogie wäre ein individuell durch syntaktische Regeln gebildeter Satz ein Ausdruck der individuellen Person, und in freiheitstheoretischer Hinsicht ließe sich diese Struktur mit einer individuellen Maxime vergleichen. Wie ist die konkrete Wirkungsweise des Geistes nach Schelling angesichts der Alternativen des Guten und Bösen zu verstehen? Durch die Reflexivität des Geistes über die ihn konstituierenden Prinzipien von Eigen- und Universalwillen ist zunächst nur die negative Freiheit verständlich gemacht: »Der Geist ist über dem Licht; wie er sich in der Natur über der Einheit des Lichts und des dunkeln Prinzips erhebt. Dadurch, daß sie Geist ist, ist also die Selbstheit frei von beiden Prinzipien [Hervorh. J. N.].« 174 Eigen- und Universalwille inklinieren die Person nur, sie nezessitieren sie jedoch nicht. Nun darf aber die Freiheit des Geistes wie Schelling betont, »nicht bloß negativ«, d. h. als Indifferenz gedacht werden, sondern muss »als ein lebendiges Vermögen zum Guten und zum Bösen« verstanden werden. 175 Schelling knüpft dabei hinsichtlich der negativen Freiheit an 172 173 174 175
Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). Schelling, FS, 36 f. (SW VII, 364). Schelling, FS, 26 (SW VII, 354).
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V. Freiheit der Person
Reinhold an, insofern Freiheit nicht allein im Bereich der Vernunft, sondern im Gebrauch der Vernunft angesiedelt wird. Positive Freiheit besteht also in der willentlichen Reflexion des Geistes über die ihn konstituierenden Prinzipien von Allgemein- und Universalwille und im Herstellen einer bestimmten Ordnung, wobei die »Möglichkeit des Bösen« durch »die Zertrennlichkeit der Prinzipien« verständlich gemacht werden kann. 176 Im Geistigen der Persönlichkeit sind Eigenwille und Universalwille, gemäß Schellings identitätsphilosophischen Prämissen, ineinander verschränkt, jedoch herrscht nun keine starre Identität mehr, sondern die Identität kann sich gegenüber beiden Prinzipien und durch beide Prinzipien geistig positionieren. 177 Schelling löst nun durch seine naturphilosophische Fundierung der Person gegenüber Kants Autonomie-Lehre das Moment der Spontaneität als Kausalität der Freiheit aus dem Vermögen der reinen praktischen Vernunft heraus. Principium diiudicationis und principium executionis, die nach Kant im Grunde Momente reiner praktischer Vernunft waren, werden bei Schelling auf die interne Differenzierung des individuellen Willens bezogen. 178 Das Moment der Spontaneität und Exekution, welches in Kants Autonomiebegriff als vernunftgewirkte Triebfeder der Achtung gedacht worden war, wird bei Schelling zum zur Geistigkeit erhobenen, reflexiven Eigenwillen transformiert. Das principium diiudicationis des Sittengesetzes wird von Schelling als Allgemeinwille nicht mehr als außerzeitlich und apriorisch gedacht, sondern geschichtlich und gesellschaftlich situiert: Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). Dieses Wesen des Geistes hat später Kierkegaard in Anknüpfung an Schelling sehr treffend formuliert: »Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Der Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist dasjenige am Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.« (Kierkegaard, Krankheit, 9). In seiner Mittelstellung steht Schellings Begriff des Geistes, wie derjenige Schillers, in einer systematischen Nähe zu Kants Begriff des Vermögens der Urteilskraft, auch wenn dieser nicht nur auf den Bereich der Ästhetik und Kunst restringiert ist, sondern die personale Einheit von Natur und Freiheit betrifft. 178 Vgl. Dörendahl (2011), 165, die allerdings, nicht ganz zutreffend, von einer »Spaltung des Willens« spricht und damit suggeriert, dass eine Einheit des Willens nicht möglich sei. Eine Spaltung würde gerade den Menschen vor das Problem der Willensschwäche stellen (vgl. die Problematik bei Paulus und Augustinus). Die Differenzierung des Willens hat aber bei Schelling die Möglichkeit einer voluntativen Reflexion des Willens zur Folge, ist also gerade freiheitsermöglichend. 176 177
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Durch »die Geburt des Geistes« wird nach Schelling gerade »das Reich der Geschichte« eröffnet. 179 Das principium executionis der Person verdankt sich nach Schelling also wesentlich dem Grund der Existenz und damit überwiegend einer natürlichen Wurzel, die durch die Einheit mit dem Universalwillen zu einer geistigen Spontaneität wird und den Kantischen Begriff einer Kausalität aus Freiheit im Sinne einer individuellen Spontaneität transformiert. 180 Eine Trennung vom Universellen bedeutet für ein geistiges Individuum nun aber nicht, dass der Eigenwille wieder seine Reflexivität verlöre und zurückfiele auf die Stufe von bloßen Wünschen erster Stufe – so wäre er nichts anderes als unreflektiertes Begehren. Vielmehr ist dem Individuum durch die Verbindung mit dem Universalwillen ein für alle Mal seine Freiheit ›angesteckt‹ – der Mensch verliert diese nicht mehr, selbst wenn er sich vom Universalwillen bewusst trennt. Ja, das bewusste Trennen vom Universalwillen beweist gerade seine Freiheit des Geistes als ein subjektiver Modus des Universalwillens, nämlich als sein Gebrauch. Wie ist dieser Gebrauch näher zu bestimmen?
1.4
Der Geist der Freiheit
Nachdem Schelling die »allgemeine Möglichkeit des Bösen« 181 und damit den Begriff negativer Freiheit hergeleitet hat, geht es ihm in einem zweiten Schritt darum, Freiheit im positiven Sinne weiter zu bestimmen, und zwar anhand einer Analyse der Wirklichkeit des Bösen. Die Wirklichkeit des Bösen ist für Schelling, wie bereits erwähnt, »Gegenstand einer ganz andern Untersuchung,« 182 denn »die Möglichkeit schließt noch nicht die Wirklichkeit ein, und diese eigentlich ist der größte Gegenstand der Frage« 183 . Im Gegensatz zu Kant, der 179 Schelling, FS, 49 (SW VII, 377). Vgl. dazu auch Heidegger, GA 42, »Der geistige Allgemeinwille besagt nicht einfach nur die Erhaltung einer in sich eingerollten Gattung, sondern ist Geschichte, damit Werk und Unwerk, Sieg und Niederlage, sich selbst haltende Gestalt und Verfall – Möglichkeiten, die es nur im Geiste gibt und niemals im nur Lebendigen und Biologischen.« (246). 180 Vgl. Dörendahl (2011), 159: »Spontaneität kann sich der Mensch nicht aufgrund seiner Vernunft zuschreiben, sondern sie ist ihm als Naturwesen, als leibliches und sinnliches Wesen gegeben.« (159). 181 Schelling, FS, 61 (SW VII, 389). 182 Schelling, FS, 36 (SW VII, 364). 183 Schelling, FS, 45 (SW VII, 373).
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V. Freiheit der Person
die Freiheitsentscheidung in seiner Religionsschrift für »unerforschlich« gehalten hatte 184 und nur »durch treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urteils« auf einen »subjektiven, aller in die Sinne fallenden Tat vorangehenden Grund[] der menschlichen Handlungen« gestoßen war, 185 der einem allgemeinen intelligiblen Charakter des Menschen zugerechnet werden konnte, will Schelling gerade untersuchen, »wie nun im einzelnen Menschen die Entscheidung für Böses oder Gutes vorgehe [Hervorh.]« 186 . Es geht Schelling also im Ausgang von Kant gerade darum, die Gründung eines individuellen personalen Charakters verständlich zu machen und die Operationen seines Freiheitsgebrauchs zu analysieren. Schellings Begriff des Bösen gewinnt sein Profil in Abgrenzung von traditionellen Theorien der Privation, 187 aber auch von spezifisch neuzeitlichen »Vorstellungen« des Bösen, die auf einen »Philanthropismus« zurückgehen und deren letzte Konsequenz nach Schelling gar die »Leugnung des Bösen« ist. 188 Diesen Auffassungen des Bösen zufolge, so Schelling, besteht der »einzige Grund des Bösen« »in der Sinnlichkeit oder in der Animalität«. 189 Schelling richtet sich hier mittelbar über Jacobi190 auch gegen das zentrale Kantische Autonomie-Problem, wonach »die Freiheit in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über die sinnlichen Begierden und Neigungen besteht, und das Gute aus reiner Vernunft kommt, wonach es begreiflicherweise für das Böse keine Freiheit gibt (indem hier die sinnlichen Neigungen vorherrschen)«, und wodurch, so Schelling, »das Böse völlig aufgehoben wird«. 191 Schellings begriffliche Entwicklung einer Freiheit zum Bösen 184 »Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich«. (Kant, RGV, AA VI, 43). 185 Schelling, FS, 60 (SW VII, 388). 186 Schelling, FS, 54 (SW VII, 382). 187 Schelling grenzt sich hier v. a. von Leibniz und Augustinus ab, welche »das Böse in eine bloße Privation setzen.« (FS, 41 Fn.; SW VII, 368 Fn). 188 Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). 189 Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). 190 Jacobi hatte in seiner Schrift Über gelehrte Gesellschaften ihren Geist und Zweck etwa geschrieben: »Ein übler Gebrauch der Vernunft kann nicht sein; und selbst ein übler Gebrauch des Verstandes nur dann, wenn dieser von der Sinnlichkeit, die er zu regieren bestimmt ist, schon zum Teil unterdrückt und in demselben Maße verfinstert wurde« (Werke VI, 59). Vgl. dazu Buchheim (2011a), 100. 191 Schelling, FS, 43 (SW VII, 371).
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fasst in nuce die nachkantische Diskussion angesichts des Problems eines intelligiblen Fatalismus zusammen. Nach Schelling kann »die Schwäche oder Nichtwirksamkeit des verständigen Prinzips« 192 – also mit Kant gesprochen, das Ausbleiben einer Kausalität der Vernunft – nur einen privativen Begriff des Bösen ermöglichen, »nicht aber ein Grund positiv-böser und tugendwidriger« 193 Handlungen sein. Das Böse kann nicht im »leidende[n] Verhalten gegen äußere Eindrücke« bestehen, denn der Mensch wäre »in diesen doch selbst nur leidend, d. h. das Böse hätte in Ansehung seiner, also subjektiv, keine Bedeutung, und da das, was aus einer Bestimmung der Natur folgt, objektiv auch nicht böse sein kann, hätte es überhaupt keine Bedeutung«. 194 Von Auffassungen, das Böse sei »etwas bloß Passives«, und analogen Charakterisierungen als »Einschränkung, Mangel, Beraubung«, gilt nach Schelling, dass sie »der eigentlichen Natur des Bösen völlig widerstreiten«. 195 Der Grund für derartige privative Auffassungen des Bösen liegt nach Schelling in »dem unlebendigen Begriff des Positiven« 196 , d. h. es wird in diesen Theorien das Prinzip der Freiheitsentscheidung nicht als individuell und innerlich, sondern als statisch und extern, im Sinne einer Struktur des Gehorsams gegenüber der allgemeinen praktischen Vernunft und ihrem Sittengesetz, gedacht. Die Annahme, »das vernünftige Prinzip sei im Bösen unwirksam« 197 weist Schelling insofern zurück, als die Persönlichkeit qua Geist den Allgemeinwillen reflektieren und für eigene Zwecke missbrauchen kann. Der Grund dafür, dass das intelligible Prinzip im Bösen nicht zur Geltung kommt, liegt also nicht, wie Carl Christian Erhard Schmid in seiner Theorie des »intelligiblen Fatalismus« behauptet hatte, darin, dass es von Hindernissen davon abgehalten würde oder eine moralische Trägheit besäße. Vielmehr liegt der Grund der Abweichung
Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). Schelling, FS, 44 (SW VII, 371). 194 Schelling, FS, 44 (SW VII, 372). Vgl. auch Schelling, FS, 26 (SW VII, 353): »Ganz verschieden von dieser Behauptung […] ist die, daß im Bösen überall nichts Positives sei, oder anders ausgedrückt, daß es gar nicht (auch nicht mit und an einem andern Positiven) existiere, sondern alle Handlungen mehr oder weniger positiv, und der Unterschied derselben ein bloßes Plus und Minus der Vollkommenheit sei, wodurch kein Gegensatz begründet wird, und also das Böse gänzlich verschwindet.« 195 Schelling, FS, 40 (SW VII, 368). 196 Schelling, FS, 42 (SW VII, 370). 197 Schelling, FS, 44 (SW VII, 372). 192 193
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V. Freiheit der Person
von allgemeinen Vorgaben in der Verfasstheit des freien Willens selbst. Neben Schellings impliziter Kritik am intelligiblen Fatalismus im Sinne einer Notwendigkeit des Guten besteht die Herausforderung einer »Deduktion der Wirklichkeit des Bösen« darin, das Gegenteil davon – also eine Notwendigkeit des Bösen in Art einer felix culpa – zu vermeiden. 198 Schelling versucht, diese Klippe durch eine zweifache Unterscheidung des menschlichen »Hangs zum Bösen« zu umschiffen. 199 Zwar spricht Schelling von einer »allgemeine[n] Notwendigkeit der Sünde«, insofern »die einmal durch Erweckung des Eigenwillens in der Kreatur eingetretene Unordnung der Kräfte ihm schon in der Geburt sich mitteilt«. Doch betrifft diese nur den »natürliche[n] Hang des Menschen zum Bösen«, so dass das Böse »[d]ieser allgemeinen Notwendigkeit ohngeachtet [Hervorh. J. N.]«, wie Schelling betont, »immer die eigne Wahl des Menschen bleibt«. 200 Die Freiheit des Individuums, die durch die Trennung des Eigenwillens vom Universalwillen ermöglicht wird, besitzt immer schon eine Verlockung, eine »Sollizitation des Grundes« 201 oder eine »Lust zum Kreatürlichen«, wie Schelling sagt, »wie den, welchen auf einem hohen und jähen Gipfel Schwindel erfaßt, gleichsam eine geheime Stimme zu rufen scheint, daß er herabstürze«. 202 Der natürliche und allgemeine Hang zum Bösen, der notwendigerweise in jede Person durch die Zertrennlichkeit von Eigen- und Universalwillen eingepflanzt ist, ist aber nicht insofern notwendig, als dass daraus faktisch immer nur böse Handlungen folgen könnten: »Denn nicht die erregte Selbstheit an sich ist das Böse; sondern nur sofern sie sich gänzlich von ihrem Gegensatz, dem Licht oder dem Universalwillen, losgerissen hat [Hervorh. J. N.].« 203 Schelling be198 Vgl. zu dieser doppelten Schwierigkeit von Schellings Freiheitsprojekt Buchheim (2000), 57. 199 Vgl. Buchheim (2000), 59. Dass Schelling die Position einer felix culpa vertritt, dafür argumentiert hingegen Vossenkuhl (1995), 119. 200 Schelling, FS, 53 (SW VII, 382). 201 Schelling, FS, 71 (SW VII, 399). 202 Schelling, FS, 53 (SW VII, 381). Vgl. dazu auch Kierkegaards Untersuchungen über den Begriff Angst: »So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit [d. h., mit Schelling gesprochen, den Eigenwillen; J. N.] ergreift, um sich daran festzuhalten.« (Kierkegaard, Begriff Angst, 64). 203 Schelling, FS, 71 (SW VII, 400). Vgl. auch Buchheim (2000), 59.
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zeichnet diesen allgemeinen Hang zum Bösen auch als »Angst des Lebens«, die den Menschen »aus dem Centrum, in das er erschaffen worden« ist, treibt, »weshalb es ein fast notwendiger Versuch ist, aus diesem in die Peripherie herauszutreten, um da eine Ruhe seiner Selbstheit zu suchen [Hervorh. J. N.]« 204 . Die Angst ist ein phänomenologischer und existenzieller Ausdruck der Freiheit der Wahl, sie ist die ambivalente Erfahrung der Verantwortung als Notwendigkeit der Entscheidung angesichts des allgemeinen Hangs zum Bösen. 205 Neben diesem natürlichen und allgemeinen Hang unterscheidet Schelling deswegen – und komplementär dazu – noch einen »Hang[] zum Bösen als eines Aktus der Freiheit« 206 . Dieser Hang ist entgegen dem natürlichen Hang nicht wesensnotwendig und allgemein, sondern als ein faktischer Hang kontingent und individuell. 207 Wie ist nun die Wirklichkeit des Bösen als individuelle Entscheidung der Person zu denken? Schelling rekurriert hierbei auf seinen differenzierten Begriff des Geistes. Der personale Geist besteht nach Schelling in einer Einheit von diametral entgegengesetzten Prinzipien – des Eigen- und Universalwillens –, die ihn auf der Ebene primärer Willenstendenzen erschöpfen. 208 Diese kontradiktorische Entgegensetzung bedeutet nach Schellings identitätsphilosophischer Grundeinsicht, dass beide Willenstendenzen voneinander polar – bzw. in Schellings Worten – »dialektisch« abhängig sind: »Dasselbe, was durch den Willen der Kreatur böse wird […] ist an sich selbst das Schelling, FS, 53 (SW VII, 381). Nach Kierkegaard besitzt die Angst durch ihre holistische Dimension eine ausgezeichnete freiheitstheoretische Qualität. Demnach gilt, dass der Begriff der Angst »von Furcht und ähnlichen Begriffen ganz und gar verschieden ist, daß sie sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist.« (Kierkegaard, Begriff Angst, 42). Heidegger schreibt in Sein und Zeit: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbstwählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … (propensio in …) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet ist.« (Heidegger, SuZ, 188); zugleich betont Heidegger die Bedeutung der Entscheidung angesichts alternativer Möglichkeiten für die Angst: »Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.« (ebd., 285). 206 Schelling, FS, 59 (SW VII, 387). Vgl. Buchheim (2000), 59. 207 Vgl. Buchheim (2000), 59. 208 Vgl. zur logischen Relation: Hennigfeld (2001), 85. 204 205
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Gute, solang es nämlich im Guten verschlungen und im Grunde bleibt.« 209 Je nachdem, welchem Pol der entgegengesetzten Tendenzen die Person qua Geist das Übergewicht gibt, d. h. wie sie die in sich differenzierte Identität aus Eigen- und Universalwillen »affirmiert« 210 bzw. gewichtet, so fällt die moralisch qualifizierte Willensentscheidung aus. Diese geistige Gewichtung der Willenskonstellation lässt sich auch als Prozess einer Deliberation beschreiben: Durch die Verwobenheit beider Willensprinzipien findet durch das Abwägen kein Ausschluss des jeweils anderen statt, sondern nur ein anderer Gebrauch. Worin besteht die konkrete Freiheitsentscheidung des Geistes? Die Freiheit der Person ist qua Geist eine synthetische Leistung: »Der Wille des Menschen«, so Schelling metaphorisch, »ist anzusehen als ein Band von lebendigen Kräften«. 211 Das diese »Kräfte« verbindende Band ist nichts diesem Band Äußerliches, sondern wiederum willensmäßig strukturiert. 212 Die Tätigkeit des Geistes besteht also – wie bereits anhand von Schellings Beispiel einer Artikulation eines Wortes – nicht in einer Addition von Willenstendenzen zu einer Willenssumme, sondern in einer bestimmten Operation der Integration der unterschiedlichen Willenstendenzen zu einer spezifischen Einheit von Eigen- und Universalwille. Für die moralische Freiheit der Person ist demnach entscheidend, wie diese Kräfte oder Willenstendenzen zusammengefügt werden. 209 Schelling, FS, 72 (SW VII, 400). Auf dieses Phänomen der unauflöslichen Identitäts-Verschränkung der die Person konstituierenden dialektischen Gegensätze hat Kierkegaard in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode hingewiesen. Nach Kierkegaard führt jede Verabsolutierung eines der untrennbar miteinander verbundenen Pole in eine spezifische Form der Verzweiflung, da das jeweils unterdrückte Gegenmoment sich unter der Hand destruktiv bemerkbar macht im Sinne einer Verzweiflung der Notwendigkeit oder der Möglichkeit: »Die Verzweiflung der Möglichkeit ist das Fehlen der Notwendigkeit« (33) und »Die Verzweiflung der Notwendigkeit ist das Fehlen der Möglichkeit« (35). Schelling selbst bezeichnet das ideale Verhältnis der geistigen Prinzipien als »organische[s] Gleichgewicht« (Schelling, FS, 72 [SW VII, 401]), in welchem die dialektische Abhängigkeit durchschaut und fruchtbar eingesetzt wird. 210 Der Begriff der »Affirmation« findet sich zwar nicht in Schellings Freiheitsschrift, lässt sich jedoch auf diese übertragen. Er ist einer der Zentralbegriffe in Schellings Identitätsphilosophie, zumal seinem Würzburger System, um aus der Identität der Gegensätze des Subjektiven und Objektiven, Idealen und Realen heraus Differenz und Bestimmtheit denken zu können. 211 Schelling, FS, 38 (SW VII, 365). 212 Vgl. zu diesem Verhältnis einer reflexiven Einheit der Gegensätze auch Hennigfeld (2001), 74.
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Die konkrete und individuelle Willensfreiheit wird von Schelling am Leitfaden des Bösen näher bestimmt. Das Böse, so Schelling, »wird nie ohne eigne Tat vollbracht« 213 . Es besteht darin, dass der Eigenwille danach strebt, »das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu sein«, und »das eigne Prinzip vom allgemeinen scheiden will« – ein Zustand, den Schelling den »Geist der Zwietracht [Hervorh. J. N.]« nennt und damit signalisiert, dass es sich auch in dieser Umkehrung der Ordnung immer noch um eine freie und selbstbewusste Aktion handelt. Das moralisch Gute hingegen besteht darin, dass »der Eigenwille des Menschen als Centralwille im Grunde bleibt, so daß das göttliche Verhältnis der Prinzipien besteht« – eine Ordnung, die Schelling als »Geist der Liebe« charakterisiert. 214 Wie lässt sich das positive Wirken des Bösen als geistige Synthese genauer verstehen? »Das Böse«, so Schelling, »kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstsein erhobenen Endlichkeit«. 215 Da auch das Böse eine geistige Struktur besitzt, besteht es in der »Erhebung des Eigenwillens«, die zum Ziel hat, durch den Allgemeinwillen »das Verhältnis der Prinzipien umzukehren«, 216 um so »ein eignes und absonderliches Leben zu formieren oder zusammenzusetzen [Hervorh. J. N.]«. 217 Schelling charakterisiert diesen positiven Zustand des Bösen als »ein eignes, aber ein falsches Leben, ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbnis« 218 . Es ist im Gegensatz zum Guten als einem »einigen Ganzen« ein »zertrennte[s] Ganze[s]«. 219 Insofern in der Willensaktivität der (wenn auch falschen) Einheitsbildung ein Moment der Positivität liegt, spricht Schelling davon, dass auch im Bösen »ein Wesen sein muß« 220 . In seinem aktiven »Mißbrauch der Freiheit« 221 kann das Böse als eine sich behauptende »Unordnung« beschrieben werden
Schelling, FS, 71 (SW VII, 399). Schelling, FS, 37 (SW VII, 365). 215 Schelling, FS, 42 Fn. 20 (SW VII, 391). 216 Schelling, FS, 37 (SW VII, 365). 217 Schelling, FS, 38 (SW VII, 366). Vgl. ebd., 61 (SW VII, 390): »Sind aber die beiden Prinzipien in Zwietracht, so schwingt sich ein anderer Geist an die Stelle, da Gott sein sollte; der umgekehrte Gott nämlich«. 218 Schelling, FS, 38 (SW VII, 366). 219 Schelling, FS, 42 (SW VII, 370). 220 Schelling, FS, 42 f. (SW VII, 370). 221 Schelling, FS, 38 (SW VII, 366). 213 214
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und gleicht damit einer »Krankheit«, genauer: einem wuchernden Krebsgeschwür, das einen Organismus befallen hat und durch diesen existiert. 222 Das Böse selbst hat ein spezifisches Gepräge, welches, wie allgemein jegliche geistige Leistung, nicht durch seine Elemente bestimmt ist, sondern seine holistische Form als Ganzes betrifft, denn »kein einzelner Ton für sich macht eine Disharmonie aus« 223 . Schellings Rede von der »Disharmonie« des Bösen darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob es sich dabei um keine Harmonie handelte (dies war eben das Problem des Schillerschen Freiheitsbegriffs). Vielmehr handelt es sich, um im Beispiel zu bleiben, um eine Zusammenfügung der Tonelemente in ein falsches Tonsystem – eine »falsche Einheit« 224 . Insofern das Böse nicht in den Prinzipien, sondern am oder im Verhältnis der Prinzipien besteht, besteht es nur in der spezifischen Form der Einheitsbildung der Prinzipien, genauer: in »einer positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien« 225 . Es gibt demnach keine Einheitsbildung ohne die Beteiligung beider Prinzipien: »Wie es aber keineswegs das intelligente oder Licht-Prinzip an sich, sondern das mit Selbstheit verbundene, d. h. zu Geist erhobene ist, was im Guten wirkt: ebenso folgt das Böse nicht aus dem Prinzip der Endlichkeit für sich, sondern aus dem zur Intimität mit dem Centro gebrachten finstern oder selbstischen Prinzip; und wie es einen Enthusiasmus zum Guten gibt, ebenso gibt es eine Begeisterung des Bösen.« 226 Auch und gerade im Bösen handelt der Mensch aktiv, indem er ›kreativ‹ destruktiven Gebrauch von den ihn konstituierenden Prinzipien macht, und seine Freiheit dabei gerade auch im Bösen affirmiert. 227 Es ist also nicht das jeweilige voluntative Element der Objektebene ausschlaggebend für den moralischen Status der Freiheit, sondern die Reflexion darauf und die damit verbundene Ordnungsleistung und Priorisierung. 228 Das Böse besteht demnach auch nicht Schelling, FS, 38 (SW VII, 366). Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). 224 Schelling, FS, 43 (SW VII, 371). Vgl. auch ebd., 62 (SW VII, 390): »Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, Alles zu sein, ins Nichtsein fällt.« 225 Schelling, FS, 39 (SW VII, 366). 226 Schelling, FS, 44 (SW VII, 372). 227 Dies betont zu Recht Theunissen (1965), 184: »[D]as Tun des Bösen ist die volle Verwirklichung des Menschen als des Geistes«. 228 Diese Auffassung entspricht ziemlich genau derjenigen Kants in der Religions222 223
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im Fehlen von Rationalität, sondern in deren geschicktem Ausnützen, wodurch es gegenüber dem Guten geradezu eine erweiterte Rationalität darstellt. Es besteht, wie Schelling sagt, in einer »falsche[n] Imagination« des Weltverlaufs, einem »sich selbst aufzehrende[n] und immer vernichtende Widerspruch«. 229 Gegenüber dem Bösen besteht das Gute in der Unterordnung des Partikularwillens unter den Allgemeinwillen, indem der Mensch »die aktivierte Selbstheit mit der Liebe ein[schließt]« 230 . Gut und Böse ereignen sich also innerhalb derselben geistigen Struktur, sie unterscheiden sich nicht durch ihre Elemente, sondern deren Verbindung: »Dasselbe, was durch den Willen der Kreatur böse wird […] ist an sich selbst das Gute«. Das Gute ist demnach nicht die aufgegebene Selbstheit durch das Prinzip des Allgemeinwillens; vielmehr bleibt sie »der Potenz nach, als überwältigt durch dasselbe, […] im Guten auch immerfort bestehen« – es ist nicht resignativ aufgegebene, sondern aktiv untergeordnete Selbstheit 231 . Die durch den Geist »aktivierte Selbstheit« bzw. »der Wille des Grundes« wird demnach im Guten nicht niedergeschlagen und im Sinne der »Wegräumung eines Hindernisses« 232 beseitigt, 233 wie etwa der Eigendünkel in Kants Konzeption einer Autonomie der Vernunft, sondern nur aufgehoben, d. h. in einen anderen Modus versetzt: »Ein Gutes ohne wirksame Selbstheit ist selbst ein unwirksames Gutes.« 234 Schelling grenzt sich bei der näheren Bestimmung der Freiheitsentscheidung von zwei problematischen Positionen ab. Zum einen darf Freiheit – in deutlicher Anknüpfung an Leibniz’ Kritik des Äquilibrismus 235 – nicht als ein »völlig unbestimmtes Vermögen«, d. h. im Sinne einer libertas indifferentiae begriffen werden, wonach »von zwei schrift. Kant schreibt dort, dass der »Unterschied, ob ein Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben)« liege (Kant, RGV, AA VI, 36). 229 Schelling, FS, 62 (SW VII, 390). 230 Schelling, FS, 71 (SW VII, 400). 231 »Daher die allgemeine Notwendigkeit der Sünde und des Todes, als des wirklichen Absterbens der Eigenheit, durch welches aller menschlicher Wille als ein Feuer hindurchgehen muß, um geläutert zu werden.« (53). 232 Kant, KpV, AA V, 75. 233 Schelling, FS, 71 (SW VII, 399 f.). 234 Schelling, FS, 72 (SW VII, 400). 235 Leibniz, T I, 46, 126; CP, 53. Die Bestimmung des Willens
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kontradiktorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andere« gewählt wird. Es geht Schelling nicht darum, den Begriff der Willkür an sich zu verwerfen, sondern nur eine bestimmte, vereinfachte und reduzierte Form davon, welche selbst keine rationale Struktur mehr aufweist: Ein »Verteidiger dieses Begriffs von Willkür [Hervorh. J. N.]« führt nach Schelling »zu den größten Ungereimtheiten«, da eine solche Indifferenzfreiheit »ganz unvernünftig«, d. h. rational nicht durchsichtig zu machen wäre, so dass die handelnde Person keine Rechenschaft für ihre Entscheidung ablegen könnte. 236 Zugleich wäre damit der Begriff der Handlung reduziert auf das Ereignis einer »gänzlichen Zufälligkeit« 237 . Der Fehler der libertas indifferentiae im Sinne einer grundlosen Willkür besteht also in einer Subreption epistemischer und ontologischer Aspekte, indem »von dem Nichtwissen des bestimmenden Grundes auf das Nichtdasein« 238 eines solchen fälschlicherweise geschlossen wird. Nach Schelling muss also jede freie Handlung prinzipiell bestimmt sein, auch wenn der Bestimmungsgrund sich dem faktischen epistemischen Zugang entziehen sollte. Dem »System des Gleichgewichts der Willkür«, welches in reine Beliebigkeit führt, darf nach Schelling auf der anderen Seite nicht der »Prädeterminismus« entgegengesetzt werden, wonach die Handlungen durch zeitlich bedingende Ursachen, im Sinne einer empirischen Notwendigkeit, hervorgebracht sind, die sich, in Form des Konsequenz-Arguments, über eine unendliche Kette bis vor die Existenz des Handelnden zurückverfolgen lassen und damit »nicht mehr in unserer Gewalt stehen«. 239 Beide Ansichten – grundlose Willkür und Prädeterminismus –, so Schellings Diagnose, »gehören dem nämlichen Standpunkt an«, insofern sie eine dritte Option, welche Determination und Kontingenz zusammendenken vermag, nicht in Erwägung ziehen. 240 Schelling möchte also jener von Carl Christian Schmid im Ausgang von Kant vertretenen These, wonach es zwischen »vernunftlose[m] Zufall« und Notwendigkeit »schlechterdings Schelling, FS, 54 (SW VII, 382). Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). 238 Schelling, FS, 54 (SW VII, 382). 239 Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). 240 Diese Gegenüberstellung ähnelt in mancherlei Hinsicht der Ausgangssituation von Kants Freiheitsantinomie, freilich mit dem Unterschied, dass Schelling seinen Kompatibilismus nicht durch eine Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung entwickeln möchte, sondern in ein und derselben Welt. 236 237
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keinen Mittelweg« gebe, 241 gerade einen Vermittlungsversuch entgegensetzen. Wie ist Schellings Mittelweg zwischen Prädeterminismus und Indifferentismus zu verstehen? Schellings Freiheitsbegriff ist insofern kompatibilistisch angelegt, als, wie Schelling betont, »Notwendigkeit und Freiheit vereinigt werden müssen« 242 . Schelling rekurriert dabei auf den Begriff einer »höhere[n] Notwendigkeit« 243 bzw. einer »innere[n] Notwendigkeit« 244 , die Notwendigkeit und Kontingenz insofern vereinigen soll, als die Notwendigkeit nicht dem Menschen extern und heteronom gedacht wird, sondern seine Wesensidentität im Sinne einer inneren Notwendigkeit affirmiert. 245 Schelling folgt Kant darin, dass die Freiheit im Intelligiblen des Menschen gesucht werden muss. Diese Notwendigkeit darf nun aber nicht mit derjenigen reiner praktischer Vernunft verwechselt werden. Die freie Handlung folgt nach Schelling zwar »unmittelbar aus dem Intelligiblen des Menschen« 246 , ist aber dennoch »notwendig eine bestimmte Handlung« 247 , also Ausdruck der individuellen Person. Schelling vertritt zwar die These, dass »Religiosität keine Wahl zwischen Entgegengesetzten zu[lässt], kein aequilibrium arbitrii (die Pest aller Moral); sondern nur die höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl« 248 sei. Dies darf allerdings nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob Schelling grundsätzlich gegen einen Begriff von Entscheidungsfreiheit argumentiere, spricht er doch an anderen Stellen, gerade mit Blick auf das Böse, ausdrücklich davon, dass
Schmid, Versuch (1790), 255, 209. Schelling, FS, 56 (SW VII, 385). Auf dieses kompatibilistische Anliegen Schellings hat zu Recht Sturma (1995), 153, hingewiesen: »Es ist Schellings Freiheitslehre der Philosophischen Untersuchungen, mit der in der Geschichte des Deutschen Idealismus dadurch ein Neuanfang gemacht wird, daß das Verhältnis von Spontaneität und Notwendigkeit einer Deutung unterzogen wird, die an deren Gegensatz festhält und ihn nicht zum Verschwinden bringt.« 243 Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). 244 Schelling, FS, 57 (SW VII, 385). 245 Dies geschieht in Anknüpfung an Spinozas Freiheitsbegriff, der zwischen innerer und äußerer Notwendigkeit unterscheidet: »Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur; necessaria autem vel potius coacta, quae ab alio determinatur ad existendum et operandum certa ac determinata ratione.« (Spinoza, Ethica, Pars I, Def. VII, 6). 246 Schelling, FS, 55 (SW VII, 384). 247 Schelling, FS, 56 (SW VII, 384). 248 Schelling, FS, 64 (SW VII, 392). 241 242
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es sich dabei um Dezisionen des Menschen handelt. 249 Der vermeintliche Widerspruch kann dadurch aufgelöst werden, dass die Rede von »Religiosität« eben nicht den Zustand menschlicher Freiheit bezeichnet, auf den die Freiheitsschrift fokussiert, sondern vielmehr einen Idealzustand, in dem »Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden, freiwillig bejahen, was notwendig ist«, als das »wahre Gute« und die »wahre Freiheit«. 250 Indem aber dieser ideale Zustand bzw. diese idealistische Freiheit für die Freiheit schlechthin genommen wird, kann Schellings Projekt menschlicher Freiheit nicht mehr genügend gewürdigt werden. 251 Entscheidungsfreiheit ist nur insofern »Pest aller Moral«, als damit die Möglichkeit des Bösen, also die grundsätzliche Gefährdung des Guten, einhergeht. Nach Schelling entspringt zwar die einzelne Handlung in der Erscheinung nicht mehr einer Wahl, sondern einem intelligibel gegründeten Charakter. Diese Charaktergründung lässt sich jedoch nach wie vor als eine Art Grundsatzentscheidung bzw. -formierung verstehen. Freiheit im Sinne dieser Selbstformierung ist eine »innere, aus dem Wesen des Handelnden selbst quellende Notwendigkeit« 252 . Das intelligible Wesen ist nicht identisch mit reiner Vernunft, sondern Geist, d. h. es ist eine voluntative Verbindung zweier realer Willenstendenzen, die das individuelle »Wesen« bzw. die »eigene Natur« der Person bestimmen. Durch den Begriff von Notwendigkeit als individueller Wesensausdruck und volitionalem Identifikationsakt ist nach Schelling zugleich auch »die Ungereimtheit des Zufälligen der einzelnen Handlungen entfernt« 253 , also die rationale Freiheitsanforderung erfüllt, denn jede freie Handlung ist wesentlich bestimmt. Schellings recht dunkle Rede von einer Freiheit als Notwendigkeit lässt sich am Beispiel des Phänomens der Willensschwäche erläutern. Gesetzt den Fall, die Volitionen zweiter Stufe, die den Kern der Person konstituieren, hätten keinen Einfluss auf die Willenstendenzen erster Stufe (etwa, weil sie selbst uneinheitlich sind). Dann würVgl. etwa Schelling, FS, 46; 53 (SW VII, 374; 382). Schelling, FS, 63 (SW VII, 391). 251 Eine solche Identifizierung nimmt etwa Schwenzfeuer (2012), 284 Fn. vor. 252 Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). Schelling steht damit in einer größeren systematischen Nähe zu Leibniz, als er es selbst wahrhaben möchte: »Alle Verbesserungen aber, die man bei dem Determinismus anzubringen suchte, z. B. die Leibnizische, daß die bewegenden Ursachen den Willen doch nur inklinieren, aber nicht bestimmen, helfen in der Hauptsache gar nichts.« (FS, 55; SW VII, 383). 253 Schelling, FS, 56 (SW VII, 384). 249 250
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den sich jene Wünsche erster Stufe ungehindert durchsetzen. Die Person würde sich nicht völlig mit ihren Wünschen identifizieren. Eben dies scheint Schelling mit innerer Notwendigkeit zu meinen: ein harmonisches Verhältnis von Wünschen erster und Volitionen zweiter Stufe, von dem die jeweilige Handlung ein authentischer Ausdruck ist im Sinne der Selbsttreue. 254 Innere Notwendigkeit ist also nach Schelling wesentlich willentliche Notwendigkeit. Eine solche Vorstellung von Freiheit impliziert eine von der natürlichen Zeit verschiedene Ordnung, was Schelling in modifizierender Anknüpfung an Kants Begriff einer »intelligiblen Tat« beschreibt. Das Wesen des Geistes, als ein Operieren mit Eigen- und Universalwille, fällt nicht in die natürliche Zeit, da es sich um eine willentliche Angelegenheit handelt, welche holistisch die ganze Person in ihrer Ausrichtung auf die Welt betrifft: Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist diesem zufolge außer allem Kausalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit. Es kann daher nie durch irgend etwas Vorhergehendes bestimmt sein, indem es selbst vielmehr allem andern, das in ihm ist oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Einheit vorangeht, die immer schon ganz und vollendet da sein muß, damit die einzelne Handlung oder Bestimmung in ihr möglich sei [Hervorh. J. N.]. 255
Eine solche intelligible Tat »geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit (unergriffen von ihr) hindurch als eine der Natur nach ewige Tat [Hervorh. J. N.]«. 256 Gute oder böse Einzelhandlungen sind also im Grunde Manifestationen eines guten oder bösen gestifteten, sie fundierenden zeitlos verfassten »Geistes der Zwietracht« bzw. »Geist[es] der Liebe«, 257 im Sinne einer holistischen Verhältnisbestimmung der die Person konstituierenden Prinzipien, die willentlich strukturiert sind. Die Notwendigkeit des Wesens ist keine »Tathandlung« 258 im Fichteschen Sinne, sondern »reales Selbstsetzen«, welches Schelling 254 Vgl. auch Buchheim (2012), 203. Frankfurt (1982), 264, hat dieses Phänomen als »volitional necessity« beschrieben. 255 Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). 256 Schelling, FS, 57 (SW VII, 386). 257 Schelling, FS, 37 (SW VII, 365). 258 Fichte versteht bekanntlich in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre [GWL] (1794) die »Thathandlung« als »den absolutesten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens«. Als solcher liegt diese »allem Bewustseyn zum Grunde« (GA I, 2, 255).
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weniger epistemisch als wesentlich voluntativ fasst – im Sinne einer Errichtung und Artikulation: »[E]s ist ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist.« 259 Zentral ist hierbei, dass diese Basis ein Grund für Individualität ist; der Mensch erscheint in diesem realen Selbstsetzen »entschieden und bestimmt« und hat »sich in bestimmter Gestalt ergriffen« – d. h. als eine verkörperte Einheit von Eigen- und Universalwillen – »indem durch jene Tat sogar die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation bestimmt ist« 260 . »Das intelligible Wesen kann daher, so gewiß es schlechthin frei und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln«; »frei« kann nach Schelling denn auch nur dasjenige genannt werden, »was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist« 261 . Im Gegensatz zu Kant ist das reale Selbstsetzen damit das sich-Setzen als ein bestimmtes Individuum, welches gerade eine individuelle geistige Einheit aus natürlichen und vernünftigen Momenten darstellt, die die Freiheit zum Guten und Bösen haben muss. Reales Selbstsetzen als geistige Gründung des Charakters bedeutet eine Entwicklung, die als eine Selbstformierung verstanden werden kann. Es bedeutet für Schelling demnach keine grundlose Selbstbestimmung, sondern eine Selbstformierung auf vorgegebener naturaler-voluntativer Basis – also Volitionen erster Stufe –, insofern die Selbstbestimmung immer nur unter vorgegebenen individuellen und geschichtlichen Umständen erfolgen kann. 262 Die intelligible Tat ist, wie Schelling es ausdrückt, »ein Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu Etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist« 263 . Die intelligible Tat ist also nach Schelling eine reale Gründung Schelling, FS, 57 (SW VII, 385). Schelling, FS, 59 (SW VII, 387). 261 Schelling, FS, 56 (SW VII, 384). 262 Vgl. Florig (2010), 162. Florig unterscheidet in diesem Zusammenhang m. E. treffend zwischen Selbstsetzung und Selbstbestimmung: »Selbstsetzung meint das pure Setzen meiner als eigenschaftslos gedachten Existenz; Selbstbestimmung hingegen meint eben die Bestimmung meiner selbst hinsichtlich meiner Eigenschaften bzw. der Art und Weise meines Auftretens. Beides ist so zusammen zu denken, daß ich mich im Setzen meiner selbst stets an bestimmte Eigenschaften binde und sie als meine bejahe. Zugleich erlaubt die Trennung beider Aspekte die Verwahrtheit meiner selbst gegenüber den verschiedenen Möglichkeiten meiner Selbstbestimmung zu denken.« (162). 263 Schelling, FS, 57 (SW VII, 385). 259 260
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des individuellen Charakters, eine »Grundorientierung« 264 , die im Verlauf der individuellen Existenz profiliert wird. Die Errichtung des individuellen Charakters auf der Basis des Grundwollens erfolgt ähnlich einer Auskristallisierung durch gesetzmäßige Regulation der unterschiedlichen Verstrebungen des Handlungszusammenhangs in der Reflexion: Es ist »an sich Freiheit, formell Notwendigkeit« 265 . Schellings Theorie der Persönlichkeit impliziert gegenüber Kant eine Aufwertung des Vermögens des Verstandes, insofern dieses nicht mehr im Freiheitsgebrauch als bloß empirischer Vernunftgebrauch bedingt begriffen wird: »[S]o hoch wir auch die Vernunft stellen, glauben wir doch z. B. nicht, daß jemand aus reiner Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein großer Mensch sei«, denn »nur in der Persönlichkeit ist Leben«. 266 Gegenüber dem allgemeinen Vermögen der Vernunft und ihrem Sittengesetz ist also gerade der Verstand, als Gebrauch der Vernunft, das charakteristische Vermögen der individuellen Person: »Verstand«, so Schelling, »setzt Persönlichkeit voraus« 267 . Nicht die reine Vernunft leistet als principium executionis das Moment der Entscheidung, sondern der Eigenwille, der durch die Verbindung mit dem Universalwillen (der Vernunft), zur individuellen Rationalität, einem, wie Schelling sagt, »kräftige[n] Verstande [Hervorh. J. N.]« 268 geworden ist. Darin zeigt sich, dass die Vernunft allein nicht willkürlich handeln kann: Sie muss, um »kräftig« zu werden, mit dem Eigenwillen verbunden werden. Die Vernunft ist, im Gegensatz zu Kants Begriff praktischer Vernunft, nach Schelling gerade »nicht Tätigkeit, […] sondern Indifferenz; das Maß und gleichsam der Ort der allgemeine Ort der Wahrheit, die ruhige Stätte, darin die ursprüngliche Weisheit empfangen wird, nach welcher, als dem Urbild hinblickend, der Verstand bilden soll [Hervorh. J. N.]« 269 . Schelling bezeichnet diese diskursive und abwägende Funktionsweise der menschlichen Rationalität als »Dialektik« 270 , die er als »sondernde[n], aber eben darum organisch ordnende[n] und gestal264 265 266 267 268 269 270
Florig (2000), 137. Schelling, FS, 57 (SW VII, 385). Schelling, FS, 85 (SW VII, 413). Schelling, NR, SW VII, 515. Schelling, FS, 85 (SW VII, 414). Schelling, FS, 86 (SW VII, 415). Schelling, FS, 85 (SW VII, 414).
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tende[n] Verstand« versteht. 271 Der Verstand ist also insofern dialektisch und diskursiv, als er nicht auf die Allgemeinheit – wie die (intuitive) Vernunft – »die als das Vernehmende und Allgemeine in Ansehung des Menschen mehr den Charakter der Ruhe und Hingebung hat« 272 orientiert ist, sondern dass durch ihn die Person sich immer in einem spezifischen Kontext von Gründen und Gegengründen befindet, die in freiheitstheoretischer Hinsicht zu einer individuellen Ordnung gebracht, und die wiederum »kraftvoll« in eine Handlung überführt werden müssen. Eben diese, die Persönlichkeit im »Leben« orientierende Operationsweise des Verstandes macht sie »tugendhaft«. 273 Der Verstand darf so als die diskursive Operationsweise des Geistes angesichts seiner spezifischen Situation angesehen werden, denn »[j]ede Begeisterung äußert sich auf bestimmte Weise [Hervorh. J. N.]« 274 . In dieser kräftigen und entschiedenen Bestimmtheit – man könnte auch sagen: der Urteilskraft – besteht die willentliche Notwendigkeit. 275 Worin besteht genau Schellings Fortschritt angesichts des Autonomie-Problems im Ausgang von Kant und Reinhold? Schellings systematischer Beitrag zum Autonomie-Problem kann darin erblickt werden, das er das Vermögen der Willkür nicht nur im Gefüge der menschlichen Vermögen, sondern auch innerhalb der Welt selbst verortet. Während Kant die Willkür definitorisch an die reine praktische Schelling, FS, 86 (SW VII, 415). Schelling, NR, SW VII, 516. 273 Schelling, FS, 85 (SW VII, 413). 274 Schelling, FS, 86 (SW VII, 414). 275 Schellings Auffassung des »kräftigen Verstandes«, der den Menschen »tugendhaft« macht, entspricht in vielerlei Hinsicht der Rolle der dianoetischen Tugend der moralischen Urteilskraft bei Aristoteles: »Die moralische Urteilskraft aber hat es mit den Menschen zu tun und mit solchen, in welchen es ein Sich-Beraten (βουλεύεσθαι) gibt. Dem vernünftigen Menschen legen wir ja als Hauptgeschäft das richtige SichBeraten bei. Niemand aber überlegt und beratschlagt über das, was unmöglich anders sein kann, und ebensowenig über das, was zwecklos ist, oder genauer, was nicht ein dem Menschen erreichbares Gut bezweckt. Richtiges Sich-Beraten schlechthin schreibt man dem zu, der durch diskursive Reflexion (στοχαστικὸς κατὰ τὸν λογισμόν) das größte dem Menschen erreichbare Gut zu treffen weiß. Ferner bezieht sich die moralische Urteilskraft nicht bloß auf das Allgemeine (καθόλον), sondern auch auf die Kenntnis im Einzelnen (τὰ καθ’ ἕκαστα γνωρίζειν).« (Aristoteles, EN, 1141b8–15); Übers. nach Gadamer (1998), 41. Zur ›geistigen‹ Dimension der phronesis vgl. Buchheim (2012), 90; zur ethischen Bedeutung dieser ›geistigen‹ Orientierung, auch mit Blick auf Schelling, vgl. Buchheim (2006), 158 u. 162 f. 271 272
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Vernunft und ihr Sittengesetz gebunden hatte, so ist sie bei Schelling gegenüber dem Eigen- und Allgemeinwillen flexibel. Die Freiheitsentscheidung ist auch dann begründet, wenn sie gegen den Universalwillen ausfällt, da sie immer durch den Universalwillen geschieht. Das Erheben des Eigenwillens über den Universalwillen ist kein grundloser Sprung der Person in die Heteronomie, sondern das Ergebnis einer Gewichtung der sie konstituierenden Prinzipien im Sinne eines deliberativen Freiheitsbegriffs. Auf dieser Basis kann Schelling das Böse positiv denken – Gut und Böse sind insofern identisch, als sie Folgen desselben Ermöglichungsgrundes der Freiheit sind. 276 Anders als Reinhold fasst Schelling die Willkür nicht als eine dritte ontologisch geschiedene Instanz neben den Willenstendenzen. Vielmehr versucht Schelling, die Willkür als geistige »Tätigkeit« 277 , also aus ihrem Gebrauch dieser Willenstendenzen und Prinzipien heraus zu analysieren. Dadurch gelingt es Schelling, jede der möglichen Entscheidungen der Willkür als begründet auszuweisen, denn sie ist ein spezifischer Gebrauch des Allgemeinen und Objektiven. Der Grund der Freiheitsentscheidung ist deshalb nichts von außen zu beiden Willensprinzipien Hinzustoßendes, sondern ein ›dialektisches‹ Gewichten, bzw. Abwägen des Potenzverhältnisses selbst, 278 angesichts der Polarität von Eigen- und Universalwille. 279 – Mit Kierkegaard gesprochen: ein »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« 280 . Dadurch, dass nicht reine Vernunft aufgrund eines allgemeinen Gesetzes, sondern die Person als geistig-voluntative Einheit durch Einbeziehung des Universalwillens die Freiheitsentscheidung ausübt, wird diese in verschiedenen Hinsichten situiert: Die Person kann auf 276 Vgl. dazu Schellings Charakterisierung des Verhältnisses: »Daher dialektisch ganz richtig gesagt wird: Gut und Bös sei’n dasselbe, nur von verschiedenen Seiten geseh’n, oder, das Böse sei an sich, d. h. in der Wurzel seiner Identität betrachtet, das Gute, wie das Gute dagegen, in seiner Entzweiung oder Nicht-Identität betrachtet, das Böse.« (FS, 72; SW VII, 400). 277 Schelling, FS, 86 (SW VII, 415). 278 Vgl. hierzu wieder Schellings Rede vom bloßen quantitativen »Überwiegen« der Pole im System seiner Identitätsphilosophie. 279 Diese Paarung von Eigen- und Universalwillen ähnelt in vielerlei Hinsicht der reflexiven Verschränkung von Wille und Vernunft bei Thomas von Aquin. Vgl. dazu S. TH I, q. 16, a.4 ad 1, S. Th. q. 82, a. 4 ad 1. Auf die Bedeutung der Polarität der Willenstendenzen für Schellings Begriff deliberativer Freiheit hat Buchheim (2012), 194 ff. hingewiesen. 280 Kierkegaard, Krankheit, 9. Vgl. zum ›geistigen‹ Verhältnis zwischen Schelling und Kierkegaard auch Pieper (1995), 94 f.
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Basis ihres Eigenwillens nur im Verhältnis zu ihrer Natur handeln, und durch den Universalwillen nur durch die Außenperspektive bzw. die Perspektive eines Verbundes anderer Personen. Individuelle Freiheit kann demnach als ein situiertes und situierendes Selbstpositionieren bestimmt werden, welches als Selbstformierung zugleich einen geschichtlichen Charakter involviert. 281 Durch die natürliche und geschichtliche Anbindung der Freiheitsentscheidung sind damit Gegenstände der Selbstbestimmung nicht mehr wie in Kants Autonomie-Lehre »Hervorbringungen« der reinen praktischen Vernunft, bei welcher principium diiudicationis und principium executionis zusammenfallen, sondern kontingente Angebote und Aufforderungen, zu denen sich die freie Person situativ verhalten muss und mit denen sie auf ihre je individuelle Weise – durch eine spezifische Einnahme von Perspektiven – operieren muss. 282 Der personale Geist ist nach Schelling kein starres Prinzip, keine »Indifferenz« und »ruhige Stätte« wie die Vernunft, 283 sondern interpersonal vernetzt, so dass die Freiheitsentscheidungen der Personen sich gegenseitig beeinflussen und miteinander einbeziehen müssen, wodurch Selbstbestimmung als ein prinzipiell offener Prozess gedacht wird. Die Person imaginiert sich in ihrer Freiheit eine Weltordnung, in der sie sich als endliches, verletzliches und nicht allein existierendes Wesen vorfindet. 284 Wie ist diese interpersonale Dimension der Freiheit näher zu verstehen? Nach Schelling ist ›geistige‹ Freiheit nicht bloß ein innerpersonaler harmonischer Zustand zwischen Willenstendenzen erster Stufe und Volitionen zweiter Ordnung, sondern realisiert sich in verschiedenen Kontexten. Das Gute oder Böse ist denn auch nicht mehr 281 Auf diesen sehr modern anmutenden Aspekt des Schellingschen Freiheitsbegriffs verweist Buchheim (2012), 212. Charles Taylor hat – allerdings vor allem mit Blick auf Hegel – diesbezüglich den Begriff einer »situated freedom« geprägt (Taylor [1979], 160). Die freie Person ist diesem Begriff zufolge »necessarily situated in life, in nature, and in a setting of social practices and institutions.« (164). Zur Natur des Geistes als wesentlich interpersonal situiertem Vermögen vgl. Buchheim (2006), 158 f. 282 Vgl. Buchheim (2012), 191 f. sowie zum Verhältnis der Möglichkeit des Guten und Bösen und der menschlichen Freiheit auch Schwenzfeuer (2012), 283, wonach »die menschliche Freiheit nicht den Unterschied von Gut und Böse erst setzt, sondern immer schon in ihm steht«. 283 Schelling, FS, 86 (SW VII, 415). 284 Vgl. zu dieser Offenheit des Schellingschen Autonomiebegriffs Florig (2010), 173. Sturma (2004), 65, spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einer »freiheitstheoretische[n] Externalisierung« der Selbstbestimmung.
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begrenzt auf Einzelhandlungen und Maximen (das war bereits auch Schillers Forderung gewesen) 285 , sondern auf einen interpersonalen Verbund, einen Freiheitskontext (ein guter oder böser »Geist«, wie Schelling sagt), der ›gestiftet‹ werden kann. 286 Entscheidend ist für Schellings Begriff personaler Freiheit also nicht nur, »wie das Böse nur im einzelnen Menschen wirklich werde, sondern seine universelle Wirksamkeit [Hervorh. J. N.]« 287 , die das einzelne Individuum im Freiheitsgebrauch umgreift und auf es zurückwirkt: Die Person befindet sich in ihrer Freiheitsentscheidung in Wechselwirkung mit anderen Personen, so dass sich eine jede Handlung in Form einer Rückkopplung auswirkt, die die ursprüngliche Willenstendenz wiederum beeinflusst. 288 Die einzelnen Handlungen der Person sind insofern auch nicht mehr allein von der innerwillentlichen Notwendigkeit (der personalen ›Resonanzfrequenz‹) abhängig, sondern auch von der Materie des Allgemeinwillens, also interpersonalen Anforderungen, die selbst in jeden Willensbildungsprozess mit einfließen. Schelling formuliert diese Sachlage so, dass »nicht er [der Mensch; J. N.] selbst, sondern entweder der gute oder der böse Geist in ihm handelt; und dennoch tut dies der Freiheit keinen Eintrag. Denn eben das in-sichhandeln-Lassen des guten oder bösen Prinzips ist die Folge der intelligiblen Tat, wodurch sein Wesen und Leben bestimmt ist« 289 . Durch die ›geistige‹ Situierung menschlicher Freiheit in Selbstund Weltverhältnissen ist schließlich nicht nur die Möglichkeit einer Verbreitung der Freiheit, sondern auch der Aufnahme der Freiheit gegeben. Diese äußert sich im Sinne der Möglichkeit einer »Transmutation« bzw. »Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten«, die durch Wechselwirkung der Freiheitssubjekte ermöglicht wird. Volitionen zweiter Stufe sind nicht abgeschlossen in Art einer »inneren Zitadelle«, sondern prinzipiell revidierbar. 290 Eine solche
285 Vgl. Schiller, AW, 283: »Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu seyn [Hervorh. J. N.]«. 286 Vgl. dazu auch Schiller, ÄE, 386 Fn.: »Ein edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frey zu seyn, er muß alles andere um sich her […] in Freyheit setzen.« 287 Schelling, FS, 45 (SW VII, 373). 288 Vgl. Sturma (1995), 166: »Schellings Präreflexivitätskonzeption zufolge vollziehen sich Freiheit und Selbstbestimmung nicht in isolierten Selbstverhältnissen, sondern in personalen Einstellungen und Verhältnissen zu anderen und anderem. Diese Kontextualität wirkt auf das Freiheitsbewußtsein zurück.« 289 Schelling, FS, 61 (SW VII, 389). 290 Vgl. Buchheim (2012), 213.
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Revision oder »radical evaluation« 291 von Volitionen zweiter Ordnung versteht Schelling im Sinne der Annahme einer »Hilfe« von außen, die freilich voraussetzt, dass der Mensch »dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt« 292 .
2.
Fazit: Zur systematischen Relevanz der nachkantischen Freiheitsdebatte
Die Notwendigkeit verschiedener Transformationen der Kantischen Freiheitstheorie ergab sich daraus, dass der absolute Begriff von Autonomie als Kausalität der Vernunft der individuellen und moralisch zurechenbaren Person nicht gerecht werden konnte. Das Hauptanliegen der nachkantischen Freiheitsdebatte bestand angesichts dieses Problems darin, einen dritten Weg zwischen grundlosem Indifferentismus und alternativlosem Vernunftdeterminismus einzuschlagen und den so eröffneten Spielraum im Sinne einer qualitativen Theorie menschlicher Willensfreiheit weiter zu bestimmen. Dieser qualitative Begriff von Willensfreiheit wurde am Problem einer Freiheit zum Bösen paradigmatisch entwickelt und erprobt. Angesichts der verschiedenen Strategien, Willensfreiheit zu bestimmen, ist die nachkantische Freiheitsdebatte nicht nur von historischem Interesse. Ihr differenziertes Problem- und Theorieprofil erlaubt es vielmehr, sie auch auf die gegenwärtige Freiheitsdebatte analytischer Prägung zu beziehen. Ein solcher Bezug kann dazu dienen, den Blick auf die Spielarten der gegenwärtigen Debatte zu schärfen, da die nachkantische Debatte bereits idealtypische Richtungen und Tendenzen auf der Landkarte des Freiheitsproblems vorgeprägt hat. Die historische Debatte lässt sich insofern als eine Art Ariadnefaden verwenden, der im »labyrinth of free will« 293 der gegenwärtigen Debatte Koordinaten der Orientierung beisteuern kann. Wo genau bestehen die systematischen Bezugspunkte der nachkantischen und der gegenwärtigen Debatte? Wie die historische De291 Vgl. Taylor (1985a), 42: »[R]adical evaluation is a deep reflection, and a self-reflection in a special sense: it is a reflection about the self, its most fundamental issues, and a reflection which engages the self most wholly and deeply.« 292 Schelling, FS, 61 (SW VII, 389). Vgl. auch Leibniz, CP, 89: »[D]enn wie ein Licht gleichsam durch Ritzen mitten in die Finsternis einfällt, steht ein Mittel zu entrinnen in unserer Macht, vorausgesetzt, daß wir es gebrauchen wollen«. 293 Kane (2002), 406.
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Fazit: Zur systematischen Relevanz der nachkantischen Freiheitsdebatte
batte im Ausgang von Kants Begriff transzendentaler Freiheit, so kreist auch die gegenwärtige Debatte um die Autonomie-Forderung nach absoluter Spontaneität der Freiheitsentscheidung (»strong conception of free will« 294 ). 295 Einher mit dieser Forderung gehen verschiedene Detailprobleme, die strukturell zahlreiche Entsprechungen in der nachkantischen Debatte aufweisen: Durch verschiedene Transformationen am Begriff absoluter Spontaneität der Ursachen soll eine Theorie von personaler Freiheit entwickelt werden, die die individuelle Operation einer Bestimmung des Willens weiter verständlich macht und dabei besonders das Moment der Wahl und der alternativen Möglichkeiten in den Blick nimmt. In der neueren Freiheitsdebatte hat Roderick Chisholm die ontologische Anforderung von Willensfreiheit besonders betont und dafür – in systematischer Nähe zu Kants Begriff einer transzendentalen Freiheit – den Begriff der Akteurskausalität (agent causation) geprägt. 296 Chisholm rekurriert in diesem Kontext auf den Begriff einer absoluten Ursache, eine, wie er sie nennt, »instance of immanent causation« 297 . Eine solche immanent causation entspricht systematisch dem in Kants Kritik der reinen Vernunft entwickelten Begriff einer »absolute[n] Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« 298 . Eine absolute Freiheitsentscheidung kann deshalb nicht auf Basis von Willenstendenzen erster Ordnung erfolgen, da durch sie ein Moment der heteronomen, externen Bestimmung Einzug in die Freiheitsentscheidung hält, dessen Bestimmtheit mit dem ›reinen‹, von jeglicher KonVgl. zu dieser Begriffsprägung Strawson (1989), 9 sowie Pauen (2001b), 27. Vgl. zu dieser Debatte auch Pauen (2001b). Pauen bestimmt eine solche Auffassung von Autonomie folgendermaßen: »Die Handlung muß sämtlichen Umständen gegenüber autonom sein; sie muß also unter identischen Bedingungen auch anders ausfallen können. Insofern wäre eine Abhängigkeit von vergangenen freien Entscheidungen des Urhebers unzulässig.« (28). 296 Chisholm (1982; 11964). 297 Chisholm (1982), 28. 298 Kant, KrV, B 474. Vgl. analog Chisholm (1982), 32: »If we are responsible, and if what I have been trying to say is true, then we have a prerogative which some would attribute only to God: each of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause those events to happen.« Chisholm spricht ausdrücklich davon, »that this [the Kantian approach to the problem of human freedom] is the one that I would take« (33). Freilich ist bei Kant diese Spontaneität weiter normativ differenzierbar, nämlich im Sinne von praktischer Freiheit bzw. vernunftgesetzlicher Willensbestimmung. 294 295
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tingenz abstrahierten, immanenten ›Kern‹ des Akteurs inkompatibel ist: »If we are […] prime movers unmoved and if our actions, or those for which we are responsible, are not causally determined, then they are not causally determined by our desires.« 299 An diesem Punkt einer Freiheit als absoluter Ursächlichkeit ergibt sich bei Chisholm wie zuvor bei Kant ein Problem, welches aus seinen ursprünglichen Annahmen zur Sicherung individueller Zurechenbarkeit folgt, wonach der freie Wille des Menschen, soll er absolut frei sein, aus völliger Unbestimmtheit zur Entscheidung kommen muss. 300 Die eigentlich handelnde Instanz, der reine ›Wesenskern‹ des Akteurs, wird so zu einem nicht mehr greifbaren, transzendentalen Punkt, der sich, wie allgemein auch die Freiheitsentscheidung selbst, jeglicher Verständlichkeit entzieht: »No set of statements about a man’s desires, beliefs, and stimulus situation at any time implies any statement telling us what the man will try, set out, or undertake to do at that time […] This means that, in one very strict sense of the terms, there can be no science of man.« 301 Wie bei Kant, so entsteht auch bei Chisholm das Problem, dass die individuelle Person durch die Forderung nach absoluter Unbedingtheit der Freiheitsentscheidung in ihrer individuellen und bestimmten Existenz bedroht ist. In der gegenwärtigen Freiheitsdebatte hat Robert Kane auf dieses Autonomie-Problem mit einer elaborierten Version von Akteurskausalität reagiert. Zwei freiheitstheoretische Anforderungen bilden für Kane die Ausgangsbasis: Zum einen – und darin folgt er ausdrücklich Chisholms Indeterminismus – darf eine freie Handlung nur auf den handelnden Akteur zurückführbar sein, sodass dieser die absolute Ursache der Handlung darstellt. Kane bezeichnet diese Anforderung als Ultimacy Condition 302 . Zum anderen muss eine freie Handlung jedoch auch verständlich sein, d. h. sie muss durch Gründe erklärbar und damit auf eine bestimmte Weise determiniert 299 Chisholm (1982), 32. Vgl. zur Heteronomie der Neigungen nach Chisholm: Pauen (2001a), 284. 300 Vgl. zu dieser Neuauflage des Autonomie-Problems in analytischem Gewand allgemein Pauen (2001b), Pauen (2005), 37–58 sowie speziell mit Blick auf Chisholm: Kane (1989). 301 Chisholm (1982), 33. 302 Vgl. Kane (1989), 226: »The free action for which the agent is ultimately responsible is such that its occurring rather than not here and now, or vice versa, has as its ultimate or final explanation the fact that it is caused by the agent here and now.«
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sein. Kane bezeichnet diese Anforderung als Explanation Condition 303 . Beide Bedingungen stehen in Chisholms Begriff von Akteurskausalität in einem Konflikt. Wenn nämlich freie Handlungen unbedingt sein sollen, also unmittelbar einem Indifferenzzustand entspringen, dann, so Kanes Diagnose, sind diese grundsätzlich unverständlich, was die Explanation Condition verletzt. 304 Eine Theorie von Akteurskausalität, wie sie von Kant und Chisholm vertreten wurde, muss auf ontologisch problematische »extra (or special) factors« wie etwa »noumenal selves« rekurrieren, die epistemisch nur schwer zugänglich sind. 305 Angesichts dieses Problems stellt sich die Frage, wie ein Freiheitsbegriff entwickelt werden kann, der beiden Anforderungen gleichermaßen Genüge tut. 306 Kane bezeichnet seine Position, die beide Bedingungen erfüllen soll, als »kausalen Indeterminismus« (causal indeterminism), 307 der sich als eine Form reflektierter Akteurskausalität verstehen lässt. 308 Im Zuge seiner Transformation des Begriffs absoluter Spontaneität setzt Kane an einer veränderten Bewertung primärer Willenstendenzen an. Kane hat einen Willen vor Augen, der durch zwei gleichstarke Motive gespalten ist. 309 Anders als bei Chisholm stellen diese konfligierenden, kontingenten Motive bzw. Willenstendenzen erster Stufe nun keine heteronomen Bestimmungsgründe mehr dar, die prinzipiell für die Freiheitsentscheidung vernachlässigbar wären. Vielmehr versucht Kane durch ihre Einbeziehung in den Freiheitsakt der Ultimacy Condition Genüge zu tun: Wie auch immer die Entscheidung angesichts der vollständigen Alternative beider Bestimmungsgründe ausfällt, sie geht auf den – wenn auch durch unterschiedliche Motive 303 Kane (1989), 225 f.: »A free action for which the agent is ultimately responsible is the product of the agent, i. e. is caused by the agent, in such a way that we can satisfactorily answer the question ›Why did this act occur here and now rather than some other?‹ (whichever occurs) by saying that the agent caused it to occur rather than not, or vice versa, here and now.« 304 Vgl. Kane (1989), 227. 305 Kane (2002), 415. 306 Eine ähnliche Frage hat in der historischen Debatte Leonhard Creuzer formuliert: »Ist […] eine Freyheit vernünftig denkbar, die ein und dasselbe Wesen gleichvermögend macht für kontradiktorisch entgegengesetzte Handlungen? [Hervorh. J. N.]« (Skeptische Betrachtungen, 131). 307 Kane (2003), 239. 308 Vgl. Pauen (2005), 52. 309 Vgl. Kane (2003), 229 f. u. 230: »[T]he indeterminism thus arising from a tensioncreating conflict in the will«.
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gespaltenen – eigenen Willen der Person zurück. Beide Triebfedern inklinieren den Willen nur, nezessitieren ihn aber nicht, wodurch Kane einen differenzierten Begriff von negativer Freiheit entwickeln kann. 310 Zu zeigen ist nun allerdings, wie genau die Willensentscheidung im Sinne positiver Freiheit gedacht werden kann. Der gespannte Zustand des Indeterminismus erscheint nach Kane auf Grund des fehlenden Übergewichts zur einen oder anderen Seite und dem sich daraus ergebenden Äquilibrismus zunächst als eine Art Hindernis (obstacle) der unmittelbaren Entscheidung, welches jedoch kein äußeres, sondern ein inneres im Sinne einer willentlichen Selbsthemmung ist. 311 Ein solcher in sich differenzierter Gleichgewichtszustand stellt sich nach Kane jedoch gerade als Ermöglichungsgrund positiver Freiheit heraus, insofern er durch die negative Freiheit des Gleichgewichts inklinierender Willenstendenzen erster Stufe die Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe ermöglicht, die sich reflexiv auf diese beziehen: »[B]y being a hindrance to the realization of some of our purposes, indeterminism paradoxically opens up the genuine possibility of pursuing other purposes – of choosing or doing otherwise in accordance with, rather than against, our wills (voluntarily) and reasons (rationally).« 312 Diese Komplexität des durch konfligierende Wünsche in einen äquilibristischen Zustand versetzten Willens ist nach Kane geradezu notwendig für die Eröffnung alternativer Möglichkeiten und die Selbstformierung der Persönlichkeit durch »selfforming actions« 313 . Eine Auflösung des Gleichgewichts von Volitionen erster Stufe kann nur durch einen willentlichen Überwindungsaufwand dieses Hindernisses erfolgen, der sich der Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe verdankt. Egal für welchen möglichen Bestimmungsgrund sich die Person schließlich durch den subjektiven Aufwand (effort) ihrer Kräfte auf Basis von Volitionen zweiter Stufe aus Indifferenz heraus entscheidet – die Entscheidung wird, so Kanes Argumentation, nicht völlig grundlos ausfallen, da immer einem der beiden primären und bekannten Willenstendenzen nachgegeben wird, mit der sich die Person zuvor – wenn auch nur partiell – identifiziert hatte. Der Entschei310 311 312 313
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Vgl. Kane (2003), 222. Kane (2003), 235. Vgl. Kane (2003), 235 f. Kane (2003), 225.
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dungsaufwand kann damit als zugleich determiniert und indeterminiert angesehen werden: Aus der Perspektive von Willenstendenzen erster Stufe erscheint die Freiheitsentscheidung als determiniert, während aus der Perspektive von Volitionen zweiter Stufe der Willensakt unbestimmt erfolgt. 314 Auf Basis von Willenstendenzen erster Stufe ist damit die Explanation Condition erfüllt: Die Handlung geschieht anlässlich bzw. auf Basis von bestimmten inklinierenden Motiven und Einstellungen einer bestimmten Person, die sich auf der Ebene von Willenstendenzen erster Stufe psychologisch oder physikalisch beschreiben lassen. 315 Auf Basis von Volitionen zweiter Stufe ist hingegen die Ultimacy Condition erfüllt: Die Entscheidung erfolgt aus absoluter Spontaneität. Der personale Wille ist zwar gespalten, doch handelt es sich immer noch um ein und dieselbe Person, die sich gleichermaßen mit beiden Wünschen identifiziert. 316 Wie kann jedoch das ›Komplement‹ der Volitionen zweiter Stufe näher bestimmt werden, welches die inklinierenden Willenstendenzen schließlich zu handlungswirksamen kürt? Kane versteht seinen Begriff eines reflektierten Indeterminismus als kompatibel mit einer Form von »nondeterministic or probabilistic causation«, wie etwa Quantenzustände im menschlichen Gehirn, 317 die nur eine Form von »deterministic causation« ausschließen, jedoch nicht jegliche kausale Verursachung schlechthin. 318 Wie lässt sich eine solche »nondeterministic or probabilistic causation« aber gemäß der Explanation Condition verstehen? Kane begreift eine derartige Entscheidung in Form einer »nondeterministic or probabilistic causation« als Initiierung 314 Vgl. Kane (2003), 232: »One must think of the effort and the indeterminism as fused; the effort is indeterminate and the indeterminism is a property of the effort, not something separate that occurs after or before the effort.« 315 Kane (2003), 237, begreift unter solchen Willensanstrengungen u. a. »deliberations, beliefs, desires, intentions«. 316 Vgl. Kane (2003), 225: »They [the agents; J. N.] are, as we say, of two minds. Yet they are not two separate persons.« 317 Vgl. Kane (2003), 238: »[C]onflicts in the wills of agents associated with self-forming choices would ›stir up chaos‹ in the brain, sensitizing it to quantum indeterminacies at the neuronal level, which would then be magnified to effect neural networks as a whole. The brain would thus be stirred up by such conflict for the task of creative problem solving.« (238). Zu einem anderen Quanten-Beispiel vgl. Kane (1989), 236. 318 Vgl. Kane (2003), 232: »Indeterminism is consistent with nondeterministic or probabilistic causation, where the outcome is not inevitable. It is therefore a mistake (alas, one of the most common in debates about free will) to assume that ›undetermined‹ means ›uncaused‹.« (232); »Self-forming choices are undetermined, but not uncaused. They are caused by the agent’s efforts.« (234).
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einer besondere Art von offenem willentlichem Experiment (value experiment) 319 . Ein solches Experiment gehorcht der Logik einer »probabilistic causation«, was bedeutet, dass eine Freiheitsentscheidung nicht durch die Vergangenheit eindeutig festgelegt sein muss, sondern sich nur an diese, im Sinne einer wahrscheinlichen Verzweigung, auf konsistente und kohärente Weise anknüpfen lässt. 320 Diese Anknüpfung ist nicht als eindeutige Verursachungsrelation zu verstehen, sondern als eine Art von narrativer Kontinuität, einem voluntativen ›Fortspinnen‹, derart, dass eine solche Anknüpfung angesichts der vergangenen Zustände im Urteil des Akteurs als sinnvoll, verständlich und zweckmäßig erscheint. 321 In diesem Zusammenhang rekurriert Kane explizit auf die Tradition des liberum arbitrium voluntatis, dem, wie er es übersetzt »free judgment of the will«: Imagine a writer in the middle of a novel. The novel’s heroine faces a crisis and the writer has not yet developed her character in sufficient detail to say exactly how she will act. The author makes a »judgment« about this that is not determined by the heroine’s already formed past, which does not provide unique direction. In this sense, the judgment (arbitrium) of how she will react is »arbitrary,« but not entirely so. It had input from the heroine’s fictional past and in turn gave input to her projected future. 322
Willensfreie Personen sind demnach »›arbiters‹ of their own lives«, die sich im willentlichen Urteil aus der Unbestimmtheit heraus selbst erst formieren. »Arbiträr« meint in diesem Zusammenhang nicht bloße Beliebigkeit und ›Willkürlichkeit‹ im schlechten Sinne, sondern einen Entscheidungsprozess durch Urteilskraft. Die willensfreie Person besitzt daher immer einen »unfinished character« 323 , der sich im Prozess des bestimmten Urteilens herausbildet. Kane (1998), 145. Als Beispiel führt Kane die narrative Kontinuität einer noch nicht gänzlich etablierten Romanfigur an, über deren Zukunft der Autor auf Basis ihrer bisherigen (unvollständigen) Geschichte entscheiden muss. Vgl. Kane (2003), 236: »Let’s try this. It is not required by my past, but it is consistent with my past and is one branching pathway my life can now meaningfully take. Whether it is the right choice, only time will tell. Meanwhile, I am willing to take responsibility for it one way or the other [Hervorh. J. N.].« 321 Kane (1998), 146, gebraucht dafür die Kategorie einer »teleological or narrative intelligibility«. 322 Kane (2002), 425. 323 Kane (2002), 425. 319 320
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Bezieht man Kanes Theorie auf die historische Freiheitsdebatte, so finden sich zahlreiche Übereinstimmungen mit Reinholds Lösungsvorschlag. Denn auch Reinholds Absicht bestand darin, eine reflektierte Version eines Indifferentismus zu entwerfen, der auf Basis von zwei konfligierenden Willenstendenzen erster Ordnung – dem eigennützigen und dem uneigennützigen Trieb – gedacht wird, welche im Sinne einer negativen Freiheit den menschlichen Willen zwar zu gleichen Teilen inklinieren, aber nicht nezessitieren. Nach Reinhold besteht der indifferentistische Kern der Freiheitsentscheidung im Sinne positiver Freiheit in einem nicht weiter rational erklärbaren »Grundvermögen« der Person. Beide Male wird der Zustand der Determination des Willens mit seiner Nezessitierung identifiziert, so dass sich eine Vereinbarkeit beider Freiheitsanforderungen nur dadurch ergibt, dass der Determinismus zum Probabilismus herabgestuft wird. Während Reinhold beiden Freiheitsanforderungen durch die Unterscheidung von subjektiven und objektiven Gründen zu entgehen versucht, entspricht dieser Strategie Kanes Unterscheidung von probabilistic bzw. indeterministic causation auf der einen, und deterministic causation auf der anderen Seite. Einen anderen Weg zur Beantwortung der Frage, wie Willensfreiheit zu denken sei, hat in der aktuellen Freiheitsdebatte Harry Frankfurt eingeschlagen. Frankfurts Lösungsvorschlag entspricht insofern denjenigen im Ausgang von Kant, als er den Fokus auf die innere Struktur des individuellen Willens legt: »[T]he essence of being a person lies not in reason but in will« 324 . Frankfurt richtet sich also gegen eine Identifizierung der Person mit einem noumenalen Selbst: Kant argues that someone whose conduct is motivated merely by his own personal interests is inevitably heteronomous. What interests a person is a
324 Frankfurt (1971), 11. Nida-Rümelin (2005), 91, kritisiert Frankfurts Konzentration auf den Willen und betont dagegen das Vermögen der Vernunft: »Das, was es eigentlich ausmacht, eine Person zu sein, liegt nicht im Wollen, sondern in der Vernunft (The essence of being a person lies not in will but in reason).« Dabei übersicht er jedoch, dass Frankfurt mit der Betonung des Willens keinen bloßen Voluntarismus vertreten möchte, sondern vielmehr die voluntative Dimension der Vernunft in ihrem individuellen Gebrauch. Das Wesen der Person liegt nicht entweder im Willen oder der Vernunft, sondern in der Art des reflektierten Verhältnisses von beiden, d. h. im Gebrauch der Vernunft – gerade darin besteht die Möglichkeit, Gründe abzuwägen und zu einer Entscheidung zu gelangen. Der Primat des Willens bedeutet also keinen Irrationalismus, wie Nida-Rümelin vermutet, sondern ist mit der Ansicht eines vernünftigen Willens, wie etwa Thomas von Aquin sie vertritt, kompatibel.
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contingent matter, of course, which is determined by circumstances that are outside his control. Kant understands this to entail that personal interests are not integral to the essential nature of a person’s will. In his view, they are volitionally adventitious: they do not depend wholly upon the person’s inherent volitional character, but at least partly upon causes that are logically external to it. 325
Im Gegensatz zu Kant und Chisholm, die das Problem der inneren Externalität dadurch zu lösen versuchen, dass sie ein rein intelligibles von einem bloß empirischen, heteronom bestimmten Selbst unterscheiden, besteht nach Schelling und Frankfurt Freiheit darin, dass diese nicht als Abspaltung, sondern als Identifikations- und Aneignungsprozess fassen. Durch die Anerkennung dieser internen Externalität ist es möglich, individuelle Freiheit als individuellen Reflexions- und Aneignungsprozess einer naturalen Basis zu verstehen. Gegenüber Kants Konzeption eines »reinen Selbst« hebt Frankfurt die Individualität des Willens hervor: »The pure will has no individuality whatsoever. It is identical in everyone, and its volitions are everywhere exactly the same. In other words, the pure will is thoroughly impersonal. The commands that it issues are issued by no one in particular.« 326 Die fehlende ›Bindung‹ eines solchen kontingenten und individuellen Willens jenseits allgemeiner praktischer Vernunft denkt Frankfurt durch seinen Begriff der willentlichen Identifikation und »voluntativen Notwendigkeit« (volitional necessity) 327 . Durch eine solche Konzentration auf die Willensqualität und -identität der Person besitzt Frankfurt in Schiller eine historische Entsprechung. Denn nach Schiller besteht individuelle Freiheit in einer harmonischen
325 Das vollständige Zitat lautet bei Frankfurt (1994), 436: »Kant argues that someone whose conduct is motivated merely by his own personal interests is inevitably heteronomous. What interests a person is a contingent matter, of course, which is determined by circumstances that are outside his control. Kant understands this to entail that personal interests are not integral to the essential nature of a person’s will. In his view, they are volitionally adventitious: they do not depend wholly upon the person’s inherent volitional character, but at least partly upon causes that are logically external to it. Since the person’s interests do not derive strictly and entirely from himself, autonomy cannot be grounded in interests. To the extent that a person’s conduct is guided by his interests, he is being governed by circumstances that do not essentially belong to himself. Therefore, he is necessarily heteronomous.« 326 Vgl. Frankfurt (1994), 436. 327 Frankfurt (1982), 264.
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Willensintegration als »höchste innere Nothwendigkeit« 328 , und auch Schelling spricht in diesem Zusammenhang von einer »höhere[n] Notwendigkeit« 329 bzw. einer »innere[n] Notwendigkeit« 330 , die die individuelle Freiheit bestimme. Wie Frankfurt, so qualifiziert auch Schiller diese willentliche Notwendigkeit phänomenologisch als Liebe, die sich in konkreten personalen Kontexten realisiert, also anders als die Einstellungen der Achtung und Pflicht bei Kant, einem konkreten Individuum gilt. 331 Allerdings liegt in Frankfurts Konzentration auf die strukturelle Beschaffenheit des Willens – also gewissermaßen auf den ›Willensquerschnitt‹ – gerade seine Problematik. Nach Frankfurts »semikompatibilistischer« Theorie 332 ist es für personale Willensfreiheit hinreichend, dass eine solche Harmonie zwischen den Willenstendenzen erster und den Volitionen zweiter Stufe besteht. Alternative Möglichkeiten der Entscheidung gehen nach Frankfurt über die Anforderungen hinaus. 333 Es interessiert Frankfurt also nicht primär der deliberative Prozess des Herstellens der Ordnung angesichts von alternativen Möglichkeiten der Willensbildung, sondern vor allem der Ausgang der Deliberation in Form der subjektiven Beschaffenheit des Willens. 334 Sowohl bei Schiller als auch bei Frankfurt wird jedoch die
Schiller, ÄE, 367. Schelling, FS, 55 (SW VII, 383). 330 Schelling, FS, 57 (SW VII, 385). 331 Vgl. Frankfurt (1994), 434: »The object of love is very commonly a specific concrete individual«; »Love is irredeemably a matter of personal circumstance.« 332 Vgl. zum Begriff des »semicompatibilism« Fischer (1987), 102: »Moral responsibility is compatible with causal determinism, even if causal determinism is incompatible with freedom to do otherwise.« 333 Vgl. Frankfurt (1969), 829 f.: »[T]he principle of alternate possibilities is false. A person may well be morally responsible for what he has done even though he could not have done otherwise«. 334 Die entsprechende Stelle bei Frankfurt (1971), 19, lautet: »Suppose that a person has done what he wanted to do, that he did it because he wanted to do it, and that the will by which he was moved when he did it was his will because it was the will he wanted. Then he did it freely and of his own free will. Even supposing that he could have done otherwise, he would not have done otherwise; and even supposing that he could have had a different will, he would not have wanted his will to differ from what it was. Moreover, since the will that moved him when he acted was his will because he wanted it to be, he cannot claim that his will was forced upon him or that he was a passive bystander to its constitution. Under these conditions, it is quite irrelevant to the evaluation of his moral responsibility to inquire whether the alternatives that he opted against were actually available to him.« Vgl. zur Kritik an der fehlenden Di328 329
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resultierende quasi-ästhetische Gestalt des Willens als Maßstab der Freiheit genommen und nicht der vorausliegende deliberative Prozess selbst. Der Kompatibilismus beider Freiheitstheorien erweist sich damit in letzter Konsequenz als ein Reduktionismus: So rückt die moralisch qualifizierte Freiheit angesichts außersubjektiver und objektiver Maßstäbe aus dem Blick, ebenso die dynamische Dimension der Willenshandlung, die weniger einem Zustand, als einer Tätigkeit entspricht. Durch die internalistische Perspektive auf die Willensqualität vernachlässigt Frankfurt ferner die Dimension der Rechtfertigung gegenüber etwas Außer- und Übersubjektivem: Willensfreiheit droht so, ein Residuum in Art einer »inneren Zitadelle« zu werden, die autark von intersubjektiven Vernetzungen ihre Ausfälle unternimmt. Die normative, moralische und intersubjektive Dimension angesichts von Maßstäben, die die individuelle Person transzendieren, macht so kein konstitutives Moment der Willensfreiheit aus. 335 Ebenso bleibt unklar, wie Frankfurt eine Freiheit zum Bösen auf Basis seines harmonistischen Willensmodells denken kann. Am Paradigma der Harmonie, verstanden als Willensqualität der Liebe, wie Frankfurt und auch Schiller diese verstehen, lässt sich eine willentliche Freiheit zum Bösen gerade nicht denken. Eine böse handelnde Person kann innerhalb eines solchen theoretischen Rahmens nur als defekt verstanden werden, was auch Auswirkungen auf ihre Freiheit hat. Einen Fichtes Theorie ähnlichen Versuch, im Ausgang von Kant die individuelle Willensbildung zu denken, hat in der gegenwärtigen Debatte Christine Korsgaard unternommen. Korsgaard setzt wie die nachkantische Debatte am Problem einer Freiheit zum Bösen an: Kant appears to say that only autonomous action, that is, action governed by the categorical imperative, is really free action, while bad or heteronomous »action« is behavior caused by the work of desires and inclinations in us […]. But if this is so, then it is hard to see how we can be held responsible for bad or heteronomous action, or indeed why we should regard it as action at all. So it looks at first as if for Kant nothing exactly counts as a bad action. 336
mension der Deliberation bei Frankfurt auch Nida-Rümelin (2005), 85 und neuerdings Vihvelin (2013), 111. 335 Zum Problem der fehlenden Objektivität bei Frankfurt vgl. auch Buchheim (2008), 426 f. 336 Korsgaard (2009), 159 f.
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Nach Kant, so Korsgaard, scheint nur eine gute Handlung frei genannt werden zu können: »[I]t seems to imply that only good action really is action, and that there is nothing left for bad action to be.« 337 Korsgaard wählt zur Lösung dieses Problems eine Fichtes Modifikation ähnliche Strategie, indem sie das Sittengesetz als identitätsstiftendes Prinzip fasst. Korsgaard modifiziert dazu den kategorischen Imperativ in Art eines Einheitsprinzips, welches die individuelle Gesetzlichkeit der Person ermöglichen soll: »I’m going to make a distinction that Kant doesn’t make. I am going to call the law of acting only on maxims you can will to be laws ›the categorical imperative‹. And I am going to distinguish it from what I will call ›the moral law‹.« 338 In der historischen Debatte hatte auch Fichte Kants universelles Sittengesetz zu einem voluntativen Einheitsprinzip transformiert, das er »reines Wollen« nennt: »Diese bloße Form des Wollens, dieses absolute Fordern [nach individueller Identität; J. N.] ist noch nicht das Sittengesez« 339 , wie Fichte betont. »Das reine Wollen«, so Fichte, »wird […] hier nicht so gebraucht [wie das Sittengesetz; J. N.], sondern nur zur Erklärung des Bewustseins überhaupt. Kant braucht den kategorischen Imperativ nur zur Erklärung des Bewustseins der Pflicht.« 340 Wie aber ist die voluntative Identität der Person im Falle einer bösen Handlung zu denken? Wie Fichte, so stellt auch für Korsgaard eine böse Handlung einen Defekt in der Konstitution der Person dar: »The function of an action is to unify its agent, and so to render him the autonomous and efficacious author of his own movements. An unjust or unlawful action therefore fails to unify its agent, and so fails to render him the autonomous and efficacious author of what he does.« 341 Böse Handlungen erscheinen so als »defective actions«, ja als eine »kind of heteronomy«: 342 »[T]o the extent that an agent’s legislation fails to unify her, and render her the autonomous and efficacious author of her movements, she is less of an agent, and to the extent that she is less of an agent, the source of her movements must be some force that is working in her or on her.« 343 Es gelingt damit Kors337 338 339 340 341 342 343
Korsgaard (2009), 160. Korsgaard (1996b), 98 f. Fichte, WNM, GA IV, 3, 439. Fichte, WNM, GA IV, 3, 440. Vgl. dazu auch Teil IV.4.1. Korsgaard (2009), 161. Korsgaard (2009), 161. Korsgaard (2009), 174.
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gaard nicht, die Einheit und Freiheit einer Person bei bösen Handlungen, für die sie doch zurechenbar sein soll, konsistent zu denken. Hier besitzt Schellings Theorie den Vorzug, so etwas wie einen aktiv gestifteten »Geist[] der Zwietracht« 344 widerspruchsfrei denken zu können. 345 Schellings Theorie erlaubt es, die Einheit und Identität der Person auch im Bösen zu denken; das Böse ist zwar eine »falsche Einheit« 346 , aber darin eben immer noch eine Einheit, die ein Produkt der freien Willensbildung ist. Während Frankfurts Freiheitsbegriff vor allem auf die Eigenperspektive des Willens konzentriert ist, hat in der gegenwärtigen Debatte Thomas Nagel Freiheit als wesentlich perspektivisches Unternehmen begriffen und einen gegenüber Robert Kanes Theorie reflektierter Akteurskausalität anders gelagerten Versuch der Vereinbarkeit von Explanation und Ultimacy Condition unternommen. Nagel interpretiert beide Freiheitsanforderungen anhand der Fundamentalkategorien von Subjektivität und Objektivität. Eine überzeugende Freiheitstheorie darf nach Nagel weder reduktionistisch verfahren, indem sie Subjektivität auf Objektivität reduziert (im Sinne eines harten Determinismus), noch relativistisch, indem sie jegliche Form von Objektivität in Subjektivität auflöst (im Sinne eines Indifferentismus). 347 Die Herausforderung für eine Theorie personaler Freiheit besteht nach Nagel deshalb darin, »to combine objective and subjective values in the control of a single life [Hervorh. J. N.]« 348 . Schelling, FS, 37 (SW VII, 365). Vgl. Frankfurt (1994), 433 f., der hinsichtlich des Falls einer willentlichen Entscheidung zum Bösen einen Irrtum als Grund anzunehmen scheint: »The heart of love, however, is neither affective nor cognitive. It is volitional. That a person cares about or that he loves something has less to do with how things make him feel, or with his opinions about them, than with the more or less stable motivational structures that shape his preferences and that guide and limit his conduct. What a person loves helps to determine the choices that he makes and the actions that he is eager or unwilling to perform. Since people are often mistaken about what is moving them in their choices and in their actions, they may also be mistaken concerning what they love.« 346 Schelling, FS, 43 (SW VII, 390). »Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es kreatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Kreatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, Alles zu sein, ins Nichtsein fällt.« (62). 347 Vgl. Nagel (1986), 119 f.: »At the end of the path that seems to lead to freedom and knowledge lie skepticism and helplessness. We can act only from inside the world, but when we see ourselves from outside, the autonomy we experience from inside appears as an illusion, and we who are looking from outside cannot act at all.« 348 Nagel (1986), 8. 344 345
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Es gilt also Gründe der Freiheitsentscheidung zu identifizieren, die trotz ihrer unauflöslichen Verwobenheit mit dem Freiheitssubjekt dennoch der Explanation Condition Genüge tun. Objektivität und Subjektivität der Freiheitsentscheidung begreift Nagel demnach als unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Sache. Dementsprechend gilt es, beide Perspektiven des Subjektiven und Objektiven im Freiheitsakt zu vermitteln. 349 Nagel illustriert diese Herausforderung konkret anhand des Kantischen Autonomie-Problems: If there is such a thing as responsibility, it would have to be found in bad actions as well as good ones – that is, in actions which one could not endorse from an objective standpoint. This means that any attempt to locate freedom in the development of rational and moral self-command will run into the problem […] that if freedom can be pursued and approached only through the achievement of objective and ultimetely ethical values of some kind, then it is not clear how someone can be both free and bad, hence not clear how someone can be morally responsible for doing wrong, if freedom is a condition of responsibility. 350
Eine freiheitstheoretische Vermittlung von subjektiver und objektiver Perspektive kann nach Nagel nur im Sinne einer graduellen Vereinigung geschehen, weshalb er diese als »the essentially incomplete objective view« bezeichnet. 351 Freiheit ist demnach keine Angelegenheit absoluter Selbstbestimmung, sondern realisiert sich graduell im Sinne des Gelingens eines Aus- und Abgleichs verschiedener Perspektiven auf die Welt und den in ihr enthaltenen Akteur. Die Vermittlung zwischen der subjektiven und objektiven Perspektive der Freiheit leistet nach Nagel die Urteilskraft: »[I]n its normal form, prudence increases one’s freedom by increasing one’s control over the operation of first-order motives, through a kind of objective will. The objective stance here is not merely permissive, but active. The prudential motives do not exist prior to the adoption of an objective standpoint, but are produced by it.« 352 Praktische Klugheit vermittelt nach Nagel also in Art eines liberum arbitrium zwischen dem subjektiven und dem objektiven Standpunkt, und in eben diesem Spielraum von Willenstendenzen erster Stufe und Volitionen zweiter Stu349 Vgl. Nagel (1986), 126: »[A] kind of reconciliation between the objective standpoint and the inner perspective of agency«. 350 Nagel (1986), 136 f. 351 Nagel (1986), 127. 352 Nagel (1986), 133.
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fe liegt nach Nagel die Freiheit des personalen Willens. 353 Beide verschiedenen Standpunkte entsprechen systematisch Schellings Unterscheidung von Eigen- und Universalwillen, die beide im individuellen Freiheitsakt in ein bestimmtes Verhältnis zu einer Einheit gebracht werden müssen. Wie ist die nachkantische Freiheitsdebatte angesichts der aktuellen Diskussion abschließend zu bewerten? Neben zahlreichen strukturellen Parallelen hinsichtlich der Bestimmung des Willens hat sich am Beispiel der historischen Debatte gezeigt, dass es nicht genügt, den Begriff der Willensfreiheit isoliert zu betrachten, sondern dass er weitere substantielle Verpflichtungen über die Welt als Ganzes nach sich zieht, in welcher die freie Person natürlich, geschichtlich und sozial situiert ist. Zum andern hat die historische Debatte, mehr noch als die gegenwärtige, das Problem einer Freiheit zum Bösen als einen für jegliche Theorie individueller Freiheit unverzichtbaren Bewährungsfall erkannt. Gerade aber am Beispiel moralisch böser Handlungen und der Frage nach ihrer Zurechenbarkeit zeigt sich erst die individuelle und qualitative Freiheit der Person.
353 Vgl. Nagel (1986), 133 f.: »[T]hrough prudence we try to stand back from the impulses that press on us immediately, and to act in a temporal sense from outside of ourselves. If we could not do this, we would as agents be trapped in the present moment, with temporal neutrality reduced to a vantage point of observation. And we would be even more trapped if we couldn’t exercise practical rationality by harmonizing our desires even in the present: we would just have to watch ourselves being pushed around by them.«
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Personenregister
Verweise auf Seiten erfolgen in Normalschrift. Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten, fett gedruckte auf wichtige Vorkommnisse des jeweiligen Eintrags. Achtner, W. 65 f., 68, 71, 77 Acosta, E. 252 Allison, H. 21, 23, 36, 195 f. Alt, P.-A. 253 Ameriks, K. 19, 39, 39 f., 49, 51, 207 Arendt, H. 64 Aristoteles 63, 74 f., 100, 221, 257, 340 Augustinus 63–72, 83, 88, 91–92, 103, 181, 194 f., 205, 217 f., 249, 258, 279, 308, 319, 324, 326 Baggesen, J. I. 208, 209, 211, 216 Barnouw, J. 237 Baum, M. 274, 277, 281 Baumgarten, A. G. 152, 215, 221, 221 f. Baxley, A. M. 237 Beck, L. W. 21 Beiser, F. 49, 237, 241 f., 250 f. Berlin, I. 18, 103, 288 Betzler, M. 55 Bieri, P. 62, 64 Bittner, R. 30–32, 34 f., 38, 46, 103, 150, 282 Bobzien, S. 44, 158, 160 Boethius, A. M. S. 225, 241 Bojanowski, J. 23, 38, 42 f., 49, 51, 117, 142, 208, 276, 278 f. Bolten, J. 241 Bondeli, M. 32, 35, 41, 46–48, 206, 208, 210 f., 217 f., 221, 223 f., 230, 272, 294
Brachtendorf, J. 64–66, 68, 71, 88 Brandt, R. 23, 180, 290 Breazeale, D. 49 Brelage, M. 237 Brouwer, C. 298 Buchheim, T. 74 f., 83–86, 142, 168, 190, 198, 201 f., 205, 293, 295–298, 300 f., 303, 314, 319, 326, 328 f., 337, 340–343, 354 Cesa, C. 221 Chisholm, R. 92, 345–347, 352 Cramer, K. 30–32, 34 f., 38, 46, 282 Creuzer, L. 29 f., 186 f., 234 f., 262, 347 Crone, K. 262 Crusius, C. A. 221 Davidson, D. 106 Dennett, D. 99 Descartes, R. 138 Dihle, A. 64 Dittrich, S. 56 Dörendahl, R. 296, 321, 324 f. Dorschel, A. 25 Dostojewski, F. M. 62 Düsing, K. 33 Dworkin, G. 100 Evodius 68 Fabbianelli, F. 47, 212, 235 Feger, H. 237
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Personenregister Fichte, J. G. 33, 50, 55, 58, 252, 252 f., 260–271, 289, 294, 299, 337, 354 f. Fischer, J. M. 52, 89, 92, 95, 101, 106, 353 Fischer, N. 34, 203 Florig, O. 296, 315, 321, 338 f., 342 Franke, C. 73, 77, 79 Frankfurt, H. G. 17, 55, 65 f., 88–91, 91 f., 94–98, 102, 130, 216, 223, 267, 316, 337, 351–356 Freud, S. 185 Frierson, P. 129 Gerhardt, V. 102, 192 Giordanetti, P. 45 Goethe, J. W. 199 Graband, C. 157–159 Guckes, B. 55 Guyer, P. 33, 34 Hamburger, K. 237 f. Hegel, G. W. F. 25, 32, 40, 45, 47, 54, 247, 294, 299, 310, 318, 321, 342 Heidegger, M. 298, 314 f., 318 f., 325, 329 Heinz, M. 48, 226, 229, 234 Hennigfeld, J. 316, 318, 329 f. Henrich, D. 20, 22, 33, 35–37, 39 f., 49, 51, 59, 166, 170 Hermanni, F. 83, 257, 294, 296, 298, 305, 314 Hobbes, T. 100 Höffe, O. 43, 150, 171 Horn, C. 64 Hudson, H. 24 Hume, D. 102, 134 f., 137, 201 Hutter, A. 114 Ivaldo, M. 211, 232 Jacobi, F. H. 294, 326 Johannes Duns Scotus 74 f., 146 Jürgensen, S. 298 Kaiser, G. 237 Kane, R. 61 f., 64, 344, 346–350
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Kaulbach, F. 145 Keil, G. 125 Kersting, W. 32, 55 Khurana, T. 25 Kierkegaard, S. 324, 328–330, 341 Kiesel, D. 88 Kim, Y. 73 Klar, S. 190, 198 f. Klemme, H. F. 24, 29, 290 Klotz, C. 56, 262 Knappik, F. 96 Köhler, D. 298 Koopmann, H. 236 Körner, C. G. 237 Korsgaard, C. 23, 134, 179 f., 354–356 Kosch, M. 294 Kroner, R. 32, 47 Lauener, H. 142, 145, 169 Lazzari, A. 46–49, 185, 206, 208, 228, 231, 262 Lee, M.-H. 147 Leibniz, G. W. 63, 81–88, 88 f., 96, 99, 102, 131, 174, 211, 221, 223, 232, 242, 253, 257 f., 270, 294, 308, 319, 326, 333, 336, 344 Liske, M.-T. 87 f. Locke, J. 82, 99 f., 148, 211 Ludwig, B. 208 Maimon, S. 45, 233 Malebranche, N. 235 Marx, K. 47, 49, 211, 215 Meier, A. 253 Meier, L. 237 f. Menke, C. 25 Metz, W. 145 Milz, B. 41 Misgeld, D. 45 Muehleck-Müller, C. 238 Müller, J. 65–68, 71, 88 Nagel, T. 230, 356–358 Neuhouser, F. 208 Nida-Rümelin, J. 101, 351, 354 Niethammer, F. I. 320 Noller, J. 43, 47, 55, 58, 213
SYMPOSION
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Personenregister Nuzzo, A. 40 f. Olivier, P. 23, 280 Ortwein, B. 24, 38, 42, 51, 189, 276 Patzig, G. 23 Pauen, M. 62, 97, 101, 345–347 Pauer-Studer, H. 181 Paulus 64, 64 f., 66, 72, 91, 324 Peetz, S. 50, 55, 67, 213, 220, 237, 241, 294, 296, 314, 321 Pieper, S. 321, 341 Pietsch, L.-H. 55 Pinkard, T. 25 Pippin, R. 25 Pistorius, H. A. 105 Platner, E. 221 Platon 15, 64, 66, 93, 218 Pott, G. 237 Prauss, G. 23, 37, 38, 42, 51, 185, 189, 208 f., 279 Puls, H. 44 Quine, W. V. O. 119 Ravizza, M. 52, 89, 92, 95, 101, 106 Rebentisch, J. 27, 54 Rehberg, A. W. 56, 212 Reinhold, K. L. 23, 32, 35 f., 37, 39, 41 f., 45, 46–50, 58 f., 77, 92, 202, 206–227, 227 f., 229–238, 240, 241, 243 f., 246, 250, 257, 259–262, 269, 272, 274–276, 281–286, 288 f., 291, 293 f., 294, 296, 299–303, 305 f., 307, 324, 340 f., 351 Riedel, W. 240, 253 Roehr, S. 49, 236–238 Rosefeldt, T. 117, 125 Rott, H. 237 Rousseau, J.-J. 53 Safranski, R. 240 Sandkaulen, B. 36, 298 Sandkühler, H. J. 44 Scheler, M. 45 Schelling, F. W. J. 15, 23, 33, 50, 50,
59, 77, 125, 240, 293–344, 352 f., 353, 356, 356, 358 Schiller, F. 33, 37, 49 f., 58, 236–261, 288 f., 294, 296, 299, 319, 321, 324, 332, 343, 352–354 Schindler, D. 237, 241, 255 Schleiermacher, F. D. E. 15, 64 Schmid, C. C. E. 27, 29, 39, 46 f., 56, 57, 183–189, 209, 211 f., 217, 327, 334, 335 Schmidt, A. 17–19, 21, 50, 301, 306 Schönberger, R. 73 Schulte, C. 23 Schulz, E. G. 212 Schulze, G. E. 221 Schwartz, M. 150, 196 Schwenzfeuer, S. 296, 315, 336, 342 Setton, D. 27 f., 54 Shibuya, R. 314, 320 f. Sidgwick, H. 23 Siewerth, G. 73 Sokrates 15 Spaemann, R. 251 Spinoza, B. de 294, 313, 335 Stolz, V. 48 Stolzenberg, J. 21, 34, 56, 262, 282 Strawson, G. 345 Strawson, P. F. 119 Stump, E. 67, 77, 79, 81 Sturma, D. 295 f., 312, 319, 335, 342 f. Taylor, C. 97 f., 98 f., 200, 220, 342, 344 Tetens, J. N. 221 Theunissen, M. 298, 332 Thomas von Aquin 22, 63, 71–81, 76 f., 80 f., 83, 85, 87, 100, 146, 157 f., 217, 341, 351 Timmermann, J. 26 f., 122, 126, 132, 151, 174 f., 181, 196 Torralba, J. M. 162 Ulrich, J. A. H. 56, 184, 209 Ulrichs, L.T. 56 van Inwagen, P. 118, 235 Vihvelin, K. 354
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Personenregister Voigt, C. G. von 211 Vorländer, K. 237 Vossenkuhl, W. 317, 328 Wallwitz, G. 46, 50, 183, 261 Warda, A. 185 Watson, G. 93 Weißhuhn, F. A. 260 Welp, D. 73, 76 f., 79 f. Westerkamp, D. 32
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Wildenburg, D. 252 Willaschek, M. 122, 124, 132, 182, 279 Wolff, C. 221 Wood, A. 117 Wundt, M. 48 Zimmermann, S. 44, 152 Zöller, G. 49, 205, 232, 234, 296
SYMPOSION
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Begriffsregister
Verweise auf Seiten erfolgen in Normalschrift. Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten, fett gedruckte auf wichtige Vorkommnisse des jeweiligen Eintrags. Absicht (s. Intention) 69, 105, 107 f., 126, 150, 157, 173, 176, 195, 269, 351 Abwägung/abwägen (s. Deliberation) 54, 74, 88, 98, 101, 175, 330, 339 – des Potenzverhältnisses 341 – radikale 98 – schwache 98 – starke 98 – von Gründen 95, 103, 113 – von Willenstendenzen 196 Achtung (s. Gefühl, der Achtung) 26, 45, 147, 158, 165 f., 166, 169–174, 180, 185, 190, 201–203, 244, 246, 258, 274, 287, 289, 324, 353 – Achtung vs. Liebe 247 – als Selbstbewusstsein der reinen praktischen Vernunft 173 – als Selbstschätzung der Menschheit in uns 174 – als Zwang 246 f. – für die eigene Person 154 – Objekt der Achtung 174 – Subjekt der Achtung 174 – Urteilsstruktur der Achtung 174 Affirmation/affirmieren 174, 330, 330, 332, 335, Akteur/agent 89, 93, 100, 101 f., 141, 148, 153, 155 f., 181, 216, 294, 346, 346 f., 349, 350, 355, 357, 358 – idealer 180
Aktivität/aktiv 54, 65, 70, 75, 102, 169, 179, 194 f., 202, 225, 229, 231, 242, 254 f., 258, 261, 270, 271, 298, 331–333, 356 Allgemeinheit 28, 103, 117, 131–133, 133, 142, 162, 177, 198, 202, 205, 230, 243, 245, 264, 312, 319, 340 – individuelle/subjektive 243, 245, 288, 319, 322 Alternativen/alternative Möglichkeiten (s. Freiheitsanforderung) 24, 28, 60–62, 74, 81, 91, 98, 102, 107, 142, 152, 176, 180, 215, 219, 231, 234 f., 254, 266, 285, 287, 294, 304, 307, 313, 323, 329, 345, 347 f., 353 Angst 328, 329 – Angst vs. Furcht 329 Anlage 168, 251, 322 – für die Menschheit 201 – für die Persönlichkeit 201 f., 203 – für die Tierheit 200 – zum Guten 198, 200, 233 Anschauung 111 f., 129, 137–140, 143 f., 160 f., 163 f., 309, 315 – Anschauungsform 159, 163, 176 – empirisch/sinnliche 108, 128, 136 f., 160 f., 163, 176 – intellektuelle 126, 139 Anthropologie/anthropologisch (s. Mensch) 168, 192, 226, 240, 268 Antinomie 110, 114, 114, 120, 217, 290
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Begriffsregister – der Freiheit/Freiheitsantinomie 105, 117, 334 – der praktischen Vernunft 290 – der Vernunft 111, 113 – dritte 56, 120, 137, 164, 176 Äquilibrismus/äquilibristisch 29, 75, 211, 228, 231, 234, 248, 253, 255 f., 333, 348 arbitrium (s. Urteilskraft) 54, 77, 131, 350 – aequilibrium arbitrii 335 – brutum 53, 129 f. – liberum 33, 52, 53, 54, 63, 64, 66, 68–71, 72, 79, 80 f., 82, 83 f., 88, 99, 103, 129, 132, 136, 146, 149, 168, 177, 190, 215, 217, 242, 273, 308, 350, 357 – sensitivum 52, 53 Ästhetik 237 f., 324 – der reinen praktischen Vernunft 144 – transzendentale 143 Aufschiebung (s. Suspension) 87, 130, 255, 265, 317 autark 103, 288, 354 Autokratie (s. Autonomie) 167 Autonomie (s. Heautonomie; Selbstbestimmung) 16–20, 21, 22, 23, 24–26, 27 f., 35 f., 37, 39, 40, 43 f., 46, 51, 57 f., 91, 93, 96, 100, 137, 149, 151, 158, 167, 168, 170–172, 175–179, 180, 181–185, 202, 206, 208–210, 215, 217, 222, 239, 244 f., 249, 260 f., 279, 289, 311, 342, 345, 352, 356 – Autonomie vs. Autokratie 167 – Autonomie vs. Heautonomie 21, 58, 254, 255 – Autonomie vs. Heteronomie 249, 280 – Autonomie-Problem 15, 23–25, 23, 25, 26, 28 f., 30–34, 36–39, 42–44, 47, 49–50, 55–59, 61, 63, 73, 75, 81 f., 92, 110, 132, 139, 175 f., 179, 185, 207 f., 209, 234–236, 258, 261, 268, 287 f., 290 f., 293, 294, 296, 298, 300 f., 311, 326, 340, 346, 357
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– der reinen praktischen Vernunft 23, 58, 131, 180, 217, 282 – der Vernunft 17 f., 20, 25–27, 30, 32, 34 f., 36 f., 36, 40, 42, 44, 45, 53, 56, 57, 59, 61, 96, 105, 133, 145, 150, 165, 167, 175–177, 179 f., 183, 189 f., 202, 217, 224, 237 f., 244, 246, 252, 255, 272, 281, 290, 295, 311 f., 333 – der Willkür 180 – des Willens 18, 20–22, 26, 34, 44, 45, 139, 147–153, 149, 156, 166, 178, 191 – individuelle 93 – Logik der Autonomie 45, 57 – Paradox der Autonomie 25, 312 Begehren/Begierde 66, 69, 81, 144, 172, 199, 209, 210, 221, 224, 227, 232, 255, 267, 282, 284 f., 305, 317, 325 Begehrungsvermögen (s. Wille) 130, 160, 167 f., 172, 179, 200, 207, 221 f., 273 – Begehrungsvermögen vs. Verabscheuungsvermögen 179 – oberes (s. Wille, reiner) 19, 21 f., 148–152, 171, 177, 181, 215, 221, 222, 224, 273 – unteres (s. Wille, empirischer) 19, 22, 148 f., 151 f., 160, 171–173, 181, 222, 273, 289 Bestimmung – der Natur 252, 327 – der Persönlichkeit 310 – der Willkür 26, 127, 146, 149, 191, 203 f., 272, 274–276 – des Willens 17, 20–22, 26, 30 f., 45, 63, 75, 78, 81, 86, 92, 94, 102 f., 105, 109, 123, 131, 138 f., 141, 144 f., 147–149, 153, 157, 161 f., 166, 168, 169–172, 176, 179, 181 f., 184, 190, 194, 204–206, 210, 212, 213, 215, 216, 221, 234, 256, 262, 265, 280, 281, 295, 345, 358 Bestimmungsgrund 17, 131, 136, 140 f., 152, 154, 247, 274, 334, 348
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister – der Willkür 131, 146, 168, 233, 252, 274 – des Willens 19, 86, 145, 147 f., 154, 156, 159, 165 f., 171, 180, 196, 244 – empirischer/sensibler 135, 154 – formaler 45, 145 – kontingenter 17, 152 – materialer 247 – moralischer/reiner 127, 154 – moralischer/reiner vs. empirischer 154 – objektiver 22, 131, 145, 152, 171 – subjektiver 145, 159, 165 f., 168, 171, 204, 233 Bewusstsein (s. Reflexion) 119, 138, 160, 178, 219, 228, 266, 269, 270, 304, 305, 307, 337 – der Freiheit 273, 303, 343 – der Pflicht 269 – des Sittengesetzes 138, 152, 228, 268, 305 – Einheit des Bewusstseins 160, 303, 310 – endliches 307 – gemeines 303 f. – gutes 269 – sittliches 36, 270 – Standpunkt des Bewusstseins 300, 302, 306 – Tatsache des Bewusstseins 231, 303 Bildung 210, 247, 252, 322 – Ausbildung der Urteilskraft 247 – Ausbildung des Talents 322 – Ausbildung des Verstandes 247 – Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe 91, 147, 255, 348 – des Charakters 133, 157 – des Willens/Willensbildung 22, 44, 54, 57, 87, 95 f., 101, 147 f., 156, 158 f., 162, 164 f., 179, 194, 225 f., 230, 242, 287, 321, 343, 353 f., 356 – Einheitsbildung 178, 332 – falsche Einheitsbildung 331 – Selbstbildung 321 Böse 15 f., 24–26, 158–162, 178–182, 184, 186–189, 190–195, 197–202,
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267–271, 277, 279, 286–290, 295, 298, 326–332, 332, 333, 341, 241 f., 358 absolutes 26 als Abkehr (aversio) 69 als etwas Passives 327 als falsche Einheit 356 als geistiges Phänomen 331 f. als Gutes 341 als Hinkehr (conversio) 69, 194 als Privation 326 f., 332 als Trägheit 271, 289 als Verkehrung (perversio) 69, 194 als Widerspruch 356 Böse vs. Endlichkeit 277, 331 f. eigentliches 195 faktisches 190 radikales 57, 199, 207, 208 f., 293
causa – caußalitas originaria 116 – deficiens 71 – efficiens 45, 106, 147 – finalis 118 – formalis 45, 146 – noumenon 122 – phaenomenon 122 – specificationis 146 Charakter 45, 122, 124, 132, 133, 157, 173, 198 f., 205, 217, 236, 288, 306, 320, 340, 342 – empirischer vs. intelligibler 105, 121–126, 126, 127–130 – empirischer/sensibler 123–126, 128, 166 – Gründung des Charakters 200, 336, 338 – individueller 100, 132, 133, 197, 239, 288, 320, 322, 326, 339 – intelligibler 25, 122–132, 132, 133, 147, 174, 176 f., 197, 200, 240, 250, 277, 320 f., 326, 336 – moralischer 124 – physischer 124 Deliberation/deliberativ 54, 62, 81, 85–87, 88 f., 89, 91, 91, 96, 99, 101,
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Begriffsregister 103, 153, 162, 175, 190, 197, 204, 223, 226, 266, 288 f., 330, 341, 349, 353 f. Determination (s. Bestimmung) 73, 76, 82, 87, 100, 106, 256, 294, 313 – des Willens 19, 75, 81, 203, 234, 311, 351 – Determination vs. Indetermination 234 – Determination vs. Notwendigkeit 84, 102, 182, 235 – Einheit von Determination und Kontingenz 85, 254, 334 – Natur- vs. Vernunftdetermination 19 – Überdetermination 106 f., 121, 124, 125, 164, 181 Determinismus 46, 86, 88, 106, 118, 203 f., 211, 235, 313, 336, 351, 356 – Autodeterminismus 232 – Determinismus vs. Prädeterminismus 203 f. – Einheit von Determinismus und Indeterminismus 349 – empirischer/Naturdeterminismus 131, 176, 214, 251, 261, 308 – Indeterminismus 74, 86, 88, 203, 235, 313, 346–349 – intelligibler/Vernunftdeterminismus (s. Fatalismus, intelligibler) 19, 41, 57, 63, 73, 77, 79, 83, 96, 266, 344 – Prädeterminismus 189, 203 f., 308, 334 f. Dezisionismus/dezisionistisch 48, 54, 80, 94, 234, 287 Ding an sich 41 – Ding an sich vs. Erscheinung 118– 122, 120, 125, 334 Eigendünkel 112, 168 f., 172–174, 177, 182, 199, 333 Einbildungskraft 163, 246 – produktive 216 elbow room 99 electio (s. Wahl) 73 – iudicium electionis 73
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Endlichkeit 167, 264, 297, 304, 306– 309, 324, 328, 331 f. Entscheidung 16–19, 21, 24, 25–28, 27 f., 33, 54, 57, 58–63, 68, 69, 70– 73, 75, 78 f., 81, 83 f., 87 f., 91, 93 f., 97 f., 102 f., 107, 128, 131 f., 150, 158, 175 f., 179, 181 f., 185, 189 f., 192–196, 198, 202, 204, 218 f., 222– 227, 229–231, 233–235, 240, 251, 253, 257–259, 261, 266 f., 272 f., 276, 278, 281, 287 f., 291, 294, 304, 307, 326 f., 329 f., 333–336, 339, 341–343, 345–351, 353, 357 – Entscheidungsprozess 101 – freie 62, 63, 69, 73, 79, 182, 234, 345 – für oder gegen das Sittengesetz 30, 276, 290 – gegen das Sittengesetz 27 – gute 203 – individuelle 133, 314 – instrumentelle 62 – substantielle 62, 102 – unbedingte 346 – unvernünftige 182 – zum Bösen 25, 27, 30, 102, 176, 180, 188, 192, 194, 203, 261, 269, 277, 299, 326, 356 – zum Guten 27, 30, 180, 192, 203, 290, 299, 326 Evaluation/evaluativ 55, 65, 89–91, 90, 93, 97, 97, 98 f., 98 f., 151, 153 f., 183, 192, 197, 200, 206, 220, 344 Faktum 137 – der Individualität 263 – der Schönheit 243 – der Vernunft 45, 138, 139, 140, 142–144, 148, 153, 176, 190, 243, 263, 298 – des Bösen 190, 192 Fatalismus/fatalistisch 29, 63, 211, 313 – empirischer 29 – intelligibler 29, 31, 41, 46 f., 46, 57 f., 61, 63, 93 f., 93, 99, 103, 132, 158, 183–187, 185, 189, 203, 208,
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Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister 211 f., 214 f., 217, 237, 251, 258, 261 f., 267 f., 268, 281, 283, 286, 286, 303, 308, 327 f. felix culpa 199, 328 Freiheit – absolute 20, 39, 114, 116, 142, 261, 297, 297, 303, 345 – aus/durch vs. unter Freiheit 26, 279 – der Person 59, 94, 102, 293, 330, 358 – der Vernunft 23, 57, 105, 213, 258, 286, 294 – der Wahl/Wahlfreiheit 23, 41, 78, 161, 208, 267, 303, 329 – der Willkür/Willkürfreiheit 24, 25 f., 28, 41, 83, 189 f., 190, 196, 217, 267, 276, 277, 280, 281, 285, 302, 304, 306, 308 – des Geistes 83, 255, 258 f., 308, 319, 323, 325, 330 – des Menschen/menschliche 22, 28, 43, 57, 82, 100, 105, 107, 119, 138, 184, 190 f., 203, 207, 213, 234, 240, 251, 276, 286, 293, 294 f., 295 f., 297 f., 298, 303, 311, 314, 318, 336, 342, 343, 345 – des Verstandes 83, 258, 319 – des Verstandes vs. des Geistes 83, 258, 319 – des Willens/Willensfreiheit 17, 20, 23, 26, 28, 29–31, 33, 41, 48, 55, 57, 61 f., 64 f., 66, 69, 71 f., 74, 76, 82 f., 85 f., 89 f., 89 f., 90 f., 95, 99–103, 128, 186, 188 f., 206, 208, 212, 213, 219 f., 225–227, 229, 235, 243, 252, 256, 262, 272, 282, 286, 294–296, 299, 304–309, 331, 344 f., 351, 353 f., 358 – eines Bratenwenders 82 – endliche 297, 299, 303 – Freiheit und Selbstbewusstsein 50, 261 – Freiheit und System 139, 294 – Freiheit vs. Autonomie 151 – Freiheit vs. Natur 117, 119, 185, 241
– Freiheit vs. Notwendigkeit 100, 297, 324 – für oder gegen das Sittengesetz 294 – gegen das Sittengesetz 218 f., 272 f., 275 f., 278–280, 289 – Handlungsfreiheit 28, 66, 71, 82, 89, 90, 100, 150, 318, 322 – Indifferenzfreiheit (s. libertas indifferentiae) 18, 32, 38, 102, 190, 196, 276, 307, 333 f. – individuelle 21, 28, 50, 102, 106, 182, 187 f., 190, 204, 240, 252, 273, 280, 297, 300 f., 303, 310 f., 313, 320, 342, 352 f., 358 – kosmologische 114 f. – lebendige 260, 298 – negative 18, 20, 101, 115, 127, 149, 194, 215, 220, 253, 323, 325, 348, 351 – personale 103 – positive 18, 19, 23, 42, 44, 86, 101, 115, 127, 131, 142, 149, 194, 209, 215, 220, 220, 225, 241 f., 247, 253, 272, 276, 277, 283, 324, 348, 351 – praktische 21, 57, 109, 118, 126, 130, 133, 140, 145, 164, 166, 176 f., 345 – qualitative 86, 344, 358 – reale 241, 250 – transzendentale 37, 56 f., 74, 75, 107, 109, 116, 118, 126, 130, 133, 137 f., 140, 166, 176 f., 190, 285, 345 – unter Freiheit 26 – wahre 259, 336 – zum Bösen 23, 26, 28, 30, 32, 36, 62, 70, 93, 103, 133, 178, 184, 186– 189, 192, 201, 208, 210, 215, 239, 260, 267, 271, 273, 282, 283, 286, 288–290, 293, 294 f., 294, 297–299, 306, 311–313, 321, 326, 338, 344, 354, 358 – zum Guten 30, 57, 180, 187, 239, 260, 287, 289, 298, 338 Freiheitsanforderung 22, 61, 63, 129, 296, 346–347, 351, 353, 356 – Control Condition 101
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Begriffsregister – Explanation Condition 347, 356 – i. S. von alternativen Möglichkeiten 60 – i. S. von individueller Rationalität 101 – i. S. von Intelligenz 85 – i. S. von kein Indifferentismus 63 – i. S. von kein intelligibler Fatalismus 63 – i. S. von Kontingenz 85 – i. S. von principium diiudicationis, specificationis und executionis 22 f. – i. S. von Spontaneität 16, 86 – i. S. von Verständlichkeit 16, 60 – i. S. von Zurechenbarkeit 28, 233 – ontologische 61 f., 82, 85, 107, 129, 176, 233–235, 287, 294, 304, 345 – rationale 62, 82, 85, 107, 129, 176, 182, 188, 205, 214, 233, 235, 287, 294, 336 – Ultimacy Condition 61, 346, 356 Freiheitsdebatte – aktuelle/gegenwärtige 33, 35, 43, 52, 55, 59 f., 61 f., 64 f., 88, 92, 96, 101, 296, 344–346, 351 – nachkantische 31–44, 46–52, 54 f., 59, 61, 63, 65, 88, 94, 126, 182, 212, 237, 238, 272, 281, 287, 291, 294 f., 299 f., 344, 351, 358 Gebrauch (usus) 75, 77, 77 – der Freiheit 53, 57 f., 186, 189, 191 f., 191, 204, 225, 226, 249, 287 f., 326, 339, 343 – der instrumentellen Vernunft 201 – der praktischen Vernunft 43 f., 58, 120, 135–139, 140, 143 f., 160, 164, 176 – der theoretischen Vernunft 136, 143, 160 – der Triebe 249 – der Vernunft (s. usus rationis) 28, 58, 63, 73, 83, 85, 87, 94, 102, 103, 110, 133, 136, 139, 143, 145, 148, 161, 164, 176 f., 179, 182 f., 185, 191, 201, 216, 217, 219, 222 f., 227,
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229 f., 286, 288, 290, 324, 326, 339, 351 – der Willkür 58, 191, 194, 200, 229 – des Willens 68–70 – logischer 133 – transzendenter 28 – übersinnlicher 139 Gefühl 144 f., 166 f., 169, 171, 173 f., 235, 304, 316 f. – der Achtung (s. Achtung) 147, 154, 165 f., 169, 171, 173, 244, 246, 287, 289 – der Tugend 239 – des Sollens 264 – moralisches 44, 165, 167 Gegenstand/Objekt 44, 76, 78, 80, 85, 86, 120, 125, 126, 143, 145, 148, 158, 183, 222, 227, 250, 252 f., 263, 293, 315, 342 – der Anschauung 111 – der Erfahrung 111, 120 – der Gesetzgebung der Vernunft 129 – der Handlung 22, 145 – der Liebe 353 – der Neigung/Begierde 130, 167, 256 – der praktischen Vernunft 136, 146, 160 f., 163 – der reinen praktischen Vernunft 147, 159–161, 178 – der theoretischen Vernunft 76, 129, 160, 163 – der Wahl/Willkür 150, 227, 280, 307 – des Begehrungs-/Verabscheuungsvermögens 179 – des Bewusstseins 310 – des Guten und Bösen 157, 158 f., 161 f., 166, 223 – des sinnlichen Triebes 250 – des Willens 72, 76, 78, 80, 136, 144, 216, 223, 257 – einer möglichen Erfahrung 107 – Gegenstand des Willes vs. Gegenstand der Vernunft 76
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister Geist 25, 58, 66 f., 69 f., 76 f., 83, 108, 173, 242 f.,243, 249 f., 253, 258 f., 288, 297, 308, 315, 316, 319, 321 f., 321, 322–324, 324, 325–327, 326, 328, 329 f., 331–333, 336, 340 – als individuelle Persönlichkeit 320 – als konstituiert durch Formtrieb und Stofftrieb 289 – als Persönlichkeit 319, 322, 324, 329, 342 – als Urteilskraft 324, 340 – als Verschränkung von Eigenwille und Universalwille 320, 324 – als volitionale Operation 70, 242, 258 f., 322 f., 337, 340 – Begeisterung 322, 340 – der Freiheit 259, 325 – der Liebe 331, 337 – der Zwietracht 331, 337 – edler 259, 343 – endlicher 83, 306 – Geist vs. Buchstabe 238 – Geist vs. Fleisch 66 – Geist vs. Grundvermögen 288 – Geist vs. Natur 244, 315, 321 – Geist vs. Vernunft 70, 258 f. – guter und böser 332, 343 f. – Herrschaft des Geistes 70 – Interpersonalität des Geistes 342 – Krankheit des Geistes 67 – menschlicher 258, 323 – Stiftung des Geistes 343, 356 Geschichte 34, 55, 103, 250, 325, 335, 350 – Begriffsgeschichte 30, 52 – Bildungsgeschichte des Willens 145 – der menschlichen Freiheit 241, 251 – des Individuums 249 – Ideengeschichte 28 – Reich der Geschichte 325 – Wirkungsgeschichte 43 Gesetz 17–22, 25–27, 45, 53, 107, 112, 117, 122 f., 126 f., 131–133, 137, 145, 146, 148 f., 151, 153, 155, 159, 162, 164, 166, 168, 170 f., 173, 175, 180, 181 f., 190, 192–194, 197,
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200, 209, 215, 218–220, 222, 228 f., 243–245, 247, 249, 251, 254, 255, 258, 262, 268, 273 f., 275–278, 280, 283–286, 288, 303 f., 305, 307, 308, 312, 336 allgemeines/universelles 21, 21, 61, 93, 96, 102, 111, 151, 155, 164, 178, 197, 240, 246, 283, 289, 312, 322, 341, 355 apodiktisches 134, 139 der Freiheit/Freiheitsgesetz 26, 163 f., 185, 308 der Natur/Naturgesetz 18 f., 26, 27, 106 f., 107, 114 f., 116–118, 121 f., 128, 129, 137, 139 f., 164, 224, 227, 242 f., 245 f., 254, 259, 275, 280, 290, 307, 345 der Vernunft/Vernunftgesetz 19– 21, 24, 28, 53, 128, 132 f., 141, 161, 164, 167, 184, 220, 240, 242 f., 245 f., 257, 259, 345 der Willkür 21, 277, 281 eigenes 16, 20 formales 146, 148, 273 Gesetzgeber/Gesetzgebung 20, 25 f., 146, 151, 166, 167, 171, 180, 183, 191, 274, 275, 277 f., 280, 298, 302, 305, 355 individuelles/subjektives 21, 57, 102, 180–183, 192, 196 f., 246, 254 f., 259, 262, 264, 277, 280 f., 283, 287, 355 inneres 27, 278, 305 moralisches (s. Gesetz, Sittengesetz; Imperativ, kategorischer) 20 f., 24, 138, 140 f., 140, 145, 149, 153 f., 155, 160, 162, 167, 168 f., 171 f., 191 f., 194 f., 199–203, 283 f., 290, 355 notwendiges 115, 222, 224 objektives 21, 134, 141, 167, 168, 170, 191, 196 praktisches 143, 151, 159, 162, 170, 178, 196, 197, 216, 220, 224, 227 f., 276 Sittengesetz (s. Gesetz, moralisches; Imperativ, kategorischer) 20–22,
Die Bestimmung des Willens
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Begriffsregister 24, 25, 26 f., 44, 48, 119, 129, 131 f., 134, 138, 140 f., 144, 146, 148, 150, 151, 153–159, 161–166, 168–171, 172 f., 177 f., 180–183, 190, 191 f., 194, 196 f., 200, 203–205, 218–220, 222, 225, 228 f., 229, 230, 240, 246 f., 254, 259, 261–264, 268, 270– 280, 284–286, 289 f., 294, 304, 309, 312, 322, 324, 327, 339, 341, 355 – Wesensgesetz 21, 289, 338 – Willensgesetz 26, 57 Gesetzlosigkeit/gesetzlos 18, 25, 27, 116 f., 191, 254, 308 Gesetzmäßigkeit/gesetzgemäß (s. Legalität) 18 f., 108, 116 f., 158, 164, 229, 246, 263, 277, 280, 290, 339 Gesinnung 145, 170, 172, 186, 195, 198, 200, 204, 205, 229, 244 – böse 145 Gott/göttlich 64, 67, 69, 70, 83, 247, 268, 297, 310, 311, 313 f., 331, 345 Grund – der Freiheit/Freiheitsentscheidung 52, 194, 230, 288, 341 – des Bösen 192–195, 197, 205, 268 f., 326 – Grund von Existenz 314 f. – Grund vs. Existenz 314, 316 – Gründe vs. Ursachen 106 – Handlungsgründe 231 – Holismus der Gründe 94–95 – objektiver 94, 205, 223, 232, 234 f., 259, 351 – subjektiver 144, 172, 196–198, 225, 232 f., 235, 273, 281, 288, 351 – unerforschlicher erster 199 Grundvermögen (s. Vermögen) Gut 15, 23, 26, 28, 42, 57, 64, 69 f., 72, 76, 78, 80, 86 f., 145 f., 158 f., 161 f., 166, 178, 180, 182, 186 f., 190–192, 195, 197 f., 200, 205, 223, 227, 233, 239, 260, 270, 271, 276, 279, 287, 289 f., 293–295, 298 f., 305, 320, 323, 326, 328, 330, 332 f., 336, 338, 340, 341–343 – absolutes 159
392
– – – – – – – – – – – – –
– – – – – – –
als Böses 341 aus reiner Vernunft 326 Enthusiasmus zum Guten 332 ganzes 226, 246 großes (magnum bonum) 68 größtes 340 Gut vs. Böse 62, 100, 160, 304–305, 331, 333, 342 Gutes und Schönes 289 Gutes und Wahres 76 höchstes 45 kleinstes (minimum bonum) 68 mittleres (medium bonum) 68 moralisches 16, 22, 24, 28, 44, 53, 57 f., 93, 102, 131, 144, 159, 179 f., 184, 187, 190, 192, 205, 281, 287, 298, 331 relatives 159 unbedingtes 160, 163 gemeinsames (bonum commune) 69 unwandelbares (bonum incommutabile) 69 unwirksames 333 veränderliches (bonum mutabile) 69 wahres 336
Handlung – aus/durch vs. unter Freiheit 26 f. – autonome 24 f., 167, 176 – böse 24–27, 42, 46, 62, 69, 94, 102, 112, 131, 145, 158, 175 f., 179, 182, 186 f., 192, 194, 197, 199, 205, 210 f., 214, 216 f., 219, 224, 229, 230, 249, 271, 276, 279, 283, 289, 304, 327 f., 337, 355 f., 358 – empirische 142, 158, 258, 278 f., 289 – freie 24, 44, 78, 82, 96, 109, 116, 122 f., 128, 140, 182, 186, 234, 262, 269, 304, 334–336, 346 f., 355 – gute 62, 69, 131, 158, 168, 180, 186, 210, 217, 230, 304, 355 – konkrete 21, 44, 157 f., 162, 165, 169, 202, 219, 246 f. – menschliche 250, 257, 326
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister – moralische/sittliche 145, 163, 165, 180, 186, 211, 214, 216, 224, 248, 268, 305, 343 – nichtmoralische 185 – Tathandlung 337 – unvernüftige 103 – Willenshandlung 80 f., 156, 212, 222, 224, 227, 230 f., 354 – willkürliche 177, 189, 203, 302 Handlungsfreiheit s. Freiheit Hang 110, 169, 179, 181, 193, 198, 329 – allgemeiner 329 – faktischer 329 – natürlicher 329 – sinnlicher 173 – zum Bösen 143, 168 f., 173, 181, 197 f., 199, 200, 205, 233, 326, 328 f. Harmonie/harmonisch 242, 247, 249 f., 253 f., 259, 264, 288, 321, 332, 353 f. – des Willens 86, 89 – Disharmonie 332 – von Vernunft und Sinnlichkeit 247 Heautonomie/heautonom (s. Autonomie; Selbstbestimmung) 20, 21, 58, 254 f. – Heautonomie vs. Autonomie 21, 58, 254, 255 Hervorbringung 17, 25, 96, 140, 145, 146, 160, 162, 178, 223, 342 – des Guten und Bösen 178 Heteronomie/heteronom 17, 19, 25, 65, 94, 99, 122, 128, 133, 136, 148 f., 160 f., 171, 175, 177, 179, 181, 182 f., 198, 202, 222, 249, 260, 277, 279, 280, 286 f., 311, 316 f., 335, 341, 345, 346, 347, 351 f., 354 f. Hindernis 105, 167 f., 174, 179, 181, 185, 214, 252, 327, 333, 348 – der Autonomie 168 – der Natur 167 – der praktischen Vernunft 185, 187 – der reinen praktischen Vernunft 252 – des Eigendünkels 168
– externes/heteronomes 175, 179, 185, 214, 260 – Hindernis vs. Neigung 181 – passives 179, 198 hypothetischer Imperativ s. Imperativ; Vernunft, instrumentelle Ich – absolutes 310 – empirisches 140, 303 – endliches 303 – intelligibles 103, 140, 303 – unendliches 303 Idealismus/idealistisch 49, 240, 295, 311 f. – idealismuskritisch 252 – spekulativer 20, 34, 35, 40 – transzendentaler 27, 28, 117, 117, 119, 120, 133 f., 177, 204, 276, 278, 281, 290, 301, 309 f., 312 – ›am Rande des Idealismus‹ 15, 32, 49, 51, 240 Idee 108, 110, 127, 141, 167, 176, 212, 216, 233, 236, 277, 320 – der Freiheit 108–115, 135, 138, 303 – der Menschheit 174, 202 f. – der Persönlichkeit 202, 203 – der Vernunft 111 f., 114, 141, 143, 249 – des moralischen Gesetzes 202 – des Verstandes 321 – kosmologische 112, 113, 114, 124 – transzendentale 109, 169 Identifikation 20, 65, 67, 101 f., 170, 218, 336, 352 Identität 45, 98, 217, 263, 297, 320, 324, 330, 331, 341 – absolute 263, 315 – der Person/personale 58, 97, 101, 181, 263, 265 f., 289, 330, 352, 355 f. – dynamische 321 – individuelle 264, 355 – lebendige 321 – praktische 264
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Begriffsregister – relative 322 – starre 324 – von freiem Willen und reiner praktischer Vernunft 152, 257, 262 – Wesensidentität 335 Imperativ 96, 127, 191, 249 – hypothetischer 127, 182, 201 – kategorischer (s. Gesetz, Sittengesetz/moralisches Gesetz) 36, 44, 45, 58, 146, 156, 164, 222, 264, 268, 290, 354 f. Imputabilität (s. Zurechenbarkeit) 24, 106, 114 Indifferentismus/indifferent (s. Unbestimmtheit/unbestimmt) 29, 31, 41, 58, 61, 63, 73, 77, 81, 84, 96, 99, 126, 175, 181 f., 193, 196 f., 218, 231 f., 237, 248, 251, 256, 260 f., 289, 315, 321, 335, 344, 351, 356 Individualität/Individuum (s. Subjekt; Subjektivität) 19, 25, 28, 31, 92, 96 f., 97, 102, 102, 132, 133, 157, 159, 168, 174, 177, 183, 231, 247, 249, 250 f., 260 f., 263–266, 309, 312 f., 317–322, 325, 328, 338, 343, 352 f. Inklination/inklinieren (s. Neigung) 66, 87 f., 90, 92, 101, 131, 150, 174, 177, 181 f., 194, 196, 204, 215, 216, 221, 223, 228, 230, 232, 255 f., 287, 323, 336, 348 f., 351, 354 – Inklination vs. Nötigung 131 Inkompatibilismus/inkompatibilistisch 88, 92, 117 f., 353 Intelligenz (s. Rationalität/rational) 26, 85, 133, 240, 262, 265 f., 309, 312 Intelligible Tat s. Tat Intelligibler Fatalismus s. Fatalismus Intention/Intentionalität/intentional (s. Absicht) 65, 68 f., 79, 106, 121, 155, 193, 247, 298, 349 Interesse 171 – der Existenz 152 – der Neigung 136, 171, 172, 223, 230, 251
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– der Vernunft 111, 114, 144, 166, 171, 171 f., 175 Irrationalismus/irrational 48, 84, 351 Kategorien – der Freiheit 44, 44, 156 f., 158–162, 164, 178 – der Kausalität 140, 161 – der Modalität 164 – der Natur 161 – der Vernunft 139 – des Verstandes 112, 163 – Kategorienfehler 100 – vor-/außerkantisch 32, 54 f., 61 Kategorischer Imperativ s. Imperativ; Gesetz, moralisches, Sittengesetz Kausalität (s. causa) 18–20, 24, 45, 70, 106 f., 115 f., 118, 119, 121 f., 125 f., 128 f., 131, 136 f., 140 f., 145, 160, 163, 174 – Akteurskausalität 59, 92, 345–347, 356 – aus Freiheit/Freiheitskausalität 18, 19 f., 23, 45, 56, 105, 107 f., 109, 111, 114–116, 117, 120 f., 123, 125, 130, 133, 137, 140 f., 144–146, 148, 161, 163 f., 166, 180, 185, 240, 303, 324 f. – der Natur/Naturkausalität 18 f., 106 f., 108, 109, 111, 114 f., 116 f., 120–124, 125, 132, 133, 163 f., 185 – der Vernunft/Vernunftkausalität 19, 22, 24, 38, 46, 109, 123, 126, 132, 137, 140, 146, 162, 169, 171, 176, 190, 195, 212, 216, 250, 258, 287, 295, 327, 344 – des Willens 20, 143, 160 – deterministic causation 349, 351 – downward causation/top-bottomcausality 108 – indeterministic causation 351 – nondeterministic causation 349 – probabilistic causation 349 f. – transzendentale 116 Klugheit (s. Urteilskraft) 103, 357, 358 Kompatibilismus/kompatibilistisch
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Begriffsregister 30, 88, 93, 117, 117, 120 f., 182, 204, 241, 256, 259 f., 297, 313 f., 324, 334, 335, 338, 353 f. – Semikompatibilismus 353 Komplement der Zulänglichkeit 131 f., 166, 177, 202, 221, 232, 259, 278 Kontingenz/kontingent (s. Zufall/zufällig) 16 f., 24 f., 75, 82, 84, 85, 93, 96, 97, 101 f., 149, 152, 174 f., 182, 218, 254, 278, 280, 310, 321, 329, 334 f., 342, 346 f., 352 Kritik – der praktischen Vernunft 15, 17, 22, 30 f., 34, 38, 43, 44, 47, 49, 56, 57, 108 f., 121, 137, 139, 141–143, 146 f., 150, 157, 162, 165, 166, 168, 176–178, 180, 183 f., 190, 191, 196, 201 f., 203, 205, 207, 210, 212, 215, 244, 260, 272 f., 287, 290, 294, 298, 305, 310 – der reinen praktischen Vernunft 206, 213 – der reinen Vernunft 15, 31, 44, 53, 56, 106, 108 f., 110, 135, 137, 144, 161, 166, 176 f., 190, 202, 345 – der theoretischen Vernunft 142 f. – der Urteilskraft 15, 185, 237, 260 – der Willkür 189 – des Willens 88, 207 – theoretische vs. praktische Vernunftkritik 143 Leben/lebendig 20, 47, 62, 67, 68, 97, 131, 135, 141, 152, 200 f., 239, 244, 248, 250 f., 260, 298 f., 311 f., 314, 317, 321, 323, 325, 327, 329–331, 337, 339 f., 343 Legalität (s. Gesetzmäßigkeit/gesetzgemäß) 170 f. Libertarianismus 88, 92 libertas indifferentiae (s. Freiheit, Indifferenzfreiheit) 190, 196, 276, 307, 333 f. liberum arbitrium s. arbitrium Liebe 247, 331, 333, 337, 353, 356 – als Harmonie 354
– als willentliche Notwendigkeit 353 – als wirkliche Erfüllung des Sittengesetzes 247 – Gegenstand der Liebe 353 – Liebe vs. Achtung 247 – liebes Selbst 173, 177 – Selbstliebe 172, 200–201, 252 – zum Leben 152 Maxime (s. Wille, Willensgesinnung) 57, 125, 132, 144, 149–152, 150, 154–156, 160, 164 f., 165, 166 f., 170 f., 178, 180, 182, 192, 194–197, 199–202, 204 f., 210, 216, 226 f., 229, 231–233, 246, 247, 259, 273–275, 276 f., 283 f., 285, 287– 289, 323, 326, 333, 343 – Allgemeingültigkeit der Maxime 131, 171 – bloße 150 f., 196 – böse 205, 233 – Einheit der Maximen 151, 199 – erster Ordnung 150, 197, 221 – Form der Maxime 151, 154 – Gefüge der Maximen 156, 203 – gute 233, 281 – materiale 152–154, 157 – Materie der Maxime 151, 194, 274 – Maximenbildung 156, 159, 197 – Maximenprüfung/Maximentest 155 f., 158, 230 – Meta-Maxime 287 – oberste 197, 200, 205 – zweiter Ordnung 150, 197, 199 Mensch 15 f., 18, 21, 23, 24, 25 f., 36, 53, 67, 68, 69, 72 f., 75, 86 f., 112, 114, 119, 122 f., 124, 126, 130, 134, 139, 141, 164, 172, 173, 177 f., 180, 186, 189, 190, 194, 196, 199–201, 205, 206, 210, 211, 225, 229, 236, 240, 242, 246 f., 249, 250 f., 252, 253 f., 257–259, 262–266, 268–270, 274, 275, 277, 279, 284–286, 288, 290, 297, 299, 302, 311, 316, 318– 320, 323, 324, 325–333, 335–340, 343 f., 346
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Begriffsregister – als Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit 324 – als Erscheinung 133, 277, 280 – als Intelligenz 133, 277, 280, 294 – als sinnlich-vernünftiges Wesen 173 – böser 69, 194, 286 – einiger 263 – Erweiterung des Menschen 254 – freier 24, 82, 263 – ganzer 251, 254 – geteilter 249 – guter vs. böser 194 – Kern des Menschen 257 – Mensch und Natur 319 – Mensch und Weltall 255 – Menschheit 174, 198, 201–203, 248 f., 251 – Mensch vs. Tier 319 Metaphysik 16, 20, 56, 62, 74, 75, 100, 108, 109, 152, 222, 298 – der Sitten 15, 31, 34, 43, 45, 49, 57, 59, 108, 109, 146, 186, 191, 212, 215, 226, 237, 272 f., 275, 278, 282, 287, 289, 291, 293–295, 298, 300 f., 304, 306 – des Bösen 298 – deskriptive 119 – Metaphysica Specialis 109 – revisionäre 119 Missbrauch – der Freiheit 53, 229, 257 – der Vernunft 102, 179, 191, 199 f., 229, 288 – der Willkür 191, 229 Möglichkeit – alternative 176 – der Wahl 57 – des Bösen 185, 324 f., 336, 342 – des Guten 342 – einer Freiheit zum Bösen 297, 298 – für die Möglichkeit 329 – Verzweiflung der Möglichkeit 330 Moral/Moralität 20, 34, 43, 109, 125, 134 f., 138, 153 f., 165, 168, 170,
396
171 f., 177, 208, 217, 224, 244, 247, 267, 269, 283, 289, 305, 322 Natur 26, 30, 74, 75, 86, 100, 102, 103, 107, 108 f., 110, 112, 114–117, 118, 124, 131, 169, 225, 233, 243, 247, 249 f., 251 f., 255, 304, 307, 308, 310–316, 315, 318 f., 321, 323, 324, 327, 337, 342, 352 – der Freiheit 220 – der Person/Persönlichkeit 191, 200, 225, 257, 310, 336 – des Bösen 327 – des Menschen 225, 240, 251 – des Menschen/menschliche Natur 57, 134, 195, 197–199, 207, 208 f., 225 f., 228, 229, 239 f., 242, 245 f., 250, 259, 271, 293, 305 – gemischte 240 – individuelle 191, 225, 246, 257 – Natur und Geist 315 – Naturbedingung 127, 157, 161 Neigung (s. Inklination; Sinnlichkeit) 19, 65, 84, 88, 90, 99, 130, 132, 141, 148, 150–152, 167, 169, 171 f., 174, 178 f., 181–183, 193–195, 197– 199, 202, 215, 244, 247, 273, 277, 287, 307, 317, 326, 346 – als Hindernis 179 – blinde/knechtische 175 – gute 193, 225 – heteronome 179, 277 – Neigung vs. Hang 193 – Neigung vs. Heteronomie 99, 287 – Neigung vs. Pflicht 243 Nezessitierung/nezessitieren (s. Notwendigkeit) 22, 93, 96, 101, 131, 149, 168, 181, 194, 204, 223, 255, 323, 348, 351 Normativität/normativ 20 f., 53, 89 f., 93, 98 f., 101 f., 124–127, 129–131, 134, 138, 146–148, 151, 153, 156, 159 f., 169 f., 177, 180, 204, 218, 222, 231, 260, 268 f., 273, 288, 322, 345, 354 Notwendigkeit (s. Nezessitierung/ne-
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Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister
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– – – – – – – – – – – – – – –
–
zessitieren) 19, 29, 62, 69, 78, 81, 83–85, 86, 93, 100, 102, 112, 116, 118, 126, 133, 167, 182, 184, 217, 224, 235, 239, 251 f., 259, 268, 278, 280, 297, 303, 308, 313, 324, 328 f., 334 f., 336 f., 339 absolute 85 äußere 335 begriffliche 97, 102 der Natur/Naturnotwendigkeit 19, 53, 74, 108, 117–119, 121, 164, 214, 224, 307, 334 der Sünde 328, 333 der Vernunft 176, 184, 285 des Bösen 199, 328 des Guten 328 höhere 254, 256, 259, 335, 353 innere 97, 254, 255, 304, 335, 335– 337, 353 kausale 96 logische 102 metaphysische 83, 96, 102, 254, 308 moralische 264, 290 Notwendigkeit vs. Zufälligkeit 85 objektive 58, 254 subjektive 152 Verzweiflung der Notwendigkeit 330 volitionale/willentliche 89, 96 f., 102, 168, 170, 254, 257, 264, 289, 337, 340, 343, 352–353 volitionale/willentliche vs. begriffliche 102
Objektivität 19, 93, 103, 107, 111, 142, 314, 354, 356 f. Ontologie/ontologisch 36, 63, 70 f., 100, 108, 118, 119, 125, 129, 149, 184 f., 218, 233, 276, 279, 281, 282 f., 309, 322, 334, 341, 347 – Verpflichtung (ontological commitment) 108, 114, 117, 119, 119 Operation 74, 92, 99, 136, 181, 223, 326, 345, 357 – der individuellen Willkürentscheidung 192
– der Integration von Willenstendenzen 330 – der Vernunft 74 – des Geistes 337, 340 – des Verstandes 340 – volitionale 96, 232 Person 16, 17, 26, 28, 36, 37, 44, 58 f., 61 f., 64–66, 75 f., 81, 86, 88, 89, 90– 102, 105, 106, 110, 125, 127, 130, 132, 134, 152, 154, 160, 177, 179– 183, 185, 189, 192, 194, 202, 207, 209, 210, 213–216, 218–220, 222– 225, 227–232, 234, 238, 239–241, 241, 243 f., 247 f., 250–252, 255– 257, 261, 263–266, 273, 283, 286, 289, 293, 295 f., 302, 309–312, 314, 319, 320, 321, 322–324, 328–330, 334–337, 339–344, 346, 348, 350– 356, 353, 356, 358 – als bloße Zuschauerin innerpsychischer Kämpfe 179 – Ausdruck der Person 96 – böse 179 – Identität der Person 98, 263, 265, 289 – Identität der Person im Bösen 356 – im Verhältnis zu Wille und Vernunft 351 – individuelle 16, 61, 93–95, 231, 264, 320 – Kern der Person 17, 91, 97 – Konstitution der Person 91, 355 – Person und Natur 182 f., 225, 341 – Person vs. Mensch 210 – Person vs. Persönlichkeit 310 – Person vs. Subjekt 56 – Person vs. Süchtiger 91 – Person vs. Triebhafter (wanton) 90 – Person vs. Vernunft 210, 218 – Widerspruch der Person 229 Persönlichkeit 174, 201–203, 303, 310, 314, 320–322, 324, 339, 348 – als das eigentliche Selbst der Person 310 – als geistige Entität 322, 327
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Begriffsregister – als Idee der Menschheit 203 – als Unabhängigkeit von der Natur 310 – Persönlichkeit und Verstand 339– 340 – Persönlichkeit vs. Vernunftsubjekt 320 – Zerstörung der Persönlichkeit 303, 310 Pflicht 20, 22, 43, 45, 85, 146, 167– 170, 249, 264, 269, 271, 353, 355 – aus Pflicht 170 – pflichtgemäß 170 – pflichtmäßig 153 – Pflicht vs. Neigung 243 – pflichtwidrig 153, 164 Philosophie/philosophisch 15, 16, 30, 33–35, 36 f., 40, 40, 42, 43, 44 f., 46 f., 49, 50, 52, 54, 55, 74, 82, 88, 113 f., 117, 127, 129, 150, 183, 199, 210 f., 225, 236, 237 f., 239, 242, 252 f., 293, 295–297, 300, 302 f., 308, 311, 315, 335 – analytische 88, 108 – Aufklärungsphilosophie 211 – der Freiheit/freiheitsphilosophisch 47, 50, 296 – der Natur/naturphilosophisch 129, 297, 311–315, 317, 324 – des Geistes 249 – Existenzphilosophie 238 – Identitätsphilosophie/identitätsphilosophisch 297, 303, 314, 324, 329, 330, 341 – Kantische 35, 37, 40, 47, 49, 50, 53, 55, 58, 61, 108, 119, 202, 206, 207, 212, 213, 214, 238, 257, 294 – klassische deutsche 33, 37, 47, 299, 335 – kritische 29, 34, 47, 105, 216, 262 – Moralphilosophie/moralphilosophisch 31, 33, 34, 38, 44, 45 f., 47, 56, 57, 108, 165 f., 183, 184, 198 f., 211, 214, 237 – praktische 34, 37, 46, 47, 109, 110, 206, 237, 261
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– – – – –
Rechtsphilosophie 46 spekulative 36 Sprachphilosophie 47 theoretische 109, 176 Transzendentalphilosophie/transzendentalphilosophisch 27, 40, 109, 110, 188, 252, 314 Prädeterminismus s. Determinismus Präferenzen 152 f., 170 – erster Ordnung/Stufe 65, 67, 99, 101, 148, 152 f., 157, 169, 192, 221, 285 – personale 97 – zweiter Ordnung/Stufe 101, 153 Primat – der praktischen Vernunft 33, 41 – des Willens 81, 351 principium 76–77, 114 – diiudicationis 22, 35, 64, 93, 134, 146, 158, 170, 217–219, 324, 342 – executionis 23, 35, 64, 93, 135, 146 f., 170, 217–219, 244, 274, 324 f., 339, 342 – specificationis 22, 134, 146, 158, 164 Privationstheorie/privativ 26, 28, 32, 70, 86, 102, 179, 192, 195, 270 f., 305, 326 – der Freiheit 186 – des Bösen 186, 281, 289, 298, 326 f. – des Endlichen 310 – des Unvermögens 279 Rationalität/rational (s. Geist; Intelligenz; Vernunft; Verstand) 22, 23, 27, 28, 54, 70, 72, 74, 76, 81, 84, 101, 132, 172, 182, 192, 201, 216, 232, 235, 246, 255, 259, 261, 288 f., 294, 317, 333 f., 339, 348, 351, 357, 358 – individuelle 101, 103, 182, 269, 339 – universelle 270 – willentliche 266 Raum – Raum der Gründe 94, 106
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Begriffsregister – Raum und Zeit 25, 118, 120, 127, 145, 159 – Spielraum 62, 87, 90, 99, 153, 157, 162, 317, 344, 357 Realismus 238, 240, 311 – lebendiger 312 – transzendentaler 114, 117, 177, 118–120 Realität 71, 119, 248, 256, 259 – der Freiheit 45, 111, 134, 138 f., 145, 219, 228, 269, 300 – der intelligiblen Tat 290 – der Kategorien der Vernunft 139 – der Persönlichkeit 314 – der Willkür 308 f. – des Daseins 250 – des Ethischen 45 – des Kausalitätsbegriffs 111, 140 – des reinen Willens 137, 152 – höchste 253 Reflexion (s. Bewusstsein) 16, 18, 20, 21, 27, 47, 62, 76 f., 87, 92, 99, 108, 117, 131, 151 f., 192, 202, 232, 240, 255, 257, 265, 267, 270 f., 282, 285, 287, 307 f., 311, 317, 319, 332, 339, 340, 344, 352 – des Geistes 242, 324 – des reinen Willens 267 – des Willens 20, 21, 64, 66, 79, 83, 193, 218, 260, 265, 280, 306, 308, 324 – präreflexiv 343 – Reflexionspunkt 268 – reflexives Verhältnis von mens und ratio 258, 308, 319 – reflexives Verhältnis von Wille und Vernunft 31, 76, 216 f., 225, 283 Regel (s. Gesetz) 18, 110 f., 116, 131, 144, 162, 163, 164, 196, 273, 290, 318, 323 – allgemeine 18, 150, 196, 285 – der Urteilskraft 164 – der Vernunft 157, 162 – des Wollens 150 – objektive 290 – praktische 146, 148, 150
– Spielregel 254 – subjektive 196 – syntaktische 323 – Verstandesregel 111, 144 Regress 124, 126 – infiniter/unendlicher 87, 93, 139, 153, 204, 233 f., 287, 309 – Regress-Problem 93 – Regress-Stopper 309 Schönheit 236, 243, 259 f., 289 – als Freiheit in der Erscheinung 239 – als Symbol der Sittlichkeit 260 – als Verbindung von intelligibler und sensibler Welt 245 Sehnsucht 299, 316–318 Selbst – eigentliches 25, 133, 151, 174, 177, 180, 310 – liebes 173, 177 Selbstbestimmung (s. Autonomie; Heautonomie) 16, 28, 62, 99, 102, 125, 161, 178, 187, 209, 219 f., 226, 228 f., 231 f., 236, 245, 248, 265, 276, 286, 296, 316, 321, 338, 342 f., 343 – absolute 16, 357 – als graduelle Qualität menschlichen Handelns 101, 250 – Bestimmung zur Selbstbestimmung 309 – freie 28, 53, 219, 223, 284 – individuelle 21, 28, 42, 59, 183, 255, 260 f., 267 – universelle 255 – vernünftige 294, 311 – willentliche 16, 100, 261 Selbstbewusstsein 46, 50, 99, 119, 218, 261, 268, 317 – der reinen praktischen Vernunft 173 – des reinen Willens 99 – moralisches/sittliches 166, 228 – personales 99, 219, 228 – praktisches 129, 138, 148, 218, 228 – volitionales 306
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Begriffsregister Selbstformierung (s. Autonomie; Heautonomie; Selbstbestimmung; Selbstgesetzgebung) 90, 159, 336, 338, 342, 348 Selbstgesetzgebung (s. Autonomie; Heautonomie; Selbstbestimmung; Selbstformierung) 20, 25, 53 Selbsttreue (s. Notwendigkeit, volitionale/willentliche) 59, 102, 263, 265, 289, 337 Sinnlichkeit (s. Neigung) 53, 128, 130 f., 144, 146, 163, 169, 176, 214, 222, 231, 243, 247, 250, 252, 252, 255, 258, 269, 280 – als Diener 252 – als Grundvermögen 215 – Anarchie der Sinnlichkeit 248 – Sinnlichkeit und Achtung 145, 166 – Sinnlichkeit und Freiheit 243 – Sinnlichkeit und Sittlichkeit 209 – Sinnlichkeit vs. Grund des Bösen 193, 326 – Sinnlichkeit vs. Vernunft 133, 180, 181, 209, 252, 276 – Sinnlichkeit vs. Verstand 129, 326 Sittengesetz s. Gesetz; kategorischer Imperativ Skeptizismus/skeptisch 29, 134 f. Spekulation 47, 135, 138 f. Spiel 254 – der Erkenntnisvermögen 245 f. – dialektisches 113 – Spielzüge 254 – Wechselspiel von Form- und Stofftrieb 321 – Zusammenspiel von Wille und Vernunft 73, 75, 79 Spontaneität 86, 107, 119, 126, 131, 140, 195, 245, 253, 257, 274, 285, 324 f., 335, 345 – absolute 26, 109, 113, 275, 345, 347, 349 – absolute Spontaneität der Ursachen 56, 74 f., 107, 110, 115, 137, 345 – absolute Spontaneität der Willkür 190, 196, 285
400
– der Vernunft 127 – praktische 26, 109, 275 Subjekt (s. Individualität/Individuum) 90, 107, 118, 140, 145, 146, 150, 172, 183, 193, 197, 209, 210, 216, 273, 283, 286, 309, 313, 315 – als Ding an sich selbst 126 – als Mensch 134 – der Autonomie 25 – freies/Freiheitssubjekt 65, 122, 132, 157, 187, 220, 343, 357 – handelndes 26, 90, 122–123 – heteronom bestimmtes 148 – Kern des Subjekts 16 – Subjekt und Prädikat 85 – vernünftiges/Vernunftsubjekt 21, 149, 179, 183, 277, 320 Subjektivität – des Bösen 271 – intersubjektiv 103, 151, 230, 251, 259, 309, 354 – praktische 55, 262 – Subjektivität und Individualität 319 – Subjektivität vs. Objektivität 314 f., 330, 356 f. – Subjektivitätsproblematik 36, 39 – Theorie der Subjektivität 36, 262 Substanz 62, 75, 76, 123, 125 f., 225, 257, 313 Sünde 69, 70, 86, 328, 333 – Sündenfall 67 Suspension (s. Aufschiebung) 99, 100, 148, 220, 255 Synthesis 124, 267 – kategoriale 160 – progressive 124 – regressive 124, 126 System 42 f., 45, 93, 166, 211, 290, 294, 301, 304, 308, 313, 341 – der reinen Vernunft 134 – der Sittenlehre 59, 262 – des Gleichgewichts der Willkür 334 – des intelligiblen Fatalismus 268 – des transzendentalen Idealismus 204, 281, 290, 301, 309, 312 – Identitätssystem 301
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Begriffsregister – – – –
Freiheit und System 294 Tonsystem 332 Wertesystem 97 Würzburger System 297, 310, 330
Tat 15, 67, 127, 273, 326, 331, 338 – anonyme 205 – ewige 337 – intelligible 95, 128, 197, 205, 205, 290, 337 f., 343 – intelligible vs. sensible 205 – sensible 205 teleologisch 36, 40, 136, 143, 242, 350 Theodizee 81 f., 83, 298, 314 Tier/tierisch 126, 129, 137, 193, 249, 318 f., 322 Trägheit 267, 270, 271, 279, 327 – Kraft der Trägheit (vis inertiae) 270 f., 289 – zur Reflexion 270 Transzendentale Freiheit s. Freiheit Transzendentaler Idealismus s. Idealismus Transzendentaler Realismus s. Realismus Trieb 93, 210, 221 f.,222, 225, 231 f., 241, 246, 248–253, 258, 262, 263, 265, 317 – ästhetischer 253 – eigennütziger 77, 208, 209, 210, 215, 219, 220, 221, 222, 224, 225– 230, 234, 250, 269, 351 – Erkenntnistrieb 253 – Formtrieb 249–251, 258, 260, 319, 321 – Grundtrieb 232, 244, 246, 251, 253, 257–259 – Lebenstrieb 152, 250 – nach Identität 263 – Naturtrieb 265–266 – praktischer 253 – Selbsterhaltungstrieb 318 – sinnlicher 249, 250–252, 258, 269 – Spieltrieb 253, 255, 321 – Stofftrieb 249 f., 260, 289, 319, 321 – Triebfeder 17, 26, 44, 45, 126, 145 f., 147, 153, 158, 165 f., 167,
168–170, 171–175, 180 f., 184 f., 192–195, 196, 199–202, 210, 221, 226, 229, 233, 244, 246, 268, 274, 285, 287, 324, 326, 333, 348 – Triebhafter (wanton) 89 f., 223 – uneigennütziger 77, 208, 215, 219, 221, 222, 224, 225 f., 228–230, 234, 269, 351 Typus – des Sittengesetzes 164 – einer intelligiblen Natur 164 – eines Gesetzes der Freiheit 164 Unbestimmtheit/unbestimmt (s. Indifferentismus/indifferent) 30 f., 41, 58, 62, 75, 84, 159, 177, 183, 187, 211, 231, 245, 266 f., 278, 280, 288 f., 333, 346, 349, 350 Unendlichkeit/unendlich 85, 87, 92 f., 119, 125, 204, 233, 234, 256, 265, 287, 303, 306, 309 f., 313, 324, 334 Universalität/universell 19, 21, 25, 76 f., 93, 101 f., 124, 132, 144, 150 f., 153, 180, 183, 230, 251, 255, 262, 264, 269, 271, 283, 322, 343, 355 Unvermögen 26–28, 26, 28, 32, 57, 59, 63, 159, 164, 175, 179, 181, 186, 187, 271, 278 f., 281, 283, 290 f., 294, 298, 301 f. – als Un-Vermögen 28 – der Freiheit 26, 36, 71, 179, 275 – der Vernunft 186, 279 – des Guten 271 – einer Freiheit zum Bösen 32, 188, 283, 294, 306 – i. S. von Privation 279 – moralischer Freiheit 159, 164 – moralisches/sittliches 188 – Unvermögen vs. Unmöglichkeit 279, 281, 283 Urteil 64, 73, 80, 87, 128, 154, 163, 172–174, 302, 350 – der Vernunft/Vernunfturteil 72, 73, 165 f., 173 – der Wahl 73 – Geschmacksurteil 245 f.
Die Bestimmung des Willens
A
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Begriffsregister – – – –
moralisches/sittliches 45, 326 Tatsachenurteil 85 Urteilsakt 72 Urteilsprinzip (principium diiudicationis) 64, 134, 217 – willentliches 64, 350 Urteilskraft (s. arbitrium; Klugheit) 21, 77, 103, 144, 162, 164, 173, 237, 245 f., 255, 258 f., 288, 324, 340, 340, 350, 357 – ästhetische 254, 288 – i. S. von liberum arbitrium 64 – praktische/moralische 44, 162, 163, 165, 247, 340 – reflektierende 58, 125, 241 f., 245 – transzendentale 162 usus rationis (s. Gebrauch, der Vernunft) 85, 217, 229 Vermögen 28, 57, 74–76, 80, 100, 115, 126, 130, 149, 155, 164, 184, 219, 228, 230, 233 f., 242, 246, 265, 269, 279, 280, 281, 283, 289 – absolutes 285 – allgemeines 53 – der Allgemeinheit 133 – der ästhetischen Urteilskraft 288 – der Aufschiebung 148, 255, 265 – der Freiheit 24, 74, 75, 107, 109, 117, 141, 147, 167–169, 171, 175, 278, 297 f. – der intellektuellen Anschauung 139 – der Klugheit 103 – der Maximen 227 – der Person 31, 100, 209, 210, 216, 228, 283, 339 – der praktischen Vernunft 135 – der Prinzipien (= Vernunft) 110 f. – der Regeln (= Verstand) 110 f. – der reinen praktischen Vernunft 31, 184, 230, 244, 283, 288 f., 324 – der reinen spekulativen Vernunft 135 – der reinen Vernunft 123, 281 – der Selbstbestimmung 220, 228, 232, 276
402
– der Urteilskraft 21, 103, 162, 165, 241, 245, 254, 258 f. – der Vernunft 26, 31, 54, 63 f., 70, 73, 76 f., 110 f., 128, 136, 158, 172, 209, 259, 269, 339, 351 – der Wahl/Willkür 58, 71, 80, 101, 196, 244, 246, 269, 274, 276, 277, 280–282, 284 f., 302, 305, 307, 312, 340 – der Zwecke 259 – des Bösen 28, 187 f., 269, 271, 277, 294 f., 298, 310, 313, 323 – des Geistes 68, 70, 77, 342 – des Guten 28, 276, 298, 323 – des Verstandes 17, 110 f., 112, 339 – des Willens 17, 21, 63, 65, 73–77, 84, 99, 129, 136, 141, 160 f., 178, 209, 212, 215 f., 226, 262, 274 – freies 223 – gesetzloses 116 – Gründe-sensitives 52 – grundloses 272 – Grundvermögen 58, 79, 92, 94, 215, 233, 234 f., 257, 259, 282, 288, 294, 299, 351 – i. S. von Prinzip der Veränderung 75 – lebendiges 298 f. – menschliches 17, 27, 53, 245, 263, 340 – mit Vernunft verbundenes 74 – moralischer Freiheit 159 – moralisches/sittliches 53, 71 f., 188 – natürliches 74 – physisches 157 – positives 275, 298, 305 – rationales 28, 74, 132 – sonderbares 245 – synthetisches 267 – übersinnliches 243, 280 – unbestimmtes 333 – unvernünftiges 74 – Vermögen vs. Möglichkeit 141, 279 – Vermögen vs. Unvermögen 26, 28, 271 – Vermögenslehre 74 – volitionales 63
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister – widernatürliches 84 Vernunft – (reine) praktische Vernunft vs. (freier) Wille 31, 207, 209, 210, 213, 257, 288 – allgemeine 183 – Einheit von Vernunft und Natur 243 – i. S. von das Vernehmende und Allgemeine 320 – individuelle 70, 86, 132 f., 177, 264–265 – instrumentelle (s. Imperativ, hypothetischer) 222, 230 – praktische 17, 21, 22, 30 f., 33 f., 38, 41, 43 f., 47, 48 f., 56, 57, 93, 94, 108–110, 133, 134–137, 139–144, 145, 146 f., 149 f., 152, 153 f., 157, 160–162, 165, 166, 168, 176–180, 183 f., 186, 190, 191, 193, 196, 201, 202, 203, 205, 207, 210, 212–214, 215, 216–218, 220, 222, 223 f., 230, 244, 255, 260, 272–274, 283 f., 286– 288, 290, 294, 298, 305, 310, 327, 339, 352 – reine 17, 20, 22–24, 31, 44, 53, 56 f., 93, 106, 109, 110, 112–114, 123, 131–133, 135, 137–141, 142, 144– 146, 148 f., 156, 162, 165 f., 168– 170, 175 f., 179 f., 184, 190, 196, 202, 210, 217, 220, 242, 248, 250, 276, 278, 281, 283–286, 308, 326, 336, 339, 341, 345 – reine praktische 22–24, 26 f., 31, 44, 57 f., 93, 96, 109, 131 f., 138–147, 152, 156, 158–160, 162, 164–167, 170–178, 181, 183, 184, 185, 191, 194, 197, 202, 206, 207, 210, 213, 215, 217, 218, 222–225, 227–230, 244–246, 252, 257, 261–264, 266 f., 273 f., 277, 280 f., 282, 285 f., 288 f., 290, 302, 307, 311, 321, 324, 335, 341 f. – spekulative 134–136, 142, 212 – theoretische 109, 110, 113, 138, 142 f., 160, 163, 222, 284
– – – – –
Vernunft und Wille 273 Vernunft vs. Sinnlichkeit 180, 209 Vernunft vs. Verstand 110 f., 339 Vernunft vs. Wille 75, 79, 81, 135 Vernunftschluss 112, 133, 144, 144, 145, 145, 158 f., 163, 166, 169, 178 – Vernunftzwang 22, 30, 58, 62 f., 254 – Willensvernunft 77, 341 Vernünfteln 112, 112, 168 f., 169, 179, 199 f. – praktisches 112, 168 – theoretisches 112, 169 Verstand 74, 79, 81, 83, 86, 110–112, 126, 129, 144, 154, 161, 163, 165, 173, 215, 246 f., 288, 308, 316–318, 321, 339–341 – als Universalwille 318 – diskursiver/dialektischer 340 – menschlicher 81 f., 211 – praktischer 302 – reiner 215 – Verstand vs. Vernunft 110 f., 339 – Verstand vs. Wille 17, 83 – Verstandesbegriff 111 f., 163 – Verstandeserkenntnis 112 – Verstandesregel 111 – Verstandeswelt 127 Volitionen (s. Willenstendenzen) – erster Ordnung/Stufe 65, 67, 97, 148, 170, 338, 348 – erster Stufe 68 – Meta-Volition 92 f. – zweiter Ordnung/Stufe 65, 67, 87, 89–95, 97, 99, 101, 130 f., 147 f., 150–154, 157 f., 169–171, 180, 183, 192, 197 f., 200, 204, 218, 233, 242, 244, 253, 255, 260, 265, 280, 284 f., 307, 309, 317, 322, 336 f., 342–344, 348 f., 353, 357 Voluntarismus/voluntaristisch 74, 77, 232, 351 – Einheit von Voluntarismus und Intellektualismus 77 Vorstellung 53, 78, 146, 149, 160 f., 169 f., 201, 215, 253, 262, 263, 337
Die Bestimmung des Willens
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Begriffsregister Wahl (s. electio) 21, 23 f., 28, 73, 78, 79, 81, 100, 151 f., 177 f., 234, 243, 265, 274, 275, 277, 283, 303 f., 307, 313, 329, 335 f., 345, 349, 350, 356 – Auswahl 90, 95, 262, 265 – der Maxime 204 – des Willens 23, 28, 73 – freie 64, 71, 86, 132, 180, 240, 243, 267, 329 – grundlose/beliebige 54, 98 – menschliche 328 – radikale 98 – Wahlakt 77 – wahllos 54, 277, 280 – zwischen Entgegengesetztem 304, 335 – zwischen Gut und Böse 15, 24, 57, 180, 218, 305 – zwischen mehreren Möglichkeiten 86 Wahrheit 54, 84, 270, 302, 339 – notwendige 93 – Tatsachenwahrheit 85 – Vernunftwahrheit 85 – Wahres und Gutes 76 – zufällige 85 wanton (s. Trieb, Triebhafter) 89 f., 97, 100, 130, 216, 316, 318 Welt – intelligible (mundus intelligibilis) 27, 127, 310 – intelligible vs. sensible 119, 120, 121 f., 125, 334 – Sinnenwelt (mundus sensibilis) 107 Wille (s. Volitionen; Willenstendenzen) 20 f., 26, 28, 30 f., 33 f., 54, 65, 66, 68 f., 73, 74–80, 84, 86 f., 88, 90 f., 96, 103, 122, 140 f., 142, 150, 152, 157, 159, 173, 183, 192, 194, 207, 210, 214, 216, 219, 222 f., 226 f., 232, 236, 238, 240, 256 f., 262 f., 265–267, 273, 274, 275, 280, 284 f., 296 f., 305, 308, 317, 347, 349 – absoluter 303, 304, 309 – allgemeiner/Allgemeinwille 77, 93, 318, 319, 322–324, 325, 333
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– als Einheit von übersinnlicher und sinnlicher Welt 265 – als Funktion der reinen Vernunft 285 – als geistiges Vermögen 68 – als Kausalität 131 – als mittleres Gut (medium bonum) 68 – als praktische Vernunft 152, 178, 215 – als Zwischeninstanz 137 – als ›Anschauungsmaterial‹ 137 – autonomer 20, 26, 151 – böser 71 – des Grundes 333 – Doppelaspekt des Willens 219 – Eigenwille 270 f., 316 f., 318 f., 320, 321, 322–325, 328 f., 331, 341 f., 358 – Eigenwille vs. Universalwille 322 – Einheit von Eigenwille und Universalwille 329 f., 338 – empirischer 147, 217, 219 f., 306 – erster Stufe 317 – freier 18 f., 21, 31, 45, 64, 69, 73, 82, 88, 93, 141, 151, 180, 234, 257, 261, 267, 276, 328, 346 – gespaltener 22, 65 f., 66, 67, 68, 88, 150, 167 f., 179, 248, 324, 347–349 – guter 24, 276 – guter und böser 286 – im engeren Sinne 21 – im weiteren Sinne 21 – individueller/personaler 57, 71, 99, 265 f., 349 – menschlicher 17, 18, 19, 39, 61, 69, 78, 120, 129, 132, 139, 158, 168, 194, 206, 242 f., 248, 253, 255, 263, 275, 330, 333, 351 – objektiver 357 – Partikularwille 318, 331, 333 – reflexiver 68, 79, 88, 94, 223, 258, 266, 318 – reiner 16 f., 19, 93, 94, 99, 103, 131, 137, 141, 147, 150, 152, 173 f., 177 f., 180, 204, 215, 217, 220, 226, 262–267, 289, 307 – überindividueller 152
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
Begriffsregister – unbestimmter 18, 74 – unfreier 267 – Universalwille 318–320, 321, 322– 325, 328 f., 331, 337–339, 341 f., 358 – unter sittlichen Gesetzen 21, 151 – Vernunftwille 21, 77, 274, 341 – vollständig integrierter 71 – Wille und Sittengesetz 25 f., 285 – Wille und Vernunft 63, 72 f., 75– 77, 79, 103, 182 f., 207, 210, 213, 215–217, 262, 283, 288, 305 – Wille vs. praktische Vernunft 31, 73, 94, 217 – Wille vs. Willkür 26, 57, 59, 63, 79, 262, 273, 275, 282–285, 289, 302, 306 f. – Willensgesinnung 23, 44, 146, 157, 161, 164 f., 178 – Willenskontrolle 79, 101, 168, 242, 246, 250 – Willensschwäche 64–66, 65, 72, 91, 279, 324, 336 – Zentralwille 331 – zufälliger 24 – zweiter Stufe 94, 317 Willensfreiheit s. Freiheit Willenstendenzen (s. Volitionen) 245, 248 f., 251 f., 258, 336, 341 – erster Stufe/primäre 65–68, 71, 87, 89–92, 94 f., 97 f., 100 f., 130, 151, 158, 171, 181, 194, 196 f., 226, 228, 241 f., 244, 253–256, 258 f., 260, 267, 285, 287, 307, 317, 322, 329 f., 336, 342, 345, 347–349, 351, 353, 357 – oberflächliche/diffuse 99 – zweiter Stufe/sekundäre 98 Willkür (s. arbitrium, liberum) 17, 18, 21 f., 26 f., 27, 28, 30–32, 38, 44, 52, 54, 58, 83 f., 100, 101, 118, 128, 130, 141, 146, 150, 153, 158, 165, 167, 174, 180, 190 f., 194–196, 201 f., 207 f., 213–216, 219, 223 f., 227, 229, 231 f., 244–246, 262, 272– 282, 285–290, 301–307, 309, 326, 334, 340 f. – als Aspekt des Willens 158
– als eigentliche Freiheit der Person 302 – als endliche/menschliche Freiheit 27, 53, 129, 190, 192, 218, 273, 284, 286, 303, 309 – als Naturvermögen 275 – als Phänomen 54, 275 f., 280, 304, 306–309 – als Unvermögen 281 – als volitionale Operation 53, 63, 83, 217, 232, 273, 284, 341 – als Zwischeninstanz 21, 27, 271, 280, 307 – bloße 84, 93 – böse 27, 278, 281, 283, 299, 302, 310 – despotische 224 – exekutive 165 – freie 16, 24, 26, 53, 83, 84, 129, 158, 170, 178, 190, 192, 195, 197, 204 f., 277 f., 285, 295, 302, 308 – grundlose 30, 54, 334 – gute 276, 281 – heteronome 149 – individuelle 27, 134, 182, 189, 191, 203 f., 287, 289, 309 – spezifizierende (libertas specificandi) 165 – tierische 27, 129, 278 – unbedingte 106 – vermischte (libertas hybrida) 27, 134, 234, 278 – Willkür vs. reine praktische Vernunft 230, 278, 289, 307, 340 – Willkür vs. Sittengesetz 191, 220 – Willkür vs. Wille 57, 59, 63, 273 f., 275, 280 f., 283–285, 307 Wirklichkeit (s. Realität) 84, 148, 161, 224 f., 228, 245, 248, 252, 299 – der Freiheit 107, 207, 239, 329 – des Bösen 179, 325, 328 f. – dramatische 240 – einer Freiheit zum Bösen 297 – empirische 146 – individueller Freiheit 246 f., 310 – reiner praktischer Gesetze 143
Die Bestimmung des Willens
A
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Begriffsregister – reiner Vernunft 23 Wirkursache (s. causa, efficiens) 70, 105, 107, 118, 196 Wissenschaft/wissenschaftlich 16, 322 – des Absoluten 54 – Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 289, 337 – Naturwissenschaft/naturwissenschaftlich 51, 107, 111, 182, 279 – Neurowissenschaft 59 – spekulative 73, 106 – Wissenschaftslehre 50, 261 f., 262, 300 – Wissenschaftslehre nova methodo 59, 262, 289 – Wissenschaftslehre von 1794/5 59 Wollen/wollen 64, 66, 67 f., 79, 86, 97, 102, 130, 151, 178 f., 209, 213, 216–218, 220, 223, 227, 229, 231, 255, 257, 267, 283, 286, 297, 309, 316 – als Ursein 316 – empirisches 226 – Platonische Parallelisierung von Wollen und Denken 15, 64, 218 – reines 219, 264 – rudimentäres 316 – selbstreflexives 66, 77, 89, 226, 232, 286, 304, 309, 316 – unreines 219 – unsittliches 214, 220 Wünsche 22, 66, 90, 100, 101, 169, 337, 349 – erster Stufe 89, 129 f., 325, 337 – handlungswirksame 90 – konfligierende 348 – Wünsche vs. Gründe 101 Zeit 25, 115 f., 119, 123, 125, 163, 190, 192, 202, 205, 324, 337, 350 – als reine Anschauungsform 163 – intelligible Tat durch die Zeit 337 – natürliche 337 – Schranken der Zeit 249 f. – vergangene 118, 189, 203 – Zeit und Raum 120, 159
406
Zufall/zufällig (s. Kontingenz/kontingent) 62, 83, 105, 112, 149, 169, 214, 227 f., 233, 253, 257, 308, 334, 336 – der Handlung 203 – der Neigung 198 – des Willens 233 – Unbegreifbarkeit der Zufälligkeit 62 – vernunftloser 29, 334 – Zufall vs. Notwendigkeit 30, 85, 184, 252, 334 Zurechenbarkeit/Zurechnungsfähigkeit/zurechenbar (s. Imputabilität) 16, 24, 36, 41, 52, 57, 95, 98, 100 f., 106, 121, 153, 156, 169, 180, 182 f., 189, 202, 267, 270 f., 277, 282, 294, 303, 305, 345, 346 f., 347, 350, 353, 354, 357 – absolute 16, 234 – böser Handlungen 210 – der individuellen Person 16, 36, 44, 94, 98, 124, 132, 201, 227, 261, 273, 310, 344, 346 – des Bösen 70, 197, 206, 210, 217, 261, 271, 273, 356, 358 – des Guten und Bösen 102, 131, 180, 190, 192, 203 – des Subjekts 107, 210 – Zurechenbarkeits-Problem 24, 25, 26, 34, 36, 41 f., 51, 208 – Zurechenbarkeits-These 24 – zurechnendes Urteil 128 Zweck 17, 90, 137, 147, 149 f., 200, 206, 209, 215, 246, 252 f., 259, 326, 327 – als Objekt der Willkür 274 – der Handlung 89, 250 – der Neigung 244 – individueller 19, 230 f., 254, 259 – materialer 149, 279 – Mittel zum Zweck 137, 222 – Selbstzweck 137 – Zwecklosigkeit/zwecklos 340 – Zweckmäßigkeit 245, 288, 350 – Zweckursache 121
SYMPOSION
Jörg Noller https://doi.org/10.5771/9783495808177 .
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