Entschädigung für Zwangsarbeit?: Zum Problem individueller Entschädigungsansprüche von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges gegen die Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428481897, 9783428081899


113 59 13MB

German Pages 135 [136] Year 1994

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Entschädigung für Zwangsarbeit?: Zum Problem individueller Entschädigungsansprüche von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges gegen die Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428481897, 9783428081899

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Studien und Gutachten aus dem Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin

Heft 15

Entschädigung für Zwangsarbeit? Zum Problem individueller Entschädigungsansprüche von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges gegen die Bundesrepublik Deutschland

Von

Albrecht Randelzhofer und Oliver Dörr

Duncker & Humblot · Berlin

RANDELZHOFER/DÖRR

Entschädigung für Zwangsarbeit?

Studien und Gutachten aus dem Institut für Staatslehre, Staats und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin Heft 15

Entschädigung für Zwangsarbeit? Zum Problem individueller Entschädigungsansprüche von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges gegen die Bundesrepublik Deutschland

Von Univ.-Prof. Dr. Albrecht Randelzhofer und Wiss. Mitarbeiter Oliver Dörr, LL.M.

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Randelzhofer, Albrecht: Entschädigung für Zwangsarbeit? : Zum Problem individueller Entschädigungsansprüche von ausländischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges gegen die Bundesrepublik Deutschland / von Albrecht Randelzhofer und Oliver Dörr. Berlin: Duncker und Humblot, 1994 (Studien und Gutachten aus dem Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin ; H.15) ISBN 3-428-08189-7 NE: Dörr, Oliver:; Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht (Berlin): Studien und Gutachten ...

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0409-1426 ISBN 3-428-08189-7

Gedruckt auf alterungsbesländigern (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Nonn für Bibliotheken

Vorwort Entschädigungsansprüche von Privatpersonen, die durch das nationalsozia­ listische Deutschland als Zwangsarbeiter aus den Staaten Polen, Ungarn und Rumänien eingesetzt worden waren, bilden gegenwärtig den Gegenstand zwei­ er Vorlageverfahren beim Bundesverfassungsgericht (2 BvL 21/93 und 33/93). Als vorlegende Gerichte stellen das Landgericht Brement das deutsche Zustimmungsgesetz zum Londoner Schuldenabkommen (LSA) vom 27.2.19532 und das Landgericht Bonn3 § 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) v. 5.11.19574 gemäß Art. 100 Abs.1 GG zur verfassungsrechtlichen Überprüfung. Gleichzeitig fragen beide Gerichte in der Sache übereinstimmend gemäß Art. 100 Abs.2 GG nach Bestehen und Reichweite einer allgemeinen völkerrechtlichen Regel, wonach Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen nur im zwischenstaatlichen Verhältnis, nicht aber durch eine unter Umständen unmittelbar betroffene Einzelperson geltend gemacht werden könnten. Die vorliegende Untersuchung versucht, auf die damit aufgeworfenen Fra­ gen des materiellen Völkerrechts und deutschen öffentlichen Rechts eine Ant­ wort zu geben. Sie geht zurück auf die Arbeit an einem Schriftsatz, den der Erstverfasser im Raltmen der genannten Vorlageverfahren für die Bundesregie­ rung beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hat. Zum Zweck der Veröf­ fentlichung sind Text und Nachweise überarbeitet worden. Die ausdrücklichen Bezüge auf die gerichtlichen Ausgangsverfahren wurden, soweit dies ohne Sinnentstellung möglich war, entfernt. Das Manuskript wurde im Juli 1994 abgeschlossen.

1 Beschluß der 1. Zivilkammer v. 3.12.1992 (1 0 2889/1990 a), abgedr. in JZ 1993, 633636, m. Anm. Heß, JZ 1993, 606-610; vgl. unter G 1. 2 BGB!. 1953 Il, 331. 3 Beschluß der 1. Zivilkammer v. 2.7.1993 (10134/92), vgl. unten G Il. 4 BGB!. I, 1747, zuletzt geänd. durch Gesetz v. 21.12.1992, BGBI. I, 2094, 2101.

Inhaltsverzeichnis Einleitung ... ...... ... ............ ... ...... .... ... ...... ...... ... ... ... ............ ......

11

A. Ansprüche aus Völkerrecht ... ............ ............ ...... ............. ...... ..

12

I. Vorrangig kommen nur völkerrechtliche Ansprüche in Frage .. ..........

12

1. Heranziehung zur Zwangsarbeit im Rahmen des Kriegsgeschehens

12

2. Deutsches Recht galt am Ort des Geschehens nicht .. ......... ... .....

12

3. Bestätigung durch das Verhältnis von AKG und LSA ... ...... ........

15

4. Ergebnis .. ...... ...................... ..................................... ..

17

II. Intertemporales Völkerrecht ............. .................... ......... ...... ..

17

III. Ansprüche aus einem Verstoß gegen die HLKO ... ... ....... ... ... ... .....

18

1 . Anwendbarkeit der HLKO ...... ...... ... ...... .......... ...... ...... .....

18

2. Zwangsarbeit als Verstoß gegen Art. 52 HLKO ... ............. ........

18

3. Geltung der Schutzbestimmungen des Dritten Abschnitts der HLKO für die gesamte Bevölkerung im besetzten Gebiet ....... ... ... ... .....

20

4. Zwangsarbeit als Verstoß gegen das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg ....... ... ........

22

5. Aus der Verletzung der HLKO ergibt sich kein Individualanspruch

23

IV. Die Heranziehung zur Zwangsarbeit als Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht? . ... ....... .......... . .... ... .. . ......... ...... .... ... ... ... ... .....

26

1 . Kein Verstoß gegen Art. 5 des Sklavereiabkornmens von 1926 .. ... .

26

a) Problem der Anwendbarkeit ..................... ............. ........

26

b) Kein grundsätzliches Verbot der Zwangsarbeit ....... ............ ..

28

c) Grundsätzliche Zulässigkeit der Zwangsarbeit zu öffentlichen Zwecken .................................................................

30

d) Kein Entschädigungsgebot für Zwangsarbeit zu öffentlichen Zwecken .................................................................

31

2. Das ILO-Übereinkornmen über Zwangs- und Pflichtarbeit .... ... .....

32

3. Völkerrechtliches Fremdenrecht ............ ...... .......... ..............

32

4. Völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz .. ......... .... ... ... ... ........

33

5. Völkergewohnheitsrecht ... . . . ............ ...... ... ... .... ... ... ... ... .....

34

V. Ergebnis und Folgerungen .... ...... ... ... ... ... ...... ... .... ... ... ... ........

34

8

lnhaltsveneichnis

ß. Ansprüche aus deutschem Recht ........................... ....... ......... ..... 1. Öffentlich-rechtliche Ansprüche (Staatshaftungsrecht) .................... l. Ansprüche aus § 839 BGB i. V. m. Art. 131 WRV ..... .... ... ... ..... a) Öffentlich-rechtliche Natur des Anspruchs ..... ....... ... ...... ..... b) Ausübung öffentlicher Gewalt ............................... . ........ c) Amtspflichtverletzung ................ ......................... ........ d) Problem der schuldhaften Amtspflichtverletzung ................... e) Haftungsbeschränkung durch§ 7 RBHG .................... ........ f) Zusammenfassung .............................. ................ ........ 2. Aufopferungsanspruch ........... ... ... ...... ...... ................ ........ 3. Öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch ..... ...... ...... ....... ...... II. Zivilrechtliche Ansprüche .......... ... ... ............................ ........ 1. Generelle Unanwendbarkeit des deutschen Zivilrechts auf KZ-Häftlinge und ihr Verhältnis zum deutschen Staat .......................... a) Andere Rechtslage evtl. bei polnischen Zivilarbeiterinnen und sog. Ostarbeiterinnen ........... . ..... ... .................................... b) KZ-Einweisung als hoheitlicher Akt ................ ................. 2. Problematik zivilrechtlicher Ansprüche auch im Verhältnis zu Unternehmen, denen KZ-Häftlinge zugewiesen waren .. .......... ......... .. III. Ansprüche aufgrund der deutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung l. Hintergrund der Schaffung spezieller gesetzlicher Regelungen ....... 2. Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) ........... ..

37 37 37 37 38 39 42 43 46 47 49 51 51 52 53

IV. Ergebnis ................................. .......................................

54 54 54 57 60

C. Anspruchsuntergang durch wirksamen Forderungsverzicht .. .... .. .. .. .. .

61

I. Verzichtserklärungen mit Wirkung gegen Privatpersonen ................ 1. Venicht durch Ungarn und Rumänien 1947 ............................ a) Auslegung als Venicht mit anspruchsvemichtender Wirkung .. .. b) Erfassung von Ansprüchen ohne direkten Bezug zum Kriegsgeschehen ...... ........................... .............................. c) Erfassung von Ansprüchen verfolgter Personen ............... ..... d) Berechtigung der Bundesrepublik Deutschland als Drittstaat ...... 2. Venicht durch die Volksrepublik Polen 1953 .......................... a) Einseitige Erklärung mit Rechtsbindungswillen ... ................. b) Erstreckung auf mögliche Forderungen von Privatpersonen ..... ..

61 61 62

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. ......... 1. ymfassend� �ölke,?"�htliche Verfüg���sbefugnis der Staaten über die Rechtspos1l!onen ihrer Staatsangehongen ..................... ...... .. a) Die "Mediatisierung" des Individuums im Völkerrecht ....... ... .. b) Staatenpraxis ......... ... ............................... ............... .. aa) Der "echte" Verzicht .............................................. bb) Als Gegensatz: der reine "Interventionsvenicht" ........ .... .. c) Rechtsprechung ......... ...... ...................... .................. .. d) Ergebnis . . .. .... .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. ..... .. .. .... .. .. .. ....... .. . .. . .. 2. Begrenzung durch den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz .....

63 65 67 69 69 70 74 74 75 78 79 88 90 91 92

Inhaltsverzeichnis D. Unanwendbarkeit von Art. 5 LSA auf die Ausgangsfälle .. .. ... .. .. ... ... .. I. Personeller Anwendungsbereich . ... .. . ... .. .. .. . .. .... ... ... . .. .... ... . ..... II. Sachlicher Regelungsgehalt .. ... ... . .. . .. . ... . . . . . . . .. . ... ... . ... . . . . .. . ... ..

9 95 96 97

E. Im übrigen: Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Normen .. . . .... .. .. .. I. An. 14 GG kein einschlägiger Maßstab ..... .. .... ...... .. . . .... .. . .. . . ....

99 99 II. Kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ... . .. . ........ .... .. ... . .. ......... 100

F. Wesentliche Ergebnisse . . . . .... ... ... . .. . . . ... ........ ... .... ... ...... ... .... ... .. 102 G. Anhänge .... . .. .. ... ... . .... . . .. .. ... .... .. .... .. .. . . .. .. ... ..... ... ..... ... . . .. ..... 103 I. Vorlagebeschluß des LG Bremen vom 3. 12. 1992 (10 28 89/1990 a) .. 103 II. Vorlagebeschluß des LG Bonn vom 2. 7. 1993 (10 34/92) .............. 11 3

Einleitung In der Sache soll vor allem der Frage nachgegangen werden, ob den von der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahme Zwangsarbeit betroffenen Individuen selbst Entschädigungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland zustehen. Im Gewand der prozessualen Voraussetzungen eines Vorlageverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 GG bedeutet dies, daß die von den Instanzgerichten vorgelegten Normen, die beide angeblich eine gerichtliche Durchsetzung der behaupteten Ansprüche der Klägerinnen hindern, nur dann entscheidungserheblich für die Ausgangsverfahren sindt, wenn solche Ansprü­ che überhaupt entstehen konnten. Für diesen Punkt wird zu unterscheiden sein zwischen möglichen Entschädigungsansprüchen unmittelbar aus Völkerrecht (dazu A.) und solchen aus deutschem Recht (B.). Darüber hinaus können möglicherweise entstandene Ansprüche - und mit ihnen die Entscheidungser­ heblichkeit der zur Überprüfung gestellten Normen - dadurch wieder entfallen sein, daß die Heimatstaaten der betroffenen Individuen wirksam auf sie ver­ zichtet haben (C.). Für die Zulässigkeit der Vorlage durch das LG Bremen ist ferner von Be­ deutung, ob die dort für einschlägig erachtete Norm des Art. 5 Abs. 4 des Londoner Schuldenabkommens (LSA) überhaupt auf die Klägerinnen dieses Ausgangsverfaltrens Anwendung finden kann (D.). Schließlich ist für die Be­ gründetheit der Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG noch kurz auf die Verfas­ sungsmäßigkeit der vorgelegten Bestimmungen einzugehen (E.). Die gemäß Art. 100 Abs. 2 GG gestellte Frage nach einer völkerrechtlichen Regel zur Geltendmachung von Deliktsansprüchen wird bei den Punkten A. und C. mit­ behandelt werden. Zu betonen ist, daß es im folgenden nur darum geht, ob solche Entschädi­ gungsansprüche nach dem einschlägigen geltenden Recht bestehen.

1 Zu den strengen Anforderungen, die das BVerfG im Rahmen von Art. 100 I GG an die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen stellt,vgl. z.B. BVerfGE 65, 308 (314-316), 68,311 (316),74,236 (242), 81,40 (48f.),83,111 (116); BVerfG NJW 1993, 2733.

A. Ansprüche aus Völkerrecht I. Vorrangig kommen nur völkerrechtliche Ansprüche in Frage Unter mehrfachen Aspekten ist es angezeigt, in erster Linie eventuelle An­ sprüche auf der Grundlage des Völkerrechts zu untersuchen.

1. Heranziehung zur Zwangsarbeit im Rahmen des Kriegsgeschehens Die Heranziehung der Klägerinnen zur Zwangsarbeit erfolgte im Rahmen des Kriegsgeschehens. Die Klägerinnen waren, von einer Ausnahme abge­ sehen, und sind es noch heute, Angehörige anderer Staaten1. Die Anwendung deutschen Rechts ist daher schon insofern nicht naheliegend.

2. Deutsches Recht galt am Ort des Geschehens nicht Auch der räumliche Bezug des Geschehens spricht gegen die Anwendung deutschen Rechts. Die Klägerinnen wurden aus Polen, Ungarn und Rumänien nach Auschwitz verbracht. In keinem der drei Staaten galt das deutsche Recht. Nach dem im Völkerrecht damals wie heute herrschenden Territorialitätsprin­ zip2 darf ein Staat Hoheitsakte nur auf seinem Staatsgebiet setzen. Typische Hoheitsakte eines Staates sind seine Gesetze, die damit nach Völkerrecht nur auf seinem Staatsgebiet gelten.

1 Der Fall des LG Bremen betriffi eine seinerzeit ungarische sowie eine damals ungarische oder(!) rumänische Staatsangehörige. Vor dem LG Bonn klagen 21 Frauen und ein Mann, von denen 16 zum fraglichen Zeitpunkt die polnische sowie 5 die ungarische Staatsangehörigkeit besaßen; eine Klägerin in diesem Verfahren war damals und ist heute Deutsche. Im übrigen besitzen die Klägerinnen heute die israelische, U .S.-amerikanische und in je einem Fall die kanadische und die rumänische Staatsangehörigkeit. 2 Dazu statt aller A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, S. 634 ff.

I. Vorrang völkerrechtlicher Ansprüche

13

Auch durch die kriegerische Besetzung (occupatio bellica) erwirbt ein Staat nicht die Befugnis, seine Rechtsordnung auf das besetzte Gebiet des fremden Staates auszudehnen3. Viel.mehr erwirbt er durch die kriegerische Besetzung nur ein - einge­ schränktes - Recht, auf dem besetzten Gebiet die Gebietshoheit auszuüben. Die Besatzungsmacht hat alle Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und auf­ rechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis entgegensteht, unter Beachtung der Gesetze des besetzten Staates4. Auschwitz unterlag nach dem militärischen Sieg über Polen dem völker­ rechtlichen Rechtsregime der kriegerischen Besetzung (occupatio bellica), wie es durch die Art. 42-56 HLKO bestimmt war. Zum Zeitpunkt, . als die Klägerinnen nach Auschwitz verbracht wurden, hatte das Deutsche Reich diesen Teil des polnischen Staatsgebietes allerdings in sein Reichsgebiet eingegliedert5. Mit diesem Akt konnte das Deutsche Reich jedoch nicht in rechtswirksamer Weise die grundsätzliche Geltung der völkerrechtlichen Regeln für dieses Gebiet beseitigen und an seine Stelle die deutsche Rechtsordnung setzen. Dem steht entgegen, daß die Eingliederung des betreffenden Gebietes sich als eine schon zum damaligen Zeitpunkt unzu­ lässige Annexion darstellte6. Die Annexion war zur Zeit des sog. klassischen Völkerrechts ein Gebietserwerbstitel, der neben der völligen militärischen Niederringung (debellatio) des anderen Staates den Willen voraussetzte, sich dessen Staatsgebiet oder Teile davon einzuverleiben. Solange das Völkerrecht kein Kriegs- bzw. Gewaltverbot enthielt, war die Annexion ein allgemein an­ erkannter und in der Staatenpraxis häufiger Gebietserwerbstitel. Das änderte sich grundlegend mit der entscheidenden Wende, weg von der Freiheit zum Kriege und hin zum Kriegsverbot, die mit dem Abschluß des 3 Zutreffend gerade für den hier interessierenden Zusammenhang betont von E. Feaux de la Croix, Schadensersatzansprüche ausländischer Zwangsarbeiter im Liebte des Londoner Schuldenabkommens, NJW 1960, 2268(2269 f.). 4 Siehe Art. 43 der Haager Landkriegsordnung(HLKO) vom 18.10.1907(RGBI. 1910, 107). 5 Vgl. § 4 des Führererlasses vom 8. 10.1939 (RGBI. 1, 2042) und den Führererlaß vom 20.10.1939 (RGBI. I, 2057). In Kraft getreten ist diese "Neuordnung der Ostgebiete" am 26.10.1939. 6 Das übersieht wohl W. Schwan., Rückerstattung nach den Gesetzen der Alliierten Mächte, in: Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwan (Hrsg.), Die Wie­ dergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, s. 12.

A. Ansprüche aus Völkerrecht

14

Kellogg-Briand-Paktes vom 27.8.19287 eintrat. Dieser Vertrag, der noch heu­ te für mehr als 60 Staaten gilt, war für das Deutsche Reich und Polen, wie im übrigen auch für Rumänien und Ungarn, bereits 1929 in Kraft getreten. Die Wirkung des Paktes beschränkte sich nicht auf das Kriegsverbot, durchbro­ chen nur vom Selbstverteidigungsrecht, sondern umfaßte auch notwendige Folgen dieses Kriegsverbotes. Eine dieser Folgen war und ist, daß der Aggressorstaat, der unter Verletzung des Kellogg-Briand Paktes zum Krieg geschritten war, und das war im Zweiten Weltkrieg das Deutsche Reich, nicht in rechtsgültiger Weise die Früchte eines militärischen Erfolges genießen konnte. Es ist deshalb allgemein anerkannt, daß der Aggressor aufgrund eines erfolgreichen Krieges keine rechtswirksame Annexion vornehmen konntes. Die Eingliederung von Teilen des polnischen Staatsgebietes war daher völ­ kerrechtlich nicht wirksam. Damit konnte auch die Geltung des Regimes der kriegerischen Besetzung dort nicht rechtswirksam beseitigt werden. Nicht nä­ her muß daher auf das weitere Problem eingegangen werden, ob überhaupt eine wirksame debellatio Polens als eine der Voraussetzungen für eine Anne­ xion vorgelegen hat. Immerhin hatte Polen auch nach seiner militärischen Nie­ derlage Verbündete, die den Krieg fortsetzten und auf deren Seite auch polnische Verbände kämpften9. Das Deutsche Reich konnte also durch die Eingliederung des polnischen Gebietes nicht in rechtswirksamer Weise die deutsche Rechtsordnung an die Stelle des völkerrechtlichen Rechtsregimes der occupatio bellica setzen. Daher ist das, was in und um Auschwitz geschah, nach Völkerrecht zu bewerten und nicht nach dem deutschen Recht der dama­ ligen Zeit. Eventuelle Entschädigungsansprüche der Klägerinnen können sich daher nur aus Völkerrecht ergeben und nicht aus dem deutschen Recht. (Etwas anderes gilt nur für diejenige Klägerin vor dem LG Bonn, die damals die deut­ sche Staatsangehörigkeit besaß und noch heute besitzt.)

7 RGBI. 1929 11, 97. 8 Siehe stellvertretend für diese allgemeine Meinung F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. , 1975, S. 363 f. ; Verdross/Simma (Fn. 2), S. 52, 606 f. ; R. Bindschedler, Annexation, in: Encyclopedia of Public International Law, Inst. 3, 1982, S. 20 ff. 9 Bindschedler aaO, S. 20 hält die Eingliederung der Teile polnischen Staatsgebietes in das Deutsche Reich 1939 auch aus diesem Grunde für rechtsunwirksam. Ebenso der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg in seinem Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher, vgl. Das Urteil von Nürnberg 1946, dtv dokumente, 4. Aufl. , 1979, S. 134 f.

1. Vorrang völkerrechtlicher Ansprüche

15

3. Bestätigung durch das Verhältnis von AKG und LSA Dieses Ergebnis wird auch bestätigt durch das Londoner Schuldenabkom­ men (LSA) vom 27.2.1953 10 und das Allgemeine Kriegsfolgengesetz (AKG) vom 5.11.19571 1 , genauer gesagt, durch ihr Verhältnis zueinander. Hätten entgegen der hier aufgezeigten Rechtslage dennoch Ansprüche der Klägerinnen aus allgemeinen deutschem Recht bestanden, dann wären diese nach § 1 Abs. 1 AKG mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.1.1958 erlo­ schen. Zwar nimmt § 5 Abs. 1 Ziffer 2 AKG Ansprüche, die auf einer Verlet­ zung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit oder der Freiheit beruhen und nicht auf Zahlung von Renten gerichtet sind, freilich nur bis zur Höhe der Leistungen, die das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) für Schäden dieser Art vorsieht, davon aus, doch nach § 6 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AKG nur dann, wenn die Person am 31.12.1952 ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland oder einem Staat hatte, den die Regierung der Bundesrepublik Deutschland am 1.4.1956 anerkannt hatte, oder am 31.12. 1952 Angehöriger eines Gläubigerstaates des Londoner Schuldenabkommens vom 27.2.1953 war. Unberührt von § 1 AKG bleiben wegen § 1 Abs. 2 AKG und § 8 Abs. 1 BEG Ansprüche aus dem BEG. Verfassungsrechtliche Beden­ ken, gestützt auf Art. 3, 14 und 20 GG, gegen diese Regelung der § 1 AKG greifen wegen Art. 135a GG nicht durcht2. § 1 AKG bezieht sich nicht auf völkerrechtlich begründete Ansprüche, auch wenn dies im Wortlaut nicht zum Ausdruck kommtt 3. Über völkerrecht­ liche Ansprüche kann der Schuldnerstaat grundsätzlich nicht allein verfügen. Würde der Gesetzgeber das Erlöschen völkerrechtlicher Ansprüche einseitig anordnen, dann könnte das zwar innerstaatlich durchaus Rechtswirkungen aus­ lösen, etwa derart, daß die Staatsorgane daran gehindert wären, diese Ansprü­ che zu erfüllen, doch läge darin eine Verletzung der völkerrechtlichen Ver­ pflichtung. Daß der deutsche Gesetzgeber beim Erlaß des § 1 AKG eine solche Verletzung des Völkerrechts begehen wollte oder auch nur in Kauf nahm, ist in keiner Weise anzunehment4.

10 BGBI. U, 331. 11 BGBI. I, 1747. 12 Siehe E. Feaux de la Croi.l: u.A. , Kommentar zum Allgemeinen Kriegsfolgengesetz, Nr. 5 zu § 1, m. w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 1 3 Zutreffend Feaux de 1a Croi.l: u.A. aaO, Nr. Sm zu § 1. 1 4 Zum Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung deutscher Gesetze vgl. nur BVerfOE 74, 358 (370); R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 2. Aufl. 1994, S. 190f.

16

A. Ansprüche aus Völkerrecht

Ein deutlicher Beleg dagegen ist darüber hinaus § 101 AKG, wonach das Londoner Schuldenabkommen vom AKG nicht berührt wird. Die generell, aber auch im hier interessierenden Zusammenhang wichtigste Bedeutung des § 101 AKG liegt im Hinweis auf Art. 5 LSA, insbesondere Abs. 2 und 3. Dort werden Ansprüche gegen das Deutsche Reich, soweit sie "aus dem Zwei­ ten Weltkrieg herrühren", zwar nicht begründet, jedoch als möglicherweise vorhanden unterstellt. Ihre "Prüfung" wird aber, bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt". Art. 5 Abs. 2 und 3 LSA beziehen sich nur auf völkerrechtlich begründete Ansprüche, andernfalls hätte der deutsche Gesetzgeber nicht in § 1 AKG das Erlöschen der Ansprüche gegen das Deutsche Reich anordnen können und in § 101 AKG zugleich bestimmen können, daß die Regelungen des LSA nicht be­ rührt werden. Dafür spricht auch der in den beiden Absätzen verwendete Be­ griff der Reparation, der ein völkerrechtlicher ist15. Nicht ist damit jedoch notwendig ausgeschlossen, daß als Reparationen auch völkerrechtlich begrün­ dete Ansprüche von Individuen in Frage kommen16. Zwar ist der Krieg ein Rechtsverhältnis zwischen Staaten. Reparationsforderungen bestehen daher grundsätzlich zwischen Staaten. Ausgeschlossen sind Ansprüche von Individu­ en jedoch nicht zwangsläufig. Insbesondere können solche Individualansprü­ che vertraglich vereinbart werden, wie das z.B. im Versailler Vertrag vom 28.7. 191917 in Art. 23 1 ff. geschehen ist. In Art. 5 Abs. 2 LSA ist dann auch nicht nur von Forderungen von Staaten die Rede, sondern auch von "Forderungen" von Staatsangehörigen dieser Staa­ ten. Zu weitgehend ist es allerdings, daraus den Schluß zu ziehen, Art. 5 Abs. 2 LSA sei ein Beleg für die Existenz solcher Individualansprüche. Auch inso­ fern ist der Wortlaut von Bedeutung. Art. 5 Abs. 2 LSA spricht nicht davon, daß Forderungen gegen Deutschland, sondern daß die "Prüfung" solcher For­ derungen bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt wird. Ehe eine Forderung aber geprüft ist, ist keine Aussage über ihr Bestehen möglich. Art. 5 Abs. 2 LSA gibt für die Existenz von Forderungen, auch sol15 Siehe I. Seidl-Hohenveldem, Reparations, in: Encyclopedia of Public International Law, Inst. 4, 1 982, S. 1 78 ff. ; zum Reparationsbegriff vgl. auch unten bei C. l.2b. 16 Die Ausführungen von Feaux de la Croix (Fn. 3), bes. 2269 f. stehen im Kern nicht in Widerspruch zu dieser Aussage. Dort wird der - überzeugende - Nachweis geführt, daß neben dem völkerrechtlichen Reparationsanspruch kein auf deutschem Zivilrecht oder öffentlichem Recht beruhender Individualanspruch bestehen kann. Wenn es auf S. 2268 dennoch auch heißt: "Der in völkerrechtswidriger Weise Geschädigte hat also keinen völkerechtlichen Individual­ anspruch auf Schadensersatz", dann wird sich die Richtigkeit auch dieser Aussage im folgenden zwar für das allgemeine Völkerrecht erweisen, sie berucksichtigt jedoch nicht die Möglichkeit, daß durch völkerrechtlichen Vertrag Anspruche auch des Individuums begrundet werden können. 17 RGBI.

1 919, 687.

II.Intertemporales Völkerrecht

17

eher von Individuen nichts her, schließt diese letztere Möglichkeit nur nicht von vornherein aus.

4. Ergebnis

Aus alledem ergibt sich, daß sich Ansprüche der Klägerinnen nur aus dem Völkerrecht ergeben können.

II. Intertemporales Völkerrecht Soweit es um mögliche Ansprüche der Klägerinnen aus Völkerrecht geht, muß zunächst beachtet werden, was nicht immer geschieht, daß es dabei grundsätzlich nicht um das Völkerrecht gehen kann, wie es heute, zur Zeit der Geltendmachung der Ansprüche gilt, sondern darum, wie es zu dem Zeitpunkt galt, zu dem die Klägerinnen Adressaten der Maßnahmen waren, wegen derer sie ihre Ansprüche geltend machents. Dieser Grundsatz gilt allgemein und im Bereich des Vertragsrechts bewirkt er grundsätzlich die Nichtrückwirkung völ­ kerrechtlicher Verträge! 9. Dieser Grundsatz ist im hier interessierenden Zusammenhang vor allem unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung: Im Zusammenhang mit den vor­ liegenden Verfahren gemäß Art. 1 00 Abs. 1 und Abs. 2 GG spielen die nach 1 945 abgeschlossenen und in Kraft getretenen multilateralen Menschenrechts­ schutzverträge, wie die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. 1 1. 1 950 oder der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1 966 ebensowenig eine Rolle, wie das IV. Genfer Abkommen vom 12.8. 1 949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten, welches, anders als die ersten drei Genfer Abkommen von 1 949, keinen Vorläufer aus dem Jahre 1929 hat20.

18 Siehe statt aller Verdross/Simma (Fn. 2), S. 41 6 ff. m. w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 19 Dazu A. Bleckmann, Die Nichtliickwirkung völkerrechtlicher Verträge, ZaöRV 33(1 973), 38 ff.

20 Letzteres verkennt D. Majer, Die Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter in völkerrechtlicher Sicht, AVR 29(1991 ), 7 ff. 2 Randelzhofcr / Dörr

A . Ansprüche au s Völkerrecht

18 III.

Ansprüche aus einem Verstoß gegen die HLKO 1. Anwendbarkeit der HLKO

Die Klägerinnen sind 1943 aus Polen, Ungarn und Rumänien in das KZ Auschwitz gebracht worden, und in ihrer Eigenschaft als Häftlinge zur Zwangsarbeit herangezogen worden, zum Teil in der unmittelbaren Nähe von Auschwitz, zum Teil in Bremen. Die Zwangsarbeit erfolgte im Rahmen der Kriegsanstrengungen des Deutschen Reiches. Die kriegsbedingten Ausfälle, insbesondere in der Rüstungsindustrie sollten durch die Zwangsarbeiter und arbeiterinnen ausgeglichen werden. Auschwitz lag auf dem Gebiet des polnischen Staates, auf dem nach der militärischen Niederlage das Rechtsregime der occupatio bellica galt. Wie oben gezeigt, konnte das Deutsche Reich dieses Rechtsregime durch die Ein­ gliederung von Teilen des polnischen Staates in das Reich nicht wirksam be­ seitigen, da es sich um eine rechtswidrige und unwirksame Annexion handelte. In und um Auschwitz galt nach wie vor das Recht der kriegerischen Besetzung, wie es in den Art. 42 ff. der HLKO geregelt ist. Das 4. Haager Abkommen vom 18.10. 1907, dessen Anlage die HLKO ist, galt damals und gilt auch noch heute für das Deutsche Reich und auch die drei genannten Staaten, deren Angehörige die Klägerinnen waren. In erster Linie ist daher zu prüfen, ob sich ein Entschädigungsanspruch der Klägerinnen aus der HLKO ergibt. Aus der Allbeteiligungsklausel des Art. 2 des IV. Haager Abkommens ergeben sich keine Probleme bezüglich der An­ wendbarkeit der HLKO, da jedenfalls ihr dritter Abschnitt, d.h. die Art. 42 ff., in denen das Recht der kriegerischen Besetzung geregelt ist, im Zweiten Weltkrieg auch schon als Gewohnheitsrecht galt2 1 .

2. Zwangsarbeit als Verstoß gegen Art. 52 HLKO

Aus Art. 52 HLKO ergibt sich, daß nicht jede Heranziehung der Bevölke­ rung im besetzten Gebiet zur Arbeit für die Besatzungsmacht unzulässig ist. Was die Bedürfnisse des Besatzungsheeres anlangt, können Natural- und Dienstleistungen von der Bevölkerung des besetzten Gebietes grundsätzlich gefordert werden. Diese Befugnis unterliegt aber Einschränkungen: Die gefor2 1 Siehe F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. Il, 2. Aufl. , 1969, S. 124; D. Kube, Private Kriegsschäden in der völkerrechtlichen Praxis. Ein Beitrag zur Staatenverantwortlichkeit im Kriege, 1971, S. 40 f.

III. Ansprüche aus der HLKO

19

derten Leistungen müssen im Verhältnis zu den Hilfsquellen des besetzten Landes stehen; sie dürfen nicht für die Bevölkerung die Verpflichtung enthal­ ten, an Kriegsanstrengungen gegen ihr Vaterland teilzunehmen. Naturallei­ stungen sind grundsätzlich in bar zu bezahlen. Aus der grundsätzlichen Zweckbestimmung und den genannten Einschränkungen ergibt sich als Ge­ samtbild, daß nach der HLKO die Heranziehung der Bevölkerung des besetz­ ten Gebietes nur in einem beschränkten Maße und unter Modalitäten zulässig ist, die bei der Heranziehung von KZ-Häftlingen zur Zwangsarbeit in keiner Weise eingehalten worden sind22 , Die Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge diente nicht den örtlich und sachlich beschränkten Bedürfnissen des Besatzungsheeres, wie von Art. 52 HLKO ge­ fordert, sondern der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Kriegswirtschaft, und damit dem deutschen Staat insgesamt. Allein schon deswegen waren die Grenzen des Art. 52 HLKO überschritten. Weiter entspricht dem Sinn dieser Vorschrift nur eine gelegentliche und zeitlich begrenzte Heranziehung zu Dienstleistungen. Die Heranziehung zur Zwangsarbeit durch die Nationalso­ zialisten erfolgte dagegen dauerhaft und ohne zeitliche Begrenzung. Sie stand damit auch nicht in einem vernünftigen Verhältnis zu den Hilfsquellen des be­ setzten Landes. Vor allem entspricht es der Konzeption des Art. 52 HLKO nicht, daß die Heranziehung zur Dienstleistung einherging mit dem generellen Verlust der persönlichen Freiheit und der Deportation aus dem Wohngebiet der Zwangsar­ beiter. Schließlich verstieß der Einsatz der Zwangsarbeiter auch dagegen, daß die Heranziehung der Bevölkerung des besetzten Gebietes nicht zu einer Teilnah­ me an den Kriegsanstrengungen gegen ihr Vaterland führen durfte. Der Ein­ satz in der deutschen Kriegswirtschaft, insbesondere in der Rüstungsindustrie, te aber gerade dazu. Zwar spricht der Wortlaut des Art. 52 HLKO nur davon, daß die Heranziehung zu Dienstleistungen nicht bedeuten dürfe, daß der Be­ troffene an Kriegsunternehmungen gegen sein Land teilnimmt. · Sinn und Zweck des Art. 52 HLKO verbieten aber nicht nur die Teilnahme an militäri­ schen Aktionen i.S. bewaffneter Handlungen, sondern an den Kriegsanstren­ gungen des besetzenden Staates überhaupt. Hier muß der Wandel der Kriegs­ führung beachtet werden. Zur Zeit der Formulierung der HLKO waren die Kriegsanstrengungen noch gleichbedeutend mit Kriegsunternehmungen i.S. bewaffneter Aktionen. Schon im Zweiten Weltkrieg, erst recht seither, war die Kriegsführung nicht mehr nur bewaffnete Aktion. Der Wirtschaftskrieg war 22 Siehe für 1 944, s. 72 ff. 2•

die ganz allgemeine Auffassung R. Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe,

20

A. Ansprüche aus Völkerrecht

bereits eine entscheidende Komponente der Kriegsführung insgesamt23. Der Einsatz der Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft, insbesondere in der Rüstungsindustrie, war daher eine Beteiligung an Kriegsunternehmungen i.S. des Art. 52 HLKO. Nun verbietet Art. 52 HLKO seinem Wortlaut nach die Beteiligung der Bevölkerung im besetzten Gebiet an Kriegsunternehmungen "gegen ihr Vater­ land". Eindeutig ist auch dieses Tatbestandsmerkmal durch den Einsatz der polnischen Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft erfüllt, denn die deutschen Kriegsanstrengungen richteten sich nach der militärischen Niederla­ ge Polens zwar nicht primär, aber doch auch auf die Aufrechterhaltung der kriegerischen Besetzung Polens. Seit dem 19.3. 1944, dem Zeitpunkt, zu dem die deutschen Truppen das ursprünglich verbündete Ungam militärisch besetz­ ten, war das genannte Tatbestandsmerkmal auch bezüglich der ungarischen Zwangsarbeiter erfüllt. Fraglich erscheint es, ob dieses Tatbestandsmerkmal auch bezüglich der rumänischen Zwangsarbeiter erfüllt ist, mit deren Heimatstaat sich das Deutsche Reich zu keinem Zeitpunkt im Kriegszustand befand. Im Ergebnis ist dies zu bejahen. Der Wortlaut des Art. 52 HLKO hat den Normalfall im Auge, d.h. daß die Masse der Bevölkerung im besetzten Gebiet die Staatsangehörigkeit des besetzten Staates besitzt, für sie ist der besetzte Staat das "Vaterland" ("leur patrie"). Durch diese Formulierung soll aber die Einbeziehung der Bevölkerung des besetzten Gebietes, die nicht die Staats­ angehörigkeit des besetzten Staates besitzt, nicht ausgeschlossen werden24. Für sie ist die Beschränkung in dem Sinne zu verstehen, daß sie nicht zu Leistungen herangezogen werden dürfen, die sich als Teil der Kriegsanstren­ gungen gegen den Staat ihres Aufenthaltsortes richten. Daraus ergibt sich weiter, daß die gleiche Beschränkung auch für die Heranziehung von Staatenlosen im besetzten Gebiet gilt.

3. Geltung der Schutzbestimmungen des Dritten Abschnitts der HLKO für die gesamte Bevölkerung im besetzten Gebiet

Wie gerade erwähnt, stellt sich noch die Frage, ob der Dritte Abschnitt (Art. 42 ff.) der HLKO , und damit der hier besonders interessierende Art. 23 Siehe zum Wirtschaftskrieg Berber (Fn. 21), S. 197 ff. 24 Zur Anwendbarkeit der Art. 42 ff. HLKO überhaupt

besetzten Gebiet siehe sogleich unter 3.

auf die gesamte Bevölkerung im

III. Anspruche aus der HLKO

21

52, nur auf die Staatsangehörigen des besetzten Staates anwendbar ist, oder auf die Bevölkerung des besetzten Gebietes überhaupt. Im völkerrechtlichen Schrifttum herrscht über diesen Punkt keine Einig­ keit. Eine Meinung interpretiert die Art. 42 ff. HLKO vor dem Hintergrund des Art. 4 des IV. Genfer Abkommens vom 12. 8 . 1 949 zum Schutz von Zivil­ personen in Kriegszeiten2s, wonach Angehörige neutraler und mit der Besat­ zungsmacht verbündeter Staaten nicht als geschützte Personen betrachtet wer­ den, solange ihre Staaten eine normale diplomatische Vertretung beim Staat der Besatzungsmacht unterhalten. Diese Regelung gehe zurück auf die Inter­ pretation der HLKO durch die Strafjustiz der Nachkriegszeit26 . Diese Meinung ist wenig überzeugend. Wie gleich zu zeigen sein wird, geht das Statut des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg von einem Schutz der gesamten Bevölkerung durch die Art. 42 ff. HLKO aus21. Die Heranziehung des Art. 4 des IV. Genfer Abkommens zur Interpretation der Art. 42 ff. HLKO ist überhaupt problematisch, da dieses Abkommen einen viel umfassenderen Schutz der Zivilbevölkerung enthält, für den Differenzierungen bezüglich des persönlichen Geltungsbereich sinnvoller er­ scheinen können als hinsichtlich der vergleichsweise rudimentären Regelungen der HLKO. Ein anderes angesehenes Werk zum Recht der kriegerischen Beset­ zung kommt dann auch zu dem Ergebnis, daß Angehörige neutraler Staaten in gleicher Weise den Rechtsregeln der kriegerischen Besetzung unterliegen, wie die Angehörigen des besetzten Staates2 s. Festzuhalten ist zunächst, daß Art. 52 HLKO nicht von den Staatsangehö­ rigen des besetzten Staates spricht, sondern von den Einwohnern ("habitants"). Das aber ist kein juristischer Begriff, sondern ein soziologischer und umfaßt alle Menschen, die im betreffenden Gebiet leben. Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit würden auch zu sinnwidri­ gen Ergebnissen führen. Dabei muß beachtet werden, daß Art. 52 HLKO im Grundsatz keine Norm ist, die der Besatzungsmacht den Zugriff auf die Bevöl­ kerung im besetzten Gebiet ermöglichen soll, sondern vielmehr eine Norm, die in erster Linie die Bevölkerung vor einem zu weitgehenden Zugriff schüt25 BGB!. 1 954 II, 9 1 7. 26 Siehe M. Uhler, Der völkerrechtliche Schutz der Bevölkerung eines besetzten Gebiets gegen Maßnahmen der Okkupationsmacht, 1 950, S. 67 ff. 27 Siehe sogleich unter 4. 28 Siehe G. von G/ahn, The Occupation of Enemy Territory, 1 957, S. 90 f. m.w.N. aus dem maßgeblichen Schrifttum.

22

A. Ansprüche aus Völkerrecht

zen soll. Würde dieser Schutz nur den Staatsangehörigen des besetzten Staates zuteil, so könnten etwa Angehörige von Staaten, die sich mit der Besatzungs­ macht ebenfalls im Kriegszustand befinden, ohne die Beschränkungen des Art. 52 HLKO zu Dienstleistungen herangezogen werden, auch wenn ihre Staaten noch nicht militärisch besetzt sind. Ein solches unterschiedliches Ergebnis macht keinen Sinn. Noch weniger verständlich wäre es, wenn Angehörige neutraler oder gar mit der Besatzungsmacht verbündeter Staaten dem Schutz des Art. 52 HLKO nicht unterfallen sollten. Sie wären dann schlechter gestellt als die Angehöri­ gen des besetzten Staates. Ein solches Ergebnis wäre in eklatanter Weise sinnwidrig. Allein sinnvoll ist daher die Auslegung, daß Art. 52 HLKO die gesamte Bevölkerung des besetztes Gebietes schützt. Daher ist festzustellen, daß die Heranziehung der Klägerinnen zur Zwangs­ arbeit in jedem Fall eine Verletzung des Art. 52 HLKO darstellte. Daß ein Teil der Klägerinnen in Bremen zur Arbeit eingesetzt wurde, ändert daran nichts, da in Auschwitz, wo das Rechtsregime der kriegerischen Besetzung galt, die entscheidende Ursache dafür gesetzt wurde, die Entscheidung über den Einsatz zur Zwangsarbeit und die "Verschickung" zum Einsatzort.

4. Zwangsarbeit als Verstoß gegen das Völkerrecht in der Rechtsprechung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg

Die Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs spielte in den Verfah­ ren vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMG) in Nürnberg eine nicht unerhebliche Rolle. Das Statut des IMG vom 8. 8 . 1 94529 , das die Rechts­ grundlage für die Verfahren darstellte, formulierte in Art. 6 als "crimes co­ ming within the jurisdiction of the Tribunal for which there shall be individual responsiblity . . . " u.a. "(b) W AR CRIMES : namely, violations of the laws o r customs of war. Such violations shall include, but not be limited to, murder, ill-treatment or deportation to slave labor or for any other purpose of civilian population of or in occupied territory, . . . " (Hervorhe­ bung d. Verf.)

Auf den ersten Blick könnte es erscheinen, als würde hier die Zwangsar­ beit nicht als solche als Kriegsverbrechen bewertet, sondern nur die Deporta­ tion zur Sklavenarbeit. Selbst mit dieser Beschränkung läge in bezug auf die 29 Text in UNTS, vol. 82, S. 279; siehe auch: M. Whiteman, Digest of International Law, vol. 1 1 , 1 968, S. 880 ff.

III. Ansprüche aus der HLKO

23

Klägerinnen ein Kriegsverbrechen vor, da sie jeweils zur Zwangsarbeit depor­ tiert, d.h. von ihren Heimatorten verschleppt wurden. Grundsätzlich aber ist zu beachten, daß Art 6 (b) des !MG-Statuts überhaupt Verletzungen der völ­ kerrechtlichen Normen des Kriegsrechts meint und die Deportation zur Zwangsarbeit nur beispielhaft, aber nicht abschließend nennt. Als Kriegsver­ brechen werden generell "violations of the laws or customs of war" genannt und dann die Deportation zur Zwangsarbeit als nicht exklusives ("shall inclu­ de, but not be limited to, . . . ") Beispiel. Das !MG-Statut ist daher keineswegs so zu verstehen, daß Zwangsarbeit als solche keinen Verstoß gegen die Regeln des Kriegsrechts darstellte. Der IMG sah in Art. 6 (b) des Statuts eine bloße Wiedergabe des geltenden Kriegsrechts, wie es sich gerade auch aus den Art. 46, 50, 52, 56 HLKO ergab3o. Hervorzuheben ist noch, daß Art. 6 (b) des !MG-Statuts die hier vertretene Auffassung stützt, daß Art. 52 HLKO nicht nur denjenigen Teil der Zivilbe­ völkerung schützt, der die Staatsangehörigkeit des besetzten Staates besitzt, sondern die dort befindliche Zivilbevölkerung insgesamt: " . . . civilian popula­ tion of or in occupied territory, . . . " (Hervorhebung d. Verf.). Festzuhalten ist also, daß sowohl das Statut des IMG wie auch dessen Rechtsprechung davon ausgingen, daß die Heranziehung der Zivilbevölkerung eines besetzten Gebietes einen Verstoß gegen Art. 52 HLKO darstellte.

5. Aus der Verletzung der HLKO ergibt sich kein Individualanspruch Mit der Feststellung, daß die Heranziehung zur Zwangsarbeit eine Verlet­ zung des Art. 52 HLKO darstellte, ist jedoch keineswegs gesagt, daß den be­ troffenen Personen auch ein Anspruch auf Wiedergutmachung zusteht. Dagegen spricht die grundlegende Struktur des Völkerrechts, wie sie zur damaligen Zeit generell bestanden hat und für die HLKO noch heute besteht. Diese grundlegende Struktur besteht darin, daß das Völkerrecht grundsätzlich ein zwischenstaatliches Recht ist mit der Folge einer generellen "Mediatisie­ rung" des Individuums, d.h. Rechte und Pflichten bestehen prinzipiell nur zwischen Staaten. Eigene völkerrechtliche Rechtspositionen von Individuen

3 0 Siehe dazu Whileman aaO, vol. 10, S. 283; vol. 11, S. 905 f. ; vgl. auch: Das Urteil von Nürnberg, dtv dolrumente, 4. Aufl. , 1979, S. 133 f. ; Der Prozeß gegen die Haupt­ kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (veröff. vom Sekretariat des Gerichtshofs), Bd. 1, 1947, S. 260 und 284 f.

24

A. Ansprüche aus Völkerrecht

kommen nur in Frage, soweit dies speziell vereinbart ist3t. Erst mit dem nach 1945 einsetzenden völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz wird diese Media­ tisierung des Individuums durchbrochen, aber auch nur, und nicht einmal durchgehend, für diesen Bereich. Nicht nur das völkerrechtliche Schrifttum spiegelt diese Mediatisierung des Individuums wieder, auch die Recht­ sprechung belegt sie. Der Ständige Internationale Gerichtshof hat in einer sei­ ner meistzitierten Entscheidungen vom 7.9. 1927 im sog. "Lotus"-Fall ausge­ führt: " Das internationale Recht bestimmt die Beziehungen zwischen unabhängigen Staaten " 32,

Ausgebend von dieser Grundstruktur des Völkerrechts ist es im völker­ rechtlichen Schrifttum durchaus umstritten, ob die Verbote des völkerrechtli­ chen Kriegsrechts, wie sie in den Haager Abkommen vom 18. 10. 1907, vor allem in der hier speziell interessierenden HLKO, enthalten sind, nur die Ver­ antwortlichkeit des jeweiligen Vertragsstaates auslösen können oder auch die individuelle Verantwortlichkeit des jeweiligen Täters33, Das IMG-Statut hat sich in dem oben wiedergegebenen Art. 6 im Sinne der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit ausgesprochen. Auffällig ist aber, daß das IMG-Statut, wie auch die Urteile des IMG, an keiner Stelle auch nur eine Andeutung dafür enthalten, daß die Individuen, die durch einen Verstoß gegen das Kriegsrecht betroffen sind, einen irgendwie gearteten Wie­ dergutmachungsanspruch haben34. Insofern ist durch das Kriegsrecht die gene­ relle Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht weder zur Zeit der hier einschlägigen Fälle noch heute durchbrochen. Für die HLKO ergibt sich dies noch besonders aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens, dessen Anlage die HLKO ist, wonach zum Schadensersatz der Staat verpflichtet ist. Mangels einer speziellen Regelung kann entsprechend der Struktur des Völkerrechts zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Abkom31 Zur Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht vgl. stellvertretend für alle Berber (Fn. 8), S. 35 und 1 69 ff. ; vgl. auch die Ausführungen unten zu C . 11. l a . 3 2 StlGHE, Bd. 5, S . 73, 89; i m Original i n PCU Series A, N o . 10, S. 18; vgl. ausf. zu dieser Entscheidung P. Kunig!R. Uerpmann, Jura 1 994, 1 86 ff.

33 Siehe zu diesem Problem Berber (Fn. 2 1 ), S. 249 ff. 34 Verfehlt daher die Aussage von H. Düx, Entschädigung von NS-Zwangsarbeit, Öffentliche

Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 1 4. 1 2. 1 989, in: Zur Sache Themen parlamentarischen Beratung, 6/ 1 990, S. 46 mit der Behauptung, die Feststellung des !MG, daß Zwangsarbeit ein Straftatbestand ist, führe zu der "juristischen Selbstverständlichkeit, daß strafbare Handlungen für den von der strafbaren Handlung Betroffenen zu zivilrechtlichen Ersatzansprüchen führen. " Widersprüchlich ist es, wenn Düx (aaO, S. 48) dennoch meint, daß der Gesetzgeber Wiedergutmachungsansprüche schaffen müsse.

III. Ansprüche aus der HLKO

25

mens als Gläubiger der Schadensersatzforderung nur ein anderer Vertragsstaat in Frage kommen. In einer maßgeblich gewordenen Erläuterung zu dieser Norm heißt es, und das gilt noch heute: "Nie und nie aber kann ein Angehöriger eines Staates, der durch die bewaffnete Macht des Gegners geschädigt wurde, wegen Verletzung eines Völkerrechtssatzes irgendeinen Anspruch gegen letzteren geltend machen, . . . "35. Eine jüngere Untersuchung hebt im selben Sinne hervor, daß sich aus Art. 3 ergibt, daß die Verletzungen der HLKO Ansprüche nur auf der zwischen­ staatlichen Ebene entstehen lassen36. Daß sich aus der Verletzung der HLKO keine Ansprüche des Individuums ergeben, ist auch die durchgehende Auffassung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vereinigten Staaten. Beispielhaft seien hier die Ausfüh­ rungen von Judge Bork im Fall Tel Oren v. Libyan Arab Republic wiedergege­ ben: "Tue Hague Conventions similarly cannot be construed to afford individuals the right to judicial enforcement. . . . lf they were so regarded, the code of behavior the Conventions set out could create perhaps hundreds of thousands or millions of lawsuits by the many individuals, including prisoners of war, who might think their rights under the Hague Conventions violated in the course of any large-scale war. Those lawsuits might be far beyond the capacity of any legal system to resolve at all, much less accurately and fair­ ly; ... Finally, the prospect of innumerable private suits at the end of a war might be an obstacle to the negotiation of peace and the resumption of normal relations between nati­ ons. lt is for these reasons that the Conventions are best regarded as addressed to the in­ terests and honor of belligerent nations, not as raising the threat of judicially awarded damages at war's end. Tue Hague Conventions are not self-executing. Tue Second Cir­ cuit has drawn the same conclusions, Dreyfus v. Von Finck, 534 F. 2d at 30, and appel­ lants have pointed to no case holding otherwise in the more than three-quarters of a cen­ tury since the Conventions were adopted. "37 Im gleichen Sinne äußern sich noch die Entscheidungen in den Fällen

Handel v. Artukovic3s und Goldstar (Panama) S. A. v. United States39.

Als Ergebnis bleibt festzustellen, daß die in der Heranziehung zur Zwangs­ arbeit liegende Verletzung von Art. 52 HLKO den Klägerinnen selbst keinen Wiedergutmachungsanspruch gibt.

35 K. Strupp, Das Internationale Landkriegsrecht, 1 9 1 4, S. 29. 36 Kube (Fn. 21) , S. 41 m.w . N . 37 726 F. 2d. 774 (81 6) (D.C. Col. 1 984). 38 601 F. Supp. 1 421 (D. C. Col. 1 985). 39 967 F.2d. 965 (968-969) (Fourth Circuit 1 992).

26

A. Ansprüche aus Völkerrecht

IV. Die Heranziehung zur Zwangsarbeit als Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht? Trotz des unter III. gefundenen Ergebnisses, daß die gesamte Bevölkerung, die sich im Zeitraum der deutschen Besetzung auf polnischen Territorium be­ fand, unter den Schutz der Art. 42 ff. HLKO fällt, soll auch noch geprüft wer­ den, ob die Heranziehung zur Zwangsarbeit auch gegen das in Friedenszeiten geltende Völkerrecht verstieß. Ein gewisser Anhalt für diese Prüfung könnte sich daraus ergeben, daß ein Teil der Klägerinnen im relevanten Zeitraum Staatsangehörige Rumäniens und Ungarns waren, von Staaten also, mit denen das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg verbündet war, mit der Folge, daß ihnen gegenüber nicht Kriegsrecht, sondern Friedensrecht galt. Für Ungarn galt dies bis zum 19.3.1944.

1 . Kein Verstoß gegen Art. 5 des Sklavereiabkommens von 1926

In Betracht kommt dafür in dem hier fraglichen Zeitraum 1943-45 primär Artikel 5 des Übereinkommens betreffend die Sklaverei vom 25. 9.192640 , welches für das Deutsche Reich, Ungarn, Polen und Rumänien seit 1931 in Kraft ist.

a) Problem der Anwendbarkeit

Schon die Anwendbarkeit dieser Norm auf die Fälle, die Gegenstand der zivilgerichtlichen Ausgangsverfahren sind, begegnet allerdings einigen Beden­ ken. Zunächst dürfte das Abkommen als solches zwischen dem Deutschen Reich und Polen zu jener Zeit aufgrund des zwischen beiden Staaten bestehen­ den Kriegszustandes unanwendbar gewesen sein. In der Periode des sog. klas­ sischen Völkerrechts entsprach das generelle Erlöschen der zwischen den Kriegsparteien bestehenden völkerrechtlichen Verträge der ganz herrschenden Rechtsmeinung und Staatenpraxis. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat eine differenzierende Betrachtungsweise an die Stelle der überkommenden Doktrin, so daß für die Auswirkungen des Kriegszustandes nunmehr nach ver­ schiedenen Arten von Verträgen unterschieden wurde"•. Nach dieser Auffas-

40 RGBI. 1 929 D, 64.

IV. Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht?

27

sung, die während des 2. Weltkrieges noch fortwirkte, waren jedenfalls multi­ laterale Verträge im Verhältnis der Kriegsparteien untereinander im Zweifel als durch den Kriegsausbruch suspendiert zu betrachten42. Dementsprechend konnte das Sklavereiübereinkommen während der Dauer des 2. Weltkrieges von vornherein im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen keine Rechts­ wirkungen entfalten. Diejenigen der Klägerinnen, die zum damaligen Zeit­ punkt die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, waren durch die Bestimmun­ gen des Abkommens nicht geschützt. Aber auch die generelle Anwendbarkeit auf diejenigen der Klägerinnen, mit deren damaligen Heimatstaaten das Deutsche Reich nicht im Kriege stand, ist durchaus fraglich. Denn, wie sich aus der Fassung des Art. 5 , seinem sy­ stematischen Zusammenhang und dem historischen Kontext des Übereinkom­ mens ergibt, ist letzteres insgesamt nicht darauf angelegt, die Handlungsbefug­ nis der Vertragsstaaten auf ihrem eigentlichen Staatsgebiet zu beschränken. Das Sklavereiübereinkommen entsprang den Bemühungen des Völkerbun­ des zur Bekämpfung des Sklavenhandels und zur Regulierung des Kolonialwe­ sens und ist schon aus diesem Grund ausschließlich dem kolonialen Kontext verhaftet. Die Zwangsarbeit wurde als ein integraler Bestandteil der Gesamt­ problematik verstanden, die, ausgehend von den Art. 22, 23 lit. a), b) der Völkerbundssatzung, zunächst im Rahmen des Mandatssystems des Völker­ bundes behandelt wurde und nach vorbereitenden Arbeiten der "zeitweiligen Sklavereikommission" des Völkerbundes ihren regulatorischen Abschluß in dem Übereinkommen von 1926 fand43. Durch diesen historischen Kontext war das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit gleichermaßen Bestandteil der dem Völkerbund anvertrauten "zivilisatorischen Betreuung" aller Kolonialvöl­ ker und Kern seiner "kolonialen Zivilisationsidee" 44. Erst durch die dem Sklavereiabkommen nachfolgende Übertragung an die Internationale Arbeits­ organisation löste sich das Zwangsarbeitsproblem von der Sklavereifrage45, wenngleich auch noch das Zwangsarbeitsübereinkommen von 1 930 (dazu 41 Dazu stellvertretend für viele G. Dahm, Völkerrecht, Bd. m, 196 1 , S. 155-158; Berber (Fn. 21), S. 93-95. 42 So z.B. Dahm a.a.O., S. 1 58; Berber aaO, S. 94; Verdross, Völkerrecht, 5.Aufl. 1 964, S. 446f. ; Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd.l, 1 948, S. 121; Brierly/ Waldock, Law of Nations, 6.Aufl. 1 963, S. 330; Rousseau, Droit international public, T. I, 1 970, S. 223. 43 Zum Ganzen vgl. z.B. Bülck, Die Zwangsarbeit im Friedensvölkerrecht, 1 953, S. 32-43. 44 Bülck aaO, S. 38; den ausschließlich kolonialen Aspekt der Zwangsarbeitsbekämpfung zum damaligen Zeitpunkt macht z.B. auch J. Gouda/, La question du travail force, RGDIP 36 (1929), 266 (272 ff.) deutlich. 45 Bülck aaO, S. 34.

28

A. Ansprüche aus Völkerrecht

unter 2.) ganz vorrangig auf die aus wirtschaftlichen Gründen in den Kolonien praktizierte Zwangsarbeit abzielte46. Die Verbindung der Zwangsarbeitsfrage mit der Bekämpfung des Sklaven­ handels in den Kolonien ergibt sich nicht nur aus dem Regelungszusammen­ hang des Übereinkommens, das sich mit Ausnahme von Art. 5 allein der Skla­ verei als solcher widmet. Auch die Bezugnahme der Präambel auf Bestrebun­ gen und Verträge zur Eindämmung des Sklavenhandels macht die Zielrichtung des Abkommens deutlich. Aber auch in den Wortlaut des Art. 5 selbst hat dieses auf koloniale Besit­ zungen beschränkte Regelungsziel Eingang gefunden. Der territoriale Anwen­ dungsbereich der Norm wird umschrieben mit den Gebieten, die "Staatshoheit, Gerichtsbarkeit, Schutz, Oberherrlichkeit oder Vormundschaft" der Vertragsstaaten unterstellt sind. Darunter aber ist das eigentliche Staatsgebiet der Parteien nicht zu fassen. Denn selbst der Bereich der "Staatshoheit" wird im authentischen Wortlaut beschrieben als "placed under its sovereignty " , nicht also als das Staatsgebiet, auf dem die territoriale Souveränität eines Staates originär entstanden ist. Dazu paßt es, daß Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 S. 1 im Plural von "territories" spricht, in denen Zwangsarbeit noch bestehe, und daß Ziff. 3 die Verantwort­ lichkeit der "competent central authorities of the territory concerned" verlangt, was ebenfalls auf das eigentliche Staatsgebiet eines Staates nicht paßt. Es ergibt sich also, daß Art. 5 des Sklavereiübereinkommens lediglich auf die überseeischen Besitzungen der Vertragsstaaten bzw. auf von ihnen verwal­ tete Gebiete Anwendung finden soll, nicht dagegen auf ihr Staatsgebiet im en­ geren Sinne. Die Bestimmung ist daher aus Gründen ihres territorialen An­ wendungsbereichs auf die Ereignisse, die Gegenstand der zivilgerichtlichen Verfahren sind und zu den Vorlagebecshlüssen an das Bundesverfassungsge­ richt geführt haben, von vornherein nicht anwendbar.

b) Kein grundsätzliches Verbot der Zwangsarbeit

Aber selbst wenn man die Norm grundsätzlich auf die Ausgangsfälle an­ wenden würde, ist ein Verstoß gegen ihren Regelungsgehalt nicht nachweis­ bar. 46 Valticos, International Labour Law, 1 979, S. 95f., 98.

IV. Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht?

29

In Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens verpflichten sich die Vertragsstaaten zunächst, "durch zweckmäßige Maßnahmen zu verhüten, daß die Zwangsar­ beit oder Arbeitspflicht der Sklaverei ähnliche Verhältnisse herbeiführt" Es liegt auf der Hand, daß die Zwangsarbeit dadurch nicht verboten, son­ dern ihre grundsätzliche Zulässigkeit vorausgesetzt wird. Absatz 2 Ziff. 1 der Bestimmung bestätigt dies sogar ausdrücklich durch die Regelung, daß Zwangsarbeit "nur zu öffentlichen Zwecken verlangt werden" könne. Auch weist die Grundvorschrift in Absatz 1 nicht die Regelungstiefe eines - auch nur partiellen - Verbotes der Zwangsarbeit auf. Stattdessen ist eine Be­ mühenspflicht ("s' engagent a prendre des mesures utile" , "undertake to take all necessary measures") vereinbart worden, die sich als solche darüber hinaus nicht einmal auf die Abschaffung der Zwangsarbeit überhaupt, sondern ledig­ lich auf die Eindämmung ihrer schlimmsten Erscheinungsformen richtet. Und selbst als dermaßen rudimentäre Bemühenspflicht ist die Reichweite der Vor­ schrift noch weiter beschränkt, da - von der die Handlungsfreiheit der Staaten bewahrenden Generalklausel "utile"/"necessary" einmal abgesehen - jedenfalls der authentische französische Wortlaut, wie auch die amtliche deutsche Über­ setzung, nur erfordert, daß die Vertragsstaaten überhaupt irgendwelche Maß­ nahmen ("des mesures") zur Verhinderung sklavereiähnlicher Zustände tref­ fen, nicht aber einen bestimmten Regelungsumfang verlangt. Zwar spricht die - ebenfalls authentische - englische Fassung von "all necessary measures" , doch dürfte dem angesichts des insgesamt vagen Inhalts der Regelung kaum die Bedeutung eines verbindlich geforderten Ausmaßes staatlicher Regelung zukommen. Das bedeutet, selbst wenn die Vertragsstaaten verschiedentlich für Fälle "sklavereiähnlicher" Zwangsarbeit verantwortlich gewesen wären, hätte dies nicht eo ipso eine Vertragsverletzung zur Folge gehabt. Insgesamt ist dieser Art. 5 Abs. l des Sklavereiabkommens also eher geeig­ net, die damalige Praxis der Zwangsarbeit in den Kolonien der Vertragsstaaten völkerrechtlich anzuerkennen und festzuschreiben als zu ihrer verbindlichen Ächtung beizutragen47. Ein Verstoß des Deutschen Reiches gegen diese Be­ stimmung des Übereinkommens wird sich daher kaum feststellen lassen.

47 Ebenso z.B. G. Fischer, Esclavage et droit international, RGDIP 28 (1 957), 71 (8 1 ); H. Fischer, Tue suppression of slavery in international law, ILQ 3 (1 950), 503 (51 1 ), der darauf hinweist, daß genau aus diesem Grund die USA bei ihrem Beitritt zu dem Übereinkommen einen Vorbehalt zu Art. 5 erklärt haben, da sie die Zwangsarbeit als mit ihrer Verfassung unvereinbar angesehen hätten.

30

A. Ansprüche aus Völkerrecht

c) Grundsätzliche Zulässigkeit der Zwangsarbeit zu öffentlichen Zwecken Weiterhin schreibt Art. 5 Abs. 2 Ziff. 1 vor, daß Zwangsarbeit nur "zu öf­ fentlichen Zwecken verlangt werden" könne. Darunter wird man jedenfalls all jene Tätigkeiten fassen können, die den staatlichen Organen im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit oblagen, so daß die öffentliche Zweckrichtung bei einem Einsatz zum "Behelfswohnungsbau sowie zur Trümmerbeseitigung" durch die Stadt Bremen, der dem Vorlagebe­ schluß des LG Bremen zugrunde liegt4s, durchaus anzunehmen ist. Ob die Tätigkeiten in einem privaten Rüstungsunternehmen, zu denen die Klägerinnen im Ausgangsverfahren vor dem LG Bonn herangezogen worden waren49, öffentlichen Zwecken diente, könnte demgegenüber immerhin zwei­ felhaft sein. Dennoch wird man davon ausgehen müssen, daß wegen der in dem fraglichen Zeitraum - September 1943 bis Januar 1945 - in Deutschland herrschenden Kriegssituation auch die Arbeit in der privaten Rüstungsindustrie die erforderliche öffentliche Zweckrichtung aufwies. Zu dieser extensiven Auslegung des Begriffes der "öffentlichen Zwecke" berechtigt die Entstehungsgeschichte der Norm. Denn diese weite Formel (im französischen Originalwortlaut: "fins publiques") wurde von .den Vertragspar­ teien bewußt an die Stelle einer bedeutend engeren Formulierung gesetzt, die noch von der "zeitweiligen Sklavereikommission" des Völkerbundes vorge­ schlagen worden war. Nach deren Entwurf hätte die Zwangsarbeit lediglich für "les travaux et services publics essentiels" zulässig sein sollen, wie es im übrigen auch die Mandatsverträge des Völkerbundes jeweils vorgesehen hat­ tenso. Die mit den "öffentlichen Zwecken" verbundene Ausdehnung der zuläs­ sigen Zweckrichtung im endgültigen Vertragstext weist darauf hin, daß auch in privater Regie, aber im öffentlichen Interesse betriebene Verrichtungen eine noch vertragskonforme Form der Zwangsarbeit darstellen konnten. Jedenfalls aber ist die Festlegung auf "öffentliche Zwecke" in Art. 5 Abs. 2 Ziff. 1 durch die Übergangsregelung in Ziff. 2 Satz 1 der Bestimmung nicht unerheblich relativiert. Darin werden die Vertragsstaaten lediglich verpflich­ tet, in Gebieten, in denen Zwangsarbeit noch zu anderen als öffentlichen Zwecken besteht, sich zu "bemühen, dieser Übung in zunehmendem Maße und so rasch als möglich ein Ende zu machen" . Durch den systematischen Zu48 Vgl. S. 2 des Vorlagebeschlusses v. 3.12. 1 992, unten bei G 1. und JZ 1993, 633 (634). 49 Vgl. S. 4 des Vorlagebeschlusses v. 2.7. 1993, unten bei G II. 50 Vgl. Goudal (Fn. 44), 269, 270.

IV. Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht?

31

sammenhang der Ziffern 1 und 2 ergibt sich somit, daß auch das Verbot der Zwangsarbeit zu nicht-öffentlichen Zwecken in Wahrheit nur als Bemühens­ vorschrift gedacht ist, so daß für die Vertragsstaaten selbst die privatnützige Zwangsarbeit nicht grundsätzlich illegal ist. Die Tatsache, daß Ziff. 2 Satz 1 als Übergangsregel formuliert ist, ändert an dieser Beurteilung nichts, da kein zuständiges Organ eingesetzt ist, um ein Ende der Übergangszeit, das unter Umständen zu einem Erstarken der Ziff. 1 in ein absolutes Verbot hätte führen können, verbindlich festzustellen. Auch gegen das Erfordernis einer öffentlichen Zweckrichtung der Zwangs­ arbeit hat das Deutsche Reich somit nicht verstoßen.

d) Kein Entschädigungsgebot für Zwangsarbeit zu öffentlichen Zwecken

Schließlich enthält Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 Satz 2 die unbedingte Vorschrift, daß Zwangsarbeit nur "gegen eine angemessene Entschädigung" ("adequate re­ muneration") stattfinden und nicht mit einem "Wechsel des gewöhnlichen Wohnsitzes" verknüpft werden darf. Allerdings ergibt sich aus der Systematik der Bestimmung, daß sich diese Verpflichtungen lediglich auf Fälle beziehen soll, in denen Zwangsarbeit noch für andere als "öffentliche Zwecke" verlangt wird. Ansatzpunkt im Wortlaut von Satz 2 ist dafür die Rückverweisung auf Satz 1 von Ziff. 2 durch den Ge­ brauch des Demonstrativpronomens: "this labour" bzw. "ce travail" kann sinnvoll nur an die vorangehende Übergangsregel für privatnützige Zwangs­ arbeit anknüpfen. Auch in diesem Punkt weicht der Abkommenstext von den Vorschlägen der Sklavereikommission des Völkerbundes ab, die sich für eine Pflicht zur angemessenen Entlohnung auch bei "gemeinnütziger" Zwangsarbeit eingesetzt hattest . Konsequenz der endgültigen Fassung des Vertragstextes ist, daß Zwangsarbeit, solange sie "zu öffentlichen Zwecken" verlangt wurde, nach Art. 5 Abs. 2 Ziff. 2 des Übereinkommens nicht entgolten werden muß und auch mit einem Wohnsitzwechsel verbunden sein kann52, Da die öffentliche Zweckrichtung in den Fällen der Klägerinnen, wie gesehen, vorlag, scheidet ein Verstoß gegen Entgeltgebot und Deportationsverbot ebenfalls aus.

51 Vgl. Goudal (Fn. 44), 269f. 52 Ebenso Goudal aaO, 271 .

32

A. Ansprüche aus Völkerrecht

Insgesamt kann daher ein Verstoß gegen Art. 5 des Sklavereiabkommens von 1926 nicht festgestellt werden.

2. Das ILO-Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit

Das Übereinkommen über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 28.6. 193053, welches zum ersten Mal eine echte völkerrechtliche Pflicht zur Beseitigung von Zwangsarbeit enthielt, kann auf die Ausgangsfälle der genannten zivilge­ richtlichen Verfahren ebensowenig zur Anwendung kommen, da das Deutsche Reich ihm nicht beigetreten war. Das Übereinkommen trat erst für die Bun­ desrepublik Deutschland am 1 3 . 6. 1957 in Kraft54.

3 . Völkerrechtliches Fremdenrecht

Eventuelle Ansprüche aus dem völkerrechtlichen Fremdenrecht55 das dem Staat hinsichtlich der Behandlung fremder Staatsangehörigen auf seinem Staatsgebiet Schranken auferlegt, kommen im hier relevanten Zusammenhang a priori nicht in Betracht, soweit es sich um Akte des Deutschen Reiches außerhalb seines Staatsgebietes handelt. Maßnahmen deutscher Staatsgewalt, die in Rumänien und Ungarn dazu führten, daß Angehörige dieser Staaten nach Auschwitz verbracht und im weiteren zur Zwangsarbeit herangewgen wurden, fallen von Anfang an nicht unter die Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts - ungeachtet des Umstandes, daß deutsche Maßnahmen in die­ sen Staaten nur dadurch zum Erfolg führen konnten, daß die dortige Staatsge­ walt mit den Aktionen der deutschen Staatsgewalt zusammenwirkte, und sei es nur durch Duldung. Die Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts können überhaupt nur zur Anwendung kommen, wenn man entgegen der hier vertretenen, allgemeinen Auffassung der Ansicht ist, daß die Einverleibung des Teils des polnischen Staatsgebiets, in dem Auschwitz liegt, in das Deutsche Reich rechtswirksam

53 BGBI. 1 956 II, 641 ff. 54 Vgl. Bekanntmachung v. 1 6. 1 1 . 1 957, BGBI. II, 1694. 55 Dazu generell Verdross!Simma (Fn. 2), S. 801 ff. ; K. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1 963.

IV. Verstoß gegen das Friedensvölkerrecht?

33

gewesen war, daß das Kriegsrecht nicht anwendbar, und der Einsatz eines Teils der Klägerinnen zur Zwangsarbeit in Bremen eine selbständige Maßnah­ me war. Aber selbst dann ergibt sich kein auf Völkerrecht gegründeter Anspruch der betroffenen Personen. Das völkerrechtliche Fremdemecht ist keine Vorstufe zum heutigen völkerrechtlichen Menschemechtsschutz, sondern ein Beleg für dessen Fehlen vor 194556. Das Individuum ist nämlich nicht Träger von Rechten i.S. des völkerrechtlichen Fremdenrechts, sondern nur faktisch Begünstigter der Rechte, die dem Staat, dem das Individuum angehört, zuste­ hen57. Wird ein Individuum auf dem Gebiet eines fremden Staates so behan­ delt, daß die Regeln des völkerrechtlichen Fremdemechts, wie sie sich aus dem sog. Mindeststandard ergeben, verletzt sind, dann ist völkerrechtlich ge­ sehen nicht das betroffene Individuum verletzt, sondern nur der Staat, dessen gehöriger es ist. Anders ausgedrückt, das Individuum wird nicht als solches geschützt, sondern nur als Staatsangehöriger. Staatenlose stellen daher über­ haupt keinen möglichen Anwendungsfall des völkerrechtlichen Fremdemechts dar. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß sich aus dem völkerrechtlichen Frem­ denrecht kein Anspruch der Klägerinnen ergeben kann.

4. Völkerrechtlicher Menschenrechtsschutz

Im Zeitraum, in dem die Klägerinnen zur Zwangsarbeit herangezogen wur­ den, enthielt das geltende Völkerrecht keine Regeln des allgemeinen Men­ schemechtsschutzes. Die insofern heute geltenden völkerrechtlichen Normen sind alle erst nach 1945 in Kraft getreten. Vor diesem Zeitpunkt kannte das Völkerrecht nur spezielle vertragliche Regelungen zum Schutz besonders ge­ fährdeter Personengruppen vor extremen Verletzungen. Zu nennen sind hier etwa die Verträge zum Verbot des Frauen- und Kinderhandels, zur Unterdrük­ kung des Menschenhandels und der Prostitution, und auch das oben behandel­ te Sklavereiabkommen von 1926. All diesen Verträgen aber ist gemeinsam, 56 Siehe Randelihofer, Menschenrechtsschutz im Völkerrecht, in: K.W. Hempfer/A. Schwan (Hrsg. ), Grundlagen der politischen Kultur des Westens, 1987, S. 42 f. 57 Grundlegend die Entscheidung des StlGH im "Mavrommatis "-Fall, PCU Series A, No. 2 (1924), p. 12; bestätigt vom IGH z. B. in ICJ Reports 1949, 174 (18lf. ) ( "Reparations "), 1955, 4(24)( "Nottebohm ") sowie 1970, 3 (45) ( "Barcelona Tracrion "). So seither auch die einhellige Auffassung im völkerrechtlichen Schrifttum, statt aller vgl. H. Lauterpacht, Tue Subject of the Law of Nations, The Law Quarterly Review 63 (1974), 439 f. 3 Rondelzhofer / Dörr

34

A. Ansprüche aus Völkerrecht

daß sie, entsprechend der Grundstruktur des Völkerrechts, die damals noch in keiner Weise durchbrochen war, im Falle der Verletzung nur Ansprüche der Vertragsstaaten auslösen konnten, nie aber Ansprüche der betroffenen Indivi­ duen selbst.

5. Völkergewohnheitsrecht

Normen des Völkergewohnheitsrechts, die den Klägerinnen zugute kom­ men könnten, hatten sich bis zu dem hier relevanten Zeitpunkt nicht herausge­ bildet. Im Gegenteil verdeutlichen die nur zaghaften Ansätze zu vertraglichen Einschränkungen der Zwangsarbeit, daß eine allgemeine Rechtsüberzeugung von ihrer Unzulässigkeit gerade noch nicht bestand. Im übrigen würde selbst für den Fall, daß eine gewohnheitsrechtliche Verbotsnorm eingreifen würde, auch hier die Mediatisierung des Individuums im Völkerrecht das Entstehen eines unmittelbaren Individualanspruchs hindern.

V. Ergebnis und Folgerungen Zusammenfassend ergibt sich, daß die Heranziehung der Klägerinnen zur Zwangsarbeit nach damals geltendem Völkerrecht unter keinem Gesichtspunkt einen Individualanspruch auf Wiedergutmachung zur Folge hat. Im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Vorlageverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG fehlt es daher insofern an der Entscheidungserheblichkeit der von den Landge­ richten vorgelegten Normen. Weiter hat sich aus der Untersuchung ergeben, daß zur für die hier ein­ schlägigen Fälle maßgeblichen Zeit keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG bestanden hat, die den Geschädigten selbst bei un­ terstellter Völkerrechtswidrigkeit der staatlichen Handlungen individuelle Ent­ schädigungsansprüche eröffnet hätte. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG ist eine solche, die im Völkergewohnheitsrecht, wie es zwischen den meisten Staaten gilt, existiert. Völkervertragsrechtliche Re­ geln kommen nur insofern in Frage, als sie selbst Ausdruck des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts sind. Ansprüche des Individuums enstanden - und entstehen noch heute - aus Verletzungen der HLKO nicht. Andere Ansatzpunkte für den Nachweis einer Völkerrechtswidrigkeit der in der Zeit 1943-45 begangenen Handlungen fin­ den sich nicht. Im übrigen würde auch die Annahme eines objektiven Versto-

V. Ergebnis und Folgerungen

35

ßes gegen das damals geltende Völkerrecht nicht zu einem eigenen völkerrechtlichen Entschädigungsanspruch der unmittelbar betroffenen Indiviuduen führen. Für den Bereich der Kriegsfolgenregelung ist zu Recht festgestellt worden: "Der besiegte Staat hat für alle Schäden aufzukommen; die Schäden der feindstaatlichen Bevölkerung gehören mit zur Schadensrechnung. Die Entschädigung dafür bildet einen Unterfall der vom besiegten Staat an den Siegersraa1 zu leistenden Reparationen. " (Hervorhebung d. Verf. ) 58.

Weiter führt derselbe Autor zutreffend aus: "Soweit aber die nationale Gesetzgebung eines . Staates kein Kriegsentschädigu ngsrecht gewährt, kann der Staat nicht direkt von Feindstaatsangehörigen oder neutralen Staatsan­ gehörigen in Anspruch genommen werden. Vielmehr muß der Heimatstaat im Wege des diplomatischen Schutzes gegen den verantwortlichen Staat angerufen werden• 59.

In die gleiche Richtung geht es, wenn betont wird, daß es bezüglich Kriegsschäden von Individuen "einem durch nicht ein einziges· Beispiel wider­ legten festen Brauch (entspricht), daß gerade solche Gegenstände in Friedens­ verträgen erst geregelt zu werden pflegen"6o. Eine jüngst vorgelegte Untersu­ chung kommt zu dem Ergebnis: "Die Untersuchung der völkerrechtlichen Praxis in bezug auf Reparationsvereinbarun­ gen und deren Beglilndung hat damit gezeigt, daß die Reparationsforderung typischer­ weise als Schadensersatzanspruch zwischen den Staaten entsteht. Der ' Individualan­ spruch' wird also von dem zwischenstaatlichen Reparationsanspruch absorbiert" 61.

Das völkerrechtliche Fremdenrecht war und ist noch heute gerade einer der deutlichsten Belege für die Grundstruktur des Völkerrechts, die gekennzeich­ net ist durch die grundsätzliche Mediatisierung des Individuums durch den Staat. Diese Mediatisierung ist erst durch den völkerrechtlichen Menschen­ rechtsschutz durchbrochen, der aber erst nach 1945 in genereller Weise ein-

58 H. U. Granow, Kriegsschäden, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg. ), Wörterbuch des Völker­ rechts, Bd. 2, 1961, S. 361. 59 Granow aaO, S. 363.

60 So H.J. Hahn, Entschädigung für NS-Zwangsarbeit, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 14.12.1989, in: Zur Sache - Themen parlamen­ tarischer Beratung, 6/1990, S. 37; im gleichen Sinne an derselben Stelle G. Ress, S. 44; R. Dolzer, S. 51 f. ; ebenso H.J. Hahn, Entschädigung für Zwang sarbeit im Zweiten Weltkrieg, in: Recht und Kriminalität, Festschrift für F.W Krause, 1990, S. 93 (97 f.). 61 B. W. Eichhorn, Reparation als völkerrechtliche Deliktshaftung, 1992, S. 80 f.; siehe auch unten bei C 11. l a.

36

A. Ansprüche aus Völkerrecht

setzt. Im hier relevanten Zeitraum hat es ihn noch nicht gegeben. Auch heute ergeben sich völkerrechtliche Individualansprüche nur aus speziellen Verträ­ gen wie der Europäischen oder Amerikanischen Menschemechtskonvention, nicht aber aus dem allgemeinen Völkergewohnheitsrecht. Stellvertretend für alle seien hier drei Literaturstellen aus verschiedenen Abschnitten der völker­ rechtlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert zitiert: "hn Rahmen des allgemeinen Gewohnheitsvölkerrechts ist es immer nur der in seinen Interessen verletzte Staat, der die erfolgte Rechtsverletzung festzustellen und daraufhin die Unrechtsfolge gegen den Rechtsverletzer zu richten hat. . . . Auch wenn durch einen völkerrechtlichen Vertrag ein Staat zu einem bestimmten Verhalten gegenüber Einzel­ menschen verpflichtet wird, kommt als durch den Vertragsbruch verletzt. . . nur der Staat in Betracht, mit dem der vertragsbrüchige Staat den Vertrag geschlossen hat, in dem er sich zu einem bestimmten Verhalten gegenüber Einzelmenschen.verpflichtet hat"62 . "Customary International Law still maintains the rule that it is the state which has the capacity to present international claims even though in many cases the claim is substan­ tially that of a private person •63. "hn Falle der völkerrechtswidrigen Schädigung einer Privatperson steht der Wiedergut­ machungsanspruch grundsätzlich nur ihrem Heimatstaate zu, da durch eine solche Hand­ lung oder Unterlassung er selbst in der Person eines seiner Angehörigen verletzt wur­ de"64.

62 H. Kelsen, Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, Zeitschrift für öffentliches Recht XII(1932), 481(521 f.). 63 /. Browrzüe, The Place of the Individual in International Law, Virginia Law Review 50 (l 964), 435 (460). 64 So, für die ganz einhellige Auffassung, Verdross/Simma(Fn. 2), S. 878 unter Verweis auf die Entscheidung des StIGH vom 30. 8. 1 924 im Mavrommatis-Fall.

B. Ansprüche aus deutschem Recht Nur dann, wenn man der hier vertretenen Auffassung, wonach ausschließ­ lich Völkerrecht zur Anwendung kommt, nicht folgen würde, stellt sich über­ haupt die Frage, ob und inwieweit sich möglicherweise Entschädigungsan­ sprüche ehemaliger Zwangsarbeiter aus der deutschen Rechtsordnung ergeben. Auch insoweit gilt, daß es dabei grundsätzlich auf die Rechtslage zu dem Zeit­ punkt ankommt, zu dem die betroffenen Personen zur Zwangsarbeit herange­ zogen wurden und nicht auf die Rechtslage zum Zeitpunkt einer eventuellen Klageerhebung.

I. Öffentlich-rechtliche Ansprüche (Staatshaftungsrecht) Ungeachtet dessen, daß die Klägerinnen in den eingangs erwähnten zivilge­ richtlichen Verfahren ihre Ansprüche schwerpunktmäßig auf das deutsche Zivilrecht stützen (dazu hier unter 11.) ist es doch näherliegend, daß als An­ spruchsgrundlage allenfalls das deutsche Staatshaftungsrecht in Betracht kommt, da die Rechtsverhältnisse zwischen dem deutschen Staat und den zur Zwangsarbeit verpflichteten Personen wohl kaum dem Zivilrecht unterlagen.

1 . Ansprüche aus § 839 BGB i.V.m. Art. 131 WRV Denkbar wäre zunächst ein Eingreifen der deutschen Regeln über die Amtshaftung.

a) Öffentlich-rechtliche Natur des Anspruchs

Zwar wäre Ausgangspunkt eines solchen Anspruchs eine Norm des BGB, doch führt dies nicht dazu, daß es sich inhaltlich um einen zivilrechtlichen An­ spruch handelt. Amtspflichten des Beamten, deren Verletzung Anlaß für die Haftung des Staates sind, sind öffentlich-rechtlicher Natur und ergeben sich

B . Ansprüche aus deutschem Recht

38

nicht aus einem - ja gar nicht bestehenden - privatrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen dem Beamten und dem Individuum. Die Haftung des deutschen Staa­ tes. um die es hier geht, könnte sich allein aus unbezweifelbaren Normen des öffentlichen Rechts ergeben, nämlich aus § 1 des Gesetzes über die Haftung des Reichs für seine Beamten (RBHG) vom 22. 5. 1910• und aus Art. 1 3 1 der Weimarer Verfassung 2 • Daß der Ausgangspunkt der Amtshaftung, nämlich § 839 BGB, nicht zur Folge hat, daß das Staatshaftungsrecht, und damit auch die Amtshaftung, dem Zivilrecht zuzurechnen sind, ergibt sich auch aus der Entscheidung des Bun­ desverfassungsgerichts vom 19. 10. 19823, in welcher das Gericht die Auffas­ sung des Bundes zurückgewiesen hat, wegen § 839 BGB sei das Staatshaf­ tungsrecht bürgerliches Recht, zu dessen gesetzlicher Regelung der Bund nach Art. 74 Nr. 1 GG die Kompetenz habe.

b) Ausübung öffentlicher Gewalt

Die Klägerinnen wurden auf der Grundlage einer Entscheidung der für die Konzentrationslager zuständigen SS-Dienststellen zur Zwangsarbeit herange­ zogen. Entgegen dem Wortlaut des § 839 BGB, des § 1 RBHG und des Art. 1 3 1 WRV kommt es nicht darauf an, ob die handelnden SS-Angehörigen Be­ amte im formellen Sinne gewesen sind. Die Amtshaftung ist keine Beamten­ haftung, sondern eine Haftung für Amtswaltertätigkeit. Es kommt daher nicht auf den Status der handelnden Personen an, sondern auf ihre Funktion. Gehaf­ tet wird für die Ausübung öffentlicher Gewalt4.

1 RGBI. 1910, 798; i. d. F. vom 30. 6. 1933, RGBI. I, 433. 2 RGBI. 1919, 1383. 3 BVerfGE 61, 149 ff. 4 Siehe A. Kayser, Die Amtshaftung bei Ausübung öffentlicher Gewalt, 1939, S. 7 mit zahlreichen Nachw. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts; F. Ossenbühl, Staats­ haftungsrecht, 4. Auflage 1991, S. 12 ff. mit zahlreichen Nachw. aus der Rechtsprechung des BGH und der Literatur; H.-J. Papier, in: Münchner Kommentar zum BGB, 2. Auflage 1986, Rdn. 110 zu § 839.

I. Öffentlich-rechtliche Ansprüche

39

In der Entscheidung der zuständigen SS-Dienststellen, KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzuziehen, liegt ohne Zweifel die Ausübung öffentlicher Gewalt, für die nach § 839 BGB gehaftet wirds. Nur ergänzend sei erwähnt, daß Art. 34 GG heute klarstellt, daß es für die Haftung aus § 839 BGB nicht darauf ankommt, ob der Handelnde Beamter im staatsrechtlichen Sinne ist oder nicht. In Art. 34 GG heißt es: "Verletzt je­ mand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes . . . " , während es in Art. 131 WRV noch hieß: "Verletzt ein Beamter in Ausübung der ihm an­ vertrauten öffentlichen Gewalt. . . " . Es ist trotz des unterschiedlichen Wortlau­ tes anerkannt, daß Art. 34 GG gegenüber Art. 131 WRV keine Veränderung der Rechtslage bewirkte und bewirken wollte6.

c) Amtspflichtverletzung

Die Haftung nach § 839 BGB setzt voraus, daß die Heranziehung zur Zwangsarbeit die Verletzung einer Amtspflicht war, die den handelnden SS­ Dienststellen gegenüber den jeweils betroffenen Einzelpersonen oblag. In Betracht kommt hier eine eventuelle Verletzung der Amtspflicht zu recht­ mäßigem Handeln, die aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwal­ tung folgt und die Pflicht enthält, unerlaubte Handlungen zu unterlassen7. Die Heranziehung zur Zwangsarbeit könnte sich als Freiheitsberaubung und Kör­ perverletzung darstellen. Keine Probleme ergeben sich insoweit für die oft nicht leicht begründbare sog. "Drittbezogenheit" der Amtspflicht, da die Pflicht, unerlaubte Handlungen zu unterlassen, eine absolute, d.h. gegenüber jedermann bestehende Amtspflicht darstellts.

5 In diesem Zusammenhang ist auf die Nachweise bei Kayser, Amtshaftung, S. 213 aus der Rechtsprechung in der Zeit des Nationalsozialismus hinzuweisen, wonach auch die Hitler-Jugend und die SA öffentliche Gewalt i.S. des § 839 BGB ausübten. 6 H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Rdn. 12 zu Art. 34, neMt Art. 131 WRV den Vorgänger des Art. 34 GG und meint dies nicht nur historisch, sondern i.S. der inhaltlichen Gleichgerichtetheit. W. Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 2. Auflage 1983, Rdn. 8 zu Art. 34 weist darauf hin, daß bereits Art. 120 des Herrenchiemseer Entwurfes in "grundsätzlicher Anlehnung an Art. 131 WRV" formuliert war, und die Beratungen im Parlamentarischen Rat zunächst zu einem Art. 139a GG führten, in dem es hieß: "Die Grundsätze des Art. 131 der Weimarer Reichsverfassung gelten fort. " Der heute geltende Art. 34 GG ist zwar anders formuliert meint aber inhaltlich das Gleiche. 7 Siehe Kayser, Amtshaftung, S. 10-13; OssenbühJ, Staatshaftungsrecht, S. 39 f. 8 Siehe Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 48; Papier (Fn. 4), Rdn. 196.

40

ß. Ansprüche aus deutschem Recht

Es stellt sich aber die Frage, ob die Heranziehung zur Zwangsarbeit nach dem damals geltenden deutschen Recht ein unrechtmäßigen Handeln darstellte. Dabei muß grundsätzlich berücksichtigt werden, daß das nationalsozialistische Deutschland kein Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes war. Die Bindung der Gesetze an die Verfassung, die Bindung der Verwaltung an die Gesetze waren durchbrochen durch das Ermächtigungsgesetz9. Der Führerbefehl war oberste Maxime und äußerte sich keineswegs nur in Gestalt förmlicher Geset­ ze, sondern als Folge der Entmachtung des Parlaments vorwiegend in Verord­ nungen und Erlassen oder auch Einzelentscheidungen1 0. Anfänglich erfolgte die Verbringung in Konzentrationslager und Heranziehung zur Zwangsarbeit unter formaler Anknüpfung an die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staatl 1 , die Verordnung des Reichspräsidenten zur Ab­ wehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung (Reichstagsbrand-Verordnung)12 sowie den Schutzhafterlaß des Reichsmini­ sters des lnnern13. Diese formale Anknüpfung richtete auf Dauer keine sub­ stantielle Schranke gegen die Macht des Staates auf. Über die Konzentrations­ lager und in ihnen herrschte die SS, und deren Handlungen waren bereits seit Anfang 1936 der Kontrolle der Gerichte entzogenl4. In großem Stile fand die Heranziehung zur Zwangsarbeit in Konzentra­ tionslagern und aus ihnen heraus seit 1942 statt zur Stützung der deutschen Kriegswirtschaft. Auch insofern gab es formale Anknüpfungen an Normen, wie die Verordnung über die Arbeitspflicht der polnischen Bevölkerung vom 26.10.193915 oder die Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 3.10.194116. Ferner sind hier zu nennen der Runderlaß des Chefs der Sicher­ heitspolizei und des Sicherheitsdienstes vom 24.10.1939, vom 16.5.1940 und vom 4.5. 194311, durch die die Schutzhaft noch leichter verhängt werden konnte. 9 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3. 1933, RGBI. I, 141 . 1 0 Siehe dazu M. Hirsch/D. Majer/J. Meinck (Hrsg.), Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus, 1984, S. 141-235. 11 VO vom 28.2. 1933, RGBI. I, 83. 12 VO vom 21.3. 1 933, RGBI. I, 135. 13 Erlaß vom 12.4. 1934, zit. nach M. Brosi.al, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1 945, in: ders.lll. Buchheimlll.A . Jacobsenlll. Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, 3. Aufl. 1982, S. 32-34, wo der wesentliche Inhalt des Erlasses wiedergegeben wird. 14 Vgl. § 7 des Preuß. Gesetzes über die Geheime Staatspolizei vom 10.2. 1 936, Preuß. Gesetzessammlung 1936, S. 21 f. 15 VOBI. für das Generalgouvernement 1939, 5. 1 6 RGBI. 1941 I, 675.

I. Öffentlich-rechtliche Ansprüche

41

Insgesamt existierte ein wahres Dickicht von Verordnungen, Erlassen etc. , das bis heute nicht genau durchforstet ist, eine Arbeit, die auch hier nicht ge­ leistet werden kann und muß1s. Man wird aber um den Befund wohl nicht her­ umkommen, daß die Heranziehung zur Zwangsarbeit vom Recht des NS-Staa­ tes gedeckt war19. Zwar wird man andererseits mit guten Gründen die Auffassung vertreten können, daß diese Rechtsregeln wegen ihres menschenverachtenden Inhaltes nichts anderes waren als in Rechtsregeln gegossenes Unrecht. Daraus folgt aber nicht ohne weiteres, daß ihre Anwendung eine Amtspflichtverletzung i.S. des § 839 BGB darstellte. Noch heute, 45 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, welches in Art. 20 GG das Rechtsstaatsprinzip zu einem Staatsstrukturprinzip der Bundesrepublik Deutschland macht, das nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfest ist, und nach vielfältiger Entfaltung die­ ses Prinzips in Rechtsprechung und Literatur ist es keineswegs herrschende oder gar einhellige Auffassung im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, daß ein Amtswalter gesetztes Recht, das mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, nicht anwenden darf oder muß. Die Ansichten, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten hat, sind sehr unterschiedlich20, doch überwiegt wohl die Auffassung, daß der Amtswalter keine Verwerfungskompetenz hat, d.h. daß er das förmliche Recht anzuwenden hat2 1 . Umso mehr wird man dies für die damalige Zeit anzunehmen haben, in der die Möglichkeit gesetzlichen Unrechts zwar gerade demonstriert wurde, dies aber noch nicht ins allgemeine Bewußtsein getreten war und noch keine korrigierende Reaktion in Rechtsprechung und Schrifttum gefunden hatte.

17 Allgemeine Erlaßsammlung des Reichssicherheitshauptamtes, 2 F Vill a, S. 8, S. 11 und S. 20, zit. nach Broszat (Fn. 13), S. 120-122. 18 S. dazu schon u. a. R. Schrötkr, Zwangsarbeit: Rechtsgeschichte und zivilrechtliche Anspruche, Jura 1994, 61 ff. , bes. 64-68. Ch. U. Schminck-Gustavus, Zwangsarbeitsrecht und Faschismus. Zur "Polenpolitik" im "Dritten Reich", KJ 1980, S. 1-27 und 184-206; D. Majer, "Fremdvölkische" im Dritten Reich, 1981, S. 514 ff., bes. S. 549-562; Hirsch/Majer/Meinck (Fn. 10), S. 137 ff. , 317 ff., 410 ff. ; Broszat/Buchheim/Jacobsen/Krausnick (Fn. 13). 19 So auch Majer(Fn. 20 zu A. ), 21.

20 Vgl.

73 ff.

die Nachweise bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auflage 1994, S.

21 Siehe z. B. F. Ossenbühl, Normenkontrolle durch die Verwaltung, Die Verwaltung 1969, S. 393; tkrs. , Staatshaftungsrecht, S. 40.

42

B. Ansprilche aus deutschem Recht

Überhaupt muß bei der Amtshaftung Folgendes beachtet werden: Die Staatshaftung nach den geltenden deutschen Amtshaftungsregeln ist strukturell und konstruktiv keine unmittelbare Haftung des Staates, sondern eine über­ nommene, aus der persönlichen Haftung des Amtswalters abgeleitete Haftung. Für die haftungsbegründende Pflichtverletzung ist daher nur der auf das In­ nenverhältnis zwischen Staat und Amtswalter bezogene Pflichtenstatus maß­ geblich. Eine unmittelbare Staatshaftung würde demgegenüber an die öffent­ lich-rechtlichen Pflichten im Außenverhältnis zwischen Staat und Bürger an­ knüpfen. Aus dieser besonderen Konstruktion des deutschen Amtshaftungsrechts er­ gibt sich die Möglichkeit des Auseinanderfallens von rechtmäßigem und amts­ pflichtgemäßem Verhalten des Amtswalters. Ein Verhalten des Amtsträgers kann daher amtspflichtwidrig sein, ohne daß zugleich eine Verletzung einer im Außenverhältnis bestehenden Rechtspflicht des Staates bzw. eines korrespon­ dierenden subjektiven Rechts des Bürgers vorliegt. Es kann aber auch eine Staatstätigkeit im Außenverhältnis rechtswidrig sein, ohne daß darin zugleich ein Amtspflichtverstoß des handelnden Amtswalters liegt22. Letzteres trifft auf das System der Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland zu. Auch wenn die Heranziehung den betroffenen Personen ge­ genüber rechtswidrig war, stellte sie wohl dennoch keine Amtspflichtver­ letzung dar.

d) Problem der schuldhaften Amtspflichtverletzung

Aber selbst wenn man eine Amtspflichtverletzung bejahen würde, müßte der handelnde Amtswalter sie schuldhaft begangen haben, damit eine Haftung nach § 839 BGB eintreten kann. Das wäre dann der Fall, wenn er bei der Her­ anziehung zur Zwangsarbeit das einschlägige Recht vorsätzlich oder fahrlässig unrichtig angewendet hätte23. Dabei stellt die unrichtige Rechtsanwendung nur dann eine schuldhafte Amtspflichtverletzung dar, wenn sie "gegen den klaren, bestimmten und völlig eindeutigen Wortlaut des Gesetzes verstößt, oder wenn die Auslegung sich in Gegensatz zu einer gefestigten Rechtsprechung stellt"24. 22 Vgl. zur Problematik Papier (Fn. 4), Rdn. 8 ff. und 165 ff. , der gegen diese Rechtslage argumentiert, aber zugestehen muß, daß sie der Sicht der h. L. zur lex lata entspricht; siehe auch B. Bender, Staatshaftungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 186 ff. , bes. S. 190 Rdn. 492. 23 Siehe Kayser, Amtshaftung, S. 21 ff. ; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 60; Papier (Fn. 4), Rdn. 240 und 244. 24 BGHZ 30, 22.

1. Öffentlich-rechtliche Ansprüche

43

In den hier einschlägigen Fällen haben die Amtswalter das damalige Recht aber gerade nicht "unrichtig" angewendet, sondern gerade entsprechend seinen Inhalt und Zweck. Daß dieses Recht letztlich Unrecht darstellte, ändert daran nichts. Eine schuldhafte Amtspflichtverletzung stellt die Anwendung dieses Rechts nicht dar, denn damit haben sich die Amtswalter gerade nicht bewußt oder fahrlässig über gesetzliche Vorschriften oder Dienstvorschriften hinweg­ gesetztzs.

e) Haftungsbeschränkung durch § 7 RBHG

Selbst dann, wenn man eine Haftung der handelnden Amtswalter bejahen würde, könnte dies nicht zu einer Haftung des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik Deutschland führen. Die Haftung des Deutschen Reiches ergäbe sich primär aus § 1 des Geset­ zes über die Haftung des Reichs für seine Beamten (RBHG) vom 22.5.191()26. Danach trifft die im § 839 BGB bestimmte Verantwortlichkeit an Stelle des Beamten das Reich. Die grundsätzliche Haftung des Staates an Stelle des Be­ amten wurde durch Art. 131 WRV dann auch verfassungsrechtlich festgelegt. Art. 34 GG findet auf die Fälle von Amtspflichtverletzungen vor dem Inkraft­ treten des Grundgesetzes keine Anwendung. Im Ergebnis ist dies unerheblich, da Art. 131 WRV mit Art. 34 GG inhaltlich übereinstimmte. § 7 des - auch heute noch geltenden - Gesetzes über die Haftung des Rei­ ches für seine Beamten bestimmt, daß Angehörige eines ausländischen Staates, denen gegenüber ein Amtswalter eine Amtspflicht schuldhaft verletzt hat, ei­ nen Schadensersatzanspruch gegen das Reich nur dann haben, wenn nach einer im Reichsgesetzblatt (heute Bundesgesetzblatt) enthaltenen Bekanntmachung des Reichsministers (Bundesministers) der Justiz durch die Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die Gegenseitigkeit verbürgt ist. Bis zum Jahre 1945 waren nur zwei Bekanntmachungen dieser Art erfolgt, und zwar bezüglich der Niederlande und Danzigs21. Die Klägerinnen in den oben erwähnten zivilgerichtlichen Verfahren besaßen - bis auf eine Ausnahme, 25 Vgl. dazu Kayser, Amtshaftung, S. 21 Fn. l . 26 RGBI. 1910, 798, i.d.F. des Gesetzes vom 30. 6.1933, RGBI. 1, 433. 27 RGBI. 1928 1, S. 414 und RGBI. 1930 1, S. 29. Vgl. dazu auch Kayser, Amtshaftung, S. 2 Fn. 1; J. A. Frowein, Staatshaftung gegenüber Ausländern, JZ 1964, 358.

44

B. Ansprüche aus deutschem Recht

in der eine deutsche Staatsangehörigkeit vorlag - zum Zeitpunkt ihrer Heran­ ziehung zur Zwangsarbeit sämtlich Staatsangehörigkeiten ausländischer Staa­ ten, mit denen keine Gegenseitigkeit verbürgt war und auch heute noch nicht verbürgt ist. Ein Anspruch gegen das Deutsche Reich bzw. die Bundesrepu­ blik Deutschland ist daher wegen § 7 RBHG ausgeschlossen. Dieser § 7 galt bzw. gilt ungeachtet des Art. 13 1 WRV, der eine solche Beschränkung der Übernahme der Amtswalterhaftung durch den Staat nicht enthielt, fort2s. Der BGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß § 7 RBHG auch nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes,insbesondere des Art. 34 GG, fortgilt29. Demgegenüber werden im rechtswissenschaftlichen Schrift­ tum seit einigen Jahren vielfach Stimmen laut, welche die Fortgeltung des § 7 verneinen, da er mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG), dem EG-Vertrag, der Europäischen Sozialcharta und dem Europäischen Niederlassungsabkommen unvereinbar sei3o. Auf die Stichhaltigkeit dieser Argumente kommt es für die vorliegende Problematik nicht an. Die genannten völkerrechtlichen Verträge könnten, wenn überhaupt, die Ungültigkeit von § 7 RBHG erst zum Zeitpunkt ihres je­ weiligen lnkrafttretens für die Bundesrepublik Deutschland bewirkt haben, was in jedem Fall viele Jahre nach dem Zeitraum geschah, in dem Personen durch deutsche Behörden zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Am Gleichheitssatz des Grundgesetzes könnte die Anwendbarkeit des § 7 auch erst 1949 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes scheitern. Zwar ent­ hielt auch Art. 198 WRV einen Gleichheitssatz, doch hatte dieser gegenüber Art. 3 GG einen für den hier interessierenden Zusammenhang bemerkenswert engeren Inhalt: Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Art. 109 Abs. 1 WRV lautet demgegenüber: "Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. " Eine unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Ausländern war daher a priori verfassungsrechtlich nicht problematisch. Die ins Feld geführten Gründe gegen die Geltung von § 7 RBHG können demnach für den hier relevanten Zeitraum keine Geltung beanspruchen3t . 28 Siehe Kayser, Amtshaftung, S . 6 1 mit Nachw. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu § 7 RBHG unter Geltung von Art. 131 WRV; E. Pinzger, in: Palandt, BGB, 2. Aufl. , 1939, Arno. 2 A a zu § 839. 29 Vgl. die Nachw. bei Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 82, Fn. 1 14. 30 Vgl. die Nachw. bei OssenbühJ aaO, Fn. 1 1 6. 31 Zutreffend stellt Frowein, JZ 1964, 358 fest, daß sich das Problem stelle, ob die Haftungsbeschränkung in § 7 RBHG auch "nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gültig ge­ blieben" ist (Hervorhebung d. Verf.).

I. Öffentlich-rechtliche Ansprüche

45

Im übrigen hält der BGH an seiner ständigen Rechtsprechung, wonach die Norm auch heute noch geltendes Recht ist, trotz der genannten Kritik im wis­ senschaftlichen Schrifttum fest. Eine gegen diese Rechtsprechung gerichtete Verfassungsbeschwerde ist vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen worden, "weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat" 32 _ Es ist somit festzustellen, daß selbst dann, wenn eine schuldhafte Amts­ pflichtverletzung vorgelegen hätte, eine Haftung des Deutschen Reichs bzw. der Bundesrepublik Deutschland nicht eingetreten wäre, da die in Betracht kommenden Personen Angehörige ausländischer Staaten waren, bezüglich de­ rer keine Gegenseitigkeit i.S. von § 7 RBHG bestand. Ein Sonderproblem stellt der Fall dar, daß Staatenlose einen Amtshaf­ tungsanspruch geltend machen. Der Wortlaut der Norm spricht dafür, daß die in § 7 RBHG vorgesehene Haftungsbeschränkung auf diese Personengruppe nicht anzuwenden. ist, da ihre Mitglieder nicht Angehörige eines fremden Staa­ tes sind. Sinn und Zweck der Vorschrift führen jedoch zu einer gegenteiligen Ausle­ gung. Dem § 7 RBHG - wie auch den entsprechenden landesrechtlichen Vor­ schriften - liegt das völkerrechtliche Gegenseitigkeitsprinzip33 zugrunde. An­ deren Staaten wird hier die Inländerbehandlung ihrer Staatsangehörigen als Gegenleistung dafür angeboten, daß Deutschen in deren Hoheitsgebieten ent­ sprechende Rechte gewährt werden34. Bei Staatenlosen liegt aber wegen des Fehlens eines anderen Staates nie die Situation vor, daß die Übernahme der Beamtenhaftung durch den Staat als Gegenleistung erscheinen kann. Daher greift hier die Haftungsbeschränkung des § 7 RBHG grundsätzlich ein. Das entspricht auch durchaus dem rechtlich grundsätzlich geminderten Status von Staatenlosen gegenüber Staatsangehörigen im Völkerrecht35. Damit kommt eine Haftung des Deutschen Reiches bzw. der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch nicht gegenüber solchen Anspruchsstellern in Frage, die damals staatenlos waren.

32 BVerfG, NVwZ 1983, 89. 33 Dazu statt aller Verdross/Simma (Fn. 2 zu A. ), S. 48 ff. 34 So im Anschluß an BVerfGE 30, 409 (41 3 f.) BGHZ 76, 380; BGHZ, NIW 1 981 , 518. Ebenso L. Gramlich, Offene Fragen der Staatshaftung gegenüber Ausländern, BayVBI. 1 983, 487 f. Daß § 7 RBHG dieses Prinzips der Gegenseitigkeit zugrunde liegt, verkeMt Bender (Fn. 22), S. 263, Fn. 801 , der die Anwendung auf Staatenlose verneint. 35 Siehe dazu Th. Jürgens, Diplomatischer Schutz und Staatenlose, 1987.

46

B. Ansprüche aus deutschem Recht

Die Änderung der Rechtslage, die durch § 5 des Gesetzes über die Rechts­ stellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet (HAG) vom 25.4. 195136 ein­ getreten ist, wirkt nicht auf die hier in Betracht kommenden Fälle zurück. Nach dieser Bestimmung sind Rechte, die allgemein Angehörigen fremder Staaten nur unter der Bedingung der Gegenseitigkeit gewährt werden, heimat­ losen Ausländern - und das können nach § 1 des HAG auch Staatenlose sein auch dann nicht zu versagen, wenn die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist. Das HAG besitzt keine rückwirkende Kraft und kann sich i.V.m. § 839 BGB, RBHG und Art. 34 GG nur auf Amtshaftungsfälle beziehen, die sich nach sei­ nem Inkrafttreten ergeben haben. Das Gleiche gilt für Art. 7 des Übereinkom­ mens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. 9 . 195437, nach dessen Abs. 2 alle Staatenlosen nach dreijährigem Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsstaaten vom gesetzlichen Erfordernis der Gegenseitigkeit befreit sind. Es sind diese Regelungen des HAG und des Staatenlosen-Übereinkommens, mit denen die heute fast einhellige Auffassung begründet und begründbar wird, daß § 7 RBHG für Staatenlose nicht gilt3s. Die genannten Regelungen des HAG und des Staatenlosen-Übereinkom­ mens sind im übrigen ein deutliches Indiz dafür, daß Staatenlose grundsätzlich dem Gegenseitigkeitserfordernis, wie es eben auch in § 7 RBHG enthalten ist, unterliegen. Andernfalls hätte der deutsche Gesetzgeber keinen Anlaß gehabt, die Staatenlosen von diesem Erfordernis freizustellen. Die Freistellung im Staatenlosen-Übereinkommen, das keinesfalls nur im Hinblick auf die deut­ sche Rechtslage abgeschlossen wurde (es gilt unterdessen für etwa 40 Staaten), belegt weiter, daß es sich bei der Anwendung des Gegenseitigkeitserfordernis­ ses keineswegs um ein nur deutsches Problem handelt, sondern daß dieses vielmehr als Ausfluß des völkerrechtlichen Reziprozitätsprinzips auch in den Rechtsordnungen anderer Staaten gilt.

1) Zusammenfassung

Zusammenfassend ergibt sich folgendes: Ein Amtshaftungsanspruch ehe­ maliger Zwangsarbeiter gemäß § 839 BGB i. V .m. § 1 RBHG und Art. 1 3 1 36 BGB!. I , 269 ff. 37 BGB!. 1976 D, 473 ff., 235).

in

Kratt getreten am 24.1. 1977(Bek.

vom 10.2.1977, BGB!. D,

38 Siehe P. Dagtoglou, in: BoMer Kommentar, Rdn. 331 zu Art. 34 GG m. w.N. Dagtoglou will dieses Ergebnis auch aus dem Wortlaut des § 7 herleiten, was, wie ausgeführt, SiM und Zweck dieser Vorschrift verkeMt.

I. Öffentlich-rechtliche Ansprüche

47

WRV gegen das Deutsche Reich bzw. die Bundesrepublik Deutschland besteht nicht. Selbst wenn man eine schuldhafte Amtspflichtverletzung annehmen würde, scheiterte ein solcher Anspruch im Regelfall an der fehlenden Gegen­ seitigkeit i.S. des § 7 RBHG. (Von diesem Einwand nicht betroffen wären etwa niederländische Staatsangehörige, da im Verhältnis zu ihrem Heimatstaat zum damaligem Zeitpunkt bereits die Gegenseitigkeit verbürgt war. 39) Schließlich wären etwaige Amtshaftungsansprüche schon verjährt gewesen ( § 852 BGB), bevor durch den Abschluß des Londoner Schuldenabkommens 195340 eine mögliche Hemmung der Verj ährung hätte eintreten können. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, zu welch widersinnigen Ergeb­ nissen die Anwendung der Vorschriften über die Amtshaftung auf Sachverhal­ te, die, wie die hier zugrundeliegenden, schwerpunktmäßig als Akte der Kriegsführung anzusehen sind, führen würde. Soweit wegen § 7 RBHG die Haftung des Staates. ausgeschlossen ist haftet der Beamte selbst nach § 839 BGB. In Kriegszeiten wird es zwischen den beteiligten Staaten nie zu einer Vereinbarung über die Gegenseitigkeit kommen, und diese wird auch nicht durch einseitigen Rechtsakt hergestellt werden. Bestand schon eine vertragli­ che Zuerkennung der Gegenseitigkeit, dann wird diese als Folge des Kriegszu­ standes suspendiert41. Das führt dazu, daß für Amtspflichtverletzungen im Kriegszustand ein Beamter immer persönlich haftet, für solche in Friedenszei­ ten u.U. der Staat. Jedenfalls dann, wenn die Amtspflichtverletzung zumindest auch im Zusammenhang mit der Kriegführung erfolgt, ist dies rechtsdogma­ tisch ein evident sinnwidriges Ergebnis. Dies ist ein weiterer Gesichtspunkt dafür , daß es grundsätzlich verfehlt ist, Sachverhalte wie die hier zugrundeliegenden mit den allgemeinen Regeln des innerstaatlichen Rechts lösen zu wollen.

2. Aufopferungsanspruch In Frage kommt auf den ersten Blick ein Anspruch aus dem allgemeinen Aufopferungsgrundsatz, der in den §§ 74 und 75 der Einleitung zum Preus­ sischen Allgemeinen Landrecht seine gesetzliche Formulierung gefunden hat-

39 Vgl. oben Fn. 27. 40 Zu den Auswirkungen des Abkommens auf die hier relevanten Fälle vgl. unter D. 41 Zu dieser Rechtsfolge des Kriegszustandes vgl. schon oben unter A IV. la.

48

B. Ansprüche aus deutschem Recht

te. Der Grundsatz gilt noch heute und galt auch in der Zeit, in der Personen in Deutschland zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Unterschiedlich beurteilt wird seine rechtliche Fundierung. Während die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes heute von einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Aufopferungsanspruchs ausgeht42, sah das Reichsgericht in ihm einen allgemeinen Rechtsgrundsatz43. Der Aufopferungsanspruch ist die Entschädigungsgrundlage für hoheitliche Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, die der Betroffene zum Wohle der Allgemeinheit erdulden muß und die sich als Sonderopfer darstellen44. Problematisch ist im hier interessierenden Zusammenhang, ob die Heran­ ziehung zur Zwangsarbeit, durch einen hoheitlichen Eingriff zum Wohle der Allgemeinheit erfolgte. Zwar reicht es dazu aus, daß die Intention des Ein­ griffs in diese Richtung geht. Nicht ist erforderlich, daß dieses Ziel auch ob­ jektiv erreicht wird. Es stellt sich aber die Frage, ob etwas i.S. des Aufopfe­ rungsanspruchs dem Wohle der Allgemeinheit dienen kann, was sich als rechtswidriger Eingriff darstellt. Immerhin waren in einer bestimmten Ent­ wicklungsphase des Aufopferungsanspruchs alle rechtswidrigen Staatseingriffe aus dem Aufopferungsanspruch eliminiert45. Heute ist anerkannt, und war es wohl auch schon in der Zeit, auf die es hier ankommt, daß auch rechtswidrige Eingriffe den Aufopferungsanspruch auslösen können. Jedoch sind das Fälle, in denen das Recht im konkreten Fall falsch angewendet wird. Wo dagegen die Rechtsgrundlage als solche Umecht darstellt, wie es bei den Regelungen über die Heranziehung zur Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern der Fall war (siehe oben unter lc.), kann man nicht sagen, daß der Eingriff in die Rechte des Betroffenen dem Wohle der Allgemeinheit dient. Das entspricht der grundsätzlichen Beschränkung des Aufopferungsanspruchs auf den Normalfall, d.h. die staatliche Normallage4(j. Wenn der Staat als solcher sich als Umechtsregime darstellt und als solches handelt, soweit es um die Bewältigung von Kriegsereignissen und Kriegsfol­ gen geht, greift der allgemeine Aufopferungsanspruch nicht ein. Hier bedarf es besonderer Ausgleichsregelungen spezialgesetzlicher Art (dazu unter III.).

42 Grundlegend BGHZ 9, 83 (8Sf.); 13, 88 (91). 43 RGZ 102, 390; 1 13, 301 . 44 Siehe Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 1 1 1 ff.; Bender (Fn. 22), S. 47 ff.; Papier (Fn. 4), Rdn. 53-56. 45 Siehe Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. !OS. 46 Siehe Ossenbühl ebd.

I. Öffentlich-rechtliche Ansprilche

49

Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß in den zivilgerichtlichen Verfahren, die den Vorlagebeschlüssen zugrunde liegen, die Klägerinnen nicht Eingriffe in immaterielle Rechtsgüter geltend machen, sondern vorenthaltenen Lohn für geleistete Arbeit.

3. Öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch

Dieser Anspruch hat sich als öffentlich-rechtliche Parallele zum zivilrecht­ lichen Bereicherungsanspruch herausgebildet, und zwar nicht erst unter der Geltung des Grundgesetzes, sondern bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts. Die wesentlichen Anstöße kamen aus der Verwaltungsrechtswissenschaft47 und fanden bald ihren Niederschlag in der Rechtsprechung des Reichsgerichts48 . Heute ist die Existenz eines allgemeinen - d.h. neben spezial-gesetzlichen Regelungen bestehenden - öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch allge­ mein anerkannt49. Der Inhalt dieses Anspruchs geht dahin, ·daß Leistungen ohne Rechtsgrund und sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht oder ausgeglichen werden müssen. Ein solcher Anspruch kann sich vom Hoheitsträger gegen den Bürger richten aber auch vom Bürger gegen den Hoheitsträger. Der Gedanke, auf dieser Grundlage Entschädigung für von KZ-Häftlingen geleistete Zwangsarbeit zu erlangen, kann jedoch grundsätzlich nicht überzeu­ gen. Die Problematik der Zwangsarbeit auf das vergleichsweise "harmlose" Niveau der rechtsgrundlosen Vermögensverfügung "herunterzuholen" , ent­ spricht nicht dem massiven und weitreichenden Eingriff in Freiheit und Ge­ sundheit der Betroffenen durch den Staat. Es entspricht aber auch nicht den Problemlagen, für die dieser Anspruch in Rechtsprechung und Literatur ent­ wickelt wurde und in denen er heute gilt und zur damaligen Zeit galt. Zutref­ fend wird von einem der besten Kenner der Materie festgestellt: "Kennzeichnend für den Erstattungsanspruch ist also nicht ein hoheitlicher Eingriff oder eine Schädigung von hoher Hand, sondern schlicht ein Vennögenszustand, der ohne rechtfertigenden Grund (sine causa) eingetreten ist und durch die Erstattung wieder rückgängig gemacht(' umgekehrt') werden soll. • so

47 Grundlegend G. Lassar, Der Erstattungsanspruch im Verwaltungs- und Finanzrecht, 1921. 48 Siehe Lassar aaO, � - 49 ff. und 61 ff. 49 Vgl. statt aller Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 333 ff., bes. S. 341 ff. mit um­

fänglichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. 4 Randelzhofer / Dörr

50

B. Ansprüche aus deutschem Recht

Die Anwendung dieses Erstattungsanspruchs auf die Zwangsarbeit durch KZ-Häftlinge käme einer "Verniedlichung" des Geschehens gleich. Nur ergänzend sei bemerkt, daß sich bei seiner Anwendung weitere Pro­ bleme ergäben, die es alles andere als sicher erscheinen lassen, daß ein solcher Anspruch bejaht werden könnte. Entscheidend ist für den Erstattungsanspruch das Merkmal "ohne Rechts­ grund " . Die Einweisung in ein KZ und die Heranziehung zur Zwangsarbeit waren - wenn man deutsches öffentliches Recht hier überhaupt für anwendbar hält - für die Betroffenen Verwaltungsakte. Sie entsprachen auch den damals geltenden Normen des NS-Staates. Schließlich stellt sogar ein rechtswidriger Verwaltungsakt bis zu seiner Aufhebung einen Rechtsgrund dar. Um noch ein­ mal zu zitieren: Der Erstattungsanspruch ist also unter diesem Aspekt - streng genommen - nicht die Korrektur einer rechtswidrigen, sondern einer rechtsgrundJosen Vermögensverschie­ bung• . S t

Nur wenn der Verwaltungsakt nichtig gewesen wäre, hätte er auch keine Rechtswirkungen entfalten können. Hier wird man sich aber davor hüten müs­ sen, auf die Zeit 1942-1945 die Rechtslage zurückzuprojizieren, wie sie heute durch § 44 VwVfG sowie die Rechtsprechung und Literatur dazu geformt ist. In einem damals maßgeblichen maßgeblichen Standardwerk liest man, man dürfe "niemals vergessen, daß die Nichtigkeit von Verwaltungsakten, anders als die von Pri­ vatrechtsgeschäften, stets etwas Singuläres ist, ihr Anwendungsgebiet daher möglichst eng zu begrenzen ist• 52 .

Im Anschluß daran werden als Nichtigkeitsgründe genannt: Unmöglichkeit der vom Verwaltungsakt angeordneten Rechtsfolge, absolute Unzuständigkeit der erlassenden Behörde, Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften, Unsin­ nigkeit des Verwaltungsaktes, Fehlen eines Erklärungswillens. Nicht genannt wird der Fall, daß der Verwaltungsakt auf eine selbst rechtswidrige Norm ge­ stützt ist.

50 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 334. 51 Ebd. , S. 345 (Hervorhebungen im Original). 52 K. Kormann, Verwaltungsakte, in: K. v. Stengel/M. Fleischmann (Hrsg.), Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. 3, 2. Aufl. 1914, S. 723.

II. Zivilrechtliche Ansprllche

51

Auch in einem seinerzeit führenden Lehrbuch wurden als Fälle der Nich­ tigkeit nur die genannt, in denen der Verwaltungsakt auf etwas Unmögliches gerichtet ist oder von einer absolut unzuständigen Behörde erlassen wurde53. Und noch das Standardwerk der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg54 belegte in seiner ersten Auflage die deutliche Zurückhaltung bei der Annahme einer Nichtigkeit von Verwaltungsakten. Neben dem fehlenden Tatbestand einer rechtsgrundlosen Vermögensver­ schiebung sei schließlich auf das Problem des richtigen Rechtsweges hinge­ wiesen. Interpretiert man das heute von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern vor­ gebrachte Entschädigungsbegehren als die Geltendmachung eines öffentlich­ rechtlichen Erstattungsanspruchs55, so handelt es sich um eine öffentlich-recht­ liche Streitigkeit, für die gemäß 40 Abs.1 Satz 1 VwGO der Verwaltungs­ rechtsweg gegeben ist56. Die gegenwärtig damit befaßten Zivilgerichte sind daher für die Entscheidung über derartige Ansprüche überhaupt nicht zu­ ständig.

II. Zivilrechtliche Ansprüche Nur kurz sei auf die Probleme hingewiesen, die sich für eine Herleitung von Entschädigungsansprüchen aus dem deutschen Zivilrecht ergeben.

1. Generelle Unanwendbarkeit des deutschen Zivilrechts auf KZ-Häftlinge und ihr Verhältnis zum deutschen Staat

Dafür ist in Erinnerung zu rufen, daß es hier nicht um die Rechtsbeziehun­ gen zwischen den zur Zwangsarbeit verpflichteten Personen und den Unter­ nehmen, in denen sie eingesetzt wurden57, geht, sondern um die Rechtsbezie-

12.

53 So J. Hatschek, Institutionen des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, 1 91 9, S.

54 E . Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Bd. , Allgemeiner Teil, 1950, S. 170 ff., bes. 189 ff. 55 So in der Tat das LG Bonn in seinem Vorlagebeschluß v. 2.7. 1993, S. 6f. (vgl. auch unten bei G D. ), das zudem auf S. 8 des Beschlusses betont, daß der Anspruch sich nach öffentlichem Recht beurteile. 56 Ebenso Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 354.

B. Ansprüche aus deutschem Recht

52

hung der Betroffenen zum deutschen Staat, gegen den sie Ansprüche auf zivil­ rechtlicher Grundlage geltend machen.

a) Andere Rechtslage evtL bei polnischen Zivilarbeiterinnen und sog. Ostarbeiterinnen

Derartige zivilrechtlichen Ansprüche kämen eventuell in Frage, wenn die Betroffenen polnische Zivilarbeiter i.S. der Verordnung vom 5. 10. 1941S8 oder Ostarbeiter i.S. der Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30.6. 1942S9 gewesen wären60. Die von diesen Bestimmungen erfaßten Personen wurden als Arbeitskräfte angeworben und nicht durch staatlichen Hoheitsakt zur Arbeit gezwungen. Dennoch ist es mehr als zweifelhaft, ob ihr Arbeitsverhältnis zu den Be­ trieben, in denen sie eingesetzt wurden, oder gar ihr Verhältnis zum deutschen Reich als zivilrechtliches qualifiziert werden kann. Durch eine Vielzahl von öffentlich-rechtlichen Normen, i.d.R. Erlassen, wurde die Rechtsstellung die­ ser Arbeiter und Arbeiterinnen gegenüber den normalen Arbeitsverhältnissen massiv verschlechtert: Das Arbeitsentgelt wurde nicht vereinbart, sondern nor­ mativ auf niederem Niveau festgelegt; es gab keine Sozialzulage, grundsätz­ lich kein Urlaubsanspruch; Unterbringung und Einsatz erfolgten in geschlossenen Gruppen; das Verlassen des Arbeitsplatzes war verboten u.a.m. Das Beschäftigungsverhältnis dieser Arbeiterinnen und Arbeiter war ein "Be­ schäftigungsverhältnis eigener Art", auf das die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften nur insoweit Anwendung fanden, als dies besonders bestimmt wurde6 •. Über das Wesen dieses Beschäftigungsverhältnisses liest man in einer quasi-authentischen Interpretation, an deren nationalsozialistischer Ideologie freilich kein Zweifel besteht: "Entsprechend der Herausnahme der Ostarbeiter aus der deutschen Sozialordnung stehen sie auch nicht in einem Arbeitsverhältnis. Nach allgemeiner Auffassung ist das Arbeits­ verhältnis ein personenrechtliches Treueverhältnis. Diese sittliche Auffassung entspricht

57 Zu diesem Rechtsverhältnis aus zivilistischer Sicht kürzlich R. Schrötkr, Zwangsarbeit: Rechtsgeschichte und zivilrechtliche Ansptilche, Jura 1994, 61 ff. und 118 ff. 58 Reichsarbeitsblatt Teil 1, Nr. 29/1941, S. 448. 59 RGBI. 1942 1, 419.

60 Siehe dazu H. Küppers/R. Bannier, Arbeitsrecht der Polen im deutschen Reich, 1942, und

dies., Einsatzbedingungen der Ostarbeiter, 1942.

61 Siehe § 2 der Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. 6. 1942.

II. Zivilrechtliche Ansprllche

53

deutschrechtlicher Anschauung und kann daher auf den Ostarbeiter nicht übertragen werden" 62 .

Dies spricht deutlich gegen die Annahme einer zivilrechtlichen Grundlage des Rechtsverhältnisses der Arbeitskräfte zum deutschen Staat. Für die Zwecke der oben erwähnten Vorlageverfahren muß die Frage aber nicht entschieden werden, da die dort auftretenden Klägerinnen den genannten Kategorien unterfielen. Weder erfüllten die Klägerinnen die Tatbestandsmerk­ male von Ostarbeiterinnen, wie sie in § 1 der entsprechenden Verordnung fest­ gelegt waren, noch kam die genannte Verordnung über die polnischen Zivilar­ beiter zur Anwendung, da die Klägerinnen, auch soweit sie die polnische Staatsangehörigkeit besaßen, nicht zur Arbeit angeworben wurden, sondern von hoher Hand in das Konzentrationslager eingewiesen und zur Zwangsarbeit herangezogen wurden.

b) KZ-Einweisung als hoheitlicher Akt

Die Einweisung in Konzentrationslager und die Heranziehung der Häftlin­ ge zur Zwangsarbeit erfolgte in Ausübung hoheitlicher Gewalt. Die SS, der die Konzentrationslager unterstanden, übte insoweit Polizeigewalt aus63. Ein zivilrechtliches Rechtsverhältnis zwischen den Betroffenen und dem Deutschen Reich konnte dadurch nicht entstehen. Zutreffend stellte der Bundesgerichts­ hof insofern fest: "Das Reich, verkörpert durch die SS, hatte sich die uneingeschränkte Herrschaftsgewalt über die Ausländer angemaßt, die es in KZ-Lagern verwahrte. . . . Die SS entschied über den Arbeitseinsatz der Häftlinge und war für ihre Bewachung während der Arbeitszeit verantwortlich, auch die Arbeitsdisziplin unterstand letztendlich ihrer Aufsicht. Diese von der Staatsführung des Reiches gesteuerte Zwangsarbeit von politischen Häftlingen am Rüstungsbetrieb zu Zwecken des proklamierten "totalen Krieges" kann mit einem nonnalen Arbeitsverhältnis nicht verglichen werden•64.

Ansprüche nach deutschem Zivilrecht kommen daher generell nicht in Frage, da zwischen den zur Zwangsarbeit verpflichteten Personen und dem deutschen Staat zu keiner Zeit ein zivilrechtliches Rechtsverhältnis bestanden hat. 62 So KapperslBannier, Einsatzbedingungen der Ostarbeiter, 1 942, S. 28. 63 Siehe dazu H. Buchheim, Die SS - das Herrschaftsinstrument, in: Brosza1/Buchheiml Jacobson/Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd. 1 , 3. Aufl. 1 982, S. 33 ff. 64 BGH, RzW 1 963, 526.

B. Ansprüche aus deutschem Recht

54

2. Problematik zivilrechtlicher Anspa:üche auch im Verhältnis zu Unternehmen, denen KZ-Häftlinge zugewiesen waren

Eine jüngere Abhandlung über zivilrechtliche Ansprüche von NS-Zwangs­ arbeitern gegen Unternehmen, bei denen sie eingesetzt waren6s , kommt zu dem Ergebnis, daß auch gegenüber diesen Unternehmen Ansprüche aus Ver­ trag, Geschäftsführung ohne Auftrag oder unerlaubter Handlung nicht beste­ hen und daß ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung verjährt wäre. Der Autor plädiert jedoch dafür, daß ein entscheidendes Gericht "aus natur­ rechtlichen, also materialethischen Prinzipien, der Verjährungseinrede die Wirksamkeit versagen müßte" 66 . Darin liegt das Eingeständnis, daß selbst im Verhältnis zu den Unternehmen, in denen die Zwangsarbeiter beschäftigt wa­ ren, Ansprüche aus Zivilrecht nach geltendem Zivilrecht nicht bestehen.

III. Ansprüche aufgrund der deutschen Wiedergutmachungsgesetzgebung Ein Blick auf die nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland ge­ schaffenen speziellen Regeln zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts soll diesen Abschnitt, der sich mit der Entschädigung nach deut­ schem Recht befaßt, beschließen.

1. Hintergrund der Schaffung spezieller gesetzlicher Regelungen

Die Frage, warum der Bundesgesetzgeber sich veranlaßt sah, spezielle Re­ gelungen zur Wiedergutmachung zu schaffen, ist deshalb von Interesse, weil die Antwort das bisherige Ergebnis bestätigt, daß für die in den zivilgerichtli­ chen Ausgangsverfahren anhängigen Fälle sich Individualansprüche weder aus deutschem Recht noch aus Völkerrecht, wie es jeweils zur relevanten Zeit ge­ golten hat, ergeben.

Schröder (Fn. 57), 1 1 8 ff. 66 Ebd., 127 f.

65

m. Ansprilche nach Wiedergutmachungsrecht

55

Walter Schwan, einer der engagiertesten Verfechter für eine spezielle Wie­ dergutmachungsgesetzgebung und einer der besten Kenner der gesamten Pro­ blematik, sprach von einem "in einer Ausnahmesituation geschaffenen Recht der Wiedergutmachung. Hier betrat der Gesetzgeber Neuland"67. Schwan stellte die Frage, "ob sich die gestellte Aufgabe mit Mitteln des . . . Bürgerli­ chen Rechts überhaupt lösen ließ, oder ob eine eigene gesetzliche Regelung notwendig war"68 . Insofern meint er selber: "Die Fälle (gemeint sind die, um die es im Rahmen des Wiedergutmachungsrechts ging) . . . waren auch nicht die gezähmten Rechtsbrüche, die dem Gesetzgeber des BGB vor Augen stan­ den, als er das Recht der unerlaubten Handlung schuf"69. Diese Aussage läßt sich sinngemäß übertragen auf die Regelungen bzw. Interpretationen der Rechtsprechung zum Aufopferungsanspruch und zum allgemeinen öffentlich­ rechtlichen Erstattungsanspruch. Auch insofern wäre es eine Überforderung des zur einschlägigen Zeit geltenden deutschen Rechts, von ihm die Bewälti­ gung der vom Staat selbst veranlaßten und durchgeführten exzessiven Verhal­ tensweisen zu erwarten. In bezug auf das Völkerrecht kommt Schwarz zu dem - zutreffenden - Er­ gebnis, daß sich aus den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen, ob man sie als Maßnahmen der Kriegführung ansieht oder nicht, allenfalls An­ sprüche der Staaten ergeben, deren Angehörige die Opfer zur Zeit der Verfol­ gung und der Geltendmachung der Ansprüche waren, in keinem Fall aber An­ sprüche von Individuen7o. Diese Sicht der Rechtslage entspricht, jedenfalls was das Völkerrecht an­ langt, ganz der, die schon zuvor ein Autor vertreten hatte, dessen Ansichten eine wesentliche Grundlage für die deutsche Gesetzgebung zur Wiedergutma­ chung wurden. Siegfried Moses, ein deutscher Jurist, später langjähriger Präsi­ dent des israelischen Rechnungshofs, hatte in zwei Arbeiten bereits 1943 und 1 944 die Problematik jüdischer Forderungen gegen das Deutsche Reich nach dessen absehbarer militärischen Niederlage untersucht71 . Moses kam zu dem

67 Schwan (Fn. 6 zu A.), S. 3. 68 Ebd. , S. 10. 69 Ebd., S. 3. 70 Ebd., S. 12 f. 71 S. Moses, Die Wiedergutmachungs-Fordenmgen der Juden, Mitteilungsblatt der Hitachduth Olej Gennania We Olej Austria, Jahrgang 7, Nr. 27 und 28 vom 2.7. und 9.7. 1943, Tel Aviv; ders. , Die jüdischen Nachkriegs-Forderungen, Irgun Olej Merkas Europa, 1944. Zur grundlegenden Bedeutung gerade dieser Untersuchungen für die Wiedergutmachungsge-

56

B . Anspruche aus deutschem Recht

Ergebnis, daß das Völkerrecht, wie es zur damaligen Zeit galt, keine Grund­ lage für die Geltendmachung jüdischer Forderungen wegen NS-Unrechts abge­ be. Ansprüche des jüdischen Volkes als Kollektiv kämen nicht in Frage, da Gläubiger von Reparationsforderungen Staaten, nicht aber Völker waren und sind. Individualforderungen jüdischer Geschädigter scheiterten daran, daß die in diesem Zusammenhang begangenen Völkerrechtsverstöße zwar für die Staa­ ten, deren Angehörigen die Opfer zum Zeitpunkt der Schädigung waren und zum Zeitpunkt der Geltendmachung von Forderungen noch sind, Ansprüche entstehen ließen, nicht aber für die Opfer selbst. Insbesondere Opfer deutscher Staatsangehörigkeit könnten schon deshalb keine Individualansprüche haben, weil das Völkerrecht den Staaten keine Schranken bezüglich der Behandlung eigener Staatsangehöriger auferlege. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß der völ­ kerrechtliche Menschenrechtsschutz eine ganz junge Entwicklungsstufe des Völkerrechts darstellt, die erst mit den entsprechenden programmatischen Aussagen in der Satzung der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 einsetzte und mit der Beto­ nung der Rolle des Individuums einen bedeutsamen Strukturwandel gegenüber dem Völkerrecht vor 1945 darstellten.

Moses stellte, ausgehend von den Ergebnissen seiner Untersuchung, die Forderung auf, die jüdische Welt müsse politisch dafür kämpfen, daß die Ent­ schädigungsregelungen in einem Friedensvertrag mit Deutschland nach völlig neuen Prinzipien zu erfolgen habe. Als solche neuen Prinzipien wurden ge­ nannt: Anerkennung der jüdischen Gemeinschaft als quasi-staatlicher Gläubi­ ger eines Kollektivanspruches, zugleich als Sammelvertreter für Individualfor­ derungen dort lebender oder diese Sammelvertretung wählender Opfer; inter­ nationale Festlegung von Grundsätzen für die Regelung interner deutscher Entschädigungsfälle.

setzgebung vgl. E. Feaux de la Croix, Vom Unrecht zur Entschädigung: Der Weg der Entschädigungsrechts, in: Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwarz (Hrsg. ), Die Wiedergutmachung Nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. m, 1985, S. l (13f.). 72 Nicht haltbar, da zum damals geltenden Völkerrecht in eklatantem Widerspruch stehend ist daher die These von S. Goldschmidl (Legal Claims against Gennany - Compensation for losses resulting from anti-racial measures, published for the American Jewish Committe Research Institute on peace and post war problems, 1945), bei Verletzung der Menschenrechte seien die Individuen aktiv legitimiert. Soweit insofern auf Regelungen des Versailler Vertrages Bezug genommen wird, wird - wohl bewußt - übersehen, daß es sich dabei um spezielle vertragliche Regelungen handelt, denen das allgemeine Völkerrecht weder 1919 noch 1945 entsprach. Das Buch Goldschmidls ist, wie auch die Schriften von Moses, eine Interessenschrift. Anders als Moses unterscheidet er aber nicht zwischen der lex /Jlta und der lex ferendo..

III. Ansprüche nach Wiedergutmachungsrecht

57

Die These von Moses ist von der jüdischen Welt aufgenommen worden und sie hat, nicht zuletzt durch die Claims Conference und deren Präsidenten Goldmann, auf den deutschen Gesetzgeber direkt oder indirekt über die Besat­ zungsmächte nachhaltigen Einfluß ausgeübt, daß dieser spezielle Gesetze zur Wiedergutmachung erließ73. Es wäre nicht verständlich, warum die jüdische Welt, aber keinesfalls nur sie, sondern auch andere Staaten und nicht zuletzt viele Stimmen in Deutschland selbst so entschieden für eine Gesetzgebung zur Wiedergutmachung eingetreten sind, wenn die Opfer bereits nach Völkerrecht oder bestehendem deutschen Recht Ansprüche hätten geltend machen können.

2. Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG)

Für die in den zivilgerichtlichen Ausgangsverfahren geltend gemachten Ansprüche käme von den im Rahmen der Wiedergutmachungsgesetzgebung erlassenen Regelungen allenfalls das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) vom 18.9. 1953 , in der Fassung vom 29. 6. 195674 und in eine neue Fassung ge­ bracht durch das Bundesentschädigungs-Schlußgesetz vom 14.9. 196575, als Rechtsgrundlage in Frage. Wenn diese Vorschriften letztlich aber doch nicht zugunsten der Klägerin­ nen durchgreifen, so steht dieses Ergebnis nicht im Widerspruch zu der obigen Aussage, daß die Wiedergutmachungsgesetzgebung dem Ziel diente, Ansprü­ che zu schaffen, die nach geltendem Völkerrecht und deutschem Recht nicht bestanden. Auch wenn dahingehende Forderungen an den deutschen Gesetzge­ ber bestanden haben, alle Schadensfälle in die Wiedergutmachungsgesetzge­ bung aufzunehmen, so ist es doch nicht gesagt, daß dieser solchen Forderun­ gen zur Gänze nachkommen konnte und wollte. Die wirtschaftliche und finan­ zielle Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland stellte eine Grenze dar, die der Gesetzgeber realistischerweise beachten mußte76.

73 Zu diesem Einfluß siehe Feaux de /a Croix (Fn. 71), S. 95 ff. ; N. Sagi, Die Rolle der jüdischen Organisationen in den USA und die Claims Conference, in: L. Herbst/C. Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, 1 989, S. 99 ff. 74 BGBI. 1953 I, 1387; 1 956 1, 559. 75 BGBI. I, 1315. 76 Vgl. Feaux de Ja Cro ix (Fn. 71), S. 8 ff.

58

B. Ansprüche aus deutschem Recht

Unübersehbar ist weiter, daß der Ost-West-Gegensatz sich auch im Wie­ dergutmachungsrecht niederschlug. Das gilt nicht direkt für das BEG als sol­ ches, sondern in der Weise, daß mit 12 Staaten, deren Angehörige als Geschä­ digte nicht unter das BEG fielen, Entschädigungsabkommen geschlossen wur­ den77. In keinem Fall handelte es sich dabei um einen sog. Ostblock-Staat. (Mit Jugoslawien, Ungarn, der CSSR und Polen wurden zwischen 1961 und 1972 lediglich Abkommen über die Entschädigung von Opfern pseudo-medizi­ nischer Menschenversuche in den Konzentrationslagern geschlossen.) Durch diese Abkommen wurden keine Individualansprüche geschaffen. Die Zahlun­ gen an die betreffenden Staaten erfolgten jedoch zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung Verfolgten Angehörigen dieser Staaten, wobei die Verteilung der Zahlungen dem Ermessen der jeweili­ gen Regierung überlassen blieb. Einen Individualanspruch auf Entschädigung für durch nationalsozialisti­ sche Gewaltmaßnahmen Verfolgte begründete dagegen § 3 BEG, wobei § 2 die umfaßten Maßnahmen umschrieb als solche, die auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reichs erfolgten, auch wenn sie auf gesetzlichen Vorschriften beruhten. Verfolgter im Sinne des Ge­ setzes ist, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozia­ lismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde (§ 1 Abs. 1 BEG). Bezüglich eines Teils der Klägerinnen in den erwähnten Verfahren könnten Zweifel bestehen, ob sie aus Gründen der Rasse etc. verfolgt, d.h. zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die seit 1942 in großem Umfang erfolgende Heranziehung zur Zwangsarbeit dem Zweck diente, die kriegsbe­ dingten Ausfälle in der deutschen Wirtschaft auszugleichen und insbesondere die Rüstungsproduktion zu erhalten. Soweit die Heranziehung zur Zwangsar­ beit gegenüber Angehörigen von Feindstaaten erfolgte, wie gegenüber Polin­ nen, könnte man sie als kriegsbedingte Maßnahme ansehen. Soweit es sich um Personen handelt, die damals die ungarische oder die rumänische Staatsange­ hörigkeit besaßen, fällt der Aspekt des Feindstaates weg78 . Insgesamt aber wird man diesem Aspekt im vorliegenden Zusammenhang keine entscheidende 77 Zu diesen Abkommen vgl. H. Rumpf, Völkerrechtliche und außenpolitische Aspekte der Wiedergutmachung, in: Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwarz (Hrsg.), Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. m, 1 985, S. 31 6 ff. und 333 ff. 78 In bezug auf Ungarn gilt dies allerdings nur bis zum 1 9. 3. 1 944, dem Zeitpunkt der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen.

III. Ansprüche nach Wiedergutmachllllgsrecht

59

Wirkung beimessen dürfen. Der Umstand, daß die Klägerinnen jeweils Jüdin­ nen sind, spricht dafür, daß es sich um Verfolgungsgründe i.S. des § 1 BEG handelt. Ohnehin hält es die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für den § 1 Abs. 1 BEG nicht für erforderlich, daß der Verfolgungsgrund das alleinige Motiv der Verfolgungshandlung war. Es genüge, daß der Verfolgungsgrund mitbestimmend für die Handlung der Verfolger war79. Dennoch wird auch die Auffassung vertreten, daß Maßnahmen gegen Angehörige der von Deutsch­ land besetzten Staaten im allgemeinen auf Gründen der Nationalität und nicht der Rasse etc. beruhtenso. Solchen sog. Nationalgeschädigten gewährte Art. VI des BEG-Schlußgesetzes einen Entschädigungsanspruch nur für dauerhafte Körper- oder Gesundheitsschäden, d.h. wenn die Erwerbsfähigkeit um minde­ stens 25 Prozent gemindert war und die Person am 1.10.1953 Flüchtling i.S. der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.7.1951 gewesen ist. Letztlich ist es aber gar nicht entscheidend, ob die Klägerinnen der Aus­ gangsverfahren Verfolgte i.S. des § 1 Abs. 1 BEG oder des Art. VI BEG­ Schlußgesetz sind, da weitere Vorschriften dieses Gesetzes seine Nicht­ anwendbarkeit zur Folge haben. § 4 BEG legt als Anspruchsvoraussetzung u.a. fest, daß der Verfolgte am 31.12.1952 seinen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich des BEG gehabt hat. Das ist bei keinem der Anspruchsstellerinnen in den ge­ nannten Verfahren der Fall (vgl. § 1 Abs. 1 Ziffer la BEG). Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen den darin liegenden Ausschluß be­ stimmter Verfolgter aus dem Kreis der Berechtigten, insbesondere unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes, bestehen nichtst. Eine Entschädigung aller vom NS-Regime Geschädigten kam vor dem Hintergrund der Finanzkraft der Bun­ desrepublik Deutschland, deren Gebiet ja auch nur einen Teil des Deutschen Reichs umfaßt, nicht in Frage; Beschränkungen waren unumgänglich. Wie diese vorzunehmen waren, stand weitgehend im Ermessen des Gesetzgeberss2. Es blieb im Rahmen dieses Ermessens, daß sich der Gesetzgeber dafür ent­ schied, Entschädigung grundsätzlich nur für die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Geschädigten zu leisten. In der DDR lebende Geschä79 Siehe BGH, RzW 1 957, 5 1 ; RzW 1 960, 262; RzW 1 964, 209 f. ; RzW 1 975, 264. 8 0 Siehe H. Giessler, Die Grundsatzbestimmungen des Entschädigungsrechts, in: Bundesmi­ nister der Finanzen in Zusammenarbeit mit W. Schwarz (Hrsg.), Wiedergutmachung national­ sozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, Bd. N, 1 981 , S. 1 9 f. m.w.N. 8 1 Dazu vgl. Giessler aaO, S. 52 ff. 8 2 Siehe BVerfG, NJW 1 970, 799; BVerfG, RzW 1 975, 24.

60

B. Ansprüche aus deutschem Recht

digte hätten eine Entschädigung von diesem Staat erwarten können. Verfolgte mit ausländischer Staatsangehörigkeit konnten sich an ihren Staat wenden, und dieser konnte gegen den deutschen Staat den Schaden als Reparation geltend machen. Nach allem beruhte das sog. persönliche Territorialitätsprinzip auf sachlichen Erwägungen und keineswegs auf Willkür. Art. 3 Abs. l GG ist nicht verletzt. § 238a BEG bestimmt, daß der Anspruch auf Entschädigung nach diesem Gesetz nur besteht, wenn der Berechtigte zum Zeitpunkt der Entscheidung sei­ nen Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt in Staaten hat, mit denen die Bun­ desrepublik Deutschland bei Inkrafttreten dieses Gesetzes oder am 1 . Januar 1963 diplomatische Beziehungen unterhalten hat. Das war bei einem Großteil der Staaten, denen ehemalige arbeiter zu diesem Zeitpunkt angehörten nicht der Fall. So erfolgte etwa die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel erst im Mai 1965, mit Rumänien im Juli 1967, mit Polen im September 1972 und mit Ungarn im Dezember 1973 . Schließlich sind nach Art. III Abs. 1 des BEG-Schlußgesetzes Anträge auf Entschädigung spätestens bis zum 30.9. 1966 zu stellen gewesen. Auch diesem Erfordernis genügen die Klägerinnen nicht. Ansprüche aus dem BEG stehen ihnen daher nicht zu.

IV. Ergebnis Damit ergibt sich abschließend, daß den Klägerinnen der Verfahren vor den Landgerichten Bremen und Bonn aus deutschem Recht - wenn man dieses denn überhaupt für anwendbar hält - Ansprüche auf Entschädigung nicht zu­ stehen. Auch insofern fehlt es daher für ein Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG an der Entscheidungserheblichkeit der von den Zivilgerichten vorgelegten Normen.

C. Anspruchsuntergang durch wirksamen Forderungsverzicht Ungeachtet des bisherigen Ergebnisses, daß den ehemaligen NS-Zwangsar­ beitern selbst weder aus Völkerrecht noch aus deutschem Recht Entschädi­ gungsansprüche zustehen, ist auch noch auf die Frage einzugehen, ob nicht die damaligen Heimatstaaten einer erheblichen Zahl Betroffener wirksame Ver­ zichtserklärungen abgegeben haben, die auch eventuelle Ansprüche der betrof­ fenen Personen selbst erfassen. Für diesen Zweck beschränkt sich die Untersu­ chung auf diejenigen Staaten, deren (ehemalige) Staatsangehörige gegenwärtig in den eingangs . erwähnten zivilgerichtlichen Verfahren Entschädigungs­ ansprüche geltend machen.

I. Verzichtserklärungen mit Wirkung gegen Privatpersonen Sowohl Ungarn und Rumänien als auch die Volksrepublik Polen haben mit Wirkung gegen ihre (damaligen) Staatsangehörigen den Verzicht auf etwaige Entschädigungsansprüche erklärt mit der Folge, daß derartige Ansprüche, selbst wenn sie denn als Individualansprüche je bestanden hätten, jedenfalls er­ loschen sind.

1. Verzicht durch Ungarn und Rumänien 1947 Ungarn und Rumänien haben in ihren sog. Nebenfriedensverträgen mit den Alliierten vom 10. Februar 1947 eine entsprechende Verzichtserklärung abge­ geben. Die - bis auf die Staatsbezeichnung - identischen Bestimmungen in Art. 30 Abs. 4 des Friedensvertrages mit Ungarn (FV Ungarn) und in Art. 28 Abs. 4 des Friedensvertrages mit Rumänien (FV Rumänien) lauten im englischen Originaltext: "Without prejudice to these and to any other dispositions in favour of Roumania/ Hunga­ ry and Roumanian/Hungarian national& by the Powers occupying Gennany,Roumania/ Hungary waives on its own behalf and on behalf of Roumanianlllungarian nationals all claims against Germany and Gennan nationals outstanding on May 8, 1 94S, except those arising out of contracts and other obligations entered into,and rights acquired,be-

62

C. Wirksamer Forderungsverzicht fore September 1, 1939. This waiver shall be deemed to include debls, all intergovem­ mental claims in respect of arrangements entered into in the course of the war and all claims for loss and damage during the war.•(Hervorhebung d.Verf.)

Die Verzichtserklärung war also nicht nur in sachlicher Hinsicht umfas­ send ("all claims"), sondern beanspruchte ausdrücklich auch Rechtswirkung gegenüber allen Personen, die zum damaligen Zeitpunkt die rumänische bzw. ungarische Staatsangehörigkeit besaßen. Da der Verzicht auf einen bestimm­ ten, in der Vergangenheit liegenden Zeitraum abzielte, kommt es für die Be­ stimmung seines personellen Anwendungsbereich darauf an, wer zum Zeit­ punkt des Inkraftretens der Friedensverträge am 15.9. 1947 die Staatsangehö­ rigkeit eines der verzichtenden Staaten besaß. Ein späterer Wechsel der Staats­ angehörigkeit ist für die Rechtswirkung des Verzichts ohne Belang.

a) Auslegung als Verzicht mit anspruchsvemichtender Wirkung

Die Verzichtsklauseln sollten die von ihnen erfaßten Ansprüche unmittel­ bar zum Erlöschen bringen und enthalten nicht etwa nur eine vorübergehende Sperre für ihre Geltendmachung. Dies ergibt sowohl der klare englische Wort­ laut als auch der Zweck der Verträge. Die englische Formulierung "to waive" bringt einen abschließenden Ver­ zicht auf die betroffenen Ansprüche und damit die Intention zum Ausdruck, diese mit Inkrafttreten der Verträge endgültig untergehen zu lassen. Dies wird bestätigt durch diejenigen Bestimmungen in den Friedensverträgen, die einen entsprechenden Verzicht gegenüber den siegreichen Alliierten enthalten und ebenfalls die Vokabel "waive" gebrauchent. Es ist kaum anzunehmen, daß die alliierten Vertragspartner eine nur vorübergehende Nichtgeltendmachung et­ waiger Ansprüche gegen sich selbst vereinbaren wollten; vielmehr findet sich in den meisten Verträgen eine ergänzende Klausel, die ausdrücklich klarstellte, daß der "waiver" gegenüber den allierten Mächten das vollständige und end­ gültige Erlöschen entsprechener Ansprüche zur Folge haben sollte2. War mit der Vokabel "waive" also die endgültige Verfügung über die erfaßten Ansprü­ che mit der Folge ihres Untergangs gemeint, so muß, da im Raltmen der Ver-

1 Vgl. Art. 30 Abs.l FV Rumänien, Art. 32 Abs.l FV Ungarn, Art. 76 Abs. l FV Italien, Art. 19(a) FV Japan, Art. 24 Abs. l österr. Staatsvertrag. 2 Vgl. Art. 30 Abs.2 S.l FV Rumänien, Art. 32 Abs.2 S.l FV Ungarn, Art. 76 Abs.2 S. l FV Italien; Art. 24 Abs.2 S. l österr. Staatsvertrag.

1. Verzichtserklärungen

63

tragsauslegung eine Vermutung dafür spricht, daß einer Formulierung inner­ halb einer einheitlichen Vertragsurkunde derselbe Bedeutungsinhalt zukommt, auch der "waiver" gegenüber Deutschland anspruchsvernichtende Wirkung be­ sitzen3. Dies entspricht im übrigen auch den erklärten Zwecken der Verzichtsklau­ seln in diesen sog. Nebenfriedensverträgen. Deren ratio war im wesentlichen eine zweifache, nämlich zum einen gegen ehemals mit dem deutschen Reich verbündete Staaten eine fühlbare Sanktion zu verhängen sowie zum anderen eine Privilegierung der Reparations- und Entschädigungsansprüche von Seiten der alliierten Siegermächte angesichts der beschränkten Wirtschaftskraft des besiegten Deutschland sicherzustellen.4. Dieser kombinierten Regelungsabsicht entspricht es, die Verzichtsklauseln so auszulegen, daß ihnen eine unmittelbar anspruchsvernichtende, quasi "dingliche" Wirkung zukommts.

b) Erfassung von Ansprüchen ohne direkten Bezug zum Kriegsgeschehen

Die Verzichtsklauseln in den Friedensverträgen mit Rumänien und Ungarn erfassen auch solche Ansprüche, die nicht unmittelbar sachlich mit dem Kriegsgeschehen in Verbindung stehen, wie eben etwa Entschädigungsansprü­ che wegen Verfolgungsmaßnahmen durch deutsche Behörden. Dies ergibt sich aus dem insoweit klaren Wortlaut der Verzichtsbestimmungen, die in ihrem klarstellenden Zusatz lediglich darauf abstellen, daß das anspruchsbegründen­ de Ereignis während des Krieges stattgefunden hat ("arising during the war")6,

3 So schon E. Menzel, Die Forderungsvenichtsklauseln gegenüber Deutschland in den Friedensverträgen von 1947, 1955, S. 10-16. 4 Vgl. zu dieser doppelten Zweckrichtung z.B. KG RzW 1967, 248 (249); Menzel aaO, S. 16-23; R. Groß, Zum Forderungsverzicht gegenüber Deutschland und den deutschen Staatsan­ gehörigen in den Friedensverträgen von 1947, DÖV 1966, 539 (541); R. BemhardJ, Rücker­ stattungsansprüche und die Verzichtsklausel des Ungarischen Friedensvertrages, RzW 1966, 481 (484). 5 Im Ergebnis ebenso z.B. H. Gurski, Die Forderungen der Verbündeten des Deutschen Reiches gegen deutsche Schuldner nach dem Londoner Schuldenabkommen, BB 1954, 909 (910); E. Feaux de Ja Croix, Betrachtungen zum Londoner Schuldenabkommen, in: Festschrift Bilfinger, 1954, S. 27 (65f.); Groß (Fn. 4), 542; E. Burchard, Der völkerrechtliche Verzicht des Staates auf Rechtsgüter seiner Staatsangehörigen im Ausland, Diss. 1970, S. 64f. ; B. Heß, Entschädigung für Zwangsarbeit im "Dritten Reich", JZ 1993, 606 (607, 608); aus der Rechtsprechung z.B. BGHZ 16, 207 (210) (FV Italien); KG, RzW 1965, 440, RzW 1966, 158 (159) und RzW 1967, 61 (FV Ungarn); LG München, NJW 1959, 2312 (österr. Staatsvertrag). 6 Vgl. Art. 28 Abs. 4 S.2 FV Rumänien, Art 30 Abs. 4 S.2 FV Ungarn.

64

C. Wirksamer Forderungsverzicht

dessen Dauer in den Bestimmungen selbst auf die Zeit zwischen dem 1 . 9. 1939 und dem 8.5. 1 945 festgelegt wird. Daß es für die Reichweite der Verzichtsklauseln nur auf den zeitlichen, nicht auf einen irgendwie gearteten sachlichen Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen ankommt, verdeutlicht ein Vergleich mit den entsprechenden Verzichtsbestimmungen für Ansprüche gegen die alliierten Mächte. Dort wer­ den die vom Verzicht erfaßten Ansprüche damit umschrieben, daß sie sich di­ rekt aus dem Krieg oder aus Maßnahmen ergeben, die infolge des Kriegszu­ standes in Europa ergriffen wurden ("arising directly out of the war or out of actions taken because of the existence of a state of war in Europe")7. Während hier offenbar ein sachlich-kausaler Bezug zu Kriegsgeschehen oder Kriegszu­ stand erforderlich ist, zeigt der deutliche Unterschied in der Formulierung, daß die Verzichtsklauseln gegenüber Deutschland nur voraussetzen, daß das schädigende Ereignis zwischen dem 1 . 9. 1 939 und dem 8.5. 1945 eingetreten ist. Dieser zeitliche Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg genügt also, damit ein etwaiger Anspruch vom ausgesprochenen Verzicht umfaßt ist, eine darüber hinausgehende kausale Verknüpfung mit Kriegshandlungen im engeren Sinne ist nicht erforderlichs. Auch etwaige Entschädigungsansprüche wegen erlitte­ ner Zwangsarbeit fallen damit unter die Verzichtsklauseln, sofern sie denn während der genannten Zeitspanne entstanden sind. Im übrigen hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen ausge­ sprochen, daß auch bei einer Verhaftung und einem anschließenden Einsatz zur Zwangsarbeit der - in den konkreten Fällen von Art. 5 Abs. 2 LSchA ge­ forderte - "typische innere Zusammenhang mit der Kriegsführung" bestehe9.

7 Vgl. Art. 30 Abs. 1 FV Rumänien, Art. 32 Abs. 1 FV Ungarn; ebenso z.B. Art. 76 Abs. 1 FV Italien, Art. 19(a) FV Japan, Art. 24 Abs. 1 österr. Staatsvertrag. 8 Ebenso z.B. KG, RzW 1965, 440 (unter ausdr. Aufgabe der frllheren, gegensätzlichen Rechtsauffassung, vgl. RzW 1960, 18 u. 143); Menzel (Fn. 3), S. 17 unten; K. Weiss, Die Auswirkungen des Forderungsverzichtes in den Friedensverträgen vom 10.2.1947 mit Italien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien auf Wiedergutmachungsansprllche, RzW 1963, 49(51). 9 Vgl. z.B. BGH RzW 1963, 525 (526); BGH VersR 1964, 637 f. ; BGH NJW 1973, 1549 (1550); ebenso z.B E. Feaux de la Croix(Fn. 3 zu A.), 2271, Fn. 21 .

1. Verzichtserklärungen

65

c) Erfassung von Ansprüchen verfolgter Personen

Die Verzichtsklauseln der Friedensverträge sind nicht dahingehend zu re­ duzieren, daß Ansprüche von Staatsangehörigen der verzichtenden Staaten, die selbst unter Verfolgungsmaßnahmen gelitten haben, nicht erfaßt würden. Der umfassende und nicht durch Ausnahmen eingeschränkte Wortlaut der vertraglichen Bestimmungen ("all clairns against Germany") läßt eine solche Auslegung nicht zulO. Auch die Verknüpfung der Verzichtserklärung mit den Ansprüchen "of Roumanian/Hungarian nationals" ist unbedingt formuliert und daher auf diese Personengruppen in ihrer Gesamtheit bezogen. Eine systematische Betrachtung der Bestimmungen bestätigt diese Ansicht. So ist in beiden Verzichtsregelungen (Art. 28 Abs. 4 FV Rumänien, Art. 30 Abs. 4 FV Ungarn) eine Beschränkung des Tatbestandes enthalten, nämlich eben die auf den Zeitraum der Anspruchsentstehung zwischen dem 1 . 9. 1939 und dem 8.5. 1945, ohne daß sich irgendein Hinweis auf eine materielle Ein­ schränkung des personellen Anwendungsbereichs der Normen findet. Der Ein­ leitungssatz, der den Verzicht unter den Vorbehalt anderweitiger Verfügungen von Seiten der alliierten Besatzungsmächte stellt ("Without prejudice . . . "), verweist lediglich auf außerhalb der Verträge noch zu treffende Anordnungen, enthält aber keinen Anhaltspunkt dafür, daß auch die Vertragsbestimmungen selbst einschränkend auszulegen sind. Schließlich ist auch der Satz 2 beider Normen, der jeweils den sachlichen Anwendungsbereich der Verzichtsklauseln umschreibt, umfassend formuliert, und zwar auch soweit er sich auf Schadens­ ersatzansprüche bezieht ("all claims for loss and damage"). Hätten die Ver­ tragspartner eine bestimmte Kategorie von Ansprüchen von der Verzichtswir­ kung ausnehmen wollen, so wäre ein entsprechender Hinweis zumindest in ei­ ner solchen klarstellenden Bestimmung zu erwarten gewesen; dies gilt umso mehr als in beiden Verträgen nur wenige ·Bestimungen zuvor Regelungen ent­ halten sind, die sich ausdrücklich auf die Wiedergutmachung für staatliche Verfolgungsmaßnahmen beziehen1 1 . Weiterhin zwingen auch Sinn und Zweck der Verzichtsklauseln nicht zu ihrer teleologischen Reduktion dergestalt, daß Ansprüche von Verfolgungs­ maßnahmen betroffener Personen davon ausgenommen sind. Zwar mag eine solche Einschränkung durchaus dem punitiven Charakter der Klauseln gegen­ über den Staaten Rumänien und Ungarn entsprechen. Doch verfolgten diese Bestimmungen, wie oben dargelegt, daneben auch den Zweck einer Privilegie10 Auf den "klaren und umfassenden Wortlaut" von Art. 30 Abs. 4 FV Ungarn wies z.B. auch das KG in seiner Entscheidung v. 3.2.1967 hin (RzW 1967, 248). 11 Vgl. Art. 25 FV Rumänien, Art. 27 FV Ungarn. 5 Randelzhofer / Dörr

66

C. Wirksamer Forderungsverzicht

rung alliierter Entschädigungsansprüche, der durch eine Erfüllung von An­ sprüchen verfolgter Privatpersonen durchaus hätte gefährdet werden können. Auch der teleologische Aspekt spricht somit nicht nur für die Annahme einer im Wortlaut nicht angelegten Lesart der Bestimmungen. Für den gegenteiligen Standpunkt beruft sich der eingangs erwähnte Vor­ lagebeschluß des LG Bremen1 2 pauschal auf eine Entscheidung des Obersten Rückerstattungsgerichts (ORG) in Berlin vom 6.12.196613. Aber schon einer Übertragung jener Rechtsprechung, die in der Tat die er­ wähnte teleologische Reduktion befürwortete, auf die gegenwärtig vor deut­ schen Zivilgerichten zur Entscheidung anstehenden Fälle stehen durchgreifen­ de Bedenken entgegen. Denn zum einen betraf die Entscheidung des ORG le­ diglich den Ausschluß ungarischer Staatsangehöriger von der deutschen Wie­ dergutmachungsgesetzgebung, in concreto von den Bestimmungen des Bun­ desrückerstattungsgesetzes, nicht aber die Geltendmachung allgemein­ zivilrechtlicher Ansprüche, über die Zivilgerichte zu entscheiden haben. Daß Wiedergutmachungsansprüche insoweit besonderen Regeln folgen, wird aus der Rechtsprechung des BGH ersichtlich, die Ansprüche nach dem Bundesent­ schädigungsgesetz ebenfalls aus den vertraglichen Verzichtsklauseln ausnimmt, dieses aber mit Art. 26 und Anlage VIII des Londoner Schuldenabkommens begründet14, nicht dagegen mit einer teleologischen Re­ duktion der Verzichtsklausel selbst. Zum anderen konnte das ORG eine Vertragsbestimmung, an die der unga­ rische Staat gebunden war, einschränkend auslegen im Hinblick auf Personen, die von Organen dieses Staates verfolgt worden waren1s. Demgegenüber geht es gegenwärtig um Personen, die von deutschen Verfolgungsmaßnaben betrof­ fen waren. Deren Relevanz für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertra­ ges, an dem Deutschland nicht beteiligt ist, ist nicht unmittelbar ersichtlich. Aber auch in der Sache selbst überzeugt die Begründung nicht, die das ORG für seine einschränkende Auslegung der Verzichtsklausel gab1 6. Das Ge­ richt gab vor, den "Willen der Vertragsparteien" der Friedensverträge erfor­ schen zu wollen, brachte für diesen aber keine wirklichen Belege. Stattdessen 12 Vgl. oben Fn. 1 sowie unter G I. 13 ORG/A/4168, RzW 1967, 57 ff.; bestätigt in ORG/A/4151 v. 20.3.1967, RzW 1 967, 293. 14 Vgl. BGH WM 1963, 1257 (FV Ungarn); anders noch, d.h. für den Ausschluß der Ansprüche auch verfolgter Personen BGH RzW 1 960, 553 (österr. Staatsvertrag). 15 Vgl. ausdr. ORG, RZW 1 967, 57 (59 r. Sp.). 16 Kritisch zur Argumentation des ORG z.B. auch KG RzW 1967, 248 ff.

I. Verzichtserklärungen

67

erging es sich in allgemeinen Ausführungen zur "historischen Gesamtsitua­ tion" und ließ den eigenen guten Willen weitgehend an die Stelle des erklärten Auslegungsziels, des im Vertragstext dokumentierten Regelungswillens der Vertragsparteien, treten. Auf diese Weise ermittelte das ORG nicht, was wirk­ lich vereinbart worden war, sondern was nach seiner Meinung hätte vereinbart werden sollen1 1 . Derselbe Einwand ist Bernhardt entgegenzuhalten, der im Rahmen eines Gutachtens ebenfalls die These einer einschränkenden Auslegung der Ver­ zichtsklauseln vertrat1s. Seine Argumentation erschöpfte sich allerdings im wesentlichen darin, daß eine Differenzierung zwischen verfolgten und nicht verfolgten Staatsangehörigen der verzichtenden Staaten "sinnvoll und nahelie­ gend" sowie "unter dem Gesichtspunkt der ausgleichenden Gerechtigkeit geboten" seit9. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß für die Auslegung eines völker­ rechtlichen Vertrages vorrangig sein Wortlaut und, wenn dieser unklar sein sollte, Systematik und Zweck des Vertrages sowie die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien heranzuziehen sind20 . Keiner dieser anerkannten Auslegungs­ topoi unterstützt die These von der Hinblick auf die Ansprüche verfolgter Pri­ vatpersonen einschränkende Auslegung der Verzichtsklauseln. Diese müssen daher nach ihrem klaren und umfassenden Wortlaut auch Ansprüche der in den Ausgangsverfallren geltend gemachten Art erfassen.

d) Berechtigung der Bundesrepublik Deutschland als Drittstaat

Die Bundesrepublik Deutschland kann sich auf die Bestimmungen der bei­ den hier einschlägigen Friedensverträge berufen, obwohl sie an ihnen nicht als Vertragspartei beteiligt ist. Dafür wurde in Rechtsprechung und Literatur zum Teil darauf abgestellt, daß die Verzichtsklauseln durch den Verweis in Art. 5 Abs. 4 des Londoner Schuldenabkommens innerstaatliches deutsches Recht geworden und daher von 17 So schon die Kritik des KG, RzW 1 967, 248. 1 8 BemhardJ (Fn. 4), 481 ff. 19 Ebd., 484. 20 Vgl. jetzt Art. 31 Abs. 1 und 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) v. 23.5. 1969; für den gewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Vorschriften vgl. nur den IGH in ICJ Reports 1 994, 6 (21), § 41 ( "Territorial Dispute ").

68

C. Wirksamer Forderungsverzicht

allen deutschen Staatsörganen zu beachten seien21 . Doch diese Konstruktion ist nicht nur im Hinblick auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Reziprozität sehr zweifelhaft, sie vermag auch nicht eine Privilegierung der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu Staatsangehörigen anderer Staaten zu erklären. Stattdessen wird man die Verzichtsklauseln als völkerrechtliche Verträge zugunsten Dritter anzusehen haben22, die seit langem als Rechtsfigur im Völ­ kervertragsrecht anerkannt waren23 und seit 1969 in Art. 36 WVK kodfiziert sind. Wegen des aus der souveränen Gleicheit der Staaten folgenden völker­ rechtlichen Konsensprinzips erzeugen Verträge zugunsten Dritter nur dann ihre intendierte Rechtswirkung, wenn der begünstigte Staat ihnen zustimmt. Sofern man nicht eine stillschweigende Zustimmung in den Jahren 1949-1953 annehmen will, hat die Bundesrepublik Deutschland sich mit den Verzichts­ klauseln der sog. Nebenfriedensverträge jedenfalls durch Unterzeichnung und Ratifizierung des Londoner Schuldenabkommens einverstanden erklärt, dessen Art. 5 Abs. 4 auf diese Verträge verweist. Spätestens seit Inkrafttreten des Abkommens am 16.9. 1953 ergibt sich also aus den Verzichtsklauseln ein eigener Rechtsanspruch der Bundesrepublik Deutschland, den sie auch ge­ genüber fremden Staatsangehörigen geltend machen kann. Zusammenfassend ergibt sich, daß Ungarn und Rumänien in den Friedens­ verträgen von 1947 auf Ansprüche ihrer damaligen Staatsangehörigen in einer Art und Weise verzichtet haben, die etwaige Entschädigungsansprüche wegen im Verlauf des 2. Weltkrieges erlittener Zwangsarbeit unmittelbar erlöschen ließ und der Bundesrepublik Deutschland das Recht gibt, sich selbst auf diesen Anspruchsuntergang zu berufen.

2 1 So z. B. BGHZ 1 9, 258 (263) (FV Italien); BGH WM 1 963, 1257 (1259) (FV Ungarn); ORG RzW 1 967, 57 (60) (FV Ungarn), B. Wol.ff, Grundsätze der internationalen Regelung der deutschen äußeren Vorkriegsschulden, NJW 1953, 1 409(1412); Gurski(Fn. 5), 910. 22 Ebenso z. B. KG RzW 1965, 440 (441 ); ital. Corte di Cassazione(Sez. un.), Riv.Dir.Int. 36(1953), 453(455); BemhardJ(Fn. 4), 482; Groß(Fn. 4), 540 f. 23 Vgl. nur die Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im "Freizonen/all" v. 7. 6. 1 932, PCD Series A/B, No. 46, S. 55 f.

1. Verzichtserklärungen

69

2. Verzicht durch die Volksrepublik Polen 1953 Die Volksrepublik Polen hat in einer Erklärung ihrer Regierung vom 23 . August 1 953 auf Reparationszahlungen von Deutschland verzichtet. Die einschlägigen Passagen der Erklärung lauten in der (amtlichen) deutschen Übersetzung: "Mit Rücksicht darauf, daß Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Repa­ rationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist und daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse seiner friedlichen Entwicklung liegt, hat die Regierung der Volksrepublik Polen den Beschluß gefaßt, mit Wirkung vom 1. Janu­ ar 1954 auf die 'Zahlung von Reparalionen an Polen zu venichlen, um damit einen wei­ teren Beitrag zur Lösung der deutschen Frage ... zu leisten •24. (Hervorhebung d. Verf. ) Die Gültigkeit dieser Erklärung hat die polnische Delegation anläßlich der Verhandlungen über den Warschauer Vertrag vom 7. 12. 1 970 ausdrücklich bestätigt2s .

a) Einseitige Erklärung mit Rechtsbindungswillen Diese Erklärung entfaltet als einseitiges Rechtsgeschäft völkerrechtliche Bindungswirkung. Es ist im Völkerrecht anerkannt, daß ein Staat sich an sei­ nen einseitigen Erklärungen festhalten lassen muß, wenn und soweit er sie öf­ fentlich und mit Rechtsbindungwillen abgegeben hat26 . Hier ergibt sich der Rechtsbindungswillen der polnischen Regierung nicht nur aus dem Wortlaut der Erklärung. Auch die Veröffentlichung in einem Pe­ riodikum, welches für amtliche Bekanntmachungen etc. benutzt wird, läßt auf einen solchen Willen ebenso schließen wie der historische Kontext. Dieser besteht insbesondere in einem Protokoll über den Erlaß der deut­ schen Reparationszahlungen, das am 22. 8 . 1953 , also nur einen Tag vor der 24 Zbi6r Dokumentow 1953, Nr. 9, S. 1830, 1831; insoweit auch wiedergegeben in BVerfGE 40, 141 (169). 25 Vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung zum Warschauer Vertrag, Bulletin der Bundesregierung 1970, S. 1818 (1819). 26 So z.B. der IGH in seinen Entscheidungen zu den "Nuclear Test Cases" v. 20. 12. 1974. ICJ Reports 1974, 253 (267) und 457 (472); "Nicaragua (Merits)", lCJ Reports 1986, 14 (132), § 261; "Fronlier Dispute (Burkina Faso v. Mali)", ICJ Reports 1986, 554 (573f. ), §§ 39 f. ; der Sache nach schon der StIGH zur sog. "Ihlen-Deklaration" im " Ostgrönland-Fall", PCU, Series NB, No. 53, S. 53 f. ; aus dem Schrifttum vgl. nur Verdross/Simma (Fn. 2 zu A.), S. 425 f. ; Berber (Fn. 8 zu A. ), S. 434 f.; /. Brownlie, Principles of Public International Law, 4. Aufl. 1990, S. 638 f. ; Rousseau (Fn. 42 zu A. ), S. 417 f.

70

C. Wirksamer Forderungsverzicht

polnischen Erklärung, vom sowjetischen Außenminister Molotow und dem Ministerpräsidenten der DDR, Grotewohl, in Moskau unterzeichnet wurde21 . Darin wurde u.a. vereinbart, daß die sowjetische Regierung "im Einverständ­ nis mit der Regierung der Volksrepublik Polen" die Reparationsentnahmen aus der DDR beenden würde. Weiterhin stellte die Sowjetunion ausdrücklich "Deutschland" von der Zahlung staatlicher Nachkriegsschulden frei. Aus der Wortwahl wie aus dem Zusammenhang des Protokolls, dessen Präambel mehr­ mals auf "Deutschland" Bezug nimmt, geht hervor, daß die Verzichtswirkun­ gen beiden Teilen Deutschlands zugute kommen sollten. Die zeitliche Nähe wie auch die offensichtliche inhaltliche Parallelität der polnischen Erklärung zu diesem Protokoll legen die Annahme nahe, daß die polnische Regierung eine völkerrechtlich verbindliche Verzichtserklärung ab­ geben wollte. Durch die Veröffentlichung der Erklärung ist für Polen eine völkerrechtli­ che Bindung eingetreten, von der es sich nicht mehr ohne weiteres autonom lösen kann und deren Reichweite Polen auch nicht einfach einseitig modifizie­ ren kann, ohne das schützenswerte Vertrauen des Begünstigten der Verzichts­ erklärung, der Bundesrepublik Deutschland, zu verletzen. Auch eine ehe Rücknahme oder Einschränkung des Verzichts würde im übrigen aber an sei­ ner Rechtswirkung nicht mehr ändern, da Polen in der Erklärung über die von ihr erfaßten Ansprüche quasi dinglich verfügt hat mit der Folge, daß diese mit Bekanntwerden der Erklärung eo ipso erloschen sind.

b) Erstreckung auf mögliche Forderungen von Privatpersonen

Die Verzichtserklärung bezieht sich nicht nur auf völkerrechtliche Ansprü­ che des polnischen Staates, sondern umfaßt auch die Wiedergutmachung von Schäden, die einzelne polnische Staatsangehörige durch Maßnahmen der deut­ schen Besatzungsmacht erlitten haben. Dies ergibt sich vor allem aus der weiten Fassung des - authentischen polnischen Wortlauts. Darin wird an zwei Stellen der Erklärung der Gegen­ stand des Verzichts mit dem Wort "odszkodowan" bezeichnet. Die Vokabel "odszkodowanie" bedeutet im Polnischen soviel wie Entschädigung, Vergü­ tung, Schadenersatz, Wiedergutmachung2s und stellt den allgemeinen zivil-

27 Text in EA 1953, 5974 f.

I. Verzichtserklärungen

71

rechtlichen Begriff in diesem Zusammenhang dar, der um einiges weiter ist als zum Beispiel die Vokabel "reparacje" , die mit Reparationen oder Kriegsent­ schädigung zu übersetzen wäre29. Ebenso eingeschränkt wird "odszkodowa­ nie" nur verstanden, wenn die Vokabel mit dem Zusatz "wojenne" versehen ist, die die Begrenzung auf die reinen Kriegsentschädigungen kenntlich macht. Auch im Englischen wird "odszkodowanie" alleinstehend allgemein übersetzt mit "compensation, damages, indemnity" , und nicht beschränkt auf den enge­ ren Bereich der Kriegsfolgen3o. In diesem (weiten) Sinne wurde die Vokabel zum Beispiel auch gebraucht im Friedensvertrag zwischen Polen, Rußland und der Ukraine vom 18. 3. 192131. In Artikel 8, der Verzichtsklausel jenes Vertrages, verzichteten die Parteien auf "r6wniez odszkodowania za straty wojenne", was in der engli­ schen Übersetzung durch das Sekretariat des Völkerbundes mit "indemnities for damages caused by the war" wiedergegeben wurde. Auch in diesem Fall sollte der Verzicht die den Staatsangehörigen der Parteien entstandenen Schä­ den umfassen, wie ein Zusatz in der Bestimmung selbst klarstellte ("that is to say, for damages caused to them or to their nationals ... "). Die Tatsache, daß die polnische Verzichtserklärung von 1953 nicht nur nicht den engeren Begriff "reparacje" gebrauchte, sondern "odszkodowan" und dies sogar ohne den auf den Kriegsfolgenbereich beschränkenden Zusatz "wojenne" , zwingt zu dem Schluß, daß bei Abgabe der Erklärung an eine wei­ te Fassung des Verzichts gedacht war, die auch Schäden von Privatpersonen miteinschließen sollte. Die Übersetzung mit "Reparationen" in der deutschen Fassung stellt zum einen keinen verbindlichen Wortlaut dar, zum anderen ist der Reparationsbe­ griff im Deutschen durchaus mehrdeutig. Teilweise wird der Begriff auch auf die Wiedergutmachungsansprüche von Einzelpersonen bezogen32, zum Teil aber auch ausdrücklich auf staatliche Er28 Vgl. Piprek/lppoldJ/Kachlak/W6jcik/W6itowicz, Großwörterbuch Polnisch-Deutsch, Band II, Leipzig 1 974, S. 85; Kalina, Handwörterbuch der polnischen und deutschen Sprache, 1 . Teil, 8. Aufl. 1956, S. 336. 29 Vgl. Großwörterbuch aaO, S. 510. 30 Vgl. Polish-English Dictionary of Legal Tenns, Polish Academy of Sciences, Institute of State and Law, Wroclaw etc. 1986, S. 58. 3 1 Text !n LNTS, vol. 6, 51 ff. , engl. Übersetzung ebd, 123 ff. 32 So z.B. im Hinblick auf Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit Dolzer, FAZ v. 27. 1 1 . 1 989, S. 9; ckrs. (Fn. 60 zu A.); BGH RzW 1963, 525 (526), BGH NJW 1973, 1 549

72

C. Wirksamer Forderungsverzicht

satzansprüche beschränkt33. Dieser Beschränkung des Reparationsbegriffes auf Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen "von Staat zu Staat" liegt aber die Auffassung zugrunde, daß alle Schäden, die Individualpersonen wäh­ rend eines Krieges erleiden, in dem völkerrechtlichen Reparationsanspruch ih­ res Heimatstaates aufgehen, so daß mit dessen Abgeltung oder Erlöschen stets auch alle individuellen Schadenspositionen erledigt sind34. Also führt auch das engere Verständnis des Begriffes "Reparationen" nicht dazu, daß Schäden und eventuelle Ansprüche Privater aus diesem Instrument der Kriegsfolgenbeseiti­ gung herausfallen. Daß im völkerrechtlichen Sprachgebrauch die Vokabel "Reparationen" so­ wohl staatliche als auch private Schäden umfaßt, machte auch die Regelung der Kriegsfolgen in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg deutlich, die grundsätzlich die Besiegten für den gesamten durch ihre Kriegshandlungen verursachten Schaden einstehen lassen wollte3s. Einen entsprechenden Begriffsinhalt besitzt auch das in völkerrechtlichen Instrumenten häufiger verwendete englische Wort "reparations", das regel­ mäßig ebenfalls die von Privatpersonen erlittenen Schäden umfaßt, auch wenn der eigentliche Reparationsausgleich nur auf zwischenstaatlicher Ebene statt­ findet. Beispiele dafür finden sich zum Beispiel in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg, die regelmäßig in englischer und französischer Sprache ge­ schlossen wurden. Die Friedensverträge mit Deutschland vom 28.6.1919 (Vertrag von Versailles), Österreich vom 10.9.1919 (Vertrag von St. Ger­ main-en-Laye) sowie mit Ungarn vom 4.6.1920 (Vertrag von Trianon) ent­ hielten übereinstimmend einen Teil VIII, der mit "Reparation" überschrieben war und dessen 1. Abschnitt jeweils auch die Schäden von Privatpersonen re­ gelte. So bezogen sich Art. 231 des Vertrages von Versailles, Art. 177 des (1 552); der Sache nach auch BGHZ 1 8, 22(26); BGH NJW 1 958, 1 390 (139 1 ); auch in Art. 5 Abs. 2 des Londoner Schuldenabkommens wird die "Reparationsfrage" erkennbar auch auf "Forderungen" von Staatsangehörigen der betroffenen Staaten bezogen.

33 So z.B. BVerwGE 35, 262 (263); Verdross (Fn. 42 zu A. ), S. 405; H. U.Granow, Ausländische Kriegsschädenansprüche und Reparationen, AöR 77 (1 951 ), 67 (71 ); H. Rumpf, Die deutsche Frage und die Reparationen, ZaöRV 33(1 973), 344(355 f. ); ders. , Die Regelung der deutschen Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg, AVR 23 (1985), 74 (94); Eichhorn (Fn. 61 zu A. ), S. 84. 34 So z. B. ausdrücklich Granow, aaO; in der Sache auch Rumpf, AVR 23(1 985), 96; Majer (Fn. 20 zu A.), 3, 1 6; Heß (Fn. 5), 607; Eichhorn (Fn. 61 zu A.), S. 78-81 ("Absorption des lndividualreparationsanspruchs "). 35 [. Seidl-Hohenveldern, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg. ), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1 961 , S. 337 (338); vgl. im übrigen sogleich zu "reparations" .

I. Verzichtserklärungen

73

Vertrages von St Germain und Art. 161 des Vertrages von Trianon ausdrück­ lich auf "loss and damage to which the Allies and Associated Governments am! their nationals have been subjected . . . " (Hervorhebung d. Verf.); die Art. 178 Abs. 2, Art. 232 Abs. 2 bzw. Art. 162 Abs. 2 enthielten die Verpflich­ tung zur Wiedergutmachung von "damage done to the civilian population of the Allied and Associated Powers and to their property" . Die Anlage I zu Teil VIII, 1 . Abschnitt der drei Verträge listete die unter die Reparationsverpflich­ tung fallenden zivilen Schadenspositionen auf; Ziffer 8 bezog sich dabei je­ weils auf den Schaden, der Zivilpersonen durch die Heranziehung zur Zwangsarbeit ohne angemessene Vergütung entstanden war. Der englische Begriff "reparations ", der in den deutschen Übertragungen der Verträge dann mit "Reparationen" übersetzt wurde, umfaßte also von An­ fang an auch die Zivilpersonen entstandenen Schäden, darunter auch solche aus der Verpflichtung zur Zwangsarbeit. Weitere Beispiele für den weiten Bedeutungsgehalt von "reparations" fin­ den sich dann in Verträgen nach dem 2. Weltkrieg. So enthielt etwa Art. 2 lit. A des Reparationsabkommens der Alliierten vom 14. 1 . 194636 die Vereinba­ rung der beteiligten Regierungen, daß ihre "respective shares of reparation . . . shall be regarded by each of them as covering all its claims and rhose of irs narionals against the former German Government ... " (Hervor­ hebung d. Verf.). Aus der nicht-vertraglichen Nachkriegspraxis ist vor allem das bekannte Gutachten des Internationalen Gerichtshofes zu nennen, das den Schadenser­ satzanspruch einer Organisation der Vereinten Nationen für die Tötung eines ihrer Bediensteten betraf37. Obwohl Gegenstand des Falles also die Schädi­ gung einer Privatperson und ihre Wiedergutmachung war, ging er nach seiner offiziellen Bezeichnung als "Reparations Case" in die Völkerrechtslehre ein. Das Klagebegehren Belgiens in dem als "Barcelona Traction"-Fall bekannt ge­ wordenen IGH-Urteil richtete sich ausdrücklich auf "reparation" durch Spani­ en für Schäden, die belgischen Staatsangehörigen angeblich entstanden wa­ ren3s. Diesem Sprachgebrauch entsprach es, daß die USA, als sie in einem 36 Agreement on Reparation from Germany, on the Establishment of an Inter-Allied Repara­ tion Agency and on the Restitution of Monetary Gold, abgedr. in: Deutsches Vermögen im Aus­ land, Internationale Vereinbarungen und ausländische Gesetzgebung, hrsg v. Bundesministerium der Justiz, 1 95 1 , S. 10 ff. 3 1 Reparations for Injuries Suffered in rhe Service of rhe Unired Narions, ICJ Reports 1949, 174 ff. 38 Vgl. ICJ Reports 1 970, 3 (13, 24, 26f.) sowie die Zusammenfassung durch den Gerichts­ hof auf S. 32 ( 28).

74

C. Wirksamer Forderungsverzicht

jüngeren Verfahren vor dem IGH von Italien eine Entschädigung für die finan­ ziellen Schäden zweier amerikanischer Unternehmen forderten, ausdrücklich einen Anspruch auf "reparation" geltend machten39. Gegenwärtig schließlich verlangt Bosnien-Herzegowina in einem Verfahren vor dem IGH von der "Fö­ derativen Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro)" "reparations for damages to persons and property .. . ", und zwar "in its own right and as pa­ rens patriae for its citizens"4o. Umfaßt der Begriff "reparations" bzw. "Reparationen" somit traditionell staatliche und private Schäden gleichermaßen, so konnte auch die Verwendung dieses Wortes in der Übersetzung der polnischen Verzichtserklärung keine Einschränkung des weiten polnischen Wortlauts mit sich bringen. Dieser muß daher für die Reichweite der Erklärung maßgeblich bleiben. Es ergibt sich also, daß auch die von polnischen Staatsangehörigen erlittenen Schäden und Nachteile von dem Verzicht der polnischen Regierung erfaßt sein sollten. Polen hat somit, ebenso wie Ungarn und Rumänien, in völkerrechtlich ver­ bindlicher Weise gegenüber Deutschland auf die Wiedergutmachung von Schäden seiner Staatsangehörigen aus der Zeit des 2. Weltkrieges verzichtet.

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen 1. Umfassende völkerrechtliche -Verfügun�befugnis der Staaten über die " Rechtspositionen" ihrer Staatsangehörigen Die vertraglichen Verzichtsklauseln wie die einseitige Verzichtserklärung waren völkerrechtlich wirksam in dem Sinne, daß sie unmittelbar zur "Erledi­ gung" der von ihnen erfaßten privaten Schadenspositionen, d.h. inbesondere zum Untergang etwaiger privater Anspruchspositionen führten; Dies ergibt sich sowohl dogmatisch aus der völkerrechtlichen Stellung des Individuums (a) als auch aus einer in der Staatenpraxis nachweisbaren gewohnheitsrechtli­ chen Verfügungsbefugnis der Staaten über die "Rechtspositionen" ihrer Staats­ angehörigen (b).

39 So der amerikanische Antrag in der mündlichen Verhandlung v. 16. 2. 1989 im Case Con­ zit. in ICJ Reports 1989, 15 (22), § 1 1 und 43, § 51. 40 Vgl. ICJ Reports 1993, 3 (7) und ICJ Reports 1993, 325 (329), jeweils unter (r).

ceming Elettronica Sicula S.p.A. (ELS/),

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen

75

a) Die "Mediatisierung" des Individuums im Völkerrecht

Auch das moderne Völkerrecht ist zunächst und ganz überwiegend eine Rechtsordnung zwischen souveränen Staaten. Die Entstehung von Rechtsnor­ men und die Zuerkennung von Völkerrechtsfähigkeit an andere Subjekte gehen letztendlich stets auf einen zwischenstaatlichen Gestaltungsakt zurück. Auch dem Einzelnen kommt im Völkerrecht eine eigene Rechtsstellung, d.h. eine partielle Völkerrechtssubjektivität und damit die Fähigkeit, Träger eigener, auf Völkerrecht beruhender Rechte zu sein, nur insoweit zu, als sich dies aus einer Vereinbarung zwischen souveränen Staaten oder aber aus einem durch sie geprägten Satz des Völkergewohnheitsrechts ableiten läßt. Auch heute noch ist dies eine eher seltene Erscheinung, den Hauptanwendungsfall bildet der moderne völkerrechtliche Menschenrechtsschutz (dazu unter 2.). Dementsprechend beruht das Gefüge der Völkerrechtsordnung nach wie vor auf einer grundsätzlichen "Mediatisierung" des Individuums durch seinen Heimatstaat. Menzel hat diese "mediäre Stellung des Staates" einst zu Recht als einen der "Eckpfeiler des modernen völkerrechtlichen Systems" bezeich­ net41, Hinsichtlich der Behandlung von Individuen kommt diese Mediatisie­ rung in den Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts zum Ausdruck, die einem Staat für den Umgang mit fremden Staatsangehörigen auf seinem Staats­ gebiet einen bestimmten Mindeststandard vorschreiben, woraus sich jedoch nicht Rechte der betroffenen Einzelpersonen selbst, sondern allein solche ihres Heimatstaates herleiten42 . Im Bereich des völkerrechtlichen Deliktsrechts wirkt sich diese Stellung nicht nur dadurch aus, daß einem Staat Handlungen seiner Staatsangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen als eigene Verletzungshandlungen zuge­ rechnet werden. Auch auf der "passiven" Seite des Delikts tritt der Staat an die Stelle seiner Angehörigen, so daß Verletzter einer Deliktshandlung und damit Gläubiger des daraus resultierenden Wiedergutmachungs- bzw. Entschä­ digungsanspruchs im Rechtssinne grundsätzlich allein der Heimatstaat des fak­ tisch unmittelbar betroffenen Individuums ist. Völkerrechtliche Unrechtshand­ lungen führen daher prinzipiell - von Verstößen gegen menschenrechtliche Ge­ währleistungen abgesehen - nur zu Wiedergutmachungsforderungen von Staa­ ten, nicht zu solchen einzelner Privatpersonen43 . Jan Brownlie drückt dies treffend folgendermaßen aus: 41 Menzel (Fn. 3), S. 3 1 . 42 Dazu statt aller Randellhofer (Fn. 5 6 zu A.), S . 41-43. 43 Ebenso z.B. K. Srrupp, Das völkerrechtliche Delikt, 1920, S. 31ff.; Verdross (Fn. 42 zu A.), S. 374f.; Verdross/Simma (Fn. 2 zu A.), S. 878f.; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. ill, 2. Aufl. 1977, S. 1 9f. ; /. Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, 7. Aufl. 1 992, Rdn. 1657;

76

C. Wirksamer Forderungsverzicht "Tue subject-maner of the claim is the individual and bis property; the claim is that of the state "44.

Die zwingende Konsequenz, daß der Staat mit der Geltendmachung der Ansprüche von einem eigenen Recht Gebrauch macht45, faßte der Internationa­ le Gerichtshof in seiner Entscheidung im "Barcelona Traction" Fall wie folgt zusammen: " . . . in inter-State relations, whether claims are made on behalf of a State's national or on behalf of the State itself, they are always the claims of the state"46.

Eine Dispositionsbefugnis über diese Ansprüche steht dann natürlich auch nur den Staaten als ihren Inhabern zu. In völkerrechtlichen Dokumenten, wie auch im wissenschaftlichen Schrift­ tum, wird dennoch häufig von der Verfügung der Staaten über "Forderungen" ihrer Staatsangehörigen gesprochen. Soweit es um die völkerrechtliche Rechts­ lage geht, handelt es sich hierbei strenggenommen aber in den allermeisten Fällen nur um eine Verfügung über Forderungen wegen einer Schädigung von Staatsangehörigen, die um der Klarheit willen auch "für" ("on behalf of") die eigenen Staatsangehörigen getroffen wird. Die Verknüpfung der Anspruchspo­ sitionen direkt mit den betroffenen Einzelpersonen ist daher in einem untech­ nischen Sinne zu verstehen, da faktisch sie es ja sind, die eine Wiedergutma­ chung für erlittene Schäden begehren. Nur in seltenen Ausnahmefällen wurde durch völkerrechtliche Vereinbarung - also einen zwischenstaatlichen Gestal­ tungsakt - Einzelpersonen eine echte autonome Rechtsstellung gegenüber ei­ nem anderen Staat als ihrem Heimatstaat eingeräumt. Beispiele dafür fanden sich etwa in den Friedensverträgen nach dem 1. Weltkrieg47. Von der völkerrechtlichen Ebene zu unterscheiden sind mögliche Ansprü­ che der geschädigten Einzelpersonen gegen den schädigenden Staat nach MqßOppenheim!Laurerpacht, International Law, vol. I, 8. Aufl., 19S5, S. 640; Rousseau (Fn. 42 zu A. ), T. V, 1983, S. 9f. ; L De/bez, Les principes generaux du droit international public, 1964, S. 37S; Granow (Fn. 33), 68f. ; Feaux de la Crob: (oben Fn. 8), 2268; Rumpf (Fn. 33), AVR 23 (1985), 94; H. Hahn (Fn. 60 zu A.), in: Festschrift Krause, S. 95; Eichhorn (Fn. 61 zu A. ), S. 78-81; so auch das "Landgericht" Tokio in seiner Entscheidung v. 7. 12.1963 über Ersatzansprüche wegen der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, abgedr. in ZaöRV 24 (1964), 711 (726-728). 44 BrOYVTIÜe (Fn. 26), S. 480. 45 So schon grundlegend der StIGH in 1he Mavrommaris Palesrine Concessions, PCU Series A, No. 2 (1924), S. 12; bestätigt in The Panevezys-Salduriskis Railway Case, Series A/B, No. 76 (1939), S. 16; ebenso z. B. ICJ Reports 1949, 174 (181f.), 19S5, 4 (24), 1970, 3 (4S). 46 ICJ Reports 1970, 3(46f. ), § 85. 47 Z.B. in Art. 92, 297 des Versailler Vertrages; dazu z. B. Eichhorn (Fn. 61 zu A. ), S. 74 f.

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklänmgen

77

gabe von dessen innerstaatlicher Rechtsordnung. Hier scheitert eine echte An­ spruchsposition nicht schon an der fehlenden Subjektsqualität.

Allerdings werden derartige Ansprüche im Rahmen der Kriegsfolgenbesei­ tigung von einigen wegen der "Exklusivität der völkerrechtlichen Be­ trachtung" abgelehnt4s. Selbst wenn man aber in Fällen der rechtswidrigen Schädigung Privater ei­ nen eigenen, "zivilrechtlichen" Wiedergutmachungsanspruch des geschädigten Individuums gegen einen fremden Staat für möglich hält, ergibt sich eine um­ fassende Dispositions-, d.h. insbesondere eine Verzichtsbefugnis seines Hei­ matstaates aus dessen Personalhoheit. Kraft dieses den Staat mit seinen Staats­ angehörigen verbindenden Gewaltverhältnisses unterliegen Individuen völker­ rechtlich der grundsätzlich umfassenden Herrschaftsgewalt ihres Heimatstaa­ tes, und zwar unabhängig von ihrem Aufenthaltsort. Grenzen dieser Herr­ schaftsgewalt ergeben sich lediglich aus der Territorialhoheit anderer Staaten, die jedoch beim Forderungsverzicht keine Rolle spielt, sowie aus den Regeln des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes (dazu unter 2.). Als Ausfluß der Personalhoheit ist jeder Staat grundsätzlich völkerrechtlich berechtigt, mit den Vermögensgütern seiner Staatsangehörigen nach Belieben zu verfahren, also Konfiskationen und Enteignungen vorzunehmen oder eben als Vermögensentzug "mit Außenwirkung" - einen Forderungsverzicht zu er­ klären. Dabei kann sich der Heimatstaat darauf beschränken, auf die Wahrneh­ mung seines diplomatischen Schutzrechts in bezug auf die fragliche Forderung zu verzichten ("Interventionsverzicht"), wodurch der rechtliche Bestand der privaten Forderung unberührt bliebe, oder er kann den vollen Verzicht auf den Anspruch mit der Folge von dessen Untergang erklären49. Prägnant hat diese Befugnis der britische Völkerrechtler Arnold D. umschrieben:

McNair

"lt appears !hat international law treats a State as being invested for international purpo­ ses witb complete power to affect by treaty tbe private rights of its nationals, whetber by disposing of tbeir property, surrendering tbeir claims, changing tbeir nationality or otberwise" 50.

48 Vgl. z.B. Feau.x de Ja Croix (Fn. 3 zu A.), 2269; Granow (Fn. 33), 7 1 ; H. Gurski, Kriegsforderungen, AWD 1 961 , 12 (14 f.). 49 Zu diesen beiden Varianten vgl. z.B. Menzel (Fn. 3), S. 31-34. 50 McNair, Legal Effects of War, 3. Aufl. 1 948, S. 391 .

78

C. Wirksamer Forderungsverzicht

Dieser Standpunkt entspricht, soweit er sich auf den Forderungsverzicht bezieht, der ganz h.M. im völkerrechtlichen Schrifttum51 sowie der deutschen Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht52. Die auf der völkerrechtlichen abgegebenen Verzichtserklärungen entfalten ihre Wirksamkeit in der Art, daß sich andere Staaten gegenüber den betroffe­ nen Individuen auf das Erlöschen der vom Verzicht umfaßten Forderungen be­ rufen können, und zwar auch dann. wenn es um Ansprüche auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts dieser Staaten geht. Der völkererchtliche Verzicht entfaltet auf diesem Wege eine quasi "privatrechtsgestaltende" Wirkung. Ob der Verzicht mit den innerstaatlichen Vorschriften des den Staates im Einklang stand und ob die Einzelperson gegen ihren Heimatstaat vielleicht einen Aus­ gleichs- oder Entschädigungsanspruch für die verlorene Forderung besitzt, ist für die Gestaltung der Rechtslage mit bindender Wirkung gegen das Individu­ um unerheblich.

b) Staatenpraxis

Diese dogmatische Herleitung der umfassenden völkerrechtlichen Verfü­ gungsbefugnis der Staaten über die Vermögensrechte ihrer Staatsangehörigen gegenüber anderen Staaten läßt sich auch durch Nachweise aus der Staatenpra­ xis belegen. Für diese Sichtung der internationalen Praxis macht es, soweit die Entschä­ digung wegen völkerrechtlicher Delikte betroffen ist, keinen Unterschied, ob das Entschädigungsverlangen von Privatpersonen im Einzelfall als echte An­ spruchsposition des einzelnen gegenüber einem fremden Staat angesehen oder ob die Verursachung privater Schäden nur als Entstehungsgrund für einen Er­ satzanspruch des Heimatstaates der betroffenen Individuen behandelt wurde. In keinem Fall ist, soweit ersichtlich, in der Staatenpraxis das Recht des Hei­ matstaates bestritten worden, auf den (möglichen) Entschädigungs- bzw. Wie­ dergutmachungsanspruch zu verzichten und ihn dadurch unmittelbar zum Erlö­ schen zu bringen.

51 Vgl. z.B. Dahm(Fn. 41 zu A.), S. 260; Berber(Fn. 43), S. 24; Verdross(Fn. 42 zu A.), S. 157 Fn. 1 u. S. 317; Verdross/Simma (Fn. 2 zu A.), S. 428 u. 817; Brownlie (Fn. 26), S. 505; BemhardJ(Fn. 4), 482; Groß(Fn. 4), 541; Burchard(Fn. 5), S. 84 f. ; Heß(Fn. 5), 607. 52 Vgl. z.B. BGH RzW 1960, 553 (554); BGH WM 1963, 1257 (1259); KG, OLGZ 1965, 207(208); wohl auch KG RzW 1965, 440.

II. Rechtswirksamkeit der Venichtserklärungen

79

Die internationale Praxis ist überreich an Beispielen für diese Dispositions­ befugnis der Heimatstaaten, nur von einigen derjenigen Fälle, in denen diese Befugnis ausdrücklich hervorgehoben oder von ihr Gebrauch gemacht wurde, kann hier die Rede sein. Dabei lassen sich die Verzichtsflille grob einteilen in Beispiele für den anspruchsvernichtenden ("echten") Verzicht (aa) und solche für einen reinen "Interventionsverzicht" (bb).

aa) Der "echte " Verzicht Ein frühes Beispiel für die Verzichtspraxis findet sich schon im Westfäli­ schen Frieden vom Oktober 1648. Art. II des Friedensvertrages von Osna­ brück zwischen Kaiser Ferdinand III. und Schweden sah nämlich unter ande­ rem vor: " . . . vielmehr sollen alle und jede hin und her, sowohl vor dem Kriege als auch im Krie,. ge, mit Worten, Schriften oder Taten zugefügten Beleidigungen, Gewalttaten, Feindse,. ligkeiten, Schäden und Unkosten ohne alles Ansehen der Personen oder Sachen derge,. stalt gänzlich abgetan sein, daß alles, was deshalb der eine vom andern fordern könnte, in immerwährendem Vergessen begraben sein soll "53.

Im Jahre 1884 brachte U.S. Außenminister Frelinghuysen die opinio iuris der Vereinigten Staaten hinsichtlich der Verzichtsfrage zum Ausdruck, als er erklärte, daß bezüglich der Ansprüche wegen der völkerrechtswidrigen Verlet­ zung von amerikanischen Staatsbürgern "govemment has full control; it may refuse to present, surrender or compromise them (seil. : the claims)"54. Dem­ entsprechend wurde in der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts auch nicht in Zweifel gezogen, daß ein Staat über Rechte seiner Untertanen gegenüber frem­ den Staaten wirksam verfügen konnte55. Von dieser völkerrechtlichen Befugnis machten die Staaten allein im Laufe des 20. Jahrhunderts in unzähligen Fällen Gebrauch. Naturgemäß boten vor allem die Friedensverträge nach den beiden Weltkriegen Anlaß für entspre­ chende zwischenstaatliche Vereinbarungen. Eine chronologische Auswahl ver­ traglicher Verzichtsklauseln seit dem Ende des 1. Weltkrieges soll dies veran­ schaulichen: 53 Zit. nach Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westflilischen Friedensverträge von 1 648, 2. Aufl., bearb. v. K. Müller, 1 966, S. 103 f. 54 Erklärung v. 1 1 .2. 1 884, zit. bei Moore, Digest of lnternational Law, vol. VI, S. 6 1 6 u. 101 5f. 55 So mit einigen Beispielen Burchard (Fn. 5), S. 60.

C. Wirksamer Forderungsverzicht

80

- Schon der Friedensvertrag zwischen Österreich-Ungarn und Finnland vom 29. 5.191856 enthielt in seinem Art. III eine Bestimmung, wie sie in vie­ len Verträgen dieser Art nach dem Ende des 1. Weltkrieges enthalten war. Darin hieß es: "Die vertragschließenden Teile verzichten gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten . .. sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden, das heißt derjenigen Nachteile, die ihnen und ihren Angehörigen in den Kriegsgebieten durch militärische Maßnahmen . . . entstan­ den sind".

Diese "Kriegsschädenklausel" setzte erkennbar die volle Dispositionsbe­ fugnis der Vertragsstaaten über das durch den Krieg eingetretene Schadenser­ eignis auch insoweit voraus, als es sich auf die Vermögensgüter ihrer Staatsan­ gehörigen erstreckte. - Bekannt wurden in der Folge vor allem die zahlreichen Verzichtsklauseln zu Lasten der deutschen Staatsangehörigen im Friedensvertrag von Versailles vom 28.6.1919 zwischen den alliierten Siegermächten und Deutschland (im folgenden: VV)57. Zum Beispiel verzichtete Deutschland in Art. 71 VV "on behalf of herself and her nationals" auf alle Rechte in bezug auf den Handel in Elsaß-Lothringen. In Art. 133 VV verzichtete Deutschland auf alle Rechte aus der Internierung und Repatriierung deutscher Staatsangehöriger, aus der Be­ schlagnahme deutscher Schiffe sowie aus der Liquidation und Sequestrierung deutschen Vermögens in China. Art. 137 VV enthielt den Verzicht Deutsch­ lands "on behalf of herself or her nationals" auf alle Ansprüche wegen ent­ sprechender Maßnahmen in Siam. In Anhang III, Ziff. 1 zu Teil VIII des Ver­ trages übereignete Deutschland an die Alliierten einen bestimmten Anteil der deutschen Handels- und Fischereiflotte, und zwar "on behalf of themselves and so as to bind all other persons interested". Ziff. 8 desselben Anhangs ent­ hielt den Verzicht Deutschlands auf jegliche Ansprüche ("all claims of any de­ scription") wegen des Festhaltens, der Benutzung, Beschädigung oder des Verlusts irgendeines deutschen Schiffes. In Art. 258 VV verzichtete Deutsch­ land auf alle Vertretungs- und Mitwirkungsrechte in Finanz oder Wirtschafts­ institutionen "accorded to her or her nationals" ; Art. 260 Abs.2 VV sah vor, daß Deutschland auf alle Rechte an öffentlichen Unternehmungen in bestimm­ ten Drittstaaten "on behalf of itself and its nationals" verzichten sollte. In der Schlußklausel des Art. 439 VV verzichtete Deutschland darauf irgendeine Geldforderung ("any pecuniary claim") aus Ereignissen vor Inkrafttreten des Friedensvertrages gegenüber den Alliierten geltend zu machen ("to put for­ ward"). Derartige Ansprüche "will be thenceforward extinguished, whoever 56 Zit. nach: G.Fr. v.Martens!H. Triepel, Nouveau Recueil General des Traites etc. , Troi­ sieme Serie, Tome XD (1 924), S. 1 5 f.

57 RGBI.

1 91 9, 687ft'. (No. 140); Martensffriepel aaO, Tome XI (1 923), S. 323ft'.

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen

81

may be the parties in interest" . Wegen des generalklauselartigen Zusatzes am Ende wird man auch etwaige "Ansprüche" deutscher Staatsangehöriger unter diese Bestimmung fassen können, deretwegen Deutschland also nicht nur sein diplomatisches Schutzrecht nicht mehr sollte ausüben können, sondern die darüber hinaus sogar eo ipso erlöschen sollten. - Weitgehend ähnliche Bestimmungen wies der Friedensvertrag von St. ­ Germain-en-Laye vom 10.9. 1919 zwischen den Alliierten und Österreich auf5s. In den Art. 43 , 1 12, 1 17, Anhang III, Ziff. 6 zu Teil VIII, Anhang VI zu Teil VIII, Art. 209 u.a.m. mußte auch Österreich direkt zu Lasten seiner Staatsangehörigen auf bestimmte Rechte verzichten, was in der Regel durch den Zusatz "pour elle et pour ses ressortissants" (Art. 43 , 1 12, Anhang VI zu Teil VIII) klargestellt wurde. Die Übereignung aller Handelsschiffe und Fi­ scherboote "appartenant aux ressortissants de l 'ancien Empire d'Autriche" fand sich auch hier in Anhang III, Ziff. 1 zu Teil VIII des Vertrages und wur­ de auch von Österreich "en son nom et de facon a lier tous autres interesses " abgegeben. Die allgemeine Schlußklausel in bezug auf alle Geldforderungen, "desormais eteintes quels qu'en soient les interesses" , war in Art. 377 des Vertrages von St. Germain enthalten. - Der Friedensvertrag, den die alliierten Siegermächte des 1 . Weltkrieges am 27. 1 1 . 1919 in Neuilly-sur-Seine mit Bulgarien schlossen59, wies als Ver­ zichtsklausel im eigentlichen Sinne lediglich in Art. 295 die schon bekannte Schlußbestimmung bezüglich aller Geldforderungen von bulgarischer Seite auf, die endgültig erlöschen sollten, "quels qu'en soient les interesses. " Darü­ ber hinaus enthielten zum Beispiel die Art. 172, 1 80 und 202 direktwirksame Verfügungen über Vermögensrechte bulgarischer Staatsangehöriger. Daß die Vertragsparteien es grundsätzlich für sich in Anspruch nahmen, über die pri­ vaten Rechtspositionen ihrer Staatsangehörigen zu verfügen, verdeutlicht auch ein Umkehrschluß aus Art. 1 8 1 des Vertrages von Neuilly. Dort wurde aus­ drücklich vereinbart, daß die Übertragung von Gebieten nach Maßgabe dieses Vertrages "ne porteront aucune atteinte aux droits prives vises dans les Traites de . . . " . Diese Abrede des Unberührtlassens zeigt, daß die Parteien der Auffas­ sung waren, sie hätten auch anders gekonnt . . . - Die Verzichtsklauseln im Friedensvertrag Trianon mit Ungarn vom 4.6. 192060 waren mit denjenigen in den Verträgen von Versailles bzw. St. Ger­ main weitgehend identisch. Die relevanten Bestimmungen zu Lasten ungari58 Österr. StGB!. 1920, 995ff.

59 Hier zitiert nach Martens!Triepel aaO, Tome XII, S. XII, S. 423ff.

60 Martens/friepel aaO, Tome 6 Randelzhofer / Dörr

323ff.

82

C. Wirksamer Forderungsverzicht

scher Staatsangehöriger finden sind hier in Art. 96, 101, Anhang III, Ziff. 1 und 7 zu Teil VIII, Anhang VI zu Teil VIII, Art. 192 und 360. - Im Friedensvertrag zwischen Rußland und Estland vom 2.2. 1920 hieß es in Art. 8, daß die Parteien gegenseitig ihre Ansprüche aufgeben ("mutually surrender their claims") auf Ersatz von Kriegskosten und -verlusten, die mit dem ausdrücklichen Zusatz umschrieben wurden: "those caused to the State or to individuals"6t . - Einen gegenseitigen Anspruchsverzicht ("mutually abandon all claims") enthielt auch Art. 8 des Friedensvertrages zwischen Polen, Rußland und der Ukraine vom 18.3.192162, Auch hier sollte sich der Verzicht ausdrücklich auf Schäden beziehen, die den Vertragsparteien selbst oder ihren Staatsangehöri­ gen zugefügt worden waren ("damages caused to them or to their nationals"). - Ganz ähnlich war die Verzichtsklausel im deutsch-russischen Vertrag von Rapallo vom 16.4.1922 formuliert63. Zunächst verzichteten beide Parteien ge­ genseitig auf den Ersatz von Kriegskosten und -schäden sowie auf den Ersatz von "Zivilschäden", die ihren Staatsangehörigen durch sog. Kriegsausnahme­ gesetze oder durch Gewaltmaßnahmen der jeweils anderen Seite entstanden waren (Art. 1 Buchst. a). Weiter verzichtete Deutschland auf die Ansprüche, die sich aus der Anwendung bestimmter russischer Gesetze "auf deutsche Reichsangehörige oder ihre Privatrechte" ergaben (Art. 2). - Es folgte der Friedensvertrag von Lausanne vom 24.7.1923 zwischen dem britischen Empire, Frankreich, Italien, Japan etc. auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen64. In Art. 58 verzichteten beide Seiten gegenseitig auf alle Geldansprüche für Verluste und Schäden, die die Staaten selbst oder ihre Angehörigen, einschließlich der juristischen Personen, erlitten hatten ("pour les pertes et dommages subis par la Turquie et ledites Puissances ainsi que par leurs ressortissants (y compris les personnes morales)"). Art. 59 ent­ hielt den türkischen Verzicht auf alle Reparationsansprüche gegen Griechen­ land. In Art. 111 verzichtete die Türkei "en son propre nom et au nom de ses ressortissants" auf alle Rechte oder Privilegien in bezug auf bestimmte Kabel­ leitungen.

61 Text in LNTS, vol. 1 1 , S. 51 (61). 62 Text in LNTS, vol. 6, S. 51 (66); engl. Übers. ebd. S. 123 (137). 63 Text in RGBI. 1922 11, 677 f. 64 Text in LNTS, vol. 28, S. 1 3 ff.

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen

83

- Die deutsch-polnische Übereinkunft vom 31.10.192965, die als sog. Li­ quidationsübereinkommen bekannt geworden ist, enthielt unter II. ebenfalls eine Verzichtsklausel. Darin erklärte die deutsche Regierung "den Verzicht auf alle mit dem Kriege oder dem Friedensvertrag in Zusammenhang ste­ henden Forderungen finanzieller oder vermögensrechtlicher Art sowohl des Staates wie seiner Staalsangehörigen - natarlicher und juristischer Personen - ... • (Hervorhebung d. Verf.). Nach einer Bestimmung über Forderungen Polens und polnischer Staatsan­ gehöriger folgte die Klarstellung, daß "die gegenwärtigen Erklärungen einen vollständigen und endgültigen Verzicht auf die obenerwähnten Reklamationen dar(stellen), gleichviel wer daran beteiligt ist". Daß in diesem Fall nicht nur an einen Verzicht auf die Geltendmachung privater Forderungen im Wege des diplomatischen Schutzes, sondern an einen direlctwirksamen Anspruchsver­ zicht mit Erlöschensfolge, zeigt sich auch am deutschen Durchführungsgesetz zu diesem (und anderen) Abkommen. In Art. III des Gesetzes über die Ab­ kommen zur Regelung von Fragen des Teils X des Vertrages von Versailles vom 18.3.193066 war eine angemessene Entschädigung vorgesehen für "Reichsangehörige , die durch die deutsch-polnische Übereinkunft . . . einen unmittelbaren Vermögensnachteil erleiden". - Im sog. "Litwinow-Abkommen" vom 16.11.1933 verfügte die Sowjet­ union über in den USA befindliche russische Vermögenswerte und Ansprüche, aus denen amerikanische Staatsbürger für erlittene Konfiskationsverluste ent­ schädigt werden sollten; erfaßt waren davon auch Vermögensgüter russischer Privatleute67. In diesem Zusammenhang sprachen die Beteiligten ausdrücklich von einem "final settlement of ... the claims of their nationals" ; gleichzeitig erklärte die sowjetische Regierung im Hinblick auf frühere amerikanische Militäroperationen in Sibirien "that it will waive any and all claims of whatso­ ever character ... and that such claims shall be regarded as finally settled and disposed of by this agreement"68. Ein ähnliche Praxis wie nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sich in bezug den Verzicht auf Wiedergutmachungs- und andere Ansprüche auch nach dem Ende des 2. Weltkrieges.

65 RGBI. 1930 11, 549 f. 66 RGBI. 1930 II, 539 (540). 61 Burchard (Fn. 5), S. 61 f. 68 Texte des gesamten Notenwechsels in AJIL 28 (1934) Suppl., S. 10-1 1 . 6•

84

C. Wirksamer Forderungsvenicht

- Hier ist vor allem zu verweisen auf die oben unter 1.1 behandelte Ver­ zichtsklausel, die in identischer Form in den sog. Nebenfriedensverträgen von 1947 mit Ungarn (Art. 30 Abs. 4), Rumänien (Art. 28 Abs. 4), Bulgarien (Art. 26 Abs. 4) und Italien (Art. 77 Abs. 4) enthalten war. Neben diesen Be­ stimmungen, die sich ausschließlich auf Ansprüche gegen Deutschland und deutsche Staatsangehörige bezogen, wiesen alle genannten Verträge auch eine Klausel zugunsten der allierten Siegermächte auf, denen gegenüber die betrof­ fenen Staaten ebenfalls für sich und für ihre Angehörigen auf alle kriegsbe­ dingten Ansprüche verzichteten (z.B. Art. 32 Abs: 1 FV Ungarn, Art. 30 Abs. 1 FV Rumänien, Art. 76 Abs. 1 FV Italien) - Eine Entsprechung fanden diese Vereinbarungen im Friedensvertrag der Alliierten mit Japan vom 8.9.195169, In Art. 19 (a) des Vertrages verzichtete Japan auf alle kriegsbedingten Ansprüche "of Japan and its nationals" gegen die alliierten Mächte und ihre Angehörigen. Art. 19 (c) enthielt den grund­ sätzlichen Verzicht "on behalf of the Japanese Government and Japanese natio­ nals" auf alle Ansprüche gegen Deutschland und deutsche Staatsangehörige. In Art. 14 (b) des Vertrages verzichteten sogar die alliierten Mächte ihrerseits vorbehaltlich der zuvor im einzelnen aufgeführten Wiedergutmachungsver­ pflichtungen Japans - unter anderem auf Ansprüche "of the Allied Powers and their nationals" , die aus Handlungen Japans oder japanischer Staatsangehöri­ ger während des Krieges hätten entstanden sein könnten. - In Art 3 des deutsch-schweizerischen Ablösungsabkommens vom 26.8. 195210 erklärte die Bundesrepublik Deutschland für deutsche Eigentümer von Vermögen in der Schweiz, daß diese auf einen bestimmten Teil ihres Vermö­ gens "verzichten" . In Art. 10 Abs. 3 verzichtete die Bundesrepublik Deutsch­ land "für sich und ihre Staatsangehörigen" auf bestimmte Ansprüche gegen die Schweiz sowie gegen ihre Staatsbürger. In Abs. 1 derselben Vorschrift ver­ sprach die Bundesrepublik, "für sich und für ihre Staatsangehörigen" gegen die Umwandlung deutscher Werte in der Schweiz "keine Einwendungen ir­ gendwelcher Art" zu erheben7t .

69 Zitiert nach: F.L. Israel (ed.), Major Peace Treaties of Modern History, vol. N (1967), S. 2641 ff. 70 Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenos­ senschaft über die deutschen Vermögenswerte in der Schweiz, BGBJ. 1953 II, 17 ff. 71 Diese letztere Bestimmung legte das Bundesverfassungsgericht zunächst im Sinn eines reinen Verzichts auf die Gewährung diplomatischen Schutzes aus, schien jedoch bereit zu sein, die weitergehende Lesart des schweizerischen Bundesgerichts ebenfalls - verfassungsrechtlich zu akzeptieren, vgl. BVertGE 6, 290 (299 f.).

II. Rechtswirksamkeit der Vertichtserklärungen

85

- Auch das Londoner Schuldenabkommen vom 27 .2. 195372 wies zumin­ dest "verzichtsähnliche" Bestimmungen auf. Denn auch die Vereinbarungen in Art. 5 Abs. 2 und 3 , die sich beide auch auf Ansprüche von Staatsangehörigen der betroffenen Staaten bezogen, nahmen eine Dispositionsbefugnis über diese privaten Rechtspositionen insoweit in Anspruch, als sie sie bis zur Regelung der Reparationsfrage "zurückstellten" . - Verzichtsklauseln ähnlich denjenigen in den sog. Nebenfriedensverträgen von 1 947 enthielt auch der österreichische Staatsvertrag vom 15.5. 1 95573. In Art. 23 Abs. 3 verzichtete Österreich "im eigenen Namen und in Namen der österreichischen Staatsangehörigen" auf alle Forderungen gegen Deutschland und deutsche Staatsangehörige, in Art. 24 Abs. 1 dann auf alle Ansprüche irgendwelcher Art gegen die Alliierten und Assoziierten Mächte. - Es folgte am 19. 10. 1956 ein Übereinkommen zwischen der Sowjetunion und Japan, in dessen Ziffer VI nicht nur die UdSSR auf alle Reparationsan­ sprüche gegen Japan, sondern beide Seiten "gegenseitig auf alle Ansprüche ih­ res Staates, seiner Organisationen und Bürger gegen den anderen Staat, dessen Organisationen und Bürger . . . " verzichteten74. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg gelangte auch die Praxis der Globalent­ schädigungsabkommen ("lump sum agreements")75 zur vollen Entfaltung, in denen Staaten regelmäßig gegen die Zahlung eines pauschalen Geldbetrages die Erledigung von Ansprüchen (auch) ihrer Staatsangehörigen erklärten oder auf diese ausdrücklich verzichteten. Auf einige plastische Beispiele für diese Abkommenspraxis sei hier hingewiesen. - Am 19.7. 1948 schlossen die USA mit Jugoslawien einen entsprechenden Vertrag76, in dessen Art. 1 (a) es unter anderem hieß, daß die Zahlung des vereinbarten Geldbetrages, zu der sich Jugoslawien verpflichtete, "in füll dis­ charge of all claims of nationals of the United States against the Govemment of Yugoslavia" wegen der dortigen Enteignungsmaßnahmen erfolgen solle. Auch diese Vereinbarung der endgültigen Erledigung privater Ansprüche ff. ; zu den Rechtswirkungen dieses Abkommens näher unter D. 73 Text z.B. in UNTS, vol. 217, S. 223 ff. ; österr. BGBI. 1955, 726 ff. 74 Text in EA 1956, 9287 f. 75 Dazu statt aller R.B. Ullich, in : Encyclopedia of Public International Law, Inst. 8, 72 BGBI. 1953 II, 331

367-372.

1985,

76 Agreement between the Govemments of the United States of America and the Federal People's Republic of Yugoslavia regarding Pecuniary Claims of the United States and its natio­ nals, UNTS , vol. 89, S. 43 ff.

86

C. Wirksamer Forderungsverzicht

durch eine zwischenstaatliche Pauschalzahlung muß als impliziter Verzicht auf derartige Ansprüche von Seiten der USA angesehen werden. Nach demselben Muster schlossen die USA eine ganze Reihe von "lump sum agreements" zur Erledigung vermögensrechtlicher Ansprüche ab77. - Einen ähnlichen Vertrag schlossen am 11.11.1954 das Vereinigte König­ reich und Polen1s. Auch hier war vorgesehen, daß die Zahlung einer verein­ barten Summe "shall be in full and final settlement of claims in respect of Bri­ tish property" (Art. 1 Abs.1, lit.a), welches weiter unten im Vertrag aus­ drücklich als privates Eigentum definiert wurde (Art. 4 Abs. l , lit.b). Zur Klarstellung erklärte die britische Regierung noch in Art. 5 des Vertrages "on their own behalf and on behalf of British nationals" , that the conclusion of the present Agreement and compliance by the Polish Government with its terms shall be accepted in full satisfaction and final discharge of all liability to Bri­ tish nationals . . . " . - In Art. 15 des deutsch-niederländischen Finanzvertrages vom 8.4.196079 verzichtete die Niederlande im Hinblick auf die vereinbarte Zahlung eines pauschalen Geldbetrages durch die Bundesrepublik Deutschland auf bestimmte Forderungen, zu denen auch solche niederländischer Staatsangehöriger wegen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen gehörten (Art. 15 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Ziff. 2 des Vertrages). Allerdings sollten die Ansprüche von Privatpersonen aufgrund der deutschen Wiedergutmachungs- und Kriegsfol­ gengesetzgebung ausdrücklich unberührt bleiben. - Am 19.12.1974 kam es zu einem Globalentschädigungsabkommen zwi­ schen Österreich und der Tschechoslowakeiso, das ebenfalls die "globale und endgültige Erledigung" von Ansprüchen Österreich sowie "österreichischer physischer und juristischer Personen" wegen der Verstaatlichungsmaßnahmen in der CSSR zum Gegenstand hatte (Art.1). Darin verzichtete die CSSR auf vermögensrechtliche Ansprüche gegen Österreich und überließ der Republik Österreich "im eigenen Namen sowie im Namen tschechoslowakischer physi­ scher und juristischer Personen" alle in Österreich gelegenen Vermögenschaf­ ten, Rechte und Interessen (Art. 3 Abs.1). Durch die vereinbarten Leistungen sollten die CSSR und ihre Staatangehörigen von allen Verpflichtungen gegen77 Z.B. mit Rumänien am 30.3.1960(AJIL 54(1960), 742; TIAS No. 4451); mit Polen am 16. 7. 1960(AJIL 55 (1961), 540); mit Bulgarien am 2. 7. 1963 (TIAS No. 5387); mit Ungarn am 6. 3. 1973(TIAS No. 7569), mit Peru am 19.2. 1974(AJIL 68(1974), 583). 78 Text in BFSP 161(1954), 147 ff.

79 BGBI. 1963 D, 629(634). 80 Text in österr. BGBI. 1 975, 1965(Nr. 451 ).

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen

87

über Österreich und "österreichischen physischen und juristischen Personen" befreit werden (Art. 5). - Verzichtserklärungen in bezug auf Ansprüche von Staatsangehörigen auf Entschädigung o.ä. waren auch in bilateralen Verträgen enthalten, die die DDR in den achtziger Jahren mit einigen Staaten zum Ausgleich der staatli­ chen Zwangsmaßnahmen in bezug auf ausländisches Vermögen in der DDR abgeschlossen hatte. Diese Verträge folgten alle dem bekannten Muster, wo­ nach die DDR sich zur Zahlung eines bestimmten Geldbetrages an den staatli­ chen Vertragspartner verpflichtete, mit deren Vollziehung alle vermögens­ rechtlichen Ansprüche, und zwar ausdrücklich auch solche von Staatsbürgern der Vertragspartner, erledigt sein sollten. Allerdings ist die genaue Rechtswirkung, die dieser "Erledigung" jeweils beigelegt wurde, in den einzelnen Verträgen offensichtlich unterschiedlich ge­ regelt worden. Im Abkommen mit der Republik Finnland zur Regelung ver­° mögensrechtlicher und finanzieller Fragen vom 3 . 10. 1 98481 hieß es in Art. 6 , daß mit der vollständigen BezalJlung der vereinbarten Summe durch die DDR alle vorher bezeichneten Ansprüche (u.a. solche "von Staatsbürgern und juri­ stischen Personen der Republik Finnland) "endgültig geregelt und erloschen" seien. Hier ergibt sich eine "dingliche" Vernichtung der erfaßten Rechtsposi­ tionen bereits aus dem klaren Wortlaut. Demgegenüber findet sich in anderen Verträgen mit gleicher Zielrichtung die zunächst zweideutige Vereinbarung, daß alle offenen vermögensrechtlichen Ansprüche "endgültig geregelt"82 oder auch "abschließend und endgültig geregelt" seiens3. Den drei zuletzt genannten Vertragsbestimmungen war jeweils die überein­ stimmende Vereinbarung beigefügt, daß keine der Parteien durch das jeweilige Abkommen geregelte Ansprüche "gegenüber dem anderen Abkommenspartner erheben oder in irgendeiner Art unterstützen" werde. Somit spricht die syste­ matische Auslegung dafür, daß in diesen drei Fällen die Gegenleistung für die GeldzalJlung von Seiten der DDR lediglich in einem Verzicht auf die diploma­ tische Geltendmachung der betroffenen Privatansprüche bestand. Dem ent8 1 Text bei Fieberg/Reichenbach/MesserschmidJ/SchmidJ-Riintsch, Vermögensgesetz. Kom­ mentar (Loseblatt), Stand: Dezember 1993, Anh II 4. 82 So z.B. in Art. 6 Abs. 1 des Abkommens zur Regelung vermögensrechtlicher Fragen mit dem Königreich Schweden v. 24. 10. 1986, abgedr. bei Fieberg/Reichenbach aaO, Anh. II S; ebenso in Art. 7 des Vertrages zur Regelung offener vermögensrechtlicher Fragen mit der Repu­ blik Österreich v. 21.8. 1987, österr. BGB!. 1988, 1887f. (Nr. 188); Fieberg/Reichenbach aaO, Anh. II 6. 83 So z:B. in Art. 6 Abs. ! des Abkommens zur Regelung vermögensrechtlicher und finan­ zieller Fragen mit dem Königreich Dänemark v. 3. 12. 1987, abgedr. bei Fieberg!Reichenbach aaO, Anh. II 7.

88

C. Wirksamer Forderungsverzicht

spricht ein Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, welches Art. 7 des zwischen der DDR und Österreich geschlossenen Vennögensvertrages als reinen "Interventionsverzicht" ausgelegt hat (ohne allerdings die grundsätz­ liche Möglichkeit einer weitergehenden völkerrechtlichen Vereinbarung in Abrede zu stellen!)84. - Schließlich sei aus der jüngsten Zeit noch genannt das Abkommen zwi­ schen der Bundesrepublik Deutschland und den USA über die Regelung be­ stimmter Vennögensansprüche v. 1 3 . 5 . 1 99285. Auch hier wurde die pauschale Zahlung eines Geldbetrages - in diesem Falle von Seiten der Bundesrepublik Deutschland - vereinbart, die die von U.S. Staatsangehörigen in der DDR er­ littenen Vennögensverluste ausgleichen sollte. Für diejenigen der davon be­ troffenen Privatleute, die an der innerstaatlichen Verteilung der gezahlten Summe durch die U . S . Regierung beteiligt sein wollen, bedeutet diese Zah­ lung gemäß Art. 3 Abs. 9 des Abkommens wiederum ein "füll and final settle­ ment and discharge " ihrer privaten Rechtspositionen.

bb) Als Gegensatz: der reine "Interventionsverzicht "

Daß es bei den aufgeführten Vertragsklauseln um den - quasi dinglichen Anspruchsverzicht mit Untergangsfolge ging, und nicht nur um die Nichtgel­ tendmachung des diplomatischen Schutzrechts durch den zuständigen Heimat­ staat, ergibt sich aus deutlichen Fonnulierungsunterschieden im Vergleich zu Vereinbarungen, die eben gerade nur einen derartigen eingeschränkten "Inter­ ventionsverzicht" enthielten. So hieß es etwa in Ziff. 2 des Anhangs zu Teil X, Abschnitt IV des Ver­ sailler Vertrages, daß "No claim or action shall be made or brought against any Allied or Associated Power . . . by Germany o r by any German national wherever resident in respect o f any act o r omis­ sion with regard to bis property, rights or interests during the war or in preparation of the war. " Mit dieser Vorschrift stimmten überein jeweils Ziff. 2 des Anhangs zu Teil X, Abschnitt IV der Verträge von St. Gennain und Trianon sowie § 2 des An­ hangs zu Teil IX, Abschnitt IV des Vertrages von Neuilly. Einen ähnlichen Klageverzicht enthielten für den Bereich der gewerblichen Schutzrechte über84 Urteil v. 25.6. 1 992, RIW 1 993, 1027. 85 BGB!. 1 992 II, 1223.

II. Rechtswirksamkeit der Venichtserklärungen

89

einstimmend z.B. Art. 306 III und 309 des Versailler Vertrages, Art. 258 III und 261 des Vertrages von St. Germain, Art. 190 III und 192 des Vertrages von Neuilly, Art. 241 III und 244 des Vertrages von Trianon sowie in ähnli­ cher Form Art. 88 des Friedensvertrages von Lausanne. Ein besonders deutliches Beispiel für einen reinen "Interventionsverzicht" nach Ende des 1 . Weltkrieges lieferte der Friedensvertrag zwischen Lettland und Rußland vom 1 1. 8. 1920, in dessen Art. 5 sich die Parteien gegenseitig verpflichteten, keinen Kriegskostenersatz voneinander zu verlangen ("mutually undertake not to claim the expenses of the war from each other"), worunter ausdrücklich auch die den Staaten sowie den einzelnen zugefügten Schäden verstanden wurden86. Nach dem 2. Weltkrieg fand sich ein ähnlich klares Beispiel, das sich aller­ dings auf das Verhältnis der Alliierten untereinander bezog, in Art. 3 des Pari­ ser Reparationsabkommens vom 14. 1. 194687. Um eine einheitliche Verteilung der von Deutschland geforderten Reparationen zu gewährleisten, sah die Be­ stimmung vor, daß jede der Vertragsparteien darauf verzichtet, Ansprüche in bezug auf deutsches Vermögen zu verfolgen oder zu unterstützen: "Each of the Signatory Govemments agrees that it will not assert, initiale actions in in­ ternational tribunals in respect of, or give diplomatic support to claims on behalf of itself or those persons entitled to its protection against any other Signatory Govemment or its nationals in respect of . .. "

Eine Form des multilateralen "Interventionsverzichts" vereinbarten nach dem 2. Weltkrieg auch die Vertragsparteien des American Treaty on Pacific Settlement, des sog. "Pact of Bogota" , vom 30.4. 194888. Danach sollte kein diplomatischer Schutz für Staatsangehörige ausgeübt werden, wenn diesen ein nationaler Rechtsweg im anderen Vertragsstaat zur Verfügung gestanden hätte. Die Vereinbarung eines Verbots der Geltendmachung bestimmter Ansprü­ che - und damit einen Verzicht (nur) auf diese Geltendmachung - enthielt auch Teil VI Art. 3 des sog. Überleitungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Westalliierten vom 26.5. 1952 i.d. F. des Protokolls vom 23. 10. 195489.

86 Text in LNTS, vol. 2, S. 212(21 6). 87 Vgl. oben Fn. 36. 88 Text in UNTS, vol. 30, S. 55. 89 BGB!. 1 955 II, 405 (440).

90

C. Wirksamer Forderungsverzicht

In einer Reihe von bilateralen Verträgen der Nachkriegszeit verpflichtete sich die Bundesrepublik, Ansprüche wegen der Liquidation privater deutscher Vermögenswerte im jeweils anderen Staat nicht mehr geltend zu machen9o. Auf die vermögensrechtlichen Verträge der DDR mit Schweden, Österreich und Dänemark wurde bereits unter aa) hingewiesen. Der in all diesen Fällen der Sache nach vereinbarte Verzicht auf die Gel­ tendmachung bestimmter Ansprüche sollte schon nach dem Wortlaut der ge­ nannten Bestimmungen die - möglicherweise - zugrundeliegenden materiellen Ansprüche selbst unberührt lassen. Aus der signifikant anderen Fassung der Regelungen ergibt sich, daß Gegenstand der oben unter aa) aufgelisteten ("echten") Verzichtsklauseln das rechtliche Bestehen der Ansprüche selbst war.

c) Rechtsprechung

Die mit den völkerrechtlichen Verzichtsvereinbarungen von den Staaten beanspruchte Dispositionsbefugnis über die privaten Vermögensrechte ihrer Staatsangehörigen wurde zuweilen auch in der Rechtsprechung bestätigt. Die deutsche Judikatur sah es zum Beispiel als einen völkergewohnheits­ rechtlichen Ausfluß der Personalhoheit der Staaten an, die privaten Rechtsbe­ ziehungen ihrer Angehörigen mit bindender Wirkung für diese zum Gegen­ stand völkerrechtlicher Vereinbarungen zu machen91 . Einen entsprechenden Rechtsstandpunkt hatte schon einige Zeit vorher der englische Privy Council eingenommen92. Das schweizerische Bundesgericht unterstrich ebenfalls die Zulässigkeit "direktwirksamer" Verzichtsvereinbarungen zwischen Staaten, als es den schon genannten Art. 10 Abs.1 des deutsch-schweizerischen Ablösungsabkom­ mens von 1952 ausdehnend so interpretierte, daß er nicht nur einen völker90 So z.B. in Art. 10 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Schweden über deutsche Vermögenswerte in Schweden v. 22.3. 1956, BGBI. 1956 11, 813 (815); Art. 7 Abs. 1 des Abkommens über deutsche Vermögenswerte in Portugal v. 3.4.1958, BGBI. 1959 11, 267 (269); der Sache nach auch im deutsch-spanischen Briefwechsel v. 8.4.1958, BGBI. 1959 II, 256.

91 So z.B. BGH RzW 1960, 553 (554); BGH WM 1963, 1257 (1259); KG, OLGZ 1965, 207 (208); wohl auch KG RzW 1965, 440. 92 Vgl. Lord Sumner in "The Blonde" , (1922) 1 A.C. 313 (335); ähnlich Lord Merrivale in "The Bathori", (1934) A.C. 91 (97f.).

II. Rechtswirksamkeit der Verzichtserklärungen

91

rechtlichen (lnterventions-)Verzicht darstelle, sondern darüber hinaus einen umfassenden Verzicht auf alle denkbaren privaten Einwendungen gegen die schweizerischen Umwandlungsmaßnahmen mit unmittelbarer Wirkung gegen die betroffenen deutschen Staatsangehörigen93. Das Bundesgericht wies im Rahmen seiner Begründung ausdrücklich darauf hin, daß ein solcher Verzicht mit Wirkung auch für die Angehörigen der handelnden Staaten "in neueren Staatsverträgen keine Seltenheit mehr" sei94. Auch der Oberste Gerichtshof Österreichs billigte die Verzichtsklauseln des österreichischen Staatsvertrages, von denen der Gerichtshof ausdrücklich sagte, daß sie "Verfügungen über reine Privatrechte österreichischer Staatsbür­ ger" enthielten und daß mit diesen Vorschriften "überhaupt alle Ansprüche, auch solche privatrechtlicher Natur" geregelt worden seien9s. Die 24. Zivilkammer des "Landgerichts" Tokio erklärte in einer Entschei­ dung vom 7.12.1963 über Ersatzansprüche, die japanischen Privatpersonen wegen der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki geltend mach­ ten, daß Japan im Friedensvertrag von 1951 wirksam auf etwaige privatrecht­ liche Ansprüche seiner Staatsangehörigen verzichtet habe, und hob dabei die völkerrechtliche Befugnis der Staaten zu einem solchen Verzicht ausdrücklich hervof96. Die absolute Kontrolle und Verfügungsbefugnis eines Staates über etwaige Entschädigungsansprüche seiner Staatsangehörigen hatten schließlich auch schon die Deutsch-Amerikanische Mixed Claims Commission97 sowie die Mexikanisch-Amerikanische General Claims Commission9s hervorgehoben.

d) Ergebnis

Es zeigt sich also, daß der Verzicht von Staaten auf "Ansprüche" ihrer Staatsangehörige gegenüber anderen Staaten oder auch nur auf eine - rechtlich 93 Urteil der 1 . Zivilabteilung v. 14.6. 1955, BGE 81, II, 366 (374-378); dazu auch BVertUE 6, 290 (299f.). 94 BGE 81, D, 366 (375). 95 OGH v. 19.9. 1967, ÖJZ 1 968, 209 f. (Nr. 1 1 9). 96 Deutsche Übersetzung aus den Entscheidungsgründen in ZaöRV 24 (1964), 71 1 (730 f.). 97 Administrative Decision No. V v. 31. 10. 1924, RlAA VD, s. 1 1 9 (152). 98 Z.B. im William A. Parker Case und im North American Dredging Company of Texas Case, beide v. 31.3. 1 926, A.D. 1 925-26, No. 178 und 179.

92

C. Wirksamer Forderungsverzicht

nicht verfestigte - Entschädigung ihrer Staatsangehörigen für Schäden, die die­ se in einem anderen Staat erlitten haben, seit vielen Jahrzehnten zum Gegen­ stand völkerrechtlicher Vereinbarungen gemacht wird. Ein solcher Verzicht erfolgt regelmäßig entweder durch eine ausdrückliche Klausel im Vertrag oder aber durch eine übereinstimmende "Erledigungserklärung" im Rahmen einer Globalentschädigungsvereinbarung. Unabhängig davon, welches Modell sie wählten, gingen die Staaten in der Praxis stets davon aus, daß ihnen im Ver­ hältnis zu ihrem völkerrechtlichen Vertragspartner die Kompetenz zusteht, mit bindender Wirkung für ihre eigenen Staatsangehörigen über deren Vermögens­ rechte zu verfügen. Diese Verfügungsbefugnis geht nach der in der genannten Staatenpraxis zum Ausdruck kommenden Rechtsüberzeugung sogar soweit, daß das unmit­ telbar wirksame Erlöschen der betreffenden privaten Rechtspositionen in ei­ nem völkerrechtlichen Gestaltungsakt vereinbart werden kann, so daß der pri­ vatrechtliche Rechtsverlust unmittelbar durch die völkerrechtliche Verzichtser­ klärung eintritt. Diese Rechtsüberzeugung, die auch in weiten Teilen der Rechtsprechung zu finden ist, hat dazu geführt, daß sich die in Auszügen hier dargestellte Verzichtspraxis zu einem Satz des allgemeinen Völkergewohn­ heitsrechts entwickelt hat, der als solcher auch schon am Ende des 2. Welt­ krieges bestanden hat. Die Praxis und ihre normative Verfestigung sind ein eindrucksvoller Beleg dafür, daß auch das moderne Völkerrecht im Grundsatz noch weitgehend von der Mediatisierung des Individuums durch seinen Hei­ matstaat gekennzeichnet ist.

2. Begrenzung durch den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz Eine Schranke erwächst der umfassenden Personalhoheit der Staaten, und damit auch ihrer Verfügungsbefugnis über Vermögensrechte ihrer Staatsange­ hörigen, aus den Regeln des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes. Durch dessen Vorschriften greift das Völkerrecht in seiner historischen Entwicklung zum ersten Mal rechtlich verbindlich in die Beziehung zwischen der Einzelper­ son und ihrem Heimatstaat ein und schreibt den Staaten einen bestimmten Mindeststandard für die Behandlung ihrer eigenen Staatsangehörigen vor. Vom Institut des völkerrechtlichen Fremdenrechts unterscheiden sich Men­ schenrechte weiterhin dadurch, daß sie darauf abzielen, eine autonome Rechts­ position des Individuums zu begründen99.

99 Statt aller Randelzhofer (Fn. 56 zu A.), S. 43.

II. Rechtswirksamkeit der V erzichtserklärungen

93

Zu den Regeln des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes gehört heute auch die grundsätzliche Gewährleistung eines EigentumsrechtslOO, die daher theoretisch geeignet sein kann, die Befugnis zum Forderungsverzicht gegen­ über anderen Staaten zu beschränken. Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 hatte ein völkerrechtliches Recht auf Ei­ gentum bereits in rechtlich unverbindlicher Form deklariert. Der damit skizzierten völkerrechtlichen Entwicklung individueller Rechts­ positionen zur Beschränkung der staatlichen Handlungsmacht kann allerdings für die vorliegend zur Beurteilung anstehenden Sachverhalte keine Bedeutung zukommen. Denn auch im Völkerrecht gilt der Grundsatz, daß staatliche Handlungen nach der zum Zeitpunkt ihrer Vornahme geltenden Rechtslage zu beurteilen sind101 . Der Bereich des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes aber stellt eine moderne Entwicklung dar, die in ihrer heutigen Erscheinungs­ form erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs begonnen hat. Vor dieser "Zeiten­ wende" waren im Völkerrecht allenfalls rudimentäre Ansätze eines Menschen­ rechtsschutzes für besonders gefährdete Gruppen von Individuen zu beobach­ ten, wie z.B. Regelungen zum Verbot des Sklaven- oder des Frauenhandels oder zum Schutz von Flüchtlingen 102 . Der eigentliche Schritt zu einer generellen Durchbrechung der staatlichen Souveränität durch einen allgemeinen völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz erfolgte erst ab 1945, und auch dies zunächst nur auf vertragsrechtlicher Grundlage. Bis 1966 waren Ungarn, Rumänien und die Volksrepublik Polen, soweit ersichtlich, an keinem einschlägigen völkerrechtlichen Vertrag betei­ ligt. Eine Norm des Völkergewohnheitsrechts, die einen Eigentums- oder Ver­ mögensschutz des Individuums gegenüber seinem Heimatstaat verbürgt hätte, hatte sich zu dieser Zeit ebensowenig herausgebildet. Daher waren zum Zeitpunkt ihrer unter I. behandelten Verzichtserklärun­ gen Ungarn, Rumänien und Polen nicht durch eine Vorschrift mit individual­ schützendem Regelungsgehalt in ihrer Handlungsbefugnis gegenüber ihren ei­ genen Staatsangehörigen beschränkt. Die Personalhoheit dieser Staaten und damit ihre Kompetenz zum individualwirksamen Forderungsverzicht war jedenfalls in den Jahren 1947 bzw. 1953 noch umfassend.

1 00 Vgl. z.B. Art. 1 des 1 . Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention v. 20.2. 1952, BGBJ. 1956 II, 1880. 101 Siehe oben unter A. II. 1 02 Vgl. Randelzhofer (Fn. 56 zu A.), S. 44-46.

94

C. Wirksamer Forderungsverzicht

Es ergibt sich also zusammenfassend, daß Ungarn, Rumänien und Polen völkerrechtlich wirksam auf sämtliche Wiedergutmachungsansprüche derjeni­ gen Einzelpersonen, die zum damaligen Zeitpunkt ihre Staatsangehörigen wa­ ren, gegenüber Deutschland verzichtet haben. Die Rechtsfolge dieses Ver­ zichts war jeweils das unmittelbare Erlöschen möglicherweise bestehender In­ dividualansprüche.

D. Unanwendbarkeit von Art. 5 LSA auf die Ausgangsfälle Es ist bis hierher nachgewiesen worden, daß den Klägern der eingangs er­ wähnten zivilgerichtlichen Verfahren weder aus Völkerrecht (A.) noch aus deutschem Recht (B.) ein individueller Entschädigungsanspruch entstanden ist. Unter C. hat sich weiter gezeigt, daß die zum einschlägigen Zeitpunkt zustän­ digen Heimatstaaten der Klägerinnen auf Ansprüche, hätten sie denn bestan­ den, in rechtswirksamer Weise verzichtet haben. Aus alledem ergibt sich, daß Entschädigungsansprüche der Klägerinnen weder früher noch heute an Art. 5 LSA oder § 1 AKG scheitern konnten oder können. Auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Art. 5 LSA (vielmehr: des deutschen Zustimmungsgesetzes dazu)l oder von § 1 AKG, kann es in den Verfahren vor den Landgerichten somit gar nicht ankommen. Die gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegten Normen sind daher für die Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich, die Vorlagen der Instanzgerichte damit unzuläs­ sig. Für das Vorlage des LG Bremen gilt dies noch aus einem weiteren Grund. Der von diesem Gericht vorgelegten Bestimmung des Art. 5 Abs. 4 LSA2 kann aus Gründen ilrres beschränkten personellen wie sachlichen Anwen­ dungsbereichs für die in diesem Verfahren auftretenden Klägerinnen, die auch heute noch die ungarische bzw. die rumänische Staatsangehörigkeit besitzen, überhaupt keine anspruchshindernde Wirkung zukommen.

1 Trotz der auf die Überprüfung deutscher Gesetze beschränkten Reichweite von Art. 100 Abs. 1 GG hat das LG Bremen in seinem Vorlagebeschluß (s. unter G 1.) ausdrücklich "Art. 5 Abs. 4 des Abkommens über deutsche Auslandsschulden", also die völkerrechtliche Vertrags­ norm selbst, zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung vorgelegt; vgl. dazu bereits BVerfGE 29, 348 (358f. ). 2 Satz 1 dieser Bestimmung lautet: "Die gegen Deutschland oder deutsche Staatsangehörige gerichteten Forderungen von Staaten, die vor dem 1 . September 1 939 in das Reich eingegliedert oder am oder nach dem 1 . September 1 939 mit dem Reich verbündet waren, und von Staats­ angehörigen dieser Staaten aus Verpflichtungen, die zwischen dem Zeitpunkt der Eingliederung (bei mit dem Reich verbündet gewesenen Staaten dem 1 . September 1 939) und dem 8. Mai 1 945 eingegangen worden sind, oder aus Rechten, die in dem genannten Zeitraum erworben worden sind, werden gemäß den Bestimmungen behandelt, die in den einschlägigen Verträgen getroffen worden sind oder noch getroffen werden. "

D. Unanwendbarkeit von Art. 5 LSA

96

I. Personeller Anwendungsbereich Das Londoner Schuldenabkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren Gläubigerstaaten ge­ schlossen wurde. Wegen des aus der souveränen Gleichheit der Staaten folgen­ den völkerrechtlichen Konsensprinzips erzeugt ein Vertrag Rechte und Pflich­ ten grundsätzlich nur für seine Parteien3. Art. 35 der Wiener Vertragsrechts­ konvention (WVK) vom 23.5. 19694 bestimmt, daß Verträge für einen Dritt­ staat nur dann und insoweit Verpflichtungen schaffen können, als dieser in schriftlicher Form sein Einverständnis erklärt. Zwar gilt die WVK als Vertrag erst ab dem Tag ihres Inkrafttretens am 27. 1 . 1980, doch ist es allgemeine Meinung, daß sie ganz überwiegend, und das gilt auch für die Regelung über Verträge zu Lasten Dritter, lediglich schon zuvor geltendes Völkergewohn­ heitsrecht kodifiziert hat. Keiner der drei für die zivilgerichtlichen Ausgangsverfahren relevanten Staaten (Ungarn, Rumänien, Polen) ist jemals Partei des Londoner Schulden­ abkommens geworden oder hat ausdrücklich sein Einverständnis mit seinen Bestimmungen erklärt. Diese können daher weder Ansprüchen dieser Staaten noch ihrer Staatsangehörigen entgegengehalten werden. Eine solche Drittwir­ kung nimmt die als Anspruchshindernis angeführte Bestimmung des Art. 5 Abs. 4 LSA bei richtiger Auslegung auch nicht für sich in Anspruch. Nach dem systematischen Zusammenhang bezieht sich die Norm nur auf "Forderun­ gen von Staaten" bzw. von Angehörigen solcher Staaten, die zu den "Gläubi­ gerstaaten" i.S.v. Art. 3 Buchst. b) LSA gehören. Dies aber sind gerade nur die Parteien des Abkommens. Diese völkerrechtliche Rechtslage wurde von weiten Teilen der älteren deutschen Rechtsprechung jedoch verkannt. Sowohl der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs als auch der VII. Senat des Bundesverwaltungsgerichts haben Entschädigungsklagen von Personen aus Nichtvertragsstaaten unter Hin­ weis auf Art. 5 LSA abgewiesens. Mit dem grundsätzlichen völkerrechtlichen Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter ist dies nicht zu vereinbaren6.

3 Vgl. heute Art. 34 WVK; für das LSA ebenso z.B. BGHZ 1 8, 22(25); im Grundsatz auch H. Gurski, Das Abkommen über deutsche Auslandsschulden, Kommentar, 2. Aufl. 1 955, S. 1 77; R. Dolzer, Schriftliche Stellungnahme, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 1 4. 1 2. 1 989, in: Zur Sache - Themen parlamentarischer Beratung, 6/1 990, s. 1 96(200). 4 BGB!. 1 985 ß, 927. 5 Z.B. BGHZ 1 6, 207(2l l f. ) ; BGH RzW 1 963, 525(526); BGH NJW 1 973, 1 549 ( 1 551 ) m. w.N. ; BVerwGE 35, 262(265f.).

II. Sachlicher Regelungsgehalt

97

Auch das Abstellen darauf, daß die Vorschriften des Abkommens durch das deutsche Zustimmungsgesetz "innerstaatliches Recht" geworden seien und als solches "inter omnes" gelten würden7, hilft hier nicht weiter. Denn die rechtliche Wirkung des Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG be­ mißt sich stets nach der Reichweite der völkerrechtlichen Bindung des Bundes­ republik Deutschland, und zwar auch in personeller Hinsicht. Unabhängig von dem bekannten Streit zwischen Vollzugs- und Transformationstheorie ist heute anerkannt, daß die Auslegung der durch Vertragsgesetz umgesetzten völker­ rechtlichen Regelungen nach völkerrechtlichen Prinzipien zu efolgen hats. Zu den grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts gehören aber eben vor allem die souveräne Gleichheit und das daraus resultierende Konsensprinzip. Daraus folgt, daß jedenfalls solchen Anspruchsstellern, die durchgehend polnische, ungarische oder rumänische Staatsangehörige waren und heute noch sind, die Bestimmungen des LSA nicht als Anspruchshindernis entgegengehal­ ten werden können. Für Entschädigungsklagen dieses Personenkreises ist Art. 5 Abs. 4 LSA daher irrelevant.

II. Sachlicher Regelungsgehalt Aber auch im Hinblick auf ihren sachlichen Regelunsgehalt bestehen Be­ denken dagegen, die Norm als ein Hemmnis für Entschädigungsklagen der ge­ nannten Personen zu verstehen. Diese Ansicht des LG Bremen schließt an eine Auslegung des Art. 5 Abs. 4 LSA an, die seit 1955 die deutsche Rechtspre­ chung geprägt hat9 und wonach die Bestimmung als unbefristete Stundungsab­ rede bzw. als Moratorium für die von ihr erfaßten Ansprüche zu verstehen sei. Eine solche Interpretation aber ist mit Wortlaut und Systematik der Norm nur schwer zu vereinbaren. Der Text von Art. 5 Abs. 4 LSA verweist lapidar 6 In der Sache ebenso G. SIUby, Völkerrechtliche Probleme zur Frage der Entschädigung polnischer Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime, ZRP 1 990, 31 4 (31 6f.); kritisch gegenüber dieser Rechtsprechung auch Chr. Schreuer, Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Ver­ fassung bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 23(1 982), S. 61 (66 f. ). 7 So z.B. BGH RzW 1 963, 525 (526); BGH NJW 1 973, 1 549 (1551); BVerwGE 35, 262 (265f.). 8 Vgl. z.B. BVerfGE 4, 1 57(1 68); 46, 342(361); Geiger(Fn. 14 zu A.), S. 1 80; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl, 1 984, S. 482; H.D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, Grundgesetz, 2. Aufl. 1 992, Rdn. 1 a zu Art. 25. 9 Grundlegend BGHZ 1 8, 22(30). 7 Kandelzhofer / DBrr

98

D. Unanwendbarkeit von Art. 5 LSA

auf bestehende bzw. noch zu schließende völkerrechtliche Verträgern und er­ klärt damit lediglich, daß das Abkommen selbst auf die genannten Forderun­ gen keine Anwendung findet. Die Bestimmung weist also nach ihrem Wortlaut lediglich einen negativen Regelungsgehalt auf und enthält insbesondere keine (positiv-rechtliche) Stundungsvereinbarung. Dieser begrenzte Regelungsgehalt von Art. 5 Abs. 4 LSA wird durch eine systematische Betrachtung der Norm bestätigt. Zunächst ist der gesamte Art. 5 mit "Nicht unter das Abkommen fallende Forderungen" überschrieben, d.h. der (nur) negative Regelungsgehalt steht der Vorschrift quasi "auf der Stirn geschrieben" . Selbst wenn man aber dort die Vereinbarung einer Stundung hi­ neinlesen wollte, so gälte dies nicht für den Abs. 4. Während es nämlich in den Absätzen 1-3 und 5 des Art. 5 LSA übereinstimmend heißt, daß eine Prü­ fung der jeweils betroffenen Forderungen "zurückgestellt" wird, immerhin al­ so eine positive Regelungsanordnung getroffen wird, trifft Abs. 4, wie gese­ hen, gerade keine Verfügung über die in seinem Tatbestand bezeichneten For­ derungen, sondern beschränkt sich auf eine Verweisung. Diese dezidiert ande­ re Fassung hebt den Abs. 4 aus dem Zusammenhang des Art. 5 LSA heraus und verbietet es, alle Absätze der Norm nivellierend als Stundungsabrede ein­ zuordnen11 . Sollte dies ein Regelungsziel der Vertragsparteien gewesen sein, so hat es jedenfalls keinen Ausdruck in der äußeren Fassung des Abkommens gefunden und kann daher auch nicht seiner Auslegung zugrunde gelegt wer­ den. Es ergibt sich also, daß Art. 5 Abs. 4 LSA weder auf Anspruchssteller aus Nichtvertragsstaaten des Abkommens anwendbar ist noch überhaupt in der Sa­ che der Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen entgegensteht. Für die Entscheidung über entsprechende Klagen polnischer, ungarischer und ru­ mänischer Staatsangehöriger ist die Vorschrift somit irrelevant12 .

10 Gemeint waren die sog. Nebenfriedensverträge von 1947 sowie der österreichische Staats­ vertrag, vgl. Gurski (Fn. 3), S. 216, 227. 11 Die Sonderstellung des Abs. 4 erkannte z.B. auch G. Henn, Das Londoner Schulden­ abkommen - Rechtsfragen der zwischenstaatlichen Anwendung, RabelsZ 20 (1955), 270 (28S); gegen eine Nivellierung der Abs. 2 und 4 deutlich auch KG RzW 196S, 440 (442). 12 Jedenfalls hätte das LG Bremen, wenn es die angenommene Anspruchshinderung durch Art. S Abs. 4 LSA für verfassungswidrig hält, die Norm verfassungskonform in dem Sinne auslegen können, daß sie die Klägerinnen überhaupt nicht betriffi. Zur Unzulässigkeit einer Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG bei bestehender Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung vgl. BVerfGE 76, 100 (105); 78, 20 (24); BVerfG NJW 1993, 2733, BVerfG NJW 1994, 1577 (1578).

E. Im übrigen: Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Normen Selbst wenn es aber auf die von den Zivilgerichten gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegten Normen ankommen würde, ist festzuhalten, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Verstoß gegen Art. 14 GG oder Art. 3 Abs. 1 GG darin nicht liegen würde. Art. 5 LSA, jedenfalls die hier einschlägigen Absätze 2 und 4, gehört zum Bereich der Kriegsfolgenbe­ wältigungt . Für das AKG gilt dies erst recht, wie schon der Name des Geset­ zes, in dem sich sein Zweck ausdrückt, deutlich macht.

I. Art. 14 GG kein einschlägiger Maßstab Derartige Regelungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts nicht an Art. 14 GG zu messen, da die Art. 1 34 Abs. 4, 135a Abs. 1 GG als Leges speciales die Anwendbarkeit des Art. 14 GG ausschlies­ sen2. Diese Ausnahme von Art. 14 GG wird mit der einmaligen Situation des Staatsbankrotts des Deutschen Reichs begründet. Zur Sicherung des vorrangi­ gen Wiederaufbaus des demokratischen Staates durfte der Gesetzgeber alle Maßnahmen treffen, die zur Ordnung dieser besonderen Sachlage notwendig waren, ohne bezüglich der Altschulden an die Eigentumsgarantie gebunden zu sein. An dieser Rechtslage hat sich nichts dadurch geändert, daß die Bundesre­ publik Deutschland wirtschaftlich und finanziell heute besser dasteht als zum Zeitpunkt des Abschlusses des LSA oder der Verabschiedung des AKG, denn Art. 134 Abs. 4 und Art. 135a Abs. 1 GG wollen auch für die Zukunft die fi­ nanzielle Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland sichern. Diese soll auch nicht durch spätere Nachforderungen gefährdet werden3. 1 Siehe BGH, NJW 1973, 1549 (1552), wonach das LSA die "äußere Abwiclclung des Konkurses des deutschen Reichs" enthält. 2 Siehe BVerfGE 15, 126 (143 ff.); 19, 150(159 ff. ); 27, 253(271 ff. ); 41, 126 (150 ff.); 53, 164(176 ff. ); vgl. zu dieser Rechtsprechung F. Ossenbahl, Ausschluß juristischer Personen von der Entschädigung bei Enleignungen von 1945-1949, BB 1992, Beilage 6, 6 ff. ; Heß(Fn. 5 zu C . ), 609. 1•

1 00

E. Verfassungsmäßigkeit der vorgelegten Normen

Art. 135a GG ist durch Art. 4 Nr.4 des Einigungsvertrages vom 31.8.1990 bestätigt worden. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch nach der Herstellung der deutschen Einheit an die Rechtsprechung zur Kriegs­ folgenbewältigung angeknüpft und den entsprechenden Prüfungsmaßstab er­ neut angewendet4.

II. Kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz Auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG kann in Art. 5 LSA oder § 1 AKG nicht gesehen werden. Ein solcher Verstoß kann sich aus diesen Rege­ lungen selbst ohnehin nicht ergeben, da sie allgemein, d.h. unterschiedslos für alle Ansprüche im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gelten. Das LG Bremen meint eine Verletzung des Gleichheitssatzes darin zu se­ hen, daß ungeachtet des Art. 5 LSA mit einer Reihe von "westlichen" Staaten Verträge geschlossen wurden, durch die Entschädigungen u.a. auch dafür be­ zahlt wurden, daß Angehörige dieser Staaten im Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit herangezogen worden waren, während mit keinem sog. Ost­ blockstaat solche Abkommen geschlossen wurden. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist insofern schon deshalb zu vernei­ nen, weil in den genannten Verträgen keine Ansprüche von Individuen verein­ bart, sondern nur solche von Staaten. Im übrigen ist es i.S. des Art. 3 Abs. 1 GG nicht willkürlich, daß die Bundesrepublik Deutschland sich über westli­ chen Staaten anders verhielt als gegenüber sog. Ostblockstaaten, bezüglich de­ rer sie erwarten konnte, daß die DDR ihren Beitrag zur "Aufarbeitung" der Hinterlassenschaft des Deutschen Reiches leisten würde.

3 Siehe BVerfGE 53, 164 (177). Danach bestehen bei der Kriegsfolgenbewältigung nur bei ianz außergewöhnlichen Umständen Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers. Allein die Anderung der wirtschaftlichen Verhältnisse reicht dazu nicht aus. Grundsätzlich gilt, daß weder eine sich rückwirkend als zu pessimistisch erweisende Beurteilung der Finanzlage nach eine zwischenzeitlich günstige wirtschaftliche Entwicklung den Gesetzgeber zur nachträglichen Ände­ rung einer zum Zeitpunkt ihres Erlasses sachgerechten Ausgleichsregelung zwingt. Sonst wäre er in unerträglicher Weise gezwungen "bei jeder Besserung der Finanzlage sämtliche in der Vergangenheit abgeschlossenen Entschädigungsregelungen von neuem aufzurollen; damit wäre eine wirksame Planung der staatlichen Tätigkeit für die Zukunft ausgeschlossen. " (BVerfGE 27, 253(288 f. ); im gleichen Sinne BGH, RzW 1963, 525(526)). 4 Siehe BVerfGE 84, 90 ff.

II. Art. 3 Abs. 1 GG

10 1

Das Bundesverfassungsgericht hat bezüglich der im AKG enthaltenen Ord­ nungsprinzipien (Grundsatz des Erlöschens, Erfüllung nur in Ausnahmefällen etc.) festgestellt, daß sie nicht willkürlich, sondern jeweils durch sachgerechte Erwägungen gestützt sind. Das Gleiche hat es für die Regelungen des Gesetzes zur Abgeltung von Besatzungsschäden von 1955 und des Reparationsschädens­ gesetzes ausgesprochens. Das Gericht hat in diesen Entscheidungen festge­ stellt, daß im Bereich der Kriegsfolgenbewältigung, und dazu zählt neben den genannten Gesetzen auch das LSA, die durch Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzge­ ber ohnehin belassene Gestaltungsfreiheit besonders weit ist. Sowohl § 1 AKG wie auch Art. 5 LSA, bzw. das Zustimmungsgesetz dazu, halten sich im Rah­ men dieser Gestaltungsfreiheit und sind nicht willkürlich6.

5 BVerfGE 1 5, 126 (1 50-1 52); 1 9, 1 50 (1 64 f.); 27, 253 (286); 41, 126 (1 74 ff.); 53, 1 64 (175 ff.). 6 Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG verneint auch Heß (Fn. 5 zu C.), 609 f.

F. Wesentliche Ergebnisse - Ehemaligen NS-Zwangsarbeitern steht weder nach Völkerrecht noch nach deutschem Recht, sei es öffentliches Recht oder Zivilrecht, ein eige­ ner Entschädigungsanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland zu. Es existiert keine allgemeine Regel des Völkerrechts i.S. von Art. 25 GG, die den Geschädigten völkerrechtswidriger staatlicher Handlungen individuelle Entschädigungsansprüche eröffnete. - Selbst wenn solche Individualansprüche entstanden wären, wären sie für Personen, die 1947 die ungarische oder rumänische bzw. 1953 die pol­ nische Staatsangehörigkeit besaßen, durch den Verzicht dieser Staaten erlo­ schen. - Weder Art. 5 Abs. 4 LSA noch § 1 AKG sind daher in den zivilge­ richtlichen Ausgangsverfahren vor den Landgerichten Bremen und Bonn entscheidungserheblich. - Art. 5 Abs. 4 LSA - bzw. das Zustimmungsgesetz dazu - und § 1 AKG verstoßen nicht gegen das Grundgesetz.

G. Anhänge I. Vorlagebeschluß des LG Bremen vom 3.12.1992 Geschäfts-Nr. (1 0 2889/1990 a) Vorlagebeschluß In Sachen 1. der Frau Dr. L. N., ..., Israel, 2. der Frau S. R., ..., Rumänien, Klägerinnen, Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte ..., Bremen, gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium für Finanzen, Graurheindorfer Str. 108, 5300 Bonn 1, Beklagte, Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte ..., Bremen.

1. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt. 2. Die Sache wird dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob

1 04

G. Anhänge

a) Artikel 5 Abs. 4 des Abkommens über deutsche Auslandsschulden vom 27. Februar 1953 (LSchA - BGBl II 1953, 331) mit dem Grundgesetz unver­ einbar und daher ungültig ist, b) eine allgemeine Regel des Völkerechts Bestandteil des Bundesrechts ist, die den Geschädigten aus völkerrechtswidrigen staatlichen Handlungen indivi­ duelle Entschädigungsansprüche eröffnet oder zugunsten des Vorrangs zwi­ schenstaatlicher Regelungen sperrt.

Gründe: I. Die Klägerinnen nehmen als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung die Beklagte Bundesrepublik Deutschland auf Zahlung von je DM 15.000,-- nebst Prozeßzinsen in Anspruch. Die Klägerinnen sind jüdischen Glaubens. Die Klägerin zu 1) war seinerzeit ungarische und ist heute israelische Staatsangehörige; die Klägerin zu 2) war früher ungarische oder romanische ·und ist heute rumänische Staatsangehörige. Ihrem durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen glaubhaft gemachten Vortrag zufolge waren die Klägerinnen in der Zeit der naitonalsozialistischen Herrschaft als Jüdinnen rassisch verfolgt und in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert worden. Von dort aus wurden sie im Sommer 1944 auf Anforderung des Senators für das Bauwesen der Hansestadt Bremen nach Bre­ men verbracht und im Zeitraum vom 2. August 1944 bis zu ihrer Befreiung im April 1945 als Zwangsarbeiterinnen zum Behelfswohnungsbau sowie zur Trümmerbeseitigung eingesetzt. Mit ihrer Klage begehren die Klägerinnen Schadensersatz für die geleistete Zwangsarbeit, und zwar in erster Linie als Vergütungs- bzw. Aufwendungser­ satzanspruch für ihre nicht entlohnten Tätigkeiten. Hilfsweise verlangen die Klägerinnen einen Bereicherungsausgleich, ganz hilfsweise ein Schmerzens­ geld.

1. Vorlagebeschluß des LG Bremen

105

Die Beklagte bestreitet die von den Klägerinnen vorgetragene Heranzie­ hung zur Zwangsarbeit mit Nichtwissen. Sie vertritt im übrigen die Auffas­ sung, bei den geltend gemachten Ansprüchen handle es sich der Sache nach um sogenannte Reparationsforderungen, die nach allgemeinen völkerrechtli­ chen Grundsätzen nicht individuell geltend gemacht werden könnten; ein Aus­ gleich derartiger Ansprüche müsse zwischenstaatlichen Regelungen vorbehal­ ten werden. Dessen ungeachtet stünden den Klägerinnen Ansprüche deshalb nicht zu, da sie gemäß § 1 Abs. 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG - BGBl I 1957, 1747) erloschen und die Frist zu ihrer Geltendmachung (§ 28 AKG) abgelaufen sei. Soweit die Klägerinnen Ansprüche als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung geltend machten, enthalte § 8 des Bundes­ entschädigungsgesetzes (BEG - BGBl I 1956, 559) eine abschließende Rege­ lung, die ihren Forderungen entgegenstehe. Im übrigen fehle es an der Darle­ gung der territorialen und zeitlichen Anknüpfungsvoraussetzungen gemäß § 4 BEG und der Einhaltung der Ausschlußfrist gemäß Art. VIII BEG - Schlußge­ setz (BGBl I, 1965, 13 15). Selbst wenn entsprechend der Auffassung der Klä­ gerinnen Art. 5 Abs. 4 des Abkommens über deutsche Auslandsschulden vom 27. Februar 1953 (LSchA - BGBl II, 1953, 331) einschlägig wäre, könnten die Klägerinnen daraus nichts für sich herleiten: Sie müßten sich die am 15. September 1947 in Kraft getretenen Nebenfriedensverträge der Alliierten mit Ungarn (Art. 30 Abs. 4 des Vertrags vom 10. Februar 1947) und Rumänien (Art. 28 Nr. 4 des Vertrages) entgegenhalten lassen, in denen beide Staaten auf sämtliche Ansprüche ihrer Staatsbürger gegen das Deutsche Reich und die Beklagte verzichtet hätten. Darüber hinaus enthalte Art. 5 LSchA nach einhel­ liger Meinung und ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (zuletzt NJW 1973 , 1549) eine Stundung etwaiger Gläubigeransprüche, deren Geltend­ machung vor dem Abschluß endgültiger Abkommen ausgeschlossen sei. Der Schutzzweck dieser Regelung bestehe nach wie vor. Hilfsweise beruft sich die Beklagte auf die Verjährung etwaiger Ansprüche der Klägerinnen. Die Klägerinnen treten den Rechtsansichten der Beklagten im einzelnen entgegen: Das BEG sei nicht einschlägig, da es keine Regelung von Ansprü­ chen auf Vergütung von Zwangsarbeit enthalte. Das AKG sei nicht anwend­ bar, da gemäß § 101 AKG die vorgängigen Bestimmungen des LSchA maß­ geblich seien. Der in ständiger Rechtsprechung aus Art. 5 LSchA hergeleitete "Klagestopp" stehe einerseits einer Verjährung entgegen, andererseits sei die Bestimmung jedenfalls nach der vollzogenen deutschen Vereinigung verfas­ sungswidrig (wird näher ausgeführt). Die Nebenfriedensverträge mit Ungarn und Rumänien beträfen die im hier zu beurteilenden Fall in Rede stehenden Ansprüche nicht, die im übrigen keine Reparationsforderungen, sondern indi­ vidualrechtlicher Art seien.

106

G. Anhänge

II. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Wirksamkeit des Art. 5 Abs. 4 LSchA ab, der nach Überzeugung des Gerichts verfassungswidrig ist (dazu näher unter 2.b). Die Entscheidungserheblichkeit der genannten Bestim­ mung ergibt sich aus folgendem: 1 . Die Klägerinnen haben durch Vorlage eidesstattlicher Versicherungen hinreichend glaubhaft gemacht, von nationalsozialistischen Verfolgungsmaß­ nahmen betroffen gewesen und als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt worden zu sein. Soweit die Beklagte diesen Vortrag mit Nichtwissen bestreitet, ist dies unerheblich, da unsubstantiiert. Die Klägerinnen haben nach Zeit und Ort hin­ reichend bestimmte, nachprüfbare Angaben über ihre Heranziehung und Ver­ wendung als Zwangsarbeiterinnen gemacht. Die Beklagte nimmt den histori­ schen Vorgang als solchen gar nicht in Abrede. Unwidersprochen ist zudem der weitergehende Vortrag der Klägerinnen, bei der Beklagten existierten noch Listen über die seinerzeit in Bremen beschäftigen Zwangsarbeiterinnen und arbeiter. Bei dieser Sachlage und unter Berücksichtigung der besonders diffizi­ len prozessualen Situation der im Ausland beheimateten Klägerinnen sowie den auf der Hand liegenden Schwierigkeiten zur Benennung bzw. Beschaffung von Beweismitteln hätte das Bestreiten detailliert sein müssen, um beachtlich zu sein. Da ein diesen Anforderungen genügendes Bestreiten nicht vorliegt, kann dahinstehen, ob den eidesstattlichen Versicherungen der Klägerinnen, gegebenenfalls entsprechend den vom Bundesgerichtshof (vgl. RzW 1967 , 500) aufgestellten Grundsätzen, ausreichender Beweiswert zukommt. a) Die Inhaftierung in Konzentrationslagern durch das nationalsozialisti­ schen Regime (NS-Regime) und die Heranziehung von Häftlingen solcher La­ ger zur Zwangsarbeit stellt gröbstes Unrecht dar. Dies bedarf keiner Darle­ gung und entspricht auch der Auffassung der Beklagten. Gleichwohl steht den Klägerinnen nach dem geltenden Recht weder ein Anspruch auf Entlohnung noch ein Ersatz- oder Schmerzensgeldanspruch zu: Durch die - wie hier - ho­ heitlich durch den NS-Staat angeordnete und durchgesetzte Zwangsarbeit wur­ de kein Arbeits- bzw. Dienstverhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den betroffenen Häftlingen begründet. Vergütungsansprüche der Klägerinnen können daher nicht aus §§ 61 1 ff BGB hergeleitet werden. Dem Einsatz als Zwangsarbeiterinnen lag ferner kein öffentlich-rechtliches Dienst- oder Auf­ tragsverhältnis zugrunde. Daher scheiden auch Ansprüche gemäß § § 675 ff BGB aus.

1. Vorlagebeschluß des LG Bremen

1 07

Die Zwangsarbeit beruhte aber auf rechtswidrigen hoheitlichen Eingriffen. Ehemaligen Zwangsarbeitern stand deswegen gegen das Deutsche Reich ein Staatshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 1 3 1 der Weimarer Ver­ fassung zu; unbeschadet dessen (und der somit vernachlässigbaren Frage et­ waiger Haftungsbeschränkung mangels verbürgter Gegenseitigkeit) besteht da­ neben ein bereicherungsrechtlicher Ausgleichsanspruch (§§ 8 12 ff. BGB). Gemäß Art. 134 des Grundgesetzes (GG) hatte die Beklagte die Verbind­ lichkeiten des Deutschen Reiches übernommen (s. dazu ausführlich: BVerfGE 15, 126, 133 ff.) und war danach vorbehaltlich näherer gesetzlicher Regelun­ gen (Art. 134 Abs. 4, 135 a GG) verpflichtet, begründete Ansprüche gegen das Deutsche Reich zu erfüllen. b) Den jedenfalls gegebenen Bereicherungsansprüchen der Klägerinnen ge­ gen die Bundesrepublik stehen nach Auffassung der Kammer die Bestimmun­ gen des BEG (einschließlich BEG-Schlußgesetz) nicht entgegen. Zwar be­ stimmte § 8 Abs. 1 BEG, daß Ansprüche von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung unbeschadet fortgeltender Rechtsvorschriften zur Wiedergutma­ chung nationalsozialistischen Unrechts (§§ 5, 228 Abs. 2 BEG) nur nach Maßgabe des BEG geltend gemacht werden konnten. Das BEG enthält jedoch keine abschließende Regelung und damit keinen wirksamen Ausschluß der Entschädigungsansprüche von Ausländern, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung gewesen waren und nicht dem begrenzten Personenkreis der gemäß § 4, 149 ff BEG Anspruchsberechtigten zugehörten. Die Nichtberücksichtigung der Entschädigungsansprüche von Ausländern erscheint auch systemgerecht im Hinblick auf Art. 5 LSchA, wonach eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forderungen fremder Staaten und von Staatsangehörigen dieser Staaten zurückgestellt werden (Art. 5 Abs. 2, 3 LSchA) bzw. bei den ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reiches eine Regelung nach den Bestimmungen der getroffenen oder noch zu treffenden einschlägigen Verträge vorgesehen war (Art. 5 Abs. 4 LSchA). Derartige Verträge sind - wie noch auszuführen sein wird - nicht geschlossen worden. Nach alledem kann das BEG nicht als abschließende Regelung solcher Ansprüche bzw. Forderungen angesehen werden, die Art. 5 LSchA unterfielen. Dies umso weniger, als es sich nach Auffassung der Beklagten um Reparationsforderungen handelt, die ohnehin einer abschließenden zwischenstaatlichen Regelung bedurften bzw. bedürfen. c) Die Ansprüche der Klägerinnen werden auch nicht durch die Bestim­ mungen des AKG ausgeschlossen. Der begehrte Ausgleich für geleistete Zwangsarbeit wird von den nach § 5 AKG erfüllbaren Ansprüchen nicht er­ faßt. Dementsprechend ist weder die Verweisung auf das BEG ( § 5 Abs. 2 Nr. 3 . AKG) noch die auch für Angehörige von Gläubigerstaaten des LSchA

1 08

G. Anhänge

geltende Anknüpfungsnorm des § 6 Abs. 1 Nr. 2 AKG einschlägig. Maßgeb­ lich für Ansprüche der vorliegenden Art ist vielmehr § 1 Abs. 1 Nr. 1 AKG. Dessen Anwendung scheitert jedoch an § 101 AKG, wonach das LSchA und die zu seiner Ausführung erlassenen Vorschriften ausdrücklich durch die Re­ gelungen des AKG nicht berührt werden. 2. Der Durchsetzung der Ansprüche der Klägerinnen steht indessen schon dem Grunde nach Art. 5 Abs. 4 LSchA entgegen, der folgenden Wortlaut hat: "Die gegen Deutschland oder deutsche Staatsangehörige gerichteten Forderun­ gen von Staaten, die vor dem 1 . September 1 939 in das Reich eingegliedert oder am oder nach dem 1 . September 1 939 mit dem Reich verbündet waren, und von Staatsangehörigen dieser Staaten aus Verpflichtungen, die zwischen dem Zeitpunkt der Eingliederung (bei mit dem Reich verbündet gewesenen Staaten dem 1 . September 1 939) und dem 8. Mai 1 945 eingegangen worden sind, oder aus Rechten, die in dem genannten Zeitraum erworben worden sind, werden gemäß den Bestimmungen behandelt, die in den einschlägigen Verträ­ gen getroffen worden sind oder noch getroffen werden. Soweit gemäß den Be­ stimmungen dieser Verträge solche Schulden geregelt werden können, finden die Bestimmungen dieses Abkommens Anwendung. "

a) Die Klägerinnen waren im Zeitraum der von ihnen geleisteten Zwangs­ arbeit Staatsangehörige von ehemals mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten im Sinne des Art. 5 Abs. 4 LSchA. Bezüglich der Klägerin zu 1) ist dabei maßgeblich auf ihre damalige - ungarische - Staatsangehörigkeit (vgl. insoweit BGH NJW 1973 , 1549) abzustellen. Der Bundesgerichtshof hat wiederholt Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter (Angehöriger von Gläubigerstaaten im Sinne des Art. 5 Abs. 2 und 3 LSchA) auf Vergütung mit der Begründung zurückgewiesen, da Art. 5 Abs. 2 und 3 LSchA die Prüfung solcher Ansprüche bis zur endgültigen Regelung der Repa­ rationsfrage zurückgestellt habe, sei in Ermangelung bislang getroffener derar­ tiger Regelungen weder Raum für eine Leistungsklage noch in aller Regel für eine Feststellungsklage (vgl. BGHZ 18, 22; BGH RzW 1963 , 525; VersR 1964, 637; NJW 1973, 1549). Nach Ansicht der Kammer beinhaltet Art. 5 Abs. 4 LSchA nach Wortlaut und Sinn ein Stundungsabkommen, da die Regelung von Forderungen der ehe­ maligen Verbündeten des Deutschen Reiches bzw. ihrer Staatsangehörigen den Bestimmungen in einschlägigen Verträgen vorbehalten werden sollte, die bei Inkrafttreten des LSchA bereits geschlossen worden waren bzw. noch ge­ schlossen werden sollten. Art. 5 Abs. 4 LSchA enthält somit - ebenso wie die Absätze 2 und 3 - einen Vorbehalt und Vorrang zugunsten zwei- oder mehrsei­ tiger Verträge, ohne daß die Zurückstellung der Prüfung von Forderungen be­ sonders betont zu werden brauchte. Derartige einschlägige Verträge zwischen

1. Vorlagebeschluß des LG Bremen

109

den ehemaligen Verbündeten des Deutschen Reichs und diesem bzw. der Be­ klagten gab und gibt es, soweit ersichtlich, nicht. Entgegen der Auffassung der Beklagten enthalten die Nebenfriedensverträ­ ge der Alliierten mit Ungarn und Rumänien aus dem Jahre 1947 keinen Forde­ rungsverzicht wegen der hier in Rede stehenden Ansprüche im Verhältnis zur Beklagten und somit keine Regelungen im Sinne von Art. 5 Abs. 4 LSchA. Das ORG Berlin (RzW 1967, 57) hat diesbezüglich eingehend und überzeu­ gend dargelegt, daß die in den Nebenfriedensverträgen ausgesprochenen Ver­ zichtserklärungen jedenfalls nicht solche Ansprüche umfassen, die rassisch Verfolgten wegen bzw. aufgrund dieser Verfolgung erwachsen waren. Die Kammer nimmt auf diese Ausführungen Bezug und macht sie sich zu eigen. b) Das Gericht ist der Überzeugung, daß Art. 5 Abs. 4 LSchA mit der Verfassung nicht mehr zu vereinbaren ist, da die danach fortbestehende Klage­ sperre inzwischen gegen Art. 14 und Art. 3 GG verstößt. Der Zweck des Art. 5 LSchA, den Vorrang (der Erfüllung) von Vorkriegs­ und Nachkriegsschulden zu sichern und die Leistungsfähigkeit der Bundesre­ publik zu erhalten (vgl. dazu etwa BGHZ 18, 22 m.w. Nachw.), rechtfertigt es nicht mehr, den Klägerinnen nach nunmehr über 47 Jahren Ansprüche für die geleistete Zwangsarbeit unter Hinweis auf den vorgenannten Zweck und/ oder die nach wie vor fehlenden vertraglichen bzw. gesetzlichen Regelungen vorzuenthalten. Die sachlichen Voraussetzungen für eine am Zweck des Art. 5 LSchA gegründeten Klagesperre sind jedenfalls seit der letzten einschlägigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1973 (NJW 1973 , 1549) unzweifelhaft entfallen. Die Bundesrepublik hatte sich seither weiterhin pro­ sperierend zu einem der wirtschaftlich reichsten Staaten der Erde entwickelt und war daher durchaus in der Lage, Regelungen zur Entschädigung und zum Ausgleich der in Art. 5 LSchA vorbehaltenen Forderungen zu treffen. Tat­ sächlich hat die Beklagte, dies soll nicht verkannt werden, erhebliche Anstren­ gungen unternommen und Leistungen erbracht, um nationalsozialistisches Un­ recht wiedergutzumachen und zu entschädigen (vgl. etwa BT-Drucks. 10/ 6287). Gegenüber Angehörigen der ehemaligen Ostblockstaaten fehlt es dage­ gen nach wie vor weitgehend an Wiedergutmachungs- und Entschädigungslei­ stungen. Die von den Klägerinnen geltend gemachten Ansprüche auf Bereicherungs­ ausgleich stellen Forderungen dar, die dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterliegen (vgl. etwa BVerfGE 83, 201). Bereits der Bundesgerichtshof (a.a. O.) hat angedeutet, ein auf Art. 5 LSchA gegründeter Klagestopp könne bei übermäßiger Dauer von einer bloßen Eigentumsbeschränkung in eine Ent­ eignung umschlagen, es allerdings unter Hinweis auf die Rechtsprechung des

1 10

G. Anhänge

Bundesverfassungsgerichts abgelehnt, die Klagesperre an Art. 14 GG zu mes­ sen. Dem kann im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr gefolgt werden. Zwar besteht eine weitgehend von Art. 14 GG nicht berührte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Bewältigung der außergewöhnlichen Probleme, die ihren Ursprung in den historischen Vorgängen vor Entstehung der Bundesrepublik haben, sowie beim Ausgleich der wirtschaftlichen und politischen Lasten aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des ehemaligen Deutschen Reiches (vgl. BVerfGE 1 5 , 126; 19, 150; 23 , 153; 29, 348; 4 1 , 126 sowie jüngst BVerfGE 84, 90, 125 f.) . Diese weitgehende Befreiung von den Bin­ dungen des Art. 14 GG gibt dem Gesetzgeber jedoch keine freie Entscheidung dahingehend, ob er überhaupt eine Ausgleichsregelung zugunsten der Betroffenen schafft (BVerfGE 84, 90, 128) . Da - wie dargelegt - eine Aus­ gleichsregelung zugunsten des Personenkreises, dem im weitesten Sinne die Kl�gerinnen angehören (Verfolgte der nationalsozialistischen Herrschaft, insbesondere Zwangsarbeiter, aus dem Bereich des ehemaligen sog. Ostblocks), bislang nicht getroffen wurde, obwohl der Zweck des Art. 5 Abs. 4 LSchA entfallen war, muß diese Vorschrift aufgrund der tatsächlichen historischen Entwicklung nicht nur als überholt, sondern im Hinblick auf Art. 14 GG als verfassungswidrig angesehen werden. Aus den bereits angeführten Gründen ergibt sich ferner, daß Art. 5 Abs. 4 LSchA außerdem wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG als verfassungswidrig an­ zusehen ist. War der Gesetzgeber - wie ausgeführt - nicht frei bei der Ent­ scheidung darüber, ob er Verfolgten nationalsozialistischen Unrechts über­ haupt einen Ausgleich gewährt, so hatte er bei dieser grundsätzlichen Ent­ scheidung und der Ausgestaltung von Ausgleichsregelungen das Gleichheitsge­ bot zu beachten. Während Staatsangehörigen der ehemaligen Westalliierten und zu den Stichtagen im Bundesgebiet wohnhaften Opfern nationalsozialisti­ scher Gewaltherrschaft weitgehende Entschädigungen gewährt wurden, hat die Beklagte dies gegenüber Staatsangehörigen der ehemaligen Ostblockstaaten unter Hinweis auf Art. 5 LSchA regelmä.ßig abgelehnt. Dies ist nach dem dar­ gelegten Entfallen des Zwecks der vorwiegend ökonomisch begründeten Schutzvorschrift des Art. 5 LSchA nicht mehr vertretbar. Die Weitergeltung der Vorschrift stellt sich mithin als mit dem Gleichheitsgebot unvereinbar dar. Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die absehbar immensen Kosten der Vereinigung Deutschlands und die darauf beruhende eingeschränk­ te Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik verweist, gibt dies zu einer abwei­ chenden Beurteilung keinen Anlaß . Diese neueste historische Entwicklung war bei Inkrafttreten des LSchA weder vorhersehbar noch Gegenstand der zugrun­ deliegenden Verhandlungen und daher vom erörterten Schutzzweck nicht um­ faßt. Im übrigen ist zu betonen, daß der Stundungszweck bereits weit vor der

I. Vorlagebeschluß des LG Bremen

111

sich erst ab Ende 1989 abzeichnenden Vereinigung Deutschlands entfallen war. Im Hinblick auf die jedenfalls noch im Jahre 1973 für verfassungsgemäß und fortdauernd angesehene klagesperrende Wirkung des Art. 5 LSchA (vgl. BGH, NJW 1973, 1439) kann den Klägerinnen nicht entgegengehalten wer­ den, sie hätten ihre Ansprüche zeitiger verfolgen müssen. Der Beginn der 30jährigen Verjährungsfrist begann mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Klagesperre nicht vor 1973 zu laufen. Mit ihrer - so­ mit erfolglosen - Verjährungseinrede verhält sich die Beklagte in gewisse Wei­ se widersprüchlich: Einerseits beruft sie sich auf die Fortdauer der Klagesper­ re, andererseits hält sie die Forderungen für verjährt. 3. Nach alledem kommt es streitentscheidend auf die Frage der Verfas­ sungswidrigkeit von Art. 5 Abs. 4 LSchA an. Die Kammer hat erwogen, ob diese Vorschrift nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann. Sie sieht sich dazu nach Wortlaut und Sinn der Norm und dem darin enthaltenen Vorbe­ halt zugunsten ausdrücklich geforderter einschlägiger Regelungen außerstande. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen kann nicht ausgeschlossen werden, daß derartige Regelungen noch getroffen werden. So erwägt die Beklagte der­ zeit, Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter aus Rußland durch Zahlung einer Entschädigung abzugelten (vgl. Der Spiegel Nr. 42/1992, S. 14). Nach alledem war die Sache dem Bundesverfassungsgericht gern Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 BVerfGG zur Entscheidung über die Verfassungs­ mäßigkeit des Art. 5 Abs. 4 LSchA vorzulegen. 4. Unbeschadet der nach Ansicht der Kammer gegebenen Verfassungs­ widrigkeit von Art. 5 Abs. 4 LSchA hängt die Entscheidung des Rechtsstreits auch von der Frage ab, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bun­ desrechts ist, die Betroffenen völkerrechtswidriger staatlicher Handlungen in­ dividuelle Rechte eröffnet oder sperrt. An der Völkerrechtswidrigkeit der Heranziehung der Klägerinnen zur Zwangsarbeit besteht kein Zweifel. Nach verbreiteter Ansicht sind Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter auf Vergütung der geleisteten Tätigkeiten als Unterfall von Reparationsforderungen anzusehen (vgl. BGH RzW 1963, 525). Daraus wird einerseits gefolgert, ein Ausgleich derartiger Forderungen müsse zwischenstaatlichen Vereinbarungen vorbehalten bleiben, der in völkerrechts­ widriger Weise Geschädigte habe keinen völkerrechtlichen Individualanspruch (BGH a.a.O. unter Hinweis auf die Staatenpraxis und auf Granow, AöR 77, 67, Feaux de la Croix, NJW 1960, 2268). Auf der anderen Seite hat es der Bundesgerichtshof (RzW 63 , 528) trotz des "unlösbaren Zusammenhangs" mit

G. Anhänge

11 2

dem völkerrechtlichen Reparationsproblem ausdrücklich abgelehnt, privat­ rechtlichen Entschädigungsforderungen von vornherein die Berechtigung abzusprechen, und in diesem Zusammenhang Bedenken geäußert, ob es einen anerkannten Grundsatz der Exklusivität völkerrechtlicher Entschädigung gibt, der Individualansprüche ausschließt. Hervorzuheben ist ferner, daß Art. 5 LSchA neben den Forderungen von Staaten auch solche von Staatsangehörigen jener Staaten ausdrücklich nennt und damit ebenfalls von der Möglichkeit individueller Ansprüche auszugehen scheint. Die Kammer teilt die vom Bundesgerichtshof erhobenen Zweifel an der Exklusivität. Wie ausgeführt handelt es sich bei den in Rede stehenden berei­ cherungsrechtlichen Ansprüchen um solche privatrechtlicher Natur. Hinzu kommt, daß Art. 5 Abs. 4 LSchA Sanktionscharakter hat (so BGH, NJW 1973, 1549) und nicht an die aus dem Zweiten Weltkrieg herrührenden Forde­ rungen anknüpft (anders Art. 5 Abs. 2 und 3 LSchA). Andererseits stellt Art. 5 Abs. 4 LSchA auf die getroffenen bzw. noch zu treffenden einschlägigen Verträge ab. Damit stellt sich wiederum die Frage des Vorrangs völkerrechtli­ cher Vereinbarungen und der Exklusivität darin enthaltener Entschädigungsre­ gelungen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang ferner auch auf die in Art. 5 des Abkommens über die Sklaverei (RGBl II, 1929, 63) enthaltene Ent­ schädigungsregelung. In Hinblick auf die dargelegten unterschiedlichen Auffassungen zur Frage des Vorrangs bzw. der Ausschließlichkeit völkerrechtlicher Vereinbarungen zur Entschädigung von völkerrechtswidrigen Handlungen gegenüber Einzel­ personen und daraus resultierenden Zweifeln der Kammer bedurfte es gemäß Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 83 f. BVerfGG einer Vorlage zur Herbeiführung ei­ ner Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den in der Beschlußformel formulierten Fragen.

Bremen, den 3 . Dezember 1992 Das Landgericht - 1 . Zivilkammer gez. Gass

gez. Berger

gez. Lüttringhaus

113

Il. Vorlagebeschluß des LG Bonn

II. Vorlagebeschluß des L G Bonn vom 2.7.1993 Geschäftsnummer 1 0 134/92

Anlage zum Verkündungsprotokoll vom 02. Juli 1993 Verkündet am 02. Juli 1 993

LANDGERICHT BONN

VorlageBESCHLUSS In dem Rechtsstreit 1 . der Frau M . K. , . . . , Israel, 2. der Frau D. R. , . . . , Israel, 3. der Frau B. M. S . , . . . , Israel, 4. der Frau C. R. , . . . , Israel, 5. der Frau S. E. , . . . , Israel, 6. der Frau B . S. , . . . , Israel, 7. der Frau T. Z. , . . . , Israel, 8. der Frau R. H. , . . . , Israel, 9. der Frau S. S . , . . . , Israel,

8 Randelzhof