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German Pages 111 [112] Year 1960
HAMBURGER
ROMANISTISCHE
STUDIEN
A. Allgemeine Romanistische Reihe (Fortsetzung der Reihe »Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen«) herausgegeben von Rudolf Grossmann und Hellmuth Petriconi Direktoren des Romanischen Seminars der Universität Hamburg Band 45
BERNHARD
KÖNIG
DIE BEGEGNUNG IM TEMPEL Abwandlungen eines literarischen Motivs in den Werken Boccaccios
KOMMISSIONSVERLAG: CRAM, DE GRUYTER & Co. HAMBURG 1960
Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck von H. J. J. Hay, Kellinghusen (Holstein)
Inhalt I. Einleitung
?
II. Fiammetta und ihre Ahnen
Ii
III. Autobiographie und Exordialtopik
37
IY. »Costumanze sicure« und »Canoni letterari« . . .
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V. Zur Geschichte der »Tempelbegegnung«
. . . .
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Literaturverzeichnis
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Verzeichnis der Abkürzungen
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Einleitung Premièrement, il [sc. un amant] doit voir au temple [ . . . ] la personne dont il devient amoureux . . . Molière, »Les Précieuses ridicules« Als M. D u v e y r i e r , einer d e r b e d e u t e n d s t e n B e w o h n e r des im M i t t e l p u n k t von Zolas »Pot-Bouille« s t e h e n d e n H a u s e s in d e r r u e d e Choiseul, w i e d e r e i n m a l sein Ideal einer »maîtresse honnête« preist, da wissen seine F r e u n d e sdion längst, d a ß sein bürgerliches Maitressen-Glück mit d e r G e l i e b t e n Ciarisse nidits als eine s e n t i m e n t a l e Illusion ist. Weil sie ihm a b e r nicht schon vorzeitig mitteilen wollen, was er o h n e h i n noch f r ü h genug e r f a h r e n m u ß — d a ß nämlich Clarisse g a r nicht d a r a n denkt, ihm d i e T r e u e zu h a l t e n —, u n d weil sie ihn anderseits doch auch schon e t w a s auf die b e v o r s t e h e n d e Enttäuschung v o r b e r e i t e n m ö d i t e n (die Zola b a l d d a r a u f in einer köstlichen Szene d a r s t e l l e n w i r d ) , gibt d e r a l t e L e b e m a n n Bachelard seine eigenen E r f a h r u n g e n zum besten, als ein E x e m p l u m f ü r d e n gewöhnlichen Verlauf eines Verhältnisses mit d e r l e i F r a u e n z i m m e r n : »Mais j ' e n ai eu, des maîtresses honnêtes! [ . . . ] Elles sont encore plus assommantes q u e les a u t r e s [ . . . ] P a r exemple, m a d e r n i è r e , u n e petite d a m e t r è s bien, q u e j ' a v a i s r e n c o n t r é e à la p o r t e d ' u n e église. Je lui loue, a u x Ternes, u n c o m m e r c e de modes [ . . . ) Eh b i e n ! monsieur, vous m e croirez si vous voulez, mais elle couchait a v e c t o u t e la rue« 1 ). Gewiß, sagt sich d e r Leser, so m a g es sich tatsächlich z u g e t r a g e n h a b e n : Ein B o n v i v a n t dubiosen C h a r a k t e r s stößt vor einer Kirche auf ein weibliches Wesen, dessen Beruf o f f e n b a r e i n d e u t i g ist, richtet dieser D a m e einen L a d e n ein (»histoire d e la p o s e r ; pas u n e cliente, d'ailleurs«) u n d w i r d dennoch von i h r b e t r o g e n — es w a r wohl nicht a n d e r s zu e r w a r t e n . 1) Émile Zola, Pot-Bouille. Notes et commentaires de Maurice Le Blond (Les Œuvres Complètes, Les Rougon-Macquart), Paris 1928, S. 211. 7
Daß ein solcher Mann aber eine solche Frau gerade vor einer Kirche trifft — einem Gebäude, das im Leben eines Bachelard im übrigen überhaupt keine Rolle spielt —, gibt dem Literarhistoriker zu denken. Denn es gab eine Zeit (und seither muß sich einiges verändert haben), da sich in oder bei einer heiligen Stätte andere Menschen trafen, andere Schicksale entschieden — jedenfalls in der Dichtung. Jahrhunderte-, um nicht zu sagen jahrtausendelang war die Kirche, war der Tempel (wohlgemerkt: in der Dichtung) der Ort, an dem sich zwei außerordentliche Menschen zu besonders festlicher Stunde zum ersten Male zu begegnen pflegten, und im selben Augenblick, da sie einander sahen, wurden sie, von denen doch selber ein Schimmer des Göttlichen ausging, vom Pfeile des größeren Gottes der Liebe getroffen. Ihre B e g e g n u n g i m T e m p e l (ihre »Tempelbegegnung«, wie wir das Motiv formelhaft bezeichnen wollen) war ihr Schicksal, durch sie wurden sie auf die Bahn ihrer gewaltigen Liebe getrieben, die nach vielen Fährnissen bisweilen zum Glück führte, häufiger aber nach wenigen seligen Stunden zu übergroßem Leid. Unzählige Liebesgeschichten in vielen Sprachen beginnen mit einer solchen »Tempelbegegnung«, und es ist seltsam, daß noch niemand die Geschichte dieses literarischen Motivs geschrieben hat. Und doch auch wieder so seltsam nicht, wenn man bedenkt, daß es häufig gar nicht als l i t e r a r i s c h e s Motiv erkannt wird, sondern — wo immer es auftreten mag — sehr gerne mit Hinweisen auf kulturhistorische oder biographische Hintergründe abgetan wird, die seine jeweilige Verwendung erklären sollen. In Wirklichkeit handelt es sich um einen der konstantesten Topoi der Literaturgeschichte, und eben deswegen muß jede Dichtung, in der dieses Motiv erneut an wichtiger Stelle erscheint, von dessen literarischer Tradition her interpretiert werden. Das soll im folgenden an einigen markanten Beispielen durchgeführt werden, insbesondere an den frühen Werken Boccaccios (wenn man die vor dem »Decameron« verfaßten W e r k e so pauschal »früh« nennen darf), die reich sind an »Tempelbegegnungen«, deren literarischer Herkunft und Bedeutung die Forschung bisher nicht sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt hat. Auch hier schienen die Lebensgeschichte des Autors (die man vorher aus persönlichen Anspielungen in seinen Dichtungen rekonstruiert hatte und die deswegen von vornherein weniger Glauben verdient hätte) und die Sitten der Zeit eine hinreichende Erklärung für die Verwendung unseres Topos zu bieten. Aber Boccaccio, und zumal der junge Boccaccio, war ein Schriftsteller, 8
d e r sich b e w u ß t eng, bisweilen allzu eng, a n ä l t e r e Dichtungen anlehnte 2 ), u m d e r e n T r a d i t i o n fortzusetzen, u n d d e r Blick auf diese seine Muster allein k a n n helfen, die literarische Absicht seiner W e r k e zu e r k e n n e n u n d i h r e n historischen S t a n d o r t zu b e s t i m m e n . U n d d a das Motiv d e r »Tempelbegegnung« in seinen Dichtungen, in d e n e n es in i m m e r n e u e n A b w a n d l u n g e n a u f t r i t t , eine ü b e r a u s wichtige Rolle spielt, m a g die U n t e r s u c h u n g seines l i t e r a r i s c h e n U r s p r u n g s u n d Sinnes auch wohl einiges zum rechten V e r s t ä n d n i s d e r Dichtungen selbst b e i t r a g e n . Sie m a g z u d e m e t w a s d a z u mithelfen, j e n e m Abschnitt d e r B i o g r a p h i e Boccaccios, d e n m a n durch biographistische A u s l e g u n g e n dieser A b w a n d l u n g e n mit Sicherheit erschlossen zu h a b e n g l a u b t u n d von d e m in allen L i t e r a t u r geschichten a u s f ü h r l i c h u n d mit dem T o n d e r Selbstverständlichkeit die R e d e ist, endlich d e n ihm g e b ü h r e n d e n P l a t z im Reich d e r L e g e n d e anzuweisen. — W e n n wir, von Boccaccio a u s g e h e n d , w e i t e r e Einsichten in das Vor- u n d F o r t l e b e n u n s e r e s Motivs (bis hin zu seiner m e r k w ü r d i g e n E n t z a u b e r u n g bei Zola, von d e r w i r eben gesprochen h a b e n ) zu g e w i n n e n suchen, so möchten w i r d a m i t zugleich eine erste Vorstudie z u r Geschichte d e r »Tempelbegegnung« liefern. I h r langes L e b e n bildet ein schönes Beispiel f ü r die K o n t i n u i t ä t d e r abendländischen literarischen T r a d i t i o n noch in i h r e n kleinsten Elementen.
2) »Questo dettatore giovane ha l'indiscrezione, barbarica e scolastica, di appropriarsi dagli autori antichi o recentissimi, che egli ha scelto come cordiali patroni, troppi prestiti« — so einer der besten Boccaccio-Kenner unserer Tage, dem wir das meiste von dem verdanken, was wir heute über die Arbeitsweise Boccaccios, sein Verhältnis zu literarischen Vorbildern, die Entstehungsgeschichte seiner Werke wissen: Giuseppe Billanovich, Prime ricerche dantesche, Roma 1947, S. 24. 9
Fiammetta und ihre Ahnen Ille dies primus leti primusque malorum causa fuit. V e r g ü >>Aeneis« »Flendus amor meus est; elegia flebile Carmen«, läßt Ovid die liebende Sappho schreiben 1 ), und mehr als tausend Jahre später wird einer der glühendsten Verehrer des lateinischen Dichters, Giovanni Boccaccio aus Certaldo, eine andere F r a u Tränen über ihre unglückliche Liebe, über die Trennung vom fernen Geliebten vergießen lassen. Zwar legt die neue Heldin ihre Erinnerungen nicht im elegischen Versmaß nieder, sondern in wohlgeformten italienischen Sätzen, aber der Autor, der ihre Hand lenkt, erinnert sich sdion im Titel an sein großes Vorbild und nennt sein W e r k : »Elegia di Madonna Fiammetta« 2 ). Sicher denkt er auch an einen 1) Her. XV (»Sappho Phaoni«), V. 7. Ovids »Heroiden« werden zitiert nach der Ausgabe: Ovide, Héro'ides. Texte établi par Henri Bornecque et traduit par Marcel Prévost (Collection des Universités de France, Association Guillaume Budé), Paris 1928. 2) Giovanni Boccaccio, L'Elegia di Madonna Fiammetta con le chiose inedite, a cura di Vincenzo Pernicone (Scrittori d'Italia, 171, G. Boccaccio, Opere IV), Bari 1939. Wir zitieren im folgenden nach dieser Ausgabe. An der Herstellung des kritischen Textes arbeitet gegenwärtig Antonio Enzo Quaglio, der auf Grund einer genauen Untersuchung des Handschriftenmaterials und der frühen Drucke bereits eine lange Reihe von Besserungsvorschlägen unterbreitet hat (Per il testo della »Fiammetta«, in SFI 15 |1957], S. 5-205, bes. S. 144 ff.). Der Pernicone-Text bildet auch die Grundlage der folgenden von uns benutzten Ausgaben (wir zitieren abgekürzt) : G. B., L'Elegia di M. F., a cura di Salvatore Battaglia (Corona, Collezione universale Bompiani, 15), Milano-FirenzeRoma 1944; G. B., Fiammetta. Saggio introduttivo, commento e note di Guido Parazzoli, Milano o.J. (1946? Vorwort datiert: 1944); L'Elegia di M. F., a cura di Carlo Salinari e Natalino Sapegno, in dem Band: G. B., Decameron, Filocolo, Ameto, Fiammetta, a cura di E. Bianchi, C. S., N. S. (La Letteratura Italiana, Storia e Testi, 8), Milano-Napoli 1952. Nicht zugänglich war uns die nur in zweihundert unverkäuflichen Exemplaren hergestellte Ausgabe: G. B., L'Elegia di M. F., a cura di Franca Ageno, con una notizia stilistica di Alfredo Schiaffini, Paris 1954.
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a n d e r n v e r e h r t e n Meister, d e r anläßlich d e r D e f i n i t i o n d e r d r e i Stilarten gesagt h a t t e : » [ . . . ) p e r elegiam stilum intelligimus miserorum« 3 ), u n d w e n n ü b e r h a u p t ein W e r k Anspruch d a r a u f e r h e b e n k a n n , d e n »Stil d e r Unglücklichen« exemplarisch zu v e r t r e t e n , d a n n ist es die K l a g e d e r unglücklichen, von ihrem treulosen G e l i e b t e n verlassenen F i a m m e t t a . Ein T o n d e r T r a u e r beherrscht vom ersten bis zum letzten Satz dieses W e r k , dessen H e l d i n u n d angebliche V e r f a s s e r i n nichts w e i t e r darstellt als ihr v e r z w e i f e l t e s W a r t e n auf den U n g e t r e u e n , i h r e vom Schmerz des Verlustes ü b e r l a g e r t e n E r i n n e r u n g e n a n das einstige Glück mit d e m geliebten P a n f i l o , i h r e fürchterliche Eifersucht, die durch j e d e s zu ihr d r i n g e n d e Gerücht ü b e r sein L e b e n in d e r F e r n e n e u angestachelt w i r d , i h r e Todessehnsucht, die sie a n d e n R a n d des Selbstmordes treibt, ihr elendes, j a m m e r v o l l e s A u s h a r r e n in h o f f n u n g s l o s e r Lage. Ein Ton d e r T r a u e r , b a l d v e r h a l t e n und resigniert, b a l d leidenschaftlich b e w e g t , stets a b e r g e t r a g e n v o n d e r Gemessenheit u n d s t r e n g e n H o h e i t eines Stils, d e n n u r ein an mittelalterlicher R h e t o r i k u n d »ars dictandi«, v o r allem a b e r auch a n a n t i k e n V o r b i l d e r n geschulter A u t o r h e r v o r z u b r i n g e n v e r mochte 4 ). L a n g e b e v o r die m o d e r n e Forschung s i d i »unter d e m Schlagwort d e r Modernität« 5 ) w i e d e r f ü r die »Elegia« zu i n t e r 3) Dante Alighieri, De Vulgari Eloquentia, ridotto a miglior lezione, commentato e tradotto da Aristide Marigo (Opere di Dante. Nuova edizione diretta da Michele Barbi, VI), Firenze 1948, S. 192 (II iv 5). Auf diese Definition und auf den mittelalterlichen lateinischen Prototyp der Gattung, die »Elegia sive miseria« des Arrigo da Settimello, verweist zur Erklärung von Boccaccios »EIegia«-Titel V. Pernicone im Nachwort seiner oben zitierten Ausgabe (S. 253 f.). Gerade der Charakter der »Fiammetta« als Frauen- und Liebesklage weist aber eindeutig auf Ovids »Heroiden« als klassisches Vorbild zurück. 4) Uber Grundlagen und Entwicklung von Boccaccios Stil unterrichtet Alfredo Schiaffini, Tradizione e poesia nella prosa d'arte italiana dalla latinità medievale a G. Boccaccio (Storia e Letteratura, 1), "Roma 1943, S. 169 ff. Vgl. außerdem Francesco Maggini, II Boccaccio traduttore dei classici, in MSV 41 (1933), S. 3-12, etwas gekürzt wieder abgedruckt in Magginis Aufsatzsammlung: I primi volgarizzamenti dai classici latini, Firenze 1952, S. 90 ff. Gerade für die »Fiammetta« kann Maggini feststellen (S. 96) : »Certo ormai agli schemi dell'>Ars dictandi< [ . . . ] si sovrappone l'esempio dell'arte dei classici«. 5) Walter Pabst, Venus als Heilige und Furie in Boccaccios FiammettaDichtung (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln, XII), Krefeld 1958, S. 8. Auf S. 5-14 dieses wichtigsten neueren Beitrags zur »Fiammetta«Interpretation findet man einen ausgezeichneten Überblick über die Wege und Irrwege der bisherigen Forschung. Eine kritische Übersicht über Ent12
essieren begann, siebzig Jahre ehe Francesco de Sanctis das Werk als »psychologischen Roman« charakterisierte") und gleichzeitig seine Langatmigkeit und Langweiligkeit tadelte — zwei Urteile, die alle nachfolgende »Fiammetta«-Kritik bis auf den heutigen T a g bestimmt haben 7 ) —-, im Jahre 1801 ist einer der empfänglichsten Leser der »Elegia«, Friedrich Sdilegel, derart von der »gleichartigen stehung und Geschichte der These von der »Modernität« der »Elegia«, durch die Boccaccio neuerdings zu einer Art Proust-Vorläufer aufgerückt ist, gibt Dario Rastelli, L a modernità della »Fiammetta«, in C (r. n.) 1947, S. 703-715. Bester Beweis für das neue Interesse an der »Elegia« ist außer einer reichen kritischen Literatur (noch 1937 mußte der Verfasser eines Forsdiungsberichtes feststellen, daß es keine Spezialstudie zur »Elegia« gebe: Siro A. Chimenz, Trecento, in: Un cinquantennio di studi sulla letteratura italiana [1886-1936], Saggi dedicati a Vittorio Rossi, Bd. 1, Firenze 1937, S. 163) eine erstaunliche Fülle von Neuauflagen, wie sie sonst nur nodi der »Decameron« aufweisen kann. 6) »La >Fiammetta< è un romanzo intimo e psicologico«: Francesco de Sanctis, Storia della letteratura italiana. Nuova edizione a cura di Benedetto Croce (Scrittori d'Italia), Bd. 1, Bari 1912, S. 296 (erste Auflage: 1870). Zur Geschichte und Kritik der Verwendung des meist im modernen Sinne aufgefaßten Begriffs »Psychologie« im Zusammenhang mit der »Fiammetta« vgl. Dario Rastelli, »L'Elegia di Fiammetta«. Il mito mondano e la caratterizzazione psicologica della protagonista, in: Studia Ghisleriana, Serie II, vol. I, Pavia 1950, S. 153-173, der mit Recht betont, daß »la vita interiore di Fiammetta viene schematizzata, in circostanze capitali, secondo le abitudini narrative del Medioevo« (S. 167), daß »il Boccaccio rielabora [ . . . ] i luoghi comuni della psicologia amatoria medievale« (S. 169). Auch hier wird man aber auf den bedeutenden direkten Einfluß Ovids verweisen müssen, auf den j a letztlich auch die entsprechenden mittelalterlichen Dichtungspraktiken zurückgehen. D a s gilt auch für den französischen höfischen Roman (vgl. Edmond Farai, Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du Moyen Age, Paris 1913: Ernest Langlois, Origines et sources du Roman de la Rose, Paris 1890) und die Werke Chrestiens, deren Einwirkung auf Boccaccio Rastelli wiederholt vermutet (außer der eben genannten Arbeit, S. 164, vgl. noch: D. Rastelli, L e fonti letterarie del Boccaccio nell'»Elegia di Madonna Fiammetta«, in: Saggi di Umanismo Cristiano, 1949, n. 3, S. 3-14 pass.; Spunti lirici e narrativi, motivi stilistici nella »Fiammetta« di G. Boccaccio, in LI 3 [1951], S. 83-98 pass., bes. S. 85 f. Anm. 5. — Wir möchten nicht versäumen, Herrn D. Rastelli - Cremona auch an dieser Stelle Dank zu sagen für die freundliche Überlassung von Sonderdrucken einiger seiner Arbeiten, die in deutschen Bibliotheken nicht vorhanden sind). 7) Von einem »romanzo prolisso, noioso« spricht de Sanctis a . a . O . S. 297. — Uber die gesamte Geschichte der »Fiammetta«-Forschung orientiert umfassend Dario Rastelli, Notizie storiche e bibliografiche sulla composizione e sulla fortuna dell'»Elegia di Madonna Fiammetta« e del »Ninfale Fiesolano« di G. Boccaccio, in: Annali della Biblioteca Governativa e Libreria Civica di Cremona IV (1951), fase. 2, Cremona 1952.
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Hoheit und innern Durchbildung und A u s b i l d u n g « ihres Stils h i n g e r i s s e n , d a ß er » o h n e U e b e r t r e i b u n g « s a g e n zu d ü r f e n g l a u b t , »dass das Vortrefflichste und Grösste, was der D e c a m e r o n e a u f z u w e i s e n hat, n u r a l s A n n ä h e r u n g o d e r N a c h h a l l e r s c h e i n e n k a n n g e g e n d i e s e W ü r d e u n d Schönheit« 8 ). K e i n T a d e l s c h r ä n k t s e i n b e w u n d e r n d e s U r t e i l ü b e r d i e s e E l e g i e ein, » d i e w ü r d i g w ä r e , zwischen d e n b e s t e n d e s A l t e r t h u m s u n d d e n G e s ä n g e n d e s P e t r a r c a a u f d e m A l t a r e d e r L i e b e zu r u h e n « , k e i n h a r t e s W o r t f ä l l t ü b e r d e n s p ä t e r so v i e l g e s c h m ä h t e n » a b u s d e l a m y t h o l o g i e « 9 ) , d e r e n künstlerische B e d e u t u n g erst Francesco F l o r a anerkennen wird10). U n d e r s t d i e n e u e s t e K r i t i k w i r d auch i n d e r » d i g n i t à d e l l o s t i l e « w i e d e r eines d e r wichtigsten l i t e r a r i s c h e n Z i e l e B o c c a c c i o s s e h e n , 8) Friedrich Schlegel, Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio, in: Friedrich Schlegel 1794-1802, Seine prosaischen Jugendschriften, herausgegeben von J. Minor, Bd. 2, Wien 1882, S- 396-414 (der Abschnitt über die »Fiammetta«, aus dem unsere Zitate stammen, S. 408 f.). Der Aufsatz, der für Deutschland den Beginn der literarhistorischen Beschäftigung mit dem Dichter des »Decameron« bedeutet, und der nach Schlegels Absicht den »Freunden der Poesie« Kenntnis von allen (damals teilweise schwer zugänglichen und außer dem »Decameron« kaum bekannten) Werken Boccaccios geben sollte, erschien zuerst in dem Werk: »Charakteristiken und Kritiken« von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 2, Königsberg 1801. Seltsamerweise wird er heute nur noch in Studien zur Novellentheorie angeführt (vgl. z. B. Walter Pabst, Die Theorie der Novelle in Deutschland [1920-1940], in R J b II [1949], S. 91), obwohl Schlegel vom »Decameron« nur sehr kurz und anhangsweise handelt. Die »Fiammetta«-Forschung hat sich, soweit wir wissen, nicht an ihn erinnert, und doch bleibt er bemerkenswert, denn nie wieder hat die »Elegia« ein so vorbehaltloses Lob erhalten wie auf diesen enthusiastischen Seiten Schlegels, der zum Schluß ausruft: »O möchte doch das Göttliche nicht immer verkannt sein und vergessen, so würde es von diesem Gebilde der einfachsten aber der höchsten Dichtkunst nicht eines literarischen Berichtes bedürfen!« ( a . a . O . S. 409). — Schlegels Lobgesang hat wahrscheinlich Sophie Brentano dazu veranlaßt, die »Elegia« zum ersten Male ins Deutsche zu übertragen: Fiametta. Aus dem Italienischen des Boccaccio übersetzt von Sophie Brentano, Berlin 1806. 9) Henri Hauvette, Boccace. Étude biographique et littéraire, Paris 1914, S. 151. Immerhin wendet sich auch schon Hauvette (ebda. S. 152 f., unter Hinweis auf A. Albertazzi, Il Romanzo [Storia dei generi letterari italiani], Milano 1902, S. 34) gegen übertriebene und historisch ungerechte Vorwürfe gegen diese Seite der »Elegia«, wie sie seit de Sanctis wiederholt wurden, insbesondere von Rodolfo Renier, L a Vita Nuova e la Fiammetta, Torino - Roma 1879, S. 318 ff. Zur weiteren Geschichte und zur Kritik dieser Vorwürfe vgl. D. Rastelli, Le fonti l e t t e r a r i e . . . , a. a. O. S. 6 ff. 10) Francesco Flora, Storia della letteratura italiana, Bd. 1, Milano 1940, S. 288. 14
w i r d s e i n e Absicht verstehen, sich als Dichter zu e r w e i s e n auch und vor a l l e m durch e i n e Sprache, »che a v v o l g a q u e s t e cose [die d a r g e s t e l l t e n seelischen Vorgänge] di un'aura di n o b i l t à e dignità, e con il latinismo accorto, con la parola antiquata o poetica, con l'inversione stilistica, con l a musica s a p i e n t e m e n t e m o d u l a t a e pausata, nobiliti q u e l l e cose che talvolta s o n umili e le trasfiguri di poesia e di bellezza« 1 1 ), Ein Musterbeispiel für die h o h e Stilkunst, mit der es B o c c a c c i o gelingt, aus e i n e m t a u s e n d m a l b e h a n d e l t e n T h e m a — der a l t e n und immer w i e d e r n e u e n Geschichte v o n der Frau, die nach k u r z e m Liebesglück v o m G e l i e b t e n v e r l a s s e n k l a g e n d zurückbleibt — ein n e u e s M e i s t e r w e r k z u schaffen, ist gleich der A n f a n g des ersten Kapitels, auf d e n w i r u n s e r e Betrachtungen beschränken w o l l e n : der Rückblick der H e l d i n auf d e n feierlichen, a u ß e r g e w ö h n l i c h e n B e g i n n ihres schlimmen Schicksals. W i e der A u t o r hier alle R e g i s t e r seiner durch das sehr g e w i s s e n h a f t e S t u d i u m mittelalterlicher Rhetoriken, klassischer u n d m u s t e r h a f t e r vulgärsprachlicher Texte 1 2 ) gebildeten, nach l a n g e n Übungen 1 3 ) zur Meisterschaft e n t w i c k e l t e n 11) Giuseppe Petronio in seiner Besprechung der »Elegia«-Ausgabe von S. Battaglia, in: La Rassegna d'Italia I (1946), n. 12, S. 121. — Musterh a f t erschien Boccaccios Sprache natürlich den Renaissance-Lesern. So schreibt G. Squarciafico im Begleitbrief der venezianischen »Fiammetta«Ausgabe von 1481: »Quanto sia polito, terso e eloquente il nostro Boccacio, in questo suo idioma vulgare ciaschuno huomo d'ingegno il può e debbe per il più excellente die alcuno altro iudicare, dico in soluta orazione« (zitiert nach dem Wiederabdruck in der »Elegia«-Ausgabe von V. Pernicone, a. a. O. S. 220). 12) Yon besonderer Bedeutung f ü r Boccaccios Sprache ist der »stile latineggiante dei traduttori dai classici«, zu denen er selber, ganz abgesehen von vielen Übersetzungen einzelner klassischer Passagen in seinen W e r k e n — vgl. F. Maggini, II Boccaccio t r a d u t t o r e . . . , a. a. O. — durch seine Liviusübersetzung gehört, vgl. zuletzt G. Billanovich, II Boccaccio, il P e t r a r c a e le più antiche traduzioni in italiano delle Decadi di Tito Livio, in GSLI 130 (1953), S. 311-337. Vgl. außerdem: A. Schiaffini, Tradizione e poesia . . . , a. a. O. S. 129 ff. ; F. Maggini, Le prime traduzioni di Tito Livio, in: La Rassegna 24 (1916), S. 247-256 und 420-430, jetzt auch in: I primi volgarizzamenti..., a . a . O . S. 54 ff.; Ernesto Giacomo Parodi, La cultura e lo stile del Boccaccio (erstmals 1913), wiederabgedruckt in der Sammlung der Aufsätze Parodis: Lingua e Letteratura, a cura di Gianfranco Folena (Biblioteca di Cultura, 16), Bd. 2, Venezia 1957, S. 470-479. 13) So sind z. B. Boccaccios f r ü h e lateinische Briefe Übungen der »ars dictandi«, vgl. G. Billanovich, Restauri boccacceschi (Storia e Letteratura, 8), 2 Roma 1947, S. 49-78 (Kap. III; vorher als Aufsatz mit dem Titel: Boccaccio dettatore, in GSLI 121 [1943], S. 109-133). 15
S p r a c h k u n s t zieht, w i e er es f e r t i g b r i n g t , durch s o r g f ä l t i g e W a h l d e r E p i t h e t a , durch m e t r i s c h e G l i e d e r u n g der S ä t z e u n d r h y t h m i s c h e Klauseln 1 4 ), durch architektonische A u f t e i l u n g der A b s c h n i t t e , sorgfältig überlegte Anordnung der Szenen und kunstvoll geleitete B e w e g u n g der G e s t a l t e n e i n e A t m o s p h ä r e d e r B e s o n d e r h e i t , e i n e W e l t h ö f i s c h - r a f f i n i e r t e r A r i s t o k r a t i e z u erschaffen, das ist k ü r z l i c h von D a r i o Rastelli in einer sorgfältigen A n a l y s e aufgezeigt w o r d e n 1 5 ) . M a n darf a b e r nicht ü b e r s e h e n , daß d i e s e r M y t h o s i d e a l e n h ö f i s c h e n L e b e n s nicht S e l b s t z w e c k ist 16 ), s o n d e r n e i n e g a n z b e s t i m m t e F u n k t i o n (der S t e i g e r u n g u n d d e s G e g e n s a t z e s ) innerh a l b d e r G e s a m t k o m p o s i t i o n ausübt. D i e b e s o n d e r e W i r k u n g d e r E i n g a n g s s z e n e (und das gilt in a b g e w a n d e l t e r F o r m v o n ä h n l i c h e n Abschnitten in s p ä t e r e n Kapiteln 1 7 )) b e r u h t g e r a d e auf d e m d u r d i 14) Grundsätzliche A b h a n d l u n g : E. G. Parodi, Osservazioni sul »cursus« nelle opere latine e volgari del Boccaccio, in MSY 21 (1913), fasc. 2-3 ( = Studii su Giovanni Boccaccio. VI centenario della nascita di G. B., Castelfiorentino 1913), S. 232-245, jetzt auch in: Lingua e L e t t e r a t u r a , a. a. O. S. 480 ff. — Über die rhythmische Prosa im »Decameron« vgl. den schönen Aufsatz von Vittore Branca, S t r u t t u r e della prosa: scuola di retorica e ritmi di fantasia, in: Boccaccio medievale, Firenze 1956, S. 29-70 (und vorher in SG, N. S. IV [1951], S. 21-58, u n t e r dem Titel: Tecnica e poesia nella prosa del »Decameron«), sowie D. Rastelli, L e t t u r e boccaccesche, in: Studia Ghisleriana, Serie II, vol. II, Pavia 1957, S. 129-175 pass., bes. S. 139 ff. 15) »L'Elegia di Fiammetta«. II mito m o n d a n o . . . , a . a . O . S. 153-163; auch in dem der ganzen »Elegia« gewidmeten Aufsatz: Spunti l i r i c i . . . , a. a. O. weist Rastelli wiederholt auf das »ideale mondano e aristocraticos (S. 93) hin, dem Boccaccios besondere Liebe gilt. 16) Zu solcher A u f f a s s u n g neigt Rastelli, wenn er »il mito di Napoli e della corte di Re Roberto« als »il f o n d a m e n t a l e tema lirico dell'>ElegiaAmeto< e deU'>Amorosa VisioneFilocolo< da esso intitolato è perfettamente autobiografico.« 40) Das Programm seines »Contributo« formuliert er so (ebda. S. 70): »Le opere giovanili del nostro vanno ordinate e studiate secondo i rapporti ch'esse presentano colle fasi di questa storia amorosa«. Das bleibt das Programm der Boccaccio-Forschung bis zu Hauvettes »Boccace« (1914), auf dem dann fast alle späteren Darstellungen in Handbüchern und Literaturgeschichten beruhen. 41) Contributo, a . a . O . S. VII f. (Vorwort), und erneut in V. Crescini, »Fiammetta« di Giovanni Boccaccio (Lectura Dantis), Firenze 1913, S. 8 f. 42) Alle Einzelheiten, auf die wir hier nicht eingehen können, findet man in den in den folgenden Anmerkungen angegebenen Schriften.
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nicht n u r die ü b r i g e n W e n d e p u n k t e im Verlauf d e r Liebesgeschichte, s o n d e r n auch a n d e r e wichtige Ereignisse d e r J u g e n d des Dichters, w i e e t w a seine A n k u n f t in N e a p e l — zu d a t i e r e n , e n d e t e n nicht w e n i g e r u n b e f r i e d i g e n d als die Nachforschungen nach d e r P e r s o n F i a m m e t t a s . D e n n diese n u r scheinbar so p r ä z i s e n A n g a b e n f ü h r t e n , j e nachdem, ob m a n d e n T a g des F r ü h l i n g s b e g i n n s (denn e r bildet d e n wichtigsten A u s g a n g s p u n k t aller Berechnungen) nach d e m gregorianischen") oder julianischen 1 4 ) K a l e n d e r , nach einer B e m e r k u n g Boccaccios in seinem D a n t e - K o m m e n t a r " ) , nach ihm b e k a n n t e n mittelalterlichen astronomischen T r a k t a t e n 4 6 ) oder nach sonstigen Überlieferungen 4 7 ) bestimmte, zu ebensovielen d i s p a r a t e n D a t e n , d e n e n allen w i e d e r u m in diesem o d e r j e n e m P u n k t e Ä u ß e r u n g e n des Dichters g e g e n ü b e r s t a n d e n , die n u r durch zumeist reichlich spitzfindige A u s l e g u n g e n m i t e i n a n d e r in E i n k l a n g zu bringen waren. G e r a d e die F ü l l e d e r immer n e u e n K a l k u l a t i o n e n und D a t i e r u n g e n zeigt die grundsätzliche E i n m ü t i g k e i t u n d gleichgerichtete T e n d e n z aller dieser U n t e r s u c h u n g e n : m a n wollte ü b e r die p r i v a t e n A f f ä r e n des Dichters u n t e r r i c h t e t sein u n d g l a u b t e gewissermaßen, Boccaccios H a u p t a n l i e g e n sei es gewesen, g e r a d e sie w a h r h e i t s g e m ä ß , w e n n auch natürlich leicht v e r h ü l l t , seinem P u b l i k u m mitzuteilen. W a s m a n auf diese W e i s e ü b e r die W e r k e aussagte, w a r das E r g e b n i s eines Zirkelschlusses, dessen methodische 43)
Baldelli, a. a. O. S. 373.
44)
Landau, a. a. O. S. 32 Anm.
45) Koerting, a.a.O. S. 104 ff. (im Anschluß an C. Witte). Ihm schlössen sich an Adolf Gaspary, Geschichte der Italienischen Literatur, Bd. 2, Strafiburg 1888, S. 3 u. 637, und V. Crescini, in KJb III (1897), S. 383. 46) Arnaldo Della Torre, La giovinezza di G. Boccaccio (1313-1341). Proposta d'una nuova cronologia (Collezione di opuscoli danteschi inediti o rari, 79-82), Città di Castello 1905, bes. S. 31-101. Von denselben Voraussetzungen ausgehend, aber mit abweichendem Ergebnis: H. Hauvette, Pour la biographie de Boccace, II, Le premier voyage à Naples, in BI 11 (1911), S. 194 ff. (erneut in: Boccace, a. a. O. S.24 ff.), und Ernest H.Wilkins, The Enamorment of Boccaccio, in MPh 11 (1913-1914), S. 39-55 (die beste und vorsichtigste Diskussion aller in Frage kommenden Textstellen, die Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten nicht verschweigt und deren Ergebnisse mit einem >probably, though not certainly« eingeschränkt werden). 47) F. Torraca, Per la biografia . . a . a. O. S. 5-35, und erneut in ASPN 39 (1914), S. 33 ff.
49 4 König, Die Begegnung
Unzulässigkeit niemand bemerkte, weil niemand an der Aufrichtigkeit u n d Genauigkeit der »Selbstenthüllungen« zweifelte. Jede einzelne Dichtung stellte sich d a r als Ausdruck einer genau definierbaren Phase der Liebesgeschichte, die man gerade zuvor in selbstsicherer Gutgläubigkeit aus eben dieser Dichtung erschlossen hatte — die Rechnung mußte in jedem Falle aufgehen. In Wirklichkeit aber konnte eine n u r auf dichterischen W e r k e n beruhende, an keinem authentischen Zeugnis n a c h p r ü f b a r e Lebensgeschichte doch nichts als eine unverbindliche »biographie romancée« sein. Verhängnisvoller aber als die Verfälschung der Biographie w a r das Unrecht, das man an den Dichtungen beging, indem man sie zu bloßen historischen D o k u m e n t e n abstempelte und sich auf ihre D e u t u n g als Lebenszeugnisse beschränkte. Alles, was sich nicht auf den Dichter selbst beziehen ließ, betrachtete man als Zusatz, »opera di testa«, mehr oder minder tadelnswertes Beiwerk, das leider die Erlebnisdarstellungen ihrer Unmittelbarkeit b e r a u b e und — wenn es sich u m literarische, historische, mythologische Anspielungen, um Imitationen oder Übersetzungen handelte — bestenfalls ein kulturhistorisch interessanter Ballast sei, der immerhin Aufschlüsse über Boccaccios Bildung, Kenntnisse und Interessen ermögliche und somit auch f ü r eine Biographie nicht ohne W e r t sei 48 ). Die konsequente A n w e n d u n g der ausschließlich auf das Biographische gerichteten Interpretation mußte allerdings f r ü h e r oder später die Kritik auf den P l a n rufen. Um konsequent zu bleiben, hatte man etwa (wir f ü h r e n ein extremes Beispiel an) den »Filocolo« in zwei völlig verschiedene, zu verschiedenen Zeiten entstandene W e r k e zerlegen müssen. W a r dieser Roman nämlich nach den Aussagen der Einleitung bald nach der ersten Begegnung des Dichters mit Fiammetta begonnen, so enthielt er in der IdalagosEpisode einen Hinweis auf die E r f ü l l u n g d e r Liebe, j a auf die U n t r e u e der Geliebten, die allen Berechnungen zufolge erst einige Jahre später erfolgt sein konnte. Dagegen behauptete der Dichter im Widmungsbrief des »Filostrato«, die Geliebte h a b e ihm das höchste Glück der Liebe noch nicht zugestanden 4 9 ). Also hatte 48) Es soll hier keinesfalls verschwiegen werden, welch wichtige Einsichten auf diesem Gebiet der rein biographischen Forschung zu verdanken sind; gerade diese Erkenntnisse über Boccaccios literarische Bildung machen die Lektüre der Arbeiten von Crescini, Hauvette., Torraca immer noch zur unumgänglichen Voraussetzung jeder Beschäftigung mit dem Dichter. 49)
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II Filostrato, a. a. O. S. 8.
Boccaccio, so schloß Crescini 50 ), den angefangenen »Filocolo« liegengelassen, den »Filostrato« gedichtet und erst sehr viel später den ersten Roman zuendegefiihrt. Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, ehe sich ein kritischer Einspruch gegen diese willkürliche Zertrennung eines trotz aller Unvollkommenheiten (und auch wegen seiner Unvollkommenheiten) in seinem Ton, seiner erzählerischen und stilistischen Haltung einheitlichen Werkes erhob, ein Einspruch auch im weiteren Sinne gegen eine übertrieben faktisch-präzise »Entschlüsselung« einzelner, aus ihrem dichterischen Zusammenhang gelöster Episoden. Aber auch Salvatore Battaglia, dessen Kritik der Boccaccio-Forschung neue Impulse gab 61 ), blieb auf halbem Wege stehen: wenn er es ablehnt, bestimmte reale Ereignisse hinter den Erzählungen des Dichters aufzuspüren, so betont er auf der andern Seite (in offener Polemik gegen Torraca, der nicht an eine Untreue Fiammettas und eine entsprechende Enttäuschung Boccaccios glauben wollte) den grundsätzlich wahren Erlebnisgehalt dieser Dichtungen, ihren leidenschaftlichen, biographischen, »romantischen« Charakter. In ihnen sieht er »atteggiamenti e configurazioni di stati d'animo, idealizzamenti di aspetti e voci dell'esperienza nella sfera della poesia« 52 ), und zumal das Fiammetta-Erlebnis wird nicht angetastet. Wenn die Legende von der adligen Mutter als »l'ingenua illusione di dirsi >aristocratico< al pari della donna vagheggiata« 53 ) abgewertet wird, so macht schon der Vergleich mit der Geliebten deutlich, daß Battaglia an der Herkunft und Stellung Fiammettas, an der Wirklichkeit der von Boccaccio geschilderten 50) Contributo, a. a. O. S. 199. Crescinis Ergebnis wurde allgemein akzeptiert; selbst den genauen Anfangspunkt des zweiten Teiles des »Filocolo« fixierte man (Karl Young, The origin and development of the story ofTroilus andCriseyde, London 1908, S. 102-104, und vgl.H. Hauvette, Boccace, a. a. O. S. 62 f.). Größere Schwierigkeiten bereitete die Datierung des »Filostrato«, denn die wörtliche Auslegung des Vorworts führte zu chronologischen Unstimmigkeiten (Hauvette, a . a . O . S. 78 f.); in diesem Fall empfahl es sich daher, die Angaben Boccaccios nicht zu genau zu nehmen: wer so warm das Liebesglück des Troilus schildern konnte, mußte es selber erlebt haben — das W e r k war also nach Boccaccios Erfolg bei Fiammetta, aber vor ihrem »Verrat« verfaßt (ebda. S. 87 f.). Die Rechnung ging, wie gesagt, immer auf! 51) Salvatore Battaglia, Elementi autobiografici nell'arte del Boccaccio, in: La Cultura N. S. IX (1930), S. 241-254. 52) Ebda. S. 251 f. 53)
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Ebda. S. 252.
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Liebeserlebnisse (wenn sie auch nicht mehr realistisch zu präzisieren, sondern n u r noch psychologisch zu verstehen sind) keinen Zweifel hegt. Damit hat sich an der Interpretation der W e r k e nicht eben viel geändert, und die nach Battaglias Aufsatz erschienenen größeren Boccaccio-Darstellungen halten denn auch in n u r scheinbar eingeschränkter Form an der biographischen Auslegung fest 54 ). Die Forschung der letzten J a h r e hat nun deutlich gemacht, wie weiter u n t e n noch genauer darzulegen sein wird, d a ß auch die in autobiographischer F o r m angelegten Episoden der F r ü h w e r k e Boccaccios bis in feinste Einzelheiten hinein literarischen Traditionen verpflichtet sind, dichterischen Mustern und theoretischen Vorschriften auf Schritt und T r i t t folgen. Ihre G l a u b w ü r d i g k e i t als Lebenszeugnisse, selbst in einem vagen psychologischen Sinne, sollten sie damit eigentlich verloren haben. W e n n es hier notwendig ist, noch einmal n ä h e r auf diese F r a g e n einzugehen, so deswegen, weil nach wie vor e r n s t h a f t e Forscher und h e r v o r r a g e n d e Sachk e n n e r sich zu »la sostanziale verità delle confessioni dello scrittore, il loro profondo valore di autobiografia« bekennen und behaupten, daß derjenige, der d a r a n nicht glauben wolle und stattdessen literarische Modelle zur E r k l ä r u n g heranziehe, daß der also »si preclude ogni via a p e n e t r a r davvero nel cuore della poesia, e dell'umanità, del Boccaccio« 55 ). Hinter solchen Urteilen verbirgt sidi natürlich immer noch der romantische Mythos vom Dichter als dem Sänger seiner eigenen F r e u d e n und Leiden, dessen W e r k e n nur, insofern sie »Bruchstücke einer großen Konfession« sind, künstlerischer R a n g zukommt. Erlebnisechtheit gilt nach wie vor als Kriterium großer Kunst, und so muß sich also auch Boccaccios Dichtung durch ihre angebliche Verwurzelung in den Erlebnissen 54) Allen voran Natalino Sapegno in der zweifellos i m m e r noch besten der n e u e r e n Gesamtdarstellungen im R a h m e n seiner L i t e r a t u r geschichte: Il Trecento (Storia letteraria d'Italia), Milano 1934, 21955. Über die »Elegia di Madonna Fiammetta« etwa, f ü r die wir oben w e i t e r e Zeugnisse der n e u e r e n Kritik beigebracht haben, schreibt er, nachdem er gerade die künstlerischen, nicht etwa, wie die ä l t e r e Forschung b e h a u p t e t hatte, praktisch-biographischen Ziele des Dichters h e r v o r g e h o b e n h a t : »[...] il racconto è n a t u r a l m e n t e ricalcato in molti luoghi sulla storia degli amori del Boccaccio con Maria d'Aquino« (S. 330 bzw. 2. Aufl. S. 334). 55) Natalino Sapegno in der »Introduzione« seiner Ausgabe: Giovanni Boccaccio, Decameron, a c u r a di N. S., Bd. i (Classici Italiani, 13), Torino 1956, S. 11. Gegen diese Kritik Sapegnos w e n d e t sich mit Recht F r a n c a Ageno in i h r e r Besprechung der eben zitierten Ausgabe, in GSLI 135 (1958), S. 122.
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des Dichters (und Erlebnisse heißt soviel wie Liebeserlebnisse, denn auf sie beschränkt sich zumeist — nicht nur bei Boccaccio, wie man weiß — das Interesse der Biographen) künstlerisch legitimieren. Nun wird natürlich niemand auf der Welt behaupten wollen, daß Boccaccio in seiner Jugend sich nicht wie j e d e r andere junge Mensch auch das eine oder andere Mal verliebt und hin und wieder nicht auch einigen Liebeskummer durchgestanden haben könnte. Aber hat das (abgesehen davon, daß wir objektiv betrachtet rein gar nichts darüber wissen) irgend etwas mit seiner dichterischen Begabung, der Qualität und Art seiner W e r k e zu tun? Gerade die frühen Dichtungen und zumal der »Filocolo«, von dessen »Tempelbegegnungs«-Szene die biographische Entschlüsselung auszugehen pflegt, sind nicht — wie im übrigen schon ihr beträchtlicher Umfang deutlich macht — irgendwelche auf Grund eines plötzlichen Erlebnisses schnell zu Papier gebrachte lyrische Ergüsse, sondern stellen sich dar — und ein kurzer Blick auf j e d e beliebig herausgegriffene Seite beweist das — als Ergebnisse mühevoller und langwieriger literarischer Übungen und Anstrengungen; und wenn in ihnen dieses oder jenes nicht gelungen ist, so nicht deswegen (wie man es neuerdings immer wieder zu lesen bekommt), weil die große Nähe zum Erlebnis dem Dichter noch nicht genügend Freiheit zur künstlerischen Objektivierung gelassen hätte, so daß seine Gestalten noch zu leidenschaftlich bewegt, ihre Erlebnisse, Freuden und Leiden allzu sehr noch seine eigenen seien, sondern ganz einfach deshalb, weil seine Darstellungen elementare Mängel des literarischen Handwerks aufweisen: weil er allzu sehr an seinen dichterischen Vorbildern (was so ziemlich genau das Gegenteil von persönlichen Erlebnissen ist) haften bleibt, allzu oft statt schöpferischer Nachahmung — die ihm erst in der »Elegia di Madonna Fiammetta« und im »Ninfale fiesolano« wirklich gelingen wird 56 ) — nur schulmäßige Übersetzungen, Umsetzungen, Ausweitungen seiner Muster liefert, weil er Episoden ohne Rücksicht auf den Gesamtzusammenhang seines Werkes ausspinnt oder sie über56) Wie wir die »Elegia« als »moderne« Heroide auffassen, so wird man den »Ninfale fiesolano« als eine reizende »moderne« aitiologische Metamorphosen-Erzählung interpretieren dürfen, die Boccaccios frühere Metamorphosen-Imitationen (die Fileno- und Idalagos-Episoden des »Filocolo«) weit hinter sich läßt. Dem »Ninfale fiesolano« (Text: Giovanni Boccaccio, II Filostrato e II Ninfale fiesolano, a. a. O.) ist jüngst auch im Deutschen durch die Übertragung Rudolf Hagelstanges sein volles Recht geworden (Giovanni di Boccaccio, Die Nymphe von Fiesole, übertragen von R. H., Wiesbaden 1957).
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h a u p t n u r einführt, um durch Übernahme eines weiteren klassischen Modells sein W e r k zu adeln und sich allen Gattungen, Themen, Stilarten gewachsen zu zeigen, weil er schließlich seine Gestalten nach vorgegebenen und sklavisch befolgten, immer wieder gleichen Schemata handeln und empfinden läßt u n d es d a r ü b e r nicht immer fertigbringt, ihnen jenes höhere Leben einzuhauchen, das sie lebendiger und wirklicher erscheinen ließe als die Menschen des täglichen Lebens 57 ). Das alles weist diese W e r k e als Vorübungen aus, in denen sich der Dichter in strenger Zucht und bisweilen geradezu pedantischer Beharrlichkeit der von den zu Vorbildern genommenen Meistern geschaffenen Ausdrucksmittel zu bemächtigen versucht; es erinnert uns an Boccaccios rhetorischstilistische Exerzitien in den bis zur Manier getriebenen latinisierenden Konstruktionen und periphrastischen Ausdrücken, in der strengen A n w e n d u n g der rhythmischen Satzklauseln; es zeigt uns den Umfang seiner L e k t ü r e und seine besondere Vorliebe f ü r die W e r k e dieses oder jenes klassischen Dichters und es läßt uns sein geduldiges Vorwärtsschreiten von sklavischer Bindung an Regeln und Modelle zur schöpferischen Freiheit verfolgen, die ihm im »Decameron« j e n e n großen Wurf gelingen läßt, der bewundernswert bleibt f ü r alle Zeiten 58 ). Das alles also läßt sich mit Sicherheit aus seinen W e r k e n ablesen u n d zeigt besser, als j e d e noch so offene Selbstaussage es zu tun vermöchte, womit der j u n g e Boccaccio seine Zeit verbracht, wie er gelebt und gearbeitet hat. Hier stecken die Elemente zu einer wirklichen Biographie des Dichters, Elemente, 57) Für all dies bietet der »Filocolo« Beispiel über Beispiel. Um zu zeigen, daß er in der Lage ist, Metamorphosen in der Art Ovids zu schreiben, führt Boccaccio die langen und zu seinem Stoff so wenig passenden Fileno- und Idalagos-Episoden ein; in der 4. Liebesfrage vollzieht der Zauberer Tebano seine ausgedehnte Zauberhandlung wörtlich so, wie Medea bei Ovid vorgegangen war (als Boccaccio die Erzählung zur 5. Novelle des 10. »Decameron«-Tages macht, läßt er bei der Umarbeitung nicht ohne Grund gerade diese Ovid-Übersetzung weg); ausgedehnte Vergil-, Statius- und Lucan-Paraphrasen finden sich mehrfach; Valerius Maximus liefert unzählige und meist überflüssige historische Exempla; usw. 58) Wie Boccaccio in seinem Meisterwerk den Bereich theoretischer Traditionen verläßt und in dichterischer Freiheit, zu der er sich ausdrücklich bekennt, etwas grundsätzlich Neues schafft, zeigt Walter Pabst im Boccaccio-Kapitel seines Werkes: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen (Universität Hamburg, Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde, Bd. 58, Reihe B, Bd. 32), Hamburg 1953, S. 27-41.
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die sich objektiv feststellen lassen und die wichtiger sind als nur vermutbare Partikularitäten seiner Liebesaffären. Jene Vorstellung jedenfalls von dem jungen Boccaccio, der, kaum daß er sich verliebt hat, sich sofort hinsetzt, um die erste Begegnung mit der geliebten Frau zu schildern, der, kaum daß die Geliebte einmal für ein paar Tage verreist ist, in Windeseile die alte und neue Literatur nach einem passenden Stoff durchsucht, den er nacherzählen kann, um seinem Trennungsschmerz Ausdruck zu verleihen — und so fort über Liebesglütek und Eifersucht bis hin zur Verlassenheit, Verzweiflung und Sehnsucht nach den entschwundenen Tagen des Glücks —, diese Vorstellung jedenfalls ist denn doch ein wenig zu naiv, um im Ernst glaubhaft zu sein. In Romanen mag sich dergleichen allenfalls zutragen — in der Wirklichkeit pflegt es anders um die dichterische Arbeit auszusehen. Und in der Tat stammt diese Vorstellung aus Romanen, aus den Romanen desselben Dichters, auf den man sie anwendet, und gerade sie ist es auch, die immer noch an der Legende vom autobiographischen Charakter der Dichtungen Boccaccios festhalten läßt. Sapegnos jüngstes Urteil über diesen autobiographischen Charakter der Frühwerke Boccaccios, das wir vorhin wiedergaben, deckt sich im wesentlichen mit dem 25 Jahre älteren von Battaglia, der seine Ansicht damals auch begründet hatte: er berief sich zur Stützung seiner These auf Schriften des Dichters, die seiner Meinung nach authentisches und beweiskräftiges Material (wofür er die in autobiographischer Form dargebotenen Episoden, sofern sie innerhalb der Werke vorkommen, also schon nicht mehr hielt) darstellen: »La traccia biografica si diparte dalle lettere autografe e dalla dedica della >Teseide< e del >Filostratowahre Begebenheiten< oder >eigene Erlebnisse< zu schildern oder >aus zuverlässiger Quelle< genau darüber informiert zu sein ?«68) Wenn aber Boccaccio diese Abwandlungen der gängigen Prologtopik in die Form eines Widmungsbriefes an eine Geliebte namens Fiammetta 69 ) faßt, dann variiert er damit zugleich eine Erfindung, mit der er kurz zuvor sein erstes erzählerisches Werk einleitete: die Erfindung Fiammettas als der Auftraggeberin, für die der Dichter schafft, der er seine Arbeiten widmet, der Auftraggeberin, die zugleich seine Geliebte ist. Wenn Battaglia die Widmungsbriefe des »Filostrato« und des »Teseida« als Stütze für seine These vom autobiographischen Charakter der Jugendwerke Boccaccios anführt, dann hätte er konsequenterweise auch auf diese Eingangsszene des »Filocolo«, die den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen (wie den der biographischen Legende) bildete, hinweisen müssen. Er hat es nicht getan — wahrscheinlich, weil sie nicht gesondert als Widmung oder Prolog, sondern als Bestandteil des ersten Budies überliefert 70 ) und weil sie nicht in Form eines Briefes abgefaßt ist. Aber wie die besprochenen Widmungsbriefe nichts sind als eine geschickt eingekleidete Abwandlung des üblichen Vorwort- und Widmungsschemas, so ist auch der Anfang des »Filocolo« nichts anderes als eine in Erzählform gekleidete Zusammenstellung von Prologtopoi. Von diesem ersten Vorwort nehmen alle späteren Variationen des Fiammetta-»Erlebnisses« in Boccaccios Werken ihren Ausgang. Boccaccios Situation bei der Abfassung der »Filocolo«-Einleitung ist die gleiche wie bei der Niederschrift der »Filostrato«- und 68) Novellentheorie . . a . a. O. S. 50. 69) »A Fiammetta« ist jedenfalls die »Teseida«-Einleitung überschrieben. Zu Anfang des »Filostrato« dagegen heifit es ausdrücklich, wie wir schon einmal bemerkten, »Filostrato alla sua più ch'altra piacevole Filomena salute«. Da die Geliebte den Namen Maria trägt (»il vostro nome di grazia pieno«), der sonst Fiammetta zukommt, mag man in Filomena eine Fiammetta-Abwandlung erblicken. 70)
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Il Filocolo, a. a. O. S. 3-9.
»Teseida«-Widmungen. Seine Absicht ist es, einen schon vorher dichterisch behandelten Stoff, die volkstümliche Erzählung von Floire und Blancheflor, durch eine gehobene, anspruchsvolle Art der Darstellung zum K u n s t w e r k zu erheben. Als »nuovo autore«, der darauf hält, sich den vorgegebenen Regeln und Mustern anzupassen, bedarf er f ü r eine so schwierige Aufgabe, wie er sie sich gestellt hat, einer bedeutenden Persönlichkeit, der er sein W e r k widmen kann, die mit dem Glanz ihres Namens auch der Dichtung höhere Weihe verleihen kann. Als Kenner der mittelalterlichen Exordialtopik weiß er, daß er im Prolog die Unzulänglichkeit seiner K r ä f t e zu beteuern hat, kennt er j e n e A b w a n d l u n g der Formel der »affektierten Bescheidenheit« 71 ), die den Schriftsteller e r k l ä r e n läßt, er wage sich n u r deshalb ans Schreiben, weil eine hochstehende Persönlichkeit ihm den A u f t r a g dazu gegeben habe: »Unzählige mittelalterliche Autoren versichern, sie schrieben auf Befehl. Die Literaturgeschichten nehmen das als b a r e Münze. Doch ist es meistens n u r ein topos« 72 ). So versichert also auch Boccaccio in der Einleitung des »Filocolo«, er schreibe auf Befehl. Auch in seinem Falle nehmen die Literaturgeschichten das als b a r e Münze. Alles spricht d a f ü r , daß es auch in seinem Falle n u r ein Topos ist. Allerdings hat der Dichter es verstanden, diesem Topos durch einen guten Einfall neue Reize abzugewinnen und ihn so geschickt auszustaffieren, daß ihn niemand bisher als solchen e r k a n n t hat. Sein W e r k ist ein (noch dazu in italienischer Sprache geschriebener) Liebesroman — eine L e k t ü r e f ü r wissenschaftlich ungebildete F r a u e n also 73 ); ihn zu verfassen, scheint nicht gerade die angemessene Beschäftigung f ü r einen Studenten des kanonischen 71) Zum Topos der »affektierten Bescheidenheit« vgl. E. R. Curtius, a. a. O. S. 93 ff. und S. 410 ff. Zur Exordialtopik ebda. S. 95 ff. 72) Ebda. S. 95. Der Topos wirkt natürlich weit übers Mittelalter hinaus. Selbst der arme Lazarillo de Tormes gibt im Prolog seiner Lebensbeschreibung vor, auf Wunsch eines Herrn zu schreiben: »Y pues V. M. escriue se le escriua y relate el caso muy por extenso [ . . . ] « (La vida de Lazarillo de Tormes y de sus fortunas y adversidades. Edición y notas de Julio Cejador y Frauca [Clásicos Castellanos, 25], Madrid 1949, S. 64; und vgl. den Kommentar des Herausgebers ebda.). — Zum Nachwirken desselben Topos bei Enea Silvio Piccolomini vgl. W. Pabst, a. a. O. S. 53. 73) Boccaccio kannte natürlich Dantes Erklärung des Ursprungs der Dichtung im Volgare (Vita Nuova XXV, 6: »E lo primo che cominciò a dire sì come poeta volgare, si mosse però che volle fare intendere le sue parole a donna, a la quale era malagevole d'intendere li versi latini«).
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Rechts 74 ). Der Student weiß sich zu helfen: zur Auftraggeberin des schwierigen Werkes macht er eine hochgestellte Dame, noch dazu eine Dame, in die er sich gerade eben rettungslos verliebt hat — blieb ihm etwas anderes, als ihrem Wunsche nachzukommen? 76 ) In der Verbindung der herkömmlichen Bescheidenheits- und Widmungstopik mit der Erfindung einer persönlichen Liebesgeschichte liegt die neue Wendung, die Boccaccio den alten Vorschriften gibt 76 ). Alles übrige ist eine im Grunde noch reichlich unbeholfene Ausschmückung der Liebesepisode. Geschickt ist nur die Wahl der Geliebten: natürlich darf Boccaccio keine lebende Persönlichkeit wählen, die er durch seine Enthüllungen nur kompromittiert hätte, er muß vielmehr eine Gestalt erfinden, die existieren könnte, deren Existenz aber nicht nachprüfbar ist, eine Gestalt außerdem, die als A u f t r a g g e b e r n hohen Ranges sein muß — seine Wahl fällt auf eine Königstochter 77 ), deren Illegitimität 74) Als der Autor Gott um Beistand bei der Sdiriftstellerarbeit bittet, spricht er von sich als einem, »il quäle ora nelle sante leggi de' tuoi successori spendo il tempo mio« (II Filocolo, a . a . O . S. 8). 75) Am Ende des Romans kommt der Dichter noch einmal auf den Befehl der Dame zurück und entschuldigt damit auch ausdrücklich, daß sein Werk in italienischer Sprache geschrieben ist (der Autor wendet sich an sein Buch): » [ . . . ] del tuo volgar parlare ti sia scusa il ricevuto comandamento, che il tuo principio palesa« (ebda. S. 565). 76) Ähnlich wie Boccaccio wird später Lope de Vega eine Dame erfinden, die ihm den Auftrag zur Abfassung seiner Novellen erteilt — ein Parallelfall zur Fiammetta-Fiktion auch in dem, was die biographischen Erklärungen angeht. Dazu äußert W. Pabst, dessen »Novellentheorie...«, a . a . O . S. 53, wir den Hinweis verdanken: »Und warum [ . . . ] sollte der erfundene Name jener Dame, die angeblich bei Lope de Vega Novellen bestellt hat [ . . . ] , wie die Biographen wollen, einer platten historischen Entschlüsselung bedürfen und nur Deckname für Lopes Freundin Marta Nevares Santoyo sein? Dies alles ist der Zauber der Fiktion, und wäre sie nichts als ein Spiel mit uralten Elementen der Rhetorik«. (Und vgl. Pabsts ausführliche Untersuchung zu Lopes Novellistik, ebda. S. 138 ff.) 77) So wie er sich zur gleichen Zeit den fiktiven Herzog von Durazzo zum Briefpartner erwählt. — Noch für sein größtes wissenschaftliches Werk, die »Göttergenealogie«, sucht sich der alte Boccaccio eine königliche Persönlichkeit, der er es widmen kann: Hugo IV. von Lusignan, den König von Zypern. Natürlich erklärt er auch hier im Vorwort, sein Werk sei nur auf Bitten dieses Herrschers entstanden und zuendegeführt. Ihn, den er in Wirklichkeit nie gesehen hat und mit dem er auch nicht in persönlicher Verbindung stand, redet er bis zum Ende der Schrift hin als seinen hohen Gönner und Auftraggeber an — obwohl der Monarch längst tot war, als Boccaccio sich an die endgültige Redaktion machte! Welche Schwierigkeiten dieser Widerspruch einer rein biographisch orientierten
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ihre Nidit-Existenz verbirgt, sie mit einem vor Identifizierungen schützenden und doch zu Identifizierungen herausfordernden Inkognito versieht. Mit umständlichen genealogischen und historischen Angaben wird ihre Herkunft umschrieben, mit noch umständlicheren und doch so präzis wirkenden Periphrasen werden Ort, Tag und Stunde des Liebesbeginns mitgeteilt, so daß kein Zweifel möglich scheint und keine zutreffende Entschlüsselung möglich ist. Der Bericht von dieser ersten Begegnung mit der königlichen Geliebten, vom schlagartig einsetzenden Beginn der Liebe, vom späteren Treffen und von der Erteilung des Auftrags zur Dichtung — die epische Einkleidung der Topoi also — erfüllt zugleidi eine andere Prolog-Funktion: er erweckt das Interesse der Leser, denn Enthüllungen über private, persönliche, erlebte Dinge, und nun gar über Liebeserlebnisse des einfachen Dichters mit einer hohen Dame, haben noch immer mehr als alles andere das Publikum interessiert. Romanhafte Ausschmückung, epische Einkleidung herkömmlicher Topoi also: das stellt die Eingangsepisode des »Filocolo« dar. Tatsächlich erscheint auf diesen wenigen Seiten alles, was der Regel nach in einem Prolog vorzukommen hat: der Dichter spricht von sich selbst, er gibt vor, auf Befehl einer hochstehenden Persönlichkeit zu schreiben, er betont seine Unfähigkeit, ruft Gott um Beistand an und erklärt Vergnügen und Nutzen als Zwecke seiner Arbeit. Sollte ausgerechnet bei Boccaccio die Abwandlung dieser altbekannten Formeln, die in Hunderten von Werken nachzuweisen sind, als autobiographisches Geständnis zu werten sein? 78 ) Werkuntersuchung bereitet hat, die den Widmungs- und Bescheidenheitstopos nicht als solchen erkannte und in einer Prologfiktion erlebte Wahrheit suchte, zeigt am besten der entsprechende Abschnitt bei H. Hauvette, Boccace, a. a. O. S. 413 ff. (Die »Vorrede zur Göttergenealogie« — wie auch die Vorworte zu den einzelnen Büchern und die letzten beiden Bücher selbst — liest man am besten in dem nach Boccaccios Autograph hergestellten Text bei: Oskar Hecker, Boccaccio-Funde, Braunschweig 1902, S. 162 ff. Die Neuausgabe des ganzen Werkes: Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium libri, a cura di Vincenzo Romano [Scrittori d'Italia, 200/201, Giovanni Boccaccio, Opere X/XIJ, 2 Bde., Bari 1951, ist, wie die Kritik gezeigt hat, an den Schwierigkeiten der Textgeschichte gescheitert.) 78) Die Formeln sind im »Filocolo«-Prolog leicht aufzufinden. Beispiele: Auftragserteilung: S. 7 f.; Unfähigkeitsbeteuerung und Anrufung Gottes: S. 8; »frutto e diletto«: S. 9.
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Wie Dante Beatrice aus der »Vita Nuova« in die »Divina Commedia« übernahm, so läßt Boccaccio Fiammetta in seinen weiteren Dichtungen erneut auferstehen — zunächst bezeichnenderweise nur in Vorworten: den »Filostrato«- und »Teseida«-Widmungsbriefen, die wir als in Briefform gekleidete Variationen des »Filocolo«-Prologs ansehen. In ihnen bleibt Fiammetta die geliebte Dame, für die der Dichter seine Werke schreibt; aber während er im »Filocolo« nodi auf den letzten Seiten in Gestalt des Ilario einen Gewährsmann für die Wahrheit der Erzählung ausfindig machen muß79), kann er sich später diese damals schon nicht mehr recht wirksame Fiktion ersparen: der in den Widmungen gegebene Hinweis auf die hinter der Romanhandlung verborgenen eigenen Erlebnisse (die natürlich von Werk zu Werk wechseln müssen: auf die »Tempelbegegnung« des »Filocolo« folgt die Trennung von der Geliebten im »Filostrato« und Fiammettas Zürnen im »Teseida«) verbürgt die tiefere, nämlich vom Dichter selbst erfahrene Wahrheit der Erzählungen. Nodi später, im »Ameto« und in der »Amorosa Visione«, wird Boccaccio dann die bisher in Vorwortform in einzelnen Abschnitten weitergesponnene Fiktion zu einer scheinbar autobiographischen Episode innerhalb der Dichtung ausweiten, die immer noch — besonders in den Selbstzitaten des »Ameto« — auf ihren Ursprung im »Filocolo«-Prolog zurückweist und die selbst in dieser neuen Form noch den Eindruck erweckt, als sei sie nur eingeführt, um das ermüdende Interesse des Lesers neu zu erregen. Das ist nidit nur unser persönlicher Eindruck: wir können uns auf den besten Boccaccio-Kenner unserer Tage, Vittore Branca, berufen, der auf völlig anderem Wege als wir zu der Feststellung gelangte: »si direbbe persino che [ . . . ] gli accenni autobiografici lasciati intravedere attraverso allusioni misteriose siano inseriti a stuzzicare la stanca curiosità del lettore« 80 ). Die fiktive Autobiographie kann ihre ursprüngliche Prologfunktion nicht verleugnen. 79) Ilario, der Florios Bekehrung zum Christentum bewirkt (S. 511 ff.) und von dem Helden selbst die Geschichte erfahren hat, kehrt zum Schluß nach Rom zurück,wo er » [ . . . ] con ordinato stile, come colui che era bene informato, in greca lingua scrisse i casi del giovane re« (S. 563); so kann der Dichter in den letzten Zeilen sein Buch auffordern: »E a' contradicenti le tue piacevoli cose, da la lunga fatica d'Ilario per veridico testimonio« (S. 565). 80) 62
Boccaccio medievale, a. a. O. S. 139.
E r k e n n t man den von uns aufgewiesenen C h a r a k t e r der Angaben und Erzählungen Boccaccios in seinen Vorworten als biographisch völlig unverbindliche Variationen der traditionellen Exordialtopik, d a n n verliert die biographische Interpretation und zugleich damit die mit ihrer Hilfe konstruierte Biographie ihr ohnehin schon brüchiges Fundament. Fiammettas Gestalt, ihre H e r k u n f t und Stellung, ihr C h a r a k t e r , die verschiedenen Episoden ihrer Liebe zu dem j u n g e n Dichter finden ihre E r k l ä r u n g nicht in Erlebnissen Boccaccios, sondern in seiner dichterischen Phantasie, die selbst tote Gemeinplätze zu beleben wußte. U n e r k l ä r t bleibt eigentlich n u r eines: w a r u m die erste Begegnung des Dichters mit Fiammetta, so wie er sie im »Filocolo«-Prolog zum ersten Male darstellt und von dort in den »Ameto« übernimmt, ausgeredinet an einem Ostersonnabend, einem kirchlichen Festtag, in einer Kirche stattfindet. Sollten sich hier Relikte irgendeiner wirklichen Liebesgeschichte des Dichters erhalten haben, Erinnerungen an die erste Begegnung mit einer wirklichen F r a u ? O d e r sollte nicht eher auch dieses Element dessen, was wir als erzählerische Ausgestaltung der Topoi bezeichneten, Abwandlung eines literarischen Motivs sein, so wie sich die Panfilo-Fiammetta-Begegnung der späteren »Elegia di Madonna Fiammetta« als A b w a n d l u n g der Dido-Aeneas-, der Phaedra-Hippolytus-Begegnung, wie sich die Troiolo-CriseidaBegegnung des »Filostrato« als A b w a n d l u n g der Achill-PolyxenaBegegnung erwiesen hat? Die jüngste Forschung, die von a n d e r e r Seite her den literarischen C h a r a k t e r der angeblich autobiographischen Episoden in Boccaccios Dichtungen enthüllt hat, hat auch f ü r das Motiv der »Tempelbegegnung« neue Erklärungsversuche vorgebracht, mit denen wir uns auf den nächsten Seiten auseinandersetzen werden. Wie von Fiammetta selbst, wird auch von der Ostersonnabend-Begegnung im Tempel nichts mehr übrig bleiben — nichts mehr im Sinne einer das biographische Detail in der Dichtung suchenden Literaturgeschichte. In der Dichtung freilich wird Fiammetta fortleben als die hoheitsvolle Gebieterin und angebetete Königstochter, als die f l a t t e r h a f t e Schöne und treulose Verräterin. D e r naive Leser wird sie, den Intentionen Boccaccios folgend, f ü r die wirkliche Geliebte des Dichters ansehen und sich mit um so größerem Interesse an seinen Fabeln e r f r e u e n ; er darf es auch. D e r Literarhistoriker aber sollte endlich die Legende als Legende e r k e n n e n und den Kunstverstand des Mannes bewundern, der Fiktionen zu schaffen imstande war, die noch nach J a h r h u n d e r t e n f ü r Wahrheit gehalten 63
werden. Fiktionen, deren ursprüngliche Absicht es einzig war, die Aufmerksamkeit des Lesers zu spannen, sein Interesse zu erwecken für den Dichter mit der königlichen Geliebten und für seine Werke. Diese ursprüngliche Absicht, die wir aus dem Prolog-Charakter der ersten Fiammetta-Episoden abgeleitet haben, hat schon vor Jahrhunderten ein Boccaccio-Kenner ausgesprochen, auf dessen Stimme freilich niemand hat hören wollen, ein Schriftsteller er selber, der sicherlidi besser als spätere Forscher mit den Gewohnheiten der Dichter vertraut war. Bei Brantôme 81 ) liest man über Boccaccio und seine Liebe zu Fiammetta, der Königstochter : Mais j e croy | . . . ] qu'il s'est forgé en sa cervelle et fantasie ce beau subject, pour en escrire mieux, ainsy que volontiers font les poetes et autres composeurs, qui se plaisent à supposer de grands objects et les faire accroire au monde, afin qu'ils en escrivent mieux, et que le peuple lise leurs œuvres en plus grande admiration et plaisir, et en croye leur fortune telle.
81) Vies des dames illustres I, 7 (»Jehanne I.«), zitiert nach: Œuvres complètes de Pierre de Bourdeille, éd. par J. A. C. Buchon, Bd. 2, Paris 1848, S. 200. — Nur der belesene Landau, a. a. O. S. 28 Anm., weist auf die Stelle hin, aber natürlich lehnt er die Erklärung Brantômes ab.
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Costumanze sicure« und »Canoni letterari« — Chi direte adunque, disse il Conte, die imitasse il Petrarca e '1 Boccaccio [ . . . ] ? — Io noi so, rispose messer Federico: ma creder si po che essi ancor avessero l'animo indrizzato alla imitazione, benché noi non sappiam di cui. Castiglione, »II Libro del Cortegiano«
»Svaniscono dunque la biografia e il profilo che per il Boccaccio letterati e lettori, dal rinascimento al romanticismo, avevano dedotto con rigida credulità dalle sue variazioni di scolastico immaginoso« — mit diesem stolzen Satz beginnt G. Billanovich die Schlußbemerkung zu seinem Boccacciobuch 1 ). In der Tat, das ganze biographische Mosaik, das Liebhaber und Forscher in jahrhundertelanger Arbeit zusammengesetzt hatten, aus vielen Steinchen, die unermüdlich aus allen Werken des Dichters herausgeklaubt worden waren, dieses ganze Mosaik erwies sich als mit viel Fleiß hergestellte Fälschung, als endlich jemand kam, der mit kritischem Scharfsinn einen Stein nach dem anderen untersuchte und dabei feststellen mußte, daß sie allesamt unecht waren. Erzählungen wie die von der Abstammung der Matter Boccaccios aus dem französischen Königshause oder von der Liebe des jungen Florentiners zu einer illegitimen Königstochter wurden als Nachbildungen fabulöser Erzählstoffe erkannt, die, wenn sie schon autobiographisch aufzufassen sind, bestenfalls einem Wunschdenken des Autors Ausdruck verleihen. Womit gesagt sein soll, daß die Realität nun gerade nicht so aussah, wie man sie sich nach den Erzählungen vorstellen möchte. Als Fabel erwies sich auch die Geburt in Paris, und alle Konklusionen, die man aus einigen der frühen Neapolitaner Briefe gezogen hatte, wurden hinfällig, denn diese Briefe sind (wir sprachen bereits davon) nichts weiter als rhetorische Schulübungen, die auf weite Strecken hin wortwörtlich bestimmten Vorbildern folgen. Schließlich : alles, was man über den Verlauf der LiebesX)
Giuseppe Billanovich, Restauri boccacceschi, a. a. O. S. 197.
5 König, Die Begegnung
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geschickte mit Fiammetta e r r e d m e t und zusammengeträumt hatte, schwand mit dem Nachweis (als solchen werten w i r die Ergebnisse der Untersuchungen Billanovichs) der Nicht-Existenz der Maria d'Aquino dahin. Die Geliebte w u r d e wieder zu dem, was sie ursprünglich w a r und was sie f ü r den Literarhistoriker allein sein k a n n : »minore sorella di Laura, benché p u r e parente di Beatrice«*). Die erste Auflage des Buches von Billanovich erschien 1945. Schon vorher hatte V. Branca eine Untersuchung abgeschlossen, die allerdings erst später veröffentlicht w u r d e und die neben den »Restauri boccacceschi« wohl das Beste und Stichhaltigste bietet, was zu der umstrittenen Biographie des j u n g e n Boccaccio, besonders zu der Liebesgeschichte mit Fiammetta, gesagt worden ist 3 ). Branca kommt bei der e x a k t e n Neuuntersuchung der vorgeblichen Erlebnis-Darstellungen zu der Feststellung, daß »quelle presunte confessioni autobiografiche | . . . 1 appaiono generiche e comuni ad ogni amore« 4 ), so daß sie ü b e r h a u p t keine Schlüsse auf bestimmte Ereignisse zulassen. Er k a n n d a r ü b e r hinaus eindeutig nachweisen, daß zahlreiche vermeintlich autobiographische Angaben — wie das j a auch gar nicht anders sein kann, da sie aus den verschiedensten W e r k e n stammen — durchaus einander widersprechen oder mit sicher bezeugten Daten und Geschehnissen nicht zu vereinbaren sind. Die Liebe zu Fiammetta entwickelt sich zudem nach festen 2) Ebda. S. 88. Die hier gegebene Zusammenfassung einiger der wesentlichsten Ergebnisse Billanovichs entspricht dem Inhalt der ersten vier Kapitel seines Werkes. Gleichzeitig mit dessen zweiter Auflage (1947) erschienen die beiden andern großen Arbeiten desselben Forschers, deren wichtigste Abschnitte gleichfalls Boccaccio gelten und die »Restauri« nach verschiedenen Seiten hin ergänzen: Prime ricerche dantesche. a. a. O. S. 21-86 (»La leggenda dantesca del Boccaccio«), und Petrarca letterato, I, a. a. O. S. 59-294 (»II più grande discepolo«). 3) Vittore Branca, Schemi letterari e schemi autobiografici nell'opera del Boccaccio, in: La BibliofiliaXLIX (1947),S. 1-40. Der 1944 abgeschlossene und sich in vielen Punkten mit den Forschungen Billanovichs berührende Artikel faßt systematisch die Materialien zusammen, die Branca bereits verstreut in seinem schon erwähnten Kommentar der »Amorosa Visione« zu deren »autobiographischen« Stellen mitgeteilt hatte. Der Aufsatz erschien leicht verändert erneut (unter dem Titel: »Tradizione letteraria e cultura medievale nella autobiografia romanzesca del Boccaccio«) in der Festgabe für Fritz Neubert: Formen der Selbstdarstellung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstportraits, Berlin 1956, S. 11-34. In nochmals überarbeiteter Fassung schließlich, an die wir uns halten, findet er sich als 5. Kapitel in Brancas schon zitierter Aufsatzsammlung: Boccaccio medievale, a . a . O . S. 127-183. 4) Boccaccio medievale, a. a. O. S. 132.
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Schemata : nahezu alle Einzelheiten sind bestimmten literarischen Vorbildern nachgestaltet (klassischen, mittellateinischen, italienischen des »dolce stil novo« und sogar der volkstümlichen Literatur) und entsprechen den Vorschriften und Angaben der Boccaccio bekannten mittelalterlichen Liebestraktatliteratur (Andreas Capellanus, Boncompagno da Signa usw.). Selbst »computi e localizzazione dell'innamoramento non sono | . . . ] che luoghi comuni e generici« 6 ): Liebe und Glück kommen mit dem Frühling und schwinden mit dem Winter, das erste Zusammentreffen der künftigen Liebenden geschieht vormittags in der Kirche oder nachmittags bei Unterhaltungen. Auf den Liebesbeginn kommt Branca dann nodi einmal zurück, um sich die Frage zu stellen: »Ma non resisterà alméno come autobiografica la notizia data con singolare coincidenza nel >Filocolo< (pp. 5-6), nell' >Ameto< (p. 116) — e ripetuta con una certa latitudine anche nell' >Amorosa Visione< e nella >Fiammetta< — dell'innamoramento avvenuto in un sabato santo, in chiesa?« Er gibt darauf die einzig richtige Antwort: »Può darsi che nella notizia insistente si rifletta un qualche dato reale: ma non si possono escludere sottili influenze di una tradizione saldissima«6). Er verweist auf zahlreiche literarische Beispiele (die sich leicht um ein Vielfaches vermehren ließen), in denen der Liebesbeginn in den Frühling fällt, auf die Bedeutung der Karwoche, die nach der Fastenzeit die erste Gelegenheit zu »solenni convegni di uomini e donne nelle grandiose e lunghe cerimonie« geboten habe, wobei dem Ostersonnabend ein besonders fröhlicher Charakter zugekommen sei. In der Kirche vor allem hätten die jungen Menschen beiderlei Geschlechts am ehesten die Möglichkeit zu gegenseitiger Bewunderung gefunden. So schließt Branca also 5) Ebda. S. 136. 6) Ebda. S. 141 (bzw. in der in Deutschland leichter zugänglichen Neubert-Festgabe, Formen der Selbstdarstellung, a. a. O. S. 24). — In der »Amorosa Visione«, die Branca als Beleg anführt, findet die Begegnung übrigens nicht im Tempel, sondern der Tradition der im Gefolge des »Rosenromans« stehenden Visionsliteratur entsprechend in einer Gartenszene statt. Auch vom Ostersonnabend ist nicht die Rede. Branca denkt wahrscheinlich an die chronologischen Angaben in Form astronomischer Periphrasen (Amorosa Visione, a . a . O . C. XL, 31-33, und Brancas Kommentar ebda. S. 608 f.), die mit denen in »Filocolo« und «Ameto« übereinstimmen, und an die Darstellung der Wirkungen der plötzlich beginnenden Liebe (bes. C. XLIV, 31 ff. und Kommentar S. 634 f.), die an die entsprechenden Szenen vom »Filocolo« bis zur »Elegia« erinnert, auf Dante und den Neuen Stil zurückweist und in der Traktatliteratur theoretisch begründet ist.
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zusammenfassend: »II concorrere insieme di costumanze sicure e di canoni letterari tendeva dunque a porre l'innamoramento di primavera, in chiesa, durante le solennità della settimana santa; una tradizione che si riflette chiaramente, per esempio, nell'opera del Cavalcanti, di Dante, del Petrarca, e in vari luoghi del Boccaccio stesso esenti da ogni sia pur lontano sospetto di autobiografismo« 7 ). Damit scheint alles gesagt, was zu sagen ist. Es fällt auf, daß Branca einer eindeutigen Stellungnahme aus dem Wege geht. Vor die Frage gestellt, ob es sich bei der wiederholt von Boccaccio (in mehr oder weniger deutlicher autobiographischer Einkleidung) beschriebenen Szene der ersten Begegnung mit der künftigen Geliebten am Ostersonnabend in der Kirche um Wiedergabe eines wirklichen Vorfalls oder um Nachbildung eines literarischen Schemas handelt, hält er zunächst beide Möglichkeiten offen, seine Sympathie gilt aber deutlich der zweiten. Wir nannten das die einzig richtige Antwort und würden unsererseits nur die Akzente nodi etwas stärker setzen: die Möglichkeit der Erinnerung an ein wirkliches »Erlebnis« kann natürlich nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden (wenn sie nach allem Gesagten auch mehr als unwahrscheinlich ist), der literarische Einfluß aber läßt sich, wie wir glauben, mit absoluter Sicherheit nachweisen. Branca allerdings schenkt der literarischen Tradition weiter keine Aufmerksamkeit mehr (abgesehen von dem Hinweis auf die topische Zusammengehörigkeit von Frühling und Liebe), äußert sich dagegen ausführlich über die Lebensverhältnisse im italienischen Mittelalter in Hinsicht auf unser Motiv, um anschließend ein »concorrere insieme« von »costumanze sicure« und »canoni letterari« zu konstatieren — obwohl er bis dahin kein Beispiel einer literarischen »Tempelbegegnung« angeführt hat. Das folgt dann erst mit dem Hinweis auf Cavalcanti, Dante und Petrarca, ohne daß freilich auf bestimmte direkte Zusammenhänge aufmerksam gemacht würde. Dieser Hinweis scheint vor allem also nur soviel zu besagen, daß —auf Grund eben der »costumanze«, die damit an die Stelle des persönlichen Erlebnisses der Dichter treten — es für Cavalcanti, Dante und Petrarca ebenso wie für Boccaccio nahegelegen habe, die erste Begegnung mit der Geliebten in die angegebene Jahreszeit und in die Kirche zu verlegen. Das ist bis zu einem gewissen Grade auch richtig, nur machten die Sitten der Zeit keinesfalls eine solche Situierung notwendig, wie 7) Boccaccio medievale, a. a. O. S. 141 darstellung, a. a. O. S. 25).
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(bzw. Formen der
Selbst-
man nach Brancas A u s f ü h r u n g e n zu glauben geneigt ist: der F r ü h ling beschränkt sich j a nicht n u r auf die Karwoche, genausowenig wie sich die Möglichkeit einer Begegnung der beiden Geschlechter n u r auf den Kirchenbesudi beschränkte. (Und selbst, wenn es so gewesen wäre, k ä m e noch j e d e r beliebige Sonntag in Betracht!) D a ß man die hohen kirchlichen Festtage wählt, hat zweifellos den literarischen G r u n d , den äußeren Umständen der ersten Begegnung ein der Bedeutung dieses Treffens angemessenes Gewicht zu verleihen, die Liebe, besonders wenn es die Liebe des Dichters selbst ist, schon in ihrem Entstehen mit dem Glanz höchster religiöser Weihe zu v e r b r ä m e n und damit zugleich das Werk, das diese Liebe zum Gegenstand hat, im Schimmer solchen Glanzes erstrahlen zu lassen. In den Dichtungen des »dolce stil novo« und zumal Dantes hatte die geliebte D a m e ohnehin j a schon den C h a r a k t e r einer Gott n ä h e r stehenden, engelgleichen K r e a t u r angenommen, so daß eine im Festschmuck prangende kirchliche Stätte (wenn der Dichter, worauf er als L y r i k e r natürlich leicht verzichten konnte, ü b e r h a u p t auf eine Lokalisierung W e r t legte) durchaus der angemessene O r t sein mußte, an dem sich die W i r k u n g e n der hohen Schönheit auf den auserwählten Mann am ehesten manifestieren d u r f t e n . Wie sehr Boccaccio dieser Tradition der F r a u e n - und Liebesauffassung verpflichtet ist, zeigen die starken Anklänge an Dantes »Vita Nuova« in seinen Darstellungen des heiligen Erschauerns des Liebenden beim ersten Anblick der Dame, Darstellungen, die er seit dem »Filocolo« immer wieder in F o r m von »Tempelbegegnungen« gestaltet. Damit setzt er scheinbar die in D a n t e gipfelnde stilnovistische Tradition fort 8 ), die ihm zwar, wie noch 8) Scheinbar — denn diese Darstellungen zeigen zugleich, wie weit Boccaccio sich von dem Geiste solcher Tradition entfernt: wenn er etwa in der »Elegia« die Erschütterung in die bei Dante so hoheitsvolldistanzierte Dame verlegt und Fiammetta auf das: »O donna, tu sola se' la beatitudine nostra« der (Dante zitierenden) Augen des Geliebten die Antwort geben läßt: »E voi la mia« (L'Elegia di Madonna Fiammetta, a . a . O . S. 10), oder wenn er, ebenfalls in der »Elegia« (und dem Sinne nach schon vorher im »Filostrato«), die am Entstehen der Liebe mitwirkende höhere Macht als ein böswilliges Geschick entlarvt. Die religiöse Weihe enthüllt sich als Trug, die Liebe kommt nicht von Gott und führt nicht zu ihm, sondern in Tod (Troiolo) und Verzweiflung (Fiammetta). — In seiner Lyrik, in der Boccaccio weit stärker der Tradition verhaftet bleibt, ist Fiammetta dagegen nodi in den spätesten Sonetten das reine himmlische Wesen; zusammen mit Beatrice und Laura geniefit sie nach ihrem Tode im »terzo cielo« den Anblick Gottes (Rime, a. a. O., Son. CU u. CXXVI).
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zu zeigen sein wird, kein eigentliches Vorbild f ü r einen Liebesbeginn in der Kirche bot, in deren Sinn aber eine solche Szene sicherlich gelegen hätte. W e n n aber Boccaccio im »Filocolo« gerade den Ostersonnabend f ü r seine Fiammetta-Begegnung in Anspruch nimmt, so läßt das von vornherein an ein anderes, ganz präzises Vorbild d e n k e n : an Petrarca, den j a auch Branca neben D a n t e und Cavalcanti a n f ü h r t . Man hat den Eindruck, daß der j u n g e Dichter — der es j a auch sonst liebt, auf Schritt und Tritt literarischen Mustern zu folgen — bewußt in Petrarcas S p u r e n wandelte und f ü r dessen Karfreitags-Begegnung mit L a u r a eine Variante gesucht hat, die einerseits das Vorbild des Meisters erkennen lassen, zum andern aber eben doch eine Variante sein sollte 9 ). Mit der variierenden Ü b e r n a h m e des Tages w ä r e natürlich gleichzeitig die Lokalisierung in der Kirche gegeben. O b dieser Zusammenhang chronologisch möglich und sachlich wahrscheinlich ist, w i r d noch zu untersuchen sein. Sicher ist, daß er Boccaccios Episode besser erklären w ü r d e als Brancas Hinweis darauf, daß der Ostersonnabend besonders freudig und festlich begangen w u r d e und sich daher auch f ü r einen literarischen Liebesbeginn besonders eignete. D e n n in der Wirklichkeit h ä t t e es j a auch genug a n d e r e Situationen gegeben, die f ü r diesen Zweck ebenso wahrscheinlich und ebenso festlich waren. Giovanni Villani berichtet in seiner Chronik wiederholt über die fröhlichen weltlichen Feste, die im Frühling in Florenz (und ähnlich wird sich dasselbe auch in Neapel abgespielt haben 1 0 ') gefeiert w u r d e n . Wir möchten n u r k u r z 9) Die Forschung hat sich natürlich seit jeher bei Boccaccios Fiammetta-Begegnung an Petrarcas erstes Zusammentreffen mit Laura erinnert, aber nur, um das als denkwürdigen Parallelfall zu konstatieren (vgl. schon G. B. Baldelli, a. a. O. S. 363). Erst V. Crescini, »Fiammetta« di Giovanni Boccaccio, a . a . O . S. 21 f., stellt sich die Frage: literarische Tradition oder Erlebnis? Natürlich entscheidet er sich für das Erlebnis. An eine Petrarca-Imitation glaubt, soweit wir sehen, nur G. Billanovich, Restauri..., a. a. O. S. 88 (und vgl. dazu: Petrarca letterato, I, a. a. O. S. 67). Freilich klingt es ein wenig übertrieben, wenn er die Wandlung des Karfreitags, des »di della crocifissione divina e del triste tormento petrarchesco«, zum Ostersonnabend als »innovazione inaspettata e geniale in questo scolaro metodico« bezeichnet. 10) Als Zeugen dafür könnte man (und die Literarhistoriker haben das auch immer wieder getan) Boccaccio selbst anführen, der beispielsweise im 5. Kapitel der »Elegia« die trauernde Fiammetta an einer Reihe von Vergnügungen in und bei Neapel teilnehmen läßt, u. a. an den im Frühjahr stattfindenden Turnieren (L'Elegia di Madonna Fiammetta, 70
a n f ü h r e n , w i e er d i e V e r g n ü g u n g e n schildert, d e n e n m a n sich a m ersten Mai hingab: » E per allegrezza e buono stato, ogni anno per c a l e n di m a g g i o si f a c e a n o le b r i g a t e e le c o m p a g n i e di gentili g i o v a n i v e s t i t i di n u o v o , e f a c c e n d o c o r t i c o p e r t e di d r a p p i e z e n d a l i , e chiuse di l e g n a m e in p i ù p a r t i d e l l a c i t t a d e ; e s i m i l e di d o n n e e di p u l c e l l e , a n d a n d o p e r l a t e r r a b a l l a n d o con o r d i n e , e s i g n o r e a c c o p p i a t e , con gli s t r u m e n t i e c o l l e g h i r l a n d e d i f i o r i in c a p o , s t a n d o in giuochi e in a l l e g r e z z a e in d e s i n a r i e c e n e « 1 1 ) . W i r b r a u d i e n freilich g a r nicht d i e C h r o n i k e n zu R a t e zu ziehen, bei B o c c a c c i o s e l b s t f i n d e n w i r eine solche M a i f e i e r d a r g e s t e l l t , und z w a r sogar im Z u s a m m e n h a n g mit der Schilderung der ersten B e g e g n u n g eines b i s h e u t e u n v e r g e s s e n e n , b e r ü h m t e n P a a r e s ! In s e i n e m » T r a t t a t e l l o in l a u d e di D a n t e « 1 2 ) schildert B o c c a c c i o d e n a. a. O. S. 92 ff.). Zur Vorsicht bei der Wertung dieser Schilderungen als Abbilder realer Verhältnisse mahnt freilich auch in diesen Szenen die durchgehende antikisierende Stilisierung, auf die wir oben ausführlich hingewiesen haben. Die festlich geschmückten Frauen stellen eine Schar antiker Heroinen dar, während die fürstlichen Ritter als strahlende Helden des Altertums auftreten. 11) Giovanni Villani, Cronica Vif, 132 (zitiert nach: Cronisti del Trecento, a cura di Roberto Palmarocchi, Milano-Roma 1935, S. 225). Über weitere ähnliche Berichte von Florentiner und überhaupt italienischen Festlichkeiten vgl. A. Gaspary, Geschichte der italienischen Literatur, Bd. 1, Straßburg 1885, S. 218 f. In diesen Zusammenhang gehören auch die »Sonetti dei mesi« des Folgore da San Gimignano, bes. die Sonette V-VII (Aprile-Giugno), abgedruckt in: Sonetti burleschi e realistici dei primi due secoli, a cura di A. F. Massèra, nuova edizione riveduta e aggiornata da Luigi Russo (Scrittori d'Italia, 88/89), Bari 1940, S. 159 f. 12) Giovanni Boccaccio, Il Comento alla Divina Commedia e gli altri scritti intorno a Dante, a cura di Domenico Guerri (Scrittori d'Italia, 84/86), 3 Bde., Bari 1918, Bd. 1, S. 3-63. Guerri druckt das Werk unter dem Titel »Vita di Dante«; nach einem Ausdruck Boccaccios im »Comento« (ebda. Bd. 1, S. 118) pflegt man es heute aber allgemein als »Trattatello in laude di Dante« zu zitieren. Daß diese Fassung der Schrift über Dante gegenüber den beiden »Redazioni compendiose« (ebda. Bd. 1, S. 67-107) die ältere darstellt, ist heute, nach der grundlegenden Abhandlung von Michele Barbi, Qual'è la seconda redazione del »Trattatello in laude di Dante«?, in MSV 21 (1913), fase. 2-3 = Studii su G. Boccaccio, a . a . O . S. 101-141, wiederabgedruckt in: Problemi di critica dantesca, Prima serie, Firenze 1934, S. 395 ff., allgemein anerkannt. Vgl. auch die sorgfältigen Untersuchungen zur Chronologie und literarischen Gestaltung der DanteSchriften Boccaccios durch G. Billanovich, Prime ricerche dantesche, a. a. O. S. 56 ff., S. 74 ff. und S. 76 Anm. 3, und von dems., Petrarca letterato, I, a. a. O. S. 236 ff., S. 268 ff. und S. 271 f. Anm. 1. — Jüngste Spezialuntersuchung: Giuseppe Italo Lopriore, L e due redazioni del »Trattatello in laude di Dante« del Boccaccio, in SMV III (1955), S. 35-60. 71
Beginn der Liebe des n e u n j ä h r i g e n D a n t e zu Beatrice: »Nel tempo nel quale la dolcezza del cielo riveste de' suoi ornamenti la terra, e t u t t a per la varietà de' fiori mescolati f r a le verdi frondi la fa ridente, era usanza della nostra citta, e degli uomini e delle donne, nelle loro contrade ciascuno in distinte compagnie festeggiare«. So h a t t e auch der Vater Beatrices »il primo di di maggio [ . . . 1 i circustanti vicini raccolti nella propia casa a festeggiare«, und u n t e r diesen Festteilnehmern befanden sich eben auch der kleine D a n t e und die nodi nicht n e u n j ä h r i g e »Bice«. Und schön wie sie w a r — »die quasi una angioletta e r a r e p u t a t a da molti« — »apparve in questa festa, non credo primamente, ma p r i m a possente ad innamorare, agli occhi del nostro D a n t e : il quale, ancoraché fanciul fosse, con tanta affezione la bella imagine di lei ricevette nel cuore, che da quel giorno innanzi, mai, mentre visse, non se ne diparti« 13 ). Die Episode scheint in allen Einzelheiten dichterischer Phantasie entsprossen und ist es wohl auch. Schon daß Beatrice die Tochter des Bankiers Folco P o r t i n a r i gewesen sein soll, w i r d vor Boccaccio von keinem der ältesten Dante-Kommentare bezeugt. Und die breit ausgemalte Szenerie dieser ersten Begegnung (an die sich w a h r scheinlich nodi Lorenzo de' Medici erinnert, wenn er in seinem in der »Vita Nuova«-Tradition stehenden »Comento sopra alcuni de' suoi sonetti« die Liebe zu der besungenen Geliebten bei einer »publica festa« beginnen läßt 14 )), diese breit ausgemalte Szenerie ist fraglos n u r die novellistische Ausschmückung einer kurzen Stelle in der »Vita Nuova«, die Boccaccio nicht viel mehr bieten konnte als die Angabe des Alters der beiden Kinder 1 5 ). Es k a n n nicht 13) II C o m e n t o . . . , a. a. O. Bd. 1, S. 10 f. (etwas gekürzt in den »Redazioni compendiose«, ebda. S. 72). 14) Lorenzo de' Medici, Opere, a cura di Attilio Sindoni (Scrittori d'Italia), Bd. 1, 2 Bari 1939, S. 35 f. 15) Vita Nuova II. Der Passus, auf den wir uns beziehen, ist zu bekannt, als daß er hier noch einmal zitiert werden müßte. — G. Billanovidi, der die an die Vergil-Viten von Donat und Servius anknüpfende literarische Stilisierung des Dante-Bildes in Boccaccios »Trattatello« aufgezeigt hat (vgl. etwa: Prime ricerche dantesche, a . a . O . S. 60 f.), weist mit Recht darauf hin, daß auch Boccaccios eigene »autobiographische Legende« sein Dante-Leben beeinflußt hat. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die Szene des Maifestes und der Dante-BeatriceBegegnung im »Trattatello«, die er als Umformung der Episode vom Frühlingsfest im »Ameto« ansieht, bei dem König Robert sich in die Mutter Fiammettas verliebt (Restauri..., a . a . O . S. 100 f.; Prime ricerche dantesche, a. a. O. S. 58 f. Anm. 2).
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u n s e r e Absicht sein, in A n a l o g i e zu unserer F i a m m e t t a - U n t e r suchung den g e s a m t e n B e a t r i c e - K o m p l e x hier erneut aufzurollen 1 9 ). U n s k a m es nur darauf an, zu zeigen, daß d i e »costumanze sicure«, v o n d e n e n Branca spricht, für e i n e dichterische D a r s t e l l u n g k e i n e s w e g s e i n e D a t i e r u n g der ersten B e g e g n u n g der L i e b e n d e n auf e i n e n h o h e n kirchlichen F e i e r t a g und e i n e L o k a l i s i e r u n g im Gotteshaus n o t w e n d i g machten. A l l e n f a l l s m a g m a n die A r g u m e n tation u m k e h r e n : die »costumanze« w a r e n V o r a u s s e t z u n g dafür, daß e i n e so dargestellte erste B e g e g n u n g g l a u b h a f t w i r k e n k o n n t e •— für d i e D a r s t e l l u n g selbst aber w a r e n in j e d e m F a l l literarische G r ü n d e ausschlaggebend. D a s gilt, u m ein anderes dichterisches B e i s p i e l einer mittelalterlichen B e g e g n u n g in der Kirche a n z u f ü h r e n , auch für e i n e n Autor, d e r bei ähnlichen G e w o h n h e i t e n des ihn u m g e b e n d e n täglichen Lebens, w e n n auch w e i t a b v o n Italien, vergleichbare Episoden gestaltet hat. Zu d e r s e l b e n Zeit e t w a , da B o c c a c c i o in F l o r e n z s e i n e »Elegia di Madonna Fiammetta« schrieb, schloß in T o l e d o der Erzpriester v o n H i t a s e i n e n »Libro de b u e n amor« ab 17 ). In j e n e r 16) Am entschiedensten hat sich dazu zuletzt geäußert E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, a. a. O. S. 377 ff. Dort auch die wichtigste Literatur. Curtius kann wahrscheinlich madien, daß die von Boccaccio als erstem ausgesprochene Gleichsetzung der Danteschen Beatrice mit einer Beatrice Portinari (als Quelle beruft er sich auf eine »fededegna persona«, im »Comento« lez. VIH, II Comento, a. a. O. Bd. 1, S. 214; sie hat die Forschung bis in die jüngste Zeit beschäftigt, vgl. zuletzt G. Billanovich, R e s t a u r i . . . , a. a. O. S. 99 f. Anm. 1, und ders., P e t r a r c a letterato, I, a . a . O . S. 84 Anm. 1) j e d e r gesicherten Grundlage entbehrt. Curtius neigt zu folgender Formel: »Dante hat einer Florentinerin gehuldigt, die er Beatrice nannte; dann hat er sie zu dem Mythus der D a m e Neun umstilisiert« (ebda. S. 380). Für die Interpretation der »Vita Nuova«, in der Beatrice von Anfang an im Zusammenhang mit der Neunzahl erscheint, kommt es allein darauf an, eine befriedigende E r k l ä r u n g f ü r diese »Dame Neun« zu finden. — Natürlich stammt der Gedanke, der »Vita Nuova« den C h a r a k t e r eines biographischen Dokuments abzusprechen, nicht erst von Curtius. Wir erinnern z. B. an Adolfo Bartoli, Storia della letteratura italiana, 7 Bde., Firenze 1878-1889, Bd. 4 (1881), S. 171 ff. 17) Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, Libro de buen amor. Edición y notas de Julio C e j a d o r y Frauca (Clásicos Castellanos, 14, 17), 2 Bde., «Madrid 1951/1954. »Acabó de componer su libro el año 1343« (Cejador in der »Introducción«, ebda. Bd. 1, S. XVI). Die Entstehungszeit der »Elegia« (wie die der meisten W e r k e Boccaccios) läßt sich nur ungenau vermuten. Pernicone (L'Elegia di Madonna Fiammetta, a. a. O. S. 253) gibt an : »verso il 1343«, Branca in seiner letzten Darstellung (Giovanni Boccaccio, in: Letteratura Italiana, I Maggiori, I, a . a . O . S. 195) meint: »fra il 1343 e il 1344«. 73
grotesken Parodie einer Prozession, wo »clérigos é legos é flayres é monjas é dueñas é joglares salieron á re^ebir á Don Amor« 19 ), wird eben diese Amor-Apotheose auf den Ostersonntag verlegt: Día era muy ssanto de la Pascua mayor: El sol sal ya muy claro é de noble color; Los ornes é las aves é toda noble flor, Todos van rrespebir cantando al Amor. (C. 1225)
In den beiden folgenden Liebesepisoden, der zehnten und elften des Gesamtwerks 19 ), konkretisiert der Dichter diese allgemeine parodistische Gleichsetzung von hohem kirchlichem Festtag im Frühling und weltlichem Liebeskult, indem er den Beginn seiner Liebe auf den Sonntag Quasimodo und auf das Fest des hl. Markus (25. April) ansetzt 20 ). Wichtig ist in unserm Zusammenhang besonders die zweite dieser Episoden 21 )) die zwar ebenso wie die vorhergehende erfolglos ausgeht, aber interessant anhebt: Día era de Sant Marcos, ffué fiesta señalada, Toda la santa iglesia faz' procesión onrrada, De las mayores del afio, de xristianos loada; Conteciom' una ventura, la fiesta non pasada. Vy estar una dueña, fermosa de veldat, Rrogando muy devota ante la majestat; (C. 1321/1322)
Schon die stereotypen Anfänge dieser drei Episoden (»Dia era muy ssanto de la Pascua mayor«, C. 1225; »Dia de Casimodo iglesias é altares / Y y llena de alegrías, de bodas é de cantares«, C. 1315; »Día era de Sant Marcos, ffué fiesta señalada«, C. 1321) beweisen eindeutig, daß es sich hier um eine dreifache Variation ein und desselben Grundmotivs handelt: um die satirische Bloßstellung der großen kirchlichen Feste und Prozessionen als pure Äußerungen 18)
Libro de buen amor, a. a. O. Bd. 2, S. 132 ff.
19) Nadi dem praktischen Schema der Liebesabenteuer des Arcipreste, das Ulrich Leo in seiner vortrefflichen Arbeit: Zur dichterischen Originalität des Arcipreste de Hita (Analecta Romanica, Beihefte zu den RF,6), Frankfurt/M. 1958, S. 14, als Arbeitsgrundlage zusammengestellt hat. 20) Libro de buen amor, a . a . O . Bd. 2, S. 171 ff. (C. 1315-1320 und C. 1321-1330). 21) In der ersten erregt die festlich frohe Stimmung in den Kirchen und in der Stadt, vor allem aber die Feststellung, daß »Los que ante eran solos, son agora casados« (C. 1316), im Dichter den Wunsch, ebenfalls eine »conpana« zu haben, aber Trotaconventos bringt es nicht fertig, ihm die versprochene Witwe zu beschaffen.
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weltlicher Liebesfreuden. Während die erste Abwandlung dieses Motivs abstrakt-allegorisch verfährt, sind die beiden folgenden konkret und persönlich, aber eben nicht im Sinne von Schilderungen persönlicher »Erlebnisse« des Dichters. Denn diese beiden Liebesabenteuer gehören gerade zu jenen fünf, die nach dem Modell der mittellateinischen »Pamphilus«-Komödie gearbeitet sind22), nach der übrigens auch der Verführer und Geliebte Fiammettas in Boccacios »Elegia« benannt ist23). Um aber noch einmal auf die »costumanze« zurückzukommen: es hätte, wenn es wirklich nur nach den Lebensgewohnheiten des Mittelalters gegangen wäre, letzten Endes überhaupt keines Festes und keiner Kirche bedurft, um zwei junge Menschen einander erblicken zu lassen; die Frauen waren auch damals schon nicht in der Weise ans Haus gefesselt, daß man ihnen nicht auch gelegentlich durchaus auf der Straße hätte begegnen können, nicht nur im Leben, sondern auch in der Literatur"). Anders liegen die Dinge, wenn es sich wirklich um eine eingesperrte Frau handelt — aber deren Gefangenschaft ist dann auch besonders motiviert. So wird in der um 1235 verfaßten provenzalischen »Flamenca«, der Literaturgeschichte zufolge einem »Sittenroman, der in der damaligen Gegenwart spielt«26), Flamenca, die junge und schöne Gattin des Archimbaut von Bourbon, aus Eifersucht und krankhafter Angst vor Untreue von ihrem Ehemann in einem Turm eingeschlossen und bewacht, worin natürlich kein den Sitten der damaligen Gegenwart 22) Vgl. U. Leo, a. a. O. S. 20. Der kritische Text des »Pamphilus« (hergestellt von E. Évesque) steht in dem von Gustave Cohen herausgegebenen W e r k : La »comédie« latine en France au Xlle siècle, Bd. 2, Paris 1931, S. 167 ff. 23) Vgl. den Hinweis Salvatore Battaglias in der Einleitung seiner Ausgabe der »Elegia di Madonna Fiammetta«, a. a. O. S. 11 f. 24) Selbst in einer so von aller äußeren Handlung abstrahierenden Erzählung wie Dantes »Vita Nuova«. Wir denken an die zweite Begegnung Dantes mit Beatrice (Vita Nuova III, 1), neun Jahre nach der ersten, der sie an Bedeutung durchaus gleichkommt: » [ . . . ] avvenne die questa mirabile donna apparve a me [ . . . ] in mezzo a due gentili donne [ . . . | ; e passando per una via, volse li occhi verso quella parte ov' io era molto pauroso, e per la sua ineffabile cortesia [ . . . ] mi salutoe molto virtuosamente« (zitiert nadi der Edition Barbi, a. a. O.). 25) Hermann Suchier in: H. Suchier — A. Birch-Hirschfeld, Geschichte der französischen Literatur, Bd. 1, 2 Leipzig-Wien 1913, S. 91.
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n a c h g e b i l d e t e r Zug zu s e h e n ist, s o n d e r n e i n literarischer Topos 5 6 ). N u r an F e s t - u n d S o n n t a g e n darf sie ihr eheliches G e f ä n g n i s v e r lassen, u m zur Kirche zu gehen 2 7 ), w o sie m i t v e r s c h l e i e r t e m Gesicht in e i n e r Ecke h i n t e r e i n e m e i g e n s f ü r s i e k o n s t r u i e r t e n V e r s c h l a g s i t z e n muß 2 8 ). N i e m a n d a u ß e r d e m P r i e s t e r darf sich ihr n ä h e r n . D o r t in der Kirche erblickt der e b e n f a l l s j u n g e u n d hübsche G u i l l e m d e N i v e r s sie z u m e r s t e n M a l e . Er h a t t e v o n i h r e r S c h ö n h e i t u n d G e f a n g e n s c h a f t g e h ö r t u n d w a r g e k o m m e n , u m — g e r a d e w e i l das so s c h w i e r i g s e i n s o l l t e — i h r e L i e b e zu e r r i n g e n , w a s i h m denn auch g e l i n g t . N a t ü r l i c h ( w i e w i r j e t z t schon s a g e n k ö n n e n ) ist es F r ü h l i n g , O s t e r z e i t , als G u i l l e m in d i e Kirche g e h t u n d v o n d r i n n e n d e n E i n g a n g beobachtet, bis F l a m e n c a erscheint: Sus el portal un pauc rema [sc. Flamenca] E sopleguet mout h u m i l m e n ; 26) »Daß ein eifersüchtiger E h e m a n n seine F r a u g e f a n g e n h ä l t und bewacht — meistens sogar, wie hier, in einem T u r m — bis es d e m ause r w ä h l t e n Liebhaber schließlich doch gelingt, seine Vorsichtsmaßnahmen zu umgehen, ist ein nicht n u r in der Schwankliteratur, sondern auch in der höfischen Erzählung sehr häufiges Motiv« — Ilse Nolting-Hauff in i h r e r vornehmlich der »Flamenca« gewidmeten Untersuchung: D i e Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman (Heidelberger Forschungen, 6), Heidelberg 1959, S. 104 (dort auch zahlreiche Beispiele). Vgl. dazu Reinhold Köhlers »Vergleichende A n m e r k u n g e n « zu den »Lais« der Marie d e F r a n c e in Karl W a r n k e s Ausgabe: Die Lais der Marie de F r a n c e (Bibliotheca Normannica, 3), ' H a l l e 1925, S. CI f. u n d S. CXLVIII f. 27) Auch der größte unter den in der Novellistik nicht seltenen alten eifersüchtigen E h e m ä n n e r n , der »Celoso Extremeño« des Cervantes, erlaubt seiner kindlichen F r a u , an Festtagen in seiner Begleitung f r ü h morgens zur Kirche zu gehen, und »sólo los días q u e iba a misa veía [sc. Leonora) las calles, y esto e r a tan de m a ñ a n a , que, si no e r a al volver de la iglesia, no había luz p a r a mirarlas« (Miguel d e C e r v a n t e s Saavedra, Novelas E j e m p l a r e s . Prólogos de Angel Valbuena y P r a t [Colección Crisol, 7], Madrid 1951, S. 414). F ü r die Verführungsgeschichte spielt in diesem Falle der Kirchenbesuch allerdings k e i n e Rolle. Dagegen verliebt sich noch in der auf eine ältere spanische Vorlage zurückgehenden Novelle »O Defunto« von José Maria Eça de Queiroz der jugendliche Held in die schöne und ü b e r s t r e n g bewachte Gattin des alten und mäßlos eifersüchtigen Don Alonso de Lara, als er sie an einem Sonntag im Mai beim Gebet in der Kirche erblickt, die sie besuchen darf. (Eça de Queiroz, Contos, ' P o r t o 1926, S. 205 ff.) 28) Vgl. V. 1424 ff.: »Nengun j o r n non passet la p o r t a / Si non es festa o dimergues« usw. Wir zitieren nach der Ausgabe: Le roman de Flamenca, publié p a r P a u l Meyer, P a r i s 1865 (die 2. Aufl., 1901, war uns leider nicht zur Hand). 76
Adone la vi prumieramen
Guillems de Nivers si com poc (V. 2459 ff.).
A u d i hier also sind es besondere, durch die S t r u k t u r der Fabel veranlaßte Gründe, die den Dichter die erste Begegnung der Liebenden in die Kirche verlegen lassen 29 ). Aber auch Branca hatte j a neben den »costumanze« noch »canoni letterari« erwähnt, f ü r die er Cavalcanti, D a n t e und P e t r a r c a als Beispiele a n f ü h r t , wenn auch wohl eher in dem oben angenommenen Sinn, daß die Sitten der Zeit diesen Dichtern die von uns untersuchte F o r m des »innamoramento« nahegelegt hätten. Immerhin müßte man festzustellen versuchen, ob hier bestimmte Zusammenhänge mit Boccaccio bestehen. D a n t e und Cavalcanti scheiden bei näherem Hinsehen aus, weil bei ihnen der Fall etwas anders liegt. Bei D a n t e insofern, als die Stelle, an die Branca denkt 3 0 ), gar nicht die erste Begegnung mit Beatrice darstellt, sondern n u r eine Wiederbegegnung, die allein deswegen wichtig ist, weil hier, in der Kirche, die »donna schermo« eingeführt wird. Audi die CavalcantiStelle k a n n außer Betracht bleiben. Branca bezieht sich auf das Sonett »Una giovane donna«, das, wie er hinzufügt, »allude all'amore per la Mandetta nato nella chiesa della Daurade« 3 1 ). Nun schildert dieses Sonett zwar in stilnovistischen Ausdrücken den Beginn der Liebe des Dichters zu einer jungen D a m e aus Toulouse, aber selbst ihr Name wird hier nidit genannt, und j e d e r weitere Hinweis auf reale Gegebenheiten muß schon auf G r u n d der Stilhaltung fehlen 32 ). Etwas deutlicher drückt sich Cavalcanti in der 29) Solche Gründe sind es auch, die Benoit de Sainte-More dazu bewegen, Achills Liebe zu Polyxena im Tempel entstehen zu lassen (Le Roman de Troie, a. a. O. V. 17489 ff. Wir haben auf die Stelle, mit der die Anfangsszene von Boccaccios »Filostrato« zusammenhängt, bereits hingewiesen): nur eine religiöse Zeremonie, eine Opferhandlung anläßlich Hektors Todestages, macht es ja erst möglich, daß die Griechen Troja betreten dürfen. Benoit wandelt in seiner ausführlichen Szene der AdiillPolyxena-Begegnung eine kurze Angabe seiner Quelle, des Trojaromans des Dares, ab (Kap. XXVII, vgl. Daretis Phrygii D e excidio Troiae historia, recensuit Ferdinandus Meister, Lipsiae 1873, S. 32 f.). 30) Vita Nuova V, wie er in: Boccaccio medievale, a . a . O . S. 175 Anm. 50 (bzw. Formen der Selbstdarstellung, a. a. O. S. 25 Anm. 45) angibt. 31) Ebda. 32) Vgl. den Text des Sonetts in der neuen Ausgabe: Guido Cavalcanti, Le Rime, a cura di Guido Favati (Documenti di Filologia, 1), Milano-Napoli 195?, S. 244. Zur Textgestaltung vgl. Silvio D'Arco Avalle, Nota sull'edizione critica delle »Rime« di Guido Cavalcanti a cura di Guido Favati, in GSLI 135 (1958), S. 319-362.
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B a l l a t a »Era in p e n s e r d'amor«33) aus, w o e r einer d e r »foresette« auf i h r e F r a g e a n t w o r t e t :
beiden
E' mi ricorda die 'n Tolosa donna m'apparve, accordellata istretta, Amor la qual chiamava la Mandetta (V. 31 ff.), so d a ß m a n d a r a u s n u n w e n i g s t e n s i h r e n N a m e n k e n n t . D a ß d i e L i e b e z u i h r in d e r D a u r a d e - K i r c h e e n t s t a n d e n sei, e n t n i m m t Branca o f f e n b a r d e r »commiato«-Strophe dieses Gedichtes, das er s e l t s a m e r w e i s e a b e r nicht angibt. In dieser S t r o p h e f o r d e r t d e r Dichter seine Ballata auf: Vanne a Tolosa, ballatetta mia, ed entra quetamente a la Dorata, ed ivi chiama die per cortesia d'alcuna bella donna sie menata dinanzi a quella di cui t'ò pregata (V. 45 ff.). D e r S c h l u ß , d a ß d o r t , w o h i n e r d i e B a l l a t a schickt, a u c h d e r B e g i n n d e r L i e b e a n z u s e t z e n ist, m a g z w a r n i c h t u n w a h r s c h e i n l i c h s e i n , e n t b e h r t a b e r d e r letzten sicheren G r u n d l a g e im T e x t selber. Sogar die Forscher des letzten Jahrhunderts34), denen an der A u f h e l l u n g d e r b i o g r a p h i s c h e n Z u s a m m e n h ä n g e so s e h r v i e l l a g , h a b e n i h n n i c h t zu ziehen gewagt. D i e d i r e k t e n A n g a b e n sind j e d e n f a l l s zu u n d e u t lich, u m d i e S t e l l e f ü r u n s e r M o t i v in A n s p r u c h n e h m e n zu k ö n n e n 3 6 ) . 33) Le Rime, a. a. O. S. 247 f. Zur Interpretation vgl. W. Theodor El wert, Die Balladen Guido Cavalcantis, in RF 63 (1951), S. 28 ff. 34) Vgl. z. B. Pietro Ercole, Guido Cavalcanti e le sue Rime. Studio storico-letterario seguito dal testo critico delle Rime con commento, Livorno 1885, cap. II, bes. S. 42 ff. Ercole konstatiert nur: »Giunto |sc. Guido] a Tolosa, vide Mandetta e se ne innamorò« (S. 44 f.). Im Kommentar zu V. 46 der Ballata heißt es nur (S. 385), »die fu in Tolosa una chiesa | . . . ] dedicata alla Vergine onorata sotto il nome di >Dorata< (>Dourade. So wichtig ist Lauras Tod für den Charakter der Liebe des Dichters zu ihr, daß es nicht überrascht, wenn der tiefe Zusammenhang zwischen Liebesbeginn und Lauras Sterben durch die wiederholten chronologischen Angaben überdeutlich sichtbar gemacht wird: ausgerechnet auf den Tag und die Stunde genau einundzwanzig Jahre, nachdem er sie zum ersten Male gesehen hat, läßt Petrarca die Geliebte dahinscheiden, in seiner Lyrik sowohl als auch in jener Notiz des VergilKodexes, die man als Beweis für die historische Existenz Lauras 41) Noch auf andere Weise ist das Bild der Sonnenverdunkelung mit Lauras Tod verbunden: Laura selbst wird oft genug als »sole«, »luce« bezeichnet — noch in der oben zitierten Todes-Notiz: » ( . . . ] ab hac luce lux illa subtracta est« —, und so heißt es denn bei ihrem Tod: »Occhi miei, oscurato è '1 nostro soie« (Son. CCLXXV). Auch darauf deutet der Beginn des dritten Sonetts vor. 42) Literarhistorisch bedeutet die durch den Tod der Geliebten bestimmte Grundsituation der Lyrik Petrarcas (der, wie gesagt, sich an Dante anschließt, aber Dante in neuem Sinne weiterführt) die konsequenteste Fortsetzung dessen, was Leo Spitzer als »le >paradoxe amoureux< qui est à la base de toute la poésie troubadouresque« bezeichnet: »amour qui ne veut posséder, mais jouir de cet état de non-possession« — die konsequenteste Fortsetzung, weil sie eben durch den Tod der Geliebten den »état de non-possession« als permanente Aussichtslosigkeit auf den Besitz der Geliebten von vornherein voraussetzt. Weiter ließ sich die Distanzierung der Dame vom anbetenden Dichter nicht mehr treiben! (Vgl. Leo Spitzer, L'amour lointain de Jaufré Rudel et le sens de la poésie des troubadours [University of North Carolina Studies in the Romance Languages and Literature, 5], Chapel Hill 1944; unser Zitat S. 1 f.) 81 6 König, Die B e g e g n u n g
und f ü r die biographische Wahrheit der in Petrarcas Dichtung »umgesetzten Erlebnisse« anzuführen pflegt 43 ). Wie gesagt, P e t r a r c a hätte kein treffenderes Symbol als den Karfreitag f ü r den Beginn seiner Liebe finden können. Anders liegen die Dinge bei Boccaccio: seine Fiammetta-Begegnung hätte fraglos genausogut an irgendeinem andern Festtag stattfinden können als am Ostersonnabend, und wenn er gerade diesen Tag wählt, dann k a n n er nur einen G r u n d d a f ü r gehabt haben: die Absicht, Petrarcas Dichtung abzuwandeln. Das entspricht der imitatorisch-variierenden Arbeitsweise, auf die wir in seinen F r ü h werken immer wieder gestoßen sind, es entspricht darüberhinaus seiner Verehrung f ü r Petrarca, die gerade zu der Zeit, als er am »Filocolo« arbeitete, entstand und in seinen ersten Schriften ihren Niederschlag fand 41 ). Ende 1338 war ein Freund Petrarcas, der gelehrte Augustinerpater Dionigi da Borgo San Sepolcro, in Neapel angekommen; daß Boccaccio mit ihm in Berührung getreten ist, wissen wir sicher, daß er von ihm über Petrarca unterrichtet worden ist, darf als mehr denn wahrscheinlich gelten: die ersten PetrarcaSchriften, die sich Boccaccio in seinem »Zibaldone« kopiert hat, sind aus dieser Zeit stammende Briefe Petrarcas an Dionigi 45 ). Der Schriftsteller, an den Boccaccio im Jahre 1339 jene zweite seiner Dante-Briefe imitierenden rhetorischen Schulübungen (in Analogie zu Dantes Brief an Cino da Pistoia) richtet 46 ), kann nur Petrarca 43) Vgl. de Nolhac, a. a. O. Bd. 1, S. 140: » ( . . . ] l'existence historique de Laure a ici sa preuve précise«. Wir fürchten, daß man Petrarca auch in diesem Falle — wie bei vielen andern stilisierten Selbstzeugnissen — nicht recht trauen darf. Die unwahrscheinliche Ubereinstimmung von Tag und Stunde der ersten Begegnung und des Todes kann nur aus der Dichtung — wo sie, wie wir sahen, einen tiefen Sinn hat und von Anfang an angelegt ist — in eine scheinbar autobiographische Notiz, schwerlich aber aus dem Leben in die Dichtung, in der sie eine so fundamentale strukturbildende •Kraft darstellt, übergegangen sein. 44) Wir stützen uns für das Folgende auf die schon öfter zitierten Arbeiten von G. Billanovich. insbesondere das Boccaccio-Kapitel seines Werkes: Petrarca letterato, I, a . a . O . S. 59 ff., in dem er die Geschichte der Beziehungen zwischen Boccaccio und Petrarca, soweit das heute irgend möglich ist, erhellt hat. 45) Uber Dionigi da Borgo San Sepolcro, sein Verhältnis zu Petrarca und Boccaccio vgl. Billanovich, P e t r a r c a . . . , a. a. O. S. 62 ff., und R e s t a u r i . . a . a. O. S. 60. 46) Den Brief »Mavortis miles extrenue«, Text in: Opere latine minori, a . a . O . S. 111-114. Vgl. dazu Billanovich, R e s t a u r i . . . . a . a . O . S. 49-78, bes. S. 59 ff.
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sein: als Boccaccio wenige Jahre später seine kleine P e t r a r c a Biographie 4 7 ) verfaßt, greift er mehr als einmal auf diesen fiktiven Brief zurück 48 ). Neben Dionigi dürfte ein zweiter Freund P e t r a r c a s Boccaccio über den Verehrer Lauras informiert haben: Sennuccio del Bene, dem Boccaccio sicherlich die Kenntnis der Dante-Briefe verdankte, an denen er sieb damals übte: es kann kein Zufall sein, daß ein Petrarca-Sonett, das Boccaccio in dem unmittelbar nach dem »Filocolo« noch in Neapel entstandenen »Filostrato« in eigene Stanzen umsetzt, ein von P e t r a r c a an Sennuccio gerichtetes Gedicht ist 49 ). Dies alles zusammengenommen zeigt, daß es sowohl chronologisch möglich 60 ) als auch sachlich wahrscheinlich ist, daß Boccaccio zu der Zeit, da er seine erste Begegnung mit Fiammetta auf den Ostersonnabend und in die Kirche San Lorenzo verlegte, über P e t r a r c a und dessen Laura-Verehrung unterrichtet war, und wenn es noch eines Beweises bedürfte: seine Wahl des Ostersonnabends 47) »De vita et moribus domini Francisci Petracchi de Florentia«, in: Opere latine minori, a. a. O. S. 238-244. Zur Datierung und literarischen Gestaltung dieser Sdirift vgl. Billanovich, Petrarca . . a . a. O. S. 74, der das Werk mit guten Gründen auf 1341/42 ansetzt (gegenüber der bisherigen Annahme: 1347/50). Petrarca hat später diesen biographischen Versuch seines Freundes kennengelernt und daraus für seinen eigenen »autobiographischen« Brief an die Nadiwelt (»Posteritati«) geschöpft, wie Billanovich, ebda. S. 135 ff., nachgewiesen hat. 48)
Vgl. Billanovich, Restauri..., a. a. O. S. 64 f., bes. S. 65 Anm. 1.
49) Vgl. Billanovich, Petrarca..., a . a . O . S. 81 ff. Die Übereinstimmungen zwischen »Filostrato« V, 54-55 und Petrarcas Sonett CXII (»Sennuccio, i' vo'«) hat als erster aufgezeigt: Ernest H. Wilkins, Notes on Petrarch, in MLN 32 (1917), S. 197, wiederabgedruckt in E. H. Wilkins, The Making of the »Canzoniere« and other Petrarchan Studies (Storia e Letteratura, 38), Roma 1951, S. 300 f.; die Kritik von Gordon R. Silber, Alleged imitations of Petrarch in the »Filostrato«, in MPh 37 (1939), S. 113124, ist unbegründet. 50) Ungewiß ist allerdings, wann die beiden Sonette Petrarcas, die vom Karfreitag reden (Son. III und LXII), entstanden sind (vgl. für alle chronologischen Fragen zur Entstehung des »Canzoniere«: E. H. Wilkins, The Making of the »Canzoniere«, a.a.O. S. 75 ff., und zusammenfassend: »Chronological Conspectus« S. 347 ff.; danach ist Son. III nicht zu datieren, Son. LXII zwischen 1337 und 1341 entstanden). Bei der Bedeutung, die das Karfreitagssymbol für die Lyrik Petrarcas hat, ist zu vermuten, daß es von Anfang an eine Rolle gespielt hat und seinen Freunden bekannt gewesen ist. Audi das Motiv vom Tod Lauras müßte dann schon um diese Zeit geplant gewesen sein.
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beweist besser als alles andere, daß er auch vom KarfreitagsT r e f f e n in Sancta C l a r a wußte. Damit hat auch die letzte, genauer gesagt die erste »Tempelbegegnung« Boccaccios eine literarische E r k l ä r u n g gefunden. Fiammetta enthüllt sich tatsächlich, u n d zuallererst durch ihr Auftreten in der Kirche, als »minore sorella di Laura«. Und wenn Boccaccio später, in Nachahmung eines anderen Musters, eine moderne Heroide nodi einmal im Tempel a u f t r e t e n läßt, d a n n erinnert er sich auch an j e n e seine erste Kirdienszene und nennt die auferstandene Dido mit dem Namen, den er seiner L a u r a beilegte: Fiammetta. Wie aber steht es, so mag man weiter fragen, mit L a u r a selbst? W a r u m gibt P e t r a r c a an, ihr zum ersten Male an jenem K a r f r e i t a g in der Kirche zu Avignon begegnet zu sein, sich dort in sie verliebt zu haben? W a r denn nun wenigstens L a u r a eine »wirkliche« F r a u , die d e r »wirkliche« P e t r a r c a tatsächlich in j e n e r Kirche sah? O d e r ist auch sie, ist auch dieser »innamoramento« n u r literarische Fiktion? Die F r a g e nach L a u r a hat s t ä r k e r nodi als die nach Beatrice und Fiammetta die Gemüter von Generationen von Forschern und Liebhabern bewegt. Nicht mehr zu zählen sind die Vorschläge, mit welcher historischen Gestalt sie identisch gewesen sein soll"). Biographistische Interpretationen der Dichtungen P e t r a r c a s haben eine Laura-Legende geschaffen, die der Fiammetta-Legende in nichts nachsteht 52 ). Freilich, auch Zweifler an der Existenz L a u r a s hat es gegeben, selbst schon zu Zeiten, da der Dichter noch lebte, und einer der ersten dieser Zweifler w a r ausgeredinet Giovanni Boccaccio, in dessen »De vita et moribus domini Francisci Petrocchi de Florentia« zu lesen steht 53 ) : 51) Uber die verschiedenen Identifizierungsvorschläge unterrichten: Carlo Calcaterra, II Petrarca e il Petrarchismo, in: Questioni e Correnti di Storia Letteraria (Problemi ed Orientamenti Critici di Lingua e di Letteratura Italiana, 3), Milano 1949, S. 221 ff. (»La questione di Laura«); Emmanuel Davin, Les différentes Laure de Pétrarque, in: Bulletin de l'Association Guillaume Budé, Supplement »Lettres d'Humanité« XY (1956), S. 83-104. 52) Die Geschichte und kritische Durchleuchtung dieser Legende lieferte Enrico Carrara, La leggenda di Laura (erstmals erschienen 1934), wiederabgedruckt in: Enrico Carrara, Studi petrarcheschi ed altri scritti, raccolti a cura di amici e discepoli, Torino 1959, S. 79-111. 53) Opere latine minori, a . a . O . S. 243 (im Satz zuvor war die Rede von Petrarcas Bedrängnis durch und seinem Widerstand gegen sinnliche Begierden).
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Et quamvis in suis quampluribus vulgaribus poematibus, in quibus perlucide decantavit, se Laurettam quandam ardentissime demonstrarit amasse, non obstat nam prout ipsemet bene puto, Laurettam illam allegorice pro laurea Corona quam postmodum est adeptus, accipiendam existimo.
L a u r a als bloße Allegorie f ü r die Dichterkrone: das ist sicher eine allzu blasse E r k l ä r u n g , aber sie zeigt doch, daß man an der »Wirklichkeit« Lauras schon damals zweifeln konnte, und d a r ü b e r h i n a u s w i r f t die E r k l ä r u n g Boccaccios auch wohl einiges Licht auf seine eigene imaginäre Geliebte, auf Fiammetta. Soviel jedenfalls ist sicher: d i e Laura, die wir aus den W e r k e n ihres Dichters kennen, hat n u r gelebt und lebt n u r in der höheren Welt dieser Dichtungen. O b aber der Dichter wirklich jemals, wie er es auf dem Schutzblatt seines Yergil-Kodexes eingetragen hat, sich in einer Kirche in eine F r a u , die er später zu L a u r a umgeformt hätte, verliebt hat, wissen w i r nicht. Unmöglich ist es natürlich nicht; wahrscheinlich ist es auch nicht. Unwahrscheinlich ist, wie wir bereits sagten, vor allem der mehr als seltsame Zufall, daß Liebesbeginn und Tod der Geliebten auf den Tag und die Stunde genau im Abstand von einundzwanzig Jahren erfolgt sein sollen. Ein seltsamer Zufall, der eigentlich n u r — wie w i r es oben versucht haben — aus dem C h a r a k t e r des W e r k e s e r k l ä r t werden kann. Zufall ist es vielleicht auch nur, daß j e n e Notiz über das seltsame Zusammentreffen der wichtigen Daten gerade auf einem Yergil-Kodex v e r m e r k t ist — aber doch ein nachdenklich stimmender Zufall. H a t t e nicht P e t r a r c a an einer wichtigen Stelle seines Werkes seine eigene große Liebe als ein Gegenstück zur Liebe des Aeneas zu Dido betrachtet, dieser Liebe, die er in mittelalterlich-allegorischer Weise als exemplarisches Muster f ü r den Fall des tugendhaften Mannes in die Sünden des Fleisches auslegte? 54 ) In seinem »Secretum« warf er sich selbst vor, vom rechten Wege abgewichen zu sein und die R u h e seines Gemütes durch die Nachgiebigkeit den Begierden gegenüber verloren zu haben, u n d 54) Zu Petrarcas Vergil-Interpretation vgl. de Nolhac, a. a. O. Bd. 1, S. 123 ff., zur »Aeneis«-Auslegung, für die unser wichtigstes Zeugnis der Altersbrief an Francesco d'Arezzo (Seniles IV, 5) ist, ebda. S. 132 ff. In dem Brief geht Petrarca natürlich auch auf die Dido-Aeneas-Episode ein, »qui exprime pour lui la chute de l'homme vertueux dans les péchés de la chair« (ebda. S. 135). Vgl. dazu die ähnlichen Darlegungen Boccaccios in seiner »Genealogia«, Buch XIV, Kap. XIII (bei O. Hecker, BoccaccioFunde, a. a. O. S. 231-233).
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im Zwiegespräch mit d e m heiligen A u g u s t i n u s stellte sich h e r a u s , d a ß d e r Z e i t p u n k t des Beginns dieser seiner V e r i r r u n g e n u n d U n r u h e mit d e m Beginn seiner Liebe z u s a m m e n f i e l — so w i e es nach seiner »Aeneis«-Interpretation auch mit Aeneas geschehen w a r —, u n d es ist von t i e f e r B e d e u t u n g , w e n n A u g u s t i n u s in diesem Z u s a m m e n h a n g Yergil zitiert: A u g . [ . . . ] quando illius tibi primum mulieris species visa est? F r. Id utique nunquam obliviscar. A u g . Iunge igitur tempora. F r. Profecto et illius occursus et exhorbitatio mea unum in tempus inciderunt. A u g . Habeo quod volebam. Obstupuisti, credo, perstrinxitque oculos fulgor insolitus. Dicunt enim stuporem amoris esse principium; hinc est apud nature conscium poetam: »obstupuit primo aspectu sidonia Dido.« Post quod dictum sequitur: »ardet amans Dido.« Que quamvis, ut nosti optime, fabulosa narratio tota sit, ad nature tarnen ordinem respexit ille, dum fingeret.65) Nicht n u r den M u s t e r f a l l f ü r die den Menschen von seinem rechten W e g e a b b r i n g e n d e L i e b e sieht also P e t r a r c a in Yergils D i c h t u n g : er f i n d e t in ihr auch das beste Beispiel f ü r d e n schlagartigen B e g i n n einer »Liebe auf den ersten Blick«, ein Beispiel, an d a s er sich in seinen W e r k e n m e h r f a c h e r i n n e r t , w e n n er einen Liebesbeginn beschreibt 5 6 ), an das er sich auch h i e r im »Secretum« e r i n n e r t , als e r a n seine eigene erste B e g e g n u n g mit d e r G e l i e b t e n z u r ü c k d e n k t . G a n z selbstverständlich r u f t die E r i n n e r u n g d a r a n Didos Bild in seinen G e d a n k e n h e r v o r (denn auch w a s A u g u s t i n u s ausspricht, sind j a seine G e d a n k e n ) — sollte er d a nicht auch schon bei d e r E r f i n d u n g d e r n ä h e r e n U m s t ä n d e seines ersten T r e f f e n s mit L a u r a d a r a n gedacht h a b e n , d a ß es in einem T e m p e l w a r , w o D i d o b e i m ersten Anblick des A e n e a s erschrocken z u s a m m e n f u h r ? K e i n Zweifel: auch L a u r a , die schon des K a r f r e i t a g s wegen G r u n d g e n u g g e h a b t hätte, sich d e m Dichter zum ersten Male in einer Kirche zu zeigen, auch L a u r a erscheint im Tempel, weil D i d o einst im T e m p e l 55) Francesco Petrarca, Prose, a. a. O. S. 152. 56) De Nolhac, a. a. O. Bd. 1, S. 138 Anm. 2, bemerkt zu dem »Aeneis«Zitat an dieser Stelle des »Secretum« : »Sur ce point particulier, remarquons l'idée que se fait P[étrarque] du >coup de foudre< dans l'amour. Elle reparaît non seulement dans le >CanzoniereStellbaren Universalkalender