Rocaille: zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs [Reprint 2011 ed.] 9783111531816, 9783111163772


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German Pages 87 [144] Year 1962

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Table of contents :
I. DIE GENESE DER »FORME ROCAILLE« IN FRANKREICH
Der Strukturwandel im Groteskenornament um 1700
Muschel und Muschelrand in der französischen Groteske
Muschel und Muschelrand der barocken Kartusche
Der Livre d’Ornements Meissonniers
Die weitere Ausbildung der Forme Rocaille
II. STYLE ROCAILLE ALS META-STIL
Rocaille und Architektur
Die Materie der späten Rocaille. Ornament als »Natürliches«
Der Realitätscharakter der Rocaille. Gebaute Rocaille. Ihre Rahmenfunktion
Das Ende der Rocaille und ihre klassizistische Umsetzung
Style Rocaille als »Meta-Stil«
ANHANG
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Rocaille: zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs [Reprint 2011 ed.]
 9783111531816, 9783111163772

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H. BAUER · ROCAILLE

NEUE M Ü N C H N E R BEITRÄGE ZUR

KUNSTGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VOM

KUNSTHISTORISCHEN SEMINAR DER UNIVERSITÄT M Ü N C H E N

Unter der Leitung von HANS SEDLMAYR

Band 4

1962 W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. / B E R L I N VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSB U C H H A N D L U N G - GEORG REIMER - KARL J. T R Ü B N E R - VEIT &. COMP.

ROCAILLE ZUR H E R K U N F T UND ZUM WESEN E I N E S ORNAMENT-MOTIVS

Von

H E R M A N N BAUER

Mit 46 Tafeln und 6 Textabbildungen

1962 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. / B E R L I N VORMALS G.J.GOSCHEN'SCHE VERLAGSHANDL;UNG - J.GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.

Ardiiv-Nr. 35 1962 XIV Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch, oder Teile daraus, auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie zu vervielfältigen. © 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung - J. Guttenug, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin W 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germany)

VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde 1955 unter dem Titel Rocaillß als kritische Form von der philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Dissertation angenommen. Das Angebot von Professor Hans Sedlmayr, sie in seine Reihe der Neuen Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte aufzunehmen, durfte ich als ehrenvoll empfinden, gleichzeitig aber tauchte für mich — bei einem Abstand von mehreren Jahren zur Dissertationsfassung der Arbeit — das Problem einer Neufassung auf. In der Überlegung, daß eine totale Überarbeitung und Ergänzung durch weiteres, mir inzwischen zugänglich gewordenes Material zwar einen größeren wissenschaftlichen »Apparat« ergeben hätte, andererseits aber diese Dissertation für mich wenn nicht abgeschlossen, so doch abgerundet zu sein schien, habe ich lediglich stilistische Mängel beseitigt und allernötigste Änderungen angebracht. Unberücksichtigt geblieben sind einige neuere Arbeiten zum Thema Rokoko und Ornament, so die von Bernhard Rupprecht über die bayerische Rokokokirche, von Friedrich Piel über die Groteske und Hella Müller über die Natur-Illusion in der Innenraumkunst des späteren 18. Jhd. Da in ihnen die Dissertationsfassung meiner Arbeit zitiert ist, hätte ich es unfair gefunden, daraus jetzt Belege zur Stützung meiner Thesen anzuführen. Aber ich darf hier darauf als auf Versuche mit gleichen Zielen hinweisen und bei dieser Gelegenheit den Verfassern für Rat und Anregungen danken, so wie ich Mohammed Rassem danke für seine Hilfe bei der Neufassung meines Textes. Mein ganz besonderer Dank aber gebührt meinem verehrten Lehrer Hans Sedlmayr für Anregungen, Hilfe und Verständnis,· ihm verdanke ich meine kunsthistorische Methode und ich hoffe, dieser keine Bärendienste geleistet zu haben. Sollte es mir gelungen sein, nicht nur einen kleinen Beitrag zur Geschichte eines Stiles geliefert, sondern auch die großen Möglichkeiten der »Methode der kritischen Formen« unter Beweis gestellt zu haben, so sähe ich das Hauptziel dieser Arbeit erreicht. M ü n c h e n , im Februar 1962 HERMANN BAUER

INHALTSVERZEICHNIS I. DIE GENESE DER »FORME ROCAILLE« IN FRANKREICH . . Der Strukturwandel im Groteskenornament um 1700 Zum Wesen der Groteske Zwei Kategorien der Grotesken-Logik Der Wandel im Verhältnis beider Kategorien Muschel und Muschelrand in der französischen Groteske . . . . Die Muschel Berain und Marot Watteau Der Muschel verwandte Ornamentformen Die Anwendung der Muschel im ersten Jahrhundertdrittel . . Meissonnier Muschel und Muschelrand der barocken Kartusche Arten und Formen Bernard Toro Das Genre Pittoiesque Muschelrand: Französische Entwicklung und Übernahme aus Italien Zum Unterschied zwischen französischer und italienischer Kartusche Der Livie d'Omements Meissonniers Das plastische Prinzip Meissonniers und seine Herkunft. . . Die Bezeichnung Rocaille Die Entstehung der Forme Rocaille im Livre Meissonniers . . Die »mikromegalische« Struktur der Rocaille-Architektur . . Tafelgerät und Forme Rocaille Reflexe realer Architektur im Livie Meissonniers Reflexe italienischer Barockarchitektur im Livie Ruine und Rocaille-Architektur Garten und Rocaille Die weitere Ausbildung der Forme Rocaille Die Morceaux de Fantaisie des La Joue Die mikromegalische Struktur bei La Joue Das »Büffet« Rocaille und Rocaillearchitektur

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Die »Japan-Hypothese« Das »Athenische« Element in der Rocaille Muschel und Wasser Rocaille-Ikonologie Francois Boucher Jean Mondon fils P. E. Babel F. de Cuvillies Die Dekoration bei Cuvillies II. STYLE ROCAILLE ALS -STIL Rocaille und Architektur Eine zeitgenössische Beschreibung der Rocaille Eine Rocaille in Salem. Zum Typus des deutschen Stuckornamentes Rocaille und Wand Das »Nordenfalksche Gesetz« »Ersatzornament« Rocaille als Dekorationsbestandteil Die Materie der späten Rocaille. Ornament als »Natürliches« . . Die »Erd-Rocaille« »Holz und Stein« Rocaille als das »Natürliche« und »Ruinöse« am Ornamentträger »Erdrocaille« als ruinöse Rocaille »Rocailles richtig zu zeichnen?« Der Realitätscharakter der Rocaille. Gebaute Rocaille. Ihre Rahmenfunktion Der Gnadenaltar von Vierzehnheiligen Die Grotte der Marie Antoinette Jean Pillement »Sein und Schein« der Rocaille Das Ende der Rocaille und ihre klassizistische Umsetzung . . . Die literarische Reaktion Die klassizistische Umsetzung der Rocaille Das Ende der »eigentlichen« Rocaille Style Rocaille als »Meta-Stil« Die interkategorialen Verschiebungen Meta-Stil Style Rocaille als Stil Die Bedeutung Deutschlands im Rokoko Die Schönheit der Rocaille ANHANG

32 32 34 35 35 37 38 38 40 41 41 41 46 47 48 49 50 52 52 S3 55 56 57 58 58 59 60 6r 63 63 66 69 69 69 71 74 75 76 78

In seinen Confessions schreibt Rousseau im achten Buch von dem reichen Juwelier Mussard: Indem ei die Terrassen seines Gartens umwühlte, fand ei fossile Muscheln, und zwar in so großer Anzahl, daß seine erhitzte Einbildungskraft nur noch Muscheln in der Natur erblickte, und daß er endlich ganz au/richtig glaubte, das ganze Weltall sei nur Muscheln, Trümmer von Muscheln, und daß mit einem Wort die Erde nur noch Muschelstoff s e i . . . 1768 kam J. B. Robinet auf den Gedanken (Vue philosophique de la gradation naturelle des formes de l'etre), daß die Muscheln nichts anderes seien als Entwürfe des Schöpfers für die einzelnen Teile des menschlichen Körpers und die Organe des entwickelteren Lebens. Jedes Organ habe seine formale Kausalität, die in einer frühen Epoche von der Natur erprobt worden sei. Tous les Etres ont ete concus et formes d'apres un dessein unique dont ils sont des variations gradues, ä Tinfini. Dieser Entwurf der Natur ist das Muschelwerk. Andererseits wurden Muscheln wie Kunst behandelt. Gersaint verkaufte sie in seinem Laden neben Bildern und Boucher sammelte mit großem Eifer exotische Muscheln, bestrebt, sie immer wieder gegen schönere auszutauschen. Rousseau nannte die Krankheit, die den armen Mussard befallen hatte Konchyliomanie. In der bildenden Kunst — und auch in dieser schien den klassizistischen Nachfolgern des Rokoko ein Krankheitsbefund vorzuliegen — wird diese Konchyliomanie des achtzehnten Jahrhunderts Style rocaille genannt. Es ist die Manie, mit Muschelwerk, muschelähnlichem Ornament gleichsam in einem horror vacui das zu überspinnen und auszufüllen, was eine Krise des Architektonischen an Lücken öffnete. Wer eine süddeutsche Rokokokirche betritt, in Augsburger Graphik blättert oder wertvolles Tafelsilber betrachtet, der mag den Eindruck gewinnen, daß zwischen 1730 und 1770 wie dem Juwelier Mussard die Erde, dem Künstler die Kunst Muschelstoff war. Seltsamerweise aber hat die kunsthistorische Forschung sich bisher nur sehr wenig von der Quantität der Rocaille in allen Kunstbereichen beeindruckt gezeigt und ebensowenig von dem Phänomen, daß dieses Ornament — man denke nur an den Nothelferaltar in Vierzehnheiligen — imstande ist, sogar Architektur zu ersetzen. Selbst die Frage, ob die Rocaille denn nun wirklich M u s c h e l w e r k sei, blieb unbeantwortet, denn die Frage nach dem I n h a l t eines Ornamentes scheint einer Zeit, die eine breite Vorliebe für das Rokoko mit ebenso breitem Verständnis für gegenstandslose Kunst zu verbinden weiß, unerheblich zu sein. Die folgende Untersuchung beabsichtigt dagegen, weniger nach einer stilistischen Entwicklung, als gerade nach Inhalt und Bedeutung der Rocaille zu fragen. Daß beides sich nur zu erkennen gibt nach einem Einblick in die Entstehung, ist selbstverständlich. Daß aber auch die Antwort auf die Frage sich leichter finden läßt durch eine Untersuchung extremer Formen, dürfte einleuchtend sein. Und an Extremen ist das Rokoko wahrlich nicht arm.

Man sieht heute am Rokoko fast nur noch (vor allem in puritanisch gesinnten Ländern) das Extrem einer allgemeinen Säkularisation. Viel weniger das einer Umwertung aller bis dahin gewohnten kategorialen Möglichkeiten in der Kunst; gerade diese Umwertung aber ist es, die das Ende des Barock und eines ganzen Zeitalters bezeichnet und heraufführt. In den Caicen Piranesis, in den Kirchen eines Johann Michael Fischer, in Walpoles Strawberry Hill wird eine lange Tradition für immer zerstört. Unter der sehr dünnen Schicht einer immer wieder bestaunten Heiterkeit ist diese Zerstörung schon weit vorgeschritten, wenn gleichzeitig noch ein großes Theater alten Stiles über die Bühne geht. Daß sie so schwer sichtbar ist und der Bruch gegen 1770 dann um so abrupter erscheint, liegt nicht zuletzt an dem erstaunlichen Unternehmen des Rokoko, in einer seltsamen Ironie für einige Jahrzehnte die alten Möglichkeiten zum theatralischen Anlaß zu nehmen. Kunst wird zu einem Objekt der Darstellung. Sie stellt nicht mehr an sich dar. Das Rokoko verrät sich selten; vor allem einem Geschlecht, das seit der französischen Revolution an Raffinement und Geschmack verloren hat, was es an Ernst gewann. Aber es verrät sich dort, wo das »Gegenstandslose« der Formen das Hervorbringen von Gegenständen an gleichsam unbewachtem Ort, in Laune und Phantasie erlaubt: im Ornament der Rocaille.

I. DIE GENESE DER „FORME ROCAILLE" IN FRANKREICH ... was aber die ältesten Akanthusomamente betrifft, so hoffe ich erwiesen zu haben, daß dieselben nichts anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Palmetten. Riegl, Stilfragen

DER STRUKTURWANDEL IM GROTESKENORNAMENT UM 1700 Die Rocaille entstand innerhalb einer Umstrukturierung des französischen G r o t e s k e n o r n a m e n t s — innerhalb, gleichzeitig und veranlaßt durch diese. Auf diesen Strukturwandel wurde bisher wenig geachtet; nicht zuletzt deshalb, weil er in der herkömmlichen Ornament-Terminologie sehr schwer faßbar ist. Eine gewisse Grundlegung ist hier unumgänglich. ZUM WESEN DER GROTESKE Rudolf Berliner schreibt einmal, den Titel einer italienischen Groteskenfolge paraphrasierend: Ihie (der Groteske) Eigenheit sieht dei Unbekannte (Stecher der Folge) nicht in einer willkürlichen Fonnenvermisdmng der Einzelmotive, sondern in einer

besonderen geistigen Haltung des Ganzen ... 'leviores', unbeschwerter als andere Dekorationen von allen Rücksichten auf logische, statische und mechanische Gesetze eines Naturalismus, und findet er selbst erst da seine Grenzen, wo die Dinge, die 'nee sunt nee fien possunt nee fuerunt', in der künstlerischen Darstellung nur noch ein rein spielerisches, selbst der Phantasie real ,unmöglich' erscheinendes Leben führen können. Daß etwa eine Ranke von irgendeinem Mischwesen ausgeht oder in ihm endet, das widerspricht wohl der Erfahrung, aber keinem Naturgesetz, ist also ,möglich'. Jedoch ist es .unmöglich', daß eine sich in die Tiefe erstreckende architektonische Anlage vom von zwei Männern getragen wird, hinten aber im besten Falle von zwei wegfliegenden Vögeln gestützt ist, also dort im Leeren hängt, oder daß irgendwo in der Luft ein Wassertümpel entsteht, auf dem Delphine schwimmen ... Damit ist sehr anschaulich gesagt, wie das Wesentliche der Groteske weniger die Irrealitäten einer Kombinatorik der Formen und Motive, als die Irrealitäten einer Kombinatorik verschiedenartiger räumlicher Logiken ausmachen. Das heißt: Daß die ornamentale Logik (etwa von Vögeln, die Architektonisches tragen) in »groteske« Spannung gesetzt ist zu realer bildlich-räumlicher Logik (etwa der dargestellten Architektur). ZWEI KATEGORIEN DER GROTESKEN-LOGIK Damit sind aber bereits zweierlei kategoriale Logiken innerhalb der Groteske genannt, die es zu erläutern gilt. Denn das Grotesken-Blatt besitzt für gewöhnlich in der Mitte ein spezielles Thema, wenn auch oft nur als bedeutungslosen Anlaß eines darum herum ausgebreiteten Randornaments. Wobei dieses zentrale Thema selten ganz von außen her genommen, meist Konkretisierung von schon im Grotesken-Arsenal Vorhandenem ist: Fabelwesen, Allegorie usw. Wenn Berliner von einer von Mischwesen und Vögeln getragenen Architektur sprach, so meinte er damit dieses G r o t e s k e n - Z e n t r u m . Analog dieser thematischen Konkretisierung erfährt dieses auch eine räumliche, und zwar zum B i l d h a f t e n hin, wobei schließlich diese Mitte — und das schon seit langem — ein kleines B i l d , dreidimensional, räumlich und logisch im Sinne des »naturalistischen« Bildes wird. Darum herum das Rand- und Rahmenornament, der eigentliche Schauplatz des Grotesken. Es gehorcht anderen Gesetzen, ist einer anderen Logik unterworfen, nämlich der des O r n a m e n t a l e n . Mit dieser Bezeichnung aber ist noch nichts gewonnen. Anhand eines Beispieles aber läßt sich das Wesen des Ornamentalen in der Groteske doch annähernd bestimmen: Ein Blatt von Jean Berain (Abb. i) von vor 1693 (womit der oben erwähnte Strukturwandel zeitlich ungefähr beginnt): Im Grotesken-Zentrum befindet sich ein kleiner Tempietto Amors — Thema und bildliche Verdichtung. Allein schon in der graphischen Fakturunterscheidet sich dieser Tempietto durch seine schwerere, schattige, bildhafte Gegenständlichkeit vom umgebenden Groteskenornament. Er ist sozusagen bildwertig. Anders das rahmende Ornament. Es hat keinen dreidimensionalen Tiefenraum im Sinne des Bildes, auch wenn naturalistische Motive, Putti oder Tiere darin eingestreut sind. Dieses

Ornament organisiert zunächst die F l ä c h e des B l a t t e s . Intendiert ist kein Abbildungsmodus wie beim Groteskenzentrum, sondern die Fläche des Omamentträgers wird selbst zu Form, indem sie Negativ des Ornaments wird. Dessen Logik ist nicht die des Abbildern, der Darstellung, sondern die Logik freier Formen, die an sich Gegenstand, nicht abgebildeter Gegenstand sind. Dies sind die zwei kategorialen Logiken auf dem Groteskenblatt von Berain: A. Bild im Zentrum = Abbildung. B. Ornament des Rahmens = Gegenstand an sich. Das Rahmen-Ornament auf dem Berainstich ist fähig (weil es keiner Bild-Logik gehorcht), die verschiedensten Motive ohne Rücksicht auf deren Maßstab zu kombinieren, etwa ein Eichhörnchen und eine große Akanthusranke; denn diese sind hier nicht Bildgegenstände, sondern Dinge, deren r e a l e Größe auf dem P a p i e r gegeben ist. Hier im Groteskenornament leben letztlich noch Darstellungsprinzipien der Jahrhunderte vor der Renaissance weiter. DER WANDEL IM VERHÄLTNIS BEIDER KATEGORIEN

Bei Berain nun (der Name soll mehr einen Stil als eine Autorschaft bezeichnen) beginnt zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts sich ein entscheidender Wandel im Verhältnis von zentralem Grotesken-Bild und rahmendem Blatt-Ornament anzubahnen. Eine »kritische« Stelle ist dabei der Übergang, die Naht zwischen Bild und Rahmenornament. Es ist eigentlich die Stelle, von der Berliner sprach als einer »Unmöglichkeit« etwa einer Architektur (Bild), die vorne von zwei Männern getragen wird (Rahmenornament). Bei Berain ist diese »unmögliche« Grenzstelle auf dem gezeigten Stich der Sockel desTempietto in der Mitte, der einerseits aus ornamentalem Kurvenwerk besteht (der Sphäre des Blattes angehörend), während andererseits dieses Ornamentwerk bereits derart tektonisch gegenständlich, wie gebaut, geworden ist, daß es eben ein tragender, rational tragfähiger Sockel ist. O r n a m e n t ist h i e r p a r t i e l l B i l d g e g e n s t a n d g e w o r d e n . Bemerkenswert ist, wie die zwei tragenden Podeste unten am Rand nach der Seite zu in einen C-Bogen übergehen, der seinerseits rein zum Randornament gehört. Ganz allmählich verliert sich in diesem Bogen die substantielle Festigkeit, bis er, zum Randornament geworden, schließlich nur noch blatt-dimensionale Kurve ist — nur noch Ornament. Die vielen Möglichkeiten eines solchen Systems, im Changieren zwischen Bild-Gegenständlichkeit und Rand-Ornament, liegen auf der Hand. Die Entwicklung geht nun in folgender Richtung: Bei Watteau, dem Meister der Groteske im frühen achtzehnten Jahrhundert gibt es Ornamentstiche, die »Bilder ohne Rahmen« (Sedlmayr) sind. Denn die Entwicklung im Grotesken-Blatt geht dahin, das Bild-Zentrum immer mehr auszuweiten, wobei umgekehrt das Rand-Ornament einschrumpft. Ein Beispiel: La Pellenne Alteiee (Abb. 2). Wie eine Insel ist ein Stück Landschaft ausgeschnitten, auf dem nun die Bildszene spielt, über das Rahmenwerk der Groteske hinauswuchernd, und doch sich wieder damit in

den »kritischen« Übergangsstellen vermischend, wie oben auf dem Blatt, wo aus dem Grotesken-Rand ein Tuch herabhängt und in das zentrale Bild bild-logisch eingreift. Die »inselhafte« Stimmung vieler Watteau-Stiche und auch Bilder, das fremdartig »Esoterische« in ihnen läßt sich mit aus dieser Entwicklung der Groteske und aus der Groteske erklären: Daß nämlich diese Bilder ohne Rahmen immer noch umgeben sind von jener Ornament-Logik und Blatt-Dimension des Groteskenrandes. Es ist dies die Luft des unwirklich Spielerischen und Künstlichen, das Irreale um die Bilder Watteaus. Von Berain zu Watteau weitet sich auf den Stichen das Grotesken-Zentrum immer mehr aus, auf Kosten des Rand-Ornamentes. Das Ornament wird mehr und mehr bildhaft — in einem Maße, daß schließlich dieses Ornament daran stirbt. Dieser Vorgang aber ist die Geschichte der Rocaille. Bevor aber auf diesen Vorgang eingegangen sei, ist noch zu erörtern, welche Rolle die Muschel in der Entwicklung der Rocaille spielt. MUSCHEL UND MUSCHELRAND IN DER FRANZÖSISCHEN GROTESKE DIE MUSCHEL ist seit der Renaissance ein immer wiederkehrendes Dekorationselement. Ihre Bedeutung im Barock, an Brunnen wie als Bauornament, muß hier kaum erläutert werden. Sie kommt aber auch als frontal stehende Schale in der italienischen Groteske vor. Ein sehr frühes Beispiel dafür ist die schon erwähnte, von Berliner paraphrasierte Stichfolge von 1541. In Frankreich scheint sie durch die Schule von Fontainebleau zu größerer Bedeutung gelangt zu sein, wenn sie nicht durch diese überhaupt erst in Frankreich »eingeschleppt« wurde. Bei Antonio Fantuzzi, einem der Hauptleute von Fontainebleau, ist innerhalb eines Rollwerk-Grotesken-Stiches eine palmettenartige Muschel an ihrem Außenrand von einer Ranke umklammert, während an ihrem Scharnier von außen kommende S-Ranken sich jeweils volutenartig einrollen. Dies ist die wesentliche und

Antonio Fantuzzi, Bandwerk [schematische Nachzeichnung)

Georges Charmeton, Bandwerk, ca. r$$o (schematische Nachzeichnung)

zukunftsträchtige Form; nicht die in allen möglichen Variationen vorkommende Muschel, sondern jene, die halb noch als Palmette, in der Art eben der Palmette umklammert oder verbunden mit bandartigem Rankenwerk auftritt. Durch hundertundfünfzig Jahre hindurch ist die Muschel jetzt fester, aber auch nicht sehr bedeutender Bestandteil der französischen Ornamentik, besonders der Groteske. Im siebzehnten Jahrhundert bringen Lepautre und der LeBrun-Kreis die Muschel in nur wenig veränderter Form. Georges Charmeton etwa bindet sie, allerdings jetzt sehr eng, in das Bandwerksystem ein.

B£RAIN UND MAROT stehen am Beginn einer eigentlichen Entwicklung des französischen Muschelwerkes (wobei unter Muschelwerk eine Omamentform verstanden sei, in der die Muschel über ihre eigentliche Form hinaus ornamental verwandelt wird).

Daniel Marot, Bandwerkomament (schematisdie Nachzeichnung)

Beide Künstler stehen einerseits in der Tradition der französischen Groteske — diese reicht von Ducerceau, DeLaulne über LeBrun bis Meissonnier —, andererseits sind sie, wie schon Richard Sedlmaier erkannte, an den Anfang einer Geschichte des Rokokoornaments zu setzen. Denn sie bilden konsequent das aus, was Grundlage der Ornamentik in Regence und Rokoko sein wird: die C-Kurve. Daß diese als Bestandteil des Bandwerks so wenig neu ist wie jenes, bedarf nicht der Erwähnung; die Frage nach ihrer Herkunft muß hier außer acht gelassen bleiben. Wichtig aber ist in unserem Zusammenhang, daß in den letzten Jahrzehnten des Louis XIV diese C-Kurve sich wie nie vorher der Muschel bemächtigt. So erscheint die Palmette oder die Muschel überall und nur da, wo es gj.lt, ein System zusammenlaufender Gegenbewegungen ohne Härte auf einen Zentralpunkt zusammenzuführen, der die einströmenden Linien förmlich schlürfend au/trinkt, oder umgekehrt wie ein fließender Born unaufhörlich seine flutenden Kräfte ausstrahlend nach allen Richtungen entsendet (Sedlmaier). Und dort, wo die PalmettenMuschel, frontal stehend, Kern von Bandwerkverschlingungen ist, geschieht es jetzt auch, daß diese Muschel, von einem C-Bogen umklammert, mit diesem verschmilzt; wobei sehr oft der Muschelrand identisch ist mit einem glatten oder gewellten, breiten C-Bogen.

Rein quantitativ nimmt die Musdiel jetzt bei Berain oder Marot weit mehr Platz ein als bei früheren Ornamentisten. Daneben gibt es bei Berain die Möglichkeit, daß die omamentale Muschel auch im Bild-Zentrum der Groteske erscheint, in Verbindung etwa mit dem Thema von Venus oder Galathea. So auf einem um die Jahrhundertwende zu datierenden Stich (Abb. 3): Im Grotesken-Bild Venus auf einer Muschelschale liegend — so daß diese Muschel zunächst also Bildgegenstand ist; aber diese weist sich zugleich auch als Ornament-Muschel aus durch die an ihrem Brunnensockel ansetzenden Voluten, die aus dem Bandwerk des Rahmenornaments kommen, also vom R a h m e n ins B i l d hinüberchangieren. Muschel als Schale der Venus ist hier identisch mit der Ornamentmuschel der Groteske. Eine wichtige Möglichkeit taucht auf: Die ornamentale Muschel kann, thematisch motiviert, jetzt B i l d g e g e n s t a n d u n d z u g l e i c h O r n a m e n t sein. Eine weitere Möglichkeit ist, daß die Muschel im Groteskenrand von der schon beschriebenen Ausweitung des zentralen Bildes erfaßt wird und zunächst einmal anwächst, vor allem aber, je näher sie an das Bild heranrückt, selbst eine bildgegenständliche Funktion erhält. Dies allerdings in einem zwitterigen Changieren zwischen Bild und Ornament, wie es am Sockel des Tempiettos auf dem schon beschriebenen Stich Berains festzustellen war. WATTEAU

Die nächste Stufe der Entwicklung ist das Ornament bei Watteau. Ein Stich, Le Galant (Abb. 4): Eine Bild-Insel mit einem Bild-Thema darin. Herum eine zunächst seltsam erscheinende Anlage: Links und rechts außen wachsen aus dem Boden dieser Insel Bäumchen hoch, die oben unvermittelt in hermenartige Figuren übergehen, welche ihrerseits wieder eine Art von flachem Dach tragen, auf dem dann ein Vorhang liegt, der ganz oben mit seinen Zipfeln über die Strich-Linie der Randleiste des Blattes hängt. Zunächst sind das eben die »Unmöglichkeiten« der Groteske, die dort entstehen, wo Blattornament und Bild aneinanderstoßen. Zweierlei aber hat sich seit Berain weiter verändert: Das B i l d füllt jetzt beinahe das ganze Blatt, der Groteskenwulst Berains ist verschwunden. Der Abstand des Betrachters zum Bild ist kleiner geworden. Zugleich sind die Grotesken-Elemente des Randes, die Bäumchen mit den Figuren, fast ganz vom Bild erfaßt. Das ergibt, daß diese Grotesken-Dinge jetzt b i l d m o t i v i s c h g e g e n s t ä n d l i c h geworden sind. Bei den Bäumchen ist das offensichtlich. Aber auch die Hermen sind nicht mehr groteske Fabelwesen an sich, sondern G a r t e n p l a s t i k . Aus dem ornamentalen Modus ist ein Bildmodus geworden. Diese Wesen sind nicht mehr reine Ornamentmotive, ornamentlogisch, sondern Bildgegenstände [quasi abgebildete Plastik). Ihr Realitätsgrad ist ein anderer geworden. Das bedeutet aber noch keine Aufhebung des »Grotesken«. Im Gegenteil. Es verbleiben die Unmöglichkeiten in der Kombinatorik bestehen. Ja, daß die einzelnen Motive als Bildgegenstände von einer stärkeren bildhaften Realität sind, verstärkt nur noch dieses »Groteske«. Am unteren Rand des Blattes (Abb. 5) liegt ein seltsames Gebilde. Eine Art Muschel, 8

an deren Scharnier sich rollende Ranken ansetzen, die ihrerseits wieder in das Stabwerk des Blattrandes übergehen. Das Innere der »Muschel« ist ersetzt durch ein kleines Stillleben von Blumen, Düdelsack und einem Tuch. Vor dem Muschelscharnier liegt eine zweite, kleinere Muschel (oder ein sog. Fledermausflügel). Zunächst ist das hier noch Rahmenwerk wie bei Berain. Auf einem anderen Stich Watteaus, der schon erwähnten Pellerine alteree (Abb. 2) sehen wir ebenfalls eine Muschel, im Scharnier von C-Bogen gehalten und von diesen wie ein an der Spitze abgeschnittener Fächer bandartig ausgespannt, so daß sie als Band, wie eine Muschel, von der nur noch der Rand vorhanden ist, die Funktion eines Rahmens ausüben kann. Hier vermischt sich die Muschelform mit dem »Fledermausflügel«, der schon bei Audran, in den Mois Grotesques von 1708 als halbkreisförmig gespanntes Band jene Form bei Watteau vorbereitet. Wichtig ist, daß jetzt die vordem rein ornamentale Muschel genauso wie das Bildzentrum der Groteske sich gleichsam ausdehnt und b i l d g e g e n s t ä n d l i c h wird. Die Muschel im Groteskenrand wird zu einem kleinen, zweiten Bildzentrum, das Ornamentale des Randes schrumpft ein zu kleinen Rankenkurven an der Peripherie. Ähnlich ist es auf dem Stich der Pellerine alteiee: Hier ist die Ornamentmuschel einem Bmnnenbecken vorgestellt. Erkenntlich als Ornamentmuschel ist sie noch an den am Scharnier ansetzenden Volutenranken; sonst aber ist sie ähnlich wie auf dem Ga]ant-Stich von der Rahmen-Dimension in die Bild-Dimension hinübergewechselt. So wie Hermen bei Watteau zu Gartenplastik wurden, ist hier die Muschel in Verbindung mit einem Brunnen g e g e n s t ä n d l i c h e s B i l d m o t i v geworden; daß sie dabei noch changiert zwischen eindeutiger Ornament- oder Bild-Dimension, ist nicht etwas, was von der folgenden Entwicklung überwunden wird, sondern gerade dieses Changieren, dieses Pendeln zwischen den zwei Modi wird zum Prinzip. Es konstituiert den Rocaille-Stil, das Rokoko. DER MUSCHEL VERWANDTE ORNAMENTFORMEN

Das Muschelmotiv leitet sich nicht von der Muschel ab, sondern von der Rosette und Palmette, eist nach und nach wächst in diese stilisierte Form das naturalistische Motiv hinein. Dieser Satz Brinckmanns stellt sich als richtig heraus, wenn man das Motiv der Muschel bis in ihre Anfänge zurückverfolgt. Sie ist eine Modifizierung der Palmette. Auf die Entstehung des Muschelwerks des Rokoko angewendet aber ist dieser Satz falsch. Denn das Rokoko wendet auch ganz bewußt die Muschel als solche an. Nicht bei Berain etwa entsteht aus der Palmette die Muschel — das ist viel früher geschehen. Aber seit die Muschel wieder eine größere Rolle in der Ornamentik spielt, vermischt sie sich unaufhörlich mit anderen Ornamentmotiven. Insofern besteht auf der Stufe Berain zwischen Muschel und Palmette kein prinzipieller Unterschied. Auf einer Rahmenleiste von Marot (Abb. 6) ist neben einer palmettenartigen Muschel auch eine reine Palmette aus Akanthusblättern zu sehen. Ein Vorlageblatt Berains (Abb. 7) mit Kapitellen darauf bringt eine Fülle von Variationsmöglichkeiten: Reine Muschel, dann eine mit daraus hervorgehenden Palmblättern, Akanthuspalmette,

disteliger Akanthus, dem Fledermausflügel wie der Muschel verwandt. Auffallend ist dabei, wie jetzt die Muschel fast willkürlich am Kapitell lose angeheftet scheint, während die Voluten durch Schnecken ersetzt sind. All diese Ornamentmotive sind gleichsam austauschbar, während die Muschel als »echte« Muschel bereits gleichwertig neben anderen Formen existiert.

Jean Berain, Bandwerk (schematische Nachzeichnung)

Ein Stich von Gillot (Abb. 8) beispielsweise bringt (als Sammlung von Theaterhelmen) das ganze Formenarsenal, das jetzt mit der Muschel zusammen bräuchlich und mit dieser vermischbar ist: Palmette, Akanthus, Fledermausflügel, dieser vor allem in Fächerform, und Lambrequins — fast alles in Vermischungen, die nicht mehr genau benennbar sind. Es gehört zum Stil der Regencekunst, daß einerseits die pflanzlich-natürlichen Motive im Ornament, aus der Garten-Sphäre kommend, einen immer größeren Platz beanspruchen (bei Watteau), daß aber auch andererseits artefaktische Motive, wie Fledermausflügel, Lambrequin oder Palmette (im textilen Sinn) sich mit diesem Pflanzlichen vermengen. Und dies so, daß eine natürliche Form wie die Muschel oft wie eine Metapher des Artefaktischen und umgekehrt das Artefakt wie eine Metapher von Naturhaftem erscheint. Einem Fächer kann die Vorstellung von etwas unbestimmbar Natürlichem, Gewachsenem unterschoben werden; und umgekehrt. Es gibt wohl keine Epoche der abendländischen Kunst, die so »künstlich« war wie die R6gence. So, wie für Watteau das Theater Metapher des Lebens war, war im Ornament das Artefakt metaphorisches Medium des Naturhaften. DIE ANWENDUNG DER MUSCHEL IM ERSTEN JAHRHUNDERTDRITTEL Kimball nennt eine mit Muschelrand umgebene Kartusche von Vasse (Abb. 9) aus dem Jahr 1718 die wohl erste dieser Art in Frankreich. Sie ist aber nichts anderes als die 10

etwa gleichzeitige Form des schon erwähnten Muschelrandes bei Watteau, von dem aus zurück diese Idee sich bis zu Marot und Berain verfolgen läßt. Es ist der von einer Muschel als Rest verbliebene Rand, der wie ein Fledermausflügel-Band etwas rahmt. Wie bei Watteau sitzt auch bei Vasse am Scharnier der ehemals ganzen Muschel eine weitere kleine Muschel, einen Poseidonkopf hinterlegend wie ein Palmetten-Maskaron. Ein Vergleich wird dadurch etwas erschwert, daß die Muschel innerhalb einer Trophäe erscheint. Daß trotzdem aber Formen wie die im Scharnier sich rollenden C-Bogen und die kleinere zweite Muschel vorkommen, verweist auf die Grotesken-Tradition. So gibt es in der Dekoration des Hotel de Lassay (Abb. 10) (nach 1725) den Muschelrand noch in einer Form wie bei Marot, ebenfalls im Scharnier auf Voluten sitzend, wobei aus dem Scharnier eine palmettenartige kleinere zweite Muschel hervorgeht. MEISSONNIER 1734 — das Datum bezeichnet einen Meilenstein in der Geschichte des Rokokoomaments — erschien der Livre d'Omemens et Dessines ... des Juste-Aurele Meissonnier. Kleine Ornamentstiche, nur etwa 20 cm breit. Blatt D 26 (Abb. 13) ist davon das in der Anlage altertümlichste. Es ist noch, obwohl es auf einen ersten Blick nicht den Anschein hat, eine Groteske im Sinne Berains oder Watteaus, in deren Tradition stehend. In zweierlei Hinsicht aber ist eine entscheidende Änderung vorgenommen: Aus einem sekundären Bildmotiv bei Watteau (der Muschel unten am Rand des Stiches Le Galant} (Abb. 14) ist ein z e n t r a l e s Motiv geworden. Das Bildinteresse ist also vom Grotesken-Zentrum in die Randsphäre der Groteske hinübergewechselt. W e n n j e t z t d a s v o r m a l s R a n d - R a h m e n - M o t i v d e r Muschel zum Bild-Zentrum der Groteske wird, ist die Forme Rocaille e n t s t a n d e n . Wenn das Bild-Interesse bei Meissonnier ausschließlich auf den Rand der Groteske gerichtet ist, diesen zum Zentrum macht, ergibt sich eine ganz neue Konsequenz in Hinblick auf den Realitätsgrad. Das Randomament wird zum Bildgegenstand, es wird d a r g e s t e l l t . Es wird abgebildet wie Architektur. So, wie schon bei Watteau Fabelwesen und Hermen der ornamentalen Randsphäre zu abgebildeter Plastik wurden, wird bei Meissonnier Ornament zu abgebildeter QuasiArchitektur. Das sieht so aus: Am linken und rechten Rand des Blattes ist eine dunkle Schraffur (wie oft bei Watteau) von einem Kurven- und Steg-Werk eingefaßt. Daran schließen nach innen zu breite, weiße, oben direkt aus dem Papier- nicht Hintergrund herauskommende C-Bogen an, nach dem unteren Eck links und rechts mit dem Rand durch Stege verklammert (wieder wie bei Watteau). Und dies ist die kritische Stelle, wo Ornament-Dimension und Bild-Dimension aneinanderstoßen. Außen sind diese C-Bogen noch Ornament an sich, innen sind diese gleichen Bogen bildgegenständliche Quasi-Architektur, Bildmotiv, wie gebaut. Man sieht II

durch sie hindurch auf eine Art Landschaft mit einer Muschel darin und mit Wasser. Schon auf einem Stich Watteaus, Divinite Chinoise [Abb. 15), wo das Rand-Ornament mit ins Bild hineingenommen ist, Stufen vor dem Thron der Gottheit bildet, ist Ornament Quasi-Architektur. Entscheidend für die Entstehung der Rocaille bei Meissonnier jedoch ist, daß jetzt auch der M u s c h e l r a n d mit seinen C-Bogen zu solch d a r g e s t e l l t e r Q u a s i A r c h i t e k t u r geworden ist. Die Voluten am Muschelscharnier sind jetzt Gesimse, unter denen Wasser hindurchströmt wie unter einer Brücke. Die früher am Muschelscharnier sitzende zweite kleinere Muschel ist ganz Bildgegenstand geworden, Muschelschale, die zusammen mit Schnecken und Korallen ein Stilleben ergibt. Was ist hier von der alten Groteske noch übriggeblieben? Die »grotesken« Dinge, die Mischwesen sind verschwunden. Schon bei Watteau war ihnen dadurch, daß sie wie Plastik abgebildet wurden, das Unheimliche genommen worden. Geblieben aber ist das »Groteske«, »Unmögliche« des Zusammenstoßens zwischen Ornament-Dimension und Bild-Dimension, die Vermengung zweier Logiken. Bei Meissonnier ist es beispielsweise die »Unmöglichkeit«, daß ein Ornament von C-Bogen und Muschelrand nach dem Blattzentrum zu zur Quasi-Architektur wird unter der ein Wasserfall rauscht; oder daß aus einer vom Ornamentträger bestimmten Ebene, also aus reiner Ornament-Realität heraus C-Bogen hervorgehen, die dann zu Architekturteilen werden; daß die vorderste Schicht des Blattes von einem Muschelrand bedeckt ist, aus dem Wasser heraustropft — nach hinten, hinter das von dem Muschelrand gerahmte Stilleben. Das sind noch die alten »Unmöglichkeiten« der Groteske. Sie werden Schauplatz der Rocaille.

MUSCHEL UND MUSCHELRAND DER BAROCKEN KARTUSCHE ARTEN UND FORMEN Seit dem sechzehnten Jahrhundert, seit es in Italien Rollwerk gibt, gibt es auch eine Tradition des Kartuschenornaments. D e r Schild und d a s Schild sind hier, in einer von der Tartsche ableitbaren Form, identisch. Als Träger von Schrift und Wappen war die Kartusche typisch für den Barock, gleichsam ein Leitmotiv. Pompös, theatralisch, aufwendig, steht die Kartusche im Barock oft in keiner Proportion mehr zum Gerahmten — gerade aber weil in diesem Stil der Rahmen selbst sich als Kunstform verselbständigt, ist er bezeichnende Form. Im achtzehnten Jahrhundert gewinnt diese Kartusche, nach einer Pause, wieder neues Leben. Wenn die Kartusche, gegen deren sinnlich eigenwilliges Leben die klassische Reaktion den Kampf bis zur Vernichtung geführt hatte, nun auf einmal wieder mit einer solchen Leidenschaft aufgesucht, verwertet, in den Organismus der Ornamentik aufgenommen wurde, wenn sie allmählich mehr und mehr zu einer typischen Erscheinung ... der Rococokunst werden konnte ..., so lag der tiefere Grund dafür einzig und allein in der Tatsache, daß sie den absoluten Neigungen des 18. Jhd. zum Akzent wie keine andere Omamentbildung entgegenkam (Sedlmaier).

Les formes du haut baroque... fuient incoiporees dans l'ouvrage de Stefano della Bella ... Ses cartouches offrent chaque variete de boiduie, compienant meme le bord de coquille, destine ä voii finalement une si giande fortune, au temps du plein epanouissement du rococo (Kimball). Die Serie Raccolta di vani capncci des Della Bella erschien 1646 in Paris. Auf Blatt 9 (Abb. ii) ist die Kartusche voll und ganz von einer Muschel gebildet, deren Inneres, das Blatt, nach vorne gebaucht ist. Ein anderes Blatt, aus den Nouvelles inventions de cartouches (Paris 1647) (Abb. 16) gibt zunächst das Kartuschenblatt, dann eine Rahmung, die weiter nach außen von einem Muschelrand umgeben ist, in den Fische, ein Triton und eine Nymphe verwachsen sind, in der Muschelsubstanz wie in Wasser lebend. Muschelstoff ist hier Abbreviatur, Symbol des Wassers, des ornamental an sich nicht darstellbaren. Muschelrand ist identisch mit Wasserwellen. Wer solche Formen sieht, wird spontan Verbindungen zur Rocaille des Rokoko sehen. So schreibt Kimball von einer Zeichnung Oppenordts, einem Kaminentwurf, er zeige einerseits Formen Berainscher Prägung, andererseits im oberen Spiegelabschluß mit S-Bogen und Muschelrand, Anlehnungen an Della Bella. Wobei auch die Zeichnung des Vasse für das Hotel de Toulouse (Abb. 9) erwähnt wird. Ist also das Muschelwerk des Rokoko eine Weiterentwicklung der barocken Muschelkartusche? Die Frage wurde verschiedentlich bejaht. Aber diese Bejahung steht in Gegensatz zu einer im Vorhergehenden festgestellten Entwicklung aus der französischen Groteskentradition. Vor einem voreiligen Schluß sollte man zunächst einmal die italienische Kartuschenform näher betrachten. Zum Beispiel eine des Federico Zuccaro von etwa 1600 (Abb. 17). Sie hat einen breit-pompösen Rand aus Rollwerk, während an der unteren Hälfte der Kartuschenrand nur Band, Kyma, also Urform des Eierstabes ist. Wo dieses Rahmenband nun eine schärfere Knickung macht, wie an der Unterseite der Kartusche, nehmen diese Kyma-Bögen, Arkaden gleich, entsprechend der Dehnung des Bandes an der Außenseite Keulenform an und werden fast zur Palmette, die sich dann mit der palmettenartigen Form der Muschel vermischen kann. Das ist zu beachten. Bei Francesco Bedeschini gibt es beispielsweise ein symmetrisch gehälftetes Kartuschenblatt (von 1685) (Abb. 18), das diese Möglichkeit variiert. Auf der rechten Hälfte oben ist hier ein Band mit fensterartig ausgestanztem Kyma (mit gesimshaft schwerem Volutenbogen darüber), einem der Hauptkennzeichen der italienischen Kartusche. Während auf der rechten Hälfte das Kyma als lambrequinartiger Besatz im inneren Bogen der Kartusche sitzt, ist es außen wiederum eingefaßt von einer GesimsVolute. Die Möglichkeit, dieses Lambrequin-Kyma durch einen muschelartigen Palmettenrand zu ersetzen, bot sich an, und wurde dann auch, nicht zuletzt bei Della Bella, so genutzt. Die Zeichnung des Vasse (Abb. 9) wendet beides an, den reinen Muschelrand an der Muscheltrophäe; an einer zweiten Trophäe daneben, mit dem Thema »Jagd« ist der Kartuschenrand dagegen Kyma, oben gedeckt durch einen gesimsschweren C-Bogen. Muschelrand wie Kyma sind hier sicherlich italienischer Import.

BERNARD TORO

steht von allen französischen Ornamentisten des frühen achtzehnten Jahrhunderts Italien am nächsten. Eine Kartusche (von ca. 1716) (Abb. 19) ist doppelt asymmetrisch (ähnlich wie bei Agostino Mitelli) (Abb. 20); einmal ist sie als solche asymmetrisch, am unteren Rand, wie auch oft in Italien, wo die Rollwerkbänder sich ungleich in Kurven von der Kartusche lösen, zum zweiten gibt es bei Toro eine Asymmetrie der ganzen Kartuschen-Lage. Diese steht (wie wiederum bei Mitelli) schräg im Raum, wie eine an die Wand gelehnte Tartsche. Der obere Abschluß der Kartusche Toros ist ein Maskaron, an den nach unten zu das Kartuschenblatt wie ein Torso anschließt, mit seitwärts anbiegenden Armstümpfen, sich unten in einen Bauch rundend. Auch dies ist schon in Italien vorgebildet zu finden. Umgeben ist dieser Kartuschenkörper Toros von einem Muschelrand, der mit seinen kymaartig betonten einzelnen Muschel-Segmenten und der Feston-Ranke darüber wieder an Mitelli, an Italien erinnert. Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts ist ein starker Einfluß der barocken italienischen Kartuschenornamentik auf Frankreich feststellbar. Über den Südfranzosen Toro wird das italienische Kartuschen-Genre wirksam auf die Rokoko-Ornamentik. DAS GENRE PITTORESQUE

J. F. Blondel nennt mit den Namen Pinault (Pineau), Meissonnier und Lajoue die »Erfinder« eines sogenannten Genie Pittoiesque. Was unter diesem zu verstehen ist, geht aus einer Stelle bei Cochin hervor, der von Meissonnier schreibt: 11 inventa les contrastes, c'est-ä-diie qu'il bcmnit la Symmetrie ... Mit conüaste sind wohl jene Formsteigerungen gemeint, die das italienische Barock kennzeichnen und die in Frankreich immer fremdartig wirkten. So schrieb denn auch der Meicuie de Fiance deutlich genug vom Livie Meissonniers: 11 paioit wie suite d'Estampes en large, dans le gout d'Eüenne LaBelle, qui doivent piquei la cunosite du Public et de Cuneux du meilleui gout... Von den drei Meistern des Genie Pittoiesque ist Nicolas Pineau der große Innendekorateur. Eine seiner Kartuschen-Serien ist gegen 1725 anzusetzen (Abb. 21, 22). Die Bänderungen des Kartuschenrandes sind noch ganz im Sinne Mitellis, zugleich aber auch entsprechen sie der gleichzeitigen Phase des französischen Bandwerkes. Italienischer Kartuschenrand rollt sich in schweren C-Bogen und ist überdacht durch ein Kyma. An einigen Kartuschen ist dieses Kyma dann auch auf den Kopf gestellt als ein von der Unterlage abblätterndes Lambrequin (siehe Bedeschini) ,· ein andermal hat sich der oben abschließende C-Bogen zum Halbkreis geschlossen und ist das Kyma darunter zu einer Palmette geworden, ein andermal nimmt dieses Kyma Muschelrand-Form an — und so in vielen Variationen. Auch bei Meissonnier ist es zu finden: im Projet du Satton de la Pnncesse Saitoiinski (Abb. 23) laufen über Türen und Supraporten Bänder aus lambrequinartigem Kyma, sich mit Muschelrand derart modifizierend, daß ein Unterschied oft nur darin besteht, daß der Muschelrand als engeres Kyma oben eine fortlaufende Welle zur Grenze hat.

MUSCHELRAND: FRANZÖSISCHE ENTWICKLUNG UND ÜBERNAHME AUS ITALIEN Toro, dann aber auch die Meister des frühen Rokoko, Meissonnier, Pineau, Oppenordt, übernehmen Muschelformen der italienischen Barock-Kartusche; Kennzeichen derselben ist nicht die bloße Muschelrand-Form, sondern deren Verwandtschaft und Verbindung mit dem Kyma und der abdeckende, gesimsarüge C-Bogen. Durch diese Feststellung einer Abhängigkeit von Italien ergibt sich aber jetzt die Frage: 1. Wie ist die Behauptung haltbar, die Rocaille sei aus den Voraussetzungen der französischen Groteske entstanden und 2. warum jene Urform des Kyma, aus der sich schon einmal in Italien der Muschelrand palmettenhaft entwickelt hatte, jetzt spät in Frankreich, nämlich bei Meissonnier und Pineau übernommen wurde, und zwar in der Weise, daß man die Genese des Muschelwerks aus dem Kyma repetierte? Wobei doch der in Italien fertig ausgebildete Muschelrand direkt übernommen hätte werden können, wie es bei Toro auch geschah. Auf Frage i ist folgendes zu antworten: Wenn es eine Entelechie von Kunstformen gibt, sobald annähernd gleiche Bedingungen und Tendenzen am Werk sind, dann ist es nicht erstaunlich, daß zweimal, im italienischen Barock und im französischen Rokoko, zu einem Zeitpunkt da beide Male die Muschel und Wasserthemen beliebt waren, aus »ungegenständlichen« Formen wie Palmette oder Fledermausflügel die Ornamentform des Muschelrandes sich entwickelte. So konnte es dann auch geschehen, daß zu dem gleichen Zeitpunkt, da Watteau zu dieser Form aus eigener Entwicklung gelangte, Vasse jetzt wieder die italienische, ähnliche Form aufnahm. Man muß sich allerdings hüten, hier nicht allzusehr den Vorgang dieser Rezeption bei gleichzeitiger Eigenentwicklung zu vereinfachen. Rezeption ist seltener als gemeinhin angenommen echte genetische Abhängigkeit. Rezeption über größere Intervalle hinweg erfolgt meist nur, wenn eine Eigenentwicklung schon an jenem Punkt angelangt ist, da der nächste Schritt der einer selbständigen Entwicklung der schließlich von anderswoher rezipierten Form ist. Meist wird nur das E n d e r g e b n i s durch eine schon fertige Vorform, nicht deren A u s b i l d u n g übernommen. Frage 2 ist damit ebenfalls zum Teil beantwortet. Anzumerken ist noch, wie sehr es bezeichnend ist für das achtzehnte Jahrhundert, auf solch komplizierte Weise zu rezipieren. Auf eine selbständige Entwicklung in Frankreich wird als Rezeption bereits mit der Übernahme von muschelrandartigem Kyma ein ganzer Entwicklungsprozeß mitrezipiert und der eigenen Entwicklung überlagert. ZUM UNTERSCHIED ZWISCHEN FRANZÖSISCHER UND ITALIENISCHER KARTUSCHE Ein Vergleich zwischen einer Kartusche des Delia Bella (Abb. n) und einer von Oppenordt (Abb. 12) ist sehr aufschlußreich. Einerseits wird die Abhängigkeit des letzteren vom ersteren klar, andererseits werden starke Unterschiede sichtbar. Auf Oppenordts Stich bildet ein faunisches Wesen (ähnlich wie auch bei Toro) eine Art

von Kartusche. Bei Delia Bella ist diese aus knorpeliger Muschel gebildet, mit Pferden im Muschelrand. Federn von den Flügelstümpfen des Fauns gehen bei Oppenordt in muschelig gewelltem Rand auf, bei Delia Bella die Federn der Pegasus-Pferde. Beiden Stichen gemeinsam ist die Wildheit und Bizarrerie der Formen. Die Unterschiede aber sind: Die Muschel Delia Bellas i s t Wasser, sie ist identisch mit diesem. Bei Oppenordt liegt zu Füßen des Faunes ein Muschelrand, aber dieser ist nur Attribut. So, wie alle wilde Form bei ihm nicht wie im Barock Aufruhr des Elementarischen ist, sondern Bizarrerie, der der unmittelbare Ernst dadurch genommen ist, daß alles bildgegenständlich abgebildet zu sein scheint. Ähnlich wie bei Watteau den grotesken Wesen dadurch das Unheimliche genommen wurde, daß sie als Gartenplastik erschienen, ist hier das Unheimliche der Formen mittelbar. Es ist wie eine Abbildung antiker Spolien. Faun ist nicht lebendig geworden, nur sein steinernes Monument wurde wiederentdeckt. Das Muschelig-bizarre bei Oppenordt ist nicht Aufruhr der Form an sich, es ist entstanden dadurch, daß vordem glatte unversehrte Form zerzaust und verwittert dargestellt ist. Das Bizarre ist das Alter der Form. Bei Delia Bella ist das Bizarre, Pittoreske Exaltation aller Formen. Bei Oppenordt sind diese dadurch verlebendigt, daß sie verwittert erscheinen. Das ist ein Paradox und macht zugleich den eigenartigen Historismus der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts aus.

DER LIVRE D'ORNEMENS MEISSONNIERS DAS PLASTISCHE PRINZIP MEISSONNIERS UND SEINE HERKUNFT

Auffallend und erstaunlich an dem schon besprochenen Stich aus dem Livre Meissonniers (Abb. 13) ist das plastische Element. Was bei Watteau noch, etwa in den oberen C-Bogen des Muschelrandes, lineare Ranke war, ist jetzt bei diesem schwer plastisch, in die Tiefe hinein gedreht, massiv dinglich. Meissonnier war eigentlich Goldschmied. Seine Graphik und aus dieser hervorgehend seine architektonische Tätigkeit sind Ergebnis einer primär kunsthandwerklichen Beschäftigung. Deshalb ist es gut, von seinem Goldschmiedegerät auszugehen, etwa seinem berühmten Leuchter-Entwurf, dem Bougeoii von 1728 (Abb. 24). Dreierlei Ansichten sind auf dem Stich nötig, um den vielen und verschiedenartigen Aspekten des asymmetrischen Stückes gerecht zu werden. Bis dahin war eine solche Asymmetrie in Frankreich unbekannt (was kaum, auch nicht von Kimball beachtet wurde). Aber das Plastische dieses Leuchters ist eine »oberflächliche«, eine Pseudo-Plastizität. Daß in seinem Schwerpunkt zwei Putti sitzen, um die der Leuchterschaft ausweichend herumgeführt ist, ist bezeichnend für das Verhältnis von Oberfläche und Kem. Diese geriefelte, strähnige Oberfläche, bestehend aus einer Summe von kleinen C-Bogen, erschöpft sich eben in diesen C-Bogen schon, die hier gleichsam die Monaden des plastischen Prinzips sind. Plastische Masse wird bei Meissonnier ersetzt durch eine V e r d r e h u n g d e r O b e r f l ä c h e i n a l l e D i m e n s i o n e n ; auch i n d a s 16

Innere, den Ort des plastischen Kerns hinein. Diese dreidimensionale, sphärische Drehung der summierten C-Bogen gleicht einer Raumanalyse mit den Mitteln analytischer Geometrie. Raum-Masse wird markiert durch Kurvatur. Substanz wird durch einen plastischen V o r g a n g ersetzt. Auf der ersten Ansicht des Leuchters bildet dessen Fuß ein beinahe sich schließender C-Bogen, ähnlich einem Okulus, aus dem Wasser fließt. Oder ist es eine Muschel? Die Bestimmung muß offen bleiben. Wasser und Muschel sind hier noch identisch wie bei Delia Bella. Eines aber läßt sich mit Bestimmtheit sagen: Die Metapher der Muschel ist evident. Muschel ist nämlich nicht nur eine Metapher des Wassers, sondern auch das natürliche Vorbild einer pseudo-plastischen dreidimensionalen Raumergreifung mit den bloßen Mitteln des C-Bogens. Und die Muschel ist ebenfalls eine Summe von solchen C-Bogen-Monaden. Noch bevor Meissonnier Muschelformen aufnimmt, ist seine Plastik muschelförmig. Für Frankreich ist eine solche Form absolut neu und aus französischen Voraussetzungen nicht ableitbar. Dies wäre nur bei früheren Arbeiten Meissonniers möglich. Ein Monstranzentwurf von 1727 zeigt noch keine sehr wesentlichen Unterschiede gegenüber gleichzeitigen oder früheren französischen Arbeiten. Mit dem Leuchter jedoch hat Meissonnier etwas völlig Neues geschaffen. Sein Vorbild ist die — von der Forschung bisher nicht berücksichtigte — zweibändige Stichfolge des römischen Goldschmiedes Giovanni Giardini, die 1714 erschienen war. Entwürfe zu Kirchengerät, Tafelsilber, Uhren usw. sind hier schon in der Thematik mit der Meissonniers verwandt. Ein Beispiel aus Giardini: Eine Kombination zwischen Leuchter und Räuchergerät (Abb. 25); auffallend ist hier (siehe Meissonnier) das Umgehen des plastischen Kerns durch C-Kurven-Werk mit tektonischer Funktion. Das heißt: Diese C-Kurven sind nicht bloßes Ornament, sondern der eigentliche Träger des Aufbaues. Innen im Leuchter sitzt eine Figur, um welche diese tragenden Kurven herumgeführt sind. Ebenfalls Vorbild aber war auch die Art und Weise, in der bei Giardini das Muschelmotiv verwendet wurde. Hier ist beispielsweise ein C-Bogen-Komplex zugleich längliche Muschel, gebogen und am Ende sich schalenartig verbreiternd, so daß der Bogen wie ein Bündel von streifigen C-Monaden ist, die an ihrem Ende sich zu einer Muschelschale verbreitern. Und dieser Muschel-Bogen kann nun stehend entweder oben einen neuen, entgegenschwingenden Bogen tragen, oder Gerät, eine Vase, Räuchertöpfe usw. — eine Anordnung, die dann auch bei Meissonnier oft zu finden ist. Bei Giardini wie bei Meissonnier gibt es das Prinzip der geriefelten Oberfläche, der C-Bogen-Summe. Bei ersterem ist der Fuß etwa eines Räuchergerätes (Abb. 26) jeweils in S-Kurven-Strähnen so aus zwei entgegengesetzten C-Bogen zusammengesetzt, daß an der Stelle des Richtungswechsels die gesamte Riefelung in einem scharfen Grat umschwenkt nach dem Prinzip der Voluten. Am Kandelaber Meissonniers ist das Gleiche zu sehen. Beachtenswert ist bei Giardini auch die Art, in der die Füße eines Kandelabers (Abb. 27) durch zwei C-Bogen gebildet sind. Dabei sind diese nicht als solche Muschel, sondern rechteckigen Querschnitts, aber an seiner konkaven und konvexen Seite ist dem

Bogen jeweils eine Muschel angeheftet, eingerollt in die untere Volute desselben. Und auch dies ist wieder ein Motiv, das Meissonnier sehr oft anwendet. Schließlich ist bei Giardini die Muschel — in Verfolgung einer hochbarocken Idee — identisch mit Wasser. Delphine schwimmen darin und an dieser Stelle hat dann die Muschelfaktur wellige, lichtspielende Oberfläche — ist zur Welle geworden. Allerdings sind alle Entwürfe Giardinis streng symmetrisch. Hier muß Meissonnier — wenn er nicht der Erfinder der Asymmetrie des Rokoko sein soll — andere Vorbilder haben. Kimball glaubt hier an Anlehnungen an den niederländischen Ohrmuschelstil und nennt als Vorbilder Van Vianen und Jamnitzer. Das stellt sich bei einem Vergleich als unwahrscheinlich heraus. Diese Meister bringen in ihrem Goldschmiedegerät eine Asymmetrie von völlig anderer Struktur. Meissonniers Asymmetrie verbiegt und verformt das Ding auf eine ungemein künstliche Art und Weise. Der Ohrmuschelstil dagegen liebt Gerät, das von sich aus schon asymmetrisch ist. Am ehesten ließe sich noch Meissonniers Surtout (Abb. 2,8) von 1735 damit vergleichen. Was aber am meisten Ohrmuschelstil und Rokoko voneinander trennt, ist, daß der Ohrmuschelstil ein Überziehen einer an sich stabilen Grundform mit anthropomorph-fleischig-hautartiger Ornamenthaut ist, die auch asymmetrisch sein kann, während die Rokokoformen Meissonniers nie Verformung des Menschlichen oder Tierischen, sondern ausschließlich des Artefaktischen oder Pflanzlichen sind. Die Ohrmuschel ist lebendige, organische Form, die Muschel des Rokoko steinem-artefaktisch Natürliches. Die Asymmetrie des Rokoko scheint ausschließlich durch die schon erwähnte italienische Kartuschenornamentik angeregt zu sein. Und sie scheint auf dem Wege der Vorlage- und Phantasie-Graphik durch Meissonnier zum großen Stilkriterium des Rokoko gemacht worden zu sein. DIE BEZEICHNUNG ROCAILLE stammt aus der Sphäre der Grotten und bezeichnete schon im 17. Jahrhundert das Muschelwerk in diesen. Im Zusammenhang mit dem Ornamentstich des 18. Jahrhunderts und als Wort für die neue Ornamentform aus Muschelstoff findet sie sich erstmals 1736 bei Jean Mondon fils auf dem Titel einer Stichserie: Premier Livre de Forme Rocquaille et Cartel. .. Dabei ist mit Forme Rocaille nun nicht der bloße Muschelrand bezeichnet (coquille), sondern ein Komplex, bei dem dieser Muschelrand nur e i n Motiv unter Motiven ist. Rocaille, adjektivisch oder substantivisch gebraucht, Travail de Rocaille im gleichen Sinn wie Tiavail de Coquille, bezeichnet schon früher die Muschelarbeiten an Grotten und Brunnen. Roc ist die Kombination von Gestein, Tropfstein, Muscheln und Schnecken, die in ihrer Verbindung mit dem Thema Wasser Hauptbestandteil der Grotten seit der Renaissance war. Schließlich kommt auch die Bezeichnung Rococo von Roc, Rocaille. So nun, wie Rocaille mehr als nur Muschelrand ist, bedeutet die Bezeichnung Forme Rocaille bei Mondon einen Typus, der zum erstenmal bei Meissonnier auftritt. Wenn 18

im folgenden von Rocaille die Rede ist, so ist dieser Typus, der jetzt zu beschreiben ist, gemeint. DIE ENTSTEHUNG DER FORME ROCAILLE IM LIVRE MEISSONNIERS

In neun Blättern lassen sich, obwohl diese annähernd gleichzeitig entstanden sein dürften, alle die Stufen weiterverfolgen, die die Groteske weiterging bis zur Ausbildung der Forme mcaille. Eines der Blätter wurde schon besprochen (Abb. 13). Auf ihm war aus dem vordem sekundären Motiv des Muschelrandes ein Zentralthema und damit aus dem Randornament Bildgegenstand geworden, dargestellt wie Architektur. Dieses System entwickelt ein anderes Blatt (Abb. 2,9) weiter. Die Anlage ist ähnlich. Eine große Muschel ist zentrales Bildmotiv. Vom Rand herein zunächst noch Ornament, noch der Ornamentsphäre verhaftet, ist der rahmende C-Bogen an seiner Innenseite jetzt fest, körperhaft und eine Art Architekturteil. Eine Architektur von kreisförmigem Grundriß scheint von der Ebene des Blattes im Durchmesser halbiert zu sein, so, daß sich von dieser vorderen Blatt-Ebene nach hinten zu ein Halbkreis schließt, aus Streben bestehend, deren Form vorgegeben ist durch die Wiederholung der C-Bogen der BlattEbene. Diese Form wurde von Berain vorbereitet. Auf einem seiner Blätter (Abb. 30) gibt es Randornament, der Blatt-Ebene verhaftet, das sich aber dann in der Mitte nach hinten zu über halbkreisförmigem Grundriß öffnet, zu einer von Innen gesehenen Kuppelarchitektur. Das Ornamentblatt ist also identisch mit einem Querschnitt durch eine Architektur, deren Bestandteile Ornamentformen sind, die hier die Blatt-Dimension verlassen und in einen Tiefenraum hineindringen. Das früher kleine Grotesken-Bild (Abb. 31) füllt jetzt das ganze Blatt und hat dieses mit seiner Tiefenräumlichkeit erobert. Eine weitere Variation bringt Meissonniers Blatt mit der Sphinx (Abb. 32), die vor einer Muschel über einer breiten Treppe sitzt. Alles ist jetzt weitgehend zum Bild-Zentrum ausgeweitet. Das Randornament ist wiederum nach innen zu zur Architektur geworden, am unteren Rand jetzt schon nicht mehr aus dem Blatt hervorkommend, in dessen Ebene liegend, sondern auf Erdboden stehend, der sich aus dem Bild heraus bis an den vorderen Bildrand vor verlängert und links »untermauert« ist. Auf dem Blatt mit der Fontäne (Abb. 33) ist dann die letzte Konsequenz der Entwicklung gezogen: D a s g a n z e , v o r d e m o r n a m e n t - d i m e n s i o n i e r t e Gr o t e s k e n o r n a m e n t ist zum B i l d g e g e n s t a n d g e w o r d e n , zu dargestellter Quasi-Architektur. Nur am linken oberen Eck des Blattes steht noch ein Stück dieser Architektur in der Blatt-Ebene. Ansonsten ist alles ins Bild hineingerückt, auf einem Erdboden stehend. Im Hintergrund ist es wieder eine Halbkreisarchitektur, mit Rippen einer Kuppel, ähnlich den früheren Tempietti Berains oder Watteaus. Davor liegt eine Kaskade mit einer großen Muschel — das frühere Bild-Zentrum der Muschelrand-Grotesken Watteaus.

Im Blatt mit der großen Treppe (Abb. 34) ist das Randomament nicht einmal mehr in Rudimenten vorhanden. Dieses steht jetzt als seltsame Architektur im Bild; wobei der Bildcharakter noch verstärkt ist durch Überschneidungen wie sie bei Ornament unmöglich wären. Aus dem Ornament ist eine Szenerie geworden, vergleichbar nur den etwa zehn Jahre späteren Bühnenbildern und Architekturphantasien Piranesis (die hier ihren Ursprung haben). Die Genese dieser Quasi-Architekturen aus der Groteske ist eindeutig. Folgt man der Terminologie Mondon's, der sie, verbunden mit Grotten- und MuschelWerk Forme Rocaille nannte, so bietet sich für diese Quasi-Architektur die Bezeichnung »Rocaille-Architektur« an. Diese tritt fast ausschließlich in Verbindung mit dem Muschelrand auf und ihre Genese hängt eng mit der des Muschelrandes als Rocaille zusammen. Rocaille-Architektur und Muschelrand bilden zusammen die Forme locaille.

DIE »MIKROMEGALISCHE« STRUKTUR DER ROCAILLE-ARCHITEKTUR

Das Rahmenornament der früheren Groteske war in seiner raumlosen oder raumarmen Dimension in der Größendimensionierung nicht festgelegt, offen, in keiner gegenständlichen Kommensurabilität befindlich. Die im Ornament sitzenden Dinge, Tiere, Menschen standen in ihrer Größe und Maßstäblichkeit zueinander nicht unter dem Gesetz eines real-räumlichen Zusammenseins, sondern sie waren in der OrnamentDimension als in sich abgeschlossene Fakten kombiniert, groß, klein, riesige Karyatiden neben Zwergen, wie es die Phantasie wollte. Die Identität der Dinge war keine räumliche. Wenn nun, wie bei Meissonnier Ornament zu einer bildgegenständlichen QuasiArchitektur wurde, entstanden eigenartige Spannungen. Architektur wird am Menschen gemessen. Da aber diese Architektur Meissonniers noch Reste der Ornament-Dimension in sich trägt und nur monumentales C-Bogenwerk usw. ist, widersetzt sie sich einer maßstäblichen Festlegung. Ein C-Bogen, und sei er noch so sehr zu einem steinernen Architekturstück geworden, bleibt ein C-Bogen und damit Ornament inkommensurabler, offener Größe. Auf dem Titelblatt von Meissonniers lAvie (Abb. 35) steht eine Kartusche vor einer Rocaille-Architektur, während im Vordergrund eine große Brunnenfigur sich an eine Urne lehnt. Gemessen an der Treppe, die an ihr vorbeiführt und an deren Rand sie sitzt, ist diese wirklich groß. Sobald aber diese Rocaille-Architektur nicht als Architektur, sondern als Ornament betrachtet wird, ist plötzlich diese Figur dann auch »klein« im Sinne der unmeßbaren, papierenen Ornamentgröße. Denn Ornament ist so groß wie es erscheint. Eine Spannung ist von dem Augenblick an da, da das Ornament dargestellt wird. Ein Henkel-Schnörkel wie zu beiden Seiten des Blattes ist objektiv als Ornament so groß, wie er eben gezeichnet ist. Ist dieses Ornament aber zugleich dargestellte Architektur, ist er so groß wie Architektur. Ornament-Logik und Bild-Logik stoßen hier aufeinander, bilden eine Spannung, die sicherlich intendiert ist.

Zwei Jahre später, 1736, sind bei Mondon flls (Abb. 63) aus der Brunnenfigur Meissonniers Menschen in der Tracht der Zeit geworden, vor einer Rocaille-Architektur musizierend. Aber weil sie eben vor und in einem Ornament agieren, ergibt sich eine eigenartige Indifferenz in den Größenverhältnissen. Sind das hier Menschen? Zwerge? Porzellanfiguren? Riesen einer abstrusen Welt? Es bleibt völlig offen. Ist die Rocaille auf dem Blatt Mondons Ornament? Ist sie ein Versatzstück im Garten? Oder ein Tafelaufsatz? Zehn Jahre vorher war Swifts Gullivei erschienen und 1752, erschien Voltaires Mikiomegas, die Novelle von dem Bewohner des Sirius, der eine Reise durch das Weltall macht und, je nachdem mit welchen Bewohnern welcher Sterne er zusammentrifft bald seine ungeheure Größe, bald seine Kleinheit erlebt — in einer totalen Relativierung der Dimensionen und einer Irrelevanz der Vorstellung von den Dimensionen und den damit verbundenen Denkmöglichkeiten. Die Rocaille ist von »mikromegalischer« Struktur. Das heißt: In ihr prägt sich entschieden eine Grundmodalität des Rokoko aus, nämlich künstlich eine Spannung innerhalb der Realitätsgrade zu erzeugen. Diese Realitätsgrade sind Ornament-Modus und Bild-Modus. Untrennbar verquickt, einander stets aufhebend, changierend, sich gegenseitig in der Schwebe haltend, erzeugen sie den Eindruck einer Ironie, die letztlich ein Spiel mit den Kunstmöglichkeiten, mit der Kunst schlechthin ist. Diese Grundmodalität der Forme Rocaille, ihre mikromegalische Struktur ist eine kritische Form, in der der Stil sich wie kaum anderswo »demaskiert«. TAFELGERÄT UND FORME ROCAILLE Meissonnier war Goldschmied und Architekt. Seine Rocaille-Blätter kombinieren auf eigenartige Weise die so verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten des Goldschmieds und des Architekten. 1735 entwarf er seinen Surtout (Abb. 28). Auf dem Stich steht eine phantastische Forme roccrille auf einem Tisch, der aber — das ist bezeichnend — nicht in Erscheinung tritt. Perspektive und Augpunkt der Darstellung sind so gewählt, daß dieses Tafelgeschirr zunächst auf einem Fuß- oder Erdboden zu stehen scheint. Daß dieser Boden (der objektive Boden) des Geschirrs ein Tisch ist, geht nur daraus hervor, daß hinten eine Zimmerwand als Raumfolie in Tischhöhe angeschnitten ist. Durch den so tief sitzenden Augpunkt wird in der Darstellung das Tafelgeschirr zu einer Größe gesteigert, die nicht unähnlich der Rocaille-Architektur des Livie ist. Von hier aus erklärt sich manches in diesem Livie. Im Blatt mit der großen Treppe etwa (Abb. 34), mit den in der Architektur sitzenden Figuren ist der mikromegalischen Struktur die Dimension des Tafelgerätes überlagert, sich mit ersterer modifizierend. Die Figuren sind in jener Faktur gezeichnet, die an silbernes Tafelgerät erinnert und selbst die Rocaille-Architektur steht wie auf einem Tisch, vor einem Himmel, der viel zu groß zu sein scheint für diese doch wieder so kleinen Dinge. Es ist zum erstenmal bei Watteau zu bemerken, daß »groteske Unmöglichkeiten« 21

gemildert wurden, indem man sie, gleichsam als in Stein gehauen, in einem Garten stehen sieht, als abgebildete Artefakte. Das ist nun weitergetrieben: Man nimmt den objektiv bestehenden grotesken Unmöglichkeiten der forme locaille dadurch die Spitze, daß man ihnen die Dimension des Tafelgeräts unterschiebt, sie über den Umweg des Artefakts darstellt. Das »Groteske« wird also dahingehend rationalisiert und ihm der objektive Ernst genommen, daß man es als Kunstwerk hinstellt und ihm die nicht-ernstzu-nehmende Größe spielzeugkleinen Tafelgerätes gibt. Meissonnier deutet dies nur an, er verschleiert es sogar, indem er den Tisch selbst nicht mitzeichnet. Nur so viel als nötig ist, um das Ganze unernst zu machen, ist gegeben. Es ist wie eine »Rückversicherung«. Ein kühner Gedanke wird in spielerischer Leichtigkeit weit vorgetrieben und gleichzeitig paralysiert dadurch, daß man feststellt: Daß alles ist ja in Wirklichkeit unmöglich, es ist nur Kunst. Abgebildeter Kunstgegenstand. REFLEXE REALER ARCHITEKTUR IM L1VRE MEISSONNIERS

Die eigenartige Bildanlage im Stich des Surtout, wo die Tischebene identisch mit einem »Erdboden« ist, bringt es mit sich, daß dieser Tisch-Boden aus der Zimmerdekoration, in der er steht, nur den oberen Teil anschneidend sichtbar macht. Gleichzeitig ist die hintere Tischkante peinlich genau durch Gerät verdeckt und unsichtbar gemacht, so daß der Eindruck entsteht, als erhebe sich diese Wand und ihre Dekoration erst in ihrem Oberteil aus einem Boden, auf dem große phantastische Rocaillen stehen. Nun ist gerade diese Oberzone der Wanddekoration bei Meissonnier eine Zone der Auflösung aller Formen. Abgeschnitten ist durch diese Bildanlage das uninteressante Unterteil des Sockels. Ein anderer Stich Meissonniers macht das noch deutlicher. Das Kabinett für Bilinsky, 1734 (Abb. 36), gibt in der Ansicht einen Konsoltisch, darüber einen Wandspiegel mit Rahmen aus phantastischen Rocaille-Schwüngen. In diesem Spiegel spiegelt sich nun das Oberteil einer Enfilade und ein Deckenfresko. Das ist eine ähnliche Anlage wie im Surtout. Ein Tisch-Boden, auf dem als eigentliche Objekte die von hier ausgehenden Schwünge und Schnörkel des Spiegelrahmens zu stehen scheinen wie das Tafelgeschirr des Surtout (Abb. 28); und den architektonischen Hintergrund bilden — diesmal allerdings gespiegelt — die oberen Dekorationen der Räume. Dieses O b e n eines Raumes oder auch einer Außenarchitektur ist bei Meissonnier die Zone einer ornamentalen Architekturerweichung, auch in seinen realen Bauentwürfen. In der Innenarchitektur (Bilinsky) sind oben, und vor allem dort, wo Deckenfresko und Gebautes ineinandergehen, ähnliche Prinzipien herrschend wie in der Rocaille-Architektur des Livie: Verbiegung tektonischer Glieder zu C-Kurven usw. In der Innenarchitektur ist dieses Oben als Bereich der Formauflösungen von der Dekoration her bereits gleichsam sanktioniert. In seinem Entwurf für die Fassade von Saint Sulpice, 1726 (Abb. 37), bringt Meissonnier aber auch eine für Frankreich völlig neuartige Architekturerweichung der Oberzone im Außenbau. Der Entwurf wurde dann auch nicht angenommen, weil er

letztlich zu italienisch ist. Er steht in der direkten Prolongation von Guarini und Cortona. Am Dach und in den mansardenartigen C-Bogen-Oculi ist die Architektur zu Ornament geworden, ähnlich der Rocaille-Architektur des Livie. Im Suitout oder dem Konsoltisch fürBilinsky ist das Oben der Innenarchitektur durch den Kunstgriff des Tisch-Bodens gleichsam auf einen Erdboden versetzt und bildet als irreale Omamentzone des Baues den Hintergrund. Im lAvie selbst ist direkt das Obere einer Architektur allein auf einen Erdboden gestellt. Zwei verschiedene Traditionen scheinen sich zu schneiden. Die eine ist die: Schon immer war die Dachzone in Frankreich Zone der Phantasie. Die Strebepfeiler der Kathedrale, die Kaminstadt auf dem Dach von Schloß Chambord sind Beispiele dafür. Jetzt versetzt Meissonnier diese irreale Zone auf den Boden, isoliert sie in seinen Phantasieentwürfen. Das sieht dann folgendermaßen aus: Auf dem Blatt mit der Titelkartusche (Abb. 35) sind durch den Kunstgriff des Tisch-Bodens die Vordergrundskartusche und der Brunnen davor so hoch gehoben, daß sie vor dem obersten Geschoß einer Rocaille-Architektur zu stehen scheinen. Zugleich sind dieser Ornament-Architektur auch real-architektonische Ideen hinterlegt. Eine Mischung von borrominesken Turmbekrönungen und Streben, Rippen einer Kuppel usw. Es ist als sei das oberste Stück einer unwirklichen Doppel türm-Architektur auf den Boden gestellt. Und unten links, beinahe in den Erdboden versenkt, erscheint so etwas wie ein Krypta-Gewölbe, auf dem unvermittelt das Oben der Architektur steht, während das Zwischengeschoß fehlt. In dieser Vorliebe für das Oben eines Bauwerkes zeigt sich aber nicht nur eine französische, sondern, was Einzelformen betrifft, auch eine oberitalienische Tradition. REFLEXE ITALIENISCHER BAROCKARCHITEKTUR IM LiVRE

Nachdem Meissonnier schon in seinem Entwurf für Saint Sulpice Italienisches brachte, liegt es auf der Hand, einen solchen Einfluß auch im Livie, zu suchen. Schließlich ist Meissonnier auch durch seine Abstammung Oberitalien verbunden, Piemont, der Landschaft, in der die »Borromineske« am längsten weiterlebte und der italienische Barock zu einer letzten großen Blüte gelangte. Allerdings sind kaum Analogien zu erwarten zu Einzelformen italienischer Architektur. Denn die Architektur des Livre ist aus C-Kurven und Rocaille-Werk gebaut. Auf dem Blatt mit der Fontäne (Abb. 33) steht rechts im Hintergrund eine Art von Fassadenarchitektur, die allerdings dazu verleitet, Vorbilder in der realen Architektur zu suchen. In schmaler Vorwölbung der Mitte, mit seitlich konkav ansetzenden Wandstücken, die an der Außenkante mit Stützvoluten in der ganzen Höhe besetzt sind und einer Art von Portalarchitektur ist diese zunächst vergleichbar. Aber diese Fassade ist ein Brunnen und in den konvexen Mittelteil ist eine riesige Muschel hineingehöhlt, aus deren Mitte Wasser hervorrauscht. Die Idee dieser gratigen Umschwünge von konkav zu konvex und umgekehrt ist sicherlich borrominesk, hier aber wirklich nur Idee,

schattenhaftes Gerüst für eine Quasi-Architektur aus reinen Ornamentteilen. So sind das Profilierte der Gliederungen, die seitlichen, langen Voluten und über der Muschel die beiden abdeckenden S-Kurven als ganzer Komplex von der Regence-Groteske übernommen. Es ist das auf fast jedem Stich Watteaus wiederkehrende Rahmenwerk, das sich hier »borrominesk« gibt. Darüber hinaus aber gibt es Stellen, wo diese »Borromineske« an sich schon fast identisch ist mit den ornamentalen Absichten Meissonniers; und hier kommt es zu einer Synthese. Hier wird ein Einfluß Juvaras sichtbar. Schon um die Jahrhundertwende kannte Juvara den Muschel-Kartuschen-Rand als architektonisches Ziermotiv; er hatte bei ihm, neben einer dekorativen Funktion, die Form einer baugliedhaften Einordnung. In einem Entwurf, wohl für San Filippo Neri in Neapel, sind die Oculi der Turmhelme aus breitem Muschelrand. Wobei dieser Rand auch wirklich Rand ist, nicht nur ornamentale Beklebung, sondern eingreifend in die Struktur des Bauwerks. Im Umkreis Juvaras in Piemont lassen sich viele solche Formen finden. Im Palazzo del Commandante in Fossana ist eine Nische von Muschelrand umgeben wie eine Kartusche. Das ist sicherlich eine Vorbereitung der Rocaille Meissonniers. Juvara wird aber noch an anderer Stelle wirksam. Seine Bauten und Phantasieentwürfe (die teilweise auf der Ebene des Meissonnier'schen Livre liegen) »romantisieren« in gleicher Weise das Oben in der Architektur. Galerien, Emporen, Brüstungen, meist in schwindelnder Höhe, von den Ausmaßen riesiger Wandelgänge, sind hier analog der Absicht Meissonniers, das Oben eines Baues dadurch betretbar zu machen, daß es isoliert auf den Boden versetzt ist. Diese von Juvara, wenn nicht schon Guarini angebahnte Idealisierung der Oberzonen wird bei Meissonnier geradezu zu einem ornamentalen Märchen. Schon auf einer Zeichnung Juvaras von 1728 (Abb. 38) gibt es den gleichen Unwirklichkeitsakzent. Galerien sind in regenbogenhafter Phantastik in den Himmel hineingebaut (in einem Innenraum!), Brücken einer lustwandelnden Sehnsucht nach der Höhe. Bei Meissonnier sind es die Rippen einer halbierten Kuppel, die oben ein Geländer tragen und somit als betretbar vorstellbar sind. In der Galleria des Palazzo Stupinigi (etwa 1733) (Abb. 39) ist ähnliches »Wirklichkeit«. Da ist das Kuppelfresko mit seiner in den gemalten Himmel hineinragenden Illusionsarchitektur unterzogen von einem gemauerten gurtartigen Bogen, der sich von einer Wand zur anderen spannt, die Decke stützend; wobei das Deckenfresko diesen Gurt interpretiert als eine in eben diesen Himmel hineinragende Brücke im Sinne der Meissonnier'schen Kuppelrippen. Pflanzen (gemalt) wachsen oben auf diesem Bogen, das Ganze in die Sphäre beinahe des Ruinösen versetzend. Bei Juvara ist das Oben eines Innen- oder Außenbaues eine Mischung zwischen RealBetretbarem und einer doch wieder nur von unten wunschhaft zu betrachtenden Idealsphäre. Zwei Vorstellungen gehen ineinander über: die, daß solche Architektur wirklich betretbar sei und die, daß dieses Oben viel zu hoch ist um Wirklichkeit zu sein. 24

Wo in der ornamentalen Phantasie Meissonniers die Gesetze des Architektonischen nicht gelten, wird diese Traumsphäre, dieses Oben auf den Boden versetzt, wird die Phantasiezone eines Baues abgelöst und in eine eigene Bildwelt transponiert. Die Pmspetüva Ideale Juvaras von 1732 (Abb. 41—44) enthält Prospekte mit Architektur in Phantasie-Kombination, die auf bildartig gewähltem und ausstaffiertem Schauplatz verteilt sind (Liniert). Zweifellos ist der Livre Meissonniers, wenn nicht gerade von dieser Piospettiva, so doch von ähnlichen Blättern Juvaras beeinflußt. Zwar ist die »Phantasie-Kombination« Juvaras eine Kombination von antikischen Formen und Ruinenteilen, während es bei Meissonnier eine Ornament-Kombination ist, beiden aber ist eine gleiche Haltung des Realitätscharakters eigen. Analoges Phänomen zu den omamentbedingten Architekturphantasien Meissonniers ist bei Juvara eine Besetzung der Architektur mit Ornamentdetails, die Sinn und Tektonik der Architektur fraglich werden lassen. Ein Beispiel dafür ist Blatt 39 (Abb. 44): Eine bildparallele Brüstung steht im Mittelgrund des Bildes und senkrecht ist in diese hineinverblockt und getrieben eine Art von Konsole, die dimensional viel zu groß erscheint. Es ist, als sei jede Form absolut zu messen, unabhängig von der anderen und der Kombination. Es ist eigentlich auch mikromegalische Struktur. Ein weiterer gemeinsamer Zug ist der, daß Innen und Außen identisch sind. Seinen Ursprung hat dies sicherlich in Theaterprospekten. So auf Blatt 31 der Piospettiva (Abb. 43): Eine Treppe führt zu einem Bau hinauf, von dem aus ein Kuppelfragment sich nach außen heraus wölbt. Der Eckpfeiler des Gebäudes verdeckt dabei genau den Schnitt zwischen Außenfassade und einem — rechts davon möglichen — Einblick in den Bau hinein. Man glaubt, sich in einer Stadt zu befinden, die ein einziges Changieren zwischen Innen und Außen ist. Motiviert wird es zunächst durch das Ruinöse des Ganzen (so, wie die Maxentiusbasilika heute ihr Inneres quasi als Fassade zeigt). Bei Meissonnier, dessen System halbierter Architektur zunächst ableitbar ist aus dem System der Groteske, wird dem eine rationale Motivierung unterlegt, so wie bei Juvara durch das Ruinöse. Auf dem Blatt mit der phantastischsten Rocaillearchitektur des ganzen Livre (Abb. 45) steht am linken Bildrand seltsam gerade und antikisch eine Säule, unter deren Sockel Spolien liegen (die einzigen solchen Motive des Livre). Daneben lehnt schräg eine schwer steinerne Wappenkartusche, während die Rocaillearchitektur aus einem Gewirr von Räumen besteht, mit oben im Sinne von C-Kurven überhängenden Pfeilern. Diese Pfeiler aber sind ebensogut als nach außen hängend zu sehen — es gibt keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. So wie bei Juvara wird es durch das Ruinöse des Baues motiviert. Und dies ist jetzt neu in der Groteske dieser Art. Daß nämlich die, vom Architektonischen her gesehen absurde Form des C-Bogens dadurch rational motiviert wird, daß man ihr den (aus Italien stammenden) Gedanken des Ruinösen unterlegt. Ein C-Bogen ist tektonisch unlogisch, eine Ruine ist es ebenfalls. Letztere fällt nicht mehr unter die Kategorie der Architektur, sondern unter die des Bildes,· sie ist Bildgegenstand; jedenfalls im achtzehnten Jahrhundert.

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RUINE UND ROCAILLE-ARCHITEKTUR Diese Rationalisierung des Phantastischen ist ein im Rokoko immer wieder zu findendes Phänomen. Es erfand Ornament-Architektur und versichert sich gleichzeitig gegen deren Phantastik durch eine rationale Erklärung. Das Phantastische stellt sich dar als Bruchstücke eines (fiktiven) vordem Ganzen. Das Ornamentale ist damit zu einem letztlich Unornamentalen geworden. Denn die Modalitäten eines solchen Ornaments sind jetzt die einer Bild-Architektur. Es ist hier nicht Platz, über die Tradition der Ruinendarstellung generell zu handeln. Es müssen einige Andeutungen genügen über die Linie, in der Meissonnier steht. Auf dem Blatt des lAvie mit der großen Treppe (Abb. 34) liegt am Rand derselben ein großer, brückenartig gewölbter C-Bogen mit Muschelrand und darauf steht ein weiterer solcher Bogen. Nach links zu lehnt dieser an einer pfeilerförmigen Stützvolute, während ihn ein Gebälkstück abdeckt. Gebälk wie Bogen brechen nach rechts zu ab (weil eben der C-Bogen endet); wobei die Bruchstelle wie ein wirklicher Bruch gegeben ist, abbröckelnd und mit Pflanzen überwachsen. Der Bruch wird geflissentlich als Ende markiert. Aber so, wie Innen und Außen nicht immer eindeutig sind, ist auch dieses Ruinöse, Bruchstückhafte derRocaillearchitektur keineswegs eindeutiges Alter. Das Ruinöse ist nicht immer unterscheidbar von einem Zustand des Entstehens, dem noch Unfertigen. Interessant ist hier ein Vergleich mit einem Bild des T. Michela von 1723, das die Bauarbeiten am Castello di Rivoli Juvaras (Abb. 40) zeigt. In der Art eines Theaterprospektes (siehe Tintelnot) sieht man die Fragmente der Wölbungen, oben in schwindelnder Höhe von Arbeitern begangen, wobei auf die Wirklichkeit des Bauvorganges die Vision einer zukünftigen Ruine projiziert zu sein scheint. Wie vieles andere bei Meissonnier, so dürfte die Art seiner Ruinendarstellung im Livie auf Theaterprospekte zurückgehen. Hier wurden ja, etwa seit Peruzzi, antike Baudenkmäler in ansonst frei erfundene Szenenbilder eingefügt. Konstantinsbogen, Severusbogen und anderes ist auch bei Juvara zu finden: Auf einen ersten Blick ist es eine Sammlung klassizistischer Ruinenzeichnungen. Aber ihr architektonischer Vorstellungsgehalt ist stark genug, um eine Verwechslung mit den eigentlichen Ruinenzeichnungen auszuschließen. Diese sind zwar schon seit Jahrhunderten unter den Malern häufig. Ja, durch Poussin ergab sich sogar eine klassische Zwischenstufe der Ruine, die doch als solche sicherlich nicht klassisch ist, vielmehr nur auf antike Klassik hinweist. Doch erst seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geschieht es, daß die Ruine ganz deutlich in sentimentaler Verkleidung die Festigkeit der architektonischen Form überhaupt zersetzt. Juvaras Ruinen hingegen sind aus der Vorstellung des zeichnenden Architekten gebildet... (Liniert). Die Frage ist nun, welcher Stufe der Ruinendarstellung der Livre Meissonniers angehört. Angesichts der irrealen Architekturformen scheint eine Zuordnung zum noch architektonisch festen Stil Juvaras unmöglich zu sein. Andererseits sind die Ruinen, oder besser die quasi-ruinöse Rocaillearchitektur noch keineswegs sentimental im Sinne des späteren achtzehnten Jahrhunderts. Denn innerhalb

dieser phantastischen Ornamentwelt, die an sich völlig unklassisch ist, herrscht die Reinheit einer antikischen Idealität. Bruchstücke wie auf dem Blatt mit der großen Treppe sind von naiver und noch unsentimentaler Gesinnung gezeichnet. Und doch steht der Livie an einem Übergang. Denn hier tritt (aller Wahrscheinlichkeit nach zum ersten Mal) ein Element auf, das von nun an bezeichnend sein wird für die Ruinendarstellung: Die künstliche, aktuelle Ruine. Es gibt zwar schon früher gebaute künstliche Ruinen, so die Magdalenenklause von Nymphenburg von 1725, die innen Muschelgrotte, außen ein künstliches Gemisch von verfallener Gotik, Antikischem und Maurischem ist. Aber das ist noch nicht von der Konsequenz der Meissonnierschen Phantasie, in der eine ganz neue Wirklichkeit geschaffen ist. Die Blätter des Livie sind eine vollkommene, arkadische Welt, weil in ihr das Unvollkommene, Unfertige und zugleich schon wieder Verfallene traumhaft ideale Sphäre ist. Bei einem Überblick über das Rokoko wird sich zeigen, daß die Ruine in dieser Epoche keine sehr große Rolle spielt —auf einen ersten Blick. In Wahrheit ist hier vor der romantischen Ruinenromantik beinahe ein ganzer Stil entstanden auf der Basis einer »Weltanschauung«, in der alles schön, anmutig, arkadisch ideal ist, weil der Schauplatz eine Welt ist, in der das Unvollendete Anlaß der Heiterkeit, das Verfallene Erinnerung an Arkadien ist. Doch dies gilt auch für andere Epochen. Einmalig ist, daß bei Meissonnier »groteske Unmöglichkeiten« als künstliche Ruinen motiviert werden und so eine ganze unarchitektonische Welt entsteht, in der die Trümmer, Reste und Teile von Architektur S c h a u p l a t z in einem sehr engen Sinne des Wortes sind, Gegenstände, die, absolut künstlich, ihren Ursprung im Bild, nicht in der Architektur haben. Etwas später wird eine Verniedlichung dieses Gedankens folgen. Einige Jahre danach ist die Rocaillearchitektur als ruinöses Fragment Schauplatz kindlichen und bürgerlichen Genres. Die zur Quasi-Architektur gewordene C-Kurve ist ihrer Form nach etwas Fragmentarisches, Bruchstückhaftes. Aber auch die eigentliche Rocaille, der Muschelrand, hat etwas vom Ruinösen. In der Grottenarchitektur besaß schon die Renaissance eine Möglichkeit, etwas Ruinen-Ähnliches zu bauen. Der Architektur wurde mit dem Muschelund Grottenwerk eine naturhaft-ruinöse Verwilderung vorgelegt. Nun übernimmt die Rocaille die Funktion desselben. Als Affix des fragmentarischen C-Bogens gibt die Rocaille diesem jenes Naturhaft-Verwilderte, das zu jeder Ruine gehört. GARTEN UND ROCAILLE

Rocaillearchitektur ist eine Phantasie des Ornamentstiches. Aber es gab auch einen Ort, da sie aus der Unwirklichkeit desselben in den Bereich baulicher Realität drang. Es war der Garten. Unter die ornamental-architektonischen Zwischenerscheinungen ist auch die Aichitektonisierung der Gartenanlagen zu rechnen. So zeigt die Theorie et pratique du jardinage des älteren d'Argenville die Hecken und Bäume nach telefonischen Einzelformen gestutzt. Le Blond, der die Illustrationsentwürfe gefertigt haben soll, ergibt sich damit jener verwirrenden Technisierung und Übertragung von fertigen Typen-

formen auf jede nur denkbare Gelegenheit, die sich, auch in der Hölzemheit seiner Brunnenentwürfe zeigt und gegen Mitte des Jahrhunderts die gesamte zeichnerische Ausdrucksweise ergreift. (Liniert). Hier nun konnte Rocaillearchitektur bis zu gewissem Grad — wenn auch nur in Entwürfen vielleicht — Realität annehmen. Ein Blatt von La Joue (Abb. 46), symmetrisch gehälftet, wahrscheinlich als Alternativentwurf einer Garten-Bühnenszene, hat auf seiner linken Hälfte Rocaillearchitektur aus Lattenwerk, wobei diese identisch ist mit C-Kurvierung. Auf der rechten Hälfte ist die Rocaillearchitektur, die Anlage als solche fortsetzend, geschnittene Hecke geworden. Auf einem Blatt Oppenordts aus dem Livre de differentes Decorations d'Architecture et appartements (Abb. 47) (späte aoer Jahre) sieht man aus einer Innendekoration auf einen Garten hinaus, auf ein Wasserbecken mit Heckenstücken dahinter, die kulissenhaft jeweils dreimal einen Brunnen zwischen sich einklemmen. Diese Heckenstücke sind hohe, schmale Versatzteile und zugleich von der Form Meissonnierscher Rocaillearchitektur. Sie sind in C-Bogen kurviert, und gleichsam ruinenhaft abgebrochen. Rechts sind es große Stützvoluten, isoliert stehend, ohne daß sie etwas stützen, während oben heraus ein kleines Bäumchen wie aus einer Ruinenmauer wächst. Vor Meissonnier ist also schon Oppenordt zu ähnlichen Formen gelangt. Es scheint gerade im frühen Rokoko zwischen Garten und Groteske ein tiefer Wesenszusammenhang bestanden zu haben. Garten war für Watteau der Ort, da Groteskes real werden konnte. Gillot, Audran übersetzen auf ihren Ornamentblättern Ornament in Heckenform, dabei schon der Vergegenständlichung des Ornaments bei Meissonnier vorgreifend. Die Hecke als an sich unstabile, lebendige, natürliche Baumaterie steht der Realitätssphäre eines Ornamentes nahe, das selbst wiederum architektonisch werden will. Auf dem Entwurf Oppenordts steht zwischen solchen Heckenstücken ein Muschelbrunnen. Seine Verbindung mit C-Bogenwerk, also annähernd Rocaillearchitektur, ergibt jene Kombination, aus der in der Groteske die Rocaille hervorgegangen ist.

DIE WEITERE AUSBILDUNG DER FORME ROCAILLE DIE MORCEAUX DE PANTAISIE DES LA JOUE 1734 erschien mit dem Livre Meissonniers das entscheidend Neue. Das zeigt sich allein in der nun einsetzenden Fülle von Ornamentstichen dieses Genres, die das neue Ideengut ausbauend ergänzen und verarbeiten. An erster Stelle ist dabei Jacques de la Joue zu nennen. Für ihn ist das Italienische an Meissonnier bereits Objekt geworden, es wird leicht und spielend eingebaut in eine Tradition, die in der Verlängerung der Regencekunst Watteaus steht. 1736 erschien von ihm der Livre nouveau de divers morceaux de fantaisie. Aus dem Breitformat des Livre Meissonniers ist jetzt bezeichnenderweise Hochformat geworden. Gleichsam durch Einsetzen einer Optik größerer Brennweite greift La Joue 2,8

nur jeweils ein Stück Rocaillearchitektur aus dem großen Schauplatz Meissonniers heraus. Stellt man sich aus dem Meissonnier-Stich mit der großen Treppe das zentrale Stück mit den zwei C-Bogen herausgelöst vor, so hat man in etwa eine Anlage La Joues. Es ist die Konsequenz einer Entwicklung, die fortschreitend aus der Groteske ein Detail mehr und mehr herausvergrößerte, es bildgegenständlich isolierte. Ein Beispiel: Das Blatt mit der Cascade (Abb. 48) von La Joue. Wohl das bemerkenswerteste daran ist die Folgerichtigkeit, mit der jegliche Gerade vermieden ist. Selbst die Stufen der Treppe sind C-Bogen, genauso wie der Handlauf. Das Mauerstück, Hauptmotiv des Blattes, ist vergleichbar mit den Heckenteilen Oppenordts oder dem Fragment auf Meissonniers Blatt mit der großen Treppe. Es ist Brunnen, Treppenwand und Kartusche in einem. Was bei Meissonnier noch zweckfreies Fragment, ist hier zu einem Brunnen geworden. Gleichzeitig wird es als quasi Treppenwand architektonisch motiviert. Die Form des Treppenlaufes kommt der Vorliebe für das Fragment insofeme entgegen, als er eine der architektonischen Formen ist, die nicht tektonisch tragen, sondern frei für sich stehender Teil sein können. Vor allem aber ist dieses Wandstück K a r t u s c h e . So wie Meissonnier in seiner Rocaille-Architektur zu einer Vergegenständlichung des Ornamentes gelangte, machte La Joue, knapp vorher (etwa in seinen drei Livres de Cartouches] in einer analogen Entwicklung die Kartusche zu einem in einer Landschaft stehenden, gebauten Monument. Er stellt sie dar. Die Form modifiziert sich jetzt mit der Rocaille-Architektur, die in dem Blatt der Cascade noch große Ähnlichkeit mit der Kartuschenform zeigt. Immer ist diese Rocaillearchitektur Fragment. Ein singulärer Architekturteil, Rest eines Baues, der nie bestanden hat, steht in einem Garten in einer bereits anklingenden, aber noch völlig unbestimmbaren memorialen Form. Er ist nicht Erinnerung an einen vorher bestandenen Bau und damit Ruine, er ist von Anfang an ornamentaler, aber quasi-architektonischer Selbstzweck. Gleichzeitig etwa gibt es in Englischen Gärten (Chiswick) einzelne Säulen, die als solche Monument sind — Monument ihrer selbst. Bei genauerem Zusehen erscheinen in der keineswegs offiziellen Kunst dieser Rocaille-Phantasten Tendenzen, die sonst erst viel später sichtbar werden, nachdem auch in Frankreich das restaurative Element des barocken Klassizismus einem romantischen Klassizismus gewichen sein wird. Für die Fragmente aus Rocaille-Architektur, die weniger im Verfallenen als in der Vereinzelung des Architekturteiles das Signum des Ruinösen trägt, bietet sich die Bezeichnung »Trumm« an. Trumm, Singular von Trümmer ist hier die pars pro toto einer von vorneherein nie bestehenden Ganzheit. In ihm ist aus der »klassischen« eine annähernd sentimentale Ruine geworden. Noch bei Meissonnier sind die Fragmente gehäuft zu einer klassischen, arkadischen Welt. Bei La Joue ist das einzelne Trumm Bildgegenstand geworden, sentimentales Zierstück. Bis zum gewissen Grad ist bei La Joue der Raum um das Rocaille-Trumm phantastische Welt von antikischer und exotischer Thematik; aber eines der Blätter, die Fruits de TAutomne (Abb. 69), zeigt bereits das neue, bürgerliche Genre um die Rocaille.

DIE MIKROMEGALISCHE STRUKTUR BEI LA JOUE

Das »Ornamentale« an La Joues Blättern gab bereits Liniert Anlaß (von der Architekturzeichnung her), von einer Zwiespältigkeit zwischen Ornament und Architektardarstellung zu sprechen. Im Ornamentstich, den Morceaux ist dieser Zwiespalt offenes Prinzip. Ein Beispiel, der Tiöne du Grand Seigneur (Abb. 49): Auffallend ist sogleich das Fehlen räumlicher Tiefe. Es ist, als sei diese in die vertikale Dimension des Blattes projiziert. Die obersten Auftürmungen der Rocaille-Architektur, die an sich hinten im Bild steht, sind noch in der gleichen Vordergrundsebene wie die Pflanzen vorne unten. Das Blatt ist noch Groteske, sogar in einem sehr traditionellen Sinn. Die Spannung zwischen Ornament-Dimension und Bild-Dimension ist so stark wie eh und je. Die Treillagen sind immer noch identisch mit dem alten Rahmenornament der Groteske und dies führt zu dem bildlichen Zwiespalt, daß eine Figur, wie der Wächter, an der Seite innerhalb einer Tiefenräumlichkeit steht, zugleich aber nichts anderes ist als Groteskenfigur, wie sie früher im Rahmenornament zu finden war. Der Rauch aus der Pfeife des Sultans, der ja im Vordergrund sitzt, geht, unlogischerweise, hinter der allerletzten Architektur, im Hintergrund hoch. Während der Bildvordergrund zunächst Boden ist, auf dem Waffen und Früchte liegen, sind aber zugleich diese Waffen senkrecht hängende Trophäe und die Früchte Randverzierung des Blattes im Sinne eines Flächenornamentes. Der kleine Landschafts-Durchblick hinter dem Wächter, mit Meer und Turm ist dabei wie gemalte Wandfüllung. So ist alle Maßstäblichkeit aus den Fugen, alles von einer grotesken mikromegalischen Struktur. DAS »BÜFFET«

Vier Stufen führen im Stich des Grand Seigneur (Abb. 49} zu einem Podest hinauf, auf dem dann die Rocaille-Architektur steht. Hinten ist dieses Podest parallel zur Bildebene abgeschnitten, es stößt hinter der Figur des Wächters an den erwähnten Landschafts-Durchblick wie ein Konsoltisch an einen Spiegel. Tatsächlich liegt dieser Bildform die Vorstellung eines Tisches mit Gerät darauf zugrunde. Es läßt sich bei La Joue nachweisen. Es gibt von ihm einen sogenannten Livre de Büffets von 1735. In diesem sieht die Bildanlage folgendermaßen aus: Ein Konsoltisch (Abb. 50) bildet den Boden, von dem aus nach oben zuerst ein Bild ansetzt. Rechts neben einem Wandstück geht ein Fenster hinaus ins Freie. An seinem Bord, also noch auf dem Tisch, gießt eine kleine Brunnenfigur Wasser aus einem Krug. Das scheint zunächst ein Detail aus einer Innenarchitektur zu sein; es ist aber zu ornamental, um realer Entwurf sein zu können. Wenngleich die Architektur nur an den Außenkanten und nicht als Ganzes kurviert ist, so ist doch der Charakter des Blattes der einer Ornamentphantasie. Bei der Betrachtung wird plötzlich aus der Tischplatte ein Boden, der kleine Brunnen auf dem Bord zu einer großen Figuralgruppe wie in den Morceaux und die Zimmerarchitektur eine Zwischenstufe von realer Innenansicht und

einer Szenerie mit Gartenarchitektur, zu der sich im Betrachten das Wandstück verwandelt. Umgekehrt läßt sich die Bildanlage etwa des Stiches vom Grand Seigneur (Abb. 49) beinahe als das Obere einer Innendekoration ansehen. Es ist, als sei ein Spiegel hinter allem — so wie bei Meissonnier wirklich vorhanden —, wobei sein Rahmen Rocaille-Architektur ist. Alles ist künstlich, nichts ist wirklich greifbar. Groß ist in Wirklichkeit klein, Ornament Bildgegenstand und ein Interieur in Wirklichkeit Groteskenornament; alles Spiegelung und Trug. Es scheint nicht zuletzt Sinn der so beliebten Spiegelungen des Rokoko gewesen zu sein, das in ihnen gespiegelte, Raum und Menschen, an einen Rahmen-Rand zu projizieren, der dann dieses gespiegelte in seine Maße und Dimensionen bringt: in die mikromegalische Dimension des Ornamentalen, wo man sich selbst dann erblickt als Wesen einer künstlichen Welt. Im Stich des Grand Seigneur ist im seichten Raum des Ornamentalen wie zwischen zwei Spiegeln ein Raum eingepreßt. Objektiv Ornamentales (Spiegelrahmen) geht unmerklich über in das Bildliche der Spiegelung. Die großen Früchte etwa im Vordergrund und die Waffen sind erne Analogie zum Rahmen, die Rocaille-Architektur dahinter erscheint wie eine Spiegelung in diesem Rahmen. Es gibt in der Kunstgeschichte kaum ein Ornament (auch wenn man die manieristische Groteske berücksichtigt), in dem das Phantastische zu solch erstaunlichen Bildungen vorgetrieben wurde, wie in diesen Stichen der frühen französischen Rocaille. Hier ist eine Welt geschaffen, die, bei scheinbarer Anwendung von sehr traditionellen (arkadischen, genrehaften) Motiven völlig irreal ist. Gleichzeitig aber wird diese neue Welt skeptisch-ironisch bagatellisiert. Groteskes als Bildwelt ist hier bei näherem Zusehen plötzlich nicht mehr so sehr erschrekkend, weil es dargestellt ist wie ein »Büffet«, das heißt wie abgebildete Kleinkunst. Es prägt sich hier ein Stilmittel aus, das verbindlich und bezeichnend ist für das Rokoko: Eine erstaunliche Phantasie in den Modi der Realität, die aber nicht mehr eo ipso in Erscheinung tritt, sondern dargestellt als »nur« Kunst. Spätbarocker Überschwang, letztes großes Spiel trifft sich hier mit aufklärerischer Skepsis und Ironie. Es ist ein letztes großes Spiel; aber man könnte auch schon, im Sinne Huizingas von »Spielverderbern« sprechen; denn beim Betrachten solcher Ornamentik wartet man darauf, daß der Künstler seine Kunst als nur Kunst entlarven wird. Es ist nie geschehen und gerade dies macht den Stil des Rokoko aus. Aber es gab von hier aus dann auch keine Weiterentwicklung mehr. Höchstens Übergänge zu einer neuen Epoche. ROCAILLE UND ROCAILLEARCHITEKTUR

Mehr als bei Meissonnier tritt bei La Joue die Rocaille im engeren Sinn, der Muschelrand, in Erscheinung. Fast jeder C-Bogen ist damit besetzt, groß und bizarr. Drei genetische Quellen für ihre Entstehung ließen sich feststellen: 1. Der Muschelrand als Synthese von französischer Groteskenornamentik und italienischer Kartusche, 2. die barocke Muschel von Brunnen und 3. die natürliche Muschel aus den Grotten.

All das ist jetzt eingeschmolzen in die Rocaille. Die Cascade (Abb. 48) aus den Morceaux repetiert in den Möglichkeiten der Rocaille gleichsam deren Genese: Der Muschelrand am C-Bogen kann auch jetzt noch gleichzeitig Schale sein, mit Wasser gefüllt, aber auch natürliche Muschel, Gewächs unter Gräsern, Korallen und Früchten. Damit ist eine Möglichkeit ausgebildet, die zu einer eigenen Rocaille-Ikonologie führt. Dem jeweiligen Thema entsprechend kann jetzt je eine der genetischen Komponenten überwiegen. Etwa die natürliche Muschel (auf dem Stich des Naufiage (Abb. 51), die Muschelschale (auf dem Stich der Fontaine Badiiqae) (Abb. 52) oder der Muschelrand an der Rocaille-Architektur (am Tröne da Grand Seigneur). DIE »JAPAN-HYPOTHESE«

Wie bisher noch jede Ornamentform, so wurde auch die Rocaille gedeutet als Nachahmung einer Naturform. 1909 stellte F. Laske die Hypothese auf, sie sei unter dem Einfluß Ostasiens entwickelt worden und Abbildung exotischer Muscheln. Daß die China-Mode des Rokoko einem Formwillen entsprang, der auch das bizarre und exotisch wirkende Motiv der Rocaille schuf, ist unzweifelhaft. In ihrer Ausschließlichkeit aber ist die These unhaltbar. Von Boucher, einem der großen Rocaille-Meister, wird zwar berichtet, er habe eine außergewöhnlich reiche Muschelsammlung besessen und Muscheln mit einem Eifer gesammelt, wie der bei Rousseau zitierte verrückte Bankier. Aber aus solcher Vorliebe ist keine genetische Kausalität, sondern nur ein Parallelphänomen ersichtlich. Die Entwicklung der Rocaille aus naturfernen Ornamentformen wurde schon beschrieben; in ihr zeigt sich, daß erst später sich die Rocaillekunst verband mit einer Vorliebe für die echte Muschel. Am wenigsten nachweisbar ist ein Einfluß der japanischen Ornamentik auf das frühe Rokoko. Wenngleich hier das Wasser etwa ornamental abbreviiert als stilisierte Muschel erscheint, so ist doch der Unterschied zur Rocaille zu groß; vor allem aber ist kein Rocaille-Import in der Chinoiserie nachweisbar. Von einem später in das Rocailleornament eingedrungenen ostasiatischen Motiv wird noch zu handeln sein. DAS »CHTHONISCHE« ELEMENT IN DER ROCAILLE

Knapp vor 1734, also dem Erscheinungsjahr des Livie d'ornemens erschien eine Serie von sieben kleinen Stichen Meissonniers, der Lfvre de Legumes (Abb. 56). Neben dem Titelblatt mit Kartusche sind auf den meisten Blättern jeweils eine von einem C-Bogen im Scharnier gehaltene Muschel, darüber Gemüse, Blätter, Gras mit Tieren dargestellt. Es sind unscheinbare Sujets. Bei näherem Zusehen und nach einem Vergleich mit den Stichen La Joues machen diese Gemüse-Stilleben aber einen — fast möchte man sagen — unheimlichen Eindruck. Sie sind aus so kleinem Abstand gesehen und isoliert dargestellt, daß auch hier die Dimension changiert zwischen einem diesen Dingen angemessenen Format und einer landschaftlichen Größe, wo Gräser die Bäume eines ornamentalen Brobdingnag sind. Eine Blindschleiche wird zu einem Drachen, ein Krebs zu 32.

einem Ungeheuer. Und aus harmlosen Pflanzen über den Umweg des Ornamentes traumgroßer Dschungel. Oder sind dies eigenartige Brunnenformen? Es ist wiederum offen. Bemerkenswert in diesen Blättern ist zudem die Thematik. Die Ausschließlichkeit, in der erdhaftes Gewächs und Gewürm, feuchtes Muschelwerk Bildgegenstand geworden sind, ist neuartig. Es kündigt sich eine — wenn auch noch verspielt triviale — Hinwendung zu einem »niederen«, gleichsam chthonischen Genre an. Es ist eine neu aufbrechende Tradition der Groteske. Im N auf rage (Abb. 51) von La Joue zerschellt an einer Muschelrocaille ein Schiff, in einem Strudel von der Dimension eines kleinen Brunnens. Die Spannung der mikromegalischen Struktur dieses Blattes ist zugleich eine Spannung zwischen kleinen, naturhaften Dingen und großem dramatischem Geschehen. Aus dem alten C-Bogen ist in diesem Stich ein himmelhoch getürmter Bogen aus Rocaillefelsen, tosendem Wasser, Wolken, Sturm und Gischt geworden. Er ist »Welttheater« wie in einem Fresko Tiepolos, pittoreskes Engagement aller Elemente — und es ist zugleich nur ein kleines Stück muscheliger Erde (je nachdem, ob man an der darinsteckenden Schneckenmuschel mißt oder an dem zerschellenden Schiff. Vorne windet sich ein Wurm oder eine große Schlange (wiederum je nachdem, wie man es sehen will) — erdiges Gewürm oder Symbol der Erde. Einer der großen Künstler des Rokoko, bei dem die Naditansidit des Lebens, dei Natur und dei Antike, ein tieferes Verhältnis zu den »chthonischen« Mächten, zur dunkJen Eide, zum Tartarus und zum Tode (Sedlmayr) beherrschend wird, ist Piranesi. Um die Jahrhundertmitte ist er, in seinen frühen ornamentalen Blättern, direkt neben La Joue zu setzen. In seinen Opeie vane gibt es vier Blätter (gegen 1750), die auch zum Verständnis der französischen Rocaille beitragen können. Sie sind innerlich zutiefst Rokoko und offenbaren zugleich einen Zug dieser Epoche, der von den vielen Phrasen über diese längst zugedeckt wurde. Sie sind Ornament (!) und zugleich beklemmend und erschreckend. Blatt 24 (Abb. 57): Antike Trümmer, arrangiert im Sinne des Ruinenprospektes, so wie es über Oppenordt und Juvara für die Rocaille von Einfluß wurde. Dazu kommen die Requisiten der Rocaille, eine große Muschel, nur in ihrem Rand sichtbar, eingekeilt in den zentralen Berg aus Trümmern; Wasser, das aus Urnen fließt, die wie Trümmer unter Trümmern liegen; Wasser, das nach Art der Rocaille ornamental strähnig und verfestigt ist; Palmwedel, die die Muschelschale hinterlegen. Zugleich herrscht eine Spannung der Dimension, mikromegalische Struktur. Das Blatt ist eine Antikenaufnahme im archäologischen Sinn. Was aber ist die hier dargestellte Figur? Torso? Plastik? Lebend in einer beängstigenden Traumwelt? Ist es ein Koloß, von der Größe der Fassade, die hinter der Rocaille auftaucht? Oder ist auch diese Fassade nur ein kleinplastischer Einfall, von der Dimension des Tafelgerätes? Es ist wie in den Moiceaux von La Joue, nur daß hier das gebaute Ornament auf italienische Weise nicht mehr Ruine im Sinne gebauter C-Bogen ist, sondern Ruine aus antiken Trümmern. Das »Groteske« aber blieb. 33

Diese Dinge Piranesis sind auch ein »Oben«. Sie stehen wie auf dem Gipfel eines Berges, herum die Luft omamentaler Unwirklichkeit. Der Hintergrund sind Wolken und ein Zodiak mit Schütze und Krebs, den Nachtmonaten. Der Himmel, in den diese Forme locaille hineinragt, ist ornamentaler Schauplatz. Vor allem aber ist dies alles wie eine Eruption des »Chthonischen« schlechthin. Blatt 2,6 (Abb. 58) zeigt noch deutlicher, daß es sich hier um Forme mcaille handelt. Eine auf Wolken und Dampf schwimmende Insel, von C-Bogen umrandet wie ein »Büffet«, hat im Hintergrund sogar wirkliche Rocaillearchitektur, ein »Trumm«, Ornamentarchitektur, als Aquaedukt verbrämt. Der riesige Delphin darauf, ein in der französischen Rocaille oft vorkommendes Motiv, kennzeichnet das Blatt als Groteske, die ohne Kenntnis von La Joue, Babel oder Boucher nicht denkbar ist. Auf Blatt 24 liegt unten ein Totengerippe. Ohne ersichtliche ikonologische oder moralisierende Tendenz, »unmotiviert«, weist es als eine kritische Zuspitzung des ganzen hier beschriebenen Genres auf dessen äußerste Möglichkeiten, die zunächst ganz woanders liegen, als es beim Rokokoornament zu erwarten wäre. Es ist eine Leiche, von der das Fleisch gefallen ist und die doch mit einem Rest von Leben aus dem Bild blickt. Und auch dies ist eine äußerste »groteske« Spannung. Nur in deren Bereich ist es möglich, ein Reales (Totengerippe) mit einem Anderen, zwar realen, aber inhaltlich nicht identischen (Leben dieses Totengerippes) zu koppeln. Wasser und Erde, Erde im Sinne des Erdhaften, sind der Schauplatz des neuen Genres. Nicht zuletzt wurde dieses »Chthonische« gefördert durch das archäologische Erleben der Antike in der Tiefe dieser Erde. Götter und alte Tempel erscheinen verdreckt in dieser Erde, überwachsen und überkrochen von Tieren. Gleichzeitig gewinnen die Götter dieser Bereiche die Oberhand im Olymp der Kunst: Pan, Pluto und Venus (Sedlmayr). Es ist ein gewisser Bereich der Mythologie, der hier beherrschend wird, gleichzeitig aber überlagert sich diesen Bildern ein aktuelles und reales Erleben der Antike überhaupt. Daß die diesen Göttern zugehörigen Elemente Wasser und erdhafte Wildnis sich decken mit den archäologischen Erfahrungen von Schmutz und Wasser um die darin steckenden steinernen Götter, das war sicher ein Impuls für das »Chthonische«. Geeigneter Boden war die Groteske. Sie war immer schon Schauplatz der niederen Gottheiten. Die Rocaille als Groteske vereinigt diese mit dem Schauplatz von Wasser und Erde in ornamentaler Form: der Muschel, die solche Gestalt annehmen kann. MUSCHEL UND WASSER

Die Muschel ist, wie schon erwähnt, ihrer Form nach imstand, einerseits Wasser zu verkörpern, an seine Stelle zu treten, andererseits kann sie als gleichsam erdiges Gewächs erscheinen, pflanzlich und zugleich steinern. Bei La Joue nimmt das Wasser in Muschelschalen oft seinen Anfang, aber diese Muschel nun nicht bis zum Überlaufen füllend, sondern sie, in einer leichten Veränderung der Materie gleichsam verlängernd. Aber oft ist der Muschelrand auch gischtig 34

gewellt und so identisch mit einer Wasserwoge. In wechselndem Spiel scheint die Rocaille oft bloße Verfestigung von Wasser und das Wasser Verflüchtigung der harten Muschel zu sein. — Es gibt da viele Möglichkeiten. So, wie in der Rocaille Groteskenmuschel, Brunnenschale und die natürliche Muschel der Grotten verschmolzen sind, »fließen« in der Forme Rocaille auch die verschiedensten Arten von Wasser »zusammen«. Wasser als dünnspringender Bogen, beinahe als C-Bogen, Wasser schwer rauschend, Kaskade oder Schwall des barocken Brunnens und auch Wasser der Grotten, mehr Feuchtigkeit nur, alles netzend, moosig-glitschig machend. Fast immer ist in den Moiceaux von La Joue die Rocaille mit Wasser verbunden. Und fast ausschließlich ist bewegtes Wasser dargestellt. Stehendes Wasser scheint uninteressant gewesen zu sein. Wie es oben entspringt, so verschwindet es unten wieder,· oft ist sogar die Mündung des Wassers verdeckt, so daß nur das fallende als Wasserbogen sichtbar ist. Das Rocaille-Trumm ist hier fast immer Brunnen. Dabei ist eines erstaunlich: Das Rokoko macht kaum Anstrengungen, das Wasser anders als teigig, strähnig, wie Bündel von Schnüren zu zeichnen. In einem Stil, der es ansonsten zu unerreichter graphischer Perfektion brachte, ist das absonderlich. Auf einem Stich von Babel (aus dem Recueil d'Omements et Flems] (Abb. 59) sind über einer breiten Vignette aus Rocailleomament drei weitere kleine Vignetten angebracht, von denen zwei Muschel-Brunnen mit Früchten darstellen. Diese oberen Vignetten sitzen nun auf einem quasi-tektonischen Gerüst aus Wasser, das auf der unteren breiten aufsitzt. Das Gerüst ist leicht und locker gezeichnet, den Unemst dieser Idee betonend, so, als wäre es ein nachträglicher Einfall, die Vignetten so zu verbinden. Wasser ist damit zu Quasi-Architektur geworden wie schon früher das C-Bogen-Ornament. Einer wasserspeienden Rocaille oben entströmt Wasser, das sich — und dies zeigt, wie jetzt in der Rocaille alles zu Ornament wird — in einem Bogen entgegen den Fallgesetzen weiter nach innen von der Fallparabel weg krümmt und dann einfach in sich endigend aufhört. Wasser ist in der Rocaille zu einem Ornament-Versatzstück geworden, mit dem man bauen kann. Dies ist der zweite entscheidende Schritt, neben der Emanzipation des Groteskenornaments mit Muschel zum »Trumm«, der die schließlich verbindliche Rocaille formiert. ROCAILLE-IKONOLOGIE

Noch nicht bei Meissonnier, erst bei La Joue wird die Forme zocaille Schauplatz eines jeweils näher bestimmten und auch durch Titel festgelegten Themas. Das ist Tradition der Groteske, die sehr oft ganz bestimmte Themen und Zyklen umschrieb. Schon bei Watteau war es Brauch, daß hier das groteske Randornament um das Bildthema herum in seiner Stimmung diesem entsprach. In einer Jahreszeitenfolge Watteaus ist in L'HiveT (Abb. 6r) der Fledermausflügel oben dürr, kalt und hart gespannt, ganz anders als in Les Pnntemps. Selbst die ungegenständlich reinen Kurven und Ranken sind dürr und kalt. Nicht daß im Ornament winterliche Attribute vorhanden wären, wesentlich ist, daß ein vordem thematisch unverbindliches Ornamentmotiv wie der Fleder35

mausflügel jetzt thematisch »gestimmt« werden kann. Bei La Joue ist das gleiche mit der Rocaille der Fall. Allerdings sind hier Bildthema und Randornament identisch. Rocaille ist Bildthema und gleichzeitig ein diesem Thema entsprechend gestimmtes Ornament. Die Ornament- und Seriengraphik des achtzehnten Jahrhunderts — mehr als vordem Selbstzweck und kaum mehr an konkreten Anlaß gebunden — nimmt sich mehr und mehr der ikonologischen Zyklen, der Jahres- und Tageszeiten, der Elemente usw. an. Schauplatz, vor allem der vier Elemente, wird dabei die Rocaille. So dominiert meist auf den Blättern von La Joue eines der Elemente. Beim Naufrage (Abb. 51) ist das Wasser Hauptthema, die anderen drei Elemente sind sekundär. Die »Erde« als halber Rocaille-Bogen im Hintergrund aufgetürmt, anschließend die linke Hälfte dieses Bogens aus Wolken, mit Äolus darin, die »Luft« also. Nur das Feuer fehlt, als dem Wasser konträres Element. Ähnlich ist es bei dem Stich des Palais de Pluton (Abb. 54): Das Feuer ist Hauptthema, daneben sind Erde und Luft. Nur das Wasser fehlt. Die Möglichkeiten sind variabel. Wesentlich aber ist, daß die Forme locaille »elementar« geworden ist. Sie ist proteushafter Stoff geworden, sie kann jetzt bei La Joue »Erd-Rocaille«, »WasserRocaille«, »Luft-Rocaille« und sogar »Feuer-Rocaille« werden. Die Weise, wie in der Forme mcaille die Elemente erscheinen, wurde schon beim Thema »Wasser«, dem vorherrschenden besprochen: Es ist Wasser, nach Muschelart zu C-Bogen verfestigt. Im Naufrage ist jetzt auch der in die Luft gebaute C-Bogen aus Erde, Muschelstoff und Korallen. Die »Luft« ist Bogen aus Wolken, und Feuer kann aus Feuerstrahlen oder Bögen aus feurigen Wolken bestehen. Damit sind die Möglichkeiten der forme rocaille ausgebildet. Ihre Haupteigenschaft, ornamentale Abreviatur des »Elementaren« zu sein, wird von jetzt an das Bild des Rokoko bestimmen. Es ist das System, dessen sich nun neben Meissonnier und La Joue die anderen Meister der Rocaille bedienen. FRANgOIS BOUCHER ist unter diesen das malerische Genie. Knapp vor 1740 schuf er eine Stichserie, wovon ein Blatt den schlichten Titel Rocaille (Abb. 64) trägt. Die Bezeichnung scheint zu diesem Zeitpunkt schon fester Begriff gewesen zu sein. Nach Art des »Büffet« ist es ein wildes Gemengsei von Muscheln, Korallen, Pflanzen. Das »Chthonische« allerdings ist hier weniger unheimlich, die Rocaille ist der Muschel-Schauplatz der Venus, Arkadien von Leda, Priapus, Hommage Champetre (drei Stiche der Serie). Daneben gibt es bei Boucher noch Muschelkartuschen im alten Stil, wie etwa im Livre de Cartouches (Abb. 60). Eine große Muschel als zentrale Rahmenform ist an ihrem Rand mit attributären Wesen besetzt die dem Wasser zugehören, wobei als eben Attribut dieses Wassers eine zweite, kleinere Muschel im großen Muschel-Kartuschenrand steckt. Das beweist, daß dieser schon soweit ornamental unverbindliche Materie geworden ist, daß eine spezielle Thematik, wie die des Wassers eigens durch eine nochmalige, attributive Muschel gekennzeichnet werden muß. 36

JEAN MONDON FILS

ließ 1736 sechs Serien, lAvies de forme locquaille et cartel drucken. Erstmalig taucht ein Element auf, das vor allem in Deutschland wichtig werden wird: Die Rocaille wird zum Schauplatz eines zeitgenössischen Genres. In Les tendres Accords (Abb. 63) aus dem Sixieme livre steht die Rocaillearchitektur (von extremer Form] in einem Garten und davor sitzt ein musizierendes Paar. Nicht mehr als klein gezeichnete Figuren, wie bei Meissonnier, die große und weitläufige Ornamentarchitektur bevölkernd, sondern groß wie eben vor einer Gartendekoration. Noch einmal ist die Optik näher an die Rocaille herangerückt, ist der Bildausschnitt kleiner geworden. Oder da sitzt ein Amouieux Guenier (Troisieme livre) (Abb. 65) unter einem »lauschigen« Rocaille-Bogen. Dadurch, daß die »Bevölkerung« der Rocaille jetzt zeitmodisch und genrehaft erscheint, erhält auch diese eine neue Realität. Da aber der Schauplatz noch Ornament ist, mikromegalisch in seiner Dimension, wird das ganze heitere Leben darin unwirklich, wie ein Spiel in Porzellan. Wenn es bis dahin aber so war, daß das Ornament als Schauplatz; die Dimensionen des Szenariums als unwirklich und unfaßbar prägte, so hat sich dies beinahe umgekehrt. Das Szenarium, die Menschen in Zeittracht, obwohl unwirklich, bestimmt doch weitgehend die Realität der Darstellung und das Ornament, wird damit »wirklichkeitsgetreu«. Die Vorstellung, daß diese Rocaille wirklich groß und gebaut ist drängt sich eher auf als die, daß es sich um kleine Puppen in einer kleinen Ornamentwelt handelt. Mit anderen Worten: Das Ornament hat sich, wie bisher noch nie in der Kunstgeschichte, von seiner eigentlichen Kategorie emanzipiert. Die Rocaille ist zu einem Lebensbereich geworden. Der Einwand, daß es hier ja nur um kleine, harmlose und nebensächliche Phantasien eines Ornamentzeichners handle, ist nur wenig berechtigt. Die von hier ausgehenden Wirkungen prägen das Gesicht des Rokoko in jenen Gegenden, in denen die klassizistische Reaktion später als in Frankreich hemmend auftritt; vor allem in Deutschland. Es sei hier nur an den Nothelferaltar Küchels von Vierzehnheiligen erinnert. Bei Mondon ist noch besser als bei anderen die Konsequenz jener Emanzipation des Ornamentes zu beobachten. Die Rocaille ist hier bereits soweit Bildgegenstand geworden, daß ein Endpunkt erreicht zu sein scheint. Da sitzt ein Soldat vor einem Zelt bei einem tete-a-tete, zwei andere stehen im Hintergrund. Das alles ist ein reines Bild. Nur die halb von der Zeltplane verdeckte Rocaille ist Ornament, aber eines, das ganz und gar Bildgegenstand geworden ist. Es genügt auch hier ein C-Bogen und ein Muschelrand, um alles in den Dimensionen unkontrollierbar zu machen; aber der Eindruck eines wirklichen Ornament- B i l d e s ist der vorherrschende. Wenn es möglich ist, daß das Ornament seine Kategorie verläßt, um Bildgegenstand zu werden, so ist das zweifellos nicht nur ein Wandel in der Realität des Ornamentes, sondern auch ein Wandel in der Auffassung vom Bild. Schon bei Watteau — und bei ihm haben alle Rocaille-Meister direkt oder indirekt gelernt — ist ein solcher bemerkbar. Dessen Bildthemen stehen zweifellos in der Linie und Tradition der arkadischen Wunschtraumgebilde. Diese »Arkadisierung« der Wirklichkeit wird aber weniger er37

reicht durch das altgewohnte mythologische Repertoire, sondern dadurch, daß alles Geschehen indirekt erzählt wird, über den Umweg des Theaters. Das ist nicht so zu verstehen, als habe Watteau Theaterszenen gemalt. Das ist in keinem Fall direkt nachweisbar. Er hat nur theatralische Sujets gemalt und seine Menschen sind meist Schauspieler. Diese sind nie in direkter Aktion, aber sie spielen eine eigene Wirklichkeit. Und das Bild ist bei Watteau Abbild einer bildhaften Wirklichkeit. Zwischen Meissonnier, La Joue und Mondon ist ein weiterer Schritt getan. Jetzt ist die ganze Welt des Ornaments, oder genauer: der Groteske bildwürdig geworden. Das ist nur möglich, wenn das Bild an sich schon nicht mehr den Anspruch auf abbildhafte Wirklichkeit legt. Das ist keine Frage primär des Sujets. Bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts waren auch die antiken Götter und war auch Arkadien eine Realität. Es ist eine Frage des Begriffes von Kunst. Im achtzehnten Jahrhundert schließt sich wieder jener manieristische Zirkel, in dem Kunst auf Kunst zurückgreift, sich selbst zum Bildgegenstand wird. P. E. BABEL bringt ebenfalls einen eigenen und eigenartigen Typ von Rocaille. Als Stecher auch für Meissonnier arbeitend, scheint er von diesem mit dem Genre bekannt gemacht worden zu sein. Andererseits hat Babel nicht wie die anderen Rocaillemeister in Frankreich den Zusammenhang mit der realen Innendekoration verloren. Von ihm gibt es beispielsweise Illustrationen zu Boffrands Veröffentlichung. Gerade aber aus der Verbindung von Genie pittoiesque und Innendekoration ergibt sich bei ihm ein Zwiespalt und eine Form von Rocaille, die vor allem dann im deutschen Rokoko oft zu finden sein wird. Auf einem Stich aus den Diffeients Compaitiments d'Ornaments (Abb. 66) (nach 1740) steht eine Art von Torbogen aus Rocaille, ähnlich der Dekoration im Salon de la Princesse im Hotel de Soubise, wo an der Decke radial torbogenähnliche Formen zusammenlaufen. Liniert stellte bereits fest, daß es sich dabei zugleich um Kartuschen handelt. Allerdings ist dabei der Kartuscheninhalt, der im Hintergrund stehende Brunnen vom gleichen Realitätsgrad wie diese Kartusche selbst, die ja auch bereits als Architektur im Garten steht, als Torbogen mit Durchblick. Ebenso kann man die Brunnenvase aber als Kartuscheninhalt sehen, als in der gleichen Ebene wie der Kartuschenrahmen liegend, also in der Blatt-Dimension. Damit kann die Forme locaille Rahmen und Gerahmtes hintereinanderstehend als Bildgegenstand darstellen bei gleichzeitig verbleibender Ornament-Dimension des Ganzen, die Rahmen und Inhalt als ein einziges, in einer Schicht liegendes Ornament erscheinen läßt. R a h m e n u n d G e r a h m t e s w e r d e n i d e n t i s c h . F. DE CUVILLIES Gegen 1745, also schon nach zehn Jahren etwa, ist die Forme locaille in Frankreich bedeutungslos geworden. Sie ist sicherlich noch später zu finden, aber sie ist nicht mehr stilbildend.

Zur gleichen Zeit gelangt das Genre in anderen Ländern zur Blüte und zu einer Bedeutung, die die in Frankreich selbst weit übersteigt. Der Style rocaille ist dabei von Land zu Land verschieden. In England vermischt er sich mit orientalischen und neogotischen Motiven und bleibt dabei im wesentlichen auf das Kunsthandwerk beschränkt; in Italien überlagert er sich — vor allem in Venedig — einer spätbarocken Ornamentik und geht vor allem in die Deckenmalerei ein; in Deutschland aber wird die Rocaille zu einer Macht, die alle Kunstbereiche umformt. Hier sind am besten die Extreme, und damit auch die potentiellen Möglichkeiten dieses Stiles zu beobachten. Entgegen sehr vielen anderslautenden Behauptungen muß festgestellt werden, daß hier die Rocaille einzig und allein Import aus Frankreich ist. Versuche, eine Entstehung der Rocaille in Deutschland zu konstruieren müßten mit dem Beweis beginnen, daß vor 1736 schon Rocailleomamente in Deutschland zu finden sind. Das dürfte unmöglich sein. Was man findet sind allerdings Formen, die entstanden sind aus einer der französischen Ornamententwicklung parallelen Tendenz, rocaille-ähnliche Ausbildungen des Bandwerk-Systems — aber keine echten Rocaillen. Denn der Hauptweg, auf dem die Forme rocaille von Frankreich nach Deutschland importiert wurde, ist ziemlich genau nachzuzeichnen. 1738 erschien die erste Ornamentstichserie von Frangois de Cuvillies. In ihr findet sich zum erstenmal in Deutschland Rocaille. Zugleich zeigt sich hier eine deutliche Abhängigkeit von La Joue. Vergleicht man ein Blatt, etwa das Herbstfrüchte-Bild aus den Morceaux de Caprice ... (Abb. 68) mit dem entsprechenden aus den Morceaux (Abb. 69) von La Joue, so glaubt man zunächst nicht, daß hier zwei verschiedene Zeichner die Urheber sind. Ebenso vergleichenswert sind die Kriegskartuschen-Serie von Cuvillies (Abb. 70) und die Caitoudies de Guerre (Abb. 67,71) von La Joue. Es sind beidemale Rocaille-Kartuschen, die wie ein riesiges Schild auf der Erde stehen, von Kriegsgerät hinterlegt. Das Ganze ist ein Trophäe. Deren Entwicklung gestaltete sich wie die der Forme Rocaille: Zunächst vergrößerte sich die Mittelkartusche, dann wurde diese analog dem C-Bogen-Ornament zum Bildgegenstand, auf einem Erdboden stehend. Neben der Thematik des Kriegerischen treten auch hier die vier Elemente auf. Wasser fließt aus einer Urne (Abb. 67), Erde und Luft werden geteilt und aus der Seite dringt feuriger Rauch. Das Landschaftliche, in dem die Kartusche steht ist dabei in Segmente aufgeteilt, die eben diese Elemente bilden und zugleich den Rocaille-Rand der Kartusche hinterlegen. So, wie in den Moiceaux die Elemente selbst sich zu Ornament verdichten, geht eine ähnliche Möglichkeit von der Kartusche aus: Ihr Muschelrand wird hinterlegt von Elementen und Landschaft. Auch dies wird von Cuvillies kopiert. Wiederum ist das Hauptthema der Serie der Krieg (Abb. 70), sekundär sind diesem die vier Elemente überlagert. Während jedoch bei La Joue die Elemente noch weitgehend dinghaft symbolisiert sind, sind bei Cuvillies diese identisch geworden mit dem Raum, in dem die Rocaille-Kartusche steht. Damit ist das deutsche System der Rocaille ausgebildet: Muschelornament, hinterlegt von einem Raum und zugleich in diesem Raum stehend. 39

DIE DEKORATION BEI CUVILLIES Denkt man sich diese Kriegskartusche von Cuvillies aufgeschnitten, ihren Rand zu einem Band gezogen und umlaufend an die Decke eines Raumes verlegt, die Rocaille dabei nach oben stehend, also das Kartuschensystem gleichsam invertiert, so hat man das frühe Dekorationssystem von Cuvillies, das der Amalienburg. Gerade diese Amalienburg (Abb. 72) wird gerne verglichen mit dem Salon de laPrincesse des Boffrandschen Hotel de Soubise. Die Gegenüberstellung ist tatsächlich instruktiv, denn in ihr erweist sich, daß die Dekoration bei Cuvillies weniger in der französischen Innendekoration, als im Ornamentstich ihren Ursprung hat. Im Soubise (Abb. 73) liegt an der Decken-Naht ein gewelltes Band, darüber ein zweites, dicker und wulstartig; der Zwischenraum ist mit Ornament gefüllt. In den »Wellentälern« sitzt jeweils eine Putten-Gruppe. In der Amalienburg ist der dicke Wulst die untere Wellenlinie, oben im Abstand dazu ist nur noch dünnes Stegwerk, dazwischen Ornament. Einzelne Figuren-Gruppen, Pflanzen usw. ragen nach oben. Der Stuck der Decke der Amalienburg ist »invertierte Kartusche«. Als Beispiel diene die Gruppe über dem Bett des Schlafzimmers. Die Basis wird hier gebildet von Vielecken, die von C-Kurven umrandet sind (wie bei den Kriegskartuschen). Und so wie auf den Kartuschen der Stiche hinten Palmwedel hervorragen, sind in der Amalienburg die Kartuschenränder mit Dingen hinterlegt. Das Wesentliche aber ist: Hier ist das Ornament, die frühe Rocaille auch in der D e k o r a t i o n der Kristallisationspunkt von Landschaftlichem und von Elementen. Wie die Kriegskartusche vor und zugleich in einer Landschaft stand, so macht hier die Deckenornamentik aus der Decke einen landschaftsartigen Hintergrund. Diese wird zu Luft, zu Wasser, zu Raum. Ein aus dem Rocaille-Kartuschen-Rand herauswachsender Baum steht in einer bildhaften Atmosphäre. Das ist der grundlegende Unterschied zur französischen Dekoration. In dieser ist das Ornament immer nur Ornament, in sich beschlossen, an seinem Rand zu Ende, mit anderen Ornamenten nur durch das Arrangement verbunden, nur ornament-logisch, nicht bildgegenständlich. Wenn im Soubise Putti auf dem Ornament sitzen, so sind sie absolutes Ornamentmotiv. Eine Figur bei Cuvillies sitzt in einem B i l d . Allerdings tritt dies zunächst noch weniger im Hauptraum der Amalienburg als in den Nebenräumen auf. So, wie der französische Ornamentstich abseits der offiziellen Kunst steht, so wird hier die Forme locaille an Nebenstellen öffentlich. Allerdings ist dieses »Bildhafte« der Dekoration nicht ein umlaufendes Kontinuum, eine Art Panorama, um die ganze Decke umlaufend, sondern es kristallisiert sich nur um einzelne Punkte, um ein Kartuschen-Stück, eine Figur, einen Baum. Damit ist erwiesen, daß keineswegs eine Illusionswirkung intendiert ist. Es ist etwas anderes. Entscheidend ist, daß von Cuvillies an das, was der französische Ornamentstich nur auf dem Papier vollbrachte, jetzt auch in Deutschland in der realen Dekoration auftritt. Es ist die entscheidende Tat des deutschen Rokoko.

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II. STYLE ROCAILLE ALS

-STIL

Omamental kann unter Umständen fast das Gegenteil von dekorativ bedeuten. Ein Ornament kann durchaus ins Monumentale hinein gesteigert weiden. Finder

ROCAILLE UND ARCHITEKTUR EINE ZEITGENÖSSISCHE BESCHREIBUNG DER ROCAILLE Es gibt keine gleichzeitige Theorie des Rocaille-Ornaments. Aber es gibt, schon seit es eine Rocaille gibt, eine klassizistische, rationale Gegen-Theorie. Interessant ist, daß in diesem Bereich all die Phänomene, wie sie hier analysiert wurden, schon gesehen und mit großem Ekel, aber auch in bornierter edler Einfalt registriert wurden. Im Mai 1746 schrieb in Gottscheds Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (Bd. II., 5. Stück) der Pagenhofmeister Reiffstein, Winckelmann-Freund und bekannt als Hansdampf in allen klassizistischen Gassen seine Anmerkungen über die neuerfundenen Zierrathen in den Werken der Maler und Bildhauer. In diesem Aufsatz sind als irrational angeprangert: 1. Die mikromegalische Struktur der Rocaille. 2. Die grotesken Unmöglichkeiten derselben.

Festgestellt sind: 1. Deren Genese in Frankreich. 2. Die Genese aus der Groteske und aus der asymmetrischen barocken Kartusche. 3. Das »Athenische Element«. 4. Die Elemente-Ikonologie der Rocaille. Augspurg und Nürnberg sind schon seit langen Jähren berühmte Sammelplätze der geschicktesten Künstler in der Malerey und Kupftergtechkunst gewesen, welche die Weh durch ihren Fleiß bereichert, und allen übrigen Künstlern, Einfalle und Erfindungen gleichsam vorgeschrieben haben. Ihre zahlreichen Sammlungen, und insbesondere ihre akademische Zeichnungen haben auch sehr viel Gutes gestiftet, indem sie der Jugend zu gültigen Mustern gedienet, die Anfangsgründe dieser edlen Mutter so vieler Künste zu erlernen. Allein ihre Zierrathen, die sie zum Gebrauche für allerley Künstler selbst entworfen, oder doch wenigstens durch den Druck bekannt gemacht, sind, größtenteils von schlechten Meistern verfertiget; aber dem ungeacht dennoch von ändern Künstlern, aus Mangel eigener Erfindung, ohne Prüfung häufig nachgeahmet, und bey Gelegenheit angebracht worden. Und also hat selbst dieser lobenswürdie Fleiß zu einer Quelle vieler Ungereimtheiten dienen müssen. Damit ich aber nicht länger ohne Beyspiele reden, und meine Beschuldigungen dadurch verdächtig machen möge: so will ich einige der neuesten Sammlungen, der so genannten neuerfundenen Schilde, vor mich nehmen, und aus deren Inhalte mein Vorgeben zu rechtfertigen suchen. Martin Engelbrecht in Augspurg, hat die Erfindungen eines Meisters der sich Carl Püer Elvaci (Karl Pier) nennet, in schönen Kupferstichen heraus gegeben, die ach, so viel ich anzumerken Gelegenheit gehabt, den Bilderhändlern fleißig abgekaufet worden. In derselben findet man nun zwar eine freye und fertige Hand: allein die beste Malerey, und der freyeste Kupferstich sind meinem Bedünken nach, nicht im Stande, den Mangel der Wahrscheinlichkeit und des Witzes in Kunstwerken zu ersetzen. (Anmerkung: Dieses gilt auch von der Wohlredenheit und Dichtkunst; wo freylich wohl mancher Einfall, oder Ausdruck, eine gewisse Gelehrsamkeit, Belesenheit, oder eine Art von Witz in sich hält, aber deswegen doch nicht zu billigen ist; wenn die Vernunft, Ordnung und Absicht etwas einfältigers, natürlichere und deutlichere vorschreiben.] Diese Schilde sollen gleichsam Kämen und Einfassungen abgeben, in deren Feldern nach Erforderung derjenigen Stellen, wo sie angebracht werden sollen, Landschaften, Fabeln oder kleine Historien gemalet, oder geschnitzet werden können. Allein ihre schiefe Lage (Anmerkung: Von dieser schiefen Lage ist zu merken, daß auch viele Kupferstecher in Bildnissen der ordentlichen Stellung der Gemähide überdrüßig geworden: daher sie dieselben bald in diesen, bald in jenen Winkel des Kupferstiches zu werfen, sie links und rechts herab zu senken; oder gar perspektivisch zu zeichnen anfangen), die bald enge zusammengezogenen, bald wieder unförmlich weit ausgedehnten Seiten und Winkel, die wunderlichen Aus- und Einbiegungen der Seitenzierrathen, scheinen gleichsam mitFleiß die erste Absicht zu verhindern; indem der Wohlstand derjenigen Malerey

sehr verhindert werden muß, die in dergleichen unordentlichen Grenzen eingeschlossen werden sollte. (Anmerkung: Hierbey hätten auch die neuen Bildhauer mit ihren schiefen oder verbogenen Bildenähmen einen Text verdienet gehabt; imgleichen die Goldschmiede, mit den wunderlich gezierten Tabackdosen, Uhrgehäusen u. a. m.) Bey allen diesen Verzierungen, hat man die mannigfaltigen Verwendungen gewisser Seemuscheln zum Grunde gelegt, so daß öfters der ganze Zierrath einer wunderlich verbogenen Muschel ähnlich sieht; wobey man sich aber, an die den Muscheln eigene und natürliche Verbiegungen gar nicht gekehret, sondern die Zacken derselben bald wie Locken zusammen gerollet, bald wiederum so steif und starck auslaufen lassen, als es der Urheber für gut befunden. (Anmerkung: Hierbei ist noch zu merken, daß manche von diesen Muscheln so ungeheuer groß sind, daß viele Menschen und Thiere darinnen Raum haben, und ganze historische Bilder so vorgestellet werden, daß alles vor, oder in einer Muschelschale vorgeht, die alles überschattet. S. etliche augspurgische Calender voriger Jahre.) (Mikromegalische Struktur!) Diese muschelartigen Verwendungen, die mit einigen Leisten zusammengefüget und verbunden sind, werden sodann mit allerley Geräthe aus dem Reiche der Natur und Kunst gezieret. Schild, Bäume, Schlangen, Drachen, kleine Kinder und Engel, Lanzen, Spieße, Degen, Morgensterne; Feuermörser, und alle andere Gattungen von kleinem und grobem Geschütze, werden auf dem Papiere auf diejenige Stelle gesetzet, auf welcher sie in des Erfinders Einbildungskraft gestanden: wenn es gleich wider alle Regeln der Wahrscheinlichkeit wäre, daß ein öfters so schwach gemalter Grund eine ihm viel zu schwere Last ertragen sollte (Anmerkung: Wenn also Bilder auch einen Grund brauchen, wo werden denn die seltsamen Einfassungen gewisser Kupfer, zum Exempel in Scheuchzers Bibel, auch in dem venetianischen Tasso bleiben} Hier schweben z. E. Kinder, ohne Flügel in der Luft, haben eine Traube oder ein Füllhorn in der Hand, und ganze Blumenschnüre an den Füßen hängend, ohne daß man sieht, worauf die ganze Last ruhet, u. d. g.) Das 2O4Ste Blatt seiner Sammlungen hat mir vor allen übrigen Wohlgefallen (ironisch!). Ich will an den muschelförmigen Schild selbst, anitzo nicht gedenken, welcher gewiß nicht so leicht zackigter hätte erdacht werden können; weil mir ein Nebenzierrath zu unterst an dem Schilde, einen lebhaftem Eindruck von des Erfinders Art dargebothen hat. Aus einer dunkelen Oeffnung gucket ein munteres Kind hervor, welches mit beyden Händen eine Schlange fest hält, die wenigstens noch einmal so lang ist, als es selbst. Damit nun vermuthlich diese Last dem Kinde nicht zu schwer fallen möchte, so hat man an dem Muschelwerke bequeme Löcher und Zacken anzubringen gewußt, durch welche die Schlange ihren Kopf durchstrecken und sich selbst befestigen könnte. Die Verbiegung der Schlange stellet die bekannte Schlangenlinie vor, auf deren untersten Bogen wiederum ganze Reihen von jungen Schlangen oder Vipern, Schildkröten, und Schnecken gleichsam zum Spaß angebracht sind (Anmerkung: Eben dahin gehören die fürchterlichen Einfassungen der scheuchzerschen Kupferbibel; die gleichfalls aus Ottern und Schlangen, und allen Arten der scheußlichsten Ungeziefer bestehen. Es ist wahr, sie sind alle sehr schön gestochen; allein, daß man sie dem ungeachtet zu Zier43

rauhen brauchet, das kömmt mir eben so vor, als wenn man auf einen Aufsatz von Confect, statt dei Blumen, Nesseln und Disteln stecken wollte) (das »chtonische Element!), so daß man daraus nichts gewissere abnehmen kann, als daß es des Erfinders ernstliche Absicht gar nicht gewesen seyn muß, weder ein natürliches Kind, noch die vorbenannten Ungeziefer, auf eine ihre Natur gemäße Art zu malen: sonsten würde ihm der Abscheu der Kinder vor Schlangen gewiß nicht gestattet haben, dieselben ihnen als Spielsachen in die Hände zu geben; oder, so vieles Ungeziefer, ungeachtet ihrer einander zu widerlaufenden Natur, in so friedlichen Reihen, neben einander Platz nehmen zu lassen (Anmerkung: Dieses hat Horaz ausdrücklich so wohl den Malern, als den Poeten verbothen: Non tarnen ut mitibus coeant immitia, non ut l Serpentes avibus geminentur, tigribus agni...). Will man sich nun dergleichen Freyheiten herausnehmen, so sollte man auch billig vorher beweisen können, daß die Wahrscheinlichkeit in dergleichen Werken der Malerey, überflüßig und entbehrlich wäre. Hätte man dieses einmal mit zureichender Gründlichkeit gethan, so glaube ich auch, daß man um so viel eher die Bescheidenheit haben würde, in Beurtheilung dergleichen Erfindungen seine Vernunft gefangen, und allerley Gedanken ohne Unterschied mit Dank anzunehmen. Um aber zu meinen folgenden Anmerkungen desto mehrern Grund zu haben, und um zugleich zu zeigen, daß die Übereinstimmung vieler Erfinder diese An zu verzieren ziemlich allgemein gemacht habe: so will ich noch aus zwoer anderer Erfinder Ausgaben, einige Stellen anmerken, in welchen man sich eben dieser, und noch größerer Freyheiten bedienet hat. Herr Cuvillies, Rath und Baumeister eines der vornehmsten deutschen Höfe, hat unterschiedliche Sammlungen seiner Erfindungen von dieser Art in Kupfer stechen lassen. So gleich auf demjenigen Schilde, dem der Titel des Buches, und der Name des Verfassers eingezeichnet ist, finde ich einige derjenigen Freyheiten, die sich schwerlich durften verantworten lassen. Auf der einen Seite erblicket man einen Delphin, der auf einer Muschelverbiegung auf dem Kopfe zu stehen, oder sich mit den Zähnen fest zu halten scheint. Den Schwanz schwingt er in die Luft, und sprützet auf einmal so viel Wasser von sich als er seiner Größe nach wahrscheinlicher Weise kaum beherbergen könnte. Dieses ist nun an dieser Stelle um so viel strafbarer, da sich dieser Fisch außerhalb seines Elementes in freyer Luft befindet, woselbst er kein Wasser einziehen kann, um es wieder von sich zu sprützen. (Anmerkung: Hierher gehörte aus dem venetianischen Tasso, in den Einfassungen ein Hirsch, der hinten ein Fisch ist, und von einem ändern Meerwunder, welches halb Mensch, halb Fisch ist, und hinter ihm her in der See schwimmet, bey den Hörnern ergriffen wird. Wo sind doch solche Mißgeburten anders, als in der verwirrten Phantasie der Maler} Sagt nicht Horaz davon recht: Qui variare cupit rem prodigialiter unam, l Delphinum silvis appingit, fluctibus aprum .. .) Ja bey den übrigen Nebenzierrathen, sollte man fast auf die Gedanken gerathen, der Hen Verfasser hätte den Prometheus an herzhafter Entschließung weit übertroffen, in dem dieser dem Himmel nur etwas Feuer, jener aber die Sonne selbst, dem Neptun 44

seinen Dreyzack, dem Mercur seinen beflügelten Stab, und dem Herkules seine Keule genommen, um sich dadurch ein prächtiges Ansehen zu geben. Wie glücklich auf den folgenden Blättern den Schilden Drachenflügel, und andere Seltenheiten angeheftet worden, um dadurch seinen Zierrathen einen neuen Schwung zu geben, will ich anitzo vorbey gehen; weil ich in der dritten Sammlung von dergleichen Verzierungen viel freyere Erdichtungen finde, die an Seltsamkeit die vorigen beyden weit übertreffen. Die Erfindungen dieses Meisters, der sich de la loue nennet, sind ebenfalls in Augspurg herausgegeben worden, und schließen einen ungemeinen Reichtum von herzhaften Einfallen in sich; indem man selten einen Schild antreffen wird, zu dessen Verzierung nicht alle vier Elemente zu Hülfe gerufen worden (Das »Elementare« der Rocaille!). Er bedienet sich zwar des Muschelwerks nicht so häufig, als die übrigen: allein er bepflanzet dasselbe dagegen mit feuerspeyenden Mörsern, die, ob sie gleich mit keinem Gestelle versehen sind, dennoch losbrennen können, ohne sich von ihrer Stelle zu rükken. Erzürnte Männer streiten auf seinen Bildern mit dem Degen in der Faust, gegen wilde, und dem Ansehen nach ganz ergrimmte Hähne (Anmerkung: Wenn es noch ein Streit der Pygmäen mit Kranichen wäre/ Aber erwachsene Menschen, mit Hähneni das ist eine offenbare Ungereimtheit.) Meerwunder, zerplatzende Feuerkugeln, brennende Schiffe, der Vorrath eines ganzen Zeughauses, von europäischen und asiatischen Waffen, müssen seine Erfindungen zieren: dagegen zwar nichts zu sagen wäre, wenn ein jedes dieser Stücke auf eine feine, seiner Natur gemäße Art wäre angebracht worden (Anmerkung: Horaz tadelt die Dichter, die an unrechten Stellen den Rheinstrom, den Regenbogen und einen Hayn und Altar abschilderten: und setzt hinzu: Sed nunc non erat his locus). Mich deucht, diese Beschreibung wäre zureichend genug, die Art desjenigen Geschmackes begreiflich zu machen, von dem ich rede. Was zeiget derselbe aber wohl deutlicher an, als daß alle diese Erfinder, indem sie einen neuen Geschmack einführen wollen, sich eben dadurch von der Bahn des guten Geschmacks entfernen, und selbst unvermerkt in das gothische Buntwerk gerathen werden davon sich doch die neuem Künstler so glücklich heraus geholfen ... Zuletzt muß ich noch gleichsam im Vorbeygehen anmerken, daß mir die ausländischen Namen der Erfinder einen neuen Beweis von der gar zu großen Gefälligkeit unserer Landesleute gegen den fremden Witz gegeben haben (Anmerkung: Hier kömmt der Herr Verfasser auf die wahre Quelle dieser seltsamen Zierrathen. Nicht Deutschland, sondern die Meisterinn so vieler ungereimter Moden, Frankreich, ist auch die Erfinderinn dieses so verderbten Geschmackes geworden. Der geschobene und verbogene Schwung dieser Zierrathen ist also auch eine französische Grille, die mit Recht von einigen großen Künstlern in Deutschland ... verabscheuet wird).

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EINE ROCAILLE IN SALEM. ZUM TYPUS DES DEUTSCHEN STUCKORNAMENTES

Ein Putto in der Stuckkartusche (Abb. 74) hält einen Spaten, auf dem die Künstlersignatur steht: /o. Georg Din fecit 1764. Ein großer Löwe daneben hält das Pedum des Abtes, worum ein S (Salem) geschlungen ist, während dahinter, zusammen mit einer Phantasiearchitektur der alte Turm der Zisterzienserabtei sichtbar wird, in deren AbtSalon sich die Kartusche befindet. Sie mag hier als eines von tausend möglichen Beispielen einer ganzen Gattung dienen. Diese Gattung ist geprägt vom Vorbild des französischen und später deutschen Omamentstiches und sie hat dessen Stilmerkmale in den Stuck übersetzt. Allerdings erfolgte diese Übersetzung nicht in Frankreich, sondern erst in Deutschland. Das läßt sich erweisen durch Vergleiche mit französischem Stuck. ImHötel desMaisons, in der Salle deCompagnie (Abb. 75) etwa, gegen 1750 von Pineau dekoriert, ist zwar die Anlage des Hohlkehlen-Stucks ähnlich der von Salem, die Realität des Ornaments ist jedoch eine völlig andere. In Paris ist die Rocaillekartusche Ornament an sich, beschlossen in ihrem ornamentalen Zweck. Obwohl sie Figurales rahmt, ist sie nicht eine Art von Gehäuse, von gleichem dinglichem Wert wie das Gerahmte, sondern sie bleibt bloßer Rahmen. Bildgegenstand ist im französischen Beispiel nur dieses Gerahmte. In Salem dagegen ist auch die Rahmenrocaille Bildgegenstand. Auf sie treffen alle schon beschriebenen Stilkriterien des Ornamentstiches zu: 1. Die mikromegalische Struktur: Die Rahmenrocaille greift durch Überschneidungen in das Architekturbild ein. 2. Die grotesken Unmöglichkeiten: Die Agave im Topf auf der Hintergrundarchitektur überschneidet vorne den Rahmen. Der Löwe hält das Pedum, das selbst wieder Vordergrundsornament ist. 3. Die Rocaille der Rahmenkartusche ist selbst Bildgegenstand: Sie steht vor der (in sie hineingemalten) Architektur ähnlich wie ein schmiedeeisernes Tor, als gegenständliche Begrenzung eines Durchblickes. 4. Gleichzeitig herrscht eine Spannung zwischen Ornamentdimension und Bilddimension: Denn diese Rocaille ist gleichzeitig, anders gesehen, auch wiederum nur Rahmen, Stuck an der Wand, völlig gegenstandfernes Ornament an sich. Wie eine in einem Garten stehende Rocaillekartusche, etwa von Babel, so bleibt auch die Stuckkartusche Dirrs Rahmen. Ihre Bildgegenständlichkeit vermengt sich mit der rein dekorativen Funktion. Wie dagegen eine Kartusche aussieht, die n u r Ornament ist, das zeigt das französische Beispiel: Hier ist eine Blumenranke nicht ein naturalistischer Bewuchs der Rocaille, sondern eine Ornamentform n e b e n der Rocaille, in keinem bild-kausalen, sondern nur in einem ornamentalen Zusammenhang zu dieser stehend. Im deutschen Stuck dagegen wird die Rocaille auch d a r g e s t e l l t . Auch im Gesamtzusammenhang der Dekoration zeigt sich ein Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland. Stellt man einen Entwurf Hoppenhaupts von 1753 (Abb. 76) (also zeitlich wie motivisch gut vergleichbar) neben die Dekoration im Hotel des Maisons, so ist auffallend, daß die deutsche Rocaille — ohne rationale Raumsug46

gestion — ein räumliches Szenarium erstellt, durch das auch jede tektonische Wandgliederung zerschlagen wird. Die Rocaille parodiert bei Hoppenhaupt gleichsam architektonische Gliederung. Der Spiegel ist Raum, der den Bewohner des Zimmers in eine eigene Welt versetzt. ROCAILLE UND WAND Dieser bildgegenständliche Charakter der Rocaille bringt in der Dekoration ein besonderes Verhältnis von Ornament und Wand mit sich. Das Rococo glaubt nicht an die Möglichkeit der Synthese, an die Vereinbarkeit der Systeme, an die der deutsche Barock leidenschaftlich geglaubt hatte: Das ist seine innerste Skepsis. Es verzichtet aber auch nicht darauf, sie beide (etwa Borromineske und französisch-holländischen Klassizismus) zu umspannen, entscheidet sich nicht für die eine Möglichkeit gegen die andere, sondern genießt diesen Gegensatz ästhetisch ... das ist sein »Raffinement« und seine »Unmoral«. Dieser Grundzug außen sich ... als ein bewußtes Ausspielen ... von Ornament gegen Wand. Der typische Ausdruck dafür ist das Rocaille-Omament mit seiner eigentümlichen An sich halb und halb vom Grund zu lösen, ihn zu negieren und zugleich zu bejahen. Es ist nichts weniger als dekorativ gemeint; denn würde man es wegwischen, so ginge damit der eigentliche Sinn dieser Gebilde verloren. Aber es läßt sich allerdings sehr leicht als bloße Dekoration auffassen. In dem Augenblick wo das geschieht und es als entbehrlicher Schmuck »abraschelt« (Finder), erscheint die darunter verborgene Komponente, der französische Klassizismus ... (H. Sedlmayr, österreichische Barockarchitektur.) Diese Tendenz der Rocaille, sich vom Grund abzulösen, ist am Beispiel von Salem evident. An keiner Stelle kann man sie als von der Wand hervorgebracht bezeichnen. Wie ein Ornament aussehen könnte, das in einem ursprünglichen Verhältnis zur Wand steht, das zeigen höchstens die Profile der Kehlung und ihre Füllungen. Hier ist die Wand in einer Ornamentschicht nach vorne verlängert. Die Rocaille steht daneben kategorial anders; an keiner Stelle liegt sie so recht auf der Wand auf. Sie rollt sich von ihr weg. Ihr Verhältnis zu dieser Wand ist kein unmittelbares, etwa das einer Ornamentierung zur Unterlage, die sie hervorgebracht hat, das Verhältnis Wand — Rocaille ist vielmehr das eines Projektionsgrundes zu einer Bildvorlage. Die Wand hat hier eine Funktion, die ähnlich der des weißen Papieres im Ornamentstich ist: Sie ist (in einem lichthofartigen Umkreis) atmosphärischer Raum, in dem die Rocaille zu stehen scheint. Allerdings ist sie kein Reliefgrund. Ihr Verhältnis zum Ornament ist komplexer. Das, was Sedlmayr den klassizistischen Charakter der Wand hinter dem Rokokoornament nennt, ist ein Verlust altherkömmlicher architektonischer Prinzipien. Diese Wand hinter dem Rokokoornament ist unsubstantiell, sentimentalisch leer wie unbemalte Leinwand. Wiederum wird ein Paradox spürbar: Die Wand ist wie eine einzige große Bildunterlage, aber sie scheint gleichzeitig dieses Bild nicht zu benötigen.

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DAS »NORDENFALKSCHE GESETZ«

Ein Gesetz wird sichtbar. In einer der wichtigsten Untersuchungen zur Ornamentgeschichte seit Riegls Stilfiagen, in den Bemerkungen zur Entstehung des Akanthusoinaments zeigte 1935 Carl Nordenfalk auf, daß zwischen dem Freiräumlich-werden und dem Pflanzlich-werden des Ornaments in der griechischen Kunst des fünften Jahrhunderts ein innerer, wesensmäßiger Zusammenhang bestand. Nordenfalk legte sich die Frage vor, warum gerade aus der Verräumlichung eines Ornaments und seiner dadurch bedingten Loslösung von der materiellen Grundfläche seine Vegetabilisierung oder, wie man auch sagen darf, seine Vergegenständlichung als Folgeerscheinung sich ergibt. Er beantwortet die Frage durch eine Besinnung auf das Wesen der Ornamentik. Je stilisierter eine Ornamentform ist — und Stilisierung heißt ihre Entfernung von gegenständlicher Bedeutung — um so enger müssen die Ornamente an der körperlichen Masse ihres Trägers haften. Wer an dem Wort Gesetz in Fragen der Kunst nicht Anstoß nimmt, wird dem Satz, daß die relative Gegenständlichkeit eines omamentalen Musters und seine relative Bindung an die materielle Grundfläche in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen, den Wert eines allgemeinen Strukturgesetzes beilegen. Die ungegenständlichste Ornamentik überhaupt, die wir kennen, ist zugleich die flächengebundenste die es gibt. In dem Maße, als in der griechischen Kunst des fünften Jahrhunderts die eingeschlagene Entwicklung zur Schöpfung vollkörperlicher, d. h. nur mittelbar von der materiellen Grundfläche abhängiger Ornamentformen führte, mußten die neuen Ornamente die Lockerung ihrer Abhängigkeit von dem gegenständlichen Träger (etwa dem Block des Kapitells) durch eine Steigerung ihrer eigenen Gegenständlichkeit ersetzen. Auf diesem Weg läßt sich das Aufkommen des Akanthus als folgerichtige Entwicklung erklären — als Ergebnis einer Entwicklung zu vollräumlichen Bildungen (zitiert nach H. Sedlmayr). Das »Nordenfalksche Gesetz« ist allerdings insofern einseitig formuliert, als in ihm die Ausbildung eines gegenständlichen Ornaments als die abhängige Variable von der unabhängigen Variablen des Freiräumlich-werdens desselben formuliert ist. Sicherlich löst jedoch nicht eine Modifizierung die andere proportional aus, sondern die gesetzmäßige Modifizierung erfolgt von beiden Seiten her. So scheint sogar an der Rocaille, an der das Gesetz zum letztenmal in Erscheinung tritt, eher die Vergegenständlichung das Primäre zu sein und die Loslösung derselben von der Wand, vom Ornamentträger, eine proportionale Folge davon. Ist diese Rocaille tatsächlich gegenständliches Ornament? In der kunstgeschichtlichen Literatur ist öfter als einmal die Rede vom »abstrakten Formenspiel« des Rokoko. In Wirklichkeit bedeutet die B i l d g e g e n s t ä n d l i c h k e i t der Rocaille den sublimsten Fall einer Vergegenständlichung des Ornaments. Im folgenden soll gezeigt werden, daß auch die Materie der Rocaille — nach einer Modifizierung des Muschel-Vorbildes und nach einer Entwicklung aus abstraktem Ornament — eine gegenständliche Bedeutung trägt. Wenn die Rocaille nicht überhaupt freiräumlich steht, als Bekrönung von Gegenstän48

den, als Treppen-Handlauf, als monumentale Quasi-Architektur, sondern einer Unterlage, einem Ornamentträger vorgelegt ist, kann diese Unterlage nichts anderes sein als Hintergrund. Das ergab die Untersuchung des Beispieles von Salem. Somit erfüllte sich das »Nordenfalk'sche Gesetz« nicht nur im griechischen 5. Jahrhundert und im gotischen 13. Jahrhundert, sondern auch im Rokoko. Die Genese der Rocaille bildet eine erstaunliche Parallele zu der des Akanthus und des gotischen Laubwerks. In allen Fällen wurde aus einer »stilisierten« Ornamentform in einem sehr komplexen Vorgang Gegenständlich-Pflanzliches. Wobei schon Riegl die Absurdität der Annahme aufzeigte, es sei hier als Deus ex machina eine Naturkopie aufgetreten. Die Rocaille entstand aus einer Synthese von Muschelornament und artefaktischem, ungegenständlichem Ornament des späten Louis XIV und der Regence. Bei einem Freiräumlich-werden desselben bildete sich die Rocaille aus, und zwar als gegenständliches Ornament. Diese Gegenständlichkeit, jetzt sogar Bildgegenständlichkeit, ist sogar bis zu einem Extrem vorgetrieben, an dem das Ornament in Frage gestellt ist. Hier läßt sich das »Nordenfalksche Gesetz« noch ergänzen: Extreme Vergegenständlichung und Freiräumlichkeit eines Ornaments kann den Verlust des omamentalen Sinnes bedeuten. Man könnte dagegen einwenden, daß es Epochen gegeben habe, in denen, wie in der Renaissance, ein großer Teil des ornamentalen Arsenals aus gegenständlichen, »naturalistischen« Formen bestand. Bei diesem richtigen Einwand zeigt sich, daß die Funktion und das Wesen des Ornaments fast ausschließlich vom Verhältnis zum Ornamentträger bestimmt wird. Absolute Freiräumlichkeit und absolute Loslösung vom Ornamentträger muß noch keinen Verlust des ornamentalen Sinnes bedeuten. Dieser Verlust tritt erst ein, wenn auch im Ornamentträger eine Wandlung vor sich geht, wenn dieser selbst seine Kategorie verläßt. Erst wenn, wie im Beispiel von Salem, oder wie im Ornamentstich, dieser Ornamentträger nicht mehr als solcher vorhanden ist, sondern Bildhintergrund wird, ist das Ornament in Frage gestellt. Die Rocaille ist das letzte originäre abendländische Ornament. Eine der Grundtatsachen der modernen Kunst ist das Fehlen des Ornaments. Es ist die Kunstgattung, die als erste kategorial aufgegeben wurde. Das Ornament überschritt seine kategorialen Möglichkeiten und wurde Bildgegenstand. Offensichtlich für sehr lange Zeit. »ERSATZORNAMENT«

Knapp vor 1754 entwarf Cuvillies für seinen Livre de decorations de lambns den Stich Lit en niche (Abb. 77). In ihm beschränkt sich die Rocaille auf diejenigen Teile der Dekoration, die nicht flächenfullend, sondern gleichsam nur Affix sind. An textilen Teilen, am Bett, an der Wandbespannung findet sich ein anderes Ornament, Bandwerk mit einigen pflanzlichen Motiven, wie es sich seit den zwanziger Jahren stilistisch kaum mehr weiterentwickelt hatte. Es wird, obwohl überaltert, überall dort verwendet, wo die Rocaille sich, dem bildgegenständlichen Wesen nach, einer Anbringung widersetzt. Es zeigt sich, daß die Rocaille keinen Rahmen verträgt — was bei ihrem bildhaften Wesen 49

zunächst paradox erscheint. Sie kann selbst immer nur Rahmenelement sein. Gleichzeitig sperrt sie sich auch gegen jede Anbringung an Orten, die nicht zugleich Ort eines Bildes sein könnten. Fußböden, Parkett oder Sockelzonen, an denen man Rocaillen rindet, sind sehr seltene Ausnahmen. Sehr typisch auf dem Stich von Cuvillies ist die klassizistische Geradlinigkeit der Sockelzone, die zunächst einen Gegensatz zur unregelmäßigen Ornamentierung der oberen Bettnische zu bilden scheint. Tatsächlich ist das Stilprinzip des Blattes sehr einheitlich. Die total bildhafte Freiheit der Rocaille entspricht völlig der klassizistisch entleerten Wand. Die Rocaille ist Ornament, aber kein Ornament- oder Dekorations-System; sie ist ein Motiv, aber kein Schema. Aus diesem Grund sind alle Interpretationen verfehlt, in denen versucht wird, Kompositionsgesetze der Rocaille auch anderswo, etwa in Grundrissen von Bauten zu sehen. Die Rocaille ist d i e »kritische Form« des Rokoko, aber sie ist kein durchgehendes Gestaltungsprinzip. Dieses ist in einer tieferen Schicht zu suchen. ROCAILLE ALS DEKORATIONSBESTANDTEIL Schon bei Cuvillies, mit dem das Rokoko in Deutschland begann, zeichnet sich, in den fünfziger Jahren, der Anfang vom Ende des Rokoko und damit eines Zeitalters ab. Zieht man von seinem Entwurf der Bettnische (Abb. 77) die Rocaillen ab, so bleibt nur noch wenig von »Rokoko« übrig. Eine leichte, unwesentliche Abrundung oder Auflösung in den Wandfelderecken ist ein letzter Rest barocker Bizarrerie. Ansonsten herrscht die Gerade und der rechte Winkel.

In der Mitte des Korbbogens über der Nische sitzt, an zentraler Stelle, die große Rocaille, ein C-Bogen aus Muschelstoff. Die Thematik an ihr ist »Nacht«: Mit einem schlafenden Hund zur Seite und einer brennenden Kerze. Bemerkenswert ist, daß dabei das Thema »Nacht« weniger in den Emblemen, als in der S t i m m u n g der Rocaille zum Ausdruck kommt, einer Stimmung, die von bildhafter Wirkung ist und die um das Ornament herum wirkliche Nacht an die Wand zaubert. Bisher gab es in der Geschichte des abendländischen Ornaments keine Wanddekoration, in der bildhafte Stimmung von solcher Intensität zu finden gewesen wäre. Ornament, das einen Schatten wirft wie ein Baum, das ist eine neue, kritische Form. In dieser kritischen Form wird das Verhältnis von Wand und Rocaille überdeutlich. Im Umkreis um diese wird die Wand zu einem Hintergrund, zu Atmosphäre. Gewiß ist nur der Ornamentstich fähig, dies völlig deutlich zu machen, aber auch in der Stuckrocaille von Salem läßt sich das gleiche Phänomen beobachten. Auch hier ist eine Raumsuggestion angestrebt. Bezeichnend für das Rokoko ist, daß die Rocaille Bildgegenstand (mit der Wand als Bildhintergrund) und zugleich ein der Wand vorgesetztes, aufgeklebtes Ornament ist. So, wie eine Kartusche von Babel primär Kartusche, zugleich aber eine Art von im Garten stehendem Ornament war, so ist es bei dem Beispiel aus Salem und der Bettnische von Cuvillies. Es ist das Raffinement des Rokoko, zwei gegensätzliche Möglichkeiten zu vereinigen und gleichzeitig den Gegensatz als solchen bestehen zu lassen, ihn

zum Prinzip zu erheben und damit im Betrachter das Gefühl einer Provokation durch ein Unerklärliches hervorzurufen. Es entspringt weniger einzelnen Formprinzipien, als der Vermengung zweier Logiken, die zu keiner Synthese, sondern in einer objektivierten Spannung vereint sind. Das Rokoko erweist sich damit als Spätstil. Nicht sein Manipulieren mit den Formmöglichkeiten, sondern das Spiel mit den Anwendungsprinzipien ist das Kennzeichen einer Endphase. Im Stuck von Salem (Abb. 74) wie im Entwurf von Cuvillies (Abb. 77) tritt die Rocaille dort auf, wo das — an sich schon klassizistisch gerade — Leistenwerk abbricht oder die Richtung ändert. Die Rocaille ist immer in solchen Verbindungen zu finden oder als Abschlußform; wobei ein Abbrechen der Leiste oder ihr Umbiegen die Rocaille geradezu hervorzubringen scheint. Noch in den dreißiger Jahren, in der Amalienburg oder in den frühesten Omamentstichen Cuvillies' ist die Leiste klar geschwungen und die Rocaille nur deren Affix. Jetzt bildet die Leiste nur noch kurz vor einem Eck oder vor ihrem Abbrechen eine kleine Schwingung, die aber von der Rocaille überdeckt wird. Die Funktion des Ornaments ist eine andere geworden. Da, wo die Leiste abbrechend einen Schnörkel bildet, ist gleichsam die Stelle, wo sie von ihrer tektonischen Funktion in die ornamentale hinüberwechselt. In den Jahren nach der Jahrhundertmitte wird dieser Wechsel immer kleinförmiger und ängstlicher. Er ist der Ort der Rocaille. Man hat den Eindruck, als sei das Abbrechen oder der Richtungswechsel der Leiste der Nährboden einer ornamentalen Wucherung. Die Leiste scheint, sobald sie die Gerade verläßt, ein entschuldigendes Motiv, ein Ornament zu benötigen. Damit hat dieses eine sehr rationale Funktion bekommen. Das Ornament steht gegen die Tektonik. Es kaschiert tektonische Funktionen. Damit ist gleichzeitig auch das Wesen des Ornamentalen in Frage gestellt. Ein Ornament, das nicht mehr dazu dient, Wand zu schmücken, sondern nur noch bildhaft das Zusammenstoßen des Leistenwerks, also eines sekundären Organs in der Architektur, überdeckt, verliert den Zusammenhang mit der Architektur. Dieser aber ist die Seinsgrundlage des Ornaments. Das bildgegenständliche Wesen der Rocaille hängt mit diesem Verlust eng zusammen. Ein Abbrechen oder eine Richtungsänderung im Leistenwerk erzeugt ein OrnamentBild. Es findet eine kategoriale Änderung statt: Aus einem Gegenstand wird ein Bildgegenstand. Schwünge und Rundungen im Leistenwerk oder an Profilen sind die letzten »Unregelmäßigkeiten« einer im Rokoko seit etwa 1750 schon weitgehend klassizistisch gewordenen Architektur. Diese Stellen werden durch die bildhafte Rocaille als »natürlich« hingestellt. Wenn an dem Entwurf von Cuvillies dort, wo Bogen ansetzen, aus dem Knick eine Rocaille hervorwuchert wie das Bild eines Verfalls oder die Wucherung eines Zersetzungsprozesses, so ist damit ein »malerisches«, »unregelmäßiges« Element an der Architektur quasi entschuldigt durch ein »Ruinenmotiv«. Vor noch nicht allzulanger Zeit gab die, ebenfalls um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Kombination von klassizistischer (etwa palladianischer) Architektur und freiem, englischen Landschaftsgarten der Kunstgeschichte große Rätsel auf. Mit den rein

stilkritischen Maßstäben von »Strenge« oder »freier Natürlichkeit« gemessen, schien hier ein unbegreifliches Paradoxon vorzuliegen. Daß gerade die »Natürlichkeit« eines Gartens die einzig mögliche Entsprechung zur sentimentalischen »Natürlichkeit« streng antikischer Architektur bilden konnte, wurde erst später erkannt. Ähnlich ist es mit der Rocaille in der Architektur. Vertauscht man die Vorzeichen, so zeigt sich in einem Paradoxon ein Stilprinzip. Die Bizarrerie der Rocaille, in der barocke Rudimente in einer schon weitgehend klassizistischen Architektur als beinahe Ruinenbild kaschiert sind, ist ein Kennzeichen eines Stiles zwischen den Zeiten. Das Barock ist zu Ende, die neue Zeit hat noch nicht begonnen. Das Rokoko aber machte gerade im Style rocaille aus diesem Übergang ein Stilprinzip.

DIE MATERIE DER SPÄTEN ROCAILLE. ORNAMENT ALS »NATURLICHES« DIE »ERD-ROCAILLE« Bei La Joue war die Forme wcaille Schauplatz der vier Elemente. Nachdem dieses System von Deutschland, vor allem vom Augsburger Ornamentstich übernommen worden war, trat hier das Element des Wassers immer mehr in den Hintergrund, während das der Erde immer größere Bedeutung gewann. Das geht so weit, daß schließlich das, was man die »Erd-Rocaille« nennen könnte zur kanonischen Form wurde. Die Rocaille über der Bettnische von Cuvillies (Abb. 77) ist ein Beispiel dafür. Zehn Jahre früher ist ein Stich von J. W. Baumgartner, aus einer Elemente-Serie, anzusetzen: Die Eide (Abb. 78). Im Vordergrund steht eine Art von Torbogen aus Rocaille, deren Form gebildet ist durch fransige Auslappungen und Einrollungen von Erdreich und muscheligem Stein, bewachsen von Pflanzen. Noch ist deutlich die Abhängigkeit vom französischen Stich erkennbar und der frühe Rocaillestil der vierziger Jahre. Zu beachten ist, daß diese ErdRocaille aus dem Boden herauswächst wie ein Baum mit seinen Wurzeln, die Erde sich ohne Veränderung der Materie in die Rocaille hinein verlängert. In einem Blatt des Augsburgers J. Wachsmuth von etwa 1751/52, (Berliner Nr. 412), ist die Motivierung der »Erdthematik« durch den Elemente-Zyklus bereits weggefallen, ist die Rocaille Erd-Rocaille an sich. Der bedeutendste Augsburger Stecher, J. E. Nilson, kennt in seinem Oeuvre nur noch diese Art, in der kaum mehr etwas von Muschelstoff spürbar ist, die Rocaille aus einem nicht leicht definierbaren erdhaften, proteushaften Stoff besteht. Einer seiner Stiche ist 1752 datiert; seine Beschriftung ist eine große Hilfe zur Definition eben dieses Rocaille-Stoffes (Abb. 79). Im Vordergrund einer deutschen Landschaft mit Wald und Burg steht links wie rechts je eine Erd-Rocaille. Man könnte allerdings zunächst zweifeln, ob es sich hier um eine Rocaille handelt; denn aus der früheren Rocaille mit ihren Lappungen und Muschelerinnerungen ist jetzt ein uniformer Stoff geworden, eine Materie, in der die genetischen Bestandteile, Akanthus, Palmette, Lambrequin, Fledermausflügel und vor allem Muschel, wie sie noch beim frühen Cuvillies durch die Rocaille-Materie hindurchschimmerten, völlig in eins zusammengeschmolzen sind. Wäre nicht die typische C-Kurvierung,

so könnte man das Gebilde Nilsons für einen bizarren Stein halten. Die Unterschrift lautet: O seltsame Natur, wie artig wiickest du! Ich sehe Dir mit Lust in deinen Spielen zu. Du bildest Holz und Stein zu menschlichen Geschöpfen Und wieder Stein und Holz in ungehirnten Köpfen. Noch präziser ist die lateinische Version: Naturae miracula, truncos, Humana scopulos fade, cuivamine conchas Adspicias vario. »HOLZ UND STEIN«

Spiellaunen der Natur sind damit nicht am Exempel der Natur selbst aufgezeigt, sondern an einer Erd-Rocaille. Diese besteht aus scopulis und truncis, Gestein und Holz. Entscheidend ist dabei der Satz: curvamine conchas adspicias vario — in verschiedenerlei Kurvierung siehst du Muscheln, siehst du Rocaille. Denn damit ist Rocaille interpretiert als S p i e l l a u n e der N a t u r , a u f t r e tend an und in der Form von Holz und Stein. Man könnte denken, daß hier ein ornamentaler Wille jetzt sogar das Naturvorbild umzugestalten beginnt. Jedoch das Gegenteil ist der Fall: Der bildgegenständliche Charakter des Ornaments ist so weit vorgetrieben, daß eben dieses Ornament in seiner krausen Form nur noch als naturhaft, also rational interpretiert werden kann. Die Rocaille ist in ein letztes Stadium getreten. Wurde sie bisher als ornamentaler Gegenstand gesehen und abgebildet, so wird jetzt dieser Ornament-Gegenstand in seinem Material gedeutet und interpretierend präzisiert. An den Anfang der sechziger Jahre ist eine Stichserie von G. L. Crusius zu setzen, die Capncci Parte I. Sie stellt die Endphase dieses letzten Stadiums dar. Auf dem Blatt mit der Kopfweide (Abb. 81) steht ein uralter Baum in einer Landschaft, vor einem Hintergrund mit Bauernhaus, Bäumen und Wolken. Die Weide aber ist hohl, aufgeplatzt durch die Jahre, ihre schieferigen Fetzen stehen zur Seite, wie aufgeklappt, flach: Das ganze ist eine Rocaille, ein tiuncus als Ornament. Die Materie ist faules Holz. Nur noch in der Formung weist sich diese Baumruine als Ornament aus, in dem Aufbau von zwei einander entgegenschwingenden C-Kurven aus Fetzen von Rinde. Geblieben ist auch das Flächenhafte der Rocaille. Diese war immer nur flaches, blattähnliches Gebilde und ist es auch noch hier. Der Baum muß in die Fläche aufgeborsten sein, um Rocaille sein zu können. Jetzt ist das Ornament nicht nur in der Realität des Darstellungsmodus, sondern auch in seiner Materie völlig zum Gegenstand der Natur geworden. Das, was man sehr lange, etwa am Beispiel des Akanthus für den Anfang in der Ornamententwicklung hielt, nämlich die Genese und Abstraktion aus naturhaften Formen, das stellt sich hier als Ende heraus. Zumindest an der Rocaille zeigt sich, daß die Vergegenständlichung zu allerletzt auftritt, wobei das Gegenständliche, nämlich eine Prä-

zisierung der Ornament-Materie, sehr spät am Abstraktum der ornamentalen Form hervortritt. Von analogen Vorgängen in der Geschichte des Ornaments unterscheidet sich die Rocaille nur durch das Ausmaß dieser Vergegenständlichung; denn diese setzt nicht am kleinen, detailhaften Ding, etwa am Akanthusblatt, ein, sondern das Ornament wird gegenständlich transponiert in die größten Gegenstände: Bäume, Felsen, Ruinen. Die Stiche von Crusius sind zweifellos Bilder. Allerdings Bilder ohne Rahmen. Der landschaftliche Hintergrund in ihnen ist gegenüber französischen Stichen noch tiefer geworden. Der Rocaille-Baum steht zwar am vordersten Rand der Landschaft, aber er steht in ihr. Die Baumwurzeln vorne liegen zwar offen da (Abb. 82) und betonen noch das »inselhafte«, »groteske« des Blattes, zugleich jedoch fügt sich dieser Baum in die Landschaft und ergibt zusammen mit dieser ein Bild im Sinne eines Landschaftsausschnittes. Alles ist bereits auf ein Rechteck ausgerichtet, wie etwa auf einem anderen Blatt der Serie, mit einer Rocaille, einem scopuius, auf dem ein alter Mann sitzt. Der untere Abschnitt ist hier eine strenge Gerade, nur in der Mitte ist nach unten ein CSchnörkel angehängt. Dieser unterscheidet sich in eigentümlicher Weise von der großen Erdrocaille. Er ist stofflich unverbindlicher, so, wie auch seine räumliche Situation, im Gegensatz zur Erdrocaille, unklar bleibt. Er liegt in einer anderen Dimension, der des Rocaille-Rahmens. Es ist eine Eigentümlichkeit des deutschen Omamentsticb.es, Rocaille-Bilder mit einem Rocaille-Rahmen zu umgeben. Dabei kann dieser Rahmen sich mit dem Bildinhalt vermischen, aus diesem geradezu herauswachsen. Damit tritt die Rocaille als gerahmtes Bild auf — aber gerahmt von sich selbst. Daß die Rocaille zweierlei konträre Eigenschaften ausbilden konnte, die bildgegenständliche und die rahmende, charakterisiert sie wohl am meisten. Es ist eine letzte Konsequenz des alten Grotesken-Schemas. Es ist zugleich aber auch das Ende des Ornaments. Bei Crusius ist das Ornamentale identisch geworden mit dem Natürlichen. Wie schon bei Nilson die Ausformungen der Rocaille als Mirakel der Natur definiert wurden, sind bei ihm die Kurvierungen und Zerfaserungen an Holz und Stein das, worin sich das Wirken der Natur manifestiert. Es ist das Natürliche an sich. Auf dem Blatt mit dem Hirtenknaben (Abb. 83) geht das Schwanken der Baumäste in eins zusammen mit dem Schwung der Fetzen einer Erdrocaille, deren C-Bogen vom Wind gebeugt und zerfasert wurden unter vorbeiziehenden Wolken. Forme mcaille scheint hier entstanden zu sein durch Wind und Wetter, Fäulnis und Alter. Bizarres, »Malerisches« ist hier natürlich und zugleich ornamental. Ornament ist hier nur noch Form, die von der Natur durch Auflösung und Verwitterung hervorgebracht wurde. Ein Verlust der eigentlichen Dinglichkeit wird gleichgesetzt mit ornamental. Bizarr ist dieses Ornament insofern, als in ihm ein Dingliches in ein Abstraktes transzendiert, dieses Transzendieren aber als natürlich (nämlich als Verwitterung) auftritt. Wo in den Stichen von Crusius Holz und Stein rocaillisch werden, da ist es, als habe eine Verwitterung, ein natürlicher Vorgang dies bewerkstelligt. 54

Das Ende des Rokoko, das Ende des barocken Ornaments scheint rätselhaft zu sein; denn trotz einiger klassizistischer Umwandlungen ist keine direkte Ablösung durch einen neuen Ornamentstil feststellbar. Eine Lösung dieses Rätsels bietet sich an bei der Überlegung, daß das Ornament, als bisher eigene Kategorie der bildenden Kunst, sich auflöste als Gegenstand des B i l d e s . Der letzte Schritt der Auflösung war, daß die Rocaille sich verwandelte von einem ornamentalen Gegenstand zu einem ornamentalen P r i n z i p ; nämlich einem ornamentalen Prinzip in der Natur. Bei Crusius ist sie nur noch ein Abstraktum, das heißt ein ornamentales Gestaltungsprinzip, das Dinge der Natur, Holz und Stein bizarr, aber ornamental gliedert. Ein Kreis hat sich geschlossen: Ging die Entwicklung der Rocaille von ungegenständlichen Formen zur reinen Bildgegenständlichkeit, so ist diese Gegenständlichkeit zuletzt so weit vorgetrieben, daß die Rocaille nur noch h i n t e r den Dingen als Abstraktum, als Formprinzip auftritt. Mit den Stichen von Crusius ist die Geschichte der Rocaille zu Ende. Über sie hinaus ist keine Entwicklung mehr möglich. Sie wird jetzt hinter den Dingen, nur noch omamentales Prinzip, einige Zeit wirken und dann verschwinden. Gleichzeitig mit dieser Endphase werden die Gegenstände der romantischen Landschaftsmalerei geboren. ROCAILLE ALS DAS »NATURLICHE« UND »RUINÖSE« AM ORNAMENTTRÄGER

Die Rocaille von Crusius ist ein Extrem. Rückblickend erklären sich jetzt einige Phänomene der früheren Rocaille. Denn das, was bei Crusius festzustellen war, gilt auch schon für die Rocaille etwa am Bettnischen-Entwurf von Cuvillies (Abb. 77). An diesem tritt sie immer dort auf, wo Leisten ihre Richtung ändern oder abbrechen. Am rechten Eck der Nischenumrandung beispielsweise, wo die senkrechte Rahmenleiste nach links abbiegt und in einem Gegenschwung das Korbbogenprofil ansetzt, gehen diese Leisten nicht ineinander über, sondern brechen ab, wobei die Bruch-Enden voneinander weggedreht sind. Dabei entsteht geradezu eine Bruchstelle. Und diese bildet Rocaille aus. So, wie bei Crusius die Rocaille das Ruinöse an Holz und Stein war, ist sie hier das Ruinöse an den Leisten der Dekoration. Das Abbrechen und die Richtungsänderungen der Leisten sind hier motiviert durch ein Bild von Natürlichem. Die Beobachtung, daß das Rokoko-Ornament gegen das tektonische Prinzip der Wandglieder steht, stellt sich als richtig heraus bei einer Analyse der Inhaltlichkeit der Ornament-Materie. Schon bei Cuvillies steht gegen das objektive Sein der tektonischen Glieder das Ornamentale als eine Modifizierung derselben ins Inhaltliche. An der Stelle, an der die Leiste abbricht, wird sie zum Ornament; allein dieses Ornament bedeutet: Verwitterung, Ruine dieser Leiste. Wie noch zu zeigen sein wird, erkannte auch die zeitgenössische Kritik an der Rocaille dieses Naturhafte, Verwitterte und Ruinöse. Vor allem aber ist es auch im Stuck zu sehen. In der Kartusche von Kloster Salem (Abb. 74) bricht das Profil unter der Decke

auf, um an dieser »wunden« Stelle in eine große Rocaille zu verwuchern, die in ihrer Materie ruinöses Flickwerk ist, durchlöchert, aufgeborsten, zerfranst und wie das Bruchstückhafte an sich. ..ERDROCAILLE« ALS RUINÖSE ROCAILLE

Diese Form der Rocaille hat sich aus der »Erdrocaille« entwickelt. Deren Kennzeichen war es, aus dem Boden ohne Veränderung der Materie hochzusteigen. In den Caffe, Thee und tobaks-Zieraten (Nr. 5, von ca. 1753) (Abb. 80) von Nilson beispielsweise verlängert sich der Boden in eine Rocaille, die dann einen Tisch bildet, während nach unten richtige Wurzeln aus eben diesem Rocaille-Boden hängen. Im Hintergrund steht eine Ruine, die nach Art des »Trumm« halb Rocaille, halb Haus ist: Das eigen dich Ruinöse daran, der Bruch ist Rocaille. War auf dem Nilson-Stich Höh und Stein (Abb. 79) die Erd-Rocaille noch nicht eindeutig Verkörperung des Ruinösen, so ist der Zusammenhang zwischen beidem, Erde und Ruine auf einem anderen Stich der Caffee-Zieraten (Nr. 6) (Abb. 80) eindeutig. Da steigt im Hintergrund eine Erdrocaille hoch, nach oben zu immer dünner, pfeilerartig werdend, um schließlich in einem eigenartigen Knollen zu enden. Wie durch dessen schwere Last scheint allmählich von dem tragenden Rocaille-Pfeiler alles bis auf einen dünnen Rest in C-Bogen-Fasem abgeblättert zu sein, so wie es in der Natur bei manchen Monolithen als groteskes Phänomen vorkommen kann. Die Erdrocaille selbst ist Ruine. Auf einem Blatt des Augsburgers F. X. Habermann (Anfang 7. Jahrzehnt) (Abb. 84) sieht das ähnlich aus: Ein ausgewaschenes, ausgelaugtes Gerippe von Erdrocaille rollt sich in geborstenen Stegen ein und die Rocaille-Reste sind wie ein Extrakt des Natürlichen und Ruinösen. Jede ornamentale Form (durchbrochene Leisten, C-Bögen usw.) scheint durch Verwitterung entstanden zu sein. Das Entscheidende an dieser Interpretationsmöglichkeit ist, daß damit ein bildhaftinhaltliches Moment die rationale Legitmation des Ornamentalen bildet. Ornament ist hier, was ein »launiges Wirken« der Natur in der Verwitterung übriggelassen hat. Ornamental heißt hier natürlich und natürlich ornamental. Während der Ornamentträger, die Architektur, das Künstliche, Artefaktische verkörpert, bildet die Rocaille, das Natürliche an ihm im Gegensatz zur künstlich-kunstvollen Strenge des Bauwerks die Gegenwelt, die bildhafte Sphäre des Naturhaften, das zu diesem Zeitpunkt identisch mit dem Vergänglichen ist. Dadurch, daß die Rocaille am Leistenwerk und anderen tektonischen Gliedern als Bild von Verwitterung, Vergänglichkeit und Auflösung auftritt, wird dem ganzen Bauwerk eine — allerdings heitere und unwirkliche — Ruinosität aufgelegt. Dieser, Wand und Decke locker überspinnende, aufgeklebte Überzug der Rocaille ist eine Summe von Bildern der naturhaften Verwitterung des Materials, aus dem der Bau selbst auch besteht. Wiederum ist jedoch eine Einschränkung zu machen. Auch diese extreme Form des Ornaments ist immer noch Ornament. Abgesehen von einigen überdeutlichen Stichen, in denen das Ornament sich bereits aufgelöst hat, ist die Rocaille gleichzeitig »gegen-

standslos«. Diese Beobachtung fällt zusammen mit der schon erwähnten »objektivierten Spannung«, die als grundlegendes Gestaltungsprinzip des Rokoko angesehen werden darf. Denn gerade aus der Tatsache, daß einerseits das Ornament sich zu einem abbildenden Stoff konkretisiert zu haben scheint, andererseits diese Konkretisierung sich immer wieder dem Betrachter ornamental verflüchtigt, resultiert der Reiz einer tiefen Ironie. Es ist die »Unmoral« des Rokoko. Man könnte auch von bewußter Theatralik sprechen. Ein Bauwerk, das sich wie zum Spiel als Ruine verkleidet, ist mit dem Torso als Thema der Skulptur zu vergleichen. So wie bei diesem wird die Dimension der Zeit gleichsam am einem mit in die Schöpfung einbezogenen Punkt gekappt. Voraussetzung für ein solches Verhalten ist eine Bewußtheit vom Kunstwerk als historischem Faktum, die wiederum einer melancholischen Bewußtwerdung der Zeit entspringt. Hier wird eine historische Situation vorwegnehmend objektiviert, was letztlich nur bei einem Zweifel an der Absolutheit des Kunstwerkes möglich ist. »ROCAILLES RICfmG ZU ZEICHNEN?«

Nach diesen Feststellungen einer komplizierten und ironischen Verhaltensweise des Ornaments im Rokoko möchte man annehmen, daß es dazu eine entsprechende Theorie gegeben habe. Diese gab es jedoch nicht. Nur die klassizistische Gegenreaktion spricht über das Wesen der Rocaille. Diese Tatsache ist äußerst bezeichnend, so wie es beinahe unglaublich ist, welch einheitlicher Kanon der Rocaille sich ausbildete. Die entscheidende Rolle dürfte dabei das Vorlagewesen, vor allem Augsburgs, Nürnbergs und Münchens gespielt haben. Trotzdem ist die Fähigkeit noch der letzten Dorfhandwerker, Rocaillen zu schnitzen, zu schmieden oder zu stuckieren, bewundernswert. Breite und Tiefe des Style rocaille wird illustriert durch J. J. Preislers Nützliche Anweisung Rocailles riditig nachzuzeichnen (Abb. 86 a-d), eine Sammlung von Vorlageblättern, in denen der Versuch einer naiven akademischen Lehrmethode gemacht wird. Diese ist insofern völlig naiv und im Titel zu anspruchsvoll, als die Blätter sich nur dadurch von anderen Vorlagestichen unterscheiden, als der Zeichenvorgang im Offenlassen des Entstehungsprozesses gezeigt wird. Einige Koordinaten zu den einzelnen Kartuschen sollen dabei so etwas wie ein akademisches System vortäuschen. Gerade dieser Aplomb enthüllt das Unnütze eines solchen Verfahrens. Gute »rocailles zu zeichnen« erfordert, gerade wegen deren »scheinbarer« Asymmetrie große Sicherheit im Gefühl für Komposition, Ponderierung und Aufteilung,· aber es kann keine allgemeinen Regeln dafür geben. Um so erstaunlicher ist die Typisierung der Rocaille und die allgemeine Sicherheit in ihrer Anwendung — wenn nicht gerade dies der Grund des Unakademischen ist. Eine andere Fage ist die nach dem »typischen« Beispiel einer Rocaille, nachdem die bisherigen Erörterungen meist an extremen, kritischen Formen erfolgten. Wenn man im Ornamentstich nur eine Vorstufe zum angewandten Ornament, zur Dekoration sieht, dann ist die typische Rocaille die, wie sie in kanonischer Form in zahllosen Beispielen in Stuck oder Schnitzwerk auftritt. Abgesehen von Stilunterschie57

den, die eine Entwicklung zwischen 1738 und etwa 1770 kennzeichnen, erscheint sie in den meisten Fällen in einer — sozusagen — unverbindlicheren Form als in den kritischen Ausprägungen, wie sie bislang Gegenstand der Untersuchung waren. Das ist kein Argument gegen die hier angewandte Methode der kritischen Formen (von H. Sedlmayr in die Kunstgeschichte eingeführt). Im Gegenteil; denn hei einer Abschätzung der Qualitäten stellt sich heraus, daß in fast allen Fällen die extremen, kritischen, vielsagenden Formen im Rokoko zugleich die bedeutendsten sind. Man denke nur an den größten Meister der Epoche in Deutschland, an Cuvillies. Es stellt sich heraus, daß die unerschöpfliche Phantasie und die ans Wahnwitzige grenzenden Erfindungen des Ornamentstiches die Basis eines volkstümlichen Stiles wurden. Diese Feststellung aber berechtigt, im volkstümlichen, typischen Rokokoornament, hinter der Oberfläche verborgen, die Wesenseigentümlichkeiten zu sehen, die an den kritischen Formen festzustellen waren. DER REALITÄTSCHARAKTER DER ROCAILLE. GEBAUTE ROCAILLE. IHRE RAHMENFUNKTION Während der Stuck fast immer jene Stilphänomene des Ornamentstiches, wenn auch oft nur in Rudimenten, aufweist, erfolgte selten eine Übersetzung der Bildgegenständlichkeit der Rocaille in gebaute Realität. DER GNADENALTAR VON VIERZEHNHEILIGEN

ist eines der Beispiele (Abb. 87). Über einer Sockelzone erhebt sich ein Altarbaldachin, mit diagonalen Stütz-Voluten-Feldern und kleinen geschwungenen Gesimsen im Sinne des »Trumm« der Rocaille-Architektur. Riesige Rocaille-C-Bogen steigen hoch, sich nach oben in einem Gegenschwung in weitere dünne Bogen fortsetzend, die Baldachinstützen. Jeweils ein »Trumm« bildet an den Ecken den Träger. Sie erfüllen alle die Bedingungen, die am Ornamentstich als Kennzeichen der Forme locaille festgestellt wurden. Ihre Voluten-Einrollungen sind dort, wo der Himmel aufsitzt fragmentarisch, formlos, wie durch Verwitterung entstanden. Der Gnadenaltar von Vierzehnheiligen ist zum Monument gewordenes Ornament, eine kritische Form par excellence in der Geschichte des abendländischen Ornaments. Das Realitätsverhältnis dieser nun wirklich gebauten Rocaille aber ist ein sehr bezeichnendes. Sieht man genauer zu, so stellt man fest, daß auch in diesem Fall eine bildhafte Distanzierung angestrebt ist. Die vier Baldachinstützen stehen nicht wirklich frei, sondern sind als »Trumm« nur Teile eines Ganzen, das nicht generell als Forme locaille angesprochen werden kann. Die scheinbare Gegenständlichkeit der Rocaille, wie sie hier erreicht zu sein scheint, bleibt letztlich eine Bildgegenständlichkeit. So sind beispielsweise die einzelnen Rocaille-Trümmer nicht von allen Seiten gesehen wirklich Rocaillen. Frontal gesehen, also von den Schmalseiten her sind sie nur Voluten-Pfeiler mit völlig geraden Kanten. Außerdem distanziert eine Kommunionbank als Geländer den Betrachter von dieser gebauten Rocaille und wahrt damit deren Bildhaftigkeit. Die

Betretbarkeit dieser Rocaille ist vorstellbar, realiter bleibt diese Betretbarkeit jedoch bloße Vorstellung. Es zeigt sich, daß die Möglichkeit, Rocaille vom Omamentstich in gebaute Realität zu transponieren genutzt wurde, daß gleichzeitig jedoch darauf geachtet wurde, den Realitätscharakter zu wahren, der die Rocaille dieses Omamentstiches auszeichnete: Die Bildhaftigkeit, die Bildgegenständlichkeit. Ein Beispiel dafür ist auch die Wieskirche der Gebrüder Zimmermann (Abb. 88). In dieser sind oben an der Umrandung des Deckenfreskos logenartige Öffnungen von Rocaille gerahmt, so, daß diese wie aus Rocaille erbaut erscheinen. Die Rocaille ist in Proportion zum Menschen, sie ist zugleich jedoch so hoch und unerreichbar für den Betrachter, daß dieser sich zwar ideell in diese Rocaille-Behausung hoch oben versetzen kann, so wie in einem Stich Mondon's, zugleich jedoch das Unmögliche dieser Vorstellung empfinden muß. Diese Rocaille-Häuschen sind so hoch oben, in der Ornamentsphäre der Decke, daß sie für den Menschen unten in der Kirche Bild bleiben, so wie die Gegenstände des anschließenden Freskos. Es ist die Ironie des Rokoko: Ein »Bild« wird beinahe bis zum letzten realisiert, »hergestellt«, seine letzte Konsequenz, die Betretbarkeit durch den Menschen wird jedoch gleichzeitig unterbunden, so daß beide Modi in Schwebe gehalten werden, ein Modus den anderen knapp vor der Realisierung aufhebt. Die »Bevölkerung« der Rocaille bleibt ein bildhafter Wunschtraum. Anzumerken ist hier, daß im Rokoko wie kaum in einer anderen Epoche der Kunstgeschichte das Bild Schauplatz traumhafter Phantasie war, Ort eines Geschehens, das in den seltensten Fällen nicht arkadisch, nicht mythologisch, nicht ideal-erotisch (im Sinne des goldenen Zeitalters], nicht idyllisch war. Insofeme bleibt auch die gebaute, realisierte Rocaille bildhafter Schauplatz. In ihr war dem Menschen das unbetretbare Arkadien noch nie so nahe. Ein wirkliches Betreten aber wäre einem Sündenfall gegenüber dem Tabu des Bildes gleichgekommen. DIE GROTTE DER MARIE ANTOINETTE

Erst zu Ende des Rokoko wurde Rocaille wirklich gebaut. Gleichzeitig damit wurde das Tabu einer Epoche gebrochen. Im Englischen Garten des Petit Trianon, ab 1777 von Caraman und Mique angelegt, steht neben einem antikischen Tempietto und einem Belvedere eine künstliche Felsengruppe, die zweifellos eine monumentale Erdrocaille ist (Abb. 89). Eine etwa fünf Meter hohe Steinauftürmung, ein Miniaturgebirge, flach silhouettiert, zeigt typische RocailleMerkmale: Fransige Zackungen, C-Bogen-Schwünge aufgetürmten Gesteins, Flächigkeit. Oben sind Wasserrohre versteckt, die Quellen entspringen lassen die, nach Rocaille-Art, wieder im Stein versiegen. Diese Rocaille ist wirklich betretbar, sie ist mit den üblichen Durchlöcherungen versehen, durch die, über zierliche Holzstege, der Weg führt. In schmerzliche Gedanken versunken saß hier die Königin, als ein Page erschien, um 59

die Meldung von dem drohenden Herannahen des Pariser Volkes zu überbringen . . . (Mme. de Campan). Genetisch liegt jedoch in diesem Fall keine Translation der Erdrocaille aus dem Ornamentstich in gebaute Wirklichkeit vor. Die Grotte der Marie Antoinette dürfte vielmehr angeregt sein von den chinesischen Rupes arte factae, den künstlichen Gebirgen in den kaiserlichen Gärten Pekings. Seit 1665 Joan Nieuhof in seiner Gezantsdiap . . . diese Clippen door Const gemaakt in einem Stich vorstellte (Abb. 90), waren diese Gegenstand der abendländischen Phantasie (Fischer von Erlach!). Da führten Treppen in luftige Höhen, waren die Berge innen bewohnbar, ergaben sich tausenderlei ungewöhnliche Aspekte des lustwandelns. Kan't menschelijk vemunft iet zeltzamer verzinnen, Waar meeu de Kunst Natuur zoo eigentlijk verbeeldtt Eine kleine Nachahmung dieser Wunder ist die Grotte der Marie Antoinette. Daß man sie gleichzeitig jedoch für eine Erdrocaille halten könnte, ist nicht zufällig. Offensichtlich ist nämlich bereits die Form der Erdrocaille mitangeregt von den Rupes arte factae. Schon in der Frühzeit des Porzellans beispielsweise (bei Kandier) finden sich auf Chinoiserien Bilder durchlöcherter, zackiger, flacher Felsbildungen, eben der künstlichen Felsen, die Erdrocaillen zum Verwechseln ähnlich sehen. Und wenn man will, kann man schon auf dem Stich von Nieuhof in Ansätzen einige der Stilkriterien der Rocaille finden: Das Bizarre unkontrollierbarer Proportionalitäten und das Spielerische in den Dimensionen; etwas, was das 18. Jahrhundert an China faszinierte und oft mit dem Exotischen geradezu identifizierte. Nicht ostasiatische Muschelbilder und ostasiatisches Ornament, die künstlichen Felsen von Peking haben die Forme rocaille in ihrer Bildstruktur und ihrer Materie beeinflußt. Insofern ist die Grotte der Marie Antoinette auch realisierte Rocaille. Offensichtlich ist um das Jahr 1777 jener Punkt erreicht, an dem eine Realisierung der Forme rocaille oder des Gedankens der Rupes arte factae nicht mehr, wie dreißig Jahre vorher, die Zerstörung des eigentlichen, phantastischen Sinnes bedeutete. So, wie bei Crusius das Ornament zum Naturgegenstand wurde und damit das Ornamentale zu einem Abstraktum hinter realer, natürlicher Form, so ist es ähnlich mit der Grotte der Marie Antoinette. Das Omamentale ist hier totaliter Naturform, Fels geworden, die ehemalige Bildgegenständlichkeit kann jetzt reine Gegenständlichkeit sein — aber es ist damit ein Tabu gebrochen. Das Ornament ist damit tot. Man könnte sogar sagen, daß mit den realiter nachgeahmten künstlichen Felschen Chinas auch die Chinoiserie, ein Parallelphänomen des Style rocaille, getötet wurde. JEAN PILLEMENT Schwierig zu beantworten ist die Frage, warum der Style rocaille erst relativ spät eine engere Verbindung mit der Chinamode einging. Der Hauptmeister dieser Verbindung ist Jean Pillement, dessen Stichserien meist in die 6oer und yoer Jahre zu setzen sind. In der Suite de Jeu Chinois (Abb. 91) bilden C-Bogen, jetzt ausschließlich aus der 60

Materie der Erdrocaille bestehend, ein in den Himmel ragendes Gerüst, in dem sich bizarr-exotische Szenen abspielen. Es ist in etwa das französische Analogon zur Stilstufe Nilson—Crusius. Das Ornament ist ganz Natur geworden, Mirakel aus Holz und Stein. Geblieben ist die mikromegalische Struktur, hier ihre Affinität zum China-Genre offenbarend. Man muß sich vergegenwärtigen, daß dieses Ornament gleichzeitig ist mit den Bildern von Hubert Robert und mit diesen den eigenartigen »Vertikalismus«, das Aufeinandertürmen von Bildelementen gemeinsam hat. Zugleich schöpft Pillement eine allerletzte Möglichkeit des Rokokoornaments aus, weitergehend als etwa Crusius. Während der Letztere jeweils den einzelnen Rocaille-CBogen, das Trumm, zu Natur werden läßt, baut Pillement ein neues Grotesken-System aus einzelnen Rocaille-Trümmem auf. Einzelne Bilder von Erdrocaille sind hier eine groteske Synthese eingegangen; damit aber hat sich ein Kreis geschlossen. Das aus der alten Groteske herausentwickelte bildgegenständliche Ornament bildet nämlich bei Pillement den r e a l e n Gegenstand, der erst durch die groteske Kombinatorik wieder zu Ornament wird. Ein neues Element sind auch die außergewöhnlichen Blumenmotive im Genre pittoresque von Pillement. Bislang spielten Blüten und Blumen eine geringe Rolle; jetzt gibt es rocaille-ähnliche Ausformungen, die nur noch aus solchen bestehen. Das Groteskenschema, die mikromegalische Struktur wird in den Blumen-Stichen von Pillement beibehalten und dadurch ein neuer Effekt erzielt: Eine Serie heißt Fleures peisannes (Abb. 92); hier sind exotische Blumen so dargestellt, daß es genauso große, phantastische Bäume sein könnten — so, wie Bäume auf anderen Stichen Blumen zu sein scheinen. -SEIN UND SCHEIN« DER ROCAILLE In ihrer Bildgegenständlichkeit und in ihrer inhaltlichen Bedeutung ist die Rocaille ein Grenzfall innerhalb der Kategorie des Ornaments. Gleichzeitig ist sie reines Ornament. Das bestimmt ihren eigenartigen Realitätscharakter. Sie ist die kritische Form des Verhältnisses des Rokoko zur Realität im Kunstwerk. Ein Stich von Nilson, Neues Caffehaus (knapp vor 1756) (Abb. 93), ist eines der seltsamsten Bilder, die der Stil hervorgebracht hat. Ein einfaches Haus ist in Frontalansicht zu sehen, daneben Menschen, im Hintergrund eine Ruinenarchitektur. In der allervordersten Bildschicht aber, in der des Rahmens, steigt aus dem Erdboden eine riesige Rocaille hoch und legt sich vor die Hausfassade, diese weitgehend bedeckend, nur noch Löcher für Türe und Fenster aussparend. An den Hausecken rollt sie sich leicht nach hinten; man glaubt, sie an einem Zipfel fassen und wegziehen zu könnnen. Gleich wucherndem Efeu ist dem Haus etwas appliziert, was in der Materie als das Natürliche und Ruinöse an sich definiert wurde. Es wächst hier hoch und umklammert das Haus wie eine ornamentale Paraphrase. Aber es bleibt gleichzeitig nur eben Paraphrase. Das Ruinöse, Natürliche greift dieses Haus nicht an, es bleibt in einer anderen Realitätsebene, bleibt Ornament, der gleichen Realitätsschicht angehörend wie der RocailleRahmen des Blattes, aus dem es hervorwächst. 61

Die Rocaille greift also ins Bild ein und bleibt zugleich diesem Bild nur vorgelegt wie eine Wucherung des Rahmens. Das Bild scheint sich in einem von Rocaille fast verdeckten Spiegel zu spiegeln. Noch einmal klingt das Meissonnier—La Jouesche Motiv der Buffet-Rocaille an. Ein anderer Stich von Nilson zeigt das noch deutlicher: In den Gartouches modernes (Abb. 93) (etwa r/55) sieht man einen Rocaille-Rahmen, mit Löchern darin, die wie von Spiegelglas hinterlegt erscheinen. Darin nun stehen Figuren, seltsam raumlos schwebend, eben wie gespiegelt. Die dem Caffehaus vorgelegte Rocaille liegt, trotz einiger Eingriffe in das Bild, in der Rahmen-Schicht. In dieser Rahmen-Funktion, der eigentlichen ornamentalen Funktion, taucht an der Rocaille ein in der Kunstgeschichte bis dahin sehr seltenes Phänomen auf. Michalski kommt diesem sehr nahe, wenn er schreibt: Mit der dekorativen Note des Rokokos hängt es auch zusammen, daß das einzelne Kunstwerk viel/ach in einen Zusammenhang gebunden ist, der eine Realitätsillusion von vornherein ausschließt. Am schlagendsten wird dies an einem kleinen Kruzifix des Lucas Anton Auvera deutlich, das von einem Rocaillerahmen umgeben ist, der aber nicht einen entfeinbaren Rahmen darstellt, sondern mit dem Linienschwung des Chnstuskörpers zusammen konzipiert ist. Das Ornament der Rocaille greift in das Bildgefüge des Gerahmten ein. Ob es ein Kruzifix direkt in seiner Silhouette erfaßt, oder, wie bei Nilson, vor einem Haus aus dem Erdboden hochwächst und dieses Haus im Bild umklammert, das ist beide Male ein ähnliches Prinzip. Da gleichzeitig das Ornament Ornament bleibt, nie voll in die Bildgegenständlichkeit hineinwechselt, ergibt sich eine entscheidende Konsequenz: Das Bild, das Gerahmte wird in seiner Dimensionierung abhängig von der objektiven Dimension des Rahmenornaments. Wenn die Rocaille als R a h m e n zugleich aus dem Boden des B i l d e s herauswächst, dann ist das so gerahmte Bild eines Hauses nicht mehr reines Abbild, dieses Haus als Gegenstand der Abbildung wird in dieser von seiner Hausgröße reduziert auf die objektive Größe des Ornaments, wird so groß wie dieses, wie realiter der Rahmen. Das Kunstwerk im extremen Rocaille-Rahmen verfällt der mikromegalischen Struktur der Rocaille. Es wird mit dem Unwirklichkeitsakzent dargeboten, in ästhetische Distanz abgerückt, dem Theater vergleichbar, das aber nicht mehr das durch Realitätsillusion wirkenwollende Theater des kirchlichen Barocks i s t . . . (Michalski). Rocaille ist eine ästhetische Schranke. Einige Parallelphänomene dazu, etwa das Anbringen von Landschaften an der Deckenöffnung über Räumen, wo ebenfalls ein Überschreiten der ästhetischen Bildgrenze nicht mehr voll möglich ist, zählt Michalski auf. Das barocke Prinzip der illusionistischen Erweiterung des Realraumes in den Kunstraum ist zerstört. Allein dieses Phänomen nur einseitig als dialektische Umkehr zu sehen, heißt dem Rokoko unrecht tun. Die Erscheinung ist vielmehr ambivalent. Die Rocaille ist eine ästhetische Grenze, die anti-illusionistisch wirkt. Gleichzeitig jedoch ist sie selbst bereits Bild, saugt als Rahmen die Realität des dahinterliegenden Bildes an sich nach vorne und versetzt damit den Betrachter in eine eigene Bildwelt, die zwischen ihm und dem Abbild liegt. In der Skizze (S. 63) liegt zwischen Betrachter und Bild ein Rocaille-Rahmen. Die Pfeile geben den Weg des Kontaktes zwischen Betrachter und Bild und umgekehrt an. 62

mikromegalische Bildveränderung Rocaille

Abbild Bildgegenständiichkeitsfausch

-·* O Befrachter Bild'vorwegnähme

Während dabei einerseits der Weg zum Bild durch die bildhaften Elemente des Rahmens abgekürzt und gleichzeitig erschwert wird, verdeckt der Rocaille-Rahmen das Abbild teilweise durch diese Vorwegnahme bildgegenständlicher Realitäten. Durch wechselseitige Modifizierungen wird das Bild ornamental im Sinne mikromegalischer Struktur und die Rocaille des Rahmens bildgegenständlich im Sinne einer vorweggenommenen Realitätsillusion. Entscheidend jedoch ist, daß der Vorgang nie eindeutig ist. Er ist vielmehr »unmoralisches« Spiel mit dem Kunstwerk. Dieses wird entzaubert, als »nur« Kunstwerk hingestellt, gleichzeitig aber scheint das Kunstwerk von solcher Macht zu sein, daß es selbst ungegenständliche Omamentformen in den Bann seiner Realitätsillusion zu schlagen vermag. Das Ergebnis ist ein Kunstwerk v o r dem Kunstwerk, eine eigene Welt, die lange Zeit verschleiert, daß das Dahinter verlorengegangen ist. Es ist die Ironie des Rokoko. DAS ENDE DER ROCAILLE UND IHRE KLASSIZISTISCHE UMSETZUNG DIE LITERARISCHE REAKTION Es wäre unsinnig, das Ende des Rokoko und der Rocaille auf ein Jahr genau festlegen zu wollen. Was noch lange, sogar bis ins nächste Jahrhundert hinein in der Volkskunst sichtbar ist, das war schon gegen 1750 Gegenstand der Kritik des akademischen Klassizismus. Gegen 1770 allerdings distanzierte sich sogar Augsburg vom inzwischen berühmt gewordenen »schlechten Augsburger Geschmack«. Auf einem Stich Nilsons aus diesem Jahr (Abb. 95) steht neben einem von Sphinxen flankierten klassizistischen Urnen-Aufbau ein Mann und zerreißt eine Zeichnung von Rocaille, Muschel-Werck unterschrieben. Es ist ein öffentliches »peccavi«, in dem der Akademieprofessor sich von seinem Lebenswerk distanziert. Kurz vorher war ein Freund Nilsons, Rektor Mertens in Meusels Miscellaneen gegen die Rocaille zu Feld gezogen. Man habe eine Zeitlang nur die Schnörkel geliebt und daher scheint auch manches Standbild das Bauchgrimmen zu haben oder Menuett tanzen zu wollen statt eine mit emstem Nachdenken beschäftigte Seele erkennen zu lassen. Schon 1742 schrieb ein Anonymus R. (ReifTstein) in Gottscheds Neuer Büchersaal der

schönen Wissenscha/ten und freien Künste (Bd. II.): Diese wilden und unnatürlichen Gestalten, ihre unwahrscheinliche und unmögliche Verbindung, die vfillküiliche und regellose Zusammenfügung des Natürlichen mit dem Unnatürlichen, die man zur Schande der Kunst und des jetzigen so erleuchteten Weltalters den prächtigsten Gebäuden und Denkmälern einverleibt, stammen aus Frankreich, sind aber namentlich von Augsburg und Nürnberg aus über ganz Deutschland verbreitet worden. Das war kaum ein oder zwei Jahre, nachdem überhaupt die ersten Ornamentstiche mit Rocaille auf dem Markt erschienen waren. In Frankreich selbst wetterte Cochin fils 1754 im Mercure de France gegen das neue Genre in Form einer satirischen »Verteidigung«. Die Invective Reifsteins von 1746 wurde bereits zitiert. 1747 schrieb, wiederum in Gottscheds Neuer Büchersaal (IV, 5. Stück, 411 ff) J. Gg. Fünck, ein Knobelsdorfschüler Betrachtungen über den wahren Geschmack der Alten in der Baukunst und über desselben Verfall in neueren Zeiten und verteidigt darin die Ordnung in der Architektur: Diese angenehme Wissenschaft belustigt den Künstler nicht allein bey der Arbeit, sondern sie entdecket und bekräftiget auch die Voittefflichkeit der reinen Glieder, als der einzigen wesentlichen und wahren Zierrathen der Baukunst (!!). Wären alle neuem Erfinder behutsam oder fähig genug gewesen, ihre Erfindungen durch diese Prüfung zu bewähren: so hätten sie das Ungereimte des einreißenden Grillen- und Muschelwerks schon längst eingesehen und verworfen. Man stelle dasselbe doch nur in die Perspectiv, und sehe sodann, ob es möglich sey, an desselben fhckrichten Aus- und Einbiegungen die geringste Schönheit zu bemerken} Und da bereits vorhin erwähnet worden, daß die Schönheit in der Baukunst zugleich in dem Ansehen der Dauer und Stärke besteht: so findet sich bey dem neuen Gnllenwerke eben das Gegentheil; indem dasselbe beständig das Ansehen einer schwachen, zarten und angeklebten Materie behält, die keine Last zu stützen und zu tragen, sondern bloß das Wasser an sich zu halten, und dadurch seinen eigenen Verfall desto geschwinder zu befördern scheint. Das, was derKlassizist den eigenen Verfall der Rocaille nennt, ist das, was im Vorangehenden das Ruinöse und das Natürliche der Rocaille-Materie genannt wurde. Doch diese Bestätigung der Definition ist nicht das Wesentliche. Die entscheidenden Sätze sind die, in denen eine architektonische Theorie auf das Ornament übertragen wird. Wie es überhaupt zu dieser Transponierung kommen konnte, das ist durch die Struktur-Analyse der Rocaille klar geworden: Diese selbst ist von der Kategorie des Ornaments in die der Architektur hinübergewechselt. Wenn sie zum quasi-architektonischen Bildgegenstand wurde, ist es nicht erstaunlich, daß an sie architekturtheoretische Maßstäbe angelegt werden. Erst damit ist die Voraussetzung gegeben, daß an die Rocaille die Forderung gestellt wird, Last zu stützen und zu tragen. Bemerkenswert ist auch noch die Bemerkung Füncks, daß die maßvolle Anwendung der Rocaille an beweglichen Dingen und in der Innendekoration noch am ehesten berechtigt sei. In ihr wird das Dilemma des frühen Klassizismus deutlich. Das Ornament als wesenhaft mit der Architektur verbundene Kategorie ist von der Architektur abgestoßen worden. Das aber noch stark vorhandene Schmuckbedürfnis hat sich einen Ausweg gesucht in einer Transponierung des architektonischen Gedankens auf das Orna64

ment und umgekehrt: Wie noch nachzuweisen sein wird, sind viele Elemente der klassizistischen Architektur des achtzehnten Jahrhunderts entstanden aus einer Verwandlung des Ornaments in Architektur. 1759 schlägt F. A. Krubsacius bei Gottsched (Das Neueste aus dez anmuthigen Gelehrsamkeit, l, 22 und III, 1755) vor: Daß alle Künstler und Handwerker nichts zur Verzierung annehmen sollen, als was der Natur und der Sache gemäß wäre,· dergestalt, daß ein jeder zu sagen wisse, was es eigentlich vorstelle, und aus vernünftigen Gründen darthun könne, warum er es lieber so, als anders gemacht habe. Daß es nicht ganz einfach ist, zu sagen, was die Rocaille eigentlich vorstelle, wird durch diese Untersuchung bewiesen. Krubsacius legt ebenfalls dar, aus was sie bestehe und kommt dabei zu einem — was die Gegenstände betrifft — sehr ungünstigen Ergebnis: Es wäre zu wünschen, daß eine Gesellschaft geschickter Meister in Nürnberg oder Augspurg, anstatt ihrer vielen einzelnen Blätter, eine vollständige und regelmäßige Anweisung, zu allen Arten der Verzierungen in allen Künsten und Handwerken, die derselben fähig wären, nach Art des preißlenschen Zeichnungsbuches, an den Tag gäben: so würde mancher sich nicht in den Sinn kommen lassen, einen Held in einer Muschel vorzustellen; welches doch leider! und nochweit ärger geschieht, da es oft Leute gibt, die nicht selber erfinden können, sondern einem elenden Kupferstiche nachahmen; oder, wenn es hochkömmt, aus vielen einen zarten Harlekinsrock zusammenrücken . . . ist es denn also nöthig, eine Sache mit lauter Hirngespinsten zu verzieren, mit Dingen, die in der Welt nicht zu finden sind, oder die sich nicht schicken} Und da ein jeder Verständiger, der da fraget, was es denn eigentlich vorstellen soll, sich mit der Antwort begnügen muß: es sey Grotesque, Arabesque, a la chinoise oder en Göut harroque kurz um, es sey Mode! O welch eine schlechte Antwort von einem Künstler! Dieweil sie also selber nicht wissen, was es seyn soll: so nehme ich mir die Freyheit, es ihnen durch beygefügtes Exempel (Abb. 96) zu erklären und zu sagen: Es sey ein Mischmasch, a) Von Schilf und Stroh, b) Knochen, c) Scherbein, d) Spänen, e) Flederwischen, f) verwelkten Blumen, g) zerbrochenen Muscheln, h) Lappen, i) Federn, k) Hobelspänen, 1) abgeschnittenen Haarlocken, m) Steinen, n) Fischschuppen,

o) Gräten, ) Schwänzen und q) Besenreisig, voller Diachen, Schlangen und andeim Ungeziefer, denen es am meisten ähnlich sieht. Nun mögen mir zwar einige vorwerfen, als ob dieses Schild bloß zu dem Ende erfunden sey; solches gestehe ich zu: ich habe gern ohne jemandes Beleidigung, durch Anführung seiner Werke, einen Auszug heutiger Zierathen haben wollen: und bedaure nur, daß es nicht noch weit verzogener gezeichnet ist. Resümiert man die Argumente gegen das Muschelwerk, so zeigt sich, daß diese sich gegen dreierlei richten: 1. gegen die niederen Gegenstände in der Ornamentmaterie, 2. Gegen die mikromegalische, also irrationale Struktur der Rocaille und 3. gegen die anti-tektonische, anti-vitruvische Verhaltensweise derselben. Gleichzeitig setzt sich wieder jene klassizistische, über Gerard de Lairesse weit zurückgehende Forderung der adaequaten Ikonologie an der Architektur durch. Auf die Frage, was denn überhaupt als Zier der Gebäude dienen könne, antwortet Krubsacius: Fruchthörner, Blumen- und Obstgehenke, Kränze, Zweige, Gefäße, Waffen, und höchstens ein Schild in der Mitte mit leichten Rollen, als Baumrinden der Alten, zur Aufschrift; die sich von der Luft eben so zusammenrollten, und daraus man zur Noth den Verzierern ihre so hochgeschätzten Schilder oder Cartouchen herleiten und entschuldigen könnte. Diese Interpretation der (Rollwerk-)Kartusche als stilisierte Übersetzung der beschriebenen Baumrinde fällt in die gleiche Zeit, da Crusius aus der Rocaille den hohlen Baum, den reinen Naturgegenstand schuf. Es erscheint wie ein Treppenwitz der Kunstgeschichte, daß die Theorie des Krubsacius zu einem Zeitpunkt entsteht, da in der Rocaille das Ornament nicht ausgeht von der Naturform, sondern in diese einmündet. Historisch gesehen aber ist beides, das dergestalte Ende der Rocaille und diese Theorie vom Ornament Parallelphänomen, Ergebnis ähnlichen Kunstwollens. DIE KLASSIZISTISCHE UMSETZUNG DER ROCAILLE

Identifizierte die literarische Reaktion gegen die Rocaille Ornament und Architektur und stellte die Forderungen der Tektonik an das Ornament, so war das nur möglich, weil das Ornament bildgegenständliche Pseudo-Architektur geworden war. Übersetzt man nun, der Theorie folgend, die einzelnen Formen der Forme rocaille in tektonische, antikische Glieder, so entsteht eine Architektur von eigenartiger Realität, seltsam zwecklos, in den Dimensionierungen vage, monumenthaft, papieren. Damit ist eine frühklassizistische Architekturgattung beschrieben, in der man tatsächlich eine Umsetzung und direkte Nachfolge der Rocaille sehen darf. Die Umsetzung erfolgte zunächst bei jenen Meistern, die oft ursprünglich im Style rocaille arbeiteten, um dann »Klassizisten« zu werden. In Frankreich sind es Delafosse, in Deutschland der späte Nilson und andere Augsburger, in München der jüngere Cuvil66

H6s. Eine gute Gelegenheit, den Vorgang der Transponierung zu beobachten, bietet das Reihenwerk Nilsons. Bei diesem ist das Verlagswerk zwischen den Nummern L und LXX, den Zeitraum von 1768 bis 1780 füllend, beherrscht von antikischer Monument-Architektur. Aus der Forme locaille ist hier Architecture propre a differens usages (Titel eines Blattes von Cuvillies fils) (Abb. 105) geworden. Diese Architektur verschiedenen Zweckes kann auch Aidiitektisdie Laubwerke nach heutiger Art zu verschiedenem Gebrauch (Abb. 96) (Nilson) heißen; und allein diese Titel beweisen, daß es sich hier um eine Nachfolge der alten Ornamentvorlagen handelt. Ein Blatt Nilsons (Nr. LVIII, knapp vor 1770) heißt Der liebe Morgen (Abb. 99): Auf einem streng geradlinigen Sockel, wie eben die Sockel klassischer Monumente sind, steht — eine Beschreibung ist schwierig — die Wand eines Hauses, mit einem Fenster darin, aus dem eine Frau blickt. Diesem Hausgebilde ist ein Rahmen vorgelegt, achteckig und geradkantig. Dieser Rahmen ist es eigentlich, der auf dem Podest steht. Aber das Hausfenster, das er rahmt, ist zugleich mit Monument, dahinterstehend und Inhalt des Rahmens. Es ist eine Anlage, die trotz ihrer klassizistischen Attitüde tektonisch völlig unlogisch ist und in der Kombinatorik von verschiedenen Realitäten einen eigenartigen Eindruck macht. Ein Bildrahmen, noch dazu zerbrochen, steht schwer steinern auf einem Sockel und rahmt das Bild von einem Fenster, das wiederum nicht nur Bild bleibt, sondern auch auf dem Sockel steht. Es ist eine direkte Umsetzung einer Forme rocaille in klassizistische Formen. Das zeigt ein Vergleich mit einem früheren Nilson-Stich, dem Gartenwerck auf dem Lande (Abb. 97). Auf diesem steht eine Forme rocaille in einem Garten und ist zugleich Rahmen eines Bildes. Es ist die alte Koppelung von Rahmenfunktion und Bildgegenständlichkeit der Rocaille. In dem Stich vom lieben Morgen ist dieses Prinzip unverändert übernommen. Nur das Ornament ist zum tektonisch gebauten Steinwerk geworden, wie die Theorie es befahl. Die Rocaille ist jetzt, transponiert in die klassizistische Form, Monument geworden. Eine Entwicklung, die sich schon zu Beginn der Epoche abzeichnete. Selbst das Ruinöse der Rocaille ist mitübersetzt. Der zerbrochene Steinrahmen ragt in die Luft wie ehemals eine ruinöse C-Kurve; das Podest hat Risse und Kerben. Hier in dieser Translation der Rocaille zur Monument-Architektur verschiedenen Zweckes hat die Bildgegenständlichkeit des Rokokoornaments eine letzte Konsequenz erreicht, so, wie in anderer Richtung, in den Bäumen und Felsen des Crusius. Aus dieser Translation ergibt sich für diese »Architektur« ein »rahmender« Charakter. In all diesen und ähnlichen Monumenten ist es, als würde durch sie ein ikonologischer Gedanke »gerahmt«. Das rührt daher, daß die Kartuschen-Funktion, die RahmenFunktion, mit übernommen wurde. Im Stich einer anderen Nilson-Serie (XLVIII) (Abb. 103) stehen zwei Pfeiler in einer Landschaft, einen Halbkreis aus Stein tragend, von Blumen überwachsen, leer und weiß. Da ist ein Steinsockel, davor ein Rahmen-Oval mit leerer, weißer Mitte. Es ist als blicke man auf ein Nichts im Hintergrund. Immer herrscht bei diesen »Monumenten« ein 67

Zwiespalt zwischen »Monumentalität« und dem Kleinteiligen einer Rahmenform. Es sind Architekturen und zugleich kleine Bildrahmen. Immer noch ist die mikromegalische Struktur der Forme locaille spürbar. Sie sind flach und untief und zugleich mächtiges Ding. Die ornamentale Genese ist evident. Und gerade dies ist es, was sie etwas lächerlich erscheinen läßt. Das Ornament der Rocaille ist zwar in tektonische Glieder, die die Forderung der klassizistischen Theorie erfüllen, übersetzt, aber der KartuschenCharakter ist zunächst noch verblieben. Diese Gebilde sind immer noch »Rahmen für irgend etwas«. Eine weitere Stufe in der Entwicklung ist nun, daß diese Rahmenfunktion an sich idealisiert wird. Das »Rahmende« wird objektiviert, der zu rahmende Gegenstand selbst bleibt unbestimmt, aber sein Dasein, sein Wesen wird vom Rahmen aufgesaugt. Jetzt ist eine leere Kartusche selbst Monument. I n h a l t i h r e r s e l b s t . Die Aussage des Monuments wird in dessen Rahmenhaftigkeit deutlich gemacht und der Inhalt auf sentimentale Weise offengelassen. Die letzte Folge des Style rocaille ist, daß der Rahmen als Monument zum Inhalt wird. Nicht zuletzt resultiert aus dieser Monument-Architektur rahmenden Charakters, in der ein »Rahmenhaftes« jedem inhaltlichen Gedanken offensteht die Architecture parlante. Ikonologische Gedanken können jetzt die Nachfole des Ornaments antreten. Die Iconologie von Delafosse (Abb. 102,) ist so zu verstehen: Als Translation des Ornaments in Architektur. Wie im Rokoko die Forme rocaille, das Ornament, das Rahmende, Träger eines ikonologischen Gedankens war und zugleich Bildgegenstand, so ist jetzt Architektur als dessen Nachfolge Träger einer Ikonologie. Unter diesem Aspekt muß selbst noch die Architektur von Ledoux gesehen werden. Das Projekt der Salinenstadt von Chaux, wo jedes Gebäude Rückschlüsse auf den Zweck oder die Bewohner ermöglichen soll, ist Nachfahre der Ornamentstiche eines Lajoue oder Babel. Das Haus der Reifenmacher (Abb. ) ist ein stehender Kreis, das MeilerHaus erne Pyramide. Hier hat die Architektur verschiedenen Zwecks den Schritt vom — immer noch — kleinen Ornamentstich-Monument zur Ideal-Architektur getan. Ikonologie als vordem Ornamentrahmen ist jetzt zum Monument, zum Haus geworden — wenigsten auf dem Papier. Es ist eine letzte Folge der Bildgegenständlichkeit des ikonologischen Ornaments. Das Erschreckende an dem Projekt von Ledoux rührt daher, daß die Idee etwa eines Reifens in einem Haus jetzt riesig und voll gegenständlich fixiert wurde. Wir wären ebenso konsterniert, wenn das Caffehaus von Nilson wirklich in Augsburg stünde. Sicherlich erklärt dies nur einen Teil der Genese solcher Architektur. Denn zugleich ist diese in ein neues Stadium getreten, das sich vor allem durch die Verwendung archaischer und geometrischer Formen auszeichnet. Das Barock ist jetzt endgültig zu Ende. Aber dieses Ende ist gekennzeichnet dadurch, daß das Ornament sich auflöst in neuen ikonologischen Anforderungen an die Architektur. Die Architecture parlante ist das Ornament des Klassizismus, so, wie andererseits die »natürlichen« Gegenstände der romantischen Malerei die Kategorie des Ornaments ersetzen.

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DAS ENDE DER »EIGENTLICHEN« ROCAILLE

Derselbe Nilson, der neben einem klassizistischen Monument ein Blatt mit Muschel Weick zerreißt, übersetzte in eben diesem Monument die Forme mcaille in die »heutige Art«. Nachdem jedoch Forme mcaille nicht gleichbedeutend ist mit Rocaille, also dem allgemeinen Muschel-Ornament des Rokoko, ist die Frage berechtigt, wie dieses allgemein gegen 1770 endete. Dies geschah so, wie Krubsacius in seiner Theorie es forderte: Auf dem Nilsonstich von 1770 (Abb. 95) ist dem Monumentsockel eine Kartusche angeheftet, die als eine Translation der alten Rocaille anzusehen ist, jetzt aber als simples Rollwerk den Forderungen des Krubsacius entspricht, daß sie ähnlich der gerollten SchriftRinde der Alten sein solle. Jetzt wird der Historismus wirksam; die mannigfachen Möglichkeiten der Stilrezeptionen werden genutzt. In Nilsons Serie der Aichitectisdien Laubweicke ist aus dem Rocaille-Rand Akanthus im Sinne des späten 17. Jahrhunderts geworden, andere Blätter bringen Grotesken-Motive des Cinquecento. Und ein Blatt (LXVIII) von 1779 (Abb. 100) bringt sogar wieder Rocaille! Über einer Kartusche sitzt ein Maskaron, das hinterlegt ist von einer Muschel-Palmette der Art Berains, wie sie der Ausgangspunkt in der Genese der Rocaille war. Wie in Frankreich Pillement an das alte Groteskensystem anschließt, so greift der Historismus bei Nilson auf eine knapp vergangene Epoche zurück. Rocaille als Muschelrand schrumpft zurück zu Rollwerk, Akanthus und Palmette. Aber dies ist nur ein Epiphänomen zum wirklichen Ende der Rocaille, es ist der Vorgang, in dem sich das V e r s c h w i n d e n manifestiert. Das eigentliche E n d e wurde im vorangehenden Kapitel beschrieben. Es gibt einen Stich des jüngeren Cuvillies von 1767, Amortissement Antique (Abb. 104), der alles zusammenfaßt. Oben sieht man einen wilden Stein, als Kartusche beschriftet, der noch halb Erdrocaille wie bei Crusius ist. Darunter steht eine MonumentArchitektur als Translation der Forme Tocaille in antikisch-tektonische Formen,· und in deren Giebelfeld liegt eine »eigentliche« Rocaille, muschelartige Masse, die mit einem Widderkopf verwachsen ist (was die richtige Rocaille nicht kannte!): Es ist die »VorRocaille«, wie sie im Hochbarock und später noch bei Oppenordt zu finden ist: Hier eine historistische Rezeption, die nicht mehr auf einer Weiterentwicklung der RokokoRocaille beruht, sondern bewußter Rückgriff ist. STYLE ROCAILLE ALS »

-STIL«

DIE INTERKATEGORIALEN VERSCHIEBUNGEN

Fiske Kimball definierte das Rokoko als einen Dekorationsstil des Louis XV. Von deutschen Gelehrten wurde dies, teilweise äußerst scharf, zurückgewiesen; vor allem aus zwei Gründen: Weil man die Ersterfindung nicht Frankreich überlassen wollte (obwohl ein Gegenbeweis nicht zu führen ist) und weil man nicht geneigt war zuzugeben, daß der zentrale Stil einer Epoche nur ein Gattungsstil sein sollte. Was das letztere be69

trifft, erfolgte die Kritik zu Recht. Die Geschichte einer Epoche — und Rokoko ist eine Epoche — läßt sich nicht abstrahieren aus dem Erfindungs-Primat einer Kunstgattung. Dabei ist Kimballs Ansatzpunkt richtig. Eine der großen strukturformenden Kräfte des Rokoko ist die Auseinandersetzung der Kategorie des Ornamentalen mit den Kategorien Architektur und Bild, wobei der Stilablauf in diesen einzelnen Kategorien nicht synchron und parallel erfolgte. Betrachtet man das Rokoko nach dem Gesichtspunkt des Verhältnisses der einzelnen Kunstkategorien zueinander, so wird man erhebliche interkategoriale Verschiebungen fetsteilen, die das Rokoko als einen Stil zwischen Barock und Klassizismus kennzeichnen und herausheben. Gleichzeitig mit diesen kategorialen Verschiebungen wechselte im Abendland die geistige Führung (man verzeihe diese Vereinfachung). Nachdem der r ö m i s c h e Hochbarock als erste stilbildende Kraft abgelöst worden war vom Sonnenkönigtum F r a n k r e i c h s , oder besser gesagt von Versailles, war auch noch bis zur Jahrhundertmitte der Pariser Salon das europäische Vorbild. Dann übernahm das bürgerlich-liberale und industrielle E n g l a n d den Primat, gegen das Jahrhundertende wiederum abgelöst von der d e u t s c h e n Klassik und Romantik. Die grobe Abstrahierung mag an ein Geschichtsbuch für die Oberprima erinnern. Und sie soll auch nur dazu dienen, den Hintergrund der oben erwähnten interkategorialen Verschiebungen anzudeuten. Die klassische Epoche Frankreichs hatte in ihren architektoninischen Normen von Italien her eingedrungene barocke Tendenzen gleichsam in den Untergrund verdrängt. Der Fall Meissonnier illustriert dies sehr gut. Dessen Auftraggeber waren nur die durch die Heirat Ludwig XV. zu Pariser Würden gekommenen Polen — also die periphere Provinz (so wie Deutschland mit seiner Übernahme des Meissonnier-Stiles eine war). Schließlich war der Ornamentstich diesem Meissonnier die einzige Möglichkeit der Realisierung seiner künstlerischen Ideen. Fragt man sich, in welcher Tradition diese Ideen standen, so muß man sie als eine der möglichen und letzten Folgerungen des hochbarocken, italienischen Illusionismus bezeichnen. Die Forme locaille ist, ähnlich wie die phantastischen Bühnenzeichnungen der Bibiena oder Burnacinis ein letzter Versuch einer Illusionierung und Idealisierung der Realität. Daß dabei der Vorgang der Illusionierung nur noch am Ornament und bewußt sichtbar gemacht wird, erweist diesen als l e t z t e n Versuch. Gerade dies ist Rokoko, weniger das offizielle französische Rokoko, als das, was jetzt die Basis neuer Stilbildungen außerhalb Frankreichs sein wird. In England geht (ohne direkten Bezug zu Meissonnier), dieser Illusionismus auf in der exotischen und neogotischen Illusion liberaler Motivselektionen. In Deutschland ist der bewußte und sichtbare Illusionismus, die objektivierte Spannung des Rokoko das Ubergangsstadium zur Romantik. In Italien beherrscht bezeichnenderweise Venedig, England so wesensverwandt, das Rokoko. Gegen Kimball läßt sich damit feststellen, daß das eigentliche Rokoko, ein Stil von besonderen Konsequenzen, zwar in Frankreich entstand, aber an der Peripherie seine Vollendung erfuhr. Die Geschichte des Style rocaille zeigt, daß es der Stil des Übergangs und der Auflösung war. Die Auflösung ist gleichbedeutend mit einer kategorialen Verschiebung

innerhalb der Kunst. Das heißt: Die Kategorien Architektur und Ornament gingen teilweise und an der Peripherie ineinander über. Die Basis für diesen Vorgang, in dem zunächst das Ornament quasi-architektonisch und später die Architektur teilweise Translation ornamentaler Gedanken wurde, war das B i l d . Die Bildhaftigkeit, Bildgegenständlichkeit des Ornaments ermöglichte die Grenzüberschreitung zur Architektur hin. Historisch gesehen ist sie die Folge einer Verdrängung des barocken Illusionismus durch klassizistische Tendenzen. Phänomenologisch betrachtet, bedeutet dieser historisch erklärbare Vorgang eine Flucht und zugleich eine Zerstörung. Eine Flucht in die Unwirklichkeitssphäre des als »nur« Kunst deklarierten Bildes, eine Zerstörung, weil gerade in diesem Ausweg des Illusionismus dieser jetzt als eben »nur« Kunst auftreten mußte. -STIL Es ist ein dialektischer Vorgang, in dem aus der umfassenden barocken Illusion eine Illusionierung der Kunst als solcher wurde. Diese kann man als »Meta-Stil« bezeichnen. »Meta« deshalb, weil in ihr zwischen Kunstwerk und Betrachter ein potenzierendes Zwischenglied steht. Es ist eine Art von Selbstdarstellung der Künste innerhalb einer bildhaften, bildgegenständlichen Erscheinungsweise. In seiner nachgelassenen Philosophie der Kunst (erstmals 1802—03 in Jena vorgetragen) schreibt Schelling (§ in) den eigenartigen Satz: Die Architektur, um schöne Kunst zu sein, muß von sich selbst als Kunst des Bedürfnisses die Potenz oder Nachahmung sein. Die Erläuterung Schellings lautet dazu: Denn ihrem letzten Grund nach bleibt sie (die Architektur) dei Beziehung auf Zweck untergeordnet, indem das Anoigische als solches zur Vernunft nur ein mittelbares Verhältnis, also nie symbolische Bedeutung haben kann. Um also einerseits der Notwendigkeit zu gehorchen, andererseits sich über sie zu erheben, und die subjektive Zweckmäßigkeit zu einer objektiven zu machen, muß sie sich selbst Objekt werden, sich selbst nachahmen. Die kunsthistorischen Folgerungen dieser Sätze scheinen, vor allem so aus dem Zusammenhang gerissen, Auswuchs eines seit Schleiermacher und Croce verpönten Klassifizierungsversuches der Kunst zu sein. Tatsächlich aber sind sie fruchtbarer Ansatzpunkt zum Verständnis der Kunst des späten 18. Jahrhunderts. Es bedarf nur eines kleinen Umweges. Dieser führt zu Goethe und dessen Aufsatzfragment Baukunst von 1795, in dem diese gleiche Theorie bereits entwickelt ist. Nachdem zunächst die Zwecke der Architektur in drei Stufen eingeteilt werden, wird dann die höchste Stufe derselben erläutert und dabei festgestellt, daß auf ihr die Baukunst, obwohl an sich nicht nachahmende Kunst, wieder zu Nachahmung werden müsse. Dies sei die poetische Fiktion in der Baukunst. Und zwar müsse eben die Architektur sich selbst nachahmen. Ein primitives Beispiel ist Goethe hier die Übersetzung der Holzsäule in die Steinsäule; ein verfeinerter Fall ist die Halbsäulenvorlage vor der Wand, denn in dieser sind bildhaft Freisäulen nachgeahmt. Und als Kronzeuge für diesen Fall der Architektur als Kunst im Sinne der poetischen Fiktion wird Palladio zitiert. Architektur stellt sich selbst dar, sie wird in sich selbst abgebildet.

Es ist eine fundamentale Äußerung zum Phänomen der Vorliebe des 18. Jahrhunderts für palladianische Architektur. Vor allem wenn man bedenkt, daß diese, etwa im Bereich des Englischen Gartens, tatsächlich, so wie auch andere historistische Bauten, unter bildhaftem Aspekt auftritt. Architektur ist hier Gegenstand eines Bildes, Selbstdarstellung, Monument ihrer selbst. Und dies ist eines der Ergebnisse der schon erwähnten interkategorialen Verschiebung, in der die Architektur als Bildgegenstand eben dem Bild unterworfen wurde, so, wie das Ornament sich in quasi-architektonischen Formen oder als natürlicher Gegenstand im Bild und in bildgegenständlicher Architektur auflöste. Es ist der Meta-Stil des 18. Jahrhunderts. Eines von dessen Phänomenen ist auch in der Entwicklung des Bühnenbildes zu sehen. Von einer Aufführung der Brüder Galliari in Turin, 1750, schreibt Tintelnot: Das Ruinenbild des Rococo ist zur Bühne geworden, die nichts mehr mit dem Zuschauerraum verbindet. Im Gegenteil: Die Querschicht der vorderen Raumzone unterstreicht den Trennungsstrich der Rampe. Der Einblick des Zuschauers durch den Bühnenraum wird betont. Das Bühnenbild ist umrahmtes Schlachtenbild. Die Bühne ist zur Guckkastenbühne geworden. Und an anderer Stelle heißt es: 1711 erschien in Bologna das entscheidende Werk zur Theaterperspektive, in dem Ferdinando GalliBibiena eine neue Auffassung des Bühnenraumes an Hand genauer perspektivischer Konstruktionsmethode erörterte und ausdrücklich als seine Erfindung bezeichnete. Die neue Theone weicht grundsätzlich von der zentralen Schauachse beider Raumteile des Theaters ab. Ein gänzlich vom Zuschauerraum verschiedenes Achsensystem beherrscht das Bühnenbild, das sich nunmehr nach Öffnung der Bühne in einer Übereckstellung dem Zuschauer gegenüber befindet. Es ist dem Beschauer möglich ,veder le scene per angolo' . . . Auf diese Weise kamen Bilder zustande, die, scheinbar abgeschnitten vom Zuschauerraum, ganz B i l d sind, unabhängige Raumteile. Nach Edmund Stadier konstruierte Ferdinando Galli-Bibiena erstmalig 1703 eine veduta per angolo. Zu seinem Höhepunkt führte die Diagonalperspektive, die er graphisch vollkommen durchdrang, der drittälteste Sohn Ferdinandos, Giuseppe Galli-Bibiena. Der auf der Bühne immer noch auf Kulissen und Prospekten durch Malerei vorgetäuschte Raum hat gegenüber der Achse des Zuschauerraumes eine solche Drehung bekommen, daß das Bühnenbild zum zufälligen Ausschnitt wird; erst jetzt scheint die absolute Trennung von Bühne und Zuschauerraum erreicht, die man als Guckkasten bezeichnet. Auch auf dem Theater hat sich also ein ähnlicher Vorgang wie im Ornament und in der Architektur ereignet. Seit Beginn des Jahrhunderts wurde der wirkliche barocke Illusionsraum, in dem Bühne und Zuschauerraum eins waren, aufgegeben, und in einer ästhetischen Distanzierung ein B i l d errichtet. Man könnte einwenden, daß gerade dieses Guckkastenbild mit seiner raffinierten Perspektive über Ecken eine täuschende Raumillusion hervorrufe. Das ist richtig; gerade diese täuschende Illusion als gegenübergestelltes Bild ist fast das genaue Gegenteil von jener echten und realen Illusion, in der der barocke Theaterbesucher ins theatralische Geschehen miteinbezogen wurde. Es ist die schon beschriebene Dialektik. Eine Flucht in die Unwirklichkeitssphäre des als »nur« Kunst deklarierten Bildes zerstört die Ganzheit der barocken

Illusion. Diese hat sich gleichsam überschlagen und ist dadurch, daß sie immer noch mehr Vortäuschung einer Wirklichkeit werden wollte, Bild geworden und damit unwirklicher denn je. Der Stil wächst über sich selbst hinaus, er ist Meta-Stil geworden. Interessant ist es, Daten aus der Entwicklung des Bühnenbildes mit Daten der Ornamentgeschichte zu vergleichen. Die scena pei angolo entstand zu dem gleichen Zeitpunkt, da bei Berain aus dem Groteskenomament sich ein Bild herauskristallisierte, in dem der Ansatzpunkt zu der Bildgegenständlichkeit der Rocaille geschaffen wurde. In den vierziger Jahren ist die scena per angolo voll ausgebildetes Prinzip, sind die Theaterarchitekturen bildgegenständliches vis-a-vis des Betrachters geworden — zur gleichen Zeit, da die Rocaille als Quasi-Architektur und Bildgegenstand ihre ornamentale Seinsweise aufgibt. Die interkategorialen Verschiebungen sind Ausdruck eines Meta-Stiles, in dem fast alle Kunstgattungen dem Bild unterworfen wurden. 1764 erschien Lessings Laokoon. Sieht man zunächst ab von den kunsttheoretischen Programmen dieses Buches und betrachtet nur die Plastik, die die Geister so erregte, so wird man feststellen, daß hier der frühe Klassizismus als Norm sich eine Kunst erwählt hatte, die selbst in der Plastik den bildhaften Aspekt bevorzugte. Die Laokoongruppe des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, am Ende einer rokokoartigen Phase der Antike entstanden, hat nur einen einzigen Bildaspekt; sie verbindet theatralische Affekte mit einer malerischen Distanzierung vom Betrachter. Hierin sah das ausgehende Rokoko ein Vorbild. Meta-Stil sind auch die Architekturen in der Sphäre des neuen Englischen Gartens. Nicht nur, weil jetzt der Wert nicht mehr in der Architektur an sich liegt, sondern in deren Bildwirkung; vor allem deshalb, weil in den nun erfolgenden Stilrezeptionen des Neugotischen, Chinesischen, Maurischen usw. der abendländische Glaube an eine einzige mögliche Architektur verlorengegangen war bei dem Unternehmen »historische Architektur« als Stimmungsträger zum ornamentalen Versatzstück zu degradieren. Die Geschichte der abendländischen Baukunst ist die Geschichte einer Auseinandersetzung mit dem antiken System der Säulenordnungen und dem spätantiken Wandsystem. Insofern scheint zunächst der Stilpluralismus am Ende des Rokoko und am Beginn des romantischen Klassizismus nicht völlig umwälzend zu sein, zumal an der Peripherie, im Garten und in der privaten Sphäre exotische Stilrezeptionen schon lange erfolgten. Trotzdem bedeuten die Jahrzehnte von etwa 1750 bis 1770 eine Revolution. In dieser Zeit des Meta-Stils wurde die Architektur als Folge einer ungeheueren Inversion Bildgegenstand in einer Bildwelt voller Stimmungen. Eine Inversion liegt insofeme vor, als bis dahin die Architektur Kristallisationspunkt der anderen Künste, Malerei und Skulptur war. Jetzt hat die Malerei sich emanzipiert und wird das bildhafte Sehen Voraussetzung des Architektonischen. Der Vorgang ist hier grob und verallgemeinernd skizziert. Die Macht der Tradition ist stark genug, um bald regenerierend zu wirken. Schon gegen 1800 ist eine neuerliche Verfestigung der Integrationsfähigkeit der Architektur zu beobachten — aber bis heute ist jene Inversion im Verhältnis der Künste spürbar. 73

Das Ornament jedenfalls ist seitdem tot. Von Ledoux bis Frank Lloyd Wright ist Architektur ohne Ornament möglich. Das Ornament wurde zu Architektur; die Architektur aber ist seit dieser Zeit etwas anderes als sie es vordem war. STYLE ROCAILLE ALS STIL

Der Begriff des Meta-Stils umfaßt die Phänomene der interkategorialen Verschiebungen, in denen, unter anderem, das Ornament sich auflöste in Ornament-Architektur und naturhafter Bildgegenständlichkeit. Dieser Stilbegriff ist jedoch nicht zur Deckung zu bringen mit der geläufigen Stilabfolge und den Stilbezeichnungen, nach denen die Kunstwissenschaft gemeinhin das 18. Jahrhundert aufgliedert. Das liegt daran, daß -STIL weniger formalistischer Arbeits-Titel als Bezeichnung einer grundsätzlichen Verhaltensweise gegenüber dem Kunstwerk ist. Das entbindet nicht von der Frage, ob der hier behandelte style rocaille ein Stil im geläufigen Sinne sei, also identisch mit dem, was man also Rokoko bezeichnet. Die große Ausstellung Europäisches Rokoko (München 1958) stellte unter Beweis, daß sowohl mit der Kimballschen Definition eines französischen Gattungsstiles als auch mit der französischen Einteilung von Regence, Louis XV und Louis XVI zwar historisch und soziologisch teilweise erklärbare Stilgruppen feststellbar sind, keineswegs aber auf einer größeren Basis eine Stileinheit sichtbar zu machen ist. Der Primat Frankreichs soll keineswegs angezweifelt werden. Und er wurde gerade in dieser Arbeit erneut festgestellt. Aber mit der Feststellung eines mehr oder weniger großen Einflusses Frankreichs ist wenig über das Eigentliche des Stiles gesagt. Man denke an das Porzellankabinett im Königlichen Schloß von Madrid, an die bayerischen Rokokokirchen und an die Villa Pallagonia in Sizilien. Dagegen bietet das Motiv der Rocaille die Möglichkeit einer festen stilistischen Umgrenzung. Überall dort, wo die muscheligen C-Bogen-Schnörkel mit ihrem bildgegenständlichen Realitätscharakter auftauchen, ist ein ähnlicher und gleicher Geist in der gesamten Kunst spürbar. In seiner Nachbarschaft und in der Architektur dahinter wird man Prinzipien feststellen können, die sich zu einer Stilgruppe zusammenfassen lassen. Insoferne ist die Untersuchung der Rocaille als Ausdruck eines einheitlichen Stilwollens berechtigt. Zwischen 1734 und (etwa) 1770, den Jahren der Rocaille, hebt das »Europäische Rokoko« sich als Stil von den Stilen vorher und nachher ab; Frankreich ist eher der Rocaille müde als Deutschland oder Italien und die Komponenten des Stiles sind von Land zu Land verschiedene. In allen Fällen aber bezeichnet das Vorkommen des Motivs Rocaille eine Haltung, die zweifellos als Stil zu bezeichnen ist. Es ist, zusammenfassend gesagt, ein Stil, in dem, vor dem Hintergrund der interkategorialen Verschiebungen des Metastils, für eine bestimmte Zeit, die Spannungen zwischen zwei Epochen, Barock und Neuester Zeit, Kunstprinzip geworden sind. In der Rocaille als Leitmotiv kommt am deutlichsten ein Grundprinzip dieses Stiles zum Ausdruck: Die objektivierte Spannung. Die mikromegalische Struktur der Rocaille, das gespannte Verhältnis von Ornament- und Bild-Funktion, die Spannung zwischen 74

Rahmen-Funktion und bildgegenständlicher Funktion der Rocaille, das sind Phänomene, in denen die Tendenzen eines Stiles, den wir gemeinhin als Rokoko bezeichnen, überdeutlich zum Ausdruck kommen. Diese Spannungen bezeichnen nicht nur ein Verhältnis mehrerer Realitätsmöglichkeiten, sondern auch die Scheide zweier Epochen. Nur daß diese Scheide von Barock und neuerer Zeit im Rokoko und dem bezeichnenden Motiv der Rocaille zu einem eigenen Stil ausgedehnt wurde. Style Rocaille bezeichnet die Endphase des Barock. Noch sind seine Stilmittel die des Barock. Die Ornamentmotive (C-Bogen, Muschel usw.) sind barock. Aber sie sind nicht mehr verwandt im Sinne eines Arbeitens a u s den Stilmitteln heraus, sondern im Sinne eines Laborierens m i t diesen Mitteln. Insoferne bedeutet das Rokoko ein retardierendes Moment innerhalb der Aufklärung. Gerade diese Umstilisierung im Realitätsgrad von zunächst gleichbleibenden barocken Elementen bedeutet eine ironische Distanzierung bei einem gleichzeitigen Haften an den barocken Möglichkeiten. Schon mit der Regence war — soziologisch wie ideell — ein neuer Stil angebrochen. Dessen Eigentümlichkeiten äußern sich jedoch weniger in formalen Änderungen, als in dem Versuch, die barocke Möglichkeit der Illusionierung auch auf die profansten Bereiche zu übertragen. Watteau ist das beste Beispiel dafür. Seine Bilder sind Theaterszenen, die aber als solche kaum zu fixieren sind. Alles ist Spiel, gespielt von Schauspielern, geworden. Die Illusionierung überschlägt sich und schließlich ist im Rokoko aus der Illusionierung die Distanzierung der Kunst als bildhaft geworden. Nicht mehr ein Welttheater, sondern eine Theaterwelt ist Grund der Kunst. Im Rokoko ist die Umkehrung der Werte vollzogen. In einer illusionistischen Inversion ist aus einem Einbruch des Überirdischen in die Welt die Distanzierung der Kunst als bildhafte Unwirklichkeit geworden. Man braucht nur ein hochbarockes Fresko mit einem aus dem Rokoko vergleichen. Im letzteren sehen wir jetzt wieder Landschaften an der Decke — ein Widerspruch im Sinne klassischer barocker Theorien. Nicht mehr der Himmel öffnet sich über einer Kirche, sondern über dieser erscheint ein Bild eines Geschehens, das nur noch tropisch transzendental ist. Unter solchen Voraussetzungen konnte der Rahmen, die Rocaille sich als eigene Kunstgattung emanzipieren und schließlich Kunstwerk an sich werden. Wie im Rokoko aus einem Stil des Überganges ein eigenes Stilprinzip wurde, wie aus den Spannungen dieses Überganges die entscheidenden Kunstmittel entstanden, so wurde aus dem Rahmen als Mittel des Überganges das bezeichnendste Kunstmittel dieses Stiles: Die Rocaille. DIE BEDEUTUNG DEUTSCHLANDS IM ROKOKO

Wenn Kimball das Rokoko als französischen Dekorationsstil definiert, so liegt darin der Trugschluß einer Identifizierung von Stilerfindung und Stil. Zu seinen reifsten Ausprägungen gelangte das Rokoko nicht in Frankreich, sondern in Deutschland; nicht zuletzt deshalb, weil hier die Rokokokunst in den kirchlichen Bereich fand. Noch einmal, ein letztes Mal, gelang eine barocke Synthese; allerdings unter den vorhin beschriebe75

nen, nicht mehr barocken Voraussetzungen. Deutschland hat die letzten Konsequenzen aus dem Style rocaille gezogen. Die deutsche Prädestination zum Spätstil zeigt sich hier wieder einmal. Was in Frankreich infolge rationaler Hemmungen nicht zum Ausbruch kam, sondern nur in der Untergrundbewegung des Ornamentstiches möglich war, erfuhr in Deutschland seine letzte und äußerste Realisierung. Das ist eine für die deutsche Kunst bezeichnende Sonderleistung. Als der wallonische Hofzwerg, in Frankreich bei Blondel ausgebildet, von Max Emanuel nach München gebracht wurde und hier die spätbarocken, rokokoähnlichen Tendenzen der süddeutschen Kunst mit dem französischen Stil zu einer genialen Synthese brachte, als Friedrich der Große gleichzeitig in Preußen französischen Geist einführte und auf seinem Weinberg ein Sanssouci errichtete, entstand eine eigene Rokokokunst, wurde aus dem Stil der Pariser Adelspaläste ein für Profan und Sakral verbindlicher Stil. Ohne das französische Rokoko wäre das nicht möglich gewesen, aber auch nicht ohne die Tradition des in Deutschland weiterlebenden spätbarocken Illusionismus. Will man diesen Stil des deutschen Rokoko aber definieren, so genügt es nicht mehr, ihn in Parallele zu setzen zum französischen Louis XV und zum Gattungsstil der französischen Innendekoration. Mit solchen Stilkriterien ist ein Phänomen wie die bayerische Rokokokirche nicht erfaßbar. Hier muß man tiefer in der Struktur des Stiles oder Kunstwollens ansetzen. Der hier geprägte Begriff des Meta-Stils bezeichnet eine Verhaltensweise gegenüber der Kunstrealität. Wendet man ihn an in Hinblick auf die verschiedensten Phänomene des Rokoko, jetzt auch außerhalb Deutschlands und Frankreichs, etwa auf den Englischen Garten, dann wird sich herausstellen, daß alle, oft widersprüchlichen Phänomene damit erfaßbar sind. Sogar der frühe, romantische Klassizismus der Stilstufe Cuvillies fils und Stilrezeptionen, wie etwa die Neogotik, sind dann zusammen mit dem eigentlichen Rokoko auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen. Symbol dieser Verhaltensweise gegenüber der Kunstrealität ist die Rocaille. Nicht zufällig ist sie am schönsten in Deutschland. DIE SCHÖNHEIT DER ROCAILLE

Es ist mißlich, ein Kunstwerk oder eine Kunstgattung einzig als Symptom stilistischer oder struktureller Veränderungen zu sehen. Ebenso ist es mißlich, ein Motiv nur sub specie finis, als entelechiegetragene und -tragende Wesenheit zu betrachten. Es mag dabei noch die Einmaligkeit des Kunstwerks zumindest in einzelnen Gruppen faßbar sein. Was bei dieser Art von Betrachtung zu kurz kommt, ist eine Würdigung des objektiven Wertes. Der Rang läßt sich mit dieser Methode feststellen, der Wert wird kaum faßbar sein. Trotzdem muß der Versuch einer Würdigung des Kunstwerkes Rocaille noch versucht werden. Daß von vorneherein »Rocaille« wieder als Gattung und nicht als Individuum eingesetzt ist, wird vielleicht Mißtrauen erwecken. Zumal es nicht e i n e Rocaille, sondern verschiedene Entwicklungsstufen der Rocaille gibt. Ein Ornamentmotiv, das in solcher Breite und unverwechselbaren Ähnlichkeit die Kunst eines ganzen Stiles beherrscht, darf aber wohl in toto, auch wenn es um die Qualität geht, gewürdigt werden. 76

Die Rocaille ist schön. Diese Feststellung ist nicht abtrennbar von einer kunsth i s t o r i s c h e n Würdigung. Denn die Qualitäten der Rocaille sind identisch mit jenen Qualitäten, die im vorhergehenden als die Wesenskriterien bezeichnet wurden; und diese sind genauso von ästhetischer Relevanz. Versucht man einen »anschaulichen Charakter« der Rocaille festzustellen, so wird man sehen, daß dieser sich ohne weiteres mit einem wertenden Synonym zur Deckung bringen läßt. Dieser anschauliche Charakter muß wiederum aus der Analyse verschiedenster Wesenseigenheiten gewonnen werden. Diese wurden bezeichnet als: Mikromegalisch.es Verhalten, objektivierte Spannung, Identität von Rahmen- und Bildfunktion, Bildgegenständlichkeit. Anschaulich äußert sich all dies im Charakter des V e r g ä n g l i c h e n der Rocaille. Diese Eigenschaft schließt das Natürliche, Ruinöse des Stoffes Rocaille ein, es schließt aber auch ein ihre Verhaltensweise in der Realität als Kunstwerk. Vergänglichkeit ist das transitorische, sich verwandelnde, mikromegalische Wesen der Rocaille. Vergänglichkeit, Unbeständigkeit, traumhaft kurzes Leben der Rocaille äußert sich auch in ihrem Ort: Als Dekorationsbestandteil überdeckt sie die Übergänge und die Nähte verschiedenster Modalitäten. Rocaille ist ein Spiel mit der Vergänglichkeit. Es ist das, was die Leipziger Klassizisten so sehr erboste. Dabei liegt in diesem Spiel die Schönheit der Rocaille begründet. Abgesehen vom Reiz einer nie mehr erreichten Kultur der leichten und zugleich traumhaft sicheren Hand in der Formenphantasie und ihrer ponderierenden Bändigung, ist in der Forme locaille erreicht, was früheren Epochen noch nicht gelungen wäre: Die Vieldeutigkeit in Form und Realität eines Ornaments, die Vergänglichkeit der Form an sich, in abstracto darzustellen. Man kann dieser Kunst Morbidezza und Ironie vorwerfen; aber man kann dieses Wesen der Vergänglichkeit auch unter dem Aspekt des Reizes des Transitorischen und in ihm die Schönheit sehen. Thematisch sind (sieht man vom Extrem Piranesi ab) aus der Rocaille Trauer, Tod und Ernst verbannt. Wenn die letzten Dinge in ihrem Bereich dargestellt werden (etwa an Beichtstühlen) so sind sie in den Putti verharmlost, wenn nicht trivialisiert. Dabei gibt es kein Ornament, das mehr vergänglich erscheint als die Rocaille. Man glaubt in einem Rokokoraum nur für einen kurzen, glückhaften Augenblick Zeuge einer Improvisation der Schönheit zu sein. Dies ist das große Stilmittel des Rokoko. Der ästhetische Genuß wird dadurch bis zum letzten intensiviert, daß die Kunst so vergänglich erscheint. Damit ist der Begriff der Schönheit genauso invertiert wie das barocke Illusionsprinzip. Das Barock hatte einst aus der theatralischen Improvisation eine Möglichkeit der Illusion und des Transzendieren erschaffen. Im Rokoko sind Improvisation und Transitorik immanentes Kunstprinzip geworden, Prinzip der Kunst und nicht mehr dem Transzendentalen dienend. So erreichte das Rokoko eine Schönheit, wie sie bisher unerreicht war in der abendländischen Kunst. Aber bald mußte eine solche Art von Schönheit sich selbst zerstören. Auch dies ist in der Rocaille sichtbar.

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ANHANG EINLEITUNG J.-J. Rousseau, Confessions, vollendet 1770, 8. Buch. J.-B. Robinet, Vue philosophique de la gradation naturelle des fonnes de l'etre, 1768. Ein Versuch einer Ontologie der Muschel findet sich bei: G. Bachelard, Poetik des Raumes, 1960, Kap. V. Dort weitere Literatur. I. DIE GENESE DER FORME ROCA1LLE IN FRANKREICH Der Strukturwandel im Gmteskenomament um 1700 Zum Wesen der Groteske: R. Berliner, Ornamentale Vorlageblätter, 1926, 39, Nr. 104. Die hieraus besprochene italienische Groteskenfolge trägt den Titel: Leviores ... pictuiae quas Grottesdies vulgo vocant... Zwei Kategorien der Grotesken-Logik: Zum Stich Berains (Abb. i): F. Kimball, Le Style Louis XV, origine et evolution du Rococo, 1949, 64, und R. A. Weigert, Jean Berain, 1933, 2 Bde., Nr. 325; Berliner Nr. 225/2. Ich darf an dieser Stelle feststellen, daß meine Arbeit ohne das Buch Kimballs, des inzwischen verstorbenen großen amerikanischen Forschers, kaum möglich gewesen wäre. Denn erst Kimball legte ein wirkliches Fundament für eine kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit dem französischen Rokoko. Der Wandel im Verhältnis beider Kategorien: Zum Stich Watteaus, La Pellerine alteiee. siehe: E. Dacier und A. Vuaflart, Jean de Julienne et les Graveurs de Watteau au XVIII siede, 1921, Taf. 89. Die Bezeichnung „Bilder ohne Rahmen" stammt aus einer Vorlesung H. Sedlmayrs über »Regence und Rokoko««. Musdiel und Muschelrand in der französischen Groteske Die Muschel: Zum Stich von A. Fantuzzi (Textabbildung) siehe Berliner 42, Nr. 119, und Katalog der Omamentstichsammlung der staatlichen Kunstbibliothek Berlin, 1936, Nr. 275. Allerdings sind bei Fantuzzi Muschel und Palmette kaum zu unterscheiden; es scheint die Muschelform aus der muschelähnlichen Palmette hervorgegeangen zu sein. Bei Jean Le Pautre findet sich die Muschel beispielsweise auf Blatt 2 des Nouveau Livre de Cartouches, Berliner 74, Nr. 291/2, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 314. Zu Charmeton (Textabbildung) siehe Berliner 75, Nr. 290/2 und Ornamentstichkatalog Berlin, Nr. 325. Das Blatt stammt aus der Serie Diverses Omemens et Masque von 1676. Berain und Marot: R. Sedlmaier, Grundlagen der Rokokoomamentik in Frankreich, 1917 (Zitat S. 20). Dem vielzitierten Buch gebührt das Verdienst, die Grundlagen des Rokokoornaments zum erstenmal dort gesucht zu haben, wo sie wirklich zu suchen sind.

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Das Identischwerden von Muschelrand und C-Bogen deutet sich schon bei A. Loir an, in den Frises et Omemens de Paneaux, Berliner 77, Nr. 309/2 und Omamentstichkatalog Berlin, Nr. 338. Zum Stich Berains, Venus auf der Muschel, siehe Weigert Nr. 72. Watteau: Zum Stich Le Galant siehe Dacier-Vuaflart, 65, Taf. 63. Das Ornamentmotiv des »Fledermausflügel« ist eine Abbreviatur des »caelus«, des TuchSegel-Daches, in der Renaissance sehr verbreitet, siehe etwa die Stanze papali des Pierino del Vaga. Es kommt dann vor in der schon erwähnten Groteskenfolge des anonymen Meisters von 1541 und wurde in Frankreich von Ducerceau übernommen. Textil und wie eine Soffitte hängt der »Fledermausflügel«, an beiden Enden von einem Band gehalten, über der Blattmitte oder füllt als Fächerform die Ecken. Bei Audran dann, in den Mois Grotesques von 1708 (Omamentstichkatalog Berlin Nr. 367) ist die etwas später für Watteau verbindliche Form geprägt. Der Muschel v e r w a n d t e O r n a m e n t f o r m e n : A. E. Brinckmann, Die Baukunst des 17. Jahihundeits, 1915, 255. Der Stich von Marot mit den Profilen ist aus Blatt 53 des Oeuvre du Si. D. Marot, 1712. Der Stich von Berain ist aus der Suite de cinque planches de chapiteaux, Weigert Nr. 290, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 34.5. Der Stich von C. Gillot ist aus dem Livre d'Omaments de Trophes, Culs de Lampes, et Devises von 1732, Popurus, C. Gillot, 1930, Nr. 363, Omamentstichkatalog Berlin Nr. 363. Die Abbildung ist nach dem Augsburger Nachstich von G. Merz. Die A n w e n d u n g der Muschel im ersten J a h r h u n d e r t d r i t t e l : Zur Zeichnung von Vasse siehe Kimball 128/129. Die Kartuschen gehören zu Vorzeichnungen für die Dekoration des Hotel de Toulouse, 1718/19. Meissonnier : Sämtliche hier besprochenen Stiche Meissonniers finden sich in der von Huquier besorgten Gesamtausgabe unter dem Titel Oeuvre de Juste Autele Meissonnier..., o. J., Omamentstichkatalog Berlin Nr. 378. Eine Monographie über Meissonnier gibt es noch nicht. Die beste Information gibt Kimball in den entsprechenden Kapiteln. Siehe auch E. Donnell, /. A. Meissonnier and the Rococo Style, Bull, of the Metropolitan Museum of Art, XXXV, 1941. Meissonniers Livre d'Omemens ist auf 1734 zu datieren durch die Anzeige im Mercme de Fiance, die folgendermaßen lautet: U paroit une suite d'Estampes en large, dans le goüt d'Etienne La Belle, qui doivent piquer la curiosite du Public et de Curieux du meilleur gout. Ce sont des Fontaines, des Cascades, des Raines, des Rocailles, et Coquillages, des morceaux d'Architecture qui font des effects bizarres et pittoresques, par leurs formes piquantes et extraordinaires, dont souvent aucune Partie ne ropond ä lautre, sans que le sujet en paroisse mains ndie et moins agreable. 11 y a aussi des especes de plafonds avec figures et animaux, groupez avec intelligence, dont les bordures sont extremement ingenieuses et vatiees. Le cartouche qui sen le Frontispice, porte ce Titre: Livre d'Omemens, inventez et dessinez par J. O. Meissonnier, Architecte, Dessinateur de la Chambre et Cabinet du Roy. Ces estampes se vendent nie S. Jacques chec la veuve Chereau, aux deux Pilliers d'or. II y en a pres de cinquante gravees par Laureolli. 79

Bemerkenswert ist die Verwendung des Wortes Rocaille. Zu dem zum Vergleich herangezogenen Stich Watteaus, Divinita chinoise, siehe Dacier-Vuafluart 66, Taf. 134. Muschel und Muschelrand der barocken Kartusche Arten und Formen: Sedlmaier, 79. Kimball, 33. Zu den vier Stichen von Delia Bella, aus einer Folge von zwölf Blatt Nouvelles inventions de Cartouches V, siehe Berliner 72, Nr. 283 Ornamentstichkatalog Berlin, Nr. 569. Über die Zeichnung Oppenordts schreibt Kimball S. 113. Zum Stich des Federigo Zuccaro aus einer Folge von zwanzig Blatt siehe Berliner 70, Nr. 268, Ornamentstichkatalog Berlin, Nr. 524. Zum Stich von Bedeschini mit Motiven von Friesen von 1685 siehe Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 579. Abb. bei P. Jessen, Meister des Omamentstidis, II, o. J., Taf. 37. B e r n a r d Toro: Kimball 145 ff. Dort weitere Literatur. Zur Kartusche, aus der 5. Folge der bei Le Blanc verlegten Blätter (von ca. 1716) siehe Omamentstichkatalog Berlin Nr. 369. Die Serie ist beschrieben von L. Lagrange in Toro, Gazette des Beaux Arts, 1869, 289. Zum Vergleich mit Mitelli siehe Kimball 147. Das Blatt von Mitelli, aus einer Folge von 24 Blatt, ist 1642 erschienen. Siehe Omamentstichkatalog Berlin, Nr. 562, Berliner 69, Nr. 265/2. Das Genre Pittoresque: Das Zitat Blondeis (Kimball 165) ist aus Les amours rivaux... von 1774. Cochin fils schrieb seine Attacke gegen den neuen Stil in Mercure de France, 1754, Dez., 178 f. Die Kartuschen Pineaus sind aus einer Folge von 6 Blatt (bei Mariette), Omamentstichkatalog Berlin Nr. 390. Über Pineau Kimball 174 f. Dort weitere Literatur. Das Projet du Salon de la Pnncesse Sartorinski findet sich im Oeuvre Meissoniers unter der Nr. O 47. Siehe auch: St. Lorentz, Projets pour la Pologne de Juste-Aurele Meissonnier, Biuletyn Historii sztuki, 1958, 186 ff. Ders. in Actes du XIX Congres intern, d'histoire de l'art, Paris 1958,1959, 322 ff. Muschelrand: Französische Entwicklung und Übernahme aus Italien: Die Frage nach der Herkunft eines Motivs ist seit langem erschwert durch die gängige Methode der Kunstwissenschaft, Ableitungen der Ähnlichkeit für eine genuine genetische Erklärung zu halten. Vor allem im r 8. Jahrhundert, das wissentlich Rückgriffe über hundert Jahre zurück machte, kann diese Methode zu falschen Schlüssen führen. Bei Meissonnier wird beispielsweise bemerkt, er lehne sich an Stefano Delia Bella an (siehe Kimball 173). Obwohl diese Bemerkung auf einem Zitat aus der Zeit basiert, ist damit wenig gesagt. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten Meissonniers mit dem italienischen Barock anderswo zu suchen. Zum Unterschied zwischen französischer und italienischer Kartusche: Zum Stich von Stefano della Bella, aus einer Folge von 18 Blatt Raccolta di vani Capncci V, 1646, siehe Berliner 73, Nr. 288/1. Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 567. Zum Stich von Oppenordt, aus Teil II des »Grand Oppenordt« siehe Berliner 83, Taf. 333/2, Omamentstichkatalog Berlin Nr. 384. So

Der livre d'Omemens Meissonniers Das p l a s t i s c h e P r i n z i p M e i s s o n n i e r s u n d seine H e r k u n f t : Über Meissonnier als Goldschmied siehe: C. M. A. A. Lindemann, Thougths on a Pair of candle sticks, Phoenix 3, 1948, 244 ff. Zum Entwurf des Bougeoir von 1728 (Oeuvre B 10-12) siehe Kimball 167. Der Monstranzentwurf für die Karmeliter von Poitiers von 1727 ist bei Kimball, fig. 199 abgebildet. Die Stichfolge Giardinis heißt: Disegni Diversi inventati e delineati da Giovanni Giaidini da ForJi... Roma ... 1714, 2 Bde. Siehe Omamentstichkatalog Berlin Nr. 1141. Die abgebildeten Stiche tragen die Numem 53, 62, 68. Kimballs Erwähnung einer Abhängigkeit Meissonniers von van Vianen und Jamnitzer S. 176; S. 167 schreibt Kimball: »Si l'opinion accreditant l'influence italienne sur la formation du style de Meissonier etait justiflee, nous pourions esperer trouver en Italic des travaux d'argenterie annocant le caractere de cette piece (des Leuchters). En realite nous sommes incapables de trouver quoi que ce soit se rapportant meme de loin a un pareil dessin.« Unser Vergleich mit Giardini dürfte diesen Satz widerlegen. Methodisch ist der Satz bedenklich, weil in ihm erwartet wird, daß ähnliche Strukturen äußerlich ähnlich sind. Der Surtout Meissonniers von 1735 für den Herzog von Kingston (Kimball Nr. 168) wurde in Silber ausgeführt. Die Bezeichnung Rocaille: Siehe: A. Rommel, Die Entstehung des klassischen französischen Gartens im Spiegel der Sprache, 1954, 73, mit mehreren Zitaten aus dem siebzehnten Jahrhundert. S. 83: »Mit rocaille stellt die Gruppe den zentralen, die Grottenkunst schlechthin repräsentierenden Begriff, der auch ihre Wandlung überdauert und im 18. Jh. zusammen mit dem von ihm abgeleiteten rococo den Stil unter Ludwig XV. kennzeichnet.« Siehe auch L. Lange, La Grotte de Thetis et le premier Versailles de Louis XIV., Art de France I, 1961, 133, 138. Einer der Stecher des Genre Rocaille im 17. Jh. war beispielsweise Francois Chauveau, von dem es Masques de coquillages et de Rocailles von 1675 gibt (Lange 145). Dies sind allerdings nicht Rocaillen im Sinne des 18. Jahrhunderts, sondern Zusammensetzungen von Muscheln und Ähnlichem zu Gesichtern in der Art Arcimboldis, typisches Grotteninventar. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn in Sachen Thetisgrotte 1664 der »Controleur petit« an Colbert schreibt: J'ai fait ferme une partie de la place au-dessous du Grand reservoir pour enferme les rocaiUes et ustensiles ... (Lange 138). Siehe auch Kimball 10. D i e E n t s t e h u n g d e r Forme rocaille i m L i v r e M e i s s o n n i e r s : Zu den zum Vergleich herangezogenen Stichen Berains siehe Weigert Nr. 54, Abb. 3r, Weigert Nr. 103, Abb. 30. Die »mikromegalische« Struktur der Rocaille-Architektur: Nachdem ich das Wort »mikromegalisch« für die Eigenart der Rocaille in Anlehnung an Voltaire geprägt hatte, fand ich das Wort »mikromegisch« bei Goethe, in dem Aufsatz über Dante als Bezeichnung für einen allerdings anderen Sachverhalt. Tafelgerät und Forme rocaille: Bezeichnend ist, daß später in Deutschland Rocailleßgurationen als Tafelaufsätze entstanden, sei es aus Porzellan (Bustelli) oder Silber (siehe den in Augsburg 1775-77 hergestellten Tafelaufsatz, ehm. im Besitz des Großherzogs von Sachsen-Weimar, der zurückgeht auf Stiche von Wasmuth. Abb. bei A. Feulner, Bayerisches Rokoko, 1923,97).

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Reflexe realer Architektur im Livre Meissonniers: Der Entwurf für das Kabinett des Marschall Bilinsky (Bielenski) wurde 1734 ausgeführt. Kimball 170. Der Entwurf Meissoniers für die dann von Servandoni erbaute Fassade von St. Sulpice wurde kunstgeschichtlich berühmt, weil er aus ähnlichen Gründen zugunsten einer klassizistischen Lösung aufgegebn wurde, wie einst Berninis Louvreprojekt. Kimball nennt als Vorbilder Pozzos Entwurf für San Giovanni in Laterano und Berninis San Andrea in Quirinale (?) (168 f.). Reflexe italienischer Barock arc hi tektur im Livre: Über das »Ornamentale« bei Juvara: C. Liniert, Die Grundlagen der Architekturzeichnung, Kunstwissenschaftliche Forschungen, I, 1931, 183 f. Zum Entwurf Juvaras, wohl für San Filippo Neri in Neapel, wahrscheinlich von 1706: A. E. Brinckmann, Theatrum Novum Pedemontii, 1931, 43, Taf. 67. Palazzo del Commandante in Fossana: Brinckmann Taf. 77. Die Galleria im Palazzo Stupinigi: A. Tellucini, Uarte dell'Architetto F. Juvara in Piemonte, 1914, Taf. 75. Die Prospettiva ideale Juvaras im Dresdner Kupferstichkabinett ist datiert auf den 12. April 1732. Siehe dazu Liniert 183 f. Zum Bild des T. Michela von den Bauarbeiten am Castello die Rivoli Juvaras siehe: H. Tintelnot, Barocktheater und barocke Kunst, 1939, 235. Siehe auch Liniert 184. Garten und Rocaille: Zitat Liniert 197. Die Sepiazeichnung von de la Joue, Berlin, Staatliche Kunstbibliothek, wird von Tintelnot (Barocktheater, 225) glaubhaft als Bühnenbild bezeichnet. Der Stich Oppenordts, Porte pour le Sallon ä l'Italienne, Livre de differentes Decorations d'appartements, stammt aus dem sog. Grand Oppenordt. Die weitere Ausbildung der Forme Rocaille D i e M o r c e a u x de Fantaisie d e s l a J o u e : Jacques de la Joue, Livre nouveau de divers morceaux de fantaisie, erwähnt im Mercure de France r 73 6. 12 Blatt. Kimball 183, Berliner 88, Nr. 359/60. In Augsburg nachgestochen von Merz. Jacques de la Joue, Kartuschen, siehe Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 400. Die mikromegalische S t r u k t u r bei la Joue: Zitat Liniert 191. Das »Büffet«: Jacques de la Joue, Livre de Büffets, 7 Blatt, im Mercure de France 1735 erwähnt. Kimball 183, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 400. Rocaille und Rocaillearchitektur: Eine terminologische Unterscheidung zwischen Rocaille, dem Muschelwerk, und Rocaillearchitektur, dem zu Quasi-Architektur gewordenen Ornament in der Graphik, wäre zwar teilweise angebracht, ist aber im iolgenden nicht streng durchgehalten. Die Gründe dafür werden noch genannt. Die »Japan-Hypothese«: F. Laske, Der ostasiatische Einfluß auf die Baukunst des Abendlandes, 1909, bes. 17 f.

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Über die Sammelleidenschaft Bouchers berichtet J. Ch. von Mannlich in seinen Memoiren Rococo und Revolution, 1913, 55. Das »Chthonische Element« in der Rocaille: J.-A. Meissonnier, Livre de Legumes inventees et dessinees pai J. M Kimball 172. Der zitierte Satz H. Sedlmayrs, Verlust der Mitte, 1948, 28, bezieht sich auf die Architekturanschauung der Generation der zwischen 1720 und 30 Geborenen. Giovanni Battista Piranesi, Opere varie di ardiitettura, prospettive grottesdiit: antichita ... in Roma MDCCL. Zum Problem Piranesi-Rokoko siehe H. Bauer, Rezension von Ulya Vogt-Göknil, Giovanni Battista Piianesi, Careen, Kunstchronik 1959,190. Über die Bevorzugung der »niederen« Götter siehe: H. Sedlmayr, Das Gesamtkunstwerk, in: Katalog der Ausstellung Emopaiscb.es Rokoko, 1958, 26. Muschel und Wasser: Zu P. E. Babel, Recueil d'omements et fleuis d'apies Babel, s Blatt, von ca. 1736-40, siehe Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 421. Rocaille-Ikonologie: Antoine Watteau, L'Hyvei, Dacier-Vuaflart 60, Taf. 93. Fr an oi s B o u c h e r : Die Serie Bouchers, i. Folge, erschien bei de Larmessin. Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 436, Kimball 185. Zum Livre de Cartouches: Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 415. fean Mondon fils: Sixieme livie de Formes Rocaiiks et cartels... 1736, Kimball 184, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 403. Der Amoureux Guerrier ist aus dem troisieme livre. P. E. B a b e l : Kimball 206, Liniert 199. Zum Stich aus den Differents Nr. 422.

Compartments d'Omements Ornamentstichkatalog Berlin

F. de C u v i l l i e s : Ein Beispiel für eine verkehrte Darstellung der Entwicklung des Rokokoornaments bietet K. Ginhard, Die gesetzmäßige Entwicklung des österreichischen Barockornaments, D. FreyFestschrift, 1943, 72: »Soweit wir sehen, kommen die ersten Rokokozierate in Bayern vor, in der von den Brüdern Asam durchgeführten Erneuerung der Emmeranskirche in Regensburg, 1731-33. Von den Asam übernehmen die Künstler um Cuvillies das Rococo (Amalienburg in Nymphenburg), dann breitet es sich rasch in Bayern und Schwaben aus und gelangt in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auch nach Paris Eine Arbeit, die die Entstehung des süddeutschen Rokokoornaments als auch autochthone spätbarocke Entwicklung in Deutschland untersucht, ist: J. Brandis, Die Genesis des süddeutschen Muschelwerks, Diss. masch. Frankfurt 1943'. Brandis untersucht allerdings nicht die Rolle des französischen Ornamentstiches. Das gleiche gilt für G. F. Koch, Die Entwicklung der RocaiHe-Dekoration in den Kiichenbauten Oberbayerns, Diss. masch. Göttingen 1948. Koch untersucht nicht die Herkunft des Motivs Rocaille, sondern deren Entwicklung in der Dekoration. Die These von G. Weise, Das Problem der Herkunft des Rokoko-Muschelwerks unter besonderer Berücksichtigung des barocken Kunstschaffens in Schwaben, Neue Beiträge zu Archäo83

logic und Kunstgeschichte Schwabens 1952, 214. ff., derzufolge die Rocaille in Süddeutschland eine Entwicklung aus barockem italienischen Musdielwerk sei, ist, wie ich dargelegt zu haben hoffe, in dieser Form nicht haltbar. Über Cuvillies: W. Braunfels, Francois de Cuvillies, 1938. Die erste Reihe der Stiche von Cuvillies erschien ab 1738 (Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 121). Die zweite Reihe erschien ab 1743 (Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 146). Daraus (Morceaux de Capnce) das Herbstblatt. Cuvillies, Rriegskartusche, aus der ersten Stichreihe. La Joue, livre de Cartouches de Guene, ca. 1735, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 400. Augsburger Nachstich von Winkler. Die Dekoration bei Cuvillies: Zur Amalienburg: Luisa Hager, Nymphenburg, o. J. 44 ff. Zum Hotel de Soubise: Kimball 191. II. STYLE ROCAILLE ALS

-STIL

Rocaille und Architektur Eine zeitgenössische Beschreibung der Rocaille: Karl Pier: Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 141. E i n e R o c a i l l e i n Salem. Z u m T y p u s d e s d e u t s c h e n S t u c k o r n a m e n t es : Hotel des Maisons, Salle de Compagnie, Zuschreibung an Pineau, Kimball 205. Joh. Michael Hoppenhaupt, Wandfüllung, 1753, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 3970. Rocaille und Wand: Zitat: H. Sedlmayr, österreichische Barockarchitektur, 1930, 29 ff. Das »Nordenfalksche Gesetz«: C. Nordenfalk, Bemerkungen zur Entstehung des Akanthusornaments, Acta Archaeologica, 1935, 257 ff. Dazu H. Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, 1950, 281 f. »Ersatzornament«: Cuvillies, Lit en niche, Livre de decorations de lambris, 2. Reihe des Sammelwerks, Omamentstichkatalog Berlin Nr. 146. Die Serie muß 1754 mit Nr. 20, V, abgeschlossen gewesen sein. Braunfels glaubt zwar eher an einen Abschluß 1750; Aus stilkritischen Gründen glaube ich an eine etwas spätere Datierung, also knapp vor 1754. Eine Fehlinterpretation der Struktur der Rocaille findet sich bei E. Michalski, /. Christian, o. J., wo beispielsweise die Rocaille als Prinzip im Grundriß des Dresdner Zwingers und des Idealentwurfs für Kloster Weingarten gesehen wird. Der Dresdner Zwinger aber ist 1711 begonnen, der Entwurf für Weingarten ist von 1723 und damit aus einer Zeit, in der es noch keine Rocaille gab. Der Weingartner Entwurf hat lediglich ein System einander entgegenschwingender C-Bogen zur Grundlage, ohne daß das »der Rocaille zugrunde liegende dynamische Prinzip« sichtbar würde. Rocaille als D e k o r a t i o n s b e s t a n d t e i l : Der Stich von Cuvillies läßt sich gut vergleichen mit einer ganz ähnlichen Anordnung einer Türdekoration in I/Art de Bätii des Maisons de Campagne von C. E. Bnseux, 1743, II Planche 2,22, gestochen von Babel. Hier scheinen in den Jagdattributen um eine Rocaille

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zunächst ebenso Raum und Bildwirkung erstrebt zu sein. Aber gerade die Rocaille, bei Babel eine kleine Kartusche, ist rein ornamental, nicht bildgegenständlich und bindet damit alles in die omamentale Sphäre. Während Babel in seinen Phantasieentwürfen die Rocaille bildgegenständlich gibt, tut er dies nicht im angewandten Ornament, in der Dekoration, im Gegensatz zu Cuvillies. Die Materie dei späten Rocaille. Ornament als »Natürliches« Die»Erd-Rocaille«: Einen, wenn auch oberflächlichen Überblick über die deutsche Kupferstichproduktion im Rokoko gibt O. Großwald, Der Kupferstich des 18. Jahrhunderts in Augsburg und Nürnberg, Diss. München 1912. Der Stich von J. W. Baumgartner, Die Erde, aus einer Elementeserie ist von etwa 1745. Siehe Berliner Nr. 392/2, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 133. Der Stich von J. E. Nilson ist datierbar durch eine Vorzeichnung in der Berliner Kunstbibliothek. Siehe: M. Schuster, /. E. Nilson, 1936 Nr. 97. Wie die Rocaille immer mehr zu uniformem Stoff wurde, ist gut am Cuvillies'schen Reihenwerk zu verfolgen. An der Kriegskartusche von 1738 hat die Rocaille noch richtigen Muschelrand, Akanthuslappungen, Palmwedel, die muschelig gezahnt sind und fächerartige Formen. In den ersten Blättern der zweiten Serie, also nach 1740, ist die Rocaille in ihrem Rand gekräuselt, branstig durchlöchert, in Gegensatz zu früheren Formen jetzt weniger mit artefaktischen und stilisierten Motiven durchsetzt, mehr natürlichwilde, aber einheitliche Masse. Die Rocaille über der Bettnische von etwa 1754 ist ganz uniforme Materie, sie besetzt keinen C-Bogen mehr, sondern bildet selbst diesen Bogen. Sie ist trotz ihrer schieferigen Fransungen nicht mehr ausfahrend, sondern klein gekräuselt. Die Capricci von G. L. Crusius dürften zwischen 1752 und 1764 entstanden sein. Siehe Berliner Nr. 4ri. Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 173. Rocaille als das »Natürliche« und »Ruinöse« am Ornamentträger: Gut vergleichbar mit den entsprechenden Stichen etwa bei Cuvillies ist der Stuck in der Goldenen Galerie von Charlottenburg von I. A. Nahl von ca. 1746. Abb. bei M. Kühn, Schloß Charlottenburg, 1955, 78. »Erdrocaille« als ruinöse Rocaille:

Zu Nilsons Caffe, Thee und tobaks-Zieraten siehe Schuster, Nilson, Nr. 52. Zum Stich von F. X. Habermann von ca. 1762 siehe Omamentstichkatalog Berlin Nr. 135/141. »Rocailles richtig zu zeichnen?«: Job. Just. Preisler, Nützliche Anleitung Rocailles nebst ändern Verzierungen nach ihren Entwürfen Umrissen Schatten und Licht richtig nachzuzeichnen. Omamentstichkatalog Berlin Nr. 162. Der Realitätscharakter der Rocaille. Gebaute Rocaille. Ihre Rahmenfunktion Der G n a d e n a l t a r von V i e r z e h n h e i l i g e n : R. Teufel, Vierzehnheiligen, 1957 2,140 f. Zur Wieskirche: H. Schnell, Die Wies, 1949 2, u. a. Die Grotte der Marie Antoinette: Der Grottenfelsen, angelegt in der Gestaltung der Umgebung von Petit Trianon (durch den Grafen Caraman und Richard Mique, fertig 1777) diente auch als Theaterprospekt. 85

Zu den künstlichen Felsen im Palastgarten von Peking siehe: G. Kunoth, Die historische Architektur Fischers von Etiadi, 1956, 201 f. Der abgebildete Stich ist aus: J. Nieuhof, Gezandschap der neerlandtsche Oost-Indisdie Compagnie aan den grooten Tanaiische Chan, 1670. Jean Pillement: Jean Pillement, Suite de ]eu Chinois, im Sammelwerk Oeuvre de J. P. Bd. V. Nr. i. Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 449. Jean Pillement, Fleures Persannes, im Sammelwerk Bd. I von 1767 Nr. i, Ornamentstichkatalog Berlin Nr. 449. »Sein und Schein« der Rocaille: Stich von J. E. Nilson, Neues Caffehaus, knapp vor 1756. Siehe Schuster Nr. 80. Stich aus den Cartouches modernes ..., ca. T7$5, Schuster Nr. 66. Zitate aus E. Michalski, /. Christian, 16,17,18. Das Ende der Rocaille und ihre klassizistische Umsetzung Die l i t e r a r i s c h e R e a k t i o n : Zum Stich von Nilson siehe Schuster Nr. 218. Im Nilsonschen Reihenwerk Nr. IX. Da diese Nummer in der Kunstzeitung der Kaiserl. franciscischen Akademie 1770 angezeigt ist, ist die Datierung ziemlich sicher. Mertens in Vorlesungen über die zeichnende Kunst, Meusels Miscellaneen 1770. Der Aufsatz von Finck, anonym erschienen, wurde von F. Bleibaum, /. A. Nahl, 1933, identifiziert. Die Rocailleparodie wurde gestochen von Johanna Dorothee Philipp, geb. Sysang. Über Krubsacius siehe D. Th. Schumann, Der Dresdner Baumeister F. A. K., 1885. Die k l a s s i z i s t i s c h e U m s e t z u n g d e r R o c a i l l e : J. E. Nilson, Der liebe Morgen, aus einer Folge der Tageszeiten, Schuster Nr. 212. Ders. Das Gartenwerck auf dem Land, Schuster Nr. 45. Ders. Monumentarchitektur, Reihenwerk Nr. XLVIII, eigentlich Entwürfe für Besuchskarten, Schuster Nr. 177. J. Ch. Delafosse, L'Air et l'Eau, aus der Nouvelle Iconologie Histonque ou Attributs Hieroglyphiques..., Paris 1768. Das Haus der Reifenmacher des C. N. Ledoux stammt aus den Projekten für die Salinenstadt von Chaux (ab 1771), erhalten in L'Architecture Considered sous le Rapport de l'Art des Moeurs et de la Legislation, 1804. Das Ende der »eigentlichen« Rocaille: J. E. Nilson, Architectische Laubwercke ..., Schuster Nr. 184. Ders. Gedenktafel, Schuster Nr. 236. Cuvillies fils, Amortissement Antique, Aus dem Sammelwerk. StyJe Rocaille als »Meta-Stil« Die interkategorialen Verschiebungen: Die Auseinandersetzung mit Kimball dokumentiert sich vor allem in der Kunstchronik 1949, 68 ff.; 1951, 271; 1952, 50 und 127, wo Wilhelm Boeck Stellung nimmt und Kimball antwortet. Dabei hat letzterer recht, wenn er der deutschen Forschung vorwirft, das Rokoko zu sehr als autochthone deutsche Erscheinung darzustellen und ist Boeck völlig zuzustimmen, wenn er unter Rokoko »nicht nur Dekorationsmotive, sondern eine in tiefen Schichten

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verwurzelte Formstruktur« sehen will. Manches Mißverständnis ist in der Kontroverse aber einfach dadurch entstanden, daß die genetischen Probleme und der gängige Stilbegriff identifiziert wurden. Meta-Stil : Siehe auch H. Bauer, Architektur als Kunst, Probleme der Kunstwissenschaft, 1,1962. H. Tintelnot, Barodctheater und barocke Kunst, 1939, 74 und 96. E. Stadier, Raumgestaltung im barocken Theater, in: Die Kunstformen des Barockzeitalters, 1956, 224. Style Rocaille als Stil: Siehe auch H. Bauer, Zum ikonologischen Stil der süddeutschen Rokokokirche, Münchner Jahrbuch 1961.

TAFELTEIL

TAFEL i

Abb. i. Jean Berain, Groteske, vor 1693.

TAFEL 2

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Abb. 2. Antoim Watteau, La Pellerine alteiee, Groteske.

TAFEL 3

Abb. 3. Jean Βέταΐη, Groteske.

Abb. 4. Antoine, Watteau, Le Galant, Groteske.

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. 5. .Ausschnitt aus /4bb. 4.

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TAFEL 4

Abfc. 6. Daniel Marot, Piofile von Friesen, Ausschnitt.

. j. Jean Berain, Kapitelle.

TAFEL 5

Abb. 8. Claude Gillot, Theaterhelme und Hüte, 1732.

TAFEL 6

" Abb. 9. Fianfois-A. Vasse, Zeichnung füi die Dekoration des Hotel de Toulouse, 1718.

Abb. ii. Stefano della Bella, Kaitusche, 1646.

Abb. 10. Hotel de Lassay, nach 1725.

Abb. 12. Gilles-Marie Oppenordt, Kartusche.

TAFEL 7

· J'rii't/t-ιΐι· t'u R,'i. Abb. r ? . Jmte-Aureh Meissonnit'r, Blatt aus dem Livre d'orncmcn.·;, 17

. 14. .Aus.schnitt flu.s ^bb. 4.

TAFEL 8

Abb. 15. Antoine Watteau, Divinite chinoise OIVINI'I'I·. l'IIIMMM·.

Abb. ii5. Stefano della Bella, 4 Kartuschen, 1647.

Abb. 17. fedengo Zuccaro, Kartusche, ca. 1600.

TAFEL 9

Abb. 18. Francesco Bedcschini, Kartusche, 1685.

Abb. 19. Bernard Toro, Kartusche, ca. iji6.

Abb. 20. Agostino Mitelli, Kartusche, 1642.

TAFEL ίο

Abb. 2i, 22. Nicolas Pineau, Kartuschen, ca. 1725.

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