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German Pages [280] Year 2021
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Emmanuel Levinas
Dialog Ein kooperativer Kommentar Herausgegeben von Burkhard Liebsch
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823743
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Emmanuel Levinas Dialog Ein kooperativer Kommentar
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
1980 veröffentliche Emmanuel Levinas den kurzen Text »Dialog«. In diesem denkt er das Gespräch rückhaltlos »im Zeichen des Anderen« und verlangt ihm vor allem eines ab: dem Anderen als solchem gerecht zu werden. Ist der Dialog nicht eine spezifische soziale Situation unter vielen anderen, sondern die soziale Situation par excellence, in der sich zeigt, was das Soziale im Grunde ausmacht? Neun Autorinnen und Autoren setzen sich in diesem von Burkhard Liebsch herausgegebenen Band mit Levinas’ Thesen zu dieser Frage auseinander: Emil Angehrn, Katharina Bauer, Myriam Bienenstock, Günter Figal, Annette Hilt, Burkhard Liebsch, Christian Rößner, Werner Stegmaier und Jürgen Trabant.
Der Autor: Emmanuel Levinas (1906–1995) war Professor für Philosophie an der Sorbonne. 1983 erhielt er den Karl-Jaspers-Preis. Er zählt zu den bedeutendsten und einflussreichsten Denkern der Gegenwart.
Der Herausgeber: Burkhard Liebsch ist Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Publikationen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie.
https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Emmanuel Levinas
Dialog Ein kooperativer Kommentar Herausgegeben von Burkhard Liebsch
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Interpretationen und Quellen (IQ) Herausgegeben von Alfred Denker und Holger Zaborowski Band 5
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49118-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82374-3
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Inhalt
Vorwort des Herausgebers
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Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emmanuel Levinas
25
Interpretationen Dialogische Hermeneutik Vom Ursprung des Sinns im Anderen Emil Angehrn
. . . . . . . . . . . . .
Das Gespräch Wilhelm von Humboldt über den unabänderlichen Dualismus des Denkens und Sprechens – mit Blick auf Emmanuel Levinas . Jürgen Trabant
57
74
Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie . . . . . . . . Werner Stegmaier
89
Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas . . . . . . . . Myriam Bienenstock
120
Transzendenz und Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Figal
138
Wo beginnt die Verpflichtung? Levinas im Dialog mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Bauer
155
5 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Inhalt
Dialog und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Rößner
175
Mit-teilen und Ver-antworten: Ethik und Ontologie des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Hilt
198
Überschätzung – Abbruch – Wiederaufnahme Das Dialogische zwischen unaufhebbarer Anderheit und Gewalt . Burkhard Liebsch
224
Epilog Perspektiven künftiger Revisionen dialogischen Daseins Burkhard Liebsch
. . . . 267
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
279
Vorwort
Ist es möglich, daß wir vor einer chronischen Entgleisung des Dialogs beim Menschen stehen? René Spitz 1 Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es Dialog. Papst Franziskus 2 Der Weg zur Erlösung […] ist […] durch erhebliche Hindernisse verstellt, etwa »unsere« strikte Weigerung, […] in einen Dialog überhaupt einzutreten, um die ursprüngliche Unmöglichkeit der Verständigung zu überwinden. Zygmunt Bauman 3
Nach Kräften »auf alles« zu antworten, gleich wer fragt, das verspricht Gorgias im berühmten platonischen Dialog gleichen Namens (447 c). Ein großes, aber möglicherweise ›übermäßiges‹ Versprechen, das, wie vielleicht jedes Versprechen 4, allerdings zuviel zu versprechen scheint! Kann man und sollte man sich vom Dialog mit Anderen generell derart viel versprechen, nämlich dass man auf alles eine Antwort bekommen wird? Kann nicht bestenfalls gemeint sein, dass man wenigstens auf alles zu antworten versucht, ohne je ganz ausschließen zu können, dass die gegebene Antwort möglicherweise nicht beR. Spitz, Vom Dialog. Studien über den Ursprung der menschlichen Kommunikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung, Stuttgart 1976, 102. 2 http://w2vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/max/documents.papafrancesco_20160506_premio-carlo-magno.html (Stand: Januar 2017). 3 Z. Bauman, »Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung«, in: H. Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 22017, 37–56, hier: 53. 4 Vf. (Hg.), Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 2008. 1
7 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
friedigen, nicht weiterhelfen und nichtssagend ausfallen wird oder ganz ausbleiben muss, wenn der Befragte tatsächlich nicht antworten kann? Auch Gorgias verspricht ja keineswegs, unter allen Umständen – zufriedenstellend und ganz im Sinne derjenigen, die ihn fragen – antworten zu können. Er erklärt nur die scheinbar uneingeschränkte Bereitschaft, sich von jedermann und auf jede Art und Weise befragen zu lassen und dem Dialog insofern eine wirkliche Chance zu geben. Aber liegt nicht auch darin ein übermäßiges Versprechen: sich uneingeschränkt befragen und darüber hinaus ›in Frage stellen‹ zu lassen – und zwar nicht nur einmal, nicht nur für kurze, durch rhetorische Rahmenbedingungen notorisch beschränkte Zeit, sondern auf Dauer, in wiederholten, wieder aufgenommenen und mit schier endloser Geduld fortgeführten Dialogen, gegenseitig und kollektiv, wenn man es mit vielen Beteiligten zu tun hat? Wird gegenwärtig in diesem Sinne mit Nachdruck an uns appelliert, ›den Dialog‹ – mit Anderen gleich welcher Couleur, welcher politischen Richtung, religiösen Zugehörigkeit und kulturellen Herkunft auch immer – nicht abbrechen zu lassen oder ihn wiederaufzunehmen, wo er gescheitert zu sein schien, so als hinge ›alles‹ davon ab? Und appelliert man an das, was man das Versprechen des Dialogs bzw. des Dialogischen als solchen nennen könnte, mit einem derartigen Nachdruck, dass gerade dies empfindliche Gegenreaktionen auslöst, insofern die prima facie freiwillige Bereitschaft zum Dialog in eine ausnahmslose Verpflichtung umgemünzt zu werden droht? »Dialog? Nein, danke!« erklären denn auch Polemiker 5 nicht ohne Grund, um sich genau dagegen zu verwahren, diese Bereitschaft, von der man sich alles Mögliche versprechen kann, wie es bei Platon den Anschein hat, in eine Forderung umzumünzen, der man sich kaum noch entziehen kann. Warum aber sollte man den Dialog verweigern, sei es im Einzelfall, sei es grundsätzlich, wenn doch nur Gutes von ihm zu erwarten ist – wie auch vom Guten selbst, von der Gerechtigkeit, vom Frieden, von der Verständigung etc.? Bestätigt sich diese Erwartung aber bei genauerem Hinsehen? Oder erweist sie sich als Vorurteil oder gar als Ideologie? Was können Dialoge wirklich leisten? Warum verlangt man nach ihnen »bis zur Erschöpfung«, selbst wenn es sich immer wieder herausstellt, dass sie gar keinen Ausweg aus einseitigem oder H. M. Broder, »Dialog? Nein, danke!«; https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ kulturdebatte-dialog-nein-danke-a-403133.html
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8 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
gegenseitigem Infragestellen weisen, sondern es noch schmerzhaft vertiefen? Was ändern daran Dialoge? Sollen Dialoge überhaupt etwas ›ändern‹ ? Nähren sie nicht – wie im Fall endlos diskutierten, aber immer noch nicht rückhaltlos aufgeklärten tausendfachen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Institutionen – vielfach den Verdacht, dass man sie führt, um nichts an institutionellen Strukturen ändern zu müssen? Erinnert das nicht an die berühmt-berüchtigte Feuerbach-These von Karl Marx, es komme nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern? Kommt es dem entsprechend weniger darauf an, Dialoge zu führen, als die Missstände, um die sie sich schier endlos drehen, entschlossen anzugehen? Doch wie sollte das möglich sein, ohne sich miteinander ins Gespräch zu begeben? Etwa durch dazu einseitig sich Ermächtigende, die sich souverän jeglicher Zumutung entziehen, sich ihrerseits infragestellen zu lassen? Liefe das nicht auf eine geradezu antisoziale Macht hinaus, wenn es denn stimmt, was so viele Dialogisten mit Nachdruck behauptet haben: dass in der Bereitschaft zu ›antworten‹ und in dem Wissen, zuvor (auch ohne eigene Einwilligung) vom Anderen ›in Frage gestellt‹ worden zu sein, par excellence liegt, was menschliche Sozialität ›ursprünglich‹ ausmacht? Verpflichtet diese aber dazu, jederzeit, angesichts jedes Anderen und uneingeschränkt ›dialogbereit‹ zu sein? Verkennt nicht die ungetrübte Hochschätzung, mit der Philosophen des Dialogs diesen Begriff vielfach traktieren, die Grenzen, in denen wir zum Dialog bereit, fähig und willens sein können? Und spricht sie nicht der Realität der menschlich-unmenschlichen Verhältnisse Hohn? Der Dialog steht seit geraumer Zeit allerdings besonders deshalb außerordentlich hoch im Kurs, weil ihn vieles unmöglich zu machen oder zu zerstören droht(e) – nicht zuletzt in historischer Perspektive. Levinas deutet gleich zu Beginn seines nachfolgend abgedruckten Textes diesen Zusammenhang (allerdings bemerkenswert unkonkret) an: Dass man »heute sogar von einer ›Philosophie des Dialogs‹ sprechen« könne, sei offenbar »Folge der Prüfungen, die die Menschen des 20. Jahrhunderts seit dem Ersten Weltkrieg durchmachten« [2]. 6 Das provoziert Nachfragen: Welche Prüfungen? Welche Menschen? Alle ausnahmslos? Oder einige stellvertretend für alle? Warum erst Ziffern in eckigen Klammern verweisen in diesem Band durchgängig in allen Beiträgen auf die entsprechenden Abschnitte des nachfolgend abgedruckten Textes von Levinas.
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9 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
»seit dem Ersten Weltkrieg«? Wie genau und warum soll diese Philosophie – eine unter vielen Philosophien? – mehr oder weniger alles, was »der philosophischen Tradition« lieb und teuer war – die »Einheit des Ich oder des Systems, der Selbstgenügsamkeit und der Immanenz« [2] –, herausgefordert haben? Und mit welchen Folgen? Hat diese scheinbar ganz neue, mit den Namen Martin Buber, Franz Rosenzweig und Gabriel Marcel verknüpfte Philosophie diese Tradition erweitert und bereichert oder sie vielmehr entwertet, abgebrochen, überwunden und hinter sich gelassen? Fragen über Fragen, die der Text von Levinas aufwirft, ohne sie definitiv zu beantworten. Zweifellos fügt er sich jedoch in eine Zeit ein, die dem Dialog nicht nur im philosophischen Diskurs, sondern auch in der weiteren Öffentlichkeit zu großer Beachtung verholfen hat – gerade weil man ihn hat scheitern, abbrechen und unmöglich werden lassen. Dennoch, oder vielmehr gerade deswegen, will man die Hoffnung nicht aufgeben, dass ›das Gespräch‹ auch dann wieder aufgenommen werden kann, wenn es zwischenzeitlich endgültig abgebrochen zu sein schien. So sollen selbst radikale Feinde, die kein Wort mehr aneinander richten, wieder vermittels Dritter miteinander ›ins Gespräch kommen‹, um wenigstens Verhandlungen aufzunehmen, ohne die die Gewalt zwischen den Verfeindeten endlos zu herrschen droht. Und selbst der in der Geschichte des Westens mit so viel Geringschätzung bedachten, zum bloßen Rohmaterial depotenzierten und seit langem angeblich nur noch ›schweigenden‹ Natur 7 will man wieder ›Gehör schenken‹, um einen Dialog mit ihr zu führen – sei es auch nur, weil man fürchtet, sie werde ›zurückschlagen‹, nachdem man sie so lange ausgebeutet und vermüllt hat. Dialog mit der Natur lautete denn auch der programmatische Titel einer breit rezipierten Veröffentlichung der Physikerin Isabelle Stengers und ihres Kollegen, des Nobelpreisträgers Ilya Prigogine. 8 Dabei lagen sie mit ihrer Vorstellung von einem »experimentellen Dialog« noch ganz auf der Linie Immanuel Kants und seiner Idee, die Natur ungeachtet ihres hartnäckigen ›Schweigens‹ durch harte Befragung zu ›Antworten‹ förmlich zu zwingen. Was könnte aber einem zwischenmenschlichen Gespräch, das seinen Namen wirklich verdient, ferner liegen als gerade dies? 7 H. Blumenberg, Schriften zur Technik, Berlin 2015, 26; Vf., Verzeitlichte Welt. Zehn Studien zur Aktualität der Philosophie Karl Löwiths [1995], Stuttgart 22020 (aktualisierte und erweiterte Auflage). 8 I. Prigogine, I. Stengers, Dialog mit der Natur, München, Zürich 41983, 14.
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Vorwort
Eröffnet und lässt das wirkliche Gespräch im Gegensatz zu einem natürlichen Widerpart, der genau genommen nicht einmal ›schweigen‹ kann, dem jeweils Anderen nicht unbedingt Spielräume freien Antwortens – zu denen auch die Antwortverweigerung (und darüber hinaus sogar deren Verweigerung) zählen kann? Und werden Formen wenn nicht endgültiger, so doch zwischenzeitlicher Dialogverweigerung, der Segregation aus jeglichem Gesprächszusammenhang und der Remonologisierung nicht in Zeiten wichtig, die alles und jeden rückhaltlos kommunikativ zu erfassen droht – nicht zuletzt mit Hilfe technischer Dispositive und virtueller Medien, die jeden jederzeit an ein »Internet der Dinge« anschließen und womöglich privateste ›Informationen‹ an dessen Betreiber ausliefern sollen? 9 ›Ich schweige und kommuniziere nicht, nicht auf diese Weise jedenfalls, also bin ich bzw. existiere noch‹, könnte eine angesichts dessen zeitgemäße Devise lauten. Liegt in der digitalen, algorithmisch rationalisierten Dimension des Virtuellen tatsächlich eine Drohung? Sind wir dessen ungeachtet auf Gedeih und Verderb auf eine mit allen Mitteln betriebene Kommunikation, auf Dialog und Verständigung angewiesen? Kommen die neuen Kommunikationsmedien und -techniken wie der Computer und das Handy, ›Datenkraken‹ wie Google und Facebook, das twittern, chatten und posten dem nur so weit wie möglich entgegen? Oder stehen sie für eine historisch beispiellose Reduktion dessen, was Kommunikation in ›analogen‹ Zeiten einmal bedeutet haben mag, in denen man gewusst hat, dass wir gerade darin, wie wir jedes Mal neu ›zur Sprache kommen‹, zugleich erfahren, ihr nicht ›immer schon‹ und ›restlos‹ überantwortet zu sein, wie es der Fall zu sein scheint, wo man glaubt bzw. uns glauben macht, wir seien im Grunde nichts als »eine Nachricht« (Norbert Wiener) oder ein Sammelsurium von Informationen, die man am besten digital erfasst? 10 Entgehen wir vor, in und nach konkreter Kommunikation, dialogischer Erfahrung und Verständigung auch uns selbst? Woher will man das aber wissen? Handelt es sich überhaupt um eine Frage des Wissens? Und müsste sich ein Dialog, der seinen Namen verdient, gerade darauf beziehen, was sich möglichem Wissen entzieht? Ist es überhaupt denkbar, zu wissen oder positiv zu formulieren, was in einem wirk9 Vgl. bspw. S. Meier, D. H. Rellstab, G. L. Schiewer (Hg.), Dialog und (Inter-)Kulturalität. Theorien, Konzepte, empirische Befunde, Tübingen 2014. 10 Vgl. die Rede von Günter Eich aus dem Jahre 1959 in: Büchner-Preis-Reden 1951– 1971, Stuttgart 1972, 73–87, hier: 85.
11 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
lichen Dialog und durch ihn geschieht – wenn auch vielleicht nur auf verfehlte Art und Weise? Oder widersetzt sich dialogische Erfahrung als solche womöglich jeglichem Wissen, das auf eindeutige Entscheidung in diesen Fragen drängt? Werden wir jemals wirklich wissen können, ob wir mit Anderen einen Dialog geführt haben, der seinen Namen ›tatsächlich‹ verdient? Über solche Erfahrung müssten wir ungeachtet aller Zweifel, die hier angebracht sind, eigentlich reichlich verfügen, wenn es denn stimmt, was man unter Berufung auf Friedrich Hölderlin so oft schon behauptet hat, nämlich dass wir ein Gespräch sind – selbst dann, wenn wir nicht ›ins Gespräch kommen‹ können, wenn wir ›aneinander vorbei‹ reden oder wenn ›der Gesprächsfaden abgerissen‹ ist, wie man sagt. Auch dort, wo schiere Wort- und Sprachlosigkeit zu herrschen scheint und keinerlei Aussicht darauf mehr besteht, dass man ›wieder ins Gespräch kommen‹ und das Gespräch ›wieder aufnehmen‹ kann, würde demnach das Gespräch, das wir sind, »seit wir hören können voneinander« 11, unangefochten möglich bleiben und insofern Bestand haben. Dieses Gespräch könne »auch vom Schweigen nicht unterbrochen« werden, behauptete tatsächlich Ludwig Binswanger. 12 Einen radikalen »Abbruch aller Kommunikation« 13 bräuchte insofern niemand zu befürchten. Erst recht nicht, wenn es zutrifft, was Martin Buber, einer der Begründer moderner Dialogphilosophie, im Jahre 1928 in einem mit Der Glaube des Judentums betitelten Vortrag behauptete: dass nämlich »die ganze Welt, das ganze Weltgeschehen, die ganze Weltzeit« als »unreduziert in der dialogischen Situation« stehend zu begreifen sei – wie seit Menschengedenken (soweit es testamentarisch bezeugt ist). 14 Für Buber existiert diese Situation, seitdem sich Menschen vom Anderen als ›aufgerufen‹ erfahren 15; auch wenn es zu keinem wechselseitigen Dialog kommt. Dass diese Gefahr real ist, beweist seine Beschwörung eines »dämonischen« Anderen, für den Andere nicht zum ›Du‹ werden können (DP, 70). Dieser Andere, als der auch Gott in Betracht käme, lässt sich nicht ansprechen und spricht Andere F. Hölderlin, »Versöhnender der du nimmer geglaubt«, in: Werke, Tübingen o. J., 411 f. Siehe auch die Seiten 235 und 253 f. in diesem Band. 12 L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins [1942], Zürich 21953, 163. 13 K. Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen, München 41987, 72. 14 M. Buber, Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, 410. 15 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, 68 (= DP). 11
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Vorwort
nicht an. Dabei weckt Buber nagende Zweifel daran, ob es überhaupt möglich ist zu wissen, ob Ansprache und Erwiderung, die Beziehung, Berührung durch Beziehung und Beziehung durch Berührung, stiftet (DP, 65 16), ›wirklich‹ stattfindet bzw. stattgefunden hat. So rückt er auch diese Begriffe ins Zwielicht des Dämonischen. Epistemisch ist offenbar nicht sicherzustellen, dass ›wirklicher‹ Dialog stattfindet, in dem man einander ›berührt‹ – wie auch immer (direkt und physisch oder allenfalls indirekt und diskret, ohne dem Anderen ›zu nahe zu treten‹ …). Sollte es dagegen zutreffen, dass auf dialogischen Wegen alles sagbar und mitteilbar ist, so dass wir »von Kopf bis Fuß […] zugänglich« zu sein scheinen, wie in Francis Jacques’ Dialogtheorie zu lesen steht 17, so hätten wir mit dem Dialog ein universales, nichts und niemanden auslassendes Medium an der Hand, durch das wir uns mit jedermann und unter den Augen jedes Anderen (sei es auch ein big brother) über alles verständigen könnten – selbst für den Fall, dass der gegenteilige Eindruck vorherrscht, wie etwa im deutsch-jüdischen Verhältnis, dem man angesichts radikalster Gewalt, die es zeitweilig zerrüttet hat, bereits jeglichen dialogischen Charakter abgesprochen hat, und zwar ein für allemal, so als handle es sich zumindest diesmal um einen ›irreparablen‹ Abbruch. 18 Vgl. J.-L. Nancy, Corpus (frz./amerikan.), New York 2008, 18 f., wo es heißt, wir bleiben »a stranger to contact in contact«/»restant dans le contact étranger au contact«. 17 F. Jacques, Über den Dialog. Eine logische Untersuchung, Berlin, New York 1986, 38. 18 Diesen Anschein erweckt etwa Enzo Traverso ausgerechnet unter Hinweis auf Carl Schmitt, der aber gewiss nicht als Kronzeuge dafür aufgerufen werden kann, wie es nach dem Desaster des Nationalsozialismus um die Zukunft des deutsch-jüdischen Verhältnisses bestellt ist. Traverso verweist jedoch mit Recht auf Gershom Scholem und andere, die »die Existenz eines Dialogs zwischen Juden und Deutschen geleugnet« und ihn als jüdische »Illusion« eingestuft haben (vgl. K. Löwith, »Philosophie der Vernunft und Religion der Offenbarung in H. Cohens Religionsphilosophie«, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 3. Wissen, Glaube und Skepsis. Zur Kritik von Religion und Theologie, Stuttgart 1985, 349–384, hier: 381). Demnach hat es, zumindest was Deutschland anbetrifft, niemals einen wirklichen Dialog gegeben, nur einen jüdischen Monolog. Das hindert Traverso in seiner frühen, sehr lesenswerten Schrift Die Juden und Deutschland. Auschwitz und die »jüdisch-deutsche Symbiose«, Berlin 1993, nicht daran, am Ende von einer »posthumen Wiederherstellung« zu träumen (210). Gewiss kann diese allerdings, sollte sie überhaupt möglich sein, nicht zu einer schlichten Restauration führen, wenn es stimmt, dass jede jüdische »Identität« nach jenem Desaster »für immer […] verwundet« bleiben und eine unabschließbare, ›exi16
13 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
Ungeachtet dessen – oder möglicherweise gerade deshalb – ist von jüdischer Seite der Begriff des Dialogs ganz neu zur Diskussion gestellt worden, namentlich durch Emmanuel Levinas, der den Dialog nicht bloß als eine spezifische soziale Situation unter vielen anderen zu verstehen scheint – in der Kakophonie vieler heterogener Stimmen und in einer Vielstimmigkeit eines irreduziblen Plurals der Sichäußernden, der polyphonen, vielfach ›rhetorisch‹ bedingten Formen der Äußerung und des dissensuell Geäußerten selbst. Auf den ersten Blick legt er nahe, den Dialog als die soziale Situation par excellence aufzufassen, in der sich zeigt, was das Soziale im Grunde ausmacht. 19 Dabei hatte sich schon Buber dagegen verwahrt, das Soziale mit dem Dialog zu identifizieren. 20 Levinas glaubt darüber hinaus nicht, allein oder primär unter dialogischen Bedingungen ›zwischen Ich und Du‹ manifestiere sich, was unser Verhältnis zum Anderen als solchem ausmacht, um das es ihm vorrangig geht. Im Gegenteil: anhand seiner Überlegungen zum Dialog hofft Levinas verdeutlichen zu können, inwiefern sich dieses Verhältnis nicht nur gesellschaftlichen (›sozietären‹), sondern auch dialogisch-sozialen und reziproken Strukturen entzieht 21 und wie es gerade deshalb sozial maßgeblich werden kann. Paradoxerweise unter der Bedingung, zugleich die Frage nach adäquaten Maßstäben radikal zu unterlaufen. 22 lierte‹ Trauer nach sich ziehen muss. Zu Schmitt vgl. ebd. 60, zur Verwundung 135, zur Trauer 13. Aber auf jegliche ›Wiederherstellung‹ zu verzichten, hieße das nicht, den ›Erfolg‹ des nazistischen Vernichtungsprojekts noch nachträglich zu bestätigen, statt sich ihm zu widersetzen? Sollte sie nicht wenigstens im Zeichen solcher Trauer möglich sein (ohne allerdings eine scheinbar unbeschädigte Vergangenheit rehabilitieren zu können)? 19 Wobei auffällt, wie wenig Levinas ausgerechnet zu räumlichen, zeitlichen und machtimprägnierten Momenten der Situiertheit von Dialogen sagt. Eine ›dialogistische‹ Reduktion des Sozialen auf Gespräch, Verständigung und Diskurs wird in der aktuellen Literatur im Übrigen mit Nachdruck angefochten. Vgl. zu diesem Diskussionsfeld Vf., Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd. I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen; Bd. II: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens, Freiburg i. Br., München 2018. 20 Buber wollte das, was er unter »wahrer« (»unmittelbarer« und ganz »gegenwärtiger«) Beziehung bzw. Begegnung verstand, vom »›Verlies‹ der Sozialität« deutlich getrennt wissen. DP, 108. Später insistierte er auf der Unterscheidung des Zwischenmenschlichen vom Sozialen (DP, 271, 275). 21 Spuren dieser Problematik finden sich bereits in frühen Schriften von Levinas, so in den Carnets de captivité, Œuvres 1, Paris 2009, 259, wo der Dritte (le tiers) auftaucht. Zum fraglichen Entzug E. Levinas, Parole et silence, Œuvres 2, Paris 2009, 245. 22 Was auch bedeutet, die quasi-imperativische Art und Weise infrage stellen zu müs-
14 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Vorwort
Wer nicht länger glauben mag, die Frage nach dem ›Grund‹ des Sozialen sei noch im Sinne einer klassischen philosophischen Ursprungsfrage aufzuklären 23, könnte sich immerhin noch an die menschliche Gattungsgeschichte oder, wenn sich auch deren Anfänge im Dunkel einer nur spekulativ zu deutenden Vorgeschichte verlieren 24, an die Ontogenese halten. 25 Der Psychoanalytiker René Spitz, der auch mit einer Arbeit über den Dialog als »origin of human communication« 26 hervorgetreten ist, hat die Ontogenese als »Naturgeschichte« der menschlichen Sozialität gedeutet 27, die die wesentliche Einsicht moderner, wesentlich auf Johann G. Herder und Wilhelm v. Humboldt zurückgehender Sprachphilosophie zu bestätigen schien: Menschliche Sprachlichkeit bildet sich dialogisch aus. 28 Sprachen als Formen der Rede sind dialogisch konstituiert und darauf angewiesen, immer wieder auf dialogischen Wegen wirklich zu werden. 29 Andernfalls verkümmern sie und lassen am Ende nicht einmal mehr erahnen, was ›wirkliche‹ Kommunikation, die ihrerseits nach
sen, in der die Alterität des Anderen gelegentlich als ›unbedingt‹ ethisch Maßgebliche beschrieben wird; vgl. D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, 47 ff. 23 Vgl. E. Angehrn, Der Weg der Metaphysik. Vorsokratik – Platon – Aristoteles, Weilerswist 2005. 24 E. Morin, Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, München, Zürich 1974. 25 Wie es zuletzt auch Michael Tomasello getan hat, der in seiner einschlägigen Veröffentlichung zu diesem Thema gar keine dialogistischen Einflüsse zu erkennen gibt; M. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/M. 2011. 26 Wobei freilich eine »archaische Form von Gespräch« mit dem Kind gemeint ist, die der Autor zunächst noch in einer Aktions-Reaktions-Terminologie deutet; Spitz, Vom Dialog, 16. Diese Terminologie erweist sich schon im Hinblick auf die ontogenetisch primäre, responsiv-»synkretische Soziabilität« (Henri Wallon) als unzureichend, erst recht aber in Anbetracht hochdifferenzierter Dialoge, wo Andere miteinander als solche kommunizieren. Vgl. M. Merleau-Ponty, Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952, München 1994, 51, 58, 170, 301, 313 f., 322. 27 Folgt man dem dt. Untertitel der einschlägigen Untersuchung Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Stuttgart 61980; vgl. kritisch dazu: M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977, 502 f. 28 Damit kann zumal in den frühen Stadien der Ontogenese jedoch keinesfalls ein Gespräch im üblichen Sinne des Wortes, sondern allenfalls eine quasi-dialogische, soziale Responsivität gemeint sein. 29 J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990, 173.
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Vorwort
der Überzeugung vieler bis in das Selbstgespräch hinein dialogisch verfasst sein muss 30, überhaupt ist bzw. wie sie zu erfahren ist. So fragen allerdings nur verletzte, in sich gebrochene und an Sprachzerstörung leidende Wesen 31, denen genau dies als radikal fraglich erscheint: ob die erste, vorsprachliche Sprachlosigkeit, aus der heraus wir ›zur Welt kommen‹, angesichts der letzten Sprachlosigkeit, die der (sei es physische, sei es soziale oder politische) Tod bedeutet, je zu überwinden ist. Sofern er überhaupt möglich ist, ist der Dialog nur ›zwischenzeitlich‹ möglich – durch ein »dialogisches Dasein« (DP, 168), das nur zwischen uns Gestalt annehmen kann. In der Zwischenzeit mögen vielfältige Formen von Kommunikation, darunter Gespräche, stattfinden; aber bleiben sie nicht überschattet von einer »unerbittlichen zukünftigen Vergangenheit« eines jeden und aller, die im Voraus wissen müssen, dass sie »allein zurückgeblieben sein« werden – in dem Bewusstsein, dass die Welt des Anderen fort ist, wie es Paul Celan in seiner Gedichtfolge Atemkristall sagt? 32 Nur in der vorgreifenden Trauer darüber, suggeriert Jacques Derrida, ist ›zwischenzeitliches‹ Gespräch möglich, das ein doppelsinnig gemeinsam geteiltes Zur-Welt-sein durch zunächst einseitige Anrede und deren Erwiderung stiftet, ohne je wissen zu können, ob ein Dialog auch gelungen ist oder je gelingen wird. So geht der Dialog aus dem Nicht-Dialogischen hervor, das ihm vorausliegt, bevor er eröffnet oder auch derart verweigert werden kann, dass sich ›vor der Zeit‹ der Tod abzeichnet, der keine Reziprozität mehr gestattet, so dass es abwegig erscheint, noch an einen über ihn hinweg fortzusetzenden Dialog zu glauben. 33 Wer sich an Tote wendet, wird keine Antwort mehr erfahren. Niemals mehr; wie auch immer er oder sie ein inneres Zwiegespräch mit ihnen suchen mag. Und wer zu Anderen spricht, seien es auch noch Ungeborene, hat es allemal mit Sterblichen zu tun, deren Leben von vornherein unter diesem Vorzeichen steht. Umgekehrt lässt fehlende oder verweigerte Antwortbereitschaft Anderer ›vor der Zeit‹ bereits den eigenen Tod gegenwärtig werden. So hängt ›wirkliche‹ Kommunikation rückhaltlos von ›zwischenzeitlicher‹, einH. Arendt, Denktagebuch, 1950 bis 1973. Erster Band, München, Zürich 22003, 283; Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, 429 f. 31 A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt/M. 21976. 32 J. Derrida, »Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht«, in: ders., H.-G. Gadamer, Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt/M. 2004, 7– 50, hier: 14. 33 R. P. Harrison, The dominion of the dead, Chicago, London 2003, 153 f. 30
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Vorwort
und gegenseitiger Ansprechbarkeit und Antwortbereitschaft ab – und zwar gerade dort, wo lang anhaltende und tief greifende Gewalt sie bis auf kümmerliche Reste zerstört zu haben scheint, so dass die Betroffenen das Verlangen nach erneutem Dialog nur noch als Ideologie oder als Zynismus einstufen können. Wo keine Ansprechbarkeit mehr gewährleistet ist 34, wird wiederum gerade dadurch eine zu Krieg und Genozid tendierende Gewalt heraufbeschworen, gegen die am Ende gar nichts mehr etwas ausrichtet. Aber solche Gewalt beginnt nicht erst dort, »wo die Sprache aufhört«, wie Buber behauptete 35, sondern womöglich bereits dort, wo menschliche Rede niemanden erreicht und keinerlei Verständigung möglich macht. Und Krieg kann wieder aufhören, sobald sie durch zunächst einseitige, dann gegenseitige Ansprechbarkeit erneut einsetzt, vor allem im Gespräch, das darauf angelegt ist, jegliche Gewalt hinter sich zu lassen. Aber kann das gelingen? Bereits Eugen Rosenstock-Huessy durchkreuzte diese Illusion, als er schroff feststellte: »Sprache ist Gewalt.« 36 Betrifft das auch den Dialog – selbst in anscheinend zwangloser Geselligkeit? Gelingt die menschliche Kommunikation also allenfalls ausnahmsweise, aber keineswegs schon deshalb, weil man miteinander ›im Gespräch ist‹, über die »ungesellige Geselligkeit« hinaus, der Kant immerhin den Vorteil zugesprochen hatte, mit ihren Antagonismen die menschliche Gattungsgeschichte davor zu bewahren, in Lethargie zu verkümmern? Steht nunmehr grundsätzlich jedes Gespräch unter dem Verdacht »dialogischer Gewalt« 37? Wie sollte es dann möglich sein, sich im »Haus der Sprache« wohnlich einzurichten, wie es manche Hermeneutiker lehren? 38 »Unter dem Dach der Sprache leben wir alle«, behauptete HansGeorg Gadamer auf den Spuren Martin Heideggers, gab aber zu, dass man, derart ›behaust‹, sich gegebenenfalls »all die reichlich sättigenOb sie überhaupt zu ›gewährleisten‹ oder ob sie anthropologisch vorauszusetzen ist, fragte sich Friedrich Schleiermacher nicht, als er feststellte: »Jeder Mensch [hat] eine Empfänglichkeit für alle andere[n]«, in: Hermeneutik und Kritik [1838], Frankfurt/M. 1977, 169. 35 M. Buber, Nachlese, Heidelberg 1965, 225. 36 E. Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band, Heidelberg 1963, 408. 37 Ein Ausdruck Bubers, den er allerdings nicht näher erläutert (DP, 165). 38 Zu einem entsprechend »oikologisch«-ontologischen Verständnis der Sprache vgl. J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993, 34 f., 46 ff. 34
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den Worte verbiete[n]« muss, »mit denen man sich im Leben abfindet« 39 – auch auf die Gefahr hin, möglicherweise hungrig zu bleiben und daran zugrunde zu gehen. Vielleicht deswegen, weil dasjenige, was man landläufig Kommunikation nennt und neuerdings auch Maschinen glaubt anvertrauen zu können, das genaue Gegenteil von dem ist, was den Titel Kommunikation, Gespräch oder Dialog wirklich verdienen würde, wie auch Georges Bataille vermutet hatte. »Entgegen dem, was gewöhnlich angenommen wird, ist die Sprache nicht die Kommunikation, sondern ihre Negation«, schrieb er. 40 Nun gibt es aber ›die‹ Sprache gar nicht, nur Sprachen, Idiome, Redeweisen und Äußerungsmodalitäten, denen es durchaus frei steht, sich von dem, was man gewöhnlich als Gespräch, Dialog, Diskurs oder Kommunikation durchgehen lässt, zu lösen, um neue Wege sprachlichen Ausdrucks zu erproben – bis hin zur reinen Poesie der Moderne, die sich möglicherweise gar nicht mehr an ein Du wendet – oder wenn, dann in paradoxen Modi von jeglicher ›Beziehung‹ absolvierter Bezüge, die sich wie bei Stéphane Mallarmé »von allem Wohnlichen ab[wenden] (›se dégage‹)« 41 und schließlich auch »die letzte Ortschaft der Worte« 42 hinter sich lassen. Hat eine solche entortete »Sprache des Exils« 43 wirklich keinen Adressaten mehr? Oder führt sie uns Zweifel an der Mitteilbarkeit alles Gemeinten, an der ›Erreichbarkeit‹ Anderer, an der Realisierbarkeit ›wirklicher‹ Beziehung, Berührung und Begegnung mit ihnen sowie an der gegenseitigen Übersetzbarkeit verschiedener Ausdrucks- und Redeweisen in aller Radikalität so vor Augen, dass man der Frage nicht mehr ausweichen kann, ob es nicht »unser aller Erfahrung« und tägliches Brot ist, uns als »von dem eigentlichen Wort und seiner Wahrheit«, die den Anderen und uns selbst erreichen könnte, »geschieden« zu wissen, wie Gadamer zu bedenken gibt? 44 Verschärft stellt sich diese Frage, wo es menschliche Kommunikation unvermittelt mit Unsäglichem zu tun hat, das wie nichts anderes danach verlangt, mitgeteilt zu werden, und sich dem im gleichen Zug H.-G. Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans ›Atemkristall‹, Frankfurt/M. 1973, 30. 40 G. Bataille, Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), München 2002, 69. 41 H. Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Reinbek 81977, 102 f. 42 Siehe Anm. 86 zum Beitrag d. Vf. in diesem Band (Seite 250). 43 Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, 173. 44 Gadamer, Wer bin Ich und wer bist Du?, 32. 39
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widersetzt. Unsägliches liegt nicht nur in extremer und exzessiver Gewalt, sondern auch in deren Radikalität, wenn sie Andere in eine sprachlos machende Weltlosigkeit stößt, aus der heraus ihre Stimme an niemandes Ohr mehr dringen kann. Hier stößt dialogisches Denken hart an Grenzen – nicht nur angesichts sprachlos Gemachter, sondern auch in der Rede über Phänomene der Verletzung, der Verwundung und der Sprachzerstörung, die unsere Welt versehrt hat 45 und an der Möglichkeit dialogphilosophisch immer wieder verteidigter Versöhnung zweifeln lässt. Gadamer hat dieses Wort »wie ein erstes und letztes« in dem Sinne einstufen wollen, dass die These gerechtfertigt erscheinen sollte, »nur durch die Versöhnung« werde »die Andersheit, die unaufhebbare Andersheit, die Mensch und Mensch trennt, überwindbar, ja, zu der wundersamen Wirklichkeit eines gemeinsamen und solidarischen Lebens und Denkens heraufgehoben«. 46 Levinas könnte kaum weiter entfernt sein von diesem hermeneutisch-optimistischen Glauben. Kann man überhaupt noch sprechen in dieser gepeinigten Welt, fragt er wie viele andere nach der Shoah. 47 Ist das primär oder allein eine Frage des guten, Solidarität verbürgenden, alles ›Negative‹ letztlich ›aufhebenden‹ Willens, wie es Gadamer im Dialog mit Derrida nahelegte? 48 Scheitert menschliche Kommunikation (nur) an bestimmten Formen radikaler Gewalt oder liegt ihr Scheitern in ihrem Funktionieren selbst begriffen, wie Georges-Arthur Goldschmidt andeutete? 49 Bringt gerade das Scheitern sie zum Reden, ohne dass letzteres je das Schweigen gänzlich aufheben könnte, das sich über die Frage legt, inwiefern es versagt? 50 Levinas wartet Vgl. C. Chalier, »The Philosophy of Emmanuel Levinas and the Hebraic Tradition«, in: A. T. Peperzak (Hg.), Ethics as First Philosophy. The Significance of Emmanuel Levinas for Philosophy, Literature and Religion, New York, London 1995, 3–12, hier: 4. 46 H.-G. Gadamer, Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1983, 25. 47 E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, 128. Stellt sich die gleiche Frage nicht angesichts einer Vielzahl mehr oder weniger vergleichbarer Desaster? Vgl. dazu J. K. Roth, The Failures of Ethics. Confronting the Holocaust, Genocide & Other Mass Atrocities, Oxford 2018. Siehe S. 271, unten. 48 J. Derrida, »Guter Wille zur Macht (I). Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer«, in: Der ununterbrochene Dialog, 51 ff. 49 G.-A. Goldschmidt, Der bestrafte Narziß, Zürich 1994. 50 Auch auf die offene Wunde dieser Fragen hat wie kein anderer Georges-Arthur Goldschmidt seinen Finger gelegt; verwiesen sei nur auf sein Buch Freud wartet auf das Wort. Freud und die deutsche Sprache II, Franfurt/M. 2008, 16, 18, 146, 158, 228, 45
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an dieser Stelle nicht mit fragwürdigen Verallgemeinerungen auf. Vielmehr verlangt er eine rigorose neue Bestandsaufnahme der elementarsten Fragen menschlicher Kommunikation, dieses so überaus strapazierten und entleerten Begriffs, unter dem man sich zwischen »präsentem Zu-Zweien-Sein« in (bereits altertümlich klingender) »Zwiesprache« 51 einerseits und anscheinend metrisch erfassbaren Sendern, Empfängern, die digitalisierte messages austauschen, andererseits kaum noch etwas Genaues vorstellen kann. Was, so fragt er, heißt es überhaupt, sich von Anderen als Anderen angesprochen zu begreifen? Und was heißt es, so wäre weiter zu fragen, sich an Andere als solche zu wenden – angesichts einer irreduziblen Anderheit, an der sich sämtliche Algorithmen die Zähne ausbeißen? Nicht etwa, weil es sich um einen infinitesimalen Rest an unerreichbarer Erkennbarkeit Anderer handeln würde 52, sondern weil es sich nicht um ›etwas‹ handelt, was noch in ontologischer Sprache fassbar wäre. 53 Levinas hat diese metaphysikkritischen Fragen einer so radikalen und nachhaltigen Befragung ausgesetzt, dass er die ohnehin schon bestehenden Zweifel an den Möglichkeiten, an der Reichweite und am Sinn jeglichen Dialogs – sei es zwischen zweien, sei es zwischen verfeindeten Gruppierungen, Nationen, Staaten oder Kulturen, die sich heute ausnahmslos ›im Dialog‹ befinden sollen – noch dramatisch verschärften musste. Ihm lag angesichts einschlägiger Gewalterfahrung 54 so viel daran, den Anderen in seiner Anderheit jeglichem praktischen und theoretischen ›Zugriff‹ zu entziehen, dass ihm die Frage größte Schwierigkeiten bereiten musste, wie die Asymmetrie, die sie ethisch bedeutet, überhaupt noch in so wo das besagte Scheitern und das Schweigen nahe zusammenrücken und das Reden herausfordern, statt es scheiternd einfach verstummen zu lassen. 51 G. Marcel, Dialog und Erfahrung, Frankfurt/M. 1969, 76 ff. 52 Vgl. S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017; Vf., »Das Soziale im Lichte radikaler Infragestellung. Zwischen uralter Sozialität, liens sociaux und Wiederkehr der ›sozialen Frage‹«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 70, Nr. 4 (2017), 374–404. 53 An der bereits bei Buber aufgeworfenen Frage kommt allerdings auch Levinas nicht vorbei, ob nicht der Andere, als konkret leibhaftig Existierender, an der ›sächlichen‹ Welt teilhaben muss, in der wir auch jemanden, eine Person, als ›etwas‹ identifizieren, ohne die Betreffenden je darin aufgehen zu lassen. Ohne solchen Weltbezug droht die Beziehung zum Anderen geradezu ›weltlos‹ zu werden (DP, 35 f.). 54 Vgl. zum Kontext Vf. (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 22017.
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etwas wie ein wechsel- und gegenseitiges Gespräch zwischen leibhaftig Beteiligten ›an Ort und Stelle‹ – zwischen prima facie unversöhnlich sich zu einander verhaltenden Konfliktparteien, heterogenen Bekenntnissen, Nationen und Kulturen – in der Welt eingehen kann. Gewiss standen ihm die Gefahren ›restloser‹ Auslieferung an die Welt, wie sie im Nationalsozialismus offenkundig geworden sind, dramatisch vor Augen. Aber hat er in der Folge nicht unterschätzt, wie sehr der Andere als solcher, einschließlich der ihm attestierten ›Transzendenz‹, gerade des Beistandes einer der Gewalt sich widersetzenden Welt bedarf? Erscheint ›nach Levinas‹ nicht jegliches Ansinnen, Andere ›leibhaftig‹ kennen zu lernen, mit ihnen gesprächsweise an Ort und Stelle vertraut zu werden und gegebenenfalls auch zu einem wenn auch befristeten Einverständnis mit ihnen zu gelangen, von vornherein als verfehlt? Ist womöglich gerade diesen Vorstellungen jene »dialogische Gewalt« zur Last zu legen? Aber was wäre, wenn man sie nicht einfach preisgeben kann, die Alternative? Lässt sich ein dialogisches Verhältnis zu Anderen vorstellen, das sie in ihrer unaufhebbaren Anderheit achtet, es aber nicht dabei belässt und sich der oft genug schmerzvollen Mühe des Gesprächs voraussetzungslos, ›an Ort und Stelle‹ und mit stets begrenzten Mitteln unterzieht, die von vornherein befürchten lassen, das, was ein idealer Dialog leisten müsste, unter endlichen und weltlichen Bedingungen notorisch zu verfehlen? Bedeutet das, dass der Dialog so oder so nur als unzureichender, verfehlter und versagender zur Sprache kommen kann? Wenn nicht, mit welchem denkbaren Ergebnis sonst? Diese Fragen stehen hier zur Diskussion. Nicht etwa, um zum x-ten Male ein Loblied auf den Dialog zu singen, von dem es bei Maurice Blanchot und vielen anderen heißt, er sei sehr selten geworden 55, sondern allenfalls, um ihm durch eine erneute Infragestellung Kraft zuzuführen, die bereits in dem Moment verkümmern muss, in dem man es unterlässt, zu bedenken, ob man sich ›wirklich‹ an die oder den Anderen als solche(n) gewandt hat; ob man je ›wirklich‹ miteinander gesprochen hat 56; wie man das überhaupt ›wissen‹ können will; wem eine Ant-
M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/ M. 1988, 213; C. Thürmer-Rohr, »Neugier und Askese – Vom Siechtum des dialogischen Prinzips an der Dienstleistungs-Universität«, in: T. Greven, O. Jarasch (Hg.), Für eine lebendige Wissenschaft des Politischen, Frankfurt/M. 1999, 61–74. 56 J.-L. Nancy, Die Mit-Teilung der Stimmen, Zürich 2014, 41 f. 55
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wort auf diese Frage zusteht; wie sie möglich werden kann, falls sie überhaupt möglich werden kann; welche Zeitperspektive dabei zu veranschlagen ist, falls nicht all dies ohnehin derart dahinsteht, dass man nur im Verzicht auf klare Antworten und eindeutige Aussichten überhaupt miteinander sprechen kann. Das wird nicht verhindern, dass man sich vom Dialog alles Mögliche und darüber hinaus UnMögliches verspricht: nicht nur Mitteilung von Vergangenem und Verständigung über vorliegenden Dissens, sondern auch wegweisendes Einverständnis und darüber hinaus Heilung – und das sogar mit Blick auf Andere, mit denen gar kein Dialog mehr möglich zu sein scheint, so dass man radikaler Sprach- und Wortlosigkeit zu verfallen droht. Darin liegt eine doppelte Gefahr: den Dialog einerseits gewaltsam zu überschätzen und andererseits leichtfertig zu unterschätzen, was er allemal voraussetzt: dass man Andere auf Erwiderung hin ansprechen kann und dass man sich in Anspruch nehmen lässt. Verbürgt diese juridisch nicht dingfest zu machende, durch kein Menschenrecht zu garantierende Ansprechbarkeit nicht noch vor allem Dialog und über allen Dialog hinaus unsere menschliche Existenz? Hören wir nicht bei lebendigem Leibe auf, sozial, politisch und kulturell zu existieren, wenn uns kein Anderer mehr dieser Ansprechbarkeit versichert? Liegt in ihr nicht jenes ›eine Wort‹, von dem es an einer weltbekannten Stelle heißt, es mache die Seele gesund? Tatsächlich kann bezeugte Ansprechbarkeit immerhin – auch wortlos – besagen: ›ich realisiere, dass du existierst und nehme das nicht nur zur Kenntnis, sondern bürge dafür‹ ; und zwar konkret, hier und jetzt, in einem verbindlichen Da-sein. Das allein mag zu wenig sein, als dass schon von Heilung die Rede sein dürfte. Aber ohne den Appell der Anderen, die leibhaftig Gehör finden, werden sich überhaupt keine kommunikativen Aussichten eröffnen. So gesehen verdient nicht nur der Dialog, sondern die auf Dauer in der Diachronie des Sozialen und des Politischen allen Widrigkeiten zum Trotz – vielleicht nur diskret und gerade angesichts radikaler Feinde – aufrechtzuerhaltende Gesprächsbereitschaft mehr Aufmerksamkeit, als man ihr bislang hat zukommen lassen. Das gilt auch für den Fall, dass die immerfort erhobene Forderung, sich zumal auf einen erneuten politischen, interreligiösen oder -ethnischen Dialog einzulassen, mit Nachdruck ideologiekritisch zu prüfen ist, insofern sie das Fortbestehen höchst gewaltträchtiger
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Machtasymmetrien nur kaschiert und auf diese Weise ihrerseits unter Gewaltverdacht gerät. 57 Der vorliegende Band geht auf eine Anregung von Lukas Trabert im Sommer des Jahres 2018 zurück, den in deutscher Sprache zuerst in der Übersetzung von Heinz-Jürgen Görtz und Martine LorenzBourjot (unter Mitarbeit von Alois Müller-Herold) 1980 veröffentlichten, französisch in De Dieu qui vient à l’idée (Paris 1982) mit dem Untertitel Conscience de soi et proximité du prochain erschienenen Text von Levinas über den Dialog in der Reihe Interpretationen und Quellen des Alber-Verlags in einer Reihe von kooperativen Kommentaren neu der Diskussion auszusetzen. Das geschieht nun im Folgenden ohne jegliche apologetische Absicht. Vertreten sind Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz, deren teils eher erläuternde, teils dezidiert kritische Beiträge allein der verhandelten Sache verpflichtet sind, so wie es eine Philosophie verlangt, die sich niemandem auf ›schulmäßige‹, ›parteiische‹ oder gar ›doktrinäre‹ Weise verschließt und insofern ihrerseits dem Versprechen des Dialogischen auch dort verpflichtet bleibt, wo sie es unnachsichtiger Revision aussetzt und sogar seiner Zerstörung Rechnung tragen muss. Letzterer begegnet man gewiss nicht mit Erfolg, indem man eine naive Apologie des Gesprächs gegen sie aufbietet. Wie dann aber, wäre im Ausgang von Levinas’ Text neu zu erwägen, ohne ihm die allzu große Last aufzubürden, auf alle eingeworfenen Fragen ›Antworten‹ zu liefern – so als sollte ausgerechnet ein Text über den Dialog dessen weiterführender Fortsetzung auf diese Weise ein Ende bereiten. Fbr., im Januar 2020
Wie bereits angesichts des berühmten, von Thukydides berichteten Melier-Dialogs, der durch eine massive Asymmetrie von Gewaltpotenzialen charakterisiert ist; vgl. dazu B. H. F. Taureck, Drei Wurzeln des Krieges und warum nur eine nicht ins Verderben führt. Philosophische Linien in der Gewaltgeschichte des Abendlandes, Zug 2019, 69–116.
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Dialog 1 Emmanuel Levinas
Aus dem Französischen übersetzt von Heinz-Jürgen Görtz und Martine LorenzBourjot, unter Mitarbeit von Alois Müller-Herold. Der vorliegende, nochmals überarbeitete Text wurde ursprünglich veröffentlicht in: Archivio di Filosofia (1980), 345– 357, und mit dem Untertitel Conscience du soi et proximité du prochain wieder abgedruckt in E. Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, 211–230. Dort wird auf den folgenden Text als Vorlage verwiesen, der auf Deutsch zuerst erschienen ist in: F. Böckle, F.-X. Kaufmann, K. Rahner, B. Welte (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, 1. Teilband, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1981, 61–85. An einigen Stellen sind signifikante Abweichungen der zweiten Version von der ersten festzustellen (s. u.). Alle Fußnoten sind, soweit nicht anders vermerkt, vom Hrsg. hinzugefügt worden.
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Dialog
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Der Geist als Wissen und die Immanenz
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3. 4. II.
III.
IV.
. . . . . . . . . Das Seelenleben als Wissen und Erfahrung . . . . . Gleichzeitigkeit der Präsenz von Anderem und Eigenem im Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . Der possessive Charakter von Denken und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegels Philosophie des absoluten Wissens . . . . .
Der Dialog der Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übereinstimmung und Einheit des Wissens in der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sprache, Vernunft und Gewalt . . . . . . . . . . 3. Der possessive Charakter von Denken und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Priorität des Wissens vor dem Dialog bei Hegel . .
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Vom Dialog zur Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wurzel des Ethischen im Dialog – ein radikaler Begriff des Ethischen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gottes Epiphanie in der ethischen Dimension des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dialog und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Martin Bubers Grundworte »Ich-Du« und »Ich-Es« 2. Absolute Distanz im Dialog und Rosenzweigs Idee der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Paradox der Philosophie des Dialogs und der neue Begriff des Geistes . . . . . . . . . . . . . 4. Die Wurzeln der inneren Rede in der Sprache . . . 5. Nähe, Brüderlichkeit und die Idee des Guten . . . 6. Dialog als ursprünglicher Modus der Transzendenz
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Einleitung
[1] Die Bedeutung, die heute von einer ganzen Reihe von Philosophen, Theologen, Politikern, Moralisten 1 und sogar von der öffentlichen Meinung dem Begriff und der Praxis des Dialogs – jedenfalls dem Wort »Dialog« – beigemessen wird, dem Gespräch, das die Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander führen, indem sie sich in Rede und Gegenrede gegenseitig ansprechen und Aussagen und Einwände, Fragen und Antworten austauschen –, bezeugt eine Neuorientierung der Vorstellung, die sich die westliche Gesellschaft vom Wesen des Sinns und des Geistigen [de l’essence du sensé et du spirituel] macht. – [2] Die Orientierung an einem neuen Geistbegriff ist vielleicht eine Folge der Prüfungen, die die Menschen des 20. Jahrhunderts seit dem Ersten Weltkrieg durchmachten. Man kann heute sogar von einer »Philosophie des Dialogs« sprechen und sie der philosophischen Tradition der Einheit des Ich oder des Systems, der Selbstgenügsamkeit und der Immanenz entgegenstellen. Die Werke und der weltweite Einfluss Martin Bubers, Franz Rosenzweigs und Gabriel Marcels, aber auch viele bemerkenswerte Beiträge von weniger berühmten Autoren 2, rechtfertigen diese Sprechweise.
Im Sinne der Tradition der französischen »Moralisten« [Anm. d. Übers.]. Auf die, abgesehen von Franz Rosenzweig, Martin Buber und Gabriel Marcel, Levinas allenfalls en passant zu sprechen kommt; vgl. E. Levinas, »Martin Buber, Gabriel Marcel und die Philosophie«, in: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, Wien, München 1991, 11–38.
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I. Der Geist als Wissen und die Immanenz
1. Das Seelenleben als Wissen und Erfahrung 3 [3] Die überlieferte Philosophie situiert den Ursprung oder den natürlichen Ort alles Sinnhaften [sensé] im Seelenleben [psychisme], das sie als ein bis zum Selbstbewusstsein fortschreitendes Wissen konzipiert. Das anerkennt sie als Geist. – Ist denn nicht alles, was im Seelenleben vorkommt und was in ihm geschieht, letztlich wissbar? Sogar das Verborgene und das Unbewusste, ob verdrängt oder entstellt [altérés], werden am Bewusstsein gemessen, das sie verloren haben oder das sie verloren hat. Selbst Heilung geschieht durch das Bewusst-sein. Alles Erlebte [vécu] gibt sich legitimerweise als Erfahrung aus. Es verwandelt sich in Erfahrungen und Erkenntnisse, die in einer Einheit des Wissens konvergieren, welche Dimensionen und Modalitäten es auch immer haben mag: Kontemplation, Willen, Affektivität – Sinnlichkeit [sensibilité] und Verstand – äußere Wahrnehmung, Selbstbewusstsein und Selbstreflexion – objektivierende Thematisierung dessen und Vertrautheit mit dem, was nicht thematisierbar ist – primäre und sekundäre Qualitäten, kinästhetische und koenästhetische Wahrnehmungen. Die Beziehungen zum Nächsten, zur sozialen Gruppe und zu Gott wären auch noch solche Erfahrungen, kollektiver oder religiöser Art. Selbst wenn das Seelenleben auf die Unbestimmtheit des Lebens und auf die Vertrautheit des bloßen Existierens, des bloßen Seins reduziert ist, erlebt es dieses oder jenes, ja es ist dieses oder jenes nach dem Modus des Sehens, des Erfahrens, als wären leben und sein transitive Verben 4 und Diese und alle weiteren Zwischenüberschriften wurden in der späteren französischen Fassung getilgt. 4 Vgl. E. Levinas, »Ein Beitrag zu Jean Wahls Buch Kleine Geschichte des Existenzialismus« [1937], in: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, Kap. V, hier: 95; Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, 70; Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987, 67–71; zur 3
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Dialog
dieses und jenes Akkusativobjekte. Ohne Zweifel ist es dieses implizite Wissen, das den weiten Gebrauch rechtfertigt, den Descartes in seinen Meditationen vom Terminus cogito macht. Dieses Verb in der ersten Person drückt die Einheit des Ich treffend aus, in der jedes Wissen sich selbst genügt.
2. Gleichzeitigkeit der Präsenz von Anderem und Eigenem im Wissen [4] Als Wissen bezieht sich das Denken auf das Gedachte, das Sein genannt wird. Auf das Sein bezogen, ist das Denken außerhalb seiner selbst, bleibt aber auf wunderbare Weise in sich selbst und kehrt zu sich selbst zurück. Die Exteriorität bzw. Andersheit [extériorité ou altérité] des Gewussten wird in die Immanenz hereingeholt. Was das Denken weiß oder was es im Laufe seiner »Erfahrung« lernt, ist zugleich das Andere [l’autre] und das Eigene [le propre] des Denkens. Man lernt nur das, was man schon weiß und was sich in die Innerlichkeit des Denkens als eine abrufbare, zu vergegenwärtigende Erinnerung einfügt. Erinnerung und Einbildungskraft stellen die Synchronie und die Einheit dessen sicher, was in der der Zeit unterworfenen Erfahrung sich verliert oder erst im Kommen ist.
3. Der possessive Charakter von Denken und Wahrnehmung [5] Als Lernen 5 verhält sich das Denken wie ein Zugriff, ein Ergreifen des Gelernten und ein In-Besitz-nehmen. Das »Ergreifen« [saisir] des Lernens ist nicht rein metaphorisch zu verstehen. Schon lange vor dem technischen Interessiertsein ist es bereits Entwurf einer inkarnierten Praxis, schon ein In-Beschlag-nehmen [main-mise]. Die Gegenwart erfolgt als eine Handhabe. – [6] Kommt ein noch so abstraktes Erkennen Transitivität des Seins, das Levinas mit Bergson und Heidegger verbal deutet, vgl. E. Levinas, Parole et silence. Œuvres 2, Paris 2009, 120, 122; ders., Eros, Littérature et Philosophie. Œuvres 3, Paris 2013, 203; J. Wahl, Vom Nichts, vom Sein und von unserer Existenz, Augsburg, Basel 1954, 71 ff. (Diskussionsbemerkungen von Levinas); Zwischen uns, 240; Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, 53. 5 Levinas spielt hier mit der etymologischen Bedeutung von »apprendre« und »saisir«, weiter unten von »perception« [Anm. d. Übers.].
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Dialog
aus, ohne die Dinge der berühmten »Lebenswelt« 6 [monde de la vie] in den Griff zu nehmen? Das Sein, das dem erkennenden Ich erscheint, belehrt es nicht nur, sondern gibt sich ihm ipso facto. Schon die Wahrnehmung ergreift; und der »Begriff« 7 bewahrt diese Bedeutung von »in den Griff nehmen«. Dieses »sich geben« [se donner] – welche Mühe der Abstand zwischen Wunsch und Haben auch erfordern mag – entspricht ganz dem Maßstab des Denkens und verspricht ihm durch seine »Transzendenz« Besitz, Genuss und Befriedigung. Als ob das Denken seinem eigenen Maßstab gemäß denken würde aufgrund seines Vermögens, das, was es denkt, im Modus der Handhabe einzuholen. Es ist immanentes Denken und immanentes Seelenleben, Selbstgenügsamkeit. Gerade das macht das Phänomen der Welt aus: die Tatsache, dass es zwischen dem Gedachten und dem Denkenden eine Übereinstimmung gibt, dass ihr Erscheinen zugleich ein Sich-Geben, ihre Erkenntnis eine Befriedigung ist, als stillte sie ein Bedürfnis.Vielleicht drückt Husserl gerade das aus, wenn er eine Korrelation – die Korrelation überhaupt – zwischen Denken und Welt annimmt. Husserl beschreibt das theoretische Wissen in seinen vollkommensten Formen – das objektivierende und thematisierende Wissen – als Erfüllung des Maßstabes des Meinens, als Erfüllung der Leerintention.
4. Hegels Philosophie des absoluten Wissens [7] Das Werk Hegels, in das alle Strömungen des abendländischen Geistes einmünden und in dem alle seine Ebenen sich manifestieren, ist eine Philosophie des absoluten Wissens und des befriedigten Menschen zugleich. Das Psychische des theoretischen Wissens, das ein Denken konstituiert, das nach seinem eigenen Maßstab denkt und das in seiner Adäquation an das Gedachte sich an sich selbst angleicht, wird Selbstbewusstsein. Das Selbe [le Même] findet sich im Anderen [l’Autre] wieder. 8 [8] Die Tätigkeit des Denkens vereinnahmt jede Andersheit [altérité], und gerade darin besteht letzen Endes die Rationalität des DenDt. im Orig. Dt. im Orig. 8 Auch hier bleibt die Terminologie zweideutig: le même kann das Selbe oder denselben, l’autre das Andere oder den Anderen meinen; vgl. E. Levinas, »Gott und die Philosophie«, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg i. Br., München 1981, 81– 123, hier: 88. 6 7
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Dialog
kens. Die begriffliche Synthese und Synopsis sind stärker als die Dispersion und die Unvereinbarkeit dessen, was sich wie das Vorher und Nachher als Anderes ausgibt. Sie führen zurück zur Einheit des Subjekts und der transzendentalen Apperzeption des ich denke. Hegel schreibt: »Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, dass die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des ›ich denke‹ oder des Selbstbewusstseins erkannt wird.« 9 Die Einheit des ich denke ist die letzte Form des Geistes als Wissen, müsste er sich auch mit dem Sein, das er erkennt, vermengen und müsste er auch mit dem System der Erkenntnis identisch werden. [9] Hier stellt sich jedoch die Frage: Ein Denken nach dem Maß des Denkers, ist das nicht ein Gemeinplatz? Es sei denn, dies meine ein Denken, das Gott nicht denken kann. 10
9 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 6 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1969, 254. 10 Hier weicht die spätere Version signifikant nüchterner ab. Sie wiederholt zunächst jenen Satz: »Die Einheit des ich denke ist die letzte Form des Geistes als Wissen.« Dann aber fährt Levinas fort: »Auf jene Einheit des ich denke lassen sich alle Dinge zurückführen, wobei sie ein System konstituieren. Das System des Intelligiblen ist letzten Endes Selbstbewusstsein.« So schließt im Übrigen der Teil II wieder an.
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II. Der Dialog der Immanenz
[10] Das ich denke, in dem sich das aktuale Sein konstituiert, kann dahingehend interpretiert werden, dass es mit dem, was es konstituiert, zusammenfällt: das volle Selbstbewusstsein des ich denke wäre das System selbst des Wissens in seiner Einheit als Intelligiblem. Das Denken, das diese Vernunftordnung anstrebt, gilt trotz der Mühsal seines Suchens, trotz seines Erfindungsgeistes als ein Umweg, den das System des Seins benutzt, um sich zu ordnen, als ein Umweg, auf den seine Begriffe und Strukturen sich einlassen, um sich zu einem System zusammenzufügen. Nicht nur bei Hegel, bei dem der Erkenntnisprozess »die Bewegung des Seins selbst« 11 ist, und auch nicht nur im strukturalistischen Objektivismus unserer Tage wird der Geist so verstanden. In der Phänomenologie Husserls werden – trotz der dem transzendentalen Ego zugeschriebenen schöpferischen Spontaneität – die Modi der Erkenntnis wesentlich durch das Sein bestimmt, zu welchem die Erkenntnis – als Teleologie des Bewusstseins – gelangt. Der Geist ist die Ordnung der Dinge – oder die Dinge als geordnete sind der Geist, wobei das Denken deren Sammlung und Einordnung wäre. Die Möglichkeit oder die Hoffnung, die das ich denke hätte, sich angesichts des Gedachten nicht mehr als für sich zu setzen, sich vor dem Intelligiblen zu beugen, wäre gerade sein Verstehen, seine Rationalität, seine letzte Verinnerlichung.
1. Übereinstimmung und Einheit des Wissens in der Wahrheit [11] Das sich vollziehende Denken sucht Übereinstimmung und Einheit des Wissens in der Wahrheit auf unterschiedlichen Wegen. Zwar gebraucht es Wörter. Aber diese sind Zeichen, die es sich selber gibt, ohne 11
Hegel, Wissenschaft der Logik II, 13.
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mit jemandem zu sprechen: in seinem Werk der Sammlung kann es mit der Suche nach einer Gegenwart des Gedachten zu tun haben, die über das, was unmittelbar leiblich da 12 oder als Bild da ist, hinausgeht, was jenseits eines durch ein Zeichen Bezeichneten liegt, nach einer Gegenwart dessen, was dem Denken noch nicht gegenwärtig, jedoch in sich selber schon nicht mehr verschlossen ist. Doch dass es kein Denken ohne Sprache gibt, bedeutet somit nur die Notwendigkeit einer inneren Rede [discours intérieur]. Das Denken spaltet sich, um sich zu befragen und sich zu antworten; es verliert dabei aber nicht den Faden. Es reflektiert auf sich selbst, indem es sein spontanes Fortschreiten unterbricht, bleibt aber immer noch demselben ich denke verpflichtet. Es bleibt dasselbe. Es geht von einem Punkt zu einem entgegengesetzten Punkt, der ihn fordert. Doch die Dialektik, in der es wieder zu sich selbst findet, ist kein Dialog, oder es ist höchstens der Dialog der Seele [âme] mit sich selber, der sich in Fragen und Antworten vollzieht. Genau so definiert Plato das Denken. Nach der traditionellen Interpretation der inneren Rede, auf die diese Definition zurückgeht, bleibt der Geist im Denkvollzug einer und einzig, trotz seiner dialektischen Bewegung, in der er sich selbst gegenübertreten kann.
2. Sprache, Vernunft und Gewalt 13 [12] Das Sprechen der Sprache realisiert sich in einer empirischen Vielheit von denkenden Menschen, die in ihrem Dienste stehen. Aber selbst da lässt sie sich in ihrer Unterordnung unter das Wissen begreifen, das darin besteht, dass jeder der Gesprächspartner in das Denken des anderen eintritt, mit ihm in der Vernunft übereinstimmt, sich in ihr verinnerlicht. Im Gegensatz zur »Innerlichkeit« der heimtückischen Leidenschaften und der verborgenen Hinterlist der subjektiven Meinungen wäre die Vernunft das wahre innere Leben. Die Vernunft ist eins. 14 Sie hat niemanden, dem sie sich mitteilen könnte, nichts steht ausserhalb ihrer. Sie ist fortan wie das Schweigen der inneren Rede.
Dt. im Orig. Vgl. die Referenz auf Eric Weils Logique de la philosophie (1951) in: E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, 15. 14 »Die Vernunft in allein«, schrieb Levinas dagegen noch in Die Zeit und der Andere (41), »und in diesem Sinne begegnet das Erkennen niemals etwas wirklich anderem«. 12 13
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[13] Die Fragen und Antworten eines solchen »Ideenaustausches« reproduzieren oder inszenieren noch einmal die des Dialogs der Seele mit sich selbst. Die denkenden Subjekte sind wie zahllose Punkte, um welche herum es licht wird, wenn sie miteinander sprechen und einander wiederfinden, ganz so wie in der inneren Rede, wo sich der Faden des Denkens, das sich selbst befragen musste, neu knüpft. Es ist ein Licht, in dem die dunklen Punkte der verschiedenen Ichsubjekte verblassen, verschwimmen, aber auch sublimiert werden. Schließlich wird dieser Ideenaustausch in einer einzigen Seele, in einem einzigen Bewusstsein, einem cogito stattfinden: die Vernunft bleibt cogito. [14] Man kann dieses Gespräch Dialog nennen, in dem die Teilnehmer gegenseitig in ihr Denken eintreten, bei dem die Teilnehmer durch den Dialog zur Vernunft gebracht werden. Und man kann die Einheit der mannigfaltigen Bewusstseine, die in dasselbe Denken eingetreten sind, indem ihre wechselseitige Anderheit unterdrückt 15 wird, Sozialität nennen. Dies ist der berühmte Dialog, der dazu bestimmt ist, der Gewalt dadurch Einhalt zu gebieten, dass er die Gesprächsteilnehmer wieder zur Vernunft bringt und Frieden in Einstimmigkeit [unanimité] stiftet, wobei er die Nähe [proximité] in der Kongruenz [coïncidence] unterdrückt. Der bevorzugte Weg des westlichen Humanismus. Das ist der Adel der idealistischen Entsagung. Gewiss. Aber dieser Dialog wäre nur möglich in der reinen Liebe zur Wahrheit und zur Intelligibilität eines spinozistischen Universums. – [15] Das Sich-Verbeugen vor der Wahrheit kann sich aber auch als Macht der Beherrschung und als Möglichkeit zur List erweisen. Dies zeigt sich in der Erkenntnis des anderen als eines Gegenstandes, absehend von jeder Sozialität mit ihm. Ist einmal die Macht über ihn wie über ein Ding erworben, erwachsen gerade aus der Sprache, die zur einen Vernunft führen soll, alle Versuchungen der trügerischen Rede, der Werbung und der Propaganda. Indes muss man sich doch vor allem fragen, ob die Erhabenheit dieses 15 Hier könnte für supprimé, wie es sich im Orig. findet, auch »aufgehoben« stehen. Diese Differenz markiert allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen Levinas und Hegel. Levinas akzentuiert im Folgenden das Unterdrückende; fraglich aber ist gerade, ob eine Aufhebung im Sinne Hegels als eine Form der Unterdrückung der Ander(s)heit zu verstehen ist. An anderer Stelle deutet Levinas das aufheben (dt. im Orig.) gar als vernichten und konservieren (beides verkürzt den dialektischen Gedanken der Aufhebung um die Integration des Aufgehobenen, sowohl vor direkter Vernichtung als auch vor bloßer Konservierung Bewahrten); Levinas, Ethik und Unendliches, 32. Die ursprüngliche Übersetzung unterscheidet nicht terminologisch Andersheit und Anderheit, was vom französischen Begriff alterié auch nicht nahegelegt wird. Vgl. die Seiten 36, unten, sowie 248 in diesem Band.
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durch die Vernunft gestifteten Friedens, den die edlen Seelen genießen, sich nicht einer vorgängigen Nicht-Indifferenz [non-indifférence 16] dem anderen Menschen gegenüber verdankt, der Sozialität mit ihm. Diese Sozialität wäre eine Beziehung zum Nächsten [prochain], eine andere Beziehung aber als die Vorstellung, die man sich von seinem Sein machen kann, etwas anderes als die reine Erkenntnis seiner Existenz, seiner Natur, seiner Geistigkeit. Man muss sich fragen, ob die Dynamik und der Lobpreis des Friedens, der durch die Wahrheit gestiftet wird, nur von der Aufhebung 17 der Anderheit 18 abhängig ist und nicht ebensosehr von der Möglichkeit einer Begegnung mit dem anderen als anderem (vielleicht dank eines Dialogs, der der Vernunft vorausgeht), deren bloßer Vorwand eine gemeinsame Wahrheit ist. [16] Wie dem auch sei: Das große Problem, das sich denen stellt, die das Ende der Gewalt von einem Dialog erwarten, der nur noch das Wissen zu vervollkommnen hätte, ist die Schwierigkeit, die sich selbst nach dem Geständnis Platos ergeben würde, wenn man die feindlichen, einander gegenüber zur Gewalt neigenden Menschen in diesen Dialog zwingen wollte. Man müsste einen Dialog finden, um in den Dialog hineinzuführen. Es sei denn, man setze die vorgängige Einheit eines souveränen und göttlichen Wissens, einer Substanz voraus, die sich selber denkt und die in eine Vielheit von Bewusstseinen zersplittert wäre, die ihrer selbst zwar hinlänglich Herr, in ihrem Gesichtskreis eingeengt und aufgrund ihrer Unterschiede einander entgegengestellt und gar feindlich gesonnen sind, die aber von Konflikt zu Konflikt zu jenen Dialogen gezwungen oder geführt werden, die allmählich die Konvergenz der Standpunkte ermöglichen würden. Diese Standpunkte gehen von zwar vielen verschiedenen, aber für die Vollständigkeit eines Denkens notwendigen Gesichtspunkten aus; eines Denkens, das seine verlorene Souveränität und Einheit, sein ich denke oder sein System wiederfindet.
E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 5; Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht [1974], Freiburg i. Br., München 1992, 185; Eigennamen, 75. 17 Hier steht i. Orig. wiederum suppression, was, als Unterdrückung übersetzt, allerdings dem folgenden »ebensosehr« prima facie direkt zuwiderliefe. 18 Levinas unterscheidet nicht terminologisch die Andersheit von ›etwas‹ bzw. von allem anderem einerseits und die Anderheit des menschlichen Anderen andererseits. Wo gerade nicht erstere gemeint ist, steht im Folgenden Anderheit. Siehe unten, Anm. 22. 16
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3. Husserls Theorie der Intersubjektivität [17] Selbst der Ursprung der Sprache ließe sich sodann vom Wissen her suchen. Er wäre logisch und vielleicht auch zeitlich später anzusetzen als das Wissen. In der empirischen Vielheit von Wesen, die als intentionale und inkarnierte Bewusstseine existierten, hätte jedes Wesen das Wissen und das Bewusstsein von »etwas« als auch seines eigenen Bewusstseins, gelangte aber durch appräsentative Erfahrungen und durch Einfühlung 19 zum Bewusstsein von anderen Bewusstseinen, d. h. zur Erkenntnis, dass jedes andere Bewusstsein das Bewusstsein von denselben »etwas«, von sich selbst und von allen anderen Bewusstseinen hat. Kommunikation würde so etabliert: Die Zeichen der Sprache nähmen ihren Ursprung in allen expressiven Manifestationen der Bedeutungsleiber in der Appräsentation. Die Sprache entstünde aus einer Appräsentation, die zugleich Erfahren und Lesen der Zeichen ist. Die Husserl’sche Theorie der Konstitution der Intersubjektivität kann man als eine strenge Formulierung der Unterordnung des Dialogs unter das Wissen betrachten, die jede unabhängige Sinnes-Modalität, auf die der Dialog zielen könnte, auf das Gelebte [vécu] als Erfahrung zurückführt. In einem charakteristischen und bemerkenswerten Text seiner Krisis geht Husserl sogar so weit zu behaupten: »Was ich da wissenschaftlich sage, sage ich von mir und zu mir, aber damit paradoxerweise auch zu allen anderen, als in mir und ineinander transzendental implizierten.« 20
4. Priorität des Wissens vor dem Dialog bei Hegel [18] Die Art und Weise, wie Hegel in den berühmten Seiten der Phänomenologie des Geistes die Mannigfaltigkeit der Bewusstseine, die sich gegenseitig anerkennen und somit kommunizieren, aus der dialektischen Bewegung zum absoluten Wissen herleitet, ist noch dieser Priorität des Wissens vor dem Dialog verpflichtet. Aber dieses Vorgehen stellt in einem gegenüber der Husserl’schen Phänomenologie grundverschiedenen ontologischen Kontext eine spekulative Bemühung dar, die Entgegengesetztheit dieser Mannigfaltigkeit im Denken zu fundieDt. im Orig. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Husserliana VI, Den Haag 1954, 262.
19 20
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ren, während die Notwendigkeit selbst, mit der dieses abgeleitete Moment sich darstellt, schon die Unmöglichkeit für die Sprache bedeutet, sich in den Dimensionen des cogito zu halten.
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III. Dialog und Transzendenz
[19] Die zeitgenössische Philosophie des Dialogs betont eine ganz andere Sinndimension, die sich in der Sprache eröffnet, nämlich die zwischenmenschliche Beziehung [rapport inter-humain] – die ursprüngliche Sozialität [socialité originaire] –, die sich im Dialog ereignet. Sie habe eine Bedeutung aus sich selbst, und es komme ihr eine eigene geistige Authentizität zu. Die Vielzahl der Denkenden, die Pluralität der Bewusstseine, ist nicht nur bloßes Faktum – etwas Zufälliges oder ein rein empirisches »Unglück« –, ausgelöst durch einen Fall oder durch eine ontologische Katastrophe des Einen [l’Un]. Die Sozialität, die die Sprache zwischen den Menschen herstellt, stellt nicht bloß die Kompensation für eine Einheit im Denken dar, die verlorengegangen oder verfehlt worden wäre. Im Gegenteil ist sie über die Selbstgenügsamkeit des Für-sich-Seins hinaus eine andere Möglichkeit menschlicher Auszeichnung, die nicht an der Vollkommenheit des Selbstbewusstseins meßbar ist. In der Tat hat Gabriel Marcel in seinem Metaphysischen Tagebuch schon sehr früh das kritisiert, was er »den erhabenen Wert der autarkia, der Selbstgenügsamkeit« nennt, und nachdrücklich behauptet, dass »allein eine Beziehung zwischen lebendigen Wesen geistig genannt werden dürfe«. 21
1. Martin Bubers Grundworte »Ich-Du« und »Ich-Es« [20] In der neuen Denkweise ist die Sozialität der Sprache nicht mehr reduzierbar auf die Funktion, zwischen der Vielheit der Egos Wissen zu übermitteln und sie miteinander zu konfrontieren – ein Geschehen, bei dem dieses Wissen sich zu einer universalen Intelligibilität erhebt. Die denkenden Egos würden von dieser Intelligibilität absorbiert, höben G. Marcel, Journal Métaphysique, Paris 1927, 207; vgl. M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, 41.
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sich in ihr auf oder würden eins, um aufgrund dieser Einheit der Vernunft »endlich sich selbst zu genügen«. [21] Die Beziehung zwischen Denkenden habe an und für sich einen Sinn, nämlich den der Sozialität. Sie habe diesen Sinn im Ansprechen eines Du durch ein Ich, in dem, was Buber das Grundwort »Ich-Du« nennt, das das Prinzip und die ausdrückliche oder implizite Grundlage eines jeden Dialogs sei. Es unterscheide sich radikal vom anderen Grundwort: »Ich-Es«. Letzteres drücke das Wissen eines Ich aus, das von einem in seiner Neutralität dem Akt der Erkenntnis unterworfenen Gegenstand Besitz ergreift, indem er ihn sich assimiliert und seine Intentionen erfüllt, um mit Husserl zu sprechen; es bezeichne das Subjekt der idealistischen Philosophie in seiner Beziehung zur Welt, indem es sich zu den Dingen und zu den als Dinge behandelten Menschen verhält; es bezeichne in der Rede selbst den Rückbezug des Sprechens auf die Realitäten und auf die Zusammenhänge, die das Sprechen erzählt oder darlegt. [22] Das Kennzeichnende bei dieser Unterscheidung ist die Ursprünglichkeit und die Unreduzierbarkeit des Grundwortes Ich-Du. Das Ich-Es, das Wissen, fundiert das Ich-Du nicht. Die neue Philosophie des Dialogs lehrt folgendes: den anderen Menschen als Du anrufen oder ansprechen und mit ihm reden hängt nicht von einer vorgängigen Erfahrung des anderen 22 ab, leitet jedenfalls die Bedeutung »Du« nicht von dieser Erfahrung her. Die Sozialität des Dialogs ist nicht die Erkenntnis der Sozialität. Der Dialog ist nicht die Erfahrung des Zusammentreffens von Menschen, die miteinander sprechen. Der Dialog ist ein Ereignis des Geistes, zumindest ebenso unableitbar und ebenso alt wie das cogito. Für Buber wird in der Tat das Du par excellence im ewig unsichtbaren, nicht objektivierbaren, nicht thematisierbaren Du Gottes angerufen; für Gabriel Marcel hieße es Gott verfehlen, wollte man ihn in der dritten Person nennen. Im Dialog, im Ich-Du gebe es über die
Buber spricht von einer »Erfahrung der Anderheit« als religiöser Erfahrung, die nicht in den »Zusammenhang des Lebens« eingeht bzw. nicht in ihm aufgeht. M. Buber, »Zwiesprache« [1929], in: Das dialogische Prinzip, 127–196, hier: 157. Weder Levinas selbst noch die erste dt. Übersetzung nutzt den Begriff der Anderheit in Abhebung von einer allgemeinen Andersheit, die allem Unterscheidbaren eignet, obwohl es gerade darauf ankommen sollte. In sozialer bzw. gesellschaftlicher Hinsicht spricht Buber auch von »vielgesichtiger Anderheit« oder »Vielheits-Anderheit« (»Die Frage an den Einzelnen« [1936], ebd., 197–267, hier: 233, 235). Zur Alterität als Anderheit vgl. E. Levinas, Die Zeit und der Andere [1946/7], Hamburg 1984, 13. 22
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Geistigkeit des durch die Welt und in der Welt erfüllten Wissens [savoir comblé] hinaus die Eröffnung der Transzendenz.
2. Absolute Distanz im Dialog und Rosenzweigs Idee der Einsamkeit [23] Einerseits vertieft sich [se creuse] im Dialog eine absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du, die durch das unaussprechbare Geheimnis 23 ihrer Intimität absolut voneinander getrennt sind, da jeder der Partner als Ich und als Du einzigartig [unique], dem anderen gegenüber absolut anders ist, ohne jedes gemeinsame Maß, ohne jeden freien Raum für eine etwaige Koinzidenz; andererseits aber entfaltet sich hier – oder tritt das Ich als Ich und das Du als Du bestimmend dazwischen – die außerordentliche und unmittelbare Beziehung des Dia-logs, der diese Distanz transzendiert, ohne sie abzuschaffen, ohne sie zu vereinnahmen, wie es der Blick tut, der dadurch die Distanz zurücklegt, die ihn von einem Gegenstand in der Welt trennt, dass er sie umfasst, sie einschließt. [24] Wenn wir an die bemerkenswerte Unterscheidung denken, die Franz Rosenzweig im Menschlichen zwischen dem der Welt zugehörigen Individuum und der Selbstheit 24 [ipséité] macht 25, wenn wir an die Einsamkeit der Selbstheit, worin das Ich sich aufhält, denken (wobei m. E. das Geheimnis des Psychismus das »Wie« [comment] ist), so werden wir vielleicht die ontologische Trennung zwischen Menschen ermessen, die Transzendenz abschätzen können, die zwischen ihnen klafft. Sodann werden wir auch die außerordentliche Transitivität des Dialogs und die supraontologische – oder religiöse – Bedeutung der Sozialität oder der menschlichen Nähe ermessen können. Die Einsamkeit der Selbstheit, von der Rosenzweig spricht 26, darf nicht im Sinne Heideggers verstanden werden, der daraus einen modus deficiens des Mitseins macht. 27 Bei Rosenzweig handelt es sich eher um eine EinsamDie spätere Version ergänzt nach dem folg. Semikolon: Ein Geheimnis des Anderen für mich, »secret auquel, à tout jamais, je n’accède que par l’appresentation, mode d’exister de l’autre comme autre« (221). 24 Hier wie auch im Folg. dt. i. Orig. 25 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 51996, 72 ff., 152. 26 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 77 ff. 27 Levinas blendet hier Rosenzweigs Begriff des Selbst und Heideggers daseinsanalytischen Begriff des Mitseins auf eine Weise ineinander, die bei letzterem keine Be23
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keit, die keineswegs aus sich selbst heraustritt, die keine Erinnerung an die Gemeinschaft bewahrt hat, aber auch um eine Einsamkeit, die dem Wesen der Dinge, welche als Individuen schon einer gemeinsamen Gattung angehören, fremd ist 28; es handelt sich wohl um eine Einsamkeit des »nichts gemeinsam mit niemandem und mit nichts« und die, dies nebenbei, keiner »transzendentalen Reduktion« bedarf, um ein »außerhalb der Welt« zu bedeuten.
3. Das Paradox der Philosophie des Dialogs und der neue Begriff des Geistes [25] Zu Unrecht würde man als Logiker absolute Distanz im rein formalen Begriff eines Abstands zwischen irgendwelchen Punkten denken, die schon dadurch voneinander unterschieden sind, dass der eine nicht der andere ist. Die Distanz oder das absolute Anders-Sein der Transzendenz bedeutet von sich her die Differenz und die Beziehung zwischen dem Ich und dem Du als Gesprächspartner, für die der Begriff des »irgendeines Punktes«, des etwas überhaupt 29 eine formale Abstraktion bleibt. Das Konkrete ist jene absolute Distanz und Beziehung des Dialogs, die älter sind als jede Unterscheidung von irgendwelchen Punkten, die wie auch immer zusammentreffen. Es handelt sich um eine absolute Distanz, die sich der Synthese widersetzt, welche der synoptische Blick eines Dritten zwischen zwei Menschen im Dialog herstellen wollte. Das Ich und das Du sind nicht objektiv zu umfassen, kein und ist zwischen ihnen möglich, sie bilden nicht eine zusammengesetzte Einheit. Es gibt keine Einheit, die im Geiste eines Dritten »über ihren Köpfen« oder »hinter ihrem Rücken« entstehen und die hier ein Zusammengefügtes bilden könnte. Ebensowenig wie es vom Ich zum Du eine »Thematisierung« des Du, eine »Erfahrung« des Du gibt. Das Du ist stätigung findet. Levinas nennt auch die Quellen nicht, auf die er sich bezieht; vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, §§ 25 ff., 68; ders., Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Gesamtausgabe Bd. 29/30, II. Abteilung Vorlesungen 1923–1944, Tübingen 21992; vgl. Levinas, Die Zeit und der Andere, 32. 28 Vgl. E. Levinas, »Frieden und Nähe« [1984], in: Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007, 137–149, hier: 141 ff. 29 Dt. im Orig. Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1969, 1. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kap., A ff.
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keine »Objektivierung«, bei welcher man die Verdinglichung [réification] des anderen Menschen nur vermieden hätte. Die Begegnung gehört nicht derselben Ordnung an wie die Erfahrung. [26] Aber im Sprechen, im Dialog, im Ansprechen eines Du durch das Ich bahnt sich ein ausserordentlicher und unmittelbarer Übergang, der stärker ist als jedes ideale Band und als jede Synthese, die das ich denke in seinem Angleichen- und Begreifen-Wollen verwirklichte. Ein Übergang, wo es keinen Übergang mehr gibt. Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog. Dies ist vielleicht die paradoxe Botschaft jeder Philosophie des Dialogs oder eine Art, den Geist durch die Transzendenz, d. h. durch die Sozialität, durch die unmittelbare Beziehung zum anderen zu definieren. Diese Beziehung unterscheidet sich von allen Verbindungen, die sich innerhalb einer Welt herstellen, in der das Denken als Wissen nach dem eigenen Maß denkt, wo Wahrnehmung und Begriff das Gegebene ergreifen und sich aneignen und sich daran befriedigen. Eine Beziehung, die für Buber die Relation ist und die »am Anfang« war. Die Sprache sei nicht dazu da, die Zustände des Bewusstseins auszudrücken; sie sei das unvergleichliche geistige Ereignis der Transzendenz, worauf jeder Ausdrucksversuch – jedes Mitteilen-Wollen eines gedachten Inhalts – sich schon bezieht. Franz Rosenzweig versteht sie auf der Ebene der Offenbarung im erhabenen und religiösen Sinne des Wortes 30, das für ihn das In-Beziehung-Setzen der Elemente zum Absoluten bedeutet, die vereinzelt sind und sich der Synthese, der Verklammerung in ein Ganzes, der Konjunktion, widersetzen, wo sie wie in der idealistischen Philosophie ihr eigenes Leben einbüßten.
4. Die Wurzeln der inneren Rede in der Sprache [27] Man kann sich zu Recht fragen, ob die innere Rede des cogito nicht schon eine abgeleitete Form des Gesprächs mit dem anderen darstellt, ob die linguistische Symbolik, deren sich der Mensch »im Gespräch mit sich selbst« bedient, nicht einen Dialog mit einem anderen Gesprächspartner als sich selbst voraussetzt, ob jene Unterbrechung der spontanen Bewegung des Denkens bei seiner Selbstreflexion und sogar das dialektische Hin und Her des Urteilens, in dem mein Denken sich von sich selbst trennt und sich wieder einholt, als wäre es sich selbst fremd, 30
Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 220.
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nicht einen ursprünglichen und vorgängigen Dialog bezeugt, ob infolgedessen nicht das Wissen selbst, ob nicht jedes Bewusstsein in der Sprache anfängt. Selbst wenn der Dialog schließlich seiner selbst bewusst wird – wie es zumindest die Texte bezeugen, die die Philosophen ihm widmen –, ist es die Reflexion, die das aufdeckt. Aber die Reflexion oder die Unterbrechung der Spontaneität des Lebens setzt schon ihre Infragestellung durch den anderen voraus, was ohne vorgängigen Dialog, ohne die Begegnung mit dem Anderen nicht möglich gewesen wäre.
5. Nähe, Brüderlichkeit und die Idee des Guten [28] Die Einheit des Selbstbewusstseins, sich selbst gleich durch seine Angleichung an die Welt, hat somit die Begegnung im Dialog zur Voraussetzung, ein Denken, das über die Welt hinaus denkt. Wo Ich und Du in die Beziehung des Dialogs gestellt sind, in der sich die Relation ereignet, gibt es in dieser radikalen Differenz zwischen Ich und Du nicht einfach ein Verfehlen gegenseitigen Erkennens, der Synthese beider, ihrer Übereinstimmung und ihrer Identifikation, sondern einen Überschuss [surplus] oder das Bessere [le mieux] eines Jenseits seiner selbst, einen Überschuss und das Bessere der Nähe des Nächsten, welche »besser« ist als die Koinzidenz mit sich selbst, und dies trotz oder gerade wegen der Differenz, die sie trennt. [29] Das »Mehr« oder »Besser« zeigt sich im Dialog selber an, nicht aufgrund einer übernatürlichen Stimme, die sich in das Gespräch einmischte oder aufgrund eines Vorurteils. »Mehr« oder »besser« ist die unentgeltliche Gabe [don gratuit] oder die Gnade des Auf-mich-zuKommens des Anderen, von dem Buber spricht. Der Überschuss, der sich in der Brüderlichkeit ereignet, kann über die Befriedigungen hinausgehen, die man selbst noch von den empfangenen Gaben erwartet, seien sie auch umsonst gegeben. Das sprechen die Philosophen des Dialogs nicht immer aus, obwohl sie ganz gewiss gerade diese wesentliche Idee ermöglichen. Der Dialog ist die Nicht-Indifferenz 31 des Du für
Non-indifférence i. Orig. meint als doppelte Verneinung hier keineswegs bloß Nichtgleichgültigkeit oder die Affirmation einer Differenz zum Anderen im Sinne des Unterschiedenseins oder der Unterscheidbarkeit, wie sie auch von der Warte eines Dritten aus gegeben sein könnte. Vielmehr bezieht sich der Ausdruck auf das direkte Von-Angesicht-zu-Angesicht, in dem sich die Verantwortung für den Anderen »ohne
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das Ich. Ein nicht selbstsüchtiges Gefühl [sentiment dés-inter-essé 32], das zwar in Hass ausarten kann, aber doch die Chance für das ist, was man – vielleicht mit Vorsicht – mit Liebe und der Liebe Ähnlichem benennen muss. Wenn man das sagt, wird man weder von der Moral angeführt 33, noch ist man der naive Gefangene der Vorstellungen und Werte eines Milieus. Erst im Dialog der Transzendenz erhebt sich die Idee des Guten 34 einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass in der Begegnung der andere vor allem anderen zählt. Die Beziehung, in der das Ich dem Du begegnet, ist der ursprüngliche Ort und Umstand der Ankunft [avènement] des Ethischen. Das Ethische verdankt nichts den Werten, vielmehr sind es die Werte, die ihm alles verdanken. Das Konkrete des Guten ist dieses Wert-Sein des anderen Menschen. Nur einer Formalisierung erscheint die Ambivalenz und die Unentscheidbarkeit des Wert-Seins in gleicher Entfernung zwischen Gut und Böse. In der Geltung des anderen Menschen selbst ist das Gute älter als das Böse.
6. Dialog als ursprünglicher Modus der Transzendenz [30] Der Dialog ist also nicht nur eine Art und Weise des Redens. Seine Bedeutung ist von allgemeiner Tragweite. Er ist die Transzendenz. Das Sprechen im Dialog ist nicht eine der möglichen Formen der Transzendenz, sondern ihr ursprünglicher Modus. Mehr noch, sie bekommt erst einen Sinn, wenn ein Ich Du sagt. Sie ist das Dia des Dialogs. Im konkreten Kontext des Menschlichen ist die Transzendenz ein zumindest ebenso gültiger Begriff wie derjenige der Welt-Immanenz, dessen letzte Gültigkeit er in Frage stellt. Im Gegensatz zu den berühmten Heidegger’schen Analysen führt die vom Ansatz des Dialogs her aufgefasste Menschlichkeit das Jenseits der Welt wieder in die philosophische Reflexion ein, ohne dass dies einfach nur einen Rekurs auf das darstellt, was Nietzsche im Sinne der traditionellen Metaphysik die »HinterGemeinsamkeit« soll abzeichnen können (vgl. Zwischen uns, 85, 165; Gott, der Tod und die Zeit, 118–121, 153). 32 Zum Des-inter-esse vgl. E. Levinas, »Sozialität und Geld« [1989], in: Verletzlichkeit und Friede, 155–163, hier: 160; Zwischen uns, 250 f.; Gott, der Tod und die Zeit, 136, 139. 33 So lautet die Leitfrage von Levinas’ erstem Hauptwerk Totalité et infini: Ob wir nicht »von der Moral zum Narren gehalten werden«; E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität [1961], Freiburg i. Br., München 1987, 19. 34 Platon, Politeia, Buch VI, 509 b; Levinas, Jenseits des Seins, 58, 213, 272 ff.
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welten« nennt. 35 Hier liegen neue Strukturen und Konzeptualisierungen vor, die als allgemeine Philosophie nachhaltig über die anthropologische und theologische Thematik hinaus wirken. Buber unterstreicht die eigentümlich und ursprüngliche Gestalt der Relation, die nicht im seelischen Leben des Ich oder des Du eingeschlossen werden kann. Sie ist das »Zwischen« 36 [l’entre-les-deux], der Ursprung, der das Ich als Ich und das Du als Du bestimmt, was selbstverständlich wiederum nicht als etwaige dritte Instanz, als Subjekt oder als Substanz, die hier eine Vermittlerrolle spielten, zu verstehen sei. Dieser Ansatz bedeutet nicht nur den Bruch mit der Psychologie, sondern auch mit den ontologischen Begriffen sowohl der Substanz wie auch des Subjekts; eine neue Modalität des Zwischen wird bejaht, die sowohl Ontologie als auch Seelenleben der Mitgegenwart und der Sozialität bedeutet. [31] Obwohl die systematische Tragweite der neuen Analyse des Dialogs wesentlich ist, müssen ihre anthropologische Bedeutung und ihr theologischer Aspekt hervorgehoben werden. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, alle konkreten Beschreibungen anzuführen, die die philosophische Literatur im Zusammenhang mit dem Dialog hervorgebracht hat. Neben der Phänomenologie der Intentionalität steht – häufig mit einem negativen Klang – eine Art Phänomenologie der Relation. So stellt man der nicht umkehrbaren »Polarität« des intentionalen Aktes, der Struktur: ego-cogito-cogitatum, wo der Pol des ego niemals zum objektiven Pol umgewandelt werden kann, die Umkehrbarkeit oder die Reziprozität des Ich-Du entgegen: das Ich sagt Du zu einem Du, das als Ich selber zum Ich Du sagt; die Aktivität des Sprechens im Dialog ist ipso facto die Passivität des Zuhörens, das Wort in seiner Spontaneität setzt sich der Antwort aus; das Du wird angerufen als »Exklusivität« und als nicht zur Welt zugehörig, wenn auch die Begegnung selbst in der Welt stattfindet, während die Intentionalität den Gegenstand immer nur im Horizont der Welt angeht. Dass eine menschliche Geistigkeit, die nicht im Wissen, nicht im seelischen Leben verstanden als Erfahrung anfängt, möglich ist und dass die Beziehung zum Du in ihrer Reinheit die Beziehung zum unsichtbaren Gott sei, ist sicher eine neue Sicht des menschlichen Seelenlebens [psychisme humaine], was oben schon unterstrichen worden ist. Aber auch für die Orientierung der Theologie ist es von großer Bedeutung: der Gott des E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, 184. 36 Dt. im Orig. 35
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Gebets – der Anrufung – wäre ursprünglicher als der Gott, der von der Welt oder von einem Urteil a priori abgeleitet und in einem indikativischen Satz ausgesagt wird; das alte biblische Thema des Menschen als Bild Gottes bekommt einen neuen Sinn. Anders gesagt: diese Ebenbildlichkeit kündigt sich im »Du« und nicht im »Ich« an. Dieselbe Bewegung, die zum anderen [autrui 37] führt, führt zu Gott. [32] In der Fortsetzung der Ich-Du-Beziehung, der Sozialität mit dem Menschen, ereignet sich für Buber die Beziehung zu Gott. Auch hier liegt wahrscheinlich eine Wiederaufnahme eines biblischen Themas vor: Gottes Epiphanie wird immer in einem ethischen Zusammenhang erwartet, in der Begegnung mit dem anderen Menschen, dem Du. Muss man an solche Textstellen wie das 58. Kapitel Jesaias (vgl. auch Mt 25) erinnern? Muss man auch an vielleicht weniger berühmte Verse des Pentateuchs erinnern? Bezeichnenderweise kommt die Formel »Gott fürchten« in einer Reihe von Versen vor, die vor allem die Achtung vor dem Du, die Sorge um den Nächsten nahelegen, als käme das Gebot der Gottesfurcht nicht hinzu, um nur das Gebot zu bekräftigen, »einen Tauben nicht zu verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg zu legen« (Lev 19, 14), »einander nicht zu übervorteilen« (Lev 25, 17), »keinen Zins und Aufschlag zu nehmen vom verarmten Bruder, sei er Fremdling oder Beisasse« (vgl. Lev 25, 35 ff.) usw., sondern als definierte sich die »Gottesfurcht« geradezu durch diese ethischen Verbote; als wäre die »Gottesfurcht« diese Furcht für den anderen.
37 Zur von Levinas nicht konsequent durchgehaltenen Unterscheidung von l’autre und autrui vgl. oben die Anm. 9 und 23, sowie E. Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, 32, und die Anm. in: Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, 41. Im Deutschen bietet es sich an, stets die Großschreibung Andere(r) zu verwenden, wenn nicht irgendein anderer gemeint ist, sondern gerade jene(r), die bzw. der dem Erscheinen auf nicht-indifferente Art und Weise entzogen ist, also niemals in der Erfahrung, die wir von ihr/ihm haben, aufgehen kann und gerade in dem Maße die Frage der Verantwortung auf den Plan ruft (ebd., 210). Eben darin liegt für Levinas die eigentliche Anderheit des Anderen.
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IV. Vom Dialog zur Ethik
[33] Es wurde den Darlegungen über den Dialog dieser ganzen »Phänomenologie« des Ich-Du vorgeworfen, der Intentionalität und den Strukturen des transzendentalen Bewusstseins gegenüber negativ vorzugehen und eine negative Psychologie oder Ontologie zu erarbeiten – wie andere eine negative Theologie entwickeln –, was die philosophische Autonomie des neuen Denkens in Frage stellen würde. Aber verbirgt sich nicht im Dialog, der in dieser ganzen Konzeption den eigentlichen Ort und den konkreten Umstand der Transzendenz oder der Beziehung in ihrem doppelten Sinne der absoluten Distanz und deren Durchmessen durch die Sprache in die Unmittelbarkeit des Ich-Du bedeutet, eine ethische Dimension, in der der Bruch des Dialogs mit den transzendentalen Modellen des Bewusstseins als noch radikaler erscheint?
1. Wurzel des Ethischen im Dialog – ein radikaler Begriff des Ethischen [34] Bemerken wir zuerst, dass die Philosophie des Dialogs zu einem Begriff des Ethischen 38 kommt, der sich von der Tradition trennt, die das Ethische 39 aus der Erkenntnis und der Vernunft als Fähigkeit des Universalen gewann und darin eine dem Sein überlagerte Schicht sah. So war das Ethische entweder der Klugheit oder der Universalisierung der Handlungsmaxime (wo es zwar auch um die Achtung vor der menschlichen Person ging, aber in einer Art von sekundärer – und abgeleiteter – Formulierung des kategorischen Imperativs 40) oder der KontemplatiDt. im Orig. Dt. im Orig. 40 Was hier wohl nicht so zu verstehen ist, als meinte Levinas die zweite Formulierung jenes Imperativs; vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ham38 39
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on einer Hierarchie von Werten untergeordnet, die wie eine platonische Ideenwelt aufgebaut war. Das Ethische beginnt im Ich-Du des Dialogs, insofern das Ich-Du das Wert-Sein des anderen Menschen bedeutet, oder noch genauer, insofern sich erst in der Unmittelbarkeit der Beziehung zum anderen Menschen und ohne Rückgriff auf irgendein allgemeines Prinzip eine Bedeutung wie Wert-Sein abzeichnet. Ein Wert-Sein, das dem Menschen eignet aufgrund des Wertes des Du, des anderen Menschen als anderen, ein Wert, der mit dem anderen Menschen verbunden ist. Die Beschreibungen der »Begegnung« bei Buber vermeiden nie eine gewisse axiologische Färbung. Aber bedeutet nicht die Unmittelbarkeit der Relation selbst und ihre Exklusivität, mehr noch als die bloße Negation von Vermittlungen und Ablenkungen, eine gewisse Dringlichkeit in der angesichts des anderen Menschen einzunehmenden Haltung, eine gewisse Dringlichkeit der Intervention? Ist die Eröffnung des Dialogs selbst nicht schon für das Ich eine Weise, sich zu enthüllen, sich preiszugeben, eine Weise für das Ich, sich dem Du zur Verfügung zustellen? Warum sollte es sprechen? Weil der Denkende etwas zu sagen hat? Aber warum hätte er es zu sagen? Warum genügte es ihm nicht, dieses Etwas, das er denkt, zu denken? Sagt er nicht das, was er denkt, gerade weil er über das hinausgeht, was ihm genügt, und weil die Sprache [le langage] diese Grundbewegung trägt? Über die Selbstgenügsamkeit hinaus in die Indiskretion des Duzens und des Vokativs 41, die zugleich Anspruch einer Verantwortung und Huldigung bedeuten.
2. Gottes Epiphanie in der ethischen Dimension des Dialogs [35] Zwar wird bei Buber die Ich-Du-Beziehung auch oft als eine Begegnung »von Angesicht zu Angesicht« dargestellt, als eine harmonische Mitgegenwart [co-présence], Auge in Auge; aber reduzieren sich das Von-Angesicht-zu-Angesicht, die Begegnung und das »Auge in Auge« auf ein Spiel von Reflexen in einem Spiegel und auf rein optische Beziehungen? In dieser extremen Formalisierung büßt die Beziehung ihre »Heteronomie«, die Transzendenz ihre Assoziation [as-sociation] burg 1994, 52, 61 f. Dem Begriff der Person kommt bereits in dessen erster Formulierung das stärkste Gewicht zu. 41 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 196; Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, 130; Die Spur des Anderen, 113.
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ein. Das Ich-Du beinhaltet von vornherein – in seiner Unmittelbarkeit, d. h. in der Form der Dringlichkeit und ohne Rückgriff auf jedwedes universale Gesetz – eine Verpflichtung. Diese ist in ihrem eigentlichen Sinne untrennbar sowohl von der »Aufwertung« des anderen als anderen im Du, als auch von dem Zwang zum Dienst im Ich: Wert-Sein des Du, Diakonie des Ich – semantische Tiefen des »Grundwortes«, ethische Tiefen. [36] Es gibt eine Ungleichheit – eine Dissymmetrie – in der Relation, im Gegensatz zur »Reziprozität«, die Buber wohl zu Unrecht betont. Ohne mögliches Ausbrechen, als wäre es dazu berufen und auserwählt, als wäre es somit unersetzlich und einmalig, ist das Ich als Ich Diener des Du im Dialog. Eine Ungleichheit, die willkürlich erscheinen mag; es sei denn, sie sei im Wort, das dem anderen Menschen zugesprochen wird, in der Ethik des Empfangens [éthique de l’accueil], der erste religiöse Dienst, »das erste Gebet« (Paul Valéry), die erste Liturgie, Religion, durch die Gott dem Geist einfällt [vient à l’esprit] und das Wort Gott selber Eingang in die Sprache und in die gute Philosophie hätte finden können. Selbstverständlich nicht so, dass der andere Mensch für Gott gehalten werden muss oder dass Gott, das Ewige Du, sich nur in einer Verlängerung des Du findet.Was hier zählt, ist, dass von der Beziehung zum anderen her, vom Grund des Dialogs her, dieses unermessliche Wort für das Denken Bedeutung gewinnt, und nicht umgekehrt. [37] Die Weise, wie Gott im Ich-Du einen Sinn bekommt, um zu einem Wort der Sprache zu werden, lädt zu einer neuen Reflexion ein. Sie ist nicht Gegenstand der vorliegenden Studie. Hier ging es darum, ahnen zu lassen, dass der Dialog im Gegensatz zum Wissen und im Gegensatz zu gewissen Ausführungen von Philosophen des Dialogs, ein Denken des Ungleichen [inégal] ist, ein Denken, das über das Gegebene hinausdenkt; die Modalität zu zeigen, wie im Dialog oder besser in der Ethik des Dialogs – in meiner Diakonie angesichts des anderen – ich mehr denke, als ich begreifen kann, die Modalität, wie das Unbegreifliche Sinn bekommt; oder wie man es noch ausdrücken kann: die Modalität, wie ich mehr denke, als ich denke. Das ist nicht ein reiner Spaß und auch nicht einfachhin ein Scheitern des Wissens; es ist vielleicht das, was das cartesische Paradox der Idee des Unendlichen 42 in mir bedeutet.
R. Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie, Stuttgart 1985, 66 f.; Levinas, Die Spur des Anderen, 196–203; Ethik und Unendliches, 70 f.
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Hinweise auf Literatur sind in der zweiten Fassung nicht enthalten. Einer Auskunft von Heinz-Jürgen Görtz, Hannover, zufolge stammt das Literaturverzeichnis nicht von Levinas selbst, sondern ist von Alois Müller-Herold aus editorischen Erwägungen heraus mit Rücksicht auf den Handbuchcharakter der Quelle (s. Anm. 1) nachträglich beigefügt worden. Aus welchen Quellen Levinas schöpfte (abgesehen von den wenigen ausdrücklich erwähnten), lässt sich also nicht aus der zitierten Literatur ersehen.
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Interpretationen
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Dialogische Hermeneutik Vom Ursprung des Sinns im Anderen Emil Angehrn
Die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Edmund Husserls spannt einen Bogen über das Werk von Emmanuel Levinas im Ganzen. Der phänomenologische Leitbegriff der Intentionalität bildet einen Ausgangs- und Abstoßpunkt in der Selbstvergewisserung seines Denkens von der Dissertation bis zu den späten Schriften. Auch wenn Levinas’ Philosophie oft der Phänomenologie zugeordnet wird, ist sie ebenso durch die kritische Distanzierung von deren konzeptuellen Angelpunkten, dem Ausgang vom Ich wie der transzendentalen Bewusstseins- und Zeitanalyse, gekennzeichnet, denen er den Gedanken des Dialogs als das Andere gegenüberstellt. Im Horizont dieser Distanzierung haftet eine eigene Ambivalenz der Befassung mit der Hermeneutik an. 1 Auf der einen Seite scheint die klassische, auch phänomenologische Hermeneutik in Levinas’ Augen durch einen Begriff des Sinnverstehens bestimmt, der mit Konnotationen subjektiver Vereinnahmung oder bedeutungsmäßiger Totalisierung einhergeht, gegen welche sich Levinas entschieden verwahrt. Auf der anderen Seite zeichnen sich nicht nur seine Lectures talmudiques durch eine originäre texthermeneutische Arbeit aus, sondern gilt auch seine Begriffsreflexion einer eindringlichen Besinnung auf die Konstellation von Verstehen, Sinn und Bedeutung. 2 Die Leitfrage, der die folgenden Überlegungen nachgehen, gilt dem Verhältnis zwischen der Hermeneutik und dem Dialogdenken. Die spezifische Perspektive ist die einer Kontextualisierung des Dialogdenkens im Horizont phänomenologischer Hermeneutik bzw.
1 Vgl. J. Caron-Lanteigne, L’herméneutique dans l’œuvre d’Emmanuel Levinas, Université de Montreal 2001, iii. 2 Vgl. C. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas, Freiburg, München 2018.
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Emil Angehrn
einer Kontextualisierung des Hermeneutischen im Horizont des Dialogs. Es interessiert die spezifische Verschränkung beider Denkrichtungen, und genauer die Frage, inwiefern die Problemstellung und Sichtweise der Hermeneutik durch den Ansatz beim zwischenmenschlichen Dialog kritisch revidiert, produktiv überwunden oder in ihrem Gehalt und ihrer Stoßrichtung radikalisiert wird. Ersichtlich verlangt die Erörterung dieser Frage nicht zuletzt eine interne Differenzierung des unter dem Titel ›Hermeneutik‹ Angesprochenen. Die leitende Hypothese geht dahin, dass die Dialogik für die Hermeneutik nicht so sehr ein Anderes als vielmehr eine eigene Ressource darstellt und zu einer spezifischen Umakzentuierung, Erweiterung und Vertiefung des hermeneutischen Gedankens führt. Um die Stoßrichtung dieser Umakzentuierung zu verdeutlichen, ist vom kritischen Blick auf den Ansatz klassischer Hermeneutik auszugehen.
1. Jenseits des Wissens – Verstehen als Rezeptivität und Responsivität Ein Grundschema der Hermeneutik stellt die von Wilhelm Dilthey beschriebene Triade von »Leben, Ausdruck und Verstehen« dar. 3 Sie entfaltet den Nukleus des Sinngeschehens nach den Richtungen der Sinngenese, der Sinnvermittlung und der Sinnrezeption. Den Ursprung des Sinns bildet das Leben, das in seiner teleologischen Gerichtetheit die Bedeutsamkeit des Lebensvollzugs konstituiert, welche sich in unterschiedlichen Äußerungen konkretisiert, manifestiert und mitteilt. Als Äußerungen fungieren Verhaltensweisen und einzelne Handlungen, aber auch Handlungskomplexe, Institutionen und Geschichten, in exemplarischer Form reflexive Ausdrucksweisen, Gestik und Sprache. Eine hermeneutisch-phänomenologische Beschreibung des menschlichen Lebens zielt darauf, diese Äußerungen in ihrer Sinnhaftigkeit zu erfassen, etwa ein Verhalten nicht nur in seiner Verursachung und Prozessform, sondern in seiner Bedeutung für das Subjekt, eine Körperbewegung als Handlung zu begreifen. Je nach Äußerungstyp geht es darum, eine Verhaltensweise in ihrer lebensweltlichen Funktionalität, ihrem praktischen Wozu zu erfassen oder einen verbalen Ausdruck in seinem intentionalen Gehalt, dem geW. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1970, 98.
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meinten Sinn zu begreifen. Genuines ›Verstehen‹ will eine Äußerung darin begreifen, wie sich in ihr eine faktische Gerichtetheit verkörpert oder was sie explizit intendiert, als was oder wie sie ›gemeint‹ ist. Die triadische Grundstruktur des sich äußernden Lebens, des gestaltenden Ausdrucks und der verstehenden Erschließung expliziert die sinnhafte Verfasstheit menschlichen Lebens und bildet die Basis hermeneutischer Wissenschaften. 4 Verstehen figuriert in einer solchen Konzeption als eine Art von Erkenntnis oder Wissen [3]. Für Husserl, so Levinas, »beginnt aller Sinn im Wissen« 5. Levinas’ Vorbehalt gegen das Verstehen fügt sich in seine generelle Distanzierung von einem Bewusstseins- und Erkenntnismodell ein, welches auf die konstituierende Funktion des Subjekts abhebt, das den Gegenstand zugleich der eigenen Auffassungsweise angleicht, das Gedachte nach dem Maß des Denkens fasst. Intentionalität steht dann im Zeichen einer Herrschaft der cogitatio über das cogitatum, einer Vereinnahmung des Anderen durch das Selbst, einer Integration der Äußerlichkeit in das Innere; comprendre kommt im Sinne des totalisierenden Umgreifens wie des bemächtigenden Zugreifens, des prendre zum Tragen. 6 Dagegen bringt Levinas ein Verstehen in den Blick, das in zweierlei Weise über solches Wissen hinausgeht: indem es zum einen gegen das konstruktive das rezeptive Moment des Verstehens zum Tragen bringt, und indem es zum anderen den theoretisch-thematisierenden Gegenstandsbezug durch eine praktisch-ethische Relation überformt. Das erste Moment entspricht einer wesensmäßigen Stoßrichtung der Verstehenslehre. Verstehen markiert von vornherein einen Gegenakzent zum konstruktivistischen Ausgriff: Verstehen heißt den Sinn von etwas entziffern, der in einer Äußerung verkörpert ist, eine Bedeutung erfassen, die einem Symbol innewohnt oder in einer Spur lesbar ist; es heißt, einen Sinn aufnehmen, der uns gegeben ist, einen Appell hören, der sich an uns richtet, eine Botschaft vernehmen, die uns entgegenkommt. Die idealtypische Norm in Diltheys Grundmodell liegt darin, Sinnproduktion und Sinnrezeption zur Konver4 Vgl. Dilthey, Der Aufbau: Zum »Gegenstand der Geisteswissenschaften« werden historisch-kulturelle Sachverhalte, »sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden«. 5 E. Levinas, »Notes sur le sens«, in: De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, 231–257, hier: 243. 6 E. Levinas, Éthique et Infini, Paris 1982, 53.
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genz zu bringen: einen Text so zu lesen, wie er vom Autor gemeint war, den Sinn einer Geschichte, die Bedeutung eines Ereignisses diesen selbst zu entnehmen. Auch wenn neuere Hermeneutik, von der Rezeptionsästhetik bis zur Interpretationsphilosophie, im Verstehensprozess die mannigfachen konstruktiv-interpretativen Anteile unterstreicht, ohne welche keine konkrete Sinnaneignung stattfindet, ist Verstehen in einem fundamentalen Sinne nicht nur passiv grundiert, sondern auf eine spezifische rezeptive Potenz angewiesen: auf eine Fähigkeit, das Andere in seiner Prägnanz und seiner eigenen Aussage zu vernehmen. Die Hellhörigkeit, Hellsichtigkeit gegenüber dem Anderen gehört zur Distinktionskraft, die dem hermeneutischsinnerschließenden Potential unseres Weltbezugs innewohnt. Es gilt, das Andere gerade in dem wahrnehmen zu können, was es von sich aus mitteilt und worin es unsere Antizipationen und Auffassungsraster übersteigt. Indessen bleibt es nicht bei der Passivität und rezeptiven Empfänglichkeit im Verstehen. Neuere Ansätze der Hermeneutik bringen in gewisser Weise gleichzeitig die konstitutive Potenz der Rezeptivität zum Tragen, indem sie diese auf das Antwortverhalten, die Responsivität im Verstehen hin vertiefen. Es geht um die genuine Fähigkeit, dem entgegenkommenden Sinn zu antworten und Gestalt zu verleihen, um ein Verstehen, das sich in den Dienst des zu erschließenden Sinns stellt, indem es ihm zur lebensweltlichen und kulturellen Artikulation verhilft. Merleau-Ponty hat ein solches dialogisches Verhältnis im Bezug zur Natur, aber auch im Umgang mit Kunstwerken aufgewiesen. Exemplarisch zeichnet er in der Malerei eine Kommunikation mit der Welt nach, die auf ein Angesprochenwerden durch die Dinge antwortet und eine Initiative aufnimmt, die vom Gegenstand ausgeht: Malen heißt nicht Sichtbares abbilden, sondern es zur Sichtbarkeit bringen und an der Selbstmanifestation der Dinge teilnehmen; die eigensten Gesten, durch welche der Maler die Welt sehen lässt, »scheinen für ihn aus den Dingen selbst hervorzugehen«. 7 Cézanne, so Merleau-Ponty, hat nur den Sinn zur Sprache gebracht, den die Dinge und Gesichter ihm anbieten, »nur gesagt, was sie sagen wollten«. 8 Solche Responsivität machen Merleau-Ponty und andere Autoren zugleich im umfassenderen Zusammenhang unseres geM. Merleau-Ponty, L’Œil et l’Esprit, Paris 1964, 31. M. Merleau-Ponty, »Le doute de Cézanne«, in: Sens et non-sens, Paris 1948, 15–44, hier: 35. 7 8
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schichtlichen Seins geltend, das in einem Anfang, einer ursprünglichen Vergangenheit wurzelt, aus welcher immer noch etwas auf seinen Ausdruck wartet 9, oder gar in einem fundamentalphilosophischen Horizont verortet ist, worin der Mensch zum Hörenden und Antwortenden des Seins wird und in seinem Verhalten und Sagen »nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache« bringt. 10 Bernhard Waldenfels hat die Responsivität in der Vielfalt der menschlichen Bewusstseins- und Verhaltensweisen herausgearbeitet. 11 Verstehen heißt ein Angesprochensein vernehmen, einem Anspruch Raum geben und ihm entsprechen, der aus der Welt, von den Dingen, vom anderen Menschen her sich an uns richtet. Im Ganzen geht es um eine grundlegende Umkehrung des subjektzentrierten Verstehens, die zu der von Levinas inkriminierten herrschaftlichen Erkenntnisform einen profilierten Gegenakzent setzt.
2. Diesseits der Thematisierung – Sinn und Bedeutung Nun beschränkt sich Levinas’ Gegenwendung zum Intentionalismus nicht auf die Seite der Sinnrezeption. Sie tangiert gleichermaßen die Dimension der Sinnproduktion und den Status des Sinngegenstandes und bedingt darin eine weitere, vertiefende Umakzentuierung des Verstehens. Nach dem schematischen Grundmodell ist Verstehen auf die Erschließung des gemeinten Sinns gerichtet, der im Ausdruck in bestimmter Gestalt artikuliert wird. Die projizierte Engführung zwischen Sinnstiftung und Sinnverstehen unterstellt Sinn als subjektiv erzeugten, idealiter bewusst produzierten Sinn: Verstehen soll den Sinn von der Intention seines Erzeugers und seiner konkreten Gestaltung her erfassen. Indessen hat sich gezeigt, dass der dem Verstehen gegebene, von ihm zu entziffernde Sinn nicht im intentional produzierten Gebilde aufgeht. Er kann in einer vorbewussten Lebensbewegung oder Verhaltensweise gründen; er kann einem der subjektiven Hervorbringung vorausliegenden Ursprung – dem Sichzeigen
M. Merleau-Ponty, »Sur la phénoménologie du langage«, in: Signes, Paris 1960, 105–122, hier: 120; »Le langage indirect et les voix du silence«, ebd. 49–104, hier: 99. 10 M. Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, in: Wegmarken, Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1976, 313–364, hier: 361. 11 B. Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994. 9
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der Dinge, der ›Lesbarkeit der Welt‹, der ›Sprache des Seins‹ – entstammen. Im Kontext solcher Transzendierungen subjektiven Bedeutens bringt Levinas nun eine signifikante Figur zum Tragen, die er, gleichsam im Binnenraum des Sprechens, an der Dualität von dire und dit, Sagen und Gesagtem, festmacht und mit der Differenzierung von sens, signifiance und signification verknüpft. Ein nicht-reduktives Verstehen hat nach ihm über das Gesagte, über die in einem Text kristallisierten Bedeutungen hinauszugehen, aber nicht indem es das Gesagte nach dem Vorbild negativer Theologie auf ein Unsagbares hin übersteigt, sondern indem es hinter das Gesagte auf das Sagen zurückgeht, in ihm das Sagen erfasst. Der Vollzug des Sagens ist nicht-reduzierbar auf die Intention des Sagenwollens, wie sie dem Zeichengebrauch innewohnt, mittels dessen wir anderen etwas Bestimmtes mitteilen. 12 Er geht der identifizierenden Thematisierung einer Sache voraus und eröffnet den Sinnraum des Dialogs: »Le premier mot ne dit que le dire lui-même avant tout être et avant toute pensée où se mire et se réfléchit l’être.« 13 Für die Hermeneutik wie das lebendige Verstehen gilt es, die Tiefenschicht der Sprache aufzuschließen, das reine Sagen zu hören, das den Akt des Bedeutens – des signifier, der signifiance – begründet, welcher die bedeutungsmäßige Verknüpfung der Worte trägt und die verbale Kommunikation ermöglicht. Statt Sinn und Sprache aus dem System der Differenzen der Bedeutungen und Zeichen abzuleiten, ist dieses vom autarken Sinn des Sagens als dem Ursprung des Bedeutens her zu explizieren. Diesen Sinn, dieses Bedeuten zu erfassen begründet ein Verstehen jenseits des Wissens und identifizierenden Erkennens. Solche »signifiance autre que le savoir« 14 aber ereignet sich nach Levinas in der Begegnung mit dem Anderen. Die Transzendierung der intentionalen Sinngenese hat hinter das Gesagte und den Akt des Sagens auf dessen dialogische Grundverfassung zurückzugehen. Nur von ihr her kommt die Eigentümlichkeit, die Macht und das hermeneutische Potential des Sagens zum Tragen.
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E. Levinas, »Herméneutique et au-delà«, in: Entre nous, Paris 1991, 81. E. Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 1988, 236. Levinas, »Notes sur le sens«, 244.
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Dialogische Hermeneutik
3. Begegnung mit dem Anderen – das Antlitz als Ursprung von Sinn und Sprache Das Antlitz ist die Quelle, der nicht-hintergehbare Ursprung des Sinns: So lautet die pointierte These, die Levinas’ Konzept der Intersubjektivität wie der Hermeneutik kennzeichnet. Die originäre Sinnerfahrung, die in keiner intentionalen Gegenstandsbeziehung aufgeht, machen wir im »face à face« mit anderen Menschen. 15 Das Gesicht ist nicht ein Körperteil, den wir wahrnehmen, wie wir auch den Blick des Anderen nicht äußerlich registrieren; in der echten Begegnung nehmen wir die Augenfarbe unseres Gegenüber nicht wahr, ›sehen‹ sie erst in einer sekundären, vergegenständlichenden Einstellung. Das Antlitz ist nicht Gegenstand eines Schauens, eher dem Erkennen entzogen, doch eben darin absoluter Sinn – Sinn ohne Kontext, jenseits des Verweisungshorizonts der Bedeutungen, »sens à lui seul« 16, »ce qui de soi signifie« 17. Es ist ein Sinn jenseits der mannigfaltigen Bedeutungen, die uns in der Welt gegeben sind, ein Sinn, der nicht aus dem hervorgeht, was der Andere sagt, weder aus bestimmten Äußerungen noch bestimmten Eigenschaften des Anderen, sondern aus seinem Sein, daraus, dass er ist, dass mir der Andere begegnet. Dass darin der Ursprung von Sinnhaftigkeit liegt, kann auch so formuliert werden, dass »das Antlitz spricht«, dass »die Manifestation des Antlitzes die erste Rede« ist. 18 Die Begegnung des Anderen ist die Herkunft des Sinns, der ursprüngliche Sinn, durch welchen allein sinnhafte Äußerungen und Bedeutungsphänomene in der Welt möglich werden. 19 Dass Hermeneutik mit Alterität zu tun hat, gehört zu den Gemeinplätzen der Hermeneutik. Nicht sich selbst, sondern das Andere, das Fremde zu erkennen ist die Herausforderung an das Verstehen, wie sie Gadamer im Vorspann zu seiner Hermeneutik mit dem Satz Rilkes evoziert – nicht »Selbstgeworfenes«, sondern den Ball, »den eine ewige Mitspielerin dir zuwarf«, zu fangen, ist die wahre Kunst. 20 Ebd., 242; vgl. Levinas, Éthique et Infini, 71 f. Levinas, Éthique et Infini, 79 f. 17 E. Levinas, »La signification et le sens«, in: Humanisme de l’autre homme, SaintClément-de-Revière 1972, 15–70, hier: 38. 18 Ebd., 51. 19 Ebd., 50. 20 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Band 1, Tübingen 1990, XII. 15 16
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Auch wenn die Arbeit des Verstehens auf das eigene Selbst gerichtet ist, so nicht vorrangig auf dasjenige, was uns offen vor Augen liegt und im unmittelbaren Selbstverhältnis zugänglich ist, sondern auf das Andere, das Fremde in uns selbst. Dass uns der Sinn nicht ungehindert und unverhüllt zugänglich ist, sondern wir unterschiedlicher Umwege und Methoden der Rekonstruktion und Deutung bedürfen, um einen Gegenstand in seiner Sinnhaftigkeit zu erfassen, bildet gewissermaßen den Normalfall der hermeneutischen Situation. Der Sinn kann uns infolge seiner Ferne und Fremdheit, aber auch seiner internen Überkomplexität und Verworrenheit entzogen sein, und es ist eine durchgehende Frage an das Verstehen, wieweit es in das Andere eindringen, wieweit es sich das Fremde erkennend zueigen machen kann. Nun ist die Konfrontation mit der Alterität eine strukturell andere, radikalere, wenn sie die personale Andersheit betrifft, wenn nicht nur das Andere (autre), sondern der/die Andere (autrui) die Schwelle des Verstehens bildet. Schon in Totalité et infini hält Levinas fest: »L’absolument Autre, c’est Autrui.« 21 Der Andere steht für die radikale, absolute Andersheit. Die hermeneutische Herausforderung der Andersheit ist tiefer, wenn sie in einem Subjekt gründet, das von sich aus einen Vorbehalt gegen die Vereinnahmung, einen Widerstand gegen das Verstandenwerden markieren kann, indem es in seiner Äußerung die Eigenheit, Eigensinnigkeit seines Seins und Soseins zum Tragen bringt. Das fremde Subjekt, das sich seine Bestimmtheit aus sich selbst und seiner Freiheit heraus gibt, ist dem Erkennen gegenüber gewissermaßen in prinzipiellerer Weise fremd als ein Gegenstand, der uns fernab von unserem Sinnhorizont aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt begegnet und sich gegen unser ›angleichendes‹ Auffassen als sperrig erweisen kann. Nietzsche hält die Zumutung, verstanden werden zu sollen, geradezu für einen Affront 22, und ein Reflex solcher Zurückweisung kann in den Gestus künstlerischer Innovation und Selbstbehauptung eingehen. Als anderes bleibt das Andere, bleibt der Andere fremd und unassimilierbar. Diese Fremdheit wird von Levinas in das temporale Raster der Absage an die Intentionalität eingezeichnet, genauer in die von ihm E. Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, La Haye 1968, 9, vgl. 42 f. F. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe Band 3 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München, Berlin, New York 1980, 255.
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mit Derrida und anderen geteilte Kritik an der Idee der Präsenz und Re-präsentation. Der Andere kann nicht als das Gegenüber in die Immanenz des Bewusstseins eingeholt, dem Subjekt gegenwärtig gemacht, durch es re-präsentiert werden. Gegenüber der von der Phänomenologie fokussierten noetisch-noematischen Korrespondenz, die Levinas als gleichzeitige, ›synchrone‹ Ko-präsenz des Bewusstseins mit seinem Gegenstand auffasst, sieht er die Begegnung mit dem Anderen durch eine abgründige Dia-chronie gekennzeichnet. Näherhin ist es die Ungleichzeitigkeit der uneinholbaren Vorgängigkeit des Anderen, der Vorgängigkeit des Angesprochenwerdens, des Herausgeforderseins durch den Anderen. Levinas bringt hier eine Figur zum Tragen, die Ricœur im Horizont der Geschichtlichkeit mit Verweis auf Schelling als das unvordenklich Vergangene – le passé immémorial – thematisiert und die Levinas mit eigentümlichem Nachdruck als eine Tiefendimension in die Erfahrung des absolut Anderen einzeichnet: als ein absolut, immer schon Vergangenes, »älter als jeder repräsentierbare Ursprung« 23, das wir »weder thematisieren noch verstehen« 24 können, ein Vergangenes, das nie gegenwärtig gewesen ist 25 – Zeichen der absoluten, nicht zu manifestierenden Abwesenheit, aus welcher uns der Andere begegnet. 26 Eine profilierte Realisierung findet diese Temporalstruktur in der Chiffre der Spur 27, die für das uneinholbare Entzogensein, zugleich die aktuelle Virulenz des in der Spur sedimentierten, als Spur lesbaren Vergangenen steht. Ihr eminentes Sinnbild ist das Vorübergegangensein des Gottes, der nicht von Angesicht zu schauen, nur im Nachhinein, als Vorbeigegangener zu erkennen ist. 28 In analoger Form steht der andere Mensch für eine nie in anschauliche Gegenwart zu überführende AnE. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974, 11. Ebd. 13. 25 Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricœur, Jacques Derrida, Emmanuel Levinas dieselbe Figur eines Vergangenen, das nie gegenwärtig gewesen ist (un passé qui n’a jamais été présent) in unterschiedlichen Kontexten zur Geltung bringen; vgl. E. Angehrn »Das Vergangene, das nie gegenwärtig war. Zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen«, in: E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der Erinnerung, Weilerswist 2015, 175–205. 26 E. Levinas, »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, 187–202, hier: 198. 27 Auch dies ein bei mehreren Autoren – Husserl, Freud, Derrida, Levinas, Ricœur u. a. – mit unterschiedlichen Akzenten profilierter Leitbegriff. 28 Levinas, »La trace de l’autre«, 216. 23 24
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dersheit. Sie sprengt den retentional-protentionalen Zeitraum meines Bewusstseins, indem sie die horizontale Verschränkung durch den vertikalen Einbruch des Anderen, einer anderen Zeit überblendet. Normales Erkennen stößt darin auf eine unüberschreitbare Grenze. Doch liegt auf der Hand, dass sich die hermeneutische Relevanz der Konfrontation mit dem Anderen nicht in der negativen Schranke, der epistemischen Abwesenheit erschöpft. Das uneinholbare Vergangensein ist Kehrseite einer Begegnung, in welcher sich die Erfahrung des Antlitzes als Heimsuchung und Epiphanie ereignet und darin in eminentem Sinn zum Ursprung von Sinn und Sprache wird. 29 Wie Andersheit und Fremdheit überhaupt für das Verstehen nicht nur eine Grenze, sondern eine Herausforderung und einen Impuls darstellt, so ist der personale Andere nicht nur dem Erkennen entzogen, sondern gleichzeitig ein Anstoß und eine Grundlage sinnhaften Verstehens. Um diesen Umschlag zu fassen, ist es wichtig, die Begegnung in ihrer ethischen Substanz herauszustellen.
4. Vom Antworten zur Verantwortung – die ethische Tiefendimension des Sinns Was philosophisch in der zwischenmenschlichen Begegnung in Frage steht, geht über das epistemologische Problem intersubjektiver Erkenntnis hinaus. Von Descartes bis Husserl stand dieses unter Frage, wie es möglich sei, ein uns Begegnendes – ein Lebewesen, eine Maschine – als unseresgleichen, als Person, als alter ego wahrzunehmen. Für die Dialogik jedoch steht nicht allein eine spezifische Ausweitung unseres kognitiven Gegenstandsbezugs im Medium der Empathie, der Übertragung oder Analogiewahrnehmung zur Diskussion, sondern eine Relation jenseits des theoretischen Verhältnisses. Mit dem Auftreten des Anderen kommt für Levinas eine von vornherein praktische Beziehung ins Spiel, deren erkenntnismäßiges Potential in ihr selbst wurzelt. Wir erkennen nicht zuerst den Anderen als Anderen und gehen auf dieser Basis ein bestimmtes zwischenmenschlich-praktisches – emotionales, handelndes, moralisches – Verhältnis zu ihm ein. Die Relation ist eine ursprünglich praktische, und sie ist als solche Grundlage der Sinnhaftigkeit – der Erkenntniskraft wie der ethi29
Levinas, »La signification et le sens«, 50 f.
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Dialogische Hermeneutik
schen Involvierung – unserer Beziehung zum Anderen und zur Welt. Die konkrete Begegnung mit dem Anderen, das Sichtbarwerden des Antlitzes, wird zum Ursprung menschlichen Verstehens überhaupt. Levinas ergänzt diese zentrale These, die für den hermeneutischen Kern der Dialogphilosophie steht, durch zweierlei: zum einen durch eine bestimmte strukturelle Asymmetrie der Relation zum Anderen, zum anderen durch eine bestimmte ethische Qualifizierung der Begegnung und der sich Begegnenden, eine unhintergehbare Inanspruchnahme, die einer ursprünglichen Erfahrung, nicht bestimmten ethischen Prinzipien oder Vorschriften entstammt. Die Asymmetrie liegt in der Vorgängigkeit des Anderen. Es ist eine Beziehung, die durch den Anderen hervorgerufen wird, dem das Selbst antwortet, wobei die Relation durch ganz unterschiedliche Rollen und Qualifikationen – als Sprecher und Hörer, Opfer und Helfer, Schenkender und Beschenkter – spezifiziert sein kann und die Relation trotz der Asymmetrie eine wechselseitige sein kann, in welcher jede Seite für die andere die zuvorkommende ist, von welcher der Dialog ausgeht. Die Mutter ist vom Säugling angesprochen, in Beschlag genommen, und sie ist für diesen die zuerst sich Zuwendende, zu ihm Sprechende. Von der initialen, zweifachen Vorgängigkeit bis zur idealiter gegenseitigen Anerkennung oder zum egalitär-symmetrischen Diskurs erstreckt sich ein ganzes Geflecht intersubjektiver Haltungen und Operationen, in denen sich die konkrete Dialogizität im menschlichen Leben realisiert. Um das Dialogische in seiner Tiefe und Reichweite zu erfassen, wäre die Vielfalt seiner Formen in ihrer Diversität und Gewichtung zu erkunden. Für Levinas liegt der Ausgangspunkt im Appell des Antlitzes, zuletzt in der »Nacktheit und Wehrlosigkeit des Antlitzes«, die »meine Versuchung zum Töten und das ›Du sollst nicht töten‹« zugleich erweckt. 30 Das Ausgesetztsein und die Verwundbarkeit des Anderen, seine Einsamkeit und Sterblichkeit sind es, die mich ursprünglich in die Pflicht nehmen, denen ich standhalten und antworten muss, die die Beziehung des Anderen zu mir und meine Beziehung zu ihm anfänglich begründen. Es ist nicht der von außen über mich kommende, mich entwaffnende Blick wie bei Sartre, nicht die Gabe und die mir gewährte Gunst, die mich in ein Verhältnis zum Anderen setzen und mich zu mir kommen lassen, sondern es sind die Gefährdung, ja, der Tod des Anderen, die mich aufrufen und mich in Frage stellen – wie 30
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wenn sie »meine Sache« wären. 31 Sie treffen mich wie in einer unhintergehbaren Schuld – »wie wenn ich für diesen Tod des Anderen einzustehen, den Anderen nicht seiner Einsamkeit zu überlassen hätte« 32, in einer Verantwortung, die Levinas in kritischer Kontrastierung zur Heideggerschen Formel dahingehend zuspitzt, dass ich »für den Tod des Anderen einzustehen habe bevor ich zu sein habe«. In eben diesem In-die-Verantwortung-Nehmen, dieser »Erinnerung an meine Verantwortung durch das Antlitz, das mich aufruft, mich herausfordert, mich in Anspruch nimmt, ist der Andere mein Nächster«. 33 Nähe (proximité) ist der spezifische Begriff, durch welchen Levinas die genuine Verbundenheit mit dem Anderen – im Gegensatz zum theoretischen Gegenüber- und praktischen Neben- und Miteinandersein – beschreibt, in welcher das ›Bedeuten‹ (signifiance) des fremden Antlitzes und damit die Sinnhaftigkeit unseres Daseins wurzeln. 34 Auffallend ist die Entschiedenheit, ja, Härte, mit welcher Levinas das In-Anspruch-Genommensein durch den Anderen umschreibt, als commandement, ordre, obsession, interrogation, assignation, sommation 35 –, kulminierend in der oft zitierten Formel der Geiselhaft: des Haftens und Einstehenmüssens für etwas, für das man zur Verantwortung gezogen wird, ohne dafür eine Verbindlichkeit eingegangen zu sein oder im engen Sinne eine Schuld zu tragen. 36 Darin reflektiert sich die Vorgängigkeit des Anderen, mit der eine Uneinholbarkeit der Verantwortung einhergeht, die mich heimsucht, wie eine Urschuld über mich kommt (m’incombe) 37, und von der ich mich nicht freimachen kann. Konkret manifestiert sie sich in der Unmöglichkeit, dem Leiden und der Verlassenheit des Anderen gegenüber gleichgültig zu sein, und sie weitet sich aus zu einer allgemeinen Verantwortung für den Anderen, gegenüber seiner Bedürftigkeit und seinem Rechtsanspruch [29]. Es ist eine Verantwortung, die Levinas Ebd., 245. Ebd. 33 Ebd., 256. 34 Ebd., 244. 35 Levinas, »Notes sur le sens«, 245, 248, 250; Éthique et infini, 83, 93, »La signification et le sens«, 53; »La trace de l’autre«, 233. 36 Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, 6, 14, 232 f.; Éthique et infini, 96; »Herméneutique et au-delà«, 84. 37 Levinas, Éthique et infini, 92, 97; De l’unicité, Paris 2018, 48, 56; »Notes sur le sens«, 251. 31 32
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nicht nur nach der ›negativen‹ Seite des Verschuldetseins, bis hin zum schlechten Gewissen, das in meiner naturalen Existenz mit ihrem Selbstbehauptungswillen gegen andere, aber auch der Zugehörigkeit zur Katastrophengeschichte der Gattung wurzelt 38, sondern ebenso unter den positiven Konnotationen der Nähe und des Wert-Sein des Anderen, der Achtung und der Brüderlichkeit zum Tragen bringt [29, 32] und zuletzt in die Beziehung zu Gott und den Vorrang des Guten hinein vertieft. Wenn wir diese ethische Ausweitung, die in ihrem eigenen Horizont, in ihrer Problemfassung und Tragfähigkeit zu diskutieren wäre, auf unsere Leitfrage zurückbeziehen, so ist mit ihr der Übergang von der Responsivität zur Responsibilität, vom Antworten zur Verantwortung markiert. Verantwortung ist seinerseits eine Verpflichtung bzw. Haltung, die nicht nur im engen moralischen Bereich, sondern in spezifischer Form auch im Horizont der Hermeneutik zum Thema werden kann. Es geht um eine Verantwortung gegenüber dem Sinn, der im zwischenmenschlichen wie im kulturell-geschichtlichen Prozess des Schaffen und Interpretierens unterwegs ist. Es gehört zum Pathos des Verstehens, einem Text gerecht werden zu wollen, den impliziten Konnotationen einer Mitteilung, dem verschlossenen Sinnreichtum eines Symbols zur Entfaltung zu verhelfen. Markante Positionen haben diesen Zug des Verstehens mit Nachdruck sichtbar gemacht. Stellvertretend sei auf Walter Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« und dessen dekonstruktive Anverwandlung durch Jacques Derrida verwiesen. 39 Übersetzen steht hier nicht für die Transposition einer Botschaft in einen anderen Code, sondern für eine Sorge um den Text, eine Weiterführung der Arbeit am Sinn, aus welcher ein Text hervorgegangen ist. Dieser ist nach Benjamin in einem grundlegenden Sinn unvollständig und übersetzungsbedürftig, er verlangt nach einer Reformulierung, um demjenigen, was in ihm angelegt, doch nicht artikuliert worden ist, zum Ausdruck zu verhelfen. Allgemeiner nimmt Derrida in den kulturellen Werken und Zeugnissen, ja, den zerstreuten Sprachen als solchen jene innere Inadäquanz zwischen Meinen und Ausdruck, zwischen Gesagtem und Ungesagtem wahr, die dazu nötigt, die verfestigten Kristallisationen Levinas, De l’unicité, 45 ff. W. Benjamin, »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1972, Bd. IV.1, 9–21; J. Derrida, »Des tours de Babel«, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, 203–235.
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des Sinns aufzulösen und neu zu konfigurieren. Ähnlich hat Paul Ricœur das inner- wie zwischensprachliche, intra- wie interkulturelle Phänomen des Übersetzens, das der Konfrontation mit Andersheit und Pluralität innewohnt, in einen ethischen wie politischen und geschichtlichen Horizont gerückt. 40 Die darin aufgerufene Arbeit am Sinn ist eine genuin hermeneutische Aufgabe, die sich vor dem Hintergrund einer zwischenmenschlichen, ja, menschheitlichen Herausforderung artikuliert. Hermeneutik als solche transzendiert die rein kognitive Orientierung und kommt in den Horizont einer ethischen Problematik zu stehen. Verstehen ist ein bestimmter Erkenntnismodus im Umgang mit Sinngebilden und zugleich eine Weise – beziehungsweise ein konstitutives Moment – des menschlichen Sichverhaltens zu sich selbst, zur Welt und zu anderen Menschen.
5. Vom Anderen her verstehen Im Ganzen führt der im Vorausgehenden nachgezeichnete Weg zu einer Umkehrung der phänomenologisch-hermeneutischen Subjektzentrierung [11, 19]. Die Dialogik wendet sich gegen den Ausgang vom Subjekt wie gegen die selbstbezügliche Rückwendung zu ihm. Das Selbst ist weder Anfang noch Abschluss, weder initialer Ursprung noch letzter Fluchtpunkt des Sinns. Selbstsein und Verstehen gründen im Anderen, kommen vom Anderen her. Wenn das Sein des Subjekts sich wesentlich im Medium des Sich-über-sich-Verständigens vollzieht, so hat Selbstverständigung für das Dialogdenken einen Angelpunkt im Verhältnis zum Anderen. Im Gegenzug zur existenzphilosophischen Eigentlichkeitstheorie zeichnet Levinas die Authentizität des personalen Seins in einen unhintergehbaren Bezug zum Anderen ein – »als ob ich zum Anderen verurteilt wäre, bevor ich zu mir selbst verurteilt bin«. 41 Exemplarisch manifestiert sich diese Umakzentuierung im Verhältnis zum Lebensende, das Heidegger als ein Sein zum Tode konzipiert, in welchem der Einzelne sowohl einen privilegierten Zugang zur Ganzheit seines Daseins gewinnt wie er sich in seiner unvertretbaren Singularität entgegentritt. Die Einsamkeit des Selbst gehört in dieser Sicht zu einem nicht-verdrän40 P. Ricœur, Sur la traduction, Paris 2004; ders., »Civilisation universelle et cultures nationales«, in: Histoire et vérité, Paris 31967, 322–338. 41 Levinas, »Notes sur le sens«, 249.
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Dialogische Hermeneutik
genden Gewärtigen des bevorstehenden Todes. Gegen den Solipsismus der Heideggerschen Thanatologie haben zahlreiche Autoren Einspruch erhoben und auf der fundamentalen Sozialität des Menschseins als Basis eines ursprünglichen Zugangs zum Todesphänomen beharrt. 42 Nicht die Konfrontation mit dem je-meinigen Sterben, sondern mit dem Tod des Anderen ist nach Levinas die erste Erfahrung des Todes; für Ricœur liegt die höchste Form des Sicheinstellens auf das Lebensende nicht im antizipierenden Vorgriff auf das eigene Nichtmehrsein, sondern in der solidarischen Begleitung Anderer in ihrem Sterben. 43 In radikaler Stringenz wird der Bezug zum Anderen für Levinas zum Ort des eigentlichen Selbstseins. Dabei bildet die Zeitlichkeit das Medium, in welchem dieser Bezug sich ursprünglich entfaltet und ich die radikale Andersheit erfahre, in welcher sich der Andere in zweifacher Weise der Gegenwärtigkeit entzieht, indem er mir in uneinholbarer Vorgängigkeit begegnet und als der Andere eine neue, unabsehbare Zukunft eröffnet. 44 Im Verhältnis zum personalen Anderen erlebe ich in radikalster Weise die Zeitlichkeit des Sinnprozesses, in den mein Tun und Erleben, mein Sagen und Verstehen eingelassen sind und dessen erster Ursprung und letzter Abschluss mir gleichermaßen entgleiten. 45 Das dialogische Grundgeschehen lässt sichtbar werden, inwiefern wir hier nicht mit einer formalen Zeitstruktur, sondern einer Prozessform zu tun haben, die zuletzt, im Entzug wie im Entgegenkommen, in der radikalen Andersheit der zwischenmenschlichen Beziehung gründet. Nicht nur mich selbst, sondern das Verstehen selbst vom Anderen her zu verstehen, ist die Lehre der Dialogik. Zwar bleibt Verstehen in K. Löwith, Das Individum in der Rolle des Mitmenschen [1928], Darmstadt 1969; D. Sternberger, Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie, Leipzig 1934; B. Chul Han, Todesarten. Philosophische Untersuchungen zum Tod, München 1998; B. Liebsch, Revisionen der Trauer in philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist 2006. 43 P. Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, suivi de Fragments, Paris 2007. 44 In signifikanter Konkretion entwickelt Levinas die Zukünftigkeit des Anderen anhand des Erotischen und des Zeugungsverhältnisses: vgl. E. Angehrn, »Warten und Erwartung. Von der Zeitlichkeit der Existenz«, in: E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Erwartung. Zukunft zwischen Furcht und Hoffnung, Weilerswist 2018, 113–132, hier: 129 ff. 45 Vgl. Rudolf Bernet, »Levinas’s critique of Husserl«, in: S. Critchley, R. Bernasconi (eds.), The Cambridge Companion to Levinas, Cambridge University Press 2002, 89 f., 93. 42
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einem phänomenologischen Horizont unhintergehbar subjektbezogen. Es gilt, die Phänomene in ihrem Sein-für-mich, ihrer Bedeutung für das Subjekt zu erfassen. Auch wenn Levinas sich dagegen verwahrt, diesen Bezug unter dem Titel der Intentionalität zu fassen und etwa das Betroffensein durch den Tod des Anderen als eine »affectivité sans intentionnalité« bezeichnet, der keine bewusstseinsmäßige Repräsentation zugrundeliegt 46, bleibt die sinnhafte Qualität des Erlebens ohne Subjektbezug haltlos. Im Gegensatz zu materialistischen Beschreibungen von Lebensphänomenen im Raster gegenständlicher Bezüge und Prozesse kann ein hermeneutisches Verstehen von Ereignissen, Verhaltens- und Erlebensformen nicht vom Bezug auf das Subjekt absehen, für welches diese eine bestimmte Funktion erfüllen, eine bestimmte Bedeutung haben. Doch ist diese sinnkonstitutive Verwiesenheit kein Ursprungsbezug. Der Sinn für mich ist nicht als solcher ein aus mir kommender, durch mich erzeugter Sinn. Die Pointe des dialogischen Gedankens geht eben dahin, den Anfang ursprünglicher, als meiner Initiative vorausliegend zu fassen, die mich überkommende Verantwortung in einem Grund »vor meiner Freiheit, allem Anfang in mir zuvor, jeder Präsenz zuvor« festzumachen. 47 Generell verdeutlicht diese Konstellation, was es heißt, den Ursprung des Sinns im Anderen zu verorten. Nun kann man diese Verortung in gewisser Weise als hermeneutische Selbstverständlichkeit betrachten. Sinn und Verstehen haben ihren Ort in der Sphäre der Kommunikation, im Miteinanderreden und im praktischen Miteinander-Umgehen. Hier werden Sinngebilde generiert, hier wird Sinn aufgenommen, in Frage gestellt, verändert und weitergegeben. Gleichwohl ist die These der Dialogik keine Trivialität, sondern eine bestimmte, gehaltvolle Option des hermeneutischen Zugangs. Sie bringt den Sinnprozess ursprünglich nicht von der je eigenen Sinnstiftung, sondern von der Sinnrezeption und dem entgegenkommenden Sinn her in den Blick. Nicht »Im Anfang war das Wort«, sondern »Im Anfang war das Hören« ist ihre Losung. Wenn man sich nicht auf eine höhere, metaphysische Warte stellt, nicht vom Standpunkt eines Logos der Welt, eines Worts des Seins, sondern vom konkreten, aktiv-passiven Sprachverhalten des Menschen ausgeht, so statuiert die These darin eine bestimmte Priorität. Es ist eine Priorität, die nicht zuletzt genetisch manifest ist: Das Kind 46 47
E. Levinas, La mort et le temps, Paris 1991, 19. Levinas, »Notes sur le sens«, 249.
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Dialogische Hermeneutik
lernt zu verstehen bevor es zu sprechen lernt, es wächst durch das Verstehen in eine Sprache hinein, in welcher es die Fähigkeit erwirbt, selbst zu sprechen, Dinge für sich zu benennen und anderen etwas zu verstehen zu geben. In diesem Geschehen kommt der genannte Vorrang des Sagens vor dem Gesagten, die ursprüngliche Eröffnung des Sinnraums, die initiale signifiance durch den Anderen zum Tragen. Diesen ›Sinn‹ vor den ›Bedeutungen‹ zu erfassen gehört zur hermeneutischen Basiskompetenz, auf welche der Sinnverkehr angewiesen ist, als ein zwischenmenschliches Verstehen, das sich spezifisch von der Entzifferung durch Maschinen unterscheidet. Wenn man zwar konzeptuell darüber streiten mag, ob ein Übersetzungscomputer den von ihm übertragenen Text ›versteht‹, so widerstreitet es doch unstrittig unserer Intuition, hier in genuinem Sinn von einem Verstehen – als Erfassen des Sinnes eines Textes – zu sprechen. Sinnverstehen verweist auf eine subjektive Sinnreferenz, auf ein Subjekt, für welches eine Äußerung oder Gegebenheit sinnhaft ist – und nicht nur ein Bezugsnetz, innerhalb dessen der Sinn aus systemischen Relationen resultiert. Den Ursprung des Sinns vom Anderen her zu denken, so können wir zusammenfassend festhalten, meint eine zweifache Vorgängigkeit des Sprechens des Anderen. Es meint zum einen die Vorgängigkeit der sinnhaften Eröffnung der Welt durch den Anderen, die vorgängige Bezogenheit des Sinns auf den Anderen, vor deren Hintergrund ich meinerseits die Welt als bedeutungsvoll erfahren, meinerseits in ihr Sinn stiften, meinerseits mich äußern und Sinn mitteilen kann. Die Welt ist für den Anderen sinnvoll bevor sie sich mir als sinnhaft erschließt. Und es meint zum anderen die Vorgängigkeit des Zu-mir-Sprechens, die Vorgängigkeit des Anderen, der sich an mich richtet, der an mich appelliert, sich mir öffnet, mich bindet und mich in Frage stellt, mir Verantwortung auferlegt und mich in die Pflicht nimmt. Hier entfaltet sich die praktisch-ethische Valenz des intersubjektiven Bezugs, der über ein wechselseitiges Sich-Erkennen und Sich-Verständigen hinausgeht und den Sinn unseres Welt- und Selbstverhältnisses aus dem originären Ereignis der Begegnung mit dem Anderen stiftet. Darin vollzieht sich eine Verschränkung zwischen Hermeneutik und Dialogik, zwischen Verstehen und Begegnung, in welcher beide in ihrer Eigenheit und ihrer Macht konstituiert werden.
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Das Gespräch Wilhelm von Humboldt über den unabänderlichen Dualismus des Denkens und Sprechens – mit Blick auf Emmanuel Levinas Jürgen Trabant
1. Gespräch »Gespräch«, nicht »Dialog« ist Wilhelm von Humboldts Wort oder, wenn er französisch schreibt, »conversation«. Das Wort »Dialog« bezeichnet bei Humboldt nur das literarische Formelement: die Dialoge in Dramen, also das Hin und Her der Rede im Gegensatz zu Monologen und Chören. Humboldts Wort für das, was Menschen mit der Sprache tun, ist »Gespräch«. Er scheint von Jugend an geradezu süchtig nach »Gespräch«. In dem Tagebuch einer Reise »nach dem Reich« 1788 wird fast auf jeder Seite von den »Gesprächen« berichtet, die der Einundzwanzigjährige gehabt hat. 1 Und er beschwert sich durchaus auch einmal über seinen Reisebegleiter Campe, wenn es auf der Reise nach Paris 1789 mit diesem »wenig« oder gar »kein Gespräch« gab (XIV, 77, 85, 86). 2 Später, bei seinem langjährigen Aufenthalt in Paris, ist das »Gespräch« das wichtigste Forschungsinstrument seines anthropologischen Projekts einer Beschreibung der Moderne. Sein Pariser Tagebuch dokumentiert die »Gespräche« mit vielen Hauptakteuren des postrevolutionären Paris, vor allem mit den französischen Philosophen, mit Sieyès, mit Madame de Staël. An diese schreibt er am 1. Juni 1805, nach intensiven Begegnungen in Rom, dass nichts ihn mehr elektrisiere als das Gespräch: »Il n’y a rien qui m’électrise comme la
Vgl. C. Wiedemann, »›raffinirte kunst des umgangs‹. Ich-Findung in den frühen Reisetagebüchern Wilhelm von Humboldts«, in: U. Tintemann, J. Trabant (Hg.), Wilhelm von Humboldt: Universalität und Individualität, München 2012, 33–54. 2 Die Stellenangaben bei den Humboldt-Zitaten beziehen sich, wie in der HumboldtForschung üblich, auf Band und Seite von W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften (Hg. A. Leitzmann u. a.), 17 Bände, Berlin 1903–36. 1
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conversation.« 3 Und in der Tat war Madame de Staël seine wichtigste französische Gesprächspartnerin. Sie war für Humboldt die »conversation«. Aber die bedeutendste Erfahrung des »Gesprächs« in Humboldts Leben ist die mit seinem Freund Friedrich Schiller. Ihm setzt er geradezu ein Monument als Genie des Gesprächs. In der wohl immer noch besten Charakteristik Schillers im Vorwort zum Briefwechsel mit diesem (1830) schreibt Humboldt den berühmten Satz, dass »der Gedanke das Element seines Lebens war« (VI, 496), und er fährt fort: »Dies zeigte sich am meisten im Gespräch, für das Schiller ganz eigentlich geboren schien«. Er kontrastiert dabei Johann G. Herders Gesprächsverhalten mit demjenigen Schillers. Herder hätte zwar ungeheuer schön sprechen können. Seine Rede sei aber kein eigentliches Gespräch gewesen, er brauchte nämlich keine Erwiderungen oder Einwendungen. Genau diese aber waren essentiell für Schiller, der das Gespräch als eine »Wechselthätigkeit« (VI, 497) betrieb, in welcher der »Gedanke« geschaffen wurde: »Er behandelte den Gedanken immer als ein gemeinschaftlich zu gewinnendes Resultat, schien immer des Mitredenden zu bedürfen, wenn dieser sich auch bewusst blieb, die Idee allein von ihm zu empfangen, und liess ihn nie müssig werden« (VI, 496). Der »Gedanke«, Schillers Element, ist also immer an das »Gespräch« gebunden. Gedanke und Gespräch sind eins und dasselbe. Schiller war damit für Humboldt sozusagen die Sprache überhaupt, denn das Wesen der Sprache ist es, den Gedanken als gemeinschaftliches Resultat zu erzeugen. Sie ist, wie Humboldt im Spätwerk formuliert, »das bildende Organ des Gedanken« (VII, 53), das des »fremden Mundes« bedarf (VII, 56).
2. Mitdenken Schon in seinem ersten kleinen Artikel über die Sprache »Über Denken und Sprechen« (1795) bestimmt der junge Humboldt mit Herder (und gegen Johann G. Fichte) die Aufgabe der Sprache als eine kognitive: Gegen die dominante Auffassung von Sprache als Mittel der Kommunikation (als »Zeichen« seit Aristoteles) betrachtet er »das Zitiert von K. Mueller-Vollmer, »Guillaume de Humboldt, interprète de Madame de Staël: distances et affinités«, in: Cahiers Staëliens 37 (1967), 93.
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Denken« als die wesentliche Aufgabe der Sprache. Die Sprache schafft »Portionen des Denkens« (VII, 582), die sie mit Tönen verbindet, welche etwas ganz Besonderes in der Welt sind, denn mit diesen lädt der Sprecher seine »Mitgeschöpfe« zum »Verstehen durch Mitdenken« ein: »Solche Töne giebt es sonst in der ganzen übrigen Natur nicht, weil niemand, ausser dem Menschen, seine Mitgeschöpfe zum Verstehen durch Mitdenken, sondern höchstens zum Handeln durch Mitempfinden einladet« (VII, 583). Sprache ist damit ganz entschieden zweifach aus dem Pragmatischen und Emotionalen ins Kognitive gestellt. Nicht nur ist Sprache primär Weltaneignung, also »Denken«, und nicht Kommunikation. Auch die Dimension des Anderen, die Humboldt ja nicht ausschließt, ist radikal ins Denken eingeholt: Mit-Denken. Es geht nicht wie bei anderen Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts primär um die Bewältigung der sozialen Beziehung zum Anderen – Hilfeleistung bei Étienne de Condillac, Liebesbeziehung bei Jean-Jacques Rousseau – sondern, wie Herder es in seiner Ursprungsschrift gezeigt hatte, um die geistige Erfassung der Welt, den »Gedanken«. Herder schreibt dann den ersten Gedanken in den »Dialog« ein. Er sei ein »Dialogieren« der Seele mit sich selbst, und überhaupt beginne mit dem Fassen des ersten Gedankens auch gleich der »Dialog« mit anderen: »Ich kann nicht den ersten Menschlichen Gedanken denken, nicht das Erste besonnene Urtheil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogire oder zu dialogiren strebe; der erste Menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogiren zu können!« 4 Humboldt, der mit dieser Herderschen Position grundsätzlich übereinstimmt, spricht hier aber gerade nicht von »Dialog«. Indem er den Bezug zum anderen als Einladung zum »Verstehen durch Mitdenken« fasst, präzisiert er nämlich dessen kognitiven Charakter noch einmal. Das Wort ist nicht nur, wie bei Herder, »Mittheilungswort für Andre« (ebd.), also Mittel der Kommunikation, sondern Aufforderung zu einem kognitiven Prozess im Anderen: Mitdenken. Was er später bei Schiller lobt, die gemeinsame Erarbeitung des Gedanken im Gespräch, ist die Funktion der Sprache.
J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772] (Hg. W. Proß), München 1978, 41.
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3. Geschlechtsunterschied Dieser kleine Text über die Sprache ist in derselben Zeit geschrieben, in der Humboldt über den Geschlechtsunterschied nachdenkt und eine gewagte anthropologische Deutung der geheimnisvollen kantischen »Einbildungskraft« entwickelt. Für Schillers Horen schreibt er 1795 »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur«. 5 Humboldt betrachtet darin das Männliche und das Weibliche als die grundlegenden Kräfte der Natur, deren Trennung eine Einseitigkeit und Sehnsucht nach Verbindung erzeugt und aus deren liebender Vereinigung das Neue entsteht. Diese Trennung und Vereinigung herrscht nicht nur in der natürlichen Welt, sondern auch in der Welt des Geistigen. Humboldt behauptet kühn, noch der Gedanke sei der »Sprössling« der Sinnlichkeit, also der liebenden Vereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips im Menschen, von Verstand und Sinnlichkeit: »Diesem gegenseitigen Zeugen und Empfangen ist nicht bloss die Fortdauer der Gattungen in der Körperwelt anvertraut. Auch die reinste und geistigste Empfindung geht auf demselben Wege hervor, und selbst der Gedanke, dieser feinste und letzte Sprössling der Sinnlichkeit, verläugnet diesen Ursprung nicht« (I, 316). Von der Sprache spricht Humboldt im Horen-Aufsatz nicht. Wenn er aber im unmittelbaren Umfeld des Horen-Aufsatzes die Sprache als Erzeugerin von »Portionen des Denkens« betrachtet, so dürfen wir diese Gedanken als »Sprösslinge« der liebenden Synthese von Sinnlichkeit und Verstand im Subjekt verstehen. Und in der Verlängerung des erotischen Gedankens bis ans Ende des kleinen SprachArtikels kann man auch die Einladung zum »Verstehen durch Mitdenken« durchaus als eine weitere Dimension des Zusammenspiels des Weiblichen und des Männlichen auffassen. Es findet also eine doppelte »Vermählung« (Humboldts Wort im »Geschlechtsunterschied«) statt: die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand in der Produktion der »Portionen des Denkens« und die Verbindung von Sprechendem und Verstehendem im »Mitdenken«. Erst aus dieser
Man müsste diesen Aufsatz und seine Fortsetzung »Über männliche und weibliche Form« (1795) einmal im Lichte der »Phénoménologie de l’Eros« von Levinas neu lesen, vgl. E. Levinas, Totalité et Infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1974, 233– 244.
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Synthese geht der »Gedanke« als gemeinsames Produkt hervor, als Kind des Gesprächs. Wenn richtig ist, was die Humboldt-Philologie annimmt, nämlich dass »Über Denken und Sprechen« kurz nach dem Horen-Aufsatz entstanden ist, kann es nicht verwundern, dass darin keine Spur des sexualisierten Diskurses über die Erzeugung des Gedanken und des Miteinandersprechen enthalten ist. Immanuel Kant hatte nämlich bei Schiller vehement gegen die Sexualisierung seiner Philosophie protestiert. Es sei ein »Abgrund des Denkens«, schreibt Kant. 6 Gottvater höchstselbst verhängt also ein Denkverbot. Schlimmeres konnte einem tief überzeugten Kantianer wie Humboldt nicht widerfahren, der die Synthesis der Einbildungskraft ja nicht kritisieren, sondern naturphilosophisch unterlegen wollte. Humboldt wird dann jahrzehntelang nichts mehr zum Geschlechtsunterschied und dem Erzeugen des Neuen aus der liebenden Vereinigung der beiden Geschlechter publizieren. Die Geschlechterdifferenz bleibt aber ein zentrales Motiv seines Denkens. Sie ist die erste offensichtliche Grunddifferenz der Menschheit, der Humboldt dann im unveröffentlichten und unvollendeten »Plan einer vergleichenden Anthropologie« ein Kapitel widmet. Auch bleibt die liebende Vereinigung von Zweien eine Grundfigur seines Denkens, da sie wie nichts anderes seiner forma mentis entspricht. Im Gegensatz etwa zu Hegel, der die Dialektik nach dem Modell des alimentären Stoffwechsels, des Verzehrens und Verdauens, denkt, ist Humboldt ein tief erotischer Denker, für den die »richtige« Synthese immer die »Vermählung« von Zweien bleiben wird. Gleichgültig, ob er über Politisches oder Linguistisches nachdenkt, die beste Lösung aller Gegensätze ist ihre liebevolle Verbindung. Er unterscheidet drei Verfahren des Zusammenseins zweier Entitäten, die Isolierung, die Verschmelzung und die Synthese. Bei den grammatisch-morphologischen Verfahren ist die »synthetische« Flexion die beste Lösung für die Verknüpfung der Wörter im Satz, während die »Einverleibung« und die »Isolierung« von Wörtern weniger vollkommene Verfahren sind. Auch in der Politik kommt es nicht darauf an, Differenzen durch Einverleibung zu zerstören oder überhaupt nicht zu lösen (Isolierung), sondern immer darauf, sie miteinander so zu »vermählen«, dass in der Verbindung die Eigenheit der Verbundenen nicht verloren geht und aus ihr ein Neues entsteht.
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Zitiert in J. Trabant, Apeliotes oder Der Sinn der Sprache, München 1986, 23.
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4. Sprachen Nachdem für Humboldt von Anfang an »das Gespräch« – mindestens so stark wie bei Schiller – sein »Element« ist und die Sprache im allgemeinen (langage) in dem kleinen frühen Text über Denken und Sprechen thematisiert wird, entdeckt Humboldt in Paris 1797–1801 in den Sprachen (langues) das Zentrum seiner anthropologischen Suche. Schon wegen der fremdsprachigen Umgebung widmet Humboldt der Sprache, dem Französischen, viel Aufmerksamkeit, dann aber ist es das Baskische, das Humboldt mit seiner von den anderen europäischen Sprachen abweichenden Struktur so sehr in den Bann ziehen, dass er, von der Beschreibung des Baskischen ausgehend, den Plan einer Enzyklopädie aller Sprachen der Menschheit fasst. Dass Sprache überhaupt (langage) »Denken« und »Mitdenken« ist, hatte Humboldt schon geschrieben. Nun tritt die Sprache – wie gerade das radikal differente Baskische zeigt – aber als verschiedene Sprachen (langues) auf. Diese Verschiedenheit gilt es zu verstehen. Humboldt ist mit der Aufklärungsphilosophie seit Locke davon überzeugt, dass die Sprachen verschiedene Formen des Denkens der Menschheit enthalten. Gegen John Locke sieht er aber darin keine Katastrophe, sondern mit Gottfried W. Leibniz eine wunderbare Vielfalt des menschlichen Geistes, »la merveilleuse variété des opérations de notre esprit«. 7 Humboldt stürzt sich dann gleichsam auf die Sprachen der Menschheit, arbeitet nach dem Baskischen vor allem über amerikanische Sprachen, Sanskrit, Chinesisch, die ägyptischen Hieroglyphen und schließlich über die austronesischen Sprachen, denen sein posthumes Hauptwerk gewidmet ist: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java (1836–39). Er stellt einiges von diesen Forschungen zu den Sprachen in der Berliner Akademie vor, wenn er sich ab 1820 aus seinen politischen Aufgaben in die Sprachforschung zurückzieht. 8 Gleichzeitig arbeitet er an einer philosophischen Begründung dieses »vergleichenden Sprachstudiums«. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass alle Sprachen der Welt dokumentiert, beschrieben und verglichen werden sollen. Von dieser philosophischen Legitimation der Sprachforschung
7 G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain [1765] (Hg. J. Brunschwig), Paris 1966, 293. 8 Vgl. J. Trabant, »Humboldts Forum: Die Berliner Akademie und das vergleichende Sprachstudium«, in: J. Trabant (Hg.), Wilhelm von Humboldt: Sprache, Dichtung und Geschichte, Paderborn 2018, 163–182.
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stellt Humboldt aber nur einige Theoriestücke zu seinen Lebzeiten vor, sie erscheint insgesamt erst nach seinem Tode im ersten Band des Kawi-Werkes: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1836). Sie ist in wesentlichen Stücken gleichsam eine Ausarbeitung der frühen Skizze über Denken und Sprechen unter Rückgriff auf die Überlegungen zur Sexualität.
5. Der unabänderliche Dualismus Eines der zentralen Momente dieser Sprachphilosophie, das Humboldt in der Akademie vorträgt, ist das Theorieelement, das uns hier in Zusammenhang mit der Thematik des Dialogs beschäftigt: der »unabänderliche Dualismus« der Sprache. In dem Vortrag »Über den Dualis« (1827) sucht Humboldt zunächst diese grammatische Kategorie in den verschiedenen Sprachen der Welt auf. Er weitet dann die Frage auf semantische Zweiheit aus und kommt am Ende des Vortrags auf den sprachphilosophischen Kern der Frage nach der Zweiheit zu sprechen: »Besonders entscheidend für die Sprache ist, dass die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgendwo sonst, einnimmt.« (VI, 25). Denn »Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede« (ebd.). Und an dieser Stelle, dreißig Jahre nach dem Verdikt Kants, greift Humboldt ausdrücklich auf die Geschlechtsthematik zurück: »Der in seiner allgemeinsten und geistigsten Gestaltung aufgefasste Geschlechtsunterschied führt das Bewusstseyn einer, nur durch gegenseitige Ergänzung zu heilenden Einseitigkeit durch alle Beziehungen des menschlichen Denkens und Empfindens hindurch« (VI, 25). Trotz Kants Einspruch von 1795 nimmt Humboldt 1827 also kein Wort seines frühen Horen-Aufsatzes zurück, sondern bekräftigt dessen Grundthese in deutlicher Vorwegnahme der Prinzipien der Freudschen Psychoanalyse: Das Sexuelle begleitet das gesamte menschliche Denken und Empfinden. Falls Humboldt seine Geschlechtstheorie – freudianisch gesprochen – während seines bisherigen Lebens unterdrückt haben sollte, wegen des Verbots des Großen Vaters, so tritt sie hier wieder kräftig an die Oberfläche, also gerade dort, wo er das Kernstück seiner gesamten Sprachphilosophie skizziert: Das durch den Geschlechtsunterschied gestiftete Gefühl der fundamentalen menschliche Einseitigkeit, das nur durch »gegenseitige Ergänzung« zu heilen ist, ist die anthropologische Grundlage des »unabänder80 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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lichen Dualismus« der Sprache: »Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt« (VI, 26). Und dieser unabänderliche Dualismus ist nicht nur etwas Dialogisches-Formales (wie im Drama), wie man angesichts der Erwähnung der formalen Dialog-Elemente Anrede und Erwiderung meinen könnten, sondern die Grundlage der Aufgabe der Sprache, den Gedanken zu bilden. Da er auf der sexuellen Leiblichkeit aufruht, auf deren Sehnsucht nach Heilung durch »gegenseitige Ergänzung«, ist er tief in die menschliche Natur eingeschrieben, ist er auch der unabänderliche Dualismus des Denkens: »Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens, nach einem dem Ich entsprechenden Du« (VI, 26). Die »Neigung« und das »Sehnen« des denkenden Menschen verweisen klar auf die körperlichen Grundlagen seines Denkens, das immer auf den Anderen gerichtet ist. Das Denken geschieht immer in der Dimension des Anderen. Dieser grundlegende »Dualismus« des Denkens und Sprechens hat mit »Kommunikation« im modernen Sinne nur wenig zu tun. Es geht ja nicht nur um ein »Übergeben« eines vom Ich gefassten Gedankens an den Anderen, wie moderne Kommunikationstheorien das Miteinandersprechen fassen. Humboldt selbst sagt: »Die gemeinsame Rede ist nie mit dem Übergeben eines Stoffes vergleichbar« (VII, 56). Es geht vielmehr um eine tiefe Alterität, die der »Übergabe« vorausgeht und ihr zugrundeliegt, weil sie das Denken selbst motiviert und begleitet. Kognitivität und Kommunikativität sind nicht zwei Aspekte der Sprache, sondern fallen zusammen. Humboldt resümiert in der Akademie-Rede die dualistische Produktion des Gedanken, die er später im Hauptwerk ausführlicher darlegen wird, als innige Verbindung des Denkens des Ichs mit dem Denken des Anderen, sofern er an der soeben zitierten Stelle unmittelbar anschließt, dass der Begriff, also der Gedanke, »erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft« erreiche (VI, 26). In der endgültigen und ausführlichen Darlegungen der »Arbeit des Geistes« im Kawi-Werk wird die Erzeugung des Gedanken in zwei Schritten vorgeführt: Zunächst wird die »einsame« Erzeugung des Gedanken durch das Ich beschrieben und dann die »gesellschaftliche« Erscheinung als notwendige Fortführung 81 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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dieser Arbeit. Der erste Aspekt dieses »Zusammenhangs des Denkens mit der Sprache« ist der folgende: »Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reißt sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object, und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniß desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Sujectivität entzogen zu werden« (VII, 55). Um sich deutlich von der traditionellen kommunikativen Sprachauffassung zu distanzieren, sagt Humboldt an dieser Stelle sogar ganz herderisch, dass diese Erzeugung des Gedanken eine Tätigkeit auch des einsamen Einzelnen sei. Herder hatte in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache ja emphatisch betont, dass auch der »Einsame im Walde« Sprache erfunden hätte. 9 Und Humboldts Echo: »Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sehen, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit« (VII, 55). Humboldt fährt aber unmittelbar fort, dass dies nicht bedeute, dass ein solches Denken in »Einsamkeit« tatsächlich möglich wäre, es realisiert sich nur mit den Anderen: »In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt« (VII, 55 f.). Dieser zweite Aspekt ist kein Nacheinander – zuerst Gedankenproduktion des Einsamen, dann Verstehen und Sprechen des anderen – sondern die notwendige Vollendung der Produktion des Denkens. Dieses ist also ein Zusammenspiel vielfältiger Synthesen: Verbindung von Laut und Gedanke, Produktion des Lauts, Hören des Sprechers auf den eigenen Laut, Hören und Verstehen des Anderen, Sprachproduktion des Anderen, Hören auf das Wort des Anderen.
Herder, Abhandlung, 34: »der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müßen; hätte er sie auch nie geredet«.
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6. Hören und Erblicken des Gedanken In dieser höchst komplizierten »Bildung des Gedanken« spielt durch die Bindung des Gedanken an den Laut das Hören eine zentrale Rolle. Humboldt entdeckt, dass der sprechende Mensch sich selbst hören muss. Das »Erzeugnis des geistigen Strebens kehrt zum eigenen Ohre zurück.« Ohne diese Propriozeption ist keine klare Artikulation und folglich auch kein »deutliches« Denken möglich. Die Beachtung des akustischen loop ist, wenn ich es richtig sehe, wirklich eine Neuerung in der europäischen Sprachtheorie. Das Hören des Anderen auf mein Wort setzt dann die Erzeugung von Sprache im Anderen in Gang: »Verstehen und Sprechen sind nur verschiedene Wirkungen der nämlichen Sprachkraft« (VII, 56), die sich im erneuten Sprechen des Anderen manifestiert. Erst wenn mein Wort aus »fremdem Munde wiedertönt« (und ich es höre), sind die multiplen Synthesen, die Erzeugung des Gedanken im Gespräch, vollbracht. Trotz dieser phonetisch-akroamatischen Aktivität spricht Humboldt auch immer wieder davon, dass der Sprechende den Gedanken außer sich »erblicken« müsse. Der Sprecher erblickt in Wirklichkeit aber nichts, sondern er hört den Gedanken. Dass in Humboldts Wortwahl die Visualität durchschlägt, verweist auf die dominante Semantik des abendländischen Diskurses über das Denken, das ja im Wesentlichen als ein Sehen und Ergreifen gefasst wird. Die kognitiven Metaphern der Tradition sind optisch und haptisch: An-schauung, Be-griff, Vor-stellung etc. 10 Humboldt versucht immerhin, eine Epistemologie des Hörens zu denken: Die Vorstellung verbindet sich mit dem Laut, der durch die Lippen bricht, dieser muss zum eigenen Ohre zurückkehren, um »deutlich zu werden«, und er muss natürlich zum Ohr des anderen gelangen, du musst mich hören und deinerseits wieder ein phonetisch-akroamatisches Erzeugnis produzieren, das ich schließlich wieder hören muss. Ich muss es nicht »erblicken«. Aber der optische Diskurs des Denkens ist so stark, dass Humboldt ihm nicht entgeht. Gewiss spielt dabei auch eine Rolle, dass das Hören in der Tradition ein »ethischer« und kein theoretischer Sinn ist (Ge-horsam, ob-oedientia). Herder hatte versucht, das Hören auf die Welt als Vgl. die Bemerkung von Levinas: »Comme l’a fait remarquer Heidegger après St. Augustin, nous employons le terme vision indifféremment pour toute expérience, même quand elle engage d’autres sens que la vue. Et nous employons aussi dans ce sens privilégié le saisir«, in: Totalité et Infini, 162.
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erste kognitive Beziehung des Menschen zur Welt zu fassen. 11 Humboldt folgt ihm hierin nicht, sondern belässt das Hören in der Beziehung mit den Menschen. Was an dieser zentralen Stelle über die »Gedankenerzeugung« (VII, 56) durch Sprache deutlich wird, ist, dass Sprechen tatsächlich immer ein Gespräch ist, das heißt dass Du immer an der Bildung des Gedanken beteiligt bist. »Verstehen durch Mitdenken« ist eine sprachliche Tätigkeit beziehungsweise der wesentliche zweite Teil der Sprach-Arbeit. Dieser ist wie die Tätigkeit des Ich notwendig zur Vollendung der »Objektivität« des Begriffs. Die Ich-Du-Relation ist ebenso wichtig für die Produktion des »Gedanken« wie die Ich-WeltRelation, ja sie liegt dieser sogar zugrunde, sofern sich der Mensch »auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du« sehnt (VI, 26). In der Ich-Welt-Relation erzeugt das Subjekt den Laut-Gedanken, den es sich selbst objektiv gegenüberstellt. Der Begriff »wird erzeugt, indem er sich aus der Masse des Vorstellens losreisst, und, dem Subject gegenüber, zum Object bildet« (VI, 26) – erster Schritt, auf den als zweiter Schritt notwendigerweise folgt: »Die Objectitivät erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist« (VI, 26).
7. Zwischen Cogito und Dialog Humboldts Theorie der Sprache scheint auf den ersten Blick die wesentlichen Elemente des »Dialogs der Immanenz« zu haben, die Levinas in einer nicht näher spezifizierten »überlieferten Philosophie [philosophie transmise]«, im »westlichen Humanismus [humanisme occidental]« oder im »abendländischen Geist [esprit occidental]« vorfindet. 12 Es geht in der Philosophie des Cogito um »Wissen«, savoir, das bei Humboldt »der Gedanke« heißt, also sozusagen wortgetreu
11 Vgl. Herder, Abhandlung, 53: »Da der Mensch blos durch das Gehör die Sprache der lehrenden Natur empfängt, und ohne das die Sprache nicht erfinden kann: so ist Gehör auf gewiße Weise […] die eigentliche Thür zur Seele.« 12 Die französischen Zitate aus E. Levinas, »Le dialogue. Conscience de soi et proximité du prochain«, in: ders., De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982, 211–230.
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dem Cogito entspricht. Dennoch ist Humboldts Sprachphilosophie im Kontext der Reflexion des Dialog-Aufsatzes von Levinas insofern einer Thematisierung wert, als sie in vielerlei Hinsicht weder dem Bild der Wissensphilosophie des »westlichen Humanismus« noch der modernen Dialogphilosophie entspricht, wie sie Levinas skizziert, sondern zentrale Elemente beider Philosophien miteinander verbindet. Zwar schreibt der Kantianer Humboldt seine Philosophie der Sprache ein in eine Philosophie des Wissens, des savoir, des Cogito. Die Sprache ist ja »das bildende Organ des Gedanken«. Sie wird geradezu enthusiastisch und ausdrücklich in die theoretische Philosophie eingestellt. Sie wird aus ihrer bloßen Hilfsfunktion als Kommunikationsmittel (Zeichen) des sprachlosen Denkens hineinbefördert in die Produktion des Denkens selbst. Sie nimmt dann sogar – in Bezug auf die Kantische Systematik – die Stelle der Einbildungskraft ein, deren »Schemata« zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermitteln und hier als »Portionen des Denkens« als sprachliche erkannt werden. Aber – und hier weicht Humboldt doch erheblich vom »abendländischen« Modell ab – diese Portionen des Denkens sind nicht nur Erzeugnisse des Ich, des Cogito, und seines inneren und äußeren Dialogs. Sondern das Denken ist eine gemeinsame Produktion von Ich und Du: Mitdenken, welches gerade nicht, wie Levinas schreibt, ein Eintreten der Gesprächspartner in das Denken des anderen [entrer dans la pensée de l’autre] 13 [12] ist, bei dem dann die »wechselseitige Anderheit unterdrückt wird [où se supprime leur altérité réciproque]« 14 [14]. Mein Wort, mein Gedanke muss aus »fremdem Munde wiedertönen«, dann erst ist er wirklich in der Welt. Aber er ist als »fremdes« Wort ja durchaus eben anderes Denken des Anderen. Eine neue Figur erscheint: Cogitamus, »wir denken«. Und das ist ein riskantes Unternehmen: »die Sprache kann auch nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zu Wirklichkeit gebracht werden« (VI, 26). Der Gedanke ist etwas Fremdes und etwas Unabgeschlossenes, niemals Beendetes. Wenn Schillers »Element« der Gedanke ist, so ist eben das »Gespräch« sein Element, in dem der Gedanke niemals einen Abschluss findet. Das »Mitdenken« zu dem die Menschen sich ein13 14
Ebd., 216. Ebd., 217, Abschnitt 14.
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laden, ist kein Mitwissen, sondern ein ewiger Prozess der Erzeugung des offenen Denkens. Das Du ist daher nicht nur etwas, das zum einsamen denkenden Ich sozusagen bestätigend hinzukommt, sondern Ich-Du liegt allem Denken zugrunde. Dieser unabänderliche Dualismus des Denkens und Sprechens (das ist eben dasselbe) basiert – wie die Dialogphilosophie – auf dem Ich-Du als tiefster Grundlage. Im Gegensatz zu dieser aber behält Humboldt gleichzeitig das Ich-Es der Cogito-Philosophie bei. Das heißt Humboldts Sprachphilosophie bleibt in der theoretischen Philosophie und Erkenntnistheorie, sie wird keine Ethik. Levinas macht in seiner Darstellung die Differenz der Dialog-Philosophie (Martin Bubers im wesentlichen) zur traditionellen Cogito-Philosophie deutlich: »la philosophie contemporaine du dialogue insiste sur une tout autre dimension de sens […] sur la socialité originaire«. 15 [19] Auch für Humboldt gilt eine socialité originaire. Das Ich-Du bei Humboldt basiert aber nicht auf der Begegnung mit Gott (wo dann letztlich das Ich »Diener des Du« ist) 16 [36], sondern auf der Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht. Die Originalität Humboldts besteht ganz gewiss in dieser sexuellen Grundierung seines ganzen Denkens. Das fundamentale »Bewusstseyn einer nur durch gegenseitig Ergänzung zu heilenden Einseitigkeit« entsteht aus der geschlechtlichen Natur des Menschen. Sie ist der Grund dafür, dass wir – in verwickelten, mehrfachen Synthesen – den Gedanken gemeinsam bilden. Humboldts Sprachphilosophie nimmt also eine bemerkenswerte Zwischenposition ein. Deren Kühnheit bedingt vielleicht auch manche Unentschiedenheit: So entfaltet Humboldt, sicher im Anschluss an Herder, zwar das Hören – den fundamentalen »ethischen« Sinn – als Sinn der Sprache, indem er es gleich mehrfach in die Produktion des Laut-Gedanken einführt. Aber das Hören auf das »Wort, das aus fremdem Munde wiedertönt«, fasst er auch als ein »Erblicken«. Die europäische Tradition der Metaphern des Wissens als eines Sehens (und Greifens) bleibt mächtig und wirksam. Und auch die Darstellung der Erzeugung des Gedanken, die er im »Dualis« deutlich als Ich-Du und Ich-Es eng verwob, in zwei Schritten in der Kawi-Einleitung zeigt eine gewisse Zögerlichkeit angesichts der kühnen untrennbaren Verbindung der beiden Dimensionen. 15 16
Ebd., 219. »Le Je comme Je est serviteur du Tu dans le Dialogue«; Levinas, »Dialogue«, 230.
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Die Position Humboldts zwischen Philosophie des Wissen und Philosophie des Dialogs, zwischen Philosophie des Cogito und Philosophie des Ich-Du wird im Terminus »Gespräch« – gegenüber »Dialog« – deutlich. Während im Dialog die Begegnung selbst als solche – le rapport inter-humain 17 [19] – das fundamentale Ereignis ist, geht es im »Gespräch«, diesem unabänderlichen Dualismus, immer auch um die Bildung des Gedanken. Diese ist allerdings – im Gegensatz zu dem von Levinas rekonstruierten Hegelschen Gang bis zum absoluten Wissen, bei dem die Teilnehmer »zur Vernunft gebracht werden [ramenant les interlocuteurs à la raison]« 18 [14] – immer unabgeschlossen, unabschließbar, deswegen bleibt der Gedanke auch immer im Gespräch.
8. Und schließlich: le visage Humboldt hat 1829 die Produktion des Denkens im Gespräch, die IchEs-Synthese und die Ich-Du-Synthese, am Anfang einer AkademieRede über die Pronomina, also Ich-Du-Er, und Ortsadverbien noch einmal folgendermaßen zusammengefasst. »Das Sprechen, man mag es nun in seiner inneren und tiefen Beziehung auf das Denken, oder in seiner äusseren und mehr sinnlichen auf die dadurch gestiftete Gemeinschaft zwischen Menschen und Menschen betrachten, setzt immer in seinem Wesen voraus, dass der Sprechende, sich gegenüber, einen Angeredeten von allen Andren unterscheidet. Das Gespräch beruht auf diesem Begriff, und auch die bloss geistige Function des Denkens führt eben dahin. Es erlangt erst seine Bestimmtheit und Klarheit, wenn es auch als aus einer fremden Denkkraft zurückstrahlend angesehen werden kann. Der gedachte Gegenstand muss vor dem Subjecte zum Object werden. Aber die bloss ideale subjective Spaltung genügt nicht, die Objectivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Die Sprache, obgleich auch beim einsamsten Denken unentbehrlich und obgleich im Sprechen durch jeden der Sprechenden allein aus ihm selbst herausgesponnen, kann dennoch nur an und vermittelst einer Zweiheit entstehen« (VI, 304). 17 18
Ebd., 219. Ebd., 217.
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Humboldt zeigt in diesem Vortrag, der 1832 als letzter gedruckter Text zu seinen Lebzeiten erscheint, wie verschiedene Sprachen diese durch das Sprechen selbst gegebene Zweiheit mit verschiedenen Raumvorstellungen verbinden. Und er endet mit dem Hinweis auf eine Metapher für das Du, die ins Herz der Philosophie von Levinas führt, zum visage, also zur »Art und Weise wie sich der Andere präsentiert und dabei die Idee des Anderen in mir hinter sich lässt«: »La manière dont se présente l’Autre, dépassant l’idée de l’Autre en moi, nous l’appelons, en effet, visage.« 19 Das Neuseeländische, das wir heute Maori nennen, habe eine bemerkenswerten Ausdruck für das »andre, gleich ihm vorstellende und denkende Wesen«: Du bist das Entgegenleuchtende, das Ant-litz: e mâra: »E mâra, gebraucht wie unser rufendes du, ihr, heisst also wörtlich: o gegenüber. Zugleich aber, und dies ist sichtlich der ursprünglichere Begriff, heißt mâra ein offener, der Sonne ausgesetzter Platz, und ist dasselbe Wort mit mârama, hell, erleuchtet, Licht. Diese Metapher ist also hier auf das im Gegenüberstehen frei entfaltet da liegende, entgegenleuchtende menschliche Gesicht angewendet. Wir könnten es ganz treu durch o Antlitz! übersetzen« (VI, 330). In dieser Metapher von der anderen Seite der Welt – und gleichsam in seinem letzten (gedruckten) Wort – trifft Wilhelm von Humboldt, der Denker des Gesprächs, den Denker des visage.
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Levinas, Totalité et Infini, 21.
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie Werner Stegmaier
Einleitung: Levinas’ Dialog über die Dialog-Philosophie Emmanuel Levinas’ 1980 zuerst erschienener Text zum Dialog 1 hat das für ihn eher ungewöhnliche Format eines Beitrags zu einer Enzyklopädie. 2 Unter seinen Händen wird aus ihm ein wiederum ungewöhnlicher Lexikon-Artikel. Denn einerseits erschöpft er bei weitem nicht die vielfältigen Versionen einer Philosophie des Dialogs, die man üblicherweise mit Friedrich Heinrich Jacobi, Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt beginnen lässt, in die man vielleicht auch Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Daniel Ernst Schleiermacher, in jedem Fall aber Ludwig Feuerbach einschließen wird; neben Franz Rosenzweig, Martin Buber und Gabriel Marcel, die
Der notorischen Schwierigkeiten wegen, Levinas ins Deutsche zu übersetzen, halte ich mich an den in Levinas’ Aufsatzsammlung De Dieu qui vient à l’idée (Paris 1982) neu abgedruckten und neu autorisierten französischen Text, dem Levinas hier den programmatischen Untertitel Conscience du soi et proximité du prochain (Bewusstsein seiner selbst und Nähe des Nächsten) gab. Die Untergliederung der IV Teile des Beitrags in jeweils 1–6 Abschnitte mit besonderen Überschriften stammt, wie in der vorliegenden modifizierten Übersetzung angemerkt, von den Herausgebern der deutschen Erstveröffentlichung 1981, die auf die französische Erstveröffentlichung im italienischen Archivio di Filosofia 1980 folgte; die vorliegende deutsche Übersetzung bemüht sich, wie schon die frühere Version, darum, die harten Kanten von Levinas’ Diktion abzuschleifen, seine manchmal verschachtelten Konstruktionen zu entzerren und die verkürzten zu erweitern, sichtlich, um den Text für Leser einer Enzyklopädie gefälliger lesbar zu machen. Ich gebe, wo es angebracht ist, die französischen Begriffe in Klammern mit an, referiere jedoch zur leichteren Übersicht auf die Nummerierung der Abschnitte, die der Herausgeber dieses Bandes, Burkhard Liebsch, in den Text eingetragen hat. 2 Weitere sind etwa »Philosophie et transcendance«, »Totalité et totalisation« und »Infini« in: E. L., Altérité et transcendance, Montpellier 1995, 27–89. 1
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Werner Stegmaier
Levinas anführt, wären noch eine ganze Reihe weiterer Zeitgenossen und späterer Autoren namhaft zu machen. 3 Andererseits lässt Levinas’ Beitrag solche Bedenken gar nicht aufkommen. Denn im ersten Satz gibt er wohl, wie man das von einem Lexikon-Artikel erwartet, eine Bestimmung des Dialogs, nämlich als »Diskurs, den die Menschen von Angesicht zu Angesicht miteinander führen (discours que les hommes face-à-face tiennent entre eux), indem sie einander ansprechen (s’interpellant 4) und Aussagen und Einwände, Fragen und Antworten, austauschen (échangeant)«, gibt die Bestimmung jedoch nur in Parenthese, und er wird dieser Bestimmung auch selbst nicht folgen und sie im Artikel konkretisieren. Stattdessen tritt Levinas sofort in die Dimension der Ersten Philo-
Vgl. etwa den Artikel »Dialog, dialogisch« von Johannes Heinrichs im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 2, Basel, Darmstadt 1972, Sp. 226– 229, oder den Artikel »Dialogphilosophie« von Chr. von Wolzogen in Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 2, Tübingen 1999, Bd. 2, Sp. 822–824. Martin Buber ist in seinem Nachwort zu Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954 (= SdP), 287–306, also Jahrzehnte vor Levinas’ Dialog-Beitrag, ausführlich auf Vorgänger und Nachfolger eingegangen, um die Priorität seiner eigenen Lehre abzusichern und sie gegen spätere Abweichungen abzugrenzen; Levinas hatte er dabei noch nicht im Blick. Aktuell hat Burkhard Liebsch in seiner historischen Einleitung zu seiner groß angelegten Sozialphilosophie Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale, Freiburg, München 2018, Bd. I, 86–98, die sich stark an Levinas orientiert, den Umkreis, in dem dieser sich bewegte, näher dargestellt. Er hat darüberhinaus die Literatur zu der von Levinas im Ganzen stark geprägten und von Liebsch umfassend ausgearbeiteten und weiterentwickelten Philosophie des Sozialen, in der der Dialog im Von-Angesicht-zu-Angesicht ein besonderes Gewicht hat, gründlich ausgewertet (sein Literaturverzeichnis umfasst 61 Seiten). So kann ich hier auf eine weitere Darstellung dieses Umfelds und auf weitere Literaturnachweise weitgehend verzichten. Auch im Übrigen werde ich mich vielfach auf Arbeiten Liebschs stützen, der in herausragender Weise das Forschungsfeld der, wie er sie nennt, »Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen« bearbeitet hat. In »Heimsuchung. Das Dialogische in der Philosophie des 20. Jahrhunderts«, in: G. Fürst (Hg.), Dialog als Selbstvollzug der Kirche? Reihe Quaestiones disputatae, Bd. 166, Freiburg, Basel, Wien 1997, 9–29 habe ich selbst die Grundlinien der Dialog-Philosophie im 20. Jahrhundert aufzuzeigen versucht. Meine Schluss-These war dort: »Umorientierungen sind elementare Lebensvorgänge. Sie gehen immer von anderem aus. Sie könnten auch dem Dialog mit dem Andern zugrunde liegen und ihn ermöglichen.« (29) Diese These werde ich hier weiter verfolgen. 4 Interpeller heißt gewöhnlich ›mit Bestimmtheit befragen‹, z. B. einen Zeugen, auch ›jemanden anfahren‹, s’interpeller sogar ›sich gegenseitig anherrschen‹ ; Levinas gebraucht das Wort jedoch auch im Folgenden [21, 22, 26] im Sinn von ›ansprechen‹. 3
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
sophie ein, um sie in eine Richtung zu vertiefen, die auf seine eigene Philosophie zuläuft – und das alles in einem einzigen großen Satz. 5 Er hält sein Vorgehen ausdrücklich nicht für »unzulässig« (interdit). In der Ersten Philosophie wird nach Aristoteles’ Vorbild über die Grundfragen der Philosophie entschieden, 6 und Levinas geht es in seinem kurzen Artikel um weit mehr als den Dialog, sein gängiges Verständnis und seine Konzeption in der damaligen Dialog-Philosophie, nämlich um »eine Neuorientierung (orientation nouvelle) der Vorstellung (idée), die […] die westliche Gesellschaft sich vom Wesen des Sinns und des Geistigen (de l’essence du sensé et du spirituel) macht« [1/2]. Dies könne, fügt er – noch immer in seinem ersten Satz – ein, eine Folge der »Prüfungen« (épreuves) des 20. Jahrhunderts sein, die, was er nicht eigens heraushebt, zum schwersten Ziviliationsbruch der Menschheitsgeschichte, hervorgerufen durch eines der entwickeltsten und für seine Dichtung, Musik und Philosophie berühmtesten Länder, Deutschland, führten. Er knüpft die philosophische Neuorientierung an eine konkrete Situation an, die zu ihr nötigt. Die neue Situation – damit steigt Levinas ein – nötigt zu einer radikalen philosophischen Neuorientierung, für die der Dialog-Begriff nicht mehr ausreichen wird, auch wenn er in der alltäglichen und politischen Sprache verbreitet und zu hohen philosophischen Ehren gekommen ist. Levinas selbst ist kein Dialog-Philosoph im engeren Sinn: in seinen wichtigsten Werken kommt der Begriff Dialog
Die deutsche Übersetzung zerlegt ihn in drei durch einen Abschnitt getrennte Sätze. Levinas spricht hier nicht ausdrücklich von »Erster Philosophie«, gebraucht den Begriff ansonsten aber häufig, auch für seinen eigenen Ansatz. Unter »Erster Philosophie« verstand Aristoteles grundlegende Erörterungen, die der »Zweiten Philosophie«, zu der er neben der »Physik« auch »Logik« und »Ethik« zählte, sachlich noch vorausgehen; Aristoteles’ Schriften dazu wurden bekanntlich von einem späteren alexandrinischen Herausgeber aus bibliothekarischen Gründen »Metaphysik« genannt, d. h. Schriften metà, »hinter« den Schriften zur Physik, unter deren Namen sie seither bekannt sind; der Name erinnerte Nietzsche, so Levinas im Dialog-Beitrag, an »Hinterwelten« (arrièrre-mondes) [30]. Levinas selbst gebraucht den Begriff Metaphysik aber auch für das, was er zur Mitte seines ersten ausführlichen Hauptwerks, Totalité et Infini, macht, »das Streben nach der radikalen Äußerlichkeit« (l’aspiration à l’extériorité radicale) (TI xvii/32; s. u.). Die aristotelische Metaphysik und ihre Tradition bis ins 18. Jahrhundert ist für ihn die, der man nun entkommen muss; er macht das so deutlich, dass er »ihre Termini umkehrt« (Il faut intervertir les termes).« (TI 17/57) Das gilt auch für den Begriff Ethik und die erst neuzeitliche Begriffsprägung »Ontologie«, die beide im Dialog-Beitrag eine prominente Funktion haben. 5 6
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kaum vor. 7 Aber er zeigt in seinem Dialog-Artikel, wie er für die Erste Philosophie stark zu machen ist. Die Neuorientierung betrifft nach Levinas die »westliche« (occidentale) Philosophie überhaupt, die er auch die »griechische« nennt: die Philosophie, die Parmenides mit seinem Denken des Seins maßgeblich auf den Weg gebracht und die, nach Zwischenstationen vor allem bei Descartes, Spinoza und Hegel, bei Husserl ihren Höhepunkt erreicht und sich damit erschöpft habe – Levinas’ erste Arbeiten waren vor allem der Analyse und Kritik von Edmund Husserls Phänomenologie gewidmet. Dieser westlichen Philosophie stellt er häufig das jüdische Denken (pensée juive) entgegen, das von ihr bisher weitgehend ausgeschlossen war und dessen philosophische Aktualität, im Anschluss an Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Martin Buber, Levinas selbst am stärksten herausgearbeitet hat. 8 In seinem DialogBeitrag taucht diese Opposition nicht auf. 9 Er macht hier nicht geltend, auch wenn er sonst großen Wert darauf legt, dass Buber, Rosenzweig und Marcel Juden waren, wenn auch mit ganz unterschiedlichem Hintergrund: Martin Buber (1868–1965) bekannte sich in der Tradition seiner Vorfahren zum osteuropäischen Chassidismus; Franz Rosenzweig (1886–1929) wuchs in einer assimilierten Familie auf und wollte sich taufen lassen, entdeckte dann aber die philosophische und religöse Tiefe des Judentums und blieb Jude; Gabriel Marcel (1889–1973) dagegen konvertierte zum Katholizismus. Levinas selbst, ein, zwei Generationen jünger als sie (1906–1995), blieb der Tradition der jüdischen Aufklärung (Haskala) treu, die in seinem Heimatland Litauen stark geworden war. Sie alle verbindet ein religiöser Unterton in ihrem Philosophieren, der auch in Levinas’ Dialog-Artikel überall hörbar bleibt. Husserl, ebenfalls Jude, war von
Auch B. Liebsch, Einander ausgesetzt, führt den Begriff nicht im Sachregister. Vgl. W. Stegmaier, »Philosophie und Judentum nach Emmanuel Levinas«, in: ders. (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000, 429–460. 9 Der Grund dafür scheint nicht zu sein, dass der Beitrag für eine christliche Enzyklopädie bestimmt war, was Levinas zu Beginn des definitiven französischen Textes nochmals anmerkt. Die Stelle aus dem Matthäus-Evangelium, auf die in Abschnitt [32] der deutschen Übersetzung neben einer Vielzahl von Stellen aus der hebräischen Bibel verwiesen wird, fehlt im definitiven Text. Es scheint Levinas nicht darum gegangen zu sein, Christen entgegenzukommen. Seine Philosophie ist keine Versöhnungsphilosophie wie die Rosenzweigs, Bubers oder Ricœurs, sondern setzt vorwiegend auf harte Kante. 7 8
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
seinem Judentum kaum berührt, hatte aber nichtsdestoweniger unter dem nationalsozialistischen Antisemitismus zu leiden. Die leitende »Opposition« (opposition) in Levinas’ Dialog-Artikel ist eine andere, von den religiösen Kontexten gelöste, die Opposition von »Immanenz« (immanence) und »Transzendenz« (transcendance), die in Bubers, Rosenzweigs und Marcels Dialog-Philosophie selbst herrschend geworden war und die Levinas auch in den Titeln der vier Teile seines Beitrags anzeigt. »Immanenz« steht dabei für die »westliche« Philosophie, so wie sie von der Dialog-Philosophie aus verstanden wird, als »die philosophische Tradition der Einheit des Ich oder des Systems oder des Sich-selbst-Genügens« (la tradition philosophique de l’unité du Moi ou du système et de la suffisance à soi) [2], »Transzendenz«, anders als gewohnt, für das sich aus dieser Immanenz befreiende Denken der »Anderheit« eines im Dialog begegnenden Anderen. 10 Levinas geht, wie die Titel der vier Teile ebenfalls anzeigen, zunächst mit der »Transzendenz« über die »Immanenz«, dann aber mit der »Ethik« oder »dem Ethischen« (beides frz. l’éthique) auch über die »Transzendenz« der Dialog-Philosophie hinaus. 11 Die anfängliche Definition des Dialogs, die auf das Einreden und streitbare Austauschen von Argumenten setzt, lässt er dabei, ohne darauf aufmerksam zu machen, zurück. Schon Buber verwendet in seinem Nachwort zu Die Schriften über das dialogische Prinzip, 298, den deutschen Neologismus »Anderheit«, der sich in der Dialog- und Levinas-Literatur inzwischen für die unvergleichliche Andersheit des Anderen eingebürgert hat (s. die Anm. 19 und 23 des Hrsg. der deutschen Übersetzung). Die Großschreibung »der Andere« hebt den emphatischen Sinn der Anderheit hervor (s. die Anm. 37 des Hrsg. der deutschen Übersetzung; zum Näheren vgl. B. Liebsch, Einander ausgesetzt, 311). Mit »der Andere« sind dabei immer beide Geschlechter gemeint oder mitgemeint; man verzichtet deshalb darauf, sie jeweils zu kennzeichnen; ich werde dem folgen. 11 Bei Husserl bleibt, um an alternative Konzeption der Transzendenz zu erinnern, alle Transzendenz eine Transzendenz innerhalb des eigenen Bewusstseinslebens: der Andere wird von diesem aus analog als alter Ego entworfen. Bei Jean-Paul Sartre ist die Transzendenz das Übersteigen der eigenen Situation, an die man jeweils gebunden ist, zur Freiheit, über sie hinaus eigene Möglichkeiten zu entwerfen. Die eigene Freiheit wird durch die Freiheit anderer eingeschränkt, nicht erweitert. Ich kann nach Sartre aber wiederum die Transzendenz der anderen übersteigen und dadurch für ihre Freiheit verantwortlich werden – bei Sartre geht es um Überlegenheiten und Unterlegenheiten (wir werden sagen: um Orientierungsüberlegenheiten und -unterlegenheiten), nicht um Dialog in Verbundenheit im Sinn der Dialog-Philosophen (vgl. M. Enders, Art. »Transzendenz II«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 10, Basel, Darmstadt 1998, Sp. 1449–1455). 10
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Verbindet er in Teil 1 und 2 die Immanenz, in der der »Geist« zum »Wissen« werde, mit den Namen Platon, Descartes, Spinoza, Hegel und Husserl (Parmenides nennt er hier nicht ausdrücklich), so in Teil 3 die Transzendenz mit den Namen Marcel, Rosenzweig und Buber; 12 Nietzsche, mit dem er sich wenig, 13 und Heidegger, mit dem er sich sehr eingehend auseinandergesetzt hat, 14 tauchen nur zur Abgrenzung auf; im 4. Teil befasst sich Levinas nur noch mit Buber, verweist aber am Ende auf das »cartesische Paradox« (paradoxe cartésien) [37]. 15 Er hält sich ebenso an Namen wie an Begriffe, die er zum Teil übernimmt, teils selbst neu prägt oder in früheren Schriften geprägt hat. Er tritt selbst in so etwas wie einen Dialog ein, vor allem mit Buber, dem »Vater« der explizit so genannten Dialog-Philosophie, dessen einschlägige Hauptschrift Ich und Du 1923 erschien; 16 er hatte sich von den dreien am entschiedensten und verständlichsten für den Dialog ausgesprochen, ihn auf die prägnantesten Formeln gebracht und war so auch am bekanntesten geworden. Die komplexe Begrifflichkeit und Systematik von Rosenzweigs Stern der Erlösung, der 1921 herauskam 17 und den Buber nach eigener Darstellung zunächst nicht zur Kenntnis genommen hatte, 18 rollt Levinas nicht auf, und Marcel, dessen Metaphyisches Tagebuch zwar 1914 einsetzt, aber erst
Er erinnert an sie noch einmal dankbar im Vorwort zur deutschen Übersetzung von TI von 1983, 7. 13 Vgl. S. Pfeuffer, Die Entgrenzung der Verantwortung. Nietzsche – Dostojewskij – Levinas. Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 56, Berlin, New York 2008, und J. Stauffer, B. Bergo (Hg.), Nietzsche and Levinas, New York 2009. 14 Vgl. W. Stegmaier, »Heidegger und Emmanuel Levinas. Bruch mit der Neutralität des Seins«, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. D. Thomä, Stuttgart, Weimar 2003, 417–424, und J. E. Drabinski, E. S. Nelson (Hg.), Between Levinas and Heidegger, New York 2014. 15 Vgl. zu dessen Sinn, den ich hier nicht erörtern kann, W. Stegmaier, Emmanuel Levinas zur Einführung, Hamburg 32019, 93–99. 16 Jetzt in: M. Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, 5–121. 17 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Mit einer Einführung von R. Mayer und einer Gedenkrede von G. Sholem, Frankfurt/M. 1988 (= SE). 18 M. Buber, »Nachwort« zu Die Schriften über das dialogische Prinzip, 294. Buber und Marcel bestätigen einander wechselseitig ihre Unabhängigkeit voneinander in der Entwicklung des dialogischen Denkens, aber auch ihre weitgehende Übereinstimmung in der Sache – als ob tatsächlich ein Dialog in ihrem Sinn stattgefunden hätte. Vgl. Bubers »Nachwort«, 297, und G. Marcel, »Ich und Du bei Martin Buber«, in: ders., Werkauswahl, hrsg. von P. Grotzer, S. Foelz, Bd. III: Unterwegssein. Ansätze zu einer konkreten Philosophie. Dialog mit Zeitgenossen, Paderborn u. a. 1992, 302– 308, hier 303. 12
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
1927 erschien und bewusst kein System entwickelt, berührt er nur in wenigen Punkten. Weder bei Marcel noch bei Rosenzweig ist »Dialog« ein prominenter Begriff; beide aber sind bedeutsam für die neue Dimension von »Geist« und »Sinn«, die Levinas mit der Dialog-Philosophie im Ganzen aufkommen sieht. Der Dialog wird dabei jedoch hoch idealisiert, und Levinas verstärkt in seinem Artikel diese Idealisierung noch. Sein Dialog mit den namentlich Genannten orientiert sich an diesem hohen Sinn des Dialogs: Levinas versucht so weit wie möglich auf sie einzugehen, ihre Gedanken über das gewohnte Maß hinaus stark zu machen. Dennoch spricht er, da seine Gesprächspartner nicht mehr reagieren können, alleine. Er begegnet ihnen mit großem Respekt, distanziert sich jedoch auch klar von ihnen, besonders von Buber, wo er ihm zu kurz zu greifen scheint, und die Form der Schrift erleichtert das. 19 Er teilt mit ihnen auch das hohe, zuweilen prophetische Pathos in der Sprache, auch der Schriftsprache; auf ihrem betont religiösen Hintergrund wollen sie alle im Andern Gott und Gott im Andern ansprechen und von ihr aus eine Neuorientierung der Philosophie überhaupt versuchen. Levinas’ Neuorientierung, die am weitesten geht, gehört, aus der Sicht der traditionellen Philosophie, zu den ungewohntesten und darum schwerstverständlichen überhaupt, und so ist ihr eigener Sinn, wie Burkhard Liebsch in seinem neuen Werk ausführlich darlegt, nach wie vor hoch umstritten. Ich versuche im Folgenden, seine philosophische Neuorientierung nüchtern, ohne in das religiöse Pathos einzustimmen, in der Sprache der Orientierung selbst plausibel zu machen und, wie das hier von uns erwartet wird, weiterzudenken; wenn der Dialog und das Ethische heute in aller Munde sind, nicht nur in Pädagogik, Wissenschaft, Kunst und Religion, sondern auch in Politik und Ökonomie, dann müssen sie auch in einer alltäglich gebrauchten Sprache verständlich werden können. Das hohe Pathos, das Levinas hat teils vor, teils nach seinem Dialog-Artikel auch besondere Beiträge zu Rosenzweig, Marcel und Buber verfasst. Vgl. E. Levinas, Hors sujet, Montpellier 1982, deutsch: Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München, Wien 1991, und darin: »Franz Rosenzweig. Une pensée juive moderne«/»Franz Rosenzweig: Ein modernes jüdisches Denken« (1965), 208–221/99–122; »Martin Buber, Gabriel Marcel et la philosophie«/»Martin Buber, Gabriel Marcel und die Philosophie« (1978), 33–56/11–37; »A propos de Buber: quelques notes«/»Einige Anmerkungen zu Buber« (1982), 15–32/38–48. Sie überschneiden sich stark mit dem Dialog-Artikel, bringen aber wertvolle Ergänzungen und Abgrenzungen. Auch in ihnen geht Levinas mehr oder weniger deutlich zu seiner eigenen Position über. 19
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die Dialog-Philosophie, aber auch Levinas’ Philosophie trägt und von dem sich weitgehend auch die ihnen gewidmete Forschung tragen lässt, lebt von der Ungewöhnlichkeit und der Unwahrscheinlichkeit ihrer Aussagen; es umwölkt und verdeckt aber auch die phänomenologischen Beobachtungen und triftigen Argumente, die in ihnen stecken. Der Begriff und die Phänomenologie der Orientierung bieten sich besonders an, sie nüchtern freizulegen, ohne die Beobachtungen zu reduzieren, die Argumente zu denunzieren und von ihrem Realitätsgehalt zu abstrahieren. Sie stellen sie stattdessen, unter Beibehaltung der phänomenologischen Methode, in einen umfassenderen Horizont. Denn (erstens) sind alle Menschen auf Orientierung angewiesen und suchen in ihr Halt, (zweitens) geht die menschliche Orientierung unvermeidlich von einem bestimmten Standpunkt in einer bestimmten Situation aus und (drittens) orientiert man sich von einem solchen Standpunkt aus stets an anderem und Anderen, mit dem und denen man im Austausch, in einer Art von Dialog bleibt, indem man sie ständig berücksichtigt und die eigene Orientierung in der Rücksicht auf sie unablässig erneuert. Von der Phänomenologie der Orientierung aus 20 lassen sich, wie ich hoffe, (erstens) einige der Schwierigkeiten auflösen, die Levinas’ Text zum Dialog und seine Philosophie im Ganzen für viele so rätselhaft machen, (zweitens) zu ihr weiterführende Alternativen entwickeln und (drittens) dabei die so hoch angesetzte Dialog-Idee und den mit ihr suggerierten Übergang zum Ethischen hinterfragen. 21 Eine Kommntierung und Interpretation von Levinas’ Dialog-Beitrag im Einzelnen ist dabei weder beabsichtigt noch möglich.
Vgl. W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin, New York 2008; gekürzte und überarbeitete Fassung in englischer Übersetzung unter dem Titel What is Orientation? A Philosophical Investigation, Berlin, Boston 2019. Buber, Rosenzweig und Levinas gebrauchen den Orientierungsbegriff zwar immer wieder an wichtigen Gelenkstellen ihrer Entwürfe, ohne ihn jedoch, wie es bisher meist geschehen ist, näher zu befragen. 21 Außerdem tun sich dadurch Möglichkeiten auf, Levinas’ philosophische Neuorientierung an andere ähnlich aufschlussreiche und ähnlich unbewältigte radikale philosophische Neuorientierungen der jüngsten Zeit anzuschließen. Darauf werde ich hier nicht eingehen können. Vgl. meine Beiträge zur soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns (Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin, Boston 2016) und zu Ludwig Wittgensteins Über Gewißheit (»Die Gewissheit der Orientierung. Zu Wittgensteins letzten Notaten. Ein Versuch«, in: Wittgenstein-Studien 2019 10 [2019], 37–71). 20
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
1. Die Einheit des Wissens als Bedürfnis der menschlichen Orientierung Die »Einheit des Wissens« (unité du savoir), die Levinas in der traditionellen Philosophie der Immanenz ausmacht, kommt, darin ist er sich mit Marcel, Rosenzweig und Buber einig, durch »objektivierende Thematisierung« (thématisation objectivante) zustande. Er denkt, wie es zu seiner Zeit aufkam, etwa bei Nietzsche, Bergson oder im amerikanischen Pragmatismus, das Wissen (savoir) in der Linie Denken (penser) – Ergreifen (saisir) – Besitzen (posséder) [5]. Dabei behauptet er selbst ein Wissen – über das Wissen. Das scheint selbstwidersprüchlich, paradox, zu sein. Aber es ist nach Levinas notwendig paradox, und die Paradoxie erweist sich als fruchtbar. Das beginnt bei dem Begriff, mit dem er im 1. Teil seines Beitrags, überschrieben »Der Geist als Wissen und die Immanenz« (L’esprit comme savoir et l’immanence), einsetzt, dem Begriff des »seelischen Geschehens«, das als Wissen gefasst werde (psychisme conçu comme savoir) [3]. Er erläutert ihn hier nicht. Nach Levinas’ zentralem Werk Totalität und Unendliches (Totalité et Infini) ist das »seelische Geschehen«, in dem für uns alles geschieht, was geschieht, nicht ein abgehobenes Bewusstsein oder Selbstbewusstsein (conscience de soi), sondern ein Geschehen im Sein (événement dans l’être) (TI, 24–30/ 68–76). In ihm konstituiert sich die Erfahrbarkeit (expérience) von Sein überhaupt. Sie führt, so Levinas, zu einer Trennung im Sein, einer »ontologischen Trennung« (séparation ontologique). Während Aristoteles diese ontologische Trennung noch in einer seelischen Substanz, einem beständig Bestehenden, voraussetzt, wird sie bei Descartes – und das macht ihn für Levinas besonders interessant – zum Vollzug: sie vollzieht sich nachvollziehbar im Denken, das sich seiner selbst und damit erst seiner Existenz gewiss wird. Das Denken weiß, so Levinas, wenn es sich auf sich selbst bezieht, nicht schon vorab, dass es Denken ist; es wird sich dessen erst nachträglich bewusst. Descartes kann jedoch noch nicht anders, als den Vollzug wieder aristotelisch als Eigenschaft einer Substanz zu denken, einer denkenden Substanz, in der sein zeitlicher Vollzug unsichtbar wird, von der aus sich aber die Seele, wie es die zeitgenössische kirchliche Lehre verlangte, als unsterblich beweisen lässt. Das zeitliche Geschehen des Denkens im Sein wird so zu einer zeitlosen Substanz des Wissens von einem Sein – ein Paradox (paradoxe) (TI 24/68). Auch die übrigen Modi des seelischen Geschehens wie Wahrneh97 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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men, Empfinden, Imaginieren, Begehren, Wollen und selbst »das Unbewusste« (l’inconscient) in ihm geschehen lediglich, werden aber ebenfalls nachträglich als Arten des Wissens gefasst. Dadurch scheinen sie, die sichtlich in einem Geschehen zusammengehören – hier wird man Bergson durchhören –, ihrerseits voneinander getrennt, und als so getrennte können sie wiederum integriert, systematisiert und totalisiert werden und auf diese Weise ebenfalls in die Immanenz der Einheit des Wissens eingehen. Philosophen dieser Einheit nehmen im Nachhinein einen theoretischen Standpunkt außerhalb des seelischen Geschehens ein, von dem aus sie in dem dann als »innerlich« erscheinenden Seins-Geschehen Ordnung schaffen können. Diese Ordnung aber lässt sich so oder so anlegen, sie hat Alternativen, so dass »alles in der Schwebe« (où tout est pendant), immer auch anderes möglich ist (TI 26/70). Das innerliche Seins-Geschehen aber, so Levinas in Totalité et Infini, ist gleichwohl »die Weigerung, sich in ein bloßes Passivum, einen Posten in einer fremden Bilanz, zu verwandeln« (le refus de se transformer en un pur passif, figurant dans une comptabilité étrangère), also Gegenstand eines Wissens zu sein (TI 27/72). Das mag einigermaßen verwirrend sein. Es wird klarer, wenn man es als Beschreibung der Grundstruktur der alltäglichen menschlichen Orientierung versteht, die völlig vertraut und doch – oder eben deshalb – kaum je beschrieben worden ist. Die menschliche Orientierung, auf die alle ständig angewiesen sind, um sich in der Welt zurechtzufinden, und die allem Handeln in ihr vorausgeht, ist, wenn man diese Begriffe weiter verwenden will, ein seelisches Geschehen, an dem alle seelischen Vermögen, aber auch alle körperlichen, mit denen sie gekoppelt sind, teilhaben. Sie ist ein immer neu ablaufender Prozess. Um sich in der Welt zurechtzufinden und die Handlungsmöglichkeiten in ihr auszuloten, müssen sich Orientierungen in der Welt von ihr unterscheiden, sich abheben oder ›trennen‹ : so können sie dann die Welt, der sie doch selbst zugehören, als ›äußere‹ von der ›inneren‹ unterscheiden, in der sie die ›äußere‹ auf ihre jeweilige Weise verarbeiten. Levinas hat das in seinem ersten Hauptwerk Die Zeit und der Andere (Le temps et l’autre), die Hypostase (l’hypostase) genannt. 22 Die Unterscheidung der Welt in der Welt ist individuell Sie bedeutet, »daß das Bewußtsein ein Zerbrechen der anonymen Wachsamkeit des Es-gibt ist, daß es schon Hypostase ist, daß es sich auf eine Situation bezieht, in der ein Seiendes sich zu einem Sein in Beziehung setzt. Offensichtlich können wir nicht
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
und darum immer auch auf andere Weise möglich. Orientierungen, die stets auch andere Orientierungen dabei beobachten, wie sie die Welt beobachten, halten deshalb ihre ›innere‹ Welt in der Schwebe – sie halten, in Termini der Philosophie der Orientierung, immer nur vorläufig Anhaltspunkte fest, die sie zugunsten anderer Anhaltspunkte auch wieder fallen lassen können. Sie rechnen nicht mit einem Wissen vom Sein, sondern versuchen jeweils auf ihre Weise mit ihrer jeweiligen Situation zurechtzukommen. Dabei ist die menschliche Orientierung nicht, wie Lockes Empirismus es wollte, eine rein passive unbeschriebene Tafel (tabula rasa), sondern immer schon durch frühere Erfahrungen geprägt, die sie durch neue Erfahrungen in veränderten Situationen laufend überschreibt: indem sie ihre ›innere‹ Welt anhand von Anhaltspunkten, die sie in der ›äußeren‹ vorläufig festhält, immer neu verändert, ist sie selbstbezüglich und fremdbezüglich zugleich. Soweit man hier von Wissen sprechen kann, ist ihr Wissen stets ein Wissen auf Zeit. Und dennoch muss man, wenn es zum Handeln kommt, von der Zeitlichkeit dieses Wissens absehen, damit man mit ihm ›etwas anfangen‹ kann. Wissen ist insofern bis, wie man zeigen könnte, in die Wissenschaften hinein ein zeitloses Wissen auf Zeit, ein Paradox. Die »überlieferte Philosophie« (philosophie transmise), so Levinas, lässt hinter dem sich laufend erneuernden Wissen die lebendigen Prozesse (vivre), auf denen es beruht, zurücktreten hinter dem Resultat eines bloßen »Sehens« (voir) auf scheinbar zeitlos bestehende Objekte. Für sie genüge, nach dem Modell von Descartes’ cogito, das Wissen sich selbst (tout savoir se suffit) [3]. In dieser Spur zieht Levinas seine Linie von Parmenides’ »Denken und Sein ist dasselbe« (tò gàr autò voeîn estín kaí eînai) über Descartes’ cogito, Kants »ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption« und Hegels »absoluten Geist« bis zu Husserls Erschließung aller Phänomene der Welt von Gegebenheiten des Bewusstseins aus. Er bringt das Wissen, in dem die Welt erschlossen, geordnet und in Besitz genommen wird, im Ganzen auf den Begriff der suffisance oder der »Befriedigung« (satisfaction) in einem »Sein« (être): suffisance heißt zugleich ›Selbstgenügsamkeit‹, ›Selbstgefälligkeit‹ und ›Selbstherrlichkeit‹ ; hier scheint er etwa ›Selbstzufriedenheit‹ zu bedeuten [6]. Das parmenideische »Denken und Sein ist dasselbe« macht den Sinn der Immaerklären, warum sich das vollzieht: es gibt keine Physik in der Metaphysik« (TA 26; frz. Ausgabe Paris 1983, 31).
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nenz unmittelbar klar: Parmenides nimmt ein Sein (être) an, das nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern nur dem Denken (pensée) zugänglich ist – und denkt zugleich dieses Denken als Denken dieses bloßen Seins, unter Ausschluss aller Zeit und aller Vielfalt; so sind Sein und Denken einander immanent, und ihre Übereinstimmung miteinander ist darum trivialerweise auch wahr [4]. Wir sind, in den Wissenschaften und in der Philosophie, bis heute versucht, Denken, Sein und Wahrheit so zu denken, als wahres Denken eines wahren Seins. Trotz vieler Um- und Seitenwege und vielfältiger Differenzierungen ist es nach Levinas bis zu Husserl im Wesentlichen dabei geblieben (wobei Levinas die »Einheit des Wissens« in seiner Opposition gegen sie seinerseits sichtlich selbst substantialisiert). In der Sprache der Orientierung wird im Seins-Denken vom Levinas’schen seelischen Geschehen oder den Orientierungsprozessen abgesehen, in denen das Wissen oder das, was als solches gilt, sich in seiner fremdbezüglichen Selbstbezüglichkeit (oder selbstbezüglichen Fremdbezüglichkeit) laufend erneuert; »der Geist als Wissen und die Immanenz« repräsentieren eine äußerste Verkürzung des Orientierungsgeschehens. Die »Befriedigung« (satisfaction), die das Seins-Denken verschafft, antwortet, so Levinas, auf ein »Bedürfnis« (besoin) [6] des seelischen oder Orientierungsgeschehens, in einem unbedingten Wissen vom Weltgeschehen zur Ruhe oder einem festen Halt zu kommen. Dazu wird, was Levinas »die Äußerlichkeit oder die Anderheit« (l’extériorité ou l’altérité) nennt, in das theoretische, objektivierende, besitznehmende Wissen einbezogen und dadurch sein eigener Sinn getilgt [4, 7]; der Mensch scheint dann vor den Ungewissheiten und Unbegreiflichkeiten seiner Orientierung, in der immer noch alles ganz anders sein und werden kann, als er denkt, in Sicherheit.
2. Die gemeinsame Vernunft als Transzendierung der getrennten Orientierungen Im Übergang zum Dialog der Immanenz – zu dem, wie weit ein Dialog unter Bedingungen der Immanenz möglich ist – bleibt Levinas bei den Namen Hegel und Husserl, die für ihn das Denken der Immanenz vor allem repräsentieren, fügt nun aber, neben dem damals aktuellen Strukturalismus, auf den er jedoch nicht weiter eingeht, Platon und Spinoza hinzu. Platon kommt mit seiner berühmten Definition, das 100 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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Denken (diánoia) sei ein stimmloser Dialog in der Seele mit sich selbst (diálogos áneu phoonâes entòs tâes psychâes pròs hautàen) 23 zu Wort [11], Spinoza mit seinem, wie Levinas es nennt, ganzen »Universum« (univers spinoziste) [14]. Nachplatonische Dialoge, die Philosophen lediglich als schriftstellerische Form gebrauchten, um ihre Argumente in verteilten Rollen vorzutragen, bleiben beiseite. Sie meint Levinas nicht mit »Dialogen der Immanenz«. Er meint mit ihnen Dialoge, die zwar unter einer »empirischen Mannigfaltigkeit von denkenden Menschen« (mulitiplicité empirique des hommes pensants) stattfinden, jedoch nach der überlieferten Philosophie, so wie Levinas sie versteht, auf »Übereinstimmung in der Vernunft« (coïncidence dans la raison) ausgerichtet sein sollen [12]. So würde aus ihnen wiederum ein »innerer Diskurs« (discours intérieur), ein Dialog innerhalb der Vernunft [13]. Es war die Funktion des überlieferten philosophischen Begriffs der Vernunft, die Ungewissheiten und Unbegreiflichkeiten in den Beziehungen von unterschiedlichen menschlichen Orientierungen in einem höheren Vermögen aufgehen zu lassen, an dem alle gleichermaßen teilhaben sollten, einem gemeinsamen Vermögen, alles mit unbedingter Gewissheit zu begreifen; das Wissen von unbedingter Gewissheit sollte die Wahrheit sein, auch wenn man in der Moderne eingesehen hatte, dass dies nicht die Wahrheit des Seins selbst sein konnte, die für das menschliche Bewusstsein ein unbekanntes X bleiben muss. Danach hat man einander in dieser Vernunft, deren Idee von vielen bis heute aufrechterhalten wird, immer schon vollkommen verstanden oder hat doch die Möglichkeit, einander vollkommen zu verstehen; Sprache und Dialog werden als bloße Wege dorthin betrachtet; sie sind dabei stets als auf etwas Gemeinsames bezogen gedacht. 24 Der Appell an jene Vernunft ist die Aufforderung, sich über die jeweiligen StandPlaton, Sophistes, 263c. So z. B. die »Dialogtheorie« von F. Jacques, Dialogiques, Paris 1979; vgl. den Abriss seiner Theorie in: »Die Bedeutung des Dialogs für die heutige Gesellschaft«, in: J. Simon, F. Jacques, Dialog als Bedingung der differenzierten Gesellschaft, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 1992, 31–54. Während Jacques weiterhin einer vorbehaltlos idealistischen Konzeption eines »wahren Dialogs« anhängt, für den »die Vernunft« zwar nicht mehr ontologische Voraussetzung, aber moralischer Maßstab ist, stuft Simon in demselben Band (»Zur Kultur des Dialogs in differenzierter Gesellschaft«, 9–30) auf dem Hintergrund seiner Philosophie des Zeichens die Vernunft zu einer bloßen »Vernünftigkeit« herab, die Dialogpartner zwar wechselseitig voneinander erwarten und einfordern, einander aber ebenso auch absprechen und damit den Dialog abbrechen können.
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punkte und Perspektiven der individuellen Orientierungen und die vielfältigen Weisen des Gebrauchs von Sprache und Zeichen hinwegzusetzen, um sich einer imaginären »höheren« Einheit ein- und unterzuordnen, die wenn nicht das »tiefere« Sein spiegelt, so doch unbedingte Gewissheit versichert. Das Denken, so Levinas, mochte sich wohl als Reflexion, Dialektik und Dialog entfalten und dabei von unterschiedlichem Denken ausgehen, jedoch im Bewusstsein, dass es dabei sich entfaltet, im Grunde überall dasselbe ist und bleibt und stets zu sich zurückkommt [11]. Das hatte und hat, neben vielen anderen Effekten, die Levinas hier nicht erwähnt, etwa den Aufbau der Demokratie und des Rechtsstaats, die wichtige humane Auswirkung, dass, solange Dialoge im Namen der Vernunft geführt werden, auf Gewalt (violence) verzichtet wird. Levinas nennt das die »Vornehmheit des idealistischen Verzichts« (noblesse du renoncement idéaliste) [14]. Er wendet, ganz realistisch, zugleich aber ein, dass in der Regel Macht (pouvoir), Beherrschung (domination), List (ruse), trügerische Rhetorik (rhétorique trompeuse), Reklame (publicité) und Propaganda (propagande) [15] nötig sind, um die Menschen zum Gewaltverzicht zu bringen; ebenfalls dazu nötig ist, um sie nicht unerwähnt zu lassen, eine monopolisierte staatliche Gewalt. Hinzuzufügen ist auch, dass der Glaube an den idealistischen Dialog, wie besonders die französische Philosophie zu Levinas’ Zeit und zumal Michel Foucault immer stärker herausarbeitete, die subtile und disziplinierte Gewalt nicht nur der rechtlichen und staatlichen Beherrschung der Menschen verdeckt, sondern auch die scheinbar zwanglose Gewalt des Drängens auf für alle gleich gültige Begriffe in der alltäglichen und wissenschaftlichen Kommunikation. Sie wurde auch für Levinas’ Denken des Dialogs ausschlaggebend. Die Vielheit und Vielfalt der Denkenden und Sprechenden und des Denkens und des Sprechens selbst wird, so Levinas, abgeblendet in »vielfache dunkle Punkte« (multiples points obscurs), die man bewusst verblassen und verschwimmen lässt oder sublimiert (sublimer) [13]. Und dies geschehe exemplarisch im »spinozistischen Universum«. Spinoza, zu dem die jüdische Tradition und auch Levinas stets ein gespanntes Verhältnis hatte, 25 ging es in seiner Ethica in der Tat da25 Vgl. E. Levinas, »Le cas Spinoza«, in: ders., Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, Paris 31976, 152–157, dt.: »Der Fall Spinoza«, in: Schwierige Freiheit. Versuch[e] über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, 104–108, und exemplarisch Y. Yovel, Spinoza and
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rum, alles Seiende und unter ihnen die menschlichen Individuen von ihrem Zusammenhang in einem umfassenden Ganzen her zu denken, nicht mehr als einzelne und getrennte Substanzen, sondern als Teile der einen göttlichen Substanz. Als »Modi« dieser Substanz wurden sie, in Levinas’ Begriffen, zu vielfältigen Gesichtspunkten (points de vue multiples) mit unterschiedlich beschränkten Horizonten (horizons); einander affektiv entgegengesetzt, wenn nicht feindlich gegeneinander gesonnen (hostiles les unes aux autres), sind sie, sofern sie einsichtig genug sind, ihre Zusammengehörigkeit in der einen Substanz zu erkennen, angehalten, ihre Konflikte (conflits) abzuarbeiten und zu einer Konvergenz ihrer unterschiedlichen Hinsichten (convergence des regards) zu kommen [14, 16]. Eben das heißt für Levinas, dass die Anderheit oder Äußerlichkeit in die Immanenz (oder Gleichheit und Innerlichkeit) einbezogen und dadurch getilgt wird. Auch hier steht ein Paradox am Anfang und am Ende: am Anfang, sofern Spinoza Gott in seiner Schöpfung, der Natur, aufgehen lässt, so dass man zugleich sagen kann, er sei (in Gestalt der Natur) und er sei nicht (außerhalb dieser Natur), am Ende, sofern es nicht die als Gesichtspunkte der einen Substanz auf sie selbst begriffenen Individuen sind, die ihren Hass durch Einsicht überwinden und in Liebe zueinander finden, sondern Gott selbst in seinem amor Dei intellectualis, der geistigen Liebe, in der er, mangels eines Andern, in einem souveränen und göttlichen Wissen (savoir souverain et divin) [16] sich selbst liebt. Leibniz zieht daraus dann die Konsequenz, von der wechselseitigen affektiven Abwehr der Individuen vollends abzusehen, indem er sie als ›fensterlos‹ gegeneinander betrachtet und von vornherein in allem, was sie denken und tun, als von Gott aufeinander abgestimmt ansetzt. Leibniz hat mit seiner Monadologie, nach der alle Individuen, als begrenzt einsichtige und dennoch in ihrem bloßen Sein das eine Ganze repräsentierende Monaden, Aus-
Other Heretics. Volume I: The Marrano of Reason. Volume II: The Adventures of Immanence, Princeton, New Jersey 1989, dt.: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994. »Marranos« (Säue) nannte man im Portugal des 16. Jahrhunderts Juden, die unter der Drohung der Vertreibung oder Ermordung dem Judentum öffentlich abschworen, im Geheimen aber an ihm festhielten. Viele flohen, wie die Familie Spinozas, in die toleranteren Niederlande, wo wiederum die dortigen Juden einen so freisinnigen Mann wie Spinoza nicht in ihren Reihen duldeten. In Israel wurde Spinoza erst 1956 unter großen Widerständen durch den Ministerpräsidenten Ben Gurion rehabilitiert.
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strahlungen der einen Zentralmonade Gott sind, das, was Levinas den »Dialog der Immanenz« nennt, in Perfektion gedacht. 26 Lässt man mit Levinas den lediglich die Einheit des Seins und die Wahrheit des Wissens garantierenden Gott der westlichen philosophischen Tradition fallen, so bleibt die schlichte Vielheit und Vielfalt individueller Gesichtspunkte mit ihren beschränkten Horizonten zurück. Levinas beschreibt sie mit Begriffen wie Intimität (intimité), Geheimnis (secret) [23] und Einsamkeit (solitude) [24], die auch schon Marcel und Rosenzweig gebrauchten. In der Sprache der Orientierung sind sie individuelle Orientierungen, die sich aus eigener Kraft und in eigener Verantwortung in ihrer jeweiligen Situation an ihren jeweiligen Anhaltspunkten orientieren und dadurch voneinander ›getrennt‹ sind. Auch und gerade füreinander haben individuelle Orientierungen nur ihre jeweiligen Anhaltspunkte. Menschen können, soweit sie Bewusstsein haben, nicht in das Bewusstsein Anderer hineinsehen, nicht wissen, was andere bei dem, was sie tun und sagen, denken. Ihre Undurchschaubarkeit und Unbegreiflichkeit füreinander wird wieder zum offenen und nun noch drängenderen Problem, und die Kommunikation, nun eine echte Kommunikation, in der man sich der Bedeutung der Zeichen und Begriffe der Anderen und dessen, worauf sie sich beziehen, nie sicher sein kann, rückt ins Zentrum des Problems. Aus dem Dialog der Immanenz wird, wenn in Levinas’ Sprache das »souveräne und göttliche Wissen« aufgegeben wird, ein Dialog der Transzendenz (transcendance) anderer Art: der Begriff Transzendenz, der zuvor für die Erhebung zu jenem göttlichen oder quasi-göttlichen Wissen gebraucht wurde, wird nun frei für das Übersteigen der Immanenz der eigenen Orientierung zu anderen Orientierungen hin, und der Dialog, dessen Ziel, die Konvergenz, die Koinzidenz und der Konsens der unterschiedlichen Hinsichten, bisher von vorneherein feststand, wird zu einem offenen Dialog, in dem nichts mehr feststeht – außer dem, worin der Eine dem Anderen entgegenkommt. Damit ist Levinas bei der neuen Philosophie des Dialogs angekommen.
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In TI 30/77 und 194/318 und AQ 110/196 spielt Levinas darauf an.
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3. Der Dialog als wechselseitige Orientierung aneinander In seiner ebenfalls hoch anspielungsreichen Darstellung von Bubers »Grundworten« und einigen von Marcels und Rosenzweigs Leitbegriffen im 3. und ausführlichsten Teil seines Beitrags, Dialog und Transzendenz (Dialogue et transcendance), lässt Levinas offen, wo er referiert oder selbst spricht. Er erwähnt die drei immer wieder einmal, ohne ihnen direkt zu folgen. Seine Begrifflichkeit ist oft irritierend und soll das auch sein; manchmal ist sie bewusst paradox, etwa wenn er von einem »Übergang« spricht, »wo kein Übergang mehr ist« (Passage là où il n’y a plus de passage) [26]. Er hebt Begriffe hervor, mit denen er mitgehen kann, mischt unauffällig aber auch seine eigenen Begriffe ein, mit denen er seinen Weg weitergegangen ist. Er führt, sei es gewollt oder ungewollt, einen »transzendenten« Dialog vor, in dem die Partner sich deutlich unterscheiden, aber auch Berührungspunkte miteinander finden, ohne sie darum schon zu allgemein gültigen machen zu wollen: sie finden beieinander Anhaltspunkte, die ihnen in ihrer eigenen Orientierung weiterhelfen können. Levinas orientiert sich an Buber, Marcel und Rosenzweig, ohne seinen Standpunkt und seinen Horizont mit den ihrigen zu verschmelzen; er bleibt, bei aller Nähe, auf Distanz zu ihnen, ohne, da er ihnen stark verbunden ist, Nähe und Distanz scharf trennen zu können und zu wollen. 27 Ich konzentriere mich hier, wie Levinas selbst, auf seinen Dialog mit Buber. 28 Im Blick auf seine literarischen Begegnungen mit Derrida hat Levinas von einem »Kontakt im Herzen eines Chiasmus« (contact au cœur d’un chiasme) gesprochen, in dem unterschiedliche Wege einander kreuzen (E. Levinas, »Tout autrement (sur la philosophie de Jacques Derrida)«, in: L’Arc 54 [1973], 33–37, wiederabgedruckt in: E. Levinas, Noms propres, Montpellier 1976, 81–89, hier: 89; dt.: »Ganz anders – Jacques Derrida«, in: E. Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München 1988, 67–76, hier: 76). Vgl. dazu meinen Beitrag: »Die Zeit und die Schrift. Berührungen zwischen Levinas und Derrida«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21.1 (1996), 3–24; wiederabgedruckt in: T. Freyer, R. Schenk (Hg.), Emmanuel Levinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996, 51–72. 28 Das Stichwort »Dialog« erscheint, soweit ich es übersehe, bei Marcel kaum, in Rosenzweigs Stern der Erlösung eher beiläufig. In der attischen Tragödie kämen, so Rosenzweig, die Helden in ihrer »eisigen Einsamkeit« nicht in Dialoge mit Anderen, sondern nur in ein »dianoetisches« Debattieren (SE, 84 f.). Einen »echten Dialog« gebe es jedoch in der religiösen Offenbarung, wenn, nach der hebräischen Bibel, Gott ruft ›Wo bist Du?‹ und der Mensch, Adam, nach anfänglichem Trotzen, schließlich antwortet ›Hier bin ich‹ (SE, 195); auch Levinas rekurriert immer wieder auf diese Erzählung. »Wirkliche Wechselrede« findet nach Rosenzweig in der Liebe und im 27
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Bubers Ich und Du führt chassidische, aber auch christlich-mystische und lebens- und existenzphilosophische Quellen zusammen. Sein ursprünglicher Titel war »Religion als Gegenwart«. In knappen, manifestartigen, in pathetisch-prophetischem Ton vorgetragenen Sätzen nimmt Buber Abstand von den traditionellen Themen und Termini der Philosophie: das neue Denken soll, in einer jedermann unmittelbar zugänglichen Sprache, auf den Dialog gegründet werden. Buber stellt dazu die »Grundworte« oder »Wortpaare« »Ich-Es« und »Ich-Du« einander gegenüber, zur Unterscheidung, wie Levinas sie nennt, der »objektivierenden Thematisierung« von, so Bubers leitender Begriff, der »Begegnung«, in der Menschen einander gleichberechtigt, wir würden heute sagen ›auf Augenhöhe‹, ansprechen. Burkhard Liebsch gebraucht die glückliche Unterscheidung von »Aussagbarkeit« und »Ansprechbarkeit«. 29 Hinter dem oder jenseits des »Du« des Anderen steht für Buber – und so auch für Rosenzweig und für Levinas – das »ewige Du« Gottes. Beides, das »Ich-Es« und das »Ich-Du«, sind »Beziehungen«: Buber geht nicht mehr von in sich und an sich Feststehendem aus – auch nicht bei Gott –, sondern in allem, was ist oder zu sein scheint, kommen Beziehungen zum Stehen: »Im Anfang ist die Beziehung« (SdP 22). Beide Typen von Beziehungen gehen für Buber vom »Ich« aus, das sich von sich aus so oder so ausrichten kann – hier trennt sich Levinas von ihm. Die Ausrichtung des Ich auf ein Du ermöglicht den Dialog, für Buber die »Wiege des wirklichen Lebens« (SdP, 13). Dagegen sei das »Grundwort Ich-Es« »das Wort der Trennung« und dadurch möglicher Ordnungen nach vorgegebenen Maßstäben (SdP, 27): »Nur Es kann geordnet werden. […] Das Du kennt kein Koordinatensystem.« (SdP, 34) – »Die Eswelt hat Zusammenhang in Raum und Zeit. Die Gebet in der »Sprache der Offenbarung« statt (SE, 204–208). In der modernen Tragödie erwache der Held zum Dialog – Rosenzweig nennt Hamlet, Wallenstein, Faust (SE, 235); er baue sich seine eigene »Orientierung« mit ihrem eigenen »Erlebnismittelpunkt« und »Erlebnisanfang« in der »Welt« auf (SE, 208); er beziehe Stellung von einem »Ichstandpunkt«, einem »eigenen Standort der Weltbetrachtung« aus und komme von da aus zu »Selbstbetrachtung, Einordnung der eigenen Existenz in die Welt, Entschlußerklärung, Niederschlagung von Zweifeln«; aufgrund seines »notwendig beschränkten Bewußtseins« öffne er sich für den Dialog (SE, 234). Die »Stiftung der Gemeinsamkeit« aber mündet in der »Aufforderung zum gemeinsamen Singen, Danken, Bekennen, ›daß Er gut ist‹« (SE, 259). Der Gläubige, für Schöpfung, Offenbarung und Erlösung Offene, tritt in eine »Allgemeinschaft« ein, in der »jeder jeden kennt und ohne Wort ihn grüßt – von Angesicht zu Angesicht« (SE, 359). 29 Liebsch, Einander ausgesetzt, 180 f.
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Duwelt hat in Raum und Zeit keinen Zusammenhang.« (SdP, 37) Es sei die »suchende Not des Zeitalters« (SdP, 47), dass die Eswelt, die auch die Welt der Technisierung und Automatisierung mit ihren »dahinrasenden Maschinen« (SdP, 50) und mit ihnen der Wirtschaft, dem »Gehäuse des Nutzwillens«, und des Staates, dem »Gehäuse des Machtwillens« (SdP, 51), sich immer weiter lähmend im Leben der Menschen ausbreitet, eine damals wie heute weit verbreitete Angst, aus der nach Buber die Duwelt erlösen soll. Er erwartet die »Erlösung« von der »Umkehr« vom Es zum Du (SdP, 121), von der Einseitigkeit und Zwanghaftigkeit des Beherrschens der Welt zur Wechselseitigkeit und Offenheit des Einander-Begegnens in der Welt. Buber drängt in allem auf Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Lebendigkeit, Gefühl, »strömende All-Gegenseitigkeit« (SdP, 20), auf ein »Weltleben der Verbundenheit« (SdP 102); man wird zum wahren Ich erst, wenn man »Du« sagt (SdP, 15); »Geist« heißt »Dusagenkönnen« (SdP, 53), zum Anderen und zu Gott. Levinas ist das Pathos der Lebendigkeit, Verbundenheit und Gegenseitigkeit fremd, das hier an die alte Stelle der gemeinsamen Vernunft tritt, und die Entgegensetzung der »Grundworte« des »Ich-Es« und des »Ich-Du« ist ihm, so sehr er die Unterscheidung von Aussagbarkeit und Ansprechbarkeit aufnimmt, zu einfach, zumal das »Ich« dadurch zum Angelpunkt wird. In der Sprache der Orientierung sind die menschlichen Orientierungen nicht schon innig miteinander verbunden. Sie können sich unterschiedlich ausrichten, und sie tun das von ihrem jeweiligen Standpunkt aus. Dieser Standpunkt muss aber auch schon ein identifizierbares »Ich« oder »Subjekt«, schon gar kein »denkendes Subjekt« und erst recht kein die Orientierung steuerndes und beherrschendes denkendes Subjekt sein: auch Tiere und selbst Pflanzen orientieren sich, die menschliche Orientierung verläuft ebenfalls weitgehend reflexartig, instinktiv oder routiniert. Der ganze Körper wirkt an ihr mit; nach Gabriel Marcel kann man »Ich« und »Körper« gar nicht trennen, ohne in einen cartesischen SubstanzenDualismus zu verfallen und dann ein (notorisch unlösbares) LeibSeele-Problem zu haben. 30 Die Orientierung von Lebewesen – und so auch das Gehirn von Menschen – arbeitet mit komplexen Vernetzungen dezentraler Aktivitätsmuster, die einander wechselnd anregen und, sollte eines ausfallen, bis zu einem gewissen Grad fürVgl. E. Levinas, »Buber, Gabriel Marcel et la philosophie«/»Martin Buber, Gabriel Marcel und die Philosophie«, 40/18.
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einander einspringen können; in immer komplexeren Welten bilden sich in der menschlichen Orientierung unterschiedliche Orientierungswelten aus, zwischen denen gewechselt wird, wenn sie besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Reflexion setzt in der Regel ein, wenn irgendwo deutliche Störungen auftreten; bei routiniertem Verlauf kann sich das, was wir ›Denken‹ nennen, aber auch verselbständigen, seinen ›eigenen Gedanken‹ folgen, Pläne machen, Ordnungen und schließlich eine »Eswelt« schaffen und von ihr ein »Ich« und davon wieder ein »Ich-Du« unterscheiden. Das Denken des objektivierbaren »Es«, aber auch die Begegnung mit einem »wahren Du« wird jedoch über kurz oder lang stets wieder in konkrete Orientierungssituationen und Orientierungswelten zurückgeholt, in denen sie neu Maß nehmen müssen. Levinas legt es, in anderer Sprache, aber in diesem Sinn, darauf an, zunächst nicht nur das Es, sondern auch das Ich zu depotenzieren. Er geht nicht mehr davon aus, dass die menschliche Orientierung, wie es die von Parmenides ausgehende philosophische Tradition wollte, sich ausrichtet, sondern dass sie von dem, womit sie zu tun hat, und von denen, die ihr begegnen und ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ausgerichtet wird und dann so oder so darauf reagiert – auf Veränderungen in der Buber’schen Eswelt mit ordnenden Eingriffen, auf Veränderungen in der Buber’schen Duwelt anders. Aber es ist eben nicht von vornherein klar, ob und wie die beiden Buber’schen Welten getrennt sind und wie Trennungen in ihnen aussehen. In der Sprache der Orientierung kann man sie leicht so unterscheiden, dass die Eswelt all das umfasst, was sich nicht selbst orientiert, was keine alternativen oder deutlich geringere Möglichkeiten der Orientierung hat, so dass man in ihr berechnend und frei gestaltend operieren kann, die Duwelt dagegen das, was sich auch seinerseits orientiert und darin alternative und konkurrenzfähige Möglichkeiten hat, darum weit höhere Aufmerksamkeit und ein mehr oder weniger weites Entgegenkommen braucht, wenn Kooperation zustande kommen soll. Die Orientierung an anderen konkurrenzfähigen Orientierungen ist weit komplexer und riskanter als die Orientierung an etwas, das stillhält und das, was man nach klaren Vorgaben mit ihm machen kann, tatsächlich auch mit sich machen lässt. Bei anderen Orientierungen, insbesondere den Orientierungen anderer Menschen, muss man dagegen stets damit rechnen, dass sie anders reagieren und antworten, als man erwartet hat, muss also paradox Unberechenbarkeiten und Überraschungen erwarten. Man 108 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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kann sich sehr wohl (1) über andere Menschen orientieren, sei es durch eigene Beobachtungen, sei es durch Berichte Dritter, und lokalisiert sie dann in der Buber’schen Eswelt, in der man ihr Verhalten zu berechnen und über sie zu verfügen sucht. Man kann sich aber auch (2) durch andere Menschen in seiner eigenen Orientierung irritieren und zu Umorientierungen bewegen lassen und begegnet ihnen dann in einer Buber’schen Duwelt. Dazwischen aber, und das geschieht zumeist, orientiert man sich (3) an anderen Menschen, um zu sehen, ob deren Orientierungen in der eigenen Situation (man sucht einen Weg, einen Rat, Auskünfte, Handlungsmodelle, Lebensentwürfe usw.) hilfreich sein können, ohne sich damit schon auf etwas Bestimmtes auszurichten oder von Anderen auf etwas Bestimmtes – z. B. Verbundenheit – ausgerichtet zu werden. Man verfügt dann durch die Orientierung an Anderen über neue eigene Handlungsmöglichkeiten. In dieser Weise hält sich die Orientierung »in der Schwebe« (pendant) und darin Handlungsmöglichkeiten offen. Levinas stimmt Buber darin zu, dass das Ich-Du nicht auf das IchEs reduziert werden darf; doch das Ich-Es dürfe auch nicht durch das Ich-Du denunziert werden. Man müsse die beiden Beziehungen und mit ihr die »Sozialität« (socialité) und den Dialog darum tiefer verstehen, »einen Dialog finden, um in den Dialog hineinzukommen« (trouver un dialogue pour faire entrer en dialogue) [16]. Levinas führt dazu seine Begriffe der »Anderheit« (altérité), »Äußerlichkeit« (extériorité), »Nähe« (proximité) und »Nicht-Indifferenz« (non-indifférence) ein. Mit ihnen unterläuft er Bubers eingängige, aber immer noch idealistische Konzeption des Dialogs in gegenseitiger Verbundenheit; auch sie könnte noch ein »Vorwand« (prétexte) [15] für eine andere Trennung, die schmerzliche Trennung der Anderheit, sein. Diese Trennung der Anderheit gerade in der Verbundenheit ist vom überlieferten Denken aus jedoch schwer zu fassen und darum leicht misszuverstehen. 31 Levinas setzt, um die Opposition von Wissen (savoir) und Dialog (dialogue) [18] zu unterlaufen, bei der Vielheit der Denkenden und der Bewusstseine an. Sie sei kein ontologischer Mangel, als der sie in der überlieferten Philosophie, aber auch noch bei Buber mit seiner 31 Vgl. die Exposition des Begriffs bei B. Liebsch, Moralische Spielräume. Menscheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität, Göttingen 1999, 42–50, und die ausführliche Darstellung der schwierigen Diskussion über ihn bei Liebsch, Einander ausgesetzt, 299–335.
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Annahme gegenseitiger Verbundenheit im Dialog erscheine, sondern ein »Mehr« (surplus) oder »Besseres« (mieux) [28], eine »andere Möglichkeit der Auszeichnung« (une autre possibilité d’excellence) [19]. Darin liegt eine grundlegende philosophische Orientierungsentscheidung: Levinas geht, im Anschluss (oder in Orientierung) vor allem an Rosenzweig, davon aus, dass Individuen zunächst »ohne jedes gemeinsame Maß, ohne jeden freien Raum für eine etwaige Koinzidenz« (sans commune mesure ni domaine disponible pour une quelconque coïncidence) sind, dass es zwischen ihnen eine ursprüngliche »absolute Distanz« (distance absolue) gibt. Erst von hier aus ist eine »sich nicht in eine Ordnung fügende, unmittelbare Beziehung des Dia-logs« (relation extra-ordinaire et immédiate du dialogue) zu denken [23]. Levinas schreibt »Dia-log« hier mit Trennungsstrich. Die »eisige Einsamkeit des Selbst« (SE 84), von der Rosenzweig spricht, sei eine »ontologische Trennung unter Menschen (séparation ontologique entre humains) in »über-ontologischer Bedeutung« (signification supra-ontologique) [24] – die Ontologie transzendiert sich selbst. In der nüchternen Orientierungssprache geht es dabei um die schlichte Tatsache, dass menschliche Orientierungen durch ihre jeweiligen Standpunkte, Horizonte und Perspektiven so getrennt sind, dass sie, obwohl in ihren jeweiligen Orientierungswelten dicht miteinander verwoben, sich nie vollkommen ineinander ›hineinversetzen‹ oder ›einfühlen‹, dass sie nie miteinander ›verschmelzen‹ oder ›koinzidieren‹, nie ›ineinander aufgehen‹ können, wie so viele das gerne glauben möchten. Wollte man überprüfen, ob es gelingt, wäre das wieder nur mittels Anhaltspunkten und Zeichen möglich, die der Andere wieder nur auf seine Weise, von seinem Standpunkt aus in seiner Perspektive verstehen kann. Auch wenn man ausdrücklich sagt, man ›fühle sich verstanden‹, kann man sich darin bekanntlich leicht täuschen. Übereinstimmungen zwischen menschlichen Orientierungen, soweit sie sich in Kooperationen bewähren – und das geschieht natürlich unentwegt –, kann man wieder nur in getrennten Orientierungen, nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus beobachten oder erfahren; denn einen Standpunkt über den individuellen Orientierungen gibt es nicht, so sehr auch die Dialog-Philosophen an ihn appellieren mögen; eben darin ist die Trennung unter Orientierungen ›supra-ontologisch‹. Man kann in idealistischem Pathos von ihr absehen, man kann sie unterschiedlich berücksichtigen oder gewichten, leugnen kann man sie nicht. 110 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
Die »Anderheit« (altérité), die »radikale Heterogeneität des Anderen« (hétérogénité radicale de l’Autre), ist, so Levinas in Totalité et Infini (TI 6/40), eine »metaphysische Beziehung« (relation métaphysique), sofern man sie nicht »objektiv« feststellen, sie sich nicht einmal vorstellen und darum auch nicht beherrschen kann (TI 8 f./43 f.). Man sei ihr ausgesetzt, stehe ihr gegenüber (affronte) und nicht in irgendeiner Weise über ihr, in religiöser Sprache offenbare sie sich (se révèle) (TI 94/170). Und sie ist gegenseitig, eine »wechselseitige Anderheit« (altérité réciproque) [14]. Dies ist jedoch nicht die bubersche Gegenseitigkeit in gemeinsamer Verbundenheit, sondern es ist nun das für beide Seiten unvergleichliche Sich-anders-Orientieren, das gegenseitig ist. Der Begriff freilich, durch den sie festgestellt und in eine systematische Ordnung mit anderen Begriffen gestellt wird, beansprucht allgemeine Gültigkeit und ist insofern – als Begriff für nicht zu Begreifendes – wiederum ein Paradox. Levinas’ Opposition von »Innerlichkeit« (intériorité) und »Äußerlichkeit« (extériorité) (TI 122/212 f.) betont die unterschiedlichen Bezüge der Anderheit, die wir als Selbstbezüglichkeit und Fremdbezüglichkeit der Orientierung unterschieden haben. Das andere und die Anderen, über die, durch die und an denen man sich orientiert, sind so lange fremd, bis man sie als Anhaltspunkte der eigenen Orientierung in diese einbezogen hat; aber auch dann weiß man (oder kann man wissen), dass es sich mit ihnen immer noch anders verhalten könnte, als man sie sich für seine Bedürfnisse zurechtgelegt hat. Die Unbestimmtheit und Ungewissheit bleibt. Levinas fasst die »Äußerlichkeit« (extériorité) in Totalité et Infini so, dass in ihr ein »Ungenügen« (insuffisance) erfahren wird, der keine »Befriedigung« (satisfaction) in einem »Sein« (être) gerecht wird. In ihr spreche sich darum auch kein »Bedürfnis« (besoin) aus, das erfüllt werden könnte (wie die Intention bei Husserl [21]), sondern ein bloßes »Begehren« (Désir), sich in der »Beziehung zum Andern« (relation avec Autrui) eine Fremdheit zu erschließen, über die man doch niemals verfügen kann und das darum immer unerfüllt bleibt (TI 154/260 f.). Die in aller Orientierung mitlaufende Unbestimmtheit und Ungewissheit und die Unsicherheit, die daraus folgt, weil sie einen letzten und festen Halt ausschließt, ist, so Levinas, nicht durch eine »›vollständige Reflexion‹« (»réflexion totale«) einzuholen, wie sie der Hegel’sche Idealismus anbietet (TI 267/420). Der fremdbezügliche Selbstbezug oder selbstbezügliche Fremdbezug kommt nicht dort wieder an, wovon er ausgeht; er verändert oder ›verandert‹ sich auch selbst, ohne dass man 111 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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die jeweilige ›Veranderung‹ zum Gegenstand eines theoretischen Wissens ›von außen‹ machen könnte. Die Orientierung in einer Situation verläuft rekursiv: sie verändert ihrerseits die Situation und macht dann schon eine veränderte oder veranderte Orientierung nötig. Genau in dieser unberechenbaren Selbstverschiebung der menschlichen Orientierung im Zug der Erschließung einer Situation, insbesondere einer Situation der Begegung mit anderen Orientierungen, setzt Levinas die »Anderheit« und »Äußerlichkeit« an (TI 267/ 420). Eben weil sie nicht feststellbar ist, irritiert, beunruhigt sie ständig; weil man nie mit ihr fertig wird, bleibt sie immer Problem. In der menschlichen Orientierung und auch für Levinas geht es nicht zuerst um Wahrheit und Falschheit, Feststellung und Widerlegung, sondern um Beunruhigung und Beruhigung. Dabei ist auch schon das Sprechen selbst, worauf Levinas besonders in Autrement qu’être/Jenseits des Seins insistiert, beunruhigend problematisch. Macht man in einer Situation Aussagen, um etwas festzustellen und festzuhalten und daraufhin zu handeln, sieht man, sobald man es festgestellt hat, dass man anderes und Andere dabei nicht oder nicht hinreichend berücksichtigen konnte, das oder die möglicherweise nicht nur den Halt, den die Feststellung gibt, wieder in Frage stellen, sondern das auch andere Feststellungen ermöglicht hätte. In Levinas’ Sprache provoziert jedes »Sagen« (dire) ein »Wiederwegsagen« (dédire). Das geschieht in jedem Sich-orientieren an Anhaltspunkten, sofern man sie stets mit Vorbehalt festhält, also auf Distanz zu ihnen hält. Die Orientierung bleibt zu aller »Ontologie« auf Distanz. Gerade in der Anderheit und Äußerlichkeit zeigt sich jedoch eine unmittelbare, weil nicht durch Begriffe hergestellte »Nähe« (proximité) zum Andern; sie tritt erst hervor, wenn die idealistischen Verdeckungen von ihr abgehoben werden. Sie lässt sich phänomenologisch beschreiben anhand der Situation des »von Angesicht zu Angesicht« oder des face-à-face; es war erst Levinas, der sie entschieden für die Philosophie entdeckt hat. Das face-à-face ist in der wechselseitigen Orientierung besonders herausfordernd; es kann zu einer mehr oder weniger intensiven Kooperation einladen, aber auch zur extremen Gefahr werden, bis dahin, wie Levinas nicht müde wird zu betonen, dass Einer den Andern töten kann. In dieser Situation muss nicht gesprochen werden, aber sie drängt zum Sprechen, weil man in der unmittelbaren Nähe, wenn sie sich unerwartet einstellt, die Situation mit diesem Andern also neu ist, jeder Gewalt, sei es der physi112 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
schen, sei es der psychischen in Gestalt von verletzenden Äußerungen, erst einmal vorzubeugen sucht. Jean-Paul Sartre hat in Das Sein und das Nichts (L’être et le néant) das Angeblickt-Werden durch andere als Bedrohung des eigenen Blicks auf die Welt, wir könnten sagen, der eigenen Orientierung, beschrieben; 32 Levinas hat dagegen auch die andere Seite gesehen und ist, unabhängig von Sartre, 33 zu einer »Verpflichtung« (obligation) für den Andern, wenn nicht zu einer Unterwerfung in einen Dienst (diaconie) für ihn in der Situation des face-à-face weitergegangen [35]. Beides hebelt den Dialog in friedlich-freundlicher Verbundenheit aus. In der alltäglichen Orientierung kennt man die Irritation, die aufkommt, wenn zwei einander bisher unbekannte Menschen plötzlich einander in die Augen sehen, den Blick aber zumeist nur kurz halten können, um ihn dann rasch abzuwenden und, nach gemessener Zeit, wieder ins Gesicht des Andern zu sehen, schon um zu beobachten, ob er seinerseits prüfend mein Gesicht beobachtet. Man checkt einander ab, um Anhaltspunkte ausfindig zu machen, wie der Andere sich verhalten wird und man sich selbst zu ihm verhalten kann. Das Spiel läuft in der Regel rasch und routiniert ab, die wechselseitige Erkundung der Orientierung des Andern kann weniger als eine Sekunde dauern. Aber sie gibt beiden Seiten eine erste Auskunft, wie sie miteinander zurechtkommen und, wenn es nötig wird, länger miteinander auskommen können; davon können die weitreichendsten Orientierungsentscheidungen unter Menschen abhängen. Das in der Menschheitsgeschichte uralt eingespielte komplexe Spiel des Einander-in-die-Augen-Sehens und Sich-rasch-wieder-Abwendens, ist, weil von höchster Bedeutsamkeit für die Orientierung beider Seiten, außerordentlich spannungsvoll, ein Angelpunkt in den zwischenmenschlichen Beziehungen; selbst Liebende können einander nur beVgl. J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, 310–364; dt.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1991, 457–538. 33 Vgl. B. Waldenfels, »Freiheit angesichts des Anderen. Levinas und Sartre: Ontologie und Ethik im Widerstreit«, in: T. Bedorf, A. Cremonini (Hg.), Verfehlte Begegnung. Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen, München 2005, 99–122, und zum Hintergrund Waldenfels’ große historische Studie Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, einerseits und seine systematische Erschließung der Anderheit, entfaltet in den Begriffen Frage, Antwort und Anspruch, in seinem Werk Antwortregister, Frankfurt/M. 1994. In »Freiheit angesichts des Anderen« zeigt Waldenfels, dass Levinas im Ganzen realitätsnäher beobachtet und besonnener argumentiert. 32
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grenzt lange in die Augen sehen. Es oszilliert zwischen Faszination und Irritation, die beide nicht im Fokus der überlieferten, auf Sein, Wahrheit und Vernunft ausgerichteten Philosophie lagen, und noch Sartre, aber auch die Dialog-Philosophen beachten es kaum. Für die Philosophie der Anderheit wird es zentral. Levinas, den daran seinerseits weder das Psychologische noch das Soziologische interessierte, hat es in einen denkbar nüchternen Begriff, den der »Nicht-Indifferenz« (non-indifférence) gefasst [15, 29]. Er ist, weil ein anti-theoretischer, paradoxer Begriff, seinerseits schwer zu fassen. 34 Für einen ersten und hier auch schon ausreichenden Zugang muss man jedoch nur den in ihm enthaltenen Begriffen folgen und sie von rechts lesen: »Differenz« steht für die begriffliche Unterscheidung in der »objektiven Thematisierung« des Andern, dialogphilosophisch gesprochen, die Behandlung des »Du« als »Es«. Das macht das »Du« gleichgültig, »indifferent«; mit einem »Es« glaubt man nach eigenem Gutdünken verfahren, ihm mit seinen eigenen Begriffen »Gewalt« antun zu können. Das face-à-face mit seiner Oszillation von Irritation und Faszination lässt den objektivierenden Zugriff aber stocken, zumindest auf einen Moment zögern: die Indifferenz wird »Nicht-Indifferenz«, in der Situation des face-à-face ist das Gegenüber nicht mehr gleichgültig. Man gerät, so Levinas, in eine ethische Nötigung, eine »ganz andere Sinndimension« von »eigener geistigen Authentizität« [19] tut sich auf.
4. Die ethische Nötigung als Orientierung am Andern ohne Gegenseitigkeit Für Levinas ist diese Sinndimension »das Ethische«, das er deutsch schreibt, um eine im Französischen mögliche Verwechslung mit »der Ethik« als systematischer Lehre von universalen Prinzipien, Normen, Werten, Gütern und Tugenden des guten Handelns zu vermeiden B. Liebsch, »Indifferenz und Gleichgültigkeit«, in: ders., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999, 167–218, entfaltet ihn im Rahmen der Philosophie der Neuzeit seit Hobbes, mit dem auch Levinas selbst in Totalité et Infini einsetzt. Zu Levinas’ Begriff der Nicht-Indifferenz (auch »Nicht-In-Differenz« geschrieben) im Besonderen vgl. 192–198, zur Nicht-In-Differenz im Zusammenhang mit der Shoah 208–216. Zu den Anhaltspunkten aus der hebräischen Bibel und aus der russischen Literatur und zu den Bezügen zu Kant, Nietzsche und Rosenzweig vgl. meine Einführung zu Levinas, 132–183.
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
[34]. »Das Ethische«, auf das Levinas »die Ethik« zurücksetzt, ist ein Suchbegriff, der offen lässt und offen hält, worin es besteht. Er ist auch nicht auf Gegenseitigkeit in Buber’scher Verbundenheit festgelegt. Hier ist nun die Stelle, an der sich Levinas klar von Buber abgrenzt [36], wo er sich, könnte man jetzt sagen, anders orientiert. Allerdings wird er Buber hier nicht ganz gerecht. Denn Gegenseitigkeit bedeutet auch bei Buber nicht schon Gleichheit beider Seiten und gleichen Austausch von beiden Seiten, wie ihm Levinas in seinen »Anmerkungen zu Buber« von 1982 unterstellt. Bubers »Beziehung ist Gegenseitigkeit« (SdP, 12) gilt nach ihm auch für Beziehung zu einem Baum oder zu einem Schüler (SdP, 19). Levinas will jedoch auch über eine solche generelle Gegenseitigkeit hinaus, in der die Identität und Einzigkeit des Ich vorausgesetzt bleibt, zu der Nähe »jenseits der Vorstellungen, die man austauscht, eine Nähe, die auch noch andauert, wenn der Dialog unmöglich wird« (recherche d’une proximité par-delà les idées qu’on échange, d’une proximité qui dure même quand le dialogue devient impossible), einer Nähe also jenseits des Dialogs (par-delà le dialogue), der durch Sympathie, Geduld und Toleranz leicht die Probleme überdeckt, die die Anderheit aufwirft. Denn das Überzeugen-Wollen vom Dialog könne selbst zur Gewalt (violence) werden. So blieben zuletzt nur »Aufmerksamkeit und Wachsamkeit« (attention et vigilance), eine »Wachsamkeit ohne Dialog und ohne jede vorherige Festlegung« (vigilance sans dialogue, vidée de toute définition) und »harte Arbeit am eigenen Ich« (dur travail sur soi). 35 Im Dialog-Artikel deutet Levinas das Ethische jenseits des Dialogs mit den Stichworten »Dienst« (diaconie) und »Diener« (serviteur) des Ich am Du [35, 36] nur an. Das Ethische in seinem Sinn setzt mit der »Ungleichheit« (inégalité) und Unfreiheit, einer »Dissymmetrie« ein [36]; da sie »willkürlich« (arbitraire) erscheinen mag, geht Levinas, um sie plausibel zu machen, erneut in die religiöse Sprache über, was Buber wiederum entgegenkommt. Die »neue Reflexion« (nouvelle réflexion) über Buber hinaus ist nicht mehr Gegenstand von Levinas’ Dialog-Artikel [37]. Um das Bild seiner Neuorientierung der Dialog-Philosophie abzurunden,
Alle Zitate aus E. Levinas, »Par-delà le dialogue«, in: Journal des communautés, n. 398, 19 mars 1967, 1–3, wiederabgedruckt in: E. Levinas, Altérité et transcendance, Montpellier 1995, 93–102. Es geht hier um den jüdisch-christlichen Dialog und die trotz seiner Erfreulichkeit bleibenden Probleme des Dialogs überhaupt. Buber selbst nennt Levinas hier nicht.
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muss dennoch wenigstens ihr Hauptpunkt genannt werden. Ausschlaggebend am Ethischen, wie Levinas es konzipiert, ist das Moment der »Nötigung« (urgence) [35]: Zum Ethischen nötigt das schutzlose Gesicht des Anderen in der Nähe des face-à-face, in der es durch Gewalt, physische oder subtilere, bedroht ist; in seiner Schutzlosigkeit leiste das Gesicht Widerstand gegen jede Gewalt und rufe den, dessen Nähe diese Gewalt mit sich bringt, zur Verantwortung. Der Widerstand ist ethisch, weil er physisch machtlos ist; die Bedrohten können überwältigt, vergewaltigt und im äußersten Fall auch getötet werden, sogar massenhaft getötet werden. Das Ethische, zu dem Levinas vorstößt, ist darum keine Sache der Moral oder des Milieus – es gibt moralische Milieus genug, die Gewalt gegen Andere face-à-face dulden, wenn nicht unterstützen –, sondern entspringt einfach »der Tatsache, dass in der unmittelbaren Begegnung der Andere mehr zählt (compte) als alles Übrige«: das »Konkrete des Guten« (concret du Bien) sei das schlichte »Etwas-wert-Sein (valoir) des anderen Menschen« [29] – Etwas-wert-Sein im nüchternen Sinn von ›Etwas-Kosten‹ und ›Etwas-Bringen‹, ›Aufwand-Machen‹ und ›Bereichern‹. Danach liegt das Ethische ursprünglich nicht in der Verpflichtung für den Andern nach vorgegebenen Maßstäben, sondern im Überraschenden der Anderheit des Andern, das mich aus meiner Selbstzufriedenheit (suffisance) mit meinem Sein für den Moment der Begegnung mit dem Andern herausholt, mich – in der Sprache der Orientierung – der Ungewissheit meiner eigenen Orientierung aussetzt, mich einen buchstäblichen Augenblick lang zögern lässt und andere Möglichkeiten der Orientierung eröffnet. Und das kann dann einen Dialog auslösen, einen Dialog unter Ungleichen, in dem sich beide zu Anderen werden: man sagt etwas, weil es nicht mehr genügt (suffit), bei sich zu behalten, was man denkt [34]; man deckt sich vor dem Andern auf, setzt sich ihm damit aus, liefert sich ihm aus, stellt sich ihm zur Verfügung. »Die Nähe des Andern, der mir, in Gesellschaft mit mir, sein Gesicht zeigt, und das, was bei dieser Begegnung mitspielt, kehrt das logische und ontologische Spiel des Selben und des Anderen ins Ethische um.« 36 Das Ethische wird, so Levi-
E. Levinas, »Infini«, in: Encyclopaedia Universalis, vol. 8, Paris 1970, 991–994, wiederabgedruckt in: ders., Altérité et transcendance, Montpellier 1995, 69–89, hier: 89: »La proximité d’autrui me montrant son visage, en société avec moi, et les implications de cette rencontre renversent en éthique le jeu logique et ontologique du même et de l’autre.«
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nas im Dialog-Artikel, zum »Ethischen des Empfangs« (l’éthique de l’acceuil) [36]. Levinas’ Übergang zum Ethischen könnte, auch wenn er traditionellen Ethikern nur schwer plausibel zu machen ist, immer noch zu rasch plausibel sein. Denn der Appell an die Ethik oder das Ethische, wie es auch gefasst sein mag, ruft heute spontan Befriedigung (satisfaction) und Selbstzufriedenheit (suffisance) hervor. Er beruhigt das Gewissen und kostet wenig; man hat, auch wenn man den Forderungen nicht folgt – und das Levinas’sche Ethische stellt außerordentliche Forderungen –, nichts zu erwarten; denn als außerordentliche Forderungen gelten sie als unzumutbar, wenn nicht ungehörig; in der systematischen Ethik nennt man sie »supererogatorisch«. Zudem scheint der Übergang zum Ethischen eine willkommene Zuflucht aus den vorausgegangenen Irritationen zu bieten. Doch das Ethische, auf das Levinas aufmerksam macht, ist nicht weniger irritierend als die Irritationen, aus denen es hervorgeht. Und schließlich ist es bei Levinas so sehr von religiösem Pathos getragen, das es sich darin ebenfalls wieder selbst genügen könnte. 37 Zuletzt ist also auch bei diesem Ethischen zu fragen, ob es auch in der nüchternen Sprache der alltäglichen Orientierung plausibel wird. Die ethische Nötigung durch die eklatante Not eines Andern, auch eines völlig Unbekannten, ist in der Tat eine alltägliche Erfahrung: wer jemanden in seiner unmittelbarer Nähe in einer Not sieht, aus der sie oder er sich selbst nicht heraushelfen kann (ein Unfallopfer, ein Ertrinkender, ein Schwerkranker, ein Süchtiger, ein grob Leichtsinniger), und in der Nähe auch sonst niemand ist, der oder die helfen könnte, wenn man also in diesem Sinn der oder die Nächste ist, sieht man sich seinerseits genötigt, ihm oder ihr in ihrer Not beizuspringen, Verantwortung für sie zu übernehmen. Man hat dann, wenn man moralisch nicht völlig unsensibel geworden ist, keine Wahl (außer der eines schlechten Gewissens), man muss hier helfen, ohne Rücksicht auf eigene Nachteile. Man schlägt in diesem Moment alle andern Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten aus, die Spielräume der Orientierung schließen sich, man wird, in diesem Sinn, »Diener« des Andern. Der (oder die) Andere bindet die eigene Orientierung und gibt ihr dadurch zugleich einen festen Halt, den festesten Halt »jenseits des Seins«, einen Halt im Ethischen ohne weitere PrinDiesen Punkt diskutiert Liebsch, Einander ausgesetzt, 322–329, vor allem in Anschluss an P. Ricœur.
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zipien, Normen, Werte, Güter, Tugenden. Man ist, unfreiwillig und vielleicht auch unwillig, zu einer Verantwortung für den Andern genötigt, die nur anhand der Situation des face-à-face zu beschreiben ist und die keine weitere Begründung hat und braucht. Es ist eine Verantwortung jenseits des Dialogs und diesseits der Religion, eine Verantwortung in offenkundiger Ungleichheit: das Opfer in seiner Not ist jetzt auf die überlegene Orientierung des Beispringenden angewiesen, der oder die aber auch nur anhand seiner Anhaltspunkte und unter seinen Gesichtspunkten helfen und nie sicher sein kann, ob er oder sie auch das Richtige tut, das Richtige im Sinn des Andern, auf den hin er oder sie seine eigene Orientierung zu ›übersteigen‹, zu ›transzendieren‹ versuchen wird. In der Not des Anderen ist man genötigt, sich über ihn, durch ihn und an ihm zu orientieren. Von diesem Ausgangspunkt des Ethischen, den Levinas ausgemacht hat (und der nicht der des Mitleids, sondern eben der des unmittelbaren Beistehens ist) und den man auch in der Sprache der alltäglichen Orientierung gut und nüchtern beschreiben kann, lassen sich sicherlich ganz unterschiedliche Folgerungen für die Ethik oder die ethische Orientierung im Ganzen ziehen. Davon muss ich jetzt absehen. Levinas’ Anfang beim Ethischen überhaupt zwingt jedoch auch umgekehrt, den Anfang der phänomenlogischen Philosophie der Orientierung, wie ich ihn versucht habe, zu überdenken. Ich habe die Orientierung als die »Leistung« definiert, »sich in einer Situation zurechtzufinden, um Handlungsmöglichkeiten auszumachen, durch die sich die Situation beherrschen lässt«: 38 Doch Levinas, der seinerseits das Ethische ganz von der Situation her denkt, der Situation des face-à-face, macht mit seiner Phänomenologie der Sozialität (d. i. für die Philosophie der Orientierung die Orientierung über, durch und an andere(n) Orientierungen, die die menschliche Orientierung am stärksten leitet) jedoch deutlich, dass der Anfang beim Beherrschen oder auch »Meistern« der jeweiligen Situation, so sehr er aller Metaphysik vorausgeht und sie unterläuft, doch noch im Rahmen des auf Selbständigkeit, Selbsterhaltung und Feststellbarkeit, auf suffisance bedachten Denkens der europäischen Tradition gedacht ist. Die Definition mag auf die Buber’sche Eswelt zutreffen, in der Buber’schen Duwelt greift sie nicht. Denn die Situation des face-à-face, so wie Levinas sie ins Spiel bringt, als einander nötigende Orientierungen, ließe sich nur so beherrschen oder meistern, dass man sich dem An38
Stegmaier, Philosophie der Orientierung, 2.
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Levinas’ Neuorientierung der Dialog-Philosophie
dern nicht unterwirft, sondern, auf mehr oder weniger subtile Weise, in seine Gewalt bringt. Dann aber geht keine befreiende Wirkung mehr vom Andern – auch und gerade von seiner Not – aus, wovon doch die Orientierung an Anderen und durch Andere lebt. Das macht wiederum eine »neue Reflexion«, nun im Dialog mit Emmanuel Levinas nötig. Aber hier müssen wir innehalten.
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas Myriam Bienenstock
Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog. Dies ist vielleicht die paradoxe Botschaft jeder Philosophie des Dialogs oder eine Art, den Geist durch die Transzendenz, durch die Sozialität, durch die unmittelbare Beziehung zum anderen zu definieren [26]. 1
Die »paradoxe Botschaft« der Philosophie des Dialogs von Emmanuel Levinas besteht also darin, den ›Dialog‹ keineswegs zu einem uns schon bekannten, sich in unserer Sprache äußernden ›Du‹, sondern durch die Beziehung zu einem uns absolut Fremden oder ›Anderen‹ zu definieren. Wie könnte aber ein Dialog mit einem ›absolut Anderen‹ möglich sein? Ist es überhaupt denkbar, mit einem absolut Anderen zu sprechen? Schon in seinem ersten großen Werk Totalität und Unendlichkeit hatte Levinas geschrieben, die anfangs zitierten Sätze des Dialog-Textes damit ankündigend, dass »Die Sprache […] da gesprochen [wird], wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muss. Die Sprache steht in dieser Transzendenz.« 2 Denn, dies hatte er dort noch erklärt: »ein universales Denken benötigt keine Kommunikation« 3. Wo es Gemeinsamkeit oder All»Passage là où il n’y a plus de passage. C’est précisément parce que le Tu est absolument autre que le Je, qu’il y a, de l’un à l’autre, dialogue. C’est peut-être là le paradoxal message de toute la philosophie du dialogue ou une façon de définir l’esprit par la transcendance, c’est-à-dire par la socialité, par la relation immédiate à l’autre.« 2 E. Levinas, Totalité et Infini. Essai sur L’Extériorité, Den Haag 1961 (Sigle: Levinas, TI), hier: 45 f.; Deutsche Übersetzung von W. N. Krewani, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1993 (Sigle: Levinas, TU), hier: 100. 3 »Une pensée universelle se passe de communication« (TI 44; TU 98; veränderte Übersetzung). 1
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas
gemeinheit gibt, würden wir also überhaupt keine Sprache brauchen. Eine Sprache würde nichts Gemeinsames voraussetzen. Wie kann aber irgendwelche Kommunikation, geschweige denn ein Dialog, unter solchen Umständen stattfinden? Der Dialog-Text, welcher eine ausgezeichnete Darstellung von Levinas’ Konzeption des Dialogs enthält, aber stets im Zusammenhang mit seinen anderen Schriften gelesen werden muss, wurde ursprünglich für die Enzyklopädie Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft verfasst: Dies ist ein Punkt von großer Bedeutung, denn Levinas hat die interreligiöse Dimension des Dialogs, insbesondere die jüdisch-christliche, für eine der wichtigsten Dimensionen des Dialogs überhaupt gehalten – man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass er diese Dimension als die dialogische Dimension par excellence betrachtet hat, so wie übrigens auch Franz Rosenzweig, welcher eine der Hauptquellen seiner Inspiration gewesen ist. Im Dialog-Text erwähnt Levinas zwar auch andere Autoren, die zu seiner Zeit unter der Bezeichnung ›Dialogphilosophie‹ bekannt wurden: so z. B. Gabriel Marcel (1889–1973) [1, 19] und Martin Buber (1878–1965) [1, 21, 26, 29, 30, 32, 34, 35, 36]. Aus der Lektüre des Texts wird aber schnell klar, dass sich Levinas in erster Linie Franz Rosenzweig (1886–1929) verpflichtet fühlte, als er seine eigene Auffassung des Dialogs entfaltete [2, 24, 26]. Dies schrieb er auch öfters und explizit in anderen Texten, so z. B. wie folgt: »Es ist dies die Quelle dessen, was wir heute Philosophie des Dialogs nennen, deren Prinzip jedoch von fast allen ihren Vertretern fast empirisch gesetzt wird, indem man die eigentümliche Nichtobjektivierbarkeit der Ich-Du Beziehung betont.« 4 In diesem Beitrag werde ich also zuerst zu zeigen versuchen, inwiefern Levinas Rosenzweig verpflichtet ist (1.), dabei aber auch aufzuzeigen (2.), dass Levinas viel weiter als Rosenzweig gegangen ist, sowohl in seiner Auffassung der ›Selbstheit‹ als auch in derjenigen des Dialogs selbst. In dem Dialog-Text verortet er die »Transzendenz« schlicht und einfach in der »Sozialität« oder »Brüderlichkeit«, d. h. in der »menschlichen Nähe« (proximité humaine: vgl. hier [24, 28, 32]): Ich werde behaupten (3.), dass eine ihm eigene, ganz neue und bemerkenswerte Auslegung des grundlegenden Satzes der Heiligen Schrift »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« hinter diesen Sätzen steckt, 4 Vgl. S. Mosès, Système et Révélation [1982]. Ins Deutsche übersetzt von Rainer Rochlitz: System und Offenbarung, München 1985; auf Französisch wieder abgedruckt in: A l’heure des nations, Paris 1988, 175–185.
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Myriam Bienenstock
und dass eine solche Lektüre uns nicht nur zu Rosenzweig, sondern auch zum interreligiösen, jüdisch-christlichen »Dialog« zurückführt. Schon Franz Rosenzweig hatte ein gegenseitiges Verhältnis zwischen Christentum und Judentum, das auch die theoretische Anerkennung des Judentums seitens der Christen beinhalten würde, sein Leben lang angestrebt. Diese Dimension des Dialogs war es, die Levinas hoffte, auch mit seinem Dialog-Text fortsetzen zu dürfen 5. Es liegt an uns, sie aufzunehmen und weiterzuführen.
1. Was Levinas Rosenzweig verdankt »Wenn wir an die bemerkenswerte Unterscheidung denken, die Franz Rosenzweig im Menschlichen zwischen dem der Welt zugehörigen Individuum und der Selbstheit (ipséité) macht, wenn wir an die Einsamkeit der Selbstheit, worin das Ich sich aufhält, denken (wobei m. E. das Geheimnis des Psychismus das »Wie« [comment] ist), so werden wir vielleicht die ontologische Trennung zwischen Menschen ermessen, die Transzendenz abschätzen können, die zwischen ihnen klafft. Sodann werden wir auch die außerordentliche Transitivität des Dialogs und die supraontologische – oder religiöse – Bedeutung der Sozialität oder der menschlichen Nähe ermessen können. Die Einsamkeit der Selbstheit, von der Rosenzweig spricht, darf nicht im Sinne Heideggers verstanden werden, der daraus einen modus deficiens des Mitseins macht« [24]. Die Strategie, auf welche Levinas in diesen Sätzen zurückgreift, ist offenkundig: Er möchte Rosenzweig, und zwar Rosenzweigs Auffassung der Selbstheit, gegen Heidegger geltend machen. Mit Recht wurde hier auf Heideggers Sein und Zeit, § 25 ff., hingewiesen, denn es waren insbesondere diese Paragraphen, die Levinas ausdrücklich kommentierte: man vergleiche z. B. den Satz, dem zufolge Heidegger aus der ›Selbstheit‹ einen »modus deficiens des Mitseins macht«, mit der Behauptung in »Mourir pour« (1987), der zufolge Heidegger die ›Einsamkeit‹ als modus deficiens des Für-den-Anderen verstanden
Zur Auffassung des Dialogs, bzw. der ›Anerkennung‹, bei Rosenzweig und Levinas, siehe auch neuerdings meine beiden Aufsätze im dem umfangreichen Handbuch Anerkennung hrsg. von L. Siep, H. Ikäheimo, M. Quante (erscheint 2019).
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas
hätte 6. Es sind Rosenzweigs Unterscheidung zwischen ›Individuum‹ und ›Selbstheit‹, und auch Rosenzweigs Verständnis der ›Einsamkeit‹ des Selbst, die Levinas gegen Heidegger im Dialog-Aufsatz hervorheben wollte. Jene Auffassungen Rosenzweigs gilt es also, hier zu klären. Schon in seinem während des zweiten Kolloquiums der Reihe »Jüdische Intellektuelle französischer Sprache« gehaltenen Vortrag »Zwischen zwei Welten. (Der Weg von Franz Rosenzweig)« (1959) hatte er aus Rosenzweigs Stern schließen wollen, dass der Mensch keine bloße Singularität des Menschen im Allgemeinen ist, »denn er stirbt für sich allein. Als Teil der Natur, Besonderheit des Begriffs ›Mensch‹, als Träger einer Kultur, als ethisches Wesen kann der Mensch den Tod verachten, nicht aber als ›Selbst‹, wo er ›Metaethik‹ ist« 7. Den Begriff ›Metaethik‹ hat Levinas aus Rosenzweigs Stern geschöpft. 8 In diesem Werk hatte Rosenzweig jenen Begriff in Analogie zu Hans Ehrenbergs Begriff des ›Metalogischen‹ erarbeiten wollen 9. Er hatte geschrieben, dass das ›Selbst‹ nicht einfach »Persönlichkeit« oder »Charakter«, sondern eher »der einsame Mensch im härtesten Sinne des Worts«, also ›Daimon‹ sei, dies aber »nicht im Sinne von Goethes orphischer Stanze, wo das Wort grade die Persönlichkeit bezeichnet, sondern im Sinn des Heraklitworts ›Sein Ethos ist dem Menschen Daimon‹, dieser blinde und stumme, in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ablegt und sich ihm enthüllt als Thanatos. Dies ist der zweite, und wenn man so will der geheimere, Geburtstag des Selbst […] Aber während so in diesem Augenblick das Individuum den letzten Resten seiner Individualität entsagt und heimkehrt, erwacht das Selbst zur letzten Vereinzelung und Einsamkeit. Es gibt keine größere Einsamkeit als in den Augen eines Sterbenden […].« 10 Vgl. E. Levinas, Entre nous, Paris 1991, 219–230, hier: 225. Deutsche Übersetzung von F. Miething: »Sterben für …«, in: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995, 239–251. 7 E. Levinas, Vortrag, gehalten am 27. September 1959. Heute abgedruckt in E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übersetzt von E. Moldenhauer, Frankfurt/M. 1992, 129–154, hier: 138. 8 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988, hier: 15–21, 67–90. 9 Vgl. Rosenzweig, Stern,15–21. 10 Rosenzweig, Stern, 77 f. 6
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Mit einiger Verwunderung entdecken wir heute, dass Goethe der meistzitierte Autor in Rosenzweigs Stern ist 11 – ganz ausdrücklich rekurriert Rosenzweig auch in der oben zitierten Passage auf Goethes Faust, II. Teil. 12 Levinas selber kannte diese wichtige literarische Quelle ganz gut, und benutzte sie in seinem eigenen Werk. 13 Er begnügte sich aber keineswegs damit, aus ihr die ›Einsamkeit‹ des ›Selbst‹ spürbar zu machen. So wie Rosenzweig hat er sie weiterführen wollen und sich zu diesem Zweck einer Auffassung bedient, die Rosenzweig selber schon vor der Abfassung des Sterns, also während des ersten Weltkriegs, formuliert hatte, dies zunächst im Gespräch mit Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), einem seiner engsten Freunde. Diesem Freund – wie er jüdischer Abstammung, aber zum Christentum übergetreten – scheint Rosenzweig eine der prägnantesten Formulierungen des ›Anrufs‹, der im Stern der Erlösung die Grundlage seiner eigenen Konzeption der Offenbarung bilden sollte, zu verdanken: »Der Satz Descartes’ cogito, ergo sum, Ich denke, also bin ich, der schließlich alles ausmacht […], muss […] durch den grammatischen Satz ersetzt werden: Gott hat mich gerufen, also bin ich. Man gibt mir einen Eigennamen, also bin ich.« 14 Vgl. dazu N. Waszek, »Goethe, Johann Wolfgang von«, in: Dictionnaire Rosenzweig, hrsg. von S. Malka, Paris 2016, 151–156. 12 Explizit erwähnt Rosenzweig den Schluss des zweiten Faust. Zu Goethes Begriff des ›Dämonischen‹ vgl. z. B. das Goethe Handbuch, Bd. 4/1, hrsg. von B. Witte u. a. (Stuttgart 1998), wo klar gezeigt wird, dass »der Begriff des Dämonischen eine zentrale Kategorie der Weltanschauung Goethes« war; vgl. 179–181. 13 Siehe z. B. das Motto des letzten Teils von Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (La Haye 1974; Deutsche Übersetzung von T. Wiemer: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1998), das Goethes berühmtes Wort in seinem Faust (2. Teil, 1. Akt, Vers 6271–6273) teilweise wieder aufnimmt: »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.« 14 Der überarbeitete Text dieses Briefes wurde 1924 unter dem Titel »Angewandte Seelenkunde« veröffentlicht. Er wurde dann von neuem überarbeitet und somit zur Grundlage des ersten und zweiten Teils des zweibändigen Werks von E. RosenstockHuessy mit dem Titel Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen veröffentlicht: Vgl. E. Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Heidelberg 1963, hier: 766 mit Rosenzweig, Stern, 159 ff. Der ursprüngliche Brief Rosenstocks, der unter dem Namen ›Sprachbrief‹ bekannt wurde und nach Rosenzweigs eigener Aussage eine entscheidende Rolle für die Entstehung von Der Stern der Erlösung gespielt hat, scheint verloren gegangen zu sein. Vgl. dazu F. Rosenzweig, »Das Neue Denken«, in: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. von R. und 11
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas
Rosenzweigs eigene Formulierung ist in einem Brief vom 19. 10. 1917 enthalten, worin er schreibt: »mein Ich entsteht im Du. Mit dem Du-sagen begreife ich, dass der Andre kein ›Ding‹ ist, sondern ›wie ich‹. Weil aber demnach ein Andrer sein kann wie ich, so hört das Ich auf, das einmalige ›Transzendentale‹ ante omnia festa zu sein und wird ein Ich, mein Ich und doch kein Es. Mit dem ersten Du ist die Schöpfung des Menschen fertig. Und nachdem so am Du das Ich Person geworden ist, bleibt das Substanzhafte des Ich rein zurück. Jetzt kann der Mensch an ein Ich ›jenseits‹ seines Ichs glauben, weil sich sein Ich vom Ich überhaupt abgespalten hat. Dieses große Ich kennt freilich nur das Er Sie Es der ›Welt‹ als sein Korrelat und verkehrt auch mit dem Menschen nur in der ›dritten Person‹. Wie könnte der Mensch wagen zu ihm ›du‹ zu sagen! Dazu müsste es erst du zu ihm sagen. Dieses zweite Du (nach jenem ersten am Ende der ›Schöpfung‹) ist die ›Offenbarung‹.« 15 Dementsprechend wird auch Rosenzweigs Verständnis der ›Offenbarung‹ gedeutet – eine, die »ganz ohne ich und du auskommt« 16. Demzufolge schreibt Levinas im Dialog-Aufsatz, dass Rosenzweig die Sprache »auf der Ebene der Offenbarung im erhabenen und religiösen Sinne des Wortes« ganz richtig verstanden hatte [26]. Er betont auch, dass es »eine Ungleichheit – eine Dissymmetrie – in der Relation gibt«: »Ohne mögliches Ausbrechen, als wäre es dazu berufen und auserwählt, als wäre es somit unersetzlich und einmalig, ist das Ich als Ich Diener des Du im Dialog« [36]. Schon in Totalität und Unendlichkeit hatte er erklärt, dass die Gegenseitigkeit des Dialogs »das tiefe Wesen der Sprache«, das eher »auf der Herrschaft des Meisters« beruht, verbirgt: »Denn die Sprache kann nur gesprochen werden, wenn der Gesprächspartner der Anfang seiner Rede ist, wenn er infolgedessen jenseits des Systems bleibt, wenn er nicht auf derselben Ebene ist wie ich. Der Gesprächspartner ist kein Du, sondern ein Sie (un Vous). Er offenbart sich in seiner Herrlichkeit.« 17
A. Mayer, in: F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften (Sigle GS), Band III, 139–162, hier: 152, und unseren Kommentar in unserer Monographie Cohen und Rosenzweig. Ihre Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, Freiburg i. Br., München 2018, hier: 51 f. 15 Vgl. Rosenzweig, GS I.1, 471 und im Stern, 195 f. 16 Ebd. 17 Vgl. Levinas, TU, 144.
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Der Rückgriff auf die »Herrschaft des Meisters« weist auf eine eindeutige, wenn auch implizite, Zielscheibe seiner Kritik hin: die Anerkennungstheorie, die Alexandre Kojève aus einer Hegellektüre entwickelte 18 – gerade zu Levinas’ Zeit in Paris von 1933 bis 1939 –, welche rasch berühmt wurde und sich weltweit verbreitete. Jene Theorie hatte Levinas schon auf den ersten Seiten von Totalität und Unendlichkeit schroff zurückgewiesen, als er schrieb, dass »die Politik […] zur gegenseitigen Anerkennung, d. h., zur Gleichheit [tendiert]; sie gewährleistet das Glück. Und das politische Gesetz vollendet und rechtfertigt den Kampf um Anerkennung. Die Religion ist Begehren und keineswegs Kampf um die Anerkennung […].« 19 Im Dialog-Text bleibt diese Kritik unterschwellig, ist aber sicherlich da, so z. B. wenn Levinas »die Art und Weise, wie Hegel in den berühmten Seiten der Phänomenologie des Geistes die Mannigfaltigkeit der Bewusstseine, die sich gegenseitig anerkennen und somit kommunizieren, aus der dialektischen Bewegung zum absoluten Wissen herleitet« – und dann die »Priorität des Wissens vor dem Dialog« kritisiert [18]. Seine eigenen Begriffe hat dann Levinas den Grundbegriffen von Kojève entgegengestellt und erarbeitet 20, dies mit Hilfe Rosenzweigs und vieler älteren, wichtigen Quellen. Jene Quellen gilt es, hier herauszustellen.
2. Zur »Einsamkeit der Selbstheit« Es war in dem Abschnitt aus Totalität und Unendlichkeit, der direkt nach den hier oben zitierten Sätzen kommt und »Affektivität als Selbstheit des Ich« (Affectivité comme ipséité du Moi) betitelt wurde, dass sich Levinas ausdrücklich als Aufgabe stellte, »die Einzigkeit des Ich verständlich zu machen«. Dort drückt er sich wie folgt aus: »Die Einzigkeit des Ich ist Ausdruck der Trennung. Die Trennung par excellence ist Einsamkeit, und der Genuss – Glück oder Unglück – ist die eigentliche Vereinzelung. Vgl. A. Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit, professées de 1933 à 1939 à l’Ecole des Hautes-Etudes, hrsg. von Raymond Queneau, Paris 1947. Teilübersetzung von I. Fetscher und G. Lehmbruch: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hrsg. von I. Fetscher, Stuttgart 1958, ab 1975 bei Suhrkamp, Frankfurt/M. 19 Vgl. Levinas, TU, 84. 20 Siehe dazu meine Monographie Levinas in his Time (i. E.). 18
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Das Ich ist nicht einzig wie der Eiffel-Turm oder die Mona Lisa. […] So ist das Ich die Weise, wie sich konkret der Bruch der Totalität vollzieht, der die Gegenwart des absolut Anderen bestimmt. Das Ich ist in ausgezeichneter Weise Einsamkeit. Das Geheimnis des Ich gewährleistet die Diskontinuität der Totalität.« 21 Auch im Dialog-Text wird der Begriff ›Trennung‹ wiederholt benutzt: So z. B. in den Zeilen, die am Anfang dieses Aufsatzes zitiert wurden [24] und in welchen die »Transzendenz« als »ontologische Trennung zwischen Menschen« beschrieben wird. Schon früher, als Levinas die »absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du« thematisierte [23], hatte er hinzugefügt, dass diese »durch das unaussprechbare Geheimnis ihrer Intimität absolut voneinander getrennt sind«, weil jeder der Partner als Ich und als Du »einzigartig« (unique) ist. – Was bedeutet denn ›Trennung‹ bei ihm? Was ist der Ursprung dieses Grundbegriffs seines Wortschatzes, welcher auch die Basis seiner Auffassung der ›Selbstheit‹ (ipséité) oder »Einzigkeit des Ich (l’unicité du moi)« gewesen ist? Zur Klärung dieses Punktes genügt es nicht, auf Rosenzweig zurück zu verweisen, wie dies aber gemeinhin erfolgt, wenn die berühmte Eröffnungsgeste von Totalität und Unendlichkeit als »Bruch mit der Totalität« kommentiert wird. Zwar ist es richtig, auf Rosenzweigs eigene Eröffnungsgeste in der Einleitung des Sterns: »Über die Möglichkeit, das All zu erkennen – in philosophos!« in diesem Zusammenhang zurück zu verweisen. 22 Doch gilt es auch anzuerkennen, dass Levinas in seiner Erklärung jenes »Bruchs« viel weiter als Rosenzweig gegangen ist – und sich dazu anderer Quellen bedient hat. Hinsichtlich dieser Quellen ist sein Gebrauch des Terminus ›Trennung‹, der schon in dem Abschnitt »Bruch mit der Totalität« benutzt wird – dort wird der Bruch als eine »radikale Trennung« zwischen dem Selben und dem Anderen bezeichnet 23 – aufschlussreich. Der Terminus erfüllt keine ähnliche Rolle bei Rosenzweig. Was bedeutet er dann bei Levinas? Levinas, TU, 164 f. – Vgl. TI, 90: »L’unicité du Moi traduit la séparation. La séparation par excellence est solitude et la jouissance – bonheur ou malheur – sont l’isolement même. / Le moi n’est pas unique comme la Tour Eiffel ou la Joconde. […] Le moi est ainsi la façon selon laquelle concrètement, s’accomplit la rupture de la totalité, qui détermine la présence de l’absolument autre. Il est solitude par excellence. Le secret du moi garantit la discrétion de la totalité.« 22 Rosenzweig, Stern, 3. 23 Levinas, TU, 38–47, hier: 39. 21
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Meines Erachtens kann es keine Zweifel daran geben, dass Levinas dabei die Etymologie des Worts , (›kadesh‹, ›kadosh‹), dessen hebräische, bzw. aramäische Wurzel ›trennen‹, ›absondern‹ bedeutet 24, stets im Sinn behielt. Gemeinhin wird das Wort auf Deutsch mit ›heilig‹ oder ›Heiligkeit‹ übersetzt; des problematischen Charakters dieser Übersetzung ist sich Levinas aber ganz bewusst gewesen, und zwar umso bewusster, weil der Begriff ›das Heilige‹ Gegenstand einer äußerst erfolgreichen religionswissenschaftlichen Analyse, gerade in Deutschland zu Anfang des 20. Jahrhunderts, geworden war: derjenigen von Rudolf Otto in Das Heilige, ein Werk, das schon im Jahre 1917 veröffentlicht, dann auch 1929 unter dem Titel Le sacré (»Das Sakrale«) ins Französische übersetzt wurde. 25 Mit den in jenem Werk entwickelten Thesen ist Levinas aber keineswegs einverstanden gewesen: Die Kontinuität, die Otto in seinem Bestseller zwischen der Religion der ›Primitiven‹ und dem später einsetzenden Monotheismus, auch dem jüdischen, festgestellt hatte, scheint ihm besonders anstößig gewesen zu sein, denn es ist gegen diese These, dass er sich in seinem Frühwerk ausdrücklich und wiederholt wendet, so z. B. in mehreren Aufsätzen der Sammlung Schwierige Freiheit, worin er feststellte, dass die ›Modernen‹ Unrecht gehabt hätten, alle Religionen, auch die jüdische, auf eine einzige Quelle zu reduzieren. Levinas zufolge gäbe es einen vollständigen Bruch zwischen den Götzendienern und dem jüdischen Monotheismus: Ihre primitive Auffassung des ›Sakralen‹ (sacré) hätte mit dem jüdischen Verständnis des ›Heiligen‹ (saint) und der ›Heiligkeit‹ (sainteté) nichts gemein. Du sacré au saint, »Vom Sakralen zum Heiligen«: diesen Unterschied, oder präziser den Bruch zwischen beiden Begriffen wählte er dann als Titel einer späteren Sammlung seiner Talmud-Lesungen, in welcher er auch daran erinnerte, dass die jüdische Tradition der »Heiligkeit« zur »Trennung« (séparation) oder »Reinheit« strebt 26. Sein Siehe z. B. L. Koehler und W. Baumgartner unter Mitarbeit von Z. Ben-Hayyim, B. Hartmann und P. H. Reymond hrsg., dritte Auflage neu bearbeitet von W. Baumgartner und J. J. Stamm, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Lieferung III, Leiden, 1983, 1003–1008, hier: 1003: »ausgesondert«; auch 997– 998, hier: 997: »heilig, ausgesondert« … 25 Vgl. R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. Französische Übersetzung von A. Jundt auf der Basis der 18. deutsche Ausgabe: Le sacré. L’élément non-rationnel dans l’idée du divin et sa relation avec le rationnel, Paris 1929. 26 E. Levinas, Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques, Paris 1977, hier: 89. Aus dem Französischen von F. Miething übersetzt: Vom Sakralen zum Heiligen. 24
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energischer Widerspruch gegen Thesen, die das Judentum in die Nähe von primitiven Religionen rückten, ja, damit identifizierten, erklärt auch, zumindest teilweise, warum er es bevorzugt hat, jegliche Referenz zur jüdischen Auffassung der ›Heiligkeit‹ als ›Trennung‹ in seinen rein philosophischen Werken zu vermeiden. Es gab aber auch andere, viel schwerwiegendere Gründe, die erklären können, warum Levinas es bevorzugte, die hebräische Quelle des Wortes ›Trennung‹ in Totalität und Unendlichkeit nirgendwo zu erörtern. Hier wird es genügen, einige der uralten, stark negativen Konnotationen zu erwähnen, die dieses Wort beim jungen Hegel gefunden hatte, als er den »Geist des Judentums« erstmals beschrieb: »Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3) stieß er von sich.« 27 »Die Wurzel des Judentums ist das Objektive, d. h. der Dienst, die Knechtschaft eines Fremden. Dies griff Jesus an. […] Knechtschaft gegen ihr Gesetz, den Willen des Herrn […] in Beziehung auf andere Menschen – Gefühllosigkeit, Mangel schöner Beziehungen, Liebe, Trennung […].« 28 Bis zu seiner Zeit, wie Levinas genau wusste, wurden jene Assoziationen wiederholt. 29 Selbst wenn es zweifellos jene traditionelljüdische Auffassung der ›Trennung‹ gewesen ist, die seine Konzeption des Ich oder der ›Selbstheit‹ als ipséité begründet hat, traf er also die Entscheidung, Totalität und Unendlichkeit als ein rein philosophisches Buch, keineswegs als jüdische Schrift, zu konzipieren – auch
Fünf neue Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1998, hier: 88 f. – Da Levinas selber die Unterscheidung zum Titel dieser Veröffentlichung erhob, wurde diese zwar nicht gänzlich übersehen, in vielen Übersetzungen und Kommentaren dann leider aber doch übersprungen und dabei die grundlegende Bedeutung der hebräischen Worte kadosh oder keduscha – Heiligkeit als séparation – ignoriert. 27 Vgl. G. W. F. Hegel, Frühe Schriften. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1, hrsg. von E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt/M. 1971, 277. – Hegels Frühe Schriften wurden inzwischen neu und kritisch ediert, hier wird aber aus der Edition zitiert, die Levinas kannte. 28 Ebd., 298 f. 29 Vgl. dazu neuerdings M. Bienenstock, »Hegel über das jüdische Volk: ›eine bewunderungswürdige Festigkeit […] ein Fanatismus der Hartnäckigkeit‹«, in: J. Noller, A. Kravitz (Hg.), Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie, Tübingen 2018, 117–134.
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Rosenzweig hatte dieselbe Entscheidung, Judentum und Philosophie nicht zu vermischen, explizit getroffen 30. In Totalität und Unendlichkeit wollte Levinas also das Versäumnis der Hegel’schen Philosophie und mit ihr der ganzen abendländischen Philosophie anprangern und überwinden, um der »Einzigkeit des Ich« besser gerecht zu werden. Er wies auch auf einzelne philosophische Quellen hin, so z. B. auf Descartes, um zu zeigen, wie die »Trennung des Ich« (séparation du Moi) thematisiert sein könnte 31, erwähnte aber keinerlei ›jüdische‹ Quellen. Dieselbe Strategie benutzt er auch im Dialog-Aufsatz, in welchem vornehmlich Philosophen, keineswegs aber jüdische Quellen als solche, genannt und kritisiert werden. Anschließend ist noch anzumerken, dass das Wort kadosch bzw. ›heilig‹, d. h. ›abgesondert‹ oder ›getrennt‹, auf Hebräisch keineswegs nur für Gott oder Menschen benutzt wird, sondern auch viel allgemeiner und weitreichender, z. B. um Territorien, Räume o. ä. zu bezeichnen. 32 Diesem Gebrauch folgt Levinas durchgängig, so etwa wenn er es in Totalität und Unendlichkeit unternimmt, die »Trennung des Selben vom Anderen« im inneren Leben und in der Rede 33 und noch allgemeiner im menschlichen Leben zu beschreiben, nämlich als eine, die sich in einer ganzen »Ökonomie« ausdrücken würde 34. In diesem dem ›Dialog‹ gewidmeten Aufsatz ist es aber besonders wichtig hervorzuheben, dass der Terminus ›heilig‹ auch die jüdische Bibel bezeichnet. Denn es ist zuvörderst in den Büchern der »Heiligen Schrift«, dass Levinas die Antwort auf die religiöse und sittliche Anrufung zu finden dachte: Ihm zufolge genügte es nicht, sich auf den guten Willen, auf das Gewissen moralisch zu berufen, sondern es ist nötig zu lesen und zu lehren, was die Bibel sagt. Dieses Argument hat Levinas öfters hervorgehoben, manchmal auch gegen Martin Buber. Zwar ist es beim Lesen des Dialog-Aufsatzes leicht ersichtlich, dass Levinas auf Buber Rücksicht nehmen wollte: Auch bei Buber, dies schreibt er dort [32], »ereignet sich die Beziehung zu Gott in der Fortsetzung der Ich-Du-Beziehung, der So-
Vgl. z. B. Rosenzweig, GS III, 140. Levinas, TU, 59. 32 Siehe z. B. Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 1005 f. 33 Vgl. den Teil »Trennung und Rede« in Levinas, TU, 66–112. 34 Der Teil »Innerlichkeit und Ökonomie« fängt mit einem Abschnitt an, der »Die Trennung als Leben« betitelt wird (TU, 150 ff.), und endet mit der Erklärung: »Die Trennung ist eine Ökonomie« (TU, 253). 30 31
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zialität mit dem Menschen«; und »die Beschreibungen der ›Begegnung‹ vermeiden nie eine gewisse axiologische Färbung« [34]. Eine gewisse Kritik äußert sich aber, wenn er schreibt, dass bei Buber »die Ich-Du-Beziehung auch oft als eine Begegnung ›von Angesicht zu Angesicht‹ dargestellt wird, als eine harmonische Mitgegenwart [coprésence], Auge in Auge; aber reduzieren sich das Von-Angesichtzu-Angesicht, die Begegnung und das ›Auge in Auge‹ auf ein Spiel von Reflexen in einem Spiegel und auf rein optische Beziehungen?« [35] Als Levinas schrieb, dass er so wie Rosenzweig den ›Dialog‹ »auf der Ebene der Offenbarung«, d. h., immer asymmetrisch, verstehen möchte, fügte er auch hinzu, dass dies im Gegensatz zur »Reziprozität«, die Buber »wohl zu Unrecht« betont hätte, stünde. Die Kritik ist ganz vorsichtig, doch kann und soll sie nicht übersehen werden, dies umso weniger, weil sie zweifellos als eine Kritik gewisser zeitgenössischer Bewegungen in der jüdischen Welt verstanden werden kann 35 – und bis heute aktuell bleibt. Die Grundfrage aber, die sich stellt, wenn die Schrift ›heilig‹, d. h., radikal ›getrennt‹ bezeichnet wird, ist die Frage der Transzendenz: Wie ist es denn möglich, eine geoffenbarte Sprache, also eine, die von Gott selbst kommt, zu verstehen, wenn Gott das ›absolut Andere‹ ist? Wie kann eine Sprache sowohl göttlich sein und damit die Sprache von jemandem, der das ganz Andere ist, und gleichzeitig für Menschen verständlich sein? Für Levinas war es zu allererst der Talmudist, der versuchte, auf diese Frage zu antworten. Sich eines oft wiederholten, bekannten Prinzips der talmudischen Exegese, dem zufolge »die Tora des Menschen Sprache spricht«, bedienend, erklärte er, es bedeute »dass die Rede der übermenschlichen Botschaft in der Rede von miteinander sprechenden, geschaffenen und endlichen Menschen enthalten sein kann. Wunderbare Kontraktion des Unendlichen, das ›Mehr‹ im ›Weniger‹ weilend […]. Daher für den Leser rätselhafter Sinnesüberschuss, daher schon beim Lesen eine implizite Exegese – und Ruf nach einer Exegese. Sinnesüberschuss, der eine Bedeutung erst und nur
»Ich denke weiterhin«, sagte er auch einmal in einem Interview, »dass man dem Gewissen nicht zuhören kann, ohne das Buch der Bücher mit extremer Aufmerksamkeit zu berücksichtigen […]. Gewiss hat Buber gedacht, dass sein Gewissen ihn besser als die Bücher über den Willen Gottes informieren würde […].« Vgl. dazu F. Poirié, Emmanuel Levinas – Qui êtes-vous?, Lyon 1987, 125. Zu diesem Punkt siehe auch unsere Monographie Cohen und Rosenzweig, 256 f.
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à bon entendeur, für das Ohr, das die Stimmen ersucht und erwartet, erhält. Der Übergang zum Jenseits oder zur Transzendenz ereignet sich in der Exegese, die sich zwischen dem offensichtlichen und dem nicht-unmittelbaren, aber lehrenden Sinn einordnet. Tora bedeutet zu allererst Lehre.« 36 Sich auf die etymologische Bedeutung des hebräischen Worts ›Tora‹ – ›Lehre‹ – berufend, behauptet also Levinas dass die Transzendenz in der Exegese selbst steckt. »Die Tora spricht des Menschen Sprache«: Dies würde bedeuten, dass die Lehre nicht mehr im Himmel weilt, also nicht in einem Jenseits, sondern bei den Menschen: »Nun sind die Menschen diejenigen, die über sie verfügen […]. Der Mensch ist die Stätte, durch welche sich die Transzendenz ereignet.« 37 In dem Dialog-Aufsatz bevorzugt es Levinas, Transzendenz schlicht und einfach im Dialog zu verorten: »Der Dialog ist nicht nur eine Art und Weise des Redens. Seine Bedeutung ist von allgemeiner Tragweite. Er ist die Transzendenz« [30]. Da er auch erklärt hat, dass die Transzendenz »das Dia des Dialogs« [30], »das Trennende« in ihm, also in der Heiligen Schrift zu suchen sei, können wir erwarten, Anklänge seiner Auslegungen der Heiligen Schrift in seinen Beschreibungen des Gesprächs, das die Menschen ›von Angesicht zu Angesicht‹ miteinander führen, zu finden – und zum allerersten des grundlegenden Gebots: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.«
3. »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst« In dem Dialog-Aufsatz, dessen Untertitel lautet »Selbstbewusstsein und Nähe des Nächsten« (Conscience de soi et proximité du prochain), legt Levinas tatsächlich seine Lektüre des grundlegenden Gebots »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst« dar. Zwar verwendet er das Wort ›Liebe‹ nur einmal, und zwar »mit Vorsicht« [29] – dieses Wort ist für ihn bekanntlich »ein abgenütztes, zweideutiges Wort« (un mot usé et ambigu) 38 gewesen. Doch erklärt er dort, wie auch in E. Levinas, »Ecrit et sacré«, in: F. Kaplan, J.-L. Vieillard-Baron (Hg.), Philosophie de la religion, Paris 1989, 357. 37 »L’homme est le lieu où passe la transcendance.« Vgl. E. Levinas, »La Révélation dans la tradition juive«, in: L’Au-delà du verset. Lectures et discours talmudiques, Paris 1982, 175. 38 Vgl. hier Levinas, Entre nous, 126. 36
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vielen anderen seiner Schriften, dass das Gebot »eine andere Weise, auf den Anderen zuzugehen als beim Erkennen: Sich dem Nächsten zu nähern« (une autre façon d’accéder à l’autre qu’en connaissant: approcher le prochain), enthält. 39 Er möchte Abschied nehmen von der philosophischen Tradition, welche die »Nähe« (proximité) der Menschen untereinander und zu Gott missverstanden hat, weil sie sie in eine idealistische, vernünftige »Kongruenz« (coïncidence) aufgehoben hat [14]. Der Angriff ist zum allerersten gegen Hegel gerichtet, dessen Idealismus er als einen Idealismus des Selbstbewusstseins versteht [7 ff.], wie dies zu seiner Zeit üblich war, aber auch gleichzeitig gegen Husserl und die Phänomenologie: Ihm zufolge kann jene »andere Weise, sich dem Nächsten zu nähern«, weder die eine noch die andere erschließen. Die Frage, die er behandeln möchte, ist die Frage der »Nähe« (proximité) zum Anderen: wie ist es denn möglich, sich einem – oder einer – Anderen zu nähern, der – oder die – von uns ›getrennt‹ ist? In dem Dialog-Aufsatz behauptet er, dass diese Frage keine andere als die Frage der »ursprünglichen Sozialität« (socialité originaire) [19] oder der ›Brüderlichkeit‹ (fraternité) [29] sei: Dem in Frankreich gängigen Schlagwort der fraternité gibt er hier eine bemerkenswerte Bedeutung. Schon in Totalität und Unendlichkeit hatte er sie von irgendeinem biologischen Verhältnis einer Verwandtschaft von Brüdern abgegrenzt, und den prophetischen Monotheismus danach aufgerufen 40: »Das menschliche Ich setzt sich in der Brüderlichkeit: Dass alle Menschen Brüder seien, ist keine Zutat zum Menschen wie eine moralische Errungenschaft, sondern macht seine Selbstheit [ipséité] aus. […] Die Beziehung mit dem Antlitz in der Brüderlichkeit, in der der Andere seinerseits als solidarisch mit allen anderen erscheint, konstituiert die soziale Ordnung […].« 41 In dem Dialog-Aufsatz identifiziert er die ›Brüderlichkeit‹ schlicht und einfach mit der ›Sozialität‹ oder »sozialen Ordnung«. Eine solche Identifizierung findet sich auch bei zeitgenössischen, französischen
»Voilà une autre façon d’accéder à l’autre qu’en connaissant: approcher le prochain.« Vgl. De Dieu qui vient à l’idée, 221. – In der deutschen Fassung wurde dieser Satz, welcher direkt vor der Würdigung von Franz Rosenzweig [24] hätte kommen müssen, nicht übersetzt. 40 Levinas, TU, 310 f. Vgl. schon im Vorwort: »Von Einzigkeit zu Einzigkeit – Transzendenz; […] Liebe von fremd zu fremd in der Brüderlichkeit …« (TU, 10). 41 Vgl. Levinas, TU, 409. 39
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Autoren wieder – insbesondere christlichen –, aber auch bei deutschen – so wie bei jüdischen Autoren, so z. B. bei Hermann Cohen, welcher die ›Brüderlichkeit‹ im Begriff der ›Gesellschaft‹ verortet hatte, so im Jahre 1896, in einem weit verbreiteten Text, in welchem er auf den römischen Juristen Ulpian zurückgriff, um zu behaupten, dass »eine Gesellschaft das Rechtsverhältnis der Brüderlichkeit in sich hat – societas jus quodammodo fraternitatis in se habet« 42. Ganz lehrreich dürfte es sein, beide Auffassungen zu vergleichen, obwohl Levinas Hermann Cohen, jenen von Franz Rosenzweig hoch gefeierten deutsch-jüdischen Denker selten erwähnte. So wie Hermann Cohen hat Levinas nämlich betont, »dass die Beziehung zum Göttlichen über das Verhältnis zu den Menschen führt und mit der sozialen Gerechtigkeit zusammenfällt, eben dies ist der Geist der jüdischen Bibel. Moses und die Propheten kümmern sich nicht um die Unsterblichkeit der Seele, sondern um den Armen, die Witwe, die Waise und den Fremden. Die Beziehung zum Menschen, in der die Berührung mit dem Göttlichen stattfindet, ist nicht eine Art geistige Freundschaft, sondern diejenige, die sich in einer gerechten Ökonomie manifestiert, erprobt und erfüllt, einer Ökonomie, für die jeder Mensch voll verantwortlich ist.« 43 Es ließen sich auch viele weiteren Stellen zitieren, schon aus dem frühen Werk von Levinas, die zeigen würden, dass für ihn »das geistige Leben als solches untrennbar mit der ökonomischen Solidarität gegenüber dem Anderen verbunden bleibt […]. Das geistige Leben ist wesentlich moralisches Leben, und sein bevorzugter Ort ist das Ökonomische.« 44 Hermann Cohen ist ihm gut bekannt gewesen, wenn auch nur durch seine Jüdischen Schriften, die eine Anzahl bemerkenswerter Aufsätze zur ›Verteidigung‹ der jüdischen Sache enthalten. Zur Kommentierung des Dialog-Aufsatzes müsste insbesondere der Beitrag »Zum Prioritätsstreit über das Gebot der Nächstenliebe« (1894) 45 berücksichtigt werden, so wie die vielen Aufsätze, welche die damaligen
Vgl. Cohen, Werke 5, 114; und vgl. dazu M. Bienenstock, N. Waszek (Hg.), Un droit de fraternité. Entre l’Allemagne de Hermann Cohen et la France d’aujourd’hui, Paris 2020 (i. E.). 43 Levinas, Schwierige Freiheit, 32; Difficile liberté, Paris 1976, 36 f. 44 Levinas, Schwierige Freiheit, 62; Difficile liberté, 93 ff. 45 Vgl. H. Cohen, Jüdische Schriften, hrsg. von B. Strauss, eingel. von F. Rosenzweig, 3 Bde., Berlin 1924, hier Bd. I, 175–181. 42
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas
hitzigen Kontroversen über die bestgeeignete Übersetzung des hebräischen Terminus ›Rea‹ betreffen: Bedeutet dieser Terminus des Alten Testaments primär und nur ›der Volksgenosse‹ oder allgemeiner ›der Andere‹, wie dies Hermann Cohen behauptet hatte? 46 Hervorzuheben ist hierbei, dass Levinas selber den Terminus ›Rea‹ manchmal mit ›der/die Andere‹ (l’autre), manchmal aber auch mit ›der Nächste‹ (le prochain) wiedergibt, dies auch im Dialog-Aufsatz, was aber keineswegs bedeutet, dass er sich der einen oder der anderen oben erwähnten, kontroversen Thesen anschließen will. Eher hört er im Gebot eine andere Frage: die Frage der ›Annäherung‹ (approcher), welche sowohl die Annäherung des Menschen an seinen engsten Nachbarn als auch die Annäherung zu entfernteren Menschen, seien es ›Volksgenossen‹ oder Fremde, und letztendlich auch die Frage der Annäherung an Gott enthalten würde: »Die Nähe Gottes ist mein Gut«: Es ist dieser von Cohen besonders geschätzte Psalmvers (Psalm 73, 28), der im Dialog-Aufsatz im Hintergrund der Ausführungen von Levinas steht. Diesen Psalmvers hatte Rosenzweig in seiner Laudatio für Cohen ausdrücklich erwähnt. 47 Auch wenn Levinas in vieler Hinsicht mit Cohen einverstanden war, hat er es aber bevorzugt, sich auf Rosenzweig zu berufen. Wichtig ist aber nicht, dass er die Antwort auf den moralischen Anruf des »Hier bin ich« an derselben Stelle wie der von Cohen oder von Rosenzweig gewählten, oder an einer anderen findet. Viel bedeutender ist sein Bezug zur Schrift selbst und zur Tradition der Auslegung, ohne die diese Schrift nicht verstanden werden kann. Am auffallendsten im Dialog-Aufsatz ist aber die Tatsache, dass Levinas so wenige Texte oder Zitate aus der jüdischen Bibel ausdrücklich zitiert. Nur einmal, gegen Ende des Aufsatzes, bedient er sich eines zutiefst christlichen Wortschatzes – ›Diakonie‹, ›Epiphanie‹ – um anhand einiger biblischen Passagen Fragen zu stellen: »[…] Gottes Epiphanie wird immer in einem ethischen Zusammenhang
Vgl. wieder H. Cohen, »Die Nächstenliebe im Talmud. Gutachten, dem Königlichen Landgerichte zu Marburg erstattet«, in: Cohen, JS I, 145–174; dann H. Cohen, »Der Nächste. Bibelexegese und Literaturgeschichte« (1914): öfters wieder abgedruckt, auch als unabhängige Veröffentlichung in Der Nächste. Vier Abhandlungen über das Verhalten von Mensch zu Mensch nach der Lehre des Judentums, Berlin 1935. Heute zugänglich in: Cohen, Werke 16, 51–97. Vgl. auch zu dieser Debatte in Deutschland Bienenstock, Cohen und Rosenzweig, 183 f. 47 Vgl. Rosenzweig, GS III, 216 f. 46
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Myriam Bienenstock
erwartet, in der Begegnung mit dem anderen Menschen, dem Du. Muss man an solche Textstellen wie das 58. Kapitel Jesaias (vgl. auch Mt 25) erinnern? Muss man auch an vielleicht weniger berühmte Verse des Pentateuchs erinnern? Bezeichnenderweise kommt die Formel ›Gott fürchten‹ in einer Reihe von Versen vor, die vor allem die Achtung vor dem Du, die Sorge um den Nächsten nahelegen, als käme das Gebot der Gottesfurcht nicht hinzu, um nur das Gebot zu bekräftigen, ›einen Tauben nicht zu verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg zu legen‹ (Lev 19, 14), ›einander nicht zu übervorteilen‹ (Lev 25, 17), ›keinen Zins und Aufschlag zu nehmen vom verarmten Bruder, sei er Fremdling oder Beisasse‹ (vgl. Lev 25, 35 ff.) usw., sondern als definierte sich die ›Gottesfurcht‹ geradezu durch diese ethischen Verbote; als wäre die ›Gottesfurcht‹ diese Furcht für den anderen« [32]. Levinas scheint es nicht zu wagen, Texte aus dem sogenannten ›Alten Testament‹ ausdrücklich zu zitieren – und wenn er das 58. Kapitel aus Jesaia erwähnt, fügt er gleich einen Hinweis auf das 25. Kapitel des Matthäus hinzu. Er bezieht den religiösen und sittlichen Anruf auch öfters auf das ›Sende mich‹ bei Jesaia (6.8), so z. B. in seinem Buch Anders als Sein. 48 Ob er gefürchtet hat, zu provozierend zu wirken? An Rosenzweig müssten wir uns tatsächlich erinnern, welcher die praktischen, mit Antisemitismus verbundenen Fragen keineswegs ignorierte, wie dies einem Brief an Martin Buber vom 19. 3. 1924 zu entnehmen ist, in welchem er schrieb: »Heut treten wir oder vielmehr sind schon in einer neuen Ära der Verfolgungen.[…] Was aber zu machen ist, ist, dass diese Ära der Verfolgungen auch eine der Religionsgespräche wird, wie die mittelalterliche, und dass die Stummheit der letzten Jahrhunderte aufhört.« 49 Rosenzweig selber scheint gehofft zu haben, dass die Lösung der praktischen Fragen, welche die Anerkennung der Juden in Deutschland verhinderten, also der mit Antisemitismus und Antijudaismus verbundenen Fragen, auf Fortschritte im theoretischen, theologischen Dialog folgen würde. Von seinen Zeitgenossen, insbesondere den Christen, verlangte er eine nicht nur praktische, sondern zuallererst theoretische Anerkennung. Dieses Verlangen scheint auch Levi-
48 49
Vgl. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, 228. Rosenzweig, GS I.2, 947.
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Dialog und Transzendenz bei Emmanuel Levinas
nas’ Dialog-Aufsatzes zugrunde zu liegen, in welchem er mittels einer theoretischen philosophischen Auseinandersetzung dem jüdisch-christlichen Dialog mehr Erfolgschancen einräumen möchte, statt sich direkt interkonfessionell mit der Bibelauslegung zu befassen.
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Transzendenz und Begegnung Günter Figal
1. Emmanuel Levinas hatte seine Hauptwerke – Totalité et infini (1961) und Au delà de l’essence et autrement qu’être (1974) – längst geschrieben, als er sich an sich an die vorliegende Rückschau auf die Vorgeschichte seiner Philosophie machte. Die schmale Abhandlung über den ›Dialog‹ ist eine Art Genealogie des eigenen Denkens und damit zugleich dessen Kontextualisierung. Während Levinas in seinen Hauptwerken – und bereits in den Aufsätzen des Sammelbandes En decouvrant l’existence avec Husserl et Heidegger (1949) – sein Denken frei entwickelt und auf andere Konzeptionen wie die beiden im Titel mit den Namen ihrer Urheber angezeigten allein um der eigenen Sache willen und meist in Abgrenzung eingeht, zeichnet er im vorliegenden Text ein Bild der Philosophie, die sein eigenes Denken ermöglicht hat. Ebenso zeigt er an, zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Totalité et infini, wie er seine Denkarbeit im Zusammenhang der Philosophie überhaupt sieht. Das Bild, das sich dabei ergibt, ist durch einen Kontrast bestimmt: Martin Bubers und Franz Rosenzweigs Entdeckung des Dialogischen steht als »zeitgenössische Philosophie«, als »neue Denkweise« [20] der »überlieferten Philosophie« [3] gegenüber, die als Philosophie der ›Immanenz‹ vom Dialogischen und seiner ›Transzendenz‹ nichts wusste. Die Vorgeschichte des eigenen Denkens, über die Levinas berichtet, ist kurz, sehr viel kürzer als die Geschichte der ›überlieferten Philosophie‹. Zwischen der Veröffentlichung von Bubers Ich und Du (1923) und der Sammlung von Levinas’ frühen, systematisch bedeutsamen Aufsätzen in En decouvrant l’lexistence avec Husserl et Heidegger liegen gerade einmal sechsundzwanzig Jahre. Das dialogische Denken, wie Levinas es vertritt, ist ein neues Denken. Und es ist ein
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Transzendenz und Begegnung
Denken, das Levinas, mit Karl Löwith gesagt, als »revolutionären Bruch« mit der philosophischen Tradition präsentiert. 1 Mit dieser Präsentation, man muss es kaum betonen, variiert Levinas eine philosophische Geste, die für die Philosophie der Moderne typisch ist. Erinnert sei an die elfte von Marx’ Thesen über Feuerbach und ihre Entgegensetzung der alten ›interpretierenden‹ und der geforderten neuen ›verändernden‹ Philosophie, 2 ebenso an Nietzsches Philosophieren nach dem ›Tod Gottes‹ 3 und vor allem an Heideggers so wirkungsvolle These vom ›Ende der Metaphysik‹, auf das mit einem nicht mehr metaphysischen und darum, wie Heidegger meint, auch nicht mehr philosophischen Denken zu antworten sei. 4 Doch indem Levinas diese Geste variiert, mildert er sie zugleich auch ab. Anders als Marx, Nietzsche und Heidegger stellt er der ›überlieferten‹ Philosophie kein ganz anderes Denken entgegen. Es geht ihm weder darum, die Philosophie zu einer die ›Welt‹ verändernden Kraft zu machen noch will er gedanklich ins ›offene Meer‹ 5 einer als chaotisch verstandenen Welt steuern und erst recht nicht auf ein zukünftiges Ereignis des ›Seyns‹ vorbereiten, das Heidegger ohne Berücksichtigung des Seienden denkt und damit sein nachmetaphysisches Denken von der philosophischen Beschreibung der Welt suspendiert. Im Unterschied von den die Tradition überwindenden Kontrastprogrammen, wie Marx, Nietzsche und Heidegger sie entwerfen, bleibt die ›neue Denkweise‹ des Dialogischen explizit philosophisch; sie bleibt auf die Probleme der ›überlieferten Philosophie‹ bezogen und tritt mit dem Anspruch auf, dass sie dieser überlegen ist. Die ›neue‹ Denkweise gibt, wie Levinas denkt, auf zentrale Fragen der ›überlieferten Philosophie‹ die besseren Antworten. Das gilt für das Thema der Sprache, deren traditionelles Verständnis an der ›inneren Rede‹ orientiert und deshalb gegenüber einem dialogischen Sprachverständnis ›abgeleitet‹ sei [18, 27]. Auch die »Einheit des SelbstbewußtVgl. K. Löwith, »Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts«, in: Sämtliche Schriften. Band 4, Stuttgart 1988, 1–490. 2 K. Marx, »Die deutsche Ideologie, Teil A. Thesen über Feuerbach«, in: ders., Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1964, 339–341. 3 F. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, 343, in: Kritische Studienausgabe (= KSA), hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Band 3, Berlin, New York 1988, 573–574. 4 M. Heidegger, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: ders., Zur Sache des Denkens, Gesamtausgabe Band 14, hg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt/M. 2007, 67–90. 5 Nietzsche, »Die Fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, 574. 1
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seins« lasse sich, wie Levinas betont, allein von der »Begegnung im Dialog« her verständlich machen. Und wenn sich der für den Autor der Politeia bedeutendste Gegenstand philosophischen Denkens und Wissens, die ›Idee des Guten‹, allein »im Dialog der Transzendenz« bilden kann, so tritt das dialogische Denken überbietend an die Stelle der platonischen Dialektik, die in der ›Berührung‹ der Idee des Guten ihre eigene Möglichkeit erfährt und realisieren kann [29]. Levinas deutet noch weitere systematische Stärken des dialogischen Denkens an, wenn er von einer Ergänzung einer an der Intentionalität orientierten Phänomenologie durch eine ›Phänomenologie der Relation‹ spricht [31] und mit dem für das dialogische Denken zentralen Begriff der ›Transzendenz‹ die theologische Möglichkeit einer ›neuen Sicht des menschlichen Seelenlebens‹ verbindet [31]. Kurzum, was Levinas in seinem Text umreißt, ist ein umfassendes und durchaus anspruchsvolles philosophisches Programm. Das dialogische Denken, wie er es darstellt, ist weit mehr als die eher andeutende, poetisch gefärbte Evokation einer existenziellen Erfahrung, wie Buber sie mit Ich und Du unternommen hatte. Es ist eine alle systematischen Ansprüche erfüllende Philosophie, und entsprechend müsste ein dialogisches Denken, wie Levinas es darstellt, auch frei von jenen methodischen und konzeptuellen Defiziten sein, die Michael Theunissen bei aller tiefen Sympathie mit dem dialogischen Denken an diesem moniert hat. 6 Theunissens kritische Einwände wären allerdings nur entkräftet, wenn das dialogische Denken systematisch so stark wäre, wie Levinas es in seiner kleinen Abhandlung behauptet. Nur wenn die Konzeption des dialogischen Denkens, wie Levinas sie skizziert, in sich schlüssig und überzeugend ist, lässt sich dieses Denken so, wie Levinas es vorschlägt, als die im Vergleich mit der ›überlieferten‹ stärkere Philosophie verstehen. Wenn sich die von Levinas skizzierte Konzeption hingegen als problematisch erweist, würde dies bedeuten, dass ein dialogisches Denken den Anspruch, den Levinas mit ihm verbindet, nicht erfüllen kann und man, wenn man die Sache des Dialogischen trotzdem ernst nimmt, nach anderen Lösungen suchen muss. Wie es sich damit verhält, sollte in einer kritischen Prüfung der von Levinas vorgestellten Konzeption herauszufinden sein. 6 M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin, New York 1977, 278. Vgl. G. Figal, »Die Möglichkeit der Dialogphilosophie. Theunissen, Buber und die Phänomenologie des Zwischen«, in: E. J. Bauer (Hg), Das Dialogische Prinzip – Aktualität über 100 Jahre, Darmstadt 2018, 55–64.
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Transzendenz und Begegnung
2. Der Schlüssel zu Levinas’ Konzeption des Dialogischen ist sein Begriff des Dialogs. Das mag befremdlich klingen – was sonst, so möchte man vielleicht fragen, sollte dieser Schlüssel sein? Aber es wäre ja möglich, dass man sich an anderen Begriffen als dem des Dialogs orientieren muss, um das Dialogische zu verstehen. Das Dialogische könnte ein sekundäres Phänomen sein oder auch der Spezialfall einer allgemeinen Struktur. Aber wie Levinas denkt, ist das Dialogische aus keinem anderen Begriff abzuleiten, auch nicht aus dem Begriff der Transzendenz, von dem man, Levinas’ Abhandlung lesend, meinen könnte, dass er im Kontrast zum ›immanenten‹ Denken der ›überlieferten Philosophie‹ der Schlüssel zum Dialogischen sein müsste. Gegen diese Annahme betont Levinas, dass sich Transzendenz allein als Dialog verstehen lasse. Der Dialog ist kein Spezialfall der Transzendenz, auch nicht ihre Konkretion im menschlichen Leben. Der Dialog, so liest man vielmehr, »ist die Transzendenz«, und zur Erläuterung fügt Levinas hinzu: »Das Sprechen im Dialog ist nicht eine der möglichen Formen der Transzendenz, sondern ihr ursprünglicher Modus.« Und weiter, das Gesagte weiter verstärkend: »Mehr noch, sie [die Transzendenz] bekommt erst einen Sinn, wenn ein Ich Du sagt.« Transzendent, also über eine vorgegebene oder wie auch immer hergestellte Einheit hinausgehend, ist allein das »Du des Dialogs« [34]. Transzendent sind nicht die Dinge, auf die man wahrnehmend trifft. Auch wenn sie keine Effekte des Wahrnehmens sind, können sie in ihrer Erscheinung nicht äußerlich und eigenständig sein, wenn, wie Levinas sagt, »schon die Wahrnehmung ergreift« und erst recht das begreifende Denken, das ein »in den Griff nehmen« sei [6]. Alles Wahrnehmbare und Denkbare wird nach diesem Verständnis unvermeidlich angeeignet, allein indem es zum Wahrgenommenen und zum Gedachten wird. Sofern ich etwas wahrnehme und denke, gehört es ›mir‹ – nicht mir als diesem besonderen Individuum, sondern mir als Bewusstsein. Es wird zu etwas, auf das ich erinnernd zurückkommen kann und das mir, solange ich bei Bewusstsein bin, nicht zu nehmen ist. Gegenüber dieser ins Okkupatorische gewendeten Konzeption einer Bewusstseinsimmanenz, die, wie Husserl behauptet hatte, nichts Äußerliches braucht, um zu existieren, 7 muss man, wie Levinas denkt, die Anrede als Unmöglichkeit von Aneignung und Verein7
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
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Günter Figal
nahmung verstehen. Eine als ›Du‹ angeredete Person ist der anredenden Person äußerlich, und allein angeredete Personen können äußerlich sein. Man bemächtigt sich ihrer nicht, sondern wendet sich an sie in ihrer Andersheit, die wesentlich über das Eigene, aus eigener Kraft Zugängliche hinausreicht. Weil Levinas das annimmt, kann er auch denken, dass die Idee des Guten, die in der Politeia als ›jenseits der Seiendheit‹ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) bestimmt wird, 8 sich allein im Dialog bilden kann. Levinas’ Verständnis der Anrede mag unmittelbar als plausibel erscheinen – selbstverständlich ist es jedoch nicht. Warum soll eine angeredete Person nicht zu vereinnahmen sein, so dass sie der ursprüngliche Modus von Transzendenz wäre, während jedes Ding, das man anschaut, allein dadurch, dass man es anschaut, vereinnahmt wird und also bei aller unbestreitbaren Äußerlichkeit immanent ist? Levinas’ Text antwortet darauf, indem er drei Wesenszüge des dialogischen Verhältnisses nennt. Zunächst sei eine angeredete Person deshalb grundsätzlich anders als ein intendiertes Ding, weil sie auf die Anrede ihrerseits anredend antworten könne. Das Ich, so Levinas, sage »Du zu einem Du, das als ich selber zum Ich Du sagt« [31]. Außerdem setze sich das anredende Ich derart einer Antwort aus, und Antworten, so lässt sich zur Erläuterung hinzufügen, kommen auf die zunächst Anredenden und dann Angeredeten von außen zu. Sie sind unvorhersehbar, auch wenn sie Erwartungen erfüllen, denn sie hätten auch anders sein können. Antworten lassen sich nicht in den Zusammenhang bereits verstandenen Sinns einordnen und gehören so, wie Levinas denkt, nicht »zur Welt, wenn auch die Begegnung selbst in der Welt stattfindet« [31]. Damit sei schließlich das Verhältnis zu einer angeredeten Person durch einen »Überschuss« charakterisiert. Es birgt Möglichkeiten, die eine anredende Person nicht selbst hat. Mit der Anrede öffnet sich der Reichtum dieser Möglichkeiten, und wer jemand anderen anredet, möchte sich durch diesen Reichtum beschenken lassen. So ist der Dialog, wie Levinas es formuliert, »die Nicht-Indifferenz des Du für ein Ich« [29]. Auch diese Antwort ist irgendwie einleuchtend. Was andere Personen sagen, kommt in der Tat auf einen selbst zu, es ist oft nicht zu antizipieren und manchmal auch bereichernd. Insofern ließe sich mit losophie, Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana Band III.1, herausgegeben von K. Schuhmann, Den Haag 1976, 104. 8 Platon, Politeia, 509b.
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Transzendenz und Begegnung
Recht sagen, es komme von jenseits des eigenen Denk- und Verfügungsbereichs und sei in diesem Sinne ›transzendent‹. Aber das heißt nicht, dass allein angeredete und einen selbst anredende Personen originär ›transzendent‹ sind und so die Möglichkeit der Transzendenz überhaupt begründen. Gewiss ist der Dialog keine einseitige Beziehung, in der es eine ›intendierende‹, das Verhältnis bestimmende Instanz gibt, während das Intendierte lediglich das ›passive‹ Objekt einer Intention ist. Zwar ist der Dialog wesentlich korrelativ, und das wird in der Wechselseitigkeit der Anrede besonders deutlich. Aber deswegen muss der Dialog nicht die einzige Möglichkeit der Korrelation sein, während jedes nicht durch Anrede bestimmte Verhältnis zu etwas allein wegen seines intentionalen Charakters strikt einseitig sein müsste. Auch wenn Dinge einen nicht anreden, kommt etwas von ihnen zurück. Auch Dinge können sprachlos ›ansprechend‹ und ›vielversprechend‹ sein. Sie können, wie die Antworten einer anderen Person, überraschen – allein schon dadurch, dass sie, aus einer neuen Perspektive betrachtet, anders erscheinen, als man es erwartet hatte. Sie können beglücken und damit, obwohl sie denen gegenüber, die sie möglicherweise beglücken, gleichgültig sind, eine ›Gabe‹ sein – eine Bereicherung, die nicht von einem selbst kommt und so den eigenen Verfügungsbereich transzendiert. Vor allem Dinge, die Kunstwerke sind, können so erfahren werden und darin besonders deutlich die Transzendenz der Dinge bestätigen. Kunstwerke können als solche nicht vereinnahmt werden. Man kann sie als solche nur erfahren, indem man ihre Äußerlichkeit erfährt und in der Betrachtung immer wieder aufs Neue bestätigt. 9 Mit einer Parteinahme für die Dinge, 10 wie sie skizziert wurde, soll die Besonderheit des Dialogs nicht bestritten werden. In Zweifel gezogen wird lediglich die Behauptung, allein der Dialog könne wesentlich transzendent oder sogar die ursprüngliche Möglichkeit der Transzendenz sein. Trotz seiner exklusiven Auszeichnung des Dialogs ist Levinas selbst sich dessen, wie es scheint, nicht ganz sicher. Immerhin räumt er die Transzendenz der Dinge ein, wenn er sagt, »die Exteriorität und Andersheit des Gewußten« werde mit dem Erkennen »in die Immanenz hereingeholt« [4]. Wie sollte diese ›Exteriorität und Andersheit‹ aus der Transzendenz des Dialogs verständlich gemacht werden? Sie besteht doch an sich, und sie muss bestehen, wenn 9 10
Vgl. G. Figal, Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010. Vgl. F. Ponge, Le Parti pris des choses, Paris 1942.
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es einen Sinn haben soll, die intentionale Bezugnahme auf etwas als Vereinnahmung oder Aneignung zu deuten. Vereinnahmt und angeeignet werden kann nur etwas, das nicht schon zum Eigenen gehört. Und wenn deshalb die Vereinnahmung und Aneignung ohne diese Erfahrung von Exteriorität und Andersheit nicht möglich ist, müsste es eine Zäsur, einen Augenblick der Entscheidung geben, bevor ein vereinnahmender und aneignender Zugriff erfolgt. Ein solcher Zugriff wäre dann nicht die einzige Möglichkeit im Verhältnis zu den Dingen. Es wäre auch möglich, die Dinge von sich aus erscheinen zu lassen und sie in ihrem Erscheinen zu beachten, wenn nicht gar zu achten. Vielleicht weil Levinas sieht, dass die Transzendenz im Dialog nicht die einzige ist, versucht er, den Transzendenzcharakter des Dialogs auf andere Weise auszuzeichnen. Wenn der Dialog schon nicht die einzige Möglichkeit der Transzendenz ist, soll er eine stabile, also nicht durch Vereinnahmungstendenzen gefährdete Transzendenz und darin ›ursprünglich‹ sein. Im Dialog, so liest man, walte »eine absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du, die durch das unaussprechliche Geheimnis ihrer Identität absolut voneinander getrennt« seien. Die Absolutheit der Distanz wiederum begründet Levinas mit dem Hinweis darauf, dass »jeder der Partner als Ich und Du einzigartig, dem anderen gegenüber absolut anders« sei, »ohne jedes gemeinsame Maß, ohne jeden freien Raum für eine etwaige Koinzidenz« [23]. Diese Inkommensurabilität soll jedoch eine Beziehung nicht verhindern, sondern gerade ermöglichen. Es soll eine einzigartige Beziehung sein, in der zwei Personen sich einander zuwenden können, weil sie absolut voneinander getrennt sind und nichts Gemeinsames haben, das sie verbinden könnte. In ›absoluter Distanz‹ – und allein in ihr –, entfalte sich, wie Levinas sagt, »die außerordentliche und unmittelbare Beziehung des Dia-logs, der die Distanz« transzendiere, »ohne sie abzuschaffen, ohne sie zu vereinnahmen« wie es »der Blick« tue, der dadurch »die Distanz, die ihn von den Gegenständen der Welt trennt«, zurücklege, »daß er sie umfaßt, sie einschließt« [23]. Der Sinn dieser Überlegung dürfte klar sein. Indem Levinas den Dialog durch die ›absolute Distanz‹ von Ich und Du bestimmt, will er diesen gegen jede Relativierung sichern. Anders als die Transzendenz der Dinge, die, wie Levinas denkt, ungeschützt gegen den vereinnahmenden Zugriff der Wahrnehmung, des Denkens und natürlich erst recht der technischen und praktischen Instrumentalisierung ist, 144 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Transzendenz und Begegnung
soll die Transzendenz des Dialogs in jeder Hinsicht stabil und darin, wenn schon nicht die einzige, so doch wenigstens die wahre Transzendenz sein. Durch seine ›absolute Distanz‹ hebt sich der Dialog von allen anderen Relationen und Korrelationen ab. Offenbar meint Levinas, allein schon deshalb könne von seiner Transzendenz behauptet werden, dass sie der ursprüngliche Modus von Transzendenz überhaupt sei. Aber ist die Distanz zwischen Ich und Du absolut? Ist ein Du in jeder Hinsicht für ein Ich unerreichbar, so dass die Beziehung zwischen beiden als das Austragen dieser Unerreichbarkeit bestimmt werden müsste? Levinas begründet, wie gesagt, die Absolutheit dieser Distanz, indem er auf die ›Identität‹ der beiden ›Partner‹ und mit dieser auf ihre Einzigartigkeit verweist. Menschen, so könnte man das auch erläutern, sind Individuen im emphatischen Sinn. Sie sind mehr als Einzeldinge – individuals oder particulars, weder bloße Exemplare einer Gattung noch Entitäten mit besonderen, sie von anderen Entitäten ihrer Art unterscheidenden Eigenschaften. Menschen sind darin Individuen, dass sie ein individuelles Leben führen und darin, gleichgültig, wie ›bewusst‹, ›aktiv‹ und ›eigenständig‹ dieses Leben geführt wird, durch andere nicht ersetzbar und beherrschbar sind. Niemand kann das Leben eines anderen Menschen führen, niemand lebt jemand anderen, jeder Mensch lebt ›einfach selbst‹, und entsprechend kann niemand die Entscheidungen anderer treffen oder Wahrnehmungen von anderen haben und deren Gedanken denken. Darin könnte man eine ›absolute‹, weil unüberwindbare Distanz zwischen Individuen sehen. Aber selbst wenn diese Distanz unüberwindbar ist, kann sie bedroht und beeinträchtigt werden. Wer ein anderes Individuum unterdrückt, mag letztlich dessen Individualität nicht auslöschen können und sie gerade in der Missachtung bestätigen. Aber trotzdem sind negative Einstellungen gegenüber anderen keine bloßen Bestätigungen einer absoluten Distanz. Die Gewalt, die ein Mensch einem anderen antut, erreicht diesen; sie verletzt ihn und macht ihn leiden. Aus Gewalt, Übergriff und Unterdrückung spricht eine Missachtung der Distanz, der Versuch, sie nicht wahrhaben zu wollen, und im faktischen Tun auch ihre Relativierung. Demgegenüber bleibt für Levinas die Distanz selbst im Hass absolut; auch den Hass versteht er als Ausdruck der »Nicht-Indifferenz« und lediglich als die Ausartung eines »nicht selbstsüchtige[n] Gefühl[s]« [29]. Dagegen ließe sich einwenden, dass der Hass und alles, was aus Hass getan wird, ein eminenter Ausdruck von Selbstsucht ist, eine Selbst145 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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behauptung, die es nur geben kann, indem jemand die Lebensmöglichkeiten anderer, ja deren Möglichkeit zu leben als solche bestreitet oder zunichte macht. So ist die Distanz zwischen Individuen darin, dass jedes Individuum einzig ist, einzigartig. Nie ist man ›jemand anders‹, so dass andere in ihrer Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit ›absolut‹ unerreichbar sind. Dennoch ist die Distanz zu ihnen fragil, und nur deshalb muss es ein Gebot sein, sie zu achten und die anderen ›sein zu lassen‹ statt sie zu bedrohen, zu unterdrücken oder zu vernichten. Die Fragilität der Distanz kommt daher, dass Individuen für einander erreichbar sind, weil sie einander leibhaft in der Welt begegnen – wie sonst sollten sie einander ansprechen, umarmen, aber auch beschimpfen und bekämpfen können? Nur in einer Welt sind Individuen außerdem füreinander verständlich. Sie sprechen eine Sprache, nehmen Positionen ein und nehmen Aufgaben wahr, setzen sich Ziele, die sie zu erreichen versuchen, und was sie einander zu sagen haben, bezieht sich im Allgemeinen auf etwas, das in den Horizont der ihnen verständlichen Welt gehört. Kann es dann aber so sein, wie Levinas behauptet, wenn er sagt, das Du werde als »›Exklusivität‹ und als nicht zur Welt gehörig« angerufen, wenn auch die Begegnung selbst in der Welt« stattfinde, »während die Intentionalität den Gegenstand immer nur im Horizont der Welt« angehe [31]? Damit behauptet Levinas indirekt, dass etwas nur als ›Gegenstand‹ der Intentionalität zur Welt gehören könne, als etwas, das angeeignet, vereinnahmt und nach Gutdünken verändert werden kann, ohne dass es gegenüber dem zugreifenden Tun in irgendeiner Weise eigenständig wäre. Entsprechend muss Levinas die ›Exklusivität‹ des Du an dessen Weltlosigkeit binden. Aber die Besonderheit des ›Du‹ lässt sich auch aufrechterhalten, ohne dass man die dialogischen verbundenen Individuen als ›weltlos‹ versteht. Man muss nur sagen, dass sie anders in der Welt sind als die Dinge, auf die sie sich beziehen – eher so, wie Spieler in einem Spiel sind und nicht wie die Spielfiguren, Bälle und Schläger, derer Spieler sich bedienen und bedienen müssen, um ein Spiel zu spielen. Levinas, so darf man annehmen, wäre jedoch mit der vorgeschlagenen Lösung nicht einverstanden und würde in jedem Fall die Weltzugehörigkeit von Individuen bestreiten, weil er sonst die Absolutheit der Distanz zwischen Individuen bedroht sähe. Individuen, die zu einer Welt gehören, haben, wie bereits angesprochen, etwas gemeinsam. Sie teilen eine Sprache oder verschiedene Sprachen, verschiede146 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Transzendenz und Begegnung
ne Praktiken, Überzeugungen und Traditionen, die unausdrücklich gelebt, aber auch in Geschichten artikuliert werden. Mit solchen und anderen Gemeinsamkeiten aber gehören Individuen in einen Zusammenhang, der sie übergreift und der ihnen Möglichkeiten vorgibt, die als solche nicht individuell sind, auch wenn sie nur individuell realisiert werden können. Einem solchen Zusammenhang – man könnte ihn eine je besondere Ausprägung von Welt nennen – müssten die Individuen ›immanent‹ sein, und dann wiederum wären sie im Sinne der ›überlieferten Philosophie‹ gedacht und nicht im Sinne der ›neuen Denkweise‹, die Individuen als ›Ich und Du‹, also allein von ihrer dialogischen Bestimmung her denkt und darin als ›weltlos‹ versteht. Dass Individuen als solche durch Immanenz bestimmt sein könnten, schließt Levinas definitiv aus. Warum er so denkt, erläutert Levinas, indem er auf das ›überlieferte‹ Verständnis der Sprache eingeht und zu zeigen versucht, warum mit diesem das Dialogische der Sprache, also die Möglichkeit einander unmittelbar anzusprechen, verfehlt werde. Dem ›überlieferten‹ Verständnis gemäß realisiere sich das Sprechen »in einer empirischen Vielheit von denkenden Menschen«, die »im Dienst« der Sprache stünden. Diese Indienstnahme der Einzelnen durch die Sprache wiederum lasse sich allein in der »Unterordnung« der Sprache »unter das Wissen begreifen«. Dann bestehe die Sprache »darin, dass jeder der Gesprächspartner in das Denken des anderen eintritt, mit ihm in der Vernunft übereinstimmt, sich in ihr verinnerlicht.« So erweise sich die Vernunft als »das wahre innere Leben«; sie selbst sei »eins« und habe so niemanden, »dem sie sich mitteilen« könne, weil nichts außerhalb ihrer stehe [12]. Es ist nicht ganz leicht, diese Überlegung zu verstehen, weil Levinas auf keine konkrete philosophische Konzeption eingeht, in der dieses Verständnis der Sprache vertreten würde. Seine Feststellung, das Sprechen stehe »im Dienst« der Sprache ließe sich wohl am ehesten auf Heraklits Konzeption des Logos beziehen, dem es zu ›entsprechen‹ (ὁμολογεῖν) gelte, 11 statt so zu tun, als habe man einen eigenen Verstand. 12 Wenn jemand, wie Heraklit es für sich in Anspruch nimmt, dem Logos entspricht und wenn man ihn recht versteht, so hört und vernimmt man nicht ihn, nicht diesen besonderen MenHeraklit, VS B 50 (Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. H. Diels u. W. Kranz, Berlin 71954, Band 1. 12 Heraklit, VS B 2. 11
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schen mit Namen Heraklit, sondern den Logos selbst. 13 Doch Heraklit denkt bei dieser Überlegung nicht an eine Vernunft, die »das wahre innere Leben« ist, sondern vielmehr an die sinnhafte Ordnung der Welt, die im Sinn eines Gesagten unmittelbar zum Vorschein kommt. So ist das rechte Vernehmen eines Gesagten, das Vernehmen seines ihm eigenen Sinns, keine Verinnerlichung, die in das Denken eines anderen ›eintritt‹, sondern eine sachbezogene Wendung ›nach außen‹, dessen Ordnung es zu vernehmen gilt, statt sich seine eigenen, beschränkten Gedanken zu machen. So wie Levinas im Hinblick auf Vernunft und Sprache von einer Verinnerlichung zu sprechen, wäre allenfalls möglich, wenn man nicht an eine solche Betonung der Sachlichkeit des Sprechens denkt, sondern die ›überlieferte‹ Philosophie von Hegel her versteht, der die größte Sachlichkeit der Vernunft nicht im Blick auf die Seiendheit des Seienden (οὐσία), sondern als die Selbsttransparenz der Vernunft im absoluten Geist gesehen hat. Was dies betrifft, erweist sich Levinas bei aller Kritik der ›überlieferten Philosophie‹ in der Tat als Hegelianer. »Alle Strömungen des abendländischen Geistes«, so schreibt er, mündeten in das Werk Hegels ein [7]. Eine solche teleologische Sicht des »abendländischen Geistes«, wie Hegel sie entwickelt und wie Heidegger sie in seinem homogenen und sehr summarischen Bild der ›Metaphysik‹ noch einmal auf wirkungsvolle, gewiss auch bei Levinas nachwirkende Weise bekräftigt hat, mag suggestiv sein. Man macht es sich mit ihr jedoch auch leicht, indem man vernachlässigt, was, zum Beispiel bei Platon und Aristoteles, in Hegels und Heideggers ›großen Erzählungen‹ 14 nicht aufgeht. Doch wenn man das Bild der ›überlieferten Philosophie‹ in diesem Sinne differenziert und entsprechende Zweifel an der Darstellung von Levinas vorbringt, ist damit seine Einrede gegen die ›überlieferte Philosophie‹ nicht als solche widerlegt, und entsprechend wird man diese weiterhin ernst nehmen müssen. Das Dialogische, auf das Levinas und vor ihm Buber und Rosenzweig aufmerksam gemacht haben, kommt so, wie es im dialogischen Denken verstanden wird, selbst dort nicht vor, wo man es am ehesten suchen würde, nämlich in der dialogischen Dialektik, wie Platon sie in seinen philosophischen Lesedramen darstellt. In den Gesprächen, die Sokrates mit den verschiedensten Partnern führt, geht es nie um die direkte 13 14
Heraklt, VS B 50. F. Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979.
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Anrede, sondern immer, auf höchst verschiedene Weise um eine Sache. Es geht darum, gesprächsweise das Gesagte so zu prüfen und zu klären, dass man mit dem, was man sagt, möglichst sachgerecht sein kann. Anders als Levinas denkt, ist dies kein äußeres Abbild des Dialogs der Seele mit sich selbst, als welcher im Sophistes das Denken bestimmt wird – die Pointe bei Platon ist nicht die Innerlichkeit des Gesprächs, sondern der Gesprächscharakter selbst eines Denkens, das mit sich allein ist. 15 Dennoch, das darf wiederholt werden, es geht in diesen Gesprächen nicht um ›Ich und Du‹, sondern um eine Sache, um das, was man wissen kann und was deshalb als das ›ganz und gar Wissbare‹ und in diesem Sinne als das ›ganz und gar Seiende‹ gesucht wird. 16 Auf das Verständnis dieses Seienden soll das Gespräch hinführen, in seiner ihm eigenen Struktur soll es dieses Seiende möglichst als es selbst entfalten. Sofern Gesprächspartner, solche auf der gleichen Stufe der Einsicht wie auch Lernende und Lehrende, das heißt: zur Einsicht Verhelfende, auf die Sache des Wissens bezogen sind, sind sie zwar niemals allein, denn eine Sache, die sich erkunden, verstehen und wissen lässt, ist – wie der Logos des Heraklit 17 – als solche gemeinsam. Entsprechend kommt es darauf an, nicht zu reden, als habe man nur einen ›eigenen Verstand‹, eine privilegierte, von keinem anderen teilbare Einsicht und habe aufgrund dieser Einsicht gegenüber den anderen recht. Doch gerade deshalb sind die Gesprächspartner eines platonischen Dialogs im Allgemeinen nicht direkt und unmittelbar aufeinander bezogen. Es kommt geradezu darauf an, von einer solchen Bezogenheit abzusehen und, wo sie besteht, sie einzuklammern, also nicht zum beherrschenden Motiv des Gesprächs werden zu lassen. Eine erotische Anziehungskraft, wie sie für Sokrates junge und zum Denken begabte Männer haben, darf, wie das Symposion zeigt, nur indirekt zugelassen werden – als Initial des Gesprächs, das als solches das Gespräch begleiten mag, aber nicht bestimmen sollte. In diesem Sinne wird im Symposion gezeigt, wie das erotische Verlangen vom Begehren schöner Körper und Seelen zur Erfahrung des Schönen selbst umgelenkt und so zum philosophischen Begehren gesteigert werden kann. 18 Das ist keine Sublimie-
Platon, Sophistes, 263e. Platon, Politeia, 477a. Vgl. G. Figal, Philosophy as Metaphysics. The Torino Lectures, Tübingen 2019. 17 Heraklit, VS B 2. 18 Platon, Symposion, 209e – 212a. 15 16
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rung, als ob die unmittelbare Beziehung der Maßstab für jede menschliche Beziehung sei, sondern entspricht der strengen Sachlichkeit der Philosophie. Diese Sachlichkeit lässt sich nicht aufgeben, ohne dass man die Philosophie selbst aufgibt. Wie sollte die Philosophie als solche sich ganz und gar in ein dialogisches Denken und so in eine alle Philosophie in sich einbegreifende ›Ethik‹ verwandeln können, der gemäß, wie Levinas sagt, das Ethische »im Ich-Du des Dialogs« beginne und »das Wert-Sein des anderen Menschen« bedeute [34]? Selbst Levinas kommt nicht umhin einzuräumen, dass die Anrede eines anderen im Allgemeinen nur dann gehaltvoll sein kann, wenn im Anreden etwas gesagt wird. Doch für ihn bleibt dieses Etwas, also der Gehalt oder die Sache des Sprechens, sekundär. Das Sprechen, wie er es versteht, soll sein Wesen allein in der Anrede haben. Levinas begründet das mit dem Hinweis darauf, dass die Sache, die man sprechend zur Sprache bringe, als solche nicht mitteilungsbedürftig sei, sondern auch nur gedacht werden könne. Offenbar genüge das aber den Denkenden, die zu Sprechenden werden, nicht, so dass sie sich in der AnredeBewegung der Sprache über das, was ihnen genügen könnte, hinaustragen ließen [37]. Das lässt sich jedoch nur sagen, wenn man die Inhalte von Gedanken als selbstgenügsam versteht, als etwas, das in die ›Innerlichkeit‹ gehört, statt immer schon irgendwie mit anderen geteilt zu werden. Dies mag einleuchtend scheinen, solange man übersieht, das Gedankeninhalte im Allgemeinen nur konkret werden, indem man sie sprachlich artikuliert. Das kann auch ohne Anrede, nämlich im Schreiben geschehen, in Notizen oder Texten, die man schreibt, ohne sie anderen zu lesen geben zu wollen, allein für sich also, doch nicht in bloßen Gedanken, sondern mitten in der Sprache und also auch für andere, die diese Sprache verstehen, zugänglich. Wenn das Denken derart sprachlich ist, dann ist auch die Mitteilung eines Gedankens ›natürlich‹ – kein Ungenügen an der vermeintlichen Innerlichkeit des Denkens, sondern im Denken selbst nur noch ein kleiner und im Allgemeinen immer schon getaner Schritt. Die Sprache, so lässt sich diese Überlegung zusammenfassen, ist ebenso wesentlich Anrede wie sie sachbezogen ist, und keines von beiden geht aus dem anderen hervor oder im anderen auf. Das Dialogische, also die Begegnung von ›Ich‹ und ›Du‹ ist nicht aus der Sachlichkeit zu erklären, wie sie beispielhaft Platons Sokrates praktiziert. Vielmehr lebt das Philosophieren, das seinen Namen nur verdient, wenn es auf die gemeinsame, mit anderen geteilte Wahrheitssuche 150 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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setzt – wie sollte man eine Wahrheit für sich allein haben können? – in der Begegnung. Das verpflichtet eine reflektierte und so für sich selbst möglichst transparente Philosophie darauf, das Wesen der Begegnung möglichst genau und umfassend zu bedenken. Allerdings kann der Sachbezug nicht weniger Gegenstand philosophischer Reflexion sein; was man seit Platon als Philosophie kennt, ist ohne Sachbezug nicht möglich, und entsprechend kann eine Philosophie, die sich selbst nicht aufgeben will, ihre Sachorientierung nicht durch Begegnungsorientierung ersetzen. Entsprechend kann sie nicht zu einer rein ›ethischen‹ Dialogphilosophie werden, die sich gegenüber der ›überlieferten‹ sachorientierten Philosophie als ›neue Denkweise‹ profiliert. Vielmehr wird sie versuchen müssen, gleichermaßen sachwie dialogorientiert zu sein und entsprechend das Verhältnis von Dialog und Sachbezug zu klären. Wie gehört beides zusammen? Wie lässt die Entdeckung der ›neuen Denkweise‹ sich mit der ›überlieferten‹ Sachorientierung der Philosophie verbinden, statt sie gegen diese auszuspielen?
3. Um diese Fragen zu beantworten, sollte man als erstes noch einmal daran erinnern, dass Sachbezug und Begegnung allein deshalb nicht voneinander zu trennen sind, weil einander begegnende Individuen in der Welt leben und allein im Zusammenhang der Welt ihre Möglichkeiten finden und realisieren können. Gerade wenn der Sachbezug und mit ihm das Finden und Realisieren von Möglichkeiten etwas mit anderen Geteiltes ist, spielt, mehr oder weniger ausdrücklich, mehr oder weniger deutlich, in jedem welthaften Sachbezug auch immer die Möglichkeit der Begegnung. Als Möglichkeit gibt es die Begegnung immer, auch wenn sie nicht eigens erfahren wird. Auch wenn andere nicht leibhaft zu spüren, zu sehen oder zu hören sind, sind sie da. Man weiß, dass man anderen begegnen kann – weniger, weil die Dinge, die man sieht oder mit denen man umgeht, auf andere ›verweisen‹, 19 sondern vielmehr, weil man immer schon ›nicht allein‹ war, auch wenn man jetzt, in einer bestimmten Situation allein ist. Es kann jemand kommen, mit dieser Möglichkeit rechnet man M. Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe Band 2, hg. v. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt/M. 1977, 157–159.
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immer, in freudiger Erwartung, in Gleichgültigkeit oder ungern, weil man sich gestört fühlen würde, mit Vorsicht oder in Furcht. So geht eine mehr oder weniger ausgeprägte, so oder so gefärbte Offenheit für die Begegnung mit anderen jeder aktualen Begegnung voraus. Diese Offenheit kann nicht in den Gemeinsamkeiten begründet sein, die Individuen miteinander haben. Um solche Gemeinsamkeiten als solche zu verstehen, müssen Individuen ja vielmehr einander als Individuen verstanden haben – unmittelbar und nicht etwa dadurch, dass bestimmte Lebewesen sich nach sorgfältiger Prüfung als ›solche wie man selbst‹ erweisen. Ein solches Verstehen, das allem partikularen Verstehen des Verhaltens und der Mitteilung anderer vorausliegt, betrifft die Weise, in der andere das eigene Leben betreffen, gleichviel, ob sie aktual anwesend sind und einem selbst begegnen oder wie auch immer abwesend. Das Dasein anderer erfährt man, indem man sich in einer Weise nicht allein fühlt, die das faktische Alleinsein einschließt. Nicht allein ist, wer angesehen oder angesprochen werden kann. Sobald ein Lebewesen da ist, das einen ansehen oder ansprechen kann, ist man nicht allein, weil der Zusammenhang, in dem man sich bewegt, nicht allein der Zusammenhang des eigenen Verhaltens ist. Auch andere können sich in diesem Zusammenhang verhalten, und zwar so, dass einen selbst dieses Verhalten und bereits die Möglichkeit eines solchen Verhaltens betrifft, auch dann, wenn man mit ihm nicht eigens ›gemeint‹ ist. Würden einen nur Dinge umgeben oder Lebewesen, die einen nicht derart betreffen können, wäre man demgegenüber allein. Der skizzierte Sachverhalt lässt sich genauer bestimmen, indem man den Zusammenhang eines derart miteinander geteilten Lebens, in seinem Raumcharakter betrachtet. 20 Dann lässt sich die Möglichkeit des Verhaltens, die zu einem Individuum gehört, als Möglichkeit beschreiben, sich in welcher Weise auch immer auf etwas zu beziehen. Eine solche Bezugnahme geht immer ›von hier aus‹, genauer von dem Hier aus, das ein Individuum in der Möglichkeit seines Verhaltens ist – Bezugnahmen wie etwas oder jemanden anzusehen, auf etwas oder jemanden zuzugehen, etwas oder jemanden zu berühren sind darin ›intentional‹, dass sie aus einem Hier auf ein ›dort‹ gerichtet sind. Dabei ist das Hier nicht das eines besonderen Ortes, an dem und von dem aus ein Individuum sich intentional verhalten kann oder Zum Folgenden ausführlich: G. Figal, Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015, bes. 171–190.
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verhält. Vielmehr werden besondere Orte erst durch ein Individuum und seine Möglichkeit intentionalen Verhaltens zu einem ›Hier‹. Ein Individuum nimmt das Hier, das es ist, überall hin mit. Ein Individuum, das allein wäre, hätte das Hier für sich allein. Außer ihm selbst könnte nur noch ›hier‹ sein, was ein Individuum als sein Eigenes betrachtet oder in seiner unmittelbaren Nähe sieht und so an seinem eigenen Hier teilhaben lässt – alles, was ›hier auf dem Tisch‹ liegt, in ›meiner Umgebung‹ ist durch mich selbst ›hier‹. Sonst gäbe es nur noch verschiedene Möglichkeiten des Dort. Alles, das nicht zum Eigenen gehört, wäre ›dort‹. Eben das ist anders, wenn ein Individuum nicht allein ist. Dann gibt es mit einem Mal ein anderes Hier und mit diesem anderen Hier einen gemeinsamen Raum, in dem zwei oder mehrere ihr Hier sind. Dann ist das Hier des einen durch das Hier der anderen bestimmt. Jedes besondere Hier gehört dann zum Feld von Möglichkeiten des Hier; es gehört in einen Raum, der nicht mehr auf ein einziges Hier zentriert, sondern in der Mannigfaltigkeit des Hier dezentral ist. Es ist der Raum verschiedener Möglichkeiten des Verhaltens jeweils ›von hier aus‹, der Raum eines vielfältigen Hier, das nicht mehr nur einem selbst gehört. Lebewesen, die annähernd die gleiche Möglichkeiten des Verhaltens haben, so dass diese Möglichkeiten wechselseitig zur Geltung kommen können, sind dabei in ihrem Hiersein für einen selbst ›die anderen‹ – andere Individuen. Andere oder anderer ist man füreinander, indem man den Raum des dezentrierten Hier teilt. Obwohl man diesen Raum mit anderen teilt, kann sich niemand aus dem Hier eines anderen verhalten. Indem man den Raum des dezentrierten Hier teilt, gehört man zusammen und ist zugleich voneinander entfernt – ›absolut‹ voneinander entfernt, wie Levinas sagen würde. Diese Entferntheit lässt sich als Transzendenz verstehen; jedes Individuum, das als Hier die Möglichkeit des Verhaltens und der Bezugnahme hat, ist jedem anderen gegenüber transzendent – nicht nur so, wie Punkte, die im Abstand voneinander verschieden sind, also nicht in einer Weise der relativen Entferntheit, die Levinas von der ›absoluten Distanz‹ der Individuen, die ›Ich‹ und ›Du‹ sind, unterscheidet [32]. Doch nach der gerade skizzierten Beschreibung wäre die Transzendenz, die ›absolute‹ Entferntheit der Individuen voneinander nicht identisch mit der Begegnung, die im Ansprechen eines ›Du‹ durch ein ›Ich‹ liegt. Vielmehr wäre sie ein Wesenszug des dezentrierten Raums. Dieser Raum ermöglicht die Begegnung im Ansprechen, so dass die Transzendenz nicht, wie Levinas denkt von der 153 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Günter Figal
Begegnung her, sondern die Begegnung von der Transzendenz, und zwar von der Transzendenz des Raumes her, zu denken wäre. Die angedeutete Konzeption der Transzendenz hat gegenüber derjenigen von Levinas einen großen Vorteil. Sie erlaubt es, neben der Transzendenz der Begegnung – oder, wie man genauer sagen müsste: der Transzendenz, die in der Möglichkeit der Begegnung liegt – auch andere Transzendenzen anzunehmen, die Transzendenz der Dinge, die ›entfernt‹ sind, obwohl sie selbst kein Hier sind, oder die Transzendenz von Lebewesen, die auf ihre Weise je ein Hier sind und sich so auf jemanden beziehen, aber auch jemandem begegnen können, auch wenn diese Begegnung nicht in der Wechselseitigkeit von ›Ich‹ und ›Du‹ geschieht. Nicht nur ein anderer Mensch sieht einen an, sondern auch ein Vogel oder eine Katze, und man schaut zurück. Das ist eine Begegnung, und dennoch sind Vögel und Katzen für uns keine ›anderen‹. Bezugnahmen, Begegnungen, wechselseitige und solche von eingeschränkter Wechselseitigkeit sind Möglichkeiten des Raums, ebenso wie Dinge, Lebewesen und Individuen Möglichkeiten des Raums sind. Nichts könnte erscheinen und in seinem Erscheinen da sein, ohne dass dieses Erscheinen durch den Raum ermöglicht wäre, so dass es in seinem Erscheinen auch allein vom Raum her beschrieben und verstanden werden kann. So löst sich der Konflikt zwischen der ›überlieferten Philosophie‹ und der ›neuen Denkweise‹ in einer Phänomenologie des Raums.
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Wo beginnt die Verpflichtung? Levinas im Dialog mit Kant Katharina Bauer
Wo beginnt die Verpflichtung – die grundlegende Tatsache, an Verpflichtungen gebunden zu sein, sie erfüllen zu müssen? Woher gewinnt die Idee oder Erfahrung des Verpflichtetseins ihre bindende Kraft? Für Emmanuel Levinas geht die Verpflichtung vom Anderen aus, von seinem Blick, seinem Anspruch. In Levinas’ Text über den Dialog jedoch beginnt sie, ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Dialogphilosophie Bubers und Rosenzweigs, zunächst einmal im Ich-Du: »Das Ich-Du beinhaltet von vornherein – in seiner Unmittelbarkeit, d. h. in der Form der Dringlichkeit und ohne Rückgriff auf jedwedes universale Gesetz – eine Verpflichtung« [35]. Damit ist aber noch nicht ausbuchstabiert, wie und wo genau im Ich-Du eine Verpflichtung zu verorten ist. Ich verpflichte dich? Du verpflichtest mich? Wir verpflichten uns gegenseitig? Zu was? Im Dialog zunächst einmal dazu zu antworten. Die erste Pflicht des Dialogs ist das Antworten. Die Verpflichtung ist Verantwortung. Dabei kann die Antwort auch das erste Wort sein. Der Dialog beginnt schon vor der Sprache, im Moment der Begegnung. Das kann der Moment sein, in dem Ich und Du sich gegenüberstehen. »Von Angesicht zu Angesicht«, so Levinas im Rückgriff auf Buber, oder »Auge in Auge« [35]. Der Aufruf zur Antwort kann also ein Blick sein. Oder eben ein Ruf. 1 Der Dialog verlangt an sich nichts Sichtbares. Vielleicht höre Jean-Luc Marion entwickelt ausgehend von Levinas ein erweitertes Verständnis des Rufs, der nicht allein als Ruf eines konkreten Anderen verstanden wird, aber auch nicht, mit Martin Heidegger, als Anspruch des Seins. Der Ruf, der für Marion von jedem »gesättigten Phänomen« ausgeht, zu denen die Begegnung mit der anderen Person ebenso gehört, wie das historische Ereignis oder das Kunstwerk, spielt eine wesentliche Rolle für die Individualisierung des Subjekts als Phänomenempfänger. Durch den Ruf wird das Subjekt ›aus der Fassung gebracht‹ (interloquer), es wird ›delokalisiert‹ oder ›deplatziert‹. Zugleich vervollständigt sich der Ruf, der von den Phänomenen ausgeht, erst in der Antwort des Empfängers, allerdings gerade dann, wenn er in dieser zunächst einmal sein Gerufensein anerkennt (im »me voici«), ohne vorschnell eine rufende Instanz zu identifizieren oder den Inhalt des Rufes begrifflich
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Katharina Bauer
ich dein Räuspern, deine Schritte oder deinen Atem. Wie auch immer ich deine Gegenwart wahrnehme, die Gegenwart eines anderen Menschen – ich fühle mich aufgerufen zu antworten. Oder nachzufragen – hallo, wer ist da? Ich fühle mich verpflichtet, zu reagieren, selbst wenn meine Reaktion darin besteht, so zu tun, als hätte ich dich nicht bemerkt. Als hätte ich den Anderen nicht bemerkt, der vielleicht nur zufällig im selben Raum mit mir ist, im Wartezimmer, in der U-Bahn. Ich fühle mich verpflichtet zu einer Begrüßung, vielleicht zu einer Höflichkeitsfloskel. Wenn der Andere wiederum auch antwortet, den Faden des Gesprächs aufnimmt, fühle ich mich zur Fortsetzung des Dialogs verpflichtet. Und selbst wenn einer von uns schließlich doch den Faden wieder abreißen lässt, sich in sein Buch oder seine Zeitschrift oder sein Smartphone vertieft oder aus dem Fenster schaut und schweigt, bleibt der begonnene Dialog im Raum. Als eine geteilte Gegenwart. Als eine geteilte Erwartung. Es ist jetzt ein gemeinsamer Raum, in dem wir uns befinden. Und das gilt sogar schon, wenn ich nur Spuren von dir finde – eine aufgeschlagene Zeitschrift, eine Jacke an der Garderobe. Da war jemand. Da könnte jemand jederzeit wiederkommen. Auch ein dritter könnte eintreten. Der Raum ist nicht mein privater Raum, nicht mein eigenes Haus. Wie verpflichtet mich das? Es bindet mich an die Konvention, den Raum als einen gemeinsamen Raum zu behandeln, als öffentlich. Ich werde anders sitzen, als ich es in meinen vier Wänden tun würde, in meinem Haus. Ich werde mich anders verhalten. Ich rechne mit dem Anderen. Ich antworte auf die Möglichkeit, von einem Anderen gesehen oder wahrgenommen zu werden. Wenn dieser Andere nur eine prinzipielle Möglichkeit ist – weil die Tür offen steht, weil sicher noch andere Patienten kommen auf ein Objekt festzulegen. Ausgehend von der hervorgehobenen Bedeutung des Verhältnisses zwischen Ruf und Antwort entwickelt Marion ein radikales und umfassendes Verständnis von Verantwortung. Nimmt man die fundamentale ›Antworthaftigkeit‹ (repons) beim Wort, die für Marion ein ›Subjekt nach dem Subjekt‹ definiert, und für die es den Platz eines herrschenden, zentralen Subjekts zugunsten der Anerkennung des Angesprochenseins aufgeben muss, so besteht seine Aufgabe gerade darin, das, was sich gibt, zu erkennen zu geben: es zu bezeugen, in Worte zu fassen oder auf andere (nicht verbale) Weise auszudrücken und sichtbar zu machen. Für Marion besteht in Abgrenzung zu Levinas explizit kein ethisches Primat des Phänomens der Person gegenüber anderen Phänomenen. Vgl. J.-L. Marion, Gegeben sei: Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg i. Br., München 2015, sowie: K. Bauer, »Von der donation zur interdonation. Interpersonale Beziehungen in der Phänomenologie J.-L. Marions«, in: H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dresden 2012, 217–236.
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Wo beginnt die Verpflichtung?
werden – dann ist der Andere noch nicht Du. Du wirst Du für mich und ich werde Du für dich, in dem Moment, in dem wir uns bemerken und damit zugleich, in welcher Form auch immer, zu einer Antwort verpflichten. Was ist das für eine Verpflichtung? Gesellschaftliche Konventionen, Regeln der Höflichkeit, des öffentlichen Umgangs miteinander? Diese Spielregeln variieren, je nachdem wo wir uns begegnen. Wenn du nur den gleichen Spazierweg benutzt wie ich, werden wir uns nur zu einem flüchtigen Gruß verpflichtet fühlen. An einem schönen Sonntag am See sind wir Spaziergänger schon so viele, dass wir uns gar nicht mehr grüßen. Zu viele Dus lösen sich in eine anonyme Masse auf. In einem Wartezimmer gelten andere Regeln als im Zugabteil, im Seminarraum, in virtuellen Räumen. Unter diesen variierenden Spielregeln und Konventionen bleibt aber die ursprüngliche Verpflichtung zur Antwort im Kern gleich. Als eine Dringlichkeit, die für Levinas ja gerade ohne den Umweg über irgendein mehr oder minder universales Gesetz auskommt. Also auch ohne den Umweg über die Gesetze des Anstands, der Höflichkeit, des allgemein akzeptierten Miteinanders. Du bist da. Und ich werde in die Pflicht genommen. Das ist die Dissymmetrie, die Levinas so wichtig ist. Deshalb grenzt er sich auch von Bubers harmonischer Begegnung von Angesicht zu Angesicht ab. Auge in Auge heißt da auch: auf Augenhöhe. Bei Levinas aber sind wir, du und ich, im Dialog nicht gleichgestellt. Die Verpflichtung beinhaltet Diakonie, den Dienst am Anderen. Der Dialog ist eine Preisgabe, in dem ich mich dem Du zur Verfügung stelle. Ich gebe mich Preis – oder noch genauer: der Andere gibt mich ihm Preis. Ich werde zur Disposition gestellt. Meine Position wird dadurch eine andere, eine untergeordnete. Aber ich bin für dich ja auch dein Du. Ich stelle ja auch dich zur Disposition, nehme ja auch dich in die Pflicht. Herrscht also doch Gleichheit zwischen uns, sind wir doch auf Augenhöhe in der Wechselseitigkeit der Verpflichtungen? Oder entscheidet sich eine Hierarchie zwischen uns durch den Moment der Begegnung, der Wahrnehmung des anderen? Du warst als erster da, du hattest den Raum schon für dich eingenommen, du hast die älteren Rechte? Also alles eine Frage der Zeit, der Geschichte? Oder aber entscheidet sich die Hierarchie anders, ist sie das, was wir vom ersten Moment der Begegnung an offen ausfechten durch Blicke, Körperhaltung, unsere Stellung zueinander im Raum, durch Gesten, den Tonfall unserer 157 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Katharina Bauer
Stimmen, Worte? Steht an Stelle des Dialogs von vornherein ein Kampf um Anerkennung? Bei Hegel ist das ein Kampf auf Leben und Tod, aber letztlich auch nur ein Element, ›aufgehoben‹ im teleologischen System, ein notwendiger Schritt in der Kette der Bewegung eines Bewusstseinsprozesses, der sich schließlich im Staat, in der Kunst, der Religion, der Wissenschaft und der Philosophie frei und absolut vervollständigen soll. Hegel erzählt die große Erzählung der Selbstbewusstwerdung des Geistes. Seine Philosophie ist für Levinas das Paradigma einer »Philosophie des absoluten Wissens«, die jede Andersheit vereinnahmt und immer in die transzendentale Apperzeption des »ich denke« zurückkehrt – also zu Kant [7 f.]. Mit dem Rückgriff auf das Ich-Du der Dialogphilosophie will Levinas sich gegen eine solche Philosophie richten, in der der Dialog ein Selbstgespräch der Vernunft bleibt, entweder als ein innerer Monolog mit verteilten Rollen oder aber als ein Dialog zwischen verschiedenen Personen, die aber doch nur quasi-monologisch als verschiedene Träger oder Teilhaber derselben, einen Vernunft sprechen, indem sie dieselbe Vernunft zur Sprache bringen. Wenn es zwischen Personen tatsächlich Brüche, Lücken, Konflikte gibt, wenn sie nicht auf einem Standpunkt stehen – dem universalen moralischen Standpunkt, dem Standpunkt der Vernunft – dann ist es hier Ziel des Dialogs, einander zur Vernunft zu bringen. Oder letztlich: einander wieder zur Vernunft zu bringen, zu einer ursprünglichen Einheit des Denkens. Es geht dabei also letztlich nicht um die Überbrückung einer Differenz zwischen Ich und Du. Es ist vielmehr Ziel, dass Du und Ich eins werden, aufgehoben im absoluten Geist, einig im aufgeklärten Wissen, in der Vernunft, in der Menschheit. Wir sind Ich. Wir kommen im denkenden Ich überein, in der einen, allen gemeinsamen Vernunft. Wenn du mich anerkennst, ist das bei Hegel ein Sich-selbst-Erkennen des Geistes. Wenn ich dich achte, dann achte ich bei Kant die Menschheit in deiner Person, die dieselbe ist, wie die Menschheit in meiner Person. Wenn du mich verpflichtest, dann verpflichte eigentlich ich mich selbst. Wo beginnt die Verpflichtung? Wie beginnt sie? In Immanuel Kants Metaphysik der Sitten beginnt sie im Ich. Ich habe, vor allen Verpflichtungen gegenüber anderen, Pflichten gegen mich selbst. Ich verpflichte mich gegen mich selbst. Dabei sind der Verbindende und der Verbundene ein und dasselbe Subjekt, die Verbindlichkeit könnte jederzeit aufgehoben werden und die Verpflichtung gegen sich selbst erscheint deshalb erst einmal gar nicht verbindlich, sondern als ein 158 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Wo beginnt die Verpflichtung?
Widerspruch in sich. 2 Nun scheint aber ein und dasselbe Subjekt in gewisser Hinsicht bei Kant immer schon in sich selbst dialogisch aufgespalten zu sein: Ich gebe ja mir selbst autonom das Gesetz der Moral – bzw. ich als homo noumenon gebe es mir als homo phainomenon. Das heißt aber letztlich, meine Vernunft, die universale Vernunft, gibt mir in mir das moralische Gesetz. Weil ich jedoch bedauerlicherweise kein reines Vernunftwesen bin, muss ich mich selbst darauf verpflichten, das moralische Gesetz zu halten. Die erste Pflicht gegen sich selbst, Grundlage aller Pflichten, ist die Pflicht zur Selbsterkenntnis. 3 Ich muss mich selbst als Herr oder als Knecht erkennen, ich muss auch meine Schwächen kennen, um effektiv über mich selbst herrschen zu können – und um besser zu werden. Selbstvervollkommnung (primär die moralische, aber auch die meiner natürlichen Anlagen), ist bei Kant eine Pflicht gegen sich selbst. »Ich bin mir das selbst schuldig.« 4 Aber die quasi dialogische Struktur in mir selbst bleibt hier letztlich monologisch – ich selbst spreche oder denke mit verteilten Rollen. Wie in Kants Darstellung des Gewissens, in der die Person ihr eigener Richter und zugleich Beschuldigter ist. Der Gerichtshof ist hier eben ein innerer Gerichtshof, es geht um mein Urteil über mich selbst. Die Stimme des Gewissenes ist gerade nicht die Stimme des Anderen. Wer sich nun wiederum selbst etwas schuldig ist, ist wohl eher als Richter und Beschuldigter, Gläubiger und Schuldner in einer Person. Geht Kant von einer Art metaphysischen Voraussetzung der ›Selbstverschuldung‹ aus? Hat er einen kopernikanisch gewendeten Satz des Anaximander im Sinn? Oder greift er einfach nur eine Formel auf, die in unserem Alltagsverständnis etabliert ist, weil er sich bewusst ist, dass seine Theorie einer Pflicht gegen sich selbst nicht ganz einfach und widerstandslos zu denken ist? 5 ›Bin ich mir das schuldig‹ im Sinne des Ausgleich eines Verlusts oder der Rückzahlung eines Kredits? Gilt dies erst, wenn ich mir durch amoralisches Handeln etwas habe zu Schulden kommen lassen? Oder ist der homo noumenon immer schon Gläubiger gegenüber dem homo phainomenon als Schuldner? Wie nach einem Sündenfall? Vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften. Bd. VI, Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1914, 417. 3 Vgl. ebd., 441. 4 Ebd., 418 (Fußnote). 5 Vgl. J. Timmermann, »Kantian duties to the self, explained and defended«, in: Philosophy 81, Nr. 3, (2006), 505–530, hier: 526. 2
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Eine Verschuldung durch amoralisches Handeln jedenfalls führt nach Kant zu einer Schwächung der Persönlichkeit, wie bei einem »Mangel der Gesundheit, die im Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des Menschen besteht«. 6 Es ist ein gesundes Gleichgewicht zwischen Vernunft- und Sinnenwesen (wieder)herzustellen. Kant stellt sich zwischen dem einzelnen Menschen als Vernunft- und als Sinnenwesen keine substantielle Spaltung vor, keinen Leib-SeeleDualismus. Es geht kopernikanisch gewendet darum, dass ein und derselbe Mensch sich in zwei verschiedenen Bedeutungen betrachtet. 7 Prinzipiell geht es hier wie bei Hegel eindeutig um eine Selbstverständigung. Unter der Voraussetzung einer Tendenz »zur integrierten Verständigung« 8 ist die Vorstellung, dass ich (als homo noumenon) mich selbst (als homo phainomenon) verpflichte und damit zwischen meinem Selbstverständnis als intelligiblem und als sinnlichem Wesen vermittle, entscheidend dafür, dass ich mich als ein ›vollständiges Selbst‹ verstehen kann. Für Dieter Henrich geht es in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ganz entschieden um den Versuch einer Selbstaufklärung, beziehungsweise darum, »daß der Mensch aufgrund der Annahme sittlicher Grundsätze in die umfassendste Verständigung über sich selber eintritt, die ihm überhaupt möglich ist« (ebd.). 9 Die reale Vermittlung zwischen den beiden Welten erfolgt laut Henrich im Sollen, also dadurch, dass ich mir selbst einen Imperativ gebe und mir als Pflicht auferlege, was ich als reines Vernunftwesen immer schon wollen und tun würde. Diese Vermittlung durch die Selbst-Verpflichtung ermöglicht es dem Bürger beider Welten, sich selbst als Einheit zu denken. Ich verpflichte mich also selbst, um mich mit mir selbst über mich selbst zu verständigen und mich als Einheit zu verstehen. Stärker als in dieser Interpretation Kants könnte die Selbstbezüglichkeit kaum sein. Aber was ist mit dir? Was ist mit meinen Pflichten gegenüber anderen? Interessant ist hier, warum Kant die Idee der Pflichten gegen sich selbst gegen mögliche Einwände verteidigt: Es muss die Pflichten gegen sich selbst gerade deshalb geben, weil es sonst auch Kant, Metaphysik der Sitten, 384. Ebd., 418. 8 D. Henrich, »Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnitts von Kants ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹«, in: A. Schwan (Hg.), Denken im Schatten des Nihilismus, Festschrift für W. Weischedel, Darmstadt 1975, 55–112. 9 Ebd., 103. 6 7
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Wo beginnt die Verpflichtung?
keine äußeren Pflichten gäbe: »Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde.« 10 Als Grundlage gilt also: Ich verbinde mich selbst. Ich bin mir das schuldig. Hier scheint es auch bei Kant plötzlich eine Dringlichkeit zu geben, eine Unmittelbarkeit der Verpflichtung, die vor dem Umweg über das universale Gesetz vorauszusetzen ist. Der Clou der Idee, die Selbstverpflichtung als Bedingung jeder Verpflichtung gegen andere zu denken, liegt dabei aber in der Abkopplung des Kerns aller moralischen Verpflichtungen von kontingenten sozialen Strukturen und empirischen Bedingungen. Und genau das ist wiederum auch das Anliegen, das Kant mit der Formalisierung und Universalisierung seiner Moralphilosophie verfolgt. Deshalb braucht er letztlich den Umweg. Vor diesem Umweg ist es aber ganz unmittelbar jede Person sich selbst und keiner äußeren – sozialen oder transzendenten – Instanz schuldig, danach zu streben, möglichst moralisch und möglichst vollkommen zu werden, um ihrem Selbstzweck als Person zu entsprechen und ihre eigene Würde zu realisieren. 11 Ich muss das allein aus mir selbst heraus, für mich selbst. Das heißt auch, keine andere Person hat ein korrespondierendes Recht oder eine Befugnis die Erfüllung dieser Pflicht zu erzwingen. Das heißt auch: ich muss mich von dir nicht zum Diener machen lassen – auch nicht aus deinem ethischen Anspruch heraus, bzw. um gut zu werden. Kein Paternalismus, keine Zwangsdiakonie. »Werdet nicht der Menschen Knechte.« 12 Kant wettert gegen die Kriecherei, das Buckeln und Schmiegen 13, dagegen also, sich klein zu machen und Autoritäten unterzuordnen, auch wenn man daraus einen Vorteil gewinnen kann. Es ist eine Pflicht gegen sich selbst, sich gegenüber dem anderen nicht zum Wurm zu machen. Das schließt freiwilliges Dienen nicht aus. Kants Diener Lampe war bekanntlich eine wichtige Figur in seinem Leben. Ich kann dir dienen, ich kann mich dir preisgeben, hingeben, zur Disposition stellen. Aber bevor ich dir dabei zu irgendetwas verpflichtet bin, bin ich mir selbst gegenüber verpflichtet. Mir selbst als Person. Kant, Metaphysik der Sitten, 417. Eine erweiterte Interpretation der Pflichten gegen sich selbst bei Kant legt Robert Johnson vor, der betont, dass es hierbei nicht ausschließlich um die moralische Vervollkommnung geht, sondern auch um eine Selbstkultivierung im weiteren Sinne. Vgl. R. Johnson, Self-Improvement: An Essay in Kantian Ethics, Oxford 2011. 12 Kant, Metaphysik der Sitten, 436. 13 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 434–437. 10 11
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Was hast du davon? Wenn jede Verpflichtung gegen andere im Kern eine Selbstverpflichtung voraussetzt, dann ist dadurch gewährleistet, dass moralische Verpflichtungen auch dort bestehen und erfüllt werden, wo andere Personen nicht in der Lage sind, selbst aktiv Verpflichtungen auszusprechen, Forderungen zu stellen und Verbindlichkeiten zu sichern. Ich muss auch auf einer einsamen Insel meine Pflichten gegen mich selbst erfüllen, darf auch dort mein eigenes Personsein, meine eigene Menschlichkeit nicht aufs Spiel setzen. Auch dort bleibe ich an mich selbst gebunden, um mich nicht gehen zu lassen. Was aber wichtiger ist für dich: auch dort, wo wir uns nie begegnen, wo du den Raum schon lange verlassen oder längst noch nicht betreten hast, wo du der Fernste und nicht der Nächste bist, bin ich verpflichtet. Mir selbst gegenüber. Und erst dadurch bin ich laut Kant in der Lage, meine Verpflichtung dir gegenüber als eine Verpflichtung zu erkennen, die für mich selbst gilt. Die Formel ›Das bist Du Dir selbst schuldig, tu es für Dich!‹ ist stark motivierend. Mit dem ›für dich‹ kann für Kant als Motivation zur Ausrichtung auf Moralität durchaus das »liebe Selbst« angesprochen werden, das nach Selbstzufriedenheit strebt und demgegenüber eigentlich zumeist »Selbstverleugnung« verlangt ist, um seine Pflichten zu erfüllen. 14 Diese Methodik einer Motivierung zur Moral, schlägt er vor, wo immer es ihm um die konkrete Erziehung zur Moralität geht, in der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft, in seinen Schriften zur Anthropologie und zur Pädagogik. Als moralisches Motiv des Handelns aus Pflicht ist aber wieder nur ein Bezug darauf zulässig, es für die Menschheit in einer Person zu tun – sei es nun meine oder deine Person. Egal, ob ich mir selbst oder dir gegenüber verpflichtet bin, – ich bin bei Kant letztlich eben doch wieder der Vernunft an sich verpflichtet. Zur Vernunft verpflichtet. Man kann aber durchaus behaupten, dass in Kants Idee der Pflichten gegen sich selbst eine gewisse Rätselhaftigkeit bestehen bleibt, die derjenigen des Anderen bei Levinas entspricht. 15 Ich bin verpflichtet – mir selbst gegenüber. Ich kann mir nicht selbst gegenüber sein ohne jede Idee des Gegenübers. Mit Barbara Herman ist der Kern aller I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften. Bd. IV. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1911, 407. 15 Vgl. D. Gates, »The Fact of Reason and the Face of the Other: Autonomy, Constraint, and Rational Agency in Kant and Levinas«, in: Southern Journal of Philosophy 40, Nr. 4 (2002), 493–522. 14
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Formulierungen des Kategorischen Imperativs letztlich eine Anerkennung der Verletzlichkeit (vulnerability) des Anderen. 16 Und diese Verletzlichkeit des Anderen ist es ja letztlich auch für Levinas, die mich in die Pflicht nimmt. Vorausgesetzt ist für Herman entsprechend, dass das, was ich mit Kant nicht wollen und denken kann, und was daher dem Testverfahren des kategorischen Imperativs nicht standhält, eine Welt ist, in der jeder den anderen töten oder verletzen würde. 17 Vorausgesetzt wird damit, so D. Gates, letztlich doch eine Art von Externalität: »So when Kant speaks of the moral law coming from within the subject, it does not come from within the subject in the sense that one could originate it without the existence of other people or in isolation from the conditions of human vulnerability.« 18 Ich kann mir nicht selbst gegenüber sein ohne jede Idee des Gegenübers, also des anderen – also der Transzendenz gegenüber meiner Immanenz. Aber kann nicht auch meine, unsere Vernunft dieses Andere sein? Vor eben diesem Anderen muss ich mich bei Kant genauso respektvoll verneigen wie gegenüber Levinas’ Anderem. Das moralische Gesetz gebietet über mich, verlangt mir Achtung ab, demütigt mich in meiner Selbstliebe. Es ist mein Gesetz, aber es ist zugleich etwas in mir, was mich staunen lässt. Ebenso wie der bestirnte Himmel über mir. Die Ferne. Das Fremde. Fremde Vernunft? »Man kann nach Kant von der Vernunft nicht Aufklärung erwarten«, so Josef Simon, »und zugleich bestimmen wollen, wie sie ausfallen soll«. 19 Muss die Vernunft deshalb also fremd bleiben, um Abstand zu halten, um ihre Position als höhere Instanz zu bewahren? In Kant: Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie geht Simon davon aus, dass sich Kant bei allem Streben nach einem allgemeinen Standpunkt ganz darüber klar ist, dass wir – du und ich, wir alle – auf einzelnen, unterschiedlichen Standpunkten stehen. Jeder Mensch »soll bedenken, dass er der andere der anderen ist und keinen übergeordneten Standpunkt hat«. 20 Die fremde Vernunft bleibt letztlich Prüfstein für das eigene Denken, damit es kritisch bleibt, sich selbst (aus der Perspektive des anderen) hinterfragt und Gates bezieht sich auf B. Herman, The practice of moral judgment, Cambridge 1993. 17 Vgl. Gates, »The Fact of Reason and the Face of the Other«, 510. 18 Vgl. Ebd., 512. 19 J. Simon, Kant: Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin, New York, 2003, VII. 20 Ebd. 16
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nicht einfach auf einem festen Standpunkt zur Ruhe kommt. Und es wäre ja auch nicht so wesentlich, auf den moralischen Standpunkt hinzuweisen, wenn jeder von uns bereits selbstverständlich – und sich selbst als Träger der Vernunft in seinen Urteilen und Motiven ganz durchsichtig und verständlich – von vornherein auf diesem Standpunkt stehen würde. »Durch die große Verschiedenheit der Köpfe, in der Art wie sie eben dieselben Gegenstände, imgleichen sich untereinander ansehen, durch das Reiben derselben aneinander und die Verbindung derselben sowohl als ihre Trennung bewirkt die Natur ein sehenswürdiges Schauspiel auf der Bühne der Beobachter und Denker von unendlich verschiedener Art.« 21 In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in der Kant dieses Schauspiel der Verschiedenheit der Köpfe beschreibt, stellt er folgende Maximen für das Denken auf: »1) Selbst denken 2) Sich (in der Mittheilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken 3) Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken«. 22 Ja, da ist letztlich als Zielpunkt wieder die Einstimmigkeit als monologisches Prinzip des Denkens. Da nun aber Kants Schriften selbst auch »Mittheilung mit Menschen« sind, da er sie uns als ihren Lesern überlässt, sie unserem Urteil überlässt, unserer kritischen Überprüfung, eröffnet sich ein geteilter Raum, in dem ich verpflichtet bin zur sorgfältigen Beantwortung der Gedanken des Anderen (also Kants), aber auch frei, kritisch weiterzudenken. Und so können wir im Dialog zum großen Schauspiel der Reibungen und Auseinandersetzungen zwischen »der Verschiedenheit der Köpfe« der Denker beitragen – ich und du, im direkten Gespräch, aber auch als Schreibende und Lesende. Wo beginnt die Verpflichtung? Wie beginnt sie? Kommen wir noch einmal zurück zum Beginn der Verpflichtung in Levinas’ Text über den Dialog: zum Ich-Du. Zwischen Ich und Du steht hier ein Gedankenstrich. Vielleicht bietet er die Möglichkeit, darauf gedanklich hin- und her zu balancieren, sich zwischen den Standpunkten von Ich und Du hin- und her zu bewegen, ohne den anderen von seinem Platz zu verdrängen oder zu seinem Stellvertreter zu werden. Es ist ein Bindestrich, der auch ein Trennungsstrich ist. In der Sprache wird I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kant’s Gesammelte Schriften. Bd. VII. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907, 227. 22 Ebd. 21
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der Unterschied zwischen Ich und Du bzw. anderem Ich festgehalten. In der Praxis des Dialogs spreche ich mich als Ich aus und dich als Du an und umgekehrt. Bei Paul Ricœur heißt es entsprechend im Hinblick auf ein Prinzip der »Unvertretbarkeit« von Personen, dieses werde »in der Praxis der Rede vorausgesetzt […] mit Bezug auf die Verankerung des jeweils gebrauchten ›Ich‹. Diese Verankerung bewirkt, daß ich meinen Ort nicht verlasse und den Unterschied zwischen hier und dort nicht abschaffe, selbst wenn ich mich in Phantasie und Sympathie an die Stelle des anderen versetze.« 23 Wir können uns jeweils selbst und gegenseitig in verschiedenen Bedeutungen betrachten – als homo noumenon als homo pheinomenon; als Ich als Du; als Wir; auf Augenhöhe oder eben nicht. Auch in der Ungleichheit bleibt dabei die Chance zu einer Gleichheit, die nicht Vereinnahmung ist und auch nicht einfach nur Spiegelbildlichkeit – die Gleichheit auf der Ebene der Rechte und Pflichten. Deshalb braucht es nicht nur die Ethik und auch nicht nur die Moral und auch nicht ›nur‹ die Idee des Guten, sondern auch die Sphäre des Rechts, der Gerechtigkeit und damit den weiten Umweg über die Verallgemeinerung. Diese Sphäre beginnt bei Kant mit dem ursprünglichen Mein und Dein. Sie beginnt mit einer sprachlichen Benennung, einer Unterscheidung zwischen mir und dir, die nicht eine Unterscheidung zwischen Ich und Du ist, sondern eine Unterscheidung, zwischen dem, was wir besitzen bzw. beanspruchen – mein Platz im Raum, dein Platz im Raum, mein Stück Land, dein Stück Land. Bei Levinas kommt das Gesetz erst dort ins Spiel, wo über die unmittelbare Beziehung des Ich und Du hinaus der Dritte mitgedacht wird, der im Dialog nicht selbst zu Wort kommt. Bei Kant ist wiederum jedes einzelne Ich und Du von vornherein als Bürger mit bürgerlichen Rechten und Pflichten gedacht, sogar als Weltbürger. Wo beginnt die Verpflichtung? Mit einer Pflicht gegenüber mir selbst – aber ohne die Transzendenz der Vernunft an sich? Oder doch mit dem Bezug auf die Vernunft als Anderem, aber vor dem Umweg über das universale Gesetz? Und ohne Levinas’ Umweg über das Wort Gott? Oder mit einer Pflicht gegenüber dir selbst – aber nicht als Unterwerfung, sondern in einer Gleichheit dahingehend, dass auch du mir gegenüber, aber auch dir selbst gegenüber verpflichtet bist?
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P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 235.
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Halten wir, ausgehend von Levinas’ Text über den Dialog, in einem freien Dialog der Grundgedanken von Levinas und Kant folgendes fest (bzw. ich halte es fest, ohne dich, meinen Leser, im klassischen Duktus des Wir zu vereinnahmen): 1. Die ethische Verpflichtung beginnt weder allein mit dem Ich noch allein mit dem Du, sondern mit dem Ich-Du, mit der Beziehung: »Die Beziehung, in der das Ich dem Du begegnet, ist der ursprüngliche Ort und Umstand der Ankunft [avènement] des Ethischen« [29]. Ich bin von dir aufgerufen zu einer Antwort. Ich erkenne in dir unmittelbar das Gute, oder werde von dir auf das Gute bezogen: »Das Konkrete des Guten«, so Levinas, »ist dieses Wert-Sein des anderen Menschen« (ebd.). Ich erweise dir meine Wertschätzung dadurch, dass ich dir antworte, mich von dir zu einer Antwort verpflichtet fühle. Ich werde von mir aus meinem Standpunkt herausgerufen – DisPosition. Du bist meine fremde Vernunft. Ich denke an deiner Stelle, denke mich an deine Stelle, wann immer ich mich mitteile. Ich denke in einer mein ›Ich-denke‹ transzendierenden transzendentalen Apperzeption aber zugleich in jedem Gedanken mit, dass dein Denken ein anderes ist und bleibt als mein Denken. 2. Die moralische Verpflichtung beginnt mit dem Ich-gegenüberMir: Ich bin es mir schuldig, mich an mein moralisches Gesetz zu halten und mich daran zu binden, mich gegenüber deinem Wert-Sein angemessen zu verhalten – bzw. gegenüber deiner ebenso wie gegenüber meiner unverrechenbaren Würde. Ich bin es mir selbst schuldig, und keinem anderen, nach meiner eigenen Vollkommenheit zu streben und meiner eigenen Würde als Person gerecht zu werden. Ich bin es mir schuldig, mit mir selbst einstimmig zu denken. Ich rufe mich selbst zur Vernunft und damit auf den allgemeinen Standpunkt der Vernunft, der wiederum auch dein Standpunkt sein kann, unser gemeinsamer Standpunkt. Der Standpunkt, von dem aus wir in der Lage sind, zu verallgemeinern, Umwege zu gehen über Gesetze, Spielregeln, die festlegen, dass wir einander – ebenso wie alle anderen Anderen – respektieren, anstatt in jeder Begegnung unsere Standpunkte neu auszufechten. 3. Die rechtliche Verpflichtung beginnt mit dem Mein und Dein. Wir trennen unsere Bereiche. Mag sein, du enteignest mich, indem du mich aus meinem Eigenen, meinem Ich-Bezug herausrufst. Aber ich werde nicht dein Eigentum und ich kann mir umgekehrt dich und deinen Standpunkt niemals ganz aneignen. Wir erkennen die Grenzen der Spielräume der Freiheit des jeweils anderen an. Und ver166 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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pflichtet sind wir hierin eben nicht unmittelbar einander gegenüber, sondern gegenüber dem Gesetz, vor dem wir gleich sind. Als freie und gleiche Bürger. 24 Wir verhalten uns zueinander, indem wir uns zu etwas verhalten – zu dem, was wir besitzen, zu dem was wir für einen Preis verkaufen, oder zum Gesetzestext. Levinas richtet sich gegen die Idee, dass der Dialog »dazu bestimmt ist, der Gewalt dadurch Einhalt zu gebieten, dass er die Gesprächsteilnehmer wieder zur Vernunft bringt und Frieden in Einstimmigkeit [unanimité] stiftet« [14]. Genau das ist nun aber nicht primär Aufgabe des Dialogs, sondern des monologischen Gesetzestextes. In dieser Festschreibung kommt die Debatte zur Ruhe, ohne dass dadurch wiederum die Fortsetzung und Offenheit des Dialogs unwiderruflich aufgehoben würde. Der Gesetzestext ist nicht unveränderlich. Er braucht die Kritik, die Debatte, den Disput über seine Auslegung und Veränderung. Das äußere Mein und Dein, als Ausgangspunkt der rechtlichen Verpflichtung, das ist nun aber doch die possessive Ebene von »Besitz, Genuss und Befriedigung« [6], die Levinas gerade überwinden will. Er bezieht sich in dieser Kritik hier jedoch auf das Denken als Aneignung, nicht auf das Handeln. Letztlich ist es das Kernziel seines Texts über den Dialog »ahnen zu lassen, dass der Dialog im Gegensatz zum Wissen und im Gegensatz zu gewissen Ausführungen von Philosophen des Dialogs, ein Denken des Ungleichen [inégal] ist, ein Denken, das über das Gegebene hinausdenkt« [37]. Das Hinausgehen über das Gegebene lässt sich mit Kant vereinbaren, insofern seine praktische Philosophie ja gerade über das empirisch Gegebene hinausdenken und sich davon frei machen will. Es geht Levinas darum, »die Modalität zu zeigen, wie im Dialog oder besser in der Ethik des Dialogs – in meiner Diakonie angesichts des anderen – ich mehr denke, als ich begreifen kann, die Modalität, wie das Unbegreifliche Sinn bekommt; oder wie man es noch ausdrücken kann: die Modalität, wie ich mehr denke, als ich denke« (ebd.). Diese Stelle erinnert interessanterweise sehr an den letzten Satz der Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten: »Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreiEntsprechend hält Paul Ricœur folgende Unterscheidung zwischen einer interpersonalen Ordnung der Fürsorge und einer Ordnung der Gerechtigkeit nach dem Prinzip der Gleichheit fest: »Die Fürsorge gibt dem Selbst einen Anderen zum Gegenüber, der ein Angesicht ist – in dem starken Sinne, den Emmanuel Levinas uns gelehrt hat, ihm zuzuerkennen. Die Gleichheit gibt ihm einen Anderen zum Gegenüber, der ein Jeder ist«. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 246.
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fen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann.« 25 Auch bei Kant bleibt hier bei aller Systematik und Rationalität eine wesentliche Unbegreiflichkeit bestehen. Aber ein Denken des Ungleichen ist Kants Denken jedenfalls nicht in einer bestimmten Hinsicht, die mir ganz wesentlich scheint für Levinas – nämlich im Hinblick auf die Andersheit des Anderen. Der Andere bei Levinas – das ist einerseits eine Abstraktion, eine Idee, fast wie Kants Menschheit. Aber die ethische Beziehung bleibt doch immer gebunden an den ganz konkreten Anderen, an sein Gesicht, seinen Blick, seine individuelle Persönlichkeit, an die Erfahrung seines Wert-Seins. Mit dem Rückgriff auf das Ich und das Du des Dialogs und der Begegnung lässt sich dieser Aspekt der ethischen Beziehung in einem Sinne stark machen, der in Levinas’ Denken des Anderen manchmal verloren zu gehen droht, wenn der abstrakte Andere doch wieder eine Universalität beziehungsweise Totalität verkörpert: Ich und Du, wir sind nicht gleich, nicht nur wegen einer gewissen Gewaltsamkeit der Verpflichtung, nicht nur im Sinne ungleicher Ebenen, sondern auch im Sinne unserer Unterschiedlichkeit – weil wir einzigartige, unverwechselbare Individuen bleiben. Kants Philosophie lässt durchaus Raum dafür offen, diese Individualität mitzudenken – die dann aber wieder das empirisch Gegebene ist –, sie möchte gewährleisten, dem Einzelnen Freiheitsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten offen zu halten, gerade durch die Gleichheit vor dem juridischen und moralischen Gesetz. Aber Kant beginnt eben nicht explizit mit dem konkreten »Wert-Sein des anderen Menschen« (s. o.), nicht mit der Würde der einzelnen Person oder des einzelnen, unvergleichlichen, verletzbaren Menschen. Er geht davon aus, dass es letztlich nur einen einzigen Träger der Würde gibt: »Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.« 26 Die Würde gilt ebenso wie das Gefühl der Achtung bei Kant dem moralischen Gesetz, kommt aber davon ausgehend auch der Person als moralischem Selbstgesetzgeber zu sowie als demjenigen, der quasi die Aufgabe übernimmt, das Gesetz zu achten. Es gibt viele Ansätze, Kant und Levinas in einen Dialog zu bringen. Und dieser Dialog ist äußerst produktiv – aber meines Erachtens 25 26
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 463. Ebd.
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gerade dann, wenn man die Unterschiede zwischen beiden nicht vollständig verdeckt. Man kann eine Parallele ziehen zwischen einer Passivität gegenüber dem moralischen Gesetz und dem Faktum der Vernunft bei Kant und der Passivität gegenüber dem Anderen bei Levinas. Man kann zeigen, dass bei beiden letztlich ein Wechselspiel zwischen Nötigung und Freiheit wesentlich ist, dass man gerade indem man durch das moralische Gesetz / den Anderen genötigt und gezwungen wird, seine eigene Freiheit und Subjektivität im moralischen / ethischen Handeln realisieren kann. Es muss auch bei Levinas davon ausgegangen werden, dass das Ich die Verpflichtung bzw. Verantwortung übernehmen und auf sich selbst beziehen muss. Und auch Levinas strebt letztlich nach einer Ethik der Vernunft, wenn auch nach einer neu und revidiert gedachten Vernunft. 27 Ist der wesentliche Unterschied zwischen Levinas und Kant nur ein Unterschied der Abfolge – eine Frage danach, ob zuerst die Henne oder das Ei kommt? Was kommt zuerst, meine Verpflichtung durch dich oder meine Verpflichtung gegenüber mir selbst? Hier lässt gerade Levinas’ Text über den Dialog Raum dafür, von vornherein von einem Ich-Du auszugehen und nicht nur vom Du. In der Beziehung ereignet sich die Ankunft des Ethischen, zwischen Du und Ich. Liegt der wesentliche Unterschied darin, entweder mit Kant vom allen Personen Gemeinsamen auszugehen (der Menschheit in der Person, der Vernunft) oder mit Levinas von der Ungleichheit im Sinne einer unaufhebbaren Andersheit des Anderen? Oder hebt sich diese Ungleichheit aller Anderen letztlich auch wieder auf in eine Gleichheit die darin besteht, dass eben jeder einzelne Mensch dem anderen Menschen gegenüber anders ist – in eine Gleichheit der Differenz? Und geht es im Moment der Verpflichtung in der Begegnung zwischen Ich und Du dann nicht wieder gerade darum, dass Du mich nicht als unverwechselbares, individuelles Du auf Deine spezifische Weise verpflichtest, sondern als Vertreter aller potentiellen Anderen? Es ist schwierig den Status des Anderen bei Levinas genau zu erfassen. Wie konkret geht es ihm tatsächlich um das Du, um die lebendige Begegnung mit dem einzelnen anderen Menschen? Oder ist letztlich
All diese Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Levinas verdeutlicht Darin Gates (s. o.), der letztlich aber meines Erachtens den dennoch bestehenden Unterschieden zwischen beiden Denkern nicht gerecht wird. Ein differenzierterer, breit angelegter Vergleich findet sich hier: C. Chalier, What Ought I to Do?: Morality in Kant and Levinas, Ithaca 2002.
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doch der unendlich(e) Andere entscheidend? Sollte primär eine Beziehung auf einer horizontalen Ebene zwischen Gleichen unter Gleichen eine wechselseitige Verpflichtung hervorbringen, dann wird es, wie oben ersichtlich geworden sein sollte, schwierig, die Gewaltsamkeit zu erklären, die Unterwerfung, die Diakonie, die Levinas hervorhebt. Er scheint aber letztlich eben auch nicht nur eine vertikale Beziehung zum Anderen zu meinen, zu »Gott[, der] ins Denken einfällt«, denn es geht ja ganz wesentlich um die ethische Beziehung, um den »Humanismus des anderen Menschen«. 28 In Bezug auf das Anliegen des Humanismus wünscht sich Levinas übrigens, man könne »von einem philosophischen System einen bestimmten Zug zurückbehalten«, ohne die ganze Architektur des Systems kaufen zu müssen. Er würde dann von Kant die Idee bewahren, »einen Sinn für das Menschliche zu finden, ohne es durch die Ontologie zu messen, ohne zu wissen und ohne sich zu fragen ›was ist damit‹ ?«, denn dies sei vielleicht die entscheidende »kopernikanische Revolution«. 29 In der folgenden Passage beschreibt Levinas »das Ich, das zu sich selbst zurückgekommen ist« vom Begriff der Verantwortung her als »verantwortlich für den Anderen […] das heißt Stellvertreter für alle infolge seiner Unaustauschbarkeit selbst – Geisel für alle anderen, die genau als andere nicht zur selben Gattung wie das Ich gehören, da ich für sie verantwortlich bin, ohne mich um ihre Verantwortung für mich zu kümmern, denn sogar für diese Verantwortung bin ich letztlich und von Anfang an verantwortlich«. 30 Das Ich ist radikal verantwortlich, es ist unaustauschbar, aber gleichzeitig doch nur Geisel und Stellvertreter für alle anderen, die sich vom Ich aufgrund ihres Andersseins so grundlegend unterscheiden, dass sie nicht einmal derselben Gattung zugehören. Die gemeinsame Einordung unter den Gattungsbegriff der Menschheit würde den Unterschied zwischen Ich und Anderem nivellieren. Ausgehend von der vorigen Aussage über Kant müsste man aber wohl eigentlich genauer sagen, dass keine Seinsaussage über die Gattung getroffen werden sollte. Es geht nicht darum zu sagen, »Du bist auch ein Ich stelle hier beispielhaft zwei Buchtitel deutscher Levinas’-Ausgaben einander gegenüber, die dieses Spannungsverhältnis in seinem Denken gut illustrieren: E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 1999; ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989. 29 Levinas, Humansimus des anderen Menschen, 82. 30 Ebd., 82 f. 28
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Wo beginnt die Verpflichtung?
Mensch« oder »der Andere ist ein Exemplar der Gattung Mensch«. Es geht aber weiterhin darum, einen gemeinsamen Sinn für das Menschliche zu finden. Ich bin für alle anderen verantwortlich, ohne Unterschied, und ich bin sogar noch für ihre Verantwortung mir gegenüber verantwortlich. Liegt dann nicht doch die Verantwortung, die Verpflichtung von Anfang an in mir selbst? Man könnte dann, in den Worten Ricœurs, Levinas ebenso wie Kant zuschreiben, »das Aufgefordertsein als Struktur der Selbstheit« zu verstehen – sei es als Verpflichtung oder als Verantwortung. 31 Ricœur betont allerdings zurecht die Bedeutung der »Exteriorität des Anderen« bei Levinas und damit die Idee »daß der Andere der Weg ist, den die Aufforderung unbedingt zu durchlaufen hat«. 32 Aber wenn Du als der Andere nicht zur selben Gattung gehörst wie ich, wenn Du nur der Weg bist, den mein Aufgefordertsein zu durchlaufen hat – ein notwendiger Umweg, wie der kantische Umweg über die Formalisierung und Universalisierung – bist Du dann nicht auch Deiner Individualität beraubt? Wäre es nicht besser, sich von vornherein auf einem gemeinsamen Weg zu verstehen, auf einem Weg zum Menschlichen? Der Andere ist für Levinas derjenige, der »nicht auf das Individuum einer Gattung, auf das Individuum der Gattung Mensch reduzierbar ist«. 33 Das Individuum einer Gattung zu sein wäre also eine unangemessene Reduktion. Der Andere soll nicht zum Thema gemacht werden, auch nicht zum Thema der Gerechtigkeit, selbst wenn ihm diese zugutekäme, damit er nicht seiner Einmaligkeit beraubt wird. 34 Er soll also als einmaliges Individuum verstanden werden. Du sollst einmalig und anders bleiben. Du darfst deshalb in keiner Weise mit mir gleichgesetzt werden. Das heißt nun aber umgekehrt, dass ich selbst zu deinem Stellvertreter, sogar zu deiner Geisel werde. Was ist also mit meiner Einmaligkeit? Und gleichzeitig bin ich so sehr für dich verantwortlich, dir antwortend, dass man behaupten könnte, dass deine ursprüngliche Ansprache, Aufforderung oder Frage, auf die ich antworten muss, nur noch zu einem notwendigen Umweg wird, damit meine Verantwortung und Verpflichtung beginnt. Wirft man Kant eine Reduktion der individuellen Persönlichkeit
Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, 425. Ricœur stellt an dieser Stelle Levinas allerdings nicht Kant gegenüber, sondern Heideggers Verständnis des Gewissens. 32 Ebd., 426. 33 Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt, 35. 34 Vgl. ebd., 36. 31
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Katharina Bauer
auf den abstrakten Begriff der Person vor, auf das Exemplar der Gattung Mensch, auf einen Teilhaber an der universalen Vernunft, dann kann man auch Levinas letztlich vorwerfen, dass bei ihm eine ähnlich reduzierende Universalisierung und Abstrahierung des Anderen droht. Der Andere an sich ist die Aufforderung zu derjenigen Verantwortung, die ich selbst immer schon habe, gegenüber allen Anderen und allem Anderen: »ich bin der Mensch, der das Universum trägt«. 35 Was Levinas hier bewegt, Kant zur Hilfe zu rufen, im Hinweis auf den Sinn für das Menschliche, ist ein Einwand gegen den Anti-Humanismus. Dieser habe zwar recht darin, »wenn er für den als Individuum einer Gattung oder einer ontologischen Region begriffenen Menschen […] kein Privileg findet, das ihn zum Zweck der Wirklichkeit machen würde«. 36 Was dem Anti-Humanismus aber entgeht, ist letztlich der Sinn für die menschliche Verantwortung, die allem vorausgeht und die für Levinas wohl den Sinn des Menschlichen ausmacht. Und auch wenn bei Kant die Person Zweck an sich selbst ist, könnte man Levinas in seinem Ringen mit der kantischen Gesamtarchitektur und mit Humanismus oder Anti-Humanismus hier zur Hilfe eilen, denn das heißt ausgehend von der kopernikanischen Wende ja gerade nicht, dass er, der Mensch, damit Zweck der gesamten Wirklichkeit wäre. Das kantische denkende Ich ist nicht Nabel der Welt an sich, sondern lediglich gebunden an den Standpunkt seines eigenen Denkens, an die Zentralperspektive seiner Erkenntnis – aber eben im Hinblick auf die Situierung gegenüber anderen Personen in den Sphären von Moral und Recht auch fähig den eigenen Standpunkt auf die Perspektiven anderer und den moralischen Standpunkt hin zu überschreiten. Um aber dies zu durchdenken wird bei Kant das Empirische und damit auch jede konkrete Erfahrung der Begegnung und des Wert-Seins jenseits der universalen Würde der Vernunft ausgeblendet. Aber was ist nun mit den beiden einzigartigen und füreinander anderen Individuen, die sich jeweils als Ich und Du begegnen, als Menschen, die aufeinander antworten und sich wechselseitig einander gegenüber verpflichten? Als Ich und Du begegnen wir uns von Angesicht zu Angesicht, sehen einander aus deiner Sicht und meiner Sicht, in die wir uns wechselseitig hineinversetzen können, ohne zu vergessen, dass ich mich letztlich nicht mit deinen Augen sehen kann; 35 36
Levinas, Humanismus des anderen Menschen, 83. Ebd., 81.
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Wo beginnt die Verpflichtung?
und auch du kannst weder dich selbst noch mich mit meinen Augen sehen. Du bleibst mein anderer, ich bleibe dein anderer. Darauf weist Levinas eindrücklich hin. Denken lässt sich ausgehend vom Dialog zwischen Levinas und Kant aber durchaus als eine Wechselbewegung zu begreifen, in der wir uns einerseits gegenseitig aus unseren eigenen Positionen herausrufen (auf der Eben der Ethik) und andererseits durchaus versuchen, uns selbst immer wieder zurück zur Vernunft zu bringen (auf den Ebenen der Moral), um zu einem gemeinsamen Standpunkt der Gleichheit zu gelangen (auf der Ebene des Rechts), auf dem wir aber nicht stehenbleiben müssen, als eins, als Ich. Wir können uns auch hier wieder in verschiedenen Bedeutungen betrachten, indem wir das sehen, was wir gemeinsam haben – das Menschliche –, und das, worin wir füreinander anders bleiben, um die Exteriorität dieses Anderen nicht in unsere eigene Immanenz hineinzuzwingen. »Erst im Dialog der Transzendenz erhebt sich die Idee des Guten einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass in der Begegnung der andere vor allem anderen zählt« [29]. Er zählt in dieser Begegnung. Du zählst für mich und ich zähle für dich, vor allem anderen, vor jeder Formalisierung, die, so Levinas, »die Unentscheidbarkeit des Wert-Seins in gleicher Entfernung zwischen Gut und Böse« erscheinen lässt, während »in der Geltung des anderen Menschen selbst […] das Gute älter als das Böse« ist (ebd.). Auch die erstaunliche Fähigkeit, sich ein moralisches und ein rechtliches Gesetz zu geben, sich Pflichten aufzuerlegen, gewinnt ihren Wert erst aus dem Wert-Sein der einzelnen anderen Menschen – mit ihren unverwechselbaren Gesichtern, mit den Geschichten ihrer Begegnungen, Konflikten, Dialogen, und mit ihrer Verletzlichkeit – und zwar aus ihrem WertSein füreinander. Die Begegnung zwischen Ich und Du, zwischen individuellen Persönlichkeiten ermöglicht eine Erfahrung, einander etwas wert zu sein – einander eine Antwort wert zu sein. Diese Erfahrung geht dem kantischen universalen Gesetz voraus. Aber sie liegt auch vor der Idee eines abstrahierten universalen Anderen als Emblem eines Denkens, das bei Levinas manchmal mehr gegen die Philosophie der Immanenz und des Seins zu kämpfen scheint, als für den tatsächlich da-seienden, konkreten anderen Menschen. Das Primat der Ethik verliert aber seine Dringlichkeit und seinen Sinn, wenn der Andere ein erstarrtes Antlitz wird, hinter dem er sein individuelles Gesicht verliert. Und für das moralische Gesetz in mir gilt das gleiche, wie für den bestirnten Himmel über mir: Er gewinnt seine 173 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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Erstaunlichkeit, seine Würde und Schönheit für mich erst daraus, dass er der bestirnte Himmel über mir ist und über dir, dem ich das, was wir gemeinsam und doch jeder für sich anders sehen, mitteilen kann – aus verschiedenen Sichtweisen, in verschiedenen Bedeutungen und zugleich doch von einem geteilten menschlichen Standpunkt aus, in einem geteilten Raum der Bedeutung und der Erfahrung des Wertseins, in dem aus unserer Begegnung ein Dialog werden kann.
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Dialog und Dialektik Christian Rößner
Warum sollte [das Ich] sprechen? Weil der Denkende etwas zu sagen hat? Aber warum hätte er es zu sagen? [34]
Nimmt man die klassisch-platonische Definition des Denkens als eines stummen Selbstgesprächs der Seele (ὁ ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς 1) beim Wort, so wären alle Dialoge – einschließlich jenes Gesprächs, im Zuge dessen diese Definition zur Sprache gebracht wird – nichts als ein einziger großer »Monolog mit verteilten Rollen«, 2 dessen inszenierte Mehrstimmigkeit nicht über den allenfalls pseudo-polyphonen Charakter eines λόγος hinwegzutäuschen vermöchte, der als Vernunft ein Singularetantum ist: »Worüber könnte ein durch und durch vernünftiges Seiendes mit einem durch und durch vernünftigen Seienden reden? Vernunft hat keinen Plural.« 3 – »Vernunft ist eins. Sie hat niemanden, dem sie sich mitteilen könnte, nichts steht ausserhalb ihrer. Sie ist fortan wie das Schweigen der inneren Rede« [12]. Ein Denken des Dialogs, das die interpersonale Dimension des διά im tertium medium eines in transzendentaler Kommunikationsgemeinschaft miteinander geteilten und einander mitgeteilten λόγος aufhebt, dessen universale Vernünftigkeit allein durch die Diplomatie Platon, Sophistes, 263e3–4. Im Kontext der Schleiermacher’schen Übersetzung: »Also Gedanken [διάνοια] und Rede [λόγος] sind dasselbe, nur daß das innere Gespräch [διάλογος] der Seele mit sich selbst, was ohne Stimme vor sich geht, von uns ist Gedanke genannt worden.« Vgl. 264a9 und auch Theaitetos, 189e6–190a6. 2 B. Waldenfels, »Dialog und Diskurse«, in: ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, 43–56, 44, 50. 3 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. W. N. Krewani, Freiburg, München 42008, 167; vgl. ebd., 300: »Die Vernunft im Sinne einer unpersönlichen Gesetzgebung vermag die Rede nicht zu erklären; denn sie absorbiert die Pluralität der Gesprächspartner. Die Vernunft in ihrer Einzigkeit kann nicht mit einer anderen Vernunft sprechen.« 1
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Christian Rößner
der Dialektik die Zwiesprache zwischen je unübersetzbaren individua ineffabilia als gleichwohl allgemein verständliche erlaubt und in prästabilierter Symmetrie erhält, schreibt sich so lange in die leitende Traditionslinie eines noch nicht radikal »neuen« 4 Denkens ein, wie die irreduzible Pluralität und inkommensurable Heterogenität der sprechenden Subjekte von der allophob-allergischen, da alles (auch und gerade das vorläufig Transzendente und vermeintlich NichtIdentische) unwiderstehlich anziehenden und restlos in sich einbegreifenden Mono-Ego-Onto-Tauto-Logik jener Totalität beherrscht bleibt, die der Vernunft nichts zu vernehmen verstattet als ihr womöglich mannigfach gebrochenes, in letzter Konsequenz aber eben immer schon und immer noch ureigenes Echo: »Die Fragen und Antworten eines solchen ›Ideenaustausches‹ reproduzieren oder inszenieren noch nicht einmal die des Dialogs der Seele mit sich selbst. Die denkenden Subjekte sind wie zahllose Punkte, um welche herum es licht wird, wenn sie miteinander sprechen und einander wiederfinden, ganz so wie in der inneren Rede, wo sich der Faden des Denkens, das sich selbst befragen musste, neu knüpft. Es ist ein Licht, in dem die dunklen Punkte der verschiedenen Ichsubjekte verblassen, verschwimmen, aber auch sublimiert werden. Schließlich wird dieser Ideenaustausch in einer einzigen Seele, in einem einzigen Bewusstsein, einem cogito stattfinden: die Vernunft bleibt cogito« [13]. Welcher Gesprächsteilnehmer hätte als Teilhaber der Vernunft auch die Ohren, (auf) eine Stimme zu hören, die als voix venue d’ailleurs 5 im strengsten Sinne von draußen käme, aus einer Ferne und Fremde, die niemals Heimat gewesen sein wird und durch keine Maieutik zur heimlich vertrauten und nur vorläufig vielleicht vergessenen terra cognita verklärt werden könnte? Es war des Vernünftigen List, die dem Sang der Sirenen Odysseus kein Ohr leihen ließ. Vor diesem Hintergrund der von Emmanuel Levinas geübten – und in dieser Deutlichkeit und Schärfe sonst wohl nur von Adorno 6 F. Rosenzweig, »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung«, in: ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, 373–398. 5 M. Blanchot, Une voix venue d’ailleurs, Paris 2002. 6 Zu Levinas und Adorno vgl. H. de Vries, Minimal Theologies. Critiques of Secular Reason in Adorno and Levinas, Baltimore, London 2005; ders., Theologie im Pianissimo & Zwischen Rationalität und Dekonstruktion. Die Aktualität der Denkfiguren Adornos und Levinas’, Kampen 1989; W. Lesch, »Philosophie als Odyssee. Profile und Funktionen einer Denkfigur bei Levinas, Horkheimer, Adorno und Bloch«, in: G. Fuchs (Hg.), Lange Irrfahrt – große Heimkehr. Odysseus als Archetyp – zur Ak4
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Dialog und Dialektik
artikulierten – Radikalkritik am abendländischen Denken als einer alteritätsvergessenen, transzendenzverlustigen und in ihrer monomanischen Fixiertheit auf das Spiegelspiel der Reflexion narzißtischen Philosophie des Seins und des Selben sind sich auch Ansätze, Levinas als Dialogischen Denker zu präsentieren, der Tatsache wohlbewußt, daß letzterer »das Terrain der Dialogischen Philosophie im engeren Sinne im Hinblick auf eine absolute ›Stellvertretung‹ für den Anderen übersteigt«. 7 Levinas’ Dialog mit der »›Philosophie des Dialogs‹« [2], als deren wichtigste Repräsentanten er die Namen »Martin Bubers, Franz Rosenzweigs und Gabriel Marcels« [2] nennt, erfolgt aus der fernen Nähe und nahen Ferne einer Nicht-Gleichgültigkeit der Non-indifferenz, die sich schon im äußeren Aufbau von Levinas’ DialogDarstellung widerspiegelt: Nach einer kurz und knapp zum Thema hinführenden »Einleitung« folgen vier in römischen Ziffern nummerierte Abschnitte aufeinander, die sich aufgliedern in eine die ersten beiden Hauptpunkte (I. u. II.) oder zwei Mal vier Unterpunkte umfassende pars destruens, die schlagwortartig der in beiden Teilüberschriften aufscheinenden »Immanenz« gewidmet ist, und eine die letzten beiden Hauptpunkte (III. u. IV.) oder wiederum acht Unterpunkte umspannende pars construens, die auch die für Levinas typischen Termini der »Transzendenz« und »Ethik« jeweils im Titel der Teilabschnitte führt. Zwischen den Hauptpunkten II. (der nicht von ohngefähr mit Hegel schließt) und III. (der auch nicht zufällig
tualität des Mythos, Frankfurt/M. 1994, 157–188; V. Sabourin, »Die Figur des Odysseus bei Adorno und Levinas«, in: A. Homp, M. Sedlaczek (Hg.), Emmanuel Levinas – Denker des Zwischen, Berlin 2001, 59–72; A. Thyen, »Metaphysikkritik und Ethik bei Theodor W. Adorno und Emmanuel Levinas«, in: G. Schweppenhäuser, M. Wischke (Hg.), Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Hamburg, Berlin 1995, 136–151; T. Bedorf, »Das Andere als Versprechen und Anspruch. Annäherungen an Adorno und Levinas«, in: ders., G. W. Bertram, N. Gaillard, T. Skrandies (Hg.), Undarstellbares im Dialog. Facetten einer deutschfranzösischen Auseinandersetzung, Amsterdam, Atlanta 1997, 163–174; J. Disse, »Die Überwindung neuzeitlicher Erstphilosophie bei Adorno und Lévinas«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 46 (1999), 223–246; G. Gamm, »Nach Auschwitz – Th. W. Adorno, E. Levinas«, in: ders., Philosophie im Zeitalter der Extreme. Eine Geschichte philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2009, 262– 276; Ch. Rößner, Anders als Sein und Zeit. Zur phänomenologischen Genealogie moralischer Subjektivität nach Emmanuel Levinas, Nordhausen 2012, 24. 7 E.-M. Heinze, Einführung in das dialogische Denken, Freiburg, München 2011, 15; vgl. v. Vf. die Rezension in: Philosophisches Jahrbuch 122 (2015), 212–214, 214.
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Christian Rößner
mit Buber beginnt) kommt es zur Entscheidung zwischen »Hegel/ Odysseus« 8 und »Abraham/Buber« 9, »Immanenz« und »Transzendenz«, »Wissen« und »Ethik«, »altem« und »neuem« Denken – oder wie man wohl auch sagen darf: zwischen »Totalität« und »Unendlichkeit«. Die durch diese Gliederung evozierte Bipolarität von »Selbem« und »Anderem« entspricht einer oppositiven Typologie von Rationalitätsformen, die Levinas anderweitig auch auf das formelhaft verkürzte Begriffspaar von »Die Bibel und die Griechen« 10 zu bringen beliebt und die als dichotomische Grundstruktur von einerseits Totalität und Unendlichkeit andererseits nicht allein sein gleichlautendes erstes Hauptwerk durchzieht, sondern etwa auch schon den programmatischen, erstmals 1957 in der Revue de Métaphysique et de Morale erschienenen Aufsatz über »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen« prägt, wo Levinas unter der Überschrift von »Autonomie und Heteronomie« wiederum eben jene »zwei Wege zu unterscheiden« unternimmt, »die der philosophische Geist einschlägt«. 11 Beide Wege kreuzen sich im Dialog, der an der Scharnierstelle im Zentrum des Textes insofern zwischen pars destruens und pars construens situiert ist, als unter II. von einem »Dialog der Immanenz« die Rede ist, daraufhin aber eben auch »Dialog und Transzendenz«
Zur »Odyssée hegelienne« vgl. J. Derrida, »Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’Emmanuel Levinas«, in: ders., L’écriture et la différence, Paris 1967, 117– 228, 138. 9 Zur »Aufbruchsmetaphorik des dialogischen Denkens« vor dem Hintergrund von Levinas’ Modellfiguren von odysseischem Nostos und abrahamitischem Exodus vgl. auch M. Siegfried, Abkehr vom Subjekt. Zum Sprachdenken bei Buber und Heidegger, Freiburg, München 2010, 72–81, 78. 10 E. Levinas, »Die Bibel und die Griechen«, in: ders., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Zürich, Berlin 2007, 151–154; vgl. auch ders., C. v. Wolzogen, »Intention, Ereignis und der Andere. Gespräch am 20. Dezember 1985 in Paris«, in: E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, übers. v. L. Wenzler, Hamburg 2005, 131–150, 140; sowie Ch. Rößner, »Hospitalité d’Abraham. Levinas’ Humanismus des anderen Menschen im europäischen Spannungsfeld zwischen der Bibel und den Griechen«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016, 462–478. 11 E. Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, in: ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. u. hg. v. W. N. Krewani, Freiburg, München 41999, 185–208, 185; vgl. dazu den erstklassigen Kommentar von A. Peperzak, »Une introduction à la lecture de Totalité et Infini. Commentaire de ›La philosophie et l’idée de l’infini‹«, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 71 (1987), 191–218. 8
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Dialog und Dialektik
unter III. in Verbindung gebracht werden, ja sogar der »Dialog als ursprünglicher Modus der Transzendenz« (III.6) bestimmt wird. Die von Levinas zu Beginn des Textes konstatierte gemeinsame Ausgangsposition seines Denkens und »einer ›Philosophie des Dialogs‹« [2] besteht in der geteilten Überzeugung, dass sich in der westlichen Gesellschaft »eine neue Idee vom Wesen des Sinns und des Geistigen ankündigt« [1], dass diese notwendig gewordene »Orientierung an einem neuen Geistbegriff […] eine Folge der Prüfungen [ist], die die Menschen des 20. Jahrhunderts seit dem Ersten Weltkrieg durchmachten« [2], und dass dieses von Franz Rosenzweig expressis verbis als solches apostrophierte »neue Denken« – das in seinem »Widerstand gegen die Idee der Totalität« bei Levinas stets schon »zu […] gegenwärtig [ist], um zitiert zu werden« 12 – folgerichtig »der Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 31; vgl. auch Levinas, Wolzogen, »Intention, Ereignis und der Andere«, 138, sowie S. Malka, Lire Levinas, Paris 1984, 105, wo Levinas unumwunden zugesteht, die Hegel-Kritik von Rosenzweig ohne Abstriche übernommen zu haben; Levinas würdigt die philosophische und persönliche Bedeutung Franz Rosenzweigs in »Franz Rosenzweig: Ein modernes jüdisches Denken«, in: ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, übers. v. F. Miething, München, Wien 1991, 99–122; »›Zwischen zwei Welten‹ (Der Weg von Franz Rosenzweig)«, in: ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übers. v. E. Moldenhauer, Frankfurt/M. 1992, 129–154; vgl. auch Levinas’ Vorwort zu S. Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, übers. v. R. Rochlitz, München 1985, 9–18; vgl. dazu B. Casper, »Über das Gebet. Betrachtungen zu Franz Rosenzweig im Hinblick auf Emmanuel Levinas«, in: J. Kirchberg, J. Müther (Hg.), Philosophisch-Theologische Grenzfragen, Essen 1986, 35–43; B. Casper, »Die Genese des Sprechens im Übersetzen und das religiöse Verhältnis. Levinas und Rosenzweig«, in: ders., Religion der Erfahrung. Einführung in das Denken Franz Rosenzweigs, Paderborn, München, Wien, Zürich 2004, 143–155; H. M. Dober, »Levinas und Rosenzweig. Die Verschärfung der Totalitätskritik aus den Quellen des Judentums«, in: M. Mayer, M. Hentschel (Hg.), Levinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen 1990, 144–162; C. Lienkamp, »Der/die/das Andere bzw. Fremde im sozialphilosophischen Diskurs der Gegenwart – Eine Herausforderung der theologischen Sozialethik«, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 35 (1994), 150– 166, 152–155; M. Mack, »Franz Rosenzweig’s and Emmanuel Levinas’s Critique of German Idealism’s Pseudotheology«, in: The Journal of Religion 83 (2003), 56–78; Z. Levy, »Emmanuel Levinas’ Beziehung zu Rosenzweig«, in: W. Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs »neues Denken«, Freiburg, München 2006, Bd. 1, 247–255; H.-J. Görtz, »Totalität und Transzendenz. Levinas als Leser Rosenzweigs«, in: N. Fischer, J. Sirovátka (Hg.), »Für das Unsichtbare sterben«. Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Levinas, Paderborn, München, Wien, Zürich 2006, 107–135; H.-J. Görtz, »Zur Krisis des Gott-denkens. Christliches Sprechen von Gott in der Schule von Rosenzweig und Levinas«, in: G. Kruip, M. Fischer (Hg.), Als gäbe es Ihn nicht – Vernunft und Gottesfrage heute, Berlin 2006, 85–104; D. Fonti, Levinas und Rosenzweig.
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Christian Rößner
philosophischen Tradition der Einheit des Ich oder des Systems, der Selbstgenügsamkeit und der Immanenz« [2] in aller Entschiedenheit entgegengesetzt ist: »Die Einheit des Denkens also leugnet, wer, wie es hier geschieht, dem Sein die Allheit abspricht. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut. Unsre Zeit hat es getan.« 13
I. Positive Dialektik als Dialog Als Kontrastfolie, vor deren hellenischem Hintergrund sich Levinas’ neues, anderes Denken umso profilschärfer abzuzeichnen vermag, wird der Horizont der »überlieferte[n] Philosophie« [3] aufgespannt und deren Geistbegriff als ein essentiell ego-logischer bestimmt. »Alle Philosophie ist Egologie« 14 insofern, als es für ihren Anspruch auf ein allumfassendes – das All umfassendes – Begreifen des großen Ganzen nichts – da allenfalls das Nichts – gibt, was sie nicht prinzipiell in den Griff des Begriffs bekommen könnte, nichts, was seinem Zugriff uneinholbar entzogen und ihr auf ewig fremd bleiben dürfte, nichts also, was absolut anders sein und auch bleiben könnte: »Humani nil a me alienum« 15, hieß es in der Komödie und Levinas nimmt dies ernst genug, um darin das Symptom jener konstitutiven Allergie zu diagnostizieren, die das Wesen der Philosophie in ihrem »griechischen« Grunde reduziert auf das Selbstbewußtsein eines zutiefst tauto-zentrischen Denkens, »das nach seinem eigenen Maßstab denkt und […] in seiner Adäquation an das Gedachte sich an sich selbst angleicht« [7]. 16 Das Denken, der Andere und die Zeit, Würzburg 2009; Rößner, Anders als Sein und Zeit, 22–23. 13 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988, 13. 14 Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, 189; ders., Totalität und Unendlichkeit, 53: »Die Philosophie ist eine Egologie.« 15 Terenz, Heautontimorumenos, I, 1, 77, hg. v. A. Thierfelder, Stuttgart 1981, 14. 16 Vgl. E. Levinas, »Die Spur des Anderen«, in: ders., Die Spur des Anderen, 209–235, 211–212: »Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie. Aus diesem Grunde ist sie wesentlich Philosophie des Seins, ist Seinsverständnis ihr letztes Wort und die fundamentale Struktur des Menschen. Aus diesem Grunde auch wird sie Philosophie der Immanenz und der Autonomie oder Atheismus. Von Aristoteles bis Leibniz über die
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Dialog und Dialektik
Wenn und weil die klassische adaequatio rei et intellectus einer adaequatio rei ad intellectum gleichkommt, dann und darum beschreibt auch das Aus-Sein-auf der Intentionalität keinen Weg, die Sphäre des Selben zu transzendieren. Die Transitivität, die den Bewußtseinsgegenständen als noematischen Korrelaten der Subjektivität des cogito zukommen mag, ändert nichts daran, daß auch die transzendentale Phänomenologie Husserl’scher Provenienz die idealistischen Charakterzüge eines re- bzw. appräsentierenden und dadurch auch den Anderen in die subjektive Omni-Präsenz zeitloser Geistes-Gegenwart integrierenden Denkens bewahrt, das als ein System struktureller Simultaneität und Synchronizität regiert wird von der alles begleitenden und beherrschenden »Einheit des Ich denke« [8] und der durch dieses ermöglichten »Erfahrung« [3]. Anders als Sartre, der in seiner Skizze dieser »fundamentale[n] Idee der Phänomenologie Husserls« 17 die »Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst, die man ›Intentionalität‹ nennt« 18, gerade begreift als gerichtet gegen den »Spinnen-Geist« 19 einer allesverschlingenden »Ernährungsphilosophie« 20 oder »Verdauungsphilosophie« 21, die sich anmaßt, die Dinge »im Bewußtsein auflösen« 22 zu können, betont Levinas umgekehrt den noch immer immanentistischen Tenor der Intentionalität, die eben gerade nicht zuläßt, daß »schließlich alles
Scholastiker ist der Gott der Philosophen ein der Vernunft entsprechender Gott, ein verstandener Gott, der die Autonomie des Bewußtseins nicht zu trüben vermöchte; durch alle Abenteuer hindurch findet sich das Bewußtsein als es selbst wieder, es kehrt zu sich zurück wie Odysseus, der bei allen seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zugeht. Die Philosophie, die uns übermittelt ist, reduziert nicht nur das theoretische Denken, sondern jede spontane Bewegung des Bewußtseins auf diese Rückkehr zu sich. Nicht nur die von der Vernunft begriffene Welt hört auf, anders zu sein, da das Bewußtsein sich in ihr wiederfindet; vielmehr ist alles, was Einstellung des Bewußtseins ist, […] am Ende Selbstbewußtsein, d. h. Identität und Autonomie. Die Philosophie Hegels stellt den logischen Zielpunkt dieser tiefsitzenden Allergie der Philosophie dar.« 17 J.-P. Sartre, »Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität«, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939 (Philosophische Schriften I), übers. v. U. Aumüller, T. König, B. Schuppener, Reinbek bei Hamburg 1994, 33–38. 18 Ebd., 36. 19 Ebd., 33. 20 Ebd., 33. 21 Ebd., 34. 22 Ebd., 34.
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Christian Rößner
draußen ist« 23, sondern die Exteriorität durch rückholende Totalintegration im Selbstbewußtsein ein- und abschließend »aufhebt«, so daß unterm Strich alles drinnen ist und bleibt: »Als Wissen bezieht sich das Denken auf das Gedachte, das Sein genannt wird. Auf das Sein bezogen, ist das Denken außerhalb seiner selbst, bleibt aber auf wunderbare Weise in sich selbst und kehrt zu sich selbst zurück. Die Exteriorität bzw. Andersheit […] des Gewussten wird in die Immanenz hereingeholt« [4]. Maieutik ist ein Mittel dieses alles anziehenden Magnetismus der nicht-negativen Dialektik: »Man lernt nur das, was man schon weiß und was sich in die Innerlichkeit des Denkens als eine abrufbare, zu vergegenwärtigende Erinnerung einfügt« [4]. Als paradigmatischer Prototyp einer solchen, von Levinas auch als »autonom« apostrophierten Autarkie des »alt-griechischen« Denkens, das sich überall zu Hause wähnt und in der Radikalreflexion der νόησις νοήσεως den odysseischen Nostos einer autotelischen Selbsteinholung nachstellt, figuriert »Hegels Philosophie des absoluten Wissens« [6], die in Levinas’ typologischer 24 Lesart eine AutoApotheose jenes totalitär geschlossenen Immanenzzusammenhangs beschreibt, der alles Andere dadurch restlos sich einzuverleiben vermag, daß er dieses mittels dialektischer Vollvermittlung und also auf Kosten seiner je unverrechenbaren Partikularität, Heterogenität und Individualität qua Nicht-Identität zum großen grauen Ganzen des absoluten Subjekts zusammenschnurren läßt. »Wie Adam zu Eva sagt, du bist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein, so sagt der Geist, dies ist Geist von meinem Geist, und die Fremdheit ist verschwunden« 25. Ebd., 37. Dazu, daß Levinas’ Lesart klassischer philosophischer Texte keine historiographische, sondern eine dezidiert typologische ist, deren weitwinklige Perspektive profilscharfen Nahaufnahmen um so weniger förderlich ist, als ihr Fokus es bewußt auf jene großen Züge abgesehen hat, die eben auch die groben sind, vgl. Rößner, Anders als Sein und Zeit, 23–24. Mit einem gewissen Nachdruck bleibt in diesem Sinne darauf zu bestehen, daß die rationalitätskritische oder gewissermaßen »gegen-griechische« und bisweilen auch polemisch-provokative Dimension im Denken Levinas’ diesen noch lange nicht – wie man manchmal zu insinuieren beliebt – zu einem irrationalistischen Vernunftverächter macht; vgl. dazu auch Ch. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«. Eine phänomenologische Relektüre von Immanuel Kants praktischer Metaphysik im Ausgang von Emmanuel Levinas, Freiburg, München 2018, 47–48, 60. 25 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (Werke, hg. v. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Bd. 7), Frankfurt/M. 1986, 47. 23 24
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Dialog und Dialektik
Indem es die Fremdheit der Exteriorität, Alterität und Unendlichkeit zum Verschwinden bringt, nimmt dieses und damit jedes Denken als begriffliches »possessive« [4] Züge an, die den intentionalen Ausgriff der Transzendenz zum imperialistischen Angriff der Immanenz werden läßt: »Begreifen ist beherrschen« 26, heißt es schon beim frühen Hegel. Anders gesagt und mit Aristoteles gesprochen: Wenn nichts der Seele fremd sein kann, da sie selbst »in gewisser Weise alles Seiende ist« 27, ist ihr von Haus aus alles eigen. Dann ist in der Tat »alles, was im Seelenleben vorkommt und was in ihm geschieht, letztlich wissbar« [3]. Wie das Haus sprichwörtlich nichts verliert, so verliert und vergißt die Seele nichts, was sie nicht in anamnetischem Lernen wieder erinnern und verinnerlichen, integrieren und inkludieren, heimholen, sich aneignen und für sich vereinnahmen könnte: »Als Lernen verhält sich das Denken wie ein Zugriff, ein Ergreifen des Gelernten und ein In-Besitz-nehmen. Das ›Ergreifen‹ des Lernens ist nicht rein metaphorisch zu verstehen. […] Schon die Wahrnehmung ergreift; und der ›Begriff‹ bewahrt diese Bedeutung von ›in den Griff nehmen‹. […] Es ist immanentes Denken und immanentes Seelenleben, Selbstgenügsamkeit« [6]. Dieses »In-Beschlag-nehmen« [5] possessiven Denkens unterwirft die Welt nicht ohne Gewalt der begrifflich zugreifenden »Handhabe« [5] eines um jeden Preis verstehen und erkennen wollenden Subjekts, das in diesem Wollen »kein Draußen […] toleriert« 28 und »nichts außerhalb seines Bannkreises« 29 sein lassen kann: »so vollzieht das Verstehen im Hinblick auf das Seiende einen Akt der Gewalt und der Negation, der partiellen Negation, die Gewalt ist. Diese Partialität, diese Unvollständigkeit tritt hervor in der Tatsache, daß sich das Seiende, ohne zu verschwinden, in meiner Gewalt befindet. Die partielle Negation, die Gewalt ist, verneint die Unabhängigkeit des Seienden: Es gehört mir. Der Besitz ist der Modus, in dem ein Seiendes, ohne zu existieren aufzuhören, teilweise verneint ist.« 30 Diese parG. W. F. Hegel, »Entwürfe über Religion und Liebe«, in: ders., Frühe Schriften (Werke, hg. v. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Bd. 1), Frankfurt/M. 1986, 239–254, 242. 27 Aristoteles, De Anima, III, 8, 431b21: ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα πώς ἐστιν πάντα. Vgl. auch ebd., I, 5, 409b26–28 sowie III, 7, 431a1–2. 28 T. W. Adorno, Negative Dialektik (Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. 6), Frankfurt/M. 2003, 271. 29 Ebd., 37. 30 E. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, in: ders., Die Spur des Anderen, 103– 26
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Christian Rößner
tielle Negation, die das Denken durch assimilierende Adäquation über den gedachten Gegenstand verfügen läßt, versetzt ihn nicht nur in den Bereich eines in seiner ungehinderten Spontaneität souveränen Selbst, sondern indem das Seiende mir als Objekt in den Griff und in die Hand gegeben wird, befindet es sich in dem präzisen Sinne »in meiner Gewalt«, daß es sich in meiner Gegenwart befindet. 31 In der Inneneinrichtung des Welthaushalts werden die Dinge zu Möbeln, zu »Mobilien« 32, die dem main-tenant 33 der Hand-Habe fügsam Folge leisten. Daß das Denken nur »seinem eigenen Maßstab gemäß denken« [6] kann, besagt, daß es über das Vermögen verfügt, »das, was es denkt, im Modus der Handhabe einzuholen« [6] und heimzuholen. »Die Tätigkeit des Denkens vereinnahmt jede Andersheit, und gerade darin besteht letzten Endes die Rationalität des Denkens« [8]. Diese vereinnahmende Einholung erfolgt als eine das Gedachte präsentierende Eingliederung in die immanente Zeitlichkeit des Bewußtseins. Jedes intentionale Denken-an ist ein Andenken des 119, 115; zu dieser »Oikonomie« Levinas’ vgl. Rößner, Anders als Sein und Zeit, 45– 51. 31 Vgl. E. Levinas, »Gott und die Philosophie«, übers. v. R. Funk, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg, München 1981, 81–123, 91– 92: »Demzufolge entfaltet sich der Hervorgang der Gegenwart durch das Bewußtsein wie ein ›Orgelpunkt‹ in seinem Immer, in seiner Identität des Selben, in der Gleichzeitigkeit seiner Momente. Der Hervorgang des Subjektiven kommt nicht von draußen. Das Gegenwärtigen der Gegenwart beinhaltet Bewußtsein, so daß die Philosophie auf der Suche nach den transzendentalen Operationen der Apperzeption des Ich denke nicht irgendeine krankhafte und zufällige Neugier darstellt. Sie ist die Vergegenwärtigung – die Reaktualisierung der Vergegenwärtigung, d. h. die Emphase der Gegenwart, das Dasselbe-Bleiben des Seins in seiner Gleichzeitigkeit der Gegenwart, in seinem Immer, in seiner Immanenz. Die Philosophie ist nicht nur Erkenntnis der Immanenz, sie ist die Immanenz selbst«. 32 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 185. 33 Zur »main-tenance« vgl. auch E. Levinas, »Diachronie und Repräsentation«, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, übers. v. F. Miething, München 1995, 194–217, 196: »Sehen oder Kennen und In-die-Hand-Nehmen sind in der Struktur der Intentionalität verknüpft. So bleibt der geheime Zusammenhang des Denkens, das sich im Bewußtsein selbst erkennt: Das ›Hand-Haben‹ der Präsenz betont deren Immanenz als das Hervorstechende des Denkens«; vgl. auch E. Levinas, Transcendance et intelligibilité, Genève 1996, 15–16: »Dès avant l’emprise technique sur les choses que le savoir de l’ère industrielle rend possible et dès avant le développement technologique de la modernité, le savoir, par lui-même, est l’esquisse d’une pratique incarnée de la mainmise et de l’appropriation et de la satisfaction. Les leçons les plus abstraites de la future science, reposent sur cette familiarité avec le monde que nous habitons au milieu des choses qui se tiennent à la portée de la main. La présence, de soi, se fait main-tenant«.
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Dialog und Dialektik
alles repräsentierenden Selbstbewußtseins. Des Geistes »Gegenwart erfolgt als eine Handhabe« [5]. Auch jeglicher Akt einer »Einfühlung« [17], die das alter ego als »intentionale […] Modifikation meines Selbst« 34 über eine analogische »Art bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« 35 nun zwar nicht repräsentativ, aber »appräsentativ apperzipiert« 36, verbleibt dieser zeitlos stehenden Binnensphäre transzendentaler Egoität verhaftet: »Die Husserl’sche Theorie der Konstitution der Intersubjektivität kann man als eine strenge Formulierung der Unterordnung des Dialogs unter das Wissen betrachten, die jede unabhängige Sinnes-Modalität, auf die der Dialog zielen könnte, auf das Gelebte als Erfahrung zurückführt« [17]. Deren intentionaler Kosmos ist eine global gerundete Welt ohne Draußen, 37 eine Welt der »Synchronie« [4], der »Synthese und Synopsis« [7], eine Welt ohne Zeit. So zeigt sich der »Unterschied zwischen altem und neuem […] Denken«, denn dieser liegt nach letzterem »im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit« 38.
II. Dialog als Negative Dialektik Der überkommene Begriff des Geistes, den Levinas mit und gegen Hegel in der »dialektischen Bewegung zum absoluten Wissen« [18] auf ein tauto-logisches System des lediglich in sich differenzierten Selben (ἕν διαφέρον ἑαυτῷ) hinauslaufen sieht, vermag die Dinge »unter die höchste Einheit des Denkens« 39 zu bringen, indem das 34 E. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), hg. v. S. Strasser, Haag 1950, 144. 35 Ebd., 144. 36 Ebd., 146. 37 Vgl. Aristoteles, Physik, III, 6, 207a8–9: οὗ δὲ μηδὲν ἔξω, τοῦτ’ ἔστι τέλειον καὶ ὅλον – Was kein Draußen hat, das ist vollkommen und ganz. 38 Rosenzweig, »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung«, 387. 39 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 355 / A 298 f.; vgl. dazu O. Dekens, »Le Kant de Levinas. Notes pour un transcendantalisme éthique«, in: Revue philosophique de Louvain 100 (2002), 108–128, 112, wo Levinas’ diesbezügliche Kant-Kritik sich präzise zusammengefaßt findet: »L’Analytique des concepts est ainsi perçue par Levinas comme une tentative de dire l’intégralité de l’univers en termes cognitifs, et d’assimiler l’altérité, qui ne peut pas se manifester comme telle dans le regime de phrases théorique. Le mouvement totalisant à l’œuvre dans l’Esthétique transcendantale et
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cogito (Intensivum von cogo) 40 alles disparat Zerstreute zusammenzwingt in die Sammlung seines lesenden λόγος: »Der Geist ist die Ordnung der Dinge – oder die Dinge als geordnete sind der Geist, wobei das Denken deren Sammlung und Einordnung wäre« [10]. Sein »Werk der Sammlung« [11] ruft die Gegenstände in die »Gegenwart des Gedachten« [11] zurück und in dieser zusammen. Dieses »Denken nach dem Maß des Denkers« [9], dieser Geist von eigenen Gnaden kann alles haben – außer einen Einfall. Denn was dem Denken einfallen soll, muß von draußen kommen, zum Bewußtsein, aber nicht aus diesem, vielmehr »von Außen« 41 eintreten, durch die Tür und über die Schwelle wie der aristotelische νοῦς θύραθεν. 42 Die positive, possessive und gleichsam phagozytotisch alles in sich absorbierende Dialektik des allenfalls binnendifferenzierten, finaliter freilich zur Totalität gerundeten und glatt geschlossenen Ganzen (ἕν τὸ πᾶν), die in Hegels System kulminiert, aber – bei allem »grundverschiedenen ontologischen Kontext« [18] – auch noch Husserl und Heidegger dans le début de l’Analytique culmine pour Levinas – et c’est certainement là le principal grief qu’il adresse à Kant – dans la Déduction transcendantale et dans la doctrine de l’unité synthétique de l’aperception transcendantale«; vgl. zu diesem Punkt auch J. Brachtendorf, »Der Andere als metaphysisches Prinzip in Levinas’ Totalität und Unendlichkeit«, in: N. Fischer, J. Sirovátka (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, 133–157, 134–137; vgl. auch Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 62. 40 Vgl. A. Augustinus, Confessiones, X, 18. 41 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 421; vgl. zu diesem Ein- und Unterbruch auch E. Levinas, »Messianische Texte«, in: ders., Schwierige Freiheit, 58–103, 65: »Der Messias ist vor allem dieser Bruch. Für das hellsichtige und seine Absichten beherrschende Bewußtsein enthält die Ankunft des Messias ein irrationales Element oder zumindest etwas, was nicht vom Menschen abhängt und von außen kommt […]. Interessant ist hier die Kategorie eines von außen kommenden Ereignisses. Ob dieses Außen das Walten Gottes […] ist, tut wenig zur Sache«. 42 Aristoteles, De generatione animalium, II, 3, 736b27–29; II, 6, 744b21–26; vgl. dazu Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 64: »Die Beziehung mit dem Anderen oder die Rede ist eine nicht-allergische Beziehung, eine ethische Beziehung, aber diese empfangene Rede ist eine Unterweisung. Die Unterweisung freilich läuft nicht auf die Maieutik hinaus. Sie kommt von Außen und bringt mir mehr, als ich enthalte. In der gewaltfreien Transitivität der Unterweisung ereignet sich die eigentliche Epiphanie des Antlitzes. Die aristotelische Analyse des Intellekts, die den absolut äußeren, durch die Tür hereinkommenden tätigen Intellekt entdeckt, der zwar die souveräne Tätigkeit der Vernunft konstituiert, ohne sie indes in irgendeiner Weise zu kompromittieren, setzt schon an die Stelle der Maieutik das transitive Tun des Meisters; denn die Vernunft ist fähig zu empfangen, ohne darum abzudanken«; vgl. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 255–256.
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Dialog und Dialektik
Maß und Muster vorgibt, hat im stehenden Jetzt omni-präsentischer Geistes-Gegenwart nicht nur nicht die Zeit, die Levinas als unverhältnismäßiges Verhältnis und bezuglose Beziehung zum Anderen bestimmt, 43 sondern findet auch zu keiner wahrhaft dialogischen Sprache: »dass es kein Denken ohne Sprache gibt, bedeutet somit nur die Notwendigkeit einer inneren Rede. Das Denken spaltet sich, um sich zu befragen und sich zu antworten; es verliert dabei aber nicht den Faden. Es reflektiert auf sich selbst, indem es sein spontanes Fortschreiten unterbricht, bleibt aber immer noch demselben ich denke verpflichtet. Es bleibt dasselbe. Es geht von einem Punkt zu einem entgegengesetzten Punkt, der ihn fordert. Doch die Dialektik, in der es wieder zu sich selbst findet, ist kein Dialog, oder es ist höchstens der Dialog der Seele mit sich selber, der sich in Fragen und Antworten vollzieht. Genau so definiert Plato das Denken. Nach der traditionellen Interpretation der inneren Rede, auf die diese Definition zurückgeht, bleibt der Geist im Denkvollzug einer und einzig, trotz seiner dialektischen Bewegung, in der er sich selbst gegenübertreten kann« [11]. Auch wenn seit jeher »ein Gespräch wir sind und hören voneinander«, 44 ist der im neutralen Medium eines tertium communicationis geführte Dialog der wechselseitigen Mitteilung und sozialen Teilhabe für Levinas nicht dialogisch genug – oder vielleicht vielmehr allzu dialogisch, insofern diese Harmonie allzu teuer erkauft sein könnte: »Man kann dieses Gespräch Dialog nennen, in dem die Teilnehmer gegenseitig in ihr Denken eintreten, bei dem die Teilnehmer durch den Dialog zur Vernunft gebracht werden. Und man kann die Einheit der mannigfaltigen Bewusstseine, die in dasselbe Denken eingetreten sind, indem ihre wechselseitige Anderheit unterdrückt wird, Sozialität nennen. Dies ist der berühmte Dialog, der dazu bestimmt ist, der Gewalt dadurch Einhalt zu gebieten, dass er die Gesprächsteilnehmer wieder zur Vernunft bringt und Frieden in Einstimmigkeit stiftet, wobei er die Nähe in der Kongruenz unterdrückt. Der bevorzugte Weg des westlichen Humanismus. Das ist der Adel der idealistischen Entsagung« [14].
Vgl. Rößner, Anders als Sein und Zeit, 101: »Levinas sucht die Zeit als das unverhältnismäßige Verhältnis, als die bezuglose Beziehung, als die unnahbare Nähe zum Anderen zu denken – Diachronie als Diakonie«. 44 F. Hölderlin, »Friedensfeier«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. M. Knaupp, Bd. 1, München 1992, 364. 43
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Ist die Versöhnung, die der Dialog zu stiften versteht, etwa immer schon eine »erpreßte Versöhnung« 45 und also überhaupt keine? Wird die Gewalt, welcher der Dialog Einhalt zu gebieten vermag, vielleicht nur auf subtilere Weise reproduziert, indem der Singular der zweiten Person im Plural einer ersten Person aufgehoben wird, deren uniformes Wir eben die Singularität des Anderen unterdrückt und in ihrer Fremdheit zum Verschwinden bringt? Ist die Vernunft als eine, allen gemeinsame und von allen geteilte der Differenznivellierung und Alteritätsannullierung verdächtig? »Man muss sich fragen, ob die Dynamik und der Lobpreis des Friedens, der durch die Wahrheit gestiftet wird, nur von der Aufhebung der Anderheit abhängig ist und nicht ebensosehr von der Möglichkeit einer Begegnung mit dem anderen als anderem (vielleicht dank eines Dialogs, der der Vernunft vorausgeht), deren bloßer Vorwand eine gemeinsame Wahrheit ist« [15]. 46 Levinas’ Fragen ist kein rein rhetorisches, sondern stellt sich der »Schwierigkeit, die sich selbst nach dem Geständnis Platos ergeben würde, wenn man die feindlichen, einander gegenüber zur Gewalt neigenden Menschen in diesen Dialog zwingen wollte. Man müsste einen Dialog finden, um in den Dialog hineinzuführen« [16]. 47 Anders als die »griechische«, sich nicht nur in Hegel, sondern noch in Sartre aussprechende Tradition, die den Krieg »König und Vater aller Dinge« (Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς 48) sein läßt und deren Dialektik von einem Kampf um Anerkennung ausgeht, der alle Sozialität zu einer andauernden Fortführung dieser Polemik mit je modifizierten Mitteln macht, beginnt Levinas – »Es ist nicht sicher, daß der Krieg am Anfang stand. Vor dem Krieg waren die Altäre« 49 – nicht bei der Freiheit eines in seiner Intentionalität immer schon imperialistischen Subjekts, sondern bei T. W. Adorno, »Erpreßte Versöhnung«, in: ders., Noten zur Literatur (Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann, Bd. 11), Frankfurt/M. 2003, 251–280. 46 Vgl. auch E. Levinas, Die Zeit und der Andere, übers. v. L. Wenzler, Hamburg 2003, 64: »Es ist diese Kollektivität, die ›wir‹ sagt, die, der Sonne des Erkennbaren, der Wahrheit, zugewandt, den anderen nur neben sich und nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber wahrnimmt. Eine Kollektivität, die sich notwendigerweise um einen dritten Bezugspunkt herum aufbaut, der als Vermittler dient«; vgl. Rößner, Anders als Sein und Zeit, 54–55. 47 Vgl. dazu auch E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. T. Wiemer, Freiburg, München 1992, 266. 48 Heraklit, DK 22 B 53. 49 E. Levinas, »Sprache und Nähe«, in: ders., Die Spur des Anderen, 261–294, 291; vgl. ders., Jenseits des Seins, 261; A. Finkielkraut, La sagesse de l’amour, Paris 1988, 28. 45
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Dialog und Dialektik
einem Frieden der Nicht-Gleichgültigkeit, der in und wegen seiner konstitutiven Asymmetrie mehr und anderes ist als ein bloßer Waffenstillstand: »Frieden. Die Beziehung mit dem – absolut anderen – Anderen, der keine Grenze mit dem Selben hat, ist nicht der Allergie ausgesetzt; die Allergie beeinträchtigt das Selbe in einer Totalität, auf ihr beruht die hegelsche Dialektik. Der Andere ist für die Vernunft nicht ein Skandal, der sie in eine dialektische Bewegung versetzt, sondern die erste vernünftige Unterweisung«. 50 Erst die in einem »ursprünglichen und vorgängigen Dialog« [27] zur Sprache kommende Non-in-differenz des genuinen Gesprächs vermag einen »nicht-allergische[n] Bezug des Selben zum Anderen« 51 zu stiften, in der der assimilationsaversive Absolutheitsanspruch von Gesprächspartnern gewahrt bleibt, die insofern keine bloßen Partner sind, als sie im Gespräch nicht aufgehen und in der Relation solcher Nicht-Relation eine originäre Relationsresistenz bewahren und bezeugen: »Einerseits vertieft sich im Dialog eine absolute Distanz zwischen dem Ich und dem Du, die durch das unaussprechbare Geheimnis ihrer Intimität absolut voneinander getrennt sind, da jeder Partner als Ich und als Du einzigartig, dem anderen gegenüber absolut anders ist, ohne jedes gemeinsame Maß, ohne jeden freien Raum für eine etwaige Koinzidenz; andererseits aber entfaltet sich hier – oder tritt das Ich als Ich und das Du als Du bestimmend dazwischen – die außerordentliche und unmittelbare Beziehung des Dia-logs, der diese Distanz transzendiert, ohne sie abzuschaffen, ohne sie zu vereinnahmen, wie es der Blick tut, der dadurch die Distanz zurücklegt, die ihn von seinem Gegenstand in der Welt trennt, dass er sie umfasst, sie einschließt« [23]. Erst ein Dia-log, der den Akzent nicht auf dem (mit-)geteilten λόγος, sondern auf der Irreduzibilität des Zwischeneinanders trägt, als Austausch zwischen Unaustauschbaren, die als »mannigfaltige[…] Singularitäten […] einzig in ihrer Art« 52 und also »jeweils sui generis, d. h. letztlich sine genere« 53 sind, und also über den Abgrund der Alterität und Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 292–293. Ebd., 444. 52 Ebd., 367; vgl. B. Waldenfels, »Singularität im Plural«, in: ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt/M. 1995, 302–321. 53 Ch. Rößner, »Äquivozität des Eros. Levinas’ Phänomenologie des Erotischen in Audelà du visage«, in: B. Liebsch (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg, München 2016, 304–322, 310. 50 51
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einer unaufhebbaren Distanz der Hörweite erfolgt, wo »die Liebsten / Nah wohnen […] auf / Getrenntesten Bergen« 54, erlaubt es, die Pluralität der Sprechenden anders zu begreifen denn als defizitäres Derivat oder kompensatorisches Komplement einer unerschütterlichen »Einheit des Selbstbewusstseins« [28]. Levinas’ kritische Frage, »ob die innere Rede des cogito nicht schon eine abgeleitete Form des Gesprächs mit dem anderen darstellt« [27], findet ihre entsprechende Antwort in der Grundüberzeugung dialogischen Denkens, nämlich daß »eine ganz andere Sinndimension […] sich in der Sprache eröffnet, […] die zwischenmenschliche Beziehung – die ursprüngliche Sozialität –, die sich im Dialog ereignet. […] Die Vielzahl der Denkenden, die Pluralität der Bewusstseine, ist nicht nur bloßes Faktum – etwas Zufälliges oder ein rein empirisches ›Unglück‹ –, ausgelöst durch einen Fall oder durch eine ontologische Katastrophe des Einen. Die Sozialität, die die Sprache zwischen den Menschen herstellt, stellt nicht bloß die Kompensation für eine Einheit im Denken dar, die verlorengegangen oder verfehlt worden wäre. Im Gegenteil ist sie über die Selbstgenügsamkeit des Für-sich-Seins hinaus eine andere Möglichkeit menschlicher Auszeichnung, die nicht an der Vollkommenheit des Selbstbewusstseins meßbar ist« [19]. Diese nicht-nostalgische »Begegnung mit dem Anderen« [27], die sich ebenso wenig auf eine (mögliche) »Erfahrung des anderen« [22] zurückführen läßt wie die »Sozialität des Dialogs« [22] auf die Erkenntnis dieser Sozialität, kann in Beziehung gebracht werden zu Bubers Grundwortpaar von Ich-Du und Ich-Es, deren Dualität eine fundamentale »Zwiefalt der menschlichen Haltung« 55 evoziert: während auf der einen Seite eine Es-Welt kategorialer Erfahrung Gegenständlichkeit begreifbar macht als intentionales Korrelat einer nüchtern-neutralen, sachlich-souveränen Subjektivität steht dieser durch Verobjektivierung auf Distanz gehaltenen Ich-Es-Welt das erst eigentlich dialogische Leben gegenüber, das nicht ermöglichte Erfahrung, sondern widerfahrende Begegnung ist und keine Gegenstände kennt, sondern eine Gegenwart im Gegenüber findet, die sich wiederum wesentlich und radikal von des Geistes Gegenwart im repräsentierenden Selbstbewußtsein unterscheidet, denn die »Begegnung gehört nicht derselben Ordnung an wie die Erfahrung« [25]. 56 »Das 54 55 56
F. Hölderlin, »Patmos«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 447. Heinze, Einführung in das dialogische Denken, 91. Vgl. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, 112: »Der Mensch ist das einzige
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Dialog und Dialektik
Kennzeichnende bei dieser Unterscheidung ist die Ursprünglichkeit und die Unreduzierbarkeit des Grundwortes Ich-Du. Das Ich-Es, das Wissen, fundiert das Ich-Du nicht. 57 Die neue Philosophie des Dialogs lehrt folgendes: den anderen Menschen als Du anrufen oder ansprechen oder mit ihm reden hängt nicht von einer vorgängigen Erfahrung des anderen ab, leitet jedenfalls die Bedeutung ›Du‹ nicht von dieser Erfahrung her. […] Der Dialog ist nicht die Erfahrung des Zusammentreffens von Menschen, die miteinander sprechen. Der Dialog ist ein Ereignis des Geistes, zumindest ebenso unableitbar und ebenso alt wie das cogito« [22]. Im Unterschied zu allen Unterschieden zwischen einem Selben und ihm komplementären Anderen ist die dialogische Differenz zwischen Selbst und Anderem keine spezifische (die als solche nämlich von einer generischen Gemeinsamkeit eines geteilten Ganzen getragen und umfangen bliebe), sondern in der Non-in-Differenz zwischen Sprechenden ereignet sich jenseits jeden »erfüllten Wissens […] die Eröffnung der Transzendenz« [22]. Im Dialog vollzieht sich ein »Übergang, wo es keinen Übergang mehr gibt. Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog« [26]. Für Levinas liegt in dieser séparation liante 58 die »paradoxe Botschaft jeder Philosophie des Dialogs«: der Geist wird nicht mehr charakterisiert als ein abschließbares, sich in einem intentional zu antizipierenden Telos erfüllendes Wissen, sondern nun vielmehr in seinem Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung selbst auszudrücken. Genau dadurch unterscheidet sich die Begegnung von der Erkenntnis. Jede Haltung gegenüber Menschlichem impliziert das Grüßen – sei es auch als Verweigerung des Grußes. Hier entwirft sich Wahrnehmung nicht hin auf einen Horizont – Feld meiner Freiheit, meines Vermögens, meines Eigentums –, um sich vor diesem vertrauten Hintergrund mit dem Individuum zu befassen. Sie bezieht sich auf das bloße Individuum, auf das Seiende als solches«. 57 Parallel dazu Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?«, 111: »Es kommt auf die Einsicht an, daß das Fungieren der Sprache nicht dem Bewußtsein untergeordnet ist, das ich von der Gegenwart des Anderen habe, von seiner Nachbarschaft oder der Gemeinschaft mit ihm, sondern daß es Bedingung dieser ›Bewußtwerdung‹ ist«. 58 Zur Zeit als »verbindender Trennung« vgl. E. Levinas, »Vorwort«, in: Mosès, System und Offenbarung, 18; vgl. dazu L. Wenzler, »Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Levinas«, in: Levinas, Die Zeit und der Andere, 67–92; L. Wenzler, »Berührung durch Trennung. Die Zeitstruktur des religiösen Verhältnisses bei Emmanuel Levinas«, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993), 301–316; ders., »Das ›tiefe Werk‹ der Zeit. Paradox und Wunder der Zeitlichkeit bei Emmanuel Levinas«, in: Athena. Philosophical Studies 2 (2006), 43–54.
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Wesen bestimmt »durch die Transzendenz, d. h. durch die Sozialität, durch die unmittelbare Beziehung zum anderen« [26]. Die dialogische (Non-)Relation, 59 die ontologisch keine oder keine ontologische ist und durch die zwischen zwei ein Bindestrich gesetzt wird, der von einem Trennstrich ununterscheidbar ist, unterscheidet sich von der synthetischen Konjunktion und damit auch »von allen Verbindungen, die sich innerhalb einer Welt herstellen, in der das Denken als Wissen nach dem eigenen Maß denkt, wo Wahrnehmung und Begriff das Gegebene ergreifen und sich aneignen und sich daran befriedigen« [26]. Der die Kontinuität des Selbstbewußtseins und seine unbehelligte Spontaneität unterbrechende Einbruch des Anderen, der dem Denken gerade dadurch einfällt, daß er sich gegenüber der »Wut« 60 des Wissen-Wollens widerspenstig erweist und sich dessen reflexivem Integral uneinholbar entzieht, markiert mit der unaufhebbaren Grenze idealistischer Immanenz zugleich »das unvergleichliche geistige Ereignis der Transzendenz«, das sich mit Rosenzweig als »das In-Beziehung-Setzen der Elemente zum Absoluten« oder »Offenbarung im erhabenen und religiösen Sinne des Wortes« [26] verstehen läßt. Nicht alles, was ins Bewußtsein gesetzt ist, ist vom Bewußtsein gesetzt. 61 Als Non-Koinzidenz von Selbst und Anderem beschreibt die Nonin-differenz des Ethischen die dialogisch radikalisierte Differenz einer fernen Nähe, deren Ent-Fernung im unaufhebbaren »›Zwischen‹« [30] erst die nächste Nähe schafft, die im verschmelzenden Zusammenfall zweier Punkte weder gegeben noch zu finden ist: »Wo Ich und Du in die Beziehung des Dialogs gestellt sind, in der sich die Relation ereignet, gibt es in dieser radikalen Differenz zwischen Ich und Du nicht einfach Verfehlen gegenseitigen Erkennens, der Synthese beider, ihrer Übereinstimmung und ihrer Identifikation, sondern einen Überschuss oder das Bessere eines Jenseits seiner selbst, einen Überschuss und das Bessere der Nähe des Nächsten, welche ›besser‹ ist als die Koinzidenz mit sich selbst, und dies trotz oder geVgl. auch Levinas, »Sprache und Nähe«, 274: »Wir nennen ›ethisch‹ eine Beziehung zwischen Termini, in der der eine und der andere weder durch eine Verstandessynthese noch durch die Beziehung von Subjekt zu Objekt vereint sind, und in der dennoch der eine für den anderen Gewicht hat, ihm wichtig ist, ihm bedeutet, in der sie durch eine Intrige verknüpft sind, die das Wissen weder auszuschöpfen noch zu entwirren vermöchte«. 60 Adorno, Negative Dialektik, 33. 61 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 223. 59
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Dialog und Dialektik
rade wegen der Differenz, die sie trennt« [28]. Dadurch, daß er die Differenz nicht in einer höheren Einheit aufhebt, sondern im Dialog die Apologie der Subjektivität als Singularität schon auf der Höhe der Vernunft sein und gelten läßt, 62 ereignet sich ein Mehr-im-Weniger 63, ein Überschuß des Ethischen, der in den ontologischen Kategorien der Oikonomie nicht zu fassen ist: »Der Überschuss, der sich in der Brüderlichkeit ereignet, kann über die Befriedigungen hinausgehen, die man selbst noch von den empfangenen Gaben erwartet, seien sie auch umsonst gegeben. 64 Das sprechen die Philosophen des Dialogs nicht immer aus, obwohl sie ganz gewiss gerade diese wesentliche Idee ermöglichen. Der Dialog ist die Nicht-Indifferenz des Du für das Ich. Ein nicht selbstsüchtiges Gefühl, das zwar in Hass ausarten kann, aber doch die Chance für das ist, was man – vielleicht mit Vorsicht – mit Liebe und der Liebe Ähnlichem benennen muss« [29]. 65 Ausgesprochen ist darin und damit gerade keine Gut-Gläubigkeit, keine arglose Annahme einer mehr oder minder prästabilierten Harmonie sozialer »Mitgegenwart« [35], 66 da Levinas im offen erklärten »Gegensatz zur ›Reziprozität‹, die Buber wohl zu Unrecht betont« 62 Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 369: »Die Singularität der Individualität ist auf der Höhe ihrer Vernunft – sie ist Apologie – d. h. persönliche Rede zwischen mir und den Anderen«; vgl. Rößner, »Äquivozität des Eros«, 306–313. 63 Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 280; ders., »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, 197; weitere Belegstellen bei Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 156–157. 64 Vgl. Levinas, »Gott und die Philosophie«, 107: »Er auf dem Grund des Du. Er ist Gut in einem hervorragenden und sehr präzisen Sinn, nämlich: Er erfüllt mich nicht mit Gütern, sondern drängt mich zur Güte, die besser ist als alle Güter, die wir erhalten können«. 65 Levinas’ Zurückhaltung gegenüber »ce mot trop beau ou trop pieux ou trop vulgaire« (E. Levinas, Autrement que savoir, Paris 1988, 75) hindert ihn nicht daran, affirmierend auszusprechen: »Das gültig Menschliche ist […] die Liebe« (Levinas, Wolzogen, »Intention, Ereignis und der Andere«, 134); vgl. Rößner, »Äquivozität des Eros«, 314, zu Levinas und Jean-Luc Marion näherhin auch Ch. Rößner, »Gott ohne Sein? Emmanuel Levinas und Jean-Luc Marion«, in: M. Hofer, R. Langthaler (Hg.), Das Heilige. Eine grundlegende Kategorie der Religionsphilosophie (Wiener Jahrbuch für Philosophie, XLIX/2017), Wien 2018, 97–123. 66 Zur Absetzung von Buber vgl. auch Levinas, Jenseits des Seins, 69–70: »Die Subjektivität, das meint der-Andere-im-Selben, und zwar so, daß sein Modus sich auch noch einmal unterscheidet von der Art, in der Gesprächspartner einander gegenwärtig sind, wo sie in friedlichem Einverständnis im Dialog stehen. Der-Andere-im-Selben der Subjektivität ist die Beunruhigung des Selben durch den Anderen. Weder intentionale noch selbst dialogische Wechselbeziehung, die das Sein in seiner ihm eigenen Reziprozität bezeugen würden«.
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Christian Rößner
[36], 67 stets in kompromisslos-hyperbolischer Einseitigkeit auf der striktesten Asymmetrie insistiert, die den intersubjektiven Raum unausgleichbar gekrümmt sein, 68 das Ich eine nicht übernehmbare Verantwortlichkeit übernehmen läßt und Gerechtigkeit beim Anderen beginnen: 69 »Man nennt dies Güte. Die Möglichkeit eines Punktes im Universum, an dem ein solches Überfließen der Verantwortung sich ereignet, definiert vielleicht aufs Ganze gesehen das Ich«. 70 Darum »ist das Ich als Ich Diener des Du im Dialog« [36] und darum verdankt sich der Dialog der »Tatsache, dass in der Begegnung der andere vor allem zählt. Die Beziehung, in der das Ich dem Du begegnet, ist der ursprüngliche Ort und Umstand der Ankunft des Ethischen« [29]. Angezeigt ist mit einer solchen »Ethik des Empfangens« [36] 71 die unhintergehbare Vorgängigkeit einer »vorursprüngliche[n] Empfänglichkeit« 72 diesseits der vermeintlich alternativen Dichotomie von heteronomer Passivität und autonomer Aktivität, die von einem Anspruch des Anderen provoziert immer schon ist, der – »unüberschreibar« 73 wie Kants »himmlische Stimme« 74 der Vernunft und des Gewissens – faktisch freilich vielfach verletzt, jedoch nicht schlechthin negiert, da nämlich nur überhört, aber nicht nicht gehört Vgl. auch A. Münster, »De la pensée bubérienne du Je-Tu vers la pensée de l’Autre dans la philosophie d’Emmanuel Levinas«, in: ders. (Hg.), Le principe dialogique. De la réflexion monologique vers la pro-flexion intersubjective, Paris 1997, 61–82. 68 Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 120: »Der Blick, mit dem mich der Andere mißt, läßt sich nicht vergleichen mit dem, durch den ich ihn entdecke. Die Dimension der Höhe, in der der Andere steht, ist wie die primäre Wölbung des Seins, die den Vorrang des Anderen, den Niveauunterschied der Transzendenz, begründet«; vgl. auch ebd., 144; weitere Stellenangaben bei Rößner, »Äquivozität des Eros«, 309; ders., Anders als Sein und Zeit, 82. 69 Vgl. Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, 200: »Der Andere muß Gott näher sein als ich. Was gewiß nicht eine philosophische Erfindung ist, sondern die erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins, das man bestimmen könnte als das Bewußtsein des Vorranges des Anderen vor mir. Wohlverstandene Gerechtigkeit beginnt beim Anderen«. 70 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 360. 71 Auch Levinas, Totalität und Unendlichkeit, 28, bestimmt die Subjektivität in diesem spezifischen Sinne als Gastlichkeit; vgl. Rößner, »Hospitalité d’Abraham«, 462– 478. 72 Levinas, Humanismus des anderen Menschen, 73. 73 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 62. 74 Ebd., A 62; die hier zu konstatierende Parallele zwischen Kant und Levinas wird in extenso ausgezogen von Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 304–422; für eine Andeutung vgl. ders., »Hospitalité d’Abraham«, 465–471. 67
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Dialog und Dialektik
werden kann. 75 Aus dieser Impossibilität der Indifferenz entspringt die Unausweichlichkeit des Ethischen: »Das Ethische verdankt nichts den Werten, vielmehr sind es die Werte, die ihm alles verdanken. Das Konkrete des Guten ist dieses Wert-Sein des anderen Menschen. Nur einer Formalisierung erscheint die Ambivalenz und die Unentscheidbarkeit des Wert-Seins in gleicher Entfernung zwischen Gut und Böse. In der Geltung des anderen Menschen ist das Gute älter als das Böse« [29]. Das erste Wort, dessen infinitives Sagen vor jedem definitiv Gesagten den Dialog hervorruft, ist dieses »bedingungslose […] Ja« 76, dieses »Ja vor dem Ja und Nein« 77: »Das Ja ist der Anfang. Das Nein kann nicht Anfang sein; denn es könnte nur ein Nein des Nichts sein; das setzte aber ein Nichts voraus, das verneinbar wäre, also ein Nichts, das sich schon zum Ja entschlossen hätte. Das Ja ist also der Anfang. […] Im Anfang ist das Ja«. 78 Der »Dialog der Transzendenz« [29] ist »also nicht nur eine Art und Weise des Redens« [30]. Der Dialog »ist die Transzendenz. Das Sprechen im Dialog ist nicht eine der möglichen Formen der Transzendenz, sondern ihr ursprünglicher Modus. Mehr noch, sie bekommt erst einen Sinn, wenn ein Ich Du sagt. Sie ist das Dia des Dialogs« [30]. Damit wird »eine neue Modalität des Zwischen […] bejaht« [30], deren »systematische Tragweite« [31] sowohl für die philosophische Anthropologie als auch für die Theologie kaum überschätzt werden kann: »der Gott des Gebets – der Anrufung – wäre ursprünglicher als der Gott, der von der Welt oder von einem Urteil a priori abgeleitet und in einem indikativischen 79 Satz ausgesagt wird; Vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 2007, 358: »Das ›Man muß antworten‹ oder ›Man kann nicht nicht antworten‹ bezeichnet genau den Punkt, wo ethische Forderungen entspringen, wo etwas ist, was zu sein hat. Gäbe es keinen solchen Ort für eine Genealogie der Moral, so bliebe jede moralische Forderung ein moralistischer Kraftakt«. 76 E. Levinas, »Die Versuchung der Versuchung«, in: ders., Vier Talmud-Lesungen, übers. v. F. Miething, Frankfurt/M. 1993, 57–95, 92. 77 B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt/M. 2006, 49–52; vgl. J. Derrida, »Nombre de oui«, in: ders., Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, 639–650, 647: »oui archi-originaire«. 78 Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 28. 79 Vgl. E. Levinas, »Eine Religion für Erwachsene«, in: ders., Schwierige Freiheit, 21– 37, 29: »Die Attribute Gottes stehen nicht im Indikativ, sondern im Imperativ. Die Kenntnis Gottes erlangen wir als ein Gebot, als eine Mizwa. Gott kennen heißt wissen, was zu tun ist«; zum Kontext vgl. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 423–453, 437–438; vgl. auch ders., »Pour une religion d’adultes. Kant et Levinas«, in: R. Theis (Hg.), Kant. Théologie et Religion, Paris 2013, 391–398. 75
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das alte biblische Thema des Menschen als Bild Gottes bekommt einen neuen Sinn. Anders gesagt: diese Ebenbildlichkeit kündigt sich im ›Du‹ und nicht im ›Ich‹ an. Dieselbe Bewegung, die zum anderen führt, führt zu Gott« [31]. 80 Der Dialog mündet damit in eine »Religion für Erwachsene«, für die kein Weg zu Gott führt, der am anderen Menschen vorbeigeht: »Gottes Epiphanie wird immer in einem ethischen Zusammenhang erwartet« [32]. Abschließend stellt sich Levinas der Frage nach der »philosophische[n] Autonomie des neuen Denkens« [33]. Für die emphatische Neuheit »dieser ganzen ›Phänomenologie‹ des Ich-Du« [33] wäre es nämlich nicht schon hinreichend, »der Intentionalität und den Strukturen des transzendentalen Bewusstseins gegenüber negativ vorzugehen« [33]. Doch indem im Dialog nicht allein »eine ethische Dimension« [33] impliziert ist, die zu explizieren Anliegen und Aufgabe der von Levinas mit quasi-phänomenologischen Mitteln ins Werk gesetzten affirmativen Genealogie der moralischen Subjektivität 81 ausmacht, sondern dieser daraus entfaltete »Begriff des Ethischen […] sich von der Tradition trennt, die das Ethische aus der Erkenntnis und der Vernunft als Fähigkeit des Universalen gewann« [34], wird »der Bruch dieses diskontinuierlich-diachronischen Dialogs mit den transzendentalen Modellen des Bewusstseins« [33] nur »noch radikaler« [33] vollzogen. »Das Ethische beginnt im Ich-Du des Dialogs, insofern das Ich-Du das Wert-Sein des anderen Menschen bedeutet, oder noch genauer, insofern sich erst in der Unmittelbarkeit der Beziehung zum anderen Menschen und ohne Rückgriff auf irgendein allgemeines Prinzip eine Bedeutung wie Wert-Sein abzeichnet. Ein Wert-Sein, das dem anderen Menschen eignet aufgrund des Wertes des Du, des anderen Menschen als anderen« [34]. Im »Gegensatz zum Wissen« [37] jener Philosophie, die dem Ziele zustrebt, »ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« 82, und sogar noch »im Gegensatz zu gewissen Ausführungen von Philosophen des Dialogs« [37], die diesen als einen
Vgl. dazu T. Freyer, »Der Mensch als ›Bild Gottes‹ ? – Anmerkungen zu einem Vorschlag von E. Levinas im Hinblick auf eine theologische Anthropologie«, in: J. Wohlmuth (Hg.), Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, 81–95, 83–85. 81 Rößner, Anders als Sein und Zeit. 82 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke, hg. v. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Bd. 3), Frankfurt/M. 1986, 14. 80
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Dialog und Dialektik
symmetrisch austarierten »Monolog mit verteilten Rollen« 83 begreifen, sieht Levinas im Dialog »ein Denken des Ungleichen« [37] als des Nicht-Gleichgültigen, ein Denken der inadaequatio angelegt, »das über die Welt hinaus denkt« [28], »das über das Gegebene hinausdenkt« [37] und im Denken mehr denkt, als es denkt und denken kann. 84 Herausgefordert durch eine Idee des Unendlichen, die auf keinen Begriff zu bringen ist, ist solches Denken nicht in der Lage, in stummem Selbstgespräch dem »Spiel von Reflexen in einem Spiegel« [35] sich zu widmen, sondern aufgefordert und gerufen, »das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen« 85, und in einem unablässigen Anrennen gegen die Grenzen der Sprache die performative Paradoxie eines sich entsagenden Sagens zu praktizieren, das sich stets selbst ins Wort fällt um des Anderen willen, dem es sich solchermaßen verschreibt: 86 »gegen Wittgenstein zu sagen, was nicht sich sagen läßt. Der einfache Widerspruch dieses Verlangens ist der von Philosophie selbst: er qualifiziert sie als Dialektik, ehe sie nur in ihre einzelnen Widersprüche sich verwickelt«. 87 Diese Dialektik ist als negativ-offene »nicht ein reiner Spaß« [37], sondern Ausdruck jener Paradoxie, die auseinanderzulegen die Anstrengung und »Arbeit philosophischer Selbstreflexion« 88 ausmacht.
Waldenfels, »Dialog und Diskurse«, 44, 50. Vgl. Levinas, »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«, 197: »Die Andersheit des Anderen wird nicht annulliert, sie schmilzt nicht dahin in dem Gedanken, der sie denkt. Indem es das Unendliche denkt, denkt das Ich von vornherein mehr, als es denkt. Das Unendliche geht nicht ein in die Idee des Unendlichen, wird nicht begriffen; diese Idee ist kein Begriff. Das Unendliche ist das radikal, das absolut Andere. Die Transzendenz des Unendlichen mir gegenüber, der ich davon getrennt bin und es denke, stellt das erste Zeichen seiner Unendlichkeit dar«; vgl. Rößner, Der »Grenzgott der Moral«, 79. 85 Adorno, Negative Dialektik, 21. 86 Zu dieser Dialektik von dire und dédire vgl. Ch. Rößner, »Philosophie als Passion. Das gebrochene Denken von Emmanuel Levinas«, in: Rundbrief [Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft der TU Dresden] 30 (2007), 2–5, 4; ders., Anders als Sein und Zeit, 121–125; ders., »Kardiokapriolen. Prousts Phänomenologie der Intermittences du cœur«, in: M. Chihaia, K. Münchberg (Hg.), Marcel Proust. Bewegendes und Bewegtes, München 2013, 241–258, 254–256. 87 Adorno, Negative Dialektik, 21. 88 Ebd., 21; vgl. Ch. Rößner, »Ultima Utopia – oder: Das Absolute jenseits der Totalität. Negative Dialektik bei Levinas und Adorno«, in: S. Hüsch, I. Koch, P. Thomas (Hg.), Negative Knowledge, Tübingen 2020, 321–338, 332. 83 84
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Mit-teilen und Ver-antworten: Ethik und Ontologie des Dialogs Annette Hilt
Am Anfang ist die Beziehung: […] als Bereitschaft, fassende Form […]; das eingeborene Du. Martin Buber 1
Was bedeutet das Indiz, dass sich mit Begriff und Praxis, die dem Dialog beigemessen wird, »eine neue Idee vom Wesen des Sinns und des Geistigen« ankündige [1]? Das Geistige ist Transzendenz in dem Sinne, dass es das Sein als Erscheinung übersteigt, ja womöglich nicht einmal der Ordnung des erscheinenden Seins angehört. Das Geistige ist Beziehung, so die Arbeitshypothese, durch die und in der Erscheinen erst ermöglicht wird. Beziehung ist zwischen mehr als einem. Der Dialog könnte also, so die weitere Hypothese, Beziehungsform des Ein-ander, Beziehungsform der Alterität, die dennoch etwas teilt, sein; Dialog könnte darauf verweisen, wie wir in Beziehungen kommen, sich uns solche Beziehungen eröffnen in einer Passivität vor einem In-Beziehung-Setzen; vor einem Bestimmen, in Begegnungen, die sich zu einer Bezogenheit, Angewiesenheit, einem sozialen Verbund entwickeln: »Die Idee des Unendlichen ist die soziale Beziehung«, schreibt Levinas in seinem Aufsatz »Die Philosophie und die Idee des Unendlichen«. 2 Die Idee des Unendlichen: Was das Denken nicht enthalten kann, was ihm (ethischen) Widerstand bietet als »ein absolut äußeres Wesen« (ebd.): Der Andere. Wer oder Was ist dies Andere? Wie stellt sich dies zum Sein – oder unserem Verständnis davon und wie dies uns erscheint? In welches Verhältnis müssen wir gelangen, um es zu erfahren und so in einen Dialog darüber zu gelangen?
M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, 31. E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, Freiburg, München 1983, 198.
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Mit-teilen und Ver-antworten
Der Dialog wäre so nicht nur ein Phänomen, sondern vor jedem Phänomen: Zum einen Bedingung der Verständigung über einen Grundzug unserer Existenz, die nicht auf ein Allgemeines – oder das Selbe – reduziert werden kann; Bedingung der Verständigung über einen Modus des Sozialen, in dem Sprache, die zu Wort kommen lässt, möglich wird; zum anderen ein Modus des Sozialen, in dem sich eine Praxis des Dialogs (vgl. [1]) zeigen kann. Sprache, Nähe und Berührung verbinden sich zum ethischen Ereignis von Kommunikation, die Distanz wahrt als eigene Beziehungsform und darin Selbst und Anderer, Ich und Du zu Sprechenden macht, die nicht aufeinander reduziert werden können. Und gerade deswegen, weil der Dialog die Distanz zwischen Ich und Du hervor- und zur Sprache bringt, sind sie einzigartig und können eine außerordentliche Beziehung des Dialogs in einem ethischen Sinne wahren [23]. Der Dialog scheint so einer Ontologie vorauszugehen, ermöglicht erst ontologische Strukturen für das Du und das Ich, sofern sie als empirische Subjekte mit ihren Rollen bestimmt werden sollen; zugleich bietet er – als Modus der Transzendenz – Strukturen, deren ontologischer Status zumindest als Frage in einem philosophisch-phänomenologischen Dialog gestellt werden können Levinas entwirft die Geschichte der Philosophie vom Geistigen als »Ursprung […] alles Sinnhaften«, in dem alles Erlebte als Erfahrung aufgehoben ist: »Die Beziehungen zum Nächsten, zur sozialen Gruppe und zu Gott wären auch noch solche Erfahrungen« [3], die aufgehoben sind als Objekte des Sehens, der Vorstellung, der Erfahrung eines cogito. Aufgehoben sind sie in der Immanenz des Geistigen, sie sind sein Besitz. Das Geistige hat »possessive(n) Charakter« als Instanz von Wahrnehmung und Denken [4]: im Ausgang von der Korrelation von Denken und Welt, der Übereinstimmung dessen, was sich dem Denken gibt als das, was dieses sich aneignet für die Befriedigung seiner Bedürfnisse und für die Bestätigung seiner Identität. Das Nicht-Ich als Gegenstand der Erscheinung ist Begriff: angeeigneter Besitz; als Erscheinung ist es immer schon Erfahrenes, Begriffenes, eingeholt in die Immanenz, ist eingeholt vom Geist, der bei den Dingen ist als Selbstbewusstsein; es ist dann das Selbe in der Einheit des ›ich denke‹, im System der Erkenntnis, so Levinas zur Kulmination des Denken des Geistigen in der Philosophie Hegels. Bewusstsein, Wahrnehmung und Denken haben das Sein im Begriff, bezeichnen es und sprechen über etwas, bestätigen es als ihren Inhalt; dieses Sprechen ist Monolog, spricht nicht zu jemandem, 199 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
Annette Hilt
Frage und Antwort fallen ineins [11]. Aber: Was bleibt dann zu denken? »Ein Denken nach dem Maß des Denkers, ist das nicht ein Gemeinplatz? Es sei denn, dies meine ein Denken, das Gott nicht denken kann« [9]. Auch der Andere, zu dem ich spreche, ist dann Gegenstand unter Absehung dessen, dass er ›Du‹ ist. Doch anders gedacht, anders als von der Indifferenz von Subjekt und Objekt des Denkens und Sprechens, sondern vielmehr von einer Nicht-Indifferenz, einer Sozialität von einander Anderen, ›Du‹ und ›Ich‹, die einander irreduzibel sind: »Diese Sozialität wäre eine Beziehung zum Nächsten, eine andere Beziehung aber als die Vorstellung, die man sich von seinem Sein machen kann, etwas anderes als die reine Erkenntnis seiner Existenz, seiner Natur, seiner Geistigkeit« [7]. Gemeinschaft ohne Totalität führt die Phänomenologie an die Grenzen der Intentionalität und dem Primat der Vorstellung, stellt Anlass zur Kritik der Phänomenologie dar, insofern hier die RaumZeit von Gemeinschaft, die geteilte Welt neu gefasst werden müssen: Sich beziehen auf das Unendliche und das Nicht-Indifferente des gedachten Seins: auf Dialog und Transzendenz und eine andere Sinndifferenz der Sprache, »nämlich die zwischenmenschliche Beziehung […], die sich im Dialog ereignet« [19]. Die Idee des Unendlichen und die Frage des Mitein-ander im Mitteilen einer Welt stellen die Frage nach dem Modell, anhand dessen Gemeinschaft gedacht und gelebt wird: Sprache, Begegnung, Beziehung, die nicht allein zwischen Subjekten bestehen, sondern dieses Zwischen erst entstehen lassen müssen; Sprache, Begegnung und Beziehung als Medien der Distanz, die vor der Subjektwerdung bereits fungieren, die im Levinasschen Sinne Ereignisse der Alterität und der Berührung durch Alterität ermöglichen: Vor einem Austausch von Informationen kommen wir ins Gespräch, berühren sich Welten, indem sie sich einander öffnen und darin erst ihren Weltcharakter erfahren, der bestimmt wird von dem Jenseits dieser Welt im Anderen. Am Anfang war Beziehung – als Sprache, als Sprechen, als Bewegung zum Hörenden 3: Das Wort ist gelebte Begegnung und entwickelt die Beziehung: So charakterisiert Levinas die Dialogik Martin Bubers: »Beziehung mittels Sprache wird als Transzendenz gedacht, die sich nicht auf Immanenz zurückführen läßt.« 4 Vielmehr ist diese Vgl. E. Levinas, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München, Wien 1991, 16. 4 Ebd., 17. 3
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sprachliche Beziehung Ausgesetztheit 5, die mit jeder Erfahrung bricht, zugleich jedoch diese Ausgesetztheit selbst noch einmal transzendiert: Distanz zur Beziehung macht, diese zugleich als Beziehung in einer Spannung hält, den Sprechenden (den Antwortenden) aus sich heraustreibt: 6 »Es handelt sich um eine absolute Distanz, die sich der Synthese widersetzt, welche der synoptische Blick eines Dritten zwischen zwei Menschen im Dialog herstellen wollte. Das Ich und das Du sind nicht objektiv zu umfassen, kein und ist zwischen ihnen möglich, sie bilden nicht eine zusammengesetzte Einheit« [25]. Der Dialog beruht auf der Fremdheit und ihrer Unverfügbarkeit; daher muss er seinen eigenen Beginn initiieren, um überhaupt erst in ein Gespräch zu gelangen [16]. Er verweist auf eine Sozialität von einander ontologisch Verschiedenen: »Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog. Dies ist vielleicht die paradoxe Botschaft jeder Philosophie des Dialogs oder eine Art, den Geist durch die Transzendenz, d. h. durch die Sozialität, durch die unmittelbare Beziehung zum anderen zu definieren« [26]. Ihnen kommen unterschiedliche Weisen zu sprechen zu, oder anders: unterschiedliche Weisen, den Dialog zu erfahren: im Angerufenwerden, im nicht Nicht-Antworten-Können, im sich Rechtfertigen-Müssen, im Dusein für den Anderen, das mich mir entfremdet und mich – im Sinne der Rekurrenz – auf ein anderes als ich selbst zurückbringt: denn Du bin ich nur vom Anderen her. Der Dialog setzt den ersten Schritt voraus, den der Andere tut, um ihn mit mir einzugehen, setzt Abhängigkeit vom Anderen aus, der hört und spricht, setzt das Angesprochenwerden voraus, dem nie der erste Schritt meiner Initiative vorausgehen kann: Denn wer aber hörte mich denn? – Außer ein Anderer, der mich schon angesprochen hat, indem er mir nahe gekommen ist. Der Dia-log geht aus vom Getrenntsein: ›dia‹ – auseinander, aus dem heraus Annäherung erst geschehen kann als ein Bezug zum Unbekannten. Für Levinas speist sich diese Nähe nicht aus ontologischer Erschlossenheit, sondern aus Güte 7, die wiederum Verantwortung fordert: »Urheber dessen sein, was mir, ohne daß ich es wußte, eingeflüstert worden ist – das empVgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg, München 1992, 116. 6 »Im Sagen kommt das Subjekt dem Nächsten nahe, indem es sich aus-drückt im buchstäblichen Sinne des Wortes, hinausgetrieben wird aus jeglichem Ort, keine Bleibe mehr hat, keinen Boden betritt« (Levinas, Jenseits des Seins, 118). 7 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 302. 5
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fangen haben, ohne zu wissen woher, dessen Urheber ich bin. In der Verantwortung für den Anderen befinden wir uns mitten in dieser Ambiguität der Inspiration. Das unerhörte Sagen liegt auf rätselhafte Weise in der an-archischen Antwort, in meiner Verantwortung für den Anderen. Die Spur des Unendlichen ist diese Ambiguität im Subjekt, abwechselnd Anfang und Vermittlung, diachrone Ambivalenz, die vom Ethischen ermöglicht wird«. 8 Ein anderes Denken der Transzendenz liegt in Eugen Finks Dialektik der Welt als Matrix der Grundphänomene menschlichen Daseins: Welt ist Transzendenz. 9 Zu dieser Transzendenz als dem »Medium unserer Existenz« 10 gilt es den rechten Abstand, das rechte Verhältnis zu gewinnen; ein Verhältnis, in dem Dialog über unser Verhältnis zu und mit den Anderen entstehen kann. Dieses Verhältnis kann für Fink nicht eines im Sinne der Husserl’schen Intentionalität unter dem Primat des Vorstellens sein: Gemeinschaft ist kein Derivat einer vorstellungsmäßigen Ich-Du-Beziehung; vielmehr geht es Fink um die Matrix eines Verhaltens zur Zeit, zum Raum und zur Welt, das den Spielraum für Gemeinschaft öffnet, sich uns gibt: Sein bzw. Welt, die er so zu fassen sucht, ist Gabe; die Sprache, die sich hier ereignet, ist ein Moment in der Struktur des Miteinanderteilens von Welt. Dieses Gespräch ist »Ort aller Probleme«, ist der Ort für die durch Sprache ermöglichte menschliche Gemeinschaft. 11 Deren Struktur sucht Fink phänomenologisch, darüber hinaus aber auch anthropologisch zu klären. Levinas’ und Finks dialogisch-dialektisches Denken möchte ich als zweierlei Formen der Anthropologie und der Ethik miteinander kontrastieren: Eintritt in den Dialog und Gestaltung des Dialogs (der Mit-teilung bei Fink im Sinne von ›Welt miteinander als Fremde teilen‹) kommen hier in ein phänomenologisches Gespräch. Nicht nur, inwiefern Anthropologie die Ethik oder umgekehrt die Ethik Anthropologie fordert, sondern inwiefern beide für eine Verständigung über ›Dialog‹ im Rahmen einer radikalen Philosophie der Transzendenz – angesichts des Unendlichen von Sinn – unabdingbar sind, sei hier die Frage. Levinas und Fink bringen ihre Kritik an der Husserl’schen Philosophie beide auf ihre je eigene Weise vor. Im Sinne der PhänomeEbd., 326. Vgl. E. Fink, Existenz und Coexistenz, Freiburg, München 2018, 105. 10 Ebd., 44. 11 Ebd., 46. 8 9
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Mit-teilen und Ver-antworten
nologie als Infragestellung unserer Gewohnheiten, unserer Modelle von Subjektivität, von Bewusstsein und Vorstellung und schließlich bei Levinas und Fink der Infragestellung unserer Modelle vom Sozialen, vom Mitein-ander-sein, vom Abhängig-sein-von… und vom Umgang miteinander angesichts der Unbestimmtheit unserer Gewissheiten weiterzuführen, soll mit diesen beiden Denkern im Folgenden eine Auseinandersetzung anhand der Problematik des Dialogs geführt werden. Beide betonen sie die Entwicklung ihrer Anthropologie (bei Fink die Grundphänomene menschlichen Daseins) und einer Ethik als »erster Philosophie« über eine Befragung der Sozialstrukturen, die sich nicht mehr an Traditionen der Ontologie und ihrer Korrespondenz mit dem Vorstellen orientieren. 12 So könnte an Fink die Frage gestellt werden, inwiefern seine Anthropologie einen ethischen Anspruch hat, und zwar, insofern diese herausgearbeiteten Grundstrukturen menschlichen Daseins auf Miteinanderteilen und sich Mitteilen, auf Dialog aufgebaut sind und ihn immer wieder herausfordern. Und an Levinas erginge die Frage, inwiefern sich in seinem Verständnis von Dialog ein beständiges Widerrufen (de-dire) zeigt, das eine gemeinsame Verständigung miteinander auf gemeinsame Strukturen unserer Gemeinschaft hin impliziert: also eine anthropologische Klärung fordert, die sich aus dem Anspruch des Anderen ergibt. Anthropologie und Ethik würden sich so überkreuzen, einander fordern. »Man müsste einen Dialog finden, um in den Dialog hineinzuführen. Es sei denn, man setze die vorgängige Einheit eines souveränen und göttlichen Wissens, einer Substanz voraus, die sich selber denkt und die in eine Vielheit von Bewusstseinen zersplittert wäre« [16]. Heiße dieses Absolutum nun Vernunft, Bewusstsein oder die Totalität der Welt, es wird von Levinas und von Fink aufgebroVgl. E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg, München 1979, 430 f. und E. Levinas, Die Spur des Anderen, 1983, 196 ff. Wenn man denn die beiden mit diesen Kategorisierungen trifft: Levinas stellt für sich selbst die Entwicklung ›die‹ Ethik als Regelwerk in Abrede: »Meine Aufgabe besteht nicht darin, die Ethik aufzubauen; ich versuche nur, ihren Sinn zu suchen. […] Zweifellos kann man entsprechend dem, was ich eben gesagt habe, eine Ethik aufbauen, aber das ist nicht mein eigentliches Thema« (E. Levinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit P. Nemo, Wien, Köln 1986, 69). Fink bezeichnet eine »ausführliche Klarlegung aller Beziehungen zwischen den fünf Grundphänomenen und den in ihnen begründeten Sekundärphänomenen« als »Aufgabe einer weitläufigen Phänomenologie der menschlichen Existenz«, die für ihn weiterhin ein Desiderat bleibt (vgl. Fink, Grundphänomene, 430).
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chen auf die Idee des Unendlichen hin, die sich manifestiert in der Asymmetrie von Sprechen und dem Mit-teilen von Welt. Fink zielt auf eine ontologische 13 Klärung der Sozialität 14, gleichwohl die Beziehungsstrukturen dem Seienden, das sie verbinden, vorausgehen. »Wenn man auf eine Ontologie der menschlichen Gemeinschaft abzielen will, muß man sich auch klar machen, daß jede Ontologie selber aus einer Gemeinschaft entspringt. […] Mit der Frage nach der ontologischen Verfassung der Sozialität ist notwendig immer auch mitgefragt nach der sozialen Voraussetzung der Ontologie«. 15 Dies klingt bei Levinas natürlich anders, ist es doch gerade die Ontologie, die den Anderen neutralisiert, ihn mit dem Selben identifiziert.
Miteinandersein: Welt und bedeutsame Dinge Das »mit« sei ungeeignet, die originäre Relation zum Anderen zu bezeichnen. 16 Fink dagegen expliziert die soziale Beziehung über das Miteinandersein, das er auf das schärfste von dem Füreinandersein transzendental unter dem Primat des Vorstellens konstituierter Subjektivität unterscheidet. 17 Er tut dies im Rahmen einer Befragung der ontologischen Denkmotive der Philosophie, insbesondere diejenigen der Erscheinungsfelder und der Welt als Medium der erscheinenden Dinge. Fink zielt hier auf einen kosmologischen Phänomenbegriff, den eine Differenz zwischen Welt und binnenweltlichem Seienden charakterisiert, die sich in der Dialektik unterschiedlicher Erscheinungsfelder unserer gemeinsam gelebten Existenz wiederholt. Die co-existenten Subjekte sind einander fremd: Fremdheit erst ermöglicht Nähe, Nähe wird von Fremdheit herausgefordert. So heißt es in Existenz und Coexistenz: »Das menschliche In-der-Welt-sein […] ist in sich eigentümlich bewegt durch einen unruhigen Gegensatz […] von Heimat und Fremde. Alle unsere Lebensverhältnisse sind in das Medium dieses Widerspiels eingetaucht, alle haben von daher einen beirrenden zweideutigen Charakter, eine aenigmatische Tönung«. 18 Ontologisch unter der Fragestellung, inwiefern unsere Formen von Gemeinschaft unser Seinsverständnis und damit auch unser Selbstverständnis widerspiegeln. 14 Vgl. Fink, Existenz und Coexistenz, 301. 15 Ebd., 22. 16 Vgl. E. Levinas, Le Temps et l’Autre, Montpellier 1980, 9. 17 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 7 und 8 von Fink, Existenz und Coexistenz. 18 Ebd., 276. 13
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Miteinandersein wird von Fink als eigene Seinsform, ursprünglicher als das Füreinandersein 19, herausgearbeitet. Miteinandersein geht dem cogito sum, aber auch dem Dasein, dem es in seiner Existenz um diese Existenz selber geht, ontologisch voraus; es hat nicht die Struktur eines singulären – eigentlichen – Entwurfes und ist nicht bereits intentional auf einen Horizont von Verfügbarkeiten ausgerichtet, sondern muss seine Strukturen, Ausrichtungen, Verpflichtungen und Ordnungen erst in Formen des Zusammenlebens und deren Bezeugung bilden. Coexistenziell ist das Miteinandersein grundlos, ist bestimmt durch den Entzug seines Grundes. Dies manifestiert sich für Fink in der Erfahrung der existenziellen Not, Welt miteinander zu teilen und Formen des Sprechens und Handelns dafür zu finden. In einer etwas anderen Ausdeklinierung als der von Roberto Espositio in seinen Überlegungen zur Communitas 20, wo dieser den negativen Grund von Gemeinschaft aus dem ›munus‹, der Verpflichtung und der geschuldeten Gabe an die anderen, das Gemeinsame als Widerpart einer fest umrissenen Identität bestimmt, verfolgt Fink jene Probleme, die entzogene und grundlose Identität stellen. »Die Fragen, die unausdrücklich und hintergründig unsere thematische Erörterung des Miteinanderseins leiten, sind vor allem zwei: 1.) Ist das Miteinandersein, d. h. die Pluralität des menschlichen Daseins, ein abkünftiges Moment, – gründet es in der existenzialen Struktur des Miteins als einem Wesenszug der je einzelnen Existenz? […] Oder ist erst auf dem Boden einer ontologischen Durchklärung des Miteinanderseins ein Einblick in die volle Strukturfülle der humanen Existenz möglich? Geht hier das Individuum der Gemeinschaft oder die Gemeinschaft dem Individuum vorher? Ist am Ende diese Alternative überhaupt unzulänglich? Die 2.), im Hintergrund wirksame Leitfrage ist, ob die Gesellung dem Menschen kraft seiner eigenen Natur zukommt, ihm eigentümlich ist als dem ›geselligen‹ Wesen par excellence, oder ob die zwischenmenschliche Gesellung begriffen werden muß im Rückgang auf eine ursprünglichere Gesellung des Menschen mit einem Über-Menschen; sind alle Menschenbündnisse (Familie, Staat) ermöglicht durch ein Bündnis des Menschenwesens mit dem Göttlichen, mit dem Sein, mit der Welt?« 21 Fink konzipiert 19 20 21
Ebd., 84 f. R. Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004. Fink, Existenz und Coexistenz, 789.
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das Miteinandersein über eine Mehrzahl von Sinnsphären: den Grundphänomenen des menschlichen Daseins – Tod, Liebe, Arbeit, Herrschaft und dem Spiel. In ihnen sind ›abstraktere Bestimmungen‹ wie Leiblichkeit, Vernunft, Sprache oder Freiheit enthalten 22, ebenso der Gegensatz von Singularität und Pluralität. Mit Fink könnte gegen Levinas der Einwand formuliert werden, dessen Schema Selbst – Anderer sei ein abstraktes und einen Grundzug menschlicher Existenz totalisierendes. Für Fink sind Seinsverständnis und Selbsterkenntnis in der philosophischen Anthropologie verklammert: jedes der Grundphänomene erschließt auf eigene Art die Offenheit des Seinsbezuges und auch die Beziehung zum Anderen. 23 Hinsichtlich der zweiten genannten Leitfrage konzipiert Fink eine menschliche, »diesseitige« Anthropologie: »das Menschsein müsse an sich selber verstanden werden und solle an keinem fremden Maß [weder Tier noch Gott oder Übermensch] gemessen werden«. 24 Gemeinschaft versteht sich aus der Präsenz eines Sinns, der indes (noch) nicht sprachlich ausgelegt ist. Gemeinschaften sind »Weisen der Selbstverhaltung«, sind nicht schlichte Tatsachen, sondern »primär ein Selbstverhältnis des menschlichen Daseins«, das als Verhältnis sich in den Beziehungen zueinander, über Dinge, über Sprache, über Bahnen von Grundphänomenen menschlicher Existenz immer wieder in anderen Formen zeigt. Sinngebende und sinnvorzeichnende Mächte konstituieren sich in den Grundphänomenen durch Wissenschaft, Kunst, Mythos und die Philosophie, aber stets in einem gemeinsamen – coexistenziellen – Vollzug dieser Sinnproduktion; so ist denn auch die Philosophie gesellschaftliche Aktion. Fink geht es um Ermöglichungsstrukturen dieses Selbstverhaltes, die durch die eigene menschliche Verständnisstellung zum Sein charakterisiert sind. Die ontologische Klärung des Sozialen, der sozialen Voraussetzungen der Ontologie zeichnet ihr Umgang mit dem Nichts aus, denn jede Konstitution, im Fink’schen Sinne: jede Produktion von objektivierten Strukturen des Sinns, bedeutet ein Umgang mit dem Nichts. Produktion in diesem Sinne ist ein führendes Organ der Wirklichkeitserfassung und -bewältigung. Um dies zu verstehen, brauchen wir ein Verständnis davon, in welchem Sinn von Sein wir uns bewegen. Sinnbildung entsteht aus einem »unterirdische[n], ge22 23 24
Vgl. Fink, Grundphänomene, 433 u. 435 f. Vgl. ebd. 438. Ebd., 435.
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heime[n] Sinn, den die deutende Rede ausspart, den sie nur umgrenzt; das Unausgesprochene bildet die Sinnmitte allen offenbaren Sinnes, den Wurzelboden, aus dem jener aufwächst«. 25 Diesen noch nicht eigens zum Ausdruck gekommenen ›wilden Sinn‹, der uns das Vertrauteste ist, muss eine philosophische Auseinandersetzung zur Sprache bringen. Unser Fremdverstehen legt sich in im Umgang geteilten Praktiken aus; Finks setzt sich hier von Heideggers Zeug-Analyse, die zum einen im Rahmen einer Bewandtnis-Ganzheit, zum anderen in dem der Sorge des Daseins um sich selbst steht, ab. Hier kommt nun die Co-Existenz ins Spiel: Wie wir Welt teilen im praktischen Umgang mit bedeutsamen Dingen, wie dem Haus, dem Tisch, dem Bett oder auch andere technische Gegenstände, um deren Gebrauch sich Mitteilung, und eben auch Streit, um einen gemeinsamen Sinn entfaltet. Auch darin spiegelt sich die Offenheit, der nie zu Ende kommende Wandel des Kosmos, der Dinge in der Welt in ihrer Gestalt hervorbringt, wider: als Weltoffenheit des Menschen, der dieses Verhältnis als Gemeinschaft in ihren Sinnbildungen in lateralen Verhältnissen zu dem/den Anderen über die Dinge immer wieder neu erfahren und auslegen muss: und zwar über die Erfahrung des neu Bedeutsamwerdens, die bei Fink ebenfalls Ereignischarakter besitzt. Ebenso bedeutsam wird das Verhältnis zu Abwesenden, das Verhältnis zum Nichts: Mit den Abwesenden teilen wir Welt in anderer Weise als über einen durch unsere gegenständliche Umwelt gestalteten präsenten Sinn; für das Gedenken müssen selbst erst Institutionen geschaffen und Dinge sinnbildend für das anwesende Abwesende werden. Dies sind die bedeutsamen Dinge, die Symbola – Teile, die das zu verstehen geben, wovon sie Teil sind –, die auf das, was nicht erscheint bzw. nicht in einem uns sich zeigenden Sinn aufgeht, verweisen: Sie verweisen auf den Zeit-Spielraum der Welt. Was Welt für uns teilbar sein lässt, ihr den Charakter einer Polis gibt, in der wir uns über das gute gemeinsame Leben verständigen, ist die Bedeutsamkeit dieser Dinge. Bedeutsamkeit ist »ein Weltcharakter […], der zumeist in allem endlich-Seienden verhüllt ist, der aber aufbrechen und aufblitzen kann als die un-endliche Tiefe alles Endlichen. 26 Die Dinge sind »welttief«, sie sind nicht nur Zeichen für anderes, sondern zeigen das Verhältnis von uns zur Welt und ihrer Offenheit auf. 25 26
Fink, Existenz und Coexistenz, 16. Fink, Existenz und Coexistenz, 127.
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Bedeutsam werden diese Dinge in ihrem gemeinsamen Gebrauch, wo wir ihre unendlichen, sich wandeln könnenden Bedeutungen erfahren, sie für uns einen Aufgabe-Charakter erhalten: Wir erfahren an ihnen unsere Lebensbedürfnisse, daher sind die für Fink Symbola Umgangsdinge einer leibnahen Existenz: Der Tisch, die Nahrungsmittel, Grab und Mahnmal der Erinnerung, Symbola, an denen wir den Wandel der Generationen erfahren. In ihrer Bedeutsamkeit, die in ihrem Not wendenden Charakter, unserer Endlichkeit eine Form zu geben, liegt, teilen sie Welt, indem sie die einzelnen leiblichen Subjekte dezentrieren: 27 nicht indem sie Welt auf- und zuteilen, nicht, insofern sie Konventionen der Sinnstiftung gegen andere auszeichnen oder als Ausdruck unserer subjektiven Vorstellungen fungieren, sondern indem sie versammeln, indem sie zwischen uns sind, wir mit ihnen gemeinsam die Aufgabe der Sinnbildung bewältigen müssen. Wir Menschen bringen Symbola zwar hervor, stehen ihnen jedoch nicht abgelöst gegenüber, sondern gehen im Hervorbringen in sie ein; darin werden wir wie sie Teil eines Ganzen, das selbst wiederum in größeren Bezügen steht, also nie endlich abgeschlossen ist: als Tischgemeinschaft, Generation oder Kultur. Symbola bilden nicht allein unsere vertraute Umwelt, sondern führen, wenn sie Menschen um sich versammeln, immer auch zu einer Verwandlung unseres alltäglichen Weltverständnisses, sie gehen nicht auf in dem Sinn, den wir ihnen beilegen, sie haben ihre eigene Macht, eine Situation zu gestalten aus einer Abwesenheit von gesetztem Sinn, was wiederum auf einen das Sein transzendierenden Entzug, einen Bruch mit dem Sein, verweist. Menschen, die Gemeinschaft bilden und sie teilen, nehmen sich in ihr Gebilde, in dessen Lebensordnung mit hinein: »Der Mensch ist sich hier gleichsam selbst das Material seiner Formung. Fremdformung und Selbstformung, techne im engeren Sinne der BeWir alle haben auf je eigene Weise mit ihnen zu tun, dies aber gemeinsam. Der jeweilige Einzelbezug zum Ding steht zugleich lateral in Beziehung zu dem anderer Menschen. M. Merleau-Ponty fasst dies in seinem späten Aufsatz »Die Wahrnehmung des Anderen und der Dialog« über die intercorporalité: »Der Leib des Anderen ist vor mir – aber was ihn selbst betrifft, so führt er ein einzigartiges Dasein: zwischen mir, der denkt, und jenem Leib oder eher neben mir, an meiner Seite, taucht er auf wie eine Nachbildung meiner selbst, ein umherirrendes Doppel, er treibt sich eher in meiner Umgebung herum, als daß er in ihr erschiene.« M. Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1993, 149. Wobei Fink selbst jegliche Implikation einer Verdoppelung oder Paarung verwirft.
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arbeitung von vorhandenem Naturstoff und sittliche Selbstgestaltung des Menschen, bilden zusammen offenbar die Sphäre, worin es bedeutsame Dinge gibt«. 28 Dies ist keine geschlossene Region, alles kann bedeutsam werden, es ist die Sphäre der Erfahrung von Welt und der Symbola, an denen sich gerade das in einer negativen Weise mit zeigt, was noch in statu nascendi ist: eine verborgene Dimension, aus der her Dinge bedeutsam werden: Welt in der Differenz zum Binnenweltlichen. Die Gräber, die Zeugnisse und Bilder von Abwesenden, von Verstorbenen verweisen auf die Geschichtlichkeit von Welt, durch die wir Erinnerungen haben können. Am Tisch, der versammelt, erfahren wir, dass wir aufeinander bezogen sind, etwas teilen und dass wir dies in seiner Bedeutsamkeit mitteilen können und müssen. In den Symbola werden Sinnbezüge, in denen wir leben, zum Vorschein gebracht und werden im Umgang mit den Dingen gestaltbar. Das Phänomenale ist das, was sich zeigt und sichtbar ist; sofern es aber nicht darin aufgeht, sichtbar zu sein, ist es Symbolon und erhält eine spekulative Struktur, die über das vorstellende Denken hinausgeht: Philosophisch stellt sich am Symbolon die Frage nach dem, was niemals in der Wirklichkeit erscheint und das gleichzeitig als Lücke in der Wirklichkeit angezeigt wird, indem einzelne Dinge, Teilausschnitte der Wirklichkeit, eine Ahnung an das Ganze spiegeln: Nicht spiegeln in einem von uns unabhängigen Sinne, sondern darin, wie wir diese Dinge miteinander teilen, sie mit-teilen, über sie auseinandersetzen: Sie beziehen uns auf Welt. 29 Welt bzw. das In-der-Welt-sein wird von Fink spekulativ als ein doppelter Begriff vorgestellt, dessen beide Facetten in einer Spiegelung aneinander deutlich werden: In-der-Weltsein fasst das Insein aller Dinge im Weltall, wie sie darin versammelt sind, und zugleich dadurch einen Ort zum Erscheinen haben. In der Welt ist indes auch der spezifisch menschlich geprägte verstehende Weltbezug des Menschen zum Kosmos, und zwar zur spezifischen Weise der Dinge, in unserer Coexistenz zu erscheinen. 30 Fink, Existenz und Coexistenz, 124 f. Vgl.: »Welt-teilen ist allein das echte und wahre Mit-Teilen. […] das, worein man sich teilt, ist nicht eine Sache, die zerrissen oder auseinandergenommen wird, noch ein vorstellungsmäßiges Dabeisein bei einer Sache« (Fink, Existenz und Coexistenz, 131). 30 Fink konzipiert dies nicht allein als ein sinnliches Gesamtgefüge im Sinne MerleauPontys texture charnelle, bildet sich doch Coexistenz in der Vielfalt der Grundphänomene, die jedoch nicht nur in leiblich unmittelbarer Gegenwart ihre Vollzüge entfal28 29
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Fink lenkt sein Fragen auf die kosmologische Dimension von Welt, die Differenz von binnenweltlichem Erscheinen und dem Erscheinungsfeld, das als Unendliches nicht phänomenal gefasst werden kann. Diese Differenz ersetzt den Horizontbegriff, der bei Husserl als Leerhorizont noch athematisch zu fassen gesucht wurde, den Fink jedoch nun aus dem intentionalen Zugriff zu lösen sucht. Der Horizont darf nicht mit der Welt gleichgesetzt werden. 31 Welt ist kein Gegenstand. Dafür gilt es, eine Sprache zu finden, und dies betrifft insbesondere auch die Alterität, die Fremdheit des anderen Menschen in seiner Mitgegenwart. Gerade hier zeigen sich unsere Bedürftigkeit und Endlichkeit, unser Bezug zum Nichts, zu dem, was wir nicht fassen können. Nicht die Vernunft ist das uns allen Gemeinsame. Vernunft leitet sich von dem Modell der Vereinzelung, der Unterscheidung, her; Vernunft kann die Fremdheit, das Nicht-Sein, nicht fassen: Fremdheit eröffnet als unendliche Bedeutsamkeit die Erscheinungsdimensionen von Menschen und Dingen. Fink expliziert dies wieder und wieder an der Geschlechtlichkeit, dem Dual menschlicher Existenz, und dem Grundphänomen des Eros: »Die Liebenden verlieren gegeneinander ihre endliche Bestimmtheit, sie sinken gemeinsam in einen Grund, der tiefer ist als ihre besonderte Einzelexistenz«. 32 Der Dual ist hier nicht zu verstehen als klar geschiedener Gegensatz, sondern als Unterscheidendes, in dem sich Gemeinsamkeit und Teilen, Miteinandersein und Trennung erst bilden. Es sind dies Unterscheidungen – Differenzen –, die es nicht aufzulösen gilt, sondern die in ihrer Dialektik, mit der sie sich als Verschränkung von weiteren polar aufeinander bezogenen Unterscheidungen wie Vernunft und Sinnlichkeit, Tag und Nacht in einer Spannung zeigen, gehalten werden müssen. Die Frage ist, welche Art von Dual wir unserer Selbstverständigung zugrunde legen: einen ontologischen oder einen dua-
ten. Die Vielfalt der Grundphänomene steht auch einem einheitlichen Verhaltensstil entgegen, die Merleau-Pontys intermonde kennzeichnet. S. hierzu M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, 258 f.: Aus der leiblichen Bewegungserfahrung entsteht für Merleau-Ponty eine mehrdimensionale Offenheit der Welt mit der Konsequenz, »[d]aß sich in dieser Welt ein Verhalten abzeichnet, das über mich hinausgeht[; dies] bildet nur eine weitere Dimension des ursprünglichen Seins, das sie alle umfaßt.« 31 E. Fink, Welt und Endlichkeit, Würzburg 1990, 148. 32 Fink, Existenz und Coexistenz, 202.
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listischen. 33 Für Fink ist es ersterer, der sich gerade im Sozialen zeigt: Denn hier kommt er als Weltoffenheit des Menschen zum Tragen, die den ›Grund‹ oder vielmehr das Unendliche aller sozialen Gebilde darstellt; diese kann indes nur spekulativ in immer neuen Verstehensansätzen und Kontrastierungen aus Gemeinschaftsphänomenen erfahren werden: aus der Öffnung der eigenen Welt, dadurch, dass im eigenen Horizont Leerstellen, fremder Sinn, Widersinn erscheinen: Fremdheit durch Andere, durch Abwesende, die stets aufs neue geklärt werden muss, für die immer wieder neu Ordnungen gefunden werden müssen. Das Miteinander ist eine Spannung: Nicht im Sinne des Füreinander, Gegenstand der Vorstellung zu sein, sondern darin, aufeinander verwiesen zu sein, und Fink behandelt dies als ein Füreinander-Einstehen. 34 Dies kann sich gleichwohl auch als ein Gegeneinander auslegen: »Von der Widersprüchlichkeit der Welt selber her hat das Dasein des Menschen seine existentielle Dialektik, die wir formell anzeigten mit den Gegenbegriffen ›Heimat‹ und ›Fremde‹. Wir wohnen heimatlich und fremd zugleich im Ganzen. Und dies nicht in einer fix unterscheidbaren Weise, sondern in seltsamen Übergängen. Die Vertraulichkeit kann immer jäh umschlagen in Befremdung – und aus Angst und Verlassenheitsgefühl kann ebenso jäh ein tiefes Vertrauen aufsteigen, die äußerste Schutzlosigkeit kann plötzlich und uns unbegreiflich Schutz gewähren. Und das ist jetzt nicht vom isolierten Weltverhältnis des Einzelmenschen gesagt, sondern primär von unserem gemeinschaftlichen, ›geteilten‹ InderWeltsein«. 35
Transzendenz: Welt, Dialog, Spiel Ist die Welt im Sinne Levinas das Anonyme ›Es gibt‹ des Seins? Insofern sie von Fink plural durch Sinnsphären, die miteinander in Widersprüchen, in Deutungskonflikten stehen, die sich nicht vereinheitlichen lassen, verweist sie immer auf den und die Anderen in ihrer konkreten Fremdheit. Und diese Fremdheit verlangt nach dem Dialog: als Unterbrechung im Finkschen Spiel der Differenzen (von Fink durch das Zum-Ereignis-Werden der bedeutsamen Dinge, um die wir 33 34 35
Ebd., 215. Vgl. ebd., 94 f. Ebd., 278.
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uns teilen, konzipiert). Kann der Dialog die Ethik in die Ontologie einführen? Die sprachliche Beziehung – für den Anderen zu sein – ist gerade diejenige, die mit dem Primat der Vorstellung – füreinander zu sein – bricht. Für den Anderen zu sein, heißt, ihm Rede und Antwort stehen zu müssen: Verantwortlich zu sein. 36 Der Andere kommt auf mich zu, drückt sich aus: »Das erste Wort sagt das Sagen selbst. Es bezeichnet noch keine Seienden, hält keine Themen fest und will nichts identifizieren. Sonst kämen die Kommunikation und die Nähe wieder auf die logische Funktion der Sprache hinaus und würden aufs neue die Kommunikation voraussetzen«. 37 Wird in diesem ersten Wort, dem ›Sagen‹ (Dire), mit dem Levinas vor allem in seinem Spätwerk die Transzendenz des Sprechens öffnen will, geteilt? Für Levinas ist dieses Entgegentreten face-à-face Berührung – und zwar von beiden Seiten, denn auch ich nähere mich ihm, werde in seine Nähe gestellt. In »Sprache und Nähe« heißt es: »Die Berührung, in der ich mich dem Nächsten nähere, ist weder Erscheinung noch Wissen, sondern das ethische Ereignis der Kommunikation; für alle Übertragung von Nachrichten wird dieses Ereignis vorausgesetzt; es stellt die Universalität her, in der Wörter und Aussagen ausgesprochen werden«. 38 Universalität, die er als »Brüderlichkeit« (ebd.) bezeichnet. In Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht macht diesen Anfang das Sagen, als liminales Ereignis des Agens ohne Gesagtes 39: vor jeder Mitteilung ist es Zeichengeben von dem, der spricht, der darin unvertretbar ist, der sich öffnet. Es ist allein der Ausdruck, die Stimme, die gehört werden will. Und hier schreibt Levinas nicht die Rollen von Du und Ich auf den einen und den Anderen fest: Allein der, der spricht, setzt sich aus in eine Offenheit, in der wir uns im Dialog befinden und von der wir Zeugnis geben; derjenige, der hört, steht im Dativ der Anklage oder auch der Gabe. 40 Die Beteiligten des Dialogs sind gestellt in eine beVgl. Levinas, Ethik und Unendliches, 73. Levinas, Die Spur des Anderen, 293 f. 38 Ebd., 293. 39 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, 110 ff. 40 »[D]iese dem Anderen geltende Übereignung, diese Aufrichtigkeit ist das Sagen. Nicht Mitteilung eines Gesagten, das sogleich das Sagen zudecken und ausschalten oder aufsaugen würde, sondern Sagen, das seine Offenheit offenhält, ohne Entschuldigung, ohne Ausflucht oder Alibi, sich ausliefernd, ohne irgendetwas Gesagtes zu sagen. Sagen, das nichts anderes sagt als ebendas Sagen, ohne es zu thematisieren, 36 37
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sondere Ordnung der Sprache, in eine besondere Erfahrung einer Transzendenz, eines Zeitraumes, der Welt in ihrer Dialektik von Sein und Nichts, dem Erscheinenden und was erscheint, geöffnet auf ein Jenseits des Horizontes unserer Wahrnehmung und der Vorstellung. 41 Bernhard Waldenfels nennt dies eine »Intrige« in der Nähe, die das außer-ordentliche Ereignis von Sagen und Gesagtem knüpft: Nähe, die zur Annäherung und zur Verstrickung zwischen dem, der spricht, und demjenigen, an dien das Sagen adressiert ist, führt. 42 Das Ereignis des Sagens und was dabei gesprochen wird kommt in einem Dialog zur Sprache, der seine Dramaturgie hat, aber nicht einfach Sagen vom Gesagten trennt, sondern in der Rekurrenz auf diese Intrige (und nicht auf das Selbst) immer wieder auf das Gespräch, seine Nähe und seine Bewegungen zurückkommen muss. Wir sind in dieser Begegnung in den Dialog und sein Ereignis verstrickt. Die Dynamik des Dialogs bricht das Selbst – oder die Instanzen des Gesprächs – auf, bringt sie ins Gespräch und ins Spiel: der Dialog will geschaffen oder vielmehr erfunden sein aus Rede und Gegenrede, aus Überraschungen, die jeden der Sprechenden verandern. Merleau-Ponty beschreibt dies in der Phänomenologie der Wahrnehmung: »In der Erfahrung des Dialogs konstituiert sich zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines bilden ein einziges Geflecht, meine Worte wie die meines Gesprächspartners […] zeichnen sich in ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns ist. […] Im gegenwärtigen Dialog werde vielmehr indem es das Sagen immer noch weiter aussetzt: Sagen heißt so Zeichengeben von nichts anderem als von ebenjener Zeichenhaftigkeit, jener Bedeutsamkeit der Ausgesetztheit; es heißt die Ausgesetztheit aussetzen, anstatt sich in ihr aufzuhalten wie in einem Akt des Aussetzens […] Ausspruch des ›hier, sie mich‹, das sich mit nichts identifizieren läßt außer ebender Stimme, die so spricht und sich ausliefert, der Stimme, die bedeutet« (Levinas, Jenseits des Seins, 313). 41 Vgl. dazu Levinas’ Erläuterung zur Umkehrung der Intentionalität im Sagen, in der Ungleichzeitigkeit von Sprechen und Hören: Wer spricht bleibt eigentümlich unbestimmt: nicht das Subjekt (weder grammatisch noch transzendental), vielmehr sei das Wer des Sagens »nicht zu trennen von der eigentümlichen Verstrickung des Sprechens«; der Bezug des Sprechenden auf sich und den Anderen ist »rastlose(n) Rekurrenz«, »die eigentliche Problematik des Subjekts« (Levinas, Jenseits des Seins, 114 f., FN 33) Die Rekurrenz ist Zurückkommenmüssen auf diese Intrige des Agens, verwiesen werden auf die Verantwortung und die Verstrickung. 42 Vgl. B. Waldenfels, »Levinas on the Saying and the Said«, in: E. S. Nelson et al. (Hg.), Addressing Levinas, Evanston 2005, 86–97, hier: 90.
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ich von mir selbst befreit. […] Einwände meiner Gesprächspartner entreißen mir sogar Gedanken, von denen ich nicht wußte, daß ich sie hatte, so daß also der Andere ebenso sehr mir zu denken gibt, wie ich ihm Gedanken zuschreibe«. 43 Die Sozialität im Dialog bricht so das einzelne Subjekt auf, gleichwohl dieses als derjenige, der spricht, bleibt, ohne sich indes dabei in das Innere eines geschlossenen Bewusstseins – die Vorstellung – zurückziehen zu können. Dramaturgie – oder Ordnung des Spiels: Levinas kritisiert Finks »Spiel der Welt« als Feier der Freiheit ohne Verantwortung 44 und führt stattdessen eine ursprüngliche Verantwortung vor dem Gegensatz Freiheit – Unfreiheit ein, die sich aus dem Sagen des Anderen ergibt: »Einführung eines Seienden, das nicht für sich ist, das für alle ist – Sein und zugleich Sich-vom-Sein-Lösen; […] Diese Weise, zu antworten und Verantwortung zu tragen ohne vorheriges Engagement – Verantwortung für die Anderen – ist nichts anderes als die menschliche Brüderlichkeit, die der Freiheit vorausgeht. Das Gesicht des Anderen in der Nähe […] ist nicht zu vergegenwärtigende Spur, Modus des Unendlichen.« 45 Es ist die Spur, die sich auch im Spiel der Welt, in der Pluralität der Grundphänomene und nicht zuletzt in der Dramaturgie des Dialogs, die sich in und aus dem Sprechen selbst ergibt, findet. Spur und Spiel stellen beide ein Heraustreten aus sich selbst dar: Transzendenz in einer gemeinsamen Nähe, die nicht Synthese ist 46 und auch nicht Symmetrie. Erinnern wir uns hier an die von Levinas so skizzierte Standard-Vorstellung eines herrschaftsfreien Dialogs der Vernunft und der besseren Argumente in »Der Dialog«: »Man kann dieses Gespräch Dialog nennen, in dem die Teilnehmer gegenseitig in ihr Denken eintreten, bei dem die Teilnehmer durch den Dialog zur Vernunft gebracht werden. Und man kann die Einheit der mannigfaltigen Bewusstseine, die in dasselbe Denken eingetreten sind, indem ihre wechselseitige Anderheit unterdrückt wird, Sozialität nennen. Dies ist der berühmte Dialog, der dazu bestimmt ist, der Gewalt dadurch Einhalt zu gebieten, dass er die Gesprächsteilnehmer M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 406. Levinas, Jenseits des Seins, 257. 45 Ebd. 46 Vgl. Levinas, Ethik und Unendliches, 59, sowie »Sprache und Nähe«, wo Levinas die Geschichte im Sinne des récit, des Berichtes als eine Einheit des Sinns und eines Rückbezuges alles Unsagbaren auf ein Thema bestimmt (vgl. Levinas, Die Spur des Anderen, 261). 43 44
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wieder zur Vernunft bringt und Frieden in Einstimmigkeit stiftet, wobei er die Nähe in der Kongruenz unterdrückt. Der bevorzugte Weg des westlichen Humanismus« [14]. Kongruenz – oder die stets schon erwartete sich einstellende Übereinstimmung – auf ein Vorbild hin denkt den Dialog vom Ende, nicht von seinen Verwicklungen und seiner Dramaturgie in statu nascendi. Was gewährt eine solche Dramaturgie, die anderes ist als die Synthese unterschiedlicher Ereignisse einer Geschichte 47, die nachträglich – außerhalb des Dialogs und seiner Verstrickungen – erzählt werden kann? Ich möchte hier wiederum auf die Vielfalt und Pluralität der Finkschen Grundphänomene zurückkommen: »Das Verhältnis der Grundphänomene untereinander ist außerordentlich spannungsreich, sofern sie beständig miteinander konkurrieren. […] In gewisser Weise hat jedes dieser Grundphänomene die fatale Tendenz, sich als das eigentliche Wesen des Menschen zu behaupten, jedes hat den Zug zur Totalität […]. Aus dieser rivalisierenden Konkurrenz ergeben sich viele Konflikte, personale und gesellschaftliche Spannungen. […] Etwa wo in einer Gesellschaft die Kaste der Krieger das Lebensgepräge bestimmt, tritt das Herrschaftsphänomen in den Vordergrund der Lebensbühne. Das Leben wird dann gedeutet als Kampf um Macht und Herrschaft; doch die Krieger hören nicht auf, in generativen Verhältnissen zu stehen, […] hören nicht auf, von der Arbeit zu leben und sich im Spiel zu erfreuen. Sowohl seinsmäßig wie verstehensmäßig sind die Grundphänomene miteinander verflochten in einem unentwirrbaren Knäuel und Knoten […]. Der Mensch versteht sich in Worten und Begriffen, die je aus einem der fünf Daseinsbereiche genommen sind und auf die anderen übertragen werden. Solche Übertragungen sind jedoch keine harmlosen Gleichnisse, hängen nicht mit der Metaphorik der Sprache zusammen.« 48 Ist diese Verflechtung nicht heillos, steigert sie sich nicht noch weiter in einer Inszenierung der Konkurrenz dieser Grundphänomene: Ist es hier nicht der Puppenspieler extra scenam, der den Knoten schürzt und wieder löst? Die Welt indes als Zeit-Raum des Erscheinens übersteigt eine Bühne; doch das Binnenweltliche impliziert diese Transzendenz und sucht ihr im Spiel zu entsprechen, indem sich in ihr festgefügter Sinn öffnet. Das Spiel als Weltsymbol ist ohne Spie-
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Vgl. Levinas, Die Spur des Anderen, 187. Fink, Grundphänomene, 427 f.
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ler, so Fink 49, sie zielt auf kein Ende; allein wir selbst müssen zu Enden kommen, die wir aber auch selber widerrufen können oder dazu gebracht werden, wenn etwas (oder jemand) die Ordnung des Spiels stört, die Transzendenz der Welt gleichsam einbricht, wie dies oben an den Symbola herausgearbeitet wurde. Symbola in der Spielwelt sind Dinge, an denen Transzendenz erscheint: »Die Dinge werden dann symbola – nicht als Zeichen für etwas anderes, sie sind symbola als sie selbst, sofern sie ihre Endlichkeit als Binnenweltlichkeit zeigen. […] Die Ergänzung bringt hier nichts hinzu, fügt nicht etwas an, was bislang fehlte und ausstand, bringt nicht etwas Seiendes zu anderem Seienden, hebt überhaupt den fragmentarischen Charakter der endlichen Dinge nicht auf – stellt sie vielmehr gerade als diese endlichen Vereinzelungen ausdrücklicher in das umfangende Weltganze zurück«. 50 Das Weltganze selbst ist keine Totalität, sondern Unendlichkeit von dem, was war, sein und werden kann, ist Spielraum, ist als Vor-schein ein wirklicher Schein – von sich her. Nicht willentlich produzierter Schein, sondern Raum und Zeit, innerhalb dessen sich Beziehungen verwirklichen können. Und hier kommen wieder die Sprechenden, Handelnden, ja, vielleicht auch die Spielenden zu der Dramaturgie, die sich nun entwickeln kann: An den Dingen – den Symbola – und durch das Sagen mit dem Gesagten, in Worten und Taten. »[D]as Menschenspiel ist eine besonders ausgezeichnete Weise, wie das Dasein verstehend sich zum Ganzen dessen, was ist, verhält und wie es sich vom Ganzen durchschwingen läßt; im Spiel des Menschen scheint das Weltganze in sich selbst zurück, läßt an und in einem Innerweltlichen, an und in einem Endlichen Züge der En-Endlichkeit aufschimmern. Das Spiel ist ein existenzieller Vollzug, welcher aus einer rein immanenten Betrachtung der menschlichen Dinge herausführt […]. Im Spiel ›transzendiert‹ der Mensch sich selbst, übersteigt er die Festlegungen, mit denen er sich umgeben und in denen er sich ›verwirklicht‹ hat, macht er die unwiderruflichen Entscheidungen seiner Freiheit gleichsam widerrufbar, entspringt er sich selber, taucht er aus jeder fixierten Situation in den Lebensgrund urquellender Möglichkeiten – kann er immer von neuem beginnen und die Last seiner Lebensgeschichte abwerfen.« 51 49 50 51
Vgl. E. Fink, Spiel als Weltsymbol, Freiburg, München 2010, 214 ff. Ebd., 123. Ebd., 214.
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Es ist dies eine Ekstase zur Welt, Finks Anthropologie eine der Ekstatik, in der nicht eine Weltentsprechung gesucht wird, aber eine Öffnung des Menschen zur Welt und den anderen Menschen. Die Beziehung des Menschen zur Welt im Spiel wiederholt den Rückschein des Weltganzen in die Binnenwelt in den Ereignissen, die von den Symbola und dem Spiel, der Dramaturgie des Spiels eröffnet werden. 52 Insofern sind diese Bezüge der Weltoffenheit des Menschen nicht allein subjektrelativ, sondern haben als ekstatische ihre Voraussetzung in der Transzendenz: Der Mensch übergibt sich dem Spiel, das die eigene Begrenztheit zu anderen und anderem hin öffnet. 53 Für Levinas ist der Dialog vom anderen aus, eröffnet durch das Sagen, weltlos: Das Subjekt wird »hinausgetrieben […] aus jeglichem Ort, (hat) keine Bleibe mehr, (betritt) keinen Boden«. 54 Wie verhalten sich nun Finks Weltdenken und seine Anthropologie zur Ethik? Ist es ohne Moral? »Die Welt ist an sich zwecklos, und sie hat an sich auch keinen Wert und bleibt außerhalb jeder moralischen Abschätzung. […] Aber wir müssen uns klar und deutlich machen, daß die Grundlosigkeit der Welt, ihre Zweck-, Ziel-, Wert- und Planlosigkeit, nicht vom Modell eines innerweltlich wertlosen Dinges etwa aus gedacht werden kann. Die Grundlosigkeit der Welt ist nicht weniger, nicht geringer als die Gegründetheit des Seienden, sie ist etwas viel Ursprünglicheres. Das welthafte Wallten der All-Macht geschieht ohne Grund und ohne Ziel, zwecklos und sinnlos, wertlos und planlos. Das sind die Grundzüge der Welt, die in das Menschenspiel zurückscheinen.« 55 Wie spielt die Welt? Sie bringt alle Einzeldinge ins Erscheinen, sie lässt Beziehungen sein, stellt sie ein in die Situation. Dies kann dem Menschenspiel sein Maß geben. Die Weltspielmetapher versagt bei der Personifikation eines Spielers; sie gibt keinen Spieler und keine
Ebd., 216. Auch hier sei noch einmal kontrastiv auf Merleau-Ponty verwiesen, der den kinästhetischen Leib als Bühne, der wiederum eingebettet ist in die sinnliche Welt, als eine weitere Bühne bis hin zu einem ›allgemeinen‹ Stil hin öffnet und totalisiert: »Seit dem ersten Augenblick, in dem ich meinen Leib zur Erkundung der Welt gebraucht habe, wußte ich, daß dieser leibliche Bezug zur Welt verallgemeinert werden könnte« (Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 153). 54 Levinas, Jenseits des Seins, 118. 55 Fink, Spiel als Weltsymbol, 220 f. 52 53
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übermenschlichen Werte vor 56, ist als Welt offen und unendlich: Damit fordert sie uns zur Formgebung, zum Instituieren von Ordnungen. Damit kommen wiederum die Begegnung und deren Offenheit zum Tragen: in der Welt, über die Alltagswelt hinaus, im Spiel und im Dialog. Und dazu bedarf es den Anderen, die Idee des Unendlichen im Angesicht des Anderen.
Ethik: Dialog und Verantwortung in Pluralität Für Fink liegt die Offenheit in der Grund- und Zwecklosigkeit des Spiels, darin spiegelt es die Idee des Unendlichen von Welt. Das Spiel bedeutet nichts außer sich selbst: Grund, Zweck und Wert erhält es allein aus der Situation, und zwar durch und mit dem und den Anderen – und den Sprachformen des Dialoges – Sagen und Gesagtem: so wie er von den dialogischen Denkern, Levinas, insbesondere aber auch Franz Rosenzweig und seinem Denken der Offenbarung, 57 die Orientierung jenseits der Relativität alles Sinnes von Sein geben kann, als eigene Größe und Beziehungsform herausgestellt wurde. Hier schafft die Sprache, das Sprechen, das Sagen, die Beziehung: die, wie Buber im diesen Beitrag einleitenden Zitat schreibt, »Bereitschaft, fassende Form«. Das sich Ereignen einer Situation, deren Rahmen, Ziel und Zweck durch nichts außer ihr vorgegeben ist, scheint unter gewissen Gesichtspunkten eine letzte, umgreifende Totalität zu sein, umgreifend, weil nicht fassbar. Ist die Transzendenz in ihrer Immanenz aufgehoben? Fink zielt, wie bereits erwähnt, auf eine »irdische Anthropologie« und seine Kritik an der Ontologie verweist auf ein Unendliches des Kosmos, dessen A-personalität anonym im Sinne des Ebd., 223. Vgl. beispielhaft eine Stelle zum Offenbarungscharakter des Sprechens F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Den Haag 1976, 177–179: Es ist das »augenblicksentsprungene(s) Geschehen, als ereignetes Ereignis«, in dem göttliche Liebe mich als Sprechenden selbst sein lässt; dies bedeutet Offenbarung »im engeren, nein im engsten Sinne.« Rosenzweig bezeichnet dies als einen Anfang in der Welt, das Sprechen in der Welt als zweite Offenbarung. Sprache ist Welt: »Es entsteht die verflochtene Einheit der Sprache, die eine Welt ist, in der die vielen Dinge aufgelöst sind. Und über die eine Sprache, die noch erst immer eine einzelne Welt ist, beginnen sich die Sprachen zu verflechten.« F. Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Köln 1964, 102: Die initiale dialogische Situation öffnet sich auf eine Sprachwelt von Vielen.
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Levinasschen il y a zu sein scheint: Nihilistische Freiheit. Und auch heißt es bei Fink vom Spiel als Widerschein der Welt ambivalent, im Spiel werde nicht unsere Verantwortung übersprungen, aber wir könnten uns von unseren Taten und den Werken unserer Freiheit teilweise lösen: »Das Spiel befreit uns von der Freiheit«. 58 Das heißt aber auch, dass Freiheit nicht entgrenzt wird, sondern aufgehoben, suspendiert wird: am und im Spiel und durch die Begegnung. Bei Levinas ist es der Andere, der mich als Geisel nimmt: mich entgrenzt bis zur Besessenheit meiner Verantwortung für ihn, die Rechtfertigung meiner Freiheit einklagt, diese Freiheit in Frage stellt. Aber dies ist gerade Beziehung im Sagen, dem Zeichengeben durch den Anderen, der darin nicht mehr zeigt als sich selbst (»Hier, sieh mich!«), der zeigt, dass er im Spiel ist. Sagen, das ist »Bedeutung, die dem Anderen gilt, in der Nähe, die sich von jeder anderen Beziehung abhebt, denkbar als Verantwortung für den Anderen; man könnte sie Menschlichkeit oder Subjektivität oder Sich nennen.« 59 Der Eine gibt sich im Sprechen, im Antworten den Anderen, indem er sich ausdrückt, darin sich offenbart und erscheint: Auch er gibt Zeichen von sich selbst und nicht nur von etwas, ist Leib, und darin außer sich, im Ausdruck und sich ausdrücken Müssen für den Anderen ist er inkarniertes Ich – draußen beim Anderen 60, und zugleich ist dieser Andere ihm bereits vorgegeben, ist sein »eingeborenes Du« (Buber). Die Begrenztheit des inkarnierten Subjektes drängt es über sich hinaus, und dies ist aber allein möglich durch eine vorgängige Sozialität zum Anderen hin. Im Sprechen Zeichen geben vom Sich: Vom ›sich‹ schreibt Levinas: »Das sich in ›sich halten‹ oder ›sich verlieren‹ oder ›sich wiederfinden‹ ist nicht ein Ergebnis, sondern gerade die Matrix der Beziehungen oder der Geschehnisse, die in diesen reflexiven Verben zum Ausdruck kommen. […] Das Sich kann sich nicht bilden, es ist bereits gebildet aus absoluter Passivität, und es ist in diesem Sinne Opfer einer Verfolgung, welche jegliche Annahme und Übernahme lähmt. […] Die Rekurrenz des Sich verweist zurück an ein Diesseits der Gegenwart, in der alle im Gesagten identifizierte Identität konstituiert wird: sie ist bereits konstituiert, während der Akt der Konstitution allererst Fink, Spiel als Weltsymbol, 215. Levinas, Jenseits des Seins, 111. 60 Vgl. S. Grätzel, Versöhnung. Die Macht der Sprache – Ein Beitrag zur Philosophie des Dialogs, Freiburg, Basel, Wien 2018, 164. 58 59
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dazu kommt zu entstehen.« 61 Der Akt der Konstitution, der hier im dialogischen Ausdruck zur Entstehung kommt, öffnet das in sich geschlossene und in seiner Identität bestimmte ›sich‹ : über seine Ziele, seine Vorhaben, seine Strategien hinaus und ohne seine eigene Initiative. 62 Dieses Offenbaren des Sich im Zeichen, das ich dem Anderen von ebendiesem Zeichengeben gebe, wie ein Gruß, ein Vokativ; Anerkennung von Schuld 63, das Zeichengeben von der Unmöglichkeit, sich zu entziehen und sich ersetzen zu lassen, schafft dem dialogischen Spiel seinen Raum und seine Aufrichtigkeit, die bewährt werden will. 64 Levinas verweist an dieser Stelle auf Franz Rosenzweig und auf die Wahrheit, die aufhört, zu sein, was wahr ›ist‹ und zu dem wird, was als wahr bewährt werden will. Und der Dialog, auch das in ihm Gesagte, will bewährt werden, soll er sich zwischen den Sprechenden als und in deren Beziehung halten. Dies heißt zunächst, dass die Sprechenden auf ›sich‹ neu zurückkommen, sich darin bewähren. In Levinas’ Rekonstruktion von Bubers dialogischem Prinzip: »[D]en anderen Menschen als Du anrufen oder ansprechen und mit ihm reden hängt nicht von einer vorgängigen Erfahrung des anderen ab, leitet jedenfalls die Bedeutung ›Du‹ nicht von dieser Erfahrung her. Die Sozialität des Dialogs ist nicht die Erkenntnis der Sozialität. Der Dialog ist nicht die Erfahrung des Zusammentreffens von Menschen, die miteinander sprechen. Der Dialog ist ein Ereignis des Geistes, zumindest ebenso unableitbar und ebenso als wie das cogito« [22]. Woher nun die Verpflichtung als eine ethische, inwiefern kommt mit dem Dialog die Ethik in diese Begegnung? Levinas nennt die Außerordentlichkeit und Einzigartigkeit der im Sagen geschaffenen Beziehung die »Transititvität des Dialogs und die supraontologische – oder religiöse – Bedeutung der Sozialität oder menschlichen Nähe« [24]; sie schafft über die ontologische Distanz eine Beziehung als Gabe, in einem Akt der Gnade; daraus gewinnt sie ihren Wert. »Das Ethische beginnt im Ich-Du des Dialogs, insofern das Ich-Du das Wert-Sein des anderen Menschen bedeutet, oder noch genauer, insoLevinas, Jenseits des Seins, 232. »Das Sich entspringt nicht seiner eigenen Initiative, wie es dies beansprucht in den Spielen und Gestaltungen des Bewußtseins auf dem Wege zur Einheit der Idee, in der es, mit sich selbst übereinstimmend, frei als Totalität, die nichts außerhalb läßt« (ebd., 233 f.). 63 Vgl. ebd., 315. 64 Ebd., 312. 61 62
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fern sich erst in der Unmittelbarkeit der Beziehung zum anderen Menschen und ohne Rückgriff auf irgendein allgemeines Prinzip eine Bedeutung wie Wert-Sein abzeichnet. Ein Wert-Sein, das dem Menschen eignet aufgrund des Wertes des Du, des anderen Menschen als anderen, ein Wert, der mit dem anderen Menschen verbunden ist. Die Beschreibungen der ›Begegnung‹ bei Buber vermeiden nie eine gewisse axiologische Färbung. Aber bedeutet nicht die Unmittelbarkeit der Relation selbst und ihre Exklusivität, mehr noch als die bloße Negation von Vermittlungen und Ablenkungen, eine gewisse Dringlichkeit in der angesichts des anderen Menschen einzunehmenden Haltung, eine gewisse Dringlichkeit der Intervention?« [34] Es sind die Dritten, die im face à face stets schon mitimpliziert sind, die diese Dringlichkeit fordern, als Andere des Andere, als Mitsprechende. Und so stellt sich die Frage, ob die »empirische Vielheit von denkenden Subjekten«, in der sich laut Levinas das Sprechen der Sprache realisiere [12] allein den Dialog der Seele mit sich selbst »reproduziere[] oder inszeniere[]« [13]. Zwar sind die Sprechenden als Ich und Du einzigartig: Heißt dies dann aber, dass mehr als zwei die Sprache in ein allgemeines Gefüge von Zeichen verwandeln – oder ist dies nicht allein eine Standard-Deutung der Konventionalität einer Zeichensprache? Die von Levinas kritisierte Koinzidenz [23] deckt sich nicht mit Coexistenz; diese ist mehr. Levinas selbst führt die Brüderlichkeit als Pluralität von Anderen ein: »Wir müssen uns fragen, ob der Frieden, anstatt im Absorbieren und Verschwinden der Andersheit zu bestehen, nicht im Gegenteil die brüderliche Art einer Nähe des jeweils anderen wäre, welche nicht bloß das Verfehlen einer Koinzidenz mit dem anderen wäre, sondern genau das Mehr der Sozialität und der Liebe.« 65 Friede wäre Offenheit, »Wachwerden« 66 für Andersheit, Einzigartigkeit und Differenz einer Mehrzahl, ja unendlichen Vielzahl von Sprechenden. Durch die Anderen werde ich in Frage gestellt, weil sie unerwartet Ansprüche an mich, aber eben auch aneinander stellen; darauf antworten zu müssen schafft eine ethische Grundlage der Sprache als Verantwortlichkeit, eine Asymmetrie in der Unmöglichkeit, zugleich unterschiedlichen Ansprüchen antworten zu können; Sprechen und Antworten verzeitlichen stets den Dialog, das Sprechenmüssen selbst E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Zürich 2007, 142. 66 Ebd., 143. 65
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bricht mit einer reinen Gegenwart, der Dialog selbst ist Zeit auf ein Unendliches hin, denn wer terminiert ihn aus der Vielzahl der Sprechenden, die aus der Zukunft oder auch aus einer Vergangenheit kommen mögen, die so nicht bewusst war. So ist der Dialog kein verantwortungsloses Spiel, sondern eines, das herausgefordert wird; hier lässt sich mit Levinas anschließen: »Die Freiheit findet sich nur dann durch den Anderen in Frage gestellt und zeigt sich als unberechtigt, wenn sie sich selbst als ungerecht weiß. Das Bewußtsein, ungerecht zu sein, ist nicht eine Zugabe zu dem spontanen, freien Bewußtsein, das sich zunächst gegenwärtig wäre und sich darüber hinaus noch schuldig wüßte.« 67 Aber diese ethische Dimension des Dialoges hat doch eine Wechselseitigkeit im Antworten, dem ein Hören und eine Offenheit für das Hören stets vorausgehen. Ohne Rückbezug des Sprechenden auf sich wäre diese Offenheit tatsächlich ortlos und ginge auf in einer anonymen Welt. Die anthropologische Fragestellung Finks, wie Strukturen der Sozialität eine Matrix für Subjekte bilden, die stets die Erfahrung machen, in Relationen zu stehen, lässt sich anschließen an ein dialogisches Denken, das sich verantwortet, das zur Verantwortung herausgefordert wird. Der Dialog als ursprünglicher Modus der Transzendenz bietet seinerseits neue Strukturen und Konzeptualisierungen, die über die anthropologische und theologische Thematik hinaus wirken; neue Modalität des Zwischen, die sowohl Ontologie als auch Seelenleben der Mitgegenwart und der Sozialität bedeutet [30]. »Der Dialog ist die Transzendenz« [30], er ist die soziale Beziehung, ist die Nicht-Indifferenz des Du für das Ich, ist Chance für das Verstehen, auch wenn er in Hass, in Kampf, in Verkehrung der Transzendenz als ein freies sich Geben des Anderen ausarten kann [30]. Der Dialog bejaht die Beziehung zwischen einander Verschiedenen, bejaht das Zwischen, in dem dann auch die Ontologie, das Vergleichen, das Sprechen in Begriffen für das, was erscheint, möglich ist [30]. 68 Levinas selbst endet mit einem Ausblick auf »eine Art Phänomenologie der Relation« [31], oder vielmehr sollte es heißen: »der Relationen« im Plural, geht man denn ein auf die Vieldimensionalität von Welt, die zu fassen phänomenologisch Aufgabe bleibt; diese Aufgabe Levinas, Die Spur des Anderen, 191. Vgl. F. Raffoul, »Being and the Other: Ethics and Ontology in Levinas and Heidegger«, in: E. S. Nelson et al. (Hg.), Addressing Levinas, 138–151: »A question, then, of thinking the Other as the most proper problem of being« (150).
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muss jedoch von der Problematik von Einheit und Vielheit, der Problematik ihrer Ambiguität gestellt werden: Gerade dann, wenn sich die Aufgabe stellt, die Distanz vom einen und anderen, die Inkommensurabilität von Ich und Du, weiterzudenken auf Dritte. Levinas erinnert an diese Aufgabe und verschärft die Dringlichkeit, sie aufzunehmen als Überdenken der transzendentalen Subjektivität im »Wesen des Geistigen« [1]. Erweist sich Subjektivität angesichts des Anderen, des Du als unabschließbar und unvollständig, da sich Welt, an der sie teilhat, die sie mit-teilt, sich ihrer eigenmächtigen Verfügbarkeit entzieht, so stellt sich mit der Dringlichkeit, einen Dialog in den Dialog zu finden, die Forderung, die Transzendenz von Welt (Fink) und Sprache (Levinas), neu zu durchdenken. Gerade aus der Begrenztheit Bruchstellen für Offenheit, für die Idee des Unendlichen, von etwas, das niemals in der Erfahrung enthalten sein kann, sondern sich erst in der Beziehung zum Anderen zeigt, zu finden, ist die wesentliche ethische Dimension des Dialogs und »lädt zu einer neuen Reflexion ein«: über Gegebenes hinauszudenken, in einer »Modalität, wie das Unbegreifliche Sinn bekommt«, im »mehr zu denken als ich denke« [37]. Transzendenz als Verpflichtung [35], als niemals zu schließenden Distanz oder Differenz ist eine »Modalität, wie ich mehr denke, als ich denke« [37]: die Idee des Unendlichen. Und so wäre womöglich der Dialog, die Beziehung, die wir auf ein Unendliches hin antreten: miteinander, aufeinander verwiesen im Ant- und Verantworten, so wäre womöglich Der Dialog Weg und Beziehung zu einem sozialen Spielraum von vielen: Vielen Gesichtern, aber auch unterschiedlichen Weisen zu sprechen, zu handeln und zu denken. Der Dialog wäre Anlass, Ontologie, Anthropologie und Ethik als unterschiedliche Ausgangspunkte, die die Fragen unserer geteilten Welt, aber auch der Philosophie, offen halten und in Beziehung bringen, neu zu durchdenken.
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Überschätzung – Abbruch – Wiederaufnahme Das Dialogische, unaufhebbare Anderheit und Gewalt Burkhard Liebsch
Den einzelnen Menschen gibt es erst, [wenn] er angesehen, angesprochen und gehört wird. Eugen Rosenstock-Huessy 1 Erwiderung muss sein. Franz Rosenzweig 2 Nur Worte! Nichts als Worte! Leere Worte! Die meisten Worte […] haben mit einem […] Versuch, miteinander zu reden […], notorisch nichts zu tun. Karl Barth 3 Heute sind wir […] nicht mehr miteinander konfrontiert. Milan Kundera 4
Wie vielleicht kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts hat Emmanuel Levinas sein Denken dem Anderen als solchem verschrieben; und zwar dezidiert in der Perspektive einer zur Ersten Philosophie aufgerückten Sozialphilosophie 5. So liegt es nahe, von ihm Auf1 E. Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen. Erster Band, Heidelberg 1963, 151. 2 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung [1921], Frankfurt/M. 51996, 199 (= SE). 3 K. Barth, Mensch und Mitmensch. Die Grundform der Menschlichkeit, Göttingen 1962, 62. 4 M. Kundera, »Der existenzielle Sinn der bürokratisierten Welt«, in: ders., Der Vorhang, Frankfurt/M. 2008, 179–184, hier: 182. 5 Die deutsche Ausgabe von En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 41982, beinhaltet diesen Begriff als Untertitel, obgleich Levinas früher bestritten hatte, dass »die Sozialität in der Welt« überhaupt die Alterität kenne (Vom Sein zum Seienden, Freiburg i. Br., München 1997, 48 [= VSS]). Die dann durchgeführten Analysen besagen aber das Gegenteil (ebd., 116–119). So setzt sich Levinas keineswegs von jeglicher Sozialphilosophie, sondern nur von einem das Soziale durchgängig ›öko-
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Überschätzung – Abbruch – Wiederaufnahme
schluss darüber zu erwarten, wie jeder Einzelne, wie wir, wie ›man‹ in Beziehung zur Anderen 6 und zu anderen Anderen, zu Dritten und anonymen Mitmenschen und Zeitgenossen, aber auch zu Vor- und Nachfahren tritt oder steht. 7 Darüber hinaus könnte man erwarten, dass Levinas herausarbeitet, in welcher Art von Begegnung, Relation oder Verhältnis sich diese Beziehung jeweils manifestiert bzw. zeigt. Sollte an dieser Stelle nicht der Dialog an erster Stelle genannt werden? Zeigt sich nicht nach geradezu klassischem Verständnis im dialogisch-gegenseitigen Verhältnis zu Anderen par excellence, wie man sich von ihnen in Anspruch nehmen lässt, sich ihnen als solchen zuwendet und den Mut aufbringt, auf sie einzugehen – idealiter unvoreingenommen, aufgeschlossen und ›ergebnisoffen‹, wie man heute gerne sagt, unbedrängt von Vorurteilen, von existenziellen Handlungs- und Entscheidungszwängen, von räumlichen und rhetorischen Beschränkungen sowie von der Zeit, die man einander gewährt? Gewiss: gerade die Zeit, die man einander einräumt und lässt, ist unvermeidlich beschränkt. Und ein nicht enden wollender Dialog müsste früher oder später zur Qual werden. Aber ändert diese Binsenweisheit im Geringsten etwas daran, dass der Dialog seinem ganzen Sinn nach auf vorbehaltlose und gegenseitige Öffnung zum Anderen und zu Anderen, Dritten hin angelegt ist, mag es um die Realisierbarkeit dieser Öffnung bestellt sein wie es wolle? Diejenigen, denen das mehr oder weniger ›klar‹ zu sein scheint (die längst überbordende Literatur zu einer psychologisch und politisch gewendeten Kultur des Dialogs ist voll von derart ›Einleuchtendem‹ und ruft kaum noch Widerspruch hervor), muss es überraschen, wie schroff Levinas in seinen in den Jahren 1975/6 gehaltenen Vorlesungen an der Sorbonne, in denen seine reguläre Lehrtätigkeit ihren Abschluss fand, unter dem Titel Gott, der Tod und die Zeit mit folgenden Worten Einspruch einlegt: »Warum sprechen wir vom Annomisierenden‹ und nach Spielregeln der Reziprozität letztlich indifferent begreifenden Denken ab. 6 Tatsächlich war nicht der, sondern die Andere bzw. das Weibliche (le féminin) das für Levinas zunächst maßgebliche Paradigma der Alterität. Dabei kommt frühzeitig allerdings auch eine irreduzible Vielfältigkeit dieses Begriffs in Betracht; vgl. E. Levinas, Carnets de captivité. Œuvres 1, Paris 2009, 66, 269, 273 ff.; ders., Parole et silence, Œuvres 2, Paris 2009, 139. 7 Allerdings nicht nur ›normalerweise‹, wie es in der Phänomenologie des alltäglichen Lebens bei Alfred Schütz den Anschein hat, auf die Levinas so weit ich sehe nirgends Bezug nimmt.
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Burkhard Liebsch
deren? Was bedeutet die Sprache in der Beziehung zum Anderen?« Geht es darum, dass »der Dialog den bevorzugten Modus der Beziehung zum Anderen bildet? – Nein!« 8 Dieser außerordentlich schroffen Verneinung ließen sich mühelos noch weitere hinzufügen, die Levinas zwar nicht explizit ausgesprochen hat, die aber doch seine Kritik dialogischen Denkens bestimmen: Geht es etwa darum, wie ›man‹ – von sich aus, freundlicherweise oder mit gewissen Vorbehalten usw. – in Beziehung zu Anderen tritt (statt von der Alterität des Anderen geradezu heimgesucht zu werden), weil man sich davon eine gewisse Bereicherung verspricht? Nein! Oder geht es um eine ›intensive‹ Sozialität, die man von einem weitgehend normalisierten sozialen Leben nicht erwarten kann, so dass man ›das Gespräch suchen‹ muss? Nein! Oder geht es darum, generöserweise Anderen ›Gehör zu schenken‹, so als sei das eine zu einem
E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, 201 (= GTZ). Auf den ersten Blick hebt sich Levinas auf diese Weise nicht nur deutlich von Martin Buber ab, der »die ganze Welt, das ganze Weltgeschehen, die ganze Weltzeit« als »unreduziert in der dialogischen Situation« stehend begriff (siehe S. 12 in diesem Band). Er setzt sich auch schroff von einer Hermeneutik im Stile Gadamers ab, die »von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen« suchte (Wahrheit und Methode, Tübingen 41975, 329). Diese Hermeneutik entwickelt die »Dialektik« des Gesprächs im Sinne einer Frage-Antwort-Logik, die sich von der Hegel’schen Idee, sich »im Anderssein selbst zu erkennen«, zunehmend im Zeichen des unaufhebbar Fremden zu lösen versucht hat und gerade auf diese Weise Infrastrukturen eines responsiven Verhältnisses zum Anderen herausarbeiten konnte, auf die Levinas selbst angewiesen ist, wo er die Verantwortung für den Anderen als ihm antwortende beschreibt. So ist letztlich die von Levinas gelegentlich hart zurückgewiesene Philosophie des Dialogs seinen eigenen Anliegen ironischerweise wie keine andere entgegengekommen. Das gilt besonders für B. Waldenfels, Im Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluß an Edmund Husserl, Berlin 1971, dessen Ansatz seinerseits unter dem Einfluss von Levinas wichtige Modifikationen durchgemacht und zu Retraktationen geführt hat, insbesondere was frühere dialogtheoretische Symmetrieannahmen anbetrifft. U. a. in: B. Waldenfels, Die Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt/M. 1999, 25. Hier wird überdies das Dialogische polylogisch erweitert gedacht, was keine Nebensächlichkeit ist, wenn man bedenkt, dass Buber »jedes Du« auf »eines« zurückführen wollte (Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, 77, 101, 306 [= DP]) und dass auch Rosenstock-Huessy die Menschheit (in Anlehnung an Augustinus) dialogtheoretisch auf »gewissermaßen nur zwei Menschen« reduziert denken wollte, wie aus dem Motto von Die Sprache des Menschengeschlechts hervorgeht. Die dia- und polylogische Pluralität der Menschen droht aber ganz aus dem Blick zu verschwinden, wenn es ›letztlich‹ nur einen einzigen Anderen gibt, an die sie sich wenden und von dem sie in Anspruch genommen werden. 8
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Überschätzung – Abbruch – Wiederaufnahme
solchen Leben wie ein Luxus hinzukommende Angelegenheit? Abermals Nein! Warum aber diese schroffen Negationen? Dem Dialog liegt nach Levinas’ Überzeugung etwas anderes voraus: die ›Rede‹ bzw. das Sagen (dire) des Anderen, das uns selbst dann noch erreicht, wenn er schweigt und wortlos äußerster Gewalt zum Opfer fällt. Dieses Sagen ist die eigentliche Manifestation des ›Gesichtes‹ (visage) des Anderen, der insofern niemals ›gesichtslos‹ sterben kann, wie es den Anschein hatte in den seriellen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. 9 Der Andere begegnet unter allen Umständen als ›sprechender‹, insofern er seinem Gegenüber die Verantwortung für ihn gibt. Von speziellen, etwa dialogischen oder gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen man einander begegnet (oder auch nicht begegnet), soll das in keiner Weise abhängen. Explizit fährt Levinas denn auch fort: »Hier wird das Sagen nicht als Dialog verstanden, sondern als Zeugnis des Unendlichen dem gegenüber, dem ich mich unendlich öffne. In der Beziehung zum Anderen wird diese Dimension des Zeugnisses, die nicht auf einem vorgängigen Wissen beruht, bedeutsam. (Das Zeugnis durch das vorgängige Wissen zu begrenzen würde uns in die Ontologie zurückwerfen.)« (GTZ, 201.) Gleichsam in einem Handstreich verwirft Levinas hier nicht nur den Dialog als vermeintlich privilegierten, luxuriösen oder außerordentlichen, gesuchten oder gewährten Zugang zum Anderen; er durchkreuzt auch die verbreitete Auffassung, der Dialog könne es ohne weiteres mit irgendeinem anderen in einem kommunikativen Austausch aufnehmen, in dem man einander Gesagtes mitteilt. In Wahrheit handelt es sich gar nicht um einen Dialog, der seinen Namen verdient, wenn diesem ›beliebigen‹ anderen nicht eingedenk sei-
Es ist allerdings ein Desiderat, Levinas’ Ethik des ›sprechenden‹ Gesichts mit Formen der Gewalt zu konfrontieren, die ihre Opfer im buchstäblichen, physischen, sozialen, politischen und rechtlichen Sinne ihr ›Gesicht verlieren‹ lässt oder es entstellt. Es erscheint durchaus als fraglich, ob das ethische Gesicht, so wie es Levinas beschreibt, ganz und gar als solchen Formen der Gewalt entzogen gelten kann; vgl. im Sinne einer Gegenprobe: S. Biernoff, Portraits of Violence. War and the Aesthetics of Disfigurement, Ann Arbor 2017, sowie J. K. Roth, The Failures of Ethics. Confronting the Holocaust, Genocide & Other Mass Atrocities, Oxford 2018. Bei Levinas hat es lt. Roth den Anschein, dass »seeing of the other person’s face would drive home how closely human beings are connected« (50); dann aber ist von »defaced, devoured, and now completely obliterated [faces]« die Rede (186). Und Biernoff geht der entstellenden Gewalt der Zerstörung des Gesichtes nach.
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ner ›Unendlichkeit‹ begegnet wird, die alles zu Sagende, zu Wissende und Gedachte übersteigt, wie es René Descartes in der dritten seiner Meditationen über die Erste Philosophie gezeigt hatte. Diese buchstäblich unfassbare, in keinem Seienden dingfest zu machende und sogar das Sein selbst sprengende, durch infinition (Unendlichung) sich ereignende Unendlichkeit ist überhaupt kein Gegenstand möglichen Wissens, dessen sich ein selbstbewusstes Wesen vergewissern könnte, um ihn (bzw. sie) in seiner Gegenwart aufzuheben. Sie kann vielmehr nur bezeugt werden. Wenn das im Gespräch nicht geschieht, handelt es sich überhaupt nicht um einen wirklichen Dialog, sondern um ein inszeniertes ein- oder gegenseitiges Sich-Verfehlen. Levinas macht keinen Hehl daraus, dass es sich bei dem, was man üblicherweise unter Kommunikation, Verständigung, Gespräch, Dialog und Diskurs versteht, genau darum in der Regel handelt. Die gefeierte, nach der Beobachtung so manches Zeitdiagnostikers längst zur Obsession gewordene, angeblich niemanden mehr ›draußen‹ lassende, jedermann ›inkludierende‹ Kommunikationsgemeinschaft manifestiert so gesehen nicht nur die Abwesenheit des Anderen als des Anderen (die für Levinas selbst von außerordentlicher Bedeutung sein wird), sondern darüber hinaus eine weitgehende Ignoranz gegenüber der Unterscheidung von Abwesenheit und Anwesenheit des Anderen als des Anderen selbst. 10 Mit unerhört gewaltsamer Geste scheint Levinas insofern alles in Frage zu stellen, was die Philosophie traditionell zum Verständnis des Dialogs beizutragen hat: das sokratische Gespräch und die dialektische platonische Unterredung ebenso wie die Dianoia, das quasi-dialogische Selbstgespräch, das romantische »dialogiren mit anderen« 11, den gelehrten Dialog 12 und den vernünftigen Diskurs aktueller Ethi-
»Interaktion, Begegnung, Dialog« seien heute »fast eine Obsession«, liest man etwa bei Peter Burke, »Die italienische Renaissance und die Herausforderung der Postmoderne«, in: G. Schröder, H. Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt/M., New York 2001, 27–38, hier: 32. 11 L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins [1942], Zürich 21953, 429 f. 12 E. Cassirer, An Essay on man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [1944], New York 1954, 20. Antworten auf die Frage, »what is man«, ergeben sich seit Sokrates nur auf dialogischen Wegen, heißt es hier. Und im Verhältnis zum anderen Menschen zeige sich: »truth is by nature the offspring of dialectic thought. It cannot be gained, therefore, except through a constant cooperation of the subjects in mutual interrogation and reply.« 10
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ken 13, das aristotelische Verlangen nach Wissen 14 ebenso wie jegliche Metaphysik, die das Seiende, das Sein und deren Differenz bedenkt 15, die programmatisch funktionale Besinnung auf »symbolische Formen« 16 ebenso wie deren Reinterpretation im Rahmen einer ordinary language philosophy, die durch die linguistische Analyse von Sprachspielen 17 und Lebensformen 18 beweisen will, wie sich sprachliche Bedeutung im normalen bzw. normalisierten Gebrauch von Worten bewährt. 19 In jedem Fall, würde Levinas einwenden, droht der Andere als solcher verfehlt zu werden 20, der ›sagt‹ bzw. zu verstehen gibt, wie er selbst im Spiel von Differenz und Identität nicht aufgeht. 21 Aber sollte die Philosophie diesem ontologisch nicht fassbaren ›Sagen‹ nicht auf die Spur gekommen sein, wenn es zutrifft, dass sie inzwischen ihre zweieinhalb Jahrtausende währende »Sprachvergessenheit« »-unbewusstheit« oder »-verkennung« überwunden hat, wie es Hans-Georg Gadamer, Jürgen Trabant und Albrecht Wellmer nahelegen? 22 Für die stellvertretend nur die Transzendentalpragmatik von K.-O. Apel genannt sei: Transformation der Philosophie, Bd. 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1976. 14 Aristoteles, Metaphysik, I. Buch (A). 15 M. Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 91990. 16 E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« [1921/2], in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1977, 169–200, hier: 175 f. 17 Wie zunächst Ludwig Wittgenstein, so erweckt auch die an ihn, an Gilbert Ryle und John L. Austin anknüpfende Philosophie der Sprachspiele bis heute den Eindruck, ohne einen starken Begriff des Anderen auskommen zu können. So kommt auch dem Gespräch und der Frage, was es als solches ausmacht, in dieser ›analytischen‹ Richtung der Philosophie allenfalls eine marginale Bedeutung zu; vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1958], Frankfurt/M. 1977. 18 A. Janik, S. Toulmin, Wittgensteins Wien, München, Zürich 1987, 308 f. 19 Und zwar in Auseinandersetzungen um die richtige Lebensform, um die mit Gründen gestritten werden kann; vgl. S. Cavell, Cities of Words, Cambridge, London 2005, sowie die aktuelle Rekonstruktion bei A. Wellmer, Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 2004. 20 Vgl. S. Cavell, »Die Frage nach der Geschichte des Problems des Anderen«, in: ders., Der Anspruch der Vernunft, Frankfurt/M. 2006, 742–786. 21 Umgekehrt kann man Levinas den Vorwurf nicht ersparen, die Frage der Einbettung des Dialogischen in den Kontext von sozialen und politischen Lebensformen kaum bedacht zu haben – so sehr man ihm darin Recht geben mag, dass kein Anderer je in einer solchen Kontextualisierung aufgeht. Zu einer entsprechenden Sensibilität für die Differenz des Anderen im Kontext sozialer Lebensformen vgl. Vf., Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin 2001. 22 H.-G. Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke, 13
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Diese Autoren schreiben sich in die Vorgeschichte moderner Sprachphilosophie ein, die mit Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt und Ludwig Feuerbach überhaupt erst das konkrete Geschehen von Sprache(n) entdeckt hat – als enérgeia des Sprechens, als parole, als Rede, die sich ursprünglich an einen Anderen wendet; und zwar auf Erwiderung hin und in der Erwartung, Gesagtes im Hören auf die Stimme des Anderen ›befremdet‹ zurückzuerhalten. 23 Karl Bühler hat in seinen Organon-Modell der Sprache im Anschluss an Wilhelm v. Humboldt, Edmund Husserl und Ferdinand de Saussure daraus theoretische Konsequenzen gezogen, indem er das Sprechen als ein an Andere gewendetes Tun begriff. Jeder Bedeutung verleihende Sprechakt ist demnach adressiert an Andere und handelt von etwas. Das ist die Darstellungsfunktion der Sprache, die Bühlers Sprachtheorie neben der expressiven und appellativen Dimension des Redens als unbestreitbar dominant ausgibt. 24 Wenn man miteinander über etwas spricht und dabei eine vorübergehende oder dauerhafte Beziehung etabliert, kommt es in dieser Perspektive entscheidend darauf an, ob und wie eine »Erlösung« des in Satzform Gesagten aus der jeweiligen Sprechsituation vonstatten gehen kann. 25 Aber triumphiert so nicht wieder das Gesagte, dessen sich der ›Geist‹ einer Vernunft der Geschichte bemächtigen kann, wie es sich Georg W. F. Hegel vorgestellt hatte, auf Kosten jenes Sagens? Kann dieses überhaupt dauerhafte Spuren hinterlassen? Wenn nicht, wie mit Hegels Phänomenologie des Geistes anzunehmen wäre 26, wie kann man dann von ihm wissen – bzw. wenn das Fragen nach Wissen an dieser Stelle deplatziert ist, Bd. 1), Tübingen 61990, 422; J. Trabant, Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998, Kap. 5; A. Wellmer, Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 2007, 7 f.; G. Posselt, M. Flatscher, Sprachphilosophie. Eine Einführung, Wien 2016. In keinem Fall wird Levinas in diesem Kontext diskutiert. Vgl. dagegen S. Mosès, »Gerechtigkeit und Gemeinschaft bei Emmanuel Lévinas«, in: M. Brumlik, H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, 364–384. 23 Vgl. Vf., Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. Bd. I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen; Bd. II: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens, Freiburg i. Br., München 2018, Kap. V; J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990, 173 f. 24 K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934], Frankfurt/ M., Berlin, Wien 1978, 30. 25 Ebd., 54. 26 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, Teil A, 1, sowie zur Sprache als »Mitte«, die zwischen Sichäußernden vermittelt, ohne darum schon »Geist« zu sein, ebd. 378.
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wie es die zitierten Zeilen von Levinas nahelegen, auf welches Zeugnis der Spur jenes Sagens will man sich dann stützen? Levinas lässt wenig Zweifel: es ist seit alters »der jüdische Mensch«, der für dieses Zeugnis einsteht, wie er meint. Nicht nur »entdeckt« dieser »den Menschen, bevor er die Landschaften und die Städte entdeckt« 27; nicht nur weiß er sich als zum Anderen als Anderem ins Verhältnis gesetzt, heißt das in levinasianischer Lesart; er weiß auch um die radikale Fraglichkeit dessen, was stumpf und leer gewordene Begriffe wie Verhältnis und Beziehung überhaupt besagen sollen. Demnach ist es alles andere als gewiss, dass dort, wo man einen Dialog zu führen meint, ›wirklich‹ dergleichen stattfindet, und dass Verhältnisse oder Beziehungen vorliegen, wo man sie ›herstellt‹. Das ist vor allem Levinas’ Frage: was eine Beziehung zum Anderen als solchem überhaupt erst eröffnet; und zwar auf technisch nicht zu bewerkstelligende Art und Weise. Täuscht nicht alles beschwörende Reden darüber, dass man ›ins Gespräch kommen‹ will und ›im Gespräch bleiben‹ muss (um sich nicht schierer Gewalt auszuliefern), darüber hinweg, dass es möglich zu sein scheint, jeglichen Dialog und sogar jegliche Beziehung zu verweigern? Levinas erinnert daran, dass Platon zu Beginn der Politeia sagt, »daß niemand den anderen zwingen kann, ein Gespräch aufzunehmen« (SF, 126 28). Demnach wäre es auch möglich, sich selbst jeglicher Ansprechbarkeit zu verweigern und Andere radikaler Sprachlosigkeit zu überantworten. 29 So oder so drohten Andere infolgedessen mundtot gemacht zu werden, so dass jenes Sagen niemanden mehr erreichen könnte. Genau dagegen bringt Levinas nun nicht etwa eine softe, sentimentale oder auch großherzige ›Gesprächsbereitschaft‹ in Stellung, sondern genau »das Wort, das nicht zu hören unmöglich ist, dem nicht zu antworten unmöglich ist«. Im Widerspruch zu Platon soll es sich nun doch um »das Wort« handeln, »das dazu zwingt, ein Gespräch aufzunehmen« (ebd.). »Das Wort«? Welches Wort, ist man versucht zu fragen. Gelegentlich scheint Levinas unumwunden zuzugeben, dass es hier in der Tat nur um das Wort Gottes gehen kann, das aus dem Gesicht
E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, 35 (= SF). 28 Platon, Politeia, Erstes Buch, 327d. 29 Vgl. J.-F. Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 32006, 127 ff., zum »Entzug der Passibilität« als der Empfänglichkeit für den Anspruch des Anderen. 27
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des Anderen zur Geltung komme. 30 Doch wehrt er immer wieder die theologische Position ab, mit diesem Wort könne und dürfe die Philosophie des Dialogs einsetzen. Genau umgekehrt verhält es sich: Auf die Spur jenes Wortes führt allenfalls das Gesicht des Anderen. Doch wie kann dieses mit einem Wort in Verbindung gebracht werden, »das nicht zu hören unmöglich ist«? Immer wieder hat Levinas, wie schon Rosenzweig, betont, das Gesicht »leuchte« nicht, es »spreche« vielmehr, auch ohne Worte. 31 Es ist als ›sprechendes‹ insofern zu verstehen, als es niemals eine ethisch indifferente Gegebenheit sein kann, wenn es denn stimmt, dass ›angesichts des Anderen‹ immer schon die Frage der Verantwortung im Spiel ist. Zu Anderen kann man sich nur im Zeichen der Verantwortung verhalten. Daran ändert auch deren Zurückweisung nichts. Dem die Verantwortung Zurückweisenden war sie zuvor immer schon ›gegeben‹ – als eine Gabe, ohne die es überhaupt kein ethisches Leben geben kann. Würde das Gesicht des Anderen (ggf. auch vermittels einer bittenden Hand) nicht ›sprechen‹, insofern in ihm die Gabe der Verantwortung liegt, so wären wir ethisch tot. 32 Das erklärt, warum Levinas Dialogisten nicht beipflichten kann, die mit Ferdinand Ebner behaupten, »der Mensch hat das Wort« und er ›habe‹ in diesem allgemeinen Sinne auch ›die Sprache‹. Die Sprache und das Wort ›hat‹ überhaupt niemand. Es handelt sich gar nicht um eine Art Besitz oder natürliche Ausstattung, sondern darum, was zwischen uns bereits in dem Moment geschieht, wo wir mit dem Anderen als Anderem konfrontiert sind. Dann ist ›mir‹ bzw. jedem EinFür Hannah Arendt musste eher das Umgekehrte gelten. »Das sogenannte Du Gottes ist nur das blasphemisch verabsolutierte Du des denkenden Dialogs mit uns selbst«, schreibt sie 1952 im Denktagebuch, 1950 bis 1973. Erster Band, München, Zürich 22003, 220. 31 SE, 328. Aber geht das Eine ohne das Andere? Kann man sich zum Anderen als solchem überhaupt verhalten, wenn er nicht auch ›sichtbar‹ in Erscheinung tritt, sich also dem Licht ausliefert? Etwa dem viel zitierten ›Licht der Öffentlichkeit‹ ? 32 In diesem Sinne schreibt noch Judith Butler: »If there is no ›you‹, or the ›you‹ cannot be heard or seen, then there is no ethical relation.« Frames of War. When is Life Grievable?, London, New York 2009, 181. Die Theorie politischer frames zeigt aber auch, wie tiefgreifend letztere in Bedingungen konkreter Sicht- und Hörbarkeit Anderer und damit in unser ethisches Leben eingreifen. Einen alle Rahmen umfassenden Rahmen kann es allerdings nicht geben, so dass immer einige Andere unsichtbar und unhörbar werden. Vgl., speziell u. a. mit Blick auf Nordirland: M. C. McGuire, »Peacemaking from the Grassroots in a World of Ethnic Conflict«, https://tanner lectures.utah.edu/_documents/a-to-z/m/maguire97.pdf; 253–266, hier: 262. 30
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zelnen die Verantwortung gegeben. Ich bin der ethische Adressat des Anderen, auch wenn er überhaupt nichts verlauten lässt. In seiner wie auch immer nahen oder entfernten Präsenz liegt Sprache, insofern mich die Gabe der Verantwortung in Frage stellt; so aber, dass sie nur durch meine Antwort wirklich werden kann. Die Antwort verhält sich nachträglich zu dem, was mir die Präsenz des Anderen ethisch ›bedeutet‹ (auch ohne etwas zu sagen – und sogar dann, wenn jeglicher Dialog »verweigert« wird, wie Levinas im Jahre 1975 schreibt 33). Wenn Ebner meinte, dass sich das Wort-Haben des Menschen in expliziter Rede manifestiert, so irrte er aus Levinas’ Sicht. Nicht nur ist »das Wort […] erst in der Antwort da«, die es findet, wie Gadamer gegen Ebner einwandte. 34 Eine ›Antwort‹ liegt auch dann vor, wenn wir nichts sagen. Keine Antwort ist auch eine Antwort (oder kann wenigstens als solche aufgefasst werden). 35 Aber auch im Fall des Ausbleibens oder Verweigerns einer Antwort fallen wir im Verständnis von Levinas indessen nicht aus dem nicht-indifferenten Verhältnis zum Anderen heraus, zu dem uns sein Gesicht quasi verurteilt, das uns – ethisch – gewissermaßen ›das Wort‹ überhaupt erst ›gibt‹. Der Ausdruck ›der Mensch hat das Wort‹ wäre also so zu übersetzen: zwischen uns spielt sich ein unhintergehbares ethisches Geschehen ab, wo uns vom Anderen eine Verantwortung ›bedeutet‹ wird, zu der wir nicht nicht Stellung nehmen können. In diesem zwischen-menschlichen Geschehen liegt die eigentliche Sozialität der Sprache: als Gabe der Verantwortung, die auf unsere Antwort rückhaltlos angewiesen ist. Wenn das aber zutrifft, steht keineswegs unverbrüchlich fest, dass wir immer und unvermeidlich ethisch ›im Gespräch sind‹ (auch dann, wenn die Verantwortung für den Anderen ignoriert oder zurückgewiesen wird). So sehr Levinas auch ›das Wort‹ bzw. das ›Haben‹ von Sprache ethisch reinterpretiert als ein unhintergehbares Bestimmtsein zu einem ethisch dem Anderen antwortenden Verhältnis, so wenig kann er sich in diesem Punkt auf Beweise stützen. Nichts beweist dieses Bestimmtsein. Es wird allenfalls bezeugt – und damit zur Angelegenheit eines inter-subjektiven Wahrheits-
Wo auch der Befehlscharakter des Anspruchs des Anderen deutlich benannt wird; E. Levinas, »Gott nennen« [1975], in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, Freiburg i. Br., München 1981, 81–123, hier: 119. 34 H.-G. Gadamer, Lob der Theorie, Frankfurt/M. 1983, 12 f. 35 P. Watzlawick, J. H. Beavin, D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Stuttgart, Wien 41994, 72 ff. 33
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registers. Die ethische Wahrheit, um die es hier geht, erweist sich ihrerseits als rückhaltlos auf Bewahrheitung durch uns angewiesen. 36 So gesehen ›hat‹ tatsächlich niemand das Wort; schon gar nicht das erste oder das letzte. Mit Recht insistiert Gadamer: »es kann kein erstes Wort geben, es gibt nur Reden-Können« bzw. Ansprechen und In-Anspruch-nehmen 37, d. h. ein immer neues Sich-Anderen-anvertrauen, überantworten, zumuten, auch auf die Gefahr hin, gar keine Antwort zu bekommen, wort- und sprachlos zurückzubleiben und insofern geradezu aufzuhören, sprachlich, sozial, politisch zu existieren. Nur denjenigen bleibt ein sprachlicher, sozialer und politischer Tod erspart und nur diejenigen können vorübergehende Sprachlosigkeit gewissermaßen überleben, die dank Anderer, die ihnen Gehör schenken, wieder zu existieren beginnen. Dann ist noch vor jeder expliziten Antwort das Gehör-schenken selbst das erste auf den Anspruch des Anderen Bezug nehmende (implizite), immer schon verspätete, nachträgliche, insofern zugleich ›zweite‹ Wort: ich höre dich und ich höre dir zu. Genau dadurch wird bestätigt, dass der Andere wirklich existiert und durch seine bloße Präsenz bereits darauf Anspruch erhebt. So gesehen ›sagt‹ bzw. ›besagt‹ das Zuhören auch ohne Worte: ich grüße dich, you are welcome, salut. Das Grüßen hat Levinas gelegentlich als »erstes Wort« bezeichnet – und damit angedeutet, wie weitgehend er ›das Wort‹ als ein zwischenmenschliches Geschehen von Anspruch und Erwiderung verstanden wissen wollte; ohne Rekurs auf ein allmächtiges, allem Zwischenmenschlichen angeblich absolut vorgeordnetes Wort. Statt dieses zu hypostasieren, versuchte Levinas ›das Wort‹ und das ›Haben‹ von Sprache rückhaltlos vom Geschehen dessen her zu verstehen, was sich an-archisch zwischen uns abspielt – auch auf die Gefahr hin, dass die Phänomenologie dieses Geschehens zeigt, dass wir grundsätzlich jederzeit aus jeglichem Gesprächszusammenhang mit Anderen herausfallen können. Noch vor jedem Dialog im engeren Sinne des Wortes und vor jedem gegenseitigen Gespräch im weitesten Sinn suchte Levinas eine unhintergehbare Maßgabe menschlicher Sprachlichkeit überhaupt ausfindig zu machen. Sie sollte darin liegen, dass wir selbst in Fällen radikaler Gesprächsverweigerung, Verleugnung und sogar VernichAusführlich dazu: Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist (zugleich bei Humanities Online) 2012. 37 Gadamer, Lob der Theorie, 15. 36
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tung Anderer in einem ethisch-responsiven Verhältnis zu ihnen stehen, ob wir es wollen oder nicht. In diesem Verhältnis hat weder der Andere das absolut erste Wort, insofern sein Anspruch rückhaltlos auf die Antwort angewiesen ist, die er findet oder nicht findet; noch auch hat der Adressat das erste oder letzte Wort, da er gegenüber dem Anspruch des Anderen, der ihm die Verantwortung für ihn ›bedeutet‹, immer schon zu spät kommt. So bleibt sowohl im zwischenmenschlichen Geschehen von Anspruch und Erwiderung selbst als auch in dessen theoretischer Deutung radikal alles fraglich, was man seit Aristoteles mit seiner Rede vom zôon lógon echon für gewiss hält. Geht es hier wirklich nur um Lebewesen, um das, was »man einander sagt« 38 bzw. vernünftig zu verstehen gibt? Levinas widerspricht in allen Punkten, indem er nicht auf Gesagtes, sondern auf das Sagen von Subjekten abhebt, denen ethisches Leben nur dank des Anderen zukommen kann, wie er meint. Mit dieser Position sieht sich nun auch eine Sprachphilosophie konfrontiert, die aus Levinas’ Sicht keineswegs den Anspruch erheben kann, die der klassischen Metaphysik und Ontologie zur Last gelegte Sprachvergessenheit endgültig überwunden zu haben, seit sie sich mit Johann G. Herder und Johann G. Hamann, mit Friedrich H. Jacobi und Ludwig Feuerbach, mit Wilhelm v. Humboldt und mit Ernst Cassirer darauf besonnen hat, dass sich menschliche Sprachlichkeit wesentlich dia-logisch realisiert. Entscheidend musste für ihn nicht bloß sein, dass alle Wahrheit »mit Zweien« beginnt, wie Friedrich Nietzsche feststellte 39 (bzw. dass alles, was Anspruch auf diesen erhabenen Titel hat, allenfalls aus ›sozialen‹ Verhältnissen zu gewinnen ist), sondern wie das Dia-Logische als solches zu denken ist. 40 Aus Levinas’ Sicht sind wir Menschen nicht »ein Gespräch, seit wir hören können voneinander«, wie es bei Friedrich Hölderlin heißt und wie es zuletzt noch ein Buchtitel von Jacques Derrida und HansGeorg Gadamer suggerierte 41; aber wir sind, im Zeichen jenes »Wortes«, doch dazu bestimmt, uns dem Sagen des Anderen niemals radikal entziehen zu können. Levinas behauptet das allerdings angesichts einer »Welt ohne Wort«, in der sich »das ganze Abendland wieder Ebd., 13. F. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, Drittes Buch, Nr. 260, in: Sämtliche Werke Bd. 3 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, 343–652, hier: 517. 40 Genau so stellt schon der frühe Levinas die für ihn entscheidende Frage (VSS, 116). 41 F. Hölderlin, »Versöhnender der du nimmer geglaubt«, in: Werke, Tübingen o. J., 411 f.; J. Derrida, H.-G. Gadamer, Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt/M. 2004. 38 39
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[erkennen]« musste, nachdem es infolge radikaler Verbrechen geradezu »die Sprache verloren« zu haben schien. In einer dem Anschein nach bereits sprachlos gewordenen Welt forscht Levinas nach dem »Wort«, das auf die Rede des Anderen zu hören zwingt, wie er allen gegenteiligen Evidenzen zum Trotz meint – in einer Welt, wo die Wörter zu »stummen Zeichen der anonymen Infrastrukturen geworden« sind, die die menschliche Rede zu beherrschen scheinen (SF, 157). Das liest sich so, als hätte Levinas nicht bloß die strukturalistischen Sprachtheorien seiner Zeit, sondern auch schon Strukturen einer medial virtualisierten Vernetzung vor Augen gehabt, die es anonymen Instanzen ermöglichen, in Echtzeit algorithmisch erfasste Abfolgen von Nullen und Einsen daraufhin zu prüfen, was sie über User des Internet verraten. Mit der Frage, ob vermittelt durch virtuelle Technologien wie Skype und WhatsApp noch so etwas wie Rede zum Anderen und Inanspruchnahme durch ihn, wenn auch digitalisiert und metrisiert, stattfindet oder ob solche Formen der Medialität das »Antlitz« der Kommunizierenden wie angeblich schon die industriellen Produktionsbedingungen »fast bis zur Unkenntlichkeit entstellen« 42, konnte sich Levinas, der 1995 in Paris verstorben ist, nicht mehr auseinandersetzen. Doch insistierte er immer wieder, Sozialphilosophie im Ausgang vom Verhältnis zum Anderen betreiben und sich nicht etwa auf Theologie oder Religion im geläufigen Sinne des Wortes berufen zu wollen (vgl. SF, 135 f.), wo es um die Frage geht, warum wir nicht vollkommen wort- und sprachlos bleiben, allen modernen Kommunikationstheorien und -technologien zum Trotz. Aber auch das Soziale bzw. die Sozialität kommt für Levinas in dieser Hinsicht nicht einfach als Berufungsinstanz in Betracht. Denn schon frühzeitig steht für ihn fest, dass »die Sozialität in der Welt […] nicht jenen beunruhigenden Charakter eines Seienden […] gegenüber der Alterität« kenne – zumindest dann nicht, wenn man sie so versteht, dass sie »über eine Beteiligung an etwas Gemeinsamem, einer Idee, einem Interesse, einem Werk, einer Mahlzeit, einem ›Dritten‹« welcher Art auch immer zustande kommt (VSS, 48). In diesem Fall nämlich stehen sich die Beteiligten nicht wirklich gegenüber, sondern verhalten sich wie »Komplizen« jenes Dritten und verlieren da42 Vgl. H. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, 183.
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bei »nichts von ihrer Selbstheit«. Jede(r) bleibt voll und ganz sie bzw. er selbst. Was aber bedeutet es, einander »wirklich gegenüber« zu stehen? Etwa unvermittelt, ohne Vermittlung irgendeines Dritten 43 – sei es auch eines ›geteilten‹ Ortes oder Raumes, der es ggf. überhaupt erst (un-)möglich macht, dass man einander begegnet –, und schutz- und wehrlos? Und an welche Erscheinungsform des Sozialen soll man dabei denken? Kommt an dieser Stelle der Dialog oder nur ein intimes Verhältnis zum Anderen in Betracht, dem man allerdings nicht ohne weiteres jegliche Vermitteltheit wird absprechen können? 44 Wie müsste der Andere in Erscheinung treten (falls er, als radikal Anderer, überhaupt in Erscheinung treten kann, ohne sich ihr zugleich zu entziehen), um uns »wirklich gegenüberstehen« zu können? Als schwache ›Nächste‹ oder als feindlicher Nachbar, als bedürftiger Mitmensch oder als kämpferische Mitbürgerin (VSS, 117), als irgendeine(r) oder als ganz Andere(r)? Müsste jeder Andere, der sich als in unserer Gegenwart derart ›anders‹ erweist, dass er sich in ihr nicht aufheben lässt, nicht auch jeglichem Zugriff und jeder Gewalt sich entziehen können? Genau darauf setzt Levinas offenbar alle Hoffnung. Sein ›starker Begriff‹ des Anderen soll sich ausgerechnet dort bewähren, wo Andere äußerster Gewalt ausgesetzt sind und infolge dessen so ›schwach‹ wie nur möglich erscheinen. Doch was bedeutet hier ›bewähren‹, wenn die Anderheit des Anderen von sich aus doch rein gar nichts gegen extreme, exzessive oder radikale Gewalt auszurichten vermag, wie Levinas selbst zugibt? Ausdrücklich spricht er von einem nicht realen, vielmehr lediglich moralischen Widerstand gegen Mord, Totschlag und noch weit Schlimmeres. Am Ende bleibt ihm nur, die Nicht-Liquidierbarkeit dessen zu statuieren, was aus dem Gesicht des Anderen selbst dann noch ›spricht‹, wenn er schweigt, wenn Genau das bejaht Levinas (vgl. VSS, 117). Damit nährt er wiederum den alten Verdacht, der Dialogismus neige zur Vernachlässigung nicht nur Dritter, sondern auch jegliches vermittelnden Dritten und am Ende auch der Welt selbst, in der allein Dialoge möglich werden können. Seit Feuerbach neigen Dialogtheorien immer wieder in diesem Sinne zu einer gewissen Weltvergessenheit; vgl. die Feuerbach-Kritik bei Karl Löwith, »Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« [1928], in: Sämtliche Schriften, Bd. 5. Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber, Stuttgart 1988, 1–26, hier: 19. 44 Vgl. dagegen M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977, der die Liebesbeziehung als ›unvermittelte‹ deutet. Aber läuft die Unvermitteltheit nicht der Diskretion zuwider, ohne die keine Beziehung zu Anderen als solchen auskommt? 43
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man ihn mundtot gemacht und bis zur Sprachlosigkeit gequält hat: »Du sollst nicht töten« (und zwar in keiner Art und Weise); bzw. »Du sollst dich nicht an der Sterblichkeit des Anderen schuldig machen«; oder auch: »Du sollst sicherstellen, dass der Andere lebt.« 45 Maßlose, streng genommen möglicherweise gar nicht aus eigener Kraft, allenfalls mit Hilfe verlässlicher sozialer und politischer Lebensformen erfüllbare Gebote, noch dazu in der Form von ›Gesagtem‹ präsentiert, das aus dem Sagen des Gesichtes des Anderen hervorgehen soll – allerdings nur im Verhältnis zu ihm! Liegt aber kein solches Verhältnis mehr vor, wo sich Vermittlungen dazwischenschalten? Bringt etwa auch eine virtuelle Medialität jeden anderen als Anderen zum Schweigen, ob vielfach ›gelikt‹ oder nicht? Nicht durch die neuen Medien, vielmehr durch Kriege, Genozide, Desaster sah sich Levinas dazu genötigt, die sozialphilosophische Frage nach der unaufhebbaren und keiner Gewalt verfügbaren Alterität des Anderen zu radikalisieren. Dabei folgt er immer wieder vor allem der von Franz Rosenzweig gelegten Spur, dessen Stern der Erlösung »1917 im Balkan im Schützengraben« zu entstehen beginnt 46 und schließlich das ganze Leben des Autors »wie eine große Vorahnung« kommender »großer Umwälzungen« erscheinen lässt, die einen »Bruch mit Denkweisen« erforderlich machen werden, »aus denen jene großen Katastrophen dann resultierten«. Dann folgt ein Satz, den man nicht überlesen sollte: »So bleibt er unser großer Zeitgenosse« (AS, 103). Das bedeutet: die neuen Formen kollektiver Gewalt, in denen das alte Europa untergegangen zu sein schien, wie so viele Zeitzeugen befürchteten, stellen nach wie vor die zentrale Herausforderung einer Sozialphilosophie dar, die sich nicht auf ein esoterisches Wissen über die Alterität des Anderen beruft, auch und gerade dann nicht, wenn sie sich eingestandenermaßen in eine jüdische, »lebendige Tradition« einschreibt 47, die in Levinas’ J. Robins, »Introduction: ›Après Vous, Monsieur!‹«, in: ders. (Hg.), Is It Righteous to Be? Interviews with Emmanuel Levinas, Stanford 2001, 1–19, hier: 3. Die letzte Formulierung ist ein klares Indiz dafür, wie Levinas’ außer-ordentliche, zunächst nicht-normativistische Ethik des Ethischen in normative Fragen danach hineinspielt, wie und unter welchen Umständen denn dem Anspruch gerecht zu werden wäre, dass der Andere ›leben‹ bzw. zu einem für ihn wirklich ›lebbaren‹ Leben finden möge. 46 E. Levinas, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, Wien, München 1991, 101 (= AS). 47 Vgl. W. Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000. 45
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Talmud-Lesungen als ein großer »Dialog« bezeichnet wird 48, zu dessen im 20. Jahrhundert maßgeblichen, auch heterodoxen Traditionen verpflichteten Theoretikern Martin Buber und Gabriel Marcel zählen (abgesehen von Ferdinand Ebner, Hans und Rudolf Ehrenberg, Eugen Rosenstock-Huessy, Eberhard Griesebach und anderen, die Levinas allenfalls gestreift, aber offenbar keiner eingehenderen Auseinandersetzung gewürdigt hat 49). Mitte des vergangenen Jahrhunderts kulminierte kollektive Gewalt nicht nur in »wie je erbarmungslos« herrschendem Rassismus, in Imperialismus und Ausbeutung (E, 101), sondern in einer allgemeinen »Verlassenheit«, die schließlich jeden rückhaltlos zu erfassen drohte. Nicht Alleinsein oder Einsamkeit ist hier gemeint, sondern ein Im-Stich-gelassen-sein von den Anderen und von einem verlässlichen, institutionell verbürgten Zusammenleben, das allein die Rede von einer Welt rechtfertigen kann, zu der man als gebürtiges, auf Anspruch und Erwiderung rückhaltlos angewiesenes Wesen kommt, die man im »welterzeugenden Wechselspiel von Frage und Antwort« 50 selbst mit aufrechterhält und aus der man wieder scheidet. Die beiden Weltkriege heißen mit Recht so; nicht so sehr, weil sie viele Länder in Mitleidenschaft gezogen haben, sondern weil sie jede menschlich-politische Welt zerstört haben, in die man in diesem Sinne Vertrauen setzen dürfte. 51 Inzwischen herrschen wieder Zeitvertreib, Unterhaltung und Hyperkonsum – potenziert in einer Gesellschaft des Spektakels einer nichts mehr auslassenden Boulevardisierung, wie scharfzüngige KriE. Levinas, Vier Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1993, 14. Vgl. AS, 11 ff., sowie W. Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg i. Br., München 2006. 50 H. Broch, Der Tod des Vergil, München 31968, 116. 51 Aber trifft das erst auf die Weltkriege zu? Hat nicht bereits der westliche Kolonialismus fremde Welten zerstört und eine bis heute nachwirkende Verlassenheit der davon Betroffenen hervorgebracht, die auch die Ethik von Levinas allenfalls mit Mühe zur Kenntnis genommen hat? Vgl. nur bspw. A. Mbembe, Politik der Feindschaft, Berlin 2017, sowie J. Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016. In beiden Schriften ist teils emphatisch wie bei Levinas vom Gesicht des Anderen die Rede – aber auch davon, wie ›gesichtslos‹ Andere durch eine Politik werden können, die sie weder in Erscheinung treten noch zu Wort kommen lässt. Den kulturalistischen, kolonialistischen, kapitalistischen, imperialistischen und rassistischen Dimensionen anti-ethischer Gewalt, wie sie in solchen Kontexten zum Vorschein kommt, hat Levinas kaum Rechnung getragen. Nur so lassen sich seine außerordentlich anfechtbaren Bemerkungen zu Palästina etwa erklären. 48 49
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tiker meinen 52; einst verhöhnte, von Levinas als »vorsintflutlich« eingestufte Werte gelten wieder, als universell statuierte Rechte werden institutionell gewährleistet und man behauptet, sich der Weltkriege genug zu erinnern – doch hat »nichts von alledem den klaffenden Abgrund auffüllen oder auch nur zudecken können«, in dem es zum »Ende aller Institutionen«, ja zu einer »Quasi-Aufhebung des Seins« gekommen zu sein schien (AS, 101 f.). Befinden wir uns nicht inmitten all des kulturellen Trubels, den man veranstaltet, als ob nichts gewesen wäre, in einem gleichsam »landschaftslosen«, »wie das Grab nur für uns geschaffenen Raum« – wie in einem geschlossenen Behältnis (AS, 103)? Das Personalpronomen schillert hier vieldeutig: es könnte die Nachfahren der Opfer, aber auch alle meinen, die sich einer fröhlichen kulturellen Produktivität überantworten, ohne zu ahnen, dass aus ihr vielleicht keine Spur des Anderen mehr herausführt, allen Lobliedern auf Gespräche, Dialoge und Diskurse zum Trotz, die man medial in Szene setzt, ohne aber klar zu machen, ob man ›wirklich‹ miteinander gesprochen hat. Levinas insistiert tatsächlich auf dieser so überaus unzeitgemäßen Frage: ob kulturelles, politisch-rechtlich gesichertes Leben nicht ›im Zeichen des Anderen‹ zu denken ist; und er zieht sogar in Betracht, dass Kulturen im Ganzen danach zu beurteilen wären. 53 Doch zweifelt er, ob das von daher neu zu bestimmende »Menschliche sich noch im Maßstab dessen bewegt, was den neuzeitlichen Intellekt am menschlichen Versagen betroffen macht«. 54
U. a. Mario Vargas Llosa im Anschluss an Guy Debord, an George Steiner und dessen rigorose Kritik an Thomas S. Eliots Notes Towards the Definition of Culture, London 1948. G. Steiner, In Blaubarts Burg. Anmerkungen zur Neudefinition der Kultur, Frankfurt/M. 1972; M. Vargas Llosa, Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2013; zum Kontext: Vf., »Das Vorkulturelle, das Transkulturelle und die identitäre Versuchung – im Ausgang vom neuerdings erhobenen optimistischen Ton in der Kulturtheorie«, Ms. Heidelberg 2018, i. E. 53 Vgl. Vf., »Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen«, in: F. Jaeger, B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundprobleme und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, 1–23. 54 E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, 87 (= WG); Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 61 (= HaM). 52
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Ganz unterschiedliche Begriffe bezeichnen bei Levinas dieses Versagen: »Auschwitz« 55, »Desaster« 56, aber auch »Enteuropäisierung Europas« 57, das in den Weltkriegen nicht nur vergessen, sondern geradezu ausgelöscht zu haben scheint, woher es seine eigentliche Inspiration bezieht. Vergessen zu sein schien, dass es die Menschen in einem vollkommen »neutralen« Sein nicht aushalten können, in dem auf bloße Selbsterhaltung und Selbststeigerung programmierte Wesen, wie sie die neuzeitliche Sozialontologie von Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza an beschrieben hat, einen unaufhörlichen Kampf gegeneinander führen müssten. Diese Neutralität verdankt sich aber einer nachträglichen Neutralisierung dessen, was sich von sich aus keineswegs als ›objektiv‹ neutral darstellt. »Denn niemals bin ich dem anderen nichts schuldig« (VSS, 13). Sich ›im Verhältnis‹ zum Anderen zu befinden bedeutet (bzw. bedeutete), ›immer schon‹ mit der Frage buchstäblich konfrontiert zu sein, was man ihm schuldig ist. In diesem Sinne durchbricht die Anderheit des Anderen jegliche Neutralität. Wer Formen der Gewalt (wie die serielle Liquidierung) für möglich hält, die davon gar nichts mehr ahnen lassen, ›vergisst‹ Europa und öffnet Desastern Tür und Tor, in denen es selbst zugrundegehen muss. Kann Levinas sich, wenn er so denkt, auf eine ›ursprüngliche‹ Europäität berufen, wie es überall dort der Fall zu sein scheint, wo er Europa kurz und bündig, aber anachronistisch, auf »die Bibel und die Griechen« 58 reduziert? Ist Europa nicht vielmehr erst aus nachträglichen Einsprüchen gegen das als ›unannehmbar‹ Erfahrene hervorgegangen? Hat es sich nicht erst infolge der beiden Weltkriege endgültig dazu bekannt, jeden Anderen hinsichtlich der ihm attestierten Würde als ›Unantastbaren‹ anzuerkennen? Levinas, der weit davon entfernt ist, diesen ›Fortschritt‹ gering zu schätzen, ist alles andere als ein Theoretiker des Rechts, der Bürgerund Menschenrechte. 59 Wie auch Rosenzweig misstraut er zutiefst dem Ansinnen, der pólis, dem Staat, einem Imperium oder einer transnationalen politischen Gemeinschaft die Achtung des Elemen55 Im Gespräch mit F. Rötzer in: ders. (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, München 21987, 94. 56 WG, 91, 168; GTZ, 155; E. Levinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien 1986, 37 (= EU). 57 Levinas in: Rötzer (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, 91. 58 Ebd., 98. 59 E. Levinas, »Le droit originel«, in: Hors Sujet, Paris 1987, 175–178.
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tarsten anzuvertrauen, ohne das kein menschliches Leben wirklich ›lebbar‹ sein kann. Radikal weigert er sich, den Anderen in einer Gemeinschaft oder in einer politischen Staatlichkeit aufgehen zu lassen 60, die von der antiken pólis, dieser »Löwenhöhle, in die das Individuum wohl Spuren hinein, [aber] keine hinausführen sieht«, bis hin zum modernen Rechtsstaat die vielleicht gefährlichste Form institutionalisierter Gewalt darstellt (SE, 59, 370), die auch dann nicht völlig verschwindet, wenn man den Staat ausdrücklich auf deren Bändigung und Minimierung verpflichtet hat. 61 So tief sitzt die Skepsis gegen das Politische, aber auch gegen ein verstaatlichtes Recht, das jeden der Herrschaft des Allgemeinen zu unterwerfen droht, um für dessen geistiges Überleben Kapital aus uns zu schlagen. Auf den Spuren Søren Kierkegaards hat sich Levinas ganz und gar vom Systemdenken jener Professoren-Philosophie verabschiedet, die »vor lauter Erkenntnis […] vergessen [hat], was es heißt zu existieren«. 62 Und mit Rosenzweig gibt er zu bedenken, ob nicht »der Philosoph überflüssig (Professor) geworden« ist (SF, 135). So wird Levinas jedoch nicht zum Existenzphilosophen oder Existenzialisten wie jene, die wissen wollen, dass die Erde wüst und der Himmel leer ist. Ihm geht es nicht darum, zu fragen, wie zu einem ›absurderweise‹ auf sich zurückgeworfenen und auf eigene Rechnung Existierenden das Soziale als sekundäres Attribut hinzuzudenken ist. Vielmehr will er das menschliche Selbst als ein von Anfang an radikal auf den Anderen bezogenes und nur von ihm her überhaupt ›soziales‹ denken; und zwar derart, dass keine noch so exzessive Gewalt diesen Bezug je losIn diesem Punkt ist Levinas nahe bei Buber, der »das kostbarste Gut, das Leben zwischen Mensch und Mensch«, ausdrücklich »dem politischen Prinzip der Souveränität über das Gesellschaftliche« entziehen wollte, aber am Ende mit einer Idee der Gemeinde bzw. der Gemeinschaft liebäugelte, die selbst den Staat als dialogisch fundierte »Gemeinschaft von Gemeinschaften« erscheinen ließ. M. Buber, Der utopische Sozialismus, Köln 1967, 239, 247. Davon kann allerdings bei Levinas ebensowenig noch die Rede sein wie von einer Kongruenz von Ethischem und Politischem, die Buber bei H. Cohen scharf kritisiert hatte; vgl. M. Buber, Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, 494 f. 61 K. Anderson, »State Deviancy and Genocide. The State as a Shelter and a Prison«, in: U. Ü. Üngör (Hg.), Genocide. New Perspectives on its Causes, Courses and Consequences, Amsterdam 2016, 83–109. 62 J. Wahl, Vom Nichts, vom Sein und von unserer Existenz, Augsburg, Basel 1954, 9. Zur Untrennbarkeit von Existenz und Denken vgl. P. Ricœur, »Philosophieren nach Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, 579–596. 60
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wird, was auch immer sie anstellen mag, um den Gegenbeweis anzutreten. Weit entfernt, nun bei den schottischen Moralisten, bei JeanJacques Rousseau oder Adam Smith mit ihrer Sympathie, ihrem Mitleid und ihrer Empathie Zuflucht zu suchen oder sich der großen Phalanx der Anerkennungstheoretiker auf den Spuren Hegels, George H. Meads oder Alexandre Kojèves anzuschließen, die wissen wollen, dass jeder sozial nur durch zu erkämpfende Anerkennung wirkliches Leben haben kann, weit entfernt auch von all jenen, die sich das menschliche Selbst als ursprünglich vergemeinschaftetes oder kommunikativ sozialisiertes vorstellen 63, behauptet Levinas schroff, das vorherrschende Denken des Sozialen, der Gemeinschaft und kommunikativer Vergesellschaftung habe niemals das isolierte Ich überwunden (VSS, 48). 64 Das zeige sich gerade auch an dem, was angeblich dem Anderen am meisten zugute kommt: an der »Einfühlung« und Sympathie, die sich ohne weiteres so verstehen lasse, als sei jede Beziehung »eine neue Liebesgeschichte«. 65 Diese Polemik lässt leicht vergessen, dass Levinas selbst zunächst vom Erotischen und besonders von der Weiblichkeit her zu klären versucht hatte, wie ›man‹ es mit unaufhebbarer Alterität zu tun bekommt. 66 Seinerzeit hatte er nicht einmal gezögert, die Anderheit wie ein klassischer Transzendentalphilosoph als Geheimnis zu »setzen« (ZA, 58). So wird jedes Mal nahegelegt, ein zunächst ›für sich‹ vorhandenes Ich oder Selbst öffne sich sympathisch, empathisch, voller Mitleid oder auch erotisch ›interessiert‹ einer Anderen; und zwar aus freien Stücken und eigener Machtvollkommenheit, d. h. so, dass dies jederzeit auch unterlassen werden könnte. Wie etwa Charles Taylor, für den Anerkennung und kommunikative Sozialisierung ›dialogisch‹ zusammengehören; Ethics of Authenticity, Cambridge, London 1992, 35, 47. 64 Wie steht es aber in dieser Hinsicht mit dialogischen Ansätzen, die die Begegnung mit dem Anderen als Du so deuten, dass darin »das in sich verschlossene Ich [ge-] öffnet« wird? Bestätigen sie nicht gerade die von Levinas angefochtene ›Isolation‹ als diejenige Verfassung, in der subjektives Leben anhebt? Muss diese Voraussetzung nicht revidiert werden, wenn dem menschlichen Psychismus von Anfang an so etwas wie »Antwortlichkeit« zuzuschreiben ist? Vgl. zum Zitierten E. Brunner, Wahrheit als Begegnung, Zürich, Stuttgart 1938, 24, 27. 65 ZU, 40; E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, 77 (= UG); AS, 139; vgl. P. Ricœur, »Sympathie et respect«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 59 (1954), 380–397. 66 E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, 48, 56 f. (= ZA). 63
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Die eingangs erwähnten Sorbonne-Vorlesungen markieren dagegen einen genau entgegengesetzten, die ganze, seit Hobbes dominante Sozialontologie verwerfenden Denkweg unter der Flagge eines passionierten Ausgesetztseins. In der Passion »wird das Bewußtsein ungeachtet seiner selbst erschüttert; in ihr ist das Bewußtsein ohne jedes a priori betroffen (dem Anderen begegnet man immer auf unvorhergesehene Weise; er ist der ›Erstbeste‹); infolge ihrer wird das Bewußtsein von dem Nicht-Begehrenswerten berührt (der Andere ist unerwünscht, hier in dem Sinne verstanden, in dem manche über Fremde reden! Es gibt keine Libido in der Beziehung zum Anderen; sie ist die anti-erotische Beziehung schlechthin.) Es liegt hier also eine Infragestellung vor, die allem Fragen vorausgeht« (GTZ, 186). So stellt sich jene Passion widerfahrnishaft dar. Wir sind dem Anspruch des Anderen immer schon bereits ausgesetzt, bevor er ›erscheint‹ (als ob nun gar kein ›sie‹ mehr in Frage käme); und zwar so, dass wir dazu bestimmt werden, für den Anderen zu existieren (UG, 133). Diese ›Bestimmung‹ soll sogar jeglichem ›Erscheinen‹ vorausliegen und insofern absolut entzogen sein. Demnach kommt es für Levinas nicht mehr in Betracht, sich ihr zu widersetzen. Das Ausgesetzt-sein manifestiert sich als Heteronomie, der angeblich in keiner Weise zu widersprechen ist und die durch nichts zu relativieren sein soll. 67 So kann sich Levinas allerdings nicht mehr auf eine Phänomenologie der Erfahrung berufen, die das deskriptiv aufzuweisen hätte. Schließlich vollzieht er selbst erklärtermaßen einen Bruch mit der Phänomenologie, um diese ›Irrelativität‹ des Ausgesetztseins bzw. des Bestimmtseins dazu, für den Anderen zu existieren, unumstößlich behaupten zu können 68 – allen dem eklatant widersprechenden historischen Erfahrungen zum Trotz, die prima facie zu besagen scheinen, dass es durchaus möglich ist, sich diesem Bestimmtsein zu widersetzen, sich ihm zu entziehen, es radikal in Abrede zu stellen oder es zu vergleichgültigen. (Lauter Abwehrmaßnahmen, durch die sich Levinas geradezu bestätigt sieht, setzen sie seines Erachtens doch genau das voraus, wogegen sie sich wenden.)
E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007, 119 f., 144 (= VF). 68 Vgl. die entsprechende, bislang kaum angemessen gewürdigte Kritik bei D. Janicaud, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien, Berlin 2014. 67
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Levinas’ zentrales Anliegen ist die unhintergehbare Sozialität 69 menschlichen Lebens, die in der Passion jenes Bestimmtseins zum Für-Andere-da-sein liegt. Dabei entzieht er dieses Bestimmtsein aber jedem Verhältnis zum Anderen derart, dass man sich fragen muss, ob er auf dieser Grundlage allein überhaupt etwas zu Spielräumen ›dialogischen‹ Verhaltens zum Anderen sagen kann. Levinas geht ja sogar so weit zu suggerieren, sich ›angesichts des Anderen‹ zu befinden, sei schon ›Beziehung‹ zu bzw. mit ihm (VF, 143). Und in diesem Sinne möchte er »die zwischenmenschliche Beziehung als eine absolute setzen [!]«, der nur eine »bedingungslose Ethik« gerecht werden könne, die zeigt, wie wir, im Zeichen des Anderen ›passioniert‹, seinem durch nichts aus der Welt zu schaffenden und scheinbar durch nichts zu relativierenden Anspruch unterworfen sind (UG, 159). 70 Wozu aber bedarf es dann noch des Dialogs? Genau die Frage, die Levinas gegen eine ›monologische‹ Vernunft richtet, deren »Stimme« sich angeblich »unmittelbar in unserem Innern« ausspricht 71, die scheinbar alles mit sich allein ausmacht und nur ein permanentes Selbstgespräch mit verteilten Rollen führt, ohne sich aber an eine(n) Andere(n) zu wenden 72 und ohne dabei einen echten Plural verschiedener und einander fremder Wesen zu benötigen 73, zieht Levinas nun auch sich selbst zu: Wozu reden, wozu bedarf es überhaupt des GeIch verwende weiterhin diesen Begriff, ohne die frühere Buber’sche Trennung von Zwischenmenschlichem und Sozietärem oder Levinas’ Opposition von Anderheit und Gesellschaftlichkeit mitzumachen. 70 An anderer Stelle schreibt Levinas vorsichtiger, die Suche nach dem Anderen sei schon die Beziehung zu ihm (WG, 33). 71 So J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [1806], Hamburg 1978, 74. Fichte hält für derart evident, dass vernünftigerweise im Grunde nicht jemand »selber redet«, sondern die »über alle Zeit erhabene« Vernunft selbst, dass er jede andere Position wenige Seiten weiter unten dem Spott preisgibt. Dabei fragt er sich nirgends, welche Sprache die Vernunft wohl spricht (wenn nicht gleich Deutsch …) und ob sie ggf. Probleme der Übersetzung zwischen verschiedenen Idiomen aufwirft (ebd. 80 f.). 72 Hannah Arendt vertrat den Standpunkt, jedes Denken, das sich nicht an jemanden wendet, sondern nur ›über etwas‹ denkt, führe letztlich zu Gewalt; Arendt, Denktagebuch, 1950 bis 1973. Erster Band, 213 f., 345. Aber kann im Dialog mit sich selbst der Andere ohne weiteres durch das eigene Selbst »vertreten werden« (ebd., Zweiter Band, 622)? Wenn man dessen sicher sein könnte, könnte man den Anderen dann nicht geradezu ersetzen? 73 F. Jacques, Über den Dialog. Eine logische Untersuchung, Berlin, New York 1986, 11 ff.; B. Waldenfels, »Dialog und Diskurse«, in: Archivio di Filosofia LIV, Nr. 1–3 (1986), 237–250. 69
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sprächs, wenn ein verabsolutierter Anderer mit seinem – oder auch eine verabsolutierte Andere mit ihrem – ›unbedingten‹ Anspruch unumstößlich den Sinn jeder Beziehung und jedes Verhältnisses zu Anderen vorgibt? Kann Levinas nicht auch so verstanden werden, dass er jedes wechselseitig-dialogische Verhältnis zu Anderen als ethisch letztlich unmaßgeblich einstuft? Als Hörer von Edmund Husserls Vorlesungen in Freiburg (1928– 1929) und als Übersetzer (zusammen mit Gabrielle Pfeiffer) von dessen Cartesianischen Meditationen, die aus Pariser Vorträgen des gleichen Jahres hervorgegangen sind, nähert sich Levinas diesen Fragen auf transzendentalphilosophischen Umwegen, auf denen der Andere zunächst als alter ego begegnet, dessen Gegebenheitsweise das zentrale Problem Husserls war. Und zwar im Ausgang von einem geradezu weltlosen ego cogito, das sich primär wahrnehmend zur Welt verhält, um sich dann mit der Frage konfrontiert zu sehen, wie ein anderes ego überhaupt als solches ›zugänglich‹ ist, dessen Erfahrung nicht originär ›selbst gegeben‹ sein kann. 74 Dabei beruft sich Husserl auf die »Anschauung als die eigentliche Rechtsquelle« jeder philosophischen Aussage über Erfahrbares, darunter das alter ego (UG, 47). Die seither vielfach zitierte Lösung, die Husserl für das Rätsel der Gegebenheit des alter ego findet, geht aus der folgenden Formulierung hervor: Es handle sich um eine »bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen«. 75 So unterstellt Husserl, das alter ego bleibe in gewisser Weise stets unzugänglich; aber gerade angesichts dessen stelle es die eigentliche Herausforderung jedes Verhaltens dar, in dem es sich als dennoch (nur eben nicht ›original‹) zugänglich erweisen können soll. Solches Verhalten soll sich »bewähren« können. Eine Praxis der Bewährung in Spielräumen des Verhaltens kommt dabei jedoch zunächst nicht in den Blick. Das gilt auch für Levinas, der in frühen Schriften ganz ähnlich wie Husserl formuliert, die »Abwesenheit des Anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen« (ZA, 65; VSS, 118). In Die Zeit und der Andere (1946/7) wird diese Bestimmung wie bei Husserl zunächst auf den Anderen als alter ego, nicht aber als ›Du‹ gemünzt (ZA, 55). Für Levinas wie für Husserl gilt: dieses ego ist anwesend und zugänglich; aber darin zeigt sich seine Unzugänglichkeit im
74 75
Vgl. WG, 55 f.; UG, Kap. II. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977, 117.
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Sinne der Abwesenheit in der Anwesenheit. So ist das alter ego als uns entzogenes gegeben (ZA, 50). Anders als Husserl deutet Levinas dieses Entzogensein allerdings als strikt asymmetrisches dann zwischen Ich und Du und setzt sich im gleichen Zug von Martin Bubers reziproker Deutung dieses Verhältnisses ab (ZA, 64). 76 Das hat gleich mehrere Folgen: (1) Der Andere ist nicht irgendein alter ego, das im Prinzip (und Dritten gegenüber) genauso zu denken wäre wie das ego, von dessen ›Vorbild‹ es abgeleitet wird; vielmehr begegnet der Andere mir und nur im Verhältnis zu mir, ohne immer schon dem Allgemeinen unterworfen zu sein (2) Aber dadurch wird er nicht ›mein‹ Anderer; ich erfahre mich vielmehr von ihm her, auf unumkehrbare bzw. nicht-gegenseitige Art und Weise und unabhängig von irgendeiner vorherigen Zugehörigkeit zu mir dazu bestimmt, für ihn zu sein. Davon ist bei Husserl, der sich fragt, wie der Andere erfahrungsmäßig ›gegeben‹ ist bzw. wie er wahrgenommen wird, gar nicht die Rede. (3) Dieses Bestimmtwerden vom Anderen, den ich als solchen erfahre, aber dabei nicht erfahrungsmäßig ›konstituiere‹, der mir vielmehr unvermittelt widerfährt, geht zwar von ihm als ›Du‹ aus, wie es sich bei Buber beschrieben findet; aber es geht nicht in einen gegenseitigen Dialog ein, in dem es noch in irgendeiner Weise zur Disposition stehen könnte. Was die daraus sich ergebene, bis heute nicht ausgeschöpfte Diskussionslage so überaus problematisch macht, ist, dass Levinas auf diese Weise zwei ganz unterschiedliche, nämlich transzendental-phänomenologische und dialogistische Ansätze gleichsam ineinander blendet, so als ob vom alter ego und vom Anderen in einem Atemzug gesprochen werden könnte; und dass er damit sowohl die phänomenologische Frage nach der Gegebenheitsweise als auch die Philosophie des Dialogs unterläuft, die im Ich-Du-Verhältnis den Gipfel des Sozialen erreicht sieht. Ohne die verschlungenen Denkwege von Levinas hier im Einzelnen nachvollziehen zu können, kann man doch festhalten, was er letzten Endes sagen wird: nämlich dass uns der Anspruch des Anderen infolge jener Passion derart widerfährt, dass er jedem ›Erscheinen‹ zuvorkommt. Insofern spricht Levinas wie gezeigt
Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings bei Buber, dass ihn im Grunde die Nicht-Reziprozität weit mehr beschäftigt hat. Gelegentlich geht sie mit dem Dämonischen eines Anderen zusammen, für den wir kein Du werden können. Dann aber gerät selbst Gott in der Einseitigkeit eines nicht-dialogischen Verhältnisses zu ihm in den Verdacht des Dämonischen; vgl. DP, 71.
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von einem Ausgesetzt-sein (s. o.) – und nicht etwa, wie Heidegger, von bloßem Da-sein. 77 Wir sind niemals einfach ›da‹, sondern existieren ›ausgesetzt‹ ; und zwar unvermeidlich als einander Ausgesetzte. Dabei soll aus jenem ›Zuvorkommen‹ geradezu der Sinn des Sozialen hervorgehen, das Bestimmtsein zum ethischen Für-den-Anderen-sein nämlich, ohne dabei Gegenstand eines Dialogs zu sein. So gesehen stützt sich Levinas auf die transzendentale Phänomenologie Husserls und auf den Dialogismus nur, um beide gleichsam von innen nach außen zu kehren. Sowohl die Frage nach der originären Gegebenheitsweise des Anderen (bzw. eines alter ego) als auch der Dialog als angeblich zu bevorzugender Modus der Beziehung zu ihm kann infolgedessen im Lichte von Levinas’ zur Ersten Philosophie aufgerückter Sozialphilosophie allenfalls als von untergeordneter Bedeutung erscheinen. Dieser Eindruck bestätigt sich fast immer, wo Levinas auf Philosophen des Dialogs von Ludwig Feuerbach über Martin Buber bis hin zu Gabriel Marcel zu sprechen kommt. Deren unbestreitbare Nähe zu seinen Anliegen ist ihm sichtlich unangenehm. Feuerbach spricht nur vom Du, denkt es aber nicht. 78 Buber versucht es zu denken – und sogar unter dem Titel Anderheit, die von jeder bloßen Andersheit, die in der sog. Es-Welt des Vorhandenen aufgeht, klar, aber vielleicht allzu eindeutig abgesetzt wird, was Levinas eigentlich hätte entgegenkommen müssen –, aber Buber verfehlt die Asymmetrie, die im originären Anspruch des Anderen liegt. Und Marcel schließlich kann sich nicht vom Sein und von der Ontologie lösen, muss den Anderen also letztlich auf fatale Weise einer Immanenz überantworten, in der sich jede Spur einer untilgbaren, keiner Gewalt zur Disposition stehenden Exteriorität verliert (GTZ, 154; ZU, 150 f.). 79 Auch Buber deutete das »dialogische Dasein« als rückhaltlos exponiertes (DP, 143, 146). 78 Bzw. er denkt es als anderes »gegenständliches Ich«, das letztlich der »Einheit des Menschen« unterworfen bleibt. Allerdings sollte die Vernunft selbst bei Feuerbach dialogisch begründet werden. Wie das Begriffe wie »anderes Objekt« (als ein solches wird auch der Andere eingestuft), »Ich« und »Konversation« oder »Dialog zwischen Ich und Du« zu revidieren zwingt, bleibt offen; L. Feuerbach, »Über die Vernunft« [1828], in: Werke in sechs Bänden, Bd. 1. Frühe Schriften (1828–1830), Frankfurt/ M. 1975, 15–76, hier: 73; ders., »Grundsätze einer Philosophie der Zukunft« [1843], in: Werke in sechs Bänden, Bd. 3. Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843), 247– 322, hier: §§ 33, 42, 64. 79 S. Mosès, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985. 77
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Nur Rosenzweig bleibt von derartiger Kritik verschont. Zustimmend wird er zitiert, wo er den Anspruch des Anderen ähnlich wie auch Eugen Rosenstock-Huessy als unbedingten Gehorsam verlangenden »Befehl« deutet (ZU, 189). 80 Dabei kommen Levinas selbst allerdings empfindliche Zweifel: kann man unter solchen Voraussetzungen »überhaupt noch« von einer Beziehung zum Anderen sprechen? 81 Und was sollte noch ein Dialog ausrichten, wenn alles, worauf es uns als ›sozialen‹ Wesen ankommen muss, per Befehl bereits unwidersprechlich vorgegeben ist? Kann das auch in politischer Hinsicht gelten? 82 Wäre es so, so stünde auch dem philosophischen Dialog am Ende nur noch der Denkweg eines devoten Nachvollzugs dessen offen, was bereits feststeht; und zwar kraft einer »wirklichen Exteriorität«, die uns immer schon zuvorgekommen ist, ohne dass sich noch klar unterscheiden ließe, ob sie auf die Spur der (weiblichen) Anderen oder des (neutralen, männlichen oder göttlichen) Anderen führt. Bezeichnenderweise schwankt Levinas denn auch in seinen Beschreibungen dieser Exteriorität als féminité, dann alterité und schließlich illeité (AS, 46; HaM, 59), ohne dabei recht zu sehen, dass schon dieses Unterscheidenwollen einer Ander(s)heit zuwiderläuft, die paradoxerweise »anders als sie selbst« sein und sich insofern als schlechterdings ›unberechenbar‹ erweisen muss, soll sie sich nicht selbst konterkarieren. 83 Die Sorge um die Wahrung einer niemandem zur Disposition stehenden, insofern ›exterioren‹ 84, ironischerweise aber ausgerechnet von Levinas wiederholt ›gesetzten‹ Alterität dominiert bei ihm derart, dass man sich fragen muss, ob nicht das Problem, was speziell das Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts, 342, 381. Vgl. ZU, 213; VF, 144, sowie E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987, 111. 82 Ich meine: keinesfalls. Vielmehr müsste man nach einschlägiger historischer Erfahrung geradezu die Forderung zum kategorischen Imperativ des Politischen erklären, sich keinesfalls einem Befehlenden widerspruchslos zu unterwerfen. Vgl. ausführlich dazu: Vf., »Verfehlte Ethik und politische Schuld. Zur systematischen Aktualität von Karl Jaspers’ Abhandlung über die ›Schuldfrage‹ (1946) – mit Blick auf John K. Roths The Failures of Ethics (2015/8)«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, i. E. Erstaunlicherweise scheint Levinas diese politische Implikation seines ethischen Denkens wenig bedacht zu haben. 83 Darauf insistiert P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, Kap. 10. Zur Kritik der Engführung von Exteriorität und Alterität vgl. Theunissen, Der Andere, 357. 84 Vgl. ZU, 204. 80 81
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Gespräch außerdem leisten kann, zu kurz kommt. Spricht man am Ende überhaupt nur deshalb miteinander, um das »Geheimnis« dieser Exteriorität zu hüten? Könnte das nicht auch oder sogar nur schweigend geschehen – wie es bereits Buber nahegelegt hatte? 85 Oder handelt es sich um ein Privileg intimer, zugleich außerordentlich diskreter Beziehungen oder gar nur poetischer Rede, die sich wie bei Paul Celan schließlich weit über die »letzte Ortschaft der Worte« hinauswagt 86 und dabei schließlich jeglicher »dialogartigen Kohärenz« scheint entsagen zu müssen? 87 Wo Levinas diese Fragen streift (ZA, 57; E, 56–66), kommt wiederum der Dialog schlecht weg. Auf jeden Fall hätte letzterer die Exteriorität des Anderen, jedes anderen, zu achten und zu wahren (sofern sie dessen überhaupt bedarf, was nur der Fall sein kann, wenn es sich gerade nicht um eine ›absolute‹, d. h. irrelative Exteriorität handelt, sondern um eine Exteriorität, die von unserem Verhalten zu ihr in Vgl. DP, 42. Sollte letzteres zutreffen, dann müsste Levinas’ radikale Sprachkritik am Ende alles Sagbare und Gesagte lassen, wie es ist – was von ferne sowohl an den frühen Tractatus Ludwig Wittgensteins wie auch an die Aporien eines »Denkens des Draußen« erinnert, die Michel Foucault herausgearbeitet hat (Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, 136 f.). 86 Vgl. R. Görner, »›Denken des Herzens‹. Zugänge zu einem Motiv in Rilkes Werk«, in: »Die Welt ist in die Hände der Menschen gefallen. Rilke und das moderne Selbstverständnis. Blätter der Rilke-Gesellschaft, Bd. 24 (2002), 127–164, sowie zu Celans »Weg des Unmöglichen« O. Pöggeler, »›-Ach, die Kunst!‹«, in: D. Meinecke (Hg.), Über Paul Celan, Frankfurt/M. 21973, 77–94, hier: 94; zur Ortschaft vgl. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 61979, 13. 87 In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises spricht Celan ausdrücklich von einem »Hinaustreten aus dem Menschlichen« – und zwar mit Blick auf eine »Toposforschung«, die einen »Weg des Unmöglichen« erkunden soll. Damit könnte durchaus ein Jenseits der Worte, aller normalen Sprache und mimetischen Metaphorik gemeint sein, das den Hörern und Lesern Celan’scher Poetik zu denken gegeben wird; und zwar in einer ungeachtet aller Sprachfremdheit »dialogischen«, »Begegnung« stiftenden Perspektive, die sich nur ergeben wird, wo eine Art Rückkehr von jenem Jenseits zum Diesseits Anderer möglich wird, die letztlich dazu aufgerufen werden, für den Zeugen jenes Hinaustretens zu zeugen. Legen uns die berühmten Zeilen des Gedichtes Aschenglorie (»Niemand zeugt für den Zeugen«) nicht in Wahrheit diese Art der Rückkehr ans Herz? Ich kann diese Frage hier nur streifen, wohl wissend, wie umstritten das Dialogische bei Celan ist. Kann seine Dichtung ›wirklich‹ ungeachtet ihrer »Verlorenheit« und ihres »Verstummens« im Durchgang durch »ihre eigenen Antwortlosigkeiten« noch eine dialogische Nähe stiften? Vgl. zu diesen Fragen P. Celan, »Rede anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen« und »Der Meridian«, in: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden, Frankfurt/M. 1968, 128, 144, 148, sowie die Beiträge von S. Prawer und W. Weber in Meinecke (Hg.), Über Paul Celan, bes. 145, 279. 85
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gewisser Weise abhängt). Was aber wäre darüber hinaus die Aufgabe des Dialogs? Immerhin einen Wink gibt der in Noms propres abgedruckte kleine Celan-Essay, wo Levinas den Dichter dafür lobt, vor Augen zu führen, wie ein »Zugehen auf den anderen« möglich sein kann, das von jeglicher »Einpflanzung in eine nunmehr heimatliche Erde, […] vom ganzen Gewicht meiner Identität« befreit, aber eine andere Heimat deutlich macht, »die nicht durch Geburt entsteht«. 88 Ob diese andere Heimat, die das menschliche »Umherirren« nicht vergisst, »ihrem Wesen nach jüdisch« ist, mag man allerdings bezweifeln. Hat Levinas nicht schon in seinem ersten Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit (1961), nahegelegt, dass wir ›beheimatet‹ und ›zuhause‹ allenfalls dank der gastlichen Aufnahme Anderer sein können? Warum sollte diese Erfahrung auf ein bestimmtes Volk, auf eine Nation oder Religion beschränkt sein? 89 Sind denn wirklich alle anderen dazu verurteilt, als Autochthone nicht die geringste Ahnung davon zu haben, was es bedeutet, fremd zur Welt zu kommen und vor der darin liegenden Unbehaustheit allenfalls durch Andere und vorübergehend bewahrt werden zu können? 90 Und müssen diese sich in ihrer geradezu gnadenlosen Ignoranz der Illusion hingeben, sich ein für alle Mal an Ort und Stelle oder in ihrem angemaßten ›Lebensraum‹ auf Kosten Dritter ›verwurzeln‹ zu können? (Nebenbei gefragt: ist der ›jüdische Mensch‹, auf den sich Levinas nicht selten so beruft, als sei er eine feststehende Größe, seit jeher, in der politischen Gegenwart und für alle Zukunft gegen solche Illusionen immun? 91) Davon abgesehen gibt Levinas jedoch zu bedenken, ob nicht auch das dialogische Verhältnis zum Anderen nur so zu deuten ist, dass es diesen in seiner Unzugehörigkeit und Heimatlosigkeit in Erscheinung treten lässt und achtet (und zwar gegenseitig, wäre mit Buber E. Levinas, Eigennamen, Wien, München 1988, 61. Zur Aktualität dieser Fragestellung Vf., Europäische Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen. Fremdheit, Flucht und Heimatlosigkeit als Herausforderungen des Politischen, Hamburg 2019. 90 Vgl. HaM, 90. 91 Ganz gewiss nicht, folgt man den energischen Einsprüchen gerade von jüdischer Seite (David Grossman, Omri Boehm, Daniel Barenboim u. a.) gegen die jüngsten Bemühungen, Israel zum exklusiv jüdischen Nationalstaat zu machen. Vgl. die Beiträge in der Zeit No. 21 vom 17. 5. 2018, 43; No. 53 vom 20. 12. 2017, 44; No. 33 vom 9. 8. 2018, 9, sowie die von I. Wiltmann herausgegebenen Lebensgeschichten aus Israel, Frankfurt/M. 1998, in denen sich zeigt, wie der eigene Staat von jüdischer Seite gelegentlich als definitive Beendigung des Exils gedeutet wurde, so dass man ›ansässig‹ werden konnte »wie alle anderen« (95). 88 89
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einzuwerfen). Können im ›wirklichen‹ Dialog nicht nur im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst Andere treten, die darum wissen, dass ihr ›Ich‹ vielleicht nicht geradezu »ein Anderer [un autre] ist«, wie es Arthur Rimbaud verkündete (HaM, 88, 90, 92), dass sie aber im Verhältnis zu sich selbst immer schon ›verandert‹ sind und weder in sich selbst noch in ihrem Gegenüber je eine fertige, sich selbst genügende Innerlichkeit antreffen, die es nur noch dialogisch ›auszutauschen‹ gälte? Levinas ist weit davon entfernt, die vielfach lächerlich gemachte ›subjektive‹ Innerlichkeit des Psychischen gering zu schätzen oder gar zu verwerfen. »Ist es sicher, daß die Subjektivität, allen Winden ausgesetzt, sich unter den Dingen oder in der Materie verliert? Bedeutet die Subjektivität nicht genau durch ihre Unfähigkeit, sich von innen her einzuschließen?« (HaM, 92 f. 92) Und verlangt sie nicht gerade deshalb nach dialogischem Austausch mit Anderen? Aber wohin kann bzw. soll das führen? Etwa nur dazu, die Innerlichkeit ›authentisch‹ zu ›enthüllen‹ – als ob sie einfach vorhanden wäre und sich nur verschämt zeigen dürfte? Oder zu einem sogenannten ›Kennen-lernen‹, das, wenn es nicht ohnehin wie in einschlägigen pädagogischen Zusammenhängen bedrohlich gemeint ist, dazu führen könnte, dass die Nähe zum Anderen auf kürzestem Wege zum Verschwinden gebracht wird 93, die für Levinas gerade in seiner Exteriorität liegt? So weit ich sehe, verwirft Levinas weder das ›interessierte‹, ›aufgeschlossene‹ und wirklich ›zuhörende‹ Kennen-lernen noch auch die subjektive Innerlichkeit, die um ihre Mitteilbarkeit ringt und im Unsagbaren und Unsäglichen zu ersticken droht. Nur versteht er den Dialog, durch den Kommunikation in diesem Sinne möglich werden kann, von einem vor-dialogischen, nicht-reziproken Verhältnis zum Anderen her und läuft dabei Gefahr, letztlich auch dessen Deutung dem (philosophischen) Dialog zu entziehen. So droht seine Sozialphilosophie autoritäre Züge anzunehmen (wie es auch die Rede von einem befehlsmäßigen Anspruch des Anderen deutlich zeigt). Dabei Vgl. die Bestandsaufnahme d. Vf. in: »Substanz, Un-Ding, Passage. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Seele in deutsch-französischer Perspektive«, in: T. Ebke, S. Hoth (Hg.), Die Philosophische Anthropologie und ihr Verhältnis zu den Wissenschaften der Psyche. Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 8, Berlin, Boston 2018, 259–282. 93 Levinas, Eigennamen, 99. »Das ganz Bekannte ist tot«, schreibt dazu E. Rosenstock-Huessy, Soziologie. Erster Band. Die Übermacht der Räume, Stuttgart 21956, 23. 92
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ist diese Sozialphilosophie ihrerseits nur als Antwort auf geschichtliche Herausforderungen zu verstehen, die zu besagen scheinen, dass Andere auf Befehl indifferent ums Leben zu bringen sind, so als ob man ihnen rein gar nichts schuldig wäre. 94 Genau das bestreitet Levinas. Aber die gelegentlich gewaltsame Sprache, der er sich dabei bedient, kann nichts daran ändern, dass sie nur einen Deutungsvorschlag anbieten kann, der den jeweiligen Adressaten die volle – wenn auch immer schon zum Antwortenmüssen bestimmte – Freiheit einräumen muss, ihn nachzuvollziehen und überzeugend finden zu können – oder eben auch nicht. Die Spielräume dieser Freiheit sind unter Berufung auf Befehle so oder so nicht auszuräumen. Levinas denkt das Soziale derart ›vom Anderen her‹, dessen Anspruch uns aus einem »unvordenklichen Einst« (Paul Valéry) ›immer schon‹ erreicht haben soll, dass ihm aus dem Blick zu geraten droht, wie sehr es darauf angewiesen ist, ›auf Andere hin‹ bedacht zu werden, die als freie Adressaten, aber gewiss nicht als bloße Befehlsempfänger infrage kommen. Das gilt für soziale Beziehungen selbst genauso wie für Theorien, die zu bestimmen suchen, was soziale Beziehungen als soziale überhaupt ausmacht. In dieser Hinsicht bestreitet Levinas dem Dialog jeglichen Vorrang und jegliches Vorrecht, um das Soziale von einem (vor-)ursprünglichen Anspruch des Anderen her zu deuten, dessen anarchische Stärke mit einer empfindlichen Schwäche einhergeht: er kann nicht verständlich machen, wozu ein Dialog einlädt und warum echte Dialoge, die so überaus selten sind, nach wie vor in so hohem Ansehen stehen. Vielleicht ist das gerade in dem Maße der Fall, wie man sich dessen bewusst wird, dass wir weder ein Gespräch noch ein ununterbrochener Dialog sind und dass man grundsätzlich jederzeit wieder aus ihm herausfallen kann, um sich völliger Sprachlosigkeit überantwortet zu sehen, ohne dass absehbar wäre, ob eine einladende Geste je wieder aus ihr herausführen können wird. 95 Der zitierte Vers Hölderlins Seit An der schieren Befehlbarkeit hatte allerdings selbst Heinrich Himmler gewisse Zweifel, wie seine berüchtigte Posener Rede beweist. 95 Dass wir als ›im Gespräch‹ Seiende »immer schon übereingekommen sind«, wie Gadamer schreibt (Lob der Theorie, 15), und dass darin eine niemals aus der Welt zu schaffende Wiederanknüpfungsmöglichkeit liegt, erscheint so gesehen fragwürdig. Von der Vorannahme eines angeblich immer schon gewährleisteten Übereinkommens nimmt auch B. Waldenfels Abstand; etwa in: »Response and Responsibility in Levinas«, in: A. T. Peperzak (Hg.), Ethics as First Philosophy. The Significance of Emmanuel Levinas for Philosophy, Literature and Religion, New York, London 1995, 39– 94
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ein Gespräch wir sind deutet an, dass ›wir‹ es nicht immer schon waren. Wie es überhaupt dazu hat kommen können, wird seit dem 18. Jahrhundert und bis heute – von Johann G. Herder 96 über Arnold Gehlen 97 bis hin zu Michael Tomasello 98 – in evolutionärer und ontogenetischer Perspektive diskutiert, in der man vermuteten Ursprüngen der Kommunikation und deren ›Dialogisierung‹ 99 nachforscht, ohne sich dabei aber dessen gewiss sein zu können, dass man aus dem Horizont wenigstens möglichen Gesprächs nicht auch wieder verschwinden oder verdrängt werden kann. Wie auch immer es um diese Ursprünge bestellt sein mag, für die Dialogisten verstand es sich von selbst, dass echte Begegnungen und Gespräche »auf Erwiderung hin« (Karl Löwith 100) erst durch Menschen möglich geworden sind. 101 Und zwar so, dass dabei keiner den jeweils Anderen ersetzen kann, selbst wenn man Stellen, Standpunkte, Perspektiven und Rollen Anderer einnimmt oder vertauscht, wie man es sich von Immanuel Kant über George H. Mead, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg und Robert Selman bis hin zu Jürgen Habermas vorgestellt hat. Erst die Sozialphilosophie des 20. Jahrhunderts bringt zu Bewusstsein, dass nur im Verhältnis zu einander singuläre, einzigartige, unersetzbare Wesen wirklich kommunizieren, einander begegnen und einen Dialog führen können. Nur dadurch können sie auch zu be-
52. An die Stelle dieses Übereinkommens rückt ein »blinder Fleck« jeglicher Moral und Ethik, die sich nicht in letzter Instanz selbst begründen kann und zwischen dem Appell des Anderen einerseits und gegebenen oder auch verweigerten Antworten andererseits eine »responsive Differenz« (zwischen Worauf und Was des Antwortens) markiert, die auch eine imperativisch basierte Philosophie der Verantwortung nicht kaschieren kann; B. Waldenfels, »Der blinde Fleck der Moral«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47, Heft 4 (1993), 507–520. 96 J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], Stuttgart 1985. 97 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 13 1986, 135, 229, 267. 98 M. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/M. 2011. 99 Herder spricht in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache von einem »dialogieren« (43). 100 K. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« [1927/8], in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, 9–197. 101 M. Buber, Nachlese, Heidelberg 1965, 117; vgl. E. Morin, Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, München, Zürich 1974, unter Berufung auf eine »prähistorische Soziologie« (77).
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stimmen versuchen, was oder wer sie sind. 102 Was immer darüber im Allgemeinen zu sagen ist: im Gespräch setzen vorgängige Bestimmungen des Was- und Wer-seins gewissermaßen aus, indem man sich gegenseitig einander aussetzt. Dieses Sich-einander-aussetzen wurde als der Ort ausgemacht, an dem man sich trifft. 103 D. h. an einer Art Kreuzung zwischen woher und wohin (SE, 78, 49); auf Denk- und Lebenswegen einer polytropen Topografie 104, zwischen erster und letzter Weltfremdheit, erstem und letztem Ausgesetztsein, Geburt und Tod. Im Sich-einander-aussetzen nähert und entfernt man sich zugleich; man stiftet eine Nähe, die die Ferne jener Exteriorität, von der Levinas handelt, erst aufbrechen lässt, ohne sie je wieder zu beseitigen. Auch nicht in einem »unendlichen Gespräch« (Friedrich Schleiermacher) – das es streng genommen nicht geben kann. Jedes Gespräch setzt ein und zwischenzeitlich wieder aus – zumindest solange es sich zwischen leibhaftigen 105, sich selbst fremden, nicht transparenten, begrenzt aufmerksamen, begrenzt geduldigen, ausdauernden und mehr oder weniger mutigen, parrhesiastisch (nicht) ambitionierten Wesen 106 – ›an Ort und Stelle‹ abspielt – und kann allenfalls in naher oder ferner Zukunft wieder aufgenommen werden, u. U. auch vermittels verschriftlichter Dialoge, die ein Genre des gleichen Namens hervorgebracht haben, das sich vom lebendigen Gespräch allerdings weit entfernt hat. 107
102 Das betrifft nach Ernst Cassirers Auffassung auch das, was sie als Menschen sind; siehe oben, Anm. 12. 103 W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, 289. 104 Keineswegs führen alle diese Wege wie die des polytropen Odysseus »immer nach Hause«, wie es noch bei P. Sloterdijk, Was geschah im 20. Jahrhundert?, Berlin 2016, 254, 256, den Anschein hat, ohne dass das Schema der Odyssee selbst hinterfragt würde. 105 Es ist ein Desiderat, die klassische Ontologie der Leiblichkeit mit Blick auf Levinas – etwa im Vergleich mit Jean-Luc Nancys Buch Corpus (frz./amerikan., New York 2008) – wiederaufzunehmen. 106 M. Foucault, Diskurs und Wahrheit, Berlin 1996; ders., Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt/M. 2009, 65 ff., 204. 107 So weit, dass schließlich die Verbindung zwischen Gespräch und Dialog (als Genre) ganz abzureißen droht wie bei V. Hösle, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006. Auch die andernorts in Anlehnung an Michail Bachtin Texten selbst attestierte Dialogizität nährt diese Bedenken; vgl. R. Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/M. 1990, 9, 173 ff., 196, 393.
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Für Levinas ist es unvorstellbar, dass sich der Dialog so loslösen kann vom Gespräch, um schriftlich fixierbare und virtuelle Formen anzunehmen. Aus seiner Sicht erfordert jeder Dialog die leibhaftige Präsenz des Anderen, denn nur in ihr ist nicht zu vergessen, wie entfernt der Andere bleibt. Gerade die Anwesenheit des Anderen macht seine irreduzible Abwesenheit deutlich. So jedenfalls lese ich die bereits zitierte, durchaus zweideutige Formulierung in Die Zeit und der Andere: »Die Abwesenheit des Anderen ist gerade seine Anwesenheit als des anderen.« Diese Abwesendheit des Anderen bedeutet gerade nicht, dass er schlicht ›weg‹ oder nicht ›da‹ wäre. Vielmehr erfordert sie eine Anwesenheit, in der sich die Spur des Anderen als des niemals ›restlos‹ zu Vergegenwärtigenden und insofern uns Entzogenen abzeichnen kann. Hier stoßen wir wieder auf das große Rätsel dieser Philosophie: wie soll sich diese paradoxe Verschränkung von Anwesenheit und Abwesenheit bewähren? Davon sprach ja bereits Husserl in den Cartesianischen Meditationen, allerdings weniger in praktischer Hinsicht als vielmehr im Hinblick auf die Erfahrbarkeit des Anderen als des Anderen im Modus von cogitationes. So verfolgte Husserl noch den Weg der von ihm wenige Jahre zuvor konzipierten Ersten Philosophie, die die (möglichst apodiktisch und adäquat auszuweisende) Erkennbarkeit ihrer Gegenstände erklärtermaßen für vorrangig hält. 108 Diese Wege will Levinas nun aber endgültig verlassen, indem er fragt, wie wir sozial und praktisch ›dank‹ des Anderen existieren. Seine in immer neuen Anläufen gesuchte Antwort wird im Wesentlichen lauten: wir existieren sozial überhaupt nur dank des Anderen, dank seiner »Gabe« der Verantwortung, die man sich nicht selbst verschaffen kann. Levinas unternimmt keinen Versuch, das Rätsel dieser Gabe in evolutionärer und ontogenetischer Perspektive aufzuklären. Wiederholt es sich nicht ohnehin in jedem In-Anspruch-genommen-werden und par excellence dort, wo jemand das Licht der Welt erblickt? »Sieh hin und du weißt«, was zu tun ist. Diese ›Evidenz‹ liegt für Hans Jonas in der fraglichen Erfahrung und begründet aus seiner Sicht geradezu eine »Urschuld« dem Anderen gegenüber. 109 Mit Rosenzweig ist Levinas dagegen wie gesagt davon überzeugt, das Licht, E. Husserl, Erste Philosophie, Hamburg 1992. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 31982, 235; ders., Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt/M. 1993, 73. 108 109
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um das es hier geht, »rede« nicht, es »leuchte« nur. In Wahrheit gebiete der Anspruch des Anderen, auf ihn zu hören – und beschwört damit aufs Neue die Gefahr der Hörigkeit herauf (SE, 328, 343). Vermittels dieses Anspruchs bietet sich der Andere als ›Du‹, nicht als »thematisierbares« und »objektivierbares« Etwas (sei es auch ein Ich als eine Art »Ding, das denkt«, als res cogitans 110) oder als ein Jemand lediglich so dar, dass »man die Verdinglichung [réification] des anderen Menschen nur vermieden hätte«. Vielmehr lässt er es zu einer Begegnung mit dem Anderen angesichts seiner Nichtsynchronisierbarkeit kommen, die für Levinas ausdrücklich »nicht derselben Ordnung an[gehört] wie die Erfahrung« [25]. Wiederum scheint das, was hier Begegnung heißt, nur dem Dialog vorauszuliegen, aber nicht auch durch ihn – ›an Ort und Stelle‹ und unter gewissen sozialen und politischen Rahmenbedingungen 111 – möglich zu werden. Wirft Levinas dem Dialog nicht vor, Illusionen der Begegnung hervorzurufen, sofern er nicht eingedenk dessen geführt wird, dass niemand in der Gegenwart und Gegenseitigkeit von Angesicht zu Angesicht je aufgehen kann? Kann er Dialogizität und Alterität wirklich zusammen denken? Kann er sich vorstellen, dass man sich dialogisch aufeinander einlässt, um sich von der Erwartung zu entlasten, ganz gegenwärtig zu sein, ganz offenbar zu werden und seine Innerlichkeit ganz preiszugeben? Allzu ängstlich hütet Levinas als radikaler Kritiker mörderischer Gewalt die von ihm immer wieder als »absolut« eingestufte und für unverfügbar gehaltene vor-dialogische Alterität des Anderen, als dass er sich mit der Vorstellung anfreunden könnte, erst im Dialog und durch ihn könne sie gewaltlos erfahren werden und ›zur Geltung kommen‹. 112 Denn würde das R. Descartes, La recherche de la vérité, Würzburg 1989, 55, 81 ff. Die das Inerscheinungtreten jedes anderen höchst wirksam unterbinden können; vgl. O. Voirol, »Visibilité et invisibilité: une introduction«, in: Réseaux 129–130, Nr. 1 (2005), 9–36; G. Le Blanc, L’invisibilité sociale, Paris 2009. 112 Nur die dialogische Begegnung mit dem Anderen verdient dagegen in Gabriel Marcels Sicht das Attribut ›geistig‹ (Journal Métaphysique, Paris 1927, 207). Inspiriert wären wir demzufolge nur durch das Gespräch, das sich ›zwischen uns‹ abspielt. Dem widerspricht Levinas ebenso wie die an Heidegger anschließende Philosophie eines rückhaltlosen Exponiertseins, das ursprünglich weder eine (zunächst einseitig) dem Anderen antwortende Verantwortung noch auch ein gegenseitiges Gespräch kennt, bei J.-L. Nancy, Das Vergessen der Philosophie, Wien 1987, 101; Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003, 114; singulär plural sein, Berlin 2004, 41; Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007, 44; Corpus, 91. Dieser Eindruck bestätigt sich, wo Nancy explizit auf das Gespräch eingeht – um es auf die 110 111
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nicht darauf hinauslaufen müssen, dass jeder, der dem Anderen dialogisch begegnet, auf gleicher Höhe mit ihm sein würde? An dieser Stelle drohen allerdings fragwürdige Idealisierungen. Einer pauschalen Apologie des angeblich gewaltlosen und sogar zwanglosen Dialogs mochte sich schon Buber nicht anschließen. Offenbar hatte er wenig Vertrauen in rückhaltlosen Umgang miteinander und hielt Zeitgenossen, die sich einer »gesichtslosen Öffentlichkeit« überantworten, vor, überhaupt nicht mehr dazu fähig zu sein, in »unbefangener Direktheit […] unmittelbar zueinander zu sprechen«. 113 Verdrängt aber nicht das Gespräch mit dem Nächsten den Übernächsten, wie bereits Rosenzweig zu bedenken gab (SE, 301)? Lässt sich ein »von keinem anderen eingeschränkter« oder ein »alle einschließender« Dialog überhaupt denken, der nicht mit Hypotheken impliziter Gewaltsamkeit belastet wäre (DP, 77)? Wer kommt überhaupt als ›Dialogpartner‹ in Betracht? Und wer von vornherein nicht? Stellt sich diese Frage nur zwischen zweien oder auch zwischen Gruppen, Kollektiven, Klassen und sogenannten Rassen? Müsste man nicht auch hier von »dialogischer Gewalt« sprechen (DP, 165) – einschließlich einer Gewaltsamkeit der Philosophie des Dialogs selbst, die sich vom ›wirklichen‹ Gespräch mit ›dem‹ Anderen alles mögliche Gute verspricht und dazu neigt, dabei die schon von Buber zur Sprache gebrachte »Vielheits-Anderheit« (DP, 235) all der anderen Anderen zu vergessen, die nicht in den Genuss ›wirklicher‹ Gespräche kommen 114, vielleicht gerade deshalb, weil man sich nur an ein einziges ›wahres‹ Du namens Gott wenden will? Wer sähe nicht, dass diese Frage im Zeichen der demografischen Entwicklung der Weltbevölkerung inzwischen einen seinerzeit ungeahnten dramatischen Zuschnitt angenommen hat! Seinerzeit, damit meine ich speziell Rosenzweigs anti-hegelianische, infolge des Alterität des Sinns hin geöffnet zu verstehen, die gerade nicht in der Alterität des (›anthropologisch‹ aufgefassten) Anderen (autrui) aufgehen soll; vgl. Die Mit-Teilung der Stimmen, Zürich 2014, 32 f. In Anbetracht der Alterität kommunizierten Sinns hält es Nancy am Ende für ganz und gar unentscheidbar, ob jemals überhaupt »ein eigentliches Gespräch« stattgefunden hat (ebd., 41 f.). 113 Buber, Nachlese, 227 f. 114 Und auch nicht ins Gespräch kommen wollen, möchte man hinzufügen. Auch die zumal politisch außerordentlich brisante Frage, ob jedermann das Gespräch umwillen eines ›wirklichen‹ Dialogs führen würde und, wenn nicht, wie dann zu verfahren ist, diskutiert Levinas nicht – von gelegentlich gemeinten Feinden abgesehen, die einfach »Unrecht haben«, wie er meint. Auf kollektive und institutionelle Ebenen bezieht Levinas den Begriff des Dialogs so weit ich sehe nicht.
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Ersten Weltkriegs vollzogene Hinwendung zum Einzelnen als einem zum ethischen Leben Aufgerufenen. Für Rosenzweig war diese Hinwendung unumgängliche Folge der Prüfungen, die die Menschen des 20. Jahrhunderts seit dem Ersten Weltkrieg durchmachen mussten. In seiner Einführung zum Stern der Erlösung spricht Reinhold Mayer vom (erschütterten) Vertrauen, das man mit Hegel zunächst selbst angesichts des anscheinend »unmenschlichste[n] Zeitalter[s]« noch hegen konnte (SE, x). Diese Zeit ist für Rosenzweig nach 1918 definitiv abgelaufen; und für Levinas gilt das nach 1945 erst recht. In der Bilanz dialogischen Denkens von Bernhard Casper ist in diesem Sinne von der im 20. Jahrhundert zutage getretenen »Verneinung des Anderen« als solchen die Rede 115, die gewiss den geschichtlichen, zunächst durch das Erleben des Ersten Weltkriegs geprägten Ort des dialogischen Denkens entscheidend neu bestimmt hat. 116 Inzwischen stehen wir freilich vor weiteren Herausforderungen: vor ›identitären‹ Kommunikationsabbrüchen ebenso wie vor vernichtenden Formen der Denunziation und rassistischer Diskriminierung Anderer auf digitalen Wegen und nicht zuletzt vor einer quantitativen Dimension weltgesellschaftlicher Sozialität, die es als vollkommen illusorisch erscheinen lässt, letzteres ganz und gar auf die Achtung der Alterität des Anderen oder auf den Dialog gründen zu wollen. Der Begriff des Sozialen, den viele heute in weltgesellschaftlicher Perspektive erweitert sehen möchten, lässt sich auf eine Ethik der Alterität nicht reduzieren; und eine Weltbürgergesellschaft, wie sie Kant und seinen Anhängern vorschwebt, kann ihre transnationale Öffentlichkeit gewiss nicht allein auf dialogischen Wegen realisieren. 117 115 B. Casper, Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erweiterte Neuausgabe, Freiburg i. Br., München 32017, 7 f., 353. 116 Ebd., 83; 149. Jene Frage des Ortes betrifft auch die Sprache selbst, in der der Dialog thematisch wird. So hat Siegfried Kracauer anlässlich der Bibel-Übersetzung Bubers und Rosenzweigs energische Einwände gegen die »ontologische Gewalt des von ihnen erzeugten Deutsch« erhoben; Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1977, 181. 117 Dieser Eindruck entsteht allerdings bei Konzeptionen »dialogischer Demokratisierung« und einer »listening citizenry«; vgl. A. Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/M. 1997, 165 ff., wo nach dem Vorbild »therapeutischer Literatur« von »reinen«, »emotionalen«, »toleranten« und »zwanglosen« dialogischen Beziehungen die Rede ist, sowie B. R. Barber, Strong Democracy – Participatory Politics for a New Age, Berkeley 22004, 207.
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Das schließt keineswegs aus, dass man an einer begrenzten »Übertragung des Dialogischen« auf das (Welt-)Gesellschaftliche arbeitet, wie es Buber ansatzweise versucht hat 118, und dass man gesellschaftliche Verständigung nach dem dialogisch konzipierten Vorbild einer »sprachlich verkörperten Vernunft« denkt, wie es Habermas vorgeschlagen hat. 119 Doch auf diese Weise lässt sich das, was unter Gesellschaft zu verstehen ist, nicht im Ganzen als ein im Grunde pandialogischer Kommunikationszusammenhang deuten; schon gar nicht so, als wäre dieser noch den desaströsen Dimensionen des zu Sagenden mächtig. 120 Vergesellschaftung vollzieht sich auch auf anonyme Weise durch funktionale Vernetzungen in einer »Wüste« der Namenlosigkeit und desaströser Gewalt, wie sie Maurice Blanchot beschrieben hat. 121 Dialogisches Denken kann allenfalls darauf bauen, dass diese Anonymität im Fall eines Verständigungsbedarfs wenigstens partiell zu durchbrechen ist. Selbst wenn das gelingt, bleibt uns aber der »Schmerz des Dialogs« 122 nicht erspart, wo wir realisieren müssen, auch in der Begegnung mit dem Anderen stets aufs Neue »Vergegnung«, d. h. ein Verfehlen des Anderen als des Anderen hervorzurufen. 123 Diese Gefahr ist niemals auszuschließen, wenn der Andere auch auf ›unaufheb-
G. Wehr, Martin Buber. Leben, Werk, Wirkung, Zürich 1991, 263. J. Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt/ M. 1997, 46. An dieser Stelle scheiden sich allerdings wiederum die Geister. Diskursive Verständigung denkt Habermas derart auf »Ja-Nein-Stellungnahmen« zum Gesagten ausgerichtet und letztlich reduzierbar, dass das von Levinas so sehr betonte Sagen (dire) demgegenüber vernachlässigbar erscheint. Wären solche Stellungnahmen nicht rückstandslos digitalisierbar und insofern ablösbar von jeglichem leibhaftigen Inerscheinungtreten Anderer? Lassen sie sich nicht vollständig trennen von der an anderer Stelle betonten »absoluten Verschiedenheit« jedes Einzelnen und von der en passant konzedierten »Situierung der Vernunft«? J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 21988, 47–57. 120 Theunissen hat darauf von Anfang an insistiert. Zum Abweg des Pandialogismus vgl. H. L. Goldschmidt, Dialogik. Philosophie auf dem Boden der Neuzeit, Frankfurt/ M. 1964, 148 ff. 121 M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/ M. 1988, 154; ders., Die Schrift des Desasters, München 2005. 122 Ebd., 203 ff. 123 Wehr, Martin Buber, 32 ff. Gerade Blanchot hat allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob »die Unmöglichkeit menschlicher Beziehungen«, die man in unvermeidlicher »Vergegnung« sehen kann, »nur negativ anzusehen ist« (Der Gesang der Sirenen, 213). 118 119
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bare‹ Weise 124 anders als er selbst ist und an einer insofern fremd bleibenden, »ungeheuren Anderheit« 125 teilhat, die schon nach Bubers Überzeugung nicht auf einen personalen Anderen zu beschränken war. (Buber exemplifizierte sie am Paradigma des Tieres! DP, 172) Vereitelt am Ende gerade die Illusion, in eine unmittelbare Beziehung zu Anderen getreten zu sein und sie auf diese Weise kennen zu lernen, die Erfahrung der in keiner epistéme, in keiner dóxa, in keinem Wissen und gefühlsseligem Vertrautsein aufzuhebenden Alterität? Dieser ist als absoluter überhaupt nicht zu begegnen, insistierte Buber 126 – wohingegen Levinas geradezu sorglos mit diesem Attribut verfährt und infolgedessen auch dem Schrecken nicht Rechnung trägt, der darin liegen kann, niemals wissen zu können, mit wem man es ›genau‹ und verlässlich zu tun hat. Daran ändert sich auch dann grundsätzlich nichts, wenn man an die Stelle des Wissens das Vertrauen setzt und darauf insistiert, ›vertrauensvoll‹ könne man dem doch ›Rechnung tragen‹, dass sich Andere der ›Wissbarkeit‹ radikal entziehen. Nur dadurch wird ja überhaupt Vertrauen (im Gegensatz zu bloßer Verlässlichkeit, wie sie auch Dingen und anonymen Prozessen zugeschrieben werden kann) nötig. Das Vertrauen will nicht etwa mangelndes Wissen ersetzen oder erübrigen; vielmehr baut es auf Andere gerade angesichts ihrer epistemisch nicht zu kontrollierenden Alterität. Dabei kann es sich allenfalls täuschen über die in ihr liegenden Quellen der Furcht, des Schreckens und Entsetzens. In Wahrheit sind diese aber nicht zu leugnen. Wo Buber das realisiert, bekennt er unumwunden, mit Anderen, die für Entsetzliches verantwortlich zu machen sind, habe er »die Dimension des menschlichen Daseins nur zum Scheine gemeinsam«. 127 So stößt der Dialogphilosoph an harte Grenzen – nicht zuletzt in seinem eigenen dialogischen Denken. Weit entfernt, erwarten zu können, im ›wirklichen‹ Gespräch »mit dem Geheimnis, mit der Unendlichkeit des andern vertraut« zu werden 128, muss er einen notfalls auch von ihm selbst zu erklärenden Abbruch jeglicher KommunikaDemgegenüber hat Theunissen im Vorwort zur 2. Auflage von Der Andere darauf hingewiesen, bereits aus Hegels Wissenschaft der Logik gehe hervor, »daß ein Rest« sich jedem Prozess dialektischer Vermittlung »immer auch entzieht« (VIII). 125 Wehr, Martin Buber, 33. 126 Ebd., 380. Zum »absoluten Du« vgl. dagegen G. Marcel, Dialog und Erfahrung, Frankfurt/M. 1969, 75. 127 Buber, Nachlese, 219; vgl. Roth, The Failures of Ethics, 139 ff. 128 Buber, Politische Schriften, 504. 124
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tion mit Anderen gewärtigen, die er nur noch als radikale Feinde auffassen kann, mit denen er keine ›menschliche‹ Gemeinsamkeit mehr anerkennen mag, so dass sich nicht mehr vorstellen lässt, wie mit ihnen ein Dialog wieder aufzunehmen wäre. Reduziert sich diese Philosophie des Dialogs am Ende darauf, zunächst unbedingte Bereitschaft zu ihm zu bekunden, ohne zu fragen, wie er gegebenenfalls selbst dann noch aufrechtzuerhalten oder aufs Neue zu eröffnen ist, wenn er restlos zu scheitern droht? Neben der unbedingten Bereitschaft, jeden von Geburt an zur Sprache und zu Wort kommen zu lassen – worin vielleicht das elementarste, aber immer wieder der Erneuerung bedürftige Versprechen liegt, für das eine demokratische Lebensform einstehen muss 129 –, stellt dies die wohl dramatischste Herausforderung dar, mit der sie sich als eine Praxis des Politischen konfrontiert sieht, die neuerdings den Anspruch erhebt, niemanden ›draußen‹ zu lassen, alle ›einzubeziehen‹ oder zu ›inkludieren‹. Dieser Anspruch droht weniger an Kontrahenten im Diskurs oder an Gesprächspartnern, mit denen man zu keiner Übereinstimmung kommt, also dissensuell zu scheitern 130, sondern vielmehr daran, dass sich Wege des Gesprächs erst gar nicht (mehr) eröffnen 131, so dass die Betreffenden mundtot und sprachlos bleiben, 129 Vgl. Vf., Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen Theorie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015. 130 Hier liegen von der Sache her Querverbindungen zur Politischen Philosophie Jacques Rancières nahe, die bislang wenig untersucht worden sind. J. Rancière, Moments politiques. Interventionen 1977–2009, Zürich, 2011. 131 Ein Kernproblem der parrhésia bei Michel Foucault, die ihren Freimut gerade dann erproben muss, wenn sie aus einer Position der Schwäche heraus auf die überlegene Macht Anderer stößt. Wenn es den Ohnmächtigen, Machtlosen oder weniger Mächtigen gelingt, das Wort zu ergreifen, zeigt es sich allerdings, dass selbst der ›Stärkste‹ des ›Schwächsten‹ bedarf, um vernünftig herrschen bzw. regieren zu können, wie Foucault in einer bemerkenswerten Formulierung sagt (Foucault, Die Regierung des Selbst, 179). Machttheoretisch hat Levinas die Rede des Anderen wenig bedacht, wie es hier naheliegt. Vgl. Vf., Einander ausgesetzt, Kap. XX. Diese Rede droht überdies in eine gewisse Sentimentalität abzugleiten, wenn sie generelle Sympathie mit den Schwächeren suggeriert, aber nie in Rechnung stellt, dass diese u. U. auch in höchst selbstgerechter, anmaßender, ja rücksichtsloser und brutaler Form ihr Recht, gehört zu werden, geltend machen. Darin können sie wiederum von Anderen sehr leicht ins Unrecht gesetzt werden, die erneuten Dialog einfordern, dabei aber von ihrer schieren Übermacht keineswegs lassen wollen. Auch derartige Erfahrungen haben nicht selten dazu geführt, die Idee des Dialogs machtkritisch zu verwerfen, zumal dann, wenn sie mit einem eigentümlich depolitisierten Verständnis der menschlichen Verhältnisse einhergeht, die dialogisch bewältigt werden sollen.
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und daran, dass Gesprächsmöglichkeiten derart abgebrochen werden, dass man sich nicht nur ›nichts mehr zu sagen‹ hat, sondern einander auch nicht mehr ansprechen und in Anspruch nehmen kann. So gesehen müssten sich die Dialogtheoretiker neben der Sprachlosigkeit, aus der uns nur das dialogische Verhältnis zum Anderen befreien kann, vor allem mit Formen der Gleichgültigkeit und einer Feindschaft befassen, die solche Abbrüche heraufzubeschwören drohen und besonderen Mut erfordern, das Gespräch zwischen denen wieder anzuknüpfen, die einander abgesehen von ihrer Feindschaft, Gewalt und Unversöhnlichkeit ›nichts mehr zu sagen haben‹, wie es heißt. 132 Tatsächlich hat aber die Apologie des ›Du‹ bei Buber wie auch die des ›absolut Anderen‹ bei Levinas die Kehrseite einer radikalen Abwendung von Anderen, die jeden Anspruch auf Einbeziehung in ein Gespräch, in einen Dialog oder Diskurs verspielt zu haben scheinen. Es gibt eben Feinde, allen voran die Feinde Israels, gibt Levinas zu Protokoll, »die Unrecht haben« 133 – und für die dann eine scheinbar sprachlose Polizei und Armee zuständig zu erklären wären, die gar keinen Dialog mehr kennen, wird auf diese Weise suggeriert. 134 Zweifellos gibt es Fälle, in denen Andere auf allen Seiten aufgrund ihrer Borniertheit, politischen Ignoranz oder antidemokratischen Radikalität kaum mehr als mögliche Gesprächspartner in Betracht kommen können, weil sie hinlänglich bewiesen haben, dass selbst ausdauerndste demokratische Geduld mit ihnen nicht einen Schritt weiterkommt. Und es gibt jene radikalen Feinde, die allenfalls noch durch den Abbruch jeglicher Kommunikation kommunizieren, indem sie ihren Adressaten zu verstehen geben: ihr seid zu vernichten; und zwar ein für alle Mal. 135 Aber es hieße, diesen Formen der Gewalt allzu schnell nachzugeben, wenn man nun ebenfalls solche Kom-
132 Am Ende ›sprechen‹ nur noch die Waffen, heißt es. In der kriegstheoretischen Literatur ist für diesen Fall denn auch von einem »violent, physical dialogue« die Rede, der ggf. mit einer »coercive diplomacy« einhergeht; vgl. J. C. Garnett, »Limited ›conventional‹ war in the nuclear age«, in: M. Howard (Hg.), Restraints on War. Studies in die Limitation of Armed Conflict, Oxford 1979, 79–102, hier: 86. 133 Vgl. B. H. F. Taureck, Emmanuel Lévinas zur Einführung, Hamburg 1997, 87. 134 Auf aktuelle Gegenbeispiele sowohl auf palästinensischer wie auch auf israelischer Seite verweist das aktuelle WDR-Feature »Der Feind hört zu«; https://www1.wdr.de/ mediathek/audio/lebenszeichen/audio-israelis-palaestineser-der-feind-hoert-zu-102. html 135 Vf., Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010.
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munikationsabbrüche mitmachen würde. 136 Weder der innenpolitische Gegner, der nicht mehr mit sich reden lässt, noch der außenpolitische Feind, der alles Politische negierende Terrorist oder rogue state hat je das letzte Wort, sei es auch durch extrem gewaltsamen Abbruch jeglicher weiteren Gesprächsmöglichkeit. Alle Gewalttäter gehen aus Lebensformen hervor, von deren Nachkommen sie überlebt werden. Wären nicht wenigstens sie wieder aus der Sprachlosigkeit zurückzuholen? Müsste sich nicht eine Philosophie des Dialogs, die sich rückhaltlos der unberechenbaren Alterität jedes Anderen verschrieben hat, gerade angesichts radikaler Sprachlosigkeit bewähren, in die uns die Gewalt mit ihren radikalen, exzessiven und extremen Formen jederzeit stürzen kann? Die dunkle Spur solcher Sprachlosigkeit zieht sich unverkennbar auch durch die philosophische Literatur, die sich von Martin Buber über Karl Jaspers und Hannah Arendt bis hin zu Emmanuel Levinas der Apologie eines nur angesichts und mit Anderen möglichen, ja sogar in sich selbst ›veranderten‹ Lebens verschrieben hat. Immer wieder stößt sie auf jenen ›Anderen‹, der sich jeglicher Dialogizität verweigert und der nicht mehr sprachlich erreichbar zu sein scheint. Bewährt sich da noch ein ›Sagen‹ des Anderen, das selbst vom radikalen Gewalttäter noch ausgeht, indem er uns die Verantwortung für ihn gibt, die auch seine Untaten noch einschließt? Levinas ist in der Tat so weit gegangen, dies zu behaupten. Aber müsste sich dieser Gedanke nicht konkret – und das heißt nicht zuletzt: politisch – bewähren, um als glaubwürdig gelten zu dürfen? 137 Lässt sich auch das Politische im Zeichen unverfügbarer Alterität des Anderen denken? Falls ja, beschwört das nicht eine dramatische Überforderung politischen Lebens herauf? Fragen über Fragen, die Levinas’ Philosophie aufwirft, indem sie ironischerweise mit ihrerseits nicht selten gewaltsam anmutenden rhetorischen Mitteln jegliche Zufriedenheit mit einem normalisierten und normierten Verständnis des Sozialen, des Politischen und der Alterität des Anderen durchkreuzt.
136 Vgl. B. H. F. Taureck, B. Liebsch, Drohung Krieg. Sechs philosophische Dialoge zur Gewalt der Gegenwart, Wien, Berlin 2020. 137 Vgl. P. Delhom, A. Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie des Politischen, Berlin, Zürich 2005.
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Epilog
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Dass Tiere, denen bereits Aristoteles konzediert hatte, über eine Stimme (phoné) zu verfügen 1, zumindest mit Angehörigen der gleichen Art und auch mit ihren Beutetieren in gewisser Weise kommunizieren, steht längst außer Frage. Als ebenso unbestritten gilt aber auch, dass sie nicht miteinander sprechen, niemals einen Dialog führen konnten und auch keinen Dialog jemals führen werden. Dessen phylogenetische Ursprünge gelten nach wie vor als rätselhaft, zumal es sich abzeichnet, dass die Paläoanthropologen zunehmend bezweifeln, ob noch von einem einzigen Übergang von der biologischen ›Familie‹ der Hominidae zur Spezies Homo sapiens auszugehen ist, der sich vor zweihundert- bis dreihunderttausend Jahren von Afrika aus zugetragen haben soll. Hat sich der Übergang zu immerhin potenziell kommunikativ-dialogischen Verhältnissen zwischen den Menschen etwa mehrfach ereignet? Und handelt es sich hierbei um einen seitdem nicht mehr preisgegebenen gattungsgeschichtlichen Besitz? ›Besaßen‹ ›wir‹ die Fähigkeit zum Dialog seit Jahrtausenden, ohne je in der Gefahr gestanden zu haben, sie auch wieder einzubüßen? Und wird es selbstverständlich dabei bleiben? Nichts scheint weniger sicher, wenn man sich mit der Philosophie befasst, die sich diesem Begriff gewidmet hat – erstaunlicherweise (nachdem sie sich zweieinhalbtausend Jahre lang auf den Spuren sokratischer Dialoge bewegt hatte) erst im 20. Jahrhundert direkt und mit einer Radikalität, die uns noch heute jede Selbstverständlichkeit aus der Hand schlägt, wenn es darum geht, anzugeben, ob und wie ein Dialog überhaupt zu eröffnen ist, wie, unter welchen mehr oder weniger zu- oder abträglichen Bedingungen er stattfinden kann und ob
1 Aristoteles, Politik, Erstes Buch, 2, 1253 a 9–10; G. Agamben, Was ist Philosophie?, Frankfurt/M. 2018.
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(und gemessen woran) er gelingt oder versagt und womöglich endgültig scheitert. In dem 1980 zuerst veröffentlichten Text mit dem schlichten Titel Dialog hat Emmanuel Levinas diese eigentümliche Verspätung mit folgenden Worten zu erklären versucht: Dass man »heute sogar von einer ›Philosophie des Dialogs‹ sprechen« könne, sei eine »Folge der Prüfungen [épreuves], die die Menschen des 20. Jahrhunderts seit dem Ersten Weltkrieg durchmachten« [2]. Bei diesem reichlich vagen Hinweis lässt es der Autor bewenden, so dass die Nachfragen, die er provoziert, ins Leere laufen. Wir erfahren hier nicht, welche Prüfungen gemeint sind und welchen Menschen sie widerfahren sein sollen. Allen ausnahmslos und gleichermaßen? Oder einigen stellvertretend für alle? Warum sollen diese Prüfungen erst seit dem Ersten Weltkrieg zu Herausforderungen dialogischen Denkens bzw. einer Philosophie des Dialogs geworden sein? Wie genau und warum soll diese Philosophie – eine unter vielen Philosophien? – ihrerseits mehr oder weniger alles, was in »der philosophischen Tradition« in höchstem Ansehen stand – darunter die »Einheit des Ich oder des Systems, der Selbstgenügsamkeit und der Immanenz« [2] –, in Frage gestellt haben? Und welche Folgen hatte das? Hat diese scheinbar ganz neue, mit Namen wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Gabriel Marcel verknüpfte Philosophie diese Tradition zurückgewiesen und überwunden oder nur erweitert und bereichert? Und hat sie ihrerseits dazu beigetragen, jene Prüfungen zu bestehen? Fragen über Fragen, die der Text von Levinas aufwirft, ohne sie zu beantworten. Da hilft es wenig, sich daran zu erinnern, dass Rosenzweigs Der Stern der Erlösung, für Levinas zweifellos eine der nicht nur in dialog-philosophischer Hinsicht wichtigsten Schriften überhaupt, offenbar in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Gestalt angenommen hat. Handelt es sich um mehr als nur einen kontingenten Anlass zu einem neuartigen Philosophieren, das so ›neu‹ im Übrigen gar nicht zu sein scheint, wenn man an oft genannte ›Vorläufer‹ wie Wilhelm v. Humboldt oder Ludwig Feuerbach etwa denkt? Einen verblüffend schlichten Hinweis, der in der Sache weiter führen könnte, gibt Levinas selbst gegen Ende seines Textes, wo er die entwaffnende Frage aufwirft, warum ein sich selbst erhaltendes und bestimmendes sowie seiner selbst bewusstes Ich, wie man es von Descartes und Spinoza über Kant, Fichte und Hegel bis hin zu Husserl gedacht zu haben scheint, überhaupt sprechen sollte. »Warum sollte es sprechen? Weil der Denkende etwas zu sagen hat? Aber warum 268 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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hätte er es zu sagen? Warum genügte es ihm nicht, dieses Etwas, das er denkt, zu denken?« [34] Sprechen wir (nur), weil wir es im Unterschied zu Tieren können – phoné und lógos verknüpfend? Sollten wir an dieser Stelle nicht auch andere Modalverben in Betracht ziehen? Sprechen wir, weil wir es möchten (im Sinne von: mögen bzw. gerne tun), oder weil wir es wollen, müssen, sollen oder dürfen? Sofort drängen sich Komplikationen auf: Möchten wir sprechen, obgleich wir es nicht sollten oder dürfen? Wollen wir nicht sprechen, obwohl wir es sollten bzw. obwohl man uns dazu nötigen will? Geht es dabei jeweils nur darum, überhaupt zu sprechen oder um jeweils besondere Arten und Weisen, sich an (bestimmte) Andere zu wenden, und um spezielle ›Inhalte‹ wie Anliegen, Wünsche, Begehren, Forderungen? Jacques Rancière hat Aristoteles widersprochen, indem er darauf hinwies, dass bereits antike Erfahrung deutlich gemacht habe, wie entscheidend es ist, wessen Rede für wen unter welchen Umständen ›zählt‹. 2 Diejenigen, deren artikulierte Stimme nicht Gehör findet, so dass sie anscheinend nur verbalen Lärm machen kann, existieren in gewisser Weise gar nicht. Jedenfalls nicht politisch, wie sie es verlangen mögen, wenn sie Anliegen vorbringen, die Andere ›etwas angehen‹ sollten. Es ist also nicht trivial, ob man, von Natur aus mit einer Stimme ausgestattet, auch gehört, angehört und womöglich erhört wird oder nicht. Wer nicht gehört wird, mag sprechen können, wollen und müssen; doch wenn Andere die Betreffenden überhören, wenn sie weghören, sich taub stellen oder jegliche Beachtung verweigern, sei es auch durch zur Schau gestellte Gleichgültigkeit und Verachtung oder durch schieres Nichtreagieren, dem überhaupt kein Bezug zum Anderen mehr anzumerken ist, hört der Betreffende am Ende auf, für Andere überhaupt ›da‹ zu sein. Die inzwischen auch in der politischen Theorie eingebürgerte Rede von einem sozialen oder politischen Tod ist keine bloße Metaphorik. Ein solcher Tod kann eintreten, wenn es gar nicht mehr möglich ist, Andere anzusprechen. Dann kann es auch zu keinem Gespräch, Dialog oder Diskurs kommen. Für all das ist allerdings mehr erforderlich: nicht nur, dass man Andere »auf Erwiderung hin« ansprechen kann, wie es in Karl Löwiths Sozialanthropologie heißt 3, sondern dass man Gehör findet und dass tatsächlich Erwiderung stattfindet; und J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, 9–197, hier: § 26. 2 3
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zwar nicht irgendeine (so dass auch eine ausbleibende oder gar nicht befriedigende Antwort ohne weiteres als Antwort zählen dürfte), sondern eine Erwiderung im Sinne dessen, der den Anderen zunächst angesprochen hat. 4 Auf Anhieb ist klar, dass für ein Gespräch, das sich nicht sofort erschöpft, noch weit mehr erforderlich ist; erst recht für einen philosophischen Dialog oder Diskurs, der, wie manche immer noch meinen, vorbildlich repräsentieren sollte, was ›miteinander sprechen‹ eigentlich, in Wahrheit oder idealerweise heißen müsste. Umso erstaunlicher ist, wie schroff sich Levinas dieser Vorstellung in seinen in den Jahren 1975/6 gehaltenen Vorlesungen an der Sorbonne widersetzt und auf diese Weise eine Position bezogen hat (siehe S. 225, oben), die es erkennbar erschwert, ihn umstandslos in die von ihm selbst in Anspruch genommene ›andere Tradition‹ dialogphilosophischen Denkens einzuordnen (in der man sich im Übrigen weigert, die menschliche Rede gattungsgeschichtlich, phylogenetisch, biologisch usw. abzuleiten, beruft sie sich doch auf »das Wort« 5, von dem sich die monotheistischen Religionen herleiten). Offenbar ist Levinas weit davon entfernt, ein Loblied auf den Dialog anstimmen zu wollen, diese Kommunikationsform für die höchste und wichtigste überhaupt zu halten oder mit denen übereinzustimmen, die behaupten, wir seien im Grunde seit jeher ein Gespräch (Friedrich Hölderlin), jedermann stehe so oder so in einer den Menschen aufgegebenen »dialogischen Situation« (Martin Buber) und das Gespräch habe sich bis heute durch nichts wirklich abbrechen lassen, wir lebten vielmehr in einem »ununterbrochenen«, gar »unendlichen Dialog« (Hans-Georg Gadamer). Hölderlin würde Levinas entgegenhalten, dass ›wir‹ kein Gespräch sind, wohl aber dazu bestimmt zu sein scheinen, uns vom Anderen unbedingt ansprechen und in Anspruch nehmen zu lassen. Gegen Buber hat Levinas geltend gemacht, dass eine dialogische »Situation« überhaupt nur durch eine zunächst einseitig-asymmetrische Inanspruchnahme zustande kommen kann, so dass sie nicht von vornherein als eine gegenseitige zu denken ist. Und gegen Gadamer würde Levinas einwenden, dass die fragliche Unendlichkeit hier, in dieser
Was »im Sinne dessen …« konkret bedeutet, muss offen und dem Fortgang eines Dialogs selbst überlassen bleiben. Keineswegs geht es nur darum, Zustimmung zu finden, das versteht sich von selbst. 5 Vf., »Das ›Wort‹ und der Krieg. Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik«, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 6, Heft 1 (2019), 211–238. 4
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ursprünglichen Asymmetrie, ihren Ort hat, die allerdings radikale Kommunikationsabbrüche nicht ausschließen kann. Im Gegenteil: Viel spricht dafür, dass es gerade solche Abbrüche waren, die Levinas mit jenen »Prüfungen« meinte und die ihn zu einer radikalen Revision dialogtheoretischen Denkens herausforderten. Was Levinas seinerseits dann in diesem Sinne vorgelegt hat, ist nun gerade kein neu formuliertes »dialogisches Prinzip«, keine hochdifferenzierte Theorie des Dialogs oder gar eines Genres gleichen Namens, das sich lediglich mit Verschriftlichungen und Fiktionen befasst, die ohne weiteres auch monologisch zu konzipieren sind. Vielmehr steuert Levinas entschlossen in die Gegenrichtung und fordert dazu auf, sich darauf zu besinnen, was im weitesten Sinne dialogische Verhältnisse zu Anderen als Anderen überhaupt erst eröffnet, worin deren Alterität liegt und wovon sie abhängen, wenn sie sich nur im Zeichen dieser Alterität vorstellen lassen, der Levinas immer wieder dialektische Unaufhebbarkeit bescheinigt. Das ist das Kernproblem, um das sein Philosophieren in immer neuen Anläufen kreiste: wie von dieser Alterität des Anderen zu reden ist, insofern sie uns nur widerfährt und insofern sie eine pathische oder pathologische Virulenz hat, zu der wir uns nur nachträglich verhalten können. Und zwar nur auf verantwortliche Art und Weise, niemals aber so, dass die mit der Alterität des Anderen ›gegebene‹ Verantwortung aus dem Spiel bleiben, ignoriert oder vergleichgültigt werden kann. Dabei weiß Levinas sehr wohl, dass jene Prüfungen genau diesen Verdacht genährt haben: dass Formen der Gewalt tatsächlich möglich sind, die jede Spur der Verantwortung Anderen gegenüber auslöschen, um sie kalt, indifferent oder auch voller Verachtung und Hass massenhaft zu liquidieren. Die ganze Energie seines Philosophierens hat sich genau dagegen gewandt – und ist keinesfalls so zu verstehen, als schreibe sie sich in einen Dialogismus apologetisch ein, der das fast immer in ihm angestimmte Loblied auf den Dialog nicht selten mit fragwürdiger Emphase zu verderben droht. Als ob sich nicht mit Macht die Erfahrung aufdrängen würde, dass man »den Worten nicht mehr glauben kann […] in dieser gepeinigten Welt«, in der es schier unmöglich zu werden droht, überhaupt noch zu sprechen (SF, 128)! Nicht ohnehin verfehlter Stolz der philosophischen ›Zunft‹ auf ihre alten, von vielfachen Schulstreitigkeiten, persönlichen Zerwürfnissen, unfreien Loyalitäten, fragwürdigen Schüler- und Seilschaften konterkarierten sokratischen, eristischen, maieutischen oder auch 271 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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quasi-inquisitorischen Frage-Antwort-Spiele und Disputationen ist es, was Levinas dazu bewegt, sich mit dem Dialog auseinanderzusetzen. Vielmehr ist es die Sprachnot, der drohende Verlust des Redenkönnens, des Verstummens angesichts radikalster Gewalt, die überhaupt keine Verantwortlichkeit mehr zu kennen und gegen die gar kein menschlicher Anspruch mehr etwas auszurichten schien, was ihn auf dieses philosophische Terrain geführt hat – wo er sich sichtlich unwohl fühlte. Gesprächsführern, Moderatoren und Beratern, die keine radikalen Zweifel in der Frage beunruhigen, ob es überhaupt möglich ist zu sprechen, hat Levinas weder zum Zweck eines öffentlich-rechtlichen talks, noch auch eines therapeutischen coachings oder eines kollegialen Konsiliums viel anzubieten. Nirgends lehrt er, wie, mit wem, bei welcher (passenden) Gelegenheit, an welchem Ort, in welchem sozialen, politischen und zeitlichen Rahmen sowie worumwillen am besten ein Dialog zu führen wäre und wie besser nicht. Vielmehr kreist sein dialogkritisches Denken immer wieder um diesen einen Punkt: ob und wie es sein kann, dass der Andere als solcher, als Anderer, ›zählt‹ [29]. Wenn das nicht sicher ist oder sicherzustellen ist, wie sollte ein Dialog, gleich welcher konkreten Form, dann überhaupt Sinn ergeben? In der Tat: wenn sich der Dialog nicht unabdingbar auf den Anderen als Anderen bezieht, wäre dialogisches Verhalten im weitesten Sinne dann nicht allenfalls ein kommunikativer Luxus, zu dem man sich aus freien Stücken herablässt und auf den man sich nur zu eigenen Bedingungen einlässt, um ihn alsbald wieder aufzugeben, wenn er unbequem wird, unangenehme ›Wahrheiten‹ zu Tage fördert oder sogar zu einer Veranderung des eigenen Selbst zu führen droht? Verhält es sich nicht vielfach genau so? Mag sein, würde Levinas vermutlich erwidern; aber vor dem Dialog liegt gerade das, was ihn überhaupt zu eröffnen, zu führen und dann auch wiederaufzunehmen erlaubt: das dem Anderen, niemals uns selbst zu verdankende, zunächst asymmetrische, nicht-reziproke Verhältnis zu ihm, das allererst dazu herausfordert, sich auf Kommunikation, Gespräch, Dialoge und Diskurse einzulassen. Nicht aber bloß aus freien Stücken oder weil man sich davon einiges verspricht, sondern weil diese Herausforderung aus dem Anspruch des Anderen selbst schon hervorgeht (ohne es im Geringsten überflüssig zu machen, das auch zu realisieren). Dieser Anspruch ›besagt‹ etwas (im Modus des Widerfahrnisses): nämlich, dass der Andere ›zählt‹, ohne je gezählt worden zu sein. Nur kraft dieses pathischen Anspruchs 272 https://doi.org/10.5771/9783495823743 .
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›existiert‹ er überhaupt – sofern dieser auch vernommen wird und auf Resonanz stößt, die sich für Levinas allerdings niemals in einem akustischen oder analog vorgestellten Phänomen erschöpfen kann, sondern gleichsam das ethische Vorzeichen der Verantwortlichkeit trägt. Dürften sich Forscher wie René Spitz, die den origins of human communication nachgegangen sind, darin nicht bestätigt sehen? Sie verweisen auf Ursprünge, die man nur allzu leicht übersieht, gerade weil sie wie im Fall des Neugeborenen offen zu Tage zu liegen scheinen. Sie besagen, dass die menschliche Kommunikation mit Anderen, die noch nicht sprechen können, deren Existenz mit der non-verbalen Zuwendung des Gesichts, vor allem in der Form des Lächelns, bestätigt – so als ob es sagen wollte: Du wirst (nicht nur einmal …) angelächelt, also existierst du; also bist du willkommen; insofern kannst du darauf bauen, auf Dauer aufgenommen zu werden unter die Lebenden – die aber in dem Moment, wo sie die ›Bewahrheitung‹ des Daseins unter den Augen Anderer nicht mehr bestätigen, im Prinzip jedem jederzeit die soziale ›Existenzgrundlage‹ auch wieder entziehen können. Nichts davon wird das Neugeborene anfänglich begreifen. Und wenn die nachfolgende Lebensgeschichte nicht deutlich macht, dass ein solcher ›Entzug‹ radikal möglich ist 6, wird es keinen Grund geben, sich je auf die dauerhaft notwendige Bewahrheitung und Bestätigung der eigenen sozialen Existenz zu besinnen. Es geht m. E. nicht zu weit, zu vermuten, dass Levinas die Radikalität eines möglichen Entzugs sozialer Existenz vor Augen hatte, als er darauf insistierte, vor allem Dialog gehe es darum, dass der Andere als solcher, als Anderer, ›zählt‹ (paradoxerweise aber angesichts einer unaufhebbaren Alterität, die sich jeglicher Zählbarkeit entzieht). Diese Formulierung legt konkrete soziale und politisch-rechtliche Fragen wie die nahe, wer in den Augen Anderer, nicht zuletzt Dritter, in welcher Hinsicht ›zählt‹, d. h. Beachtung findet, ernst genommen wird, einbezogen wird, wem Bedeutung und Gewicht beigemessen wird, usw. Wie auch Buber neigt Levinas jedoch immer wieder zu einem polemischen Begriff von Sozialität, so dass er diesen Fragen seinerseits wenig abgewinnen kann. Hebt nicht alle Sozialiät die radikale, mehrfach auch als »absolut« und somit irrelativ eingestufte Alterität des Anderen in sich auf? Und deutet Levinas diese Aufhebung nicht 6 J.-F. Lyotard, »Die Rechte des Anderen«, in: S. Shute, S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996, 171–182.
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geradezu anti-dialektisch als Form der Unterdrückung [14]? Sprach Buber nicht ähnlich vom »Verlies des Sozialen« so, als komme es längst jener von Aldous Huxley beschriebenen brave new world gleich, die es offenbar nicht mehr zulassen konnte, dass irgend jemand ›draußen‹, unintegriert, unglücklich bleibt? 7 Bereits in den 1930er Jahren war Levinas auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit aus einer Sozialität, die alle, ›einschließlich‹ ihrer wie auch immer gearteten ›Differenz‹, zu integrieren oder zu inkludieren verspricht, wie es heute heißt 8, und sogar auf der Suche nach einem Ausweg (évasion) aus dem Sein selbst. 9 So insistierte er wie noch in dem ein halbes Jahrhundert später verfassten Text über den Dialog auf der Getrenntheit eines jeden, auf dessen Einsamkeit und deren Widersetzlichkeit gegen jegliche Aufhebung in irgendeiner Einheit [26]. Die absolute Nicht-Integrierbarkeit eines jeden sei allemal »besser« als alles, was man einer vernünftigen, wohlgeordneten, auf Gegenseitigkeit, Anerkennung und Gerechtigkeit ausgerichteten Gesellschaft etwa verdanken könne, der niemals zu entnehmen sei, was uns der Andere als solcher, als unaufhebbar Anderer, ethisch angehen müsse, gerade auch dann, wenn er uns nicht nur auf den ersten Blick, sondern letztlich fremd bleibe. Dass uns der Andere als solcher ›ethisch angehen‹ muss, entspringt für Levinas keiner ›vernünftigen‹ Überlegung; vielmehr ergibt sich das unvermeidlich, wie er offenbar meint, aus dem Widerfahrnis seiner Alterität, d. h. im Ereignis seiner »Transzendenz« [26]. Ob es wirklich gutzuheißen ist, ihr ausgesetzt zu sein, obgleich sie sich allem Wissen, Verstehen und Begreifen entziehen soll, so dass man gar nicht in Erfahrung bringen kann, worum es sich bei ihr letztlich handelt, diskutiert Levinas nicht. Unnachgiebig besteht er vielmehr darauf, dass wir es nur ihr, dieser Transzendenz, zu verdanken haben, nicht immerzu um uns selbst zu kreisen, mag sich die Vernunft auch noch so sehr einem sozialen »Pluralism« verpflichtet wissen, wie ihn schon Kant in seiner Anthropologie beschrieben hat, auf deren Linie sich Sozialtheoretiker, -Psychologen
7 DP, 108; vgl. A. Huxley, Brave New World [1932], Berlin 2009, wo der Savage genannte Held des Buches am Ende ein Recht für sich reklamiert, allein gelassen zu werden, ohne noch dialogisch verständlich machen zu können, warum er die ›Kur‹ eines medizinischen Violent Passion Surrogate zurückweist, das ihn wie alle anderen zufrieden machen würde (206). 8 Vgl. Vf., Einander ausgesetzt, Kap. XXI. 9 E. Levinas, De l’évasion. Ausweg aus dem Sein [1935] (frz./dt.), Freiburg i. Br. 2005.
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und -Pädagogen der Rollen- und Perspektivenübernahme bis heute bewegen. 10 Erstaunlicherweise geht Levinas im Anschluss an diese These so weit, das ›pathologische‹ Sichereignen der Alterität des Anderen, deren ethische Bedeutung wir uns infolgedessen zuziehen, ob wir es wollen oder nicht, mit dem Dialog geradezu zu identifizieren. Genauer gesagt: mit einem »vorgängigen Dialog« [27], der kraft der Alterität des Anderen ›immer schon‹ eröffnet worden sein soll, bevor ein gegenseitiges Gespräch überhaupt beginnt. So sehr Levinas mit Recht darauf besteht, dass uns der Anspruch des Anderen stets zuvorkommt, auf den wir uns nur nachträglich beziehen können (wie wenn sich eine Tür öffnet und wir dann erst wahrnehmen können, um wen es sich handelt und womit uns jemand konfrontieren wird), so wenig mag man glauben, dass das dialogische Verhältnis zum Anderen damit bereits sein Bewenden haben kann. Beschreibt Levinas nicht allenfalls, wie das ethische ›Vorzeichen‹ ins Spiel kommt, unter dem seiner Ansicht nach alle menschlich-kommunikativen Verhältnisse stehen, auch und gerade die der Gewalt, die man Anderen antut, sowie der Vergleichgültigung ihrer Ansprüche? Aber was sagt er zu konkreten (familialen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen, regionalen, politischen, nationalen und transnationalen) Bedingungen und Ordnungsbezügen, von denen effektiv zustandekommende oder auch versagte, scheiternde und gelingende Dialoge doch entscheidend abhängen? Dieser Frage kommt für jemanden allenfalls marginale Bedeutung zu, für den nur ein(e) Andere(r) überhaupt ›zählt‹ (sei es Gott, ein ›Nächster‹, das eigene Kind oder der/die eigene Geliebte 11). Mit einer solchen Reduktion liebäugelte schon Buber, wo er vom »wahren Du« sprach (DP, 77). Wer die Pluralität anderer Anderer derart umgeht, wird zum sozialen Dialog am Ende freilich kaum mehr etwas beitragen können. Sollte es in der von Buber selbst so genannten »unüberbrückbaren Vielheits-Anderheit« (DP, 235) aber I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Werkausgabe, Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, 395–690, § 2; D. Geulen (Hg.), Perspektivenübernahme und soziales Handeln. Texte zur sozial-kognitiven Entwicklung, Frankfurt/M. 1982; W. Edelstein, G. Nunner-Winkler, G. Noam (Hg.), Moral und Person, Frankfurt/M. 1993 (als zwei Beispiele unter vielen). 11 Vgl. das WDR 3–Kulturfeature von Angelika Brauer vom 18. 1. 2020 »Sterben lernen – Wie man lebt, so geht man«. 10
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nicht entscheidend darauf ankommen, wie, mit wem, unter welchen Umständen und vordringlich ein Dialog zu suchen, zu führen und womöglich auch zu einem gewissen Erfolg zu bringen wäre? Vermittelt uns Levinas mit seiner Beschreibung eines paradoxerweise vordialogischen Dialogs und einer vor-sozialen Sozialität, die niemanden per Integration und Inklusion gleichsam gefangen zu nehmen scheint (wenn man von der mehrfach als »Unterwerfung« charakterisierten Auslieferung an den Anspruch des Anderen einmal absieht), überhaupt eine Vorstellung davon, was es heißen könnte, dass ein tatsächlich geführter Dialog auch seinem Sinn gerecht wird? Ist über diesen Sinn wirklich schon alles gesagt, wenn man ihn rückhaltlos von der unaufhebbaren Alterität des Anderen her denkt? Sollte man von einer Dialog-Philosophie, die ihren Namen verdient, nicht auch erwarten dürfen, dass sie angibt, wie man dem páthos der Alterität praktisch gerecht werden kann? Oder handelt es sich hierbei um eine im Grunde infantile Erwartung – so als habe uns ›Philosophie‹ zu lehren, was wir zu tun haben, um zu wissen, wie wir offenbar unbedingten Herausforderungen, kategorischen Imperativen oder einem heteronomen Unterworfensein unter ethische Maßgaben an Ort und Stelle ›wirklich‹ gerecht werden können? Müsste das nicht unweigerlich darauf hinauslaufen, dass wir uns am Ende selbst bescheinigen, dass wir dabei ›Erfolg‹ hatten? Wäre solches Wissen nicht der Anfang vom Ende des dialogischen Verhältnisses zum Anderen selbst? Dass uns der Skrupel umtreibt, wie weit wir im Verhältnis zum Anderen als Anderem wirklich mit Wissen, Verstehen und Begreifen, mit Bewustsein, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung kommen, sei all das auch noch so ›sozial‹ ausgerichtet, darin ist gewiss ein nachhaltiges Ergebnis von Levinas’ Kritik des Dialogbegriffs zu sehen. Infolgedessen hat es den Anschein, als müssten wir ein für allemal die Entscheidung darüber aus der Hand geben, ob wir je mit Erfolg einen Dialog geführt oder auch nur zu eröffnen vermocht haben und ob das überhaupt eine Angelegenheit unseres ›Vermögens‹, unseres ›Könnens‹, unserer ›kommunikativen Kompetenz‹ sein kann, von der nicht wenige Sozialphilosophen so viel Aufheben gemacht haben. 12 Aber kann die in diesem Skrupel liegende Skepsis auch fruchtbar werden, indem sie kommunikativem Verhalten zugute kommt? Genügt es in diesem Sinne, mit Buber die »unmittelbare Berührung« J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984.
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des Anderen (DP, 66), dessen wirkliches ›Gemeintsein‹ (DP, 99), das in ihn zu setzende Vertrauen (DP, 129), die zwischen Ich und Du sich ereignende »volle Gegenwärtigkeit« (DP, 104) und die »Lebendigkeit« der Beziehung zu ihm zu beschwören (DP, 47)? Genügt es, alle Mittelbarkeit, jegliche technische Medialität und Bildlichkeit fern zu halten 13, um sich der von Levinas gesuchten »Nähe« des Anderen zu versichern? Oder droht das von Buber umschriebene »dialogische Dasein« (DP, 168), das kein Gespräch ›ist‹, aber dazu bestimmt zu sein scheint, es mit dem Anderen als Anderem zu suchen, um nicht in seinem Für-sich-sein isoliert zu bleiben und infolgedessen zugrunde zu gehen, durch solche Maßstäbe gänzlich überfordert zu werden? Hat es, bar jeglicher Mittelbarkeit und Vermittlung, in der Nähe des Anderen nur Gutes zu erwarten? Erfordert nicht jede Nähe zugleich eine ›vermittelnde‹, die Alterität des Anderen aber nicht aufhebende Diskretion, ohne die sie unmöglich gedeihen kann? Eine überschwängliche Apologie des Dialogs, die vor diesen Fragen ausweicht oder sie gar nicht erst stellt, tut ihm am Ende ebenso einen Bärendienst wie eine radikale ethische Kritik, die glauben macht, vor dem Dialog sei kraft einer unbeweisbaren Transzendenz des Anderen bereits alles entschieden, worauf es ankommt, nämlich das, »wovor wir leben, das worin wir leben, woraus und worein wir leben« (DP, 112) – und als bedürfte es einer praktischen Bewährung gerade Anderen gegenüber gar nicht, die all dem wenig oder gar keinen Glauben schenken mögen. Auch so könnte sich ja herausstellen, wie es um menschliches, dialogisches Dasein bestellt ist – weit entfernt davon, nur Gutes von ihm erwarten zu lassen. Möglicherweise stehen wir erst am Beginn einer Revision des Dialogbegriffs zwischen ›indiskreter‹ Nähe des Anderen einerseits und deren feindseliger Zurückweisung andererseits.
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Vgl. J. Bennke, D. Mersch (Hg.), Levinas und die Künste, Bielefeld, i. E.
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Die Autorinnen und Autoren
Emil Angehrn, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Basel/Schweiz. Katharina Bauer, Assistant Professor an der Erasmus School of Philosophy, Rotterdam/Niederlande. Myriam Bienenstock, Professorin für Philosophie an der Universität François Rabelais in Tours/Frankreich. Günter Figal, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau. Annette Hilt, Professorin für Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues. Emmanuel Levinas, war Professor für Philosophie an der Sorbonne; Paris/Frankreich. Burkhard Liebsch, Professor für Philosophie an der Universität Bochum. Christian Rößner, Assistenzprofessor für Philosophie am Institut für Theoretische Philosophie der Katholischen Privat-Universität Linz/ Österreich. Werner Stegmaier, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Greifswald. Jürgen Trabant, emeritierter Professor für Romanische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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