Ingeborg Bachmanns 'Ein Ort für Zufälle': Ein Interpretierender Kommentar 3110279053, 9783110279054, 9783110280555

Ingeborg Bachmanns Berlin-Text „Ein Ort für Zufälle" gilt nach wie vor als ein rätselhaftes, schwer einzuordnendes

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German Pages 688 Year 2017

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Table of contents :
I. Vorwort
II. Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode
A. Rezeptionsgeschichte
B. Forschungsüberblick
C. Methode
III. Einführung
A. Historischer Kontext
1. Entstehung
2. Biographische, zeit- und literaturgeschichtliche Kontexte
B. Textkomposition und ästhetische Einordnung
1. Aufbau und Gliederungsprinzipien
2. Narrative, stilistische und sprachliche Verfahren
3. Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion
4. Text-Bild-Komposition
C. Thematische Schwerpunkte
1. Berlin: Angstraum und entstellte Topographie
2. Krankheit und Wahnsinn
IV. Kommentar
Titel: ›Ein Ort für Zufälle‹
Motto
1. Abschnitt
2. Abschnitt
3. Abschnitt
4. Abschnitt
5. Abschnitt
6. Abschnitt
7. Abschnitt
8. Abschnitt
9. Abschnitt
10. Abschnitt
11. Abschnitt
12. Abschnitt
13. Abschnitt
14. Abschnitt
15. Abschnitt
16. Abschnitt
17. Abschnitt
18. Abschnitt
19. Abschnitt
20. Abschnitt
21. Abschnitt
22. Abschnitt
23. Abschnitt
24. Abschnitt
25. Abschnitt
26. Abschnitt
V. Resümee
VI. Materialien und Anmerkungen
Titel: Ein Ort für Zufälle
Motto
1. Abschnitt
2. Abschnitt
3. Abschnitt
4. Abschnitt
5. Abschnitt
6. Abschnitt
7. Abschnitt
8. Abschnitt
9. Abschnitt
10. Abschnitt
11. Abschnitt
12. Abschnitt
13. Abschnitt
14. Abschnitt
15. Abschnitt
16. Abschnitt
17. Abschnitt
18. Abschnitt
19. Abschnitt
20. Abschnitt
21. Abschnitt
22. Abschnitt
23. Abschnitt
24. Abschnitt
25. Abschnitt
26. Abschnitt
VII. Siglenverzeichnis
VIII. Bibliographie
IX. Bildquellenverzeichnis
X. Bildanhang
XI. Personenregister
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Ingeborg Bachmanns 'Ein Ort für Zufälle': Ein Interpretierender Kommentar
 3110279053, 9783110279054, 9783110280555

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Christian Däufel Ingeborg Bachmanns ›Ein Ort für Zufälle‹

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

127

Christian Däufel

Ingeborg Bachmanns ›Ein Ort für Zufälle‹

Ein interpretierender Kommentar

Gefördert von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und von der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung an der Universität Erlangen-Nürnberg.

D 29 ISBN 978-3-11-027905-4 e-ISBN 978-3-11-028055-5 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: epline, Kirchheim unter Teck Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Susanna

Inhaltsverzeichnis I.

Vorwort

II. A. B. C.

Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode  5 Rezeptionsgeschichte  5 Forschungsüberblick  13 Methode  36

III. A.

Einführung  63 Historischer Kontext  63 1. Entstehung  63 2. Biographische, zeit- und literaturgeschichtliche Kontexte  76 Textkomposition und ästhetische Einordnung  104 1. Aufbau und Gliederungsprinzipien  104 2. Narrative, stilistische und sprachliche Verfahren  112 3. Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion  118 4. Text-Bild-Komposition  129 Thematische Schwerpunkte  140 1. Berlin: Angstraum und entstellte Topographie  140 2. Krankheit und Wahnsinn  145

B. C.

IV. Kommentar  155 Titel: ›Ein Ort für Zufälle‹  155 Motto  157 1. Abschnitt  159 2. Abschnitt  182 3. Abschnitt  202 4. Abschnitt  225 5. Abschnitt  244 6. Abschnitt  270 7. Abschnitt  290 8. Abschnitt  301 9. Abschnitt  320 10. Abschnitt  337 11. Abschnitt  347 12. Abschnitt  357 13. Abschnitt  368

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

14. Abschnitt  386 15. Abschnitt  395 16. Abschnitt  405 17. Abschnitt  416 18. Abschnitt  433 19. Abschnitt  442 20. Abschnitt  451 21. Abschnitt  473 22. Abschnitt  488 23. Abschnitt  494 24. Abschnitt  505 25. Abschnitt  517 26. Abschnitt  530 V.

Resümee  549

VI.

Materialien und Anmerkungen  553 Titel: Ein Ort für Zufälle  553 Motto  553 1. Abschnitt  554 2. Abschnitt  560 3. Abschnitt  563 4. Abschnitt  566 5. Abschnitt  571 6. Abschnitt  573 7. Abschnitt  576 8. Abschnitt  577 9. Abschnitt  580 10. Abschnitt  584 11. Abschnitt  585 12. Abschnitt  587 13. Abschnitt  588 14. Abschnitt  592 15. Abschnitt  594 16. Abschnitt  595 17. Abschnitt  599 18. Abschnitt  603 19. Abschnitt  605 20. Abschnitt  607 21. Abschnitt  615





Inhaltsverzeichnis 

22. Abschnitt  617 23. Abschnitt  617 24. Abschnitt  618 25. Abschnitt  621 26. Abschnitt  621

VII.

Siglenverzeichnis  625

VIII.

Bibliographie  627

IX.

Bildquellenverzeichnis  655

X.

Bildanhang  657

XI.

Personenregister  669

 IX

I. Vorwort Ingeborg Bachmanns Berlin-Aufenthalt von April 1963 bis November 1965 ist vor allem seit den 1990er Jahren stärker in den Fokus des wissenschaftlichen Diskurses gerückt. Angeregt durch die Erstedition zahlreicher zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebener Gedichte und Gedichtentwürfe, essayistischer Versuche, Erzählfragmente und Textzeugen aus dem weitestgehend unvollendet gebliebenen Romanvorhaben ›Todesarten‹ sowie durch die Freigabe wichtiger Korrespondenzen dieser Zeit konnte die relativ kurze Episode in der geteilten Stadt als wichtige Station nicht nur im Leben, sondern gerade auch im Schreiben der Autorin wahrgenommen werden.1 In Berlin erreichte die Künstlerfreundschaft mit Hans Werner Henze einen letzten produktiven Höhepunkt durch die Beendigung und Uraufführung des ›Jungen Lord‹, einer Komischen Oper, zu der Ingeborg Bachmann das Libretto schrieb. Trotz einer wiederholten öffentlichen Absage an die lyrische Ausdrucksform entstanden an diesem Ort einige Gedichte, die in der »legendären Nummer 15« der Zeitschrift ›Kursbuch‹ im November 1968 erschienen und bis heute als Krönung des lyrischen Schaffens der Autorin gelten.2 Auf der anderen Seite zeugt der Nachlass von der Aufnahme eines erzählerischen Großvorhabens in dieser Zeit, das bis zu Bachmanns Tod im Jahr 1973 einen veröffentlichten Roman, drei Romanfragmente sowie eine Vielzahl an Entwürfen und poetologischen Notizen umfassen sollte. Die vorliegende Arbeit widmet sich einem Werk der Schriftstellerin, das wie kaum ein anderes diese lebensgeschichtlich schwierige und dennoch höchst innovative Arbeitsphase repräsentiert und zugleich ein Reflex der großen Anerkennung ist, die Bachmann gegen Mitte der 1960er Jahre in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erlangte: ›Ein Ort für Zufälle‹ entstand 1964 als Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises und wurde am 17. Oktober, dem Tag der Verleihung, unter dem Titel ›Deutsche Zufälle‹ in Darmstadt vorgetragen. Nachdem der Text bereits wenige Tage später, am 23. Oktober, unter geändertem Titel in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ abgedruckt worden war, erschien im Frühjahr 1965 eine überarbeitete und erweiterte Buchedition in der Reihe

1 Neben der kritischen Edition ›»Todesarten«-Projekt‹ (1995) sei hier noch auf Hans Höllers kommentierte Ausgabe ›Letzte, unveröffentlichte Gedichte‹ (1998) sowie die von den Nachlassverwaltern herausgegebene Edition unveröffentlichter Gedichte und Gedichtentwürfe ›Ich weiß keine bessere Welt‹ (2000) hingewiesen. Hinzu kommt die von Monika Albrecht und Dirk Göttsche umfassend kommentierte Edition der ›Kritischen Schriften‹ von Ingeborg Bachmann (2005). Wichtig für Bachmanns Berlin-Aufenthalt ist auch die 2004 herausgegebene Korrespondenz ›Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft‹. 2 Hans Höller: Einleitung, in: LuG 7.

2 

 Vorwort

›Quarthefte‹ des neu gegründeten Westberliner Wagenbach-Verlags. Von der zeitgenössischen Literaturkritik überwiegend ablehnend aufgenommen und von der Bachmann-Forschung lange Zeit nur am Rande wahrgenommen, gilt dieser Text heute als wesentlicher Bestandteil des Bachmann’schen Œuvres, dessen experimentelle wie innovative Poetik einen entscheidenden Wendepunkt ihres Schaffen markiert und in vielerlei Hinsicht auf das Roman-Projekt der folgenden Jahre vorausweist. Die inzwischen umfangreiche Publikationsliste, die über den deutschsprachigen Raum hinausgeht, zeugt jedoch nicht nur von der sukzessiven Kanonisierung dieses Textes im universitären Rahmen. Ihre Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit ist auch ein Indiz dafür, dass ›Ein Ort für Zufälle‹ immer noch zu den rätselhaftesten und am schwersten im Werkkontext zu verortenden literarischen Äußerungen von Ingeborg Bachmann gehört. Die damit einhergehende Tatsache, dass einerseits bestimmte Passagen wiederholt zitiert oder zur Erläuterung anderer Texte herangezogen werden, andererseits wesentliche Teile dieser so heterogenen und als dunkel gewerteten Prosa bis dato unberücksichtigt geblieben sind, war mit ausschlaggebend für die Konzeption dieser Arbeit, die im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Kommentierung den gesamten Text untersucht. Die wesentlichen methodischen Grundlagen dieses Vorhabens gehen aus der engen institutionellen Anbindung an ein Forschungsprojekt zur Lyrik Paul Celans hervor, für das Jürgen Lehmann, der Betreuer dieser Arbeit, verantwortlich zeichnet. Der jahrelange Prozess der Erarbeitung und praktischen Umsetzung adäquater Verfahren der Textkommentierung, aus dem inzwischen zwei Kommentarsammlungen zu den Gedichtzyklen ›Die Niemandsrose‹ und ›Sprachgitter‹ hervorgegangen sind, wird im Kapitel C ›Methode‹ gesondert vorgestellt. Die formalen wie funktionalen Kriterien der kommentierenden Texterfassung, wie sie in Bezug auf die Lyrik Celans angewandt wurden, dienen dabei als Grundlage für die Darstellung der eigenen Kommentierungspraxis, die sich in vielerlei Hinsicht an diese Vorlage anlehnt, jedoch entsprechend den besonderen Anforderungen von Bachmanns Prosatext auch eigene Akzente setzt. Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen ist zudem eine kritische Auseinandersetzung mit der interdisziplinären, sehr kontrovers geführten Debatte um die Textsorte Kommentar, die vor allem seit den 1960er Jahren in den angloamerikanischen, französischen und nicht zuletzt auch deutschen Textwissenschaften mit Vehemenz geführt wurde. Gerade die immer wieder diskutierten Fragen um die ›unerwünschte Subjektivität‹ und den damit einhergehenden autoritären Eingriff des Kommentars in das Verhältnis Text–Leser werden dabei im Hinblick auf eigene Vorgehensweisen problematisiert. Im Anschluss an die Erläuterungen zur Methode folgt die eigentliche Kommentierung, die sich aus einer Einführung, einer Art Überblickskommentar zum Gesamttext, und aus unmittelbar textbezogenen Kommentarteilen zusam-



Vorwort 

 3

mensetzt. Anhand eines pointierten, sukzessiv voranschreitenden Textbezugs soll das Werk hier in seinem ganzen strukturellen und semantischen Facettenreichtum aufgefächert werden, ohne dem Zwang einer stringenten oder vereinheitlichenden Lesart zu unterliegen.3 Dies gilt auch für die Verortung des Textes im Gesamtwerk sowie die umfassende Rekonstruktion textgenetischer, zeitgeschichtlich-biographischer und literarischer Kontexte. Ein wesentliches Anliegen ist es dabei, dass die erläuternden und interpretierenden Zugriffe für den Leser stets unmittelbar am Text nachvollziehbar bzw. überprüfbar werden. Da die Kommentaraussagen den Forschungsstand repräsentieren, jedoch aus Gründen der Übersichtlichkeit keine divergierenden Forschungsmeinungen diskutiert werden können, sind dem Hauptteil der Arbeit ein Kapitel zur Rezeptionsgeschichte und ein Forschungsüberblick vorangestellt, die einen wichtigen Einblick in das breite Spektrum an bestehenden Interpretationsangeboten bieten und als wesentliche Grundlage des Kommentars dienen. Dies erscheint umso wichtiger, als eine umfassende Darstellung der sich wandelnden Wahrnehmungsweise von ›Ein Ort für Zufälle‹ im feuilletonistischen wie geisteswissenschaftlichen Diskurs bis heute aussteht. Wesentlich für den Kommentar ist ebenso eine umfassende Recherche, die neben der Sichtung des Nachlasses von Ingeborg Bachmann in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek auch diverse Textzeugen, Notizen, Rezensionen und Briefe aus dem Archiv des Wagenbach-Verlags umfasst. Hinzu kommen Tageszeitungen, Magazine und andere Medien aus dem Entstehungszeitraum des Textes, die systematisch ausgewertet wurden. Die aus dieser Arbeit hervorgegangenen und für die Kommentierung herangezogenen Materialien werden zusammen mit anderen wichtigen Quellen, Dokumenten und Hinweisen aus der Sekundärliteratur in einem dem Kommentarteil nachgestellten Anhang präsentiert.

3 In der höchst intensiven Spannung zwischen Text und Kommentar erkennt Ulfert Ricklefs den stärksten Reiz der literaturwissenschaftlichen Gattung Kommentar. Denn der engste und teilweise punktuelle Textbezug erlaube es, »die Ergebnisse als ›perpetuierte Erkenntnis‹ lebendig zu halten und auch die Spannung zwischen verschiedenen Ergebnissen duskussionsoffen zu machen […].« Ulfert Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars. In: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der DFG. Frankfurt a.M. 12.–14. Oktober 1970 und 16.–18. März 1972. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft und Walter Müller-Seidel. Boppard 1975, S. 33–74, S. 65.

4 

 Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt die geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner am 7.  Februar 2011 unter dem Titel ›Kommentar zu Ingeborg Bachmanns Ein Ort für Zufälle‹ verteidigten Dissertation dar, die auf vielfältige Weise begleitet und gefördert worden ist. Mein besonderer Dank gilt zuallererst dem wissenschaftlichen Betreuer dieser Arbeit, Herrn Prof.  em. Dr. Jürgen Lehmann, der diesem Projekt mit Geduld, großem Verständnis und konstruktiven Anregungen zur Seite gestanden hat. Ebenfalls danke ich herzlich Frau Prof. Dr. Christine Lubkoll für die Begutachtung der Arbeit und für wichtige Hinweise und Impulse nicht nur im Rahmen ihrer Vorlesung zu Ingeborg Bachmann. Ihr und Herrn Prof. Dr. Stephan Müller danke ich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe ›Hermaea‹ des Verlages Walter de Gruyter. Dankbar bin ich gleichfalls Frau Prof. Dr. Christine Ivanović für ihren wissenschaftlichen Rat bei der Konzeption dieser Arbeit und ebenso für ihre langjährige Freundschaft. Des Weiteren gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Thomas Nicklas, Herrn PD Dr. Markus May, Herrn Gerd Wolfrum, Frau Inga Franke, M. A., Frau Dr. Frauke Bayer sowie Herrn Jens Finckh, M. A., für Anregungen und Hilfe. Bei der Fertigstellung der Arbeit haben mir Frau Dr.  Susanna Brogi, Herr Christian Niedermeier und Frau Dr. Kathrin Schödel durch Rat und Korrekturlesen sehr geholfen; Ihnen gilt mein herzlicher Dank. Für die Einsicht in den Nachlass Ingeborg Bachmanns danke ich Herrn Andreas Moser, Frau Isolde Moser und Herrn Dr. Heinz Bachmann sowie Frau Dr.  Eva Irblich von der Handschriftenabteilung der Österreichischen National­ bibliothek. Danken möchte ich auch dem Verleger Klaus Wagenbach und seinen Mitarbeiterinnen, die durch ihre zuvorkommende Bereitstellung von Archiv­ materialien zur Erstellung dieser Arbeit beigetragen haben. Weiterhin schulde ich der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dank für die Förderung der Promotion durch ein zweijähriges Stipendium. Für die Übernahme der anfallenden Druckkosten bin ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung an der Universität Erlangen Nürnberg zu großem Dank verpflichtet. Frau Dr. Ulrike Krauß und Frau Dr. Manuela Gerlof vom Verlag Walter de Gruyter danke ich für die gute Zusammenarbeit. Frau Dr. Christine Henschel möchte ich herzlich für Rat, Korrektorat und die Erstellung des Personenregisters danken. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern Jutta und Norbert Däufel sowie Martin Däufel, Christa, Egon und Tabea Brogi, Gerhard Cziolek, Marlies Fuhrmann, Sabine Coburger und Susanna Brogi, der diese Arbeit gewidmet ist, für ihre weitreichende Unterstützung.

II. R  ezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode A. Rezeptionsgeschichte Die Rezeptionsgeschichte von ›Ein Ort für Zufälle‹, die unmittelbar nach der Verleihung des Büchner-Preises einsetzt und sich über mehrere Stationen – Vortrag in Darmstadt (Oktober 1964), erweiterte Buchpublikation im Wagenbach-Verlag (1965), Neuauflage des Quartheftes (1987), Edition im Rahmen der kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ (1995), Jubiläumsausgabe im Wagenbach-Verlag (1999) – erstreckt, spiegelt auf vielfältige Weise die sich wandelnden, jeweils aktuellen Wahrnehmungsweisen der Dichterin im literaturkritischen wie wissenschaftlichen Diskurs wider. So ist der »Bilanzierungs- und Devotions-Duktus« in den meisten feuilletonistischen Reaktionen auf die Preisverleihung stark vom inzwischen maßgeblichen Bild der ›Klassikerin‹ beeinflusst, das Ingeborg Bachmann insbesondere seit der Herausgabe des Sammelbandes ›Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays‹ im Piper-Verlag (März 1964) anhaftet.1 Nicht nur in der offiziellen Preisurkunde der Akademie, auch in den zahlreichen Mitteilungen und Rezensionen deutscher wie ausländischer Presseorgane wird die Vergabe des Büchner-Preises als glanzvolle Bestätigung des Bachmann’schen Œuvres dargestellt, wie es der Sammelband von 1964 präsentiert.2 Im Rahmen dieser Würdigungen, die verstärkt auf den kulturellen und gesellschaftlichen Stellenwert der höchsten literarischen Auszeichnung reagieren, die in der Bundesrepublik Deutschland verliehen wird, werden jedoch auch weitere bekannte Bachmann-Images transportiert: Neben dem öffentlichkeitswirksamen Habitus der ›hilflosen‹ und zugleich ›kapriziösen‹ Frau ist dies vor allem die Festschreibung Bachmanns als ›Lyrikerin‹, die sich auffallend oft in den Besprechungen niederschlägt.3 Entsprechend dieser populären Genrezuordnung lässt sich

1 Constance Hotz: »Die Bachmann«. Das Image der Dichterin: Ingeborg Bachmann im journalistischen Diskurs. Konstanz 1990, S. 134. 2 Die Bachmann-Bibliographie von Otto Bareiss und Frauke Ohloff nennt 32 Zeitungs-Berichte zum Büchner-Preis. Hinzu kommen zahlreiche Funk- und Fernsehbeiträge vom Tag der Preisverleihung oder im Rahmen der Nachbesprechung dieses Ereignisses. Otto Bareiss, Frauke Ohloff: Ingeborg Bachmann. Eine Bibliographie. Mit einem Geleitwort von Heinrich Böll. München, Zürich 1978, S. 206–209. 3 Vgl. Hotz: »Die Bachmann«, S. 108, 132 f. Exemplarisch sei hier auf Ruprecht Skasa-Weiß verwiesen: »Dann steht sie selbst auf der Bühne, dunkel gekleidet, schüchtern, linkisch, verstört, beinahe mit leuchtendem Haar.« Ruprecht Skasa Weiß: Erträumte Wahrheit. In: Stuttgarter Zei-

6 

 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

in den ersten Kritiken des Vortrags die Tendenz erkennen, den Redetext der Gattung Lyrik anzunähern: So ist u.a. von »lyrischer Prosa«, einem »große[n] Gedicht« oder einem »Zyklus von Berlin-Gedichten« die Rede.4 Andererseits kündigt sich in einigen Rezensionen eine nicht unerhebliche Irritation bezüglich der Integration des neuen Werkes in das bisherige Œuvre der Schriftstellerin an.5 Von »eine[r] neue[n], eine[r] andere[n] Bachmann« ist die Rede, von »neue[n] Töne[n]« bzw. einer »neugeschaffene[n] Prosa«, die man »bei ihr noch nie gehört« hat, und von einem »Stück Literatur, für das so leicht sich keine Kategorie anbietet«.6 Die Unsicherheit über den Status der Rede, selbst bei fachkundigen Kritikern und Schriftstellerkollegen, manifestiert sich zudem in einer Vielzahl von teils emotional gefärbten, teils disqualifizierenden Wertungen (»härter«, »schärfer«, »offener«, »rätselvoll«, »absurd«, »zart andeutend«, »unrastig und besessen«, »hysteroide[]«, »nur noch zyklopisch«, »banal[]« etc.) sowie in unterschiedlichen, meist eher plastischen Beschreibungs- bzw. Kategorisierungsversuchen, die von »dichterische[r] Improvisation« und »surreale[r] Halluzination« über »apokalyptischer Vision« und »babylonische[m] Endzeitinferno« bis hin zu »Breughelsche[n] Höllengesichte[n]« und »Tagebuch einer Meskalinberauschten« reichen.7 Auffällig ist, dass die überwiegend zum Ausdruck gebrachte

tung, 19. Oktober 1964. Zitiert nach: Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Rezeptionsdokumente aus vier Jahrzehnten. Hrsg. von Michael Matthias Schardt. Paderborn 1994, S. 448–450, S. 449. 4 Die Zitate entstammen folgenden Quellen: Der Tagesspiegel, 20. Oktober 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134); Günther Rühle: Die Akademie als Traum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 447 f., S. 447); W. E. Süskind: Statt einer Rede – dichterische Improvisationen. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 450–452, S. 451). Vgl. Elke Schlinsog: Berliner Zufälle. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Würzburg 2005, S. 109. 5 Die Reaktionen der Literaturkritiker und Schriftstellerkollegen auf Bachmanns Vortrag am Tag der Preisverleihung werden ausführlich beschrieben in: Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 106 f. 6 Die Zitate entstammen folgenden Quellen: Frankfurter Neue Presse, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134, vgl. Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 109); Stuttgarter Zeitung, 19. Oktober 1964 (zitiert nach: Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 110); Frankfurter Rundschau, 20. Oktober 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134; vgl. Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 110). 7 Die Zitate entstammen folgenden Quellen: Günther Rühle: Die Akademie als Traum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 447 f.); Ruprecht Skasa-Weiß: Erträumte Wahrheit. In: Stuttgarter Zeitung, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 448–450); W. E.  Süskind: Statt einer Rede – dichterische Improvisationen. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Oktober 1964 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 450–452); Frankfurter Neue Presse, 19. Oktober 1964 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, zitiert nach: Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 109); Der Tagesspiegel, 20. Oktober 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134, Schlinsog: Berliner



Rezeptionsgeschichte 

 7

Skepsis in vielerlei Hinsicht die Summe der Einwände und Polemiken wiederholt, die bereits das Erscheinen von Bachmanns erstem Erzählband im Jahr 1961 hervorgerufen hatte.8 Auch in den Rezensionen zu ›Das dreißigste Jahr‹ begegnen die kritische Auseinandersetzung mit nicht eingehaltenen Gattungsnormen, die Würdigung der lyrischen Diktion innerhalb der Prosa und die Negativbewertung des Erzählens im Zeichen einer Image-Provokation, die mit der Apologie Ingeborg Bachmanns als Lyrikerin einhergeht.9 Von dieser weit verbreiteten Abwehrhaltung gegenüber der Prosa-Schriftstellerin, die zu Bachmanns Lebzeiten relativ konstant bleibt, wird auch die Rezeption der unmittelbar folgenden Publikationen des Redetextes in der ›Zeit‹ und im ›Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung‹ sowie der erweiterten Buchedition von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Wagenbach-Verlag mitbestimmt. Da es sich bei den sechs Quartheften, in deren Reihe Bachmanns Text erschien, um die Erstdrucke eines neu gegründeten Westberliner Verlags handelt, wird dieser zunächst vor allem von den Westberliner Medien wahrgenommen. Dies hat zur Folge, dass sich die Kritik über die stilistische Bewertung hinaus nun auch stärker der spezifischen Darstellung des Berlin-Bildes zuwendet. Dass ›Ein Ort für Zufälle‹ dabei als Kränkung der geläufigen Symbolik von der bedrohten ›Insel der Freiheit im Kommunistischen Ozean‹ wahrgenommen wird, zeigt Werner Wieberneits Besprechung im RIAS.10 Die Infragestellung des künstlerischen Wertes fortführend, bemängelt er die Schwerfälligkeit und Behäbigkeit des Assoziationsstroms sowie die mangelnde Originalität und Ästhetik der »artifizielle[n] Reihungen konstruierter literarischer Symbole und Bilder«, die »selten wirklich treffend«, »nicht sonderlich

Zufälle, S. 109); Stuttgarter Zeitung, 19. Oktober 1964 (zitiert nach: Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 109). 8 Trotz der überwiegend zum Ausdruck gebrachten Unsicherheit in Bezug auf die sprachliche Konturierung des Textes finden sich in den feuilletonistischen Rezensionen auch erste Ansätze einer stilistischen, gattungsspezifischen und literaturgeschichtlichen Einordnung, die auf die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Redetext lange nachwirken. Insbesondere die Annäherung von Bachmanns Büchner-Preis-Rede an expressionistische, surreale und groteske Darstellungsmittel ist bis heute Gegenstand einer kontrovers geführten Debatte um die Bestimmung nichtmimetischer bzw. avantgardistischer Darstellungsweisen in ›Ein Ort für Zufälle‹, die in dieser Dichte in keinem anderen Werk der Autorin begegnet. Vgl. dazu im Folgenden die Ausführungen zum Forschungsüberblick sowie den Abschnitt ›Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion‹ im Kapitel B der Einführung. 9 Vgl. das Kapitel ›Prosa einer Lyrikerin. Bachmann-Rezeption um ›Das dreißigste Jahr‹‹. In: Hotz: »Die Bachmann«, S. 97–115. 10 Eine Mitschrift der Sendung ›Von Büchern und Schriftstellern‹ am 20.  Juli 1965 zwischen 16:40 Uhr und 17 Uhr aus der Reihe ›Kulturelles Wort‹ befindet sich im Archiv des WagenbachVerlags.

8 

 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

erregend, nicht sonderlich beunruhigend, nicht sonderlich fesselnd, aber von kühler Humorlosigkeit« seien.11 An polemischer Schärfe gewinnt Wieberneits Kritik insbesondere dann, wenn er, die geläufige Opfersymbolik Westberlins nach dem Mauerbau verteidigend, Bachmann die Konstruktion eines falschen Geschichtsbildes vorwirft: Der von der Autorin gemeinte Wahnsinn brach »zufällig nicht in Berlin aus[], sondern [kam] nur durch einen wahnsinnigen Zufall nach Berlin«, »insofern Berlin zur Reichshauptstadt gemacht worden war, von einem, der nicht wahnsinnig und zufällig auch kein Berliner war«.12 Eher wohlwollend fällt hingegen die Besprechung der Wagenbach-Edition im ›Sender Freies Berlin‹ aus. So interpretiert Werner Rhode ›Ein Ort für Zufälle‹ als »radikal poetisiert[es], verwandelt[es], aus den Fugen geraten[es], auf den Kopf gestellt[es]«, »alles Vertraute ins Ungewöhnliche verform[endes]« Berlin-Bild, das die geteilte Stadt »beklemmend [...] und sehr viel eindringlicher« zur Darstellung bringe als andere Berlin-Texte (etwa die von Michel Butor).13 Wie skeptisch jedoch selbst Schriftstellerkollegen dem neuen Werk Bachmanns gegenüberstanden, spiegelt die sogenannte ›Anti-Sellerliste‹ der Zeitschrift ›konkret‹ wider, die Urteile bekannter Künstler und Intellektueller über neu erschienene Bücher auswertet, und auf der ›Ein Ort für Zufälle‹ auf dem ersten Platz landet.14 Im Unterschied zum Redevortrag am Tag der Preisverleihung wird die Wagenbach-Edition über die regionale Medienlandschaft Westberlins hinaus zunächst kaum wahrgenommen. Einzig der Südwestfunk stellt ›Ein Ort für Zufälle‹ zusammen mit den fünf anderen Quartheften des Wagenbach-Verlags in der Sendereihe ›Kulturelles Wort‹ vor, die regelmäßig auf Neuerscheinungen auf

11 Ebd., S. 4 f. Stilistische Schwäche und mangelnde Originalität kritisiert auch die ›Berliner Nationalzeitung‹ anlässlich einer Lesung von ›Ein Ort für Zufälle‹ in der erweiterten Form der Wagenbach-Edition: Der Text sei »vielleicht etwas schablonenhaft nach modischem Rezept des ›Absurden‹ hergestellt« (zitiert nach: Dämmerstunde mit Ingeborg Bachmann. In: Berliner Nationalzeitung, 22. Juni 1965, S. 6; ein Exemplar des Beitrags befindet sich in der Pressemappe des Wagenbach-Verlagsarchivs). 12 Wieberneit: Von Büchern und Schriftstellern, S. 5 f. 13 Werner Rhode: Am Büchertisch. Zitate und kritische Hinweise. In: Sender Freies Berlin III. Sendetermin: 2.  April 1965, 19–19.20  Uhr. Red. Hans Rittermann, S. 12. Zitiert nach einer Mitschrift der Sendung, die in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert ist. Anerkennend bemerkt zudem die Erlanger Zeitschrift ›Die Besinnung‹ in ihrer September-Ausgabe von 1965, dass »diese Prosa [...] das sogenannte alte literarische »Milieu« Berlins und seine »Stimmung« zu brechen und Neuland zu sichten [versucht].« Zitiert nach einem in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archivierten Exemplar der Zeitschrift. 14 Ein Exemplar dieser Liste ist in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert. Auf die jeweiligen Einzelbewertungen der Schriftstellerkollegen geht Klaus Wagenbach in seinem Kommentar zur Jubiläumsausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Wagenbach-Verlag ein. Klaus Wagenbach: Nachwort. In: OfZ 1999, S. 49–54, S. 54.



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dem Buchmarkt eingeht. Das Manuskript der Sendung vom 1. 7. 1965 lässt jedoch nur andeutungsweise eine Bewertung vor dem Hintergrund einzelner ausgewählter Textausschnitte erkennbar werden: »Also Politik, lyrisch verbrämt? [...] Dies erlaubt denn auch dem Leser, sich der Deutung zu enthalten und stattdessen sich der Assoziation und der partiellen Wiederentdeckung zu überlassen. Ein Ort für Zufälle ist kein Baudelaire’sches Paris.«15 Außerhalb Deutschlands ist das Interesse zunächst noch geringer. Neben einer kurzen Notiz in der Wiener Zeitung ›Neue Wege‹ reagiert lediglich das Schweizer Presseorgan ›Basler Nachrichten‹ mit einem etwas ausführlicheren Beitrag auf die ersten Editionen des Wagenbach-Verlags und lässt dabei verhaltene Kritik an Bachmanns Darstellungsweise anklingen: »Hysterie, in Melancholie verwandelt, manchmal zu deutlich«.16 Während die feuilletonistische Literaturkritik ›Ein Ort für Zufälle‹ in den folgenden Jahren zunächst kaum mehr wahrnimmt, bleibt das Interesse der Leserschaft an diesem Werk über einen langen Zeitraum ungebrochen: Bis 1973 werden 15.000 Exemplare in vier aufeinanderfolgenden Auflagen verkauft. Erst mit der Neuauflage des Quartheftes im Wagenbach-Verlag 1987, anlässlich der 750-JahrFeier der Stadt Berlin, wird der Text nochmals ausführlicher besprochen und nun verstärkt als genuiner Bestandteil der Berlin-Literatur wahrgenommen.17 In deutlicher Abgrenzung zu aktuellen Berlin-Texten der 1980er Jahre und mit Blick auf den »Geschichtsbruch«, den die Studentenbewegung mit verursacht habe, hebt etwa Caroline Neubauer in der ›Süddeutschen Zeitung‹ die »substantielle Sittlichkeit« von ›Ein Ort für Zufälle‹ hervor und bewertet das Werk als »im historischen Sinn [...] modern«.18 Irmela von der Lühe bezeichnet ›Ein Ort für Zufälle‹ im ›Radio Bremen‹ als einen »ganz besonderen, [...] seltenen, poetischen Text[] über Berlin«, der die »Wahrzeichen Berlins [...] entrückt« und gerade damit »den richtigen Blick auf diese Stadt frei[gibt]«: »die Zerrbilder erweisen sich als Bilder der

15 Barbara Gehrts: Vom Büchermarkt. Zitiert nach einer Mitschrift der Sendung am 1. 7. 1965 zwischen 16:10 Uhr und 16:30 Uhr aus der Reihe ›Kulturelles Wort‹, die sich im Archiv des Wagenbach-Verlags befindet. 16 Basler Nachrichten, 28. 8. 1965. Zitiert nach einem in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archivierten Exemplar des Artikels. 17 Vgl. dazu die Ausgabe des Magazins Theater Heute 6 (1987), S. 53 f., die in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert ist. Auch das Kulturjournal ›Treffpunkt spectrum‹ wertet in einem Beitrag der Ausgabe Nr. 2 (1987) zur Neuauflage von ›Ein Ort für Zufälle‹ im WagenbachVerlag Bachmanns Text als einen »immer noch lesenswerte[n] literarische[n] Blick auf Berlin«. Zitiert nach einer Kopie des Beitrags, der in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert ist. 18 Caroline Neubauer: Es ist nie wieder gutzumachen. Ingeborg Bachmanns Berlin-Text aus dem Jahre 1965. In: Süddeutsche Zeitung, 1. August 1987. Zitiert nach: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 103 f.

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Realität«.19 Auch wenn eine gewisse Kritik an der stilistischen Konturierung und Darstellungsweise beibehalten wird (»Der Bachmann-Ton fehlt, nicht durchgängig, aber überwiegend«; eine »fatale Motiv- und Metaphern-Vermischung«; »Wäre dieser Text viel subjektiver gewesen, wäre er vielleicht objektiver geraten«),20 fallen die feuilletonistischen Reaktionen deutlich positiver aus, und das Werk wird nun verschiedentlich in den Rang eines »klassische[n] Text[es]« gehoben, der wesentliche Entwicklungen der Stadt bereits antizipiert habe.21 Die in der feuilletonistischen Literaturkritik erkennbare Kanonisierung von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Kontext der Berlin-Literatur ist Ausdruck einer Entwicklung, deren Ansätze bereits wenige Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe zu erkennen sind. So wird das Werk 1967 und 1968 erstmals in zwei Publikationsorganen besprochen, die dem Fachbereich Lehramt/Didaktik nahe stehen. In der Zeitschrift ›Moderna Språk‹ ist es Günter Dallmann, der Bachmanns BerlinProsa zusammen mit der zeitnah erschienenen kurzen Erzählung ›Berlin. Ein lyrischer Stadtplan‹ (1964) von Marianne Eichholz als neue Stimme innerhalb einer langen Tradition von Berlin-Darstellungen und -Huldigungen interpretiert, die im Naturalismus und Expressionismus ihren Höhepunkt gehabt hätten.22 Nicht als »gespreizte Groteske« will er Bachmanns Rede verstanden wissen, sondern als plastisches Sprachspiel mit »faszinierende[n] Verfremdungseffekte[n]«, das Bachmann in der Art eines »homo ludens« nutze, um »neu-berlinische Schlupfwinkel für die Literatur« zu erobern.23 Ein Jahr später wird der Redetext in Ausschnitten in der Reihe ›Dichtung im Unterricht‹ Band 13: ›Deutsche Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts‹ abgedruckt und von Margot Jost interpretiert. Sie hebt vor allem die enigmatische Struktur des Textes hervor, die zwischen Ver-

19 Irmela von der Lühe (Sprecherin und Autorin): Über Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle. In: Journal am Morgen – Aus Kultur und Gesellschaft. Radio Bremen, 2. Programm. Sendedatum: 15. Juni 1987, 7.05–10 Uhr. Zitiert nach einer Kopie des Sendemanuskripts, archiviert in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags, S. 1 f. 20 Die Zitate entstammen folgenden Quellen: Caroline Neubauer: Es ist nie wieder gutzumachen. Ingeborg Bachmanns Berlin-Text aus dem Jahre 1965. In: Süddeutsche Zeitung, 1. August 1987 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 103 f.); Adeline Walters Besprechung im ›Hessischen Rundfunk‹ in der Sendereihe ›Das Radioskop‹ (eine Kopie des Sendemanuskripts ist in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert); Fachdienst Germanistik H. 1 (1988), S. 15. 21 Walliseller Anzeiger, 12.  Mai 1987. Zitiert nach einem in der Pressemappe des WagenbachVerlags archivierten Exemplar des Artikels. 22 Vgl. Günter Dallmann: Marianne Eichholz, Berlin. Ein lyrischer Stadtplan. Köln 1964; Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle. Berlin 1965. In: Moderna Språk LXI (1967), S. 400–403, S. 400 f. 23 Ebd., S. 402 f.



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mutung und Verneinung, Aufregung und Beruhigung changiere, ohne in einer endgültigen Bestimmung zu enden. Den Rang dieser Dichtung erkennt sie darin, dass Bachmann »nicht über eine Sache, ein Etwas« spreche, »sondern die Sache selbst, also hier das Ungeklärte, Ungewisse, Fragliche [...] sprachlich gestaltet«.24 Lucie Schauer hebt 1969 im Rahmen eines groß angelegten Abrisses der ›Kunst in Berlin. 1945 bis heute‹ die Sonderstellung von Bachmanns Berlin-Prosa innerhalb der Berliner Nachkriegsliteratur mit den Worten hervor: »Einer landläufigen und berlinoptimistischen Perspektive setzte Ingeborg Bachmann in ihrem Buch ›Ein Ort für Zufälle‹ das Krankheitsbild einer Stadt entgegen. [...] In derart schonungslosen Tönen hatte bis dahin niemand von Berlin gesprochen.«25 In zeitlicher Nähe zu diesen ersten Besprechungen, die nicht vom Anlass der Preisverleihung oder der Gründung des Wagenbach-Verlags beeinflusst sind, werden einige Passagen von ›Ein Ort für Zufälle‹ Ende der 1960er Jahre auch ins Französische und Englische übersetzt – 1966 von Marie-Simone Rollin in ›Les Lettres nouvelles‹ und 1969 von Paul O’Hearn in ›Dimension‹.26 Seit Beginn der 1980er Jahre zeigt sich dann die Kanonisierung von ›Ein Ort für Zufälle‹ auch daran, dass zumeist einzelne Abschnitte des Textes, die etablierte Berlin-Motive zitieren, in diverse Berlin-Anthologien aufgenommen werden. Während Hans Werner Richter den vollständigen Text in seinem Sammelband ›Berlin, ach Berlin‹ abdruckt,27 nehmen Ingrid Krüger und Eike Schmitz vier Textabschnitte – zum Stadtteil Kreuzberg, zu Alt-Moabit, zum Berliner Nachtleben und zum Café Kranzler – in ihre literarische Chronik der geteilten Stadt ›Berlin, Du Deutsche Deutsche Frau‹ auf.28 Wenige Jahre später zitiert die ›Zeit‹ den 17.  Abschnitt von ›Ein Ort für Zufälle‹ zusammen mit Texten von Ryszard Kapuściński, Anton Tschechow, Witold Gombrowicz, Charles Burney, Stig Dager­

24 Margot Jost: Ingeborg Bachmann. In: Deutsche Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Prosa ausgewählt und interpretiert von Margot Jost. Dichtung im Deutschunterricht Bd.  XIII. München 1968, S. 109–112, S. 112. 25 Lucie Schauer: Schnittpunkt der Strömungen. In: Kunst in Berlin 1945 bis heute. Literatur, Theater, Film, Foto, Musik, Malerei, Skulptur, Architektur, Akademie der Künste. 396 Farb- und Schwarzweiß-Bilder. Gestaltung: Hermann Kießling; Übersetzungen: Brigitte Weitbrecht. Stuttgart, Berlin, Zürich 1969, S. 18–59, S. 29 f. 26 Ingeborg Bachmann: Un lieu de hasards. Übersetzung von Marie-Simone Rollin. In: Les Lettres nouvelles, Numéro spézial (1966), S. 127–132. Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle – A place vor incidents (deutsch-amerikanischer Paralleltext). Übersetzung von Paul O’Hearn. In: Dimension. Contemporary German Arts and Letters 2 (1969), No. 3, S. 586–591. 27 Ingeborg Bachmann: Ein Ort für Zufälle. In: Berlin, ach Berlin. Hrsg. von Hans Werner Richter. Berlin 1981, S. 76–84. 28 Vgl. Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 150. Die von ihr ebenfalls zitierte Anthologie Berlin! Berlin!, hrsg. von Gustav Sichelschmidt, enthält jedoch keine Textpassagen von ›Ein Ort für Zufälle‹.

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man und Erasmus von Rotterdam im Rahmen einer literarischen DeutschlandAnthologie mit dem Titel ›Deutschland, von außen‹, die wichtige ausländische Stimmen über das Land zusammenträgt.29 Zeitgleich erscheint diese Textpassage auch in Barbara Gutts Sammlung ›Frauen in Berlin mit Kopf und Herz und Hand und Fuß‹ unter der Rubrik »Cafébesucherinnen«.30 Die sukzessive Aufwertung der Berlin-Prosa Bachmanns zum ›klassischen Text‹, von der auch die bibliophile Neuausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹ zum 35. Verlagsjubiläum des Wagenbach-Verlags im Jahr 1999 zeugt,31 ist aber nicht nur dem zunehmenden öffentlichen Interesse an der Berliner Kunst- und Kulturszene geschuldet, das 1987, im 750. Jubiläumsjahr der Stadt, einen ersten Höhepunkt findet und in Folge der Wiedervereinigung weiter zunimmt. Sie ist auch Zeugnis einer allgemeinen Neubewertung, die Bachmanns Prosawerk im wissenschaftlichen Diskurs seit Ende der 1970er Jahre, vor allem durch die feministisch orientierte Bachmann-Forschung erfahren hat.32 So konstatiert Kurt Bartsch bereits 1983 einen regelrechten »Bachmann-Boom«, der auch die Erwartungshaltung der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verändert habe.33 Editorische Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist die Herausgabe einer kommentierten Werkausgabe im Piper-Verlag 1978, die in überarbeiteter Form 1987 neu aufgelegt wird. Diese enthält neben dem großen Romanprojekt ›Todesarten‹ auch das dichtungstheoretische Werk der Schriftstellerin sowie die Preisreden. Obwohl sich der Fokus der feuilletonistischen Besprechungen vorrangig auf die Edition des ›Todesarten‹-Konvoluts richtet, wird die Aufnahme der Essays und Reden als besonders wertvoll hervor-

29 Die Zeit 53 (1992), S. 48. Ein Exemplar ist in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archiviert. 30 Frauen in Berlin mit Kopf und Herz und Hand und Fuß. Hrsg. von Barbara Gutt. Berlin 1991, S. 126. 31 So resümiert die ›Neue Zeit‹ in der Ausgabe vom 11. März 2000: »Eine köstliche bibliophile Ausgabe des wunderbaren Textes der großen österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.« Zitiert nach einem in der Pressemappe des Wagenbach-Verlags archivierten Exemplar der Mitteilung mit dem Titel ›Druckfrisch‹. 32 Renate Langer konstatiert, dass sich in den 1980er Jahren eine Rezeptionsrichtung etablierte, »die Bachmann als Ikone eines feministischen Leidenskults verehrt«: »Die »Einstellung auf Krankheit«, von der Bachmann in ihrem Berlin-Essay ›Ein Ort für Zufälle‹ geschrieben hat, entspricht nun dem Zeitgeist.« Renate Langer: Schmerzensfrau und Immaculata. Bruchlinien im Bachmann-Bild. In: Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Hrsg. von Wilhelm Hemecker und Manfred Mittermayer. Wien 2011, S. 54–71, S. 56. 33 Kurt Bartsch: Ingeborg Bachmann heute. In: Literatur und Kritik (1985), H. 195/196, S. 281–287. Zitiert nach: Sara Lennox: Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns Tod. In: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 26–35, S. 29.



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gehoben, da sie das Bild der Autorin vervollständigten.34 Die Edition von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Rahmen der 1995 erschienenen kritischen Ausgabe ›»Todesarten«Projekt‹ ist dann Ausdruck einer bis heute geltenden Auffassung und Würdigung dieses Werkes als wesentlicher poetischer Schwellentext zu Bachmanns groß angelegtem Romanprojekt der 1960er und 1970er Jahre.

B. Forschungsüberblick Im Unterschied zur feuilletonistischen Rezeption der Büchner-Preis-Rede und der Buchedition im Wagenbach-Verlag setzt die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ›Ein Ort für Zufälle‹ erst nach dem Tod Ingeborg Bachmanns ein. Die einzige Ausnahme bildet Peter Fehls Dissertation ›Sprachskepsis und Sprachhoffnung im Werk Ingeborg Bachmanns‹, die bereits 1970 auf die »Erzählstruktur der perspektivischen Verschiebung« in ›Ein Ort für Zufälle‹ eingeht, deren Ziel es sei, »das im politischen Sprachgebrauch Verschleierte neu und wirklich zu erfassen«.35 Die erste größere wissenschaftliche Abhandlung findet sich dann in Beate  A. Schulz’ 1979 veröffentlichter Dissertation ›Struktur- und Motivanalyse ausgewählter Prosa von Ingeborg Bachmann‹. Im Kontext der Philosophie Martin Heideggers und Ludwig Wittgensteins interpretiert Schulz Bachmanns Text als von »existentialistischen Gedanken« getragene »Collage«.36 Zugleich hebt sie den die Darstellung prägenden Aspekt des Unmittelbaren, Ereignishaften hervor, der ›Ein Ort für Zufälle‹ der Gattung Novelle annähere. Unter Berücksichtigung der spezifischen Gliederung des Textes in einzelne Sequenzen bestimmt sie diesen daher als »Stationennovelle«.37 Wesentlich für die nachfolgende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bachmanns Berlin-Prosa ist, dass Schulz die von ihr als zentral erachteten Stilmittel der »Invertierung« und »Verfremdung« dem Ausdrucksbereich des Grotesken zuordnet.38 In einem ausführlichen Anhang zur Textanalyse widmet sie sich abschließend einem Motivvergleich zwischen Bach-

34 Vgl. Carsten Gansel: Sensibel und streitbar für das Humane. In: Neues Deutschland, 21. Dezember 1987. Abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 301 f. 35 Peter Fehl: Sprachskepsis und Sprachhoffnung im Werk Ingeborg Bachmanns. Heidesheim 1970, S. 206 f. 36 Beate A. Schulz: Struktur- und Motivanalyse ausgewaehlter Prosa von Ingeborg Bachmann. London 1979, S. 106, 109. 37 Ebd., S. 114. 38 Ebd., S. 116: »[...] das Stilmittel der Invertierung potenziert zur Groteske und negiert durch Ironie.« Vgl. auch S. 121: »Die stationen-artigen Szenen und die genannten Stilmittel der Groteske – zu der die Gestik beiträgt –, Antithetik, Ironie und die gegebenen Krankheits-/ und Dissonanz-Motive ergeben eine offene Form.«

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manns Text und Büchners Erzählung ›Lenz‹, der jedoch einen stark summarischen Charakter besitzt. Wenige Jahre später greift Kurt Bartsch die Frage der stilistischen Prägung von Bachmanns Text in seiner 1982 veröffentlichten Habilitationsschrift ›»Frühe Dunkelhaft« und Revolte‹ erneut auf. Aufgrund der seiner Ansicht nach bewusst »sprunghaft, assoziativ und zusammenhanglos« konzipierten äußeren Gestaltung sowie der angewandten Verfahren – »die Darstellung [kippt] von Realem unvermittelt ins Irreale, Surreale beziehungsweise Groteske« – kommt er zu dem Schluss, dass es sich um einen »fiktionalen Text«, genauer um eine »Prosagroteske«, handele.39 Auch Bartsch weist auf die Beziehungen zwischen ›Ein Ort für Zufälle‹ und Büchners Erzählung ›Lenz‹ hin, wobei er Bachmanns Text nicht als Aktualisierung der Büchner’schen Erzählung versteht, sondern als den Versuch Bachmanns, eine »Wahnsinnsgeschichte« ihrer Zeit zu schreiben: Der Text »handelt vom kollektiven Wahnsinn in der politischen und gesellschaftlichen Landschaft Europas der ersten Hälfte der sechziger Jahre, örtlich fixiert am politisch wundesten Punkt in der Ost-West-Beziehung: in Berlin«.40 Bartsch versteht die grotesken Strukturen des Textes somit nicht ausschließlich als rein ästhetisches Spiel, sondern als Verfahren zur Demaskierung der alltäglichen Wirklichkeit: »Hinter den Erscheinungen und Vorkommnissen des Alltags nimmt sie [Bachmann] eine mörderische Praxis wahr, deckt sie alltäglichen Wahnsinn im Zusammenleben der Menschen auf.«41 Den ersten feuilletonistischen Kritiken folgend, spricht auch Bartsch dem Text eine Sonderstellung im Gesamtwerk der Schriftstellerin zu und begründet dies mit einer »gewisse[n] Härte, und Aggressivität« des Stils, die er außer in dem Gedicht ›Keine Delikatessen‹ sonst kaum bei Bachmann beobachte.42 Bartsch wendet sich auch in der Folge wiederholt ›Ein Ort für Zufälle‹ zu: So fasst er die wesentlichen Thesen seiner Habilitationsschrift 1985 nochmals in einem Aufsatz zusammen, rückt den Text jedoch stärker in den Kontext des Gesamtwerkes. Wie der Titel ›Ein Ort für Zufälle. Bachmanns Büchner-PreisRede, als poetischer Text gelesen‹ ankündigt, widmet sich Bartsch zu Beginn ausführlich dem Problem der stilistischen und gattungsspezifischen Einordnung. Ausgehend von seiner Auffassung des Werkes als einem »fiktionale[n] Text« bzw. als »Prosagroteske« kritisiert er dessen Subsumierung im Rahmen der 1978 veröffentlichten Werkausgabe des Piper-Verlags unter die Rubrik »Essays, Reden,

39 Kurt Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte. Zu geschichtlicher Erfahrung und utopischen Grenzüberschreitungen in erzählender Prosa von Ingeborg Bachmann. Graz 1982, S. 81, 84, 86. 40 Ebd., S. 82. 41 Ebd., S. 84. 42 Ebd., S. 89.



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Vermischte Schriften«.43 Bestätigt Bartsch damit die Lesart seiner Habilitationsschrift, so relativiert er durch den anschließenden Vergleich des Textes mit dem vorherigen Erzähl- und Hörspielwerk, aber auch mit dem Romanzyklus ›Todesarten‹ sowie dem Erzählband ›Simultan‹ die vorher noch stärker betonte Singularität von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Gesamtwerk. Dabei versteht er Bachmanns Prosagroteske als Schwellentext, der in der Art und Weise der Darstellung noch stärker dem »abstrakt Modellhaften« der frühen Prosa zugehöre, thematisch durch die »Verschärfung der politischen Lage und gesellschaftlichen Widersprüche in der ersten Hälfte der sechziger Jahre« jedoch bereits »im Vorfeld der späten Erzählprosa von Bachmann« anzusiedeln sei.44 Zuletzt beschäftigt sich Bartsch in seiner Bachmann-Monographie von 1988 mit ›Ein Ort für Zufälle‹. Darin reagiert er auf die inzwischen von Hans Höller veröffentlichte Monographie ›Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus‹, die Bartschs Einstufung der Rede als »Prosagroteske« anzweifelt, »weil diese dem Text eine Sonderstellung im Werk zu[weist]« und vor allem die »spannungsvolle Beziehung zum RomEssay verstellt«.45 Gegen Höllers Einordnung des Textes als Essay, der aufgrund der darin erkennbaren »Annäherung von wissenschaftlicher und literarischer Methodik« in eine »österreichische Literatur-Tradition« (besonders Robert Musil) gerückt werden könne,46 sprechen aus Bartschs Sicht vor allem die angewandten sprachlichen Verfahren, die sich »in der Inszenierung des unvermittelten Umkippens der »Darstellung von Realem [...] ins Irreale, Surreale beziehungsweise Groteske««, aber auch »in Wortspielen sowie Spielen mit Phrasen« experimentellen Texten annähern.47 Zudem intendiere die Entscheidung Bachmanns, in der Buchpublikation des Wagenbach-Verlags die »Dankesworte, Bemerkungen zu Georg Büchner und Erläuterungen zu ihrem eigenen Text in einen Anhang zu verbannen«, ein Verständnis von ›Ein Ort für Zufälle‹ als »poetischer Text«.48 Höllers Auseinandersetzung mit Bartsch ist paradigmatisch für die bis heute den literaturkritischen wie wissenschaftlichen Diskurs beherrschende Pro-

43 Kurt Bartsch: Ein Ort für Zufälle. Bachmanns Büchnerpreisrede, als poetischer Text gelesen. In: Modern Austrian Literature 3/4 (1985), S. 135–145, S. 135. 44 Ebd., S. 143 f. 45 Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »Todesarten«-Zyklus. Frankfurt a.M. 1987, S. 215 (im Weiteren zitiert nach der text- und seitenidentischen Ausgabe im Verlag Anton Hain von 1993). 46 Höller: Ingeborg Bachmann, S. 215 f. 47 Kurt Bartsch: Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1988, S. 139. Der Autor zitiert hier die genannten Textstellen Höllers, denen er Belege aus der eigenen Habilitationsschrift entgegensetzt. 48 Bartsch: Ingeborg Bachmann, S. 138 f.

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blematik der Gattungszuordnung von ›Ein Ort für Zufälle‹. Seine 1987 erschienene Monographie hat sich jedoch auch in anderer Hinsicht entscheidend auf die Bachmann-Forschung ausgewirkt. Denn im Rahmen seiner stilistischen wie motiv- und ästhetikgeschichtlichen Analyse geht der Autor erstmals nicht nur auf den Stellenwert des Textes im Werk der Schriftstellerin ein (neben dem Rom-Essay rückt vor allem das Gedicht ›Schallmauer‹ in den Fokus), sondern auch auf »Beziehungen zur vergangenen wie zur zeitgenössischen Literatur«.49 Über Büchners ›Lenz‹ hinaus erkennt Höller gerade in der Reflexion der Großstadtwahrnehmung eine Affinität des Bachmann-Textes zu Rainer Maria Rilkes ›Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, der »ebenfalls die Strapazierung der menschlichen Wahrnehmungsapparatur durch die Bewegungen und Geräusche der Großstadt zum Thema hat«.50 Dabei versteht er Bachmanns Berlin-Text, in dem die »letzten Widerstände im Ich zerbrochen [scheinen]«, als eine Radikalisierung der 50 Jahre zuvor zu Papier gebrachten Großstadt-Erfahrungen, die auf die Zerstörungen der jüngsten Vergangenheit reagiere: »Die wahnsinnigen Geräusche und Bewegungen, die alles übertönen und niederreißen, die Konsumwut in der Manie des Kaufens und Verkaufens, die wie Naturkatastrophen über die Menschen hereinbrechenden Warenberge und Ströme von Alkohol sollten die unbewältigte Vergangenheit auslöschen helfen«.51 Im Kontext der Gegenwartsliteratur lenkt Höller den Blick insbesondere auf das Werk Paul Celans. So vergleicht er die »Bewegung des Suchens« vor allem im ersten langen Satz von ›Ein Ort für Zufälle‹ einerseits mit der »Bewegung des Schreibens«, die Celan in seiner Büchner-PreisRede ›Der Meridian‹ im Bild des Fingers auf einer Landkarte vor Augen führt, andererseits mit dem sprachlichen Gestus, der in Celans Prosatext ›Gespräch im Gebirg‹ die »unerlöste Bewegung des Ewigen Juden charakterisiert«.52 Signifikant sind für Höller aber auch die Parallelen zwischen ›Ein Ort für Zufälle‹ und Celans allerdings erst später entstandenem Berlin-Gedicht ›Du liegst‹ aus dem posthum erschienenen Gedichtband ›Schneepart‹.53 Nachdem Höller 1991 in einem Aufsatz der italienischen Fachzeitschrift ›Il confronto letterario‹ nochmals die besondere Konstellation, in der Bachmanns Rom-Essay ›Was ich in Rom sah und hörte‹ und ihre Büchner-Preis-Rede zueinander stehen, thematisiert,54 unterstreicht er im Kommentar zu seiner 1998 heraus-

49 Höller: Ingeborg Bachmann, S. 220. 50 Ebd., S. 220 f. 51 Ebd., S. 221. 52 Ebd., S. 224. 53 Ebd., S. 222 f. 54 Hans Höller: Ein utopischer Ort und ein traumatischer, Rom und Berlin bei Ingeborg Bachmann. In: Il confronto letterario 14 (1991), S. 39–50.



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gegebenen Edition ›Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen‹ erneut die autoreferentiellen Korrespondenzen zwischen ›Ein Ort für Zufälle‹ und Bachmanns Gedicht ›Schallmauer‹ sowie die intertextuellen Bezüge zu Rilkes Großstadtroman. Gegenüber seiner Monographie von 1987 versucht Höller nun jedoch wesentlich intensiver die städtische Wirklichkeit Berlins bzw. die Erfahrungen Bachmanns in dieser Stadt als zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund fruchtbar zu machen. Mit Blick auf Bachmanns zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Essay über den Schriftsteller und befreundeten FordStipendiaten ›Witold Gombrowicz‹, charakterisiert er Bachmanns Aufenthalt in Berlin als »schwierigsten und dunkelsten Abschnitt ihres Lebens« an einem »gestörten Ort, in einer Verstörung, die von dieser Störung einiges aufzunehmen fähig war«.55 Auf der Grundlage zeit- und lebensgeschichtlicher Daten geht Höller dann ein weiteres Mal in seiner 1999 herausgegebenen rororo-Monographie zu Ingeborg Bachmann auf ›Ein Ort für Zufälle‹ ein. Dabei bezeichnet er den Text als »geradezu provokant antipolitisch«.56 Es gehe Bachmann nicht um die »vielberedete Berlin-Krise, sondern um die körperliche und psychische Krise eines anonymen Kranken an diesem Ort, jemanden, der sich im Krankenhaus den destruktiven Erfahrungen der Stadt ausgesetzt findet«.57 Einen neuen Interpretationsansatz verfolgt Małgorzata Świderska in ihrer 1989 veröffentlichten Abhandlung zum essayistischen Werk Ingeborg Bachmanns, ›Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren‹. Nachdem sie unter Bezugnahme auf den Gattungsstreit zwischen Bartsch und Höller ›Ein Ort für Zufälle‹ als »mit expressionistischen Stilmitteln verfasste[n] Essay« bezeichnet,58 rückt sie die Bildlichkeit und »Gedrängtheit der Sprache« in diesem Text in die Nähe expressionistischer Filme und Texte Walter Benjamins.59 Vor allem aber vergleicht sie die dissonante Komposition mit dodekaphonischen Musikstücken, etwa von Alban

55 Hans Höller: Einleitung. In: LuG, S. 7. Höller zitiert hier eine Antwort Ingeborg Bachmanns während eines Interviews in Berlin vom 25. November 1964 auf die Frage Alois Rummels, welche Situation in Bachmanns Büchner-Preis-Rede geschildert wird: »Ich habe in der Büchner-Rede über Berlin gesprochen, das ist einfach so zu verstehen, daß es mir richtig schien, in Deutschland über Berlin zu sprechen, nach dem ich dort eineinhalb Jahre verbracht habe, an einem gestörten Ort, in einer Verstörung, die von dieser Störung einiges aufzunehmen fähig war.« Zitiert nach GuI 49. 56 Hans Höller: Ingeborg Bachmann. Hamburg 1999, S. 126. 57 Ebd. 58 Małgorzata Świderska: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Ingeborg Bachmann als Essayistin. Tübingen 1989, S. 50–54, S. 51. 59 Ebd., S. 51 f. Eine genaue Begründung dieser These fehlt jedoch.

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Berg oder Hans Werner Henze, auf dessen langjährige Zusammenarbeit mit Bachmann sie explizit verweist.60 Beide Thesen Świderskas werden auf einem internationalen Bachmann-Symposium, das 1991 in Münster stattfindet, erneut aufgegriffen: So erkennt Sigrid Weigel in ihrem Beitrag ›»Stadt ohne Gewähr« – Topographien der Erinnerung in der Intertextualität von Bachmann und Benjamin‹ vor allem in Benjamins Abhandlung über den Surrealismus und dessen Proust-Essay zentrale Bezugstexte zu dem »Stadt-Panorama aus »variablen Krankheitsbildern««, wie es Bachmanns Büchner-Preis-Rede entwirft.61 Vor diesem Hintergrund geht Weigel auf die besondere Zeitstruktur in ›Ein Ort für Zufälle‹ ein und interpretiert die textimmanenten Signaturen einer vergangenen Gewalt als zurückkehrende Bilder einer aus dem historischen Bewusstsein der Stadt verdrängten Geschichte: »Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt.«62 Abschließend geht Weigel erstmals auf Vorstufen der BüchnerPreis-Rede ein und erläutert daran die enge Beziehung des ›Franza-Buches‹ zu Bachmanns Berlin-Text, aus dessen Vorarbeiten sich die Anfänge des Romans entwickeln: »Die Krankheitsbilder weisen schon auf das Motiv der »Spätschäden« deutscher Geschichte voraus, wie es in ›Franza‹ wiederkehrt, dort allerdings nicht mehr auf die Topographie der Stadt projiziert, sondern unmittelbar auf das weibliche Subjekt bezogen.«63 In ihrem Beitrag zu musikalischen Gestaltungsmitteln in der späten Prosa Bachmanns, ›Die Gangart des Geistes‹, betrachtet Eva U. Lindemann ›Ein Ort für Zufälle‹ dann erneut unter musikologischen Gesichtspunkten. In Abgrenzung zu einem »herkömmlichen Verständnis literarischer Leitmotivik« gilt ihrer Ansicht nach in Bachmanns Werken eine »musikalische Auffassung von Motiv«.64 Exemplarisch zeigt sie, wie die Wortwendung »es ist nichts«, die sie als Motiv auffasst,

60 Ebd., S. 52. 61 Weigel verweist vor allem auf eine bestimmte Textstelle des Surrealismus-Aufsatzes (»Und kein Gesicht ist in dem Grade surrealistisch wie das wahre Gesicht einer Stadt.«), die in verwandter Formulierung auch Benjamins Proust-Essay enthalte: »Darin spricht Benjamin vom Heimweh Prousts »nach der im Stande der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre surrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt««. Zitiert nach: Sigrid Weigel: »Stadt ohne Gewähr« – Topographien der Erinnerung in der Intertextualität von Bachmann und Benjamin. In: Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposion Münster 1991. Hrsg. von Dirk Göttsche und Hubert Ohl. Würzburg 1993, S. 253–264, S. 262 f. 62 Zitiert nach: ebd., S. 263. In Bachmanns Originaltext heißt es: »Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt.« (OfZ 44) 63 Ebd., S. 264. 64 Eva U. Lindemann: »Die Gangart des Geistes.« Musikalische Gestaltungsmittel in der späten Prosa Ingeborg Bachmanns. In: Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Inter-



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welches wie kaum ein zweites bei Bachmann in vielfältigen Variationen und in unterschiedlichsten Texten auftauche, durch »Umkehrung, Negation, Verkleinerung (musikalisch Diminution), [...] rhythmische Vergrößerung (Augmentation)« sowie Transponierung in eine andere Tonart zur Aufbrechung der Satzrhythmik beitrage.65 Dabei belegt sie diesen Vorgang mit dem von Arnold Schmitz in seinem Werk über ›Beethovens zwei Prinzipien‹ geprägten Terminus der »kontrastierenden Ableitung«.66 Musikalischen Strukturen in ›Ein Ort für Zufälle‹ geht auch Suzanne Greuner in ihrer 1990 veröffentlichen Dissertation ›Schmerzton‹ zur ›Musik in der Schreibweise von Ingeborg Bachmann und Anne Duden‹ nach. Dabei manifestiert sich die Nähe der poetischen Sprache zur Musik für Greuner nicht in »Analogien zu musikalischen Formen« oder »lautmusikalische[n] Effekte[n]«, sondern in einer bestimmten Struktur des Textes selbst; also dort, »wo die Worte nicht mehr etwas bezeichnen, sondern sich gegen Sinn und Bedeutungsstrukturen auflehnen und sich so zueinander und auseinander bewegen, daß, was sie sagen, ein Vielfaches und vor allem in dieser Bewegung ist.«67 Ausgehend von dieser Perspektive analysiert sie in einem einleitenden Kapitel die sprachliche Bewegung in Bachmanns Büchner-Preis-Rede, deren »atemlose[r] Rhythmus«, permanentes Changieren zwischen Kontraktion (»es ist«) und Entgrenzung (»alles ist«), Stillstand und chaotischer Dynamik, Behauptung (»Es muß eine ›Disharmonie‹ sein«) und Negierung (»›So ist keine Disharmonie, es muß etwas Schlimmeres sein!‹«) die Strukturen logischer Kausalität permanent durchkreuzten: »Die Worte geraten aneinander, reiben sich auf und verlieren ihre klar umrissenen Bedeutungen. Was sie bezeichnen, bleibt in dieser Bewegung die Lücke; offenes, unsicheres, unbekanntes Etwas.«68 Greuner interpretiert diese »aus dem Koordinatensystem von Raum und Zeit austretende[] Konstruktion« als bewussten Versuch, eine »anders nicht einholbare ›Wahrheit‹«, eine »andere Logik«, die Vergangenes, Verborgenes und Verdrängtes berührt, in einem »mimetischen Verfahren« erfahrbar werden zu lassen.69 Im Verlauf ihrer Textanalyse, die in der Wiederholung und Varia-

nationales Symposion Münster 1991. Hrsg. von Dirk Göttsche und Hubert Ohl. Würzburg 1993, S. 281–296, S. 289. 65 Ebd., S. 294 66 Ebd. 67 Suzanne Greuner: Schmerzton. Musik in der Schreibweise von Ingeborg Bachmann und Anne Duden. Hamburg 1990, S. 59 f. 68 Ebd., S. 16. 69 Ebd., S. 19 f. Greuner bestimmt Mimesis in Abgrenzung zu einer geläufigen Auffassung von »Nachahmung als Wiederholung und Widerspiegelung einer sinnlich gegebenen und begrifflich

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tion bestimmter Motive das zentrale Strukturmerkmal des Textes erkennt, geht Greuner auch auf die Gattungsproblematik im feuilletonistischen wie wissenschaftlichen Diskurs ein. Dabei stimmt sie Bartschs Auffassung von ›Ein Ort für Zufälle‹ als »fiktionale[m]« Text zu, kritisiert jedoch die »klärende Zuordnung« des Werkes als »Prosagroteske«, da diese »seine explosivsten Momente« entschärfe und seine »sprachliche Bewegung« zudecke.70 Im gleichen Jahr erscheint Andreas Hapkemeyers Monographie ›Ingeborg Bachmann. Entwicklungslinien in Werk und Leben‹, die ›Ein Ort für Zufälle‹ als einen Prosatext liest, in dem sich die eigene lebensgeschichtliche Krise Bachmanns, ihr Krankenhausaufenthalt und ihre sonstigen Berlin-Erfahrungen, niedergeschlagen hätten.71 Affiziert von der »eigene[n] unmittelbare[n] Betroffenheit und Verletztheit«, stelle die Autorin am Beispiel Berlin, jenem »neuralgische[n] Punkt« der geteilten Welt, den »Wahnsinn der Zeit« dar, wobei dieses Berlin-Bild von einer »alles verfremdenden Perspektive« bestimmt sei: »Die Warte ist diejenige eines Krankenhauspatienten, dem sich Bilder aus der Klinik mit solchen der Außenwelt ineinanderschieben und vermischen.«72 Mit Blick auf den weiteren Forschungsdiskurs ist von Bedeutung, dass Hapkemeyer die Rede erstmals in aller Deutlichkeit als ›Schwellentext‹ bezeichnet: »›Ein Ort für Zufälle‹ ist der Text, der zum ›Todesarten‹-Zyklus überleitet [...].«73 Nach Höllers Publikation in der italienischen Zeitung ›Il confronto letterario‹ deutet Marilyn Sibley Fries’ Aufsatz ›Berlin and Böhmen: Bachmann, Benjamin, and the Debris of History‹ im Rahmen einer 1992 erschienenen Festschrift zu Ehren von Peter Demetz erneut darauf hin, dass ›Ein Ort für Zufälle‹ auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes wahrgenommen wird. Im Zentrum von Fries’ Analyse steht die komplexe Erzählweise in Bachmanns Büchner-PreisRede. So erkennt sie unter Bezugnahme auf Bachmanns einleitende Gegenüberstellung von »Konsequenz« und »Inkonsequenz« eine heterogene Schichtung innerhalb des Textes, bestehend aus einer mehr oder weniger kohärenten Oberflächenstruktur, die wiederum von einer Tiefenstruktur permanent dynamisiert und aufgebrochen werde. Mit Blick auf Julia Kristevas Essay ›The System and

vorgestellten Wirklichkeit (Natur)« (ebd., S. 29 f.) sowie in Anlehnung an Musil und Adorno als dialektische Bewegung, die sich »nachahmend auf das bezieht, was nicht ist (ein »Ungegenständliches«), um es durch die Vergegenständlichung hindurch, worin sie teilhat am rationalen Moment, erneut als solches freizusetzen (ein »zweites Ungegenständliches«)« (ebd., S. 42 f.). 70 Ebd., S. 15 f. 71 Andreas Hapkemeyer: Ingeborg Bachmann. Entwicklungslinien in Werk und Leben. Wien 1990, S. 118 f. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 119.



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the Speaking Subject‹ konkretisiert Fries diese Heterogenität als Destabilisierung eines symbolischen Codes (»general social law«) durch eine gewöhnlich unterdrückte Artikulation (»from that region Kristeva designates as the chora«), die nicht unmittelbar, sondern nur als perennierender Druck (»pulsional pressure«), als »contradictions, meaninglessness, disruption, silences and absences in the symbolic language« bzw. als Abweichung von sprachpragmatischen Konventionen (»grammatical rules«) wahrnehmbar sei.74 Die primären Bilder dieses Konfliktes gewinnt Bachmann nach Ansicht von Fries unmittelbar aus der historischen und gegenwärtigen Realität Berlins. Eine Vielzahl von Macht- und Autoritäts-Symbolen (»airplanes – the machinery of civilization and of war«; »the hospital chaplain in a green hunter’s hat, the academy, American soldiers, Checkpoint Charlie, and a retinue of medical personnel – a chief physician and a series of nurses – who rely on injections and restraints to keep the unruly and excited inmates of the asylum Berlin under control«) repräsentieren bedrohliche gesellschaftliche Machtverhältnisse, welche die Präsenz einer unabgeschlossenen, unverarbeiteten Geschichte leugnen bzw. unterdrücken und dennoch permanent von ihr gestört werden.75 Zentrale Signatur dieser perennierenden Destabilisierung der symbolischen Ordnung ist für Fries jenes unbestimmbare »es« oder »etwas«. Diese Vokabeln umfassen aus ihrer Sicht jedoch nicht nur Eindrücke, welche die Geschichte im kollektiven Bewusstsein der Stadt hinterlassen hat, sondern auch die individuellen Erfahrungen jener anonymen Stimme (»of the speaker«), die von Fries zugleich als Bachmanns Stimme gelesen wird. Hervorgehoben wird daher ein (auto)biographischer Untergrund des Textes, der sich entsprechend dem kollektiven Trauma nicht in einer kontinuierlichen Erzählung niederschlage, sondern einzig in der Überwältigung, in den Brüchen, Rissen und Leerstellen der Darstellung manifest werde: »the voice of a speaking subject [...] demonstrates its own destruction in the signifying processes of the text.«76 Immer wieder kippen die Bilder des Textes in einen nichtmetaphorischen Ausdrucksbereich des Surrealen, A-logischen und Enigmatischen, der die Spuren einer gewaltsamen Geschichte (»debris of history«) im kollektiven wie individuellen Unterbewusstsein offen legt. Obwohl Fries die narrative Struktur von ›Ein Ort für Zufälle‹ in die Nähe von Traum und Groteske rückt (»elements of both are clearly present«),77 wendet sie

74 Marilyn Sibley Fries: Berlin and Böhmen: Bachmann, Benjamin, and the Debris of History. In: Traditions of Experiment from the Enlightenment to the Present. Essays in Honor of Peter Demetz. Hrsg. von Nancy Kaiser und David E. Wellbery. Ann Arbor 1992, S. 275–299, S. 287, 293. 75 Ebd., S. 278. 76 Ebd., S. 293. 77 Ebd., S. 279.

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sich explizit gegen eine gattungsspezifische Klassifizierung, aber auch gegen eine reibungslose Eingliederung des Textes in das Bachmann’sche Œuvre: it is »unique among Bachmann’s works and, [...] it refuses genre classification«.78 Ihr scheint es sinnvoller, Bachmanns Büchner-Preis-Rede in einen bestimmten Kontext revolutionären Denkens und Schreibens zu stellen, die auf vergleichbaren Erfahrungen von Entfremdung und Ausgrenzung innerhalb Europas gründen und sich von diesem Standort aus den Grenzen, Rissen und Diskontinuitäten innerhalb der herrschenden symbolischen Ordnung zuwenden. Neben Kristeva bezeichnet Fries in diesem Zusammenhang Walter Benjamin, Maurice Blanchot und Christa Wolf als wesentliche Vertreter einer »constellation of displacement«, deren Schreiben von den (historischen) Katastrophen geprägt sei.79 Im gleichen Jahr wie Fries’ Aufsatz erscheint Stephan Sauthoffs Dissertation ›Die Transformation (auto)biographischer Elemente im Prosawerk Ingeborg Bachmanns‹, die sich im Kapitel zur erzählenden Prosa Ingeborg Bachmanns explizit dem autobiographischen Hintergrund von ›Ein Ort für Zufälle‹ widmet. Auf Bartschs, Höllers und Fehls Analysen des Textes eingehend, betont Sauthoff, dass die poetische Inszenierung einer kollektiven Krankheit in Bachmanns Berlin-Prosa auf der prekären lebensgeschichtlichen Situation der Schriftstellerin nach der Trennung von Max Frisch Anfang der 1960er Jahre gründe.80 Deutliche Indizien sind für Sauthoff die Klinikaufenthalte in Berlin, Prag und Baden-Baden, aber auch Äußerungen des Verlegers Klaus Piper und Selbstzeugnisse Bachmanns, wobei er ihren Nachruf auf den 1968 verstorbenen Schriftstellerkollegen Witold Gombrowicz besonders erwähnt. In ›Ein Ort für Zufälle‹ berichte Bachmann daher »über den Verlauf einer Krankheit«, »die ihre eigene war; Krankheit jedoch nicht als privates Leiden, sondern als sozialer Zustand, exemplifiziert an den Verstümmelungen der Stadt Berlin«.81 Eine (auto)biographische Lesart verfolgt auch Ursula Krechel in ihrem Essay ›Ortlosigkeit, Stucktröstung‹, der 1995 in der fünften Neuauflage und Neufassung des Sonderbandes zu Ingeborg Bachmann im Rahmen der Reihe ›Text und Kritik‹ erscheint. Im Unterschied zu Sauthoff liest sie ›Ein Ort für Zufälle‹ jedoch

78 Ebd., S. 286. 79 Ebd. Vor allem Walter Benjamins Aufsatz ›Über den Begriff der Geschichte‹ liest Fries als wichtigen Referenztext zu ›Ein Ort für Zufälle‹: »Like Benjamin’s angel, the speaking subject of Bachmann’s narrative sees only this Trümmerhaufen.« (ebd., S. 298). 80 Vgl. Stephan Sauthoff: Die Transformation (auto)biographischer Elemente im Prosawerk Ingeborg Bachmanns. Frankfurt a.M. 1992, S. 139–141, S. 140. 81 Ebd., S. 141. Sauthoff verweist hier auf Bernd Witte, der aus seiner Sicht als bisher Einziger diesen (auto)biographischen Hintergrund in Bachmanns Büchner-Preis-Rede hervorgehoben habe.



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weniger vor dem Hintergrund der individuellen Leidensgeschichte als im Spiegel von Bachmanns kulturellem, politischem und gesellschaftlichem Umfeld in Berlin.82 Rhetorisch hervorgehoben durch die refrainartig wiederholte Formel »es ist die Zeit«, sucht Krechel die politisch aufgeheizte Atmosphäre in Westberlin, der »Aussichtskanzel der freien Welt«, während der ersten Vietnam-Proteste zu vermitteln unter Bezugnahme auf Bachmanns realpolitisches Engagement, das sich in der Unterzeichnung eines öffentlichen Briefes gegen den Krieg und der Unterstützung des Wahlkampfes von Willy Brandt anlässlich einer Veranstaltung in der Bayreuther Stadthalle geäußert habe.83 Vor allem aber richtet sie den Blick auf das Klima der exzessiven staatlichen wie privaten Kulturförderung: Es ist die Zeit, in der die Stimmen von Schriftstellern Gewicht zu haben scheinen [...] Es ist die gleiche Zeit, in der Kultur eine gemästete Feiertags-Gans zu sein scheint [...] Es ist die Zeit, in der ein irrtümlicher Federstrich aus einem Stipendium von $ 300 DM 3000 machte.84

Von diesem zeitgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen Hintergrund leitet Krechel eine wesentliche Veränderung des Schreibens bei Bachmann ab, die erstmals in ›Ein Ort für Zufälle‹ zum Tragen komme. Weniger fordernd, weniger generalistisch sei ihr Sprachbewusstsein und dafür »mehr aufs Detail, aufs Hinhören, Sezieren« bedacht.85 Wie Suzanne Greuner interpretiert sie diese sprachliche Annäherung an den kranken und zugleich krankmachenden Zustand Berlins, an das »Hin- und Hergezerre zwischen den Teilen«,86 an das städtische »Redegeröll« und den »klebrigen Bodensatz« aus Vergangenem – »etwas war zu Ende und lebte zuckend weiter« – als frühestes Beispiel einer mimetischen Darstellungsweise, die vor allem das spätere Prosawerk Ingeborg Bachmanns präge und deren »Impetus [...] in der Aufdeckung der Kontinuität einer psychischen Disposition [liege], die zu den Verbrechen des Nationalsozialismus geführt hat«.87 Den ansatzweise bei Krechel erkennbaren Versuch einer zeitgeschichtlichen Rekontextualisierung von ›Ein Ort für Zufälle‹ setzt dann Ende der 1990er Jahre vor allem Jost Schneider fort. In dieser Zeit nimmt die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bachmanns Berlin-Prosa deutlich zu. Vor allem in den Jahren 1999 und 2000 erscheinen mehrere, zum Teil umfangreiche Publikatio-

82 Ursula Krechel: Ortlosigkeit, Stucktröstung. In: Text und Kritik, H. 6: Ingeborg Bachmann. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 5. Aufl.: Neufassung. München 1995, S. 7–17. 83 Ebd., S. 8 f. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 10. 87 Ebd., S. 14, 16.

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nen, die ganz unterschiedliche Facetten des Textes beleuchten: Neben der Zeitund Lebensgeschichte sind dies kompositorische und stilistische Aspekte. Zudem ermöglicht die Erstedition zahlreicher Vorstufen und Entwürfe von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Rahmen der 1995 veröffentlichten kritischen Ausgabe ›»Todesarten«Projekt‹ erstmals den Nachvollzug der engen textgenetischen Beziehung zwischen diesem Text und dem groß angelegten Romanvorhaben der Schriftstellerin. Unmittelbar vor dieser Publikationswelle wendet sich Bernhard Böschenstein in einem 1997 herausgegebenen Sammelband zu den »poetische[n] Korrespondenzen« zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan erstmals explizit einer vergleichenden Interpretation der Büchner-Preis-Reden dieser lebensgeschichtlich wie poetisch eng verbundenen Dichter zu. Entscheidender Ansatzpunkt seiner Analyse ist die in beiden Preisreden vollzogene Auseinandersetzung mit Büchners Erzählung ›Lenz‹. Celans und Bachmanns Explorationen gründen für ihn »in derselben geschichtlichen Situation, zu deren Erkundung Lenzens Krankheit eine Hinführung ermöglicht«.88 Die mit dem »Stand auf dem Kopf« vollzogene »Umkehrung von Himmel und Abgrund« erzwinge eine »neue Wirklichkeit«.89 Trotz dieser Korrespondenzen sieht Böschenstein jedoch vor allem konzeptionelle Unterschiede: »Celan beschreibt die Folgen, die daraus für seine eigene Dichtung hervorgehen. Ingeborg Bachmann stellt die Folgen fest, die sich 1963 im Bild Berlins ihrer Wahrnehmung preisgeben.«90 Die zentrale Struktur in ›Ein Ort für Zufälle‹ ist für Böschenstein die Auflösung räumlicher und zeitlicher Strukturen an diesem »Ort des Monströsen«.91 Bachmanns Text bestehe aus »hippokratischen Gesichtern«, die »die mordende Vergangenheit mit der mordenden Gegenwart und Zukunft in Verbindung bringen«.92 Neben Höllers bereits erwähnter rororo-Monographie erscheint 1999 eine weitere umfassende und höchst nuancierte Abhandlung zu ›Ingeborg Bachmann‹: Sigrid Weigel, die in dieser Leben und Werk berücksichtigenden Darstellung auch einige Briefe erstveröffentlicht, widmet sich im Kapitel ›Symptomkörper und entstellte Topographie‹ ausführlich der Büchner-Preis-Rede Bachmanns.93 In Anlehnung an ihren früheren Aufsatz zu den topographischen

88 Bernhard Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. In: Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge. Hrsg. von Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel. Frankfurt a.M. 1997, S. 260–269, S. 262. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 264. 92 Ebd., S. 263. 93 Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien 1999, S. 373–383.



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Schreibweisen im Werk der Schriftstellerin, jedoch diesmal unter Bezugnahme auf Sigmund Freuds ›Studien über Hysterie‹, fasst sie die Stadt in Bachmanns »Berlin-Essay« als »Symptomkörper der deutschen Geschichte« auf.94 Anhand der »Überblendung von Krankenhauszenarien und einzelnen Plätzen aus dem Stadtplan Berlins« entwerfe der Text eine »entstellte Topographie«, »aus [der] die Zeichen einer aus dem historischen Bewusstsein der Stadt verdrängten Geschichte hervorbrechen«.95 Unter Einbeziehung der Entwürfe zur BüchnerPreis-Rede, wie sie die kritische Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ präsentiert, weist sie darüber hinaus auf die »faszinierende Genealogie der Komposition« und die »intensive[] Arbeit an der Verflechtung und Verdichtung der thematischen wie topographischen Struktur« hin.96 Wesentlicher Bestandteil ihrer Analyse ist aber auch der Versuch, die spezifische Darstellungsweise von ›Ein Ort für Zufälle‹ in den Kontext der zeitgenössischen Literatur zu stellen. Neben Celans Büchner-Preis-Rede und Bachmanns zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenem Prosafragment ›Sterben für Berlin‹, das als wesentlicher Prätext aufgefasst wird, lenkt Weigel den Blick erstmals auch auf zeitnah entstandene BerlinTexte von Witold Gombrowicz (›Berliner Notizen‹) und Uwe Johnson (›Boykott der Berliner Stadtbahn‹).97 Im Jahr 2002 erläutert Weigel dann nochmals ihre spezifische topographische Lesart des Textes als »symptomatic body, carrying the signs of a history of horrors«.98 Es handelt sich dabei um einen Aufsatz mit dem Titel ›Reading the City: Between Memory-image and Distorted Topography‹, der im Stile einer vergleichenden Studie Bachmanns ›Rom‹-Essay und ›Ein Ort für Zufälle‹ (unter Bezugnahme auf das Werk Walter Benjamins) einander gegenüberstellt: »Bachmann can be seen as drawing on the work of Walter Benjamin, who states in his Berlin Chronicle, for example, that ›memory is not an instrument for exploring the past, but rather its scene‹«.99 Aus einem ganz anderen Blickwickel betrachtet Jost Schneider ›Ein Ort für Zufälle‹: In seiner 1999 erschienenen Habilitationsschrift zur Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns spricht er der Rede eine paradigmatische Bedeutung zu, da sie die poetologischen Hintergründe eines bestimmten »exploratorischen Kompositionstyps« thematisiere, der in Bachmanns später Prosa

94 Ebd., S. 373. 95 Ebd., S. 375. 96 Ebd., S. 377. 97 Ebd., S. 378–380. 98 Sigrid Weigel: Reading the City: Between Memory-image and Distorted Topography. Ingeborg Bachmann’s Essays on Rome (1955) and Berlin (1964). In: Urban Visions. Hrsg. von Steven Spier. Liverpool 2002, S. 23–36, S. 30. 99 Ebd., S. 24.

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dominiere.100 Dabei handelt es sich aus seiner Sicht um Texte, die eine ganz bestimmte Rezeptionshaltung verlangen, ein »aufmerksames Lesen«, das die »im Dickicht der außen- und innenperspektivischen Darstellungen verborgenen Schlüsselinformationen ausfindig« mache, »die das Unglück der Protagonisten häufig überzeugender erklären, als die von ihnen selbst angestellten expliziten Erwägungen und Räsonnements«.101 In ›Ein Ort für Zufälle‹ fungiere, so Schneider, als Protagonist ein »Kollektivsubjekt«, das zugleich »Repräsentant [eines] unfreien, totalitären Denkens« sei: die Berliner Bevölkerung.102 Ihr stehe eine »anonym bleibende Erzählinstanz« gegenüber, die »das freiere Denken« repräsentiere und mittels »pointierter Ortsund Situationsbeschreibungen in bildhaft-anschaulicher Form« ein »bestürzendes Porträt der geteilten ›Frontstadt‹ [...] Berlin« zeichne.103 Der Leser werde »zwischen der Wahrnehmungsperspektive des Erzählers und derjenigen der Figuren hin- und hergeworfen, so dass er die Diskrepanz zwischen Original und Abbild, Sein und Bewusstsein, erkennt«.104 Mehrfach insistiert Schneider darauf, dass der »von Schauplatz zu Schauplatz« springende Erzähler eine »eigenständige Bewusstseinsinstanz« sei, die eine adäquate »Wirklichkeitswahrnehmung (enthüllende Verfremdung)« besitze und deren »Souveränität« sich auch daran zeige, dass er »durch die Wiederaufnahme von Themen, Motiven und Konfigurationen zugleich einen Kohärenzrahmen [schafft], der das inhaltliche Auseinanderbrechen des Textes verhindert«.105 Ziel seiner »Explorationstätigkeit« sei es, den Zuhörer auch ohne direkte Appelle zu »eigenständigen Handlungsentscheidungen [zu] veranlassen«.106 Auch wenn Schneider der Büchner-Preis-Rede autobiographischen Charakter zuspricht – er verweist auf eine durch die Trennung von Max Frisch ausgelöste Ohnmachts- bzw. Vernichtungserfahrung Bachmanns – sieht er die eigentliche Stoßrichtung im Konterkarieren geläufiger »Insel- und Frontstadt-Legenden« durch ganz gezielte »Schreckensbilder«.107 Die zunächst nur ansatzweise postulierte gesellschaftspolitische Brisanz von ›Ein Ort für Zufälle‹ ist dann das zentrale Thema in Schneiders 2000 veröffentlichtem Aufsatz ›Historischer Kontext und politische Implikationen der Büch-

100 Jost Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns. Erzählstil und Engagement in »Das dreißigste Jahr«, »Malina« und »Simultan«. Bielefeld 1999, S. 159–169, S. 159. 101 Ebd., S. 159 f. 102 Ebd., S. 162. 103 Ebd. 104 Ebd., S. 164. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 167. 107 Ebd., S. 165 f.



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nerpreisrede Ingeborg Bachmanns‹.108 Um die historisch-politische Situation als wichtige Bedeutungsebene des Textes aufzeigen zu können, stellt er in einem längeren Einleitungsteil zunächst das politische Klima im Westberlin dieser Jahre vor. Dabei verortet er Bachmanns politische Haltung im Spannungsfeld zwischen einer pragmatischen Entspannungspolitik (ausgehend von Kennedy sowie der Berliner SPD unter Brandt) und einem Konfrontationskurs der Adenauer/ErhardRegierung auf der Seite Kennedys und Brandts.109 Anschließend folgt eine Detailanalyse ausgewählter Textstellen, an denen Schneider anhand konkreter Ereignisse aus den Jahren 1963/64 eine »politikgeschichtliche Rekontextualisierung« von Bachmanns Büchner-Preis-Rede exemplifiziert.110 Die Ausführungen sollen zeigen, »daß Bachmann bei der Anfertigung ihrer Rede offenbar nicht ins Blaue hinein phantasierte, sondern auf Quellenmaterial (Zeitungsausschnitte o.ä.) oder zumindest auf eigene Erinnerungen an Nachrichtensendungen und dergleichen zurückgegriffen haben dürfte«.111 Daher könne der Text nicht als »poetische Fiktion« interpretiert werden, sondern als »fiktionaler Text« der im Sinne Wolfgang Isers »zugleich real und imaginär« sei.112 Unter Bezugnahme auf Bartsch bestätigt Schneider, dass ›Ein Ort für Zufälle‹ durchaus »Elemente des Phantastischen, des Grotesken, des Satirischen oder auch des Absurden« enthalte, doch diese Elemente seien nicht »entreferentialisiert«, sondern aus »konkreten historischen Erfahrungen und Wirklichkeitsbeobachtungen« entwickelt.113 Eine vergleichbare Rekontextualisierung, wie sie Schneider in seinen Publikationen anstrebt, versucht auch Klaus Wagenbach durch die 1999 aufgelegte und kommentierte Jubiläumsausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹. Im Nachwort umreißt er das zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Umfeld der Textentstehung sowie die lebensgeschichtliche Situation Ingeborg Bachmanns auf der Grundlage seiner persönlichen Erfahrungen.114 Während Bachmanns Büchner-Preis-Rede im Rahmen der feuilletonistischen Literaturkritik lange Zeit sehr skeptisch betrachtet wurde, bleiben derartige Töne in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung zunächst aus. Dies ändert

108 Jost Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen der Büchnerpreisrede Ingeborg Bachmanns. In: »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 2. Würzburg 2000, S. 127–139. 109 Ebd., S. 134. 110 Ebd., S. 137. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 OfZ 1999, S. 49–54. Dem Nachwort ist ein Anmerkungsteil angehängt, der konkrete Sacherläuterungen zu einzelnen Ortsnamen und Begriffen liefert (ebd., S. 55–61).

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sich jedoch mit Sabina Kienlechners Aufsatz ›Dichter in der deutschen Wüste. Was Ingeborg Bachmann in Berlin sah und hörte‹.115 Ausgehend von der prekären Lebenslage Ingeborg Bachmanns in Berlin – »obdachlos war sie in einem inneren, privaten Sinne, so wie sie sich in einem inneren persönlichen Sinne ›zugrunde gerichtet‹ fühlte« – analysiert Kienlechner zunächst das poetische Programm, das sich in den Werken, die während Bachmanns Berlin-Aufenthalt geschrieben oder begonnen wurden, manifestiert.116 Dabei betont sie zwar die sprachliche Singularität von ›Ein Ort für Zufälle‹, stellt ihm jedoch als »große Schwester« das Romanfragment ›Der Fall Franza‹ zur Seite, das »auf seine Weise von denselben Geheimnissen« spreche und ebenfalls textgenetisch aus der »Keimzelle« des ›Wüstenbuchs‹ hervorgegangen sei.117 Wesentliches Bindeglied zwischen beiden Werken sei der freilich stilistisch und kompositorisch unterschiedliche Versuch, den Verbrechen nachzugehen, die mit dem Ende des Naziterrors nicht verschwunden, sondern nur wesentlich subtiler geworden seien.118 Dabei gehe es Bachmann nicht um individuelle Taten, sondern um ein »immerwährendes soziales Prinzip« der Selektion und Vernichtung (des Ichs), das in Auschwitz nur ganz offen praktiziert wurde, nach dem Krieg jedoch unterschwellig weiterexistiere.119 Mit dieser Ansicht, so Kienlechner, stehe Bachmann jedoch nicht alleine. Unter Berufung auf die amerikanischen Soziologen George Kren und Leon Rapport verweist sie auf eine auch anderweitig begegnende Haltung nach dem Krieg, Auschwitz als einen »gleichsam perennierenden Zustand« aufzufassen, der schlechthin alle betreffe: »eine Conditio der modernen Zivilisation«.120 Problematisch sei diese Übertragung der »Vokabeln Auschwitz und Holocaust als Metaphern für jede als unerträglich empfundene [...] Situation« vor allem dann, wenn sich auch Menschen, die nicht vom Holocaust betroffen waren, als Opfer stilisieren konnten.121 Vor diesem Hintergrund kommt Kienlechner die »literarische Identifikation mit den Auschwitzopfern, zu der sie [Bachmann] sich während ihres Berliner Aufenthaltes entschloß, [...] nicht ganz unverdächtig« vor.122 Dennoch unterscheide sich Bachmann von »der allgemeinen Infektion mit dem Opfervirus«, da sie als eine der wenigen versucht habe, das Weiterleben einer systematischen Vernichtung

115 Sabina Kienlechner: Dichter in der deutschen Wüste. Was Ingeborg Bachmann in Berlin sah und hörte. In: Sinn und Form 52 (2000), H. 2, S. 195–212. 116 Ebd., S. 196. 117 Ebd., S. 196, 199. 118 Ebd., S. 197, 203. 119 Ebd., S. 210 f. 120 Ebd., S. 201. 121 Ebd., S. 201 f. 122 Ebd., S. 202.



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in der Nachkriegsgesellschaft tatsächlich »zu bebildern« und durch ein »ganzes Kompendium, ein Manual von Fällen zu beschreiben«.123 Einer der wenigen, der das »Modell Auschwitz« in vergleichbarer Weise zum Gegenstand seiner Dichtung gemacht habe, ist nach Ansicht Kienlechners Heiner Müller.124 Mit ihrer latenten Kritik an ›Ein Ort für Zufälle‹ steht Kienlechner bis dato alleine da. Zwar wird auch Elke Schlinsog in ihrer Dissertation (siehe unten) Bachmanns Büchner-Preis-Rede zusammen mit den Romanen des ›Todesarten‹Zyklus als »Berliner Regelwerk vom ewigen Kriegszustand« auffassen und dieses explizit in den Kontext einer von Adornos Lyrik-Verdikt initiierten Diskussion um die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust stellen, doch ist ihre Perspektive auf Bachmanns ›Todesarten‹-Poetik tendenziell eher affirmativ.125 In seiner 2001 erschienenen Monographie greift Joachim Hoell erneut die von Bartsch etablierte Lesart von ›Ein Ort für Zufälle‹ als einer »ins Surreale gleitende[n] Groteske« auf, welche »die klaustrophobische Atmosphäre des geteilten Berlin« festhalte und in welcher der »individuelle Wahnsinn von Lenz [...] zum kollektiven Wahnsinn« werde.126 Über diese gesellschaftskritische Thematik hinaus hebt er den sprachreflexiven Charakter des Textes hervor, der nach den »Möglichkeiten literarischer Darstellung angesichts der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit« frage.127 Im 2002 erschienenen Bachmann-Handbuch von Monika Albrecht und Dirk Göttsche findet sich die große Resonanz des Bachmann’schen Œuvres im literaturwissenschaftlichen Diskurs der vorangegangenen Jahre deutlich widergespiegelt. Entsprechend versucht auch Bettina Bannasch in ihrem Beitrag zur ›Künstlerische[n] und journalistische[n] Prosa‹ die inzwischen große Bandbreite an Interpretationsansätzen und Lesarten von ›Ein Ort für Zufälle‹ darzulegen.128 Zu Beginn ihrer Analyse widmet sich Bannasch der kompositorischen, stilistischen und thematischen Konturierung des Textes. Dabei versteht sie Bachmanns Berlin-Prosa als »fiktionalen Text« im Sinne Isers, der mittels einer Zusammenstellung von zwar verfremdeten, doch als konkret erkennbaren »politischen

123 Ebd. 124 Ebd., S. 203. Kienlechner beruft sich hier auf ein Interview mit dem Titel ›Auschwitz kein Ende‹, das Heiner Müller wenige Jahre vor seinem Tod französischen Regisseuren gegeben hat und in dem er sagt: »Auschwitz ist das Modell dieses Jahrhunderts und seines Prinzips der Selektion...«. 125 Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 13. 126 Joachim Hoell: Ingeborg Bachmann. München 2001, S. 111–126, S. 120 f. 127 Ebd., S. 121 f. 128 Bettina Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa. In: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Monika Albrecht und Göttsche 2002, S. 172–183, S. 176–179.

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Schlüsselereignissen« eine von der nach wie vor allgegenwärtigen nationalsozialistischen Vergangenheit grundierte Großstadt beschreibt.129 In ihrer Bewertung der Großstadtdarstellung als »eine[r] einzige[n] Abfolge von Übertreibungen« und der Klassifizierung als »Prosagroteske« schließt Bannasch sich Bartschs Aufsatz von 1985 an.130 Es folgt eine ausführliche Darlegung der komplizierten Textgenese von ›Ein Ort für Zufälle‹, ausgehend von den poetologischen Überlegungen der »ersten Entwürfe« über die dialektische Bewegung zwischen Berliner Stadtwüste und arabischer Wüste, Krankheit und Heilung, bis hin zur grotesken Großstadtgestaltung in der Rede- bzw. erweiterten Buchfassung.131 Wesentlich erscheint ihr dabei neben der Auseinandersetzung mit Büchner und Celan die enge poetologische Bezogenheit der ersten Entwürfe auf den literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Diskurs der ›Frankfurter Vorlesungen‹.132 Der Vergleich mit diesen deute jedoch auf eine Schwerpunktverlagerung in den Vorarbeiten zu ›Ein Ort für Zufälle‹ hin: »Im Hinblick auf die Literatur tritt der Versuch, das Leiden zu erfassen, deutlich in den Vordergrund.«133 Mit seiner experimentellen Form und seiner Poetik des Leidens weise der Text daher voraus auf das ›Todesarten‹-Projekt. Dies gelte, so Bannasch unter Verweis auf Kienlechner, insbesondere für die der Rede eingeschriebene Auseinandersetzung mit der »Hypothek des Nationalsozialismus«.134 Der Handbuch-Beitrag ist ein Beleg für die Kanonisierung bestimmter Tendenzen und Sichtweisen in der Bachmann-Forschung: Neben der formalen und gattungsspezifischen Einordnung als ›fiktionaler Text‹ bzw. als ›Prosagroteske‹ ist es vor allem die poetologische Nähe und enge thematische Verflechtung von ›Ein Ort für Zufälle‹ mit Bachmanns großem Romanprojekt. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch eine gewisse Kanonisierung bestimmter Textstellen, die zur Unterlegung der vorgetragenen Thesen zitiert werden – etwa »In Plötzensee wird gehenkt« (Abschnitt  17) –, während ein großer Teil des Werkes weitestgehend unkommentiert bleibt. Außerhalb der eigentlichen Bachmann-Forschung erscheint 2002 eine groß angelegte Studie zu ›Georg Büchner und die Moderne‹ in welcher der Herausgeber Dietmar Goltschnigg auch auf Bachmanns Büchner-Preis-Rede eingeht.135 Im Anschluss an eine umfassende Erörterung des gesellschaftspolitischen Klimas

129 Ebd., S. 176. 130 Ebd., S. 176 f. 131 Ebd., S. 177 f. 132 Ebd., S. 178. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Dietmar Goltschnigg: »Zerrissenheit« und »Zufall«. In: Georg Büchner und die Moderne.



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der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren bezeichnet er ›Ein Ort für Zufälle‹ als einen »ästhetisch und sozialpsychologisch höchst avancierte[n], aber auch politisch engagierte[n]« Text, der »offenbar mit den Reden Celans und Enzensbergers [kommuniziert]«.136 Insbesondere das »Postulat radikalisierter Darstellung« lässt sich aus seiner Sicht nicht nur auf Bachmanns eigene, sondern auch auf Enzensbergers Büchner-Preis-Rede des Jahres 1963 beziehen, »die ebenfalls als Hauptthema die »irrsinnige« Teilung Berlins und Deutschlands und die daraus erwachsene »Konsequenz«, »die Zerrissenheit unserer Identität« behandelt hatte«.137 Sprachlich fasst Goltschnigg Bachmanns Rede als »Erzählexperiment« auf, als eine »assoziative, sprunghafte Aneinanderreihung von Realitätsund Bewußtseinspartikeln, die ins Groteske, Surreale und Absurde verfremdet werden«.138 Der kollektive, unheilbare Wahnsinn, der sich darin manifestiere, zeige jedoch deutlich seine historischen und politischen Wurzeln: »der barbarische Nationalsozialismus, dessen Machtzentrum sich in der Hauptstadt Berlin befand«.139 Ausgehend von der leitenden These, dass die Autorin »gegen die Kranke Welt samt ihren falschen Idealen, ihren Hemmungen, ihrem Wahn, [...] das Verfahren einer paradoxen Verkehrung in Stellung bringt«,140 interpretiert Johanna Bossinade in ihrer 2004 erschienenen Studie ›Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation‹ den Redetext ›Ein Ort für Zufälle‹ als zentrales »Dokument für Bachmanns Bestrebungen, die Verkehrte Welt ›zurückzuverkehren‹«.141 Dies sei so zu verstehen, dass die Autorin an diesem »Ort des Wahns« nicht das »Richtige«, sondern »das von vornherein Verkehrte« der »übersteigernden Simulation« aussetzt,142 »der vom Kriegswahn in den Konsumwahn hinübergleitenden Gesellschaft den Zerrspiegel vor[hält].«143 Im Fokus der »Darstellung des Verkehrten«, die die »Unruhe der Stadt [...] mimetisch auf die Spitze« treibe,144 stehe dabei die Inversion von krank und gesund in einer Gesellschaft, in der die »Mörder«, obzwar die mora-

Texte, Analysen, Kommentar. Hrsg. von Dietmar Goltschnigg. Bd.  2: 1945–1980. Berlin 2002, S. 54–80, S. 59–61. 136 Ebd., S. 59. 137 Ebd., S. 60. 138 Ebd., S. 59, 60. 139 Ebd., S. 60. 140 Johanna Bossinade: Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation. Freiburg i.B. 2004, S. 10. 141 Ebd., S. 91. 142 Ebd. 143 Ebd., S. 93. 144 Ebd., S. 92.

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lisch Kranken, als gesund gelten und den öffentlichen Raum besetzen, während die »Krankgewordene[n]« als die eigentlich moralisch Gesunden, deren »Los bezeugt, daß das Humane verletzt werden kann«, in die Hospitäler verschwinden.145 Bachmann überkreuze somit die »moralische Konnotation von »krank« mit dem medizinischen Bezug« und gebe diesem Themenkomplex einen politischen Rahmen: »Eine kranke Gesellschaft kuriert ihre Probleme an den moralisch Gesunden, und das tut sie, damit sie zum Keim des Übels nicht vordringen muß.«146 Im Jahr 2005 erscheint dann die bis dahin umfangreichste und detaillierteste wissenschaftliche Studie zu ›Ein Ort für Zufälle‹. Im Rahmen ihrer Dissertation zur Bedeutung Berlins in Bachmanns ›»Todesarten«-Projekt‹ spricht Elke Schlinsog der Büchner-Preis-Rede Bachmanns eine entscheidende Schlüsselstellung zu: als programmatisches »›Todesarten‹-Bekenntnis« und »erste[r] Prosatext«, der aus diesem Arbeitsprozess an die Öffentlichkeit gelangt.147 Wesentliche Grundlage ihrer These, dass Bachmanns Romanprojekt werkgenetisch und poetisch aufs Engste mit dem Aufenthalt der Schriftstellerin in Berlin zwischen 1963 und 1965 verbunden ist – sie spricht u.a. von einer »Berliner ›Textwerkstadt‹« oder dem »Berliner Regelwerk vom ewigen Kriegszustand« –, bildet eine groß angelegte Rekonstruktion des soziokulturellen Netzes und der zeitgeschichtlich-literarischen Konstellation, aus der die ›Todesarten‹ hervorgingen.148 Dabei versucht sie Bachmanns Schreiben nicht nur innerhalb des Literatur- und Kulturbetriebs Westberlins jener Jahre zu positionieren. Vielmehr liest sie, was allerdings nicht neu ist, die zahlreichen literaturtheoretischen wie literarischen Textfragmente, Entwürfe und Veröffentlichungen auch im erweiterten Kontext einer ›Kunst nach Auschwitz‹, als Zeugnisse einer ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen Nachwirkungen, die auf den Auschwitz-Prozess ebenso reagieren wie auf Adornos Lyrik-Verdikt und Celans Dichtung. Vor diesem Hintergrund verkörpere ›Ein Ort für Zufälle‹ erstmalig das »poetologische[] Konzept der ›Todesarten‹« deren »wichtigstes Motiv […] Krankheit als Kontinuum, als andauernder Zustand struktureller Gewalt« sei.149 Im »beschädigten Berlin der Nachkriegszeit«, dem »einstigen Zentrum des nationalsozialistischen Deutschlands«, stoße Ingeborg Bachmann auf einen alten Wahnsinn, der »aus »den Erbschaften dieser Zeit« kommt« und neuen Wahnsinns gebiert.150

145 Ebd., S. 94. 146 Ebd., S. 94 f. 147 Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 9, 106. 148 Ebd., S. 7 f., 13, 106. 149 Ebd., S. 15, 221. 150 Ebd., S. 115.



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Um diesen historischen Grund aufzudecken, der durch die Tagespolitik und ihre massenmediale Vermittlung, aber auch durch Geräusch-Chaos und Konsumwahn zugedeckt sei, verwende Bachmann in ›Ein Ort für Zufälle‹ das Stilmittel der Groteske. In deutlicher Anlehnung an Bartsch schreibt Schlinsog der Groteske eine »kritische Funktion« zu, die mittels Übertreibung bzw. Überzeichnung und Verzerrung »tagespolitische[] Aufgeregtheiten« und Alltagsbegebenheiten radikal poetisiert, verwandelt und ihnen so die »groteske Fratze der Stadt«, die »Beschädigung von Berlin« vor Augen hält.151 Da Bachmanns Rede jedoch nicht nur »Grauenvolles und Missgestaltetes«, sondern auch komische, bizarre und ironische Züge enthalte, »sympathisier[e]« die »umgestülpte Welt« auch mit jenem »Karneval der verkehrten Welt«, wie ihn Michail Bachtin in seiner Studie ›Literatur und Karneval‹ beschreibe.152 Als »bizarre[s] Spiel mit der Berlin-Politik« bezeichnet Schlinsog Bachmanns Groteske, die »ein Lachen [verursacht], das im Halse stecken bleibt«.153 Dass ›Ein Ort für Zufälle‹ aufs Engste mit der Poetik der ›Todesarten‹ verbunden ist, darauf verweist auch Sara Lennox in ihrer 2006 erschienenen rezeptionsgeschichtlichen Studie mit dem Titel ›Cemetery of the Murdered Daughters: Feminism, History, and Ingeborg Bachmann‹.154 Gemäß ihres methodischen Vorgehens, das sich am materialistischen Feminismus Rosemary Hennessys orientiert und Bachmanns Werk als »product of the historical conditions of her time« versteht,155 geht sie zunächst der Frage nach, inwieweit die Texte der Autorin die bestehende soziale Ordnung (»discourse/ideology«) fortschreiben, dokumentieren oder herausfordern.156 Dies geschieht anhand einer detaillierten Darstellung der tiefgreifenden sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Veränderungen in Österreich nach Kriegsende unter dem Einfluss Amerikas, in deren Kontext sich zeige, wie stark das Schreiben Bachmanns vom Diskurs des Kalten Krieges bzw. von den gesellschaftlichen Rollenmustern der kapitalistischen Moderne durchdrungen sei: »Bachmann’s radio plays and stories of the 1950s [...] contesting the decade’s social relations and to some degree also apparently uncritically reproducing them«.157 Erst die Erfahrung des kulturellen Klimas in Westdeutschland Ende der 1950er Jahre, als es zu einer »Krise der Vergangen-

151 Ebd., S. 125, 131. 152 Ebd., S. 125, 131. 153 Ebd., S. 127, 132. 154 Sara Lennox: Cemetery of the Murdered Daughters: Feminism, History, and Ingeborg Bachmann. University of Massachusetts Press 2006. 155 Ebd., S. 299. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 307.

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heitsbewältigung« gekommen sei,158 habe bei Bachmann ein neues Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht, das – in Affinität zu Adorno und Alexander und Margarete Mitscherlich – dem Fortleben faschistischer Strukturen im Gegenwärtigen stärkere Aufmerksamkeit schenkte.159 Eines der ersten Zeugnisse dieses poetischen Neuansatzes sei Bachmanns Büchner-Preis-Rede ›Ein Ort für Zufälle‹, die Lennox als Antwort auf Adornos Essay ›Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit‹ liest, in dem dieser den Anpassungsdruck, den die ökonomische Ordnung auf die Majorität ausübe, zum wesentlichen Kriterium für das Fortleben des Faschismus erklärt. Bachmanns »textual strategy in ›A Site for Coincidences‹«, so Lennox, »can be read as an effort to reveal the costs of such accommodation«.160 Unter Anwendung expressionistischer oder surrealistischer Verfahren versuche sie, die vom Wirtschaftswunder verdeckten Narben und Spuren (»the repressed contents of consciousnesses«) sichtbar zu machen, die Berlin an seinen Einwohnern zurücklässt.161 Damit begründe ›Ein Ort für Zufälle‹ zugleich eine narrative Strategie, die in Bachmanns ›»Todesarten«-Projekt‹ ihre Fortsetzung finde und in besonderer Weise das Traumkapitel des ›Malina‹-Romans präge.162 Neben Lennox geht auch Christa Gürtler in ihrer 2006 erschienenen Bachmann-Biographie, in der sie die wichtigsten Lebensorte der Autorin nachzeichnet, ausführlich auf ›Ein Ort für Zufälle‹ ein.163 Vor dem Hintergrund der individuellen Lebensgeschichte und der historischen wie zeitgeschichtlichen Bedeutung Berlins liest sie den Text als Aneinanderreihung von »zerstückelten Schreckensszenarien innerhalb und außerhalb der Klinik«, die sich im Bewusstsein einer »kranken Person als ›Kundschafter‹, die sich in einem Berliner Krankenhaus aufhält«, vermischen und »manchmal zu grotesk komischen Alpträumen« verdichten.164 In ›Ein Ort für Zufälle‹ breche sich die »Nachtseite der Geschichte« Bahn,165 die sich der zerstörten und geteilten Stadt Berlin als »Mittelpunkt des Deutschen Reiches« eingeschrieben habe.166

158 Ebd., S. 311. 159 Vgl. ebd., S. 312: »The new antifascist critique of contemporary fascism (which would be picked up by the New Left of the 1960s an 1970s) provided Bachmann with an explanation both of what was wrong with the present and of how and why it left its imprint on contemporary subjectivity.« 160 Ebd., S. 314. 161 Ebd., S. 317. 162 Vgl. ebd. 163 Christa Gürtler: Ingeborg Bachmann. Klagenfurt – Wien – Rom. Berlin 2006, S. 83–92. 164 Ebd., S. 86. 165 Ebd., S. 89. 166 Ebd., S. 84.



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Andrew J. Webber hebt in seinem 2007 erschienenen Essay ›Worst of all Possible Worlds? Ingeborg Bachmann’s »Ein Ort für Zufälle«‹, gleichfalls den subversiven Charakter des Textes hervor, dessen entstellte Topographie (»the seismic shocking and shifting of the post-war city«) sowohl die Virulenz einer verdrängten Schreckensgeschichte bloßlege als auch die unterschiedlichen Formen der Verdrängung bzw. Unterdrückung im Alltag der Konsumgesellschaft nachzeichne (»the post-war project of restoration and the construction of a best place to be«).167 Dabei rückt er die Darstellungsweise der Berlin-Rede jedoch weniger in den Ausdrucksbereich des Grotesken, als dass er sie satirischen Textstrategien annähert, die von ihm als »subversive mode«, als »challenge to the mainstream« aufgefasst werden.168 Ausgehend von Robert Musil und Karl Kraus, wichtigen Vertretern einer österreichischen Satire-Tradition, deren Wirken bis zum Ende der Weimarer Republik auch nach Berlin ausstrahlte, spannt Webber einen weiten Bogen an ›satirischen‹ Werken bis hin zu Texten Elfriede Jelineks, die aufgrund ähnlicher Verfahren und Stilmittel mit ›Ein Ort für Zufälle‹ korrespondieren oder unmittelbar als intertextuelle Bezugspunkte aufzufassen seien. So deutet er etwa die pathologische Obsession in ›Ein Ort für Zufälle‹ vom besten Ort »in a postcatastrophic world« (»am besten ist es noch hier, man bleibt am besten hier, hier kann man es noch am besten aushalten, besser ist es sonst nirgends«) als ReFormulierung der satirischen Dekonstruktion des Leibniz’schen Diktums von der ›besten aller möglichen Welten‹ durch Voltaires ›Candide‹, mit der Bachmann die Kalte-Kriegs-Rhetorik des Westens desavouiere: »The repeated formula is then repeated again on the radio tower, broadcasting a new version of a much manipulated ideological message using the old propaganda machinery.«169 Neben Büchners Lustspiel ›Leonce und Lena‹, dessen satirischer Umgang mit Phrasen und Redewendungen in Bachmanns Berlin-Rede ebenfalls anklinge, erscheint Webber vor allem Kafkas Erzählung ›Ein Landarzt‹, in dessen Traumstruktur er zugleich eine satirische Hinterfragung psychoanalytischer wie -therapeutischer Praktiken erkennt, als wichtiger Bezugstext zu ›Ein Ort für Zufälle‹. Beide Werke verbinde die Bloßlegung eines existentiellen Gefühls der Ausweglosigkeit (»the inherent impossibility of making good is a shared condition«) angesichts des »unglücklichsten Zeitalters«: »es ist niemals gutzumachen (Kafka)«; »es ist nie wieder gutzumachen (Bachmann)«.170

167 Andrew J. Webber: Worst of all Possible Worlds? Ingeborg Bachmann’s »Ein Ort für Zufälle«. In: Austrian satire and other essays 15 (2007), S. 112–129, S. 122, 128. 168 Ebd., S. 112. 169 Ebd., S. 122. 170 Ebd., S. 125.

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 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

Frauke Meyer-Gosaus bewusst populärwissenschaftlich ausgerichtete Bachmann-Biographie von 2008 hat das Anliegen, das Werk der Schriftstellerin nicht nur von der tragischen und dunklen Seite her zu lesen, sondern auch nach der »handelnde[n], aktive[n], fordernde[n], womöglich auch heitere[n] Person« zu fahnden.171 Wesentliche Markierungspunkte dieser »Reise« sind die Wohnorte der Schriftstellerin (»Rom, Paris, Zürich, Berlin, Wien, Klagenfurt und Ischia«), die als entscheidende Wendepunkte in Leben und Werk gelesen werden.172 Vor diesem Hintergrund sei Berlin ein extrem ambivalenter Ort, an dem Bachmann einerseits eine schwere Lebenskrise nach der Trennung von Frisch durchgemacht, andererseits wieder »mitten im literatur-politischen Geschehen« gestanden habe.173 In den Berliner Jahren seien »seelische Abstürze in schwärzeste Tiefen, harte unablässige Arbeit und Auftritte in den luftigsten, festlichsten Höhen« so dicht beieinander gelegen wie »selten einmal in einem Leben«.174 Diese Ambivalenz spiegele sich auch in den Berliner Werken: Während ›Ein Ort für Zufälle‹ »noch ihre persönliche Berlin-Tragödie, die eigene seelische Verheerung und das Grauen vor der historisch kontaminierten Umgebung zum Gegenstand gehabt« habe, wandle die zweite Opern-Zusammenarbeit mit dem Komponistenfreund Hans Werner Henze »Bachmanns panische Berliner Stimmung schließlich aber ins Komödiantische«.175 Die bis dato letzte wissenschaftliche Publikation zu ›Ein Ort für Zufälle‹ ist Tokunaga Kyokos 2010 erschienene Dissertation ›Poetologie des Zufalls: Gestörter Körper, ver-rückter Ort und gestockte Zeit im Werk von Ingeborg Bachmann‹, die jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr eingesehen werden konnte.

C. Methode Mit Blick auf die inzwischen umfangreiche und vielschichtige Forschungsarbeit zu ›Ein Ort für Zufälle‹ wird deutlich, dass Jost Schneiders noch im Jahr 2000 geäußerte Einschätzung, über Bachmanns Büchner-Preis-Rede hätten sich »nur wenige Interpreten ausführlicher geäußert«, aus heutiger Sicht zu revidieren ist.176 Vor allem in jüngster Zeit entstanden vermehrt Publikationen, die dem

171 Frauke Meyer-Gosau: Einmal muss das Fest ja kommen. Eine Reise zu Ingeborg Bachmann. München 2008, S. 9. 172 Ebd., S. 7. 173 Ebd., S. 124. 174 Ebd., S. 133. 175 Ebd., S. 132 f. 176 Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 127.



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Text bei aller stilistischen Eigenständigkeit eine eminente Bedeutung innerhalb des Gesamtwerkes zuweisen: als Schwellentext zwischen Früh- und Spätwerk, als paradigmatischer Entwurf einer bestimmten Kompositionsmethode oder als erstes veröffentlichtes Bekenntnis einer neuen Poetik der ›Todesarten‹. Forciert durch seine editorische Integration in die kritische Werkausgabe ›»Todesarten«Projekt‹, wird ›Ein Ort für Zufälle‹ nicht mehr als singulärer Text, sondern in einem umfassenden poetologischen, thematischen und motivischen Nexus mit den zeitnah entstehenden Romanentwürfen und Gedichten wahrgenommen. Als zweite wesentliche Tendenz und Methode der Texterschließung erweist sich die umfassende Einbettung von Bachmanns Berlin-Prosa in literatur-, kultur- und zeitgeschichtliche Kontexte im Rahmen einer heute verstärkt kulturwissenschaftlich orientierten Philologie. So wird ›Ein Ort für Zufälle‹ nicht nur im Schnittpunkt politischer und gesellschaftlicher Diskurse des Kalten Krieges, sondern auch im Spannungsfeld diverser Kunstdebatten um eine Literatur nach Auschwitz, um Modernität und Krise im Vorfeld der 68er-Bewegung verortet. Hinzu kommt die Betrachtung des Textes im Fokus nicht nur der klassischen Psychoanalyse und Psychiatrie (Sigmund Freud und Georg Groddeck), sondern auch der neueren Gedächtnis- und Trauma-Forschung. Als Folge dieser fruchtbaren Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Blickwinkels verliert die lange Zeit bestimmende Kontroverse um die stilistische und gattungsspezifische Einordnung deutlich an Brisanz. Die heute weitestgehend unumstrittene Bestimmung von ›Ein Ort für Zufälle‹ als fiktionale Prosa mit grotesker, satirischer bzw. phantastischer Prägung führt jedoch andererseits dazu, dass das Kunstwerk in seiner Originalität und gestalterischen Komplexität zunehmend aus dem Blickfeld gerät. Während auf der einen Seite immer mehr Prä-, Inter- und Kontexte aufgezeigt werden, lässt sich auf der anderen Seite eine Kanonisierung bestimmter Abschnitte oder Passagen erkennen, die als Belegstellen genutzt werden und mit der Ausklammerung großer Teile des Textes korrelieren. Auch die vorliegende Arbeit, die sich als literaturwissenschaftlicher Kommentar zu ›Ein Ort für Zufälle‹ versteht, ist sich der Tatsache bewusst, dass Text­ erschließung zwangsläufig auf einem Prozess der individuellen Auswahl und Vernetzung gründet und dass diese fundamentale Problematik nicht nur die Praxis der Interpretation betrifft. Gerade die in der Philologie so zentrale Institution ›Kommentar‹ ist seit einiger Zeit deutlich in die Kritik geraten, da ihre subjektive Setzung bzw. Aufteilung des Textes in zu kommentierende Einheiten allzu stark »im Gewande konstatierender Objektivität« daherkomme.177 Allein durch

177 Roland Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort. Anmerkungen zur Praxis des Kommentierens. In: TextKritische Beiträge (2000), H. 6, S. 1–14, S. 8.

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 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

die typographisch-topologische Setzung unter zumeist kursiv gedruckte Textausschnitte werde auf den Sekundärtext etwas von der Authentizität und positiven Gegebenheit des Primärtextes übertragen, die jedoch vorerst nur formal sei und darüber hinwegtäusche, dass der zu kommentierende Text »eben nicht fraglos gegebene ›Örter‹ hat, die einfach nur aufzusuchen wären (wie Laternenpfähle), sondern ›Stellen‹, an denen der Kommentator versucht, einem Jäger gleich, so etwas wie den Textsinn zu stellen«.178 Insbesondere im Bereich der angelsächsischen Textwissenschaften wurde schon früh versucht, durch methodische Eingrenzung der Gefahr einer unkontrollierten Subjektivität entgegenzuwirken. Exemplarisch sei hier auf Arthur Friedmans Gliederung eines »running commentary« in zwei Anmerkungstypen (»notes of recovery« und »explanatory notes«) hingewiesen, die wiederum dem gemeinsamen Genus der »historical annotation« untergeordnet werden.179 Während die »notes of recovery« der Rekonstruktion von Wissen dienen sollten, das den Zeitgenossen eines Autors selbstverständlich, im Lauf der Zeit aber abhanden gekommen war, galten die »explanatory notes« der Darlegung von Beziehungen zu anderen, dem zu kommentierenden Text zeitlich vorausgegangenen Werken.180 Kritiker dieser bis heute immer wieder übernommenen Konzeption ›rationalen‹ Kommentierens betonen vor allem, dass der Text selbst an den fraglichen Stellen gerade nicht kommentiert und damit in seinem singulären Anspruch verfehlt wird.181 Besonders eindringlich wird das Kardinalproblem der Intertextualität von Simon Goldhill vor Augen geführt. In seinem Aufsatz ›Wipe Your Glosses‹

178 Ebd., S. 3. Reuß verweist in diesem Zusammenhang auch auf seinen Aufsatz ›»sagt ihm – – !« Zur Kritik der Kommentierungspraxis poetischer Texte Kleists an einem Beispiel der Erzählung ›Die Verlobung in St. Domingo‹‹. In: Brandenburger Kleist-Blätter 9 (1996), S. 33–43. Eine interessante Kritik daran, dass Kommentare, indem sie sich auf die vermeintlich »wichtigen Fragen« eines Werkes, auf auffallende Formulierungen und ›große Bilder‹ konzentrieren, gerade das übergehen, was an kleinen, scheinbar unauffälligen Details den Kosmos eines Werkes ausmacht, formuliert Peter Waterhouse in seinem Roman ›(Krieg und Welt)‹. So heißt es bezüglich des Kommentarteils in der deutschen Übersetzung von Dantes ›Göttlicher Komödie‹: »Der Übersetzer kommentierte im sechshundertseitigen Kommentar Bächlein, Feuer, Stoffe, Himmel, Vorsehung, der schnellste Himmel, das Meer des Seins, die ewige Kraft, [...]. Ich wollte etwas haben, das ich für so gut wie beobachtungsfrei halten könnte. Se d’alto monte scende giuso ad imo. Welches Wort der Zeile würde mir beobachtungsfrei entgegenkommen? Aus einem kleinen Motiv entschied ich mich für das Wort imo.« Peter Waterhouse: (Krieg und Welt). Salzburg, Wien 2006, S. 381–413, S. 389. 179 Arthur Friedman: Principles of Historical Annotation in Critical Editions of Modern Texts. In: The English Institute Annual (1941), S. 115–128. Vgl. die Anmerkungen von Roland Reuß zu Friedmans Kommentar-Konzeption. Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 3 f. 180 Friedman: Principles of Historical Annotation, S. 118 f. Vgl. Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 4. 181 Vgl. Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 1–14, S. 4 f. Zur Wirkung von Friedmans



Methode 

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widmet er sich der Frage, inwieweit bereits die Auswahl und Präsentation von Parallelstellen einer autoritären Steuerung bzw. Begrenzung des Textverständnisses durch den Kommentator gleichkomme: Does – should – a citation of a ›parallel passage‹ close down or open up meaning? Introduce a discussion or solve a problem? How do parallel lines meet? If the citation of parallels is conducted without argument or a focused question does this merely avoid the duty of interpretation? How innocent can the collection of material (so-called) be, especially when [...] ›collection‹ can be selective to the point of surreal arbitrariness? The ›cf‹ is in many ways the grounding problem of the commentary format [...].182

Für Goldhill berühren diese Fragen aber nur oberflächlich das Problem der unerwünschten Subjektivität. Vor dem Hintergrund einer heftigen Debatte, die englische Gelehrtenkreise an der Wende zum 20. Jahrhundert über die adäquate Form der Klassiker-Kommentierung führten, verdeutlicht er vielmehr die Bedingtheit des Kommentators als eine durch Zeitumstände, Bildung und Ausbildung bestimmte Instanz, deren Erläuterungspraxis (»what knowledges are to be brought to bear – or repressed by a gloss«) von den jeweils aktuellen epistemo-

Kommentarformat vgl. Martin C. Battestin: A Rationale of Literary Annotation. The Example of Fieldings’s Novels. In: Studies in Bibliography 34 (1981), S. 1–22. 182 Simon Goldhill: Wipe your Glosses. In: Aporemata. Kritische Studien zur Philologiegeschichte. Hrsg. von Glenn W. Most. Bd. 4: Commentaries – Kommentare. Göttingen 1999, S. 380–425, S. 397. Während Goldhill die Frage »is the difficult the subject of commentary« (ebd.) durchaus im Sinne einer ausführlicheren Kommentarpraxis behandelt, plädiert Charles T. Cullen eher für eine maßvolle Erläuterung: »Annotation should not be used for displays of erudition in essays that bear questionable connection to the documents they pretend to introduce or explain.« Charles  T. Cullen: Principles of Annotation in Editing Historical Documents or, How to Avoid Breaking the Butterfly on the Wheel of Scholarship. In: Literary & Historical Editing. Selected papers from the Conference on Literary and Historical Editing, held at the University of Kansas, Sept. 1978. Hrsg. von Lawrence Kan. Kansas 1981, S. 81–95, S. 91 (Anm. 10). Zitiert nach Marita Mathijsen: Die ›sieben Todsünden‹ des Kommentars. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H. T.M. van Vilet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S. 245–261, S. 256. Zum Problem der Intertextualität bemerkt zudem Wolfram Groddeck, dass der »kritische Anspruch einer vollständigen Erschließung der offenen und der verdeckten Zitate [...] kaum einzulösen [sei] – der Kommentator scheitert früher oder später an den Grenzen seiner eigenen Belesenheit.« Dennoch plädiert er dafür, auf eine Kommentierung nicht zu verzichten, die die »Dialogizität der edierten Texte wachzuhalten« versuche, jedoch »ohne die Anmaßung autoritärer Festlegungen«. Wolfram Groddeck: »Und das Wort hab’ ich vergessen«. Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993, S. 1–10, S. 2, 10.

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logischen und kulturellen Normen einer (disziplinären) Gemeinschaft geprägt wird.183 Die Erkenntnis, dass es keine zeitlose Matrix von Literaturwissenschaft/ Philologie und damit auch von Kommentierung gibt, führt Goldhill abschließend zu der Frage, ob die ›Institution Kommentar‹ den modernen sprachtheoretischen Vorstellungen eines vielstimmigen Textes überhaupt gerecht werden kann. Denn gerade das geläufige Format eines ›running commentary‹, der den Primärtext in zu kommentierende Einheiten auftrennt (»morselization«), scheint ihm nur schwer vereinbar mit einer strukturellen Semantik, die Bedeutung aus innersprachlichen, systemimmanenten Gesetzmäßigkeiten ableitet: and the morselization practised by the commentary format together, then, raise the fundamental question of the degree to which meaning is integral to words or spreads and grows in the juxtapositions and recontextualizations of narrative. While all readings rehearse this problem of selectivity and connectedness [...] the format of the commentary shows the problem in a particularly stark manner, and the tradition of commentary writing and usage has often encouraged – rather than reflected on – such morselization.184

Verweist Goldhill u.a. auf Gérard Genette und Jacques Derrida, so ist aus dem Bereich des französischen Strukturalismus insbesondere auch Michel Foucault zu nennen, wenn es um die Krise des Kommentars geht. Wiederholt beschäftigt sich Foucault in seinen Werken mit der Geschichte und Theorie dieser Textsorte, um sein eigenes diskursanalytisches Projekt davon abzugrenzen. So bestimmt er die Aufgabe des Kommentars in ›Die Ordnung der Dinge‹ (›Les mots et les choses‹) am Beispiel des 16. Jahrhunderts als einen unabschließbaren Versuch, unterhalb des existierenden Diskurses – also unterhalb der Sprache, die man liest und entziffert – einen anderen, fundamentaleren und gewissermaßen »ersteren« Diskurs wiederherzustellen.185 Während dieses ursprünglich metaphysische Projekt, das

183 Goldhill: Wipe your Glosses, S. 380–425, S. 397, 408. Vgl. dazu auch Jürgen Fohrmann, der sich als einer der wenigen in Deutschland mit der Funktionsweise des Kommentars in institutioneller Hinsicht beschäftigt: »Weder die individuelle, noch die soziale Lebenswelt, sondern die disziplinäre Gemeinschaft der Literaturwissenschaft bildet [...] den Rahmen, der die Bedingungen und Grenzen des Kommentars über literarische Texte bestimmt.« Jürgen Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt a.M. 1988, S. 244–257, S. 249. 184 Goldhill: Wipe your Glosses, S. 416 f. Vgl. ebd., S. 413: »how the question of morselization is a question of semantic theory. Is meaning inherent and integral to a word, or does it have meaning in and only in context? If meaning is context specific, what are the limits and boundaries of context? Does narrative affect meaning? How should a commentary deal with such matters?« 185 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 15. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, S. 73: »Die Aufgabe des Kommentars kann per definitionem nie beendet sein. Dennoch ist der Kommentar völlig auf den



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Mitte des 18. Jahrhunderts zum hermeneutischen Ethos der philologischen Disziplinen wurde, einen Überschuss des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraussetzt, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat und den es mittels Zuordnung und Vernetzung zu bergen gelte,186 gehe es in der Diskursanalyse nicht mehr um die vertikale Aufdeckung dessen, was hinter den Aussagen steht, sondern darum, wie sich Aussagen auf horizontaler Ebene zueinander verhalten.187 Ungeachtet des Traums von seinem Verschwinden, den in Frankreich nicht nur Foucault träumte,188 und trotz seiner vielfältigen methodischen wie institutionspolitischen Probleme hat die Debatte um den Kommentar bis heute keinen Abschluss gefunden. Neben einer ungeminderten Kommentarpraxis mit alljährlichen Neuerscheinungen ist es vor allem die historische wie theoretische

rätselhaften, gemurmelten Teil gerichtet, der sich in der kommentierten Sprache verbirgt. Er läßt unterhalb des existierenden Diskurses einen anderen, fundamentaleren und gewissermaßen »ersteren« Diskurs entstehen, den wiederherzustellen er sich zur Aufgabe macht. Es gibt nur einen Kommentar, wenn unterhalb der Sprache, die man liest und entziffert, die Souveränität eines ursprünglichen Textes verläuft.« 186 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Aus dem Französischen von Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1988, S. 14: »[D]er Kommentar setzt per definitionem einen Überschuß des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat, einen Rückstand, der dessen Wesen ausmacht und der aus seinem Geheimnis hervorzuholen ist.« Zur Etablierung der Hermeneutik im deutschen Universitätswesen und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung von Kommentar und Interpretation vgl. Raimar Zons: Text – Kommentar – Interpretation. In: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV. Hrsg. von Jan Assmann und Burkhard Gladigow. München 1995, S. 389–406, S. 399: »Denn tief bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein wird hermeneutisch ein Unterschied zwischen kommentierenden und ›verstehenden‹ Auslegungsverfahren kaum auszumachen sein. [...]. Erst in den Schulen, dann in den Universitäten beginnt sich aber etwa ab 1770 eine Erklärung deutscher Texte unter nicht nur formalen Aspekten durchzusetzen, die auf der einen Seite der grassierenden ›Lesewut‹ Einhalt gebieten und – nach vollzogener Dissoziation der rhetorischen Einheit von Lesen und Schreiben – den poetischen Text als Leseobjekt thematisieren sollte. So wird, zum Zweck der Verknappung auf ›wertvolle‹ Lektüre und zur Steuerung der Lektüreintentionen selbst, aus der ›Erklärung deutscher Texte‹ die ›Erklärung deutscher Klassiker‹«. 187 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 15: »Wäre nicht eine Diskursanalyse möglich, die in dem, was gesagt worden ist, keinen Rest und keinen Überschuß, sondern nur das Faktum seines historischen Erscheinens voraussetzt?« 188 Zu der im poststrukturalistischen Theoriezusammenhang konstatierten ›Krise des Kommentars‹ (etwa bei Roland Barthes und Michel Foucault) vgl. Roger Lüdeke: Eintrag Kommentar. In: Kompendium der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp und Hans Walter Gabler. Web-Adresse: http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/frame_edkomp.html; Zugriff: 21. 10. 2012, S. 2 von 11.

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Auseinandersetzung mit dieser Textsorte, die seit den 1960er Jahren auch in Deutschland deutlich zugenommen hat und mit der »Reflexionsverweigerung« vergangener Jahre ins Gericht geht.189 Im Mittelpunkt steht jedoch nicht nur die Kritik (am objektiven und abschließenden Gestus, an fehlenden Relevanzkriterien für die Aufnahme oder das Auslassen einer Textpassage, an der Verflechtung von Kommentatorsubjekt und Auslegungs-Macht, am autoritären Eingriff in das Verhältnis Text – Leser), sondern auch die Frage, wie ein zeitgemäßer literaturwissenschaftlicher Kommentar gelingen könne bzw. welchen Anforderungen er gerecht werden müsse. Seit Anfang der 1970er Jahre widmen sich die Arbeitsgemeinschaften für germanistische und philosophische Edition sowie die Germanistische Kommission der Deutschen Forschungsgesellschaft wiederholt in Kolloquien (1970, 1972, 1974, 1992) den lange Zeit vernachlässigten Fragen nach formalen und funktionalen Kriterien der Kommentierung. Als eine zentrale Problemkonstante erweist sich dabei von Anfang an die »Koppelung von systematisch wissenschaftlichem Kommentar und kritischer Edition«.190 Die Positionen gehen dabei weit auseinander: So steht der Forderung nach einer umfassenden Erweiterung des in historisch-kritischen Ausgaben geläufigen Erläuterungskommentars sowie der engen Vernetzung von Textkonstitution und Texterläuterung unter der Prämisse einer gemeinsamen Erkenntnisvernetzung eine Haltung gegenüber, die vom Kommentar entweder größte Zurückhaltung oder eine ›Separierung‹ aus der Editionsarbeit fordert. Die wohl umfassendste Vorstellung einer editionsintegrierten Kommentierung hat bisher Ulfert Ricklefs formuliert.191 Als grundlegendes Argument für eine enge Vernetzung beider Sektoren erscheint dabei das interpretatorische Moment, das, so Ricklefs, weit in den Bereich der Textkonstitution hineinreicht. Editionsarbeit könne nicht nur als objektive Materialienbereitstellung für die Forschung verstanden werden, sondern als ein die Erkenntnis fördernder Vorgang, der in hermeneutischer Hinsicht mit der Erkenntnisfunktion historischer Vermittlung und Kommentierung korreliert.192 Daher sei es im Bereich der kritischen Editionsarbeit notwendig, die Darstellung der Textgenese und -dynamik durch die explizite Erklärung und Wertung von Veränderungen, Varianten und Textstufen durch die Editor/Kommentator-Gemeinschaft transparenter zu gestalten.193 In gleicher Weise gelte es, das im Rahmen einer

189 Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 2. 190 Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 33. 191 Vgl. ebd., S. 64 f. 192 Vgl. ebd., S. 69 f. 193 Da ein Einzelner diese interdisziplinäre Aufgabe nicht lösen könne, plädiert Ricklefs für die Bildung von Forschungszentren, die Edition und Kommentierung institutionell verbinden. Vgl. Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 70 f.



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historisch-kritischen Edition versammelte sekundäre Textmaterial (etwa Briefe, Tagebucheintragungen, Lebens- und Wirkensdokumente sowie poetische, theoretische und sonstige literarisch hervorragende Texte) nicht nur darzubieten, sondern in seiner Erkenntnisfunktion und Relevanz für die Primärtexte methodisch zu vermitteln.194 Hierzu sei, um der Einseitigkeit einer autororientierten Dokumentation vorzubeugen, eine poetologisch und literarhistorisch ausgerichtete Kommentierung als Korrektiv erforderlich, welche die Relevanz historischer Kontextinformationen ausschließlich oder vorrangig aus den Gegebenheiten der Textstruktur motiviert.195 Im Bereich der eigentlichen Kommentierung der Primärtexte, des »traditionellen Anmerkungs- bzw. Erläuterungskommentars«, dürfe sich die Arbeit des Kommentators keinesfalls auf die vermeintlich ›objektive‹ Darbietung von Quellen, Zitaten, Parallelstellen und Anspielungen, Worterklärungen und historischen Erläuterungen zu Person und Sache beschränken.196 Da diese die tatsächlichen Verstehenshindernisse bei vielenTexten kaum berührten, gelte es, über den Begriff des »historisch Tatsächlichen« hinaus auch die »poetischen Tatsachen«, die »Motiv- und Bildzusammenhänge bzw. -traditionen, [...] strukturelle[n] Gegebenheiten und textimmanente[n] Korrespondenzen« eines Werkes zu vermitteln.197 Eine »volle literaturwissenschaftliche Kommentierung«,198 die auf »jedes lehrhafte Erklären und dogmatische Fixieren« verzichtet,199 verschiedene Positionen nebeneinander darlegt und deren Hauptkriterien das »Relevanzprinzip und das Vermittlungsprinzip« sind,200 sei keinesfalls »nur Repräsentation bereits vorliegender Forschung, sondern stellt ebensosehr ein Ergebnis der mit der Editions- und Kommentierungsbemühung gegebenen Forschungsleistung dar«.201 Der Widerstand, der sich vor allem in Deutschland gegen die Forderung nach einer engen Integration von Edition und Kommentar im Rahmen einer historischkritischen Gesamtausgabe formiert hat,202 konzentriert seine Argumentation

194 Vgl. ebd., S. 42, 51 f. 195 Vgl. ebd. Vgl. ebenso Lüdeke: Eintrag Kommentar, S. 4. 196 Ebd., S. 53 f. 197 Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 56 f. 198 Ebd., S. 64. 199 Ebd., S. 73. 200 Ebd., S. 62. 201 Ebd., S. 66. 202 Während in angelsächsischen Ausgaben die Kombination von Kommentar und Edition in der Regel nicht als Problem angesehen wird (praktisch »sämtliche Ausgaben der ›criticaltext-school‹ haben Kommentare und Erläuterungen«), herrschte in Deutschland lange Zeit die Meinung vor, »eine historisch-kritische Ausgabe solle keinen Kommentar enthalten, zumindest keine Einzelerläuterungen und auch keinen Kommentar, der den historischen Horizont ausführ-

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ebenfalls auf das Problem der nicht ausschaltbaren Subjektivität. Während Ricklefs das »interpretatorische[] Moment« bzw. die »Subjektivität des Herausgebers« begrüßt, da Editions- und Kommentierungsarbeit nur so als Erkenntnisvorgang verstanden werden können,203 sehen Befürworter einer Separierung auf der einen Seite die Gefahr, dass der Kommentar historisch-kritische Ausgaben »mit dem Bazillus des Veralterns infizieren« könne.204 Auf der anderen Seite bringe eine Integration das Problem mit sich, dass ein Kommentar, der den notwendigen Anforderungen einer historisch-kritischen Edition zu genügen versuche – etwa dem »Postulat größtmöglicher Intersubjektivität«, »Vollständigkeit« und »Dauerhaftigkeit« – und daher auf eigene Positionen oder Interpretationsansätze verzichte, »die erforderliche Beweglichkeit bei der Vermittlung kaum zu aktualisierender fiktionaler Texte« einbüße.205 Ein weiteres Problem sei, dass die Kommentierung insbesondere poetischer Texte, die zwangsläufig einen hohen interpretatorischen Anteil besitze, durch ihre Integration in eine historisch-kritische Ausgabe »gleichsam die Dignität des kritisch hergestellten Textes: zuverlässig, abgesichert, authentisch [zu sein]« zu beanspruchen scheine: »Welcher Leser wird sich diesem Anspruch widersetzen wollen [...].«206 Ungeachtet etwaiger formaler Konsequenzen verbindet beide Parteien die Absage an ein geläufiges Selbstverständnis, die Kommentierung vermittle ein rein objektives, abschließendes Wissen. Auch in der jüngeren Forschung bleibt die Forderung präsent, dass der Kommentator als vermittelnde Instanz manifest werden, seine subjektive Zugangsweise exponieren und sich damit eben auch angreifbar machen müsse, um der Bevormundung des Lesers entgegenwirken zu können.207 Der damit einhergehende Verzicht auf den Anspruch, Wissen sprachlich so festzuschreiben, dass die Widerreden und der Forschungsprozess mit ihm zu einem Ende kommen, würde zugleich die Chance eröffnen, dass der Kommentar nicht mehr nur als Hilfsmittel der Wissenschaft, sondern als eigenständiger Forschungsbeitrag Geltung erlange. Die Unendlichkeit des hermeneutischen Pro-

lich vermißt.« Mathijsen: Die ›sieben Todsünden‹ des Kommentars, S. 245–261, S. 249. Als Norm und Vorbild galt bis weit ins 20. Jahrhundert die Weimarer Goethe-Ausgabe. 203 Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 38 f., 61. 204 Mathijsen: Die ›sieben Todsünden‹ des Kommentars, S. 250. 205 Elisabeth Höpker-Herberg, Hans Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1993, S. 51–61, S. 55 f. Der Beitrag referiert ausführlich die verschiedenen Positionen der Debatte um eine Separierung des Kommentars aus der HKA. 206 Vgl. Gunter Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1993, S. 36–50, S. 46. 207 Vgl. Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 9.



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zesses der Bedeutungszuweisung, die Foucault in seinem Werk aufzeigt, werde so zum positiven Paradigma einer neuen Auffassung von Kommentar, der »stets einhält, ohne an sein Ende gekommen zu sein, stets sistiert, ohne in kongenialer Geste das Werk nach Hause tragen zu wollen.«208 Im Spannungsfeld dieser theoretischen Debatte hat sich eine vielfältige praktische Kommentierungsarbeit entwickelt, die einerseits das geläufige Prinzip der editionsintegrierten Kommentierung weiterführt bzw. den aktuellen Forderungen der Textwissenschaften anzupassen versucht, andererseits aber auch neue Möglichkeiten eines separierten Kommentars erprobt. Aus dem großen Spektrum der historisch-kritischen Editionen sei hier auf die 1995 unter dem Titel ›»Todesarten«Projekt‹ veröffentliche Ausgabe der späten Prosa Ingeborg Bachmanns hingewiesen. In den Rubriken ›Editorische Nachbemerkungen‹, ›Editorisches Nachwort‹ und ›Anhänge zum editorischen Nachwort‹ des ersten Bandes beschreiben und begründen die Herausgeber ausführlich die Textauswahl (»Alle diese Texte sind thematisch-motivisch, genetisch und zum Teil auch zyklisch aufs Engste miteinander verknüpft«), den Titel (»›»Todesarten«-Projekt‹ meint in diesem Sinne den engen Zusammenhang der Einzeltexte in einem übergreifenden literarischen Arbeitsprozeß«) sowie die Gestaltung der vorliegenden Edition: Die »besondere Überlieferungslage, die ihr zugrunde liegende literarische Arbeitsweise Ingeborg Bachmanns und die entsprechenden ästhetischen Strukturen der zugehörigen Werke begründen den Aufbau und das spezifische Darstellungsverfahren der vorliegenden Edition«.209 Aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Arbeitsprozess handelt, dessen Stationen und Ergebnisse in wesentlichen Teilen zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben und in einem mehrfach fragmentarischen Charakter überliefert sind, wird explizit darauf hingewiesen, dass der Edition des eminent

208 Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft, S. 255. Zur Unabschließbarkeit des Kommentars vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Frankfurt a.M. 2003, S. 70 f. Eine radikale Reaktion des Kommentars auf die Kritik Foucaults am hermeneutischen Projekt fordert Raimar Zons: »Wenn Interlinearkommentare sich der Autorität des Textes unterwarfen, um zwischen ihren Buchstaben und Zeilen ihrem Rätselhaften, ihren Anspielungen und Andeutungen auf die Spur zu kommen, so wird – ohne alle Hoffnung auf den einen Metatext [...] – auch eine nicht mehr sinnverstehende Lektüre dem akribisch verfolgten Duktus, den Figuren des Textes parataktisch jene Stellen abzulocken versuchen, an denen die Entscheidung fiel, wie er fortzusetzen wäre, um aus solcher Einsicht ihm unmerklich eine Richtung zu geben, die er selbst, von seinem eigenen Stilgesetz genötigt, nicht verfolgen kann. [...] Insofern der Kritiker auf diese Weise nur die im Text selbst angelegte Dekonstruktion fortschreibt, macht er sich zum Medium nicht mehr eines »Sinns«, sondern jener Energien, die er selbst gegen jeden Formalisierungs- und Totalisierungsversuch zur Entfaltung bringt.« Zons: Text – Kommentar – Interpretation, S. 404 f. 209 Monika Albrecht und Dirk Göttsche: Editorisches Nachwort. In: KA I 609–647, 615.

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heterogenen Textkonvoluts eine historisch-genetische Anordnung als einzig angemessene Darstellungsform zugrunde liege und daher dem Kommentar »eine besondere Bedeutung zu[komme].«210 Den weitreichenden Forderungen Ricklefs sich annähernd, umfasst dieser: 1.  eine »Überlieferungsbeschreibung« unter Berücksichtigung der Ergebnisse der kodikologischen Analyse, 2.  einen »textkritische[n] Kommentar, der von einem bandbezogenen Entstehungsüberblick eingeleitet wird« und die Textgenese in Zusammenhang mit ihrer editorischen Darbietung begründet, und 3. einen »Sachkommentar«, der sich aus »pragmatischen wie aus forschungsgeschichtlichen Gründen auf Werkstellen-Erläuterungen« beschränkt.211 Neben der inhaltlichen Strukturierung des Sachkommentars mit Zitaten, Anspielungen und intertextuellen Bezügen sowie Erläuterungen abgelegener Realitätsvokabeln und Übersetzungen fremdsprachlicher Texte entsprechend dem damals aktuellen Forschungsstand wird auf ein »textstufen-, text- und bandübergreifendes Verweissystem« aufmerksam gemacht, das auch den Katalog der Bibliothek Ingeborg Bachmanns einbezieht.212 Trotz der detaillierten Beschreibung der angewandten Kommentierungspraxis ist es mit Blick auf die schwierige Überlieferungslage und die nicht unmittelbar aus dem Œuvre der Autorin hervorgehende Zusammenstellung unterschiedlichster Textzeugen zu einem gemeinsamen »Projekt« jedoch erstaunlich, dass die Herausgeber kaum auf die ›Subjektivitäts-Problematik‹ der Editions- und Kommentierungsarbeit eingehen. Lediglich Robert Pichl weist am Ende seiner »Editorischen Nachbemerkungen« kurz auf die historische Bedingtheit der Ausgabe hin, die »auf der vollständigen Grundlage aller zur Zeit [Hervorhebung C. D.] bekannten Überlieferungsträger aufgebaut ist«.213 Da große Teile des Nachlasses (vor allem des Briefnachlasses) bis zum Jahr 2025 gesperrt sind, sei es denkbar, dass sich mit der Öffnung »nochmals neue Perspektiven auf ihr [Bachmanns] Spätwerk ergeben«.214 Wie nicht anders zu erwarten, hat sich in

210 Ebd., S. 645 f. Darauf, dass die »kritische Edition eines solchen komplexen und problematischen Materials [...] der diskursiven Ergänzung in der Form eines differenzierten und fortlaufenden textkritischen Kommentars« bedarf, verweist Göttsche bereits 1992 auf einem Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft germanistische Edition. Dirk Göttsche: Fragmente im Werkprozess. Zur konstitutiven Bedeutung des Kommentars für eine kritische Edition der nachgelassenen »Todesarten«-Prosa Ingeborg Bachmanns. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993, S. 117–123, S. 117. 211 Albrecht, Göttsche: Editorisches Nachwort. In: KA I 645 f. 212 Ebd. 213 Robert Pichl: Editorische Nachbemerkungen. In: KA I 609–614, 611. 214 Ebd., S. 614.



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der Folge eine heftige Debatte um die Editions- und Kommentierungspraxis des ›»Todesarten«-Projekts‹ entwickelt, die in dem von Irene Heidelberger-Leonard herausgegebenen Band ›»Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«‹ dokumentiert ist. Im Zentrum der Kritik stehen dabei zum einen die (subjektive) Zusammenstellung des Textmaterials und zum anderen dessen entwicklungsgenetische Gliederung zu einem ›Projekt‹. So wirft Sigrid Weigel den Herausgebern vor, dass diese sowohl »mit den Auswahlentscheidungen als auch mit der Konstruktion einer genetischen Darstellung der Vor- und Nachgeschichte [...] der literarischen Hinterlassenschaft ihre Deutung übergestülpt« bzw. »das Material in eine Zwangsordnung« gebracht hätten.215 Kurt Bartsch betont, dass es sich bei »der Rekonstruktion des von Bachmann unabgeschlossenen, daher auch unabschließbaren ›»Todesarten«-Projekts‹« um ein nicht unproblematisches »Konstrukt der Herausgeber« handele.216 Hans Höller konstatiert, dass die Rekonstruktionsarbeit »etwas Hypothetisches« behalte und eine »›Todesarten‹-Vision« sei.217 Auch Inge von Weidenbaum bemängelt, dass »das ›Todesarten‹-Projekt von dem Anspruch eines Interpretationsmonopols [lebe], das (allmächtig) über Chrono­ logie, Entwicklung, Kausalität, Finalität der Werkintention Ingeborg Bachmanns schaltet«.218 »Warum«, so ihr abschließender Vorwurf, »wurde die Vielfalt der Entwürfe, der Fragmente, der Abbrüche, die aus radikal verschiedenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen Ingeborg Bachmanns entstanden waren, eingeebnet unter der Fiktion eines Projekts?«219 Peter von Matt erweitert das Problem der ›unerwünschten Subjektivität‹ bzw. des ›autoritären Eingriffs‹ auf die disziplinäre Gemeinschaft, wenn er darauf hinweist, dass die Zusammenstellung »weniger [das Produkt] der einzelnen Heraus-

215 Sigrid Weigel: Entwicklungslogik statt Spurenlektüre. Zur Edition von Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 4 (1996), S. 350– 355. Zitiert nach: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?« Lesarten zur kritischen Ausgabe von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt. Mit einer Dokumentation zur Rezeption in Zeitschriften und Zeitungen. Hrsg. von Irene Heidelberger-Leonard. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 142–148, S. 146 f. 216 Kurt Bartsch: »Das dreißigste Jahr« und das »Todesarten«-Projekt. In: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«, S. 41–43. 217 Hans Höller: Blätter im Ohr. Mehr als 3000 Seiten in fünf Bänden, zusammengestellt mit geradezu kriminalistischen Analysemethoden: Ingeborg Bachmanns nachgelassenes »Todesarten«Projekt – »Ein Kompendium der Verbrechen, die in dieser Zeit begangen werden.« In: Die Presse, 7. Oktober 1995. Abgedruckt in: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«, S. 158–160, S. 160. 218 Inge von Weidenbaum: Zumutbare Wahrheiten? Anmerkungen zur Werkausgabe von Ingeborg Bachmann 1978 und dem »Todesarten«-Projekt von 1995. In: »Text-Tollhaus für BachmannSüchtige?«, S. 14–27, S. 23. 219 Ebd., S. 26.

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geber als des ganzen Bachmann-Diskurses der letzten zwanzig Jahre« sei.220 Über die Textkonstitution hinaus wird aber auch an der Kommentierung selbst Kritik geübt. Neben der grundsätzlichen Feststellung Corina Caduffs, dass die vielen neuen Bachmann-Texte von Anmerkungsapparaten und Kommentar umgeben seien und somit »von vornherein als Wissenschaftsprodukte stilisiert« würden,221 bemängelt Reinhard Baumgart, dass die Kommentatoren »aus philologischem Reinheitswahn, aus Diskretion oder Rücksicht gegenüber Zensurbestimmungen der Erben« mit der Ausgrenzung der »Herkunft der Literatur aus Lebenszusammenhängen auch deren Wirkungsmöglichkeit auf Lebenszusammenhänge, ja auf Leser jenseits der Literaturwissenschaft aus[blenden]«.222 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Debatte um die kritische Ausgabe ›»Todesarten«Projekt‹ all die grundlegenden Probleme widerspiegelt, die auch die oben vorgestellte generelle theoretische Diskussion um die Institution Kommentar aufwirft. Innovative Experimente aus dem Bereich der editionsunabhängigen Kommentierung kommen zunächst aus Frankreich. So veröffentlicht etwa Derrida 1974 ein Werk, dessen Titel ›Glas‹ mit der Idee der Glosse spielt und dessen mehrgliedrige Gegenüberstellung unterschiedlicher Texte die Art der Parallelstellenzitierung in klassischen Kommentaren zugleich aufruft und in eine »typographisch extreme Konklusion« überführt.223 Dem Modell des ›Talmuds‹ vergleichbar, sollen die nebeneinandergestellten Passagen beim Lesen ohne die autoritäre Steuerung durch ein Kommentatorsubjekt und ohne die hierarchische Gliederung in eine zentrale Schrift, die von Randbemerkungen umgeben ist, miteinander interagieren.224 Ein Jahr später (1975) erscheint mit Roland Barthes’ ›S/Z‹ eine Mikroanalyse von Balzacs Novelle ›Sarrasine‹, die gegliedert ist in eine ausgedehnte

220 Peter von Matt: Im Urstromland des Erzählens. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 235, vom 10. Oktober 1995, S. 12. Abgedruckt in: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«, S. 176–181, S. 180. 221 Corina Caduff: Neunhundert neue Seiten Bachmann. Freuden und Fragen: Ingeborg Bachmanns nachgelassenes »Todesarten«-Projekt. In: Die Weltwoche, 5. Oktober 1995. Abgedruckt in: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«, S. 154–157, S. 157. 222 Reinhard Baumgart: Ich treibe Jenseitspolitik. Ausgegraben: Ingeborg Bachmanns legendäres »Todesarten-Projekt«. In: Die Zeit, Nr. 48, vom 24. November 1995, S. 73 f. Abgedruckt in: »Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?«, S. 149–153, S. 153. 223 Jacques Derrida: Glas. Paris 1974. Goldhill: Wipe your Glosses, S. 420: »This is haute-sophistic self-consciousness with a vengeance, which takes the juxtapositional logic of the ›cf‹ to a typographically extreme conclusion«. Goldhill verweist zudem darauf, dass die Qualität dieses Werkes als Kommentar ausführlich von Geoffrey Hartmann diskutiert wurde. Geoffrey Hartmann: Saving the Text: Literature, Derrida, Philosophy. New Haven 1981. 224 Vgl. Goldhill: Wipe your Glosses, S. 420.



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Einleitung, welche eine Auswahl an theoretischen, historischen und kulturellen Themen vorstellt, und einen Hauptteil, der aus einer Zeile für Zeile vorgehenden Analyse von Balzacs Erzählung besteht. Er enthält zudem spezifische Querverweise zu den Kategorien der Einleitung und ist mit einem kurzen Essays zu besonderen Textgegenständen versehen. Offensichtlich greift Barthes hier auf klassische Formen der Textkommentierung zurück, welche dem eigentlichen Stellenkommentar in der Regel eine ›Introduktion‹ voranstellten, die den historischen Kontext einer Schrift rekonstruierte, in Auseinandersetzung mit der jeweils aktuellen Forschung zentrale Leitbegriffe sowie die Tiefenstruktur diskutierte und die Überlieferungslage ausführlich erörterte.225 Entscheidend ist jedoch, dass er diese formale Matrix klassischer Kommentierung mit Perspektiven und Fragestellungen der modernen Sprachwissenschaften anreichert, indem er etwa der »innere[n] Pluralität der Schreibweise Balzacs«, dem textuellen Umfeld vorheriger, zeitgenössischer und zukünftiger Werke, einen hohen Stellenwert beimisst.226 Zu diesem Zweck setzt Barthes fünf Codes ein, von denen der semische, der kulturelle und der symbolische Code dem »Zwang der Zeitlichkeit« entzogen sind, der hermeneutische und der proaïretische Code hingegen die »Unumkehrbarkeit der Zeit« bedingen.227 Das Hauptanliegen, das Barthes letztlich mit diesem Codierungssystem verfolgt, besteht darin, das geläufige »Verhältnis aktiv = Autor zu passiv = Leser« entsprechend dem Gedanken der Intertextualität dahingehend zu modifizieren, dass der Leser den Text, »der mehrere Stimmen und Spuren zulässt, einer Arbeit des Neuschreibens unterzieht«.228 Mit Blick auf die Institution Kommentar ist von großem Interesse, dass Barthes diese Kriterien seiner Textanalyse sowie das Vorgehen der Unterteilung des Textes in zu erläuternde Einheiten am Anfang seiner Ausführungen detailliert erklärt.229 So stellt er die progressive Analyse einer Strukturierung

225 Vgl. Ebd., S. 419. 226 François Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967–1991. Aus dem Französischen übersetzt von Stefan Barmann. Hamburg 1997, S. 79 f. Zum Einfluss der von Julia Kristeva eröffneten intertextuellen Perspektive und des von Michail Bachtin entwickelten Polyphonie-Begriffs auf Barthes Strukturalismus vgl. das Kapitel ›Wie Kristeva Barthes zu einem neuen Ansatz verhalf‹ (ebd., S. 74–87). 227 Dosse: Die Zeichen der Zeit, S. 80. Ein besonders hoher Stellenwert komme, laut Dosse, in Barthes’ Analyse dem symbolischen Code zu. So zeige Barthes, wie das »Spiel der drei Symbolismen Gold, Sinn und Sexus die Dynamik des Textes [steuert]« und dabei »nacheinander auf Marx, Aristoteles und Freud [verweist]« (ebd., S. 81). 228 Dosse: Die Zeichen der Zeit, S. 80. 229 Zur Frage, inwiefern diese Form der Texterschließung vorbildhaft für die Institution Kommentar sein kann, vgl. Goldhill: Wipe your Glosses, S. 419.

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des Textes in große Mengen entgegen, die letztlich auf eine »Konstruktion des Textes«230 abziele: Aber Schritt für Schritt zu kommentieren, heißt mit Gewalt die Eingänge des Textes erneuern, heißt es vermeiden, ihn zu sehr zu strukturieren, ihm diese zusätzliche Struktur zu geben, die zu ihm durch eine These käme und ihn schließen würde: heißt den Text, anstatt ihn zu versammeln, sternenförmig aufzulösen.231

In aller Deutlichkeit betont Barthes, dass diese Aufteilung des Textes in Leseeinheiten bzw. »Lexien« »eine sehr willkürliche« und eine »Sache der Bequemlichkeit« ist.232 Es handelt sich um »künstliche Glieder«, deren Ausdehnung wenige Wörter bis einige Sätze umfassen kann und »von der Dichte der Konnotationen, die den Momenten des Textes entsprechend variabel ist«, abhängt.233 Diese Willkür verteidigt Barthes vor dem Hintergrund seines pluralen Textverständnisses. Es gehe nicht darum, die »Wahrheit des Textes (seine tiefe, strategische Struktur)« festzulegen,234 sondern entlang dieser Lektürebereiche unter die Oberfläche des Diskurses auf die »Wanderwege der Bedeutungen, die sanfte Berührung der Codes, das Vorbeigehen der Zitate«235 zu blicken: Der Kommentar, der auf der Affirmation des Pluralen beruht, kann also nicht aus »Respekt« für den Text arbeiten: der Bezugstext wird ständig gebrochen, unterbrochen, ohne Rücksicht auf seine natürlichen (syntaktischen, rhetorischen, anekdotischen) Aufteilungen; Inventar, Erklärung und Abschweifung werden sich inmitten der Spannung einrichten, Verb und Objekt, Substantiv und Attribut trennen können. Die Arbeit des Kommentars besteht, sobald er sich einer jeden Ideologie von Totalität entzieht, gerade darin, den Text zu mißhandeln, ihm das Wort abzuschneiden. Dennoch ist das, was negiert wird, nicht die (hier unvergleichliche) Qualität des Textes, sondern sein »Naturhaftes«.236

Obwohl in Deutschland der Ruf nach einer separierten Kommentierung Anfang der 1970er Jahre verstärkt formuliert wurde, hat sich diese Form in der Folge nur bedingt etablieren können. Zwar gab es im 19. Jahrhundert durchaus eine editionsunabhängige Praxis, doch wurden Kommentar und Erläuterung im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in die Ausgaben einbezogen.237 Abgesehen

230 Roland Barthes: S/Z. Übersetzt von Jürgen Hoch. Frankfurt a.M. 1987, S. 16. 231 Ebd., S. 17. 232 Ebd., S. 18. 233 Ebd. 234 Ebd., S. 19. 235 Ebd., S. 18. 236 Ebd., S. 19. 237 Beispiele einer editionsunabhängigen Kommentierung im 19.  Jahrhundert sind u.a. Hein-



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von einigen Kommentarreihen und einer überschaubaren Anzahl von Einzelpublikationen findet ein Großteil literaturwissenschaftlicher Kommentierungsarbeit bis heute im Bereich der kritischen Textedition statt.238 Abschließend sei auf ein Kommentierungsprojekt verwiesen, das sich im Unterschied zum ›offenen‹ Kommentarbegriff, wie er insbesondere für die Literaturtheorie im Umfeld des Poststrukturalismus kennzeichnend ist, an ein Kommentarverständnis anlehnt, wie es Walter Benjamin in seinen ›Kommentaren zu Gedichten Brechts‹ (entstanden 1938/39) geprägt hat.239 Editionsunabhängig erschienen 1997 und 2005 zwei Kommentarbände zu den Gedichtbänden ›Die Niemandsrose‹ und ›Sprachgitter‹ von Paul Celan.240 Beide Publikationen gingen aus einem internationalen Arbeitskreis renommierter Wissenschaftler hervor, der sich zunächst seit 1989 auf mehreren Arbeitstreffen mit grundsätzlichen methodischen Problemen der Celan-Forschung und den Möglichkeiten einer kommentierenden Texterschließung auseinandersetzte, um dann ab 1990 unter der Leitung Jürgen Lehmanns mit der Erarbeitung von Einzelkommentaren zu den beiden erwähnten Zyklen zu beginnen.241 Zum Zweck der gemeinsamen Diskussion und Besprechung der entstehenden Kommentare fanden sich die beteiligten Wissenschaftler aus fünf Ländern (Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, USA) wiederholt in Erlangen ein. Im Vorwort des ersten Kommentarbandes ist die Entwicklung dieses Projekts dokumentiert, und im Vorwort des zweiten Bandes findet ergänzend die intensive Diskussion um verfahrenstechnische wie inhaltliche Fragestellungen ihren Niederschlag in einer umfassenden Darlegung

rich Düntzers ›Erläuterungen‹ u.a. zu Goethe und zur Sophienausgabe; Heinrich Düntzer: Erläuterungen zu den deutschen Classikern. Jena 1855 ff. Vgl. auch die separaten Kommentare zu den Gedichten Goethes von Heinrich Viehoff: Goethes Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt nebst Variantensammlung. Stuttgart 1846 ff. Vgl. hierzu Höpker-Herberg, Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil, S. 52. 238 Zu nennen währen die ›Reihe Hanser Literatur-Kommentare‹, Reclams ›Dokumente und Erläuterungen‹, oder Schöninghs ›Modellanalysen: Literatur‹. Vgl. Höpker-Herberg, Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil, S. 52 (Anm.  12). Aus dem Bereich der Bachmann-Forschung sei hier auf Frank Pilipps Kommentar zu Bachmanns Erzählband ›Das dreißigste Jahr‹ verwiesen. Frank Pilipp: Ingeborg Bachmanns »Das dreißigste Jahr«. Kritischer Kommentar und Deutung. Würzburg 2001. 239 Walter Benjamin: Kommentar zu Gedichten Brechts. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.2: Aufsätze, Essays Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 539– 572. 240 Jürgen Lehmann (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Heidelberg 1997. Jürgen Lehmann (Hrsg.): Kommentar zu Paul Celans »Sprachgitter«. Heidelberg 2005. 241 Vgl. im Folgenden das Vorwort von Jürgen Lehmann und Christine Ivanović. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 7–9, S. 8 f.

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der angewandten Kommentierungspraxis. Dabei wird als grundlegende Motivation die »Kommentierungsbedürftigkeit« der Literatur des 20.  Jahrhunderts und im Speziellen der Lyrik Celans hervorgehoben, die vielen als »hermetisch, schwer zugänglich und dunkel« erscheine.242 Diese Verstehensschwierigkeiten ergeben sich, so die Verfasser in Anlehnung an Benjamin, aus »tiefgreifende[n] historische[n] und gesellschaftliche[n] Umbrüche[n]«, die einerseits zu einer »Differenz zwischen Text und Rezipient« geführt haben, die andererseits aber auch die Texte selbst prägen, sowohl ihre Struktur als auch ihre inhaltliche Aussage.243 Den Kommentatoren gehe es daher nicht nur um die Vermittlung eines »kulturelle[n] Wissen[s]«, das dem heutigen Leser (womöglich) nicht mehr präsent ist, sondern um das Lesbar-Machen eines höchst beziehungsreichen »Sprachkosmos«, der alle Teile des Œuvres – Gedichtbände, Einzelgedichte, theoretische Schriften – aufs Engste miteinander verbindet und durch eine extreme Verdichtung von »existentieller Betroffenheit, Intensität, Sensibilität und sprachlicher Präzision« dem ›Unsagbaren‹ angesichts einer »Vernichtung[] von so riesigem Ausmaß« zu begegnen versucht.244 Dieser Anspruch bedinge ein Vorgehen, das sich von der »Kommentierungspraxis klassischer historisch-kritischer Editionen« unterscheide.245 In aller Deutlichkeit weisen die Herausgeber auf Deutungsanteile in ihrer Kommentierung hin: Diese erschöpften sich nicht nur im Angebot variierender Möglichkeiten der Texterschließung, vielmehr gehe es um eine bestimmte Perspektive, einen »interpretierenden Zugriff«, der die Untertei-

242 Vgl. im Folgenden das Vorwort von Jürgen Lehmann. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 9–13, S. 9 f. 243 Ebd. Die Argumentation, die auf die Katastrophe des Nationalsozialismus abzielt und daraus zwei Formen der Verständnisschwierigkeit gegenüber dem Werk Paul Celans ableitet, zeigt eine gewisse Affinität zu jener Zweiteilung, die Manfred Fuhrmann bereits in Bezug auf die »Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur« aufgestellt hat und deren Gültigkeit Günter Martens allgemein für literarische Texte postuliert. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung zwischen einer »primären Dunkelheit«, die in der konstitutiven Eigenart literarischer Texte, ihrer Poetizität liege und einer »sekundären Dunkelheit«, die der Dichtung nicht an sich eignet, sondern durch die »Vergilbung« im Laufe der Zeit eingetreten sei. Vgl. Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnung der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt a.M. 1985, S. 43 f. Vgl. auch Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung, S. 36–50. Zuletzt aufgegriffen und als wesentlich erachtet wurde diese Unterscheidung zwischen internen und externen Problemen beim Textverständnis von Marita Mathijsen. Vgl. Mathijsen: Die ›sieben Todsünden‹ des Kommentars, S. 246 f. 244 Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 10 f. Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 7. 245 Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 11.



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lung des Primärtextes in zu kommentierende Einheiten ebenso bestimme wie die Vermittlung und Erläuterung struktureller und thematischer Besonderheiten.246 Mit Blick auf die oben gezeigte theoretische Debatte wird ersichtlich, dass hier auf Kardinalprobleme der Institution Kommentar reagiert wird. Denn die Kontroverse um die Akzeptanz oder Ausgrenzung einer interpretierenden Auslegung berührt sowohl die grundlegende Frage nach der »Subjektivität« literaturwissenschaftlicher Kommentierung als auch die damit einhergehende Frage nach der autoritären Bevormundung des Lesers.247 Betrachtet man nun Aufbau und sprachliche Gestaltung der vorliegenden Kommentarbände unter diesen Gesichtspunkten, so erscheint zunächst als konstitutiv, dass jeder Einzelkommentar einem singulären Kommentatorsubjekt zugeordnet ist, dessen Zuständigkeit und Verantwortung im Vorwort explizit hervorgehoben wird.248 Ergänzend weist der Herausgeber jedoch auch darauf hin, dass die individuellen Texterläuterungen zugleich Ergebnisse eines gemeinsamen kontinuierlichen und kritischen Arbeitsprozesses sind, der u.a. in einer intensiven Vernetzung durch Binnenreferenzen seinen Niederschlag findet.249 Dieses Spannungsverhältnis zwischen individueller und gemeinsamer Leistung sei wesentlich für das Kommentierungsprojekt, das in seiner Gesamtheit ein »kollektives Wissen« präsentiere, das »von einem Einzelnen kaum hätte bewältigt werden können«.250 Als »Fundgrube von Kenntnissen und Erfahrungen«, als »Hilfestellung[]« und »Interpretationsangebot[]«, als »Vermittlung« und »Heranführung« umschreiben die Herausgeber die Kommentierungsarbeit in den Bänden – eine Terminologie, die darauf hindeutet, dass man sich der Gefahr einer normativen Steuerung des Textverständnisses durchaus bewusst ist.251

246 Ebd. 247 Zur Frage, »ob sich der Kommentar [...] der interpretatorischen Auslegung zu enthalten hat«, vgl. Lüdeke: Eintrag Kommentar, S. 3 f. 248 Vgl. Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 9. Vgl. ebenso Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 13. Im Unterschied dazu weist Hans Ulrich Gumbrecht darauf hin, dass »der Diskurs des Kommentars tendenziell anonym ist«, da Kommentare häufig »potentiell mehrere Verfasser« haben und im Umkreis einer »intellektuellen oder gar akademischen Schule« entstehen, sich daher auch in eine »schon vorher bestehende Tradition« einschreiben. Vgl. Gumbrecht: Die Macht der Philologie, S. 78 f. 249 Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 9. Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 13. 250 Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 9. Vgl. ebenso Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 13. 251 Ebd., S. 11. Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 8, 9.

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 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

Auch wenn im Vorwort die Problematik disziplinärer Auslegungsmacht im Rahmen eines institutionell organisierten Kommentierungsprojektes nur ansatzweise berührt wird, lassen die Kommentare in ihrer formalen wie sprachlichen Gestaltung eine Vielschichtigkeit und Offenheit erkennen, die die Primärtexte in ihrem Bedeutungsreichtum zu belassen bzw. den Kommentarbenutzer aktiv in den Prozess der Bedeutungskonstitution zu integrieren versuchen. So sind die Einzelanalysen von einer Kommentarsprache geprägt, die immer wieder auf eindeutige Identifikationsformeln oder Bedeutungszuweisungen verzichtet und stattdessen Möglichkeiten der Texterschließung formuliert (›dies legt nahe‹, ›es bliebe zu erwägen‹, ›bleibt nicht näher präzisierbar‹, ›dies lässt offen‹, ›Celans Gedicht scheint‹ etc.), die unmittelbar am Primärtext überprüft werden können. Indem weder nur kanonisiertes Wissen vermittelt noch ein abschließendes ›Begreifen‹ oder ›Ergreifen‹ suggeriert wird, vor allem aber weil über entstehungsund quellengeschichtliche Hintergrundinformationen hinaus auch kultur- und denkgeschichtliche Zusammenhänge dargeboten werden, nähert sich die Kommentarpraxis graduell ›offenen‹ Kommentarformen an.252 Um der kompositorischen Einheit der Gedichtbände Rechnung zu tragen, ist den Einzelkommentaren eine ›Einführung‹ vorangestellt, die als »Überblickskommentar« fungiert, also biographische und literaturgeschichtliche Hintergründe vermittelt, die Entstehungsgeschichte nachzeichnet und auf die poetische wie sprachliche Konzeption der Werke eingeht.253 Die Einzelkommentare selbst entsprechen in ihrer Anordnung dem Aufbau des Gedichtbandes und sind einheitlich strukturiert: Unter der Rubrik »Überlieferung« erscheinen Angaben zur Textgrundlage, zur Erstveröffentlichung des jeweiligen Gedichts und zu vorhandenen Textzeugen.254 Als eigentlicher Kern der Kommentierung folgen die »Erläuterungen« des Gedichttextes, die wiederum in einen Überblickskommentar »Zum Verständnis des Gedichts« und einen »Stellenkommentar« mit lemmatisierten Einzelerläuterungen unterteilt sind.255 Die Auftrennung des Textes in zu kommentierende Einheiten erfolgt entsprechend dem »interpretierenden Zugriff« und orientiert sich nur bedingt an syntaktischen oder metrischen Strukturen.256

252 Zur Differenzierung ›geschlossener‹ und ›offener‹ Kommentarformen vgl. Lüdeke: Eintrag Kommentar, S. 2 f. 253 Jürgen Lehmann, Christine Ivanović: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Niemandsrose«, S. 8. Vgl. ebenso die beiden Einführungen des Herausgebers ›»Gegenwort« und »Daseinsentwurf«. Paul Celans ›Die Niemandsrose‹‹ (ebd., S. 11–35) und ›»Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird«. Zu Paul Celans Gedichtband Sprachgitter‹ (Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 15–65). 254 Jürgen Lehmann: Vorwort. In: Celan-Kommentar »Sprachgitter«, S. 11. 255 Ebd. 256 Ebd.



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Konstitutiv ist das Prinzip der Vollständigkeit; das heißt, keine Stelle des Primärtextes bleibt unkommentiert. Zum Abschluss des Einzelkommentars werden »Materialien« referiert, die für die Kommentierung als bedeutsam erscheinen und Hinweise zu weiterführender Literatur gegeben.257 Am Schluss der Kommentarbände befindet sich ein bibliographischer Anhang, der in seinem ersten Teil den gesamten Gedichtband betreffende, im zweiten die die Einzelgedichte angehenden Publikationen enthält.258 Ungeachtet der Debatte um eine editionsgebundene oder separierte Kommentierung ist das Projekt der Celan-Kommentierung paradigmatisch für eine (Wieder-)Aufwertung, welche die Institution Kommentar in der neueren Literaturwissenschaft erfahren hat. Von der besonderen Aufmerksamkeit, die dieser Textsorte im wissenschaftlichen Diskurs zukommt, zeugen aktuelle Publikationen und Forschungsprojekte, die Erscheinungsformen, Möglichkeiten und Probleme moderner Kommentierung aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten. Neben einer umfassend konzipierten, im Aufbau begriffenen elektronischen Plattform, die eine disziplinenübergreifende Vernetzung und systematische Klärung textkritischer Begriffe, Konzepte und editorischer Strategien anstrebt, um die Integration von editionswissenschaftlichen Untersuchungsperspektiven in allgemeine Fragestellungen der Geistes-/Kulturwissenschaften zu ermöglichen, sei hier u.a. auf eine Studie zu Machtstrukturen der Philologie hingewiesen, in der die Rolle des Kommentars ausführlich beleuchtet wird, sowie auf eine Sammelpublikation, die Regeln der Bedeutungskonstitution in unterschiedlichen Textsorten untersucht und dabei auch auf den Kommentar eingeht.259 Vor dem Hintergrund dieser ansatzweise referierten Debatte um die Institution Kommentar versteht sich auch die vorliegende Arbeit nicht ausschließlich als wissenschaftliche Publikation im Rahmen der Ingeborg-Bachmann-Forschung, sondern gleichfalls als Diskussionsbeitrag zu einer bedeutsamen Textsorte der Literaturwissenschaft, die sich in ihrer Funktions- und Formenvielfalt bis heute einer umfassenden Systematisierung oder Standardisierung entzogen hat. Ohne Anspruch auf eine Klärung der erheblichen Differenzen, die in den letzten Jahrzehnten die interdisziplinäre Auseinandersetzung bestimmt haben, ist es das

257 Ebd. 258 Ebd., S. 12. 259 Vgl. Anne Bohnenkamp, Hans Walter Gabler (Hrsg.): Kompendium der Editionswissenschaften. Ein Handbuch zur historischen und systematischen Erschließung eines interdisziplinären Gegenstandes. Web-Adresse: http://www.edkomp.uni-muenchen.de; Zugriff: 21. 10. 2012. Vgl. Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer u.a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. In: Revisionen 1. Grundbegriffe der Literaturtheorie. Hrsg. von Fotis Jannidis u.a. Berlin, New York 2003.

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Anliegen dieser Arbeit, ein Kommentierungsverfahren in die Praxis umzusetzen, das den methodischen Ansprüchen wissenschaftlicher Texterschließung Rechnung trägt, ohne den vielfältigen Problembereichen und Fragestellungen dieser Textsorte auszuweichen. Daher gilt es zunächst, noch vor der Darlegung formaler Kriterien, die Motivation bzw. Notwendigkeit des vorliegenden Kommentars zu Bachmanns Prosatext ›Ein Ort für Zufälle‹ zu bestimmen. Als eine der zentralsten und ältesten Funktionsbestimmungen der Kommentierung von Texten gilt das Bedürfnis, bestimmte Verstehensschwierigkeiten zu überwinden, die aus historischen wie kulturellen Asymmetrien zwischen dem Entstehungs- und dem Rezeptionskontext eines Werkes resultieren.260 Diese Aufgabe umfasst einzelne Wörter und Phrasen, Namen und Daten, Anspielungen und Zitate, die den Zeitgenossen eines Autors geläufig waren, aufgrund von sprachlichen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen heutigen Lesern (oder Rezipienten aus anderen Kulturkreisen) jedoch nur mehr bedingt verständlich sind. Sie umfasst darüber hinaus biographisch-historische und werkgenetische Kontexte. Denn, wie Karl Lachmann es 1843 formulierte, »die gesamte dichterische und menschliche Gestalt des Dichters mit seiner gesamten Umgebung sich in allen Zügen genau vorzustellen, ist die Vollendung des wahren Verstehens, ist das Ziel der philologischen Auffassung.«261 Eine strikte Übernahme dieser Funktionsbestimmungen klassischer Texterläuterung erweist sich jedoch im vorliegenden Fall als fragwürdig, da insbesondere auf der Ebene der Lexik des hier zu kommentierenden Primärtextes kaum größere Verstehensschwierigkeiten beim heutigen Leser zu erwarten sind. Mit Ausnahme von einigen Fachtermini (»vorvertraglich«) oder Begriffen, deren geläufige Denotation gezielt unterwandert wird (»Zufälle«), bewegt sich ›Ein Ort für Zufälle‹ vorrangig im Rahmen von dem heutigen Leser nach wie vor verständlichen alltagssprachlichen Konventionen. Wie die Rezeptionsgeschichte gezeigt hat, ist die Unzugänglichkeit und Rätselhaftigkeit des Textes vorrangig nicht auf die Verwendung einer (inzwischen) veralteten, ungebräuchlichen Sprache bzw. auf eine soziolinguistische Distanz zurückzuführen, sondern Ergebnis einer spezifischen Darstellungsweise, die gerade auch bei zeitgenössischen Rezipienten zu Irritationen und Unverständnis geführt hat. Diese »primäre Dunkelheit« (Manfred Fuhrmann), die sich bestimmten sprachbildlichen und stilistischen Verfahren verdankt, soll als genuine Ausdrucksgeste des Textes berücksichtigt und daher keinesfalls durch vereindeutigendes Erklären aufgehoben werden. Ziel ist es vielmehr, Kommentarbenutzern

260 Vgl. Gumbrecht: Die Macht der Philologie, S. 69 f. 261 Zitiert nach: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß. Bd. 1. Berlin, Bielefeld 1952, S. 168.



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die strukturelle und semantische Vielschichtigkeit nahezubringen, um Raum für geleitete Spekulation und eigenes Interpretieren zu geben. Eine solche Aufgabe lässt sich jedoch nicht allein durch die Darlegung textimmanenter Bezüge bewältigen. Denn ›Ein Ort für Zufälle‹ ist, wie die Schriftstellerin selbst im Vorwort der Büchner-Preis-Rede sowie in Interviews geäußert hat, Reaktion auf eine ganz bestimmte Wirklichkeit an einem Ort, der im Zentrum politischer, gesellschaftlicher und historischer Konfliktfelder steht, und in einer Epoche, die über diesen intersubjektiven Ereignishorizont hinaus auch von einer existentiellen persönlichen Krise geprägt wird.262 Die konkrete zeit- und lebensgeschichtliche Verortung des Textes, die sich sowohl in seiner Struktur als auch in seiner inhaltlichen Aussage manifestiert, lässt ›Ein Ort für Zufälle‹ aus heutiger Sicht kommentierungswürdig erscheinen. Waren den Zeitgenossen die gesellschaftspolitischen Implikationen trotz aller Rätselhaftigkeit des Textes durchaus bewusst, so verlieren die subtilen und zugleich eminent provokanten Anspielungen auf aktuelle Ereignisse oder öffentliche Debatten 20  Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Teilung mehr und mehr an Präsenz im öffentlichen Bewusstsein. Erst eine umfassende zeit- und mentalitätsgeschichtliche Rekontextualisierung anhand von Zeitungen und Rundfunkübertragungen, Archivdokumenten und Chroniken, historischen Studien und anderen zeitgenössischen Texten ermöglicht es daher, die Engagiertheit dieses Werkes und damit auch seine Poetizität zu erfassen.263 Wie in kaum einer anderen Schaffensperiode der Schriftstellerin sind Anfang der 1960er Jahre gesellschaftspolitische Fragestellungen zudem aufs Engste verbunden mit sprach- und dichtungstheoretischen Überlegungen. Neben den ›Frankfurter Vorlesungen‹ und einigen wenigen veröffentlichten Gedichten künden hiervon vor allem zahlreiche lyrische und essayistische Entwürfe, Textzeugen aus dem Bereich der ›Todesarten‹-Romane und in besonderer Weise auch die Vorstufen zur Büchner-Preis-Rede. Diese entstehungsgeschichtliche Situ-

262 Vgl. dazu das überarbeitete Vorwort der Büchner-Preis-Rede, das sich im Anhang der Buchpublikation des Klaus-Wagenbach-Verlags befindet. (OfZ 69–70) Vgl. auch das Interview mit Alois Rummel vom 25. November 1964: Ingeborg Bachmann – Ein Dichterportrait. Abgedruckt in GuI, S. 47–50, S. 49. 263 Die Materialien, auf denen die Rekontextualisierung basiert, sind nicht als Quellen im engeren Sinn aufzufassen. Auch wenn sich die Verwendung bestimmter Zeitungsartikel, Nachrichtensendungen oder anderer zeitgeschichtlicher Dokumente durch Ingeborg Bachmann nicht belegen lässt, spiegeln diese doch ein gesellschaftliches Denken, Fühlen und Wissen wider, das der Schriftstellerin im Umkreis der Entstehung des Werkes präsent war. Dass es sich dabei um eine subjektive Auswahl, Verengung und Wertzuschreibung aus einem nahezu unüberschaubaren Fundus an Zeugnissen handelt, also um eine Rekonstruktion von Vergangenheit, sei hier nochmals explizit erwähnt.

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 Rezeptionsgeschichte, Forschungsüberblick und Methode

ierung von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Spannungsfeld eines poetischen Neuansatzes der Schriftstellerin wurde zwar von der jüngeren Forschung mehr und mehr fokussiert, doch kann die Auseinandersetzung mit der daraus hervorgehenden stilistischen wie thematischen Komplexität des Textes keinesfalls als abgeschlossen gelten. Ziel des vorliegenden Kommentars ist es daher nicht nur, bereits erarbeitetes Wissen zu referieren, sondern durch die umfassende Vermittlung literarischer und kultureller Kontexte, biographischer und historischer Voraussetzungen sowie poetischer Verfahren und formaler Eigentümlichkeiten neue Impulse und Perspektiven des Verstehens zu geben.264 Dieses Anliegen bedingt eine Kommentierungsmethode, die unterschiedliche Möglichkeiten der Texterschließung und Bedeutungskonstitution, bisweilen auch Interpretationsangebote präsentiert, ohne dabei die vermittelnde Rolle des Kommentators zu verbergen. Auch wenn die Kommentaraussage eine möglichst präzise Kontextualisierung anstrebt und auf dem aktuellen Stand der Forschung, wie er im obigen Forschungsüberblick nachgezeichnet wurde, gründet, bleibt die Auswahl der präsentierten Materialien sowie die Vermittlung und Bewertung ihrer Textrelevanz gleichwohl das Ergebnis einer durch Zeitumstände, Bildung und Ausbildung bedingten subjektiven Perspektive, die keinen Anspruch auf ein endgültiges Wissen erhebt. Sie repräsentiert alles vom Kommentierenden hinsichtlich der (ihm) problematischen Stellen des Primärtextes Gesammelte und ist daher weder abschließend gedacht noch unanfechtbar.265 Dies Verständnis bestimmt auch die sprachliche Konturierung der Kommentaraussagen. Der Darlegung möglicher Bedeutungszuordnungen, unterschiedlicher Sichtweisen und Lesarten entspricht ein sprachlicher Gestus, der nicht autoritär vorschreiben will, wie eine ›dunkle‹ oder auch mehrdeutige Textstelle zu verstehen ist, sondern der die Position des Kommentators durch ein System der Modalisierung sichtbar werden und den Leser im Rahmen einer Nebenordnung am Verstehensprozess teilhaben lässt.266

264 Das damit einhergehende Anliegen, kulturwissenschaftliche Perspektiven mit bestehenden methodologischen Verfahren der Philologie zu verbinden, gründet auf der aktuellen Forderung nach einer »literaturwissenschaftlichen Kulturwissenschaft, die das Profil der Disziplinen berücksichtigt und die ausdifferenzierten Lektürepraktiken nicht verspielt.« Franziska Schößler: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Tübingen 2006, S. VII. 265 Der Kommentar schreibt sich daher auch keinem spezifischen Leserkreis zu. Die Erläuterungsrelevanz ergibt sich nicht aus der kaum zu beantwortenden Frage, über welchen Wissenshorizont Kommentarbenutzer verfügen mögen oder sollten, sondern aus den vielfältigen Verständnisschwierigkeiten und Problemen, die dem Kommentierenden selbst im Laufe seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Text begegnet sind. Er projiziert sich somit selbst in die Rolle des primären Kommentarbenutzers und hofft dadurch, in einen Dialog mit anderen Lesern zu treten. 266 Zu den Forderungen nach einer Kommentarsprache, die auf eindeutige Identifikationsfor-



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Formal lehnt sich die vorliegende Kommentierungspraxis eng an den Aufbau des Primärtextes an. Das heißt, entsprechend der graphisch hervorgehobenen Gliederung von ›Ein Ort für Zufälle‹ in 26  Erzählsequenzen ist jedem Textabschnitt ein Kommentarteil zugeordnet, dessen Binnenstruktur jeweils aus einem »Überblickskommentar«, einem »Stellenkommentar« sowie »Wort- und Sacherläuterungen« besteht. Der Überblickskommentar liefert Informationen bezüglich der »Textgenese«, das heißt alle überlieferten Vorstufen und Entwürfe zu einem Abschnitt werden nach ihrer Signatur in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek bzw. des Wagenbach-Verlagsarchivs zitiert. Zugleich werden Hinweise auf wichtige strukturelle oder inhaltliche Verschiebungen im Verlauf der Textgenese gegeben, die für das Verständnis des Abschnitts relevant erscheinen. Ein zweiter Teil des Überblickskommentars zur »Struktur und Semantik« vermittelt die wesentlichen stilistischen und thematischen Konturen des Abschnitts, verortet diesen im Gesamttext, deutet auf Parallelstellen im Werk der Autorin sowie auf intertextuelle Bezüge hin und geht auf zeitgeschichtliche, biographische oder andere zentrale Kontexte ein. Im Stellenkommentar finden sich Einzelerläuterungen, die in Art und Umfang variieren und, wie dargelegt, vom ›interpretierenden‹ Zugriff des Kommentators bestimmt werden. Die Unterteilung des Textes in zu kommentierende Einheiten ist dem Prinzip der Vollständigkeit verpflichtet, so dass diese Einheiten insgesamt den vollständigen Text ergeben. Die einzelnen Stellenkommentare umfassen sprachpragmatische, stilistische und thematische Besonderheiten, geben aber auch, wenn es dem Verstehen dienlich ist, Querverweise zu anderen Stellenoder Überblickskommentaren. Mit der häufigen, keinesfalls jedoch zwangsläufigen Orientierung der Segmentierung des Textes an syntaktischen Gegebenheiten wird auf den Umstand reagiert, dass die Struktur der Sprache selbst als höchst kommentierungswürdig aufgefasst wird. Im Satzbau wie in der Grammatik manifestiert sich eine extreme Gespanntheit des Textes zwischen Dynamik und Statik, Ordnung und Chaos, die aufs Engste mit dem semantischen Gehalt korrespondiert. Durch seine intermittierende Rhythmik und ein enges Anschmiegen an den Primärtext versucht der Stellenkommentar sich dem Einzelnen und Besonderen,

meln und Bedeutungszuweisungen verzichtet, vgl. Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung, S. 43–50. Vgl. Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 73: »Jedes lehrhafte Erklären und dogmatische Fixieren würde dagegen den Tod des Kommentars bedeuten [...].« Vgl. Reuß: Vom letzten zum vorletzten Wort, S. 9f: »Soll der Kommentar der Forschung helfen, dann kann er aus diesem Wissen heraus gar nicht wollen, sein aktuelles Wissen sprachlich so festzuschreiben, daß die Widerreden und der Forschungsprozeß mit ihm zu einem Ende kommen [...].«

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dem Bruchstückhaften und Disparaten anzunähern, aus dem die ästhetische Konfiguration des Gesamtwerkes sowie die geistig-anschauliche Welt, von der es zeugt, hervorgeht.267 Vorbildhaft mag in diesem Sinne Benjamins Kommentarpraxis sein, die, wie Manfred Geier im Hinblick auf dessen Hölderlin- bzw. Brecht-Kommentare konstatiert, den Strukturen des Originals »so dicht wie möglich folgt«, um der »synthetischen Einheit« ebenso gerecht zu werden wie den »Details des gedichteten Mosaiks«.268 Den Abschluss eines jeden Kommentarteils bilden »Wort- und Sacherläuterungen«, die aufgrund der spezifischen Verortung des Textes in der geteilten Stadt Berlin gegen Mitte der 1960er Jahre vorrangig Angaben zur Geschichte, Bedeutung und Lage bestimmter namentlich erwähnter Stadtteile, Gegenden, Plätze, Gebäude oder Monumente darstellen. Da sich die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Orte, bedingt vor allem durch das epochale Ereignis der Wiedervereinigung und die damit verbundenen Um- bzw. Neugestaltungen der Stadt Berlin auf vielfache Weise verändert hat, ist es ein Anliegen, ihre Geschichte, symbolische Aufladung und Funktion entsprechend dem Entstehungszeitraum von ›Ein Ort für Zufälle‹ zu präsentieren. Die Subsumierung dieser Erläuterungen unter eine eigene Rubrik folgt pragmatischen Überlegungen: Der überwiegend sachbezogene Informationsgehalt würde andernfalls die unmittelbar textbezogene Kommentierung unnötig unterbrechen und unübersichtlich machen. Um kommentarübergreifend Redundanzen zu minimieren, aber auch um eine zu starke Atomisierung des Gesamttextes zu verhindern, werden die einzelnen Kommentarteile systematisch in arabischen Ziffern von 1 bis 26 durchnummeriert.269 Bei einem Werk, das keine progressive Erzählfolge oder Handlung erkennen lässt und dessen Kohärenz sich vorrangig einer Vielzahl an wiederkehrenden sprachlichen Strukturen verdankt, die zwischen den Abschnitten ein dichtes Geflecht von Querverbindungen jenseits logisch-pragmatischer Relationen etablieren, erweist sich dies als besonders hilfreich. Indem sich so gezielte und für den Leser leicht nachvollziehbare Verweise auf vorherige oder nachfol-

267 Vgl. den Paragraph 7: »Mimetischer Kommentar«. In: Manfred Geier: Methoden der Sprachund Literaturwissenschaft. Darstellung und Kritik. München 1983, S. 158–172, S. 159, 160 f. 268 Ebd., S. 159, 162 f. Zum Terminus »synthetische Einheit« vgl. Walter Benjamin: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd.  II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 2. Aufl. 1989, S. 105–126, S. 108. 269 Um eine Koinzidenz von Abschnitts- und Kommentarnummerierung zu gewährleisten, werden das der Buchedition vorangestellte Motto und der Titel nicht in das Nummerierungssystem mit einbezogen. Die Erläuterung dieser Textpartien unterscheidet sich darüber hinaus auch formal vom üblichen Schema der Überblicks- und Stellenkommentierung.



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gende Text- bzw. Kommentarstellen machen lassen, können Bedeutungshorizonte aufgezeigt werden, die gerade nicht an einem einzelnen Wort oder Satz festzumachen sind.270 Zudem ermöglicht dieses Verfahren eine Kommentarbenutzung, die nicht zwangsläufig von Anfang bis Ende voranschreitet, sondern von gezielt aufgesuchten Kommentarstellen zu anderen, in diesem Zusammenhang relevanten Texterläuterungen weitergeleitet wird. Dem abschnittsgebundenen Kommentarteil ist zudem eine ›Einführung‹ vorangestellt, die als Überblickskommentar zum gesamten Text konzipiert ist. Sie beinhaltet eine Darlegung der Textgenese und gibt darüber hinaus einen Überblick über biographische, zeit- und literaturgeschichtliche Kontexte. Ein Schwerpunkt liegt zudem auf der Komposition von ›Ein Ort für Zufälle‹, wozu spezifische Bau- und Gliederungsprinzipien, narrative, stilistische und sprachliche Verfahren, aber auch signifikante graphische Gestaltungsmerkmale des Textes gehören. Dem Zusammenspiel von Text- und Bildelementen in der Wagenbach-Edition, der 13 Zeichnungen von Günter Grass beigefügt sind, ist daher ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet, das durch einen Bildanhang am Ende der Arbeit ergänzt wird. Darin abgebildet sind neben diesen erwähnten Zeichnungen auch solche, die im Zusammenhang mit anderen Werken von Grass – etwa ›Die Vorzüge der Windhühner‹ (1956) und ›Gleisdreieck‹ (1960) – entstanden sind und bedeutsame motivische oder thematische Korrespondenzen zu erkennen geben. Den Schluss der Einführung bilden Erläuterungen zu thematischen Schwerpunkten, die aufgrund ihrer das gesamte Werk umfassenden Valenz die Möglichkeiten einer unmittelbar textbezogenen Kommentierung überschreiten. Grundlagen der Kommentierung waren das in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB-HANNA) sowie im Archiv des Wagenbach-Verlags befindliche Manuskriptkonvolut zu ›Ein Ort für Zufälle‹, die vierbändige Werk-Ausgabe des Piper-Verlags (1978), die kritische Edition ›»Todesarten«-Projekt‹ und die Erstausgabe der Buchedition in der Reihe ›Quarthefte‹ des Wagenbach-Verlags. Dem Kommentator lagen alle zugänglichen Dokumente der Textentstehung vor; diese reichen von ersten maschinenschriftlichen Entwürfen bis zu korrigierten Druckfahnen, umfassen aber auch überlie-

270 Das Nummerierungssystem versucht der Forderung Ulfert Ricklefs’ nachzukommen, dass innerhalb des Ganzen eines Kommentars »ein Geflecht von korrespondierenden und korrelativen Aussagen und von Wechselbeziehungen zwischen Exposition und Einzelaussage, zwischen den summierenden und den punktuell argumentierenden Partien des Kommentars« herzustellen ist; Ricklefs: Zur Erkenntnisfunktion des literaturwissenschaftlichen Kommentars, S. 73. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und einfachen Kommentarbenutzung werden im Weiteren zur Bezeichnung der Abschnitte 1 bis 26 ausschließlich arabische Zahlen durch Ziffern wiedergegeben. Damit wird von der üblichen Praxis, Zahlen von ›eins‹ bis ›zwölf‹ auszuschreiben, abgesehen.

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ferte Korrespondenzen der Schriftstellerin mit dem Wagenbach-Verlag. Obwohl die Einführung und die einzelnen Kommentarteile wichtige Informationen zur Textgenese vermitteln, soll die ausführliche Beschreibung der Textzeugen in der historisch-kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ keinesfalls ersetzt werden. Ziel des Kommentars ist nicht die editorische Darlegung der Textkonstitution, sondern die Erläuterung konzeptioneller wie thematischer Entwicklungen und Brüche, die für das Verständnis der Endfassung relevant sind. Primäre Vorlage der editionsunabhängig konzipierten Kommentierung und Bezugstext der vorgenommenen Segmentierung ist die erweiterte Buchedition von ›Ein Ort für Zufälle‹ in der Reihe ›Quarthefte‹ des Wagenbach-Verlags, der Ausgabe ›letzter Hand‹. Dem eigentlichen Kommentar nachgestellt sind »Anmerkungen und Materialien«, die für die Kommentierung unabdingbar erscheinen. Diese beinhalten Angaben zur verwendeten Sekundärliteratur, zu historischen Studien, Quellen und anderen wichtigen Dokumenten.

III. Einführung A. Historischer Kontext 1. Entstehung Die Textgenese von ›Ein Ort für Zufälle‹ setzt unmittelbar nach der Rückkehr Ingeborg Bachmanns von einer sechswöchigen Reise durch Ägypten und den Sudan am 11. Juni 1964 ein und endet mit der Drucklegung der Erstausgabe, die im März 1965 als ›Quartheft‹ bei Wagenbach erscheint. Da der Text ursprünglich unter dem Titel ›Deutsche Zufälle‹ als Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises konzipiert worden ist, fällt ein Großteil der Arbeit in den Zeitraum vor dem Festakt der Preisverleihung am 17. Oktober 1964. Danach beginnt eine abschließende Bearbeitungsphase, in der Bachmann über kleinere syntaktische und semantische Korrekturen hinaus den Titel verändert, dem aus 21 Abschnitten bestehenden Redetext vier neue Segmente hinzufügt und einen bereits bestehenden Abschnitt in zwei selbständige Einheiten unterteilt. Neben konzeptionellen und inhaltlichen Überlegungen wird die Genese somit zunächst auch durch Faktoren bestimmt, die sich dem äußeren Anlass – der Preisverleihung – verdanken. So steht der Autorin für die Erstellung des Redetextes nur der begrenzte Zeitraum von der Bekanntgabe bis zum Tag der Preisvergabe zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es gewisse »zur Tradition gewordene Voraussetzungen« der Dankesrede, die der damalige Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hans  W. Eppelsheimer, Ingeborg Bachmann in einem Brief vom 29. Mai 1964 zusammen mit der Benachrichtigung über die Zuerkennung des Preises übermittelt.1 Zu diesen gehören u.a. eine zeitliche Limitierung der Ansprache auf eine Dauer von 20 bis 30  Minuten sowie Anregungen zum Sujet des Textes, der entweder von der Autorin »oder von Büchner oder von beiden« handeln sollte.2 Aufgrund des durch den Festakt vorgegebenen kommunikativen Rahmens ist die Entstehungsgeschichte zunächst auch von einem experimentellen Umgang mit unterschiedlichen Formen des Dialogs mit dem Publikum geprägt, sei es als unmittelbare Ansprache (»Glauben Sie mir«; »erlauben Sie mir«; »haben Sie und ich«) oder als pronominale Einbeziehung (»wir haben«; »wir werden«; »für uns«). (KA I 171–179) Vor allem die frühen Entwürfe besitzen einen dezidiert diskursiven Akzent, der durch redetypische Stil-

1 Textkritischer Kommentar. In: KA I 549. 2 Ebd.

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mittel des Argumentierens und Überzeugens geprägt ist. Während die weitere Textgenese signifikante konzeptionelle Veränderungen aufweist, die letztlich zu der Unterteilung der Rede in eine Danksagung, eine kurze diskursive Einleitung und einen rein deskriptiven Prosatext führen, ist die Entstehung der nach dem Festakt geschriebenen Abschnitte offensichtlich nicht mehr von den spezifischen Vorgaben eines publikumsbezogenen Vortrags geleitet. Wichtig für die Genese von ›Ein Ort für Zufälle‹ ist der Aspekt, dass Ingeborg Bachmann nach ihrer Rückkehr aus Ägypten nicht ausschließlich an der Rede arbeitet, sondern parallel dazu an ersten Entwürfen zu einer literarischen Verarbeitung der Erlebnisse ihrer Nordafrika-Reise sowie an dem ersten ›Todesarten‹Roman.3 Darüber hinaus enthält der Nachlassband ›Ich weiß keine bessere Welt‹ zahlreiche zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Gedichtentwürfe, die aufgrund ihres motivischen und thematischen Gehalts eng mit der BüchnerPreis-Rede sowie mit den 1968 in der Zeitschrift ›Kursbuch‹ erschienenen letzten Gedichten verbunden sind.4 Das zeitnahe Arbeiten der Autorin an verschiedenen Texten und Textgattungen ist deshalb bedeutsam, weil die als eigenständig geplanten Werke nicht unabhängig voneinander entstehen, sondern sich auf thematischer wie ästhetischer Ebene in einem Prozess gegenseitiger Beeinflussung befinden: So verfolgt Bachmann vorübergehend den Plan, am Tag der Preisverleihung aus einem Werkvorhaben vorzutragen, das den Titel ›Wüstenbuch‹ erhalten sollte, entscheidet sich dann jedoch dazu, einzelne Berlin-bezogene Passagen und Motive aus diesem Kontext herauszulösen, um daraus einen unabhängigen Redetext zu entwickeln. Der Versuch einer exakten Nachvollziehung und Gliederung des Entstehungsverlaufes von ›Ein Ort für Zufälle‹ ist nicht unproblematisch, da die Vollständigkeit der überlieferten Entwürfe nicht zu belegen ist und die Textzeugen keinerlei Datierungen enthalten. Aufgrund kodikologischer Indizien und deutlicher konzeptioneller Brüche ist das Vorstufen-Konvolut von ›Ein Ort für Zufälle‹ von den Herausgebern der kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ jedoch in vier Arbeitsphasen unterteilt worden. Sie umfassen frühe Entwürfe zu einem Redetext im Hinblick auf die Preis-Verleihung, die an Büchners Werk anzuknüpfen versuchen und zeitgleich zu den ersten Ansätzen einer Verarbeitung der Nordafrika-Reise entstehen (1.  Phase), einen Konzeptionswandel im Hinblick auf den Plan aus einem Werkvorhaben vorzulesen, das als dialektische Bewe-

3 Vgl. ebd., S. 550. 4 Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. Hrsg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser. München, Zürich 2000; dies.: Vier Gedichte. In: Kursbuch 15 (1968), S. 91–95.



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gung zwischen zwei Orten (Berlin und Wüste) gestaltet ist, sowie die Entstehung weiterer Berlin-Passagen (2.  Phase), eine Ausgrenzung der Berlin-bezogenen Textsegmente aus diesem Konzept (3. Phase) und schließlich nach dem Tag der Preis-Verleihung die Überarbeitung der Rede für die im März 1965 erscheinende Buchfassung im Wagenbach-Verlag (4. Phase).5 Die frühen Entwürfe zur Büchner-Preis-Rede, von denen nur einer eine Überschrift (›Köpfe und Kopfpreise‹) trägt, sind zunächst geprägt von dem Bemühen, einen »Zusammenhang zwischen Büchners Werk in seiner Zeit und der eigenen schriftstellerischen Situation zu Beginn der sechziger Jahre herzustellen«.6 Auch wenn Büchners Erzählung ›Lenz‹ von Beginn an einen wichtigen Anknüpfungspunkt für Bachmanns poetologische Überlegungen darstellt, sind die Textzeugen nicht ausschließlich auf ein bestimmtes Werk Büchners fokussiert; vielmehr versucht Bachmann, auf eine die Zeitgebundenheit überwindende Aktualität der Büchner’schen »Wortwelt« aufmerksam zu machen (ÖNB: K 4511, N 733; KA I 171). So versteht sie die sozialen, psychischen und geistigen Formen der Gewalt, die Büchner in seinen Werken zum Ausdruck bringt, als Signaturen einer festen gesellschaftlichen Größe, die nicht an einen bestimmten historischen Augenblick gebunden ist, sondern durch alle Zeiten hindurch bis in die eigene Gegenwart besteht. Unter Bezugnahme auf den bekannten Topos der Welt als Theater und durch die Transformation zeitlicher in räumliche Relationen entwirft Bachmann ein Bild der Geschichte, das, in Affinität zu Karl Kraus und Robert Musil, die den Krieg nicht als exogene Gewalt, sondern als Explosion des Friedens verstehen,7 die Chronologie der Ereignisse, den Wechsel zwischen Krieg und Frieden, als Täuschung versteht: eine verflunkerte Welt, was gestern Hessen war, ist heute Südafrika, auf der Drehscheibe der Bühne, uns immer nur ein Ausschnitt sichtbar, aber wir wissen doch vom ganzen, ein Biedermeierzimmer, die Bühnenarbeiter beschäftigt mit dem Umbau, Raketenbasen und Folterkammern vorbereitet für einen neuen Akt. (ÖNB: K 4511, N 733; KA I 171)

In Korrelation zu ihrem Verständnis von Gewalt und Verbrechen als einer Konstante gesellschaftlicher Organisation kreisen die frühen Entwürfe auch verstärkt um die Themen Krankheit und Wahnsinn, wobei diese Zustände nicht als Ausdrucksformen einer psychischen Disposition, sondern als folgerichtige Reaktio-

5 Vgl. Textkritischer Kommentar. In: KA I 550 f. 6 Ebd., S. 553. 7 Vgl. Barbara Agnese: Der Engel der Literatur. Zum philosophischen Vermächtnis Ingeborg Bachmanns. Wien 1996, S. 40.

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nen auf eine krankmachende Gesellschaft aufgefasst werden.8 Explizit das Bild der ›Wanderschaft‹ aus Büchners Erzählung ›Lenz‹ aufnehmend, erkennt die Autorin in der Krankheit ein Phänomen, das weder an bestimmte historische Augenblicke noch an einzelne Individuen gebunden ist, sondern ein die Weltgeschichte durchdringendes Erscheinungsbild menschlicher »Niederlage[n] vor der Realität« darstellt: »Die Krankheit ist in der Zeit, sie ist mit dem Lenz, dem wandernden, dem dahinlebenden, auch nicht erst in die Welt gekommen, und sie wird zuendegewandert in unseren Krankenhäusern, auf unsren Konferenzen, wenn die im Rechten Denkenden sich ans Herz und an den Kopf greifen.« (ÖNB: K 4513, N 2025; KA I 175) Die Symptome dieser zeitimmanenten, sozial bedingten Krankheit – der für die Poetik der ›Todesarten‹ so zentrale Begriff der »Zeitkrankheit« erhält hier in den frühen Entwürfen zur Büchner-Preis-Rede seine erste explizite Darlegung – sind für Bachmann daher auch in der eigenen Lebenswelt erfahrbar als Konsequenz einer unerträglichen Wirklichkeit. Verzweiflung, Sucht und Wahnsinn sind aus ihrer Perspektive keine individuellen Fehlleistungen, sondern Ausdruck einer erhalten gebliebenen Sensibilität für die in der Gesellschaft inhärenten und daher alltäglich gewordenen Formen der Gewalt. Diese Auffassung untergräbt auch die geläufige Dichotomie von Krankheit und Gesundheit: Beide Zustände werden nicht mehr als gegensätzliche Kategorien, sondern als variierende Krankheitsbilder einer Krankheit erzeugenden Welt aufgefasst. Der Unterschied liegt in ihrer äußeren Erscheinung, welche entweder ein Spiegelbild der in der Gesellschaft wirksamen Gewalt oder Ausdruck von praktizierter Verdrängung und Verschleierung ist. Hinter der Normalität suggerierenden Fassade der westlichen Nachkriegsgesellschaft zittere alles insgeheim »von ungeheuren Erregungen« und »Leidenschaften«, die wie Naturgewalten (»Hurrikane« und »Erdbeben«) zunächst im Verborgenen entstehen (ÖNB: K 7975, N 732; KA I 176). Auf der Grundlage dieser Gesellschaftsdiagnose erfolgt insbesondere in den frühen Entwürfen eine intensive Auseinandersetzung mit poetologischen Fragestellungen, die später in verdichteter Form in das Vorwort der Büchner-PreisRede eingehen. So kritisiert Bachmann u.a. ein Kunstverständnis, das in den der Sprache inhärenten Techniken und Mitteln selbst das Eigentliche der Kunst zu erkennen glaubt oder sich in der Reproduktion bereits vorgefundener Wirklich-

8 In der Exogenität krankmachender Ursachen erkennt Kurt Bartsch einen Berührungspunkt zwischen Bachmanns Preis-Rede und Büchners Erzählung ›Lenz‹: »Die beiden Texte konvergieren insofern, als sie die Ursache für die Wahnsinnsanfälle nicht in endogenen, sondern in exogenen Faktoren festmachen, wobei den bedrohlichen Naturerscheinungen in Büchners Erzählung die feindliche Großstadtumwelt im Bachmann-Text entspricht.« Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 82.



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keitsbestimmungen erschöpft. Solchen stilistischen Experimenten stellt sie eine Poetik entgegen, deren Impuls nicht nur von Prätexten ausgehen darf, sondern Ausdruck einer Konfrontation mit der eigenen existentiellen Wirklichkeit ist: »Es gibt keine andre Kategorie« als ein Schreiben »mit einem Druck von Erfahrung hinter sich, mit Wut und Tränen, mit Rachsucht, mit Nievergessen, erniedrigt und beleidigt« (ÖNB: K7975, N 732; KAI 177). Hierin greift Bachmann auf die poetischen Überlegungen ihrer Frankfurter Vorlesungen (insbesondere der zweiten ›Über Gedichte‹) zurück, die um eine »neue Fassungskraft« in der lyrischen Sprache kreisen (KS 271 f.). Ausgehend von einer Absage an eine rein ästhetizistische Kunstauffassung – die »reinen Kunsthimmel« des George-Kreises erscheinen ihr ebenso problematisch wie die »Schönheitsproklamationen der Futuristen« (KS 275, 276) –, spricht sie sich für eine Dichtkunst aus, die sich angesichts der Katastrophe des Nationalsozialismus‚ vom Leiden herschreiben und die Lesenden verstören müsse.9 Im Unterschied zum Selbstverständnis, das Bachmann hier jedoch noch in Bezug auf die Fähigkeit der poetischen Sprache formuliert, nämlich der inwendigen Bedrängnis mit einer »neuen Gangart« (KS 262 f.) begegnen zu können, charakterisiert die frühen Entwürfe der Büchner-Preis-Rede eine deutlich zurückgenommenere Haltung gegenüber einem solchen »Fassungsvermögen« (KS 285) der Dichtkunst. So erlangen die bereits in den Vorlesungen erwähnten »Stürze ins Schweigen« (KS 259) eine stärkere Brisanz, wenn von ganzen »Generationen« die Rede ist, die »verstummen« und sich »im Schweigen hin und her bewegen« (KA I 177). Vor diesem Hintergrund plädiert Bachmann nochmals in aller Deutlichkeit für einen Standpunkt, der Abstand sucht von einer Dichtungskonzeption, die einzig formale Kriterien berücksichtigt: »[L]aßt uns auf dem Kopf stehen, auf einem kunstfernen Weg« (KA I 174). Diese Formulierung, die sich in abgewandelter Form schließlich im Vorwort der Büchner-Preis-Rede wiederfindet, spielt unverkennbar auf den Anfang der Erzählung ›Lenz‹ an, wo die innere Verstörung des Protagonisten angesichts einer bald als unnahbar, bald als bedrohlich nah empfundenen äußeren Natur in dem Wunsch Ausdruck findet, »auf dem Kopf gehen« zu können.10 Bachmanns Aufruf ist damit zugleich Zeichen einer intensiven Beschäftigung mit Paul Celans 1960 gehaltener Büchner-Preis-Rede ›Der Meridian‹, wo das Bild des ›Auf-dem-Kopf-Gehens‹ ebenfalls ins Zentrum der poetologischen Überle-

9 Vgl. Bettina Bannasch: Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen. In: BachmannHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrgs. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 191–203, S. 197 f. 10 Georg Büchner: Lenz. In: Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bd. I: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt a.M. 1992, S. 225–250, S. 225.

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gungen gerückt wurde, jedoch verbunden mit der Pascal’schen Konzeption des Abgrunds: »Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, – wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich«.11 Im Weiteren verbindet Celan dieses verstörende Bild eines haltlosen Grundes mit einer Poetik des »verstummenden Denkens« angesichts der Erinnerung an die Shoah: »Ich hatte mich [...] von einem ›20. Jänner‹, von meinem ›20. Jänner‹ hergeschrieben.«12 Somit ermöglicht das Stehen auf dem Kopf, das die geläufigen Vorstellungen von Himmel und Abgrund umkehrt, eine ganz individuelle Hinwendung zu den Daten und Orten der Toten in der »einmalige[n], punktuelle[n] Gegenwart« des Gedichts.13 Darüber hinaus schließt Celans Konzeption des Meridians ein Anknüpfen an Geschriebenes, an die Dichtung und Philosophie (u.a. von Mandel’stam, Landauer, Benjamin und Pascal) ein. Diese Intertexte dienen ebenfalls als Orientierungspunkte auf einem Kreisweg der Dichtung, der aus der Enge der eigenen kreatürlichen Existenz in die Weite (zur Begegnung mit den Toten) führt, um dann – im Sinne einer Atemwende – zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren.14 Bei aller Differenz, die der Vergleich zwischen den Preis-Reden offenbart, verbindet Celan und Bachmann ein gemeinsamer Impetus: Beiden Dichtern ist Büchner Kronzeuge für die radikale ›In-Frage-Stellung‹ einer artifiziellen, menschenfernen Kunst und zugleich Repräsentant des Einspruchs gegen einen endlos fortsetzbaren Diskurs über Kunst. Hatte bereits Celan Szenen aus ›Dantons Tod‹, ›Woyzeck‹, ›Leonce und Lena‹ und ›Lenz‹ zitiert, um in Anlehnung an Büchner seine eigene Vorstellung einer Dichtung darzulegen, die sich dem automatenhaften Charakter der Kunst radikal entgegenstellt, so formuliert Bachmann ihr Konzept einer Literatur, die sich dem inwendigen Leiden zuwendet unter Bezugnahme auf zum Teil identische Passagen aus Büchners Werk. Ihr Dialog mit Celans ›Meridian‹-Rede in den frühen Entwürfen kann aber nicht nur an gemeinsamen Belegstellen (etwa Camilles Ausruf »ach, die Kunst!« aus ›Dantons Tod‹) festgemacht werden,15 sondern offenbart sich auch in unmittelbaren Korrespon-

11 Paul Celan: Der Meridian. In: Celan, Gesammelte Werke. Hrsg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Bd. III: Gedichte III, Prosa, Reden. Frankfurt a.M. 1983, S. 187–202, S. 195. 12 Celan: Der Meridian, S. 201. Celan nimmt hier Bezug auf das Datum der Wannseekonferenz, die am 20. Januar 1942 in einer Villa am Berliner Wannsee stattfand. 13 Ebd., S. 199. 14 Vgl. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 262 f. Vgl. auch Bernhard Böschenstein: Der Meridian. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Markus May, Peter Goßens und Jürgen Lehmann. Stuttgart, Weimar 2008, S. 167–175, S. 172. 15 Georg Büchner: Danton’s Tod. In: Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Bd. 1: Dichtungen. Hrsg. von Henri Poschmann. Frankfurt a.M. 1992, S. 11–90, S. 45. Vgl. Celan: Der Meridian, S. 191. Vgl. ebenso KA I 172.



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denzen, die vor allem um das Motiv des Weges kreisen. Denn während Celan wiederholt einen »Weg der Kunst« vor Augen führt, von dem sich die Dichtung in einem einmaligen kurzen Augenblick »frei[zusetzen]« vermag,16 plädiert Bachmann in den frühen Entwürfen für das Einschlagen eines »kunstfernen Weg[es], der einmal einmünden kann, dort wo Kunst kommt« (ÖNB: K4510, N 1464; K 4512, N 735; KA I 174). Und auch Celans Hinweis darauf, dass uns die »Dichtung […] ja manchmal voraus[eilt]«,17 bezieht Bachmann in ihre Überlegungen mit ein, wenn sie resümierend feststellt: »Literatur, die ist uns so weit voraus, das heißt einen Millimeter oder einen Atemzug voraus, und mehr wissen wir nicht.« (ÖNB: K 4509, N 1462; KA I 173) Neben diesen Versuchen, einen an Büchners Werk und Celans ›Meridian‹ anknüpfenden Redetext zu schreiben, finden sich im Nachlass Textzeugen, die eine konzeptionelle Neuorientierung im Verlauf der Werkgenese anzeigen. Die Entwürfe, die das Vorhaben widerspiegeln, Teile aus einem vom konkreten Anlass der Danksagung unabhängigen Buchprojekt zum Vortrag zu bringen, das als dialektische Bewegung zwischen einem Ort der Krankheit und einem Raum der Heilung konzipiert ist (»Daß ich Sie einerseits nach Berlin transportiere, und im nächsten [Absatz] in die Wüste«; ÖNB: K 4595, N 729; KA I 181), sind Ausdruck einer parallel zur Büchner-Preis-Rede einsetzenden literarischen Verarbeitung ihrer Nordafrika-Reise.18 Die Genese des als eigenständige Publikation geplanten Prosatextes beginnt im Sommer 1964 mit der Konzeption eines die Berliner Gegenwart integrierenden Reisebuchs, das auch Versatz­ stücke aus den frühen Entwürfen zur Preis-Rede enthält, wie etwa das Büchner-Zitat »in dieser Totenstadt, was suchst du. Doch nicht die »Kunst«, ach die Kunst« (KA I 250). Über die Vermittlung konkreter Reiseerlebnisse hinaus ist das Werk von Anfang an geprägt von einem kritischen Blick der Autorin auf den materiellen, vor allem aber auch mentalen Kolonialismus der westlichen Zivilisation und von deren Auswirkungen auf die afrikanische Kultur. Ausgangspunkt dieser den Text durchziehenden Zivilisationskritik, die im Kontext der Anfang der 1960er Jahre im deutschsprachigen Raum verstärkt einsetzenden NeokolonialismusDebatte gesehen werden muss,19 ist von den frühen Entwurfsfragmenten an das

16 Celan: Der Meridian, S. 193 f. 17 Ebd., S. 194. 18 Vgl. Textkritischer Kommentar. In: KA I 550. 19 Vgl. Monika Albrecht: »Es muß erst geschrieben werden«. Kolonisation und magische Weltsicht in Ingeborg Bachmanns Roman-Fragment ›Das Buch Franza‹. In: »Über die Zeit schreiben«. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 1. Würzburg 1998, S. 59–91, S. 59.

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 Einführung

Werk Arthur Rimbauds, der bereits Ende des 19.  Jahrhunderts durch eine radikale Kritik an der westlichen Welt, ihren Moralvorstellungen und Gesellschaftsstrukturen hervortrat. Sukzessive erlangen bestimmte Textstellen aus Rimbauds Prosagedichtzyklus ›Une saison en enfer‹ eine geradezu leitmotivische Funktion im ›Wüstenbuch‹-Projekt, und zwar nicht nur als wörtliche Zitate, sondern auch in der Form der Inversion, wenn sich das Erzähler-Ich in Affinität zum lyrischen Ich bei Rimbaud selbst in die Position des unterlegenen Fremden versetzt, um anhand solcher sprachlicher Manifestation das westliche Überlegenheitsdenken zu entlarven: »Die Weißen kommen, ich bin von niedriger Rasse.« (KA I 257) Es handelt sich dabei um die Paraphrase der Sätze »Les blancs débarquent« und »Je suis de race inférieure de toute éternité«.20 Zwar überträgt Bachmann diesen intertextuellen Diskurs später auf ihr Romanfragment ›Das Buch Franza‹,21 doch finden sich auch im Konvolut der Büchner-Preis-Rede Indizien, die darauf hindeuten, dass die Bezugnahmen auf Rimbaud im Zuge einer kompositorischen Neuorientierung vorübergehend Eingang in das Konzept einer dialektischen Bewegung zwischen den Orten Berlin und der Wüste gefunden haben. So enthält ein Entwurf zum späteren 5. Abschnitt am Ende eine durchgestrichene Passage,22 die die erwähnten Rimbaud-Zitate in einer der von Bachmann vorgenommenen Transformation enthält: »Die Weißen kommen. Du bist von niedriger Rasse.«23 (ÖNB: K 4537, N 675; KA I 195: Textstufenapparat) Auch wenn die Streichung wohl Ausdruck der Herauslösung der Berlin-Segmente aus dem ›Wüstenbuch‹ ist, bewahren einige Motive ihre Präsenz noch in der abschließenden Vortragsfassung und dem Erstdruck im Wagenbach-Verlag. Hierzu gehören das Bild der Landung aus ›une saison en enfer‹ (»Die Weißen

20 Bachmann besaß eine zweisprachige Ausgabe von Arthur Rimbauds Werken, in der Walter Küchler den Ausdruck »Les Blancs débarquent« als »Die Weißen gehen an Land« übersetzt. Vgl. die text- und seitenidentische 6. Auflage; Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Hrsg. und übertragen von Walter Küchler. 6. Aufl. Heidelberg 1982, S. 276, S. 270. Vgl. auch den ›Sachkommentar‹ zu ›Ein Ort für Zufälle‹. In: KA I 596. 21 Vgl. hierzu Herbert Uerlings: »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post-) Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln, Weimar, Wien 2006, S. 116–177. 22 Bezüglich der Verwendung von Ziffern anstelle ausgeschriebener Zahlen im weiteren Verlauf des Textes vgl. Fußnote 272. 23 Wie Monika Albrecht anmerkt, »lehnt sich Bachmanns Büchnerpreis-Rede […] stilistisch stark an Rimbauds Prosagedicht-Zyklus an.« Zudem nennt sie »ein weiteres Zitat aus den frühen Entwürfen zu dem Komplex Büchnerpreis-Rede/›Wüstenbuch‹ […], das auf ›Une saison en enfer‹ (1873) verweist: »Die Geschichte einer meiner Verrücktheiten« (KA 1 183).« Dieses beziehe sich auf die Textstelle »L’histoire d’une de mes folies« / »Die Geschichte einer meiner Narrheiten« (Rimbaud: Eine Zeit in der Hölle, S. 298 f.). Zitiert nach Albrecht: »Es muß erst geschrieben werden«, S. 59–91, S. 65 (Anm. 24).



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gehen an Land«), das im 2.  Abschnitt jedoch nicht mehr eine imperialistische Haltung anzeigt, sondern Zeugnis der Entmündigung einer bestimmten Gruppierung im Innern der Berliner Gesellschaft ist (»Dann dürfen auch die Kranken an Land gehen«), sowie die Beschreibung von der Flucht auf Kamelen in die Wüste. Die Ursprünge dieses Motivs reichen zurück auf ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Werk, das Bachmann 1961 unmittelbar nach dem Berliner Mauerbau geschrieben hat. Im Fragment gebliebenen ›Sterben für Berlin‹, das in vielfältiger Hinsicht als Prätext der Rede anzusehen ist und das die hinter der demonstrativ vorgeführten Normalität in der geteilten Stadt verborgene Sprachlosigkeit und Verzweiflung der Menschen bloßlegt, findet sich eine Textpassage, in der ZooKamele zur Projektionsfläche der Gefühle des Protagonisten werden: »Und wie er in seinem Leib steckte [...] und wie sie sich in ihrem Körper fühlten. Und eins davon, das mußte noch ein Wüstentier sein, aber die anderen waren wahrscheinlich schon Berliner Tiere, das fühlte er auch, und er verbot sich das Gefühl nicht, daß er ein Wüstentier herausfühlen könnte [...].« (KA I 79) Die besondere Empathie und Nähe zu dieser Tierart taucht im ›Wüstenbuch‹-Projekt erneut auf, wobei das Kamel nun als Vertreter zweier Räume auftritt. So heißt es in einem Entwurf, der zugleich Zeuge der anfänglich engen Durchdringung von arabischer Wüste und Berliner ›Stadtwüste‹ ist: »Ich werde mit meinem Kamel heraustraben, es wird mich schütteln und hochwerfen und wird niederknien mit mir, mein Tier, meine ausdauernde Inbrunst, meine Bedürfnislosigkeit, mein Zoobewohner, mein erster Freund in Berlin, mein erster in der Wüste [...].« (KA I 180) Besitzt hier das Kamel bereits ansatzweise die Bedeutung eines Fluchthelfers, der ein Entkommen aus dem Bereich der Stadt ermöglicht, so gewinnt dieser Aspekt im Rahmen der Rede zunehmend an Gewicht, wobei das Motiv auch dahingehend eine Veränderung erfährt, dass den Zootieren nun Zirkuskamele zur Seite gestellt werden (vgl. die Abschnitte 5 und 21). Die weitere Textgenese dokumentiert die Umgestaltung des zeitweilig angestrebten Wüste/Berlin-Dualismus hin zu einem ausschließlich auf Berlin bezogenen Konzept. Nicht nur beginnt Bachmann im Zuge der Streichung von Passagen, die noch direkt auf das ›Wüstenbuch‹-Projekt verweisen, mit der sukzessiven Erweiterung, Anordnung und sprachlich-thematischen Verknüpfung der Berlin-Abschnitte. Ein Vergleich der einzelnen Textzeugen dieser Arbeitsphase miteinander verdeutlicht auch, wie sich die für ›Ein Ort für Zufälle‹ typische Topographie schrittweise herauskristallisiert: So integriert Bachmann mehr und mehr Namen konkreter Stadtteile, Straßen, Gebäude und Institutionen, die auf den gesellschaftlichen Alltag Berlins gegen Mitte der 1960er Jahre verweisen, um andererseits lebensweltliche Details und Erfahrungen, die der empirischen Realität entstammen, zunehmend mit Hilfe grotesker und phantastischer Verfahren zu verfremden. Aus dieser gegenteiligen Bewegung resultiert letztlich das

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für die fertige Rede charakteristische Bild einer verzerrten unergründlichen Welt, die weder reine poetische Setzung ist noch die ›außersprachliche Wirklichkeit‹ widerspiegelt.24 In der Forschung ist bisher nur angedeutet worden, in welchem Maße Bachmann in ›Ein Ort für Zufälle‹ Bilder und Motive ihres früheren Werks aufgreift. Denn neben den immer wieder erwähnten Korrespondenzen zu Texten, die dem ›Todesarten‹-Projekt nahestehen, ist der Einfluss der beiden Gedichtbände und Hörspiele sowie der Erzählungen aus ›Das dreißigste Jahr‹ deutlich zu erkennen, woran sich gerade auch die spezifischen Veränderungen und Brüche ihrer Poetik im Hinblick auf die Romane abzeichnen. Der vorliegende Kommentar wird an vielen Stellen auf diese autoreferentiellen Bezüge eingehen. Exemplarisch sei hier der 11. Abschnitt erwähnt, der auf den Zyklus ›Lieder auf der Flucht‹ zurückweist, also vor dem Hintergrund der lebensgeschichtlichen Verbindung Ingeborg Bachmanns und Hans Werner Henzes zu sehen ist, den Erlösungsgedanken einer Musik und Dichtung engführenden Kunst, wie er im frühen Werk noch präsent ist, jedoch ad absurdum führt: »auch die Musik ist erfroren« (vgl. den Kommentar zum 11. Abschnitt). Diese wiederholt anzutreffende Revision eigener poetischer Entwürfe und Motive ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund, dass die Verleihung des Büchner-Preises explizit mit der Herausgabe ihres ersten Sammelbandes korreliert, ›Gedichte, Erzählungen, Hörspiele, Essays‹. Im Rahmen der sukzessiven Entwicklung einer fiktionalen, auf die Berliner Realität Bezug nehmenden Textwirklichkeit lässt sich in den Vorstufen der Rede zugleich eine erzählperspektivische Verschiebung beobachten. Zeugen gerade die frühesten Berlin-Abschnitte noch von einem subjektiven Erfahrungshorizont, der aus der Sicht eines Ichs vermittelt wird (»Ich erkenne eine Theke aus Moabit«; »holt mich vom Balkon zurück [...] ich zittre«; ÖNB: K 4521, N 726; K A I 182), so streicht Bachmann diese Sichtweise später zugunsten einer anonymen Schilderung kollektiver Zustände und Gefühlsregungen.25 Parallel zu dieser Arbeit beginnt Bachmann mit der Erstellung einer Vorrede, die sich thematisch stark an den frühen Entwürfen orientiert – auf einem der Textzeugen findet sich erstmals der handschriftlich notierte Titel ›Deutsche Zufälle‹ (ÖNB: K 4552, 4597, N 1461, 730), unter dem die Rede am 17.  Oktober von Ingeborg Bachmann gehalten wurde.26 Die Genese des Vortextes ist geprägt vom Bemühen, unter Bezugnahme auf Büchners ›Lenz‹ die für Bachmanns Text

24 Vgl. Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 176. 25 Zur Erzählweise in ›Ein Ort für Zufälle‹ vgl. das Kapitel ›Narrative, stilistische und sprachliche Verfahren‹. 26 Vgl. Textkritischer Kommentar. In: KA I 560.



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relevante Form eines kollektiven Wahnsinns vom individuellen Krankheitsbild der Figur Lenz abzugrenzen. Dabei gibt sie dem für die krankhaften Anfälle des Protagonisten verwendeten Begriff »Zufälle« (»Zufälle, ein merkwürdiges Wort, mit dem Büchner die Lenzsche Krankheit behaftet«) eine zentrale Stellung im Rahmen ihrer poetischen Reflexionen zur Darstellbarkeit gesellschaftlicher Deformationen, wie sie sich im Nachkriegsdeutschland bzw. in der geteilten Stadt Berlin äußern (KA I 229). Neben der Konturierung eines Krankheitsbildes, das nicht nur Ausdruck einer individuellen Veranlagung oder Lebenssituation ist (»Der Wahnsinn kann auch von außen kommen, auf die einzelnen zu«; ebd.), sondern sich als konsequente Reaktion auf eine zeitlos beschädigte Wirklichkeit zeigt (»eines Risses der für Lenz durch die Welt ging«; ebd.), kreisen die Entwürfe des Vortextes um die Suche nach einer adäquaten Haltung, die es ermöglicht, den Zufällen, also den Ausdrucksformen eines sich perpetuierenden kollektiven Wahnsinns, beizukommen. An die ersten Ansätze einer Poetik der existentiellen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leid anknüpfend, entwirft Bachmann nun eine Perspektive, die im Zeichen einer konsequenten und distanzlosen Konfrontation mit den gesellschaftlichen Krankheitsbildern steht: Denn ich vergesse nicht, daß ich in Ihrem Land bin mit seinen Zufällen, die sich der Diagnose nicht ganz, aber im Grunde entziehen, wie alle Zufälle; Zufälle, die sich mitunter aber einer Optik und einem Gehör mitteilen, das sich diesem Zufall aussetzt, dem Nachtmahr und seiner Konsequenz. (KA I 229; Textstufenapparat)

In Zusammenhang mit der vielschichtigen Bezugnahme auf ›Lenz‹ rückt erneut jenes Zitat in den Blickpunkt, das bereits in den frühen Entwürfen auch auf den ›Meridian‹ verwies. Das »Auf-dem-Kopf-Stehen« wird für Bachmann nun zum Sinnbild für eine adäquate Einstellung auf eine von Krankheit gezeichnete, Krankheit hervorrufende Wirklichkeit, für einen Modus der ungefilterten Wahrnehmung, der es demjenigen, der sich diesem kollektiven Wahnsinn aussetzt, ermöglicht, »Kunde« zu geben (KA I 232). Bachmanns Vorrede bleibt freilich nicht auf die Beschäftigung mit Büchners Werk beschränkt. Insbesondere in Bezug auf die Darlegung des kollektiven Wahnsinns als einer pathologischen Erscheinung, die keinesfalls nur Folge einer gegenwärtigen Deformation ist, sondern auch von vorzeitigen Kräften dynamisiert wird, rückt die Autorin ihre Überlegungen in den Kontext eines gesellschaftskritischen Werkes, das zu Beginn der 1960er Jahre erneut Aufmerksamkeit erregte. So bindet Bachmann die Wiederkehr des Wahnsinns an eine zeitgeschichtliche Konstellation, deren begriffliche Bestimmung deutlich auf Ernst Blochs Gesellschaftsanalyse anspielt, die er in seinem 1935 erstveröffentlichten und 1962 erneut aufgelegten Werk ›Erbschaft dieser Zeit‹ entwickelt. Darin hinterfragt Bloch die

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kommunistische Propaganda (vor allem der KPD), die immer nur von den objektiven Verhältnissen, von Fakten und Zahlen ausgehe, indem er den Blick auf die »Ungleichzeitigkeit« in der deutschen Gesellschaft der 1920er Jahre lenkt.27 Denn aus seiner Sicht werden die Individuen von Vorstellungen und Sehnsüchten geleitet, die sich aus den unterschiedlichsten historischen Epochen speisen. In dieser unausgelebten Innerlichkeit sieht Bloch eine wesentliche Voraussetzung für die Durchsetzung des Nationalsozialismus, der es verstanden habe, diesen irrationalen Fundus zu einem »Blutmythos« zusammenzuschmelzen.28 Bedeutsam mag für Bachmann der Hinweis Blochs in seinem Vorwort zur Neuauflage von 1962 gewesen sein, dass dieser instabile Zustand auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft seine Gültigkeit nicht verloren habe.29 In ihrer Vorrede heißt es entsprechend: »Der Wahnsinn kann auch von Außen kommen, auf die einzelnen zu, ist also schon viel früher von dem Innen der einzelnen nach außen gegangen, tritt den Rückweg an, in Situationen, die uns geläufig geworden sind, in den Erbschaften dieser Zeit.« (KA I 229) Gewinnt Bachmann ihre spezifische Vorstellung eines sozialpsychologischen Wahnsinns als konsequente Reaktion auf eine beschädigte Wirklichkeit im Dialog mit Büchners ›Lenz‹, so ist ihr Blochs Studie Beleg für die Virulenz historischer Wahnsinns-Kräfte in der gegenwärtigen Gesellschaft: »Es muß also, wenn es um Zufälle geht, etwas weit zurückliegen, intermittieren, konsequent aber wiederkommen mit neuen Zufällen«. (KA I 231) Bachmanns diskursives Vorwort, das diese temporale Dynamik explizit auf den Terminus »Zufälle« überträgt, erscheint in der Fassung des Wagenbach-Verlags als Anhang des eigentlichen Haupttextes. Die signifikanten Korrekturen, die der nun klein gedruckte und damit visuell deutlich abgegrenzte Text erkennbar werden lässt, sind Teil einer letzten Überarbeitungsphase, in der aus dem Redetext ›Deutsche Zufälle‹ der Prosatext ›Ein Ort für Zufälle‹ wird. Neben der Veränderung des Titels, die unmittelbar nach dem Akt der Verleihung erfolgt sein muss – bereits die Abdrucke des Redetextes in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ und im ›Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung‹ erscheinen unter dem Titel ›Ein Ort für Zufälle‹ –, stellt Bachmann dem Text ein Motto voran, das Büchners ›Lenz‹ in leicht gewandelter Form zitiert. Weiterhin fügt sie vier Abschnitte hinzu. Drei

27 Eine umfassende Bestimmung des Terminus ›Ungleichzeitigkeit‹ erfolgt im Abschnitt ›Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik‹. In: Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M. 1962, S. 104–160 (im Weiteren zitiert nach der text- und seitenidentischen Neuausgabe von 1985 im Suhrkamp-Verlag). ›Vgl. Detlef Horster: Bloch zur Einführung. 7.  Aufl. Hamburg 1991, S. 19 f. 28 Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 101. 29 Ebd., S. 20.



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dieser neuen Textsegmente, von denen das erste dem Stadtteil Kreuzberg gewidmet ist, das zweite auf das Berliner Nachtleben Bezug nimmt und das dritte eine Verhörsituation gestaltet, sind zwischen dem 13. und 14. Abschnitt der Preisrede eingepasst. Das vierte, in dessen Zentrum der Berliner Zoo steht, positioniert die Autorin zwischen dem (ursprünglich) 17. und 18. Abschnitt. Darüber hinaus unterteilt sie den 18. Abschnitt der Redefassung und erweitert die beiden entstandenen Passagen zu zwei selbständigen Abschnitten, so dass der ursprünglich aus 21  Segmenten bestehende Text in der Wagenbach-Ausgabe 26 Abschnitte aufweist. Hinzu kommen 13 Zeichnungen von Günter Grass, die ihrem Motivgehalt nach über Bachmanns Berlin-Prosa hinaus auf eigene Werke – insbesondere auf den Gedichtband ›Gleisdreieck‹ – verweisen.30 Die Korrekturen der ursprünglichen Vorrede beschränken sich nicht nur auf die Streichung der darin enthaltenen Anspracheformeln an das Publikum und die damit korrelierende Ich-Perspektive, sondern betreffen auch eine Passage, in welcher der Begriff »Zufall« in Zusammenhang mit einer besonderen Form des Traumes, dem »Nachtmahr«, gerückt wird. Denkbar ist, dass Bachmann durch die Streichung dieser Textpassage einer verharmlosenden Gleichsetzung der dargestellten Schreckenszenarien mit den Imaginationen eines Träumenden zuvorkommen wollte.31 Ein Blick auf die Vorstufen zeigt jedoch, dass der Text zeitweise durchaus Ansätze einer Traumkonzeption enthalten hat, wenn in einem Entwurf das Kamel als der primäre Vermittler zwischen den Räumen Berlin und Wüste mit der Bezeichnung »mein Traumtier« ausgezeichnet wird. Nach Angaben von Klaus Wagenbach wurden die im Archiv des Verlags erhaltenen Druckfahnen gemeinsam von ihm, Ingeborg Bachmann und Günter Grass bearbeitet.32

30 Vgl. Einführung, Kapitel B. ›Text-Bild-Komposition‹. 31 Tatsächlich wurde der Text im Feuilleton immer wieder als »apokalyptischer Traum« bzw. als eine »Serie von alptraumhaften Vorgängen« aufgefasst. Vgl. u.a. Skasa-Weiß: Erträumte Wahrheit. Büchnerpreis für Ingeborg Bachmann. In: Stuttgarter Zeitung, Nr.  242, 19.  Oktober 1964, S. 15, sowie Caroline Neubauer: Es ist nie wieder gutzumachen. In: Süddeutsche Zeitung, 1. August 1987 (abgedruckt in: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 103 f.), und Walliseller Anzeiger, 12.  Mai 1987 (Pressemappe des Wagenbach-Verlags). Im Rahmen ihrer Besprechung der Neuauflage von 1987 versteht auch Adeline Walter Bachmanns Text als ein »Konvolut von 25 Spukund Wunschträumen«. Ein genaues Sendedatum der Sendung aus der Reihe ›Das Radioskop‹ im 2. Programm des ›Hessischen Rundfunks‹ ist nicht bekannt. In der Pressemappe des KlausWagenbach-Verlags befindet sich jedoch eine Kopie des Sendemanuskripts. 32 Vgl. Textkritischer Kommentar. In: KA 562.

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2. Biographische, zeit- und literaturgeschichtliche Kontexte Die hier dargelegte Entstehungsgeschichte von ›Ein Ort für Zufälle‹ ist Ausdruck einer komplexen poetischen Standortbestimmung Ingeborg Bachmanns, die sich in Auseinandersetzung u.a. mit den Arbeiten Georg Büchners, Arthur Rimbauds, Paul Celans, Hans Werner Henzes, Ernst Blochs, aber auch im kritischen Bezug zu eigenen früheren Poetikkonzeptionen vollzieht und dem Anlass der Entgegennahme des so bedeutenden Literaturpreises Rechnung tragen will. Die Genese ist aber auch Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit einem als bedrohlich empfundenen politischen und gesellschaftlichen Umfeld, wobei die spezifische Fokussierung auf Signaturen eines kollektiven Wahnsinns zudem von belastenden persönlichen lebensgeschichtlichen Faktoren beeinflusst wird. Anlässlich der Vergabe eines Stipendiums durch die Ford-Foundation lebt Ingeborg Bachmann von April 1963 bis November 1965 in Westberlin, in einer Stadt, die zwar immer noch ein Brennpunkt des Kalten Krieges ist, vor dem Hintergrund einer gewissen Deeskalation zwischen den beiden Machtblöcken nach der Kubakrise jedoch eine Phase der Konsolidierung erlebt. Ostberlin hat durch den Mauerbau die Massenflucht seiner Bürger unterbinden und seine Position als Hauptstadt der DDR durch die Ansiedelung wichtiger politischer wie kultureller Einrichtungen sowie durch die Unterzeichnung des ›Freundschafts- und Beistandspakts‹ mit der Sowjetunion (12. Juni 1964) stabilisieren können.33 Auch als literarisches Zentrum kann sich Ostberlin zunehmend profilieren. In Korrelation zur Entspannung der ökonomischen Verhältnisse setzt auf kultureller Ebene eine gewisse Liberalisierung ein: Werke deutschsprachiger Autoren, die in westdeutschen Verlagen publiziert werden (etwa von Max Frisch, Günter Grass, Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann), dürfen als Lizenzausgaben in der DDR erscheinen, aber auch die Zensur ostdeutscher Autoren wird gelockert.34 Zugleich wird

33 Im Rahmen der Unterzeichnung des Vertrags erklären sowohl die DDR als auch die Sowjetunion, fortan »Westberlin als selbständige politische Einheit« zu betrachten, und akzeptieren damit das Fortbestehen westlicher Besatzung in Berlin. Wortlaut des Vertrags in: Dokumente zur Berlin-Frage 1944–1966. Hrsg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. 3. Aufl. München 1967, S. 554–556; S. 556. Vgl. auch Dieter Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland. Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. München, Wien 1973, S. 49, 83. Aus Sicht der internationalen Presse »konsolidiert [der Vertrag] wesentlich den internationalen Status Ostdeutschlands«. Zitiert nach: Der Moskauer Vertrag. Thema der internationalen Presse. In: Der Tagesspiegel Nr. 5702, 15. Juni 1964, S. 2. 34 Am 24. und 25. April 1964 wurde auf der zweiten ›Bitterfelder Konferenz‹ der dogmatische Kurs der ersten Tagung von 1959 abgemildert. Kulturminister Hans Bentzien räumte ein, dass Schriftsteller von nun ab kritischer schreiben dürften: »Wir sind uns bewußt, dass jetzt ein Prozeß der Reife und des tieferen Eindringens in die Probleme unseres Lebens begonnen hat, und



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die Herausgabe einiger DDR-Autoren – etwa Günter Kunert, Peter Huchel und Johannes Bobrowski – in Westdeutschland zugelassen.35 Die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Reinig erhält für ihren 1963 veröffentlichten Gedichtband sogar den Bremer Literaturpreis. Im selben Jahr erscheint Christa Wolfs Roman ›Der geteilte Himmel‹, der erstmals das bis dahin tabuisierte Thema der ›Republikflucht‹ behandelt und den Dogmatismus der Partei bzw. ihrer Funktionäre in Frage stellt.36 Man duldet, dass der Liedermacher Wolf Biermann bei öffentlichen Auftritten auch Kritisches über die DDR vorträgt.37 Im September 1963 wendet sich die SED in einem ›Jugendkommuniqué‹ explizit dagegen, unbequeme Fragen von Jugendlichen grundsätzlich als Provokation abzutun.38 Die Westberliner Politik versucht, die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen der Isolation – unmittelbar nach dem Mauerbau verlassen viele, vor allem junge Menschen, aber auch zahlreiche Unternehmen die Stadt – durch eine Aufstockung der Berlin-Hilfe abzufedern.39 Neben einer Sofortmaßnahme des Bundes von 500  Millionen Mark, die gleichmäßig an die Westberliner verteilt wird, sollen weitreichende Steuerprivilegien und gezielte Fördermaßnahmen einen weiteren Abzug verhindern bzw. die Ansiedlung neuer Unternehmen begünstigen.40 Profitiert von den staatlich subventionierten Wieder- und

lächeln deshalb über unsere Gegner, die glauben, solche Werke, die Schwierigkeiten der Übergangsperiode aufwerfen, seien bei uns nicht gut angesehen.« Zitiert nach Heinz Kersten: Die zweite Konferenz von Bitterfeld. In: Der Tagesspiegel Nr. 5662, 25. April 1964, S. 4. Vgl. ebenso Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 223. 35 Vgl. dazu den Artikel: »Geteilter Himmel«. Über welche Bücher diskutiert man in der Sowjetzone. In: Der Tagesspiegel Nr. 5566, 1. Januar 1964, S. 6; ebenso: Liberalisierung? Zum innerdeutschen Kulturaustausch. In: Der Tagesspiegel Nr. 5584, 23. Januar 1964, S. 4. Vgl. ebenso Winkler, Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 223. 36 Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, S. 223. Die Diskussionen um diesen Roman werden ausführlich im ›Tagesspiegel‹ referiert. Ebd., S. 6. 37 Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung, S. 223. 38 Ebd. 39 Vgl. den Abschnitt ›Die Berlinförderungsmassnahmen‹. In: Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland, S. 166–176. 40 Ab November 1963 wurde die Verlängerung des Berlin-Hilfe-Gesetzes im Bundestag verhandelt, wobei der Paragraph 16, der die Steuervergünstigungen von Industriebauten regelt, heftig umstritten war. Auch in den Westberliner Medien wurde darüber ausführlich berichtet. Vgl. dazu die Artikel: Berlin-Hilfe des Bundes für 1964 wieder 1,793 Milliarden DM. In: Der Tagesspiegel Nr. 5528, 14. November 1963, S. 1; Novelle zum Berlin-Hilfe-Gesetz. Förderungsmaßnahmen sollen drei Jahre länger gelten. In: Der Tagesspiegel Nr. 5528, 14. November 1963, S. 15; Die BerlinPräferenzen und die »spekulative Phantasie«. In: Der Tagesspiegel Nr. 5646, 7. April 1964, S. 13;

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Neuaufbau-Programmen in besonderem Maße die Baubranche, so erlebt auch die Genussmittel- und Vergnügungsindustrie aufgrund einer gezielten Erleichterung der Produktionsbedingungen und der Aufhebung der Sperrstunde einen enormen Boom.41 Parallel zu diesen wirtschaftlichen Fördermaßnahmen forcierte die Bundesregierung die politische Integration Westberlins in die Bundesrepublik.42 Neben der Bundesversammlung, die zum zweiten Mal zusammentritt, um Heinrich Lübke erneut zum Bundespräsidenten zu wählen,43 finden hier 1964 150  Ausschusssitzungen und 1965 eine Plenarsitzung des Bundestages statt.44 Darüber hinaus unterstützen der Bund, vor allem aber private Investoren die Bemühungen des Senats, Westberlin durch eine expansive Kunst- und Wissenschaftsförderung in den Rang eines »Kulturzentrums« zu erheben, das neben Künstlern und Kulturschaffenden auch zahlreiche Touristen anzieht.45 Der Werbespruch eines Westberliner Reiseunternehmens, »Berlin ist eine Reise wert«, avanciert Anfang der 1960er Jahre zum viel zitierten Motto der sich demonstrativ welt-

Die Pepper-Finanzierung ist kein Geheimnis. In: Der Tagesspiegel Nr. 5647, 8. April 1964, S. 18; Bundesrat billigt Berlinhilfe-Gesetz und Steuersenkungen. In: Der Tagesspiegel Nr. 5678, 16. Mai 1964; Bonn will Berliner Finanzwünsche um 380 Millionen DM kürzen. In: Der Tagesspiegel Nr. 5706, 20. Juni 1964, S. 1; Berlin-Hilfe bis Ende des Jahrzehnts gesichert. In: Der Tagesspiegel Nr. 5712, 27. Juni 1964, S. 1; 46 Mill. Investitionskredite für Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr. 5741, 31. Juli 1964, S. 10; Berlinhilfegesetz im Gesetzblatt. In: Der Tagesspiegel Nr. 5771, 4. September 1964, S. 10. 41 Eine zentrale Fördermaßnahme ist auch die Organisation von Verbraucher- und Fachmessen auf dem Berliner Messegelände am Funkturm. Zu den größten Veranstaltungen gehört die sogenannte ›Grüne Woche‹. Hinzu kommen zahlreiche Kongresse und Kolloquien, Seminare und Ausbildungsprogramme, die Anziehungskraft auf Studenten und Wissenschaftler, wirtschaftliche Fachkräfte und Politiker aus der ganzen Welt ausüben. 42 Vgl. Charlotte Pape: Die Stadtlandschaft Berlin. In: Mitten in Europa: Die DDR und Berlin. Ein Staat und eine Stadt im Brennpunkt der Geschichte. Gütersloh, München 1990, S. 74–91, S. 81. 43 Die Wahl wurde von der sowjetischen Regierung in Moskau als Provokation aufgefasst, da Westberlin laut Vier-Mächte-Abkommen nicht zur Bundesrepublik Deutschland gehöre. Vgl. Moskau protestiert gegen die Wahl des Bundespräsidenten in Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr. 5712, 27. Juni 1964, S. 1. 44 Vgl. den Abschnitt ›Die Integration der Stadtfragmente‹. In: Mahncke: Berlin im geteilten Deutschland, S. 49–77; S. 73 f. Vgl. auch den Artikel ›Alle Fraktionen und 25 Ausschüsse des Bundestages diese Woche in Berlin‹ auf der Titelseite des ›Tagesspiegels‹. Der Tagesspiegel Nr. 5623, 8. März 1964, S. 1. 45 Als die Stadt durch den Bau der Mauer im August 1961 in eine tiefe Krise stürzt und ihre potentielle Rolle als Hauptstadt Deutschlands endgültig verliert, wird von offizieller Seite der Begriff ›Kulturzentrum Berlin‹ ins Leben gerufen, um Westberlin eine neue Identität als wissenschaftliche und kulturelle Metropole zu geben. Vgl. dazu das Vorwort von Walther Schmieding: Kulturzentrum Berlin? In: Kunst in Berlin 1945 bis heute, S. 5 f., S. 5.



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offen gebenden Stadt.46 Prestigeträchtige Bauten – wie die Deutsche Oper, die Akademie der Künste, die Neue Philharmonie und die Nationalgalerie – sollen nicht nur die kulturelle Vitalität der Stadt erhöhen, sondern auch zu einer Internationalisierung des Kulturlebens beitragen.47 Zu den institutionellen Neugründungen gehört auch das Literarische Colloquium Berlin (LCB), das unter der Leitung des renommierten Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Walter Höllerer zahlreiche Lesungen, Ausstellungen, Tagungen und Workshops organisiert sowie durch die Vergabe von Stipendien große Bekanntheit erreicht.48 Als private Investoren unterstützen seit 1962 der Kulturkreis des Bundesverbandes der Industrie durch die ›Berlin-Stiftung für Sprache und Literatur‹ und seit 1963 die amerikanische Ford-Foundation die Westberliner Akademie der Künste und das LCB.49 Durch diese Initiativen können gegen Mitte der 1960er Jahre Künstler wie Max Frisch, Peter Handke, John Steinbeck, Eugène Ionesco, Peter Weiss, Witold Gombrowicz und Hans Werner Henze vorübergehend an die Stadt gebunden werden. 50

46 Zur wachsenden Bedeutung Westberlins als Fremdenverkehrsmetropole vgl. folgende Beiträge: Urlaub in Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr. 5440, 3. August 1963, S. 10; Monatlich 4500 offizielle Berlin-Besucher. In: Der Tagesspiegel Nr. 5510, 24. Oktober 1963, S. 8; Immer mehr Gäste besuchen Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr.  5524, 9.  November 1963, S. 11; Beliebtes Urlaubsziel Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr. 5743, 2. August 1964, S. 8. Aber auch Ostberlin wirbt verstärkt um Touristen. Vgl. Wie man sich bettet in Ost-Berliner Nächten. In: Der Tagesspiegel Nr. 5749, 9. August 1964, S. 7. 47 Vgl. Finanzhilfe des Bundes für Kulturzentrum Berlin. In: Der Tagesspiegel Nr. 5723, 10. Juli 1964, S. 2. 48 Zur zentralen Rolle Walter Höllerers für den Aufbau eines kulturellen Lebens in Westberlin vgl. Lucie Schauer: Schnittpunkt der Strömungen. In: Kunst in Berlin 1945 bis heute, S. 18–54, S. 31–38. Höllerer, der 1959 den Lehrstuhl für Literatur an der Technischen Universität übernimmt und das ›Institut für Sprache im Technischen Zeitalter‹ begründet, initiiert neben dem LCB seit 1961/62 auch die große Veranstaltungsreihe ›Literatur im Technischen Zeitalter‹. 49 Die Ford-Werke sind die größten Förderer des Berliner Kulturlebens. Neben dem LCB wird der Aufbau der Freien Universität und des ›Literarisch-politischen Salons‹ im sogenannten ›FischerHaus‹ unterstützt. Das Künstler-Programm ›artists in residence‹ finanziert zudem großzügig dotierte Stipendien für ausländische Künstler. Vgl. Das kulturelle Berlin-Programm der Fordstiftung nimmt Gestalt an. Prominente, Nachwuchs und Institute. In: Der Tagesspiegel Nr.  5394, 9. Juni 1963, S. 1. Auch die Siemens-Werke unterstützten das Westberliner Kulturleben, u.a. die Zeitschrift ›Literatur im technischen Zeitalter‹. Ausführlich dargestellt wird die Kulturförderung in Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 54–61. 50 Klaus Wagenbach erinnert sich in seinem Kommentar zur Neuauflage von ›Ein Ort für Zufälle‹ an die Atmosphäre in der Stadt gegen Mitte der 1960er Jahre: »Die Stadt, ohnehin schon weit zurückgeblieben hinter dem westlichen Wirtschaftswunder, voller Rentner und Ruinen, schien verloren. So kamen die Privilegien und Programme. Absurde Finanzhilfen, die den Transport von Schweinehälften oder die Endfabrikation von Zigaretten begünstigten. Oder Steuervorteile,

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Auch Ingeborg Bachmann partizipiert durch ihr Ford-Stipendium an dieser von öffentlichen und privaten Geldern finanzierten Kulturförderung. Ihr Aufenthalt fällt jedoch nicht nur in die Phase wirtschaftlicher und kultureller ›Wiederbelebungsversuche‹ der einstigen Kulturmetropole, sondern auch in eine Zeit zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, deren Ausmaß die Lage im geteilten Deutschland bzw. in Berlin nachhaltig beeinflusst: Zu ihnen gehört die Ermordung John F. Kennedys, der noch im Juni 1963 in Washington eine neue ›Strategie des Friedens‹ gegenüber der Sowjetunion verkündet und während seines Staatsbesuchs vom 23. bis 26.  Juni 1963 in der Bundesrepublik Deutschland in pragmatischen Reden in der Frankfurter Paulskirche und an der FU Berlin, vom Gedanken an eine Wiedervereinigung weit entfernt, für eine realistische Einschätzung der ›Deutschlandfrage‹ eintritt.51 Sein Nachfolger Lyndon B. Johnson übernimmt mit dem Amt die Verantwortung der USA für einen schwelenden Krisenherd in Vietnam, der unter seiner Regie im Sommer 1964 in einen offenen Krieg gegen Nordvietnam umschlägt.52 Kurz darauf, am 14. Oktober 1964, wird Chruschtschow, der für die USA zuletzt zum »beinahe kalkulierbare[n] Partner« geworden war, als Parteichef entmachtet.53 Der personelle Wechsel auf den beiden weltpolitisch mächtigsten Positionen und die zunehmende Eskala-

die von Kompradoren – an der Spitze Axel Springer – hemmungslos ausgenutzt wurden. Die Polizeistunde wurde aufgehoben, es durfte gesoffen werden ohne Unterlaß. Wehrdienstverweigerer, einmal angekommen, durften bleiben bis zum Ablauf ihrer Wehrpflicht. Die Kultur verdoppelte sich: Was Westberlin nicht hatte, wurde neu gebaut – Oper, Volksbühne, Schillertheater, Akademie. Oder es wurde importiert: Die Ford Foundation finanzierte Aufenthalte, Autoren wurden zu Lesungen geladen, Stipendien ausgeschrieben.« Wagenbach: Kommentar. In: OfZ 1999, S. 49. Auch Horst Krüger kritisiert 1967 anlässlich eines Berlin-Besuchs, »vieles in diesem Westberlin von heute hat einen subventionierten, einen künstlichen und manipulierten Charakter«. Zitiert nach: Schauer: Schnittpunkt der Strömungen, S. 38. 51 Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 216 f. 52 Vgl. ebd., S. 229. 53 Ebd., S. 229. Trotz vehementer Streitigkeiten um die Pläne der NATO, eine multilaterale Atomstreitkraft unter Beteiligung der Bundesrepublik zu etablieren, unterzeichneten die Außenminister der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion am 5. August 1963 in Moskau ein ›Teststop-Abkommen‹ für atomare Waffen, dem weitere Verträge und Erklärungen zum Stopp der Verbreitung von Atomwaffen, zur Einschränkung der Strategischen Rüstung und zur Begrenzung der Abwehrraketen beider Seiten folgten; vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München, Wien 1994, S. 307 f. Vgl. ebenso die Mitteilung: Abrüstungskonferenz in Genf. In: Der Tagesspiegel Nr. 5717, 3. Juli 1964, S. 1. Zur Entmachtung Chruschtschows vgl. den Artikel von A.  Heueck: Führungswechsel im Obersten Sowjet. Chruschtschow und das Nachfolgeproblem – Breschnews Verbindungen zur Roten Armee. In: Der Tagesspiegel Nr. 5728, 16. Juli 1964, S. 3; ebenso: Chruschtschow abgelöst und entmachtet. In: Der Tagesspiegel Nr. 5807, 16. Oktober 1964, S. 1.



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tion in Vietnam lassen eine Fortdauer der fragilen Entspannung zwischen Ost und West erneut fraglich werden. Vor dem Hintergrund solcher globaler Erschütterungen findet auch in der Bundesrepublik ein einschneidender politischer Wechsel statt: Am 15.  Oktober 1963 tritt Adenauer nach über 14 Jahren Amtszeit als Bundeskanzler zurück, und der bisherige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard übernimmt die Regierungsgeschäfte. Adenauer, der die Konsolidierung des Weststaates und die Einbindung der Bundesrepublik in das wirtschaftliche und militärische Bündnissystem des Westens bewirken konnte, war gegen Ende seiner Amtszeit innen- wie außenpolitisch unter Druck geraten.54 Vor allem der auf den Hallstein-Doktrin beruhende Konfrontationskurs gegenüber den kommunistischen Staaten und ihren Verbündeten entspricht nicht mehr den geopolitischen Gegebenheiten und führt neben einer starken Belastung der transatlantischen Beziehungen zu einer zunehmenden außenpolitischen Handlungsunfähigkeit der Bundesrepublik – einzige Ausnahme bildet das Deutsch-Französische Verhältnis, das am 16.  Mai 1963 mit der Ratifizierung des Elysée-Vertrags durch den Deutschen Bundestag auf eine neue Grundlage gestellt wird.55 Auch von Ludwig Erhard geht zunächst kaum Signalwirkung im Hinblick auf einen außenpolitischen Wandel aus. Der neue Bundeskanzler bekräftigt die Weiterführung der europäischen Integration und die Stärkung der NATO – einschließlich der deutschen Beteiligung an einer multilateralen Nuklearstreitmacht. In der ›Deutschland-Frage‹ und der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zeichnen sich zwar gewisse Veränderungen bezüglich der auf Adenauer zurückgehenden unnachgiebigen Positionen ab, doch stößt Außenminister Gerhard Schröders ›Ostpolitik der »Kleine Schritte«‹ bei vielen Anhängern der Unionsparteien auf Widerstand.56 Unter diesen Vorzeichen soll Westberlin zum Ausgangspunkt eines politischen Richtungswechsels werden, der sich in den folgenden Jahren auch auf die Bundespolitik ausweiten wird. Im Spannungsverhältnis zur christlich-liberalen Regierungskoalition setzt die Westberliner Sozialdemokratie mit dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt als erste parlamentarische Kraft in der Bundesrepublik auf eine politische Entspannung und eine ›friedliche Koexistenz‹ mit der

54 Vgl. die Abschnitte ›Die Verständigungskrise mit den Vereinigten Staaten‹ und ›Innenpolitische Rückschläge für Adenauer‹. In: Dominik Geppert: Die Ära Adenauer. Darmstadt 2002, S. 111–115, S. 131–135. Vgl. ebenso den Abschnitt ‹Das Ende der Ära Adenauer‹ in: Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 213 f. 55 Vgl. den Abschnitt ›Die Anlehnung an Frankreich‹ in: Geppert: Die Ära Adenauer, S. 115–120, S. 118 f. 56 Vgl. Rudolf Morsey: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969. 3. Aufl. München 1995, S. 80 f.

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DDR.57 Denn die Realität eines zweiten deutschen Staates, der die Zugangswege nach Westberlin für die Bundesbürger kontrolliert und die Begegnung von Deutschen durch die Mauer blockiert, kann gerade in Westberlin nicht übersehen werden. In Anknüpfung an Kennedys ›Strategie des Friedens‹ entwickelt Brandt in einem Vortrag vom 16. Juli 1963 an der Evangelischen Akademie Tutzing erstmals öffentlich eine Konzeption zur Aufbrechung der erstarrten Fronten: »Es gibt eine Lösung der deutschen Frage nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie.«58 Egon Bahr, wichtiger Pressesprecher der Berliner SPD, bringt die neue Politik seiner Partei kurz darauf auf die Formel »Wandel durch Annäherung«: Nachdem die bisherige Politik, bei der auf Druck Gegendruck folgte, nur zu einer Erstarrung geführt habe, solle nun auf diplomatischem Weg und in Form einer dialektischen Bewegung, ausgehend von der Anerkennung des Status quo, Erleichterung für die Menschen in der DDR und in Ostberlin geschaffen werden.59 Im Dezember 1963 zeitigt diese ›Politik der kleinen Schritte‹ ihren ersten Erfolg. Als der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats der DDR, Alexander Abusch, Brandt Verhandlungen über ein Abkommen vorschlägt, das Westberlinern während der Weihnachtszeit Verwandtenbesuche in der Hauptstadt der DDR ermöglichen soll, kommt es am 17. Dezember 1963 überraschend zu einer Einigung: Staatssekretär Erich Wendt (DDR) und Senatsrat Horst Korber (Westberlin) unterzeichnen das erste sogenannte ›Passierscheinabkommen‹, dem in den Jahren 1964 und 1965 weitere folgen sollten.60 Die von der Westberliner SPD ausgehende Politik des Ausgleichs innenpolitischer Gegensätze und ihr Einsatz für ›menschliche Erleichterungen‹ im geteilten Deutschland führen dazu, dass sich zahlreiche linke Intellektuelle und Schriftsteller der Partei annähern. So machen sich einige Autoren der Gruppe  47 in dem von Hans Werner Richter zusammengestellten Band ›Plädoyer für eine neue Regierung‹ für einen Regierungswechsel zugunsten der SPD stark.61 Vor allem Günter Grass, der bereits seit 1961 in Kontakt zu Egon Bahr steht und Wahlkampftexte für die SPD verfasst hat, setzt sich aktiv für einen politischen Wandel ein

57 Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 217 f. Vgl. ebenso den Beitrag: Berlin und die Entspannung. In: Der Tagesspiegel Nr. 5471, 8. September 1963, S. 1 f. 58 Zitiert nach: Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 217. 59 Ebd., S. 218. Vgl. ebenso Peter Merseburger: Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist. Stuttgart, München 2002, S. 441 f. 60 Vgl. Winkler: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, S. 228 f. 61 Hans Werner Richter (Hrsg.): Plädoyer für eine neue Regierung oder keine Alternative. Reinbek 1965.



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und unternimmt eine vom Sozialdemokratischen Hochschulbund organisierte Wahltournee durch Deutschland.62 Auch Ingeborg Bachmann, die sich in ihrer Berliner Zeit mehrfach politisch engagiert – sie unterzeichnet einen offenen Brief gegen den Vietnam-Krieg und beteiligt sich 1963 an einer Klage gegen den CDU-Generalsekretär Josef Hermann Dufhues, der die Gruppe  47 als ›geheime Reichsschrifttumskammer‹ bezeichnet hat –, tritt für die neue Politik unter Willy Brandt ein.63 Im September 1965 nimmt sie an einem von Günter Grass in der Bayreuther Stadthalle initiierten Empfang im Anschluss an eine Wahlveranstaltung der SPD zur Bundestagswahl teil. Aus dem Briefwechsel mit dem befreundeten Komponisten Hans Werner Henze geht jedoch hervor, dass die Autorin ein durchaus gespaltenes Verhältnis zur Politik der SPD, vor allem aber gegenüber der aktiven Einmischung eines Künstlers in realpolitische Belange hat. Einerseits versucht sie Henze für eine Teilnahme in Bayreuth zu begeistern (weil »diese Partei endlich die Wahlen gewinnen muss, damit man überhaupt weitermachen kann in diesem Land«),64 andererseits warnt sie ihn vor einer zu starken Identifikation »mit einer Partei, die das kleinere Übel ist«, und verweist auf die Aufgabe des Künstlers, »die Pragmatiker in die Schranken zu weisen und ein[ige] wenige würdige Dinge zu vertreten und zu verteidigen«, die »absolut [sind] obwohl sie nur unsren Köpfen entsprungen sind, die Konzeptionen der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Freiheit«.65 Auch in Interviews bezieht Bachmann Stellung gegen die Vereinnahmung der Literatur durch einen »konventionellen Politikbegriff«, der an tagesaktuelle politische Diskurse, an Institutionen und Parteien gebunden ist.66 Regelmäßig weist sie die Frage nach ihrer politischen Gesinnung oder Meinung zurück, da »in der Ansicht, in der Meinung [...] die Phrase« regiere (GuI 91). Trotz dieser explizit betonten Distanz ist gerade auch ›Ein Ort für Zufälle‹ Zeugnis dafür, wie intensiv sich Bachmann gegen Mitte der 1960er Jahre in ihrer Poetik mit der konkreten politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation im geteilten Deutschland, vor allem aber in Berlin, auseinan-

62 Vgl. das Kapitel ›Das politische Engagement‹. In: Claudia Mayer-Iswandy: Günter Grass. München 2002, S. 106–128, S. 108 f. 63 Vgl. Hermann Glaser: Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd.  II: Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition 1949–1967. München, Wien 1986, S. 185. Vgl. ebenso Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 113 f. 64 Brief an Hans Werner Henze vom 26. Juli 1965. In: Ingeborg Bachmann – Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft. Hrsg. von Hans Höller. München, Zürich 2004, S. 259 f. 65 Brief an Hans Werner Henze vom 30. August 1965. In: Bachmann, Henze: Briefe einer Freundschaft, S. 266 f. 66 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 395.

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dersetzt. Immer wieder erweisen sich Abschnitte und Textpassagen bei genauer Recherche als Anspielungen auf konkrete Ereignisse der Zeitgeschichte – etwa auf die äußerst brisante militärische Konfrontation an den Grenzkontrollpunkten Marienborn und Drewitz, die im Herbst 1963 die Instabilität des Status quo in der geteilten Stadt erneut bewusst werden lässt, oder auf Protestaktionen gegen die Mauer, die zwei Jahre nach dem Mauerbau jedoch bereits einen stark ritualisierten Gestus angenommen haben.67 Darüber hinaus finden weitere wichtige gesellschaftspolitische Entwicklungen und Diskurse der Zeit im Text ihren Niederschlag: Ganz gezielt werden in den Abschnitten politische, kulturelle, kommerzielle und religiöse Symbole fokussiert, mit denen sich die geteilte Stadt Berlin als ›Schaufenster des Westens‹ (»Kempinski«, »Café Kranzler«, »KaDeWe«, »Neckermann«, »Defaka«), als Brennpunkt des Kalten Krieges (»Reichstag«, »Brandenburger Tor«, »Checkpoint Charlie«, »Friedrichstraße«), als Gedenkort des Krieges (»Gedächtniskirche«), als politische wie kulturelle Hauptstadt der DDR (»Schiffbauerdammtheater«, »Unter den Linden«) oder Kulturmetropole des Westens (»Akademie der Künste«, »Schillertheater«, »Philharmonie«) präsentiert. Diese zeitgeschichtlichen Implikationen werden jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer gesinnungspolitischen oder ideologischen Stellungnahme der Autorin im Spannungsfeld des Ost-WestKonfliktes. Vielmehr destabilisiert der Text die symbolische Ordnung der Stadt im Rahmen einer permanenten Bewegung der grotesken Verzerrung, Deformation und Destruktion gesellschaftspolitischer wie physikalischer Relationen, bei der unterdrückte Affektzustände, verborgene oder verdrängte Gefühlsstrukturen und psychische Impulse freigelegt werden. Es sind die hinter der bewusst zur Schau gestellten »Normalität« vorhandenen seelischen Zerrüttungen, die Ängste und Sehnsüchte, Gewaltpotentiale und Ohnmachtsgefühle der Berliner Bevölkerung, die der Text konsequent bloßlegt.68 »Die Beschädigung von Berlin«, heißt es ent-

67 Vgl. Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 127–139, S. 135 f. 68 In den ›Frühen Entwürfen‹ der Büchner-Preis-Rede erörtert Bachmann ihre Skepsis gegenüber einer rein artifiziellen Kunst auch mit Blick auf die starken Sublimierungstendenzen in der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit des Kalten Krieges: »wenn insgeheim alles zittert unter der Oberfläche von ungeheuren Erregungen, wenn die Hurrikane und Erdbeben in einem Kopf geläufig sind, wenn die Leidenschaften auch bei einem Schluck aus der Coca-Colaflasche um nichts weniger da sind [...] wenn die Welt weitergeht, in ihrem Normalzustand, aus dem sie jeden Tag kippen kann, dann fangen die stillen Zerreißproben an, das Tauziehen, die Schmerzen, die keinen lauten Schrei vertragen, die Hoffnungslosigkeit, die keine Kundgebung verträgt. Heikle Zeiten für die Literatur, heikel das auch zu sagen, weil es die Mode wegsagt, weil es ihr längst gelungen ist, das was nicht wahr daran ist, zu formulieren und einen Gassenhauer aus der Not zu machen, den philosophischen, den literarischen, den kritischen.« (ÖNB: K 7975, N 732; KA I 176 f.)



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sprechend im Anhangstext der Buchpublikation, »erlaubt weder Mystifizierung noch eignet sie sich zum Symbol. Was sie erzwingt, ist jedoch eine Einstellung auf Krankheit, auf eine Konsequenz von Krankheitsbildern, die wiederum Krankheit hervorruft.« (OfZ 70) Auch in anderen Texten dieser Zeit formuliert Bachmann mehrfach ihr tiefes Misstrauen gegenüber einer bundesdeutschen Gesellschaft, die ihre Freiheitsliebe, Weltoffenheit und Mitmenschlichkeit permanent in Symbolen oder demonstrativen Handlungen zur Schau stellt, ohne zu wissen, »was Demokratie ist« (KS 379). So erblickt sie in einem Entwurf zu ihrem als Beitrag für ein internationales Zeitschriftenprojekt geplanten Essay ›Tagebuch‹ in einer Gruppe junger Berliner, die 1962 im Anschluss an die Erschießung Peter Fechters durch DDR-Grenzsoldaten an der Mauer demonstrieren, vor allem die Söhne derer, »die keinen Finger gerührt hätten, kein Wort gewagt hätten für eine Million Erschossene«, und wertet die Stilisierung der Berliner Mauer zum Mahnmal des kommunistischen Terrors als hohle Geste, die letztlich nur zur Verdrängung der Realität diene: »Ihre Mauer ist eine Mauer von Kafka, sie ist rascher ein Symbol, ein Mythos, als eine Realität aus Beton und Stacheldraht [...]. Sie können sich nicht mit der Wirklichkeit arrangieren.« (KS 378 f.) In gleicher Weise drückt ein Textfragment, das wohl unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin 1963 entstanden sein dürfte, den Unmut gegenüber einem offiziell als Solidaritätsbekundung für die eingesperrten Menschen propagierten Boykott der von der DDR verwalteten S-Bahn aus: »ich bringe einfach keinen Funken von Begeisterung für soviel massierten 20-Pfennigaufstand gegen das Regime auf. [...] warum will man die andren noch ärmer machen als sie schon sind.« (KS 400) Die Bloßlegung einer hinter der scheinbaren Ordnung Berlins verborgenen »inwendig[en]« Versehrtheit (6. Abschnitt) geschieht in ›Ein Ort für Zufälle‹ aber nicht nur im Kontext des Kalten Krieges, dessen unterdrückte Konfliktpotentiale permanent die erstarrte Ordnung zu destabilisieren drohen. Immer wieder rücken auch Symptome in den Blick, die wie Manifestationen weiter zurückliegender Ereignisse erscheinen. Neben Textpassagen, die eine unmittelbare Virulenz vergangener Gewaltexzesse evozieren (»Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehängt.«; OfZ 44), sind es gerade auch die den gesamten Text durchziehenden Beruhigungsfloskeln und Relativierungen (»nicht durch Geschosse«; OfZ 20; »es sei kein Angriff«; ebd.; »keine schwarze Wand, nicht einmal Daumenschrauben«; OfZ 44; »das ist kein Krieg«; OfZ 48), die das große Spannungsfeld einer verdrängten historischen Gewalt indizieren. Insbesondere die teils explizite, teils subtile Bezugnahme auf den Terror des Nationalsozialismus steht im Zeichen der seit Beginn der 1960er Jahre verstärkt einsetzenden Auseinandersetzung mit dieser historischen Last in der

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Bundesrepublik Deutschland. Neben der sehr kontrovers geführten Debatte über die Notwendigkeit einer Verlängerung der geltenden Verjährungsfrist für Mord und Beihilfe zum Mord (›Verjährungsdebatte‹), die den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gilt, ist es vor allem der im Dezember 1963 beginnende Frankfurter Auschwitz-Prozess, der den nationalsozialistischen Massenmord ins Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit rückt. Der Hauptversammlung wohnen insgesamt etwa 20.000 Personen bei, unter ihnen ebenso Schulklassen wie Vertreter der deutschen und internationalen Presse, durch welche der Prozess zum Medienereignis wird.69 Nicht nur die Namen von Tätern, wie Robert Mulka, Wilhelm Boger und Oswald Kaduk, sondern auch Folter- und Tötungsinstrumente, wie die ›Boger-Schaukel‹ oder die ›Schwarze Wand‹, durch welche der persönliche Sadismus der Täter hervortritt, werden durch die breite publizistische Begleitung zu feststehenden Begriffen.70 Die bundesdeutsche Gesellschaft sieht sich aber keinesfalls nur mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontiert. Seit Ende der 1960er Jahre nehmen rechtsradikale und antisemitische Straftaten zu.71 Nach dem EichmannProzess 1961 kommt es zu einer Welle antisemitischer Ausschreitungen, und die juristischen Vorbereitungen des Auschwitz-Prozesses werden von Diffamierungskampagnen, Beleidigungen und Drohungen begleitet.72 Die Gründung der NPD

69 Vgl. Gerhard Werle, Thomas Wandres: Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz. Mit einer Dokumentation des Auschwitz-Urteils. München 1995, S. 42 f. 70 Unter anderem Bernd Naumann berichtet laufend für die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ aus dem Gerichtssaal. Vgl. Werle, Wandres: Auschwitz vor Gericht, S. 44. Hans-Ulrich Thamer hat zudem darauf hingewiesen, dass zu Beginn der 1960er Jahre in der sich etablierenden Zeitgeschichtsforschung eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Machtergreifungs- und Kriegspolitik, aber auch mit den Strukturen des Herrschafts- und Vernichtungssystems einsetzte. Hans-Ulrich Thamer: Nationalsozialismus und Nachkriegsgesellschaft. Geschichtliche Erfahrung bei Ingeborg Bachmann und der öffentliche Umgang mit der NS-Zeit in Deutschland. In: Ingeborg Bachmann – Neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposion Münster 1991. Hrsg. von Dirk Göttsche und Hubert Ohl. Würzburg 1993, S. 215–224, S. 220. Neben dem Auschwitz-Prozess finden noch weitere Verfahren gegen Nazi-Verbrecher statt: So nehmen1963 in Nürnberg der ›Massenmordprozess‹ um die Vernichtung jüdischer Ghettos in der Ukraine, in Freiburg der ›Massenmordprozess‹ um Säuberungsaktionen ehemaliger Polizeioffiziere und in Hannover der ›Judenmordprozess‹ gegen zwei ehemalige Gestapo-Angehörige ihren Anfang. 1964 werden u.a. der ›Treblinka-Prozess‹ in Düsseldorf, der ›Euthanasieprozess‹ in Limburg und der Prozess gegen KZ-Wächter von Sachsenhausen in Köln durchgeführt. 71 Vgl. Monika Albrecht: Nationalsozialismus. In: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 237–246, S. 241. 72 Michael Greve: Von Auschwitz nach Ludwigsburg. Zu den Ermittlungen der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen« in Ludwigsburg. In: »Im Labyrinth der Schuld«. Täter – Opfer – Ankläger. Jahrbuch 2003 zur Geschichte



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1964 und die Skandale um die nationalsozialistischen Verstrickungen führender Mitglieder des Bundesnachrichtendienstes – 1963 beginnt das viel beachtete Verfahren gegen die BND-Mitarbeiter und ehemaligen SS-Mitglieder Heinz Felfe, Hans Clemens und Erwin Tiebel – lassen zudem die anhaltende Präsenz antidemokratischer, antisemitischer und nationalsozialistischer Ansichten deutlich werden.73 Die breite mediale Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen und Prozessen täuscht jedoch darüber hinweg, dass in weiten Bevölkerungskreisen und in der Politik weiterhin ein »Klima des Vergessen-Wollens« vorherrscht.74 Insbesondere in Zusammenhang mit der ›Verjährungsdebatte‹ sprechen sich zahlreiche Politiker, Kirchenvertreter und Publizisten dafür aus, einen ›Schlussstrich‹ unter die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu ziehen.75 So treffen die Bekanntgabe der Bundesregierung 1964, keine Initiative für eine Verlängerung der Verjährungsfrist zu ergreifen, und die Ablehnung eines Antrags der SPD im Bundestag auf eine Verlängerung durchaus auf große Zustimmung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit.76 Die Skepsis der Regierungskoalition gegenüber einer anhaltenden Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

und Wirkung des Holocaust. Hrsg. von Irmtrud Wojak und Susanne Meinl. Frankfurt a.M. 2003, S. 41–63, S. 51. 73 Zu diesem Skandal, der v.a. den BND in die Kritik bringt, vgl. u.a das Kapitel ›Hohe Schule West – hohe Schule Ost‹. In: Heiner Emde: Verrat und Spionage in Deutschland. Texte – Bilder – Dokumente. München, Zürich 1980, S. 175–239; S. 202–204. Vgl. ebenso das Kapitel ›Felfe und Cie. Braune Hemden, weiße Westen, rote Kappen‹ in: Joachim Joesten: Im Dienste des Mißtrauens. Das Geschäft mit Spionage und Abwehr. München 1964, S. 176–184. Vgl. ebenso den Abschnitt ›Doppelagent Heinz Felfe‹. In: Eva Jentsch: Agenten unter uns. Spionage in der Bundesrepublik. Düsseldorf, Wien 1966, S. 159–164. 74 Werle, Wandres: Auschwitz vor Gericht, S. 30. Vgl. dazu auch den Beitrag zur Verjährungsdebatte mit dem Titel ›Sicher im Mai‹ der in der Oktober-Ausgabe des ›Spiegels (Nr. 42) von 1964 erscheint. Darin werden die Reaktionen des Unions-Abgeordneten Karl Kanka und des Fraktionschefs Will Rasner zitiert, die »aus »Gründen der Befriedung« eine Generalamnestie für braune Mörder« fordern (S. 37). Sicher im Mai. In: Der Spiegel 42 (1964), S. 34–37. 75 Vgl. Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 220. Selbst der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle ist der Ansicht, dass eine Verlängerung der am 8. Mai 1965 endenden Verjährungsfrist »weder wünschenswert noch erforderlich sei«. Zitiert nach: Der Tagesspiegel Nr. 5670, 6. Mai 1964, S. 16. 76 Vgl. Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen. Dokumentation der parlamentarischen Bewältigung des Problems 1960–1979. Teil I. Hrsg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestags. Bayreuth 1980, S. 50–60; Vgl. Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. München, Wien 1999, S. 103–110. Vgl. ebenso Assmann, Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit, S. 220. Zur medialen Berichterstattung vgl. Wahrscheinlich keine Ver-

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findet bereits 1963 ihre politische Legitimation in Ludwig Erhards Regierungserklärung, in der er vom »Ende der Nachkriegszeit« und der Notwendigkeit spricht, den Blick nach vorne auf die Probleme der Gegenwart zu richten.77 Dass Ingeborg Bachmann die Debatte um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus intensiv verfolgt, zeigen ihre Unterschrift auf einem offenen Brief gegen die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen und eine kurze Textpassage, die genetisch eng mit der Büchner-Preis-Rede verbunden ist: »Diese Welt ist voll von Mördern, die frei ausgehen, nicht einmal wegen einer Verjährungsfrist.« (KA I 275) Ihre Sensibilität gegenüber jener Haltung des ›Vergessen-Wollens‹ liegt in einem fundamentalen Misstrauen begründet, mit dem sie der gesellschaftlichen Neuordnung in Deutschland und in Österreich nach dem Krieg begegnet. Bereits in den Gedichten und Erzählungen der 1950er Jahre ist eine Kritik am Nachleben der NS-Zeit in der Nachkriegsgesellschaft erkennbar, die sich auf die Rückkehr der »Henker von gestern« in die alten Machtpositionen bzw. auf den ›vermischten Zustand‹ einer Gemeinschaft aus Tätern und Opfern nach dem Krieg bezieht.78 Zu dieser Auseinandersetzung mit der personellen Kontinuität kommt in den Texten und Textentwürfen der 1960er Jahre jedoch eine wesentliche Komponente hinzu: In den Entwurfsfragmenten des ersten ›Todesarten‹- und des ›Franza‹Romans, aber auch in einigen zu Lebzeiten unveröffentlichten Gedichtentwürfen aus dem Umfeld der Büchner-Preis-Rede gewinnt erstmals die Fokussierung auf die Kontinuität faschistischer Gewaltstrukturen in den zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und sprachlichen Alltagsbeziehungen, auf das ›Prinzip Faschismus‹, an Kontur.79 So deutet sich etwa in den »Gefühlsversuche[n]«,

längerung der Verjährungsfrist für Mord. Bedenken gegen Sondergesetz. In: Der Tagesspiegel Nr. 5801, 9. Oktober 1964, S. 5. 77 Regierungserklärung Ludwig Erhards am 18. Oktober 1963. Zitiert nach Dubiel: Niemand ist frei von Geschichte, S. 91 f. Vgl. Morsey: Die Bundesrepublik Deutschland, S. 80. Am 7. September 1964 betont Ludwig Erhard aus Anlass des 15. Jahrestages der Eröffnung des deutschen Bundestages nochmals, dass die Deutschen zu einem gesunden Selbstbewusstsein zurückgefunden hätten und aus dem Schatten des Dritten Reiches herausgetreten seien. Vgl. Dubiel: Niemand ist frei von Geschichte, S. 96 f. 78 Vgl. das Gedicht ›Früher Mittag‹ aus ›Die gestundete Zeit‹: »Sieben Jahre später,/ in einem Totenhaus,/ trinken die Henker von gestern,/ den goldenen Becher aus«. (W I 44 f.) Vgl. ebenfalls die Erzählung ›Unter Mördern und Irren‹ aus ›Das dreißigste Jahr‹: »Damals, nach 45, habe ich auch gedacht, die Welt sei geschieden, und für immer, in Gute und Böse, aber die Welt scheidet sich jetzt schon wieder und wieder anders. Es war kaum zu begreifen, es ging ja so unmerklich vor sich, jetzt sind wir wieder vermischt, damit es sich anders scheiden kann, wieder die Geister und die Taten von anderen Geistern, andere Taten.« (W II 173) Zur Thematik des Nationalsozialismus in Bachmanns Werk vgl. Albrecht: Nationalsozialismus, S. 237–246. 79 Vgl. Christine Lubkoll: »Dies ist der Friedhof der ermordeten Töchter«. Geschlechterdifferenz und Psychoanalyse in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«. In: Studien zur Kinderpsychoanaly-



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»Liebesversuch[en]«, »Furcht- und Mut-Untersuchungen«, die ein »seltsamer Klub« in Bachmanns Entwurf eines Wiener Zeit- und Gesellschaftsromans nach dem Krieg durchführt (KA I 99 f.), ein subtiles Weiterleben jenes gewaltsamen Drangs zur Objektivierung an, der im Nationalsozialismus medizinische Versuche an Menschen möglich werden ließ.80 Besonders deutlich formuliert auch ein Gedichtentwurf die Zusammengehörigkeit von nationalsozialistischen Gewaltpraktiken und Ordnungsstrukturen der Nachkriegsgesellschaft, wenn das Ich vor dem Hintergrund seiner Internierung in ein Krankenhaus die Frage formuliert: »Wie soll einer allein soviel erleiden können,/ soviele Deportationen«. (UG 60) Das Textfragment, dessen Entstehung aufgrund seiner lexikalischen und thematischen Gestaltung wohl in die zeitliche Nähe der Büchner-Preis-Rede gerückt werden darf, stellt explizit jene gesellschaftlich legitimierten Ausgrenzungs- und Unterdrückungspraktiken in den Kontext des nationalsozialistischen Terrors, die in ›Ein Ort für Zufälle‹ als rezidivierendes Merkmal der öffentlichen Sphäre und ihrer Institutionen gestaltet werden. Insbesondere in den Internierungspraktiken einer medizinisch-psychiatrischen Anstalt führt der Text paradigmatisch Selektion, Subordination und Degradierung als grundlegende Mechanismen und Praktiken der gesellschaftlichen Ordnung vor Augen. Diese Bloßstellung einer strukturellen Gewalt, die sich in den Romanfragmenten des ›Todesarten‹-Projekts über den gesellschaftlichen Raum hinaus auch auf die privaten Verhältnisse ausdehnt,81 konterkariert die Auffassung vom Faschismus als einer historischen Erscheinung.82

se XV (1999), S. 74–96, S. 78. Ebenso Thamer: Nationalsozialismus und Nachkriegsgesellschaft, S. 215–224, S. 223. Zur Kontinuität faschistischer Strukturen in der Sprache vgl. Karin Lorenz-Lindemann: Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt: Aspekte zur Thematisierung der Sprache. In: Klangfarben: Stimmen zu Ingeborg Bachmann. Internationales Symposium Universität des Saarlandes 7. und 8. November 1996. Hrsg. von Pierre Béhar. München 2000, S. 99–126. 80 Vgl. Dirk Göttsche: Auf der Suche nach der »großen Form« – Ingeborg Bachmanns erster Todesarten-Roman. In: Klangfarben: Stimmen zu Ingeborg Bachmann. Internationales Symposium Universität des Saarlandes 7. und 8. November 1996. Hrsg. von Pierre Béhar. München 2000, S. 19–40, S. 32 f. 81 In ›Das Buch Franza‹ wird der Faschismus-Begriff auf das Verhalten eines seine Frau zum bloßen (wissenschaftlichen) Objekt degradierenden Mannes angewandt. Vgl. Thamer: Nationalsozialismus und Nachkriegsgesellschaft, S. 222. 82 Ein wichtiger Bezugspunkt für Ingeborg Bachmanns Auffassung vom Faschismus als einem überzeitlichen Prinzip in gesellschaftlichen wie privaten Beziehungen mag Marie Luise Kaschnitz’ 1963 veröffentlichtes Werk ›Wohin denn ich?‹ sein, dessen Manuskript Ingeborg Bachmann 1962 gelesen hat und in dem sich die Kollegin mit dem Gedanken beschäftigt: »daß die Grausamkeit, die damals mit so offenem Hohn gewaltet hatte, nicht wie durch einen Zauberschlag verschwunden sein könne, daß sie noch irgendwo lauere, bereit hervorzubrechen und völlig sicher, ihre Opfer zu finden.« Zitiert nach Albrecht: Nationalsozialismus, S. 243. Dieser

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Bezieht man die Vorstufen von ›Ein Ort für Zufälle‹ in die Betrachtung mit ein, so wird deutlich, wie konsequent Bachmann gesellschaftlich tradierte Formen des Gedenkens destruiert. Es scheint kein Zufall zu sein, wenn der Text im 17. Abschnitt mit dem »Knie der Koenigsallee« und »Plötzensee« zwei Orte als Schauplätze einer irritierenden Präsenz vergangener Gewaltexzesse aufruft, die in den 1960er Jahren bereits zu Orten eines alljährlichen ritualisierten Gedenkens an die Verbrechen des Nationalsozialismus und seiner Vorbereiter geworden sind (vgl. Stellenkommentar 17.2.4). 83 Der Text richtet sich jedoch nicht nur gegen den gesellschaftlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in diesen Jahren. Vielmehr werden auch andere ritualisierte Formen des Gedenkens, die als symbolische Handlungen (»Schweigestunde«, »Kerzen im Fenster«, »Kreuz davor«) an die gewaltsame Teilung Berlins erinnern oder als Festakt die 700-jährige Geschichte des Stadtteils Schöneberg zelebrieren (vgl. 26. Abschnitt: »Eine Erinnerung, daß es damals in Schöneberg war«), einer irritierenden Verzerrung unterzogen.84 Diese Infragestellung der offiziellen Erinnerungsdiskurse und Gedenkrituale in der geteilten Stadt Berlin geschieht in ›Ein Ort für Zufälle‹ im Rahmen einer umfassenden Desavouierung kollektiver Verhaltensweisen, gesellschaftlicher Muster und Konventionen als Verdrängungs- und Verschleierungspraktiken, deren Absicht angesichts permanent hervordrängender Gewaltpotentiale deutlich wird. Auch wenn ein besonderer Fokus auf den Symbolen der Westberliner Wohlstands- und Konsumkultur liegt (»Kadewe«, »Kempinski«, »Café Kranzler«), rückt der Text letztlich die gesamte Stadt mit ihren militärischen und sozialen,

Gedanke Kaschnitz’ nimmt dann vor allem in den Vorreden zu Ingeborg Bachmanns ›Franza‹Roman eine zentrale Stelle ein, wenn die Protagonistin fragt, »wohin der Virus Verbrechen gegangen« sei, der »doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein« kann (KA II 77). Vgl. Albrecht: Nationalsozialismus, S. 243. 83 Vgl. Assmann, Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit, S. 198–203, S. 200 f. Mit der »Gedächtniskirche« ist im 20. Abschnitt ein weiteres populäres Symbol des offiziellen Erinnerungsdiskurses in Westberlin aufgerufen. Auch Elke Schlinsog weist darauf hin, dass im Nachkriegsberlin »Denkmäler und Monumente [...] überhand nahmen«. Unter Bezugnahme auf die ›Gedächtnistheorie‹ Aleida Assmanns, die in derartigen Gedenksymbolen eher eine Entlastung der Erinnerung erkennt, deutet sie insbesondere die Poetik der zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Gedichtentwürfe Ingeborg Bachmanns aus ihrer Berliner Zeit als »nichtsymbolischen Weg«, der Schock, Affekt und Trauma im Sinne Assmanns als »innerpsychologische Stabilisatoren der Erinnerung« nutzt. Vgl. Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 43. 84 Zu den Gedenkveranstaltungen am dritten Jahrestag des Mauerbaus (13.  August 1964) vgl. den ›Spiegel‹-Artikel ›Tote Stadt‹, der auf die Kontroversen bezüglich der Art und Weise eines organisierten Protestes eingeht und Willy Brands (letztlich akzeptierten) Vorschlag zitiert, »die Straßen zu meiden und Westberlin eine Stunde lang zur toten Stadt veröden zu lassen«; Der Spiegel 33 (1964), S. 30.



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kulturellen und kommerziellen Sphären als Schauplatz eines grenzüberschreitenden Prinzips der sozialen Kontrolle ins Zentrum, das auf der zwanghaften Kaschierung und Unterdrückung aller Konfliktpotentiale beruht, sei es durch Narkotisierung oder Beruhigung, Berauschung oder Ablenkung, Bedrohung oder Verordnung, Desinformation oder Geheimhaltung. Insbesondere die durchgehende Stigmatisierung von Alkoholismus und Fresssucht, Kaufrausch und Vergnügungssucht als zwanghafte kollektive Verhaltensmuster, die der Ablenkung dienen (»es wird getrunken und wird getanzt, muß getrunken werden, damit etwas vergessen wird«), rückt ›Ein Ort für Zufälle‹ in die Nähe einer seit Ende der 1950er Jahre an Schärfe gewinnenden Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft als einem ›großen Konsumverein‹.85 Dabei sind es die ökonomisch-sozialen Auswirkungen des Wirtschaftswunders – die breite Etablierung einer Mittelstandsgesellschaft bezeichnet etwa Hans Magnus Enzensberger als »kleinbürgerliche Hölle« – sowie die manipulierenden, das autonome Subjekt schwächenden Kräfte von Werbung und Massenkonsum, die aus soziologischer wie psychologischer Perspektive verstärkt zum Gegenstand kritischer Reflexionen werden.86 Neben dem deutlichen Einfluss psychoanalytischer Modelle – seit Ende der 1950er Jahre lässt sich innerhalb der Kulturkritik eine Tendenz zur Interpretation gesellschaftlicher Phänomene auf der Grundlage von Freuds Individual- und Massenpsychologie erkennen – kommen wichtige theoretische Impulse zu einer alltagsorientierten Kulturkritik vor allem aus dem

85 Vgl. dazu das Kapitel ›Der große Konsumverein‹. In: Glaser: Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition, S. 94–98. Vgl. ebenso das Kapitel ›An der Konsumfront‹ in: Ansgar Fürst: Im deutschen Treibhaus. Tendenzen und Diagnosen der Adenauer-Zeit. Eine Spurensuche in der zeitgenössischen Literatur. Freiburg i.B. 2003, S. 63–69. 86 Hans Magnus Enzensberger: Das Plebiszit der Verbraucher (1960). In: Enzensberger, Einzelheiten I. Bewusstseins-Industrie. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1973, S. 168. Grundlegend ist Adornos und Horkheimers Kritik an der Reklame in der ›Dialektik der Aufklärung‹. Reklame wird darin als »Lebenselixier« der Kulturindustrie vorgestellt, hinter der sich die »Herrschaft des Systems« verschanze. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. III. Darmstadt 1998, S. 185 f. Unter Bezugnahme auf dieses Standardwerk der Kulturkritik, aber auch beeinflusst von amerikanischen Autoren wie Vance Packard (Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in Jedermann) erscheinen in der Bundesrepublik Deutschland seit Ende der 1950er Jahre verstärkt Publikationen, die sich mit den psychologischen Auswirkungen der Werbung auseinandersetzen; so Eberhard Maseberg: Die geheimen Verführer. In: Süddeutsche Zeitung, 19./20. Oktober 1957; Karl Korn: Der manipulierte Mensch. Perspektiven der amerikanischen Sozialingenieure. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. August 1957; Klaus Arnsperger: Die Garde der heimlichen Verführer. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 52, 1958; Martin Mayer: Madison Avenue. Verführung durch Werbung. Köln 1959; Ernst Dichter: Strategien im Reich der Wünsche. Düsseldorf 1961; Willy Bongard: Männer machen Märkte. Mythos und Wirklichkeit der Werbung. Hamburg 1963.

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Umfeld der Frankfurter Schule. So versteht Herbert Marcuse die Organisation des kommerziellen wie kulturellen Massenkonsums in seinem Werk ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ als Teil eines umfassenden Systems der kollektiven Erfassung, Objektivierung und Unterdrückung des Individuums, die in der modernen Industriegesellschaft ihren Höhepunkt erreicht.87 Wesentlich sind auch die Arbeiten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die eine starke Tendenz zum Konformismus in der ökonomischen wie bürokratischen Ordnung der westlichen Nachkriegsgesellschaften beschreiben. Für Bachmann, die während ihrer ›Frankfurter Vorlesungen‹ im Wintersemester 1959/60 die Bekanntschaft Adornos macht und sich intensiv mit dessen Schriften auseinandersetzt,88 ist die Kritik der Frankfurter Schule an der Entmündigung des Subjekts durch die »Kulturindustrie« vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil diese Mechanismen der Massenkultur als Ausdruck einer Kontinuität faschistisch-totalitärer Praktiken in den demokratischen Nachkriegsgesellschaften wahrgenommen werden.89

87 Vgl. das Kapitel ›Die Dialektik der Kultur‹ in: Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a.M. 1965, S. 80–106. Marcuses Werk erscheint 1955 in den USA (The Beacon Press, Boston), im gleichen Jahr, in dem Bachmann in Boston an einem von Henry Kissinger geleiteten internationalen Seminar der ›Summer School of Arts and Sciences‹ an der Harvard University teilnimmt. Vgl. Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 81 f. Zur Bedeutung von ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ für Bachmann vgl. Marion Schmaus: Kritische Theorie und Soziologie. In: Bachmann-Handbuch. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 216–218, S. 217. 88 Vgl. Monika Albrecht, Dirk Göttsche: Todesarten-Projekt. Überblick. In: Bachmann-Handbuch. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 127–130, S. 127. Vgl. auch Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 472 f. 89 Neben den Reflexionen zur ›Kulturindustrie‹ und den ›Elemente[n] des Antisemitismus‹ in der ›Dialektik der Aufklärung‹ vgl. u.a. die Rede ›Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit‹, in der Adorno seine These vom »Nachleben des Nationalsozialismus« erörtert und in der er die mangelhafte Aufarbeitung der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland letztlich auch auf das Fortbestehen totalitärer Strukturen in der Gesellschaft zurückführt. Die Aufsatzsammlung ›Eingriffe‹, die Adornos 1959 vorgetragene Rede ›Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit enthält‹, befindet sich in der Buchfassung von 1963 in Bachmanns Privatbibliothek. Wesentlich mag auch Adornos Kritik an einer »beschädigte[n] Gesellschaft« in seinem 1951 erschienenen Werk ›Minima Moralia‹ sein. Im Abschnitt ›Die Gesundheit zum Tode‹ kritisiert dieser, dass die gegenwärtige Gesellschaft »die Krankheit aller Einzelnen«, den »Wahnsinn der faschistischen Aktionen und all ihrer zahllosen Vorformen und Vermittlungen«, angestaut habe. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. IV, S. 65–67. Adornos Diagnose, dass die »zeitgemäße Krankheit« daher gerade in allem »Normalen« und »Gesunden« liege, nähert sich Bachmann vor allem in den ›Frühen Entwürfen‹ zur Büchner-Preis-Rede an, in denen sie einer »total gesunden Welt«, in der »die Leute so gesund [sind], daß sie schon wieder krank wirken«



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Ein entscheidender Kontext der Kapitalismus- und Konsumkritik Bachmanns ist zudem die marxistisch orientierte Philosophie und insbesondere das Werk Ernst Blochs.90 In ›Erbschaft dieser Zeit‹, auf das Bachmann im Anhangstext von ›Ein Ort für Zufälle‹ deutlich anspielt, bezeichnet der Philosoph und Kulturkritiker, den sie 1960 auf einem Lyrik-Symposium in Leipzig persönlich kennenlernt,91 Berauschung und Zerstreuung als wesentliche Manipulationspraktiken des Nationalsozialismus. Und in der ›Nachschrift‹ der Neuauflage von 1962 erkennt er in der Gegenwart der geteilten Stadt Berlin ein Fortwirken jener instabilen Zeit des Übergangs – gemeint ist der Zeitraum der 1920er Jahre bis 1933 –, der nun im Westen verdeckt sei »durch überraschenden Wohlstand und zahlreiche Langeweile«.92 Die Entstehungsgeschichte von ›Ein Ort für Zufälle‹ zeugt neben einer intensiven Auseinandersetzung mit kultur- und zeitgeschichtlichen Erscheinungen in Deutschland bzw. in Berlin nicht zuletzt auch von einer persönlichen Lebenssituation der Autorin, die von Schicksalsschlägen, von Krankheit und Verzweiflung geprägt ist.93 Befreundete Schriftsteller berichten von physischen und psychischen Erschöpfungszuständen sowie Depressionen, die im Juni 1963 zu einem schweren Zusammenbruch führen, der Ingeborg Bachmann dazu zwingt, sich in Westberlin in stationäre Behandlung zu begeben.94 Uwe Johnson, Günter Grass

ein Krank-Sein gegenüberstellt, dem »das Gefühl für Unrecht und Ungeheuerlichkeit noch nicht abhanden gekommen ist« (ÖNB: K 4513, N 2025; KA I 175). 90 Im Januar 1963 äußert sich Bachmann bzgl. ihrer derzeitigen Lektüre: »Im Moment sieht es sogar nach recht systematischer Beschäftigung aus mit dem historischen Materialismus, von Marx und Lenin über die diversesten Stationen bis zu Ernst Bloch und Kolakowski.« (GuI 42) 91 Vgl. Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 101. 92 Bloch: Erbschaft dieser Zeit, S. 21 f. Signifikant im Hinblick auf die Darstellung einer instabilen, permanent aus den Fugen geratenden Wirklichkeit in ›Ein Ort für Zufälle‹ ist, dass Bloch den Zustand der Stadt Berlin als einen »Hohlraum mit Funken« bezeichnet, an dem die Zeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs offenbar werden: »Die Wege im Einsturz sind legbar, quer hindurch.« (ebd., S. 22). 93 Andreas Hapkemeyer bezeichnet diese Lebensphase als eine der »schwierigsten und dunkelsten Abschnitte ihres Lebens«. Hapkemeyer: Bachmann. Entwicklungslinien, S. 117. 94 Uwe Johnson berichtet über Bachmanns Zustand in einem Brief vom 21. Juli 1963 an den gemeinsamen Verleger Unseld: »Wirklich besorgt sind wir über die Lage von Ingeborg Bachmann. Am vorigen Sonntag musste sie in ein Krankenhaus gebracht werden. Ich besuche sie täglich, es sind aber kaum Besserungen in ihrem Befinden zu merken. Nach ihren sehr ungefähren Andeutungen kann man ihre Krankheit zurückführen auf psychische Belastung, die bei einer Übermässigkeit die Funktion von Kopfnerven stört, was wiederum den Kreislauf verhagelt. Sie ist öfters nicht bei Bewusstsein, muss bei Krämpfen im Bett festgehalten werden, wird auch unablässig unter Betäubungsmitteln gehalten. Sie ist auf einer Station für Internmedizin, die erst einmal

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und Hans Werner Richter suchen Bachmann regelmäßig auf und versuchen auf Anraten des behandelnden Arztes, durch gemeinsame Ausflüge und Radtouren in den Grunewald den Gesundungsprozess zu beschleunigen. Im Laufe der Zeit stellt sich jedoch eine gewisse Ohnmacht ein angesichts der häufigen Rückschläge. »Aus jeder Enttäuschung rappelt sie sich wieder heraus, um einer neuen entgegenzuleben«, schreibt Richter, und der Verleger Siegfried Unseld reagiert schließlich zynisch-herablassend: »Helfen kann ihr niemand, das weiß ich aus Erfahrung mit ihren Krankheiten, es sei denn, ein Mann, ein vermöglicher, nimmt sich ihrer an, und mit vermöglich meine ich nicht nur Materielles, sondern ein[en] Mann mit viel Zeit, die er ihr opfern kann. Aber wir müssen freundlich ihr gegenüber sein [...].«95 Ihrem ersten Krankenhausaufenthalt in Berlin folgt Ende 1963 ein weiterer, und obwohl sie zwischenzeitlich die Klinik verlassen kann, bleibt Bachmann während ihrer gesamten Berliner Zeit in ärztlicher Behandlung.96 Ende September 1964, kurz vor der Verleihung des Büchner-Preises, begibt sie sich zur Erholung nach St. Moritz in ein Kurhotel, und im Februar und März 1965 folgen zwei weitere Sanatoriumsaufenthalte in Baden-Baden. In einem Gespräch mit Leslie Morris vom 4. Januar 1999 erinnert sich Hans Werner Henze an eine stets latent vorhandene Krankheit, an Schlafstörungen und Medikamentenabhängigkeit.97 Immer wieder zieht sich Bachmann in die Abgeschiedenheit der Villa im Grunewald zurück, wo sie nach einer anfänglichen Unterbringung in einem Gästeatelier der Akademie der Künste seit Juni 1963 wohnt. Berlin bestehe »nur mehr aus dem Grunewald«, schreibt sie an Peter Szondi im Dezember 1963.98 Adolf Opel, einem Wiener Publizisten, Theater- und Filmautor, den sie im Januar 1964 in

eine Gesamtuntersuchung anstellt, aber bisher noch keine neurologische, auf die es wohl ankäme. Zu den Ärzten hat sie nicht das nötige Vertrauen; ihre Angelegenheiten, wie zum Beispiel die Fertigstellung ihrer Wohnung sind ins Schwimmen geraten; oft ist sie tief bedrückt.« Uwe Johnson, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hrsg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger. Frankfurt a.M. 1999, S. 289. 95 Hans Werner Richter: Radfahren im Grunewald. Ingeborg Bachmann. In: Richter: Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47. München, Wien 1986, S. 45–62, S. 56; Johnson, Unseld: Der Briefwechsel, S. 291. 96 Vgl. Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 113, 123. 97 Das Leben, die Menschen, die Zeit. Hans Werner Henze im Gespräch mit Leslie Morris (Rom, 4. Januar 1999). In: »Über die Zeit schreiben« Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd.  II. Würzburg 2000, S. 143–159, S. 146 f. Auf eine Tablettenabhängigkeit Bachmanns weist auch Brigitte Steyer hin. Vgl. Brigitte Steyer: Traumadarstellung und deren Implikationen in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Los Angeles 1999, S. 13. 98 Zitiert nach Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 111.



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Berlin kennenlernt und mit dem sie noch im gleichen Jahr nach Prag und Nordafrika reisen wird, berichtet sie im Dezember resignierend: »Aber vor allem fange ich zum ersten Mal an, mich mit der Vorstellung zu befreunden, daß es nicht heilbar ist, daß ich nicht mehr ausgehen und leben kann wie bisher etc., daß ich mich langsam anders einrichten muß. Ich bin so schwach, daß ich an manchen Tagen gedacht habe, ich sei am Auslöschen.«99 Die Gründe für Bachmanns prekäre gesundheitliche Situation in Berlin werden immer wieder mit der 1962/63 erfolgten Trennung von Max Frisch in Verbindung gebracht. Beide lebten seit 1958 zunächst in Rom, dann in Zürich zusammen.100 Für diese Annahme spricht, dass ihre nervösen Erschöpfungszustände erstmals während der Trennungsphase am Jahreswechsel 1962/63 auftreten. Sie begibt sich aus diesem Grund für vier Wochen ins Zürcher Krankenhaus und wird noch nach der vollzogenen Trennung bis zu ihrem Berlin-Aufenthalt in verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Auch Bachmann selbst hat eine Verbindung zwischen ihrer Krankheit und ihrer Beziehung zu Frisch hergestellt. Im oben zitierten Brief an Opel nennt sie als Auslöser eines Rückfalls eine, »wenn man will, lächerliche Nachricht, in Zusammenhang mit der alten Sache [...]«.101 Sie bezieht sich hier auf die Veröffentlichung von Frischs Roman ›Mein Name sei Gantenbein‹ im Herbst desselben Jahres, den sie als unrechtmäßige Ausbeutung ihrer privaten Lebensgeschichte auffasst.102 Dabei ist es gerade die literarische Umsetzung, die sie als den eigentlichen Verrat bzw. als versuchte Vernichtung ihrer Person anprangert und Frisch direkt vorwirft: »[...] denn das Buch, der Missbrauch eines Menschen, mit dem man fast fünf Jahre gelebt hat, als Studienob-

99 Zitiert nach ebd., S. 123. 100 Sigrid Weigel wertet das Zerbrechen der Beziehung als deutliche Zäsur in Bachmanns Leben, die auch den Verlust alter Freundschaften nach sich zieht; Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 335. Hans Werner Henze erinnert sich an eine Persönlichkeitsveränderung besonders »nach dieser Trennung« von Frisch; Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt a.M. 1996, S. 236. Klaus Wagenbach schreibt, dass Bachmann »erschöpft von einer unglücklichen Liebe, aus Rom nach Berlin« gekommen sei; Bachmann, S. 43–54, S. 51. Jost Schneider charakterisiert die Trennung von Frisch als »jene Wende im Leben Bachmanns, die aus der beliebten und erfolgreichen Nachwuchsautorin eine viel kritisierte und verurteilte, gesundheitlich labile und schließlich medikamentenabhängige Außenseiterin werden ließ«. Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 160. Walter Höllerer berichtet in Peter Hamms Film darüber, »wie Ingeborg Bachmann unter der Trennung von Max Frisch, die zeitlich genau vor ihrem Berlin-Aufenthalt liegt, gelitten habe [...]«. Zitiert nach Sauthoff: Die Transformation (auto)biographischer Elemente, S. 140. Vgl. auch Michèle Pommé: Ingeborg Bachmann – Elfriede Jelinek. Intertextuelle Schreibstrategien in Malina, Das Buch Franza, Die Klavierspielerin und Die Wand. St. Ingbert 2009, S. 45. 101 Zitiert nach Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 123. 102 Vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 335 f. Vgl. ebenso Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 96 f.

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jekt, sind nicht ungeschehen zu machen«.103 Spuren dieser kränkenden Erfahrung finden sich in einigen Texten des ›Todesarten‹-Projekts. ›Die gestohlenen Jahre‹ und die im Romanfragment ›Requiem für Fanny Goldmann‹ beschriebene Affäre der Eka Kottwitz mit dem »bedeutenden Prosaisten« (KA I 117–126, 400 f.) sind am unmissverständlichsten auf Frischs Verhalten beziehbar.104 Die Anspielungen gehen jedoch nicht in Bachmanns persönlicher lebensgeschichtlicher Erfahrung auf, sondern werden als überindividuelle Muster zu einem zentralen Thema der ›Todesarten‹, der »Tötung des Weiblichen in der männlichen Kunstproduktion« erweitert.105 Trotz dieser naheliegenden Bezüge greift die Reduktion der Bachmann’schen Krise in Berlin auf die verletzende Trennung von Frisch zu kurz.106 Vor allem die von der Dichterin in literarischen Texten und persönlichen Dokumenten mehrfach hervorgehobene Korrelation ihrer Krankheit mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Berlin steht einer rein biographischen Betrachtungsweise entgegen.107 So berichtet sie in ihrem Fragment gebliebenen Essay über ›Witold Gombrowicz‹, den polnischen Schriftsteller, der 1963 ebenfalls auf

103 Bachmann in einem Brief an Max Frisch Ende 1964. Zitiert nach: Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 97. 104 Vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 343. 105 Ebd., S. 346 f. 106 Brigitte Steyer, die versucht hat, den Spuren traumatischer Erlebnisse in Bachmanns Leben und Werk nachzugehen, erwägt für Bachmanns Zusammenbruch das Wirksamwerden weiter zurückliegender Erfahrungen: »Ob eine etwa vierjährige Beziehung zwischen zwei erwachsenen, zugegeben schwierigen Persönlichkeiten wie Bachmann und Frisch, allerdings so das seelische Gleichgewicht zerstören kann, ohne daß bereits viel früher schwerwiegende Erfahrungen in Bezug auf vertraute Personen gemacht wurden, darf aus psychologischer Sicht bezweifelt werden. In Bachmanns Charakter sind tiefe Verwundungen sichtbar, die sie äußerst verletzbar und unsicher zurückließen, in ständiger Angst, verlassen zu werden, immer am Rande des Abgrunds. Es ist diese Existenzangst, die sich in vielen ihrer Texte, besonders im »Todesarten«-Projekt, widerspiegelt und die zugleich deren überwältigende Ausdruckskraft ausmacht.« Steyer: Traumadarstellung und deren Implikationen, S. 29. Ebenso betont Renate Langer, das die verbreitete Stigmatisierung von Frisch als »Sündenbock« für »eine der schlimmsten Lebenskrisen der Österreicherin« den Blick einenge und dazu führe, dass »nicht nur deren angeblich idyllische Kindheit sondern auch eine andere Leerstelle in der Biographie unangetastet« bleibe: »Welche Rolle spielten die Ärzte? Wer verschrieb ihr die Psychopharmaka, von denen sie abhängig wurde? Wer hat sie jahrelang regelmäßig mit Nachschub versorgt?« Langer: Schmerzensfrau und Immaculata, S. 65–68. 107 »Lebensgeschichtliche Erklärungen«, die Bachmanns Texte der 1960er Jahre »ausschließlich aus der biographischen Erfahrung einer tiefgreifenden Kränkung verstehen« hält auch Hans Höller für »fragwürdig«, da sich in der »exzessiven sprachlichen Darstellung der physischen Tortur« eine »bewußtere[] geschichtliche[] Reflexion« wiederspiegle. Hans Höller: Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Texte und Kommentare. In: LuG 36 f.



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Einladung der Ford-Foundation aus dem argentinischen Exil für ein Jahr nach Westberlin kommt, von der Unerträglichkeit einer Stadt, die »nach Krankheit und Tod riecht«, von der »Hölle an Geräuschen« (KS 484), dem »Stumpfsinn in jedem Gegenstand« (KS 482) und dem schockierenden Verhalten einiger Berliner, die »einen kollektiven Selbstmord« (ebd.) provozieren. Das erschütterndste Zeugnis der Einsamkeit und Hilflosigkeit, der Wut und Verletztheit Bachmanns während ihres Berlin-Aufenthaltes stellt jedoch eine größere Anzahl von zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Gedichtentwürfen und -fragmenten dar, die teils in Hans Höllers historisch-kritischer Edition ›Letzte unveröffentlichte Gedichte‹ (1998), teils in dem Nachlassband ›Ich weiß keine bessere Welt‹ (2000) publiziert wurden und werkgeschichtlich zum Kontext von ›Ein Ort für Zufälle‹ gehören. Immer wieder ist es die Gewalt der gesellschaftlichen Ordnung in Berlin, die in Bildern einer bedrohlichen Umwelt als Ursache einer tiefen inneren Verstörung, Entmenschlichung und Todessehnsucht vor Augen geführt wird. In deutlicher Affinität zum thematischen und motivischen Gehalt der Büchner-Preis-Rede vermitteln Gedichtentwürfe wie ›Schallmauer‹, ›Im Feindesland‹, ›Die Folter‹ oder ›Das Deutsche Wunder‹ ein Geräuschchaos, erzeugt von Düsenjets, »Manöver[n]«, »tausend Reklamen« und »Alarmpfeifen«, dem das menschliche Ich schutzlos ausgeliefert ist und das alles zu vernichten droht.108 Dabei werden diese bedrängenden Phänomene nicht einfach als Begleiterscheinungen des modernen Großstadtverkehrs evoziert, sondern als Signaturen einer historischen Entwicklung, die von Krieg und Vernichtung geprägt ist.109 All diese Texte und Textfragmente, die in zeitlicher Nähe zu ›Ein Ort für Zufälle‹ entstanden sind, reflektieren eine Verstörung als zwanghafte Reaktion auf eine äußere Wirklichkeit, in der nicht nur die aktuellen Bedrohungen des Kalten Krieges, sondern auch geschichtliche Kräfte wirken.110 In ihrem eigenen

108 Vgl. dazu den Kommentar von Hans Höller. In: LuG 27–42. 109 Ebd., S. 32. 110 Die Betonung des gesellschaftlichen Kontextes, in dem zahlreiche der Gedichtentwürfe entstanden sind und der sich in diesen auf signifikante Weise widerspiegelt, widerspricht keinesfalls grundsätzlich der Auffassung von Àine McMurtry, dass die Entwürfe existentielle Äußerungen eines weiblichen Ichs seien, »das Gefühle von Verlust, Schmerz und vor allem Frustration über die Unfähigkeit, dem eigenen Leiden Ausdruck zu verleihen, zu artikulieren versucht.« Àine McMurtry: Die »gefallene Lyrikerin« – ein Verdikt und seine Wirkung. In: Mythos Bachmann. Zwischen Inszenierung und Selbstinszenierung. Hrsg. von Wilhelm Hemecker und Manfred Mittermayer. Wien 2011, S. 131–153, S. 139. Die Verwendung »radikal gebrochener Formen« (ebd., S. 143), die McMurtry als kalkulierte »Verweigerung gegenüber ästhetischen und kulturellen Normen« interpretiert (ebd.), erweisen sich bei genauer Betrachtung jedoch nicht nur als Reflex auf eine »persönliche Krise« (ebd.), sondern in gleicher Weise als Reaktion auf eine als traumatisch bzw. traumatisierend empfundene äußere Wirklichkeit in der geteilten Stadt Berlin.

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 Einführung

Kranksein erscheint Bachmann Berlin, die vormalige Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschlands, als ein »traumatischer Ort« (Aleida Assmann), der zur Krankheit zwinge. Ihre Verzweiflung über ihr Dasein in Berlin zum Ausdruck bringend, schreibt sie Adolf Opel in einem Brief vom 9. April 1964: »Hier ist es jeden Tag so grau, daß ich es nicht zu beschreiben vermöchte, man kann weder schlafen noch aufstehen, und ich kann Berlin nicht mögen, ich kann es wirklich nicht.«111 Um dieser als gewaltsam und destruktiv empfundenen Umwelt zu entkommen, unternehmen beide im Januar und Februar 1964 zwei Reisen nach Prag, die wichtige Zäsuren in Bachmanns durch Krankheit und Verzweiflung gekennzeichnetem Berlin-Aufenthalt darstellen. Ihre Besuche fallen in die Zeit eines beginnenden gesellschaftlichen Wandels in der tschechischen Hauptstadt, der mit der Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit einhergeht.112 Die Hoffnung auf eine sozialistische Demokratie, die 1964 bereits in Ansätzen spürbar ist und mit der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings ihr jähes Ende finden wird, lässt diese Stadt für Bachmann zu einem Ort werden, der der schmerzhaften Berliner Wirklichkeit diametral entgegensteht. Spuren dieser komplementären Erfahrung finden sich in wenigen, teilweise unveröffentlicht gebliebenen Gedichten, darunter ›Böhmen liegt am Meer‹, ›Prag Jänner 64‹, ›Polyklinik Prag‹, ›Wenzelsplatz‹ und ›Jüdischer Friedhof‹.113 Trotz der starken Präsenz, die politisch-gesellschaftliche, zeitgeschichtliche und historische Erscheinungen in Ingeborg Bachmanns Poetik der frühen 1960er Jahre entfalten, darf nicht übersehen werden, dass die Schriftstellerin während ihres Berlin-Aufenthaltes zahlreiche anregende Kontakte zu deutschen und ausländischen Künstlern unterhält, die sich u.a. in gemeinsamen Projekten niederschlagen. Insbesondere die ersten Monate fallen in eine Zeit der intensiven Zusammenarbeit mit dem Komponisten Hans Werner Henze. Am Beginn steht dessen Bitte an Bachmann, den Text für das Libretto einer ›Komischen Oper‹ zu erstellen, eine Auftragsarbeit für die Deutsche Oper Berlin aus dem Frühjahr 1963. Nach anfänglichen Meinungsverschiedenheiten einigt man sich auf das Sujet ›Der Junge Lord‹, als dessen literarische Vorlage eine Parabel aus

111 Zitiert nach: Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 116. 112 Zum wichtigen Sprachrohr politischer und kultureller Debatten avanciert ab 1963 die Literaturzeitung ›Literární noviny‹. 113 In einem Brief an Adolf Opel vom 12. Februar 1964 schreibt Bachmann: »[...] heute gehe ich früh schlafen, ganz zufrieden und müde, wie seit langem nicht. Ob sich das hält, weiß ich nicht, aber es kommt mir zum erstenmal vor, daß ich die Vergangenheit überwinden kann, denn wenn Prag ein Wunder war, so wirken doch Wunder nicht immer gleich [...].« Zitiert nach Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 114 f.



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dem Märchen ›Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven‹ von Wilhelm Hauff dient. Der eigentliche Arbeitsbeginn Bachmanns fällt wohl in den Herbst 1963; bereits sechs Wochen später ist die Rohfassung des Librettos abgeschlossen.114 Schwierig gestaltet sich jedoch die Überarbeitung des Textes, die Henze aufgrund kompositorischer Notwendigkeiten von Bachmann einfordert. In einem Brief vom 19.  August 1964 beklagt er sich über die Verzögerungen, die durch das unstete Arbeiten und das »Schildkröten-Verhalten« der Freundin entstanden, betont jedoch zugleich die Qualität der eintreffenden Korrekturen.115 Im Winter 1964/65 erfolgt schließlich in Berlin die Fertigstellung der Musik zum ›Jungen Lord‹. Henze, der zu dieser Zeit ebenfalls Stipendiat der Ford-Foundation ist, fertigt in Berlin zudem eine Vertonung von Bachmanns Gedicht-Zyklus ›Lieder von einer Insel‹ als Chorwerk für Kammerchor und kleines Instrumentalensemble an.116 In einem Brief vom 31. Oktober 1964 bekundet er die tiefe Erschütterung, welche die Lektüre von Bachmanns Büchner-Preis-Rede bei ihm ausgelöst habe: Glaube mir, dass ich über den »Ort für Zufälle« so masslos betroffen und angerührt war, wie es »fast zuviel« ist, wenn es das in der Kunst gäbe, so wahr, und auch mich betreffend und meine verletzten Stellen anfassend [...] und das Offene, Schlimme so aufweisend und die Wahrheit sagend: Alles ist tot und leer, aber das geht nicht, Du darfst nicht sterben, auch ich möchte sterben, aber ich darf nicht sterben.117

Zugleich identifiziert er eine Textpassage aus dem 11.  Abschnitt (»Aber am See entsteht eine Musik, rasch hingeworfen, rasch dem gewellten Wasser anvertraut«) als Anspielung auf seine Arbeit am Libretto, die er teilweise auch in Berlin im Haus des befreundeten Filmkaufmanns Wenzel Lüdecke am Hundekehlensee erledigte. So heißt es weiter: »Und dann haben wir ja auch eine gemeinsame Première vor uns, und da kann ich Dir vorführen, was ich da am See seinerzeit rasch hingeworfen habe, Fräulein.«118

114 Zum Entstehungsprozess des ›Jungen Lord‹ und zur Zusammenarbeit zwischen Henze und Bachmann vgl. Thomas Beck: Bedingungen librettistischen Schreibens. Die Libretti Ingeborg Bachmanns für Hans Werner Henze. Würzburg 1997, S. 207–214, S. 207. Vgl. Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten, S. 235–240. 115 Brief an Bachmann vom 20. August 1964. In: Bachmann, Henze: Briefe einer Freundschaft, S. 250–252, S. 151. 116 Vgl. das Kapitel ›Chorfantasie: Lieder von einer Insel‹ in Christian Bielefeldt: Hans Werner Henze und Ingeborg Bachmann: Die gemeinsamen Werke. Beobachtungen zur Intermedialität von Musik und Dichtung. Bielefeld 2003, S. 263–294, S. 264 f. 117 Brief an Bachmann vom 31. Oktober 1964. In: Bachmann, Henze: Briefe einer Freundschaft, S. 253–255, S. 254. 118 Ebd., S. 255. Vgl. auch den Kommentar zum 11. Abschnitt.

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 Einführung

Neben Henze ist Witold Gombrowicz für Bachmann eine der wichtigsten Bezugspersonen, vor allem zu Beginn ihres Berlin-Aufenthaltes. Gombrowicz, der seit Kriegsbeginn 1939 im argentinischen Exil war und nicht nach Polen zurückkehrte, gehörte ab Mai 1963 ebenfalls zu den ersten Ford-Stipendiaten. Seine im Stil autobiographischer Tagebucheintragungen verfassten ›Berlin Notizen‹ heben vor allem den Tiergarten heraus, den Gombrowicz auf seinen Spaziergängen mehrfach durchquert und wo er die Erfahrung einer erschreckenden mémoire involontaire macht. Der Ort der Kindheit, der vor seinem inneren Auge erscheint, hat sich jedoch aufgrund des Wissens um die einschneidenden Ereignisse seither grundlegend verändert: Aber da wehten mich (als ich im Park des Tiergartens spazierte) gewisse Gerüche an, ein Gemisch von Kräutern, von Wasser, von Steinen, von Rinde, ich wüßte nicht zu sagen, wovon ... ja, Polen, dies war schon polnisch, wie in Maloszyce, in Bodzechów, Kindheit, ja, ja, dasselbe, ist es doch nicht mehr weit, über einen Feldrain, dieselbe Natur ... die ich vor einem Vierteljahrhundert verlassen hatte. Tod. Der Kreis hatte sich geschlossen, ich war zu denselben Gerüchen wiedergekehrt, also Tod. [...] im Tiergarten empfand ich den Tod unmittelbar – und seit diesem Moment weicht er nicht von mir.119

Berlin erscheint Gombrowicz in der Folge als der »von der Geschichte am stärksten durchtränkte[] Ort, [...] seine schmerzhafteste Stelle«,120 an dem sich das zeitliche Kontinuum auflöst, an dem die Kindheit, aber auch die Kriegszeit mit ihren Kundgebungen und Mobilmachungen – »Noch zerrissen mir das Trommelfell die fieberhaften Schreie aus den Radio-Lautsprechern, quälte mich das Kriegsgebrüll der Zeitungen« – in die Alltagswelt der »Insel [...] mit einer Mauer« zurückdrängen.121 Das vermeintlich ruhige und geordnete Westberlin, von ihm zunächst als Wahrnehmungsstörung, als Trugbild und »Fatamorgana« erfahren,122 wird durch die ständigen Anomalien, die auf verdrängte und tabuisierte Erinnerungen einer Tätergeschichte verweisen, im Verlauf seines Aufenthalts zur »Chimärenstadt«, zum Schauplatz eines »verborgenen Tod[es]«, der den Charakter einer »unentzifferten Hieroglyphe« besitzt.123 In diesem »Durcheinandermischen der Zeiten« kommt ihm das Vorhaben, über sich zu schreiben, immer mehr abhanden,124 und

119 Witold Gombrowicz: Berliner Notizen. Pfullingen 1965, S. 73 f. Vgl. auch Witold Gombrowicz: Tagebuch 1953–1969. In: Gombrowicz: Gesammelte Werke. Hrsg. von Rolf Fiegutz und Fritz Arnold. Bde. VI–VIII. München, Wien 1988, S. 842 f. 120 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 75; vgl. Gombrowicz: Tagebuch, S. 844. 121 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 74, 81. Vgl. Gombrowicz: Tagebuch, S. 843, 849. 122 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 73. Vgl. Gombrowicz: Tagebuch, S. 842, 864. 123 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 109. Vgl. Gombrowicz: Tagebuch, S. 866. 124 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 86. Vgl. Gombrowicz: Tagebuch, S. 853.



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die Stadt selbst drängt sich in der Art eines »phantomatischen Gedächtnisses« in den Mittelpunkt des Erzählens.125 Wie Gombrowicz in seinen ›Berliner Notizen‹ festhält, war Ingeborg Bachmann die erste Person, mit der er sich »befreundete«, und auch Bachmann selbst betont später ihre aufrichtige »Zuneigung« (KS 484), die auf gemeinsamen Spaziergängen und bei öffentlichen Anlässen entstanden sei.126 Die sowohl in ›Ein Ort für Zufälle‹, als auch in Gombrowicz’ autobiographischen Tagebuchaufzeichnungen leitmotivisch begegnenden Signaturen von Krankheit und Versehrtheit zeigen einen geschärften, von Misstrauen geprägten Blick auf Berlin, der hinter der neu entstandenen Ordnung und dem wirtschaftlichen wie kulturellen Erfolg das virulente Wirken einer historisch bedingten Gewalt erkennt. In ihrem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Nachruf auf Gombrowicz beschreibt Bachmann das ›Fremd-Sein‹ als gemeinsame Grunderfahrung ihres Aufenthaltes in Westberlin.127 Dieses Gefühl ist elementar und auch nicht abzustreifen durch die sich für beide einstellenden kollegialen und freundschaftlichen Kontakte. In dieser Hinsicht kann Bachmann an zwei kurze Berlin-Besuche der Jahre 1961/62 anknüpfen sowie an die Bekanntschaft mit einigen in Westberlin lebenden Kollegen, die sie zum Teil von den Treffen der Gruppe 47 kennt. Vor allem Günter Grass, der seit 1960 dauerhaft in Friedenau wohnt, und Uwe Johnson, der 1959 von Ost- nach Westberlin übergesiedelt ist, sind ihr in dieser Zeit wichtige Bezugspersonen.128 Hinzu kommen Hans Magnus Enzensberger, Reinhard Lettau, Walter Höllerer, Hans Werner Richter und ab 1964 auch der Ver-

125 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 381. 126 Gombrowicz: Berliner Notizen, S. 72. 127 Vgl. KS 481. 128 Sigrid Weigel weist darauf hin, dass sich Bachmanns Verhältnis zur Gruppe 47, die in dieser Zeit bereits ein »Faktor des Literaturbetriebs und in der Öffentlichkeit zu einer Art moralische[n] Instanz geworden« ist, gegen Mitte der 1960er Jahre als eher ambivalent darstelle und zwischen »innere[r] Distanz und latente[r] Dazugehörigkeit« pendele; Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 385 f. So verteidigt Bachmann zwar die Gruppe in der sogenannten ›Dufhues-Affäre‹ und spricht in einer zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Notiz von der Möglichkeit, Einfluss auf die Rolle der Gruppe innerhalb des kulturpolitischen Diskurses in Deutschland zu nehmen, betont andererseits aber in der Öffentlichkeit immer wieder ihre Distanz, indem sie Kritik am »gemäßigt[en]« Denken der Mitglieder übt (GuI 50) und nach 1962 an keinem der jährlichen Treffen mehr teilnimmt. – Aus dem Kreis der in Berlin lebenden Schriftsteller der Gruppe 47 ist vielleicht Uwe Johnson für sie der engste Vertraute. Bachmann lernt ihn im Oktober 1959 bei einem Treffen der Gruppe kennen. 1962 lebt er in Rom in direkter Nachbarschaft zu ihr und Frisch. Selbst als es zum Bruch zwischen Bachmann und Frisch kommt, gelingt es Johnson, seine enge Freundschaft zu beiden Dichtern aufrechtzuerhalten. Er lektoriert sowohl ›Montauk‹ als auch ›Malina‹, und Frisch erhält von ihm sein Erinnerungsbuch für Bachmann, ›Eine Reise nach Klagenfurt‹, vor der Drucklegung zur Einsichtnahme. Vgl. Hoell: Ingeborg Bachmann, S. 112 f.

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 Einführung

leger Klaus Wagenbach. Man trifft sich auf den von Grass initiierten »opulenten Sonntagsfrühstücken« oder bei gemeinsamen Fahrradausflügen in den Grunewald und diskutiert literarische Projekte, aber auch kulturelle und politische Fragen, die Berlin, das geteilte Deutschland sowietie weltpolitische Lage in Algerien und Vietnam betreffen.129 Die Dominanz gesellschaftspolitischer Themen in den Gesprächen kennzeichnet zugleich die Literatur der erwähnten Schriftsteller. Johnson, dessen Roman ›Mutmaßungen über Jakob‹ noch in Ost-Deutschland entstanden ist, schreibt in Westberlin zahlreiche, thematisch auf Berlin bezogene Aufsätze, die in der Öffentlichkeit sehr kontrovers diskutiert und 1975 vom Suhrkamp-Verlag gesammelt unter dem Titel ›Berliner Sachen‹ herausgegeben werden.130 Auch in seinen beiden Romanen ›Das dritte Buch über Achim‹ (1961) und ›Zwei Ansichten‹ (1965) setzt er sich mit dem Thema der deutschen Teilung auseinander. Grass, der seit seinem Roman ›Die Blechtrommel‹ (1959) große Popularität genießt, nimmt in seinem Gedichtband ›Gleisdreieck‹ (1960), aber auch in zahlreichen Essays und Reden der 1960er Jahre ebenfalls die Teilung Deutschlands in den Blick. Enzensberger verfolgt in seinen Essays dieser Zeit – ›Einzelheiten I‹ (1962) und ›Einzelheiten II‹ (1964) – eine explizite Kultur- und Gesellschaftskritik an der sich als westlich begreifenden Welt im Allgemeinen und an der Bundesrepublik Deutschland im Speziellen. Insbesondere in ihren Büchner-Preis-Reden – Enzensberger erhält den Preis 1963, Bachmann 1964 und Grass 1965 – verweigern sich die drei Autoren dem geläufigen Gestus einer Festrede und vermitteln dem Publikum unterschiedliche Perspektiven auf die Problematik der deutschen Teilung.131 Von der Intensität des Dialoges zwischen Johnson, Grass und Bachmann zeugen neben den thematischen Berührungspunkten in ihren Werken auch gemeinsame Projekte. So planen sie 1961 die Teilnahme an einem internationalen Zeitschriftenprojekt. Dieses besteht aus drei in Italien, Frankreich und der Bundesrepublik ansässigen Redaktionsgruppen, die in Zusammenarbeit mit den Verlagshäusern Juillard (später ersetzt durch Gallimard), Einaudi und Suhrkamp vierteljährlich zeitgleich in den drei Ländern eine gemeinsame dreisprachige

129 Klaus Wagenbach: Nachwort. In: OfZ 1999, S. 49–54, S. 53. Richter: Radfahren im Grunewald, S. 45–62. 130 Zur Diskussion dieser Aufsätze in der Öffentlichkeit vgl. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1980, S. 287 f. 131 Die Thematik äußert sich bei Enzensberger indem er die sprachlichen Verwerfungen der deutschen Teilung, wie sie in Medien, Politik und Gesellschaft zu finden sind, betont. Grass bezieht sich auf den konservativen Wahlkampf, der sich in Wiedervereinigungsphrasen, hinter denen keine ernsthafte Absicht erkennbar ist, äußert.



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Kulturzeitschrift mit dem Titel ›Gulliver‹ herauszugeben beabsichtigen.132 Wegen expliziter Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Algerien-Krieg und den Mauerbau, vor allem aber aufgrund von Unstimmigkeiten bei der Frage des Verhältnisses von Literatur und Politik kommt es im April 1963 zum Abbruch der Kooperation. Dennoch publiziert die italienische Zeitschrift ›Menabò‹ eine Art Probenummer, in der auch Bachmanns Text ›Tagebuch‹ erscheint. Der Essay vollzieht eine polemische Abgrenzung gegenüber einer Kulturpolitik, die sich als staatlich inszenierte »Versöhnung« darstellt, als »Verständigungsrausch und Verbrüderungstaumel« (KS 385) auf »Kulturwochen und Musikwochen für die happy few« (KS 384). Diese Kritik, die sich im Essay verstärkt auf die aktuellen deutsch-französischen Versöhnungsgesten bezieht – mit der Ratifizierung des Elysée-Vertrags sind 1963 zahlreiche Veranstaltungen und Festakte verbunden –, erscheint auch in der Textgenese der Büchner-Preis-Rede als ein zentraler Kontext. Dabei verbindet sich die Konturierung einer öffentlichen Kulturszene von den ersten Entwürfen an mit dem zentralen Motiv der Verdrängung und der Ablenkung von den eigentlichen Konfliktpotentialen in der Gesellschaft: »Man veranstaltet uns, vom Abendkurs bis zum Kongreß, aber es sind nicht unsre Probleme, die besprochen werden« (ÖNB: K4510, N1464; KA 174). In der abschließenden Fassung erhalten die Orte einer staatlich geförderten Kultur dann eine explizite Aufladung als Schauplätze eines gesellschaftlichen Krankheitsbildes, das im 14. Abschnitt mit dem Titel der »subventionierte[n] Agonie« belegt wird (OfZ 39). Günter Grass’ Grafiken, die in der edierten Erstausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹ das Textkorpus ergänzen, sind ein weiteres Indiz für die mitunter intensive Zusammenarbeit der Schriftstellerkollegen in Westberlin. In seinem autobiographischen Werk ›Vier Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht‹ notiert Grass, der auch an der abschließenden Korrektur der Druckfahnen mitwirkt: An einem schmalen Buch unter dem für die Bachmann bezeichnenden Titel ›Ein Ort für Zufälle‹ war ich mit dreizehn Zeichnungen beteiligt. Wie damals für Reinhard Lettau habe ich später für andere Schriftsteller, zuletzt für Erich Loest, Buchumschläge entworfen. Das hätte ich auch gerne für Johnson getan; doch der war Purist.133

132 Der französischen Redaktionsgruppe gehört ein großer Teil der literarischen und philosophischen Avantgarde des Landes an, und auch die italienische Gruppe ist mit namhaften Autoren vertreten. 133 Günter Grass: Vier Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Hrsg. von G. Fritze Margull. 2. Aufl. Göttingen, Darmstadt 1991, S. 121.

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 Einführung

B. Textkomposition und ästhetische Einordnung 1. Aufbau und Gliederungsprinzipien Die Textgenese von ›Ein Ort für Zufälle‹ prägen mehrere konzeptionelle Umbrüche, die nicht nur thematischen Verschiebungen geschuldet sind, sondern auch mit Fragen nach der Möglichkeit der sprachlichen Darstellbarkeit traumatischer Erfahrungsmuster in der Gesellschaft korrelieren. Dem anfänglichen Vorhaben, einen poetologischen Vortrag zu halten und dem Plenum die Problematik einer adäquaten sprachlichen Wirklichkeitsvermittlung im Kunstwerk darzulegen, folgen erste Ansätze, in denen Bachmann den vorher entwickelten Überlegungen im Stile eines poetischen Entwurfs gerecht zu werden versucht. Die sich sukzessive herauskristallisierende Konzeption ist dann die Folge einer intensiven ›Durchdeklinierung‹ verschiedener Darstellungs- und Ordnungsprinzipien, die die Konturierung eines gesellschaftlichen Raumes gewähren, ohne dass ein durchgängiger Handlungsstrang Kohärenz stiftete.134 Dieses Ringen zeigt sich in einer intensiven Arbeit am sprachlichen Ausdruck, an narrativen und stilistischen Verfahren, vor allem aber an der makrostrukturellen Konzeption des Textes. Zunächst in Abgrenzung zu einem außereuropäischen Kulturraum, der als Schauplatz einer individuellen Geschichte vorgestellt wird,135 entwickelt Bachmann voneinander abgegrenzte Textpassagen, die jeweils für sich genommen gesellschaftliche Zustände und soziale Verhaltensmuster in Bezug auf die Berliner Stadttopographie artikulieren. Die Schlussfassung enthält letztlich 26  Textsegmente, die im Folgenden als »Abschnitte« bezeichnet werden. Sie stellen allesamt relativ abgeschlossene sprachliche und narrative Einheiten dar,

134 In einem Textzeugen aus den Vorstufen zur Büchner-Preis-Rede spricht Ingeborg Bachmann von Berlin als einem Ort, der »nicht von einer Person besucht wird, sondern von einem Delirium, von einer Krankheit, könnte man sagen, von schlechten Träumen« und davon, dass »Berlin [...] sich dem Autor mit[teilt]« (ÖNB: K 4595, N 729; KA I 181). Von einer innovativen Suche nach neuen Verfahren ästhetischer Gestaltung zeugt gegen Mitte der 1960er Jahre nicht nur ›Ein Ort für Zufälle‹. Auch in den parallelen Werkvorhaben manifestiert sich ein Arbeitsprozess, der unterschiedliche Möglichkeiten der Gesellschaftsdarstellung bzw. -kritik vor allem im Roman ausprobiert, verwirft oder vertieft. Exemplarisch sei hier auf die scheinbare Verabschiedung einer Hauptfigur in einem frühen Entwurf zum ersten ›Todesarten‹-Roman hingewiesen (KA I 87), die motivisch auf ›Ein Ort für Zufälle‹ voraus weist. Vgl. Göttsche: Auf der Suche nach der »großen Form«, S. 24 f., 36. 135 Bachmann spricht in Bezug auf die Wüste von einem »Ich, dem zuzutrauen ist, daß es sich auf einer Reise befindet, vielleicht weniger auf einer Reise als auf einem Weg der Heilung« (ÖNB: K 4595, N 729; KA I 181).



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deren Eigenständigkeit in der Buchfassung von 1965 zusätzlich durch eine Reihe drucktechnischer und graphischer Methoden der Hervorhebung akzentuiert wird. Dazu gehört die Abtrennung der Abschnitte voneinander durch eine variierende Anzahl von Leerzeilen, so dass mitunter größere freie Flächen oder Seitenumbrüche entstehen. Vier Abschnitte sind so positioniert, dass sie isoliert auf einer Seite liegen. Jeder Textblock beginnt mit einem Gevierteinzug, wobei allein der erste eine Ausnahme bildet, da er mit einer Initiale der gleichen Schrifttype beginnt. Auch die eingefügten Zeichnungen von Günter Grass setzen teilweise deutliche Zäsuren zwischen den Abschnitten. Dem graphisch vermittelten Eindruck des Zusammenhanglosen entspricht auf der Textebene das Fehlen bestimmter Kohärenzfaktoren, die gewöhnlich zur Etablierung einer narrativen Gesamtstruktur in Erzähltexten beitragen.136 Zu diesem Befund gehört das Nichtvorhandensein einer chronologischen Anordnung: Obwohl ›Ein Ort für Zufälle‹ eine Fülle von zum Teil exakt anmutenden Zeitvokabeln enthält, die auf Tages-, Wochen und Jahreszeiten (»Maiensonntag«; »nach Mitternacht«; »am Mittwoch« etc.) oder auf zeitliche Relationen (»jetzt«; »dann«; »seit damals«; »schon wieder« »noch« etc.) verweisen, ergibt sich daraus keine sinnvolle Zuordnung der Abschnitte zu Kategorien wie Nach-, Voroder Gleichzeitigkeit. Bis auf eine Ausnahme im 10. Abschnitt erhalten die Zeitangaben keine zusätzliche Kennzeichnung, die eine Vorher-Nachher-Relation einzelner Erzählsequenzen über die Abschnittsgrenzen hinaus ermöglichte. Die einzige Abfolge ergibt sich aus der Positionierung der Abschnitte im Text selbst. Hinzu kommt, dass einige Ereignisse, die durch gleichwertige deiktische Ausdrücke markiert sind, jahreszeitlich oder zeitgeschichtlich nicht miteinander vereinbar sind. Indem sich ›Ein Ort für Zufälle‹ so der Konturierung eines fiktiven Zeitraums verweigert, der das Erzählte textübergreifend strukturiert, erscheinen die Zeitvokabeln nicht mehr einfach als technisches Instrumentarium des Erzählens, sondern erlangen verstärkt Bedeutung als Vermittlungsinstanzen eines ›handlungsungebundenen‹ Zeitlichkeitsgefühls. Betrachtet man die Temporalität im Text genauer, so rücken zwei Kategorien von Zeitangaben aufgrund ihrer Häufung besonders in den Fokus. Einerseits sind dies Formen, die eine unmittelbare Gegenwärtigkeit bzw. eine Distanzlosigkeit der erzählenden Instanz zum Ereignisverlauf ausdrücken: Hierzu gehören vor allem die temporalen Adverbien »jetzt« und »dann« sowie eine Vielzahl an ingressionsakzentuierenden Ausdrü-

136 Vgl. Kurt Bartschs Hinweis, dass Bachmanns Text keinen »geordnete[n] Überblick« oder eine »logische Erzählfolge« vermittle und »sprunghaft assoziativ und zusammenhanglos erschein[e]«. Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 84.

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 Einführung

cken und Wendungen (»plötzlich«, »im nächsten Augenblick« etc.). Andererseits handelt es sich um Bestimmungen, die eine Unveränderlichkeit der Wirklichkeit oder permanente Wiederkehr vermitteln, wobei den zahlreichen iterativen Adverbien und Adverbialstrukturen (»immer wieder«, »jede Minute«) eine besondere Signifikanz eignet. Diese Zeitlichkeit erhält eine zusätzliche Akzentuierung durch die Andeutung zyklischer Bewegungen. Während etwa der 20.  Abschnitt einen Wochenturnus von Montag bis Sonntag durchspielt, indiziert der 11.  Abschnitt einen stereotypen Witterungswechsel, wenn das Wasser eines Sees »bald friert, auftaut, verschlammt, wieder friert« (OfZ 29). Textübergreifend entsteht so der Eindruck einer die chronologische Ordnung auflösenden Permanenz und andauernden Wiederkehr destruktiver Kräfte, einer Alltäglichkeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fließen: »ist jetzt und schon lange« (OfZ 7); »ist heute, war gestern, wird morgen sein« (OfZ 65). In vergleichbarer Weise drückt sich in ›Ein Ort für Zufälle‹ die Diskontinuität der Darstellung auch durch das weitgehende Fehlen einer konsistenten räumlichen Anordnung aus. Zwar enthält der Text eine den Zeitangaben analoge Fülle von Ortsangaben, die konkrete Gebäude, Straßen oder Plätze Berlins bzw. die Stadt in ihrer Gesamtheit aufrufen, sowie Raumvokabeln, die Innen- oder Außenräume, Stillstand oder Bewegung indizieren, doch resultiert daraus kein stabiles räumliches Koordinatensystem, das der Reihenfolge der Abschnitte bzw. der darin aufgerufenen Schauplätze einen Rahmen verliehe.137 Weder lässt sich ein konstanter point of view erkennen noch werden die Ortswechsel für den Rezipienten im Sinne einer logischen Bewegung durch die Stadt nachvollziehbar.138 Der Konturierung eines perennierenden Zeitgefühls gemäß vermitteln die zahlreichen Zeigegesten im Text (»Aus dem Bahnhof Bellevue«; »im Funkturmrestaurant«; »In der Akademie« etc.), die abrupt und anscheinend willkürlich zwischen in der Realität zum Teil weit auseinanderliegenden Schauplätzen wechseln, den Eindruck einer städtischen Topographie, in der überall und zu jeder Zeit etwas Unfassbares, die raumzeitliche Ordnung in Auflösung Versetzendes manifest wird: »Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer«; »Die ganze Stadt kreist«; »Die Gedächtniskirche fährt zu Himmel«.

137 Suzanne Greuner spricht in diesem Zusammenhang von ›Ein Ort für Zufälle‹ als einer »aus dem Koordinatensystem von Raum und Zeit austretenden Konstruktion«. Vgl. Greuner: Schmerzton, S. 20. 138 Dafür, dass der Verzicht auf eine topologische Organisation der Abschnitte bewusst geschieht, spricht die Streichung einer Textstelle im Verlauf der Textgenese, die das Dargestellte noch als Schilderung aus dem Blickwinkel eines Spaziergängers vermittelt: »wenn man heute durch Berlin geht, heben sich die Straßen um 45 Grad« (ÖNB: K 5419, N 722; KA I 186).



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Dass sich die Abschnitte nicht zu einer logischen Ereigniskette zusammenschließen, liegt aber nicht nur am weitgehenden Fehlen konsistenter raumzeitlicher oder kausaler Relationen, sondern auch am Verzicht auf bestimmte sprachliche Verweis- und Verknüpfungsformen, die der Klärung textueller Bezüge zwischen Objekten, Sachverhalten oder Personen dienen. Zwar enthalten die einzelnen narrativen Sequenzen durchaus eine Vielzahl an Substitutionsrelationen, die einen linearen Erzählfluss ansatzweise andeuten, doch über die Abschnittsgrenzen hinweg ist keinerlei Textkohäsion durch anaphorische oder kataphorische, anadeiktische oder katadeiktische Funktionswörter erkennbar. Auffällig ist die überwiegend unpersönliche Kennzeichnung von Personen und Personengruppen durch nominale Geschlechts-, Berufs- oder Herkunftsbezeichnungen, durch äußerliche Erscheinungs- oder Befindlichkeitsmerkmale, soziale oder administrative Klassifikationen sowie durch eine Vielzahl an Indefinitpronomen. Obwohl einige personale Kennzeichnungen im Text wiederholt Erwähnung finden, wird eine Re-Identifikation durch das Nichtvorhandensein eindeutiger pronominaler oder identitätsbestimmender Bezugselemente verhindert. An keiner Stelle finden sich Namen, Personalpronomina oder Artikel, die über die Abschnittsgrenzen hinweg auf bereits erwähnte oder später vorgestellte Personen verwiesen und damit ein konstantes Repertoire an wiedererkennbaren Figuren bzw. Protagonisten etablierten, das die äußerlich zusammenhanglosen Erzählsequenzen verbindet.139 Obwohl in ›Ein Ort für Zufälle‹ somit keine logisch-progressive Erzählfolge oder Handlung erkennbar ist, stellt der Text kein zusammenhangloses Konglomerat von Textstücken dar. Vielmehr steht der durch die äußere Gestalt, aber auch durch das Nichtvorhandensein bestimmter kohärenzstiftender Faktoren hervorgerufene Eindruck von Offenheit und Sprunghaftigkeit in einem Spannungsverhältnis zu sprachlichen Strukturen und Vertextungsverfahren, die zwischen den Abschnitten ein dichtes Geflecht von Querverbindungen und somit den Eindruck einer kalkulierten Textkomposition entstehen lassen. Signifikant ist die große Fülle sprachlicher Äquivalenzbeziehungen (Jakobson): Zahlreiche syntaktische,

139 Eine signifikante Ausnahme bildet der 17. Abschnitt, in dem der Name Walther Rathenaus ausgerechnet im Moment der dargestellten Tötung im Text Erwähnung findet. Bernhard Böschenstein zeigt, dass in ›Ein Ort für Zufälle‹ »alle Vorgänge pluralisiert werden«. In der Aufhebung von »Einmaligkeit« und »Individualität« erkennt er den größten Unterschied zu Celans Büchner-Preis-Rede, in der der individuellen Stimme, die sich aus dem Kollektiv erhebt, am Beispiel Luciles eine besondere Valenz zukommt. Vgl. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 264. Auch Hans Höller versteht Bachmanns BüchnerPreis-Rede als eine Konstruktion, in der »Personalität« vom »Druck anonym wirkender Gewalten ausgelöscht« ist. Vgl. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 216.

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lexikalische und motivische Wiederholungen oder Variationen sowie unterschiedliche Oppositionsbeziehungen (Antithese, Gegensatz, Negation) etablieren ein Netz von Analogien und Kontrasten auf der Ebene des Gesamttextes, die jenseits pragmatisch-logischer Relationen auch thematische Bezüge indizieren.140 Besonders deutlich wird diese kohärenzstiftende Bedeutung sprachlich hergestellter textinterner Relationen bei der Betrachtung des ersten und letzten Abschnitts. Denn ›Ein Ort für Zufälle‹ etabliert zu Beginn eine signifikante syntaktische Struktur, die aus der Verknüpfung gleichwertiger Kopulasätze zu einer parataktisch-asyndetischen Satzreihe hervorgeht und am Schluss erneut aufgenommen wird (vgl. Überblickskommentare 1.1 und 26.1). Obwohl zwischen Textanfang und -ende somit deutliche syntaktische und semantische Berührungspunkte bestehen, stellt der 26. Abschnitt keine bloße Wiederholung dar. Vielmehr werden einzelne Worte oder Sätze in einen neuen, bedeutungsnuancierenden Kontext gerückt, welcher der finalen Darstellung zunehmend den Duktus einer kontrastierenden Entgegensetzung zur anfänglich etablierten Suchbewegung verleiht – etwa wenn den anfänglichen Bestimmungen »Es [...] kommt, kommt vor und hervor, ist etwas« (OfZ 7) die Antithesen »es ist nichts«, »Es [...] war weiter nichts« und »Es wird nicht mehr vorkommen« (OfZ 66) gegenüberstehen. Der so entstehende Rahmen bildet lediglich den Ausgangs- und Endpunkt eines den gesamten Text umspannenden Netzes aus dezidiert ähnlichen, widersprüchlichen oder gegensätzlichen Formulierungen, die somit getrennte, zum Teil weit auseinanderliegende Erzählsequenzen zueinander in Bezug setzen.141 Gerade das neutrale Pronomen »es«, das im Rahmen der enigmatischen Bewegung des ersten und letzten Abschnitts eine besondere semantische Valenz als sprachliches Substitut eines unbekannten »etwas« in Berlin erlangt hat, behauptet auch in den Binnenabschnitten eine gesteigerte Referentialität und trägt als sprachlicher Konvergenzpunkt variierender physikalischer, gesellschaftlicher und psychischer Phänomene zur Entstehung vielfältiger textueller Zusammen-

140 Auch Jost Schneider weist darauf hin, dass »durch die Wiederaufnahme von Themen, Motiven und Konfigurationen [...] ein[] Kohärenzrahmen« geschaffen wird, »der das inhaltliche Auseinanderbrechen des Textes verhindert«. Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 164. Auf die Strukturprinzipien der »Opposition« und »Wiederholung« in ›Ein Ort für Zufälle‹ verweist darüber hinaus Suzanne Greuner. Greuner: Schmerzton, S. 22. 141 Eva U. Lindemann zeigt ebenfalls die strukturbestimmende Funktion der »Es ist-Satzkonstruktionen« in ›Ein Ort für Zufälle‹ auf und vergleicht diese mit musikalischen Gestaltungsmitteln: kontrapunktische Spiegelung, Umkehrung, Negation, Verkleinerung (musikalische Diminution) und rhythmische Vergrößerung (Augmentation). Unter Bezugnahme auf Arnold Schmitz’ Buch ›Beethovens zwei Prinzipien‹ belegt sie das Vertextungsverfahren in ›Ein Ort für Zufälle‹ mit dem Begriff der »kontrastierenden Ableitung«. Lindemann: »Die Gangart des Geistes«, S. 294.



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hänge in ›Ein Ort für Zufälle‹ bei, die durch keine lineare Handlungsfolge miteinander verbunden sind. Häufig verdichten sich sinnverwandte Wörter auch zu größeren »Wortfeldern«,142 als deren wesentliches Strukturmerkmal sich erneut Oppositionsverhältnissen herauskristallisieren. So kontrastieren den über den gesamten Text verstreuten Vokabeln des Sinnbereichs Destruktion bzw. Unordnung (»Einsturz«, »Kollaps«, »Disharmonie«, »Zerrüttung« etc.) zahlreiche Ausdrücke, die Stabilität und Ordnung vermitteln (»Ruhe«, »Halt«, »Diplomatie«, »Programm« etc.). Dieses Oppositionspaar Unordnung/Ordnung kommt indes aber nicht nur auf der Ebene des Wortschatzes zum Ausdruck, sondern wird auch anhand von sprachlichen Mustern und syntaktischen Strukturen vermittelt.143 Insbesondere die zahlreichen, zumeist modalperspektivisch vermittelten Verpflichtungen, Restriktionen und Forderungen (»dann muß Ruhe sein«; OfZ 8; »der Chefarzt darf nicht belästigt werden«; OfZ 21) befinden sich in einem Spannungsverhältnis zu einer vergleichbaren Anzahl an Wünschen, Sehnsüchten und Affekten, die den gesellschaftlichen Ordnungs- und Zwangsstrukturen entgegenstehen (z.B. »alle wollen auf einmal hinein in das Kadewe«; OfZ 15). Auf der Ebene der Syntax spiegelt sich dieser Konflikt im Wechsel zwischen Textpassagen wider, deren Sätze einen geordneten Periodenbau aufweisen, und solchen, die aus langen, vielgliedrigen und unübersichtlichen Satzkonstruktionen mit einer verwirrenden Anzahl an unterschiedlichen Personenkennzeichnungen, Prädikaten und Objekten bestehen (vgl. 4. Abschnitt). Eng verbunden mit dem Gegensatz Ordnung/Unordnung sind noch weitere Oppositionsbeziehungen, die dem Text Kohärenz verleihen. Hierzu gehören die Komplexe Dynamik/Statik, Lärm/Stille, hell/dunkel, geheim/öffentlich bzw. wahrnehmbar/verborgen. Dabei sind es gerade die zahlreichen Berührungs- und Schnittpunkte zwischen den Oppositionskorrelaten, die innerhalb der einzelnen Abschnitte, aber auch auf der Ebene des Gesamttextes einen konfliktträchtigen, atmosphärisch dichten und spannungsreichen Raum erzeugen, der nicht das Ergebnis durchgängiger Figurenkonstellationen oder eines konzisen Handlungsstrangs ist.144

142 Zum Begriff »Wortfeld« und dessen Bedeutung hinsichtlich der Beschreibung semantischer Strukturen vgl. Hans Schwarz: Zwölf Thesen zur Feldtheorie. In: Wortfeldforschung. Zur Geschichte und Theorie des sprachlichen Feldes. Hrsg. von Lothar Schmidt. Darmstadt 1973, S. 426–436. 143 Schwarz weist dezidiert darauf hin, dass der Wortfeld-Begriff über den Wortschatz hinaus auch formale und syntagmatische Aspekte einschließt. Ebd., S. 428. 144 Auf die hohe Bedeutung, die in ihrer Poetik dem Aspekt der Komposition zukommt, hat Bachmann mehrfach in Interviews hingewiesen. So äußert sie am 25. November 1964, wenige

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Zu den wesentlichen kohärenzstiftenden sprachlichen Mitteln gehören auch bestimmte, kalkuliert wiederkehrende sprachliche Bilder. So manifestiert sich etwa die Sehnsucht der Kranken und Patienten nach Befreiung aus den Zwängen der Gesellschaft vor allem im zweimal erwähnten Motiv der Flucht auf dem Kamel (5. und 21. Abschnitt), das durch den Moduswechsel vom Konjunktiv in den Indikativ zugleich eine bedeutungsnuancierende Veränderung erfährt. Auf die Virulenz seelischer Konflikte verweist darüber hinaus das Motiv des Sprungs vom Balkon, mit dem im 2. Abschnitt zunächst ein ordnungswidriges Verhalten angedeutet wird, das im 5. Abschnitt dann aber explizit auf die Existenz unterdrückter Aggressionen verweist. In Korrelation zu solchen Bilderfolgen, die auf das Vorhandensein dynamischer, den Stadtraum wie den menschlichen Körper destabilisierender Kräfte verweisen, rückt etwa das Motiv des zum Skatspiel eilenden Chefarztes, das ebenfalls zweimal (im 8. und 26. Abschnitt) Erwähnung findet, die Ignoranz des Anstaltspersonals in den Blickpunkt. Immer wieder zeigt sich, dass die strukturbestimmenden Prinzipien der Wiederholung, Variation und Opposition mehr als eine rein sprachliche Vertextungsfunktion besitzen. Durch die Übertragung in andere Kontexte erhalten bestimmte sprachliche Muster und Motive neue Bedeutungsschattierungen, die ihrerseits wiederum auf die vorherigen Kontexte zurückwirken. Im Zentrum dieser Wechselbeziehungen steht der enigmatische Prozess der Zeichenfindung, der immer wieder eine scheinbare Stabilisierung erfährt – etwa im 7.  Abschnitt (»Es muß eine Disharmonie sein«; OfZ 21) –, um an anderer Stelle erneut dynamisiert zu werden (12. Abschnitt: »Es muß mehr sein als eine Disharmonie«; OfZ 30). Eine Zusammenhang stiftende Funktion besitzen nicht zuletzt auch bestimmte graphische Verfahren: So wird der Konnex eines gesellschaftsübergreifenden Kommerzes und Konsums durch die konsequente Kursiv-Setzung von Firmennamen (»Schultheiss«; »Commerzbank« etc.) besonders akzentuiert, und die signifikante Oppositionsbeziehung der beiden Begriffe ›Disharmonie‹ und ›Diplomatie‹ ist über die klangliche Nähe hinaus auch durch ihre im Text singuläre Apostrophierung mittels einfacher Anführungszeichen hervorgehoben.

Tage nach der Verleihung des Büchner-Preises: »Die Arbeit selbst ordnet ja mit jedem Satz, jedes Zusammentreten von Worten, von Szenen ordnet etwas. Selbst wenn Unordnung gezeigt wird oder gezeigt werden will. Schreiben ist Ordnen, und die Komponenten, die ordnen, entspringen einem Prozeß, in dem die Subjekt-Objekt-Beziehung, die Beziehung Individuum-Gesellschaft, immer wieder Erschütterungen ausgesetzt ist.« (GuI 49) Und in einem Interview vom April 1971 betont sie nochmals die minuziöse Konstruiertheit ihrer Kunst: »Komposition hat für mich immer eine große Rolle gespielt (etwas, was ich bei so vielen vermisse), und es ist tatsächlich so, daß ich erst beim Korrigieren oder beim Versuch, einige Dinge zu streichen, gesehen habe, wie verzahnt es ist, daß es fast keinen Satz gibt, der sich nicht auf einen anderen bezieht [...].« (GuI 96)



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Vor dem Hintergrund dieser strukturbestimmenden Dominanz akausaler sprachlicher Vertextungsstrategien in ›Ein Ort für Zufälle‹ erlangt das Titelwort »Zufälle« nicht nur in seiner intertextuellen Verweisfunktion auf Büchners Erzählung ›Lenz‹ eine besondere Valenz, sondern wird auch als poetologisches Schlüsselwort lesbar: ›Zufall‹ ist seit der Aufklärung die geläufige Bezeichnung für alle Phänomene, die nicht in einen kausalen Zusammenhang oder in die Ordnung der Naturgesetze (von Raum und Zeit) integrierbar sind. Unter ›Zufall‹ wird all das subsumiert, was sowohl den wissenschaftlichen, rationalen Begriffen einer auf kausalen Gesetzmäßigkeiten gründenden Ordnung des Weltgeschehens als auch einem positivistischen (teleologisch-chronologischen) oder dialektisch-prozesshaften Geschichtsverständnis entgegengesetzt ist: »In der Zufälligkeit aber tritt uns ein Faktor entgegen, der als ordnungswidrig erscheint.«145 In Entsprechung dazu bestimmt Ernst Bloch »Zufälligkeit«, die in der Art des »bloß Singuläre[n] und Unvermittelte[n] eines Unfalls oder Glücksfalls« situationshaft in Erscheinung tritt, als diejenige Kraft, die »im überhaupt nicht vertrauenswürdigen Sinn [...] mehr noch in der bisherigen Geschichte als in der Natur die normale und typische Entwicklung äußerlich zerstreut und verstört«.146 Auch Ludwig Wittgenstein, mit dessen Philosophie sich Bachmann bereits in ihrer Dissertation intensiv auseinandergesetzt hat, erkennt im Zufälligen einen Bereich, den es aus der Logik auszugrenzen gilt. So heißt es im ›Tractatus logicophilosophicus‹: »In der Logik ist nichts zufällig. (2.012) [...] Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeiten. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall (6.3).«147 Als weltimmanentes Prinzip steht der Zufall aber auch in Opposition zum metaphysischen Begriff des Schicksals, in dem Determinierungsvorstellungen ethischer, ästhetischer und religiöser Natur mitschwingen. Am Ende des ›Tractatus‹ formuliert Wittgenstein daher eine deutliche Absage an jeglichen Versuch einer Sinnstiftung, die ihren Grund in der Welt ansiedelt: »Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nicht zufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muß außerhalb der Welt liegen.«148 Bachmann geht in ihrem Wittgenstein-Essay auf diese Textstelle ein, um im Hinblick auf die Möglichkeiten einer sprachlichen Auseinandersetzung

145 Richard Müller-Freienfels: Schicksal und Zufall. Eine wissenschaftliche Erörterung außerwissenschaftlicher Probleme. München, Berlin 1949, S. 45. 146 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1959, S. 269 f. 147 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Wittgenstein: Werkausgabe. Neu durchgesehen von Joachim Schulte. Bd.  I: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914– 1916, Philosophische Untersuchungen. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, S. 11, 78. 148 Ebd., S. 82 f.

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mit der Welt im Kunstwerk festzustellen: »Vom ›Sinn‹ von Sein zu sprechen, ist nach Wittgensteins Thesen unmöglich, denn Sinn ist nicht in einer Welt, die nur darstellbar, beschreibbar – aber nicht erklärbar ist.« (KS 132) Auf »Darstellung« zielt Bachmann auch in ›Ein Ort für Zufälle‹ ab.149 Indem sie dem Begriff »Zufälle« im Vorwort jedoch eine spezifische Neucodierung zukommen lässt, deutet sie auf ein Wirkungspotential hin, das jenseits kausaler und chronologischer Ordnungsprinzipien Zusammenhänge zwischen Ereignissen stiftet bzw. den scheinbar unvermittelt hereinbrechenden Katastrophen, den Verkehrsunfällen, einstürzenden Gebäuden, Feuersbrünsten und Beben eine unerwartete Konsequenz verleiht. Dabei geht es ihr um eine Struktur der Periodizität, bei der Signaturen des Vergangenen in die Gegenwart zurückdrängen: »Es muß also, wenn es um Zufälle geht, etwas weit zurückliegen, intermittieren, konsequent aber wiederkommen mit neuen Zufällen.« (OfZ 70) Unter Bezugnahme auf Büchners Erzählung ›Lenz‹, in der der Begriff »Zufälle« in seiner heute antiquierten medizinischen Bedeutung als Terminus für die krankhaften Anfälle des Protagonisten Erwähnung findet, versteht sie diese Figur der Wiederkehr zudem als pathologische Erscheinung, die den in ›Ein Ort für Zufälle‹ zur Darstellung kommenden »variablen Krankheitsbildern« (OfZ 70) zugrunde liegt.150

2. Narrative, stilistische und sprachliche Verfahren Das Strukturprinzip der räumlichen Verknüpfung einzelner Textsequenzen mittels sprachlicher Vertextungsverfahren, die auf der Ebene des Erzählten in keiner logisch-pragmatischen Relation zueinander stehen, bestimmt aber nicht nur den äußeren Aufbau von ›Ein Ort für Zufälle‹. Ein Blick auf die innere Gestaltung der Abschnitte zeigt, dass die Darstellung von Ereignissen und Zuständen trotz eines wesentlich höheren Kohärenzgrades vorrangig kopulativ organisiert ist. Zwar enthält der Text verschiedentlich auch subordinierende Konnektoren (»damit man nicht mehr aufstehen kann«; OfZ 8; »weil gelüftet werden muß«; OfZ 10; »um Ruhe zu schaffen«; OfZ 19) oder kausale Präpositionalphrasen (»wegen dieser vielen Flugzeuge«; OfZ 9; »wegen des Läutens«; OfZ

149 Vgl. den Anhangstext der Buchpublikation: »Aber Darstellung verlangt Radikalisierung und kommt aus Nötigung.« (OfZ 70) 150 Sigrid Weigel fasst das Titelwort »Zufälle« in seiner wörtlichen Bedeutung als »Zufallen: uns fällt etwas zu« auf und leitet daraus eine »Figur des Gedächtnisses« ab, bei der »verborgene Zeichen des Gewesenen im Heute (plötzlich) sichtbar werden.« Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 374. Beate A. Schulz nähert sich dem Wort »Zufälle« über dessen lateinische Form »accidens: das, was von außen zukommt« an. Schulz: Struktur- und Motivanalyse, S. 109.



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10; »Wegen der Politik«; OfZ 26), diese Ansätze einer erklärenden Vermittlung verdichten sich jedoch nicht zur logischen Abbildung komplexer Zusammenhänge, die das Geschehen greifbar oder begreifbar macht.151 Auf der Ebene der Syntax überwiegen parataktische Satzfolgen und zum Teil längere unübersichtliche Satzkonstruktionen, etwa um Sachverhalte in ihrem zeitlichen Verlauf darzustellen (»dann sind sie da, dann sind sie weg, dann surrt es beinahe noch, dann nicht mehr«; OfZ 9). Dem Duktus des unmittelbaren Beschreibens entspricht darüber hinaus die vorrangige Verwendung des Präsens inklusive deiktischer Ausdrücke (»jetzt«; »dann«), sowie die Häufung von Adverbien, Präpositionen und Adjektiven.152 Obwohl in einigen Textpassagen ein objektiv-distanzierter Ton angeschlagen wird, enthalten die Abschnitte insgesamt ein hohes Maß an subjektiv-wertenden Ausdrucksmitteln: Neben der exzessiven Verwendung von Lexemen, die eine starke affektive Einfärbung besitzen (»heulen«; OfZ 10; »fressen und fressen«; OfZ 47), gehört hierzu auch die Nutzung sprachlicher Kategorien, die einen Wechsel vom neutralen zum markierten Wirklichkeitsbezug anzeigen – signifikant sind die zahlreichen Modalverben (»Gemeint sein muß«; OfZ 16; »es muß Sonntag sein«; OfZ 52) und Modaladverbien (»aus Blei vermutlich«; OfZ 47) aber auch die erwähnten Moduswechsel in den Konjunktiv. Hinzu kommen emphatische Bekundungen, Ausrufe und Kommentare (»es ist nie wieder gutzumachen«; OfZ 22); »Immer diese Gefälligkeiten!«; OfZ 64), die verdeutlichen, dass das Geschehen nicht von einer neutralen Perspektive heraus wahrgenommen wird, sondern auf eine individuelle Erzählinstanz zurückzuführen ist, die um Orientierung ringt und den Leser/Zuhörer in den Prozess der Bedeutungsfindung einzubeziehen sucht.153

151 Dass ›Ein Ort für Zufälle‹ »die Strukturen logischer Kausalität aufgreift und zugleich durchkreuzt«, kennzeichnet für Suzanne Greuner »die Eigentümlichkeit seiner sprachlichen Bewegung, seinen ›Stil‹«. Greuner: Schmerzton, S. 18 f. 152 Kurt Bartsch bemerkt, dass der Text »im Gewande eines Tatsachenberichts« erscheint. Vgl. Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 81. Jost Schneider spricht von »Orts- und Situationsbeschreibungen«, die »in bildhaft-anschaulicher Form dargestellt werden«, und von der »Rolle eines »Kundschafter[s]««, der »Bericht« erstattet. Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 162. 153 In ihrer ersten Frankfurter Vorlesung ›Fragen und Scheinfragen‹ macht Bachmann deutlich, dass Kunst, will sie legitim sein, trotz aller Schwierigkeiten den Dialog mit der Gesellschaft immer wieder aufs Neue suchen muss: »Wenn wir es dulden, dieses »Kunst ist Kunst«, den Hohn hier hinnehmen, stellvertretend für das Ganze – und wenn die Dichter es dulden und befördern durch Unernst und die bewußte Auflösung der stets gefährdeten und darum stets neu zu schaffenden Kommunikation mit der Gesellschaft – und wenn die Gesellschaft sich der Dichtung entzieht, wo ein ernster und unbequemer, verändernwollender Geist in ihr ist, so käme das der

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Vom Anliegen, einen engagierten Text mit dezidiertem Mitteilungsanliegen vorzustellen, der sich teilweise explizit (»falsch geraten!«), teilweise implizit einem Gegenüber zuspricht, kündet nicht zuletzt auch Bachmanns Vorwort zur Preis-Rede, das der Buchpublikation im Anhang beigefügt ist. Im Bild des ortsfremden Kundschafters skizziert die Vortragende eine personale Instanz, die sich den Krankheitsbildern der Stadt Berlin unmittelbar aussetzt, »damit von dem Ort, von dem sich leicht Hunderterlei berichten ließe, dem aber schwer beizukommen ist, Kunde gegeben werden kann« (OfZ 70). Diese Wahrnehmungs- und Mitteilungsperspektive verdichtet sich im Text selbst jedoch nicht zu einer klare Konturen annehmenden Erzählerfigur, die das Geschehen von einem souveränen Standpunkt aus betrachtet und präsentiert – vergleichbar etwa dem Ich-Erzähler im Essay ›Was ich in Rom sah und hörte‹.154 Die Stadt Berlin scheint vielmehr

Bankrotterklärung gleich.« (KS 269) Auf die deutliche Ablehnung Bachmanns, aber auch Rühmkorfs, Grass’ und Celans gegenüber einer autonomen, subjektlosen Kunst verweist explizit Arturo Larcati im Kapitel ›»Mit dem Messer im Rüchen«. Zur Kritik an der ästhetizistischen Moderne‹. Arturo Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik. Darmstadt 2006, S. 90–107. 154 Auf den Unterschied zu Bachmanns Rom-Essay verweist auch Hans Höller. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 216. Mit seiner These, dass in ›Ein Ort für Zufälle‹ nicht nur kein souveräner IchErzähler sondern auch keine »menschliche[] Wahrnehmungsperspektive« (ebd., S. 217) mehr erkennbar ist, steht er jedoch in deutlichem Gegensatz zu Kurt Bartsch, der eine durchgehend »personale Erzählsituation« erkennt (Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 85), und Jost Schneider, der zwar von einem anonymen Erzähler spricht, diesen jedoch als »eigenständige Bewusstseinsinstanz« auffasst, die im Unterschied zu einem unfreien »Kollektivsubjekt«, der Berliner Bevölkerung, durch »freies Denken und eine adäquate Wirklichkeitswahrnehmung (enthüllende Verfremdung)« sowie eine »gedankliche und gestalterische Souveränität« ausgezeichnet ist. Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmann, S. 162, 164 (Anm. 101). Stephan Sauthoff merkt an, dass es sich um eine »autobiographisch nachweis[bare]« Erzählperspektive handelt, dass die Autorin ihre eigene »besondere Disposition« gestaltet. Sauthoff: Die Transformation (auto)biographischer Elemente, S. 139. Vgl. weiter Bernd Witte, der ebenfalls davon ausgeht, dass Bachmann »eine Krankheitsgeschichte [gestaltet], die ihre eigene war« Bernd Witte: Ingeborg Bachmann. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von H. L. Arnold. Bd. 1. München 1978 ff., S. 9. – Wie kontrovers die Art und Weise des Erzählens in der Forschung aufgefasst wird, zeigt sich auch bei Böschenstein, der sich eher Höller anschließt mit seiner Auffassung, dass in Bachmanns Text »an Individualität nicht mehr geglaubt werden kann, nicht einmal mehr ex negativo, in der Gestalt des Zeugen, der die allgemeine Vernichtung kraft seiner Vereinzelung kundtut«. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 264. Sigrid Weigel greift, wie Schneider, Bachmanns Formulierung des ›ortfremden Kundschafters‹ aus dem Vorwort der Büchner-Preis-Rede auf, betont jedoch gerade die Unfreiheit der Erzählerinstanz, dessen »Nötigung dem geschuldet [ist], was sich dem Ortsfremden am Schauplatz Berlin aufdrängt.« Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 373. In diesem Sinne argumentiert auch Marilyn Sibley Fries: »[T]he speaking subject and the subjects of which she speaks are destroyed by the brutality of that which befalls them«. »Bachmanns »Nachtmahr und sein[e] Konsequenz« are controlled by the es – by the etwas that overwhelms



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aus wechselnden Blickwinkeln betrachtet, die unvermittelt zwischen Wahrnehmungsgegenständen und -orten hin und her pendeln, aber auch zwischen objektiv-distanzierter und subjektiv-distanzloser Betrachtungsweise changieren. Während etwa wiederholt von einer überlegenen Warte aus kommentiert und geurteilt wird (»Alles ist versehrt«; OfZ 20; »In der ganzen Stadt«; OfZ 21; »Ganz Berlin«; OfZ 40), stehen solchen Textstellen auf der anderen Seite zahlreiche Passagen gegenüber, die von einer eher unmittelbaren undistanzierten Perzeption zeugen. Signifikant ist die Vielzahl an ingressionsakzentuierenden Lexemen (»plötzlich«; »auf einmal«), die auf eine dynamische, sich dem Betrachter unversehens aufdrängende Wirklichkeit hindeuten. Zusätzlich wird die Souveränität des Erzählers durch zahlreiche Aussagen und Stellungnahmen der am Geschehen beteiligten Personen, Personengruppen und Institutionen unterminiert, die teilweise in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu dessen Sichtweise stehen und ein höchst widersprüchliches Konglomerat an Wahrnehmungsperspektiven und Standpunkten erkennbar werden lassen. Neben Aussagen, die als direkte und indirekte Zitate konkreten Absendern zugeordnet sind (»Die Hilfsschwester sagt«; OfZ 48; »Die Versicherung [...] erklärt«; OfZ 64), enthalten die Abschnitte auch Hinweise und Restriktionen, die sprachlich weder besonders markiert noch einer eindeutigen Quelle zuzuordnen sind (»Wichtigster Punkt: Der nächste Angehörige«; OfZ 16; »Es darf gelacht werden in Berlin«; OfZ 40). Insgesamt wird so eine Erzählweise etabliert, die auf eine autoritäre Bedeutungskonstitution weitestgehend verzichtet und Raum für Vielstimmigkeit, Desorientierung, Widerspruch und Unbestimmtheit lässt, ohne dabei unbewusst (im Sinne einer écriture automatique) oder ausnahmslos subjektiv (etwa im Sinne eines stream of consciousness) zu wirken. Im Vorwort der Büchner-Preis-Rede verwehrt sich Bachmann deutlich gegen ein Textverständnis, das die Erzählsequenzen als Tableau subjektiver Impressionen auffasst (»Ich habe womöglich welche, aber wer wird sich auf Eindrücke verlassen!«; W IV 279), und legt den Akzent stärker auf den Aspekt des Zwingenden: »Darstellung [...] kommt aus Nötigung.« (ebd.)155 Mit dieser Formulierung greift die Schriftstellerin das auf, was sie in den poetologischen Überlegungen der frühen Entwürfe als »Druck von Erfahrung« bezeichnet hat (ÖNB: K7975, N 732; KA I 177). Dabei geht es ihr um eine Poetik, die, entgegen einer Tendenz zur reinen Artistik, wie sie sie in der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg zu erkennen

narration, which is to say, the orderly (hi)story that an inaudible voice wants to tell.« Fries: Berlin and Böhmen, S. 275–299, S. 278 bzw. 281. 155 Bereits Höller hat darauf hingewiesen, dass »das eigentümliche Wort »Nötigung« [...] nicht nur die Überwältigung durch die gegenwärtige Wirklichkeit, sondern den Ausdruckszwang« bedeutet. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 215.

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glaubt,156 in der unmittelbaren Konfrontation mit den existenziellen Problemen des Menschen, mit »Angst, Leid oder Verzweiflung« gründet.157 Wiederholt hebt Bachmann dabei anhand von Bildern und Formulierungen, die Distanzverlust und Destabilisation indizieren, hervor, dass diese Auseinandersetzung weder einen souveränen Standpunkt des Erzählens noch eine harmonische Durchformung des Erzählten erlaube, und nähert sich damit der Position Adornos an, der in seinen ›Notizen zur Literatur‹ – vor allem unter Bezugnahme auf die Werke Kafkas, Joyces und Becketts – die totale Harmonie bzw. die sinnstiftende Organisation im Kunstwerk durch das Subjekt kritisiert, weil dadurch die Kunst leicht konsumierbar und affirmativ werde.158 Diese bereits in der ›Dialektik der Aufklärung‹ formulierte Kunstkritik verdichtet sich dann vor allem in der ›Ästhetischen Theorie‹ zur radikalen Auffassung, dass Kunst, wenn sie einen authentischen Ausdruck schaffen wolle, dissonant sein und die »Male der Zerrüttung«

156 So hält sie bereits 1952 in einer Rezension den Kritikern an Bölls Stil entgegen, dass »heute« die Gefahr vor allem in der »Verselbständigung des Artistischen« liege. Bachmann: Der Zug war pünktlich (über Heinrich Böll). In: KS 13–15, 15. Vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 90 f. In Entsprechung dazu kritisiert Bachmann dann in den frühen Entwürfen zur Büchner-Preis-Rede die »Fingerübungen, die überhand nehmen« (ÖNB: K 7975, N 732; KA 177). Anfang der 1960er Jahre ist der Vorwurf des Formalismus gegenüber der jüngeren deutschen Literatur weit verbreitet und zeugt von einem gewissen Generationenkonflikt, der sich zu diesem Zeitpunkt zwischen etablierten Künstlern – etwa der Gruppe  47 – und jüngeren Autoren der ersten Nachkriegsgeneration abzuzeichnen beginnt. So schreibt Wolfdietrich Schnurre 1962: »Man fröstelt in dieser Welt, in der Buchstabenfelder wichtiger als Schicksale sind...«. Auch Wagenbach schreibt in seinem Nachwort zum Sammelband ›Das Atelier‹, die deutsche Prosa zu Beginn der 1960er Jahre wolle »demonstrieren«: »Unter den Autoren haben seit zehn Jahren Werkstattgespräche mehr Gewicht als Ausflüge in die Metaphysik. Man äußert sich in Zeitschriften, Podiumsgesprächen, Interviews und Anthologien freier über Theorien und Praktiken, man nimmt den Vorwurf des Formalismus als Anerkennung.« Zitiert nach Schauer: Schnittpunkte der Strömungen, S. 42. Auch Adorno kritisiert in seinem am 28.  März 1962 im Radio Bremen gehaltenen Vortrag ›Engagement oder künstlerische Autonomie‹, der im 1965 herausgegebenen 3. Band der ›Noten zur Literatur‹ abgedruckt ist, die »Bastelei« und das »Wiederholungsspiel mit Formeln«, wodurch Literatur zum »Tapetenmuster« verkomme. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. XI. Darmstadt 1998, S. 426. 157 Vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 91. Bereits Höller betont die »ungeschützte Form der Erfahrung« in ›Ein Ort für Zufälle‹, »die das Ich an den Terror in der geschichtlichen Vergangenheit und an die destruktiven Kräfte in der Gegenwart ausliefert«. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 212. 158 Adorno: Engagement, S. 428: »Durch den Primat des ästhetischen Objekts als eines rein Durchgebildeten ist aber nicht doch wieder der Konsum, und damit das schlechte Einverständnis, auf einem Umweg eingeschmuggelt.« Vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 98 f.



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aufweisen müsse.159 Auch Bachmann deutet in ihren Frankfurter Vorlesungen vehement darauf hin, dass der Ort, von dem aus im Kunstwerk gesprochen wird, nach den fundamentalen Erschütterungen der beiden Weltkriege nicht mehr ›enthoben‹ oder ›selbstgewiss‹ sein könne, sondern ein Ort der Leiderfahrung und Überforderung inmitten der Gesellschaft sei. Insbesondere in ihrer dritten Vorlesung rückt sie den sich verschärfenden Konflikt des »Ich ohne Gewähr« in der Prosa vor Augen, das zunehmend an Identität verliere, vom Verschwinden und Verstummen bedroht sei und doch unverzichtbar bleibe, als »Platzhalter der menschlichen Stimme« (KS 306). Ein referenzloser Ästhetizismus habe keinen Zugang zur Leidensgeschichte des Menschen.160 Die Entstehung von ›Ein Ort für Zufälle‹, so machen die frühen Entwürfe und Vorstufen deutlich, hat ihren Ausgangspunkt in den poetologischen Überlegungen der Frankfurter Vorlesungen. Dabei ist es gerade der intertextuelle Dialog mit Büchner und dessen Erzählung ›Lenz‹, durch den Bachmann im Vorwort ihrer Rede die zwanghafte Lage des Kundschafters in den Blick rückt, dessen ›Gang auf dem Kopf‹ jenen pathogenen »Krankheitsbildern« (OfZ 70) geschuldet sei, die sich jenseits aller Mystifizierungen und Symbolisierungen Berlins dem undistanzierten Beobachter unvermittelt aufdrängen.161 Der von Büchner übernommene Begriff »Zufälle« erhält dadurch eine Neukodierung als Signifikant einer perennierenden Deformation, die, so erklärt Bachmann im Vorwort ihrer Preisrede in aller Deutlichkeit, dem Prosatext nicht allein als ästhetisches Stilisierungsprinzip zugrunde liegt, sondern als »etwas« in der außersprachlichen Welt Seiendes, das in der diskontinuierlichen und a-kausalen Darstellung einer authentischen Erfahrung seinen konsequenten Ausdruck findet.162

159 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. VII. Darmstadt 1998, S. 41. Vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 98 f. 160 Vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 96. 161 Über das in ihrer Büchner-Preis-Rede zum Ausdruck gebrachte sagt Bachmann in einem Interview vom 25. November 1964, rückblickend im Abstand von einem Monat: »Ich habe in der Büchner-Rede über Berlin gesprochen, das ist einfach so zu verstehen, daß es für mich nahelag, daß es mir richtig schien, in Deutschland über Berlin zu sprechen, nachdem ich dort eineinhalb Jahre verbracht habe, an einem gestörten Ort, in einer Verstörung, die von diesen Störungen einiges aufzunehmen fähig war.« (GuI 49) 162 Darin ähnelt ›Ein Ort für Zufälle‹ der Kunstauffassung Adornos, der darauf hinweist, dass »die ungelösten Antagonismen der Realität« auch in den Kunstwerken wiederkehren, die sich augenscheinlich von der faktischen Fassade der Außenwelt emanzipieren, und zwar nicht vorrangig in ihren Stoffschichten, sondern »als die immanenten Probleme ihrer Form«. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 16.

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3. Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion Die Diskontinuität des Erzählens, die zusätzlich graphisch untermauerte Sprunghaftigkeit und Offenheit der Darstellung sowie die signifikante Präsenz textinterner Äquivalenzbeziehungen haben dazu geführt, dass ›Ein Ort für Zufälle‹ seit der ersten Lesung am Tag der Preisverleihung äußerst kontrovers aufgefasst und diskutiert wurde. Bereits in den ersten Rezensionen zeichnet sich eine Pluralität an Lesarten und Einschätzungen ab, die nicht nur thematische Fragestellungen umfasst, sondern gerade auch stilistische und gattungsspezifische Eigentümlichkeiten berührt. Insbesondere die Gattungszuordnung avanciert von Anfang an zum zentralen Gegenstand der feuilletonistischen wie literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bachmanns Preisrede. So bezeichnet Günther Rühle den Text in seiner Besprechung in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ einerseits als »ein Stück Prosa«, andererseits als »ein großes Gedicht, das sich an expressionistischen Mustern orientiert«.163 Die anfängliche Tendenz, ›Ein Ort für Zufälle‹ unter die Gattung Lyrik zu subsumieren – der Schriftsteller und Kritiker Wilhelm Emanuel Süskind spricht ebenfalls von einem »Zyklus von BerlinGedichten« –, mag zwar nicht zuletzt auf das weit verbreitete Image der ›Lyrikerin Bachmann‹ zurückzuführen sein,164 zeugt zugleich aber auch von der Unsicherheit gegenüber Stilelementen und sprachlichen Vertextungsstrategien wie Wiederholung, Variation, Opposition, Rhythmik, Lautassonanz, die in der Dichte und Fülle, wie sie sich in der Rede finden, vorrangig lyrischen Werken eignen.165 Die Kontroverse um die Gattungszugehörigkeit von ›Ein Ort für Zufälle‹ lässt in der Folge aber auch andere literarische Gattungen in den Blick geraten. Während die Herausgeber der Werkausgabe von 1978 den Text in der ursprünglichen Fassung, wie sie am Tag des Festaktes präsentiert wurde, im vierten Band der Rubrik ›Reden‹ zuordnen, wird dieser Status (vor allem in Bezug auf die edierte Fassung im Wagenbach-Verlag) in der Literaturwissenschaft immer wieder angezweifelt.166 Dabei zeichnen sich zunächst zwei Positionen ab: Nach der einen wird das Werk als Essay aufgefasst und aufgrund der zu beobachtenden Annäherung von wissenschaftlicher und literarischer Methodik in die österrei-

163 Günther Rühle: Die Akademie als Traum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1964. Zitiert nach: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 447. 164 W. E. Süskind: Statt einer Rede – dichterische Improvisationen. In: Süddeutsche Zeitung, 19. 10. 1964. Zitiert nach: Schardt: Über Ingeborg Bachmann, S. 450–452, S. 451. Zum Image der Lyrikerin vgl. Hotz: »Die Bachmann«, S. 105. 165 Von Anklängen eines ›lyrischen Tons‹ in ›Ein Ort für Zufälle‹ sprechen auch literaturwissenschaftliche Analysen – etwa die von Suzanne Greuner. Greuner: Schmerzton, S. 24. 166 Vgl. Bartsch: Ingeborg Bachmann, S. 138 f.



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chische Literaturtradition (etwa Robert Musil) gestellt.167 Die andere Position liest das Werk als poetischen Text, der aufgrund seiner sprachlichen und narrativen Eigenheiten den unterschiedlichsten Genres und literarischen Strömungen zugeordnet wird. Abgesehen von Kategorisierungsversuchen wie »Stationennovelle«, »Stadtporträt« und »lyrische Prosa« zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab, das Innovative oder Experimentelle hervorzuheben und ›Ein Ort für Zufälle‹ als paradigmatischen Text avantgardistischer und antimimetischer Kunstauffassungen anzusehen.168 Während Bezeichnungen wie »Collage« und »Montage« stärker auf die Art und Weise der Vertextung in ›Ein Ort für Zufälle‹ abheben,169 hat sich im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Rezeption schon früh eine Sichtweise etabliert, die den Text aufgrund seiner spezifischen Bildlichkeit in die Nähe des Surrealen, Absurden, Phantastischen und Grotesken rückt. Mit seiner Klassifikation als »Prosagroteske« lenkt Kurt Bartsch als einer der Ersten den Fokus auf die Inszenierung einer spezifischen Realität, in der die sozialen, funktionalen und physikalischen Ordnungsstrukturen permanent ins Wanken geraten.170 Zugleich impliziert seine Interpretation des Textarrangements als eine Figur des unvermittelten Kippens einer geläufigen Alltagswelt ins Bedrohliche, Monströse und Unfassbare eine ganz bestimmte Groteske-Vorstellung, die seit Ende der 1950er Jahre, ausgehend von Wolfgang Kaysers Untersuchung ›Das Groteske in Malerei

167 Höller, der durchaus anerkennt, dass selbst für die im Wagenbach-Verlag edierte Fassung von ›Ein Ort für Zufälle‹ die »Bezeichnung Büchner-Preis-Rede« beibehalten werden könne, »weil diese institutionalisierte literarische Rede-Situation, denkt man etwa an die Reden von Paul Celan oder Günter Eich, eine Art des literarischen Diskurses hervorgebracht hat, in der experimentierendes Denken, die Infragestellung des selbstbewußten Schriftsteller-Ichs und die Reflexion der Schwierigkeiten bei der Darstellung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit geradezu ein eigenes Genre entstehen ließen«, plädiert letztlich dafür, das Werk zum Genre »Essay« zu zählen, um dem Charakter der methodisch bewusst hergestellten »Versuchsanordnung« gerecht werden zu können. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 215. Der Begriff »Essay« kommt auch bei Sigrid Weigel und Małgorzata Świderska zur Anwendung, jedoch ohne dass diese Zuordnung eine nähere Begründung erführe. Vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 373; Świderska: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, S. 51. 168 Vgl. Schulz: Struktur- und Motivanalyse, S. 106; Świderska: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, S. 51. Vgl. ebenso die Ausgabe des ›Tagesspiegels‹ vom 20. 10. 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134). In Anlehnung an Schulz verweist auch Schneider auf die »Stationentechnik« in ›Ein Ort für Zufälle‹, erkennt darin jedoch eine gewisse Nähe zum »Dramenaufbau bei Lenz und Büchner (sowie Brecht)«. Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 164. 169 Frankfurter Rundschau, 20. 10. 1964 (abgedruckt in: Hotz: »Die Bachmann«, S. 134). Schulz: Struktur- und Motivanalyse, S. 106. 170 Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 81.

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und Dichtung‹, zunehmend internationale Beachtung gefunden hat.171 Kayser, dessen Anliegen es ist, das Groteske als ästhetische Kategorie zu etablieren, legt die Schwerpunkte seiner Studie auf Kunstwerke der Romantik und Moderne, da diese Epochen aus seiner Sicht in besonders reichem Maße Lebenserfahrung und Motivik des Grotesken aufweisen, und führt dies auf die »Begegnung mit dem Wahnsinn« zurück, in der er »eine Urerfahrung des Grotesken« erkennt.172 Sein literatur- und kunstpsychologischer Ansatz mündet dabei in vier ineinandergreifende Definitionen des Grotesken: 1.  »Das Groteske ist die entfremdete Welt«, 2. »Das Groteske ist die Gestaltung des Es«, 3. »Die Gestaltungen des Grotesken sind ein Spiel mit dem Absurden«, und 4. »Die Gestaltung des Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören«.173 Die »entfremdete Welt« fasst Kayser dabei als Struktur auf, wobei im grotesken Kunstwerk der Konnex akzeptierter Normen und Kategorien plötzlich aus den Fugen gerät: »Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat.« Aber gerade, weil es »unsere Welt ist, deren Verlässlichkeit sich als Schein erweist«, ist das Grauen so stark«.174 Diesen von Kayser vorgestellten Kriterien, die das Wesen des Grotesken ausmachen, entsprechen zentrale Darstellungsverfahren von ›Ein Ort für Zufälle‹. Anhand der Art und Weise, wie der Text Ortsnamen, Zeitangaben sowie Erkennungszeichen städtischer Institutionen Infrastrukturen und Reglementierungen zueinander in Beziehung setzt, wird deutlich, dass es auch hier die urbane Alltagswelt mit ihren Normen und Kategorien der Weltorientierung, mit ihrem gesellschaftlichen Ordnungsgefüge ist, die als eine aus den Fugen geratene vorgestellt wird.175 Dabei sind es (in Analogie zum Strukturbegriff des Grotesken bei Kayser) nicht einzelne, isolierte Gestalten und Gegenstände, die eine groteske Wirklichkeit erzeugen, sondern die Konstellationen, in die Personen und Objekte gestellt sind und die sich einer logisch-kausalen Weltsicht entziehen. So entsprechen bestimmte Effekte, wie die wiederholt erkennbare »Verzerrung der ›natürlichen‹ Proportionen« (»Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer«; OfZ 9; »die Mittelamerikaner reißen das Brandenburgertor aus«; OfZ 52), die Dynamisierung und Belebung gewöhnlich statischer Gegenstände und Körper (»Potsdam ist mit allen Häusern in die Häuser von Tegel verrutscht«; OfZ 22; »die Gabel biegt die

171 Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. Reinbek 1960. Die Originalausgabe erschien bereits 1957 unter dem Titel ›Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung‹. 172 Ebd., S. 136. 173 Ebd., S. 136, 137, 139. Vgl. Christian W. Thomsen: Das Groteske und die englische Literatur. Darmstadt 1977, S. 142–161, S. 147. 174 Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung, S. 136 f. 175 Die »sich verfremdende[] und auflösende[] Stadt« ist neben dem »groteske[n] Fest« ein »wiederkehrendes Motiv« in der Geschichte des Grotesken. Ebd., S. 90.



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Zinken nach unten«; OfZ 22) sowie die Kombination und Vermengung eigentlich disparater Bereiche (»Niemand ist gefaßt auf das Kamel. Auf seinem Höcker steht jetzt die Siegessäule«; OfZ 55) im Wesentlichen jenen Hilfsmitteln und Motiven des Grotesken im Kunstwerk, wie sie Kayser anhand zahlreicher Textbeispiele veranschaulicht.176 Charakteristisch für die Darstellung in Bachmanns Text ist darüber hinaus die irritierende Vermischung gewöhnlich getrennter gesellschaftlicher Sphären, wenn etwa im 7. Abschnitt Anstaltsraum und Arbeitswelt zusammenfallen oder im 18. Abschnitt das Krankenhauspersonal als Vermittler in einem militärischen Grenzkonflikt auftritt. Aber auch das Aufheben des zeitlichen Kontinuums (»Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt«; OfZ 44) wäre nach Kaysers Studie als groteskes Motiv der »unerklärlichen Gegenwärtigkeit von Entferntem und Vergangenem« zu lesen.177 Entscheidend im Hinblick auf die Klassifizierung von ›Ein Ort für Zufälle‹ als Groteske ist nicht zuletzt der Umstand, dass die so erzeugten Widersprüche, Irritationen und Erschütterungen der Weltsicht nicht von einem souveränen Standpunkt aus präsentiert werden. Das Groteske, so Kayser, könne nur in dargestelltem Geschehen [liegen], nicht aber in einer Rede, die Gedanken und Ansichten äußert. Was an dieser Rede grotesk wirkt, das ist [...] die Art des Redens, dieses sich überstürzende, Nahes und Fernstes vermischende, alle logischen Verknüpfungen und jeden festen Satzbau schließlich sprengende Reden, das somit als sich vollziehendes und nicht mehr vom Menschenverstand beherrschtes Geschehen sinnfällig wird.178

Auch in Bachmanns Text lässt sich eine deutliche Tendenz zur Destabilisierung sprachlicher und narrativer Konventionen erkennen. Dies betrifft nicht nur die Diskontinuität und Offenheit der Darstellung, den weitestgehenden Verzicht auf kausale Verknüpfungen und logische Relationen sowie den Hang zu langen parataktischen Satzreihen mit unübersichtlichem Periodenbau, sondern auch den Umgang mit kommunikativen Gewohnheiten der Alltagssprache. Denn die Abschnitte enthalten eine Fülle an geläufigen Tropen, Floskeln und Phrasen, die jedoch nicht in ihrer idiomatischen Funktion reproduziert, sondern auf irritierende Weise wörtlich genommen oder in einen unerwarteten Kontext gerückt werden (»Jeder hat jetzt jeden am Hals«; OfZ 40; »Die Frauen [...] geben nur ihrem Affen den Zucker«; OfZ 55 etc.). Durch die Verschiebung und Transformation fester Redewendungen tritt das aus dem kollektiven Bewusstsein Ver-

176 Ebd., S. 135, 136, 137. 177 Ebd., S. 63, 124 f. 178 Ebd., S. 51.

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drängte mit all seinen (großteils fatalen) Bewandtnissen deutlich hervor. Lässt sich auch diese Form der wiederholten Unterminierung des gewohnten Mitteilungspotentials der Sprache als groteskes Ausdrucksmittel im Sinne Kaysers lesen,179 so werden doch auch deutliche Inkongruenzen evident, die vor allem die Bedeutungskonstitution des Kunstwerkes betreffen. Während für Kayser die Kunst des Grotesken ausschließlich in der »Verrätselung«, der existentiellen Verunsicherung liegt – »Abgrund, Spuk, Grauen, Dämonie sind die [...] Epitheta für jene Welt des ›Es‹«,180 die das verbindliche Normensystem der Welt zum Einsturz bringen –, verweist Bachmann im Vorwort der Preisrede explizit auf den ihrem Werk zugrunde liegenden aufklärerischen Impetus. Der Gang des Kundschafters auf dem Kopf soll nicht nur Abgründiges, Dämonisches und Irrationales offenbaren: Die Umkehrung der normierten Weltsicht erscheint vielmehr als eine notwendige Voraussetzung für die authentische Erfahrung bzw. Vermittlung gesellschaftlicher Gewaltpotentiale und Deformationen, die von der symbolischen Neuordnung Berlins nach der Teilung verdeckt werden. Bei genauer Recherche lässt sich zudem erkennen, dass sich die Elemente des Grotesken in Bachmanns Text aus konkreten historischen Erfahrungen und Wirklichkeitsbeobachtungen entwickeln, die durch Verschiebung der Proportionen, Steigerung ins Monströse, Verschmelzung des Disparaten, Entkonkretisierung und Rekombination zwar in einen poetischen Entwurf transformiert, jedoch keinesfalls entreferentialisiert werden.181 In der Bachmann-Forschung hat sich daher eine Lesart etabliert,

179 Insbesondere am Beispiel eines »Sprichwörterbild[es]« des Malers Peter Bruegel exemplifiziert Kayser, wie im grotesken Kunstwerk Sprachkonventionen ins Wanken gebracht werden: »Der Zeitgenosse des Fischart malte die Unheimlichkeit, die in der Sprache verborgen liegt. Sprichwörter setzt er auf seinem bekannten Gemälde zusammen, und es wurde das Bild einer verkehrten Welt.« (ebd., S. 27). Vergleichbares finde sich auch in Gedichten von Hans Arp, in denen »figürliche Redensarten [...] anschaulich genommen« würden (ebd., S. 121). – Der kritische Umgang mit »vorfabrizierten Sätzen« (GuI 84) der Alltagssprache ist über ›Ein Ort für Zufälle‹ hinausgehend ein Leitmotiv des gesamten Werkes, auf dessen zentrale Bedeutung Bachmann in poetologischen Vorträgen wie in Interviews und Gesprächen immer wieder aufmerksam gemacht hat. Das Richtung-Nehmen auf eine »neue Sprache« (KS 263), wie es in ihren Frankfurter Vorlesungen ›Fragen und Scheinfragen‹ und ›Literatur als Utopie‹ postuliert wird, setze eine kritische Überprüfung aller tradierten Gebrauchsformen der Sprache voraus (ebd.). Dies geschieht in Bachmanns poetischen Texten jedoch nicht vorrangig in Form einer distanziert-diskursiven Auseinandersetzung; vielmehr kommt der Literatur die Aufgabe zu, die sogenannte ›schlechte Sprache‹ zu »zerschreiben« (GuI 84), indem auf sie Bezug genommen und sich ihrer bedient wird. 180 Thomsen: Das Groteske und die englische Literatur, S. 148. »Der Gestalter des Grotesken darf und kann keine Sinngebung versuchen«, heißt es bei Kayser. Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung, S. 138. 181 Jost Schneider hat als Erster explizit auf die historischen und politischen Implikationen der



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die ›Ein Ort für Zufälle‹ als fiktionalen Text im Sinne Wolfgang Isers versteht.182 Zugleich lässt sich jedoch am Groteske-Begriff festhalten, wenn man Bachmanns Text einer Groteske-Vorstellung annähert, die das Groteske in deutlicher Abgrenzung zu dem von Kayser akzentuierten dämonischen Grundton nicht mehr nur als ästhetische Kategorie oder psychologische Struktur eines bestimmten Künstlertypus auffasst, sondern als Ausdrucksmodus einer in der gesellschaftlichen Realität gründenden multiperspektivischen Wirklichkeit, der auch sozial- und realitätskritische Aspekte sowie Entwicklungen und Probleme der Moderne integriert.183 Am deutlichsten bestimmt Arnold Heidsieck das Groteske als einen »Begriff des Erkennens, der über eine bestimmte Beschaffenheit von Wirklichkeit aussagt«, und widerspricht zugleich Kaysers epochenübergreifendem Ansatz, indem er für die Gegenwartskunst eine neue Ausprägung des Grotesken konstatiert: »[W]ir können die Mächte benennen, die das Schrecklichste vermögen. Das apokalyptisch-visionäre Grauen hat sich materialisiert in den Greueln der Weltkriege, in der »Endlösung« und in der radioaktiven Umwandlung der Erbmasse [...].«184

Büchner-Preis-Rede hingewiesen. Vgl. Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 137. 182 Vgl. Greuner: Schmerzton, S. 15. Vgl. ebenso Bannasch: Künstlerische und Journalistische Prosa, S. 176. 183 Vgl. Gregor Wedekind: Die Wirklichkeit des Grotesken: Paul Klee, Hugo Ball und Carl Einstein. In: Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 27. März bis 9. Juni 2003. Hrsg. von Pamela Kort. München 2003, S. 39–69, S. 39. 184 Vgl. dazu Arnold Heidsieck: Die neue Gestalt des Grotesken. In: Heidsieck: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969, S. 17, 32. Er betont: »Das groteske Bild der Welt [...] stellt sich als das Bild einer grotesken Welt dar« (ebd., S. 15). Es gehe darum, die »Verdrängung des produzierten Grauens und die Illusion über seine wahre Beschaffenheit aufzuheben« (ebd., S. 26 f.). Zu den Entwicklungslinien der Groteske-Forschung nach Wolfgang Kayser vgl. Thomsen: Das Groteske und die englische Literatur, S. 176 f. Vgl. ebenso Wedekind: Die Wirklichkeit des Grotesken, S. 39. Zum zivilisationskritischen Impetus des Grotesken vgl. auch Harald Falckenberg: Zur Rolle des Grotesken in der Gegenwartskunst. In: Grotesk! 130 Jahre Kunst der Frechheit. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 27. März bis 9. Juni 2003. Hrsg. von Pamela Kort. München 2003, S. 183–254, S. 184: »Den Konventionen und Prinzipien der Hierarchisierung, Polarisierung und Kategorisierung setzt das Groteske Zufall, Deterritorialisierung und Decodierung entgegen. Ungeordnet-Unsystematisches unterläuft das System.« Die gesellschaftskritische Relevanz des Grotesken betont auch eine Dichterlesung unter dem Titel ›Humanum, Maschine, Groteske‹ in der Akademie der Künste Westberlin im Juni 1963, an der u.a. Ilse Aichinger, Peter Weiss und Alexander Kluge teilnehmen. Vgl. Das Groteske als Grenze. Acht Schriftsteller lesen an zwei Abenden in der Akademie der Künste. In: Der Tagesspiegel Nr. 5409, 28. Juni 1963, S. 4.

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Mit Blick auf die ästhetische wie gesellschaftskritische Dimension lässt sich ›Ein Ort für Zufälle‹ freilich auch jenseits des Kontextes unterschiedlicher Groteske-Auffassungen analysieren,185 ist doch der mit Wolfgang Kayser einsetzende Groteske-Diskurs Teil einer seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland an Brisanz gewinnenden Debatte um Modernität und Kunst. An dieser waren Literatur- und Kulturwissenschaftler (etwa Hugo Friedrich, Jürgen Becker oder Walter Höllerer) ebenso beteiligt wie Mitglieder der Frankfurter Schule, der Gruppe 47 und nicht zuletzt auch Ingeborg Bachmann, die in ihren Frankfurter Vorlesungen explizit auf Probleme der zeitgenössischen Literatur eingeht.186 In einem breit angelegten literaturgeschichtlichen und dichtungstheoretischen Diskurs deutet sie darauf hin, dass sich das allgemeine Krisenbewusstsein in der Gegenwartskunst, die Undurchschaubarkeit, Nicht-Erklärbarkeit, Dunkelheit und Formzersplitterung, nicht durch formale Kategorien wie »das Alogische, Absurde, Groteske, anti-, dis- und de-, Destruktion, Diskontinuität« (KS 256) etc. erfassen lasse, sondern Ausdruck einer Erschütterung des Schriftstellers im Umgang mit Wirklichkeit sei, die weder auf eine bestimmte literarische Epoche noch auf bestimmte Gattungen beschränkt werden könne. Dementsprechend zitiert Bachmann zahlreiche literarische Werke (vor allem aus dem Zeitraum von der Klassischen Moderne bis in ihre Gegenwart), die aus ihrer Perspektive in einer authentischen Leiderfahrung gründen, und grenzt diese Haltung von Kunstauffassungen und Strömungen ab, die Zeichen der Erschütterung zensieren oder ästhetisieren.187 Bachmann plädiert in ihren Frankfurter Vorlesungen für eine neue Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Literatur und ihren Wirkungsmöglichkeiten. Darüber hinaus entwirft sie eine ›Karte‹ literarischer Ästhetiken, um die Position des eigenen Schreibens innerhalb dieses Spannungsfeldes zu verorten. Hierin liegt die besondere Bedeutung der Vorlesungsreihe für ›Ein Ort für Zufälle‹ begründet, ist doch Bachmanns Text als explizi-

185 So zuletzt in: Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 124–133. 186 Zum Moderne-Diskurs vgl. Hermann Kinder: Die Zweite Moderne. Innovative Prosa der Bundesrepublik von den fünfziger bis siebziger Jahren. In: Kinder: Von gleicher Hand. Aufsätze, Essays zur Gegenwartsliteratur und etwas Poetik. Eggingen 1995, S. 244–269. Zur Rolle Bachmanns im Kontext des Modernediskurses der 1960er Jahre vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 90–107. 187 Eine gewisse Präferenz Bachmanns für die Dichtung der ›Klassischen Moderne‹ deutet sich nicht nur in den ›Frankfurter Vorlesungen‹ an. In einer Nachlassnotiz, die als Erwiderung auf Karl Markus Michels vielfach rezipierten Aufsatz ›Ein Kranz für die Literatur‹ im legendär gewordenen ›Kursbuch‹ Nr.  15 (1968) gedacht war, bezeichnet sie »Kafka, Joyce oder Proust oder Pound und Benn« als Dichter, die sich gegenüber dem heutigen »Gemurmel« oder den »Mauerdichter[n]« ausdrücken konnten. ÖNB: K 7947, N 1529. Zitiert nach Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 66.



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tes Zeugnis einer Poetik der authentischen Leiderfahrung aufs Engste mit den darin enthaltenen Literaturzitaten, poetologischen Abgrenzungsversuchen und Annäherungen verschränkt. Besonders augenfällig wird dies in Bezug auf Rainer Maria Rilkes Roman ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹, der zusammen mit Werken Hugo von Hofmannsthals und Robert Musils als repräsentatives Beispiel für die »Not des Schriftstellers mit sich und der Wirklichkeit« (KS 261) in der ›Klassischen Moderne‹ eintritt (vgl. Kommentar 3. Abschnitt). Aber auch die kritischen Überlegungen zum Expressionismus, Surrealismus und Futurismus zeigen eine für die Poetik der Büchner-Preis-Rede nicht unwesentliche Perspektive auf künstlerische Bewegungen, in denen die Sprengung tradierter literarischer Formen aufs Engste mit einer Erschütterung des Weltbezuges korreliert. So ist die permanente Subversion gesellschaftlicher Machtsymbole und Ordnungsstrukturen in Bachmanns Text der surrealistischen Bildersprache mit ihrer überraschenden akausalen und alogischen Kombination entfernter oder disparater Wirklichkeitselemente, ihrer unerwarteten Verschiebung der Proportionen und ihrem plötzlichen Umschlagen ins Rätselhafte, Bedrohliche und Vernunftwidrige nicht unähnlich.188 Auch den Surrealisten ging es, wie Bachmann in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung anmerkt, um die Destabilisierung der gewohnten Weltsicht und um die Freisetzung der von der bürgerlichen Gesellschaft verdrängten und ausgegrenzten menschlichen Potentiale. Aufgrund der Konturierung einer subjektiv wertenden Wahrnehmungsperspektive unterscheidet sich ›Ein Ort für Zufälle‹ jedoch deutlich vom surrealistischen Konzept eines vom kritischen Verstand losgelösten »psychischen Automatismus«, mit dem das Unbewusste und Verdrängte unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden sollte.189 Nicht als

188 Auf die im Feuilleton bereits unmittelbar nach der Preisverleihung mehrfach angemerkte Affinität der Darstellungsweise von ›Ein Ort für Zufälle‹ zur surrealistischen Bildlichkeit verweist im wissenschaftlichen Diskurs erstmals Beate A. Schulz. Schulz: Struktur- und Motivanalyse, S. 110. Besonders betont wird die Nähe zur surrealistischen Subversions-Ästhetik bei Kurt Bartsch. Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 81. Sigrid Weigel kommentiert ›Ein Ort für Zufälle‹ im Kontext eines Zitates aus Benjamins ›Surrealismus‹-Aufsatz: »Und kein Gesicht ist in dem Grade surrealistisch wie das wahre Gesicht einer Stadt.« Zitiert nach Weigel: »Stadt ohne Gewähr«, S. 262. Dirk Göttsche weist darauf hin, dass Bachmann bereits in ihrem Nachkriegsroman ›Stadt ohne Namen‹ surrealistische und parabolische Erzählverfahren eingesetzt habe und auf diese in der Eröffnungsszene des ersten ›Todesarten‹-Romans zurückgreife. Vgl. Göttsche: Auf der Suche nach der »großen Form«, S. 34. Zur Bildersprache des Surrealismus vgl. das Kapitel ›Das surrealistische Bild‹. In: Uwe M. Schneede: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotographie, Film. München 2006, S. 139–165. 189 Zur Auseinandersetzung Bachmanns mit dem Surrealismus vgl. Larcati: Ingeborg Bachmanns Poetik, S. 90–107, S. 94 f. Zur Bedeutung des ›psychischen Automatismus‹ im Surrealismus vgl. Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 23–29.

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Manifestation eines »objektiven Zufalls« (hasard objectif), wie er etwa von André Breton zum zentralen Gestaltungsprinzip einer unbewussten Kreativität erhoben wird, sondern als authentische Erfahrung eines gesellschaftlichen Krankheitszustandes in der geteilten Stadt Berlin will Bachmann ihre Darstellung verstanden wissen.190 Mit der im Vorwort der Büchner-Preis-Rede vollzogenen Aktualisierung und dezidierten Neukodierung des in Kunst und Wissenschaft so bedeutsamen Zufallsbegriffs entspricht Bachmann explizit ihrer zentralen Forderung in den Frankfurter Vorlesungen, dass der Sprache im Kunstwerk immer wieder ein neues Bedeutungspotential, eine neue »Fassungskraft« zukommen müsse, um der je eigenen Wirklichkeit begegnen zu können (KS 271, 285). ›Unausweichlichkeit‹ erlangt Dichtung weder durch die Reproduktion bereits gemachter Erfahrungen noch durch die Erprobung unterschiedlicher Stile, sondern nur dadurch, dass ihr ein neues »unausweichliche[s]« Denken innewohnt (KS 266). Wie wenig daher gerade der zeitgenössischen Dichtung eine artistische Innovationsleistung zugesprochen werden kann, exemplifiziert Bachmann in ihrer zweiten Vorlesung ›Über Gedichte‹. Unter Bezugnahme auf Gustav René Hockes Manierismus-Studie lenkt sie den Blick auf eine antiklassische Konstante in der bildenden Kunst und Literatur, aus deren Perspektive die im Kontext der Moderne-Diskussion geradezu topisch beschworene bzw. kritisierte formale Radikalität und Dunkelheit der Nachkriegslyrik in gewisser Weise ihre Originalität einbüßt.191 Auch wenn Bachmanns Exkurs zu dieser umfassenden Darstellung des Disharmonischen, Irregulären und sprachlich Verwegenen in der Kunst vorrangig der Absage an eine rein ästhetizistische Kunstauffassung dient, deuten die fundierte Darlegung der zentralen Inhalte sowie die explizite Lektüreempfehlung auf ein besonderes Interesse der Schriftstellerin an dieser Studie des befreundeten Kunsthistorikers hin.192 Ausschlaggebend hierfür mag weniger die persönliche Bekanntschaft sein denn die deutlich wahrnehmbare Übereinstimmung in Bezug auf die Bewertung formaler Kriterien und Verfahren, versteht Hocke den Manierismus doch keineswegs als eine ästhetische Attitüde, sondern als eine existentielle und

190 Zum Zufallsbegriff der Surrealisten vgl. Schneede: Die Kunst des Surrealismus, S. 164 f. 191 Die beiden Bücher ›Die Welt als Labyrinth‹ und ›Manierismus in der Literatur‹ von Gustav René Hocke erschienen 1957 und 1959. 192 Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen: Über Gedichte. In: KS 271–286, 280 f. Zur Freundschaft zwischen Hocke und Bachmann, die sich in Rom in einem kleinen Zirkel deutschsprachiger Schriftsteller kennengelernt hatten, der sich regelmäßig im Café Doney in der Via Veneto traf, vgl. das Nachwort von Jörg-Dieter Kogel zu Bachmanns ›Römischen Reportagen‹; Ingeborg Bachmann: Römische Reportagen. Eine Wiederentdeckung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jörg-Dieter Kogel. München, Zürich 1998, S. 84 f.



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psychologische Struktur des modernen Menschen.193 In Übertreibung, Deformation und Verrätselung erkennt er eine konstante Ausdrucksgebärde, die von der Erkundung vertikaler geistig-geologischer Spannungsfelder, von Abgründen in der europäischen Geistesgeschichte kündet und somit einen unentbehrlichen Gegenpol zur Gefühls- und Denkwelt harmonischer Kulturordnungen darstellt.194 Die besondere Brisanz dieser Studie im Rahmen der Moderne-Diskussion Ende der 1950er Jahre ergibt sich jedoch nicht vorrangig aus der Charakterisierung des Manierismus als einer epochenübergreifenden antiklassischen Daseinsgeste. Sie gründet vielmehr auf der dezidierten Einbeziehung der oft als antitraditionalistisch und exterritorial aufgefassten zeitgenössischen Kunst in diesen Kontext künstlerischen Schaffens.195 Dabei geht es Hocke gerade auch um das Aufzeigen eines bestimmten Krisenbewusstseins, das sich periodisch in der europäischen Geistesgeschichte einstellt und das aus seiner Sicht auch in der Gegenwartskunst antiklassische Stilprinzipien erzwang. Bachmanns Überlegungen zur zeitgenössischen Literatur in den Frankfurter Vorlesungen berühren sich in vielen Punkten mit Hockes Thesen zum Manierismus. Durch die existentielle Bestimmung des Disharmonischen und Ordnungswidrigen in der Kunst als Ausdruckszwang eines gestörten Weltbezuges gewinnt dieses Werk ebenfalls Bedeutung für ihre Rede. So lassen sich durchaus Berührungspunkte zwischen der diskontinuierlich akausalen Darstellungsweise in ›Ein Ort für Zufälle‹ und dem Spektrum an manieristischen Formen, Strukturen und sprachlichen Verfahren bestimmen, das Hocke aus zahlreichen Textbeispielen extrahiert. Dies betrifft in gleicher Weise die Tendenz zur Zerstörung von Kohärenz, Kausalität und Logik im manieristischen Kunstwerk, wie die besondere Hervorhebung der Bedeutung einer sprachlichen Verbindungs- und Kombinationskunst, mit deren Hilfe einerseits sprachliche Konventionen aufgebrochen, andererseits unterschwellige Korrespondenzen, Spiegelungen und Mehrdeutigkeiten, Paradoxien und Kontraste erzeugt werden können, die in keinem logischpragmatischen Zusammenhang stehen. Als Beispiele nennt Hocke paralogische Satzpermutationen und Kombinationen mit den verschiedenen Bedeutungen und Verwendungsarten eines Wortes, Wortketten und Wortfelder sowie wirkungsvolle Klang-Konkordanzen und graphische Kunstgriffe. Diese Verfahren tragen auch

193 Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur. Hrsg. von Curt Grützmacher. Durchgesehene und erweiterte Neuausgabe. Hamburg 1987, S. 271 f. 194 Vgl. dazu den Abschnitt ›Europas verborgene Spannungsfelder‹. In: Hocke: Die Welt als Labyrinth, S. 279 f. 195 Vgl. dazu den Abschnitt ›Steht die moderne Literatur im Zeichen eines Manierismus?‹ im Nachwort von Curt Grützmacher; Hocke: Die Welt als Labyrinth, S. 538 f.

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in ›Ein Ort für Zufälle‹ zur Konturierung eines komplexen sprachlichen Beziehungsgeflechts bei – so die textübergreifende Permutation der Wortfolge »kommt vor und hervor« (OFZ 7). Ebenfalls nennenswert wären die klangliche Konkordanz des zentralen Begriffspaares »Disharmonie« (OfZ 21, 30) und »Diplomatie« (OfZ 65) sowie die signifikante graphische Hervorhebung des Indefinitpronomens »es« durch die Versalie »E« am Textanfang. Explizit manieristisch im Sinne einer labyrinthischen »Änigmatik« und »Verrätselung«,196 die von Hocke als zentrale Ausdrucksgebärde des Zweifels an der verbürgten Faktizität exponiert wird, erscheint die enigmatische Textstruktur des ersten und letzten Abschnitts von ›Ein Ort für Zufälle‹, in der ein zu Suchendes umkreist wird und dadurch an Präsenz gewinnt, ohne letztgültig bestimmbar zu werden. Es handelt sich dabei jedoch keinesfalls um eine ästhetische Spielerei – ein geradezu topischer Vorwurf gegenüber manieristischer Kunst, gegen den sich Hocke wiederholt verwehrt –, sondern um eine gezielte Unterminierung der gewohnten Weltorientierung, die den Blick für die subtile Widersprüchlichkeit und unauflösbare Dissonanz der dargestellten Wirklichkeit in den Binnenabschnitten schärft und den Rezipienten so zu einer aktiv mitagierenden Interpretationstätigkeit animiert.197 Nicht zuletzt findet auch die Sprachbildlichkeit von ›Ein Ort für Zufälle‹ Entsprechungen in einer manieristischen Ausdruckskunst, die extreme seelische Situationen und Spannungen im Verhältnis zur Gesellschaft wie zum Ich (Weltangst, Verzweiflung, Resignation, aber auch Begehren und Wut) durch die Vermengung und Vereinigung von Disparatem, durch perspektivische Verzerrung

196 Hocke: Die Welt als Labyrinth, S. 274, 323 197 ›Ein Ort für Zufälle‹ ließe sich daher auch als ›Offenes Kunstwerk‹ im Sinne Umberto Ecos verstehen, das nicht allein formale Kriterien der Ambiguität, Vieldeutigkeit oder Rätselhaftigkeit, sondern darüber hinaus eine intensive Wechselwirkung zwischen diesen strukturellen Eigenarten und der Interpretationsleistung des Rezipienten impliziert: Der Prozess der ästhetischen Kommunikation wird als ein durch Offenheit gekennzeichneter Dialog zwischen Kunstwerk und Interpret aufgefasst, bei dem sich werkimmanente Strukturen und vom Interpreten abhängige Konkretisierungen wechselseitig durchdringen. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Aus dem Italienischen von Günter Memmert. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1993. Vgl. auch das Kapitel ›Offenheit und Interpretation: die Theorie des offenen Kunstwerks‹. In: Helge Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation. Würzburg 2000, S. 17–58. Bereits Beate A. Schulz hat aufgrund der Stilmittel der Groteske, der Antithetik, der Ironie und der gegebenen Krankheitsund Dissonanz-Motive von einer ›offenen Form‹ bei ›Ein Ort für Zufälle‹ gesprochen; Schulz: Struktur- und Motivanalyse, S. 121. Zur Bedeutung Ecos für Bachmanns Schreiben vgl. Robert Pichl: Ingeborg Bachmanns »Offene Kunstwerke«. Überlegungen zu ihrem poetischen Verfahren. In: Kritische Wege der Landnahme. Ingeborg Bachmann im Blickfeld der Neunziger Jahre. Londoner Symposium 1993 zum 20. Todestag der Dichterin (17. 10. 1973). Hrsg. von Robert Pichl und Alexander Stillmark. Wien 1994, S. 97–111.



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sowie durch die plötzliche Subversion der gewohnten Ordnungswelt zu vermitteln versucht. Hockes epochenübergreifender Ansatz subsumiert dabei antimimetische Bildersprachen der Barock- und Renaissancekunst, des Expressionismus und Surrealismus bis hin zu zeitgenössischen Werken. Er geht zudem auf verschiedene Vorstellungen des Grotesken, des Absurden und Phantastischen ein. Auch wenn Bachmann die latent vorhandene Tendenz zu einem Mangel an Differenzierung bei Hocke durchaus einräumt – so weist sie in ihrer Frankfurter Vorlesung auf die Gefahr hin, nach der Lektüre »eine Weile in allem und jedem »Manierismus« [zu] wittern« (KS 281) –, ist der Einfluss dieser damals im Rahmen der Moderne-Diskussion kontrovers diskutierten Abhandlung auf Bachmanns Poetik-Vorlesungen und die Konzeption der Büchner-Preis-Rede deutlich spürbar.198 Wiederholt nimmt Bachmann in den frühen Entwürfen explizit auf die zentrale, im Dialog mit Hockes Manierismus-Bänden entwickelte These der zweiten Frankfurter Vorlesung Bezug, wenn sie davon spricht, dass es in der Dichtung auf formaler Ebene keinen Fortschritt gebe: »Wir suchen nach den Formulierungen, wir finden sie auch, aber sie sind vor uns getroffen worden.« (ÖNB: K 4510, N 1464; KA I 173) Als einzigen Ausweg aus einem rein epigonalen Schreiben betrachtet sie die ernsthafte Suche des Schriftstellers nach dem je eigenen Ausdruckszwang: »Wir haben gar keinen Grund, wir werden uns einen finden oder einen alten historischen in Anspruch nehmen. Ich habe immer herausverlangt aus der Historizität, und ich wollte immer meinen Grund.« (ebd.)

4. Text-Bild-Komposition Die gravierendste Veränderung der ersten Buchpublikation im Vergleich mit der Rede-Fassung stellt die besondere typographische Gestaltung des Textkorpus dar. Die kompositorische Untergliederung in einzelne Abschnitte erhält hier durch eine variierende Anzahl an Leerzeilen bis hin zu unbedruckten Flächen eine deutliche Akzentuierung, deren Anordnung nicht nur strukturierenden oder drucktechnischen Gesichtspunkten geschuldet scheint, sondern auch eine semantische Valenz besitzt. Dies wird besonders deutlich bei den größeren freigelassenen Flächen am Ende des 13. und 23.  Abschnitts, die als Visualisierung jener Grenzerfahrungen aufgefasst werden können, mit deren Eintritt die unmittelbar vorausgehenden Erzählpassagen enden: So mag sich etwa in der entstandenen Leere die Exterritorialität jenes Raumes angedeutet finden, in den

198 Gerade der für Hocke so zentrale Begriff des ›Disharmonischen‹ erscheint in Bachmanns Text an besonders exponierter Stelle (vgl. Stellenkommentare 7.2.2, 12.2.5).

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sich die Kranken auf den Kamelen flüchten (23. Abschnitt), die in der Textwirklichkeit im Unterschied zum Stadtraum jedoch nicht narrativ entfaltet wird. Das Zusammenspiel visueller und narrativer Bedeutungskonstituenten beschränkt sich allerdings keineswegs auf einzelne Passagen, sondern betrifft vielmehr die Gesamtkomposition des Werkes, insofern die unterschiedlich großen ›weißen‹ Flächen textübergreifend eine Offenheit und Diskontinuität vermitteln, die im Spannungsfeld mit den narrativen Sequenzen auch Raum für Unartikuliertes oder sprachlich nicht Fassbares lassen. In ihrer Frankfurter Vorlesung ›Literatur als Utopie‹ spricht Bachmann vom »weiße[n], unbeschriebene[n] Blatt« als einem wesentlichen Bestandteil der Literatur, auf dem »das noch Hinzuzugewinnende auch eingetragen scheint« (KS   33). Die hier zum Ausdruck gebrachte utopische Ausrichtung der Kunst auf das, »was noch nicht ausgesprochen ist« (ebd.), weicht gegen Mitte der 1960er Jahre jedoch einer an Brisanz zunehmenden Sprachskepsis, die vor dem Hintergrund der kritischen Überprüfung aller künstlerischen Mittel dem Defizitären der Dichtung, dem Verstummen und Schweigen mehr Raum zuspricht. Erste deutliche Zeugnisse dieses wachsenden Konflikts zwischen Ausdruckszwang und Sprachlosigkeit sind die frühen Entwürfe zur Büchner-Preis-Rede, die verstärkt um das Unverständliche, Nicht-Artikulierbare und Unbenennbare menschlicher Leiderfahrungen kreisen und dabei das poetische Sprechen explizit am Rande des Verstummens verorten. Das Layout der Druckfassung spiegelt diese Fragilität der sprachlichen Vermittlung. Die sprachreflexive Aufladung der gezielt gesetzten Leerstellen als Visualisierungen des Nicht-Artikulierbaren ist zugleich Ausdruck einer bewussten Medienkombination, die sprachliche, typographische und nicht zuletzt bildliche Elemente vereint. Letztere verdanken sich 13  Zeichnungen von Günter Grass, die der befreundete Autor und Künstler eigens für diese Buchausgabe anfertigte und deren Integration in den Text auf gemeinsame Überlegungen des Verlegers Klaus Wagenbach mit Grass und Bachmann zurückgeht.199 Obwohl Wagenbach 1999 im Nachwort der Neuauflage vorrangig pragmatische Gründe für diese Erweiterung des Werkes angibt (»Es wäre freilich ein sehr schmales Quartheft geworden, und so erklärte sich Günter Grass bereit, einige Zeichnungen beizusteuern«),200 handelt es sich keinesfalls nur um Illustrationen. Die zeitgleich mit einigen Text-Abschnitten in einer Phase des intensiven Dialogs zwischen Bachmann und Grass entstehenden Zeichnungen präsentieren vielmehr eine eigenständige Perspektive auf die geteilte Stadt Berlin, die auf im Text vorgegebene Motive und Strukturen

199 Vgl. Klaus Wagenbachs Nachwort. In: OfZ 53. 200 Ebd.



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reagiert, aber darüber hinaus auch autoreferentielle Bezüge auf eigene Werke erkennbar werden lässt.201 Insbesondere zu den Abbildungen und Gedichten aus ›Die Vorzüge der Windhühner‹ (1956) und ›Gleisdreieck‹ (1960) sowie zu Grass’ zweitem Roman ›Hundejahre‹ (1963) lassen sich vielfältige motivische und bildkompositorische Korrespondenzen erkennen.202 Exemplarisch sei hier zunächst auf die vierte Zeichnung (Abb. 4) hingewiesen, die in ›Ein Ort für Zufälle‹ zwischen dem 8. und 9. Abschnitt positioniert ist und einem Entwurf zur Umschlaggestaltung von ›Gleisdreieck‹ (Abb. 14) auf signifikante Weise ähnelt.203 Beide Zeichnungen zeigen eine identische Brückenkonstruktion, auf der sich das eine Mal eine riesige Spinne, das andere Mal eine gigantische Heuschrecke niedergelassen hat. Im Kontext des Gedichtbandes, so vermittelt das gleichnamige Titelgedicht, neben das Grass eine leicht veränderte Zeichnung setzt, wird die im Zentrum ihres netzartigen, Ost- und Westberlin umspannenden Gleisgeflechts sitzende Spinne (die skizzierte Brücke verweist auf den Verkehrsknotenpunkt ›Gleisdreieck‹) zum Synonym einer lauernden Bedrohung an diesem Brennpunkt des Kalten Krieges.204 Ein Drohpotential mag auch der Heuschrecke in ›Ein Ort für Zufälle‹ eignen, zumal ihr Leib in einem stachelähnlichen Fortsatz endet. Doch legt der Blick auf die unmittelbar folgende Zeichnung (Abb.  5) eine gewisse Akzentverschiebung nahe: In der Darstellung einer monströsen Stechmücke, die sich hinterrücks einem von Angst und Schrecken gezeichneten Kinde nähert, wird die offenbar existentielle Gefährdung des Menschen abermals durch ein Tier vermittelt, das (im Unterschied zur lauernden Spinne) mit Plage und Heimsuchung konnotiert ist.205 Dass

201 Vgl. Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 178. 202 Die im Folgenden erwähnten Zeichnungen sind abgedruckt in: Grass: Vier Jahrzehnte. 203 Vgl. OfZ 23 und Grass, Vier Jahrzehnte, S. 94, 95. 204 Günter Grass: Gleisdreieck. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. I: Gedichte und Kurzprosa. Göttingen 1997, S. 60. 205 Die Heuschrecke ist ein kulturell weit verbreitetes Symbol der Gefräßigkeit und Zerstörung. In der christlichen Ikonographie ist die Heuschreckenplage eine Heimsuchung Gottes, die über die verderbte Welt kommt (Exodus). Des Weiteren steht die Heuschrecke für den Einbruch dämonischer Mächte zum Schaden des Menschen (Apokalypse). In dieser Symbolik gleicht sie der Stechmücke, die für Krankheit und Tod bzw. für die Bedrohung des Menschen durch Krankheitsdämonen steht. Vgl. Lexikon Symbole. Hrsg. vom Verlag Herder, bearbeitet von Marianne Oesterreicher-Mollwo. 6. Aufl. Freiburg, Basel, Wien 1983, S. 54, s.v. »Fliege«, und S. 73, s.v. »Heuschrecke«. Matthäus Merian stellt auf einem Endzeitgerichtsbild die Dämonen als übergroße Stechmücken dar. Vgl. Gerd Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. Düsseldorf, Köln 1971, S. 217, s.v. »Mücken«. Es erscheint aus heutiger Sicht fatal, dass sich Grass hier einer Symbolik bedient, die in der Zeit des Nationalsozialismus eindeutig antisemitisch aufgeladen war: Im ›Stürmer‹ finden sich immer wieder Karikaturen, auf denen Heuschrecken und Stechmücken für die ›Ausbeutung des deutschen Volkskörpers durch das

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es sich dabei erneut um die Fortführung einer Motivik aus dem eigenen Werkkontext handelt, zeigt eine nahezu identische Zeichnung, die Grass 1956 anfertigte und die den Titel »Puppe mit Fliege« (Abb. 15) trägt.206 Darin nimmt Grass eine zentrale Problemkonstante seines schriftstellerischen wie bildnerischen Werkes der 1950er Jahre in den Blick: das Ausgeliefertsein des Menschen an einen zerstörerischen Weltverlauf.207 Besonders deutlich wird dies, wenn man den zeitgleich zu dieser Zeichnung entstehenden Lyrikband ›Die Vorzüge der Windhühner‹ mit in die Betrachtung einbezieht. Denn im Gedicht ›Die Mückenplage‹, dem in der Erstausgabe des Bandes eine Stechmückenzeichnung (Abb. 16) beigefügt ist, versinnbildlicht der Mückenschwarm eine zwangsläufig wiederkehrende Pein, die über das menschliche Einzelschicksal hinausweist: »Es ist nicht der Stich./ Nein, das Gefühl, daß etwas geschieht,/ das älter ist als die Hand –/ und im Besitz jeder Zukunft.«208 Es findet sich noch ein weiteres Gedicht in ›Die Vorzüge der Windhühner‹, das die Thematik einer andauernden Bedrohung in das Bild einer Insektenplage fasst und dessen zentrales Motiv durch eine nebengeordnete Heuschreckenzeichnung (Abb. 17) hervorgehoben wird. In ›Prophetenkost‹ selbst ist es das biblische Motiv der Heuschreckenplage, aktualisiert als fatalistisch-politische Parabel.209 Darin stellt die erste Strophe anhand der grotesken Verkehrung der warnenden Erzählung des Propheten Jona eine existentielle Notlage vor Augen (»Als Heuschrecken unsere Stadt besetzten«),210 die ›falschen Propheten‹ den Boden für ihre verbrecherischen Verheißungen bereitet hat. Zwar beschreibt die abschließende zweite Strophe eine Zeit nach Beendigung der Gewaltherrschaft, doch scheinen in dieser

Judentum‹ stehen. Die nationalsozialistische Propaganda greift hier auf eine zentrale materialismuskritische Konnotation zurück. 206 Vgl. Günter Grass: Zeichnungen und Texte 1954–1977. Hrsg. von Anselm Dreher. Darmstadt 1982, S. 31. 207 Vgl. Dieter Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf. Konstanten und Entwicklungen im literarischen Werk von Günter Grass. Würzburg 1994, S. 41, 45 f. Vgl. ebenso das Kapitel »Karikatur, Zerrbild und die Groteske der deutschen Geschichte«. In: Peter Joch: Zaubern auf weißem Papier. Das graphische Werk von Günter Grass. Deutungen und Kommentare. Göttingen 2000, S. 11–18. 208 Günter Grass: Die Mückenplage. In: Grass: Die Vorzüge der Windhühner. Berlin 1956, S. 12 f. Auf die zentrale Bedeutung dieser Thematik deutet zudem eine Entwurfsskizze hin, die Grass ursprünglich seinem Lyrikband hinzufügen wollte und die einen von einem riesigen Moskito angefallenen Frauentorso zeigt. Vgl. dazu Grass: Vier Jahrzehnte, S. 51. 209 Günter Grass: Prophetenkost. In: Grass: Die Vorzüge der Windhühner. Berlin 1956, S. 45. 210 Vgl. dazu auch die dem Gedicht in der Erstausgabe beigefügte Graphik einer riesigen Heuschrecke über einer Stadtsilhouette.



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die vor der Katastrophe herrschenden Verhältnisse erneut etabliert und somit die Grundlagen für deren Wiederholung geschaffen. Vom endlosen Kreislauf einer Gewalt, die alle Lebensbereiche durchdringt, künden nahezu alle Gedichte aus ›Die Vorzüge der Windhühner‹.211 Insbesondere Insektenplagen, Überschwemmungen und Feuersbrünste erscheinen dabei als Elemente eines auf die Bibel rekurrierenden Motivkomplexes, der die periodisch wiederkehrende (Zer-)Störung idyllischer Rückzugsräume und künstlich errichteter Paradiese indiziert.212 Vor diesem Hintergrund mag die Auswahl der Zeichnungen mit Insekten-Motiv in ›Ein Ort für Zufälle‹ von einer bestimmten Wahrnehmung des Textes geleitet sein, die im permanent bedrohlichen Flug- und Straßenverkehr, in haltlosen oder einstürzenden Gebäudestrukturen, Bränden und Überschwemmungen, Kälteeinbrüchen und Unwettern vergleichbare Zeichen eines destruktiven Weltverlaufs erkennt. Durch die Integration in Bachmanns Berlin-Text erlangt die von konkreten historischen Perspektiven losgelöste Insekten-Motivik des ersten Gedichtbandes aber auch eine spezifischere Signifikanz, welche gesellschaftspolitische Entwicklungen in Deutschland bzw. in der geteilten Stadt Berlin berührt. So lässt sich vor dem Hintergrund, dass die Grenze zwischen Westberlin und der DDR an vielen Stellen durch Kanäle und Flüsse gebildet wird, das Bild der ›Heuschrecken‹-Brücke über einem Wasserlauf (Abb. 4) auch als Versinnbildlichung des Gefahrenpotentials lesen, das die Demarkationslinie zwischen den beiden verfeindeten und hochgerüsteten Systemen birgt. Naheliegend ist dies auch deshalb, weil in dem der Zeichnung vorausgehenden 8. Abschnitt mit »Potsdam« ein Ort genannt wird, der durch die Havel von Westberlin abgegrenzt ist. Über den Fluss geht an dieser Stelle die Glienicker Brücke, die nach dem Mauerbau berüchtigt war als Schauplatz spektakulärer Agentenaustausch-Aktionen (vgl. Überblickskommentar 16.1).213 Zum Gegenstandsbereich der Störung gehört in ›Die Vorzüge der Windhühner‹ auch der Hahn.214 Sein Schrei markiert wie andere Irritation verursachende Signale – der Schreckschuss, der sich jedes Mal überschlagende Wecker oder die erklingende Trompete des Schlussgedichts – die Vertreibung aus paradiesischer

211 Vgl. den Abschnitt ‹Die Welt im Zeichen Saturns‹. In: Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf, S. 45–49, S. 45. 212 Ebd., S. 46. 213 Auch Peter Joch ist der Ansicht, dass die dargestellte Brücke »an die Glienicker Brücke als eine der bekanntesten Grenzstationen zwischen Ost und West« erinnert. Joch: Zaubern auf weißem Papier, S. 16. 214 Seine poetologische Schlüsselrolle innerhalb des Gedichtbandes zeigt auch eine Graphik auf der Umschlagrückseite der Erstausgabe, die einen Hahnenkörper mit einem Schlüssel in Bezug setzt.

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Ruhe und den Beginn eines von Disharmonie, unheilbarer Krankheit, Vergänglichkeit und letztlich Sinnlosigkeit überschatteten Zeitverlaufs.215 Als potenter Spender neuen Lebens repräsentiert der Hahn zudem eine sexuelle Triebhaftigkeit, die der Sehnsucht nach paradiesischer Unschuld entgegensteht. In Korrelation mit einem allgegenwärtigen Demiurgen-Gott, der alles Lebendige verschlingt, sichert er den Fortlauf einer endlosen Kreisbewegung, die immer wieder aufs Neue zum Tode verurteiltes Leben hervorbringt. Es helfe nichts, den Hahn einzumauern, denn: »Fröstelnd stehen wir abseits und sehen den Hennen zu/ wenn sie den Mörtel vermindern.«216 Einige der Zeichnungen aus den Jahren 1954/55, die auch die besondere Bedeutung dieses Motivs in Grass’ Lyrikband unterstreichen (Abb.  18), lassen bereits gewisse Affinitäten zur achten Zeichnung in ›Ein Ort für Zufälle‹ bezüglich der kraftvoll-dominanten Haltung des Tieres erkennen.217 Dabei legt die Integration des sich zwischen einer Ansammlung von Bierflaschen hindurchmanövrierenden Hahns (Abb.  8) in den zeitgleich entstehenden 15.  Abschnitt nahe, dass Grass hier auf die narrativ vermittelte Zeitlichkeit des periodisch wiederkehrenden, stets mit Tagesanbruch endenden Berliner Nachtlebens reagiert. Vergleichbar dem Weckruf des Hahns, der in Grass’ Lyrik »das Ende der Nachtträume ankündigt«,218 vermitteln die letzten Sätze auf der dem Bild zugeordneten gegenüberliegenden Seite das ernüchternde Ende der nächtlichen Zerstreuung: »Draußen ist schon wieder Morgen, da ist es zu hell. Da geht keine Rechnung mehr auf.« (OfZ 40) In seiner dominanten, angriffslustigen Haltung erscheint das Tier aber auch wie die bildhafte Projektion der (unterschwelligen) Aggressivität, die Bachmann immer wieder in den Passagen zum Freizeit- und Konsumverhalten der Berliner bloßlegt.219 So mag sich im Sich-Spreizen des Tieres nicht nur

215 Vgl. Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf, S. 33 f. 216 Günter Grass: Bauarbeiten. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. I. Göttingen 1997, S. 40. Vgl. Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf, S. 47 f. 217 Vgl. Grass: Zeichnungen und Texte 1954–1977, S. 13–17. 218 Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf, S. 33. Grass, bei dem das Motiv spätestens seit dem Beginn seines Engagements für die SPD klar politisch festgelegt ist, greift hier auf eine traditionelle Symbolik zurück. Denn als morgendlicher Künder des Lichts ist der Hahn in zahlreichen Kulturen ein Sinnbild für die Überwindung der Finsternis. Wegen seiner engen Beziehung zum anbrechenden Tag maß der Volksglaube dem Hahnenschrei oft apotropäische Wirkung gegen die Dämonen der Nacht bei. Vgl. Lexikon der Ikonografie. Religiöse und profane Bildmotive. Hrsg. vom Seemann-Verlag. Leipzig 2007, S. 152. Vgl. ebenso Lexikon Symbole, S. 67 f., bzw. Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole, S. 123 f., s.v. »Hahn«. 219 Auch diese symbolische Bedeutung des Motivs ist kulturell weit verbreitet. So wird der Hahn aufgrund seiner Streitlust in der antiken Mythologie als Typus der Kampflust und Kampfbereit-



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die Gewalt der Kreuzberger bzw. Berliner Nächte manifestieren (»Jeder hat jetzt jeden am Hals«; OfZ 40; »ein Laternenpfahl [wird] umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen«; ebd.), sondern auch das Potenzgebaren der Männer, die im zweiten Abschnitt »mit bloßen Händen« die Verschlüsse der Bierflaschen öffnen und dabei befriedigt in den Wald rufen: »wir schaffen es schon« (OfZ 8). Besonders deutlich nimmt Grass in der 7. Zeichnung auf den poetischen Weltentwurf seines ersten Lyrikbandes Bezug. Denn die doppelseitige Darstellung einer überdimensionierten und zugleich deformierten Sicherheitsnadel in einer menschlichen Hand (Abb.  7) erweist sich mit Blick auf das Gedicht ›Drei Vater unser‹ als graphische Adaption eines zentralen sprachlichen Bildes, mit dem er den Verlust jeglicher Sicherheit und die endlose Fortsetzung von Gewalt und Zerstörung zum Ausdruck bringt: »Gewalt, wer verbog die Sicherheitsnadel«.220 Der in drei Zyklen unterteilte Text berichtet von rücksichtslosen Kriegsgöttern, die zerbombte Schlachtfelder und Scherbenhaufen zurücklassen, von Mördern, die ein Attentat ausführen und von im Bett verübten Gewalttätigkeiten.221 In ›Ein Ort für Zufälle‹ ist dieses Motiv an exponierter Stelle zwischen dem 13. und 14.  Abschnitt positioniert. Genau im Zentrum des Textes geht von dem aus der Öse gesprungenen, nach unten gerichteten Dorn ein (dem Stachel der monströsen Insekten vergleichbares) Drohpotential aus, in dem auch die allumfassende und zeitlose Gefährdung des Menschen, von der Bachmanns Werk kündet, ihr bildliches Äquivalent findet. Erfährt die Sicherheitsnadel im Rahmen der Buchedition somit eine explizite Bedeutungsaufladung im Hinblick auf die fragile Sicherheitslage der geteilten Stadt, so lässt der implizite Verweis auf das Gedicht ›Drei Vater unser‹ die stets vorhandenen Konflikte zwischen Ost- und Westberlin als Neuauflage eines endlos sich fortsetzenden biblischen Bruderzwistes erfahrbar werden: »Gewalt, wer verbog die Sicherheitsnadel,/ komm wir spielen Kain und Abel«.222

schaft dem Ares zugeordnet; vgl. Heinz-Mohr: Lexikon Der Symbole, S. 123f, s.v. »Hahn«. Diese Symbolik kommt dem Hahn auch im Fernen Osten und in der Kunst des Mittelalters zu, wobei er als Negativbild häufig auch für Zorn, Streitsucht und Gewalttat stehen kann; vgl. ebd. Sein starker Fortpflanzungstrieb ließ den Hahn zudem zum Symbol für Fruchtbarkeit bzw. für Wollust und sexuelle Ausschweifung werden. 220 Günter Grass: Drei Vater unser. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Voker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. I. Göttingen 1997, S. 43. Vgl. Stolz: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf, S. 43 f. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 43.

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 Einführung

Haben die bisher besprochenen Zeichnungen die gesellschaftlichen und politischen Spannungsfelder Berlins eher indirekt widergespiegelt, so nimmt Grass an anderer Stelle unmittelbar Bezug auf die bipolare Ordnung der Stadt. Dabei kombiniert er signifikante Motive, die eindeutig auf die Realität der Teilung hindeuten (Stacheldraht, Sperranlagen, Panzerwagen, Soldaten) mit Bildern, die gleichfalls dem eigenen Werkkontext entstammen. Besonders deutlich wird dies anhand der zehnten Zeichnung, die einen schwarzen und einen weißen Kakadu mit ihrer imposanten Federhaube auf einem Panzer sitzend (Abb. 10) zeigt, und der 11. Zeichnung, auf der zwei NVA-Soldaten abgebildet sind, deren militärischer Gleichschritt absolute Entschlossenheit signalisiert (Abb. 11).223 Hinsichtlich der Art und Weise der Darstellung, die an siamesische Zwillinge denken lässt, weist das Bild der NVA-Soldaten gewisse Parallelen zu einer Entwurfskizze auf, die Grass ursprünglich seinem Gedicht ›Zwischen Marathon und Athen‹ aus ›Gleisdreieck‹ beifügen wollte und die ein olympisches Marathon-Läuferpaar (Abb. 19) zeigt.224 Gedicht und Illustration aktualisieren den von Herodot übermittelten Marathonlauf der Perserkriege, um die Absurdität des deutsch-deutschen Konfliktes auszudrücken: »Glaubt wer noch an Siege?/ An einen Boten, der auf halbgeschmolzenen Beinen/ ans Ziel kommt, seinem Kanzler stottert: Sieg, Bonn war eine Messe wert!« 225 Auch dieser Anspielungsbogen wirkt bewusst gewählt, wenn man Grass’ Gedicht mit den Textabschnitten in ›Ein Ort für Zufälle‹ vergleicht, die der 11.  Zeichnung vorausgehen und in denen Bachmann die Explosivität der militärischen wie kulturellen Konkurrenzsituation zwischen Ost- und Westberlin drastisch vor Augen führt. Der explizite Bezug auf die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte in ›Zwischen Marathon und Athen‹ ist paradigmatisch für ›Gleisdreieck‹. Die Gedichte setzen zwar den poetischen Entwurf und Motivkomplex des ersten Bandes auf vielfältige Weise fort, verorten diesen jedoch wesentlich stärker in der aktuellen politischen wie gesellschaftlichen Wirklichkeit. Neben einigen Texten, in denen Berlin unmittelbar Erwähnung findet, richtet sich der Fokus immer wieder auf das paradoxe gesellschaftliche Klima im geteil-

223 Vgl. die entsprechenden Abb. bei Joch: Zaubern auf weißem Papier, S. 13. Dieser erwähnt auch, dass Grass mit der Darstellung selbstbewusst und mechanisch marschierender Soldaten ein Motiv aufgreift, das in seinem zweiten Roman ›Hundejahre‹ (1963) explizit für die Gleichschaltung des Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus steht. 224 Vgl. Grass: Vier Jahrzehnte, S. 91. 225 Günter Grass: Zwischen Marathon und Athen. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. I. Göttingen 1997, S. 103. Der Beginn der dritten Strophe (»Vorbei an einem Bündel Präsidenten/ mit Gattinnen in Pergament«) ähnelt auf signifikante Weise der grotesken Evokation in Fettpapier eingewickelter Frauen im 2.  Abschnitt von ›Ein Ort für Zufälle‹.



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ten Deutschland, auf den Kalten Krieg, aber auch auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor allem in der Bundesrepublik. ›Ein Ort für Zufälle‹ vergleichbar erscheinen Berliner Brandmauern als Signaturen einer vergangenen Katastrophe, deuten riesige Werbetafeln auf die alles verdrängende Wohlstandsund Konsumgesellschaft hin und künden Witterungsereignisse (Kälteeinbrüche, Regenschauer, Stürme etc.) von der politischen und gesellschaftlichen Kälte, von Bespitzelung und Verschleierung auch innerhalb der Schriftstellerschaft: »Als es kälter wurde [...]/ rückte das Wasser zusammen.// Wer etwas versenken wollte,/ der Dichter vielleicht einen Hammer,/ [...] stand vor verriegeltem Teich.«226 Dass die verstärkte Bezugnahme auf realgeschichtliche Hintergründe Ausdruck einer künstlerischen Entwicklung ist, die sich seit Ende der 1950er Jahre im schriftstellerischen wie im graphischen Werk niederschlägt, wird besonders deutlich anhand von zwei Karikaturen, die Grass in Zusammenhang mit seinem Roman ›Hundejahre‹ erstellt hat. Darauf dargestellt ist jeweils eine zentrale Persönlichkeit der deutschen Geschichte (Otto von Bismarck und Walter Ulbricht), die mit ihren auf Pfählen aufgespießten Köpfen als Vogelscheuchen erscheinen, deren Wirkungslosigkeit angesichts der abgebildeten Vögel ersichtlich wird.227 Das Konterfei des Staatsratsvorsitzenden der DDR ist zudem als Haupt eines Fischskeletts ausgeführt (Abb. 20). In den Zeichnungen von ›Ein Ort für Zufälle‹ ist diese Tendenz zur politischen Groteske ebenfalls erkennbar. Insbesondere in der den Text beschließenden Abbildung, die offensichtlich an die Ulbricht-Karikatur angelehnt ist, künden zwei Fischgräten, die als Wegweiser auf den Todesstreifen der Berliner Mauer zeigen (Abb. 13), von der Gewalt und Morbidität politischer Konstrukte.228 Ein entscheidender Unterschied liegt jedoch darin, dass sowohl Bachmanns Text als auch die ausgewählten Zeichnungen darauf verzichten, die Verantwortlichen zu ›benennen‹. Auf diese Weise gelingt es ›Ein Ort für Zufälle‹, die Verstrickungen der gesamten Gesellschaft – von Ost und West – aufzuzeigen und zu verhindern, dass sich der Einzelne hinter den Repräsentanten der Machtblöcke verstecken kann. Korrespondenzen zum eigenen Werk bestehen in nahezu allen Zeichnungen, die Grass für ›Ein Ort für Zufälle‹ zur Verfügung stellte. So entspricht auch die Darstellung einer Krankenschwester, die einen säuglingsgroßen Hummer im Arm hält (Abb. 6), einer Anzahl von Zeichnungen aus dem Zeitraum der ›Blechtrommel‹, bei denen Krankenschwestern und Aale eng miteinander verschlungen

226 Günter Grass: Zugefroren. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. I. Göttingen 1997, S. 99. Vgl. auch die Gedichte ›Brandmauern‹ und ›Lamento bei Regen‹. Ebd., S. 57, 72. 227 Vgl. Grass: Vier Jahrzehnte, S. 102. 228 Vgl. Joch: Zaubern auf weißem Papier, S. 14, 17.

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 Einführung

(Abb. 21) gezeigt werden.229 Im Roman ›Die Blechtrommel‹ selbst ist die Heil- und Pflegeanstalt für den Erzähler einerseits Rückzugsrevier und Außenseiterposten, von wo aus er seinen Lebensroman verfasst, andererseits ein quälender Ort, der von endlosem Leid und Misstrauen geprägt ist: »Von jenem Tage an versuchte, besetzte, eroberte mich das Mysterium Krankenschwester: Pflegerinnen machten mich krank, wahrscheinlich unheilbar krank, [...] sich von Krankenschwestern pflegen zu lassen, ist ein Krankheitssymptom mehr [...].«230 Als einzige Ausnahme in diesem Geflecht der textinternen und intertextuellen Bezüge ist das Motiv des Kamels zu nennen, das ausschließlich ›Ein Ort für Zufälle‹ und die dazugehörigen Zeichnungen betrifft und das sich sonst nicht in Grass’ Œuvre wiederfindet.231 Seine an späterer Stelle ausgeführte Sonderstellung innerhalb des Bachmann-Textes wird dadurch unterstrichen, dass es auf zwei doppelseitigen Zeichnungen (Abb.  2 und 12) abgebildet ist. Kein anderes zeichnerisches Motiv besitzt eine derart eindeutige Verknüpfung mit dem Textgeschehen, die sich auch im genuinen Zusammenwirken von Text und buchkünstlerischer Gestaltung niederschlägt. In der Regel wird der Textverlauf, bei dem sich Abschnitt an Abschnitt reiht, nicht durch größere Freiflächen unterbrochen.232 Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass auf den Schlusssatz des 24. Abschnitts, der von der gelingenden Flucht der Kranken auf Zirkuskamelen handelt (»Die Felle riechen inbrünstig nach Wüste, Freiheit und Draußen, [...] Im Sand wird das Kamel immer schneller. [...] Man ist draußen.«) zwei beinahe komplett leere Seiten folgen und erst auf Seite 63 der Text mit dem 25. Abschnitt fortgesetzt wird, so dass der Aspekt des ›Draußen-Seins‹ auch auf der Ebene der Buchgestaltung veranschaulicht ist (OfZ 57 f.). Die im Zwischenraum positionierte 12. Zeichnung zeigt eine groteske Figur, bei der Kamelkörper und Stadtkörper miteinander verschmolzen sind, insofern das liegende Tier anstelle seiner beiden Höcker die Silhouette einer modernen Großstadt trägt (OfZ 60 f.). Die dem Kamelrücken eignende Figur der Doppelung ist einmal mehr Ausdruck der zusammengewachsenen und doch getrennten Stadt Berlin und verklammert das Motiv mit den anderen Zeichnungen. Angesichts der unauflöslichen Verbindung von Stadt und Kamel lässt die Darstellung aber auch Zweifel aufkommen, ob es überhaupt möglich ist, sich dem Einfluss der Stadt zu entziehen, was den im Text vermit-

229 Vgl. Grass: Vier Jahrzehnte, S. 79, sowie Grass: Zeichnungen und Texte 1954–1977, S. 45. 230 Günter Grass: Die Blechtrommel. In: Grass: Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. 3. Göttingen 1997, S. 633 f. 231 Die Zeichnungen hierfür hat Grass im Berliner Zoo angefertigt, wie er in einem Gespräch mit Susanna Brogi im September 2009 berichtet. 232 Um ein beim Lesen störendes Durchscheinen zu verhindern, ist jedoch jeweils die Rückseite der mit Zeichnungen versehenen Seiten unbedruckt.



Textkomposition und ästhetische Einordnung 

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telten Eindruck, entkommen zu sein, unterminiert. Die groteske Kamel-StadtGestalt verweist zudem auf den 21. Abschnitt, in dem zu Beginn ein Zoo-Kamel Erwähnung findet, auf dessen »Höcker [...] die Siegessäule [steht]« (OfZ 55).233 Die hier ansatzweise gezeigten medienkombinatorischen Elemente der Erstausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹ im Wagenbach-Verlag, die auch oder vor allem auf der Ebene grotesker Darstellungsverfahren zu sehen sind, gerieten erst in letzter Zeit stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Analyse. Neben Jost Schneider, der die enge narrative und bildliche Korrelation der Fluchtthematik anhand der zweiten Kamelgraphik hervorhebt,234 ist es Bettina Bannasch, die erstmals explizit auf die enge motivische wie strukturelle Verflechtung der Grass’schen Zeichnungen mit dem Textgeschehen einerseits und mit dem eigenen Werk andererseits, hinweist.235 Elke Schlinsog bildet in ihrer Arbeit zum Berlin-Bild in Bachmanns ›Todesarten‹-Projekt einige der Zeichnungen von ›Ein Ort für Zufälle‹ ab, ohne jedoch auf deren Bedeutung innerhalb der Buchedition einzugehen, so dass diese Abbildungen (anders als im Bachmann-Text) einen rein dekorativen Charakter besitzen.236 Vor dem Hintergrund einer zunehmend Beachtung findenden Wechselbeziehung zwischen narrativen, typographischen und bildlichen Bedeutungskonstituenten erscheint es als ein deutliches Manko, dass es derzeit keine im Buchhandel erhältliche Ausgabe von ›Ein Ort für Zufälle‹ gibt, die dem Arrangement des seit Langem vergriffenen Quartheftes im Wagenbach-Verlag folgt. Zwar enthält auch die bibliophile Jubiläumsausgabe aus dem Jahr 1999 die Zeichnungen, doch sind ihre Position und Größe gegenüber der ursprünglichen Komposition wesentlich verändert und dadurch der ursprüngliche Eindruck stark verfälscht. In der kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ ist ausschließlich der Text abgedruckt worden.

233 Vgl. dazu auch eine Entwurfsskizze, die die Siegessäule auf dem Rücken einer langsam dahinkriechenden Schnecke zeigt und die Grass ebenfalls für ›Ein Ort für Zufälle‹ konzipiert hat. Joch: Zaubern auf weißem Papier, S. 16. 234 Für Jost Schneider macht diese Zeichnung unmissverständlich klar, dass »die erfolgreiche Flucht ein bloßer Wunschtraum« ist; Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 168 f. 235 Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 176–179; S. 178. 236 Schlinsog: Berliner Zufälle, S. 37, 55, 117, 129, 137, 143, 229.

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 Einführung

C. Thematische Schwerpunkte 1. Berlin: Angstraum und entstellte Topographie Wie gezeigt werden konnte, konturieren die in ›Ein Ort für Zufälle‹ angewandten Verfahren und Darstellungsweisen keinen weltausschließenden imaginären Sprachraum. Vielmehr sind es gerade die durchgängig verwendeten sprachlichen, lexikalischen und bildlichen Strukturierungsverfahren, die ganz bestimmte Bedeutungen und thematische Konstanten auf der Ebene des Gesamttextes hervortreten lassen und somit eine spezifische Beziehung zur außersprachlichen Erfahrungswelt herstellen. Dies betrifft insbesondere die textübergreifende Darstellung der urbanen Landschaft Berlins als »entstellte Topographie«, aber auch als Verdrängungs-, Unterdrückungs- und Angstraum.237 Die Darstellung komplexer Raum-, Zeit- und Gefühlsstrukturen ist in Bachmanns stark topographisch orientiertem Schaffen immer wieder mit realen Städten verbunden, die zugleich gesellschaftspolitische Gravitationszentren und Orte der eigenen Lebensgeschichte sind.238 Ausgehend von dieser Koinzidenz individueller und kollektiver Erfahrungsmuster erhalten Städte wie Wien, Rom, New York, Prag, Kairo und nicht zuletzt Berlin bei ihrer Transformation in poetische Schauplätze eine Bedeutungspotenzierung, die sie als Orte des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses ausweisen (vor allem im Rom-Essay), als Heterotopien mit vielfältigen literarischen, mythischen und imaginären Überlagerungen erscheinen lassen (z.B. die Praggedichte) oder als Kulminationspunkte des Konflikts zwischen gesellschaftlicher Ordnung und individuellem Begehren vergegenwärtigen (etwa in ›Der gute Gott von Manhattan‹).239 Der Stadt Berlin widmet sich Bachmann erstmals in einem kurzen, erst nach ihrem Tod veröffentlichten Erzählfragment ›Sterben für Berlin‹, das im November 1961, im Anschluss an einen Vortrag in der Berliner Kongresshalle und unmittelbar nach der faktischen Teilung in Ost- und Westberlin, entstanden ist. Bereits

237 Die Bezeichnung »entstellte Topographie« prägt Sigrid Weigel im Kapitel ›Topographische Poetologie‹ ihrer Bachmann-Monographie, um die räumlichen Verwerfungen des Stadtkörpers in ›Ein Ort für Zufälle‹ zu explizieren; Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 352–409, S. 373–383. Auf die Bedeutung der Stadt als Topographie der Angst in Bachmanns ›»Todesarten«-Projekt‹ verweist Christine Kanz im Abschnitt ›Angstort Stadt‹ in: Christine Kanz: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur. Stuttgart, Weimar 1999, S. 145 f. 238 Vgl. Weigel: »Stadt ohne Gewähr«, S. 254. 239 Vgl. u.a. Christine Ivanović: »Böhmen als Heterotopie«. In: Interpretationen: Werke von Ingeborg Bachmann. Stuttgart 2002, S. 109–121.



Thematische Schwerpunkte 

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hier geht sie den Spuren einer im Alltagsleben verdrängten Versehrtheit der Menschen nach: Immer wieder ist es die hinter dem omnipräsenten Gerede über die Lage in Berlin verborgene Sprachlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung, die aus der Perspektive eines männlichen Berlin-Besuchers, der auch einen Ausflug nach Ostberlin unternimmt, vermittelt wird. Bei aller Vorsicht in der Beurteilung des unabgeschlossenen Textes kann festgehalten werden, dass sich diese inwendigen Konflikte, aber auch die gesellschaftlichen Beschädigungen und Deformationen des Kalten Krieges aufgrund der durchgängigen Abwehrhaltung des Betrachters eher indirekt vermitteln, als Unausgesprochenes (etwa in den unvermittelt abbrechenden, ins Offene laufenden Dialogfetzen) und vor der Wahrnehmung Verborgenes (eine zentrale Verschleierungsmetapher ist der Nebel).240 Dagegen erscheint in ›Ein Ort für Zufälle‹ der Stadtkörper selbst als Artikulationsraum einer sublimen, aber dennoch allgegenwärtigen Gewalt und Versehrtheit, deren Symptome sich dem distanzlosen Betrachter unmittelbar aufdrängen.241 Die große Valenz der Stadt in Bachmanns zweitem Berlintext ›Ein Ort für Zufälle‹ belegt die enorme Vielzahl der erwähnten und genauer gestalteten Bezirke und Plätze, Straßen und Parkanlagen, Bauwerke und Institutionen, die in ihrer Gesamtheit nicht nur das Gebiet Berlins (vor allem Westberlins) abstecken, sondern als Orte der Freizeit- und Konsumsphäre, der politisch-militärischen, sozialen, kulturellen und infrastrukturellen Organisation auch die gesellschaftspolitische Ordnung an diesem Brennpunkt des Kalten Krieges gegen Mitte der 1960er Jahre repräsentieren. Als geläufige Koordinaten und Fixpunkte, die sich auf einem Stadtplan Berlins fixieren ließen, verbinden sie sich im Text jedoch keineswegs zu einem kohärenten Gefüge. Vielmehr hat der Stadtkörper seine Festigkeit verloren, die Gesetze der Statik sind aufgelöst, die Orte und Gebäude in Bewegung geraten und oft von einer unergründlichen Eigendynamik erfasst. Immer wieder passiert es, dass Katastrophen (in Form von Beben, Bränden, Unfällen, militärischen Konflikten und Überschwemmungen) das städtische Gemeinwesen ins Chaos stürzen, wobei das vom Text entworfene Bild der Zerstörung nicht allein auf solche über die Berliner Bevölkerung hereinbrechenden Ereignisse beschränkt ist. Denn diese exogenen Faktoren bringen zugleich eine innere Zerrüttung zum Vorschein, eine Überlastung und Ohnmacht, Maßlosigkeit und Gewaltbereitschaft, die ansonsten in den geregelten Abläufen der All-

240 Vgl. KA I 74 f.: »Glauben Sie?/ Denken Sie./ Was meinen Sie./ Natürlich werden überall Fehler gemacht.« 241 Sigrid Weigel spricht davon, dass die Stadt selbst in ›Ein Ort für Zufälle‹ als »Symptomkörper« dargestellt wird; vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 373.

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 Einführung

tagswelt verborgen blieben: »Alles ist versehrt, nicht durch Geschosse, sondern inwendig« (OfZ 20). Auch die stadtnahe Landschaft hat ihre Funktion als Erholungsraum verloren und zeigt einen permanenten Hang zur Destruktion: »Ins Gewitter gekommen ist der See« (OfZ 29); »Auf dem Weg zur Krummen Lanke, neben der Perle des Grunewalds, die einen Stich hat, liegt der riesige Laubbaum, gefällt, abgebrochen« (ebd.).242 Textübergreifend entsteht so der Eindruck einer universalen Bedrohung, die anhand unterschiedlichster Facetten der Gewalt manifest wird, ohne jedoch greifbar oder benennbar zu werden.243 Die vor allem im 17.  Abschnitt erkennbaren Indizien für eine gewaltsame Geschichte, die das Stadtbild deformiert hat, bewirkten, dass man die ›entstellte‹ Topographie in ›Ein Ort für Zufälle‹ vorrangig als Ausdruck einer verdrängten und zugleich hervordrängenden Vergangenheit verstanden hat. Unter Bezugnahme auf den Krankheitsdiskurs im Vorwort der Büchner-Preis-Rede werden die Deformationen und Destruktionen als Symptome eines vorausgegangenen Wahnsinns, als »transgenerationelle[] Erbschaft von Erinnerungsspuren«, als »Wiederkehr des Verdrängten« oder als Vergegenwärtigungen von »Spuren, die das Vergangene hinterlassen hat«, aufgefasst.244 Ergänzend zu dieser Interpretation der Stadt als einem ›Gedächtnisschauplatz‹ und traumatischen Ort hat sich jedoch zuletzt auch eine Lesart etabliert, welche die spezifische Stadtdarstellung in ›Ein Ort für Zufälle‹ verstärkt in den Kontext der politisch-gesellschaftlichen Situation im Entstehungszeitraum rückt. Die ansatzweise durchgeführten Versuche einer zeitgeschichtlichen Rekontextualisierung haben sich dabei als durchaus fruchtbar erwiesen, konnte doch gezeigt werden, dass zahlreiche der abstrus und grotesk anmutenden Szenarien auf konkreten Vorkommnissen und Zwischenfällen aus der Zeit von Bachmanns Berlin-Aufenthalt basieren. Dabei sind es nicht nur die politisch-militärischen Spannungsfelder des Kalten Krieges, die in den bedrängenden Schreckensbildern von eskalierenden Grenzkonflikten, schikanösen Passkontrollen und bedrohlichen Manövergeräuschen, erkennbar

242 Vgl. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 265: »Vom Verlust des Halts handeln die meisten Episoden, wobei Natur und Zivilisation gleichermaßen an der Zerstörung alles Feststehenden beteiligt werden.« 243 Vgl. Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 87, und Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 177. Vgl. vor allem Ivanović, die auf das »Auseinanderklaffen von sich entziehender Erinnerungsmöglichkeit und faktischer sinnlicher Wahrnehmung von etwas, das »in Berlin« präsent, für sie [Bachmann] hier aber nicht ansprechbar ist«, explizit hingewiesen hat. Christine Ivanović: »Sanfte Erinnerung, umgeben von Gewalt«. Ilse Aichingers Jüngste Prosa. In: Kultur & Gespenster 3 (2007), S. 202–219, S. 207. 244 Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 374. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 214. Greuner: Schmerzton, S. 19.



Thematische Schwerpunkte 

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werden.245 Mit der Fokussierung auf Orte der Freizeitgestaltung, des kulturellen Lebens und des Konsums gewinnt ein bestimmtes gesellschaftliches Klima an Kontur, das vielfältige Anspielungen auf aktuelle Entwicklungen und Diskurse in der geteilten Stadt gegen Mitte der 1960er Jahre beinhaltet – etwa auf die kulturellen, wirtschaftlichen und baulichen Förderprogramme, die Westberlin erneut in den Rang einer Metropole versetzten sollten, oder auf die Etablierung einer erklärt antibürgerlichen Subkultur im Stadtteil Kreuzberg. Vor diesem Hintergrund erscheinen die grotesken Deformationen, Verzerrungen und Inversionen des städtischen Raumes als kalkulierte Radikalisierung der vorgefundenen empirischen Wirklichkeit, die bestimmte Verhaltensmuster oder aus dem Alltagsleben verdrängte Gefühle und psychische Impulse (Kriegsangst, Ohnmacht, Aggression, Orientierungslosigkeit etc.) hervortreten lässt.246 Eine besondere Bedeutung kommt dabei, wie im Kommentar ausführlich gezeigt wird, den Befindlichkeiten zu, die sich im Erfahren des den Naturgesetzen enthobenen Raums einstellen (Schwindel, Haltlosigkeit, Panikanfälle). In Korrelation mit einer Vielzahl an körperlichen Symptomen und Artikulationsformen (übermäßiges Schwitzen, Husten, Zittern, Um-Sich-Schlagen) fungieren sie als nonverbale Ausdrucksgebärden eines permanenten Konfliktherdes im Innern der Gesellschaft, der entweder durch manische Zerstreuungssucht verdrängt oder von den Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung (Sicherheitsdienste, Kassiererinnen, Ärzte, Wärter etc.) unterdrückt und verheimlicht wird.247 Dass diese textübergreifende Konstruktion einer deformierten Topographie gewisse Affinitäten zu Darstellungsweisen und Wahrnehmungen der Großstadt besitzt, die im 20. Jahrhundert geradezu topisch geworden sind, ist immer wieder betont worden.248 Neben paradigmatischen Großstadtromanen wie ›Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‹ und ›Berlin Alexanderplatz‹ hat sich der

245 Vgl. Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 127–139. Bettina Bannasch spricht diesbezüglich von einer »Zusammenstellung von zwar verfremdeten, doch als konkret erkennbaren ›politischen Schlüsselereignissen‹« im Zeitraum von Bachmanns BerlinAufenthalt; Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 176. 246 Hans Höller spricht in diesem Zusammenhang von »szenische[n] Arrangements«, in denen bestimmte Interaktionsmuster ausgelegt werden; Höller: Ingeborg Bachmann, S. 214. Vgl. auch Bartsch: »Frühe Dunkelhaft« und Revolte, S. 84. Ebenso Ivanović: »Sanfte Erinnerung, umgeben von Gewalt«, S. 207. 247 Bernhard Böschenstein bezeichnet Bachmanns Berlin-Darstellung als einen »Lunapark der Lebenslüge«, der »die tausendfache Lüge des Vergessens, das Betäubende und das, was den Grund verdeckt«, zeige; Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 268. 248 Vgl. Höller: Ingeborg Bachmann, S. 220 f., und Höller: Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Texte und Kommentare. In: LuG 31 f.

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 Einführung

Fokus der Wissenschaft auch auf Walter Benjamins Stadtdarstellungen gerichtet.249 Aber auch surrealistischen und expressionistischen Filmverfahren wurde Bachmanns Text aufgrund seiner grotesken Elemente und ›harten Schnitte‹ angenähert.250 Dabei ist mit dem Aufzeigen sprachlicher Analogien zugleich die thematische Differenz der Stadtdarstellung betont worden: In den wahnsinnigen Geräuschen und Bewegungen, Verzerrungen und Destruktionen manifestiert sich nicht allein die Überforderung und Dissoziation des Ichs durch den modernen Großstadtbetrieb, sondern auch die Virulenz einer dissimulierten Gewalt im Alltagsleben der Berliner Gesellschaft Mitte der 1960er Jahre, die mit der gewaltsamen Geschichte und Gegenwart der Stadt zu tun hat. Dem offiziellen Bild einer Stadt, die sich nach der Berlin-Krise von 1961 zunehmend mit dem Status quo der Teilung zu arrangieren beginnt und den Systemkonflikt verstärkt auf kultureller, wirtschaftlicher und diplomatischer Ebene austrägt, setzt Bachmann eine Serie von Schreckensszenarien entgegen, die sich durchgehend einer politisch-geographischen Bi-Polarisierung entziehen.251 Durch die konsequente Aussparung eines segregierenden Vokabulars (Ostberlin; Westberlin; SBZ) sowie durch die grenzüberschreitende Destabilisierung des Raumes (»Potsdam ist mit all seinen Häusern in die Häuser von Tegel verrutscht«; OfZ 22) unterläuft ›Ein Ort für Zufälle‹ jegliche gesellschaftspolitische Dichotomisierung, wie sie die geläufigen Diskurse prägt.252 In der Entgrenzung bzw. Entterritorialisierung von Krankheit und Gewalt liegt auch das Spezifische von Bachmanns Berlin-Rede im Kontext der literari-

249 Auf die »Verwandtschaft« der Bilder in ›Ein Ort für Zufälle‹ mit der Bildlichkeit Benjamins verweist erstmals Małgorzata Świderska. Świderska: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, S. 52. Sigrid Weigel kommentiert ›Ein Ort für Zufälle‹ unter Bezugnahme auf Benjamins ›Surrealimus‹Aufsatz und seinem Proust-Essay; Weigel: »Stadt ohne Gewähr«, S. 262 f. 250 Vgl. Świderska: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren, S. 51. Insbesondere Jost Schneider weist darauf hin, dass Bachmann auf stilistische Techniken des Expressionismus zurückgreift, und nennt in diesem Zusammenhang Autoren wie Scheerbart, Kubin und Sternheim. Schneider: Historischer: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 134 (Anm. 22). 251 Besonders deutlich wird dies am Fluchtmotiv, das zwar auf reale Fluchtversuche von DDRBürgern anspielt (»der Plan ist ein Tunnel«), diese jedoch in Fluchtphantasien aus einer repressiven institutionellen Sphäre transformiert (OfZ 19). 252 Etwa als einseitige Glorifizierung Westberlins, »a defended island of freedom« zu sein, wie es John F. Kennedy in seiner Berlin-Rede von 1963 formuliert. Zitiert nach Schneider: Die Kompositionsmethode Ingeborg Bachmanns, S. 165 f. Oder als konkurrierendes Selbstverständnis beider deutscher Staaten, einzig mit der gewaltsamen deutschen Vergangenheit gebrochen zu haben. Böschenstein zufolge liegt der Akzent von Bachmanns Stadtdarstellung nicht auf »historische[r] Einmaligkeit«, sondern auf einer Raum und Zeit überschreitenden »Perennität der die Krankheit erzeugenden Bedingungen«; Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 263.



Thematische Schwerpunkte 

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schen Berlin-Darstellungen dieser Zeit. Findet sich durchaus eine größere Zahl von Werken, in denen die geläufigen Mythen von der ›Frontstadt‹ und der ›Freiheitsinsel‹ hinterfragt werden,253 so bleibt das Gros der Schriftsteller doch einem bipolaren Denken und Sprechen verhaftet.

2. Krankheit und Wahnsinn Ein paradigmatischer Schauplatz der Sanktionierung emotionaler Regungen, Gefühlsstrukturen und Verhaltensweisen, die im Konflikt mit der gesellschaftlichen Ordnung stehen, ist in ›Ein Ort für Zufälle‹ die Krankenhaus- und Anstaltssphäre. Anhand der umfassenden Darstellung von geläufigen Praktiken institutioneller Verwaltung, Pflege und medizinischer Versorgung führt der Text sukzessive ein regelrechtes Kontrollsystem vor Augen, das Krankheit vorrangig als Normabweichung bzw. Störung des geregelten Alltags auffasst und dessen Manipulationsmethoden von der medikamentösen Sedierung über gewaltsame Disziplinierung bis hin zur subtilen Täuschung und Desinformation reichen. In diesem gesellschaftlich legitimierten Repressionszusammenhang erscheinen die Internierten wiederholt als ohnmächtige Objekte, die ihre Subordination unter die institutionelle Fürsorge bereits verinnerlicht haben: »Alle [...] möchten zurück zur Abendvisite.«254 (OfZ 56) Textübergreifend kennzeichnet das Verhalten der Kranken und Patienten jedoch auch eine Vielzahl an körperlichen Anzeichen und Ausdrucksgesten, die darauf hindeuten, dass ihrem Konformismus ein suppressiver Akzent eignet: Neben einer differenzierten vegetativen Symptomatik, die innere Konflikte nonverbal indiziert, werden unausgelebte Sehnsüchte und Affekte in einigen Textpassagen auch explizit artikuliert (»keiner traut sich, heute nacht aufs Geländer zu steigen und der Nachtschwester zu drohen«; OfZ 19). Evident wird dieser anhaltende Konflikt zwischen Gesetz und Gefühl in ›Ein Ort für Zufälle‹ jedoch vor allem im Zusammenhang mit der Destabilisierung des institutionellen Alltags durch exogene Störfaktoren: Affiziert von einer bedrän-

253 Vgl. Schneider: Historischer Kontext und politische Implikationen, S. 139. 254 Die Degradierung des Menschen zum Objekt innerhalb des medizinisch-psychiatrischen Diskurses ist ein zentrales Thema der Romane und Entwürfe des ›»Todesarten«-Projekts‹ – vgl. etwa den sogenannten »Krankenhaus-Entwurf« des ersten ›Todesarten‹-Romans. (KA I 83–87) Vor allem im ›Franza‹-Roman erscheint die Psychiatrie als ein Angstsystem, das nicht nur die Disziplinierung sämtlicher Regungen und Affekte, sondern letztlich auch die Selbstübernahme der Pathologisierung bewirkt. Vgl. Christine Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk. In: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Monika ­Albrecht und Dirk Göttsche. Stuttgart, Weimar 2002, S. 223–236, S. 234.

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 Einführung

genden und lärmenden Großstadt, von Gebührenerhöhungen, negativen Versicherungsbescheiden oder bedrohlichen Wetterphänomenen, brechen ansonsten unterdrückte psychische Regungen unkontrolliert hervor, manifestieren sich in Panik und körperlicher Destruktion oder richten sich unmittelbar gegen die institutionelle Ordnung (»keiner will auf seine Station zurück«; OfZ 30).255 In diesen Gefühlsausbrüchen und Widerständen offenbart sich ein extremer Leidensdruck der Internierten, dem das institutionelle System mit Beschwichtigung, aber auch mit körperlicher Gewaltanwendung entgegentritt. Im Spannungsfeld einer von den Ärzten und Schwestern heruntergespielten oder verdrängten chaotisch-destruktiven Umwelt gewinnt das scheinbar neurotische Verhalten der Kranken und Patienten zunehmend auch den Charakter einer besonderen Sensibilität, die eine universelle unfassbare Bedrohung in der Welt wahrnimmt: »›Es muß mehr sein als eine Disharmonie‹, schreien ein paar und fangen an, um sich zu schlagen.«256 (OfZ 30) In den frühen Rede-Entwürfen deutet Bachmann wiederholt auf eine besondere Persönlichkeitsstruktur jener Menschen hin, die von der Gesellschaft gewöhnlich aufgrund ihrer unangepassten Verhaltensmuster als krank klassifiziert werden: »Es sind also die Kranken, [...] denen das Gefühl für Unrecht und Ungeheuerlichkeit noch nicht abhanden gekommen ist.« (ÖNB: K 4513, N 2025; KA I 175) Die Korrelation dieses ungewöhnlichen Standpunkts mit einer Poetik der authentischen Leiderfahrung im Verlauf der Textgenese rückt die Krankheitsthematik in ›Ein Ort für Zufälle‹ in die Nähe einer Wahrnehmungskonzeption in Bachmanns Werk, deren poetologische Bedeutung die Schriftstellerin erstmals in ihrer Rede bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, ›Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar‹, hervorgehoben hat. Vor einem Publikum, das mehrheitlich im Zweiten Weltkrieg das Augenlicht verloren hat, spricht sie dem Versehrt- und Verwundetsein eine besondere Valenz als Voraussetzung einer Perzeption zu, die aus den gesellschaftlich geformten Verhaltens- und Erlebnisrastern ausbricht und sich dem Äußersten, dem Grenzfall, annähert.257 Während Bachmann den »großen geheimen Schmerz« (KS 246) in ihrer Kriegsblindenrede

255 Vgl. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 262 f.: »Ingeborg Bachmanns Büchner-Rede dagegen setzt ein Krankenzimmer in einer Irrenanstalt voraus, durch das und in das Situationen dringen, die alle von einer Verrückung zeugen, die an Lenz’ Verrückung anschließt.« 256 Vgl. Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 177. 257 Hans Höller hebt die große Nähe der Rede zu Arthur Rimbauds ›Seher-Brief‹ hervor. Für Rimbaud ist der Dichter »unter allen der große Kranke, der große Gesetzbrecher, der große Verdammte«, dessen unsägliche »Qual« die »Entregelung der Sinne« erringt; Höller: Ingeborg Bachmann, S. 150.



Thematische Schwerpunkte 

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jedoch als eine schreckliche Auszeichnung versteht, die Dichter und Kriegsversehrte aus der Gesellschaft heraushebt, rückt sie in ›Ein Ort für Zufälle‹ durch die ihrer ›Poetik des Leidens‹ inhärente Aufspaltung in eine zwanghaft beobachtende Instanz (Kundschafter) und ein betroffenes Kollektivsubjekt (die Kranken, die Patienten) die soziale Bedingtheit des Krankseins stärker in den Blick.258 Im Zwangssystem der Anstalts-Sphäre ist das Leiden nicht mehr Kennzeichen einer Prädestination für eine utopische Erfahrung des Absoluten – dies scheint nur noch vorübergehend durch eine Flucht in die Wüste möglich. Die permanente Unterdrückung psychischer Schmerzen lässt die Kranken und Patienten vielmehr zu besonders empfänglichen Resonanzkörpern einer Zerrüttung werden, die letztlich die gesamte urbane Landschaft umfasst.259 Im Spannungsfeld einer textübergreifenden Semantik des Schreckens und Leidens, der Halt- und Orientierungslosigkeit, die selbst die Natur mit einbezieht (»die Kiefern hängen mit allen Nadeln verkrallt ineinander«; OfZ 22), erscheinen Erholungsorte, Grenzübergänge, Institutionen des Geheimdienstes und insbesondere auch die Konsumtempel der Wohlstandsgesellschaft als Schauplätze eines kollektiven Wahnsinns, der in den Ausdrucksgesten einer gesellschaftsübergreifenden Verdrängungs- und Verschleierungskultur, als unkontrollierte Maßlosigkeit und Manie (»Die alten Frauen fressen und fressen«; OfZ 47), Kaufrausch und Alkoholexzess gleichfalls Signifikanz erlangt. Von einer Akzentverschiebung der Leidensthematik in Bachmanns Werk, weg vom besonderen Schicksal hin zum kollektiven Trauma kündet, wie gezeigt, die Auseinandersetzung mit Büchners ›Lenz‹. Dass sich Bachmann bei der Vorbereitung der Rede auf diesen Krankheitsaspekt konzentriert hat, muss aber auch im Kontext einer werkübergreifenden Beschäftigung mit psychologischen Fragestellungen, Theorien und Texten gesehen werden, die seit Beginn der 1960er Jahren eine besondere Intensität und Systematik erkennbar werden lässt.260 In den zeitnahen Romanentwürfen und -fragmenten des ›Todesarten‹-Projekts spie-

258 Vgl. Bannasch: Künstlerische und journalistische Prosa, S. 176: »Bachmann schließt mit ihrer Rede eng an Büchners ›Lenz‹ an, wenn auch sie das Leiden ihrer Kranken als ein durch äußere soziale Bedingungen verursachtes Leiden charakterisiert.« Bannasch akzentuiert ebenfalls unter Verweis auf Höller die Aufspaltung eines beobachtenden und beobachteten Subjekts in ›Ein Ort für Zufälle‹ und erkennt darin einen ersten Ansatz für das dichotome Erzählkonzept in den ›Todesarten‹ – etwa im ›Buch Franza‹, das eine leidende Protagonistin (Franza) und eine Erzählerfigur (Martin) voneinander absetzt, oder in ›Malina‹, das zwischen einem Ich und den das Ich überlebenden Malina als dem Erzähler der ›Todesarten‹ unterscheidet; ebd., S. 178. 259 Vgl. Böschenstein: Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, S. 265: »Vom Verlust des Halts handeln die meisten Episoden, wobei Natur und Zivilisation gleichermaßen an der Zerstörung alles Feststehenden beteiligt werden.« 260 Vgl. Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie, S. 224. Vgl. auch den Abschnitt

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 Einführung

gelt sich eine zunehmende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursen zur Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie, die Publikationen aus den Bereichen der Humanwissenschaften, der Philosophie und Kunst umfasst.261 Ein Blick auf Bachmanns Privatbibliothek legt nahe, dass die Schriftstellerin diverse Theorien der Trauma- und Neurosenlehre verarbeitet hat, wobei sie zeitgenössische Publikationen in gleicher Weise berücksichtigte wie einschlägige Standardwerke von Konrad Lorenz, Otto Rank, Georg Groddeck und Viktor E. Frankl. Insbesondere von den Schriften Sigmund Freuds besaß sie ein breites Spektrum an Texten, aus dem ›Studien über Hysterie‹ besonders hervorsticht, weil es deutliche Spuren der Durchsicht aufweist.262 Auf die Rezeption dieses Textes in Bachmanns ›Todesarten‹-Projekt ist immer wieder hingewiesen worden.263 Die darin von Freud und Josef Breuer formulierten grundlegenden Thesen zur »traumatischen Hysterie« bzw. »traumatischen Neurose« lassen dieses Werk aber auch für die Konturierung der Krankheitsthematik in ›Ein Ort für Zufälle‹ bedeutsam erscheinen.264 Dies betrifft nicht nur die Darstellung einer textübergreifenden psycho-

›Bachmanns Poetik der Krankheit‹. In: Pommé: Ingeborg Bachmann – Elfriede Jelinek, S. 59–64, S. 60 f. 261 Ein wesentlicher Bezugspunkt für Bachmanns Auseinandersetzung mit der Angst ist seit ihrer Dissertation die Philosophie Heideggers. Evident wird im weiteren Verlauf ihres Schreibens u.a. eine Auseinandersetzung mit Werken von Søren Kierkegaard, Wystan Hugh Auden, Arthur Rimbaud, Alfred Döblin, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, Leopold von Sacher-Masoch, Sylvia Plath und Jean Améry. Zu erwähnen ist auch das zweibändige Werk von Gustav René Hocke, mit dem Bachmann das psychologische Interesse am Phänomen Angst teilt; vgl. Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie, S. 224. Regina Mundel hat die in den 1960er Jahren einsetzende Fülle an Abhandlungen zum Thema ›Wahnsinn‹ bibliographisch zu erfassen gesucht; vgl. Regina Mundel: Bildspur des Wahnsinns. Surrealismus und Postmoderne. Hamburg 1997, S. 14. Wie präsent diese Thematik für Bachmann in der Zeit des Berlin-Aufenthaltes war, darauf verweist auch Peter Härtling, indem er auf ein gemeinsames Gespräch mit Peter Szondi und Bachmann in der einstigen Wertheimer Villa im Grunewald verweist: »Wir hatten durcheinander geredet, uns gefragt, wie weit Erinnerung reiche, ob sie uns in Besitz nehmen könne, ohne daß sie uns bewußt bleibe, ob sich auch der Leib erinnere, nicht der Verstand.« Peter Härtling: Leben lernen – in Berlin. In: Sinn und Form 55 (2003), H. 4, S. 507–520, S. 518. 262 Auch wenn nicht eindeutig belegt werden kann, ob Bachmann Freuds Werke tatsächlich ins Italienische übersetzen wollte und ob sie einen 1963 in einem Brief erwähnten Essay zu ›Freud als Schriftsteller‹ tatsächlich fertigstellte, deuten die zahlreichen Freud-Ausgaben in ihrer Privatbibliothek und die konkreten Anspielungen auf Freuds Werke in ihren Texten auf detaillierte Kenntnisse hin. Vgl. Lubkoll: »Dies ist der Friedhof der ermordeten Töchter«, S. 75. Vgl. Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie, S. 223. 263 Zuletzt ausführlich bei Michèle Pommé. Pommé: Ingeborg Bachmann – Elfriede Jelinek, S. 65–74, S. 74. 264 Sigmund Freud: Studien über Hysterie. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud, E.  Bibring, W.  Hoffer, E.  Kris und O.  Isakower. Bd.  I. Frankfurt a.M. 1999, S. 84.



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motorischen Symptomatik in Bachmanns Text, die der hysterischen Symptomatik bei Freud nahesteht (Lähmungen, Kontrakturen, Konvulsionen etc.).265 Auch die Formierung einer permanent bedrohlichen Umwelt mit ihren Auswirkungen in ›Ein Ort für Zufälle‹ lässt sich in gewisser Hinsicht auf die Erörterungen Freuds zum traumatischen Erlebnis beziehen, das »Schrecken«, »Angst«, »Scham« und »psychischen Schmerz« hervorruft und zugleich das »Abreagieren« dieser Affekte verhindert (»der Schmerz wird niedergehalten«; OfZ 64).266 Während Freud Hysterie aber als psychisch bedingtes körperliches Leiden definiert, das durch eine abnorme affektive Erregbarkeit disponiert wird, stellt Bachmann in ihren Texten dezidiert eine gesellschaftlich und historisch bedingte Versehrtheit bloß.267

Bedeutsam mag zudem Freuds Schrift ›Jenseits des Lustprinzips‹ sein, in der dieser sein Verständnis von der »traumatischen Neurose« ausführlich erläutert und auf die Relevanz äußerer Umstände – etwa den »eben jetzt abgelaufene[n] Krieg« für dieses Krankheitsbild hinweist. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Freud: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u.a. Bd. XIII. Frankfurt a.M. 1999, S. 3–69, S. 9 f. 265 Christine Kanz schreibt: »Inwiefern die Darstellung der körperlichen Ausdrucksformen der Angst auch bei Bachmann diskursiv vorgeprägt sein könnte und auf tradierte Formen der Körperrhetorik zurückgreift, wäre im einzelnen noch zu überprüfen. Eines jedoch läßt sich schon jetzt mit Gewißheit sagen: eine Spur führt zur Psychoanalyse Freuds. Betrachtet man die von Bachmann geschilderten körperlichen Artikulationsmuster der Angst, die auf immer gleiche Weise ablaufen (Zittern, Schlottern, Zusammenknicken der Beine, schnelles Atmen, Schwindelgefühl, Erbrechen usw.), stellt man fest, daß ihre Schilderungen sehr oft mit den Freudschen Beschreibungen der pathologischen Symptomatik von Hysterie und Angstneurose übereinstimmen.« Christine Kanz: »Sie war von großer Ängstlichkeit« – Zur Konstruktion von Geschlechtsdifferenzen bei Ingeborg Bachmann. In: Klangfarben: Stimmen zu Ingeborg Bachmann. Internationales Symposium Universität des Saarlandes 7. und 8. November 1996. Hrsg. von Pierre Béhar. München 2000, S. 205–225, S. 215. Insbesondere in Bezug auf die Darstellung des Schwindels in Bachmanns Werk ist die Übereinstimmung mit Freuds Beschreibungen angstneurotischer Symptomatik frappierend. Vgl. Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie, S. 226. 266 Freud: Studien über Hysterie, S. 84. Freud erkennt in den wiederkehrenden Anfällen bzw. »hysterischen Zufällen« (Freud: Studien über Hysterie, S. 246) Reminiszenzen an vergangene Traumen, die nicht abreagiert werden konnten; ebd., S. 88 f. Vor dem Hintergrund der Präsenz von Signaturen einer vergangenen Gewaltgeschichte interpretiert Sigrid Weigel die textübergreifend vorhandenen Krankheitszeichen in ›Ein Ort für Zufälle‹ als »Erbschaft von Erinnerungsspuren« und verweist dabei auf Freuds Begriff der »archaische[n] Erbschaft« in dessen Studie ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹; Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 374. 267 Vor allem Kanz betont die Differenzen, die trotz aller Parallelen zwischen dem Werk Bachmanns und psychoanalytischen Diskursen bestehen. Bachmann lasse »den Körper sprechen [...], dessen Sprache sie weder als Krankheitssymptomatik kenntlich macht noch als solche bewertet. Anders als der Analytiker bleibt die Schriftstellerin immer bei der Deskription, ohne medizinische Etikettierungen vorzunehmen. Wichtig ist ihr aufzuzeigen, was die physischen Phänomene ausdrücken und wie es zu ihnen gekommen ist.« Kanz: Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie, S. 227. In gleicher Weise betont auch Pommé, dass »[h]inter den zahlreichen Parallelen

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 Einführung

Abgesehen von der Reflexion grundlegender Thesen zur Psychopathologie beschäftigt sich Bachmann zunächst vornehmlich mit Werken, die Traumaforschung und die Aufarbeitung des Holocaust behandeln.268 Neben Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses, ›Medizin ohne Menschlichkeit‹, wird dies besonders evident in einer 1964 erschienenen empirischen Studie mit dem Titel ›Psychiatrie der Verfolgten‹, deren Lektüre deutliche Spuren in den Entwürfen zu ›Das Buch Franza‹ hinterlassen hat. Entstanden aus dem Bedürfnis, für die entschädigungsrechtliche Begutachtung von überlebenden Opfern des Holocausts mit seelisch-nervösen Störungen eine Verhandlungsbasis zu schaffen, führen die Verfasser wesentliche Parameter der extremen exogenen Belastungssituationen an und rubrizieren im klinischen Teil sämtliche erlebnisreaktive Störungen, die bereits im Vorfeld der Deportation, in den Lagern und im späteren Leben aufgetreten sind. Das Ergebnis langfristiger Beobachtungen und Befragungen ist eine Neudefinition der »Traumatischen Neurose« als »Ausdruck eines echten ›erlebnisreaktiven Persönlichkeitswandels‹«.269 Auf die Bedeutung dieser Studie für ›Ein Ort für Zufälle‹ wurde mehrfach hingewiesen, doch bezogen sich die Anmerkungen bisher vor allem auf den versicherungsrechtlichen Aspekt (vgl. Kommentar zum 25.  Abschnitt).270 Ein genauer Blick auf die umfassende Systematisierung pathogener Umweltfaktoren und daraus resultierender Krankheitsbilder legt jedoch eine wesentlich tiefer gehende Bedeutung für Bachmanns Berlin-Text nahe. Vor allem das in ›Ein Ort für Zufälle‹ dargestellte Verhalten der Kranken und Patienten weist deutliche Übereinstimmungen mit den im klinischen Teil der ›Psychiatrie der Verfolgten‹ aufgelisteten chronischen Schädigungen auf: neben sogenannten »Disharmonien des vegetativen Apparates« (Temperaturanstieg, Bronchialasthma, diffuse Schmerzen, Schwindelanfälle, Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Zittern etc.) sind dies zahlreiche psychische Symptome (gesteigerter Hang zu Suizidalität,

zu Freuds Schriften [...] ein eigenes Krankheitskonzept erkennbar« werde, »das das hysterische Leiden als ein Leiden an vorgegebenen Herrschaftsstrukturen identifiziert.« Pommé: Ingeborg Bachmann – Elfriede Jelinek, S. 74. 268 Dies verwundert nicht angesichts des Sachverhalts, dass die seit den 1990er Jahren extrem ausdifferenzierte Trauma-Forschung (die zunehmend auch die ›Täter‹ berücksichtigt hat) durch die Katastrophe des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Juden ausgelöst wurde. 269 Walter Ritter von Baeyer, Heinz Häfner und Karl Peter Kisker: Psychiatrie der Verfolgten. Psychopathologische und gutachtliche Erfahrungen an Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung und vergleichbarer Extrembelastungen. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1964, S. III (Vorwort). 270 Vgl. Weigel: Ingeborg Bachmann, S. 375 f.



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emotionale Labilität, nervöse Reizbarkeit, Angstzustände, Überempfindlichkeit gegen Lärm, gesteigerte Erschöpfbarkeit, Misstrauen gegenüber den Betreuern, Verlust des Kommunikationsvermögens).271 Im Unterschied zu den Herausgebern der Studie, die in den psychisch-nervösen Normabweichungen und Krankheitszuständen eine neurotische »Störung des Weltbezuges« erkennen, die auf eine vergangene Belastungssituation zurückgeht,272 erscheint das exaltierte Verhalten der Kranken und Patienten in Bachmanns Text jedoch als konsequente Reaktion auf anhaltende, unmittelbar gegenwärtige Gewalt (»jede Minute«; »jeden Tag«; »schon wieder«; »seit damals«). In der Darstellung permanent durchs Zimmer fliegender Flugzeuge, ganz nah herankommender Kirchen, einstürzender Gebäudeteile, plötzlich ausbrechender Feuer, in Erstickungsgefahr befindlicher Menschen kommen explizit jene räumlichen, zeitlichen und sozialen Qualitäten zum Ausdruck, die in der Studie als wesentliche Parameter eines traumatischen Ereignisses aufgelistet sind: Raumsymbolisch qualifizierbar, entsprechend der existentialen Räumlichkeit des Daseins, ist ja schon die ursprüngliche Begegnung mit dem Schrecklichen, das in der temporalen Gestalt der Plötzlichkeit [...] auf den Leib rückt, den Leib beengt und Atem benimmt, sich bedrohlich nähert, eine Distanz zu den Dingen zum Schwinden bringt, »die nächste Näherung des Drohenden« (Heidegger) darstellt. [...] Im Ganzen der Person und Welt umgreifenden Situation dominiert hier die Welt mit einem ins Grauenhafte gewandelten Antlitz, dessen Eindruck sich kaum einer entziehen kann.273

Indem diese vorrangig im Zusammenhang mit dem Holocaust deduzierten Faktoren einer extremen Belastungssituation in Bachmanns Text auf die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in Berlin übertragen werden, erscheinen die traumatischen Symptomen ähnelnden Auffälligkeiten der Menschen in erster Linie nicht als »Spätschäden« und »Dauerspuren« einer gewaltsamen Vergangenheit,274 sondern als kollektive Krankheitsbilder eines überzeitlichen Wahnsinns, der auch nach Krieg und Vernichtung ungebrochen virulent ist. Mit dieser expliziten Fokussierung auf die sublime Gewalt im Innern einer scheinbar friedlichen und für sich friedliche Handlungen reklamierenden Gesellschaft berührt ›Ein Ort für Zufälle‹ unmittelbar die »poetologische Leitfrage« der ›Todesarten‹, die »auf eine kritische Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags zielt«.275 So zeugen

271 Von Baeyer u.a.: Psychiatrie der Verfolgten, S. 74–77. 272 Ebd. S. 33. 273 Ebd. S. 34, 61. 274 Zum Terminus »Spätschäden« vgl. von Baeyer u.a.: Psychiatrie der Verfolgten, S. 74 f. 275 Dirk Göttsche: Ein »Bild der letzten zwanzig Jahre«. Die Nachkriegszeit als Gegenstand einer kritischen Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags in Ingeborg Bachmanns

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 Einführung

die expliziten Bezüge auf die Studie ›Psychiatrie der Verfolgten‹ in ›Das Buch Franza‹ gerade nicht von der transgenerationellen Übertragung der durch den Holocaust verursachten Traumata. Wenn Franza konstatiert »ich bin ein einziger Spätschaden« (KA II 215), dann wird sie in ihrer ›Zurichtung zum Objekt‹, die sie in ihrer Ehe mit dem Psychiater Jordan erfahren hat, vielmehr einer Fortsetzung jener strukturellen Gewalt im psychiatrischen Diskurs wie in der privaten Sphäre gewahr, die auch die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie prägte. Angesichts dessen verdeutlicht das Romanprojekt, dass Bachmann letztlich auch in ›Psychiatrie der Verfolgten‹, deren klinische Beurteilungen und statistische Erhebungen die erneute Verwaltung und Objektivierung der Opfer widerspiegeln, ein Zeugnis der Kontinuität faschistischer Gewaltpraktiken erkennt.276 Der Blick auf ihre Privatbibliothek zeigt, dass Bachmann in den 1960er Jahren auch zu Vertretern der Antipsychiatrischen Bewegung Kontakt hatte. Während die Auseinandersetzung mit Thomas Szasz und Franco Basaglio jedoch vor allem für das Romanprojekt Bedeutung erlangt,277 mag die kritische Haltung Bachmanns gegenüber der Psychiatrie Mitte der 1960er Jahre auch durch die zeitgleichen Prozesse gegen im Nationalsozialismus tätige Ärzte bedingt gewesen sein: Seit dem 18. Februar 1964 berichten die Medien verstärkt vom sogenannten ›Euthanasie‹-Prozess in Limburg, der im Rahmen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses der Verantwortung von Psychiatern, Ärzten und Pflegern bei der Tötung geistig behinderter Menschen galt.278 Die Verhandlungen lösen in der bundes-

»Todesarten«-Projekt. In: Über die Zeit schreiben. Literatur- und Kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt. Hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Bd. 1. Würzburg 1998, S. 161–202, S. 162. 276 Besonders deutlich wird dies in einer Passage, in der Franza ihren Mann Jordan, von dem sie im Verlauf ihrer Ehe immer mehr zum Studienobjekt degradiert worden war, als Wissenschaftler vorstellt, der ein »Buch« »[ü]ber die Spätschäden« geschrieben hat. (KA II 302) 277 Auf die Beschäftigung Ingeborg Bachmanns mit Vertretern der Antipsychiatrischen Bewegung geht ausführlich Brigitte Steyer ein. Steyer: Traumadarstellung und deren Implikationen, S. 42 f. 278 Vgl. dazu u.a. die Mitteilung: »Euthanasie«-Prozeß findet statt. In: Der Tagesspiegel Nr. 5640, 16. Februar 1964, S. 1; ebenso: »Euthanasie«-Prozeß in Limburg begonnen. In: Der Tagesspiegel Nr. 5607, 19. Februar 1964, S. 2. Es folgen zahlreiche weitere Artikel, die sich mit dem Prozess sowie mit den historischen Begebenheiten beschäftigen: Tagesspiegel Nr. 5612, 25. Februar 1964, S. 6; Nr. 5561, April 1964, S. 5; Nr. 5664, 28. April 1964, S. 6; Nr. 5669, 5. Mai 1964, S. 16; Geisteskranke Kinder wehrten sich gegen Todesmahlzeiten. In: Der Tagesspiegel Nr. 5710, 25. Juni 1964, S. 6; »Euthanasie«-Prozeß ausgesetzt. In: Der Tagesspiegel, Nr. 5766, 29. August 1964, S. 8.



Thematische Schwerpunkte 

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deutschen Öffentlichkeit eine Debatte über das Für und Wider des sogenannten »guten Tötens« im Falle unheilbar erkrankter Menschen aus.279

279 Vgl. dazu den Artikel: Menschen oder menschliche Monstren? Eine Umfrage unter Ärzten, Politikern, Theologen und Juristen zur Euthanasie. In: Der Tagesspiegel Nr.  5609, 21.  Februar 1964, S. 3. Es folgen zahlreiche weitere Artikel; etwa von Lothar K. Frost: Befreiung vom Alptraum des »guten Todes«. In: Der Tagesspiegel Nr.  5636, 24.  März 1964, S. 3; Hitler wollte alle unheilbar Kranken töten lassen. In: Der Tagesspiegel Nr. 5653, 15. April 1964, S. 2; Professor Catel verteidigt die begrenzte Euthanasie an Kindern. In: Der Tagesspiegel Nr. 5671, 7. Mai 1964, S. 6. In Bachmanns Romanfragment ›Das Buch Franza‹ heißt es über den ehemaligen NS-Arzt Görner, bei dem Franza Abhilfe sucht: »Sie hatte Körner in den Kapiteln über das Euthanasieprogramm wiedergefunden.« (KA II 302)

IV. Kommentar Titel: ›Ein Ort für Zufälle‹

1

Textgenese Der in der Sammlung von Handschriften, Nachlässen und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB-HANNA) verwahrte BachmannNachlass enthält zwei Entwürfe zum Vorwort der Büchner-Preis-Rede, auf denen handschriftlich der Titel »Deutsche Zufälle« vermerkt ist (ÖNB: K 4524, 4526, N  460, 716; K 4525, 4527, N 1459, 717). Diese ordnen die Herausgeber der Edition ›»Todesarten«-Projekt‹ der ›Textstufe V: Zweite Reinschrift‹ zu. Mit dem Titel »Deutsche Zufälle« wird die Rede wohl auch am Tag der Preisverleihung, am 17. Oktober 1964, vorgetragen. Kurz darauf erscheint der Redetext erstmals unter ›Ein Ort für Zufälle‹ in der Wochenzeitung ›Die Zeit‹ vom 23. Oktober 1964. Alle späteren Editionen des Textes werden diesem Titel folgen.

Struktur und Semantik Während Bachmann im Vorwort zur Büchner-Preis-Rede auf Berlin als Ort des Geschehens verweist und auch der Haupttext explizit in dieser Stadt verortet ist, kennzeichnet die verblose Wendung des Titels eine signifikante Unbestimmtheit. So bleibt offen, ob der Akzent hier stärker auf der besonderen Qualität eines konkreten Ortes liegt oder ob hier ein paradigmatisch anzusehender Ort herausgehoben wird. In seiner Grundform hat der Begriff ›Zufall‹ eine komplexe Bedeutungsgeschichte, die in enger Auseinandersetzung mit dem Begriff des Schicksals verläuft.1 Bei beiden schwingt eine Fülle an ethischen, ästhetischen, geschichtsphilosophischen und metaphysischen Wertungen mit. Häufig wurde gerade das Zufällige als ein Auffälliges, Inkommensurables, Rätselhaftes charakterisiert, als ein Etwas, dem bei aller Beliebigkeit doch etwas Schicksalhaftes anhaftet. Seit der Aufklärung tritt ›Zufall‹ dann zunehmend in Opposition zu ›Schicksal‹ und wird als Bezeichnung für alle weltimmanenten Phänomene geläufig, die nicht in einen kausalen Zusammenhang oder in die Ordnung der Naturgesetze gebracht werden können. Im Vorwort der Büchner-Preis-Rede erläutert Bachmann ihr Verständnis des Wortes »Zufälle« unter Bezugnahme auf einen literarischen Kontext: »Zufälle: ein merkwürdiges Wort, mit dem Büchner die Lenzsche Krankheit behaftet.«2 (OfZ 70) Durch diesen Hinweis rückt die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Ver-

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 Titel: ›Ein Ort für Zufälle‹

wendung als medizinischer Terminus für krankhafte Symptome, Störungen und Zustände in den Blick, an die sich noch Sigmund Freuds Gebrauch in den ›Studien zur Hysterie‹ anlehnt: »Es wickelte sich nun wirklich eine überraschende Fülle von hysterischen Zufällen ab«.3 Für Bachmanns Kenntnis dieses Textes sprechen Lesespuren in der Studienausgabe (Bd. 6, über ›Hysterie und Angst‹; vgl. Einführung, Kapitel C, ›Krankheit und Wahnsinn‹).4 Als Ausdruck eines seelisch-körperlichen Ausnahmezustandes erscheint der Begriff zudem im sogenannten ›Chandos‹-Brief Hugo von Hofmannsthals: »Von diesen sonderbaren Zufällen abgesehen, von denen ich übrigens kaum weiß, ob ich sie dem Geist oder dem Körper zurechnen soll, lebe ich ein Leben von kaum glaublicher Leere [...].«5 Bachmann zitiert diesen Brief ausführlich in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung ›Fragen und Scheinfragen‹ und bezeichnet ihn als das »erste Dokument«, in dem das »Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding [...] schwer erschüttert [ist]« (KS 259 f.). Angesichts der genauen Kenntnisse, die Bachmann von Friedrich Nietzsches Philosophie besitzt,6 gewinnt zudem eine Stelle aus ›Also sprach Zarathustra‹ besondere Signifikanz, in der vom »Riesen Zufall« die Rede ist als einer die Zeit durchdringenden Gegenkraft zur Vernunft: »Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es Erbe zu sein. Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltet bisher noch der Unsinn, der Ohne-Sinn.«7 In Affinität dazu erhält der Begriff »Zufälle« im Vorwort der Büchner-Preis-Rede nicht nur eine besondere Bedeutungsaufladung als Ausdruck eines kollektiven Wahnsinns, der vom individuellen Wahnsinn in Büchners Erzählung ›Lenz‹ abgeleitet ist; mit ihm verbindet Bachmann auch eine spezifische Struktur der Wiederkehr von Vergangenem, wenn sie von »Zufällen« spricht, die »weit zurückliegen, intermittieren, konsequent aber wiederkommen«, bzw. einen Wahnsinn meint, der seinen »Rückweg an[tritt], in Situationen, die uns geläufig geworden sind, in den Erbschaften dieser Zeit« (OfZ 70). Mit Blick auf die spezifische Konturierung des Textes, der eine aus den Fugen geratene städtische Alltagswelt in den 1960er Jahren evoziert, die von scheinbar unvermittelt hereinbrechenden Katastrophen heimgesucht und von Signaturen einer gewaltsamen Geschichte durchdrungen wird (vgl. Stellenkommentar 17.2.4), ist der Begriff »Zufälle«, der ausschließlich im Titel erscheint, somit als poetologisches Schlüsselwort aufzufassen, das in all seinen semantischen Facetten Bedeutung erlangt; etwa zusätzlich zu den hier dargestellten intertextuellen Bezügen auch »wörtlich genommen, als Zufallen: uns fällt etwas zu«, als eine »Figur des Gedächtnisses [...], in der verborgene Zeichen des Gewesenen im Heute (plötzlich) sichtbar werden« oder, ausgehend von der lateinischen Form



Motto 

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›accidens‹, als das Von-Außen-Kommende, was sich insofern wiederum mit der Bedeutungsgeschichte des Krankhaften, Gegenvernünftigen in Verbindung bringen lässt, als Bachmann etwa im Vorwort sagt: »Der Wahnsinn kann auch von außen kommen«.8 (OfZ 70) Denkbar ist, dass auch die geläufige Bedeutung eines a-kausalen a-logischen Geschehens mit gemeint ist, so dass bereits der Titel die Aufhebung des zeitlichen Kontinuums und die spezifischen Vertextungsstrategien chiffriert zur Sprache brächte (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau- und Gliederungsprinzipien‹). In Bachmanns Werk findet sich das Wort »Zufall« mehrfach unter Bezugnahme auf seine unterschiedlichen Bedeutungshorizonte, so im Gedicht ›An die Sonne‹ (»Blauer Zufall am Horizont!«; W I 137), im ›Monolog des Fürsten Myschkin‹ (»es sind nicht Zufälle, die uns in die Nähe derer führen, die wir meiden«; W I 64), in der Erzählung ›Das dreißigste Jahr‹ (»Er traf zufällig Bekannte am Graben [...], von den bedeutungsvollen Zufällen ermuntert, schloß er sich allen übereifrig und verlegen an«; W II 119), im Essay ›Was ich in Rom sah und hörte‹ (»Dass jeder sein Haus baut, wie es ihm gefällt, habe ich oft gesehen, und daß kein Plan besser eins ans andere fügt als Zufall«; KS 148), im Essay ›Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgensteins‹ (»Und Zufall muß alles außerhalb der Logik sein«; KS 127) sowie in ›Das Buch Franza‹ (»Immer waren es Zufälle gewesen, die Martin die Augen geöffnet hatten«; KA II 161). Besondere Signifikanz kommt einer Stelle aus Bachmanns Frankfurter Vorlesung ›Der Umgang mit Namen‹ zu, da hier der Begriff im Rahmen einer Problematisierung von Erinnerung und Vergessen Erwähnung findet: Unser Gedächtnis ist so eingerichtet, daß wir die Namen der Lebenden vergessen, von Schulfreunden nach 15 Jahren kaum mehr wissen [...]. Von diesem Namensterben in uns ist nur weniges ausgenommen, die Namen derer, die uns am nächsten gestanden sind, oder Namen, die Vorfälle, Zufälle, verankert haben. (KS 314 f.)

Motto

2

Er jagte mit rasender Schnelligkeit sein Leben durch, und dann sagt er: »Konsequent, konsequent«; wenn jemand was sprach: »Inkonsequent, inkonsequent«; – es war die Kluft unrettbaren Wahnsinns… Georg Büchner, Lenz



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 Motto

Textgenese Erstmals ist das Büchner-Zitat auf einem im Wagenbach-Archiv bewahrten Textzeugen enthalten, der Teil eines fortlaufenden maschinenschriftlichen Typoskripts ist, welches weitestgehend der Redefassung entspricht (mutmaßlich eine unmittelbare Vorstufe darstellt) und in dem letzte handschriftliche Korrekturen der Schriftstellerin vor der Drucklegung zu erkennen sind. Der vorgenommene Zeilenumbruch weicht von den in Bachmanns Privatbibliothek vorhandenen Büchner-Ausgaben ab.9 Das gleiche gilt auch für die Kursivierung, die als bewusste Veränderung gegenüber dem Büchner’schen Text zu verstehen ist.

Struktur und Semantik Das Büchner-Zitat steht dem eigentlichen Textkorpus als Motto voran und wird an keiner späteren Stelle erneut aufgegriffen oder reflektiert. Anders im Vorwort zur Rede: Dort geht Bachmann ausführlich auf diese Textstelle aus Büchners Erzählung ›Lenz‹ ein sowie auf die ihr vorausgehende Passage, in welcher der Autor in sachlicher Diktion den schizophrenen Prozess des Ich-Zerfalls bei Lenz beschreibt. Ausgelöst durch das Scheitern des Protagonisten, ein Kind durch Anrufung Gottes wieder zum Leben zu erwecken, löst sich für Lenz die Halt gebende Kraft des Glaubens schlagartig auf, und hinter allen äußeren Erscheinungen der Welt, deren »ungeheuren Riß« er persönlich wahrnimmt, offenbart sich ihm ein schreckliches »Nichts«.10 Angesichts dieser universellen Haltlosigkeit und Inkonsistenz erscheint ihm der Verlauf seines Lebens als konsequent, während er in den beschwichtigenden Zusprüchen der Menschen um ihn herum nur Inkonsequenzen erkennt. Diese empfundene Kluft, die Lenz von nun an ›unrettbar‹ dem stillen und geordneten Leben des Pfarrhauses entfremdet, wird von Bachmann am Beginn ihrer erläuternden, ursprünglich einleitenden Ausführungen als Trennlinie zwischen zwei gegensätzlichen Lebenseinstellungen gedeutet: »Konsequenz, das Konsequente ist in fast allen Fällen etwas Furchtbares, und das Erleichternde, das Lösende, Lebbare, das kommt inkonsequent einher.« (OfZ 70) Die beharrliche Weigerung des ›wahnsinnigen‹ Lenz gegenüber allen Halt gebenden Konzepten und Vorstellungen seiner Umwelt verliert in Bachmanns Auslegung den Charakter einer individuellen pathologischen Disposition und wird zur ›folgerichtigen‹ Reaktion auf eine deformierte äußere Wirklichkeit, der ein unauthentisches Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten gegenübersteht. Diese Wertung, die Büchners Erzählung fehlt, ist von Anfang an prägend für die Entstehung von ›Ein Ort für Zufälle‹. So heißt es bereits in einem frühen Entwurf:



Überblickskommentar 

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es sind also die Kranken, [auf] die zu zählen ist und denen das Gefühl für Unrecht und Ungeheuerlichkeit noch nicht abhanden gekommen ist. [...] Haben Sie und ich nicht alle die längste Zeit geglaubt, daß sie gefährdet sind, daß ihre Süchte, ihre Verzweiflungen der Ausdruck einer Veranlagung, einer Nichtangepaßtheit, einer Tollheit seien, aber ihre Tollheit ist doch nichts weiter als der physische, psychische Ausdruck für etwas Unerträgliches, also der Ausdruck einer Niederlage vor der Realität.11 (ÖNB: K 4513, N 2025)

In der abschließenden Fassung des Vorwortes entwickelt Bachmann dann aus der von Büchner hergeleiteten Dichotomie zwischen Konsequenz und Inkonsequenz ihre spezifische Wahrnehmungsweise Berlins, für die Lenz Pate steht: Die Beschädigung von Berlin, deren geschichtliche Voraussetzungen bekannt sind, erlaubt weder Mystifizierung noch eignet sie sich zum Symbol. Was sie erzwingt, ist jedoch eine Einstellung auf Krankheit, auf eine Konsequenz von variablen Krankheitsbildern, die wiederum Krankheit hervorruft. Diese Einstellung kann jemand nötigen, auf dem Kopf zu gehen, damit von dem Ort, von dem sich leicht Hunderterlei berichten ließe, dem aber schwer beizukommen ist, Kunde gegeben werden kann. (OfZ 70)

Obwohl Bachmann die Begriffe »konsequent« und »inkonsequent« im Haupttext nicht verwendet, werden in den Abschnitten immer wieder bestimmte Verhaltensmuster manifest, die sich diesem Antagonismus zuordnen lassen. Insbesondere die extreme Sensibilität der im Text dargestellten Kranken und Patienten gegenüber den gesellschaftlichen Deformationen und der allgegenwärtigen Gewalt mag paradigmatisch für eine Lebenshaltung sein, die Bachmann im Vorwort als furchtbare »Konsequenz« bezeichnet (OfZ 70). Kontrapunktisch dazu lassen sich das exzessive Freizeit- und Konsumverhalten der Berliner Bevölkerung, aber auch die zahlreichen Beschwichtigungsversuche und Relativierungen der gesellschaftlichen Ordnungshüter jener erleichternden Lebenseinstellung zuordnen, die Bachmann unter die Kategorie ›Inkonsequenz‹ subsumiert.

1. Abschnitt

1

1.1 Überblickskommentar Textgenese Der in der ÖNB verwahrte Bachmann-Nachlass enthält sechs Textzeugen zu diesem Abschnitt: 1. K 6683, N 1420; 2. K 4528, N 669, 3. K 4529, N 668; 4. K 4554, N 718; 5. K 4555, N 719; 6. K 4584, N 2549. Im Verlag Klaus Wagenbach ist ein weiterer Textzeuge archiviert, der Teil eines fortlaufenden Typoskripts ist, welches – vermutlich eine unmittelbare Vorstufe – von kleineren Abweichungen abgesehen der Redefassung entspricht und handschriftliche Korrekturen der Verfasserin vor

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 1. Abschnitt

der Drucklegung enthält. Auch die Druckfahnen sind im Verlagsarchiv aufbewahrt. Ein erstes kurzes Entwurfsfragment zu diesem Abschnitt findet sich auf einem Textzeugen aus dem sogenannten ›Wüstenbuch‹-Konvolut (ÖNB K 6683, N 1420; KA 262). Die syntaktische Spezifik der Endfassung ist bereits erkennbar, jedoch besteht die Textsequenz in dieser Bearbeitungsphase noch aus drei Sätzen und ist zum Teil in der Ich-Form geschrieben: »Es ist, ich weiß nicht was, es ist eine Sache, ist eine Adresse, es ist etwas in Berlin.« Im Moment der Integrierung in den Textzusammenhang der Büchner-PreisRede (ÖNB: K 4528, N 669; K 4529, N 668; KA I 190 f.) stimmen die syntaktische Struktur und Ausdehnung der Textsequenz bereits weitgehend mit der Druckfassung des ersten Abschnitts überein. Es fehlt jedoch noch die signifikante, die enigmatische Funktion akzentuierende Interjektion »– falsch geraten! –«. Eine erwähnenswerte Korrektur erfährt zudem die den Satzbogen abschließende Prädikation durch ihren Wechsel von der Vergangenheitsform »war etwas in Berlin«, die dem Ende des 26. Abschnitts entspricht, ins Präsens bereits beim nächsten überlieferten Entwurf (ÖNB K 4554, N 718; KA I, S. 205 f.).

Struktur und Semantik Den ersten Abschnitt bildet eine einzige parataktische Satzreihe, die aus 36 asyndetisch verbundenen, relativ kurzen Satzteilen besteht. Das graphisch durch eine in ihrer Höhe zwei Zeilen umfassende, das Oberband überschreitende Initiale besonders hervorgehobene neutrale Pronomen »Es« des Satzbeginns behauptet sich als grammatisches Subjekt in jedem der Satzteile. Da ihm stets neue Prädikative und Adverbialstrukturen – zumeist in Verbindung mit dem Kopulaverb »sein« – zugeordnet werden, entsteht insgesamt eine kreisende, enigmatische Struktur, die durch die parenthetische Exklamation »falsch geraten!« explizit betont wird. Die sukzessiv beigefügten Qualitäten sind in ihrer grammatischen wie semantischen Konturierung jedoch so heterogen, dass sich daraus keine sinnvolle Bestimmung oder Benennung ableiten lässt. Vielmehr wird ein zu Bestimmendes umkreist, ohne dabei in einem identifizierenden Begriff oder Namen aufzugehen. Der Satzbogen endet schließlich in der unbestimmten Aussage »es [...] ist etwas«, der noch eine durch Gedankenstrich abgesetzte Ortsbestimmung »– in Berlin« folgt. Aufgrund syntaktischer Analogien sowie thematisch-motivischer Korrespondenzen bilden Textanfang und Textende von ›Ein Ort für Zufälle‹ einen deutlichen Bezugsrahmen. So wird die für den ersten Abschnitt spezifische enigmatische Struktur im letzten Abschnitt erneut aufgenommen, wobei hier die Angabe »es ist etwas in Berlin« (OfZ 65) des Bindestrichs entbehrt, der im ersten Abschnitt zwi-



Überblickskommentar 

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schen Präpositionalphrase und Subjektprädikativ einen irritierenden Zwischenraum schafft. Diese leise Varianz wäre als ein Hinweis darauf zu lesen, dass sich der Kreis in ›Ein Ort für Zufälle‹ nicht gänzlich schließt und der letzte Abschnitt, obwohl er bestimmte Elemente des Textanfangs erneut aufgreift, nicht in diesem aufgeht. Vor allem die Schlusspassage lässt sich als Infragestellung bzw. Negation der zu Beginn formulierten Aussage »Es ist [...] etwas« lesen: »es muß nicht Hoffnung sein, kann weniger sein, braucht nichts zu sein, es ist nichts, [...]. Es war eine Aufregung, war weiter nichts. Es wird nicht mehr vorkommen.« (OfZ 66) Die somit verklammerten Abschnitte am Anfang und Ende des Textes sind zugleich auch mit den von ihnen eingerahmten Binnenabschnitten verzahnt. Dies zeigt sich besonders deutlich an den beiden kontrastierenden Aussagen »Es ist [...] etwas« und »es ist nichts«, die ein den gesamten Text prägendes Konfliktfeld definieren. Denn den unzähligen variierenden »Es-Sätzen« in ›Ein Ort für Zufälle‹, die auf bestimmte Geschehnisse oder Zustände verweisen bzw. diese zu deuten versuchen – etwa »es kommt vor, darauf verlassen Sie sich« (OfZ 16) – steht eine vergleichbare Anzahl an konträren, teilweise kontradiktorischen Äußerungen der Beschwichtigung gegenüber – etwa »Es gehe weiter, das werde nicht mehr vorkommen« (OfZ 20). Auch wenn das anonyme Pronomen »es« in allen Aussagen des Binnengeschehens zunächst nur einen semantisch leeren Funktionswert zu besitzen scheint – etwa als grammatisches Subjekt in Kopulasätzen (»Es ist Maiensonntag«; OfZ 7) –, entfaltet es mit Blick auf den ersten und letzten Abschnitt unterschwellig aufgrund seiner dortigen außergewöhnlichen Akzentuierung als sprachliches Substitut für etwas Unbestimmtes einen schwer abzusteckenden Konnotationsraum: Ohne dass der Text in einer finalen Zuschreibung erstarrte, dringt an dieser scheinbaren ›Leerstelle‹ etwas an die Oberfläche der Sprache und wird in den großstädtischen Geschehnissen, den Bekundungen und Vermutungen der Personen als dynamisch wandelbares, agierendes Phänomen wahrnehmbar. Durch die irritierende semantische Aufladung dieses Pronomens werden aber nicht nur gängige Substitutionsrelationen unterwandert. Indem dieses unscheinbare »es« in nahezu allen Abschnitten erscheint – eine signifikante Ausnahme bildet der 22. Abschnitt –, durchkreuzt es auch die textübergreifende Struktur des vermeintlich lose Aneinandergereihten und damit auch des ›Zufälligen‹ in seiner gängigen Bedeutung.1 Als polysemer Verweiser trägt es zur Entstehung vielfältiger textueller und assoziativer Zusammenhänge bei, die durch keine Geschichte oder fortlaufende Handlung fixiert sind.2 In einem Entwurf aus der Arbeitsphase 1962/63 zu einem Roman mit dem Titel ›Todesarten‹, der als Ausgangspunkt des ›Todesarten‹-Projekts gesehen wird, findet sich eine Passage, die in ihrer Struktur und Thematik auf diesen ersten Abschnitt vorausweist.3 Im sogenannten ›Flugplatz-Entwurf‹, der von der Ankunft des Protagonisten auf dem Berliner Flughafen handelt, heißt es:

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 1. Abschnitt

Es begann damit. Womit begann es eigentlich. Es begann wahrscheinlich nicht, sondern es lauerte in ihm, es brach auf, es brach aus, es lauerte wieder, es stampfte durch seinen Körper und durch sein Hirn, durch seine Blutbahnen, es stampfte gemächlich, es legte sich nieder, es lauerte, es stand auf. Es war nichts, könnte man sagen. Es war doch etwas. Eines Morgens jedenfalls war es schon etwas, als er nach Berlin fliegen musste und in aller Morgenfrüh auf dem Flugplatz stand. (KA I 87)

Die Genese dieser Textstelle fällt in die Zeit einer poetologischen Neuorientierung, in der Bachmann nach geeigneten narrativen Verfahren der Vermittlung von Zeitkritik und Bewusstseinsdarstellung im Zeichen der Thematik der ›Todesarten‹ sucht.4 Sie ist Teil einer 1962/63 entstandenen Romaneinleitung, die entstehungsgeschichtlich wohl einem Vorwort, das den Titel ›Todesarten‹ als Überschrift trägt, vorausgeht und in der die leisen Ansätze eines Erzählflusses immer wieder durch poetologische Reflexionen unterbrochen werden.5 Dem 1. Abschnitt von ›Ein Ort für Zufälle‹ vergleichbar, verdrängt in der oben zitierten Textstelle das neutrale Pronomen »es« das Personalpronomen als eigentliches Integrationszentrum, wobei auch hier das, wofür »es« steht, unbestimmt bleibt. Die Negation »Es war nichts« deutet zudem auf den letzten Abschnitt von ›Ein Ort für Zufälle‹ voraus: »Es war eine Aufregung, war weiter nichts« (vgl. Stellenkommentar 26.2.13). Es kommen mehrere mögliche Bezugstexte in Frage: So mag Robert Musils ›Selbstanzeiger zum Mann ohne Eigenschaften‹, auf den Bachmann bereits in ihrem 1952 entstandenen Radio-Essay ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ und zu Beginn ihres Essays ›Ins tausendjährige Reich‹ zitierend eingegangen ist, auf die spezifische Art der Bildung einer enigmatischen Struktur gewirkt haben.6 In seinem Text versucht Musil in vergleichbarer Weise, den Charakter seines Buches ex negativo zu umreißen, ohne zu einer abschließenden und eindeutigen Bestimmung zu gelangen.7 Wie im vorliegenden Abschnitt erscheint das neutrale Pronomen »es« dabei als grammatisches Subjekt in jedem der parallel aufgebauten Sätze, wobei die ihm beigefügten Angaben in ihrer Gesamtheit ebenfalls so heterogen sind, dass sich daraus keine sinnvolle Bestimmung oder Benennung ergibt. Weiterhin besitzt die Darstellung eines heterogenen, letztlich unbestimmt bleibenden »Es« eine gewisse Affinität zur sprachlichen Gestaltung der Stadt Berlin in Alfred Döblins Roman ›Berlin Alexanderplatz‹, in der alles – Straßen, Objekte und vor allem Menschen – nur mehr als bloße Funktionen im Raum vagiert: »Es – lebte – nicht! Es hatte fröhliche Gesichter, es lachte, wartete auf der Schutzinsel gegenüber Aschinger zu zweit oder zu dritt, rauchte Zigaretten, blätterte in Zeitungen. So stand das da wie die Laternen – und – wurde immer starrer.«8



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Signifikant ist nicht zuletzt auch die Parallelität zur rätselhaften Struktur und Semantik von Ilse Aichingers 1954 gleich zweimal veröffentlichtem WienText ›Stadtmitte‹: Etwas kommt in den Sinn. Jagt und biegt nicht ein wie Wagen, die vom Stephansplatz in eine Nebengasse wollen, sondern biegt ein wie die Straße selbst, hat Knopfgeschäfte und Kaffeehäuser in sich, öffnet und verbirgt vieles, zeigt die Schaufenster und alles, was vorne liegt, und lässt die Magazine im Dunkel.9

Die besondere Art und Weise einer additiven Existenzbestimmung lässt weiterhin an philosophische Diskurse denken. So behandelt Bachmanns Dissertation ›Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers‹ den Versuch Adolf Dyroffs in ›Philosophia perennis‹, den Terminus »Dasein« anhand der indikativischen Aufzählung aller möglichen Bedeutungsnuancen (»1. es ist für mich zum Erkennen da, 2. es ist mir geistig präsent, 3. es ist mir psychisch präsent ...«) zu erfassen, wobei sie jedoch zugleich die Unzulänglichkeit solcher Gedankenspiele im Hinblick auf Heideggers Philosophie kritisiert.10 Angesichts der intensiven Auseinandersetzung mit Heidegger und im Hinblick auf dessen Analyse der Angst als Existential mag auch eine Passage aus ›Sein und Zeit‹ Relevanz besitzen, in der das »Wovor der Angst« als ein unbestimmtes »Nichts von Zuhandenem« beschrieben wird, das aber kein totales Nichts ist, sondern in einem »ursprünglichen ›Etwas‹« in der Welt gründet: »Das Drohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmten Richtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – und doch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem den Atem verschlägt – und doch nirgends.«11 (Zur Bedeutung ­Heideggers für Bachmann vgl. Stellenkommentare 1.2.5 und 26.2.13.) Die enigmatische Akzentuierung des Pronomens »Es« als einer sublimen und geheimnisvollen Kraft in Berlin ruft nicht zuletzt auch psychologische bzw. psychoanalytische Perspektiven als wesentliche Kontexte von ›Ein Ort für Zufälle‹ auf, zumal Bachmann sich mit diesem Wissenschaftsbereich schon früh intensiv auseinandergesetzt hat und diese Beschäftigung in zeitlicher Nähe zur Entstehung der Büchner-Preis-Rede nochmals an Intensität gewinnt (vgl. Einführung, Kapitel C, ›Krankheit und Wahnsinn‹). Im Werk Sigmund Freuds steht die Vokabel ›Es‹ für die älteste und umfänglichste Schicht der seelischen Struktur des Menschen.12 Dieser Bereich des Vor- bzw. Unbewussten und Verdrängten sowie der Primärtriebe werde, so Freud, weder von Widersprüchen noch von moralischen Konflikten oder Wertungen beunruhigt, die das bewusste, soziale Individuum ausmachen.13 Dem ›Es‹ eigne einzig das Bestreben, den Triebbedürfnissen unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu verschaffen.14

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 1. Abschnitt

Wesentlich in Bezug auf die besondere zeitliche Konturierung von ›Ein Ort für Zufälle‹, die Vergangenes aus der Stadtgeschichte Berlins als unmittelbar Präsentes im Alltagsleben wahrnehmbar werden lässt, mag jedoch der Aspekt sein, dass dieser psychische Bereich des ›Es‹ nicht von der Zeit beeinflusst wird und neben individuellen »Erinnerungsspuren« auch solche Erfahrungen aus der Vorzeit speichert, die nicht zu den eigenen gehören.15 Die Annahme einer »archaischen Erbschaft« bildet bei Freud den entscheidenden Schnittpunkt zwischen Individual- und Massenpsychologie.16 Aus der Vorstellung kollektiver Inhalte im Unbewussten begründet er seine Annahme, dass in der Gesellschaft Vergangenes, Verschollenes und Überwundenes vorhanden ist, das, dem Verdrängten im Seelenleben des Einzelnen vergleichbar, aus dem Unbewussten hervordrängt: »[A]uch in den Massen bleibt der Eindruck der Vergangenheit in unbewussten Erinnerungsspuren erhalten.«17 Eine vergleichbare kollektive Dynamik der ›Wiederkehr des Verdrängten‹ entwirft Bachmann im Vorwort ihrer Büchner-PreisRede, wenn sie von den »Erbschaften dieser Zeit« spricht (OfZ 70). Mit Blick auf die kollektiv-gesellschaftliche Dimension, die der Vokabel »Es« in ›Ein Ort für Zufälle‹ eignet, mögen neben Freuds individual- und massenpsychologischen Thesen auch dessen kulturtheoretische Überlegungen von Bedeutung sein: Vor allem in ›Das Unbehagen in der Kultur‹ verdeutlicht er den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, der aus seiner Sicht in den modernen westeuropäischen Kulturen seinen Höhepunkt erreicht hat. Dabei beleuchtet er (ausgehend von der Feststellung, dass die »Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist«) einerseits die kulturellen Strategien der Sublimierung und Hemmung, andererseits die individuellen Techniken, um primäre Triebziele dennoch durchzusetzen bzw. um aus den Einschränkungen und Ansprüchen, welche die Gemeinschaft dem Einzelnen auferlegt, auszubrechen.18 Dies betrifft Ersatzbefriedigungen und Rauschmittel ebenso wie neurotische Krankheiten, die Flucht aus der Gesellschaft und ›Massenwahn‹. Bachmanns Kenntnis der kulturkritischen Thesen Freuds ist auch durch eine intensive Beschäftigung mit Herbert Marcuses Studie ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ belegt, die auf der Grundlage der Freud’schen Triebtheorie die repressiven Grundlagen der westlichen Kultur und Gesellschaft von ihren vermuteten Anfängen bis in die Gegenwart analysiert und zu dem Schluss kommt: »Es ist die Wiederkehr des Verdrängten, die die unterirdische, tabuisierte Geschichte der Kultur speist.«19 Ob Bachmann im Entstehungszeitraum von ›Ein Ort für Zufälle‹ bereits mit den Schriften Georg Groddecks vertraut war, lässt sich nicht belegen, so dass bislang nicht zu entscheiden ist, ob ihre Konzeption des ›Es‹ von Groddeck mit beeinflusst wurde oder ob er für sie erst deshalb so interessant wurde, weil sie in seinen Schriften Anknüpfungspunkte an ihre eigene Poetik und Gesellschaftskri-



Stellenkommentar 

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tik fand.20 Der als ›Vater der Psychosomatik‹ bekannt gewordene Arzt, den Freud in seiner Studie ›Das Ich und das Es‹ als den Erfinder des Terminus »Es« bezeichnet,21 definiert das »Es« in seinem frühen Vortrag ›Hin zu Gottnatur‹ als »das große Geheimnis der Welt«.22 In seinem späteren Werk ›Das Buch vom Es‹ betont er wiederholt, dass das, was allgemein als »Ich« bezeichnet wird, sich im Leben wesentlich passiv verhält, weshalb wir Menschen vielmehr »gelebt« werden von der als »Es« bezeichneten unbekannten, unbeherrschbaren Macht.23 Bachmann geht in ihrem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Rezensionsentwurf zu den seit Anfang der 1960er Jahre neu aufgelegten Schriften Groddecks explizit auf dessen Thesen zur Psychoanalyse und Psychosomatik ein.24 Signifikant ist dabei insbesondere eine Passage, in der die Rezensentin Groddecks Auffassung vom ›Es‹ charakterisiert: und das Es ist für ihn ein Hilfswort, es ist kein Ding an sich, sondern es soll heißen, da ist etwas, das ist da und stärker und viel stärker als das Ich, denn das Ich vermag ja nicht einmal willentlich einzugreifen in die Atmung, in die Verdauung, in den Kreislauf, das Ich ist eine Maske, die Hoffart, mit [der] jeder von uns herumgeht, und wir werden vom Es regiert, das Es tut das, und es spricht durch die Krankheit in Symbolen. (KS 434)

Bachmanns intensive Auseinandersetzung mit Groddeck findet dann vor allem in der 1969 erstveröffentlichten Erzählung ›Ihr glücklichen Augen‹ ihren poetischen Niederschlag.25

1.2 Stellenkommentar 1.2.1 Es ist zehn Häuser nach Sarotti, es ist einige Blocks vor Schultheiss, es ist fünf Ampeln weit von der Commerzbank, es ist nicht bei Berliner Kindl,

Jeder der vier syntaktisch parallel aufgebauten Kopulasätze beinhaltet eine durch Kursivierung hervorgehobene Ortsangabe, die sich aus einem explizit benannten Unternehmen und einer davon abhängigen Distanz- oder Richtungsangabe, die den eigentlichen Zielort bestimmen soll, ergibt. Mit »Sarotti«, »Schultheiss« und »Berliner Kindl« werden alteingesessene Berliner Firmen aufgerufen, die zusammen mit der im Westteil der Stadt ansässigen »Commerzbank« die urbane Lebenswelt Westberlins repräsentieren. Als Metonymien aufgefasst, verweisen die Namen im Rahmen eines solchen ›mappings‹ auf Firmenstandorte, die auf einem Stadtplan aufzufinden wären. Die somit scheinbar in Aussicht gestellte Orientierungsmöglichkeit wird jedoch durch die Verwendung indirekter Ortsangaben unterlaufen, insofern Präpositionen wie »nach«, »vor« und »von« als Richtungsangaben im städtischen Gefüge keine exakten Ortsbestimmungen erlauben. Die letzte lokale Bestimmung beschreibt den Erscheinungsbereich des Unbekannten

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 1. Abschnitt

ex negativo und bricht mit der Parallelität der vorangehenden adverbialen Ergänzungen. Zusammen mit weiteren in ›Ein Ort für Zufälle‹ benannten und stets kursiv hervorgehobenen Firmennamen – »Commerzbank« taucht im letzten Abschnitt nochmals auf – charakterisieren die hier erwähnten Unternehmen als Ikonen des Genusses und des Materialismus den im Titel aufgerufenen »Ort« als einen Raum, der von kommerziellen Interessen, von Konsum und Vergnügungssucht durchdrungen ist. Vor allem die Erwähnung zweier Berliner Brauereien, die dem Alkoholkonsum einen besonderen Akzent verleiht, sowie eines Süßwarenunternehmens korrespondiert mit einer regelrechten ›Trink- und Fresssucht‹ im Text (u.a. im 2., 13., 14., 15. und 17. Abschnitt gestaltet), die kollektiven Bewusstseinsverlust, zwanghaftes Verdrängen und Vergessen impliziert (vgl. Stellenkommentar 26.2.4). Die Vereinnahmung primärer menschlicher Bedürfnisse durch die Konsumindustrie ist in Bachmanns poetologischen Überlegungen und literarischen Werken vor allem seit den 1960er Jahren zentral. Während im Rahmen der Frankfurter Vorlesungen oder in Gedichten wie ›Keine Delikatessen‹ vorrangig die geistige Abstumpfung des Menschen in der Überflussgesellschaft beklagt wird (die Menschen brauchen »Kino und Illustrierte wie Schlagsahne, und die anspruchsvolleren Leute […] brauchen ein wenig Schock, ein wenig Ionesco oder Beatnikgeheul, um nicht überhaupt den Appetit auf alles zu verlieren«; KS 268), prägt die Entstehungsgeschichte des Romanfragments ›Das Buch Franza‹ eine umfassende Kritik am Überfluss und reinen Warencharakter der Lebensmittel in der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft. Die Nahrungsaufnahme als ›Fressen‹ und ›Saufen‹ und maßloser Konsum erscheinen als Krankheitssymptome bzw. Verhaltensstörungen im Unterschied zu rituellen und bewusst sparsamen Formen der Nahrungsaufnahme in anderen Kulturräumen (»[d]a Europa zu Ende war«; KA II 257), symbolisiert durch »die Feldflasche mit Wasser« und einen »Metallbecher, aus dem alle tranken, jeder vorsichtig, keinen Schluck zuviel« (KA II 258). Vor dem Hintergrund dieser Kapitalismus-Kritik in Bachmanns Werk, die im Anschluss an eine Nordafrika-Reise (1964) deutlich an Brisanz gewinnt, und mit Blick auf das im Text vor Augen geführte »Programm« der grenzenlosen Anhäufung an Waren und Genussmitteln, verleihen die hier genannten, für den internationalen Markt produzierenden Berliner Erfolgsunternehmen ›Sarotti‹, ›Schultheiß‹ und ›Berliner Kindl‹ dem Ort Berlin das Label eines alle Lebensbereiche durchdringenden, auf Akkumulation und Expansion angelegten Marktes, den Bachmann in ›Malina‹ dann explizit als einen verbrecherischen »universelle[n] schwarze[n] Markt« (KA 3.1 598 f.) stigmatisieren wird (vgl. Überblickskommentare 4.1 und 13.1). Signifikanz mag in diesem Zusammenhang auch das von ›Sarotti‹ genutzte Emblem besitzen, rückt doch der sogenannte ›Sarotti-Mohr‹ (als Sinnbild westlichen Überlegenheitsdenkens bzw. eines andere Kulturen



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ausbeutenden Kapitalismus) die Marke Sarotti in den Kontext imperialistischer Denkweisen, deren Fortbestand in der postkolonialen Periode schließlich der 21.  Abschnitt durch die Darstellung der Institution Zoo vermittelt. Zudem zeigt die Entstehungsgeschichte von ›Ein Ort für Zufälle‹, die aufs Engste mit dem zu einem späteren Zeitpunkt in das ›Franza‹-Romanfragment integrierten ›Wüstenbuch‹ verbunden ist, wie intensiv sich Bachmann mit Theorien und Positionen des (Post-)Imperialismus und (Post-)Kolonialismus auseinandergesetzt hat (vgl. Einführung, Kapitel A, ›Entstehung‹). Als Repräsentant kapitalistischer Geldwirtschaft gehört das Geld- und Kreditinstitut ›Commerzbank‹ – mit seinem im Kontext einer Kapitalismuskritik besonders passenden Namen – neben der Deutschen Bank und der 2008 von der Commerzbank übernommenen Dresdner Bank, in der Entstehungszeit des Textes zu den drei privaten Großbanken der Bundesrepublik Deutschland.26 Commerzbank und Deutsche Bank trugen in der Gründerzeit wesentlich zur Konzentration des Bankwesens in der Reichshauptstadt bei, waren aber auch im Nationalsozialismus die mächtigsten Geldinstitute. Als wichtigste Geldgeber des Hitler-Regimes ermöglichten sie durch Kredite und Finanzzuschüsse die Vorbereitung und Durchführung des Krieges. Die Macht der Großbanken und deren Einfluss zeigen sich nicht zuletzt an ihrem Fortbestehen nach dem Ende der Nazi-Diktatur.27 Ihre Stellung spiegelt sich in der politischen Landschaft wider: So haben der im Nationalsozialismus wichtige Bankier Hermann Abs als Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank und der Bankier Robert Pferdmenges als Berater Adenauers Schlüsselstellungen im wirtschaftlichen, politischen und öffentlichen Leben der Bundesrepublik inne. Da in ›Ein Ort für Zufälle‹ auch an anderer Stelle Firmen aufgerufen werden, deren Geschichte und Aufstieg eng mit dem Hitler-Regime verbunden ist, kann der Name »Commerzbank« hier als ein erster subtiler Verweis auf die Kontinuität nationalsozialistischer Machtstrukturen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gedeutet werden (vgl. insbesondere den Kommentar zum 13. Abschnitt). Auch profitieren die erwähnten Unternehmen von den Steuerprivilegien der ›Berlin-Zulage‹.28 Die dadurch bewirkte enorme Steigerung des Umsatzes wird in den regionalen Westberliner Medien wiederholt kolportiert und als Ausdruck des erfolgreichen Widerstands gegen die kommunistische Repression gefeiert (zu weiteren Programmen zur Förderung der Wirtschaft in Westberlin vgl. Einführung, Kapitel A, sowie Überblickskommentar 4.1).29 1.2.2 es sind Kerzen im Fenster, es ist seitab von der Straßenbahn, ist auch in der Schweigestunde,

Kerzen in ein Fenster zu stellen ist in seiner Funktion mehrdeutig. Als nach außen gerichtete Handlung kann es der Ausschmückung, aber auch einer geheimen,

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 1. Abschnitt

wortlosen Kommunikation dienen. Möglich ist auch eine rituelle Praktik, zumal Kerzen kultische Gegenstände sind. Weitere religiöse Anspielungen im ersten Abschnitt (»ist ein Kreuz davor«) oder ein möglicher Intertext – Ilse Aichingers Erzählung ›Das Fenster-Theater‹, wo die Kerzen im Fenster auf einen (regionalen) Brauch anlässlich einer Prozession zu verweisen scheinen – sprächen für eine solche Lesart.30 Klaus Wagenbach erinnert sich, dass sich »Kerzen im Fenster« und »Schweigestunde« auf öffentliche Aktionen in Westberlin für die deutsche Einheit beziehen.31 So folgten am 24. Dezember 1962 viele Westberliner dem Aufruf des Kuratoriums Unteilbares Deutschland und stellten Kerzen in die Fenster, um ihren ungebrochenen Willen zur Wiedervereinigung zu demonstrieren.32 Dabei korrespondiert die Art und Weise dieser öffentlichen Kundgebung der geläufigen Freiheitssymbolik Westberlins, dessen Identität als ›Licht in der Finsternis‹ bzw. ›Leuchtturm der Freiheit‹ auf der Abgrenzung zum ›dunklen‹ Osten gründet – etwa wenn Adolf Arndt anlässlich der Einweihung der Philharmonie am 15. Oktober 1963 betont, dass mit diesem Bauwerk dem »Übermaß jener Düsternis, die uns mit ihrer Wüste bedroht«, ein Bekenntnis zur Musik und damit zur Freiheit entgegengesetzt werde (vgl. Stellenkommentar 20.2.6).33 Es gibt zahlreiche weitere Quellen, die die besondere politische Aufladung dieser Handlung nach dem Mauerbau bestätigen: Unter anderem berichtet Günter de Bruyn in seiner Autobiographie ›Vierzig Jahre‹ von »Neuköllner Kleinbürgerinnen, die mit der Inbrunst vergessener Führerverehrung jetzt für die Freiheit brennende Kerzen ins Fenster stellten«.34 In einem ›Spiegel‹-Artikel anlässlich der Ernennung Rainer Barzels zum Innenminister heißt es zu Beginn, Barzel habe als Solidaritätsbekundung für die »Brüder und Schwestern jenseits der Zonengrenze und Mauer« zu Weihnachten 1963 fünf brennende Kerzen am Balkonfenster seiner Bonner Wohnung aufgebaut und diese von der Presse ablichten lassen.35 In seinem 1980 erschienenen Buch ›Begleitumstände‹ erwähnt Uwe Johnson, dass sich am 20. Dezember 1963 im Haus am Lützowplatz Wolfgang Neuß in seinem Kabarettprogramm ironisch mit dieser in Westberlin verbreiteten Protesthandlung auseinandersetzte (vgl. Überblickskommentar 4.1).36 Der von Wagenbach, De Bruyn und Johnson beschriebenen symbolischen Handlung kommt in der Berliner Stadtgeschichte nicht nur die Funktion des Protestes zu. So kam es während der Befreiungskriege am 20.  Februar 1813 zu Straßenkämpfen zwischen den französischen Besatzungstruppen und Teilen der Bevölkerung, die mit Unterstützung der preußischen Gendarmerie wieder unter Kontrolle gebracht werden konnten. Am Abend hatte man den Bürgern – unter dem schwachen Vorwand der somit garantierten Sicherheit – befohlen, Lichter in die Fenster zu stellen, um ihr Verbleiben im Haus anzuzeigen.37



Stellenkommentar 

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Das Kompositum »Schweigestunde« enthält die erste von zahlreichen weiteren Zeitvokabeln innerhalb des Textes, die zwar immer wieder auf geregelte zeitliche Verhältnisse verweisen, in ihrer Gesamtheit jedoch keine strukturierende textübergreifende chronologische Ordnung etablieren (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹). Durch das Zeitmaß der ›Stunde‹ wird das temporär verordnete ›Schweigen‹ einem Ordnungsbedürfnis unterworfen, wenn es beispielsweise in Form eines organisierten Protestes als gesellschaftliches (Macht-)Instrument fungiert. Dass das Kompositum eine ganz konkrete Kodierung besitzt, darauf könnte der bestimmte Artikel verweisen: Am 13. 8. 1964, dem dritten Jahrestag des Mauerbaus, bildet das Läuten der Freiheitsglocke um 20  Uhr, entsprechend einem vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt am 4.  August unterzeichneten Aufruf des Senats, den Auftakt einer »Stunde des Schweigens«.38 Diese von öffentlicher Hand organisierte symbolische Handlung war jedoch keinesfalls unumstritten und rief Protest von verschiedenen Interessensverbänden auf beiden Seiten der Mauer hervor.39 Das angeordnete Schweigen, das der Begriff »Schweigestunde« vermittelt, steht in deutlichem Gegensatz zu einem unbegrenzten Verstummen, wie es Bachmann in ihrer Poetik als notwendige Reaktion auf eine unfassbare Wirklichkeit begreift. So heißt es beispielsweise im Gedicht ›Psalm‹: »Schweigt mit mir, wie alle Glocken schweigen!// In der Nachgeburt der Schrecken/ sucht das Geschmeiß nach neuer Nahrung.« (W I 54) Neben dieser bewussten Verweigerungshaltung angesichts restaurativer Tendenzen nach dem Ende des Nationalsozialismus gewinnen in den Frankfurter Vorlesungen die unkontrollierbaren »Stürze ins Schweigen«, aus denen die »Wiederkehr« mit der Sprache nicht immer möglich ist, eine wesentliche Bedeutung (KS 259).40 Das Verstummen gründet dabei nicht nur auf einem Vertrauensverlust in die Fähigkeit, der Wirklichkeit sprachlich bzw. ästhetisch angemessen begegnen zu können, sondern auch auf der Schuld­ erfahrung des Schriftstellers, als sprachliches Wesen an der Sprache der Welt, an der Bestialität des »Wort[es], das den Drachen sät« (W I 116), teilzuhaben.41 Im Verstummen erkennt Bachmann somit einen Moment des kritischen Innehaltens, der strengen Prüfung aller künstlerischen Mittel und moralischen Voraussetzungen des Schreibens, woraus ein neues Sprechen mit »von Herzwänden geschnittenen« Worten hervorgehen kann (KS 279). Dass das Schweigen andererseits aber auch ein Ausdruck des Verdrängens und Vergessens sein kann, darauf verweist Bachmann in ihrer Erzählung ›Das dreißigste Jahr‹ aus dem gleichnamigen Erzählband, wenn sie die Stadt Wien angesichts der dort nach dem Krieg ausgeblendeten gewaltsamen Vergangenheit als »Schweigestadt« (W II 128) apostrophiert (zum Lexem ›schweigen‹ vgl. Stellenkommentare 5.2.3, 7.2.7 und 26.2.5).

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 1. Abschnitt

Mittels der Präpositionalphrase »seitab von der Straßenbahn« wird erneut ein räumlicher Bereich per Richtungsanweisung bestimmt. Da es sich bei dem genannten Orientierungspunkt jedoch um keinen fixen Ort, sondern um ein bewegliches Objekt handelt, verliert der zu erfassende Raum nahezu gänzlich an Begrenzung und damit Bestimmbarkeit. Als Bezeichnung eines städtischen Verkehrsmittels ist der hier erwähnte Begriff »Straßenbahn« Teil eines umfassenden Themen- und Motivkomplexes in ›Ein Ort für Zufälle‹, zu dem auch der Flug- und Straßenverkehr gehören und aus dem sich wichtige zeitgeschichtlich-politische Implikationen ableiten lassen. So ist vor allem der Boykott gegen die von Ostberlin verwaltete S-Bahn ein zentrales Mittel der Westberliner Bevölkerung, gegen den Bau der Mauer zu protestieren (vgl. Überblickskommentar 6.1). Die Unterbrechung des gesamten Personenverkehrs zwischen West- und Ostberlin in Folge des Mauerbaus bedeutete auch die Spaltung des Straßenbahnnetzes. Während im Westen der Straßenbahnbetrieb sukzessive durch den Ausbau des U-Bahnund Bus-Netzes ersetzt und 1967 ganz eingestellt wurde, blieb sie im Osten das wichtigste Verkehrsmittel. 1.2.3 ist ein Kreuz davor,

In den Vorstufen findet sich an dieser Stelle zunächst der auf die verkehrstechnische Straßenführung bezogene Terminus »Kreuzung«: »kommt noch vor der großen Kreuzung mit dem einstöckigen Bus« (ÖNB: K 4528, N 669; KA I 190), und selbst in der am Tag der Preisverleihung gehaltenen Redefassung heißt es noch »ist eine Kreuzung davor« (ÖNB: K 4554, N 718; K 4555, N 719; KA I 205: Textstufenapparat). Die Entstehungsgeschichte gibt somit einen erst im Hinblick auf die Wagenbach-Edition vorgenommenen Wandlungsprozess von einem eindeutig verkehrstechnisch-räumlich kodierten zu einem polysemen Attribut zu erkennen (auf einem im Wagenbach-Archiv aufbewahrten Textzeugen sind beide Bestimmungen aneinandergereiht: »ist ein Kreuz davor, ist eine Kreuzung davor«). Im städtischen Alltag Westberlins war es nach der Teilung Brauch geworden, an die bei ihrem Fluchtversuch in den Westen getöteten Menschen zu erinnern, indem man dort, wo diese umgekommen waren, Kreuze aufstellte.42 Die Gewalt an der Mauer ist 1963/64 ein ständiges Thema der Westberliner Medien. So bilanziert der ›Tagesspiegel‹ mit Verweis auf Walter Ulbrichts Schießbefehl regelmäßig die Anzahl der Opfer seit Beginn der Absperrung (52  Tote in der Ausgabe vom 13.  August 1964, dem 3.  Jahrestag des Mauerbaus; 63  Tote in der Ausgabe vom 18. September).43 Im Zuge der alljährlichen Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag des Mauerbaus bzw. am »Tag der Deutschen Einheit« (17.  Juni) sowie zum Todestag Peter Fechters am 17. August wurden an den Kreuzen medienwirksam Mahnwachen aufgestellt und Kränze niedergelegt.44



Stellenkommentar 

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Die säkulare Verwendung des Kreuzes als allgemeines Todes- und Gedenkzeichen geht aus seiner religiösen Kodierung hervor. Anspielungen auf Auferstehung und Himmelfahrt und damit auf die mit dem Kreuz verbundene Heilsgeschichte finden sich u.a. im 20. Abschnitt. Das Kreuz begegnet bereits in frühen Gedichten Bachmanns – etwa in ›Es könnte viel bedeuten‹ oder ›Die Häfen waren geöffnet‹ – als bedrohliches Zeichen einer Kultur, in der kein fühlendes bzw. verstehendes Miteinander von Menschen möglich ist.45 Auch jenseits der religiösen Symbolik besitzt das Kreuz eine besondere Bedeutung: etwa im Verkehrswesen als Warnsignal vor gefährlichen Straßenkreuzungen und Bahnübergängen. Darüber hinaus ist es in Verbindung mit der Farbe Rot das Erkennungszeichen der Hilfsorganisation, die im 19. Abschnitt explizit Erwähnung findet: »In der Friedrichstraße ist noch ein anderer Übergang, eine Aus- und Einfahrt für Rotkreuzwagen« (OfZ 51). Denkbar ist zudem eine Auffassung unter musikologischen Gesichtspunkten: So steht das Kreuz als eines der Akzidentien – auch Vorzeichen genannt – in Partituren vor einzelnen Noten, Takt- und Oktavräumen oder zu Beginn eines Linienverzeichnisses. Versteht man ›Ein Ort für Zufälle‹ als Textkomposition, die musikalischen Kompositionen vergleichbare Strukturen erkennen lässt,46 so kann dem ›davor stehenden Kreuz‹ aufgrund seiner Positionierung im präludierenden ersten Abschnitt auch eine ›Vorzeichenfunktion‹ für die gesamte Textwirklichkeit zugesprochen werden. Ein musikologisches Verständnis des Kreuzes wird auch dadurch gestützt, dass der Text weitere Termini aus dem Bereich der Musik (»Disharmonie«; »Stimmgabel«) und Anspielungen auf die Musik (»mit den Tönen an den Haken«) enthält. Das Kreuz hat nicht zuletzt auch eine fatale politische Geschichte als Auszeichnungs- und Machtsymbol (Eisernes Kreuz; Hakenkreuz), als das es etwa als Bundesverdienstkreuz auch im Nachkriegsdeutschland noch verwendet wird: So gesehen wäre auch hier ein subtiler Hinweis auf den problematischen Fortbestand von Symbolen und Praktiken in der BRD enthalten (vgl. Überblickskommentar 4.1 sowie Stellenkommentar 24.2.6). 1.2.4 es ist so weit nicht, aber auch nicht so nah,

Den Duktus eines Rätselspiels nachahmend (vgl. die folgende Textstelle) werden hier zwei gegensätzliche Beschreibungen durch eine koordinierende Konjunktion semantisch aufeinander bezogen und umgrenzen ex negativo einen räumlichen Bereich, der dennoch völlig unspezifisch bleibt. 1.2.5 ist – falsch geraten! – eine Sache auch, ist kein Gegenstand,

In einem Entwurf zu diesem Abschnitt heißt es noch in Form einer positiven Ergänzung: »eine Sache auch und ein Gegenstand« (ÖNB: K 4528, N 669; KA  I  190);

172 

 1. Abschnitt

zudem fehlt der Ausruf »falsch geraten!« Der Umarbeitungsprozess hebt somit einerseits stärker die Rätselstruktur hervor, stiftet andererseits aber auch kalkulierte Irritation. Indem die parenthetische Exklamation auf einen inkorrekten Bestimmungsversuch hindeutet, evoziert der Text eine Gesprächssituation zwischen einem aktiv am Prozess der Bedeutungssuche beteiligten Zuhörer und dem Rätselsteller. Da jedoch keine interne Figurenkonstellation erkennbar ist, auf die sich der vorgestellte Dialog unmittelbar übertragen lässt, rücken hier vor allem das Publikum bzw. die Leser als Adressaten in den Blick. Deutbar als eine Art »metakommunikative[s] Einsprengsel«,47 das sowohl die Ungelöstheit des Rätsels als auch seine potentielle Lösbarkeit indiziert, mag dieses rhetorische Mittel daher vor allem dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu fördern. Die Differenzierung von »Sache« und »Gegenstand« deutet auf Bachmanns kritische Auseinandersetzung mit der Existentialphilosophie hin.48 Ursprünglich aus der Sphäre des Rechtsstreits stammend, hat das Wort »Sache« mit der Zeit eine Bedeutungsverallgemeinerung erfahren als Bezeichnung für ein vom Vorstellen und Dafürhalten unabhängiges Gegebensein. In der deutschsprachigen philosophischen Literatur tritt ›Sache‹ häufig an die Stelle von ›res‹ (eigentlich das körperliche oder unkörperliche Rechtsobjekt), das als Bezeichnung selbst zum universellen Begriff geworden ist, der im weitesten Sinne all das umfasst, ›was nicht nichts ist‹. Dies betrifft nicht nur das subsistierende Einzelding, sondern all das, worauf sich eine Aussage beziehen kann, unabhängig davon, ob dieses ›etwas‹ konkret vorhanden oder gedacht ist. Häufig konvergiert die Bezeichnung Sache daher mit der Rede vom ›Ding an sich‹. Auch der Begriff »Gegenstand« hat mit der Zeit eine starke Bedeutungserweiterung erfahren im Hinblick auf alles, worauf sich menschliche Akte intentional richten können. Ursprünglich nicht deutlich von »Sache« geschieden, wird dieser mehr und mehr durch eine explizite Bezogenheit auf das Subjekt bestimmt. Als Objekt der sinnlichen Anschauung, der Reflexion etc. ist der Gegenstand gerade kein ›Ding an sich‹, sondern subjektiv intendiert. Bereits in ihrer vom Wiener Kreis beeinflussten Dissertation, die sich mit den Gegenpositionen der neueren deutschsprachigen Philosophie zu Heidegger auseinandersetzt, äußert Bachmann die These, dass »unsere Erkenntnis, wenn auch vor aller Erfahrung, nur auf mögliche Gegenstände gehen könne und die »Dinge an sich« prinzipiell unerkennbar seien.«49 In dieser Aussage kulminiert zugleich ihre fundamentale Kritik an einer Erkenntnismethode (vor allem der Existentialphilosophie Heideggers), die auf Nichtgegenständliches, etwa auf die Grundstrukturen der ›Existenz‹, abzielt, um diese phänomenologisch zu erfassen. Aus ihrer Sicht sind die Grunderlebnisse, um die es in der Existentialphilosophie gehe, zwar »tatsächlich irgendwie im Menschen lebendig«; der Versuch, diese zu rationalisieren, scheitere aber zwangsläufig und münde in Vergegenständlichun-



Stellenkommentar 

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gen, also in einem pseudologischen Sprechen darüber.50 Auch in ihren Essays zum Wiener Kreis und zur Philosophie Ludwig Wittgensteins rückt Bachmann die Frage nach den Möglichkeiten bzw. Grenzen der Erkenntnis von Wirklichkeit ins Zentrum, wie sie im Neopositivismus anhand der logischen Analyse der Sprache diskutiert wurde. Vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Frühwerk Wittgensteins begründet Bachmann ihre Absage an die Existentialphilosophie. Unter Bezugnahme auf den Schluss des ›Traktatus logico-philosophicus‹, wo Wittgenstein die Grenze des logischen Sprechens bestimmt und zugleich all die Dinge, die die menschliche Existenz betreffen, im Bereich des »Zufälligen« ansiedelt, formuliert sie ihre Forderung an die Kunst, sich dieser, in der vorliegenden Textpassage gleichfalls aufgerufen Sphäre des ›Nicht-Gegenständlichen‹ durch Darstellung anzunähern. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Rätselstruktur des ersten Abschnitts eine besondere Signifikanz, handelt es sich doch um ein Hindeuten auf »etwas«, das im Kontrast zur logischen Analyse der Philosophie nicht in einer Vergegenständlichung endet (vgl. Überblickskommentar). Diese Offenheit des Rätsels korrespondiert nicht zuletzt auch mit dem Aspekt der Unbestimmtheit des »Ortes«, wie er im Titel ›Ein Ort für Zufälle‹ anklingt. 1.2.6 ist tagsüber, ist auch nachts,

Im Unterschied zum exakt definierten Zeitraum des Kompositums »Schweigestunde« charakterisiert diese Temporaladverbien ein entgrenzender Aspekt. Die so angesprochenen Tageszeiten eröffnen ein textübergreifendes semantisches Feld, das zahlreiche Verknüpfungen mit anderen Motivkomplexen eingeht, wie es sich u.a. an mehreren Komposita zeigt: »Nachtschwester«, »Nachtarzt«, »Nachtglocke«. Obwohl verschiedentlich auch explizit auf ein Geschehen am Tag hingewiesen wird, liegt der Schwerpunkt der Darstellung deutlich auf dem nächtlichen Bereich und hier insbesondere auf dem Moment des Übergangs zwischen den Tagen. Gehäuft finden sich Zeitangaben wie »diese Nacht«, »die längsten Nächte«, »nach Mitternacht« oder »bis Mitternacht«, die, wie eingangs gezeigt, nicht klar aufeinander beziehbar sind. Vielmehr vermittelt der sprunghafte Wechsel zwischen sehr unterschiedlichen oder ganz ähnlichen Tageszeiten den Eindruck von Permanenz (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹, sowie Stellenkommentare 5.2.10, 9.2.1, 14.2.5, 15.2.1, 17.2.1, 19.2.2 und 26.2.12). 1.2.7 wird benutzt, sind Menschen drin, sind Bäume drum,

Die Passiv-Wendung zeigt, dass das Unbestimmte nicht nur ein neutrales Element oder agierendes Subjekt, sondern im Gegenteil Werkzeug im Sinne eines Mittels zum Zweck ist. Die Charakterisierung »wird benutzt« kann aber auch auf den alltäglichen Sprachgebrauch – Phrasen und Floskeln – bezogen werden, wie er im Text wiederholt begegnet.

174 

 1. Abschnitt

Die nachfolgenden Attribute beschreiben Raumstrukturen des unbestimmten »Es« erstmals explizit als Qualitäten einer belebten Landschaft. Als relative Ortsangaben verweisen die Präpositionen sowohl auf den allgemeinen Begriff »Ort« des Titels als auch auf die vielfältigen lokalen Bestimmungen im Text. Das trotz seiner Unspezifik nun beinahe idyllisch anmutende ›Setting‹ steht in klarem Kontrast zur späteren Destruktivität und Haltlosigkeit der urbanen Lebenswelt. Vor allem im 8. und 12. Abschnitt erscheinen Bäume im Kontext von Gewalt (»Die Kiefern hängen mit allen Nadeln verkrallt ineinander«; OfZ 22; »ob der Baum jemand getötet hat«; OfZ 30). Auch die nicht mehr unmittelbar zur urbanen Sphäre gehörenden Wälder im 23.  Abschnitt sind durch ihre Bezeichnung (»Forste«) als Bestandteil eines ökonomischen Verwertungszusammenhanges zu erkennen (OfZ 57). Am Motiv des Baums (vgl. Stellenkommentar 12.2.1), das auch in Bachmanns Lyrik zentral ist, werden wiederholt die Erfahrung einer zeitgeschichtlichen gesellschaftlichen Bedrohung wie auch die Problematisierung und Zerstörung dichterischen Sagens erprobt (grundlegend war hier Bertolt Brechts ›Gespräch über Bäume‹).51 1.2.8 kann, muß nicht, soll, muß nicht,

In dieser in kleinste semantische und syntaktische Einheiten unterteilten Aneinanderreihung wird der Gestus der Bestimmtheit aufgegeben zugunsten eines semantischen Feldes des Möglichen bzw. Wahrscheinlichen, das mit Blick auf den gesamten Text in einer Vielzahl an Wertungen und Gefühlsäußerungen seine Fortsetzung findet. Zahlreiche Modalverben, -adverbien und -partikel sowie unterschiedliche Modi wie Konjunktiv und Superlativ führen insgesamt zu einer affektbetonten, uneinheitlichen Erzählweise, zu einem Spannungsfeld aus Kontingenz und Konsistenz (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Narrative, stilistische und sprachliche Verfahren‹). Die Wiederholung des Attributes »muß nicht« lässt, da kein weiterer Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Existenz des Unbestimmten erzielt worden ist, die semantische Valenz in den Hintergrund rücken. Im Hinblick auf den gesamten Text kommt jedoch dem strukturellen Verfahren der Wiederholung eine besondere Bedeutung zu, da innerhalb des Textes durch Rekurrenzen und Motivwiederholungen Kohärenzen unter den Abschnitten erzeugt werden. So lässt sich etwa eine Verzahnung und Weiterentwicklung zwischen erstem und letztem Abschnitt erkennen, wo »muß nicht« erneut aufgegriffen wird, dabei aber eine signifikante Erweiterung erfährt: »es muß nicht Hoffnung sein, kann weniger sein, braucht nichts zu sein, es ist nichts« (OfZ 66).



Stellenkommentar 

 175

1.2.9 wird getragen, abgegeben, kommt mit den Füßen voraus, hat blaues Licht, hat nichts zu tun,

Im Kontext der textübergreifenden Darstellung institutioneller Machtpraktiken lässt sich »abgegeben«, das wie »getragen« zunächst im Gestus des Alltäglichen erscheint, auf die Einlieferung von Menschen in eine Anstalt beziehen (vgl. 5. Abschnitt). Einen derartigen Vorgang beschreibt ein zeitnah entstandener, zu Lebzeiten unveröffentlichter Gedichtentwurf. Darin beklagt ein Ich seine Internierung (»mit zerrauftem Haar und Schreien, die/ am Bellevue die Polizei dem Krankenwagen/ übergibt, auf Tragbahren geschnallt«) als Fortsetzung einer geschichtlich verankerten Gewalt: »soviele Deportationen« (UG 60). Mit Blick auf diese Wahrnehmung der das Ende des Nationalsozialismus überdauernden gesellschaftlichen Entmündigungs- und Erniedrigungspraktiken werden auch die folgenden Zuschreibungen als Signaturen einer organisierten Degradierung des Menschen zum Objekt lesbar. Die geläufige, den Tod eines Menschen umschreibende Floskel »kommt mit den Füßen voraus« mag zudem eine Sprachpraxis indizieren, die Gewalt und Repression im Alltagsleben maskiert. In den folgenden Abschnitten finden sich immer wieder Formulierungen, die geläufige Phrasen, Floskeln, Redensarten und Metaphern auf eine irritierende Weise wörtlich nehmen oder verfremden und auf diese Weise Bedeutungsaspekte freisetzen, die durch den uneigentlichen Sprachgebrauch gewöhnlich verdeckt sind (vgl. vor allem Stellenkommentar 21.2.7 sowie Stellenkommentare 5.2.4, 7.2.3, 8.2.3, 11.2.3, 12.2.1, 15.2.8, 24.2.9 und 26.2.3). Auch die Charakterisierung »hat blaues Licht«, die deutlich auf das Warnsignal von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst anspielt, das geläufige Kompositum »Blaulicht« jedoch durch Zergliederung verfremdet, zeugt von einer im Text häufiger begegnenden Sprengung sprachlicher Konventionen. Als Signatur einer institutionell organisierten Entmündigung begegnet das tatsächliche Warnsignal schließlich im 5. Abschnitt: »Einige bekannte Personen sind hier auch heimlich eingeliefert worden, nachts bei Blaulicht« (OfZ 16). Das letzte Attribut in diesem Textausschnitt zeugt ebenfalls von Passivität. Hier könnte unterschwellig ein gesellschaftlicher Wertekanon anklingen, wonach Untätigkeit als Lasterhaftigkeit erscheint. In den folgenden Abschnitten sind es vor allem die Kranken und Patienten, die als eine inaktive und aus der Gesellschaft ausgegrenzte Gruppe dargestellt werden. Ihre Untätigkeit (»alle liegen schweigend«) ist jedoch gerade nicht als krankheitsbedingte Insuffizienz vorgestellt, die im Rahmen einer institutionellen Fürsorge behandelt wird, sondern als Ausdruck der Entmündigung durch ein differenziertes System institutioneller Unterdrückung und Ruhigstellung mittels körperlicher Gewalt, psychologischer Manipulation und medikamentöser Sedierung.

176 

 1. Abschnitt

Der Hinweis »hat nichts zu tun« zitiert möglicherweise eine Textstelle aus Rilkes ›Malte Laurids Brigge‹, in der sich der Erzähler exemplarisch am Beispiel des durchorganisierten Sterbeprozesses in Krankenhäusern mit dem Individualitätsverlust in der modernen Gesellschaft auseinandersetzt: »denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun.«52 Der Verlust eines eigenen Todes in den Anstalten ist dem Erzähler Anzeichen einer fortgeschrittenen ›Konfektionierung‹ des Menschen in der Gesellschaft, die zuletzt das ganze Leben bestimmt: »Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen.«53 1.2.10 ist, ja ist, ist vorgekommen, ist aufgegeben,

Wird hier zunächst eine unmittelbare Präsenz angezeigt und durch die Wiederholung in Verbindung mit dem eine dialogische Kommunikation suggerierenden Gesprächspartikel »ja« besonders betont, so charakterisiert die nachfolgende Perfektform das Unbestimmte als Fortsetzung eines vorherigen Geschehens. Signifikant ist, dass die Vokabel »kommen« textübergreifend als eine Art Hypersem in einer Vielzahl von Satz-Repetitionen und -Permutationen auftritt. Neben semantischen Variationen (»ist zum Umkommen, kommt, kommt vor und hervor«) lässt sich dabei insbesondere ein Spiel mit variierenden Tempus- und Modus-Formen erkennen. Findet sich etwa im 5. Abschnitt erneut die Präsensvariante »es kommt vor« (OfZ 16), so enthält der 6. Abschnitt die negierende Versicherung in indirekter Rede »das werde nicht mehr vorkommen« (OfZ 20). (Vgl. auch den Anfang des 14. und das Ende des 26. Abschnitts.) Derartige Permutationen um das Lexem »kommen« finden sich gleichfalls in anderen zeitnah entstandenen Texten: Besonders deutlich wird dies im Gedicht ›Enigma‹, das in der wiederholten Äußerung »Nichts mehr wird kommen« bzw. »es wird nichts mehr kommen« Resignation und äußerste Einsamkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt (W I 171). Die Worte beziehen sich auf eine Postkarte von Peter Altenberg, die »eine Art Gedicht« enthält, das später aufgrund der Vertonung durch Alban Berg unter dem Titel ›Peter-Altenberglieder‹ bekannt geworden ist.54Das fünfte Orchesterlied beginnt dabei mit den Worten: »Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele.«55 Die Nähe zwischen ›Ein Ort für Zufälle‹ und dem von Bachmann zusammen mit anderen späten Gedichten in der Zeitschrift ›Kursbuch‹ erstveröffentlichten ›Enigma‹ wird nicht zuletzt durch den bereits im Titel anklingenden Gestus des Rätselhaften deutlich, der auf eine unfassbare, letztlich unerträgliche Gewalt in der Welt hindeutet. Das letztgenannte Attribut in dieser Passage ist ebenfalls polysem und berührt verschiedene Themen und Motive des Textes. Als ein Ausdruck, der verschiedene Formen sozialer Isolation anzuzeigen vermag, ist auch er auf den textübergrei-



Stellenkommentar 

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fenden Themenkomplex Krankheit beziehbar. Im 25. Abschnitt etwa formulieren Patienten gegenüber dem Pflegepersonal den Eindruck, von der Gesellschaft im Allgemeinen abgeschrieben zu sein: »es sei ungerecht, es stimme nicht, es sei dann ja alles unheilbar« (OfZ 64). Auslöser dieser Verzweiflung ist eine briefliche Mitteilung, in welcher Versicherungen ihre Nicht-Zuständigkeit erklären. Im Kontext postalischer Nachrichtenvermittlung ließe sich »ist aufgegeben« somit auch auf das Expedieren einer Sendung beziehen. 1.2.11 ist jetzt und schon lange, ist eine ständige Adresse,

Die temporale Bestimmung zu Beginn dieser Textstelle kann als Ergänzung der vorherigen Attribute aufgefasst werden. Signifikant ist der intensive Gebrauch, den Bachmann nicht nur von der Temporaldeixe »jetzt« (insgesamt 17-mal), sondern überhaupt von teils relativen, teils exakt anmutenden Zeitvokabeln macht. Indem so zwar permanent temporale Relationen angedeutet werden, jedoch keinesfalls ein konkreter Bezug zur objektiven Zeit hergestellt oder eine Orientierung hinsichtlich der Vor- und Nachzeitlichkeit der in den Abschnitten geschilderten Ereignisse gegeben wird, erscheint die Zeit selbst als Teil des Textgeschehens. Sie ist nicht mehr nur Instrumentarium des Darstellens, sondern wird unmittelbar gestaltet als etwas Prozesshaftes, Dynamisches (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹). Der Text widersetzt sich aber nicht nur einer eindeutigen Datierung, sondern auch einer chronologischen Ordnung an sich, wenn Signaturen und Ereignisse unterschiedlichster Epochen der empirischen Zeit aufgerufen werden und Vorzeitiges nicht als Erinnertes, sondern als unmittelbar Gegenwärtiges in die JetztZeit einfließt. Während etwa der 20. Abschnitt ein Konzert in der 1963 eröffneten Berliner Philharmonie evoziert, vergegenwärtigt der 17. Abschnitt die Ermordung Walther Rathenaus am 24.  Juni 1922 als unmittelbares Ereignis. Dieses Bestreben nach einer Auflösung des zeitlichen Kontinuums betrifft ebenso die Poetik des ›Todesarten‹-Romanzyklus. So korrespondiert das »jetzt« in seiner Unbestimmtheit dem »Heute« zu Beginn des Romans ›Malina‹, in dem erzählte Zeit und Erzählzeit miteinander verschmelzen. In einem Interview vom 14. April 1971 äußert sich Bachmann zum Problem der Zeit in ›Malina‹: »Es wird nicht nur im Präsens erzählt, sondern es ist in jedem Augenblick heute, wenn erzählt wird. Es gibt überhaupt keine Vergangenheit in diesem Buch [...].« (GuI 102) Eine besondere Valenz erhält das »jetzt« auch in Bachmanns Romanfragment ›Das Buch Franza‹. In einem Entwurf zu einer Vorrede betont die Autorin gegenüber ihren Zuhörern: Sie dürfen nicht glauben, daß [ich] mich einer Vergangenheit entziehe. Ich will nur wissen, was jetzt geschieht, und dieses Buch kommt »danach«. Das Jetzt ist schwer aufzufinden,

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 1. Abschnitt

weil alles in Watte verpackt ist, aber nur zum Schein. Und Mord und Grausamkeit in dieser Gesellschaft, die sind zu entdecken. (KA II 17)

Zu Beginn des 5. Abschnitts rücken in Zusammenhang mit dem Begriff »Adresse« erneut personale Identität und soziale Integration bzw. Isolation ins Zentrum der Darstellung (vgl. Stellenkommentar 5.2.2). 1.2.12 ist zum Umkommen, kommt, kommt vor und hervor,

Die erste Zuschreibung weist hier dem Unbestimmten eine todbringende Qualität zu und ist damit auf die Charakterisierung »kommt mit den Füßen voraus« rückbeziehbar (vgl. Stellenkommentar 1.2.9). Die folgenden Satzteile akzentuieren sprachlich, mittels Partialisierung und sukzessiver Bedeutungsverschiebung, in deren Zentrum erneut das Lexem »kommen« steht (vgl. Stellenkommentar 1.2.10), eine unergründliche zeitliche wie räumliche Dynamik: Während die Wendung »kommt vor« als temporale Modifikation von »ist vorgekommen« aufgefasst werden kann, vermittelt das zuletzt genannte Lokaladverb »hervor« eine semantische Verschiebung hin zu einer räumlichen Aussage, in der zugleich ein Sich-Offenbaren mitschwingt. Eine vergleichbare Satzzergliederung in Verbindung mit dem Lexem ›kommen‹, begegnet am Beginn von Rilkes ›Malte Laurids Brigge‹. Dort werden in kommentarloser Reduktion der Welt auf die perspektivisch eingeschränkte Sicht des Protagonisten Geräusche der Großstadt beschrieben, die sich diesem nachts bei geöffnetem Fenster, aufdrängen: »Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei.«56 Denkbar ist auch ein Bezug dieser sprachlich intensivierenden Darstellung der Bewegung zu Celans ›Gespräch im Gebirg‹, einen Prosatext, in dem die Legende des Ahasver aufgerufen wird und den der Dichter in seiner ›Meridian‹Rede explizit auf Büchners Erzählung ›Lenz‹ bezieht: »ging der Jud [...] ging und kam, kam dahergezockelt, ließ sich hören, kam am Stock, kam über den Stein [...] Und wer, denkst du, kam ihm entgegen? Entgegen kam ihm sein Vetter [...] kam, kam groß, kam dem anderen entgegen [...].«57 1.2.13 ist etwas – in Berlin.

Die den syntaktischen Bogen schließende Charakterisierung des enigmatisch umkreisten »Es« bestätigt letztlich dessen (geheimnisvolle) Unbestimmtheit. Auf die Kernaussage des ersten Abschnitts »es ist etwas« wird der letzte Abschnitt sowohl mit der bestätigenden Wendung »ist etwas in Berlin« als auch den negierenden Formeln »es ist nichts«, »Es […] war weiter nichts« und »Es wird nicht mehr vorkommen« antworten (OfZ 65 f.). Damit entsteht ein höchst spannungsgeladener und widersprüchlicher Bezugsrahmen zwischen erstem und letztem



Stellenkommentar 

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Abschnitt, der den gesamten Text klammerartig umschließt (vgl. Kommentar zum 26. Abschnitt). Der Gedankenstrich, der schließlich im letzten Abschnitt fehlt, erzeugt hier im Satzfluss und in der das »es« umkreisenden Bewegung eine Verzögerung und visualisiert eine Pause vor der finalen Ortsangabe, die mit der Unbestimmtheit des Ortes im Titel korrespondiert. Auf die Distanz signalisierende Funktion des Gedankenstrichs geht ein Essay Adornos mit dem Titel ›Satzzeichen‹ ein, der den literarischen Dilettantismus anprangert, »Sätze durch logische Partikeln ineinander« zu verhaken, ohne dass »die von jenen Partikeln behauptete[n] logische[n] Beziehungen« walten.58 Als Zeichen dichterischen Könnens wertet er hingegen den Gebrauch des Gedankenstrichs zum Setzen von Zäsuren: »Nicht zufällig wird gerade dies Zeichen dort, wo es seinen Zweck erfüllt: wo es trennt, was Verbundenheit vortäuscht, im Zeitalter des fortschreitenden Sprachzerfalls vernachlässigt.«59 Mit der abschließenden expliziten Nennung Berlins (der Name der Stadt erscheint insgesamt 16-mal) ist für den folgenden Text der geographische Rahmen abgesteckt. Dabei ist Berlin in den folgenden Abschnitten, wenn einzelne Bezirke, Gebäude, Straßen, Plätze und Parkanlagen genannt werden, nicht nur in topographischer Hinsicht präsent. Vielmehr erscheint die Stadt auch als ein soziales, kulturelles, wirtschaftliches und politisches Funktionssystem, dessen Ordnung jedoch permanent aus den Fugen gerät (zur besonderen Konturierung des Raumes vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹, sowie Kapitel C, ›Berlin: Angstraum und entstellte Topographie‹). Mit Blick auf die realen Gegebenheiten der Stadt zu Beginn der 1960er Jahre ist der nicht weiter spezifizierte Gebrauch des Namens nicht ohne Brisanz. Trotz der amtlichen Schreibweisen – »Berlin (West)« (BRD), »Westberlin« (DDR), »Berlin, Hauptstadt der DDR« – findet im politischen Jargon und in der Alltagssprache weiterhin der unmarkierte Name »Berlin« Verwendung, etwa als symbolische Geste der konsequenten Nichtanerkennung der Teilung und damit der Hauptstadt der DDR (so auch im Grundgesetz der BRD), als populistisch motiviertes Stilmittel zur Verschleierung der unliebsamen Teilung (man denke an Kennedys Ausruf: »Ich bin ein Berliner«) sowie als Ausdruck der Sehnsucht nach Wiedervereinigung bzw. als Zeichen einer bewussten oder unbewussten Verdrängung der Teilung. Dezidierte Kritik an dieser Sprachpraxis übt Uwe Johnson, der in seinem Essay ›Berliner Stadtbahn‹ von 1961 betont, dass es Berlin nicht gebe, sondern zwei Städte Berlin. ›Berlin‹ zu sagen, sei daher »vage und vielmehr eine politische Forderung, wie die östliche und die westliche Staatenkoalition sie seit einiger Zeit aufstellen, indem sie der von ihnen beeinflußten Hälfte den Namen des ganzen Gebietes geben, als sei die andere nicht vorhanden oder bereits in der eigenen enthalten.«60 Daran anknüpfend, rückt Hans Magnus Enzensberger die

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 1. Abschnitt

sprachlichen Verwerfungen der Teilung Deutschlands dann ins Zentrum seiner Büchner-Preis-Rede von 1963, wenn er zu Beginn anmerkt: »Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz.«61 Offenbar in Absetzung von der von Johnson und Enzensberger kritisierten sprachlichen Konvention scheint bei Bachmann die Verwendung des Namens »Berlin« Ausdruck einer bewusst gesuchten Perspektive auf diesen Ort zu sein, die Gewalt, Deformation und Destruktion gerade nicht zu verdrängen oder entsprechend der geläufigen Praxis gegenseitiger Schuldzuweisung nur einem der politisch-ideologischen Lager anzulasten sucht. So interpretiert Bachmann bereits in ihren zu Lebzeiten unveröffentlichten ›Entwürfen zur politischen Sprachkritik‹ die »Flucht ins geographischen Vokabular«, wie es zur gängigen Praxis politischer oder journalistischer Diskurse gehört, als Symptom einer ideologisch deformierten Sprache des Kalten Krieges (KS 372). Zwar finden sich auch in ›Ein Ort für Zufälle‹ wiederholt Vokabeln, die auf die politisch-geographische Bipolarität der Stadt Berlin anspielen (»Übergang«, »Betonsperren«, »hineinlassen«, »zurück«, »hin und her«; »Von einer Seite [...] zur anderen« etc.). Da diese Begriffe und Angaben jedoch an keiner Stelle durch Ortsbezeichnungen oder Begriffe präzisiert werden, welche die Teilung explizieren (etwa ›West-Berlin‹, ›Ost-Berlin‹, ›SBZ‹), unterwandert der Text die geläufige Sichtweise, Berlin sei in zwei diametral entgegengesetzte Ordnungen unterteilt (vgl. Einführung, Kapitel C, ›Berlin: Angstraum und entstellte Topographie‹). Dementsprechend spart Bachmann die Mauer, die im Lauf der 1960er Jahre zum Symbol der Teilung werden wird, konsequent aus und wendet sich im Vorwort der Büchner-PreisRede gegen das Wort ›Teilung‹: »es nimmt vieles ab, das Denken nicht zuletzt« (OfZ 70). Stattdessen fordert sie eine Einstellung auf »eine Konsequenz von variablen Krankheitsbildern« (ebd.). Nicht zuletzt ist der Name der Stadt aufs Engste mit Bachmanns Lebensgeschichte verbunden, als der Ort, an dem sie unmittelbar mit der deutschen Teilung in Berührung kommt und schwerste existentielle Krisen durchlebt. In einem Interview vom 25. November 1964 sagt sie: Ich habe in der Büchner-Rede über Berlin gesprochen, das ist einfach so zu verstehen, daß es für mich nahelag, daß es mir richtig schien, in Deutschland über Berlin zu sprechen, nachdem ich dort eineinhalb Jahre verbracht habe, an einem gestörten Ort, in einer Verstörung, die von diesen Störungen einiges aufzunehmen fähig war. (GuI 48)



Wort- und Sacherläuterungen 

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1.3 Wort- und Sacherläuterungen Sarotti:  Das berühmte Berliner Süßwarenunternehmen ›Sarotti Chokoladen- & Industrie A. G.‹ ging aus dem 1852 in der Friedrichstraße eröffneten ConfiserieGeschäft »Felix & Sarotti« des Gründers Heinrich Ludwig Neumann hervor und ist seit 1913 in Tempelhof ansässig.62 Am 27. August 1918 wird mit dem sogenannten ›Sarotti-Mohren‹ eines der bekanntesten Markenzeichen der Schokoladenindustrie kreiert, das am 2. November 1922 als neues Zeichen in das Markenregister eingetragen wird.63 Vor allem in den 1950er Jahren avanciert das seit 1929 zum Nestlé-Konzern gehörende Unternehmen zu einem der größten Süßwarenhersteller in Westdeutschland, dessen Produkte wohlhabendere Kunden ansprechen sollten.64 Schultheiss: Die 1843 vom Apotheker August Heinrich Prell gegründete und 1853 an den Namensgeber Jobst Schultheiss weiterverkaufte Berliner Brauerei wechselt 1864 nochmals den Besitzer.65 Der Sozialpolitiker Richard Roesicke baut das Unternehmen zum modernen Industriebetrieb mit zahlreichen sozialen Einrichtungen (Betriebsrat, Kündigungsschutz, Rentenkasse etc.) aus, dem nach 1891 der Aufstieg zur größten Brauerei Deutschlands mit elf Braustätten und einem repräsentativen Stammhaus in der Schönhauser Allee gelingt.66 In der NS-Zeit mit dem Prädikat »Nationalsozialistischer Musterbetrieb« ausgezeichnet, expandiert die Schultheiss-Brauerei AG nach dem Krieg trotz weitreichender Zerstörungen und Reparationsleistungen erneut zum führenden Unternehmen, dem in den 1960er Jahren deutschlandweit zahlreiche weitere Brauereien angehören.67 Commerzbank:  Die Großbank Commerzbank AG hat heute ihren Hauptsitz in Düsseldorf. 1870 in Hamburg als Commerz- und Diskonto-Bank gegründet,68 fusioniert sie bis 1923 mit mehreren Bankinstituten und entwickelt ein deutschlandweites Filial-Netz, dessen Schwerpunkt in Berlin liegt.69 Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges eröffnet die Commerz- und Diskonto Bank in der Hauptstadt 44 Depositkassen und übertrifft damit alle anderen Berliner Banken.70 1932 unterzeichnen der Aufsichtsratsvorsitzende Franz Heinrich Witthoefft und das Vorstandsmitglied Friedrich Reinhart eine Eingabe, mit der führende Persönlichkeiten der Wirtschaft Reichspräsident Hindenburg dazu aufgefordern, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.71 In der Zeit des Nationalsozialismus gelangt Reinhart, der 1934 an die Spitze des Aufsichtrats wechselte, in zahlreiche öffentliche Ämter, wird Leiter der Wirtschaftsgruppe Privates Bankgewerbe, Präsident der Berliner Börse und Präsident der Industrie- und Handelskammer Berlin.72 Als wichtiger finanzieller Unterstützer des Nazi-Regimes wird das seit 1940 unter dem Namen Commerzbank auftretende Geldinstitut nach dem Zweiten

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 2. Abschnitt

Weltkrieg von den Alliierten zerschlagen und in neun Banken entflochten,73 vereinigte sich aber 1958 wieder unter dem alten Namen.74 Berliner Kindl: 1872 in Rixdorf als ›Vereinsbrauerei Berliner Gastwirthe‹ gegründete und seit 1911 nach ihrem Spezialbier ›Berliner Kindl‹ benannte Brauerei, deren markantes Wappen (Kind im Bierkrug) an zahlreichen Wirtshäusern und Eck-Kneipen das Stadtbild bis heute prägt.75 Dem in der NS-Zeit mit dem Prädikat »Nationalsozialistischer Musterbetrieb« ausgezeichneten Unternehmen, das Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter einsetzte, gelingt trotz erheblicher Kriegszerstörungen und Demontagen der technischen Ausrüstung als Reparationsleistungen in den 1950er Jahren der Aufstieg zur größten Braustätte Berlins.76

2. Abschnitt

2

2.1 Überblickskommentar Textgenese Der in der ÖNB verwahrte Bachmann-Nachlass enthält sechs Textzeugen zu diesem Abschnitt: 1. K 4517, N 724; 2. K 4528, N 669; 3. K 4529, N 668; 4. K 4554, N 718; 5. K 4555, N 719; 6: K 4584, N 2549. Im Wagenbach-Verlag ist ein weiterer Textzeuge archiviert, der Teil eines fortlaufenden Typoskripts ist (vgl. Überblickskommentar 1.1). Auch die Druckfahnen in vierfacher Ausführung sind im Verlagsarchiv aufbewahrt. Ein erstes Entwurfsfragment zu diesem Abschnitt findet sich auf einem Textzeugen, der in der kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ der sogenannten ›Textstufe  III: Entwurfsreinschrift‹ zugeordnet wird und damit einer Arbeitsphase, in der Bachmann die Komposition nochmals signifikant verändert und den Plan einer Wüsten/Berlin-Dialektik zugunsten eines reinen Berlin-Konzepts weitgehend aufgibt (vgl. Einführung, Kapitel A, ›Entstehung‹). Zu diesem Zeitpunkt wird das Geschehen noch aus der Perspektive eines homodiegetischen Ich-Erzählers vermittelt: »Einige Männer rufen befriedigt zu uns herüber. [...] Es sind die Kranken. Wir haben hier so viele Kranke, sagte die Nachtschwester und holt mich vom Balkon zurück. Das Hemd ist feucht. Ich zittre.« (ÖNB: K4517, N 724; KA I 183) Auf einem späteren Entwurf aus der vierten Arbeitsphase verändert Bachmann zunächst die narrative Einstellung zugunsten einer anonymen Erzählinstanz, deren Beziehung zum Geschehen nicht eindeutig bestimmbar ist: »[...] sagte die Nachtschwester und holt einen vom Balkon zurück, der ganz feucht ist und zittert.« (ÖNB: K 4528, N 669; KA I 191) Abschließend kommt es zu einer perspektivischen Verschiebung: weg vom Einzelfall hin zur Wahrnehmung



Überblickskommentar 

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kollektiver Geschehnisse, indem das Indefinitpronomen (hier in der Akkusativform »einen«) durch das pluralische Artikelwort »die« ersetzt wird: »[...] sagt die Nachtschwester und holt die überschüssigen vom Balkon zurück, die ganz feucht sind und zittern.« (ÖNB: K 4554, N 718; K 4555, N 719) Diese Akzentverschiebungen sind mit Ausnahme der nach der Preisverleihung hinzugefügten Abschnitte für den Verlauf der Textgenese insgesamt prägend.

Struktur und Semantik Der 2. Abschnitt setzt mit einem signifikanten kanonartigen Rekurs auf das Ende des 1. Abschnitts ein. Die Wiederholung einzelner Phrasen oder Worte ist eine von zahlreichen Vertextungsstrategien in ›Ein Ort für Zufälle‹, die über Abschnittsgrenzen hinweg Kohärenzen jenseits pragmatisch-logischer Relationen schaffen (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹). Dem so gebildeten Spannungsfeld zwischen Distanz und Nähe entsprechend, lassen sich sowohl lexematisch-motivische Bezüge als auch deutliche Unterschiede, etwa bezüglich der sprachlichen Konturierung, ausmachen: Vor allem die Syntax ist gegenüber der aus einem Satz bestehenden, enigmatisch um das neutrale Pronomen »es« kreisenden Suchbewegung wesentlich vielschichtiger. In der ersten Hälfte des 2. Abschnitts, die Freizeitaktivitäten an einem beliebten Berliner Naherholungsort, dem Wannsee, zur Darstellung bringt, überwiegen zunächst kurze Sätze und parataktische Kernsatzreihen, die ohne kausale oder konditionale Verknüpfungen aneinandergereiht werden und deren Satzteile vor allem asyndetisch verbunden sind. Dieser Tendenz zur losen Reihung der grammatischen Glieder entspricht die Bildung von Treppensätzen: Die wenigen untergeordneten Nebensätze sind nicht direkt an das Bezugswort angefügt oder ineinander verschachtelt, sondern immer nachgestellt. Indem der Textkorpus so zunächst eine eher statische Struktur besitzt, der auf der Wortebene Perfekt-Passiv-Formen (»gewickelt«; »gedrängt«) und atelische Zustandsverben (»stehen«; »setzen«) entsprechen, wird die Passivität der Menschen am Wannsee, die ihre Freizeit am Ufer liegend und Bier trinkend verbringen, auch sprachlich besonders akzentuiert. Mit Blick auf ein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Textfragment, ›Reflexionen über Berlin‹ (KS 399–401), das entstehungsgeschichtlich wohl in Bachmanns ersten Berliner Sommer fällt, scheint es naheliegend, dass der Ursprung der Darstellung auf konkrete Erlebnisse und Beobachtungen der Schriftstellerin zurückgeht.1 So charakterisiert Bachmann darin das Freizeitverhalten der Menschen in Westberlin während eines Ausflugs zum Wannsee am Vatertag (gemeint ist wohl der 23. Mai 1963) als eine kollektive Konsumorgie:

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 2. Abschnitt

Ich fuhr mit einem Schweizer Schriftsteller an den Wannsee, dann auf dem Schiff, von Nikolskoe nach Kladow, dort tausende von Menschen, biertrinkend, schlimmer als eine Legende, vor der Pfaueninsel Biertrinker, an allen Ufern Biertrinker. (ÖNB: K 8004–8005, N1957–1958; KS 399)

Ein Vergleich dieser Beobachtungen mit dem Beginn des 2. Abschnitts lässt signifikante Übereinstimmungen hinsichtlich der thematischen und sprachlichen Gestaltung hervortreten. Vor allem die explizite Betonung des Massenhaften durch Numeralia (»zehntausend Deutsche«; »zehntausend Flaschen« etc.) und Quantoren (»an allen Ufern«) entspricht der spezifischen Wiedergabe von Maßlosigkeit und Manie in ›Ein Ort für Zufälle‹. Während im Textfragment jedoch eine starke Tendenz zur Generalisierung vorherrscht (»die Deutschen«), ist der 2.  Abschnitt von einer sukzessiven Kategorisierung der evozierten Masse hinsichtlich Geschlecht (»die Männer«; »die Frauen«), Status (»die Kranken«; »die Patienten«) und Beruf (»die Nachtschwester«) geprägt. Die nominale Personenkennzeichnung ist über diese Passage hinaus für den gesamten Text charakteristisch. Sie suggeriert ein hohes Maß an Distanziertheit und Objektivität der anonymen Erzählinstanz gegenüber dem dargestellten Geschehen, das durch sukzessive Differenzierung (»Einige Männer«; »manche [Frauen]«) noch gesteigert wird. Als ein zentrales Merkmal der Gestaltung kollektiver Verhaltensmuster und Gefühlsstrukturen vermittelt die textübergreifende Klassifizierung der Berliner Bevölkerung – in »Männer«, »Frauen«, »Versehrte«, »Kranke«, »Wächter« etc. – jedoch vor allem das Bild einer Gesellschaft, deren Angehörige zu keiner Zeit als Individuen, sondern immer als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe bzw. als Objekt oder Repräsentant einer Institution in Erscheinung treten (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹). ›Ein Ort für Zufälle‹ ist in dieser Hinsicht von kulturkritischen Überlegungen geprägt, die eine »fortschreitende[] Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen den Menschen« in der modernen Massengesellschaft diagnostizieren.2 Neben Adorno, der in seinen Schriften immer wieder Kritik an der Auflösung des Subjekts in der »verwalteten Welt« übt,3 ist auch Herbert Marcuse wichtig, der u.a. in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ darauf verweist, dass durch den Vorgang der Entfremdung in der modernen industriellen Zivilisation Individualität zurücktrete und zwischenmenschliche Beziehungen zerstört würden (zur Auseinandersetzung Bachmanns mit der Frankfurter Schule vgl. Einführung, Kapitel A.): In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der Gattung einander gegenüber: erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann Herr und Knecht, Chef und Angestellter. Sie treten zuerst einmal in den spezifischen Formen der universellen Entfremdung miteinander in Beziehung.4



Überblickskommentar 

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Wie präsent die Vatertags-Thematik als Brennpunkt einer Wohlstands- und Konsumkritik im Kreise der gegen Mitte der 1960er Jahre in Berlin lebenden und mit Bachmann befreundeten Schriftsteller war, zeigen Äußerungen von Grass in dessen autobiographischem »Werkstattbericht« ›Vier Jahrzehnte‹. Darin berichtet er von eigenen Notizen zum Gegenstand »Vatertag«, die ursprünglich den Vorstufen zum Roman ›Hundejahre‹ angehörten, dann aber auch »als Stoff für einen Film Dokumentaraufnahmen vom Himmelfahrtstag ’64 provozierte[n]«.5 Dieser Film, für den als Produzent Hansjürgen Pohland vorgesehen war, wurde letztlich jedoch nicht realisiert. Das alljährliche Ausbrechen eines regelrechten Freizeitwahns der Westberliner zu Sommeranfang ist zudem wiederholt in den regionalen Medien verhandelt worden. So berichtet etwa der Berliner ›Tagesspiegel‹ von der »sommerlichen Himmelfahrtstemperatur« am Vatertag 1963, die 15.500 Besucher ins Wannseebad lockte, so dass dieses »bald keine Strandkörbe mehr anzubieten hatte und auch mit Liegestühlen ausverkauft war«.6 Aber auch an den geradezu ›tropischen‹ Mai- und Juni-Wochenenden des Jahres 1964 drängen derart viele Berliner zum Wannsee, dass die Polizei die Zugangswege immer wieder sperren muss.7 Hintergrund dieses alljährlichen Massenandrangs am Wannsee ist die Etablierung einer spezifischen Freizeitkultur in Westdeutschland und Westberlin: Bachmanns Darstellung spielt hier auf eine allgemeine und immer wieder beklagte Tendenz der Freizeitgestaltung in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu passivem Konsum an.8 Die Ballung der Erholungssuchenden an wenigen Orten ist jedoch auch der besonderen politisch-geographischen Lage der Stadt geschuldet, wozu vor allem der Verlust des Zugangs zur umgebenden Landschaft infolge des Mauerbaus beigetragen hat. Diese wiederholt in den Medien beklagte Situation wird noch dadurch verstärkt, dass die Stadt gegen Mitte der 1960er Jahre zum Fremdenverkehrsort und Besuchermagnet auch zahlreicher ausländischer Gäste avanciert (vgl. Kommentar zum 20.  Abschnitt). Über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus beschäftigt sich der ›Tagesspiegel‹ mit der frühsommerlichen Ausflugsmanie der Berliner in einem längeren Beitrag mit dem Titel ›Und draußen essen, das ist wunderschön‹, der zur mehrwöchigen Artikelserie ›Berlin, wie es ist und – trinkt‹ gehört, die geschichtliche wie kulturelle Aspekte behandelt und wiederholt auch auf die ästhetische Auseinandersetzung mit dieser Thematik eingeht.9 Die darin enthaltenen Verweise auf Gedichte, Erzählungen, Gemälde oder Lieder zeugen nicht zuletzt davon, dass Bachmann mit der Darstellung des kollektiven Freizeitvergnügens am Wannsee einen Topos der Berlin-Literatur, -Kunst und Populärmusik aufruft, der häufig im Zeichen der Flucht vor dem großstädtischen Alltag steht.10 Dass dabei u.a. der Vatertag ins Blickfeld rückt, zeigt beispielsweise das Gedicht ›Berliner Himmelfahrtstag‹ von Arno Holz, in dem explizit das

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 2. Abschnitt

Gedränge der Erholungssuchenden an den Badebuchten und in den Ausflugslokalen beschrieben wird und das auch das in künstlerischen Freizeitdarstellungen wiederkehrende Motiv des zügellosen Essens und Trinkens der Berliner ins Zentrum rückt.11 Obwohl der 2.  Abschnitt signifikante Affinitäten zur Vatertagsthematik im erwähnten Erzählfragment aufweist, fehlt eine eindeutige Datierung: Die Zeitangabe »Es ist Maiensonntag« rückt ab vom erinnernden Bericht eines außergewöhnlichen Ereignisses (»vorgestern auf dem Vatertag«) zugunsten der Schilderung eines unmittelbaren Geschehens an einem eher typischen frühsommerlichen Ausflugstag. Hierzu passt auch die Streichung der anfänglichen Charakterisierung »es ist ein großes Fest« (ÖNB: K 4517, N 724; KA I 183) im Verlauf der Textgenese. Bachmann lässt diese jedoch nicht gänzlich fallen, sondern verschiebt sie in den letzten Abschnitt. Weiterhin finden sich im 20. Abschnitt deutliche Hinweise auf einen Festakt, der Kirchliches und Nationalistisches verschränkt: »Es ist Auferstehen, schwarz rot und gold, Unter den Linden. Die Gedächtniskirche fährt zum Himmel.« (OfZ 52) Den Duktus einer unmittelbaren Schilderung ohne zeitliche und räumliche Distanz zum Ereignisverlauf erlangt die Darstellung vor allem durch die chronologische Vertextung mittels bestimmter Temporaldeixen (»jetzt«; »dann«) sowie die Tendenz zur kopulativen Reihung ohne logische Verknüpfungen. Der Text weist darüber hinaus auch Indizien dafür auf, dass die anonyme Erzählinstanz das Geschehen ansatzweise zu bewerten bzw. zu deuten versucht. Hierzu gehören bestimmte Funktionsverbgefüge (»erwecken Mitleid«), Modaladverbien (»befriedigt«), iterative Adverbiale (»schon wieder«) und finale Nebensätze (»damit die Männer«; »damit man«), die eine Wahrnehmungsperspektive erkennbar werden lassen, deren Aufmerksamkeit tiefer liegenden Gefühlsstrukturen und Motivat­ ionen gilt. Im zweiten Teil des Abschnitts, der durch die Landung der Kranken eingeleitet wird und dessen Geschehen unvermittelt in die Sphäre einer medizinischen Anstalt wechselt, ist zudem die Statik der Syntax punktuell aufgebrochen. So bewirken die Einsparung gemeinsamer Satzsubjekte (»wendet den Griff an und gibt eine Spritze«) und die Tendenz zur polysyndetischen Verbindung kurzer Satzteile eine kurzzeitige Dynamisierung, die auch vom Verlust an emotionaler Distanziertheit der anonymen Erzählinstanz zeugt. Ins Zentrum der Darstellung rücken dabei Praktiken institutioneller ›Fürsorge‹, deren Konfliktpotential nicht nur in dieser Textpassage bildlich durch eine extreme Steigerung ins Groteske hervorgehoben ist (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion‹). Immer wieder werden die folgenden Abschnitte Methoden der Disziplinierung und Erniedrigung zeigen, die in ihrer Gesamtheit



Überblickskommentar 

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einen Anstaltsalltag evozieren, der von einer extremen Gewalt und Unterdrückung des Patienten geprägt ist. Ein wiederkehrendes sprachliches Merkmal der Degradierung der Patienten zum Objekt ist die Verdrängung nominaler Klassifizierungen durch eine Vielzahl pronominaler Proformen (hier das Indefinitpronomen »man«), deren textueller Bezugsrahmen zudem häufig nicht eindeutig geklärt ist und die daher einen hohen Grad an Indetermination aufweisen (»alle«, »niemand«, »keiner«, »jeder« etc.). Diese treten allerdings nicht nur im Kontext institutioneller Entmündigung auf, sondern kennzeichnen auch andere Momente personaler Destabilisierung, die von rauschhaften Überschreitungen (etwa im Kadewe) oder heftigen Affektreaktionen (etwa auf den städtischen Verkehrslärm) verursacht werden, woraus ein permanentes Spannungsfeld zwischen Klassifikation und Verallgemeinerung, Determination und Unbestimmtheit erwächst. Neben der spezifischen Gestaltung interner Handlungsabläufe ist für die textübergreifende Evokation einer medizisch-psychiatrischen Anstaltssphäre im vorliegenden Abschnitt aber auch die räumliche Konturierung des Geschehens paradigmatisch. Insbesondere der gänzlich unvermittelte Übergang vom offenen Gelände des Wannsees in die institutionelle Sphäre erweist sich mit Blick auf den gesamten Text als ein zentrales Mittel der Darstellung, das zur Auflösung des gewohnten Ordnungsgefüges beiträgt (vgl. Überblickskommentar 7.1 sowie Stellenkommentare 4.2.6, 7.2.7, 10.2.8, 11.2.4, 18.2.6 und 21.2.14). Der damit einhergehende Orientierungsverlust ist in Bezug auf den Anstaltsraum noch dadurch gesteigert, dass dieser einzig im 3.  Abschnitt (»Die Krankenhäuser haben sich beschwert«) explizit benannt wird und ansonsten lediglich anhand von wiederkehrenden architektonischen Details bzw. Strukturen (»Balkone«, »Gänge[]«, »Station«), Elementen des Interieurs (»Matratze«, »Leintücher«, »Wasserhähne«) sowie medizinischen Berufsbezeichnungen (»Nachtschwester«, »Hilfsschwester«, »Chefarzt«) und spezifischen Handlungsweisen (Spritze geben, Medikamente verabreichen, Visite) Konturen gewinnt (vgl. u.a. Stellenkommentar 5.2.1). Die permanente Annäherung und Überlagerung scheinbar heterogener gesellschaftlicher Sphären bewirkt aber nicht nur eine Verunsicherung der gewohnten Weltsicht, sie legt auf subtile Weise auch Bedeutungshorizonte und Zusammenhänge bloß, die von den komplexen Ordnungsstrukturen in der geteilten Stadt Berlin gemeinhin verdeckt werden. Im vorliegenden Abschnitt betrifft dies vor allem zwanghafte Verhaltens- und Interaktionsmuster, wenn an der bildlichen wie sprachlich hervortretenden Affinität zwischen Frauen und Kranken (die »aus dem Papier« bzw. »an Land« dürfen) offensichtlich wird, dass Subordination und Degradierung zum Objekt keinesfalls auf Orte einer verordneten Fürsorge begrenzt sind, sondern die scheinbar zwanglose Freizeit in gleicher Weise betreffen wie das Zusammenleben der Geschlechter (zur intergeschlechtlichen

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 2. Abschnitt

Gewalt in ›Ein Ort für Zufälle‹ wie im Gesamtwerk vgl. Stellenkommentar 17.2.9 sowie den Kommentar zum 21. Abschnitt). Denkbar ist, dass die groteske Durchdringung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche in ›Ein Ort für Zufälle‹ von einem realgeschichtlichen Hintergrund motiviert ist. Denn in Westberlin kommt es, bedingt durch die politisch-geographische Insellage, nicht erst seit dem Mauerbau zu einer extremen Verdichtung, zu einer Überlagerung der Nutzung des öffentlichen Raumes. Ein besonders prägnantes Beispiel ist der Grunewald, an dessen südwestlichem Ende der Wannsee liegt. Dieses größte und wichtigste Waldgebiet auf westlicher Seite ist in der Zeit des Kalten Krieges zugleich Naherholungsgebiet, Truppenübungsplatz und forstwirtschaftliche Nutzfläche, durch die zudem die Avus, eine bekannte Rennstrecke und wichtige Einfallstraße des Transitverkehrs, führt (vgl. Stellenkommentar 11.2.3). Immer wieder kommt es dadurch zu Konflikten und gelegentlich auch zu schweren Unfällen, etwa als 1951 ein am Wannsee badendes Kind von einer fehlgeleiteten Kugel des nahe gelegenen Truppenübungsplatzes schwer verletzt wird. Bachmann verbringt während ihres Berlin-Aufenthaltes einige Zeit im Martin-Luther-Krankenhaus in der Caspar-Theuß-Straße, das, im parkähnlichen Villenviertel Grunewald gelegen, sowohl von der unmittelbaren Nachbarschaft des Erholungsraumes geprägt als auch von der gleichfalls unmittelbaren Nähe des damals größten Verkehrsknotens und Bauplatzes Westberlins, dem Autobahndreieck am Funkturm, betroffen ist. Das Erleiden einer schweren Krise und die damit verbundene Krankenhaus-Unterbringung gehört zu den unhintergehbaren existentiellen Erfahrungen Bachmanns, die auf die Darstellung des Anstaltsalltags in ›Ein Ort für Zufälle‹ gewirkt haben (vgl. Einführung, Kapitel A). Dass der 2. Abschnitt freilich nicht allein als poetische Verarbeitung eines persönlichen Schicksals aufgefasst werden kann, dafür spricht, wie oben beschrieben, u.a. die Aufgabe einer homodiegetischen Ich-Erzählerfigur, die selbst Objekt der institutionellen Subordination ist, zugunsten einer anonymen Darstellung kollektiver Verhaltensmuster. 2.2 Stellenkommentar 2.2.1 In Berlin sind jetzt alle Leute in Fettpapier gewickelt.

Ein Blick auf die Textgenese zeigt, dass Bachmann vor allem an der Wortstellung des einleitenden Satzes gearbeitet hat. Während der Präpositionalangabe anfangs noch das Indefinitpronomen »alle« vorangestellt ist – »Alle in Berlin sind jetzt in Butterbrotpapiere gewickelt« (ÖNB: K 4517, N 724; K 4528, N 669; K: 4529, N 668; KA I 183, 191) –, bewirkt die Verschiebung eine kanonartige Wiederaufnahme der Schlusspassage des 1. Abschnitts.



Überblickskommentar 

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Der Einleitungssatz betont besonders die zeitliche und räumliche Situation des Erzählens als unmittelbare Wiedergabe eines gegenwärtigen Zustandes an einem konkreten Ort (zur Bedeutung des Stadtnamens Berlin vgl. Stellenkommentar 1.2.13). Da es sich bei der Temporaldeixe »jetzt« jedoch um eine relative Zeitangabe handelt, die zur genauen Festlegung eines Bezugspunkts in der objektiven Zeit bedarf, ist keine exakte Datierung möglich. Diese temporale Unbestimmtheit bleibt auch im Folgenden bestehen: Obwohl bereits im nächsten Satz eine gewisse Präzisierung durch die Zeitvokabel »Maiensonntag« erfolgt, wird die angezeigte Gegenwart in keiner Textpassage (weder in diesem noch in einem anderen Abschnitt) auf ein konkretes Datum fixiert (vgl. Stellenkommentar 1.2.11 sowie Einführung, Kapitel B, Abschnitt ›Aufbau und Gliederungsprinzipien‹). Ohne dass Verursacher oder Gründe genannt würden, führt die Perfekt-Passiv-Wendung zu Beginn eine untätige und fremdbestimmte Berliner Bevölkerung vor Augen. Vergleichbare Satzkonstruktionen, in denen die Quelle einer Handlung bzw. Anweisung ausgespart (»Die Zigarette darf geraucht werden«) oder nur durch ein neutrales Pronomen angezeigt wird (»es gibt noch die Tropfen«), erzeugen textübergreifend den Eindruck einer anonymen gesellschaftlichen Macht, die sich komplexer Zwangs- und Subordinationsstrukturen bedient, ohne dabei fassbar zu werden (vgl. Überblickskommentar 19.1 sowie Stellenkommentare 2.2.6, 2.2.9, 4.2.6, 5.2.2, 10.2.7, 14.2.9, 18.2.10, 21.2.5 und 22.2.1). Mit Blick auf die geläufige Verwendung von »Fettpapier« als schützendes Verpackungsmaterial verweist das Bild der darin eingewickelten Menschen auf Isolation und den Verlust eines unmittelbaren Wirklichkeitsbezugs – bei aller äußeren Nähe.12 Denkbar wäre zudem, dass das Lexem ›Fett‹ auf die sprichwörtlich ›fetten Jahre‹ des Wirtschaftswunders anspielt. In einem Vorrede-Entwurf zu ›Das Buch Franza‹ greift Bachmann zur Beschreibung ihres Roman-Vorhabens zu einer ähnlichen Metapher, um die subtil wirksame Gewalt in der vermeintlich friedlichen Nachkriegsgesellschaft zu fassen: »Das Jetzt ist schwer aufzufinden, weil alles in Watte verpackt ist, aber nur zum Schein. Und Mord und Grausamkeit in dieser Gesellschaft, die sind zu entdecken.« (KA II 17) Auch in anderen ihrer Texte repräsentieren solche Materialien oder Gegenstände die Errungenschaften der westlichen Zivilisation, in der Lebensmittel nur noch als Genussmittel wahrgenommen werden – etwa herumliegende Bier- und Coca-Cola-Flaschen in ›Das Buch Franza‹ oder umherwehende »Butterbrotpapiere« (KA I 108) im ›Todesarten‹-Romanfragment um den Protagonisten Eugen aus den Jahren 1962/63.13 Ein erster Entwurf zum 2.  Abschnitt zeigt, dass Bachmann zunächst das Wort »Butterbrotpapier« verwendet hat (ÖNB: K 4517, N 724; KA I 183). Der weitere Textverlauf wird zeigen, dass durch den Austausch des Wortes gewisse Korrespondenzen zum 24. Abschnitt entstehen, wo von ›fettriefendem ZeitungsPapier‹ die Rede ist, um die derbe Darstellung der Verhältnisse durch die Bou-

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 2. Abschnitt

levardpresse entsprechend plastisch zu fassen.14 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch Bachmanns während eines Interviews von 1973 geäußerte Kritik am »Leben aus zweiter Hand«, jenem bereits von Benjamin konstatierten »Erfahrungsschwund« der Menschen, der heute umso mehr auftrete »durch die Entwicklung der Massenmedien« (GuI 140). In einem Gedicht von Günter Grass aus dem Gedichtband ›Gleisdreieck‹ findet sich eine Passage, die gewisse Affinitäten zum Bild der in Fettpapier eingewickelten Menschen bei Bachmann besitzt. So heißt es in ›Zwischen Marathon und Athen‹: »Vorbei an einem Bündel Präsidenten/ mit Gattinnen in Pergament,/ darauf Glückwünsche, zart steil geschrieben;/ Wir freuen uns – Wir freuen uns...«15 Von Relevanz mag in diesem Zusammenhang auch die starke Ähnlichkeit sein, die zwischen Grass’ elfter Zeichnung für ›Ein Ort für Zufälle‹ (Abb. 11) und einer Skizze besteht, die er zur Illustration von ›Zwischen Marathon und Athen‹ angefertigt hat (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Text-Bild-Komposition‹). Besondere Signifikanz besitzt das Indefinitpronomen ›all‹, das über ›Ein Ort für Zufälle‹ hinaus, wo es immer wieder das kollektive Ausmaß von Gewalt und Destruktion verdeutlicht (»alles ist versehrt«),16 zu den wichtigsten Vokabeln in Bachmanns Werk gehört. Erstmals explizit erkennbar wird dies in dem 1952 entstandenen Gedicht ›Alle Tage‹, das die zum Alltag gewordene Gewalt des Kalten Krieges thematisiert. Vor allem aber mit der Erzählung ›Alles‹ aus dem Erzählband ›Das dreißigste Jahr‹ und dem Hörspiel ›Der gute Gott von Manhattan‹ erlangt das Indefinitpronomen eine zentrale Valenz als sprachliches Zeichen einer allumfassenden Ordnung bzw. eines omnipräsenten Systems der sozialen Kontrolle, das auch in die poetische Konzeption des ›Todesarten‹-Projekts eingeht, wo es um die Enthüllung des Fortbestehens faschistischer Gewaltpraktiken im Alltagsleben der Nachkriegsgesellschaft geht. 2.2.2 Es ist Maiensonntag.

Findet sich in einem ersten Entwurf zunächst die qualitative Zuschreibung »es ist ein großes Fest« (ÖNB: K 4517, N 724; KA I 183), so zeigt die weitere Textgenese eine signifikante Verschiebung hin zur zeitlichen Charakterisierung »es ist ein Maiensonntag« (ÖNB: K 4528, N 699; K 4529, N 688; KA I 191), die dann in einem letzten Schritt durch Streichung des unbestimmten Artikels nochmals in ihrem Aussagegehalt korrigiert wird (vgl. Überblicks). Eine kurze durchgestrichene Liedtext-Passage am Ende eines Entwurfs zum 8. Abschnitt deutet darauf hin, dass Bachmann sich der topischen Bedeutung des Monats Mai in Literatur und Musik als jahreszeitlich motivierter Phase besonderen Lebens- und Liebesglücks bewusst ist: »Wenn die wilde Kirsche blüht, will mein Herz sich freuen, denn die allerschönste Zeit ist der holde Maien.« (ÖNB: K 4536, N 676; K 4537, N 675; KA I 195: Textstufenapparat) Bereits in früheren Texten



Überblickskommentar 

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erlangen der Sommeranfang und insbesondere der Monat Mai eine spezifische Signifikanz, die tradierte Konnotationen von Erneuerung, ›Hochzeit des Lebens‹ und Liebesglück anklingen lässt – etwa in ›Das dreißigste Jahr‹, wo der lebensgeschichtliche Neuanfang des Protagonisten auf den Monat Mai fällt (W II 135). Während am Gedicht ›Früher Mittag‹ erstmals die Problematisierung des literarischen Umgangs mit dieser Topik angesichts der katastrophalen Kriege des 20.  Jahrhunderts hervortritt, zeugt ein früher Entwurf der Büchner-PreisRede von einer expliziten Bezugsetzung des Monats Mai zum Ende des Zweiten Weltkrieges, wenn die »wüsten herrlichen, brüllenden Maitage[]« des Kriegsendes als hoffnungsvolle Schwellenzeit der scheinbar gesicherten, doch »jeden Tag bedroht[en]« Epoche des Friedens gegenübergestellt werden (ÖNB: K 7973, N 728; KA I 179).17 Wenig später, in ›Der Fall Franza‹, erlangt der Mai 1945 erneut eine besondere Bedeutung als Schwellenmoment sowohl der ›großen‹ Geschichte wie der kleinen, individuellen Lebensgeschichte der Protagonistin. Im Entwurf zum Kapitel ›Heimkehr nach Galicien‹, das die Kindheitserlebnisse Franzas in einem kleinen galizischen Dorf beschreibt, welches, von den Deutschen bereits aufgegeben und von den alliierten Truppen noch nicht besetzt, vorübergehend zwischen den Fronten bzw. zwischen den Zeiten schwebt, heißt es: »Aber jedes Geschwader machte das Wetter besser, soviel Blumen waren noch nie herausgekommen in einem Mai, zwischen Vor- und Hauptalarm, Tag und Nachtalarm ging das Getreide in die Höhe, und das allein nahm Franza noch zur Kenntnis, die Alarme nicht mehr.« (KA II 177) Obwohl das anonyme Pronomen »es« hier die grammatische Funktion eines Stellvertreters für die Nominalphrase besitzt, mag ihm aufgrund der auffälligen syntaktischen Parallelität des Kopulasatzes zur enigmatischen Konstruktion des 1. Abschnitts auch ein unterschwelliges Deutungspotential hinsichtlich des gesuchten und doch zu keiner Zeit identifizierten »etwas – in Berlin« eignen (zur besonderen Valenz von »es« vgl. Überblickskommentar 1.1). 2.2.3 Myriaden von Bierflaschen stehen bis zum Wannsee hinunter, viele Flaschen schwimmen auch schon im Wasser, nah an die Ufer gedrängt von Dampferwellen, damit die Männer sie noch herausfischen können.

Evoziert wird ein Schauplatz kollektiven Bierkonsums, dessen Maßlosigkeit durch die Numerale zu Beginn des Satzes besonders akzentuiert wird. Als Ausdruck des nicht mehr Überschaubaren bzw. Zählbaren entspricht diese Vokabel, die Bachmann bereits in ihrem Gedicht ›Herbstmanöver‹ verwendet,18 dem stetigen Hang zur Überschreitung im gesamten Text, der häufig anhand von grotesken Stilmitteln (Steigerung ins Monströse sowie andere Verzerrungen der gewohnten Perspektive) inszeniert wird (zur Bedeutung des Grotesken vgl. Einführung, Kapitel B, ›Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsrefle-

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 2. Abschnitt

xion‹). Insgesamt entsteht so das Bild der westlichen Wohlstands- und Überflussgesellschaft, deren Konsumgewohnheiten zu keiner Zeit entspannt sind, sondern krankhaft gesteigert, ja geradezu manisch wirken (vgl. u.a. Stellenkommentare 1.2.1, 4.2.5, 13.2.9, 14.2.5, 15.2.3 und 17.2.7). Vor allem im letzten Abschnitt erfolgt eine explizite Bedeutungsaufladung des übermäßigen Alkoholkonsums als Kollektiv-Symptom einer zwanghaften Verdrängung: »[E]s wird getrunken und wird getanzt, muss getrunken werden, damit etwas vergessen wird«. (OfZ 65) Auch wenn letztlich keine exakte Bestimmung dessen erfolgt, was vergessen werden soll, vermittelt Bachmanns Darstellung textübergreifend eine stetige Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung, die zahlreiche Implikationen hinsichtlich aktueller politisch-militärischer, infrastruktureller und meteorologischer Zwischenfälle in der geteilten Stadt Berlin gegen Mitte der 1960er Jahre erkennbar werden lässt, aber auch Signaturen einer schrecklichen Vergangenheit vor Augen führt. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang ein zu Lebzeiten unveröffentlichter Gedichtentwurf mit dem Titel ›Alkohol‹, der in zeitlicher Nähe zur Rede entstanden ist. Darin erlangt der Alkoholexzess ebenfalls Züge einer gesellschaftlichen Verhaltensweise, die auf Verdrängung abzielt: »es weiß ja jeder/ warum es säuft, sich besäuft, sich/ sich betäubt, es betäubt sich« (UG 151). Vor dem Hintergrund der gewaltsamen Geschichte Berlins, deren Präsenz in ›Ein Ort für Zufälle‹ teils explizit, teils auf subtile Weise vermittelt wird, erlangt auch die Verortung des exzessiven Bierkonsums im 2. Abschnitt besondere Brisanz, ist doch der Wannsee nicht nur ein beliebtes Naherholungsgebiet, sondern der Ort, der untrennbar mit dem Holocaust verbunden ist. Am 20. Januar 1942 fand hier in einer der am Ufer gelegenen Villen die sogenannte ›Wannseekonferenz‹ statt, auf der die organisierte Ermordung aller europäischen Juden und anderer aus der Perspektive der nationalsozialistischen Rassenideologie als ›nicht lebenswertes Leben‹ klassifizierter Gesellschaftsgruppen beschlossen wurde.19 Dass die Schriftstellerin sich dieses gravierenden Aspektes stets und auch hier bewusst ist, liegt mit Blick auf die zeitgleiche intensive Auseinandersetzung mit Celans des »20. Jänner« gedenkenden Büchner-Preis-Rede ›Der Meridian‹ auf der Hand (vgl. Einführung, Kapitel A, ›Entstehung‹). Denkbar ist, dass sich im Vorwort zur Büchner-Preis-Rede über einen intertextuellen Bezug ein subtiler Hinweis auf das Datum der Konferenz befindet.20 Denn Bachmanns die Bibel zitierende Demutsbekundung im Eröffnungssatz (»Wie jeder, der hier gestanden ist und es nicht wert war, Büchner das Schuhband zu lösen, habe ich es schwer, den Mund aufzutun, den Dank trotzdem abzustatten mit einer Rede«; W 4 278) spielt auch auf einen Brief Büchners an seine Frau an, in dem er kurz vor seinem Tod die Schwere seiner Typhuserkrankung durch einen Vergleich seiner Arbeitsbedingungen mit denjenigen Shakespeares herunterzuspielen versucht: »Der arme Shakespeare war Schreiber den Tag über und



Überblickskommentar 

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musste Nachts dichten, und ich, der ich nicht wert bin, ihm die Schuhriemen zu lösen, hab’s weit besser.«21 Signifikant ist hier vor allem, dass der Brief auf den 20. Januar 1837 datiert, also auf den »20. Jänner«, den Celan als steten Bezugspunkt seines Schreibens versteht. Jenseits der persönlichen Involviertheit, die der Dialog mit dem Bachmann sehr nahestehenden Dichter zeigt, lenkten auch der 1963 beginnende AuschwitzProzess und die dadurch eröffnete öffentliche Debatte, die dem nicht zu beschreibenden Grauen in den Vernichtungslagern einen ›Platz‹ inmitten der deutschen Gesellschaft zuwies, den Fokus auf die Wannseekonferenz (vgl. Einführung, Kapitel A, ›Biographische, zeit- und literaturgeschichtliche Kontexte‹). 2.2.4 Die Männer öffnen die Flaschen mit den bloßen Händen, sie drücken mit dem Handballen die Verschlüsse auf. Einige Männer rufen befriedigt in den Wald: wir schaffen es schon.

Das prahlerische Gehabe, die selbstzufriedene Haltung der Männer wird durch phrasenhaftes Sprechen erweitert, bei dem die noch an den Krieg erinnernde Durchhalteparole bereits von Siegesgewissheit (»befriedigt«) durchdrungen zu sein scheint. In der Nachdrücklichkeit, mit der hier die eigene Stärke verkündet wird, mag sich jedoch auch eine innere Anspannung und Unsicherheit offenbaren, die der demonstrativ zur Schau gestellten Selbstzufriedenheit bzw. -gewissheit zugrunde liegt.22 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass im Ausruf der Männer erneut das Funktionswort »es« enthalten ist, das zu Beginn des Textes ein erweitertes Deutungspotential hinsichtlich eines unbestimmten »etwas« in Berlin erlangt hat. Mit Blick auf den einleitenden 1. Abschnitt mag das Pronomen daher auch in dieser Passage nicht einfach nur obligatorischer Bestandteil einer festen Wendung sein, sondern eine unterschwellige semantische Aufladung besitzen. Eine vergleichbare Situation evoziert der 10.  Abschnitt (vgl. Stellenkommentar 10.2.4), wenn Menschen angesichts einer aus den Fugen geratenen und zerstörerischen Stadtwirklichkeit geradezu beschwörend verkünden: »[A]m besten ist es noch hier, man bleibt am besten hier, hier kann man es noch am besten aushalten, besser ist es sonst nirgends.« (OfZ 26) 2.2.5 Die Frauen in den Fettpapieren erwecken Mitleid, manche dürfen aus dem Papier und sich mit den fettigen Kleidern ins Gras setzen.

Durch den Kontrast zur Gruppe ›der Männer‹ mit ihrem selbstbewussten dominanten Auftreten erscheinen ›die Frauen‹ besonders defizitär bzw. auch devot. Obwohl beide Gruppen unterschiedslos von Fettpapier umhüllt sind (vgl. Stellenkommentar 2.2.1), provozieren die Frauen zu mitfühlender Betrachtung. Nicht ungleiche ›Lebensbedingungen‹ sind folglich ausschlaggebend, sondern

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 2. Abschnitt

geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen, denen sich beide Seiten – die Dichotomie eröffnet der Text selbst – fügen. Dass mit ihrer ›Befreiung‹ aber keine wirkliche Freiheit bzw. uneingeschränkte Beziehung zur Umwelt gewährleistet ist, lassen die fettbeschmutzten Kleider erahnen. Dabei bleibt unbestimmt, wer hier als mitfühlender bzw. barmherziger Aktant auftritt – die Männer oder eine andere übergeordnete Instanz. Diese Diffusität, auf der die gesellschaftlichen Machtstrukturen gründen, bestimmt den gesamten Abschnitt (vgl. Stellenkommentar 2.2.1) und trägt dazu bei, dass die Grenzen zwischen Freizeitvergnügen und institutioneller Verwahrung wie auch zwischen Frauen und Kranken verwischen. 2.2.6 Dann dürfen auch die Kranken an Land gehen.

Die genau in der Mitte des Abschnitts positionierte Textpassage vermittelt eine ereignishafte Veränderung, die durch die Ankunft neuer Menschen und durch ein temporales Voranschreiten bestimmt ist. Mit den »Kranken« wird hier erstmals eine Gruppierung aufgerufen, die in ›Ein Ort für Zufälle‹ wiederholt Adressat gesellschaftlicher bzw. institutioneller Subordinationspraktiken ist (vgl. Einführung, Kapitel C, ›Krankheit und Wahnsinn‹). Dabei akzentuiert die sprachliche Gestaltung des Landgangs als anonyme Verfügung nicht nur den gesellschaftlichen Status der Kranken als entmündigte Objekte, sie indiziert auch eine gewisse Nähe zwischen dieser Gruppe und den fremdbestimmten Frauen. Vergleichbare Aufforderungen, Restriktionen und Befehle, deren extrasubjektive Quelle im Dunkeln bleibt (»Die Zigarette darf geraucht werden in Berlin«; OfZ 48; »Dann hat man alles zu vergessen«; OfZ 44 etc.), finden sich zudem in zahlreichen weiteren Textpassagen, so dass abschnittsübergreifend eine Semantik des Zwanghaften entsteht, die alle gesellschaftlichen Sphären durchdringt (vgl. Überblickskommentar 19.1 sowie Stellenkommentare 2.2.1, 2.2.9, 4.2.6, 5.2.2, 10.2.7, 14.2.9, 18.2.10, 21.2.5 und 22.2.1). Die Rede vom »Landgang«, die aufgrund des Fehlens einer Herkunftsbezeichnung diffus bleibt,23 erweckt zunächst Assoziationen zum Berlin-typischen Freizeitvergnügen der Schifffahrt insbesondere auf dem großen Wannsee und der Havel. Aus dem oben erwähnten Textfragment, das Bachmanns Erlebnisse am Vatertag beschreibt, geht hervor, dass die Dichterin selbst dieses Verkehrsmittel benutzt hat. Ein Blick auf die Textgenese zeigt jedoch, dass das Bild der Landung offenbar nicht ausschließlich von einem solchen realgeschichtlich-biographischen Erlebnis motiviert ist, sondern sich auch aus literarischen Quellen speist. So durchziehen die anfänglich eng miteinander verwobenen Arbeitsprozesse an der Büchner-Preis-Rede und dem ›Wüstenbuch‹ leitmotivisch Zitate aus Arthur Rimbauds Prosagedichtzyklus ›Une saison en enfer‹, die später in ›Das Buch Franza‹ und – in veränderter Form – in den Roman ›Malina‹ eingehen



Überblickskommentar 

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sollten (vgl. Einführung, Kapitel A, ›Entstehung‹). Besonders häufig kehrt dabei das Zitat bzw. die Paraphrase des Satzes »Les blancs débarquent« wieder, der in der Bachmann zur Verfügung stehenden Übersetzung von Walther Küchler als »die Weißen gehen an Land« wiedergegeben ist.24 Dabei verbindet Bachmann mit dem Landungsmotiv, das bei Rimbaud ausschließlich im Zentrum einer fundamentalen Absage an den Kolonialismus einer kranken westlichen Zivilisation steht, die Kritik an der Subordination der Frau in patriarchalen Gesellschaftsordnungen.25 Auch wenn die unmittelbaren Rimbaud-Bezüge in der Büchner-PreisRede im Zuge des Verzichts auf das Konzept einer dialektischen Bewegung zwischen Berlin und arabischer Wüste, zwischen Krankheit und Heilung, zugunsten einer reinen Berlin-Darstellung gestrichen werden (ÖNB: K 4536, N 676; K 4537, N 675), so bleibt doch das Landungsmotiv im 2. Abschnitt erhalten, jedoch nicht mehr als Sinnbild einer imperialistischen Haltung gegenüber anderen Kulturen, sondern als Zeichen der Bevormundung (»dürfen«) bestimmter Gruppierungen (vgl. vorherigen Stellenkommentar) im Innern der Berliner Gesellschaft, deren Zwangs- und Gewaltstrukturen im weiteren Verlauf des Textes immer mehr entblößt werden. 2.2.7 Wir haben so viele Kranke hier, sagt die Nachtschwester und holt die überhängenden Patienten vom Balkon zurück, die ganz feucht sind und zittern.

Im ersten überlieferten Entwurf ist dieser Textpassage noch nicht das Landungsmotiv vorangestellt (ÖNB: K 4517, N 724; KA I 183). Dadurch ist der Ausruf der Nachtschwester, »Es sind die Kranken. Wir haben hier so viele Kranke«, auf die Männer und Frauen am Wannseeufer beziehbar. In der abschließenden Druckfassung ist diese Eindeutigkeit jedoch zurückgenommen. Zwar ist die nominale Kennzeichnung jener Gruppe, auf die die Aussage abzielt, mit derjenigen der an Land gegangenen »Kranken« identisch, doch ergibt sich daraus nicht zwingend eine Referenzidentität, da der personelle und räumliche Bezugsrahmen, auf den die Zeigewörter »wir« und »hier« hindeuten, durch das textuelle Umfeld gerade nicht eindeutig bestimmt ist. Besteht zunächst der Eindruck, die Nachtschwester befinde sich am gleichen Ort wie die vorher evozierten Personengruppen am Wannsee, so bringt die Nennung »Balkon«, die darauf hindeutet, dass sich die Sprecherin in einem Gebäude befindet (ihr Ausruf ließe sich demnach auch auf dort untergebrachten »Patienten« beziehen), alles in die Schwebe. Die Irritation der räumlichen Orientierung, die in dieser Textpassage durch den unvermittelten Übergang vom offenen Wannseeufer in eine nächtliche Anstaltssphäre verursacht wird, führt somit auch zu einer Verwischung der Grenzen zwischen den scheinbar eindeutig klassifizierten Personengruppen (zur Verwischung räumlicher und gesellschaftlicher Strukturen vgl. Überblickskommentare 2.1 und 7.1 sowie Stellenkommentare 4.2.6, 7.2.7, 10.2.8, 11.2.4, 18.2.6 und 21.2.14).26

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 2. Abschnitt

Ebenso diffus wie der personelle und räumliche Referenzbereich ist der kommunikative Rahmen der Aussage, bleibt doch unklar, zu wem die Nachtschwester spricht. Das Personalpronomen »wir« zeigt lediglich an, dass die Nachtschwester hier nicht als Einzelperson, sondern wohl eher als Repräsentantin einer bestimmten Institution auftritt. Auch in den folgenden Abschnitten sind immer wieder handelnde oder sprechende Personen durch Berufsbezeichnungen gekennzeichnet, die auf geregelte Arbeitszeiten und hierarchisch geordnete Strukturen in einer medizinischen Einrichtung hindeuten. Der so suggerierte Eindruck einer spezialisierten und reibungslos organisierten Fürsorge wird indes textübergreifend durch die Darstellung eines Anstaltsalltags konterkariert, den permanente Spannungen und Störungen prägen: Den Ärzten, die »nicht belästigt werden« dürfen (OfZ 21) oder »nur [...] bei den großen Anlässen« da sind (OfZ 64), und Schwestern, die »an der Hauptsache vorbei[reden]« (OfZ 64 f.), stehen Patienten gegenüber, die sich permanent hintergangen fühlen. Dabei schlägt dieser beharrlich schwelende Konflikt wiederholt in offene Gewalt um, wenn der verzweifelten Widerspenstigkeit und (Auto-)Aggression der Internierten mit körperlicher Disziplinierung begegnet wird. Im vorliegenden Textausschnitt mag das erwähnte Körperzeichen des Zitterns, das textübergreifend mit einer Vielzahl weiterer psychomotorischer Symptome korreliert (vgl. Einführung, Kapitel C, ›Krankheit und Wahnsinn‹), daher nicht nur auf eine physische Unterkühlung der Patienten hindeuten, sondern auch auf eine extreme Erregtheit, die durch die bedrohliche Situierung des Geschehens (»überhängend[] [...] vom Balkon«) den Charakter extremer Selbstgefährdung erlangt. Erscheint das Eingreifen der Nachtschwester daher zunächst als Rettungstat, so verdeutlicht die nachfolgende Textpassage, dass ihr Handeln der Auftakt zu einer extremen körperlichen Erniedrigung und Bestrafung ist. Dass hier mit dem Balkon als Schwellenbereich zwischen Institution und Außenwelt ein Schauplatz bezeichnet ist, an dem die Konfliktpotentiale der Internierung in einer selbstzerstörerischen Handlung zu eskalieren drohen, zeigt der Blick auf eine Textpassage aus dem 5. Abschnitt: »Die dunklen Balkone sind abbruchreif, keiner traut sich, heute nacht aufs Geländer zu steigen und der Nachtschwester zu drohen«. (OfZ 19) Der Sprung in den Tod, wie er in beiden Textstellen indiziert wird, ist eine von zahlreichen Selbstmordvarianten im Werk Bachmanns (zur Bedeutung des Balkons in diesem Zusammenhang vgl. Stellenkommentar 5.2.7). Vor allem in den Texten und Textfragmenten des großen Romanvorhabens ›Todesarten‹ sind die Selbstmordversuche der Protagonistinnen Franza, Eka, Aga, Fanny und des weiblichen Ichs in ›Malina‹ nicht nur als Zeichen einer individuellen Lebenskrise gestaltet, sondern als konsequente Reaktionen auf eine krankmachende bzw. mörderische gesellschaftliche Wirklichkeit.27 Es sind am eigenen Körper vollzogene Wiederholungen eines zuvor an ihnen begangenen Verbrechens, das auf



Überblickskommentar 

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diese Weise »sichtbar« gemacht werden kann.28 Zudem deutet ein Entwurfsfragment aus dem ›Wüstenbuch‹-Konvolut darauf hin, dass die Gewalt gegen sich selbst auch Kompensation einer nicht durchführbaren Gewalt gegen andere sein kann: Das Leben, traurig oder schön, für lebenswert gehalten, eines Tags als Kampf erkannt, als Mordschauplatz. Ich könnte töten, aber ich kann nicht töten. Nur ausweichen, nur die Waffen gegen mich richten. [...] Man will morden, wenn der äußerste Verrat stattgefunden hat, wenn die Beschädigung der eigenen Person zu groß ist, wenn die Beschädigung sich nur durch eine extreme Handlung aufheben läßt. (KA I 248)

Auch in zahlreichen zu Lebzeiten unveröffentlichten Gedichtentwürfen, die zeitnah zur Büchner-Preis-Rede entstanden sind, ist der Selbstmord ein wiederkehrendes Motiv. Vor allem der Sprung in den Tod findet sich in zahlreichen Texten als Ausdruck existentieller Verzweiflung: »mit einem Sprung aus/ dem Fester, einem/ Mal am Hals« (ohne Titel; UG 72); »Der Tod [...] ist einen Fenstersturz lang« (›Mit einem dritten sprechen‹; UG 76); »Fenstersturz, abzustürzen, aufzuschreien,/ Hinzufallen, auszulöschen« (›Habet acht‹; UG 104 f.); »Vom höchsten Stockwerk schau ich in die Tiefe [...]/ Ist keiner da, der mich vom Fenster ruft. [...]/ Von jeder Brüstung seh ich in die Tiefe« (ohne Titel; UG 109); »Von der obersten Terrasse/ habe ich springen wollen« (›Auf der obersten Terrasse‹; UG 125); »da schuld ich nun einem/ daß vier Stockwerke wieder/ nicht zum Herunterstürzen [...] sind« (›Die Schulden dem Schuldner‹; UG 154).29 Denkbar ist weiterhin, dass die starke Betonung der Selbstmordthematik in ›Ein Ort für Zufälle‹ auch von zeitgeschichtlichen Ereignissen beeinflusst wurde. Denn Berlin ist, wie ein ›Spiegel‹-Artikel von 1963 mit dem von Kierkegaard entlehnten Titel ›Die Krankheit zum Tode‹ verkündet, Hauptstadt einer lebensmüden deutschen Nation: »Alle fünfzehn Minuten, Tag und Nacht, versucht ein Bürger der Bundesrepublik [...] sein Leben abzuschließen. Jede Stunde, Tag und Nacht, gelingt es einem.«30 Angesichts einer auffallend hohen Selbstmordrate in Berlin31 erlangt die vorliegende Textstelle besondere Signifikanz, denn auch hier ist durch das Gradpartikel »so [viele]« auf die Anzahl ein besonderer Akzent gelegt. Zudem ließe sich das Adjektiv ›überhängend‹, das im Verlauf der Textgenese das Adjektiv ›überschüssig‹ ersetzt hat (ÖNB: K 4555, N 719; K 4554, N 718; KA I 206), im Sinne eines Überhangs, eines ›Zuviel‹ verstehen.32 Es ist nicht zu belegen, ob Bachmann, die regelmäßig den ›Spiegel‹ las, diesen Artikel tatsächlich kannte. Wie aktuell diese Thematik im öffentlichen Diskurs war, zeigt ein längerer Beitrag des ›Tagesspiegel‹ vom Januar 1964, der ebenfalls auf die hohe Selbstmordrate in Westberlin aufmerksam macht.33 Der Begriff »Nachtschwester« findet sich auch im Gedicht ›Tagschwester, Nachtschwester‹ aus dem Nachlassband ›Ich weiß keine bessere Welt‹. Darin

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 2. Abschnitt

werden Schwestern eines Krankenhauses aus der Perspektive eines Patienten als Personen aufgefasst, deren Distanzlosigkeit sie die individuellen Grenzen des Ichs missachten lässt (UG 62). In dieser Passage ist die nominale Kennzeichnung »Nachtschwester« aber nicht nur Signatur einer medizinischen Anstaltssphäre, in der Menschen entmündigt und zu Objekten degradiert werden, sie indiziert auch eine bestimmte Tageszeit, die im Zusammenhang mit dem unmittelbar vorher beschriebenen Freizeitvergnügen am Wannsee irritiert. Im weiteren Verlauf des Textes deuten Zeitvokabeln ebenfalls darauf hin, dass ein Schwerpunkt der Darstellung auf nächtlichen Geschehnissen liegt (zur Bedeutung der Nacht vgl. u.a. Stellenkommentare 1.2.6, 9.2.1, 15.2.1, 14.2.5, 17.2.1, 19.2.1 und 26.2.12). 2.2.8 Die Nachtschwester hat schon wieder alles durchschaut, sie kennt das mit dem Balkon, wendet den Griff an und gibt eine Spritze, die durch und durch geht und in der Matratze steckenbleibt, damit man nicht mehr aufstehen kann.

Sprachlich akzentuiert durch die Aussparung gemeinsamer Satzsubjekte, Verkürzung der Satzglieder und die dreifache Wiederholung des Lexems ›durch‹ wird hier das auf den Verlust der seelischen und körperlichen Integrität abzielende Eingreifen der Nachtschwester als schnelle Abfolge disziplinarischer Gewaltanwendungen zum Ausdruck gebracht. Das dabei evozierte Bild der den ganzen Körper durchstoßenden und ihn fixierenden Injektion stellt eine von zahlreichen grotesken Disproportionierungen im Text dar, mittels derer die gewohnte Weltsicht unterminiert und die existentielle Bedrohung, Erniedrigungen oder Ohnmacht hinter der gesellschaftlichen Normalität bloßgelegt werden (vgl. Einführung, Kapitel B, ›Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion‹). Parallel zur dargestellten Disziplinierung spiegelt sich die Degradierung der Patienten zu Objekten auch in einem Wandel der Personenbezeichnungen wider, werden doch die Internierten nur mehr durch das Indefinitpronomen »man« gekennzeichnet. In einem weiteren Schritt der Depersonalisierung gehen die Opfer der schwesterlichen Maßnahmen am Abschnittsende gänzlich in der Anonymität eines reglementierten Anstaltsalltags auf: »es gibt noch die Tropfen, dann muß Ruhe sein«. Vergleichbare sprachliche Bewegungen begegnen auch in anderen Textpassagen, wenn es um die Darstellung institutioneller Machtstrukturen geht. Neben einer wiederholt evozierten medizinischen Anstalt geraten dabei auch kulturelle Einrichtungen (9. Abschnitt) und die Sphären staatlicher Exekutive (etwa im 16. und 19. Abschnitt) in den Fokus (vgl. Überblickskommentar 16.1 sowie Stellenkommentare 3.2.4 und 5.2.3). Eine besondere Charakteristik erhalten die hier dargestellten Vorkommnisse durch die temporale und narrative Konturierung. Denn, eingeleitet durch einen kurzen Wechsel ins Perfekt und durch die Temporaladverbiale »schon wieder«,



Überblickskommentar 

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wird hier eine Figurenperspektive vermittelt, aus deren Sicht die gewaltsame Unterbindung des Aufruhrs auf dem Balkon zur Routine im Anstaltsalltag geworden ist. Dass es sich dabei um ein ritualisiertes Vorgehen handelt, darauf verweist nicht zuletzt auch der definite Artikel (»den«), der dem »Griff« einen festen Platz im Disziplinierungsrepertoire zuschreibt. Zugleich kündet das Temporaladverb »schon« von einer emotionalen Beteiligung der anonymen Erzählhaltung, die die Souveränität der Pflegerin nicht einfach konstatiert, sondern wertend wiedergibt. Iteration ist ein zentrales Darstellungsmerkmal in ›Ein Ort für Zufälle‹: Gehäuft finden sich temporale Adverbien und adverbiale Bestimmungen (wie »jede Minute«, »jeden Tag«, »schon wieder«, »immer wieder«, »schon lange« und »seit damals«), die in ihrer Fülle die perennierende Alltäglichkeit von Gewalt und Destruktion in der Gesellschaft offenbaren. Dieser Eindruck wird noch durch eine abschnittsübergreifende Vertextungsstrategie gestärkt, bei der in späteren Abschnitten Schauplätze und Vorgänge aufgerufen werden, die mit vorher evozierten identisch scheinen oder in einem erkennbaren Bezugsrahmen stehen. So findet im 5. Abschnitt nicht nur der Balkon als Ort des Aufruhrs erneut Erwähnung, sondern auch eine institutionelle Gewalt, die in Affinität zum hier dargestellten Verhalten der Nachtschwester auf den Verlust der Integrität und Würde des Internierten abzielt: »Alle husten und hoffen und haben die Fieberthermometer in der Achselhöhle, unter der Zunge, im After, und die zehn Zentimeter langen Nadeln im Fleisch.« (OfZ 19) Beide Textstellen erweitern sich gegenseitig in ihrem Bedeutungshorizont, indem die Injektion einerseits als Element einer lückenlosen Kontrolle (5. Abschnitt) und andererseits als Teil einer brutalen Disziplinierung bzw. Ruhigstellung der Internierten (2. Abschnitt) erkennbar wird. In dieses Spannungsverhältnis wechselseitiger Potenzierung treten textübergreifend noch zahlreiche weitere therapeutische, diagnostische und organisatorische Maßnahmen, die nicht nur auf die Anstaltssphäre begrenzt sind – etwa wenn im 16.  Abschnitt unangepasste Menschen von Sicherheitsdiensten »eingeliefert, geröntgt, vermessen und behandelt« werden (OfZ 43). Die Spritze als Instrument der Erniedrigung ist auch ein rekurrentes Motiv der Gedichte und Gedichtentwürfe aus dem Nachlassband ›Ich weiß keine bessere Welt‹. In deutlicher Affinität zur vorliegenden Textpassage werden in ›Tagschwester, Nachtschwester‹ »Nadeln bis ans Heft/ ins Fleisch« gebohrt (UG  2), und in einem titellosen Textzeugen heißt es: »es schnellen die Ampullen in die Spritzen,/ bohren sich die Nadeln in dein Fleisch« (UG 106). Immer wieder werden Injektionen zusammen mit anderen therapeutischen Maßnahmen zu Foltermethoden, die ein leidendes Ich zum willenlosen Objekt und Versuchstier herabwürdigen (»auch die Ratte, abgespritzt, ohnmächtig/ wird den Arm ihres Mörders nicht zerfleischen«; UG 9; »ausgespieen zwischen Nadeln und Flaschen und Ban-

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 2. Abschnitt

dagen«; UG 55 f.) oder es in einem endlosen Leidenszustand zwischen Leben und Tod festhalten: »heimgesucht von jeder Nadelspitze,/ [...] von Spritzen betäubt, von Spritzen/ ins Wachen geholt« (UG 60). Im zuletzt zitierten titellos gebliebenen Entwurf bringt das lyrische Ich die Qualen seiner Internierung und Behandlung zudem in Zusammenhang mit einer Geschichte, die »nicht die eigene« ist. Der individuelle Körper wird dabei zusehends zu einer Einschreibefläche für kulturelle Zerstörungstraumata, die den nationalsozialistischen Terror fortsetzen: »soviele Deportationen« (UG 60). Die erkennbare Durchkreuzung von individuellem Erlebnis und kollektiver Erfahrung im Medium des Körpers wird dann vor allem in Bachmanns großem Romanprojekt ›Todesarten‹ zum zentralen Erzählverfahren, so im Romanfragment ›Das Buch Franza‹, wo das Schicksal der von ihrem Ehemann und Psychiater Leo Jordan zum Forschungsobjekt degradierten Protagonistin an die Traumata weiblicher Euthanasieopfer im Nationalsozialismus gekoppelt ist: »Davon bin ich auch krank geworden, dachte sie, und dann fiel ihr endlich ein: die Ausmerzung unerwünschten Volkstums, die Ausmerzung, ja die direkte Ausmerzung unerwünschter Kranker, die Sterbehilfe, der Gnadentod. 2 ccm Morphium-Scopolamin.« (KA II 302) 2.2.9 Das letzte Passagierflugzeug fliegt ein, es gibt noch die Tropfen, dann muss Ruhe sein; die Luftpost und Luftfracht später ist kaum mehr zu hören.

Die den Abschnitt beschließende parataktische Satzreihe vermittelt eine Gleichzeitigkeit von verkehrstechnischen Regelungen und anstaltsspezifischen Maßnahmen zur Einhaltung der Nachtruhe. Dabei erweckt die enge syntaktische Verbindung den irritierenden Eindruck, als ob die anonyme Verordnung (»dann muß Ruhe sein«) gleichermaßen den Patienten wie den Flugzeugen gelte.34 Diese erneute Grenzverwischung zwischen zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären und Kompetenzbereichen, die sich im folgenden Abschnitt fortsetzt (vgl. Stellenkommentare 3.2.2 und 3.2.6), wird noch dadurch gestärkt, dass der letzte, per Semikolon angefügten Aussagesatz explizit den Rückgang der Fluglärmbelastung konstatiert. Da hier die Geräuschreduktion jedoch nicht an sich, sondern als ein anonymer Wahrnehmungseindruck vermittelt wird (»kaum mehr zu hören«), bleibt offen, ob die geringe Hörbarkeit des Frachtverkehrs nicht ebenso einer Desensibilisierung durch die vorher erwähnte Medikamentengabe (»es gibt noch die Tropfen«) geschuldet ist. Zudem lässt die modalperspektivische Ruheverordnung offen, ob innerhalb der Anstaltssphäre eine entsprechende Beruhigung tatsächlich eingetreten ist. Diese subtile Unbestimmtheit erlangt vor allem mit Blick auf den folgenden Abschnitt, in dem die Durchsetzung einer entsprechenden Direktive (»Die Flugzeuge [...] müssen leiser fliegen«; OfZ 9) genau das Gegenteil bewirkt (»aber es ist schrecklicher als zuvor«; ebd.), besondere Signifikanz.



Wort- und Sacherläuterungen 

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Immer wieder künden Abschnitte davon, dass Ruhe und Stille in Berlin zu keiner Zeit absolute, sondern relative, durch Sedierung, Disziplinierung, Manipulation, Reglementierung etc. erzwungene oder suggerierte Zustände sind. Wie bereits erwähnt, werden die damit einhergehenden Direktiven zumeist in einer unpersönlichen Verwaltungssprache vermittelt, die entweder Agensabgewandt ist oder bei der, wie in der vorliegenden Textpassage, das unpersönliche Pronomen »es« zum Tragen kommt (vgl. Überblickskommentar 19.1 sowie Stellenkommentare 2.2.1, 2.2.6, 4.2.6, 5.2.2, 10.2.7, 14.2.9, 18.2.10, 21.2.5 und 22.2.1), das im 1. Abschnitt ein subtiles Deutungspotential hinsichtlich eines unbestimmten »etwas« in Berlin erlangt hat (vgl. Überblickskommentar 1.1). Die realen Gegebenheiten in Berlin gegen Mitte der 1960er Jahre zeigen, dass Bachmann hier von konkreten Reglementierungen des Luftraums über der Stadt inspiriert wurde. Aufgrund der niedrigen, über dicht bebautes Gebiet führenden Einflugschneisen vor allem des innerstädtischen Flughafens Tegel im Westen der Stadt und der damit verbundenen Lärmbelästigung wird der Passagierverkehr regelmäßig kurz vor Mitternacht eingestellt, so dass nachts nur noch Postflugzeugen Flugerlaubnis erteilt wird. Die besondere Brisanz des Luftverkehrs über Berlin, die nicht nur topographisch, sondern gerade auch politisch motiviert ist, kommt dann vor allem im nächsten Abschnitt zur Geltung.

2.3 Wort- und Sacherläuterungen Wannsee:  Der Große Wannsee ist eine Ausbuchtung der Havel im südwestlichen Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf und gehörte infolge der Aufteilung Berlins nach 1945 zum US-amerikanischen Sektor.35 Verkürzt wird er auch als »Wannsee« bezeichnet, was bisweilen zu Verwechslungen mit dem »Kleinen Wannsee« führt, der als erster See des Griebnitzkanals an der Wannseebrücke in den Großen Wannsee mündet. Havel, Großer Wannsee, Griebnitzkanal, Griebnitzsee und die Glienicker Laake umschließen den inselförmigen Ortsteil BerlinWannsee, der für seine prachtvolle, 1870 gegründete Villenkolonie am Ostufer des Sees berühmt ist.36 Das südlich der Insel Schwanenwerder im Ortsteil BerlinNikolassee gelegene und 1907 eröffnete Strandbad Wannsee ist eines der größten Binnengewässerbäder Europas.37 In der Zeit des Kalten Krieges und der Teilung Berlins avancierte das als »Badewanne der Berliner« bezeichnete Strandbad zum beliebtesten sommerlichen Ausflugsziel der Bevölkerung Westberlins.38 Zu Problemen führte jedoch der unweit des Strandbades in der nicht fertig gestellten Südkurve der Avus angelegte amerikanische Truppenübungsplatz Keerans Range, da Querschläger mehrfach bis zum Badestrand flogen, so dass in den 1950er Jahren wiederholt Badegäste verletzten wurden.39

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 3. Abschnitt

In der Straße Am Großen Wannsee Nr.  56–58 liegt die ehemalige Villa Marlier/Minoux, die in der Zeit des Nationalsozialismus dem Staatssicherheitsdienst und der Sicherheitspolizei als Gästehaus diente.40 Hier fand am 20. Januar 1942 die sogenannte Wannseekonferenz statt, auf der die Deportation und Ermordung aller europäischen Juden geplant und beschlossen wurde.41 Neben diesem Anwesen unterhielt der SD noch weitere geheime Forschungseinrichtungen in Wannsee, darunter das ›Geheime Ostinstitut in Wannsee‹, das den Krieg gegen Polen vorbereitete.42 Der Exodus der jüdischen Bevölkerung der Villenkolonie vollzog sich sukzessive in den 1930er Jahren.43 Während einigen Villenbesitzern die Flucht ins Exil gelang, wurden die Zurückgebliebenen zunehmend diskriminiert, ausgegrenzt und schließlich deportiert.44 In die zwangsverkauften oder enteigneten Villen zogen neben NS-Massenorganisationen auch prominente Nationalsozialisten, darunter Reichswirtschaftsminister Walther Funk.45 Nach Kriegsende dienten einige der verwaisten oder geplünderten, teilweise dem Verfall preisgegebenen Villen den amerikanischen Alliierten als Krankenhäuser, Schullandheime oder Vergnügungsstätten.46 Zahlreiche Anwesen standen jedoch bis weit in die Nachkriegsjahre hinein leer. 1963 gründet Hans Höller das Literarische Colloquium Berlin (LCB), das eine Villa Am Sandwerder Nr. 5 als Veranstaltungsforum, Gästehaus und Arbeitsstätte nutzt.47 Das Gebäude, in dem zuvor ein Casino-Hotel untergebracht war und das daher den Namen ›Altes Casino‹ trägt, ist vom 26. bis 28. Oktober 1962 und vom 9. bis 11. November 1965 Austragungsort der Treffen der Gruppe 47. Fettpapier: ein durch Fettbeschichtung wasserfest gemachtes Papier, das hauptsächlich zum Frischhalten von Lebensmitteln verwendet wird.

3. Abschnitt

3

3.1 Überblickskommentar Textgenese Der Bachmann-Nachlass in der ÖNB-HANNA beinhaltet zehn Textzeugen zu diesem Abschnitt: 1. K 4517, N 724; 2. K 4518, N 731; 3. K 4528, N 669; 4. K 4529, N 668; 5. K 4531, N 670; 6. K 4530, N 671; 7. K 4556, N 672; 8. K 4557, N 673; 9. K 4584, N 2549; 10. K 4585, N 2550. Im Wagenbach-Verlag ist ein weiterer Textzeuge archiviert, der Teil eines fortlaufenden Typoskripts ist (vgl. Überblickskommentar 1.1). Auch die Druckfahnen in vierfacher Ausführung sind im Verlagsarchiv aufbewahrt.



Überblickskommentar 

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Der vermutlich erste überlieferte Entwurf wird in der kritischen Ausgabe ›»Todesarten«-Projekt‹ der ›Textstufe III: Entwurfsreinschrift‹ zugerechnet (ÖNB: K 4517, N 724; K 4518, N 731; KA I 183). Während in dieser Bearbeitungsphase stellenweise noch ein homodiegetischer Ich-Erzähler auftritt – »das habe ich noch nicht gesehen« –, wird das Geschehen in der nächsten überlieferten Textstufe bereits ausschließlich aus der Perspektive einer anonyme Erzählinstanz dargestellt (ÖNB: K 4528, N 669; K 4530, N 671; K 4529, N 668; K 4531, N 670; KA I 191). Signifikante Veränderungen im Verlauf der Textgenese betreffen neben der narrativen Struktur vor allem die räumliche und zeitliche Konturierung. Denn zunächst wird die groteske Durchdringung von städtischer Außenwelt und Krankenhaussphäre zu Beginn des Abschnitts mittels der rhetorischen Figur der Correctio relativiert: »Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer, das muß so sein, nein genauer: meist gerade übers Zimmer, durch das Zimmer, das habe ich noch nicht gesehen.« (ÖNB: K 4517, N 724) Die Streichung dieser erklärenden Zusätze entspricht einer allgemeinen Tendenz im Rahmen der Textgenese, weg von einer diskursiven Vermittlung und hin zu einer Erzählweise, bei der die Abweichungen des Dargestellten von der empirischen Wirklichkeit nicht mehr problematisiert werden (vgl. Überblickskommentar 8.1, Textgenese). In Korrelation zur Etablierung einer grotesken Wirklichkeit lässt sich in den Entwürfen des 3.  Abschnitts zudem eine Dynamisierung und Verdichtung des zeitlichen Ablaufs beobachten: Wird der in den ersten Entwürfen beschriebene Wechsel vom Fluglärm zum Glockenlärm noch auf unterschiedliche Tage verteilt (ÖNB: K 4517, N 724; K 4530, N 671; K 4531, N 670; KA I 183 f., 191 f.), kommt es schließlich zu einem harten Übergang: »Im nächsten flugfreien Augenblick läuten alle Kirchenglocken von Berlin« (OfZ 10).

Struktur und Semantik Im Unterschied zur überwiegend statischen Satzstruktur des 2. Abschnitts, prägen den 3. Abschnitt auf syntaktischer Ebene von Beginn an eine starke Dynamik und verwirrende Komplexität, die erst gegen Ende abnimmt. Da die Satzglieder der vielgliedrigen, verschachtelten und unübersichtlichen Satzkonstruktionen eher kurz bzw. elliptisch verkürzt sind, ist der thematischen Progression ein tendenziell stakkatoartiger Rhythmus unterlegt, der auch durch die Markierung von Satzgrenzen kaum gemildert wird. Vor allem im zweiten Drittel des Abschnitts erreicht die Dynamik aufgrund syntaktischer Parallelismen und anapherartiger Wiederholungen eine besondere Intensität: »dann sind sie da, dann sind sie weg, dann surrt es beinahe noch, dann nicht mehr. Dann fängt der nächste Beinaheton an«.

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 3. Abschnitt

Durch die Vielzahl an Temporaldeiktika und temporalen Bestimmungen (»jetzt«, »dann«, »im Augenblick«), aber auch durch den unübersichtlichen Periodenbau entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit. Zwar lässt die Syntax immer wieder auch hypotaktische Strukturen und kausale Relationen erkennen – signifikant sind die wiederholt auftretenden Präpositionalphrasen »wegen dieser vielen Flugzeuge«, »wegen des Läutens« etc. –, doch fügt sich dieses Spiel mit Ansätzen eines argumentierenden Erzählens nicht zu einem logischen Gesamtbild. Die nur aufgerufenen kausalen Strukturen werden vielmehr texttypisch durch die grotesken Verzerrungen und Irritationen auf bildlicher Ebene permanent durchkreuzt.1 Gegenüber dem 2. Abschnitt erfährt die Unmittelbarkeit sogar noch eine Steigerung, indem anstatt der Distanz suggerierenden nominalen Gruppenkennzeichnungen (»die Männer«; »die Kranken« etc.) insgesamt neun Mal das Indefinitpronomen »man« erscheint, das auch die Dichotomie zwischen heterodiegetischem und homodiegetischem Erzählen verwischt. Stilistisch akzentuiert durch eine auf die rasche Ereignisfolge zugeschnittene Syntax, die mit einer verwirrend vielschichtigen Lexik korreliert, aus der die Vielzahl an Bewegungsverben (»vorbeiziehen«; »fliegen«; »vorbeiwischen«; »herankommen« etc.) und akustischen Vokabeln (»summend«; »Sirren«; »surrt« etc.) besonders hervorsticht, entsteht das groteske Bild eines städtischen Raumes, in dem die Krankenhaussphäre permanent von einer keine Abgrenzung zulassenden Außenwelt massiv gestört wird (zu den grotesken Stilmitteln vgl. Einführung, Kapitel B, ›Literaturhistorische Kontextualisierung und Gattungsreflexion‹). Dabei vermittelt die rätselhafte Evokation bedrohlich sich nähernder Kirchen und permanent durch die Krankenhausräume fliegender Jets, die gerade dann Schrecken hervorrufen, wenn sie nicht mehr zu hören sind, gegenüber dem Ende des 2.  Abschnitts sehr viel deutlicher den Eindruck, dass mit institutionellen Verordnungen (»Die Flugzeuge [...] müssen leiser fliegen«) und punktuellen Verbesserungen (»Im Augenblick ist abgeholfen«) im besten Fall ein Aufschub, aber keinesfalls eine substantielle Befriedung zu erzielen ist: »es ist schrecklicher als zuvor« (OfZ 9). So unverhältnismäßig und realitätsfern Bachmanns Darstellung von unmittelbar auf den Leib rückenden Flugzeugen und aus dem Boden wachsenden Kirchen zunächst erscheinen mag, zeigt sich doch, betrachtet man das evozierte Geschehen im Kontext der Zeitgeschichte, wie explizit der 3. Abschnitt von realen Gegebenheiten und aktuellen Vorkommnissen in Berlin motiviert ist. Gerade um den Flugverkehr entfacht gegen Mitte der 1960er Jahre vor allem im Westen eine sehr kontrovers geführte öffentliche Debatte, ausgelöst durch die stadtnahe bzw. innerstädtische Lage der beiden Flughäfen Tempelhof und Tegel. Bedingt dies für die umliegenden Bezirke an sich schon ein hohes Sicherheitsrisiko und eine immense Lärmbelästigung – die Einflugschneisen führen sehr tief über



Überblickskommentar 

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dicht bebautes Gebiet –, so spitzt sich die Situation aufgrund eines sprunghaft anwachsenden Flugverkehrs kontinuierlich zu. Immer wieder gehen die regionalen Zeitungen in der Zeit von Bachmanns Berlin-Aufenthalt auf die sich stetig überbietenden Zahlen des Passagieraufkommens ein sowie auf die 1963 publik werdenden Pläne der alliierten Behörden, die beiden Westberliner Flughäfen für Großraum-Düsenjets auszubauen.2 Ebenso wird die politische Debatte um die möglichen bzw. notwendigen Konsequenzen eines nochmals anwachsenden Flugaufkommens von den Medien aufmerksam begleitet. So gibt das Bundesministerium für Gesundheitswesen aufgrund wiederholter Beschwerden aus den umliegenden Bezirken des Flughafens Tegel Anfang 1964 ein Lärm-Gutachten in Auftrag, das die Belastung in öffentlichen Gebäuden verbindlich bestimmen soll, und der Gesundheitsausschuss diskutiert mehrfach die Frage nach der Notwendigkeit einer Verlegung von Krankenhäusern bzw. die Einführung schalldämmender Baumaßnahmen für öffentliche Gebäude. Wie brisant die Ausbaupläne der Alliierten gerade für die städtischen Krankenhäuser sind, verdeutlicht u.a. ein ausführlicher Beitrag des ›Tagesspiegel‹ anlässlich der Einführung einer Direktverbindung New York–Berlin mit Düsenjets durch die amerikanische Fluggesellschaft PAN  AM am 31.  Mai 1964.3 Den Ausführungen zur Problematik eines extremen Schalldrucks startender bzw. landender Düsenflugzeuge liegt eine größere Karte bei, auf der die Einflugschneise des Flughafens Tegel und alle davon betroffenen Einrichtungen eingezeichnet sind, darunter zehn Krankenhäuser und Spitäler. Ob Bachmann diesen Artikel im ›Tagesspiegel‹ gelesen hat, ist nicht zu ermitteln. Als signifikantes Beispiel aus einer ganzen Flut von Berichten zeigt er jedoch, dass die besondere Verschränkung des Flugverkehrs mit dem Geschehen in Krankenhäusern im 3. Abschnitt einen konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund besitzt. Die hohe Brisanz der Debatte um den Ausbau der Flughäfen ist jedoch keinesfalls allein das Resultat der Berliner Topographie. Ein wesentlicher Faktor ist die starke symbolische Aufladung des Flugverkehrs angesichts der geteilten Stadt. Denn obwohl das Vier-Mächte-Abkommen diesbezüglich, im Unterschied zu den Straßen-, Schienen- und Wasserwegen, keinerlei verbindliche Regelungen enthält, verbinden die westlichen Alliierten und vor allem die Amerikaner gerade mit dem Flugverkehr ein zentrales Merkmal ihrer Berlinpolitik: ›das vielbeschworene Recht auf freien Zugang zu Westberlin‹.4 Entschieden geht man gegen die im Jahr 1964 besonders zahlreichen Störversuche der DDR und der Sowjetunion vor und bekräftigt dabei unmissverständlich eigene Ansprüche.5 Eines der zentralen Ereignisse während Bachmanns Aufenthalt in der Stadt, das diesen Konflikt deutlich werden lässt, ist die oben erwähnte Einrichtung einer Direktverbindung New York–Berlin durch die amerikanische Fluggesellschaft PAN  AM.6 Von der enormen politischen Tragweite zeugen nicht nur die prominent besetzte

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 3. Abschnitt

Passagierliste,7 sondern auch die vehementen Proteste der sowjetischen und ostdeutschen Regierungen, die die Einrichtung der Fluglinie wiederholt als illegal deklarieren und äußern, dass für die Sicherheit derartiger Flüge nicht garantiert werden könne.8 In der Westberliner Bevölkerung wird dieser schwelende Konflikt um den Luftraum über Berlin mit besonderer Emotionalität verfolgt. Ein Grund hierfür ist die sogenannte ›Berlin-Blockade‹ der Sowjets von 1948/49, der man durch die Errichtung einer ›Luftbrücke‹ standhalten konnte und die die existentielle Bedeutung des Flugverkehrs für das Überleben der ›Inselstadt‹ deutlich gemacht hatte. Von Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Flugverkehr über Berlin zeugen neben ›Ein Ort für Zufälle‹ auch einige zeitnah entstandene unveröffentlichte Gedichtentwürfe (etwa ›Das deutsche Wunder‹; ›Der gefundene Ton‹), aus denen ›Schallmauer‹ besonders hervorsticht. In Anspielung auf die provozierenden Manöver der Militärjets über Berlin wird darin der ohrenbetäubende Knall beim Durchbrechen der Schallmauer zunächst in das Bild eines alles überdeckenden »Lärmteppich[s]« übertragen und im weiteren Verlauf zusammen mit einer alles überschreitenden Geschwindigkeit zu einem unfassbaren »Wahn« verdichtet (LuG 19), der die äußere Lebenswelt und die Identität des lyrischen Ichs gleichermaßen zerbrechen lässt.9 Die destruktive Erfahrung des Flugverkehrs verbindet das Gedicht aufs Deutlichste mit ›Ein Ort für Zufälle‹, doch ist die dort im 3.  Abschnitt dargestellte Erschütterung weniger die Folge eines plötzlichen Schocks als vielmehr das Resultat eines alltäglich begegnenden Schreckens: »Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer« (OfZ 9). Mittels grotesker Übersteigerung der faktischen Realität und einer Sprache, in der die Agens-Rolle zumeist (metonymisch) von Gegenständen bzw. Institutionen besetzt wird oder anonym bleibt, konstituiert sich das Bild eines destruktiven gesellschaftlichen Funktionsgefüges, dessen Personal fremdgesteuert oder desinteressiert wirkt und dessen Mittel eine irritierende Eigenständigkeit besitzen. Besondere Signifikanz erlangt diese Verkehrung der gewohnten Verhältnisse im zweiten Teil des Abschnitts in baulicher Hinsicht. Dem Flugverkehr vergleichbar, deutet auch die Darstellung der aus dem Boden wachsenden und bedrohlich herannahenden Kirchen einen realgeschichtlichen Hintergrund an, entstanden doch im Zuge des Wiederaufbaus und Ausbaus von Großsiedlungen in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Westberlin mehr als 80 neue Kirchen und Gemeindezentren.10 Dabei standen häufig symbolische Zuschreibungen im Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung. So ist etwa die am 5. Mai 1963 eingeweihte Gedächtniskirche Maria Regina Martyrum dem Gedenken an die ›Blutzeugen des Widerstandes‹ und die am 11.  Oktober 1964 eingeweihte Sühne-Christi-Kirche in Charlottenburg der Erinnerung an die ›Opfer von Tyrannei und Gewalt‹ gewidmet.11 Eine 20 Meter lange und über zwei Meter hohe Mauer



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aus Betonklötzen trägt, um dies zu visualisieren die Namen Golgatha, Auschwitz, Plötzensee und Hiroshima. Das Wort »Mauern« soll u.a. auf die Mauern im Warschauer Getto, in Berlin und auf die wie Mauern wirkenden unsichtbaren Schranken zwischen den Menschen hinweisen.12 Äußerst symbolträchtig ist schließlich auch das Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirchen-Ensemble von 1961, das am Ende des 20.  Abschnitts explizit Erwähnung findet (vgl. Stellenkommentar 20.2.8). Bestehend aus der Kriegsruine der alten Kirche und einem modernen Neubau des Architekten Egon Eiermann, ist es bis in die Gegenwart ein zentrales Mahnmal für die Zerstörung Berlins. Die Funktionalisierung der neu entstehenden Gotteshäuser im Rahmen einer Erinnerungs- und Mahnkultur, die Berlin weniger als Zentrum des nationalsozialistischen Terrors denn als Opfer des Zweiten Weltkrieges ausweist, führt auch dazu, dass dem Glockenläuten eine über seine religiöse Bedeutung hinausgehende, auf die deutsche Geschichte bezogene Symbolik zukommt. So bilden die Klänge der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die an die Schrecken des Krieges erinnern bzw. zu Frieden und Einigkeit mahnen sollen – die Inschrift der größten Glocke beginnt mit den Worten: »Eure Städte sind mit Feuer verbrannt« und auf einer Tafel an der Ruine des alten Turms steht geschrieben: »Der Turm der alten Kirche soll an das Gericht Gottes erinnern, das in den Jahren des Krieges über unser Volk hereinbrach« –, eine harmonische Einheit mit den Glockenklängen der Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche im Hansaviertel.13 Eine besondere Valenz besitzt das Glockenläuten in Westberlin zudem als Mahn- und Protestzeichen im Kontext des Kalten Krieges. Insbesondere die nach dem Vorbild der ›Liberty Bell‹ geschaffene ›Freiheitsglocke‹, die im Rahmen einer von Lucius  D. Clay (dem Initiator der Berliner Luftbrücke) in die Wege geleiteten Spendenaktion finanziert und 1950 im Turm des Schöneberger Rathauses installiert wurde, zeugt von einer expliziten politischen Funktionalisierung.14 So erinnert eine 1956 herausgegebene Broschüre des Berliner Senats mit dem Titel ›Berlin im Wiederaufbau‹ an das erstmalige Ertönten der »Welt-Freiheitsglocke« am »Tag der Freiheit und der Vereinten Nationen« (24.  Oktober 1950) mit den Worten: »Dieses erste Geläut wurde durch alle Rundfunkstationen der Welt den freien Völkern übertragen. Es klang gleichzeitig über den Äther zu jenen Völkern, die heute noch unter dem Joch ihnen auferlegter Diktatur schmachten müssen.«15 Über das reguläre Läuten jeden Mittag um 12  Uhr hinaus wurde die Glocke zu besonderen Ereignissen weltpolitischer Geltung sowie an Gedenktagen geläutet – etwa anlässlich des Protestes gegen den Mauerbau am 16. August 1961. Auch während Bachmanns Berlin-Aufenthalt ertönte die Freiheitsglocke beim Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy 1963 und am dritten Jahrestag des Mauerbaus zum Einläuten einer »Stunde des Schweigens« (vgl. Stellenkommentar 1.2.2). Im RIAS und später im Deutschlandradio Kultur war die ›Freiheitsglocke‹ jeden Sonntag um 11:58 Uhr zu hören, gefolgt von einem Freiheitsgelöb-

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 3. Abschnitt

nis, das jeweils von bekannten Theaterschauspielern gesprochen wurde, um die Zuhörer daran zu erinnern, dass Freiheit nicht von selbst entstehe, sondern zeitlebens verteidigt werden müsse. Der Blick auf das zeitgeschichtliche Umfeld des Textes zeigt, dass es damals in Berlin nahezu keine Institutionen, Strukturen oder Abläufe gab, die nicht über ihre unmittelbare Funktion hinaus auf die zeitgenössischen oder die historischen Konfliktfelder bezogen waren. In ›Ein Ort für Zufälle‹ wird jedoch nicht explizit die symbolische Überfrachtung der Wirklichkeit zu